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German Pages [248] Year 2011
Leopold Neuhold · Bernhard Pelzl (Hg.)
Ethik in Forschung und Technik Annäherungen
B ö h l a u V e r l ag W i e n · K ö l n · W e i m a r
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78665-8 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Über setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http ://www.boehlau.at http ://www.boehlau.de Umschlaggestaltung: Michael Haderer Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck : Balto print, Vilnius
Vorwort
Wenn man Forscher nach ihrer persönlichen Motivation für ihre Arbeit fragt, erhält man – abgesehen von persönlichen emotionalen Begründungen wie „Neugierde“ und „Wissensdurst“ – durchaus auch Antworten mit ethischem Bezug, zusammengefasst etwa: die Mängel der konkreten menschlichen Existenz – individuelle wie gesellschaftliche – in allen denkbaren Bereichen zu kompensieren (Beispiel: „Ersatz für kranke Organe“), die materielle Existenz des Menschen zu sichern („Entwicklung neuer Produkte und Verfahren“), Gefahren zu minimieren (Beispiel: „Klimaschutz“) und ein Höchstmaß an Luxus und Bequemlichkeit für alle zu erzeugen (Beispiel: „Haushaltsroboter“).1 Das ist eines der Ergebnisse meiner im Jahr 2000 im von Walter Pieringer und Franz Ebner herausgegebenen Buch „Zur Philosophie der Medizin“ (Wien – New York: Springer Verlag) unter dem Titel „Die Welt als Maschine, der Markt als Maß“ veröffentlichten Analyse, deren Ziel es war, zu untersuchen, an welchen konkreten Werte- und Lebensauffassungen oder, anders ausgedrückt, an welcher Ethik sich die Tätigkeit moderner Forschung orientiert und welches Weltbild sie sich zugrunde legen muss, um diese Tätigkeit entsprechend den Vorgaben ihrer Werte- und Lebensauffassungen durchführen zu können. Beide zusammen – die Werte- und Lebensauffassungen als bewusst oder unbewusst akzeptierte Bewertungsrahmen für ihren Erfolg und das Weltbild als Bezugssystem für die konkrete Arbeit – umreißen die Semantik des Begriffs „Forschung“ und damit auch das ihr zugrunde liegende Ethikkonzept.
Forschungsethisches Grundprinzip: Mängelkompensation
Aus der Zieldefinition von Forschung – „Mängelkompensation“ – ergibt sich als Maßstab für ihre Ethik der Grad der Kompensation von Mängeln mit wissenschaftlichtechnischen Mitteln – etwa der Ersatz des eigenen kranken Herzens durch ein 1 Mit dem Menschen als „Mängelwesen“ und damit, wie er diese Mängel kompensiert, hat sich in besonderer Weise der Philosoph Odo Marquard auseinandergesetzt und eine philosophische „Kompensationstheorie“ entwickelt: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart: Reclam 1981 (= Universal-Bibliothek Nr. 7724), Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart: Reclam 1986 (= Universal-Bibliothek Nr. 8351), Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982 (= stw 394)
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Vorwort
Kunstherz – und die damit verbundene Erhöhung des Lebensalters und gegebenenfalls der Lebensqualität. Forschung in ethischer Perspektive bestünde demnach also darin, den Fortschritt voranzutreiben, indem sie Teilerfolge auf dem Weg zur vollkommenen Kompensation der Mängel der menschlichen Existenz schafft.
Das Weltbild dahinter
Der Prozess in der Forschung als Abfolge von Kompensationsversuchen von Mängeln der menschlichen Existenz, aus dem er seine Ethik bezieht, setzt stillschweigend ein bestimmtes Verständnis von Welt, Mensch und Gesellschaft voraus: Als Erstes lässt sich ein Wertesystem erkennen, wie es als ethisches Teilsystem auch in den Religionen, aber nur dort explizit und klar formuliert, vorliegt: In der Vorgabe, durch die Entwicklung von Instrumenten und Techniken Beschwernisse und Leiden zu mindern, die ihre Ursache in der Unvollkommenheit des Menschen haben, bekennt sich Forschung zu einer Ethik, die sich von den ethischen Systemen der Religionen nur dadurch unterscheidet, dass sie auf eine transzenden tale Letztbegründung verzichtet. Die zentralen (letzten) Werte, wie individuelle Mängelkompensation, existenzielle Sicherheit und Wohlbefinden, gelten im Gegensatz zu den Religionen nicht als offenbart, weil dort auf ein letztes, außerhalb der irdischen Existenz liegendes und damit prinzipiell unerforschliches Ziel hin orientiert, sondern werden, weil in der materiellen (einzigen) Welt zu erreichen, evident gesetzt, als allgemeingültig und einsichtig, nicht mehr weiter begründbar und begründungsbedürftig, gewissermaßen als objektive Erkenntnis, möglicherweise als Funktionen von Genen oder Supergenen. Daher gibt es auch keinen wirklichen Widerspruch zu den Mechanismen des Marktes, dem über die Kategorien „Problem-(= Mängel-)Bewusstsein“ und „Problemlösungsbedarf “ nicht weniger als die Konkretisierung dieser allgemeinen, grundlegenden Werte zugestanden wird.
Ethisches Endziel „Paradies auf Erden“
Während nach den Religionen letztlich jedes Individuum die Vollkommenheit erreichen kann – wenn nicht während seiner Lebenszeit, dann wenigstens nach dem Tod (oder nach vielen Leben und Toden) in vielfältig vorgestellten „Paradiesen“ –, ist Forschung nicht in der Lage, dem Individuum solche zu verheißen. Sie kann daher auch nicht trösten. Dessen ungeachtet ist sie aber nicht weniger
Vorwort
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einer Paradiesvorstellung verhaftet: Ihr ständiges Bestreben, Mängel zu kompen sieren und dadurch zu einer „besseren“, weil weniger an Mängeln leidenden Welt fortzuschreiten, ist nur daraus verständlich. Sie kann zwar nicht das Paradies für jetzt lebende Individuen schaffen, aber möglicherweise für spätere. Nicht die Voll kommenheit des Individuums steht also als Ziel an, sondern die des Kollektivs Menschheit, als dessen Teil dann möglicherweise auch das einzelne Individuum seine Vollkommenheit erreicht. Das heißt freilich nicht, dass das Individuum jetzt der Forschung gleichgültig sei: Eindringliche Zeichen dafür sind die großen For schungsprogramme zur Findung des Todesgens und der Altersforschung, damit der Einzelne vielleicht doch einmal so lange im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte leben kann, um am zu erreichenden Endzustand der kollektiven Vollkommenheit der Menschheit teilzuhaben. Forschung geht in ihrem Weltbild also zwar – wiederum ganz gleich wie die Re ligionen – von der Erfahrung der Unvollkommenheit der menschlichen Existenz aus, glaubt aber – im Gegensatz zu den Religionen –, diese Mängel langfristig voll kommen kompensieren zu können. Ohne diese Annahme wäre das wissenschaftli che Fortschrittsstreben nicht verstehbar; dann könnte man sich ja auch mit dem Erreichten einmal zufriedengeben und den ungelösten Rest dem Transzendenten hoffnungsvoll anheimstellen. Das Ethikkonzept von Wissenschaft, Forschung und Technik erweist sich also als das einer Religion ohne Transzendenz – genauso, wie es Anselm Feuerbach verstanden hat: Religion umfasst das, was die Wissenschaft noch nicht erklären kann. Ein solches Ethikkonzept ist in einer gottlosen Welt tatsächlich plausibel, und das mag auch erklären, warum sich Ethik so schwer in Forschung und Wissenschaft integrieren lässt, dass man Ethikkommissionen braucht, welche dann nur noch prüfen, ob Rechtspositionen in der Forschung beachtet sind. Für die konkrete Arbeit selber wird Ethik verzichtbar, sobald das Kriterium „Mängelkompensation“ ausreichend erfüllt erscheint.
Dagegen: eine Ethik, die sich dem Ganzen des Lebens verpflichtet weiß
Für eine Ethik, die sich dem Ganzen des Lebens verpflichtet weiß, ist ein solches Konzept höchst unbefriedigend. Welche Rolle soll da noch die Verantwortung des Forschers spielen, welche Rolle hat da noch das Bekenntnis zu persönlichen Werte- und Lebensauffassungen, und wie soll man mit den Emotionen und Haltungen umgehen, die Menschen haben, auf deren Leben Forschungsergebnisse unmittelbar Einfluss nehmen? Auch das bestimmt die Qualität von Forschung.
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Vorwort
Aus diesem Grund hat die joan n eu m r e s earc h Forschungsgesellschaft mbH in Graz für ihre Forscher eine Ethikinitiative gestartet, um den Forscherinnen und Forschern ihre Verantwortung bewusst zu machen, um Denken und Wahrnehmung außerhalb der Routine zu fördern und damit in weiterer Folge die Qualität der Forschung zu heben. Seit 2007 steht den Forscherinnen und Forschern der joan n eu m r e s earc h neben entsprechenden Fortbildungsangeboten und Veranstaltungen eine eigene Ethikarbeitsgruppe als kritischer Reflexionspartner zur Verfügung. So können ethische Fragen diskutiert und die Forschenden in ihrem Entscheidungsprozess begleitet werden. Konkret besteht die Möglichkeit, aktuelle Fragen aus der Forschungsarbeit, bei denen sich ethische Bedenken auftun, auch auf institutioneller Ebene im Rahmen der Arbeitsgruppe zu diskutieren. Dabei gibt es keine generalisierte Grundentscheidung, sondern jeder Einzelfall wird separat geprüft. Unbenommen davon bleibt die persönliche ethische Entscheidung, die von jeder Einzelperson verantwortungsvoll und bewusst für sich zu treffen ist. Dahinter steht die Überzeugung, dass es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen ethischem Handeln im Alltag und dem Forschen, dem „Handeln“ des Wissenschafters, gibt. Diesem Bekenntnis hat sich offenbar der Rat für Forschung und Technologieentwicklung in seiner „Vision 2020“ angeschlossen, indem er in einem eigenen Kapitel zu Ethik und Moral feststellt, dass Wissenschaft und Forschung neben „Erkenntnis“ immer auch „Handlung“ und „Gestaltung“ bedeuten, und das Modell der Ethikinitiative der joan n eu m r e s earc h als beispielgebend hervorgehoben hat. Das Ziel kann nicht sein, ein „Paradies auf Erden“ zu schaffen, sondern das Ziel muss sein, in den Verstrickungen einer wesenhaft unvollkommenen Welt nach bestem Wissen und Gewissen verantwortungsvoll, gerecht und auch liebevoll zu handeln. Dieses Buch will einige Annäherungen dazu formulieren, wie sie im Diskurs der Arbeitsgruppe zwischen ihren Mitgliedern und mit bedeutenden Wissenschaftern als Gäste der Arbeitsgruppe sichtbar geworden sind. Bernhard Pelzl
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Elke Jantscher · Leopold Neuhold · Bernhard Pelzl Die joan n eu m r e s earc h-Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“. Programm und Modell Julian Nida-Rümelin Kernethik: die ethische Konstitution der Wissenschaft Manfred Prisching Ethische Personen und ethische Institutionen Leopold Neuhold Ethik und Ethikkommissionen/Ethikkomitees mit Blick auf Wissenschaft und Forschung – ein einfaches und doch komplexes Thema Sonja Rinofner-Kreidl Handlungstheoretische und ethische Aspekte der Verantwortung Claudia Reitinger Moralische Verantwortung im wissenschaftlich-technischen Bereich – mehr als nur ein leerer Begriff? Erwin Kubista Kritische Reflexionen zu Erwartungen und Möglichkeiten von ethischen Kontrollinstanzen in Natur- und technischen Wissenschaften Elke Jantscher Zur ethischen Beurteilung militärischer Forschungsprojekte bei j oan n eu m r e s earc h Franz Prettenthaler Anmerkungen zur moralischen Eigenverantwortung des Forschers und zu angewandter Ethik als Beruf in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften
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Inhaltsverzeichnis
Werner Theobald Umweltethik – eine kritische Bestandsaufnahme Sara-Friederike Blumenthal Wissenschaftsbezogene Ethikinitiativen supra-/nationaler Organisationen im europäischen Forschungsraum
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Ethikleitlinien der joan n eu m r e s earc h Forschungsgesellschaft mbH, Graz
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Autoren
Elke Jantscher, Leopold Neuhold, Bernhard Pelzl
Die JOANNEUM RESEARCH -Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ Programm und Modell
1. Ausgangspunkt
Die joan n eu m r e s earc h Forschungsgesellschaft mbH hat im Jahr 2007 die Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ eingerichtet. Damit hat das Unternehmen nationale wie europäische Initiativen aufgegriffen, z. B.: • Ethikvertrag – (österreichischer) Forschungskollektivvertrag • Europäische Charter für Forscher & Verhaltenskodex für die Einstellung von Forschern • Verhaltenskodex der Europäischen Kommission – Standards for ethics in research • Ethik in der Wissenschaft (Rechtsprechungen, Gesetze, Übereinkommen)1 Entsprechende Vorarbeiten wurden in den von der joan n eu m r e s earc h Forschungsgesellschaft mbH in den Jahren 2002 („Menschenzucht ?“), 2003 („Das Menschenrecht auf Geborenwerden“) und 2004 („Wenig Arbeit – viel zu tun“) veranstalteten „Mariazeller Gesprächen – Ethik in der Wissenschaft“ mit international renommierten Experten erarbeitet und publiziert.2 Ebenso hat die joan n eu m r e s earc h Forschungsgesellschaft mbH seit 2005 ethische Fragestellungen in einem eigenen Programmteil in die „Mariazeller Technologiegespräche“ eingebracht (2005/6 : „Nanotechnologie“, 2006/7 : „Mobilität“).3 1 Informationen auf http ://ec.europa.eu/research/science-society/page_de.cfm ?id=3181 2 Ethik in der Forschung, in : Pelzl, Bernhard (Hg.) : JR-Handbuch der Anwendungsorientierten Forschung, Graz : Styria 2001, S. 77–82 ; Ethik in der Krise ? – Mariazeller Gespräche, in : Prisching, Manfred u. a. (Hg.) : Innovation Steiermark 2004, Graz : Leykam 2004, S. 78f. ; Science – a new Religion for Europe ?, in : Polzer, Miroslav/Devetak, Silvio/Toplak, Ludvik/Unger, Felix/Eder Maria (Hg.) : Religion and European Integration. Religion as a Factor of Stability and Development in South Eastern Europe. Proceedings of contributions from the Maribor Symposium 2005, Weimar : edition weimar (European Academy of Science and Arts) 2007, S. 301–305 3 Im Jahr 2008 wurde die Veranstaltungsreihe im Auftrag der zuständigen Landesrätin für Forschung, Infrastruktur und Verkehr, Mag. Kristina Edlinger-Ploder, welche die Initiative sehr unterstützt und
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Die Arbeit der Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ erfolgt auf der im Folgenden umrissenen Grundlage, welche die Richtung angibt und Basis des konkreten in der Arbeitsgruppe entwickelten Forschungsprogramms ist, das ständig weiterentwickelt wird und als erstes großes Ergebnis 2010 „Ethikleitlinien für die Forschung“ im Unternehmen erarbeitet hat (letztes Kapitel dieses Buches).
2. Thematische Orientierung 2.1 Ethik als Freihalten des Forschungsprogramms vor Vereinnahmungen
In einem antiken Weltmodell gab es eine Ordnung der Erkenntnis auf dem Hintergrund des erkannten oder konstruierten Sinnes von Welt. In einer hierarchischen Ordnung hatte jeder Erwerb von Wissen das Ziel, den Sinn von Welt aufzudecken. In der Moderne hat sich dies grundlegend verändert. Sie hat nach dem Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin „die empirische oder konsensuale Gewissheit darüber verloren, ob die Dinge einen Sinn in sich haben. Die Erkenntnisformen des Wahren, des Guten, des Schönen stehen in einem nicht hierarchischen, nicht theologischen Verhältnis zueinander. Das Wissen wird amoralisch. Es steht außerhalb der Moral.“4 Dadurch kommt es zu einem starken Entwicklungsschub. In der Nichtbindung an moralische Interessen kann die Wissenschaft gegen Vorur teile angehen, kann Tabus brechen, kann neue Gestaltungen ins Auge fassen. Daraus schließt Ladenthin konsequenterweise : „Die Amoralität der Wissenschaft ist ein hoher Wert. Auf ihr gründet die weltweite Akzeptanz des europäischen Wissensmodells.“5 Und das erklärt auch ihren Erfolg. Angesichts dieser Entwicklung muss der Blick auf den Umgang mit dem durch Forschung erworbenen und in der Forschung angestrebten Wissen gerichtet werden. Und hier ist der vorzügliche Ort der Ethik gelegen. Ethik kann als die Frage nach einem solchen Umgang mit dem in der Forschung erworbenen Wissen, welcher der Würde des Menschen entspricht und die Perspektiven des Menschlichen offenhält, verstanden werden. In der Ethik werden die verschiedenen Ansprüche der einzelnen Bereiche aufeinander bezogen und, wenn auch oft fragmentiert, so doch in eine Sicht des Ganzen gebracht.
fördert, neu strukturiert und wird seither als „Mariazeller Dialog – Ethik in Forschung und Technik“ mit den Themen „Ethik der Hirnforschung“ (2008) und „Ethik der Umweltforschung – Green Jobs“ (2009) fortgesetzt. 4 Ladenthin, V.: In der Ethik-Falle. Forschung, in : Rheinischer Merkur Nr. 15, 11.04.2002, 17 5 Ladenthin : In der Ethik-Falle. 17
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Ladenthin geht aber noch weiter. Er sieht die Wissenschaft auch als Kontrolle, als sittliche Forderung, nur das zuzulassen, „was den wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht widerspricht.“ 6 Das bedeutet nun, dass Forschung nicht auf angewandte Forschung und damit auf eine Technik, die auf einer Grundlage beruht, reduziert werden darf, sondern auch alternative Grundlagen beforscht werden müssen. Als Beispiel kann etwa die Konzentration der Forschung auf „Erdöl-“ oder „Atomenergie“ gelten, die aufgrund der Konzentration des wirtschaftlichen Interesses auf eben diese Energie die Beforschung anderer Energieformen wenn schon nicht verhindert, so doch bremst. Erst so kann zudem der Horizont innerhalb der Forschung für Perspektiven auch in die Richtung, was nicht angewandt werden darf, eröffnet werden. Durch vorschnelle Konzentration auf Anwendung kann das in Wissenschaft und Forschung eröffnete Mehrwissen, das erst Fragehorizonte eröffnet, verschlossen bleiben und werden. Es sind außerwissenschaftliche Kriterien, die Probleme verursachen oder eben in eine richtige Richtung lenken, wobei die Rede von der richtigen Richtung nicht nur an die Folgenabschätzung gebunden werden kann, sondern schon die Alternativenbeforschung beinhaltet. Infolge der Bindung der Wissenschaft an außerwissenschaftliche Ziele hat sie in vielen Fällen überhaupt nicht mehr die Freiheit, ihre Handlungen ethisch zu reflektieren, da das Ergebnis dieser Reflexion zu einer Benachteiligung auf dem Markt, der für die Forschung die wirtschaftlichen Ressourcen bereithält, führen könnte. Ethik bedeutet so das Offenhalten des Entscheidungsraumes für die Wissenschaft angesichts vielfältiger, auf die Forschung einwirkender Interessen, die diese Forschung in eine Richtung zu lenken versuchen. Ethik muss sich der Feststellung und Analyse dieser auf die Forschung einwirkenden, außerwissenschaftlichen Interessen stellen, nachdem sie zuerst der reduzierenden Verengung – auch durch verengte ethische Perspektiven – durch Umsetzung und technische Anwendung gewehrt hat. Diese Interessen bestimmen in ihrer gegenseitigen Beeinflussung nicht nur wesentlich die Auswahl der Forschungsbereiche mit, sondern auch die Anwendung bzw. die Nichtanwendung der durch die Forschung erzielten Ergebnisse. So hatte die Wissenschaft – etwa im Zusammenhang mit der BSE-Krise – schon lange gewisse Mastformen als höchst problematisch und gefährlich erkannt, während deren Anwendbarkeit von der technischen Seite her als äußerst positiv dargestellt wurde. Diese Ergebnisse kamen aber nicht durch, weil sie durch wirtschaftliche Interessen und Lobbys an einer wirksamen Anwendung gehindert wurden. 6 Ladenthin : In der Ethik-Falle. 17
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Die Interessen in ihrer gegenseitigen Bezogenheit zu analysieren und damit die verschiedenen Perspektiven, die den Forschungsprozess mitbestimmen, offen zu halten, das ist Aufgabe der Ethik. Die Personen, Personengruppen oder Bereiche, die mit der wissenschaftlichen Forschung außerwissenschaftliche Ziele durchsetzen wollen, sind somit in der ethischen Entscheidung – und Moral bzw. Ethik zeigen sich nach Otfried Höffe als „Preis der Moderne“ 7, die entscheidungsoffene Situationen ermöglicht, zugleich aber auch Prozesse stimuliert, die diese Entscheidungsoffenheit orientieren. Damit soll Beschränkungen gewehrt werden, die durch Reduktion von Wissen auf Technik und in weiterer Folge auf technokratische Lösungen geschehen, die keine Fragen mehr zulassen, weil die Fragen technisch schon beantwortet sind. Schema : Wissenschaftliche Forschung relativ frei von moralischen Festlegungen (also die Bezüge, in denen Forschung als menschliches Handlungssystem steht, achtend und beachtend, nicht aber schon von zum Teil divergierenden Werten in eine bestimmte Richtung gedrängt) Grundlagenforschung
Angewandte Forschung : Technikentwicklung
Frühzeitiges Festlegen auf einen Weg Technokratische Verkürzung : Außer technischen Umsetzungsfragen werden keine Fragen gelten gelassen. Außerwissenschaftliche Interessen, welche die Forschung bestimmen : Forscherinteressen Wirtschaftliche Interessen Gesellschaftliche Interessen Sicherheitsinteressen Soziale Interessen Mode- (Neuheits-)Interessen
7 Höffe, Otfried : Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt. Frankfurt a. M. 31995, bes. 93ff.
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2.2 Ethik als Einordnung der Ziele und Methoden der Forschung in auf das Ganze des menschlichen Lebens gerichtete Perspektiven
Mit der Frage nach den Zielen der Forschung wird in ethischer Sicht die Perspektive des Ganzen eines gelungenen menschlichen Lebens eröffnet. Technokratische Denkmodelle, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie keine Fragen mehr stellen, weil alle Fragen technisch schon beantwortet sind, müssen in der ethischen Frage, die diese Perspektive des Ganzen in den Mittelpunkt stellt, hinterfragt werden. Es geht dabei nicht nur um den Ausschluss unethischer Ziele – also solcher, die sich nicht in das Ganze des gelungenen Lebens einordnen lassen – aus Forschungsprogrammen, sondern auch um das Setzen von Prioritäten in der Forschungslandschaft. Aufgrund der Beengtheit der Ressourcen, die für die Forschung zur Verfügung stehen, muss oft eine Entscheidung über die konkret zu bearbeitenden Forschungsbereiche getroffen werden. So ist es beispielsweise problematisch, wenn für Luxusbedürfnisse weniger Menschen viele Forschungskapazitäten gebunden werden, während für Elementarbedürfnisse einer großen Mehrheit keine oder nur bescheidene Mittel zur Verfügung stehen. Solches zeigt sich beispielsweise in medizinischen Forschungsvorhaben, die sich schwerpunktmäßig auf Medikamente für „westliche Modekrankheiten“ – wie etwa verschiedene Formen von Diabetes – konzentrieren, während sich in Entwicklungsländern weit verbreitete Krankheiten – wie etwa Malaria – nicht dieser forscherischen Aufmerksamkeit erfreuen. Das heißt nun nicht, dass es unethisch sei, in Bezug auf Diabetes zu forschen, dies bedeutet aber, dass Forschung auf dem Feld der Malaria nicht stiefmütterlich abgeschoben werden sollte, um in diesem Beispiel zu bleiben. Der materielle Output allein darf nicht das einzige Kriterium der Forschungsentscheidung darstellen. In einer Zeit, die zu einem guten Teil dadurch gekennzeichnet ist, dass sie von allem den Preis weiß, aber nur von wenigem den Wert, ist es wichtig, den Blick für Wertefragen in der Forschungslandschaft zu öffnen. Werte, die in der Forschung als Bevorzugungsmodi definiert werden, als tragende Entscheidungsgrößen geltend zu machen, ist eine wichtige Aufgabe für die Ethik in der Forschung. Dazu ist es notwendig, Forschungsziele in Zusammenhängen zu sehen und in solche zu stellen. Durch die Segmentierung und funktionale Differenzierung in der Gesellschaft und auch in der Forschung sind die Forschungserträge in den einzelnen Bereichen oft sehr hoch, aber mitunter eine Belastung für andere Bereiche, z. B. für die Mitmenschlichkeit oder für die Umwelt. Die Bilanzierung über Einzelbereiche führt oft zu einer Erhöhung der Kosten für die Abstimmung der Einzelbereiche und deswegen auch zu einer Erhöhung der Gesamtkosten. Ethik hat in diesem Zusammenhang die Aufgabe, die einzelnen Bereiche aufeinander
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abzustimmen, indem sie einen Abstimmungsrahmen geltend macht und eine entsprechende Rahmenordnung anstrebt. Dadurch kann nachhaltiger Nutzen für die Gesellschaft erreicht werden. Ethik hat aber nicht nur die Aufgabe der Zielbewertung, sondern auch die der Bewertung der für die Forschung eingesetzten Mittel. Mittel und Methoden sind nicht nur rein funktional, sondern auch in ihrer Wirkung auf Standards der Menschlichkeit zu beurteilen. So stellt sich etwa die ethische Frage in Bezug auf Forschung, die menschliches Leben verbraucht. Wenn davon ausgegangen wird, dass Ziele Mittel heiligen, so muss dem entgegengesetzt werden, dass es gewisse Mittel gibt – wie etwa den erwähnten Verbrauch von Leben –, die durch kein Ziel gerechtfertigt werden können. Eine Erfolgsethik in dieser Form erweist sich als problematisch. In Bezug auf Mittel soll unter anderem Folgendes bedacht werden : • Es gibt, wie schon angedeutet, Mittel, die in sich unethisch sind, weil sie etwa von einer Missachtung von Menschenrechten geprägt sind. • Tiere oder Pflanzen haben einen Eigenwert, der es verhindern sollte, sie nur in die Mittelperspektive einzurücken und diesen Eigenwert, der zu beachten nicht nur in Bezug auf Nachhaltigkeit wichtig ist, dadurch zu übersehen. • Die Anwendung gewisser Mittel kann Folgen zeitigen, die in ihrer Nichtrevidierbarkeit problematisch sind. Deswegen empfiehlt sich ein sehr vorsichtiger Umgang mit diesen Mitteln. • Die Menschenwürde muss in Forschungsprojekten unangetastet bleiben, was bedeutet, dass fundamentale Eigenschaften von Personen nicht ge- bzw. zerstört werden dürfen. Der Kant’sche Imperativ verbietet es, Menschen nur als Mittel zu behandeln. • Es gibt in gewissen Mitteln trotz aller Neutralität Tendenzen, die im Durchschnitt bei ihrer Anwendung eintreten und als problematisch angesehen werden müssen. Diese Tendenzen müssen beachtet und realistischerweise in Forschungsprojekten berücksichtigt werden. • Es gibt in unserer Gesellschaft Tendenzen, Mittel, die als Mittel sehr gut sind, zu Zielen auszugestalten. Durch dieses Vertauschen von Zielen und Mitteln wird der Mensch sich selbst entfremdet. In der Betrachtung von Zielen wie von Mitteln geht es der Ethik in der Forschung darum, Perspektiven offenzuhalten, die den Forschungsprozess auf eine Vermenschlichung des Lebens beziehen. Diese Perspektiven können in folgenden Imperativen verdeutlicht werden :
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Forsche forschungsgerecht! Wissenschaftliche Grundsätze sind die tragenden Gründe von Forschungsprojekten ; das methodisch geleitete Streben nach Erkenntnis ist wesentlich und damit eine Auszeichnung der eingesetzten Methoden und das Streben nach Transparenz und Überprüfbarkeit. Forsche menschengerecht! Die Tatsache, dass in der Forschung Menschen tätig sind und Forschung Wirkungen – und das oft langfristiger Art – auf Menschen zeitigt, verlangt nach einem verantworteten Umgang mit Menschen und auch die Ausrichtung auf Fernverantwortung im und mit dem Forschungsprozess. Forsche zukunftsgerecht! Forschung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die Zukunft wesentlich mitbestimmt. Dies führt zur Forderung, so zu forschen, dass Zukunft eröffnet und nicht verschlossen wird. Forsche umweltgerecht! Forschung findet in einer konkreten Umwelt statt, die durch die Forschung wesentlich beeinflusst wird. Diese Umwelt als Mitwelt zu betrachten, die in ihren Zusammenhängen geachtet und ernst genommen werden muss, sich ein Maß an der Verträglichkeit für die Umwelt zu nehmen, gehört zur forscherischen Verantwortung. Forsche gesellschaftsgerecht! Forschung spielt sich im Rahmen einer Gesellschaft ab, die durch Forschung mit neuen Weichenstellungen versehen wird. Diese Weichenstellungen so vorzunehmen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt gefördert und gesellschaftliche Prozesse auf ein friedliches Zusammenleben hingelenkt werden, ist eine Rahmenbedingung für forscherisches Handeln. 2.3 Ethik als Definition von Verfahren und Prozeduren an einschneidenden Übergängen im Forschungsprozess
Ethik darf den Forschungsprozess nicht anmaßend bestimmen wollen, sondern muss, den Prozess der Forschung begleitend, Fragen stellen und damit infrage stellen, zugleich aber an der Entwicklung von Verfahren zur Bewältigung dieser krisenhaften Entwicklung mitarbeiten. Ethik kann angesichts der heutigen dynamischen Forschung nicht mehr vor allem mit zu erreichenden Endgestalten ope-
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rieren, sondern muss sich vor allem als Prozessbegleitung und Prozessgestaltung verstehen. Ethik muss sich in Bezug auf die Forschung vor allem als Wegweisung durch Weggefährtenschaft, nicht durch von außen herangetragene Vorgaben, positionieren. Dabei gibt es in diesem Prozess mehrere Übergänge, an denen Ethik besonders gefragt ist. Beispielsweise sollen folgende betrachtet werden : 1. Die Auswahl des Forschungszieles bzw. -projektes : Hier kann sich Ethik als beratende Instanz durch Einbeziehung der verschiedenen in Punkt 2 angeführten Dimensionen erweisen. 2. Die Auswahl der Forschungspersonen : In der von der Europäischen Kommission 2005 herausgegebenen „Europäischen Charta für Forscher“ und im von der Kommission editierten „Verhaltenskodex für die Einstellung von Forschern“ sind sowohl Verantwortlichkeiten von Forschungsinstitutionen wie auch Forschern ausgeführt. Ein Forscher oder eine Forscherin benötigt bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, wie Ehrlichkeit, Bereitschaft zur Kooperation, Verlässlichkeit oder Zivilcourage, die zu fördern Forschungsunternehmen verpflichtet sind. Zudem sind Forscherkarrieren verantwortlich zu gestalten, damit die Forscherin oder der Forscher ein bestimmtes Forschungsprojekt als einen Abschnitt einer Forschungskarriere gestalten kann. 3. Krisenhafte Phasen des Forschungsprozesses : In Forschungsprozessen zeigen sich immer wieder krisenhafte Entwicklungen, etwa die Gefahr des Verfehlens des Forschungszieles oder das Eintreffen eines anderen als des erwarteten Ergebnisses. In diesen Phasen, die oft durch Verengung geprägt sind und Kurzschlussreaktionen, wie etwa das Fälschen von Forschungsergebnissen, hervorrufen können, bedarf es der Weitung der Situation auch durch ethische Begleitung. 4. Verwertung des Forschungsergebnisses in der ganz konkreten Entwicklung von Techniken, die auf diesen Forschungsergebnissen aufbauen : Mit der Wahl einer Technik zur Umsetzung des Forschungsergebnisses ist in vielen Fällen eine praktische „Abwahl“ anderer möglicher Techniken gegeben. Hier ist es notwendig, sich die Kriterien für die Abwahl und die Wahl präsent zu halten, um nicht die gewählte Möglichkeit als die einzig mögliche und damit notwendige Umsetzung zu sehen. Durch einen solchen Zugang können Optionen für die Zukunft offengehalten werden. Außerdem bedarf es einer entsprechenden transparenten Dokumentation des Forschungsprozesses, um Nachprüfbarkeit und Kontrolle des Forschungsprozesses zu gewährleisten. 5. Solidarischer Umgang mit Eigentum an Wissen, etwa in der Frage von Patenten : Die Verwertung der Forschungsergebnisse ist auch vor dem Hintergrund des
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Grundsatzes der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, auch des Eigentums an Wissen, zu sehen. In der Weitung des Eigentumsbegriffes auf Eigentum an Wissen können Kriterien für den Umgang mit dem durch Forschungsprojekte erworbenen Wissen gewonnen werden. 6. Verwertung von Forschungsergebnissen, die auf unethische Weise erzielt worden sind : In Forschungsprozessen kann immer wieder die Situation eintreten, dass man auf Wissen, das auf unethische Weise, etwa durch Entwürdigung oder gar Tötung von Menschen, gewonnen worden ist, aufbauen könnte. Wie soll man in solchen Situationen reagieren ? Das Wissen ist einerseits da, und Erkenntnisse können nicht ungeschehen gemacht werden. Andererseits muss man den Menschen gerecht werden, die zur Erzielung dieser Erkenntnisse entwürdigt worden sind. 2.4 Ethik als Dekonstruktion bzw. Analyse von die Forschung bestimmenden Weltbildern und Weltanschauungen
Ethik baut immer auf Sinnkonstruktionen auf, wie sie diese auch wesentlich mitbestimmt. Ethik muss sich als Handlungswissenschaft der Sinnbestimmtheit des Handelns bewusst werden und diese Sinnbestimmtheit bewusst machen. Max Weber definiert Handeln und soziales Handeln folgendermaßen : ‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei, ob äußeres oder inneres Tun, unterlassen oder dulden) heißen, wenn und insofern, als der oder die Handelnde/n mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ 8 Damit zeigt er auf, dass Handeln in einem notwendigen Sinnkontext steht, der von der Ethik analysiert werden muss. In der Ethikdefinition von Valentin Zsifkovits kommt diese Sinnbestimmtheit von Ethik, der sie sich immer selbst stellen muss, zum Ausdruck, wenn er Ethik als „ein System begründeter, von der Idee eines sinnvollen menschlichen Lebens geleiteter Aussagen über das gute bzw. richtige Handeln und Verhalten unter Beachtung der entsprechenden Gesinnung und mit Ausrichtung auf entsprechende Institutionen und Strukturen“ 9 fasst. Diese Ideen eines sinnvollen menschlichen Lebens, die für verschiedene Typen von Ethik verschiedene sind – so gehen etwa Utilitarismus, Erfolgsethik, Natur8 Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 1. Halbband, Tübingen 51976, 1 9 Zsifkovits, V.: Wirtschaft ohne Moral ? Innsbruck 1994, 14f.
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rechtsethik oder Pflichtenethik von verschiedenen Sinnkonzepten aus –, müssen von Vertretern der Ethik offengelegt werden, um die an die Forschung herangetragenen Weltanschauungen, die den Forschungsprozess in eine gewisse Richtung lenken – ob direkt oder indirekt, soll dahingestellt bleiben –, glaubwürdig zu analysieren und dann auch dekonstruieren zu können. Solche Welt- und Menschenbilder, die heute für die Forschung in manchen Fällen bestimmend gemacht werden, sind etwa : • Eine Sicht der Welt und auch des Menschen als Maschine, die von einem determi nistischen Bedingungsgefüge ausgeht, das unilineare Betrachtungsweisen nahe legt. Der Forschungsprozess wird dann in diese Unilinearität hineingezogen, die Zusammenhänge als notwendig fasst und dadurch alternative Zugangsweisen ausschließt. Die Reduktion darauf, dass mit der Feststellung eines Zusammenhanges schon die ganze Wirklichkeit ausgesagt ist, führt im Forschungsprozess oft zu fatalen Verengungen – vor allem, wenn es um die Erforschung des Menschen geht, der als „unaussagbarer“ dann aussagbar gemacht werden soll. • Die Anschauung von der prinzipiellen Machbarkeit von Mensch und Welt, die zur technokratischen Verengung führt, die den technischen Zugriff als Gesamtzugriff ausgestaltet und damit zur Vergewaltigung von Mensch und Natur führt. • Die Vorstellung, dass der Markt als einziges oder wenigstens vorrangiges Maß der Welt und so auch der Forschung dient, was dazu führt, dass vorrangig marktkonforme Forschung betrieben wird und Forschungsergebnisse auch meist ausschließlich im Marktmodell verwertet werden. Mit der damit gegebenen Reduktion auf Preise kann der Wertebezug nur über Preise hergestellt werden, was dazu führt, dass auch das nicht Preisfähige in Preisrelationen gefasst wird. Das Konsummodell wird damit auch für die Forschung bestimmend ; und in diesem Konsumismus wird der Mensch in Ausklammerung von Sehnsüchten auf Bedürfnisse reduziert und Forschung damit zur Bedürfnisbefriedigungsanstalt degradiert. • Die Anschauung, dass das Neue in sich schon das Bessere ist, was sich in einer Beweislastumkehr dergestalt auswirkt, dass das Herkömmliche beweisen muss, dass es das Bessere ist. Diese damit gegebene Abwertung des Herkömmlichen kann auf der rein praktischen Forschungsebene zu einer Verteuerung infolge der Notwendigkeit, schon bekannte Ergebnisse „neu zu entdecken“ oder wenigstens in neue Zusammenhänge zu rücken, führen. Im Prinzipiellen ist damit die Gefahr einer unzulässigen Konzentration auf die Gegenwart in Ausklammerung von Vergangenheit und Zukunft verbunden, und Forschung wird dadurch aus Traditionen herausgelöst.
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• Eine Steigerungstendenz, die in der Überbietung des Derzeitigen das Ziel sieht und damit den Abbau und das Überschreiten von Grenzen – gleich, ob sie hemmend oder schützend sind – bewirken will. In der Notwendigkeit der Überbietung steht die Menschlichkeit in Gefahr, ignoriert zu werden. In der Analyse und Kritik von Weltanschauungen muss sich aber auch die Ethik ihrer weltanschaulichen Gebundenheit bewusst werden und diese ausweisen. 2.5 Konkrete Aufgaben des Programms „Ethik in Forschung und Technik“
Den vier Zugängen zum Problem Ethik und Forschung entsprechen vier Aufgabenbündel : 1. Entwicklung von Instrumenten zur Analyse von Beeinflussungsfaktoren auf Forschung 2. Sichtung und Erstellung konkreter Ethikkodizes für die Forschung, welche die ethischen Bezugspunkte formulieren und als handlungsleitende Orientierungen für den Bereich der Forschung gelten können 3. Entwicklung von Verfahren zur Begleitung des Forschungsprozesses, besonders in kritischen Übergängen 4. Entwicklung von Instrumenten einer Weltanschauungsanalyse in Bezug auf gesellschaftliche Forderungen an die Forschung
3. Konkrete Umsetzung
Die Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ erfüllt auf der Grundlage von 2. folgende konkrete Aufträge im Kontext der Forschung der joan n eu m r e s earc h : 1. Ausarbeitung von Positionen aus den laufenden Diskursen und deren Verbreitung 2. Auf der Grundlage dieser Positionen : Begleitung von Forschungsprojekten der joan n eu m r e s earc h und Reflexion von Methoden, Zielen und Ergebnissen 3. Beratung von und Reflexionen mit Forschern des Unternehmens, speziell ihrer individuellen Zugänge zur Forschung und Wissenschaft in joan n eu m r e s earc h 4. Durchführung von Workshops und Fortbildungsveranstaltungen, um Nachdenk-
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Elke Jantscher, Leopold Neuhold, Bernhard Pelzl
lichkeit (Intellektualität) und Verantwortung zu fördern, vor allem auch im Zusammenhang mit den Fragen der Freiheit der Forschung 5. Angestrebt werden ebenso wirtschaftliche Erlöse, z. B. durch Beauftragung von Gutachten von Institutionen wie Ethikkommissionen 6. Diese Arbeit erfolgt in folgenden Modulen, die sich an Internationalität, Wissenschaftlichkeit mit hoher Praxisorientierung, Unternehmensbezug und Förderung der Diskurskultur
orientieren : • Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ :
Kernstück ist die Arbeit der Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“, die aus zehn Mitarbeitern des Unternehmens besteht und das Arbeitsprogramm abarbeitet. Moderator und einziger „Ethikexperte“ ist Univ.-Prof. Dr. Leopold Neuhold, Institut für Ethik und Gesellschaftslehre der Universität Graz, der das Unternehmen bei den bisherigen Initiativen zu Fragen der Ethik in Forschung und Technik sachkundig begleitet hat. Um die Mitarbeit in der Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ können sich Mitarbeiter des Unternehmens bewerben. Sie werden in Abstimmung mit der Arbeitsgruppe von der Geschäftsführung zu Mitgliedern bestellt. Die Arbeit der Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ wird vom Assistenten der Geschäftsführung-Wissenschaft organisatorisch betreut und protokolliert. • Arbeitsprogramm und Begutachtung :
Das Arbeitsprogramm wird jährlich – auf den Ergebnissen der Arbeit des Vorjahres aufbauend und unter Berücksichtigung des internationalen Diskurses – von der Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ neu konzipiert bzw. an den Stand des Diskurses angepasst und unterliegt, wie alle Forschungsprogramme des Unternehmens, der Begutachtung des wissenschaftlichen Beirats. In diesem Zusammenhang werden, analog zur Vorgangsweise bei den Instituten, ebenso die Ergebnisse der Arbeit der Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ begutachtet. Die Begutachtung von Arbeitsprogramm und Ergebnissen erfolgt in einem Workshop.
Die JOANNEUM RESEARCH -Arbeitsgruppe
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• International orientiertes Fellowship-Programm :
Die Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ schreibt Diplomarbeiten bzw. Dissertationen zu wesentlichen Themen des Arbeitsprogramms international aus. Über die Vergabe entscheidet eine Jury, die aus den Mitgliedern der Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“, Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirates und dem Wissenschaftlichen Direktor besteht. Das Ziel sind einschlägige, dem Unternehmen zuzurechnende Publikationen, welche zentrale Fragestellungen unter Berücksichtigung des internationalen Diskurses behandeln und so diesen Diskurs vorantreiben. Die Diplomanden und Dissertanten, die weder Wohnort noch Betreuung im Inland haben müssen, berichten in den Workshops regelmäßig über den Fortgang ihrer Arbeiten und stellen ihre vorläufigen Ergebnisse zur Diskussion. Sie sind verpflichtet, diese bei der weiteren Arbeit zu berücksichtigen. • Vermittlung und Diskussion der Ergebnisse über das JR-Schulungsprogramm :
Die Ergebnisse der Arbeit werden den Mitarbeitern des Unternehmens im Rahmen des internen Schulungs- und Fortbildungsprogramms vermittelt und mit ihnen diskutiert. Die Erfahrungen fließen wieder in die Überlegungen und Diskussionen der Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ ein. Eine teilweise Öffnung des internen Schulungsprogramms für andere Forschungseinrichtungen soll bei gutem Fortgang der Arbeit in Erwägung gezogen werden. • Öffentlichkeitswirksamkeit :
Ein bis zwei Mal jährlich, mindestens aber mit dem jährlichen „Mariazeller Dialog – Ethik in Forschung und Technik“, tritt die joan n eu m r e s earc h Forschungsgesellschaft über ihre Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ in Veranstaltungen mit international renommierten Experten als Gästen an die Öffentlichkeit.
Julian Nida-Rümelin
Kernethik : die ethische Konstitution der Wissenschaft
Mein Interesse, zu dieser Publikation der Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ der joan n eu m r e s earc h Forschungsgesellschaft einen Beitrag zu leisten, ist dadurch motiviert, dass die Ethikinitiative dieser außeruniversitären Forschungseinrichtung eine ungewöhnliche ist, weil sie einen Brückenschlag zwischen Philosophie sowie angewandter Forschung und Technik versucht, indem sie die ethische Konstitution von Wissenschaft und technischer Praxis ins Auge fasst. Ich beginne meine Überlegungen zur Ethik in Wissenschaft, Forschung und Technik mit einer Frage, welche die Philosophie seit Jahrtausenden beschäftigt, die aber für die Thematik unumgänglich ist : Wir handeln und urteilen, und es ist spezifisch menschlich, dass wir für unsere Überzeugungen, Meinungen und Handlungen Gründe vorbringen können. Wenn wir gefragt werden, können wir sagen, warum wir etwas genau so tun oder beurteilen. Tiere können das nicht. Es ist sehr unplausibel anzunehmen, dass Tiere keine Überzeugungen haben. Sie haben Überzeugung. Hochentwickelte Säugetierarten scheinen zumindest so etwas wie Entscheidungen zu treffen, zwischen Alternativen zu schwanken, aber was sie nicht können, ist, Gründe für das, was sie tun, anzugeben. Das können nur wir Menschen ; wir sind gewissermaßen Gründe produzierende und Gründe erwartende Lebewesen. Nun haben wir uns angewöhnt, dass wir in der Neuzeit sehr übersichtlich begründen können : durch wissenschaftliche oder philosophische Analyse. Dabei gibt es zwei Grundmotive : Das eine Grundmotiv ist Eigeninteresse und das andere die Moral, die dem Eigeninteresse Schranken von außen auferlegt. Das ist freilich eine sehr massive Vergröberung der Situation, denn wenn Sie sich überlegen, warum Sie etwas tun, dann sind viele der Motive, die wir im Alltag haben, die wir als Gründe anführen, wenn wir gefragt werden, warum wir etwas tun, in diese Dichotomie nur mit größter Mühe einzuordnen. Ich gebe ein Beispiel aus der Arbeitsweise von Wissenschaftern. Sie werden gefragt, warum sie sich tage- und wochenlang überarbeiten, und ihre Antwort ist : „Ich möchte ein wirklich gutes Buch schreiben.“ Es wird nachgefragt : „Was für Eigeninteresse haben Sie denn daran ?“ – Vielleicht haben sie ein solches Eigeninteresse, aber das ist nicht ausgemacht, es kann sein, dass sie ein Verpflichtungsgefühl haben, ein gutes Buch zu schreiben. Vielleicht ist die Begründung sogar, das gehöre zum Ethos der Wis-
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Julian Nida-Rümelin
senschaft, dass es ein wissenschaftliches Buch gut wird. – Ist das Altruismus ? Meint ein Wissenschafter wirklich, er tue den anderen etwas Gutes, wenn er ein gutes Buch schreibt ? – Das ist ein Beispiel, das zeigt, dass diese schlichte Dichotomie zwischen Eigeninteresse und Moralität sich nicht so einfach durchhalten lässt. Damit unsere Praxis, unsere Alltagspraxis, unsere technisch imprägnierte Praxis, unsere Praxis als Wissenschafterinnen und Wissenschafter überhaupt verständlich für andere ist, muss sie – ich verwende jetzt mit etwas Zögern diesen Begriff, aber ich glaube, er ist unumgänglich – in einem gewissen Maße wenigstens kohärent sein : Es kann nicht sein, dass wir an einem Tag bestimmte Gründe für unser Handeln anführen und, ohne das wiederum näher begründen zu können, am nächsten Tag ganz andere Gründe, die mit den Gründen vom Vortag nicht vereinbar sind. Man kann das auch so formulieren : Wir würden als Personen unverständlich werden, bis hin zu pathologischen Grenzsituationen. Man würde nicht mehr wissen, mit wem man es zu tun hat. Was ist das eigentlich für jemand ? Wofür steht er oder sie ? Was sind seine/ihre Werte, Haltungen, Einstellungen, Dispositionen, die ihn/ sie prägen in seiner/ihrer Praxis, Alltagspraxis, wissenschaftlichen Praxis, technischen Praxis ? Ich gehe den nächsten Schritt und komme zu einem Thema, das mich jahrelang beschäftigt hat und dann auch Gegenstand meiner Habilitationsschrift war : Gerade in der ökonomisch imprägnierten Welt des Handelns, des Entscheidens, wird häufig die Auffassung vertreten, dass sich Rationalität dadurch auszeichne, dass man die Konsequenzen seines Handelns optimiert. Das ist in hohem Maße plausibel. Rational handeln heißt, ich muss mir überlegen, welche Ziele ich habe und welches Handeln zu diesem Ziel optimal passt, ein gutes Instrument ist, um diese Ziele zu erreichen. Man nennt diese Auffassung Konsequenzialismus. Konsequenzialismus lässt sich mit formalen Mitteln präzisieren : Entscheidungstheorie kann da helfen, auch Wahrscheinlichkeitstheorie. Konsequenzialistisch rational ist eine Handlung oder eine Entscheidung dann, wenn sie die jeweiligen Ziele des Handelnden optimiert. Diese Ziele müssen mit den Interessen der handelnden Personen zusammenhängen. Wenn wir annehmen, dass diese Interessen das seien, was diese Person für sich für wünschenswert hält, also einen weiteren Schritt der Subjektivierung gehen, dann wird diese Form von Rationalität allerdings sehr einseitig. Ich glaube daher, dass diese Auffassung falsch ist. Ich nenne hier die drei in meinen Augen wichtigsten Gegenargumente. Das erste ist : Wir haben individuelle Rechte. Man kann individuelle Rechte so verstehen, dass sie die Autonomie des Handelns des Akteurs schützen, dass sie anderen nicht erlauben, in eine Sphäre einzudringen, die geschützt werden muss, dass die
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Person im Augenblick nach eigenen Vorstellungen – ich vermeide hier das Wort Prinzipien – handelt. Individuelle Rechte sind dann nicht angemessen erfasst, wenn man sagt, sie spielten lediglich instrumentell eine Rolle, um etwas zu erreichen. Nein, ich glaube, sie sind ganz wesentlich für die moderne Gesellschaft. Diese individuellen Rechte sind, bis auf Extremfälle, ganz unaufgebbar. Personen kommen diese individuellen Rechte zu, das macht ihren Personenstatus aus. Wir erkennen jemanden nur an, wenn man ihr oder ihm auch die entsprechenden individuellen Rechte zuerkennt. Das zweite Element hängt mit dem ersten zusammen : die Integrität der Person. Wenn ich alle meine Handlungen und Entscheidungen unter ein Optimierungskriterium stelle, dann ist es jedenfalls in hohem Maße unplausibel, dass ich diejenigen Projekte, die meinem Leben und meinen Interaktionen mit anderen Menschen Sinn und Inhalt verleihen, durchhalten kann. Wer jeweils punktuell optimiert, hat immer eine Vielzahl von möglichen Handlungsoptionen zu berücksichtigen und muss daher immer wieder von den wesentlichen, was vielleicht seine ganze Praxis ausmacht, abweichen, das heißt, er kann diese Projekte nicht durchhalten. Das meine ich mit der Integrität, die hier gefährdet ist. Und das dritte – das wird vielleicht am meisten überraschen, dass ich das hier an der Stelle bringe – ist das Problem der Kooperation. Wenn wir miteinander kooperieren, kann man das etwa folgendermaßen präzisieren : Kooperation ist, wenn die einzelnen an der Kooperation Beteiligten ihre Beiträge zu einer gemeinsamen Praxis leisten, die aus der Sicht aller Beteiligten wünschenswert ist, obwohl sie im jeweiligen Einzelfall für den einzelnen Beteiligten nicht optimal ist. Das ist das bekannte Prisoner’s Dilemma. Das Prisoner’s Dilemma ist geradezu definitorisch für Kooperation. Stabile Kooperation kommt nur zustande, wenn Individuen über einen gewissen Zeitraum hinweg bereit sind, sich nach dem Grundsatz : „Was muss ich tun, damit unsere gemeinsame Praxis Erfolg hat ?“, zu beteiligen. Das gerät ebenfalls in Konflikt mit einer konsequenzialistisch verkürzten Rationalität. Nennen wir jetzt diesen Gedankenschritt den der unverzichtbaren deontologi schen Verfasstheit menschlicher Praxis. Ich habe drei Dimensionen dieser Verfasstheit genannt : individuelle Rechte, Integrität, Kooperation. Damit komme ich zu dem Thema, wozu ich eigentlich Stellung nehmen will, nämlich zur Frage des Wissenschaftsethos, wobei ich hier den Plural bevorzuge : Wissenschaftsethea. Ich werde im Folgenden zwischen zwei Wissenschaftsethea unterscheiden, zwischen einem internen Wissenschaftsethos und einem externen Wissenschaftsethos. Und ich werde ein bisschen etwas zum Verhältnis dieser beiden Ethea zueinander sagen und damit zur These hinführen : Wissenschaft ist durch diese beiden Ethea konstituiert.
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Julian Nida-Rümelin
Ein kurzer historischer Rückblick : Es gibt eine lesenswerte harte Auseinander setzung zwischen Galileo Galilei und Kardinal Bellarmin. Das Interessante an diesem Briefwechsel ist, dass da nicht auf der einen Seite der hochintelligente Naturwissenschafter Galileo Galilei spielt und auf der anderen Seite ein verbohrter, klerikaler Ideologe steht, der nicht versteht, was Wissenschaft ist, sondern Kardinal Bellarmin – im Gegensatz zu vielen anderen Kritikern von Galileo Galilei – diesem genialen Wissenschafter intellektuell ebenbürtig ist. Er sieht die Argumente, die Galileo vorbringt, und kommt sogar zu dem Ergebnis : „Möglicherweise hast du recht, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist : Gefährden deine Auffassungen die Stellung der Kirche und der kirchlichen Autorität ? Gefährden sie möglicherweise das Seelenheil der vielen, die sich an diesem Weltbild orientieren und ohne dieses Weltbild verunsichert werden ? Das ist die entscheidende Frage.“ Galileo versteht dieses Argument nicht, was für ihn spricht. Er antwortet : „Es geht doch darum, was richtig oder falsch ist, und um nichts anderes.“ Diese historische Reminiszenz hat übrigens ein Schüler von Sir Karl Popper, nämlich Paul Feyerabend, in einer ganz verwunderlichen Form aufgegriffen und gesagt, er wisse nicht, auf welcher Seite er stehe, vielleicht stehe er auf der Seite von Bellarmin. Jaja, die postmoderne Wissenschaftsphilosophie, die sagt : „Vergesst doch dieses Wissenschaftsethos, diese Orientierung an dem, was richtig und wohlbegründet ist – wissenschaftlich!“ Wissenschaft ist eine Praxis unter vielen, wie Theater spielen, sie muss Spaß machen, sagt Feyerabend, und wenn sie keinen Spaß macht, lässt man sie lieber. Nein zu Kardinal Bellarmin und Feyerabend! – Das Ethos epistemischer Rationalität ist für Wissenschaft konstitutiv. Dieses Ethos ist das Kernethos der Wissenschaft : das Ethos epistemischer Ratio nalität. – Was umfasst dieses Ethos ? Ich will einige Elemente nennen. Das erste Element ist : Es geht in der Wissenschaft darum herauszufinden, wie es sich wirklich verhält. Anwendungsprobleme sind wichtig, Anwendungsfragen sind wichtig, ökonomische Interessen sind wichtig, aber der Kern der wissenschaftlichen Praxis legitimiert sich durch die Suche nach der Wahrheit, das heißt, es geht um die Abwägung der besten Argumente, wie es sich wirklich verhält. Diese Haltung wird in der frühen Neuzeit in Gestalt der großen Tradition des Rationalismus radikalisiert, so etwa dem locus classicus, den descartesschen Meditationen, in denen Descartes soweit geht und damit stilbildend wird, dass er alle unsere Intuitionen und Erfahrungen, die wir aus der Lebenswelt beziehen, – ich verwende jetzt diesen Terminus nicht genau im österreichischen Sinne ; für die, die sich philosophisch mit dieser Thematik beschäftigen sei das angemerkt – entwertet. In der vierten Meditation sagt Descartes sinngemäß : „Ich habe mir in der letzten Zeit angewöhnt, ganz von meinen Sinnen abzusehen, mich nur noch auf
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die reine Vernunft zu verlassen.“ Und das schildert er so, dass man sich schon fast Sorgen machen muss, ob es ihm denn zu dieser Zeit noch seelisch gut gegangen ist, wenn er erzählt, wie er durch den Garten geht und gar nicht mehr wahrnimmt, was um ihn herum vorgeht. Das ist das radikale rationalistische Programm – locus clas sicus – Neubegründung des Wissens durch Wissenschaft pur, jenseits aller Intuition und Erfahrung, nur auf Vernunft gegründet. Das ist das berühmte cogito Descartes – und dann kommt der wohlwollende Gott, und damit, meint Descartes, könne er das Gesamte der Wissenschaft aufbauen. Die Radikalisierung des Ethos epistemischer Rationalität in Gestalt der reinen Wissenschaft, die voraussetzungslos völlig neu beginnt, ist jedoch eine Illusion, die Jahrhunderte den Gang der Wissenschaften zwar befruchtet hat, die aber auch sehr problematische Fehlentwicklungen – insbesondere in meinem eigenen Fach – ausgelöst hat, die zum Teil bis heute andauern. Das Ethos epistemischer Rationalität muss bescheidener ausfallen. Ich bin zwar nicht in jeder Hinsicht „Popperianer“, aber ich glaube, Popper hat zwei Begriffe geprägt, die sehr hilfreich sind. Der erste Begriff ist jener der kritischen Prüfung – alles, was an Hypothesen entwickelt wird : Der Begriff Hypothese enthält eigentlich schon den der kritischen Prüfung, weil man ja keinen Glauben, keine Überzeugung formuliert, sondern eben nur eine Hypothese ; man sagt, es könnte sich so verhalten, und jetzt kommt das Entscheidende : Normalerweise neigen wir, wenn wir Meinungen haben, dazu zu schauen, was könnte denn für diese Meinungen sprechen ? Man bringt dieses vor und jenes. Nun, Popper, leicht überziehend, aber ich glaube in der Richtung zutreffend, sagt : Das ist eine falsche Haltung, das ist eine dogmatische Haltung. Die angemessene Haltung ist, dass auch jener, der eine solche Vermutung, eine wissenschaftliche Vermutung, eine Hypothese formuliert, sich anstrengt, sie zu widerlegen, Argumente zu finden, die dagegen sprechen könnten. Und die gute wissenschaftliche Praxis ist genau so motiviert, intelligente Argumente zu entwickeln, die gegen eine Hypothese sprechen. Die wissenschaftliche Praxis, das Ethos epistemischer Rationalität, ist gerade der natürlichen Neigung, gerne recht haben zu wollen, entgegen gerichtet : kritische Prüfung ohne jeden Vorbehalt. Der zweite Begriff, den ich von Popper entleihe, ist jener der kühnen Entwürfe. Das heißt, nicht das, was man in erster Reaktion für plausibel hält, zur Grundlage zu machen, sondern die Fragestellungen so zu isolieren, zu radikalisieren, zuzuspitzen, dass interessante systematisierende große Bereiche unserer Erfahrungen, möglicherweise erklärende Theorien, möglich sind. Kühne Entwürfe, die sich von unseren lebensweltlichen Intuitionen oft weit entfernen können und müssen! Aus diesem Wissenschaftsethos, aus diesem Ethos epistemischer Rationalität – jetzt nur an wenigen Begriffen skizziert – ergibt sich eine Reihe von normativen
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Schlussfolgerungen : Eine zentrale ist die der Inklusion. Wenn wir annehmen, dass es um richtig und falsch geht, dann legen wir uns impliciter auf einen Universalismus fest. Wissenschaftliche Praxis führt zu Theorien und Hypothesen, die jedenfalls vom Anspruch her nicht von der Kultur, der Sprache, der Tradition, welche diejenigen umgibt oder geprägt hat, die diese Theorien entwickeln, abhängen. Eine physikalische, chemische, biologische Theorie ist richtig oder falsch, sie bewährt sich oder bewährt sich nicht. Aber dies ist nicht kulturvariant. Der Universalismus des epistemischen Ethos der Wissenschaft ist in dieser Hinsicht unaufgebbar, auch dann, wenn die Wissenschaft soziologische und wissenschafts-kulturhistorische Einflüsse zeigt, und daraus ergibt sich das Postulat der Inklusion. Alle sollen an diesem großen Unternehmen beteiligt sein, alle – ohne jede Einschränkung, alle, welche die Fähigkeiten und das Interesse mitbringen, sich ernsthaft an diesem wissenschaftlichen Prozess zu beteiligen, das heißt, wir müssen eine Verständigung finden, die über die Sprachen, Kulturen und Traditionen hinausgeht, die alle diese Phänomene überwölbt. Da haben wir ein Problem, nicht wahr ? Die These ist also : Wissenschaft konstituiert sich durch ein spezifisches Ethos, das Kernethos der Wissenschaft : das Ethos epistemischer Rationalität. Wenn wir jetzt einen Punkt setzen könnten, wäre die Sache erledigt. Aber so einfach ist es nicht. Jetzt kommt nämlich das zweite Ethos ins Spiel, das ich das externe Wissenschaftsethos genannt habe. Und da knüpfe ich jetzt an meine philosophische Einführung an : Wir sind auch als Wissenschafter Teil einer sozialen Welt. Das wissenschaftliche System, die Gemeinschaft der Wissenschafter, die Institutionen, welche die Scientific Community tragen, stehen in einem komplexen Interaktions- und Kooperationsgefüge zu anderen Teilen der Gesellschaft, der Menschheit, der Welt, das heißt, es gibt nicht nur Fragen nach richtig und falsch, von Hypothesen und Theorien, sondern es gibt auch Fragen nach der Rolle der Wissenschaft als eines Teils der menschlichen Gesellschaft. Zudem ist die Wissenschaft zu einem großen Teil fremdfinanziert, zu großen Teilen durch Steuergelder, das heißt, es gibt auch politische Verantwortung für die Wissenschaft. Die Wissenschaft muss sich als derjenige Bereich, der von dieser allgemeinen Unterstützung profitiert, gegenüber der politischen Öffentlichkeit legitimieren können. Man könnte nun den Versuch unternehmen, am Kernethos, dem Ethos epistemischer Rationalität, ohne jede Ergänzung als alleinigem Ethos festzuhalten : Das Ethos epistemischer Rationalität konstituiert Wissenschaft, für das andere sind andere Institutionen zuständig, z. B. Parlamente, Regierungen, was auch immer. Das scheitert jedoch an der Realität, der Rolle, die Wissenschaft und Technik de facto heute spielen. Die wissenschaftsexterne Expertise für die Rolle der Wissen-
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schaft gibt es nicht. Die Politik wäre heillos überfordert, wenn sie in dieser Weise eine Art Steuerung der Wissenschaft übernehmen müsste. Zudem geriete dies in einen tiefen Konflikt zur Autonomie der Wissenschaft, die erforderlich wäre, um diesem Ethos epistemischer Rationalität auch wirklich das entsprechende Gewicht zu geben. Die Gefahr bestünde dann, dass Wissenschaft und Technik instrumentalisiert würden. Aus diesen Überlegungen muss man zwangsläufig als Konsequenz ziehen, dass die Verantwortung des Wissenschafters, die sich zunächst einmal durch das Kern ethos definiert, von Disziplin zu Disziplin unterschiedliche Konkretisierungen erfährt. Über seine Tätigkeit als Wissenschafter hinaus hat er als Mitglied einer Gemeinschaft, als Mitglied von Institutionen, die Teil der gesellschaftlichen Praxis insgesamt sind, eine externe Verantwortung, der er nur gerecht werden kann, wenn er sich auf die Gründe, welche die Praxis der Gesellschaft insgesamt prägen, einlässt und sich nicht lediglich auf das Ethos epistemischer Rationalität beschränkt. Ethikkommissionen und Ethikinitiativen sollten sich in meinen Augen daher genau so verstehen, dass sie das Kernethos komplementieren, um ein Ethos externer Verantwortung der Wissenschaft als ganze und einzelne Praxisfälle der Wissenschaft zu ergänzen. Daher müssen sich Ethikkommissionen und Ethikinitiativen nicht nur interdisziplinär im Sinne der Einbeziehung unterschiedlicher disziplinärer Perspektiven und Kompetenzen zusammenzusetzen, sondern auch gegenüber wichtigen Institutionen oder Teilen der Gesellschaft, die für die Verantwortungswahrnehmung der Wissenschaft nach außen wesentlich sind, kooperativ agieren. Ich war als Bundesminister im Jahr 2001 an der Gründung des nationalen Ethik rates der Bundesrepublik Deutschland beteiligt. Meine Empfehlung war, dass man diesen nationalen Ethikrat so gestaltet, dass er einerseits eine Vielzahl unterschiedlicher wissenschaftlicher Expertisen einbezieht, auch eine Vielzahl von Haltungen, weltanschaulichen Prägungen, Berufsgruppen außerhalb der Wissenschaft, dass aber Repräsentanten mit imperativen Mandaten in diesem nationalen Ethikrat nicht vertreten sein sollten. Ich fand es ganz interessant, als Antwort darauf zu hören, wie wichtig der Konsens in diesen Ethikkommissionen sei, und tatsächlich kommen sie fast immer zu einem Konsens. Aber die Idee müsste doch die sein, dass Ethikkommissionen oder Ethikräte stellvertretend für die ganze Gesellschaft Fragestellungen klären, die uns alle angehen und von denen wir hoffen, dass es Antworten gibt, die wir gemeinsam tragen können, wie unterschiedlich auch immer unsere tieferen Wertungen, unsere weltanschaulichen Hintergründe sein mögen. Das ist ja die Hoffnung! Das ganze Recht ist der Versuch eines solchen Minimal konsenses. Die Rechtsnormen sanktionieren einen bestimmten Teil von moralischen, ethischen Einstellungen, von denen man nur hoffen kann, dass sie eine Art
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overlapping consensus – um einen alten Begriff von John Rolls zu nehmen – repräsentieren, dass die Menschen, ohne ins Gesetzbuch zu schauen, es angemessen finden, dass man für dieses und für jenes bestraft wird. Das war die Idee des Ethikrates, aber das war nicht durchhaltbar. Die Folgen waren leider, dass der nationale Ethik rat sehr rasch in Mehrheits- und Minderheitsgruppierungen zerfiel, die in allen wichtigen Fragen eben ein Mehrheits- oder ein Minderheitsvotum abgaben, und so das Ziel verfehlt wurde. Das Ringen um einen Konsens darf nicht nur ein Element der Legitimation einer Ethikkommission nach außen sein („Seht, wie wichtig die Kommission ist!“), sondern sie hat eine viel tiefer gehende Basis : Es geht vielmehr darum, eine gemeinsame Praxis zu finden, die es aushalten kann, dass wir in grundlegenden Frage stellungen sehr unterschiedlicher Meinung sind und auch bleiben werden. Ich glaube, es gibt gegenwärtig spezifische Gefährdungen und Herausforderungen und damit auch Perspektiven für das Wissenschaftsethos mit seinen beiden korrespondierenden Teilen Kernethos, dem Ethos epistemischer Rationalität, und dem Ethos externer Verantwortbarkeit wissenschaftlich-technischer Praxis : Die erste ist die Ökonomisierung. Dass die ökonomische Dimension in einer wissenschaftlich-technischen Welt, in der die Kosten der wissenschaftlichen und technischen Praxis immens nach oben gehen, wichtig ist, liegt auf der Hand. Einerseits geht es darum, mit den Mitteln effizient umzugehen, also um Effizienzkontrolle der eingesetzten Mittel, andererseits um Ressourcenakquise. Wenn das mit Steuermitteln allein nicht geht, ist es wichtig, dass für die Forschung auch andere Finanziers mit ins Boot genommen werden. Das ist ein sehr sensibler Bereich, denn dies führt zu drei großen Gefährdungen des Kernethos epistemischer Rationalität. Die erste ist die weltanschauliche Imprägnierung, die zweite ist die politische Instrumentalisierung und die dritte ist die Verkürzung von wissenschaftlicher Praxis auf das Marktgängige. Es ist übrigens interessant zu sehen, dass wir in Europa gegenwärtig eine Tendenz haben, im Positiven wie im Negativen, aus einer gewissen Verzweiflung über die Situation der europäischen Universitäten heraus, das US-amerikanische Universitätssystem bis hinein in die Terminologie nachzuahmen oder ihm nachzueifern. Der Bologna-Prozess ist ja auch in diese Richtung entwickelt worden. Das ist fast schon ein bisschen rührend oder ironisch, weil das, was wir hier kopieren, gar nicht dem Original entspricht. Wir führen beispielsweise jetzt überall BachelorStudiengänge ein, die eben nicht dem Bachelor-Studium in den USA entsprechen. Jedenfalls in Deutschland und in den meisten europäischen Ländern sind diese Bachelor-Studiengänge in hohem Maße verschult, aber in den USA ist der Bachelor eingeführt worden, um die damalige Kluft zwischen mitteleuropäischen
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Abituranforderungen und dem amerikanischen Highschool-Diplom zu überbrücken. Dementsprechend ist der Bachelor in den USA eher allgemeinbildend, sehr breit, mit vielen Wahlmöglichkeiten angelegt. Bei uns läuft das in eine ganz andere Richtung. Gerade die großen Spitzenuniversitäten der USA haben eine Vielzahl von Schutzmaßnahmen eingeführt, um weltanschauliche Imprägnierung, politische Instrumentalisierung und die Verkürzung von wissenschaftlicher Praxis auf das Marktgängige zu verhindern. Dies geschieht in einer oft sehr radikalen Weise. So wurde z. B. von der Harvard-Universität nicht akzeptiert, dass in der Berufungskommission für einen Lehrstuhl, der im Bereich der Biologie mit Sponsorgeldern eingerichtet werden sollte, ein Vertreter des Sponsors sitzen wollte. Da verzichtete man lieber auf den Lehrstuhl, obwohl es um eine sehr große Summe an Geld ging. An den US-amerikanischen Spitzenuniversitäten lebt – ich habe das persönlich sehr eindrucksvoll am California Institute of Technology in Pasadena Anfang 2005 erlebt, wo ich als Gastprofessor eingeladen war – der Geist der Humboldtschen europäischen Reformuniversität des 19. Jahrhunderts sehr viel deutlicher weiter, als das bei uns der Fall ist. Es ist also ein Irrtum zu meinen, dass wir, wenn wir zuließen, dass die wissenschaftliche Praxis zunehmend von ökonomischen Interessenlagen imprägniert und bestimmt wird, einem amerikanischen Vorbild folgen. Ich nenne eine weitere Gefährdung und die sich daraus ergebende Perspektive. Es gehört zum Ethos epistemischer Rationalität, dass wissenschaftliche Forschungsergebnisse Gemeinwissen werden oder, um es provokativ zu formulieren : Der Kommunismus des wissenschaftlichen Wissens gehört konstitutiv zur modernen Wissenschaft. Es gibt die moralische Pflicht des Wissenschafters und der Wissenschafterin, seine/ihre Ergebnisse für die Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen, zu publizieren. Eine Einschränkung dieser Möglichkeit ist in einer Vielzahl von Formen im Gange. Eine Form ist die Auftragsforschung. Eine andere ist die Kostenexplosion von wissenschaftlichen Zeitschriften, die es verhindert, alle Willigen und Fähigen am großen Unternehmen wissenschaftlicher Forschung zu beteiligen, weil wichtige Fachzeitschriften nicht mehr von den Instituten und Bibliotheken gekauft werden können. Das führt nun dazu, dass einzelne Wissenschafter gar nicht mehr in Fachzeitschriften publizieren, sondern das, was sie gerade erforscht haben, auf ihre Homepage stellen. Das aber setzt voraus, dass man schon ein gewisses Standing in der wissenschaftlichen Gemeinschaft hat, sonst wird es nicht wahrgenommen. Ich glaube, es ist notwendig, über Folgendes nachzudenken : Wie können wir sichern, dass wissenschaftliche Forschungsergebnisse für alle, und zwar schnell und ohne große Hürden, zugänglich sind ?
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Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die Vielfalt der Wissenschaftskulturen : Jede Disziplin entwickelt im Laufe der Zeit eine eigene Praxis ihres Wissenschaftsethos. Wie wird überprüft ? Wie wird kontrolliert ? Wer steuert die Publikationspraxis und nach welchen Kriterien ? In welchen Sprachen wird publiziert ? Es ist nicht vernünftig, der Romanistik aufzuerlegen, dass sie englischsprachig publizieren muss. Es ist nicht sinnvoll, Heidegger- oder Kant-Forschern aufzuerlegen, nur noch englischsprachig zu publizieren. Am allerwenigsten ist es sinnvoll, den Kultur- und Geisteswissenschaften aufzuerlegen, sie sollten keine Bücher mehr schreiben, sondern nur mehr Paper publizieren, weil das nämlich die kulturelle Rolle, die Relevanz dieser Bereiche, etwa der Kultur- und Sozialwissenschaften in den europäischen aber auch amerikanischen Gesellschaften, wo übrigens die Monografie gegenwärtig ein großes Comeback erlebt, schwer beschädigen würde. Oder anders ausgedrückt : Viele wissenschaftliche Disziplinen sind gegenwärtig mit einer Art Kolonialismus von Praktiken konfrontiert, die in bestimmten Disziplinen Sinn machen – etwa bei den Kriterien der Forschungsevolution –, aber auf andere Disziplinen übertragen die Wissenschaftskultur dieser Disziplinen beschädigen. Daraus ergibt sich ein weiteres Prinzip des Wissenschaftsethos : Anerkennung, Respekt vor den disziplinären Teilkulturen, man kann auch sagen : Pluralismus, Anerkennung von Vielfalt, Vielfalt der Methoden, der Kriterien, mit denen die wissenschaftliche Forschung gestaltet wird und ihre Ziele anstrebt. Damit bin ich schon fast am Ende meiner Überlegungen, anknüpfend an die philosophischen Eingangsbemerkungen. Es gibt eine wirklich lesenswerte und das Bild, das wir von der Moderne haben, in sehr erfrischender Weise korrigierende Darstellung von Steven Toulmin, „Cosmopolis“, in der er betont, wie stark doch die Moderne von ethischen, moralischen, humanistischen Motiven und nicht so sehr von der Idee der vollständigen Rationalisierung unserer gesamten Lebenspraxis und der gesamten Gesellschaft, wie es typischerweise mit dem 17. Jahrhundert assoziiert wird, geprägt ist. Diese Darstellung ist mir auch deswegen sympathisch, weil ich glaube, der eigentliche Kern der Moderne ist ein humanistisches Menschenbild, ein Menschenbild, das auf Anerkennung, Respekt und Gleichheit beruht, unabhängig von Stand oder Ethnie. Dieser Respekt sollte, so glaube ich, in das Ethos der wissenschaftlichen Praxis hineinreichen. Mein letzter Punkt ist eher eine Hoffnung als eine rational begründete Prognose : Wir werden nach diesen Jahren des Umbruchs der europäischen Wissenschaftslandschaft vermutlich in eine Phase kommen, in der sich die europäische Universität wieder neu auf ihre Substanz besinnen muss. Bei dieser Neubesinnung, glaube ich, muss auch folgende Frage eine Rolle spielen : Wie verstehen wir als Wissenschafterinnen und Wissenschafter unsere Rolle in der Gesellschaft insge-
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samt ? Ich hatte einen von mir sehr geschätzten akademischen Lehrer, der – damals ganz ungewöhnlich – sagte, man sollte mindestens zwanzig Prozent seiner Arbeitszeit der öffentlichen Präsentation seiner eigenen Wissenschaft widmen. Das klingt extrem, aber das Verständnis für die Ergebnisse von Wissenschaft, der öffentliche Diskurs, die Frage, was an den Forschungsinstituten geschieht, auch mit den Steuergeldern, sind so entscheidend für die Rolle der Wissenschaft in der Welt, dass wir uns alle daran beteiligen müssen und nicht nur einige wenige. Und das knüpft wunderbar an das humboldtsche Ideal der europäischen Universität. Humboldt war entgegen der Polemik, die manchmal gegen die Humboldtsche Universität vorgetragen wird, keineswegs der Auffassung, dass die Konfrontation mit der Forschung in der Zeit des Studiums nur deswegen Sinn mache, weil daraus wieder Wissenschafter hervorgingen. Er war vielmehr der Meinung, dass die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Fragen zur Persönlichkeitsbildung, zum Respekt, zur Rationalität beiträgt und damit die Fähigkeit fördert, auch außerhalb der Akademien Erfolg zu haben. – Ich hoffe, dass Humboldt in der Zukunft Europas wieder eine größere Rolle spielen wird.
Manfred Prisching
Ethische Personen und ethische Institutionen
Bei einem Vortrag über Ethik darf man heutzutage ein bestimmtes Themenrepertoire erwarten : Zu den erwartbaren Themen gehören etwa die biologischen Fragen, vom Genmais über die Stammzellen bis zum Designerbaby ; dann ohne Zweifel die ökologischen Fragen, vom Klimawandel bis zur Erschöpfung der Ressourcen ; am Rande drängelt sich ein Repertoire von Fragen, die von der Fair Trade-Schokolade bis zur Geschlechterdiskriminierung, vom allgemeinen Umgang mit Flüchtlingen bis zur ästhetischen Bewertung von Minaretten reichen. Wenn viele Wissenschafter im Publikum sind, stehen natürlich Vorgehensweisen und Beurteilungen der Wissenschaften zur Debatte : Dürfen die Gelehrten, was sie können ? Auf diese Frage sind bestimmte Antworten erwartbar : Natürlich dürfen sie nicht alles, was sie können ; andererseits sollte man nicht zu einschränkend sein, denn man weiß nie, für welche Segnungen wissenschaftliche Erkenntnisse doch brauchbar sein könnten ; und außerdem macht immer irgendjemand das, was möglich ist, sodass Verbote sinnlos sind. Im Übrigen ist man sich seiner Verantwortung selbstverständlich bewusst. Soweit die komprimierte Version des ethischen Diskurses, der darauf abzielt, die manchmal irritierte wissenschaftliche Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Aber Worte sind geduldig, und da wir die Zeiten, als das Wünschen allein noch geholfen hat, hinter uns gelassen haben, wird es bei der Implementation sozial ethischer Postulate („Was machen wir wirklich ?“) schwierig. Wenn es aber bei der Implementation schwierig wird, wollen wir wenigstens darüber reden – womit wir schon ein Mal im Kreis gelaufen, also wieder beim Reden angelangt sind, im Bestreben, das mulmige Gefühl ein wenig zu mindern. Über die Menschheit und die Wahrheit und die Moral, auf der Makroebene und im Allgemeinen, zu sprechen, ist meistens ebenso wirkungslos wie gefahrlos. In der Unverbindlichkeit sind alle moralisch. Unterhalb dieser Ebene, bei den Institutionen und Organisationen der asymmetrischen Gesellschaft, auf der Mesoebene, wird die Sache interessanter. Wie baut man Institutionen, die eher ein ethisches als ein unethisches Verhalten jener Individuen hervorrufen oder ermutigen, die in ihnen tätig sind ? Und natürlich dürfen wir auf die Mikroebene nicht vergessen, auf die Ebene der Individuen selbst. Mit dem Verhältnis zwischen diesen Ebenen möchte ich mich befassen, weil sie häufig gegeneinander
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Manfred Prisching
ausgespielt werden ; und zwar in sieben destruktiven Kapiteln. (Meine Vorredner sind so konstruktiv gewesen, dass ich mich ungeniert in die destruktive Rolle begeben kann.)
1. Die Geschichtsteleologie der Versittlichung ist gescheitert
Die Welt wird von den Menschen gestaltet, in einer Wissensgesellschaft nicht zuletzt von Technikern und Wissenschaftern ; und das bedeutet einen steigenden Moralbedarf, denn eine „natürliche Welt“ – eine traditionelle Welt – hat Überlebens probleme, aber sie lebt nicht in ihrer eigenen Schöpfung und muss nicht über eigene Schöpfungen im Sinne einer „Leonardo-Welt“ entscheiden. Jürgen Mittelstraß hat unsere Welt so genannt : Wohin immer wir in unserer Welt auch gehen, der erkennende, bauende, wirtschaftende und verwaltende Verstand des Menschen war immer schon da (Mittelstraß 1996, S. 11). Nunmehr ist selbst die eigene Existenz vor der Gestaltungshybris nicht mehr sicher. Man kann auch sagen : Wenn die Menschen in ihrer eigenen Schöpfung leben, sind sie auch immer selbst an allem schuld. Früher einmal war ein Hurrikan ein schicksalhaftes Ereignis ; heute wird er zum Ergebnis energiepolitischer und klimapolitischer Entscheidungen. Wir können immer weniger Ereignisse auf die Götter, auf die Natur oder auf das Schicksal schieben – und wir wollen das auch nicht. Schließlich bilden wir uns ein, homines sapientes zu sein. Gestiegene Machbarkeit und Verantwortlichkeit schaffen Unsicherheit : Was sollen wir tun ? Im Jahrhundert der Extreme sind uns beruhigende und tröstende Illusionen zerbröckelt. Dazu gehört die Illusion vom automatischen Voranschreiten menschlichen Wissens und menschlicher Moralität in einem gemeinsamen Fortschrittsprozess (Bury 1920). Die Aufklärer haben seinerzeit gemeint, die Gestaltung der menschlichen Angelegenheiten werde sich erleichtern, weil menschliches Wissen und menschliche Sittlichkeit korreliert seien. Es hat sich banalerweise gezeigt, dass sich Eingriffsfähigkeit und Kreativität zum Guten und zum Bösen wenden können. Das institutionelle Ambiente einer „Wissensgesellschaft“ gewährleistet nicht schon deshalb eine „gute Gesellschaft“, weil mehr Wissen vorhanden ist und deshalb mehr Sittlichkeit zustande kommt. Das hat sich als Nonsens herausgestellt. Wenn sich steigende Eingriffsfähigkeit mit Unanständigkeit paart, wird die Unanständigkeit bloß wirksamer – und gefährlicher.
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2. Das Vertrauen auf die menschliche Tugend ist naiv
Wenn es schon mit dem universellen Prozess der Versittlichung in Form von einem Geschichtsgesetz nichts wird, könnte man immerhin auf der Mikroebene ansetzen : bei der individuellen Anständigkeit. Manche vermuten, dass die Sache mit den Ethikdiskussionen ohnehin übertrieben sei. Man solle nicht alles schlechtreden. Es ist eine Vertrauensthese : Wissenschafter seien der Wahrheit verpflichtet, und es sei Böswilligkeit, nur Böswilligkeit zu unterstellen. Das Vertrauen in die Gutherzigkeit des Menschen ist jedoch unrealistisch. Konzepte, die mit „guten Menschen“ operieren, haben schon mehrfach in der Geschichte Schiffbruch erlitten, von der christlichen Lehre bis zur sozialistischen Ideologie. Die menschliche Spezies ist nicht besonders vertrauenswürdig. Zu den schrecklichen Ereignissen gehören Kriege, in denen ein institutionelles Gefüge zusammenbricht und ersichtlich wird, wie dünn das Eis der Zivilisation, auf das wir vertraut haben, in Wahrheit ist – sodass harmlose Menschen, Nachbarn von gestern, plötzlich morden, foltern und vergewaltigen. Völkermord ist schließlich keine Mär aus primitiven Zeiten. Es gibt aber neben den großen Untaten auch die kleinen, den Alltag : die ärgerlichen, meist harmlosen Fälle, die kleinen Bosheiten, Schummeleien, Lügen und Verbiegungen, bei Verwandten und Bekannten, bei Arbeitskollegen und Vorgesetzten. Man hat die Erfahrung gemacht, dass es – banalerweise – auch auf die Menschen ankommt : Auf den einen kann man sich verlassen, der andere weist eine gleichsam konstitutionelle Bösartigkeit auf, ob wir diese nun genetisch oder sozial begründet sehen. Es gibt intrigante, übelwollende, miese Menschen. Das ist Lebenserfahrung. Verlass ist auf den Einzelnen jedenfalls nicht. Konservative Sozialanthropologen und Sozialphilosophen haben deshalb – auf den Spuren Arnold Gehlens – immer die Qualität von Institutionen hervorgehoben, die das Individuum bändigen, domestizieren, in Schranken weisen – und damit eigentlich auch erst zivilisieren (Gehlen 2004). Es ist sogar als Gütekriterium für Institutionen herausgearbeitet worden, dass diese nicht nur dann funktionsfähig sein sollen, wenn sie von Engeln betrieben werden – denn es herrscht eine große Knappheit an Engeln. Institutionen sind gut gestaltet, wenn sie sogar mit Teufeln, die an den Schaltstellen sitzen, einigermaßen befriedigend funktionieren. In der Praxis handelt es sich ohnehin selten um Teufel, sondern eher um Dummköpfe. Das Ansinnen, Institutionen möglichst bosheits- oder dummheitsresistent zu gestalten, ist aber auch wieder übertrieben. Selbst wenn Institutionen klug gestaltet sind, können sie niemals garantieren, dass die Prozesse, die in ihnen ablaufen, moralischen Charakter tragen. Es gibt Spielräume für das persönliche Handeln, für
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die individuelle Honorigkeit und das individuelle Versagen, und es wäre schlimm, wenn es nicht so wäre. Damit sind wir wieder zu den Personen zurück gependelt. Es ist schwer, ein heiliges Leben zu führen, aber so weit geht der Anspruch üblicherweise gar nicht. Mit den alltäglichen Verhaltensweisen fängt es an, und diese werden an jeder Interaktion kenntlich. Das gilt für Generaldirektoren und ihre Sekretärinnen, für Manager und ihre Chauffeure, für Wissenschafter und ihre Dissertanten. In den meisten Fällen gilt, dass zusätzliche institutionelle Kontrollen hilfreich sind, Missbrauch zu verhindern. Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser. Übertriebene Kontrolle zehrt freilich individuelle Moralität auf und kann Innovation verhindern (Frey 1997). Rechnungshöfe sind aber nicht immer nur Lästigkeiten, die den laufenden Betrieb behindern ; manchmal decken sie Korruption auf. Bei den Finanzmärkten hat man in jüngster Zeit den Eindruck, die Aufsichtsorgane hätten durchaus ein wenig mehr kontrollieren können. Im wissenschaftlichen Betrieb sind es die Peers, zu deren Verpflichtungen und Berechtigungen es gehört, Kontrolle auszuüben – und manchmal funktioniert sie, manchmal auch nicht. Natür lich glauben wir an die moralische Untadeligkeit der Ärzte ; aber gewisse Datenbankkontrollen können, was früher nur schwer möglich war, nunmehr in der Tat verhindern, dass gemäß den Behandlungsabrechnungen mehr als 100 Prozent der Einwohner eines Dorfes beim ansässigen Arzt eine Mandeloperation durchlaufen müssen, manche sogar mehrmals. Im Allgemeinen gilt, dass die Verhinderung von Missbrauch auch den ehrlichen Teilnehmern am gemeinsamen Spiel nicht schadet.
3. Die Einhaltung des Rechts ist unzureichend
Rechtliche Rahmenbedingungen legen Spielräume fest, aber sie können nicht garantieren, dass alles gut geht. Zuallererst müssen sie „Verfahren“ festlegen, in denen Probleme abgearbeitet werden. Erstens : Recht hat eine begrenzte Durchschlagskraft : Je komplizierter die Sachverhalte, desto schwieriger die Formulierung in rechtlichen Regelungen. Es ist eine unübersichtliche Welt, es sind turbulente Verhältnisse ; und die „allgemeinen Rechtsbegriffe“ transferieren Streitfälle ohnehin rasch in die Sphäre der Gutachter. Dazu kommen Kontrollprobleme : Rechtliche Festlegungen genügen nicht, die Einhaltung der Normen muss überwacht werden. Auch dieses Prinzip läuft in steigende Komplexität und abnehmende Überwachungskapazität. Irgendwann landen alle Prozeduren im Paper-Shooting : Es ist nicht wichtig, ob etwas erfolgreich war, es muss gut dokumentiert sein. Gutes Management drückt sich darin aus, dass
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es für alles ein „Papier“ gibt, ein Handbuch, eine Verfahrensanweisung, ein Gutachten. Für die neue Ideologie der Wissenschaftsplanung sind wissenschaftliche Ergebnisse, die „zufällig“ gemacht wurden, abzulehnen und nach Tunlichkeit zu unterbinden, wenn sie nicht in ein Entwicklungskonzept passen. Zweitens : Man kann beratende, demokratische oder sachverständige Gremien schaffen, die mehr oder minder Einfluss auf Entscheidungen nehmen, aber manche dieser Gremien erledigen ihre Aufgaben nachlässig : Aufsichtsräte, die keine Ahnung haben, was im Unternehmen vorgeht ; oder Universitätsräte, die auch nach Jahren noch keine Vorstellung davon haben, was eine Universität ist. Wie schon oft gesagt wurde : Die Einhaltung von Regelsystemen kann nicht dadurch gesichert werden, dass hinter jede Person ein Polizist gestellt wird. Wer kontrolliert die Kontrolleure ? Denn auch die Kontrollverfahren unterliegen einem ethischen Problem, können also dem Missbrauch ausgesetzt sein. Zeitungen stehen für eine Kontrolle der Politik durch die Öffentlichkeit. Wer aber kann ausschließen, dass ein besessener Zeitungsherausgeber selbst zu einer Instanz wird, die politischen Druck erzeugt ? Gleichbehandlungskommissionen stehen für eine Vermeidung von Diskriminierung. Wer aber kann ausschließen, dass manche von ihnen zu einer LobbyTruppe werden, die in Wahrheit Diskriminierung systematisch hervorbringt ? Drittens : Rechtsförmiges Verhalten ist immer eine Mindestschwelle, und es ist sicher kein Kennzeichen ausgefeilter Ethikkompetenz, wenn man stolz darauf verweist, dass man rechtliche Vorschriften eingehalten hat : Corporate-ResponsibilityVertreter klopfen sich gerne auf die Schulter, wenn sie sich anständig – im Sinne von „rechtlich korrekt“ – aufführen, aber wir können uns nicht wegen ethischer Verdienste loben lassen, wenn wir keinen Menschen umgebracht haben ; ähnlich können Unternehmen nicht moralisches Lob erwarten, wenn sie auf Steuerhinterziehung verzichten. Für Wissenschafter kann die Sache gleichfalls nicht mit dem Argument erledigt sein, dass man alle Rechtsvorschriften im Laborbetrieb eingehalten hat. Das ist einfach zu wenig – Recht also als nützliches Rahmenwerk, aber nicht als Lösung für die meisten ethischen Fragen des Alltags.
4. Das Vertrauen auf professionelle Ethik bröckelt
Wir pendeln also zwischen der Mikroebene des individuellen Verhaltens und der Mesoebene institutioneller Vorkehrungen. Sicher ist : Persönliche Moralität kommt nicht aus dem Nichts. Es gibt die allgemeinen Regeln anständigen Verhaltens, daneben aber gibt es auch gruppenbezogene Standards des Verhaltens, kollektive Regelungsmechanismen, beispielsweise die Ethik des Arztes oder des Wissenschaf-
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ters (Pfadenhauer 2003 ; Mieg 2003). In manchen gesellschaftlichen Subsystemen sind somit nach wie vor, selbst in den Zeiten einer allgemeinen Vermarktung aller Lebensbereiche, Elemente einer professionellen Ethik lebendig. Es ist keine Massenerscheinung, es ist aber auch nicht allein Sache einer ruhmreichen Vergangenheit, dass das Beamtenethos geboten hat, auch wider politische Zumutungen auf Rechtmäßigkeit, Aktenmäßigkeit und Zweckmäßigkeit von Entscheidungen zu beharren. Natürlich mag ein ärztliches Ethos schwächeln, wenn man mit dem Verkauf esoterischer Produkte oder mit der Schönheitschirurgie viel Geld verdient, aber es gibt es verschiedentlich noch. Es gibt auch ein professionelles Ethos des Lehrers, der Hausarbeiten sorgfältig korrigiert, auch wenn ihm das keiner dankt. Und es gibt Wissenschafter, die sich der Wahrheit verpflichtet fühlen, auch wenn die heutzutage kräftiger geschwungene Keule der Drittmittelaufbringung dafür sorgen soll, dass ein gewisses „Verständnis“ für die Wünsche des Kunden und Geldgebers nicht gänzlich unberücksichtigt bleibt. Die genannten Fälle haben eines gemeinsam : Es geraten unterschiedliche Codes – divergierende Handlungslogiken – miteinander in Kollision (Luhmann 1987). Es gibt auch die Codes der Politik, der Ökonomie, der Philosophie oder sonstiger eindeutiger oder zwielichtiger Geschäfte. Insbesondere bei den Codes von Wissenschaft und Wirtschaft befindet sich vieles in Bewegung : Wissenschaft ist der Wahrheit und Wirtschaft dem Gewinn verpflichtet. Wissenschaft ist eine neutrale Angelegenheit, aber dass sie in irgendeiner Weise für die Menschen nützlich sein soll, wurde nie bezweifelt. Dass diese Nützlichkeit darauf beschränkt wird, Patente hervorzubringen und weitere Projektgelder heranzuschaffen, ist eine Horizont beschränkung der Gegenwart, die einen sachfremden Code ins Spiel bringt. Es geht also nur im einfachsten Fall um die Konfrontation Wahrheit versus Nützlichkeit ; in den schwierigeren Fällen geht es um die Konfrontation verschiedener Nützlichkeiten. Auch die pränatale Diagnostik argumentiert mit der Nützlichkeit, und sie konzentriert sich dabei eher auf die Vorteilhaftigkeit des rechtzeitigen Wissens über Erbkrankheiten. Sorge bereitet aber die andere Form von Nützlichkeit, nämlich die Ermöglichung von Eingriffen, um einen Nachwuchs zu „designen“, der jenen Wünschen dummer Menschen Rechnung trägt, die sich auf gewünschte Babymodelle zwischen Madonna und Terminator richten. Das Wort ist willig, aber der Geist ist schwach. Wissenschafter sind der Wahrheit und Ärzte dem Patientenwohl verpflichtet, aber das hindert weder die einen noch die anderen, auf ihr eigenes Fortkommen zu schauen oder schlicht zu betrügen. Regelmäßig gibt es einschlägige Betrugsfälle in der Wissenschaft, und sicher ist das, was bekannt wird, nur die Spitze des Eisbergs (Di Trocchio 1995 ; Grafton 1995). Es wird also deutlich, dass unser Pendeln zwischen Individuen und
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Institutionen auch eine wechselseitige Abhängigkeit beschreibt, im Guten wie im Schlechten. Eine Institution muss ein erwünschtes Verhalten fördern, stabilisieren, wertschätzen, mit symbolischen Gesten unterstützen, hegen und pflegen. Wenn die Logik von Anreizsystemen so geartet ist, dass der professionelle Code (im Falle der Wissenschaft : die Logik der Wahrheit) beschädigt, vernachlässigt oder lächerlich gemacht wird, wird dieser professionelle Code nicht lange bestehen, sondern Stück für Stück, zuerst bei einzelnen Personen, dann bei anderen und immer mehr, abgebaut werden. Wenn etwa bei einem Forschungsprojekt binnen weniger Jahre ein sensationelles oder zumindest lukratives Ergebnis zustande kommen soll, weil die Forschungsgruppe sonst eingestellt wird, bestehen große Anreize oder Pressionen, bestimmte Ergebnisse „hinzubiegen“ – ob es sich dabei nun um bewusste Fälschung handelt oder nur darum, dass die Akteure sich selbst belügen. Je mehr allerdings die Wissenschaft auf den Code Geld festgelegt wird, desto besser sind Einflussnahmen möglich : An einem politikwissenschaftlichen Institut wird man sich gut überlegen, jene Institutionen, die das große Forschungsprojekt bezahlen, mit schmerzhaften Analysen zu behelligen. Und an einer Institution, die sich mit der Analyse der Wissenschaftspolitik befasst, tut man gut daran, den Hinweis des Ministeriums ernst zu nehmen, dass man Geld nicht dafür hinauswerfen möchte, immerzu eigene Fehler nachgewiesen zu bekommen. Mittlerweile sind ja auch in Österreich Wissenschafter nicht mehr unkündbar, eine mutige Anomalie im weltweiten Vergleich, sodass seitens der Politik, der Verwaltung oder anderer Zentralkomitees Handhaben bestehen, sie von Irrtümern abzuhalten und in brüderlicher Hilfe auf den richtigen Weg zu weisen. Es geht aber auch in der Wissenschaft nicht nur um große Themen, um die Fälschung von Laborberichten und die Verbiegung von Gutachten. Es geht auch hier um die Kleinigkeiten des Alltags, um den Kontrast zu den Prinzipien, derer man sich in den Festreden rühmt. Es geht um die Qualitätsstandards, mit denen Universitätslehrer Bachelor- und Masterarbeiten oder Dissertationen bearbeiten : Die einen bessern jeden Beistrich aus, die anderen blättern einmal locker durch. Es geht um die Sorgfalt der Vorbereitung von Lehrveranstaltungen und um die Korrektheit bei der Bewertung von Leistungen. Es geht darum, dass dieselben wissenschaftlichen Leistungen mehrmals, bei verschiedenen Einrichtungen, verkauft werden ; oder darum, dass universitäre Reputation nur als Plattform dient, um anderswo die wirklichen Geschäfte zu machen. Universitäten pflegen sich dessen zu rühmen, dass Karrieren auf wissenschaftlichen Leistungen beruhen und die Einschätzung dieser Ergebnisse auf einem kompetitiven Markt in transparenter Weise erfolgt – was natürlich ein reiner Mythos ist, wo doch jedem Beobachter klar ist, dass wissenschaftliche Karrieren nicht viel mit Publikationen, Erkenntnissen und
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wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit zu tun haben, sondern viel mehr mit Freundschaften und Netzwerken.
5. Das Vertrauen auf die Profitabilität von Ethik ist eine Ausrede
Man mag den Markt – in der Tradition von Adam Smith – für ein im Grunde ethisches Unternehmen halten, und es gibt gute Gründe für diese Auffassung (Smith 2005). Es gibt aber auch so manche ethischen Probleme im Wirtschaftsleben : Umweltskandale, illegale Praktiken hinsichtlich des Inhalts von Lebensmitteln, Glykolwein, Getreide mit krebserregenden Zusatzstoffen, Hormonkälber, Korruption, die Selbstbereicherung von Managern, gefälschte Bilanzen und gefälschter Käse, Insider-Trading an den Börsen, zweifelhafte Marketingpraktiken, die mangelhafte Ausstattung von Eisenbahnnetzen und dementsprechende Gefährdung von Kunden, die schlechte Wartung von Flugzeugen, das monströse Geschäftsgebaren multinationaler Untemehmen in der Dritten Welt, Schlampereien und Unzulänglichkeiten im Fluglotsenbetrieb, die Abholzung der Regenwälder, Ölbohrungen in Naturschutzgebieten, untragbare Risiken mit verrosteten Tankern auf See, manipulierte Testergebnisse für die Pharmakonzerne etc. Das ist keine besonders freundliche Liste, und sie ließe sich verlängern. Sie belegt allerdings nicht, dass ein anderes als ein marktwirtschaftliches System bessere Ergebnisse zeitigen würde ; sie belegt sehr wohl, dass der Markt ein starkes Regelsystem benötigt, wenn er nicht entarten soll. Ob etwas gut oder schlecht läuft, ob etwas schicksalhaft oder verschuldet ist, ist eine Sache von Interpretationen, und um diese Interpretationen spielt sich ein Wettkampf ab. Es gibt Interessengruppen, die jeweils ihre Deutung des Sachverhalts durchsetzen wollen. Die Lebensmittelindustrie hat andere Vorstellungen über die ethische Qualität ihrer Produkte als Biobauern. Es ist eine Frage der Deutung, wie man die in jüngster Zeit diskutierte Bezahlung von Managern einschätzt : ob Manager „geldgierig“ oder „unterbezahlt“ sind. Dass sie mit einigen Millionen nach Hause gehen, nachdem sie das Unternehmen in den Ruin geführt haben, spricht jedenfalls nicht dafür, dass sie einen risikoreichen Job innehaben. Eine der beliebten Botschaften, die Ethikfachleute auf Managerseminaren neuerdings zu verkünden pflegen, ist die Botschaft von der Profitabilität der Ethik. Ethik zahlt sich langfristig aus. Das ist richtig, aber nicht besonders neu : Wenn ein Bäcker sich den Ruf erworben hatte, dass er beim Gewicht seiner Produkte betrügt, war das schon vor Jahrhunderten für sein Geschäft nicht allzu günstig. Wenn Fair Trade-Optionen bei den Konsumenten eine gewisse Bedeutung erlan-
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gen, ist es für ein europäisches Textilunternehmen profitabel, sich um anständige Lieferanten zu kümmern – aber diese Frage wird eben nur unter der Bedingung einer gewissen Aufmerksamkeit der Konsumenten relevant. Kritische Potenziale mischen sich also, auf zarte Weise, in Marktvorgänge ; und da dies auch den Sozialwissenschaftern nicht gänzlich entgehen konnte, hat man in der neueren Diskussion Elemente wie Treue und Vertrauen, Loyalität und Verlässlichkeit wiederbelebt. Das ist tröstlich. Auch wenn das tröstlich ist, ist es doch nicht sehr tröstlich, denn die Botschaft, dass sich Ethik auszahlt, ist natürlich zu schön, um wahr zu sein. Schweinereien sind nur dann unrentabel, wenn man sie aufdeckt – und wenn Abnehmer und Geschäftspartner darauf reagieren. Zudem gibt es die Einschränkung, dass sich eben nicht alle ethischen Verhaltensweisen auszahlen oder zuverlässig mit einem Happy End verbunden sind. Manchmal geht es so weit, dass man ethische Anwandlungen nicht überlebt : Russische Journalisten, die lebenden und die toten, können Beispiele dafür liefern, dass professionelle Ethik riskant sein kann. Moralisches Verhalten ist nicht immer profitabel. Noch radikaler ist jener Einwand, der infrage stellt, ob es sich bei einer „profitablen Ethik“ überhaupt um eine solche handelt. Natürlich kann man durch unethisches Verhalten den Ast absägen, auf dem man sitzt – auch wenn man während des Sägens noch allerhand Vorteile lukrieren kann. Allerdings ist die Frage berechtigt, ob man dabei nicht die Verletzung moralisch wichtiger Vorschriften mit Dummheit verwechselt. Wenn es ohnehin gewinnbringender ist, sich ethisch zu verhalten, ist derjenige, der sich nicht ethisch verhält, einfach dumm – nicht „anständig“. Aber in pragmatischer Hinsicht gilt : Wenn zumindest jene Fälle bereinigt werden, in denen Moralität und Vorteilhaftigkeit miteinander verträglich sind, ist dies besser als nichts. Man spart sich dann die ethische Anstrengung für jene Bereiche auf, in denen sie wirklich nötig ist.
6. Die Demokratisierung der Sittlichkeit wird dieser nicht helfen
Elitesysteme dürfen sich nicht verselbstständigen, auch Wissenschaft und Wirtschaft müssen an den Willen der Bürger gebunden bleiben – das gehört, ganz global, zum Verständnis der modernen Welt. Das Postulat führt verschiedentlich zu Forderungen, denen zufolge die Diskussion über wissenschaftsethische Probleme zu demokratisieren sei. Einmal mehr stößt man bei solchen Appellen auf die pauschale Vermutung demokratischer Superiorität : Die Probleme der Menschheit seien so groß, sodass
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es einer Verstärkung der demokratischen Kontrolle bedarf, um lebenswichtige Interessen zu wahren. Allerdings gibt es – mit einem Blick auf die Geschichte – keine guten Gründe dafür, dass demokratische Entscheidungen von höherer Qualität sind als politisch-administrative oder technokratische Entscheidungen. Die meisten Probleme, die zur Entscheidung anstehen, sind so komplex, dass sie von Wählerinnen und Wählern nicht verstanden werden. Diese orientieren sich an einfachen Vorstellungen, polaren Simplifizierungen, Gut-Böse-Schemata und haben Angst vor Unbekanntem und Neuem. Man kann darauf vertrauen, dass eine Volksabstimmung über die „Abschaffung von Genen“ eine Mehrheit für sich gewinnen würde, und es hat gute Gründe, dass auch jene politischen Gruppen, die sich der Basisdemokratie grundsätzlich verpflichtet fühlen, nicht vorschlagen, eine demokratische Abstimmung über die Einführung der Todesstrafe oder die Behandlung straffälliger Immigranten durchzuführen. Bei der Demokratisierung solcher Diskussionen kann man mit allen möglichen Ergebnissen rechnen, insbesondere im Zeitalter grassierender, medienverstärkter Populismen (Dubiel 1986). Verweise auf politische Korrektheit bieten sich an, etwa die Beseitigung unerfreulicher Phänomene durch Tabuisierung. Ein Beispiel : Forschungen über unterschiedliche psychologische Eigenheiten und Fähigkeiten von Rassen oder Geschlechtern sehen sich üblicherweise rasch dem Vorwurf ausgesetzt, Diskriminierung zu rechtfertigen. Da es keine Rassenunterschiede geben darf, dürfen sie auch nicht erforscht werden. Erst 1996 wurde der so genannte Rassensaal im Naturhistorischen Museum in Wien geschlossen, statt ihn auf den Stand der Wissenschaft zu bringen, die heutzutage natürlich in einem wesentlichen Ausmaß auf den kulturellen-konstruktiven Charakter von Rassen hinweist (Sowell 1994) ; demgegenüber ist es die primitivste Reaktion, das Problem aus den Augen zu schaffen. Mit der politischen Korrektheit ist es ein Problem : Manche, die sich der Bewusstheit in Sachen wissenschaftlicher Ethik rühmen, halten die Gehorsamkeit gegenüber den Postulaten der politischen Korrektheit für ein Zeichen ihres Verantwortungsbewusstseins ; manchmal ist es aber auch das blanke Gegenteil.
7. Verbindlichkeit in einer nihilistischen Gesellschaft ist nicht herstellbar
Sozialethische Diskussionen finden häufig in einer künstlichen Welt statt, in der gutwillige Menschen in aller Güte über die gute Gesellschaft reden ; nach dem gemeinsamen Buffet erst kehren sie in jene Wirklichkeit zurück, in der diese Gedanken beiseite geschoben werden. Sofern in solchen Diskussionen Konsense erzielt
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werden, greifen sie in der Folge nicht deshalb nicht, weil die Akteure hinterlistig oder ignorant sind ; sie greifen deshalb so selten, weil die konkreten Anwendungen unterschiedliche Interpretationen zulassen. Ein Rückgriff auf Befunde der Kriminalsoziologie mag das deutlich machen : Die meisten strafbaren Handlungen werden nicht deshalb begangen, weil die Delinquenten andere Werte als der gesellschaftliche Mainstream besitzen ; vielmehr haben sie dieselben Werte, interpretieren sie aber so, dass der konkrete Kontext Ausnahmen und Verstöße – wiederum mit dem Rückgriff auf die Mainstream-Werte – rechtfertigt. Es ist also nicht so, dass sie Diebstahl für gut halten ; sie glauben aber, begründen zu können, warum ihr Griff in die Kasse im Einzelfall gerechtfertigt ist. Auch im Wirtschaftsleben und Wissenschaftsbetrieb sind sich die meisten über die grundlegenden Werte einig ; sie schätzen nur die Risiken, die Vor- und Nachteile, die Chancen und Gefahren anders ein. Insofern stoßen die Diskussionen an Grenzen. Die Unterschiedlichkeit der Auffassungen steigt allerdings in einer individualistischen, pluralistischen Gesellschaft nicht nur aufgrund der Kompliziertheit der Verhältnisse, sondern auch aufgrund einer mangelnden Gemeinsamkeit ethischer Grundlegung. Der Grundkonsens schwindet, es gibt heterogene Bewusstseins lagen und kontroverse Moralitäten (Gross 1994 ; Brosziewski et al. 2001). Wenn es das erklärte Ziel einer gelingenden Sozialisation darstellt, dass der Einzelne sich nicht in das gesellschaftliche Ganze fügt, sondern zu einem unverwechselbaren Original wird, also seine Unique Selling Proposition ausbaut, dass er (wie immer auch) anders als alle anderen ist, dann muss es sich um eine geltungsfeindliche Gesellschaft handeln, die ihre gemeinsamen Auffassungen auf ein Minimum reduziert. Man kann immer alles hinterfragen, alles relativieren, alles anders sehen. Wenn aber nichts a priori „gilt“ und gelten darf, ist dies keine gute Voraussetzung, um zu weitreichenden gemeinsamen ethischen Spielregeln zu kommen.
8. Ethikdiskussionen sind oft Rituale – und dennoch nützlich
Viele ethische Diskussionen ähneln der Definition eines Feuilletons durch Karl Kraus : Locken auf einer Glatze drehen. Natürlich kann man nicht leugnen, dass viele der einschlägigen Diskussionen Augenauswischereien sind, die man unter die Begriffe der „Marketingethik“ oder des „Ethikmarketings“ fassen kann. Ein bisschen „Corporate Responsibility“ gehört heute zum Handwerkszeug und eine Homepage mit den einschlägigen Floskeln, die man wechselseitig abschreiben kann, ist ziemlich billig. Dennoch bleibt zuweilen der Verdacht, dass da oder dort Ernsthaftigkeit obwaltet.
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Zwei Beispiele für überflüssige Diskussionen : Das erste Beispiel bezieht sich auf Überflüssigkeit in Anbetracht von Nichtverhinderbarkeit. Jüngst war ich bei einem Vortrag, bei dem die Möglichkeit erörtert wurde, jungen Frauen Eizellen oder Teile der Gebärmutter zu entnehmen, und sie einzufrieren und später wieder zu verwenden – sodass Frauen mit 50 oder 60 Jahren ohne Probleme und ohne Risiko Kinder zur Welt bringen können. „Wollen wir das ?“ – so war die Frage. Aber die Frage ist überflüssig. Offensichtlich handelt es sich um Maßnahmen, die innerhalb der rechtlichen Zulässigkeit getätigt werden können. Was wird geschehen ? Die Sache wird sich über Angebot und Nachfrage regulieren. Ohne Zweifel wird es Ärzte und Institutionen geben, die eine solche Dienstleistung anbieten, und ohne Zweifel wird es Nachfragerinnen geben. In welchem Maße sich Lebenszyklen und Karriereverläufe, Familienstrukturen und demografische Indikatoren tatsächlich ändern werden, werden wir sehen. Die Frage, ob wir es für ethisch vertretbar halten, eine Gesellschaft zu gestalten, in der nur noch Großmütter es sich leisten können, Kinder in die Welt zu setzen, ist deshalb beinahe eine akademische Frage – ganz abgesehen von einer Wirklichkeit, in der die Gebärunwilligkeit der reichen Länder durch andere kulturelle Gruppen auf das Beste kompensiert wird. Das zweite Beispiel bezieht sich auf Überflüssigkeit durch Banalität. Vor wenigen Wochen hat eine mit berühmten Wissenschaftern bestückte Diskussion über die Zukunft der Welt in Salzburg stattgefunden, der Trilog ; und der indische Soziologe Surendra Munshi hat ein Abschlussdokument verfasst. Darin heißt es etwa : „Wir müssen verschiedene Visionen dieser Welt entwickeln, die inklusiv sind und die Gesamtheit der Menschheit und die Erde, auf der wir leben, einbeziehen […] Wir müssen uns selbst und unseren Planeten retten. Eine Aufgabe, die mit klarem Denken und überzeugenden Maßnahmen angegangen werden muss.“ Es ist kaum vorstellbar, dass jemand unter uns ist, der mit diesen Proklamationen nicht einverstanden ist : eine Vision zu entwickeln, eine Inklusive-Haltung – das heißt, niemanden auszugrenzen, den Planeten zu retten, klares Denken, überzeugende Maßnahmen. Wer sollte für unklares Denken und nicht überzeugende Maßnahmen eintreten ? Weiter heißt es : „Wir verpflichten uns, Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung auszuschließen sowie zu Frieden und friedlicher Konfliktlösung auf allen Ebenen, wobei die Werte etwa der Toleranz, des Kompromisses, des gegenseitigen Respekts und der Harmonie respektiert werden.“ Auch da können wir mitgehen. Und weiter : Es sei globales Denken zu entwickeln, ein Weltbürgertum ; und Dialog müsse in verschiedenen Regionen der Welt und auf verschiedenen Ebenen gefördert und verbreitet werden. Und so geht es weiter. Es gibt vermutlich keinen Satz in diesem Papier, dem nicht alle Menschen dieser Welt zustimmen würden, auch wenn sie sich konkret etwas ganz Unterschiedliches darunter vorstellen. Man
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könnte die Frage stellen, warum es tatsächlich eines internationalen Forums von hoher Reputation bedarf, um diese ethischen Banalitäten zu verkünden – und warum die Zeitungen Berichte liefern, die von großer Verehrungsbereitschaft zeugen. Es gibt also Ethikdiskussionen als Rituale. Es bleibt dann bei der freigebigen Verwendung eines bestimmten Vokabulars : Verantwortung, Nachhaltigkeit, Menschenwürde und Zukunft. Beliebt ist die konjunktivische oder appellative Sintflut : „Man müsste und man sollte …“ – „Das Ziel muss sein …“ – „Man hat zu untersuchen und umzusetzen …“ Beliebt ist auch die Uhrenmetapher : „Es ist fünf Minuten vor zwölf!“ Nachdem es das jedoch bereits seit Jahrzehnten ist, scheint die Uhr stehengeblieben zu sein. Freilich ist auch diese Kritik wieder nur berechtigt, wenn man die als Beispiel apostrophierte Versammlung und das Ergebnispapier mit wissenschaftlichen Augen betrachtet, also nach dem kognitiven Ertrag der Übung fragt. In Wahrheit handelt es sich wohl um etwas anderes : um ein ethisches Ritual, um eine religiöse Inszenierung, ähnlich dem Religions- oder Ethikunterricht. Es mag für die Kinder und Jugendlichen nicht schlecht sein, neben der Mahnung zur beruflichen Qualifizierung und der Botschaft, dass man sich in dieser Welt am besten dadurch verwirklichen kann, indem man die richtige Markenware kauft, auch noch daran erinnert zu werden, dass es einen Wert an sich darstellen könnte, anständig zu sein. Das gilt auch für Manager und Wissenschafter. Wenn solche Botschaften gar nicht mehr vorkommen, ändert sich das Bild der Wirklichkeit. Man sieht eine andere Welt, und die Fragen von Ethik, Moral, Anstand und Tugend bekommen einen Geruch, der an Mottenpulver und alte Wohnungen erinnert. Ethikdiskussionen sind deshalb nicht nur Veranstaltungen zur Verbreitung von Informationen und zur Erarbeitung von Lösungen ; sie sind auch Erinnerungsposten. Sie erinnern daran, dass es nicht nur Standards von Geld und Karriere, von eigenem Vorteil und eigenem Interesse gibt, sondern dass man an die Wirklichkeit auch mit anderen Relevanzstrukturen herangehen kann. Sie erinnern daran, dass da auch noch eine andere Welt ist oder sein könnte.
9 Literatur
Brosziewski, Achim/Eberle, Thomas Samuel/Maeder, Christoph (Hg.) (2001) : Moderne Zeiten. Reflexionen zur Multioptionsgesellschaft. Konstanz : UVKVerl.-Ges. Bury, J. B. (1920) : The Idea of Progress. An inquiry into its origin and growth. London : Macmillan and co.
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Di Trocchio, Federico (1995) : Der große Schwindel. Betrug und Fälschung in der Wissenschaft. 2. Aufl. Frankfurt am Main u. a.: Campus Dubiel, Helmut (Hg.) (1986) : Populismus und Aufklärung. Frankfurt : Suhrkamp Frey, Bruno S. (1997) : Not Just for the Money. An economic theory of personal motivation. Cheltenham Glos. u.a.: Elgar Gehlen, Arnold (2004) : Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 14. Aufl. Wiebelsheim : AULA-Verlag Grafton, Anthony (1995) : Fälscher und Kritiker. Der Betrug in der Wissenschaft. Ungek. Ausg. Frankfurt am Main : Fischer-Taschenbuch Gross, Peter (1994) : Die Multioptionsgesellschaft. 1. Aufl., 1. Ausg. Frankfurt am Main : Suhrkamp Luhmann, Niklas (1987) : Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. 1. Aufl. Frankfurt am Main : Suhrkamp Mieg, Harald (2003) : Professionelle Leistung – professional performance. Positionen der Professionssoziologie. Konstanz : UVK Verlagsgesellschaft Mittelstraß, Jürgen (1996) : Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung. 2. Aufl. Frankfurt am Main : Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1042) Pfadenhauer, Michaela (2003) : Professionalität. Eine wissenssoziologische Rekonstruktion institutionalisierter Kompetenzdarstellungskompetenz. Opladen : Leske + Budrich Smith, Adam (2005) : The Theory of Moral Sentiments. 1. publ., 3. print. Cambridge u.a.: Cambridge Univ. Press (Cambridge texts in the history of philosophy) Sowell, Thomas (1994) : Race and Culture. A world view. New York NY : Basic Books
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Ethik und Ethikkommissionen/Ethikkomitees mit Blick auf Wissenschaft und Forschung – ein einfaches und doch komplexes Thema
1. Ethik gefragt!
„Die Ethisierung der Technik und ihre Bedeutung für die Technikfolgenabschätzung“, so lautete die Themenstellung der 10. Österreichischen TA-Konferenz am 31. Mai und 1. Juni 2010 in Wien. Das Thema stellt sich zu Recht : Ist doch eine weitgehende „Ethisierung“ vieler Lebensbereiche, auch die der Technik und der Wissenschaft, festzustellen. Ohne Ethik scheint nichts mehr zu gehen. Ethik und Moral also an allen Ecken und Enden! Der zum Teil schon inflationäre Gebrauch des Wortes weist auf einen Ethikboom hin. Die hinter diesem Boom zu vermutende Hinwendung zur Ethik lässt sich aber relativ bald relativieren, insofern es sich zum Teil auch um eine Modeerscheinung handelt, nämlich um eine Ethisierung verschiedener Lebensbereiche zu Marketingzwecken. Dabei ist Ethik eine Forderung, die in der Moderne mit ihrer Entscheidungsoffenheit und starken Veränderungskapazität gelegen ist. Wenn man die Begriffe Ethik und Moral synonym nimmt, zeigt sich das am Buchtitel von Otfried Höffe : „Moral als Preis der Moderne“1. Situationen sind im Wegfall oder Schwächerwerden von Traditionen für Entscheidungen offen, weil sich die in den Traditionen abbildenden Selbstverständlichkeiten auflösen und sich im schnellen Wandel – vor allem hinsichtlich Technologie oder Wirtschaft – nach William Ogburn2 ein „cultural lag“, eine kulturelle Kluft, auftut, die sich darin zeigt, dass sich von „Inventions“ (Erfindungen) oder wirtschaftlicher Dynamik angetriebene Entwicklungen mit Ethik nur sehr bedingt oder mit größeren Verzögerungen einholen lassen. Auf der anderen Seite sind es die so genannten Sachzwänge der einzelnen Bereiche, die eine unilineare Richtung vorzugeben scheinen, die sich als nur schwer einbremsbar zeigt. Wenn es etwa Sachzwänge erfordern, nach dem Motto „Friss oder stirb“ zu handeln, kann das für Geschäftsführer von Unternehmen – etwa in 1 Höffe, Otfried : Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt. Frankfurt am Main 1995 2 Ogburn, William F.: Social Change with Respect to Nature. New York 1966 (Original 1922), bes. 200ff.
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Branchen, in denen sich gewisse leicht und eindeutig als unethisch zu qualifizierende, weil meist schon gegen das Strafgesetz verstoßende Handlungen als „Norm“ herausgebildet haben –, eine Gewissensbelastung zeigen, welche die ethische Stützung eines „Gegenmodells“ erfordert. Multioption wie auch Verschließung auf technische Lösungen erfordern Ethik als Anbieten von Entscheidungskriterien wie auch als Bezugnahme auf Perspektiven, die über den jeweiligen Bereich hinausgehen und eine Einordnung in das Ganze eines geglückten menschlichen Lebens erleichtern. Dieses Ganze kann heute in den meisten Fällen nicht mehr eindeutig inhaltlich festgelegt werden, es ist aber eine notwendige Perspektive, um einen Bezugspunkt auch für Forschung zu schaffen. So schreibt Ferdinand W. Menne, dass Ethik heute der Tendenz nach „transitorische“ Ethik sein muss, wenn er sagt : „Gegenüber allen regionalen bzw. sektoriellen Wertesystemen, in denen sich mehr oder minder verhüllt Interessen formulieren, könnte es zur generellen Aufgabe werden, ‚das Ganze‘ ethisch als Perspektive zu erhalten, man könnte auch sagen (ohne damit inhaltlich viel gesagt zu haben), das Interesse am Menschen (= an allen Menschen), der in komplexen Lebensverhältnissen existiert, gegen Widerstände wachzuhalten.“3 Ethik hat natürlich mit Interessen und deren Ausgleich zu tun : In Entscheidungen stehen immer divergierende Interessen verschiedener Personen an. Es ist wichtig, die Interessen auch durch Kompromiss – nach Georg Simmel4 eine der größten Erfindungen der Menschheit – zum Ausgleich zu bringen. Ethikkommissionen, die sich aus Personen mit verschiedenen Interessen im jeweiligen Gebiet zusammensetzen, sind oft solche Instrumente des Kompromisses, des Interessenausgleichs. Kompromisse brauchen aber einen Bezugspunkt – und das kann das Ganze als Perspektive sein. Interessen betreffen immer Teile bzw. Teilbereiche. Diese auf das Ganze des Menschseins hin zu überschreiten, darin liegt die Aufgabe von heute, die nicht mehr automatisch in Bezug auf ein vorgegebenes Gesamtsystem zu erreichen ist, sondern die der bewussten Perspektivensetzung bedarf.
2. Welche Ethik ist gefragt ?
Dieser Ethikboom zielt aber nicht auf Ethik insgesamt, sondern nimmt Ethik meist funktionalistisch auf bessere und effektivere Gestaltung der einzelnen Bereiche – 3 Menne, Ferdinand W.: Wertesysteme und Realität. Soziologische Stichworte, in : Hertz, A. (Hg.) : Moral. Mainz 1972, 34–59, 58 4 Simmel, Georg : Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin 1958, 250
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Ethik wird hier als Umweg konzipiert, der aber schneller zum Ziel führen soll – in den Blick oder als Marketinginstrument. Nicht umsonst sind die Ethikinitiativen gerade im Unternehmensbereich oft in der Marketingabteilung angesiedelt, das „Ethikboard“ eine Unterabteilung der Marketingabteilung. Ethik soll also – verkürzt gesprochen – dem Unternehmenserfolg dienen und wird zu diesem Zweck eingesetzt. Dass Ethik auch dem Erfolg dient, dagegen ist nichts einzuwenden, wenn sie aber nur als Mittel zum Erfolg eingesetzt wird, tut sich eine problematische Entwicklung auf, nämlich eine Ausrichtung auf eine Erfolgsethik, die auch unethische Handlungen legitimiert, diese aber ethisch bemäntelt, nur dass sie zum vorher in den Kriterien festgelegten Erfolg führen. Ähnliches zeigt sich auch im öffentlich-staatlichen Bereich. Wenn Recht nicht greift, weil es infolge des notwendigen Institutionalisierungszeitraumes den Entwicklungen oft noch stärker nachhinkt als die ethische Diskussion, die ja auch zur Weichenstellung in der rechtlichen Frage dient, können vielleicht Ethikinitiativen aus der Beengung herausführen. In dieser Entwicklung lässt sich aber eine andere Funktionalisierung von Ethik diagnostizieren, nämlich die in Bezug auf Recht. Ethik wird dann zur Vorstufe des Rechts und der Institutionalisierung von konkreter Rechtsmaterie oder zum Erfüllungsgehilfen des Rechts – als rechtliche Institution. Als solche sind etwa Ethikkommissionen in vielen Punkten konzipiert. Nicht dass Ethik auch die Funktion der Vorbereitung zur Rechtswerdung oder als vom Recht gesetzte Institution hätte, aber ihre Aufgabe beschränkt sich nicht auf diese Funktion. Der Ethikboom ist also in vielen Fällen von einer Nachfrage nach einer bestimmten Form von Ethik geprägt, nämlich nach einer pragmatischen, für die Funktionen von zum Erfolg führender Darstellung und von Rechtfertigung vermittelnder Beratung. Ethik ist dann aber auch nur so lange gefragt, wie sie diese Funktionen erfüllt. Ethik ist also „anwendungsorientiert“5 zu gestalten und den vielfach divergierenden Interessen Rechnung tragend auf den konkreten Fall hin auszurichten. Eine Konsequenz dieser Entwicklung zeigt sich nun in einer Erweiterung des Abstandes zwischen theoretischen Ethikkonzepten und konkret angewandter, zum Großteil, wie gezeigt, auch funktionalisierter Ethik der Entscheidung im Fall. Diese Ethik wird dann oft zur Rechtfertigung herangezogen und damit in einem gewissen Sinn beliebig. Gerhard Zecha hat in seinem Artikel „Viele Ethiken und keine 5 Vgl. dazu : Rainer, Anselm : Common-Sense und anwendungsorientierte Ethik. Zur ethischen Funktion Klinischer Ethikkomitees, in : Frewer, Andreas/Fahr, Uwe/Rascher, Wolfgang (Hg.) : Klinische Ethikkomitees. Chancen, Risiken und Nebenwirkungen. Würzburg 2008 (Jahrbuch Ethik in der Klinik, Bd. 1) 29–46
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Moral“6 auf dieses Phänomen der pluralistischen Zersplitterung des ethischen Diskurses mit der Folge des Relativismus, die sich gerade in konkretes Handeln zeigt, hingewiesen. In dem Artikel „Viele Ethiken – und doch eine Moral“7 habe ich auf die Notwendigkeit der Orientierung an Grundwerten angesichts dieser Situation hingewiesen, an Grundwerten, die in solchen auf Funktion hin angelegten Ethea orientierend sein müssen und damit auch in Analyse und Anwendung einbezogen. Nicht dass es nur eine Ethik geben sollte, aber alle Ethiker sollten um das umfassend Gute auch im jeweiligen Fall bemüht sein, wobei es in vielen Fällen Aufgabe sein wird, zuerst zu fragen, was denn das Gute, das sich in Gütern zeigt, ist.
3. Die Ethisierung von Wissenschaft und Forschung
„Wissen ist Macht“ : Diese Parole von Francis Bacon8 verweist nicht nur auf die Tatsache, dass mit Wissen Gestaltungsmacht in gesellschaftlichen Bezügen verschiedenster Art verbunden ist, es verweist auch auf den Kontext der Utopie eines „Nova Atlantis“, worin das Wissen für eine positive Entwicklung der Gesellschaft eingesetzt wird. Diese positive Entwicklungsrichtung ist aber nicht automatisch gegeben, sondern erst in einer ethischen Bezugssetzung angesichts der Tatsache, dass die Ergebnisse von Wissenschaft und Forschung zum Guten wie auch zum Problematischen bzw. Schlechten verwendet werden können. In diesem Zusammenhang will ich nur auf zwei Punkte eingehen : auf den Prozess der Wissensgewinnung und auf die Anwendung dieses Wissens in konkreter Technik-, Wirtschafts- oder Gesellschaftsgestaltung.
6 Zecha, Gerhard : Viele Ethiken und keine Moral. Zur Problematik des wissenschaftlichen Werterelativismus, in : Weingartner, Paul (Hg.) : Die eine Ethik in der pluralistischen Gesellschaft. Innsbruck 1978, 157–182 7 Neuhold, Leopold : Viele Ethiken – und doch eine Moral, in : Hösele, Herwig u. a. (Hg.) : Steirisches Jahrbuch für Politik 2006, Graz 2007, 153–158 8 Nach Wikipedia stellt der Ausdruck „Wissen ist Macht“, ein geflügeltes Wort dar, „das auf den englischen Philosophen Francis Bacon (1561–1626) zurückgeht. Bacon legt in seinen Werken einen Grundstein der Philosophie im Zeitalter der Aufklärung und führte die aristotelisch-christliche Scholastik an die Erkenntnisse und Methoden der Naturwissenschaft heran. Sein Bestreben, den Menschen >in einen höheren Stand seines Daseins< zu bringen, drückte sich 1597 in seinen Meditationes sacrae in der Formulierung Nam ipsa scientia potestas est (Denn die Wissenschaft selbst ist Macht) aus. In der englischsprachigen Fassung von 1598 lautete der Satz : (For) Knowledge (itself ) is power-Denn Wissen selbst ist Macht.“ http ://de.wikipedia.org/wiki/Wissen_ist_Macht.
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a) Die „Amoralität“ der Wissenschaft als Perspektive der Gewinnung von Wissen
Wenn auch Erkenntnis wissenschaftlicher Art immer in Zusammenhängen steht, ist sie doch auf die Sache als solche gerichtet. Während in einer antiken oder mittelalterlichen Weltsicht Erkenntnisse in einer hierarchischen Ordnung standen und dadurch die Erkenntnisrichtung festgelegt war, ist in der modernen Gesellschaft dieser Sinn nicht mehr ein vorgegebener, sondern ein zu konstruierender, oder er bleibt einfach ausgeklammert. Das Wissen steht also nicht mehr in definierten Sinnzusammenhängen, die vor der jeweiligen Sache gelegen sind, also auch nicht in moralischen Prämissen. Die Moderne hat nach Volker Ladenthin nämlich „die empirische oder konsensuale Gewissheit darüber verloren, ob die Dinge einen Sinn in sich haben. Die Erkenntnisformen des Wahren, des Guten, des Schönen stehen in einem nicht hierarchischen, nicht theologischen Verhältnis zueinander. Das Wissen wird amoralisch. Es steht außerhalb der Moral.“9 Das bedeutet, dass die Wissenschaft aus den beengenden Zusammenhängen einer auch durch Interessen – etwa religiösen – bestimmten Ethik herausgenommen worden ist, wodurch sich ein von ethischen Vorgaben ungebremster Entwicklungsschub einstellen konnte. Wenn es etwa aus ethischen Gründen, aus einer religiös abgestützten Ethik heraus beispielsweise, lange Epochen der Geschichte hindurch nicht erlaubt war, Leichen zu öffnen, war dadurch die biologische oder medizinische Wissenschaft in einem hohen Ausmaß gebremst. Mit dem Wegfall dieser moralischen Beschränkungen konnte eine wesentliche Bremse gelöst und damit der Forschung neuer, offen liegender Raum geschaffen werden. „Die Amoralität der Wissenschaft ist ein hoher Wert. Auf ihr gründet die weltweite Akzeptanz des europäischen Wissensmodells.“10 So die logische und nachvollziehbare Folgerung von Volker Ladenthin. Ethik und Moral können auch als Ausdrücke von Interessen den Forschungs- und Wissenschaftsraum wesentlich begrenzen und orientieren. Damit kann man in die Ethikfalle gelangen, die gerade in der Form eines sachfernen Moralisierens11 gewisse, auch positive Entwicklungslinien ausschließt. Unter Moralisieren verstehe ich hier eine Haltung, welche die Sache im Einmahnen allgemeiner ethischer Blickpunkte nicht ernst nimmt und die Dimension der Verantwortung in der einseitigen Einforderung einer Gesinnung mindert. Solcher Haltung entgegentretend, forderte etwa Wolfgang Schmitz12, der ehemalige österreichische Finanzminister, als we 9 Ladenthin, Volker : In der Ethik-Falle. Forschung, in : Rheinischer Merkur Nr. 15, 11.04.2002, 17 10 Ladenthin, Volker : In der Ethik-Falle, 17 11 Vgl. zum Moralisieren : Zsifkovits, Valentin : Politik ohne Moral ? Linz 1989, bes. 22f. 12 Schmitz, Wolfgang : Das noch verborgene sechste Prinzip der katholischen Soziallehre. Zum guten Wollen das gute Wissen, in : Die Furche, Nr. 19, 9. Mai 1991, 3
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sentliches Prinzip einer Sozialethik das Prinzip der Sachkenntnis ein : Neben dem guten Wollen muss es auch das gute Wissen geben. Damit öffnet sich der Raum für Forschung, der „nur“ von dem beschränkt ist, was wissenschaftlichen Erkenntnissen widerspricht. Dieser Raum ist aber nicht unendlich. „Wissenschaft wird zum ethischen Problem, wenn wir fragen, was sie erforscht. Denn das Erforschte gibt uns Handlungsoptionen ; das Nichterforschte behindert uns beim verantwortungsvollen Handeln. Dies gilt selbst bei zweckfreier Forschung. Ob eine Gesellschaft mehr Geld und Zeit in die Naturwissenschaften oder in die Geisteswissenschaften investiert, ist auch eine moralische Frage.“ 13 So die These 8 von Volker Ladenthin, die er auf dem Symposium „Ethik in der Forschung“ am 23. Mai 2008 in Wien aufstellte. Der Amoralität von Wissenschaft als einem Freihalten des Forschungsraums auch von moralistischen Interessen muss damit die moralische Frage nach dem, was erforscht werden soll, an die Seite gestellt werden. Dies gilt besonders auch in einer Situation der Beengtheit der Forschungsmittel und in der Ausgestaltung der Forschungslandschaft als Wettbewerb, in dem dann als Konsequenz gilt : The winner takes it all. Eben dadurch wird der von moralischen Bindungen freigestellte Forschungsraum wieder durch Interessen wesentlich beschränkt ; und wieder sind es Interessen, die von außen an den Forschungsprozess herangetragen werden, die aber nun nicht mehr von Ethik oder Moral zur Sprache gebracht und damit kritisch hinterfragt werden und so unsensibel denen gegenüber werden, welche durch die Forschung leiden. b) Ethik als Eröffnung von Perspektiven für die Wissenschaft
Der Prozess der Forschung ist, auch wenn die postulierte „Amoralität“ gegeben sein sollte, nicht frei von Interessen. Das zeigt schon die Art, wie der Forschungsprozess abläuft. Thomas Kenner14 zeigt dieses Phänomen etwa am Beispiel der Entdeckung der DNA, die wie ein Wettrennen ablief, ein Wettrennen, in dem aufgrund des auf dem Spiel stehenden Prestiges und der wirtschaftlichen Auswirkungen ethische Perspektiven außer Acht gelassen wurden. Schließlich ist der Nobelpreis ja nicht nur eine Anerkennung der wissenschaftlichen Leistung, sondern auch ein wichtiger Akzent, um im „Jahrmarktgeschrei“ der Wissenschaftskonkurrenz gehört zu werden. In der Konzentration auf diesen Wettbewerb konnte es dann nur leicht 13 Ladenthin, Volker : Handout zum Grundsatzreferat. Hauptthesen. Bonn, 23. Mai 2008 14 Kenner, Thomas : Zwischen Wahn und Weisheit – Gedanken zum Forschungsethos, in : Imago Hominis, 15(2998), H. 1, 21–29
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geschehen, dass James Watson „die Daten einer britischen Forscherin ohne deren Wissen und somit ohne deren Einverständnis und sogar für seine eigenen Veröffentlichungen verwendet hat.“15 Der Wettbewerb bedingt also eine gewisse Skrupellosigkeit, die sich nicht nur über ethische Forderungen hinwegsetzt, sondern sich auch in der Orientierung an der Öffentlichkeitswirksamkeit den Anstoß für das Forschungsthema vorgeben lässt. Gewisse Modeerscheinungen bestimmen dann das Forschungsthema, wie sich etwa an der so genannten Entschlüsselung des genetischen Codes oder an der Konzentration auf Vitamin D-Studien oder Medikamentenstudien in Bezug auf die verschiedenen Formen von Diabetes zeigen lässt. Was dann entdeckt oder erfunden worden ist, muss in der Folge „wie in einer Zwangsneurose auch verwirklicht und angewendet werden […], selbst wenn man damit nur Schaden anrichtet“16, wie Thomas Kenner den daraus folgenden „technologischen Imperativ“ umschreibt. Das gilt besonders vor dem Hintergrund der sozialen Falle von „Too much invested to quit“, man hat schließlich schon zu viel investiert, um noch aussteigen zu können – deswegen muss dann auf Teufel komm’ raus angewendet werden. Diese Tatsache wird umso virulenter, wenn man sich vor Augen hält, dass ja schon die Theorienwahl von einer gewissen „Fachblindheit“ der Vertreter der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin geprägt ist, wie Josef Quitterer17 in der Interpretation von Thomas S. Kuhn und seiner Analyse von Paradigma zeigt. Ein Dogmatismus lässt alternative Theorieansätze oft gar nicht aufkommen. Es sind also wissenschaftsexterne Faktoren, die nach Thomas S. Kuhn zu einem großen Teil sowohl die „normalwissenschaftliche“ Arbeit in einem Paradigma, das Rahmenbedingungen vorgibt, „die nicht mehr infrage gestellt werden“18, bestimmen, wie auch in einer revolutionären Phase, einer Umbruchphase, tragend werden. Es sind also auch die in einer Gesellschaft mit Umsetzungsmacht ausgestatteten Weltbilder, welche die Auswahl der Forschungsthemen wie auch die Vorgangsweise in Forschung und Anwendung beeinflussen. Wenn man heute folgende „TeilWeltsichten“ für prägend hält, wird klar, dass in diesen Elementen von Weltsicht aktuell wesentliche Weichenstellungen für die Auswahl von Forschungsthemen wie für die Durchführung von Forschung gelegen sind. 15 Kenner, Thomas : Zwischen Wahn und Weisheit. 27, zitiert aus einem Artikel aus der NZZ vom 24. Oktober 2007 („slz“, Rassistische Äußerungen des Nobelpreisträgers Watson – Von verschiedenen Ämtern abgesetzt. Neue Zürcher Zeitung, 24. Oktober 2007, 30) 16 Kenner, Thomas : Zwischen Wahn und Weisheit. 24 17 Quitterer, Josef : Der Einfluss wissenschaftsexterner Faktoren auf den Fortschritt der „hard sciences“, nach Thomas S. Kuhn, in : Imago Hominis 15 (2008) H. 1, 11–19 18 Quitterer, Josef : Der Einfluss wissenschaftsexterner Faktoren. 11
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Folgende Elemente können in Anschluss an Bernhard Pelzl19 namhaft gemacht werden : • Eine Sicht der Welt und auch des Menschen als Maschine • Die Anschauung von der prinzipiellen Machbarkeit von Mensch und Welt, die zur technokratischen Verengung führt, die den technischen Zugriff als Gesamtzugriff ausgestaltet und damit zur Vergewaltigung von Mensch und Natur führt • Die Vorstellung, dass der Markt als einziges oder wenigstens vorrangiges Maß der Welt und so auch der Wissenschaft dient • Die Anschauung, dass das Neue in sich schon das Bessere ist, was sich in einer Beweislastumkehr dergestalt auswirkt, dass das Herkömmliche beweisen muss, dass es das Bessere ist Die kritische Analyse der Wirksamkeit dieser Faktoren von Weltsicht auf die Forschung bleibt eine wichtige Aufgabe von Forschungsethik. Wenn die Wissenschaft nach Volker Ladenthin „aus einem entwerfenden und kontrollierenden Element in ein dienendes Instrument umgewandelt worden“20 ist, stellt sich nämlich verschärft die Frage, wer oder was es ist, dem die Wissenschaft dient. Dadurch wird nach Ladenthin Wissenschaft zur Technik. „Der technische Zirkel, den vormals die Wissenschaft zum Nutzen aller aufgesprengt hat, wird geschlossen : Wissenschaftliche Ergebnisse müssen sich nicht darauf befragen lassen, ob ihre Herstellung und der Umgang mit ihnen sittlich ist, sondern die Erforschung selbst geschieht unter praktischen Vorgaben – dem angeblichen Nutzen für die Allgemeinheit.“21 Diesen technischen Zirkel muss nun Ethik hinterfragen, indem sie Perspektiven eröffnet, die im Anwendungswillen oft verschlossen werden. Solche Perspektiven sind etwa jene hin auf die Funktionsbedingungen von Wissenschaft selbst, also die Sachgerechtigkeit, die Frage, ob die Wissenschaft dem Menschen als Ganzes gerecht wird, also die Menschengerechtigkeit, die Frage, wie die Umwelt, auf die das Forschungsergebnis „wirkt“, durch die Forschungsergebnisse beeinträchtigt wird, die Frage, ob das Forschungsergebnis einem nachhaltigen, also längerfristigen Rahmen gerecht wird, also Zukunftsgerechtigkeit, oder wie die gesellschaftliche Konstellation verändert wird, also die Gesellschaftsgerechtigkeit. Natürlich sind diese Perspektiven 19 Vgl. dazu Pelzl, Bernhard : Die Welt als Maschine, der Markt als Maß (Der Wissenschaftsbegriff der so genannten „Angewandten Forschung“), in : Pieringer, Walter/Ebner, Franz (Hg.) : Zur Philosophie der Medizin. Wien 2000, 135–152 20 Ladenthin, Volker : Amoralität als Bedingung der Wissenschaft, in : Nuissl, Ekkehard (Hg.) : Wenn Wissenschaft mehr als Wissen schafft. Bonn 2002, 156–158, 157 21 Ladenthin, Volker : Amoralität als Bedingung. 157
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selbst nicht selbstverständlich und nochmals zu hinterfragen, aber die in den Perspektiven sich ausdrückenden Fragen müssen gestellt werden, soll es nicht zur technokratischen Verkürzung kommen, die keine Fragen mehr stellt, weil man glaubt, dass mit der technischen Machbarkeit alle Fragen ausgeklammert werden können, weil sie schon beantwortet sind.22 Dieses System des Schweigens, das die Technokratie darstellt, widerspricht ja der Demokratie, die im Stellen von Fragen besteht. An die Technokraten die Entscheidung abzugeben, heißt, die Agora, den Marktplatz der Ideen, verwaisen zu lassen.23 Noch problematischer kann es werden, wenn der praktische Zirkel, der durch die Wissenschaft gesprengt worden ist, durch den Geldgeber mit seinen monetären Interessen, die durchaus berechtigt sein können, geschlossen wird. So schreibt Ladenthin : „Statt lebensweltlicher Vollzüge ist der Geldgeber derjenige, der den zuvor aufgebrochenen technischen praktischen Zirkel schließt.“24 Und damit ist meist auch die Ausrichtung an vorhin genannten Perspektiven gekappt.
4. Ethik als Gesinnung und Struktur
Wenn traditionellerweise von Ethik gesprochen wird, denkt man vor allem an das Gewissen des Einzelnen, das als Entscheidungsgrundlage dient. Ethik wird so auf der Ebene der Gesinnung platziert. Das sieht man etwa daran, wenn man nach der Ethik und, in diesem Fall synonym gebraucht, nach der Moral des Einzelnen zur Behebung von Missständen ruft. Wenn beispielsweise im Zusammenhang mit der Bankenkrise auf die Gier der Manager Bezug genommen wird, zeigt dies – von der negativen Seite her – die Konzentration der Ethik auf die individuelle Komponente. Ethik und Moral haben vor allem mit der Person zu tun, mit ihren Motiven und Entscheidungen. Ethik hat wesentlich aber auch eine strukturelle Seite. Das wird angesichts zweier Punkte deutlich sichtbar. Damit die Person ethisch sein kann, bedarf es der ethischen Unterweisung und Erziehung. Wenn auch die Anlage zur ethischen Entscheidung der menschlichen Natur entspricht, so bedarf es doch einer Formung dieser Anlage, damit sie auch inhaltlich in die Entscheidung eingebracht werden kann. Es bedarf also der ethischen Bildung, in der Tradition auch Gewissensbil22 Zum System der Technologie, vgl. Lübbe, Hermann : Zur politischen Theorie der Technokratie, in : Der Staat 1(1962), 19–38, bes. 38 23 Vgl. dazu : Bauman, Zygmunt : Zerstreuung der Macht. Das Öffentliche und die Politik sind bedroht, in : Die Zeit, Nr. 47, 18. November 1999, 14 24 Ladenthin : Amoralität als Bedingung. 157
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dung genannt. Hier haben institutionalisierte Ethikeinrichtungen eine wichtige Aufgabe. Wenn zum Beispiel das Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik ( i mabe) in Wien immer wieder ethische Stellungnahmen zu medizinischen Entwicklungen herausgibt, wird gerade diese Orientierungsfunktion sichtbar. Es muss „Vordenker“ geben, die sich systematisch und explizit mit Entwicklungen befassen, um die Problemstellungen sichtbar zu machen, diese in Zusammenhänge stellen und konkrete Orientierungen herausgeben, die gesellschaftlich etwa über Gesetze oder Verordnungen oder auch „nur“ Beurteilungsstandards wirksam werden können oder in einer Organisation zur Information ihrer Mitglieder verwendet werden. Neben dieser Erziehungsfunktion ist die Ausrichtung auf Strukturen aber auch wegen der Tatsache, dass der Einzelne, um sich auf Dauer ethisch verhalten zu können, auch der Stützung durch Strukturen bedarf, notwendig. Das gilt gerade in Situationen, wo die moralische Entscheidung dem Einzelnen Opfer abverlangt, wo ein Schwimmen mit dem Strom Vorteile mit sich bringt. Der Einzelne ist im Durchschnitt nicht zum Helden seiner moralischen Entscheidung geboren, sodass es ihm oft schwer fällt, eine ethische Haltung ohne Bestärkung durch Strukturen durchzuhalten. Für gesellschaftliche Abstimmung aufeinander oder auch für eine Abstimmung in einer Organisation sind auf Ethik ausgerichtete Strukturen notwendig, um sich ein einheitliches und identifizierbares Erscheinungsbild zu geben. Dies gilt umso mehr, als ethische Haltungen infolge der Pluralisierung etwa nicht mehr selbstverständlich sind und so die gesellschaftliche Stützung in einem Common Sense nicht mehr vorhanden ist. Wenn das, was „man“ tut, nicht mehr gegeben ist oder „allgemeingültig“ in Bezug auf Normen oder Werte bedeutet, dass sie im Allgemeinen gültig sind25, für die spezielle Anwendung aber der Begründung bedürfen, so bedarf es der begründenden Abstützung dieser Werte, damit sie handlungsrelevant werden. Dies gilt besonders dann, wenn beispielsweise der wirtschaftliche Druck so groß wird, dass ethische Werte infolge dieses Druckes auf der Strecke zu bleiben drohen. Ethik bedarf somit immer auch der Abstützung in Strukturen, um auf Dauer für das Handeln orientierend bleiben zu können – und hier liegt die Aufgabe von Ethikkommissionen und Ethikinitiativen. Im Rahmen einer Organisation haben diese institutionalisierten Ethikinitiativen auch mit der Identifizierbarkeit nach innen und außen zu tun. Wenn moralische 25 Vgl. dazu : Morel, Julius, Wertesystem und letzte Werte, in : Hanf, TH. u.a. (Hg.), Sozialer Wandel. Bd.1, Frankfurt a. M. 1975, 221–236, 232
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Haltungen nicht mehr selbstverständlich sind, wenn die Mitglieder die Bestärkung ihrer Ethik infolge der Pluralisierung nicht mehr aus den Begegnungen und Kontakten innerhalb einer Organisation beziehen können, wenn sie also nicht mehr implizit gegeben sind, bedarf es des Explizitmachens. Dafür sind diese Ethikinitiativen von Bedeutung. So definiert denn auch Valentin Zsifkovits Ethik als ein „System begründeter, von der Idee eines sinnvollen menschlichen Lebens geleiteter Aussagen über das gute bzw. richtige Handeln und Verhalten unter Beachtung der entsprechenden Gesinnung und in Ausrichtung auf entsprechende Institutionen und Strukturen“.26 Ist es ein Zeichen eines Verlustes der Selbstverständlichkeit ethischer Haltungen, dass Institutionen in Bezug auf Ethik wie die sprichwörtlichen Schwammerl aus dem Boden schießen ? Es gibt ja allenthalben Ethikkommissionen, Ethikkomitees, Ethikboards, Ethik-Leitlinien für die verschiedensten Bereiche und Unternehmen werden erarbeitet und publiziert. So findet man Ethikkommissionen in Banken, wenn es etwa um ethische Veranlagung geht, so gibt es gesetzlich vorgeschriebene Ethikkommissionen in Universitätskliniken und Krankenhäusern, auch in die Universitäten selbst haben Ethikkommissionen Einzug gehalten – was ja angesichts der Tatsache von Plagiaten und gefälschten Studien nicht verwunderlich ist, selbst der Österreichische Fußballbund unterhält ein Ethikkomitee.27 Und es ist immer von Bedeutung, wer Mitglied in diesen Ethikgremien ist. In vielen Unternehmensleitbildern nehmen Ethikleitlinien einen prominenten Platz ein – manchmal auch im umgekehrt proportionalen Verhältnis zum tatsächlichen Agieren. Soll mit dieser „Kommissionitis“ der Eindruck ethischen Verhaltens und Handelns geweckt werden, wo andere Treiber des Verhaltens wirksam sind ? Oder sind vielleicht die ethischen Strukturbildungen als Ersatz für die fehlende ethische Gesinnung zu sehen ? In vielen Fällen ist es so. Damit droht Ethik zu einem Darstellungselement zu werden, das in der Marketingabteilung seine logische Verortung findet. Dabei sind die Konsequenzen solchen ethischen Bemühens dann oft im Waschbärprinzip festgelegt : „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ Das heißt nun nicht, dass es rechtliche Konsequenzen sein müssen und sollen, die mit Ethikinstitutionalisierungen verbunden sind, aber die Ethikinitiativen müssen für den Alltag insofern prägend sein, als sie eine Unterscheidbarkeit konstituieren, die sich nicht nur auf dem Papier findet. 26 Zsifkovits, Valentin : Ethisch richtig denken und handeln. Wien 2005, 56 27 Vgl. dazu : Luf, Gerhard, Das Ethikkomitee der Österreichischen Fußball-Bundesliga, in : Neuhold, David/Neuhold, Leopold (Hg.), Fußball und mehr … Ethische Aspekte eines Massenphänomens, Innsbruck 2003, 209–215
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Die Ethikentwicklung ist weiters geprägt von einem Boom an sogenannten Bindestrich- oder Genitivethiken : Bio-Ethik, Sport-Ethik, Forschungs-Ethik, BankenEthik, Unternehmensethik, Wirtschaftsethik, Medienethik usw. Die funktionale Differenzierung hat es offensichtlich mit sich gebracht, dass in der Verfolgung der Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Bereiche spezifische Herausforderungen entstehen, die nicht mehr nach allgemeingültigen ethischen Modellen allein bewältigt werden können. Natürlich ist Sachkenntnis in den einzelnen Bereichen gefordert, wenn man nach ethischen Orientierungen sucht. Mit dieser Spezialisierung ist nun auch mitgegeben, dass sich Entwicklungen in den einzelnen Bereichen nur schwer abschätzen lassen, was dazu führt, dass rechtliche Regelungen dieser Dynamik nur schwer gerecht werden können, weil sie einerseits sehr einschränkend wirken können, auf der anderen Seite Orientierungsbedarf nicht abgedeckt werden kann. Hier liegt nun auch ein Ort für Ethik, die als variabler, weil als ein Teil des sehr schwierigen, da die Allgemeinheit und nicht nur spezifische Gruppen umfassenden Gesetzeswerdungsprozess unterworfener Faktor wirken kann. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist die Frage der Regelungen für Banken. Bis internationale Regelungen erreicht werden können, die einen sehr großen Abstimmungsbedarf auch wegen der mit dem Recht festgeschriebenen Folgen für einzelne Banken und die Weltwirtschaft haben, vergeht oft zu viel Zeit, so dass der „weichere“ Ansatz bei der Ethik genommen wird, die damit auch einen gewissen „Probierraum“ für das Recht bedeutet und damit auch eine Orientierung in Bezug auf das, was Recht werden sollte.28 Hier spielen nun Ethikeinrichtungen eine wichtige Rolle, gerade auch dann, wenn sie die zum Teil als selbstverständlich sich darstellenden Sachgesetzlichkeiten aus der Sicht von Fachleuten hinterfragen. Denn der Determinierungsgrad der Sachgesetzlichkeiten ist im Durchschnitt viel höher als der der ethischen Logik.
5. Das Verhältnis von Ethik und Recht
Ethikkommissionen sind in manchen Bereichen, etwa dem medizinischen, durch Gesetz errichtet, sie sind also gesetzlich verankert und in den Prozess der wissenschaftlichen medizinischen Forschung beispielsweise zwingend eingefügt. Ethik steht also in dieser Form heute in einer Entwicklung der Verrechtlichung. Angesichts dieser Entwicklung drängen sich nun Fragen nach der Verhältnisbeziehung 28 Vgl. zur Diskussion der Bankenethik etwa : Koslowski, Peter : Ethik der Banken. Folgerungen der Finanzkrise, München 2009
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zwischen Ethik und Recht auf. Ist Ethik bloß als Vorstufe zum Recht zu verstehen ? Ist Ethik rechtlich geregelt ein Teil der Gesetzesvollziehung ? Stellt Ethik eine Legitimierung von Recht dar oder ist sie rechtlich „ermächtigt“ ? Jedenfalls ist das Verhältnis von Ethik und Recht ein spannungsreiches, das in einigen Punkten dargestellt werden soll. In den folgenden kurzen Hinweisen auf die Verhältnisbeziehung von Ethik und Recht folge ich Valentin Zsifkovits.29 Ich werde seine Gedanken aufnehmen und sie auf dem Hintergrund der Frage nach Ethikeinrichtungen auf diese Frage beziehen, ergänzen und erweitern. Den Ausgang möchte ich von den Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten von Ethik und Recht nehmen : − Sowohl Ethik wie auch Recht richten sich auf die Ermöglichung menschlichen Zusammenlebens und seiner entfaltenden Entwicklung, indem sie dem Handeln Orientierung geben. − Ethik wie auch Recht sind von einer Allgemeinheit gekennzeichnet, die erst in der Anwendung ganz konkretes Handeln bzw. Unterlassen formiert. − In der Frage nach dem „rechten Recht“ und in Prozessen der gewünschten Rechtsentwicklung zeigt sich, dass für das Recht sittliche Kriterien aufgestellt werden. Ethik stellt somit in vielen Traditionen einen Maßstab für das Recht dar, wie etwa das Anlegen von naturrechtlichen Maßstäben an das gesatzte Recht mit dem damit verbundenen Kritikpotenzial zeigt. Ebenso spielt Ethik auch eine wichtige Rolle bei der konkreten Anwendung des Rechts in der Ausrichtung auf Erfüllung des Sinns des Rechts. Wenn etwa im Sport der Einhaltung der Regeln das Prinzip der Fairness an die Seite gestellt wird, bedeutet dies u. a., dass über die konkreten Regeln hinausgehende positive Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden, die in die Richtung der Erfüllung des Sinnes der Regeln weisen.30 − Das Recht hat Auswirkungen auf die Erkenntnis und Anwendung ethischer Normen. So wird das, was rechtlich erlaubt ist, oft auch als sittlich erlaubt betrachtet und was nicht rechtlich verboten ist, auch als sittlich erlaubt bewertet. Das nicht mit Strafe Bewehrte wird nur zu leicht auch als sittlich gerechtfertigt betrachtet. − Nach einer vieldiskutierten Aussage von Georg Jellinek ist Recht das ethische Minimum. Jellinek wörtlich : „Wenn wir nun bei einem historisch bestimmten Gesellschaftszustand nach den Normen fragen, deren Befolgung die fortdau29 Zsifkovits, Valentin : Ethisch richtig denken und handeln. Wien 2005, 65–68 30 Vgl. dazu : Neuhold, Leopold : Schlaglichter zum Thema Fußball und Ethik, in : Neuhold David/ Neuhold, Leopold (Hg.) : Fußball und mehr… Ethische Aspekte eines Massenphänomens. Innsbruck 2003, 305–326, bes. 315f.
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ernde Existenz eines solchen Zustandes möglich macht, so erhalten wir das Recht dieser Gesellschaft. Das Recht ist nichts anderes als das ethische Minimum. Objektiv sind es die Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft, soweit sie vom menschlichen Willen abhängig sind, also das Existenzminimum ethischer Normen, subjektiv ist es das Minimum sittlicher Lebensbetätigung und Gesinnung, welches von den Gesellschaftsgliedern gefordert wird. Das Recht verhält sich nach dieser Auffassung wie der Teil zum Ganzen, wie das Fundament zum Gebäude. Das Recht wird also, als das erhaltende Moment, das Minimum der Normen eines bestimmten Gesellschaftszustandes bilden, das heißt, diejenigen Normen umfassen, welche die unveränderte Existenz eines solchen sichern.“31 Der Teil von Ethik, der für den Einzelnen in der Gesellschaft und für die Gesellschaft überlebensnotwendig ist, wird also rechtlich fixiert, das heißt auch, mit einem durchsetzbar gemachten Zwang zur Umsetzung versehen. − Sittlichkeit wirkt auf das Recht, indem in der Definition von richtigem Recht ein wesentlicher Zugang zur Akzeptanz des Rechtes gegeben ist. Ohne diese Akzeptanz könnte Recht nur mit unmittelbarer Kontrolle umgesetzt werden, wobei sich dann in weiterer Folge die Frage stellt, wer die Kontrolleure kontrolliert. Wenn ich etwa keine Strafe zu fürchten habe, weil ein den Rechtsbruch erkennendes und ahndendes Kontrollorgan nicht vorhanden ist, wird gesetzeskonformes Verhalten nicht sehr wahrscheinlich sein, wenn Akzeptanz des Rechten fehlt. Neben diesen Gemeinsamkeiten gibt es aber auch wesentliche Unterschiede zwischen Ethik und Recht. Einige davon seien angeführt : − Das Recht richtet sich primär auf äußeres Verhalten, die Ethik dagegen auf die dem äußeren Verhalten und Handeln zugrunde liegende, aber sie nicht allein bestimmende Einstellung. Deswegen ist die ethische Einstellung auch nicht bloß nach dem sichtbaren Handeln bewertbar und deshalb auch rechtlich nicht oder wenigstens nicht gänzlich fassbar. − Recht ist von Erzwingbarkeit, Ethik dagegen von Freiwilligkeit gekennzeichnet : Wenn etwa eine rechtliche Forderung in Bezug auf eine wissenschaftliche Studie nicht erfüllt ist, z. B. das Votum der zuständigen Ethikkommission nicht ausgestellt ist, darf die Studie nicht durchgeführt werden. Nicht mit dieser gesetzlichen Vorgabe ausgestattete Ethikinitiativen dagegen können „nur“ Vorschläge machen oder Empfehlungen abgeben. Recht hat also mit Gewalt und Zwang zu tun, auch wenn es eine Zähmung der Gewalt darstellt. So schreibt Günther Winkler, dass 31 Jellinek, Georg : Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe. Berlin 21908, 45
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Recht, obwohl es der Eindämmung von Gewalt und Krieg dient, etwas Gewaltsames an sich hat, nämlich „den Zwang, die Gewaltanwendung zur Herstellung eines gesollten Zustandes“32, auch wenn es ein Zwang ist, der den Regeln des Gesetzes folgt. Ethik dagegen ist, auch wenn die Gründe für ein Handeln „zwingend“ sein sollten, von Freiwilligkeit und Entscheidungsoffenheit bestimmt. − In dieser Erzwingbarkeit des Rechtes liegt ein Moment der Obrigkeit, der Bestimmung einer höheren Instanz, der Autorität, die in einer Position gelegen ist. Ethik dagegen beruht auf herrschaftsfreiem Diskurs, auch wenn dieser idealistisch sein sollte. Recht, das der Ermöglichung von Freiheit dient, hat immer auch ein Element von Unfreiheit an sich, Freiheit dagegen ist der Grund der Sittlichkeit. − Im schon zitierten Diktum von Georg Jellinek über das Recht als ethisches Minimum kommt zum Ausdruck, dass nicht alles, was ethisch geboten ist, in Gesetze gegossen werden soll – und dies auch nicht ohne Schaden für die Gesellschaft getan werden kann, weil es für den Einzelnen überfordernd sein könnte. Der Zwang zur Tugend führt nämlich meist nicht zur Tugend. Thomas von Aquin schreibt in seiner Summa : „Das menschliche Gesetz wird aber einer Vielzahl von Menschen gegeben, und in ihr ist der größere Teil nicht in der Tugend vollkommen. Deshalb werden durch das menschliche Gesetz nicht alle Laster verboten, deren sich die Tugendhaften enthalten, sondern nur die schwerwiegenderen, deren sich der größere Teil der Menschen enthalten kann, und besonders solche, die sich zum Schaden anderer auswirken, ohne deren Verbot die menschliche Gesellschaft nicht erhalten werden könnte.“33 Jede Tugend gesetzlich festschreiben zu wollen, würde zu einem Tugendterror führen, der gerade der Tatsache, dass sich das Gute in verschiedenen Gütern, die nicht ausschließlich, sondern sich in vielem ergänzend sind, nicht gerecht wird. Mit der Ethik ist nämlich auch die Möglichkeit einer erweiternden freien Auswahl gegeben. − Diejenigen, welche die Rechtsordnung setzen, sollen im Anschluss an den zuvor genannten Unterschied nicht mit denen identisch sein, die ethische Normen verkünden, um gerade auch den schöpferischen Weiterentwicklungsprozess nicht zu bremsen. Daraus sich ergebende totalitäre Vorgaben wären gerade für Wissenschaft und Forschung bremsend, weil sie meist nur der Herrschaft dienende Forschungsziele vorgeben würden. 32 Winkler, Günther : Das Recht – ein Instrument des Friedens ?, in : Scheuermann, Audomar/Weiler, Rudolf/Winkler, Günther (Hg.) : Convivium utriusque iuris. FS für Alexander Dordett zum 60. Geburtstag. Wien 1976, 15–25, 19 33 Thomas v. Aquin : Sth I,II, q.96, art.2
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− Rechtliche Verfahren sind, gerade wegen der Erzwingbarkeit und Anlehnung an die obrigkeitliche Sphäre, genau festgelegt, um etwa Berufung gegen Entscheidungen möglich zu machen. Ethikinstitutionen dagegen haben kein so detailliert festgelegtes Vorgehen. In Bezug auf das Ethikkomitee der österreichischen Fußball-Bundesliga schreibt etwa Gerhard Luf : „Die vorgestellten Verfahrensbestimmungen sind im Vergleich zu staatlichen Prozessordnungen wenig detailliert. Dahinter steht die plausible Überlegung, dem Ethikkomitee durch einen geringeren Determinierungsgrad des Verfahrens einen größeren informellen Spielraum für seine Verhandlungen und Entscheidungen zu geben, der gerade für den Bereich ethischen Räsonnements nötig erscheint. Anderseits darf dies angesichts der mit den Entscheidungen verbundenen juristischen und ökonomischen Konsequenzen nicht zu Rechtsschutzdefiziten insbesondere in jenen Fällen führen, in denen die Regelungen lückenhaft bleiben.“34 Dies ist besonders bei be- und damit auch verurteilenden Ethikkommissionen der Fall. Damit erfährt der ethische Diskurs oft eine Beengung auf den rechtlichen Aspekt. Juristische Konsequenzen bremsen die ethische Initiative ein, wenn die Beratungen rechtliche Konsequenzen haben, die in Richtung Existenz bzw. Nichtexistenz eines Vorhabens gehen. Das heißt aber nicht, dass Ethikinstitutionen der Beliebigkeit das Tor öffnen dürfen, sodass es zur Festschreibung und Legitimierung des „Gleichgültigen“ kommt.
6. Chancen und Gefahren institutionalisierter Ethikgremien
Die Szene der Ethikgremien ist von einer großen Vielfalt geprägt und Chancen sowie Gefahren hängen auch von der jeweiligen Gestaltung, der Ziel- und Zusammensetzung dieser Einrichtungen ab. Um einige Unterscheidungen anzustellen : Da gibt es einmal gesetzlich vorgeschrie bene und freie Ethikkommissionen ohne gesetzliche Basis. Die im Rechtssystem und den Verfassungen der einzelnen Bereiche verankerten Kommissionen haben eine in diesen Gesetzen vorgeschriebene Geschäftsordnung, also ein gewisses Formalisierungsniveau. Das ist auch erforderlich, sind sie doch Teil der Gesetzesanwen dung. Freie Ethikkommissionen definieren dagegen ihren Status und ihre Vorgehensweise selbst, sind also freier in ihrer Vorgehensweise. Das heißt nicht, dass nicht ein hohes Maß an Selbstbindung vorhanden sein kann. 34 Luf, Gerhard : Das Ethikkomitee der Österreichischen Fußball-Bundesliga, in : Neuhold, David/Neuhold, Leopold (Hg.) : Fußball und mehr … Ethische Aspekte eines Massenphänomens. Innsbruck 2003, 209–215, 214
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Eine weitere Unterscheidung kann zwischen entscheidenden und beratenden Ethikgremien getroffen werden. Während die Ergebnisse der zuerst genannten Ethikeinrichtungen definierter Teil des Entscheidungsprozesses sind, dienen letztere der Beratung entscheidender Personen und Gremien oder auch nur dem Aufwerfen ethischer Fragen im Institutionenzusammenhang. Eine weitere Unterscheidung zielt auf den Adressatenkreis der Ethikeinrichtungen : Wer soll angesprochen werden ? Die Organisation, in der sich die Ethikeinrichtung etabliert hat, oder die Öffentlichkeit bzw. eine Teilöffentlichkeit ? In diesem Zusammenhang sind die in der Marketingabteilung angesiedelten Ethikboards interessant. Sie richten sich in manchen Einrichtungen an die Öffentlichkeit, ohne den innerbetrieblichen Prozess entsprechend zu gestalten. Das zeigt sich dann an Diskrepanzen zwischen Unternehmensleitbildern, die von diesen Boards gestaltet werden, und dem Alltag des Unternehmens. Zudem kann die verschiedene Zielsetzung, die auch in der Unterscheidung von beratender und entscheidender Ethikeinrichtung eine Rolle spielt, eine Differenzierung bedeuten. Besteht das Ziel der Ethikeinrichtung in der Schlichtung von Konflikten im Unternehmen oder der Institution, ist es für ethische Begleitung des Alltags der Einrichtung bestimmt, dient es der Information der Öffentlichkeit, beschränkt es sich auf ein Thema oder werden die Themen ausgeweitet ? Valentin Zsifkovits beschreibt in diesem Zusammenhang einen Trend in der Entwicklung medizinischer Ethikkommissionen. „Die Ethikkommissionen … haben ja ihren Aufgabenbereich inzwischen von der Begleitung und Kontrolle medizinischer Forschung auf die Behandlung von Grenz- und Konfliktfragen der Medizin speziell am Ende des Lebens und nun auch am Beginn des Lebens ausgeweitet.“35 In der Zielsetzung können auch pragmatische Behandlung vorliegender Fälle oder philosophisch ethische Durchdringung grundsätzlicher Fragen unterschieden werden. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal stellt die Zusammensetzung der Ethikgre mien dar. Sind es nur betriebsinterne Personen aus einer höheren Managerschicht, die das Ethikgremium bilden ? Ist das Gremium für alle offen oder nur begrenzt zugänglich ? Werden auswärtige Personen in das Ethikgremium aufgenommen ? Das sind nur einige Fragen, aus deren Hintergründen sich dann verschiedene Typen von Ethikinstitutionen ableiten lassen. Die Frage der in einem Ethikgremium vertretenen Personen ist wesentlich, weil mit den Personen meist auch eine gewisse Schwerpunktbildung in Bezug auf Interessen vorgenommen wird – Interessen, welche die Entscheidungen oder Nicht-Entscheidungen mitbestimmen. 35 Zsifkovits, Valentin : Ethisch richtig denken und handeln. Wien 2005, 71f.
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Die Chancen und Gefahren hängen also von den verschiedenen Formen von Ethikeinrichtungen ab und es gilt, die Form an die Zielsetzung anzupassen. Immer aber muss die Frage nach der Möglichkeit eines Ethiktransfers auf die Zielgruppe hin gestellt werden. Wie kann Ethik in den Unternehmensablauf bei welchen Personengruppen oder Einzelpersonen implementiert werden ? Das ist eine wesentliche Frage, soll das Ziel von Ethikinitiativen erreicht werden. Christof Arn36 widmet sich in seinem Artikel „Ethiktransfer – Kernbegriff für eine Theorie von Ethikgremien“ explizit der Frage, wie Ethik auf Handlungsfelder bezogen werden kann. Dabei unterscheidet er grundsätzlich zwischen Ethiktransfer, der Strukturen verändert, und Ethikpädagogik, die Personen verändert. Für den Ethiktransfer wichtige Einrichtungen sind nach Arn Ethikgremien, Ethikprodukte, Ethikorganisationsberatung, für Ethikpädagogik zählt er Ethikweiterbildung, Publi kationen, Ethikberatung für Einzelpersonen auf. Zu dieser Unterscheidung ist zu bemerken, dass sie nicht trennscharf ist, weil etwa der Erfolg von Ethiktransfer wesentlich mit Ethikpädagogik zusammenhängt oder sich Ethikgremien auch wesentlich mit Ethikpädagogik im Unternehmen befassen und dafür entsprechende Strukturen entwerfen. Jedenfalls sind aber in der Unterscheidung wesentliche Stoßrichtungen angesprochen. Bei Ethiktransfer geht es Arn37 im Wesentlichen um vier Fragen : „Woher wird transferiert ?“ (Wie ist Ethik genauer zu fassen ?) „Was wird transferiert ?“ (Was ist der Inhalt des Transfers ?) „Wohin wird transferiert ?“ (In welches Handlungsfeld soll Ethik eingebracht werden ?) „Wie kann transferiert werden ?“ (In welcher Art soll der Transfer geschehen ?)
Jedes Ethikgremium muss diese vier Fragen für sich beantworten, um seine Aufgabe präzisieren zu können und auch die Möglichkeit der Evaluierung der Aufgabe zu gewährleisten. Dabei ist in Bezug auf Wissenschaft und Forschung gerade auch die Eigenart dieser Bereiche, wie sie kurz in Punkt 3 angesprochen worden sind, zu bedenken. Hier stellt sich etwa die Frage, was unter Freiheit der Wissenschaft zu verstehen ist und wie diese konzeptualisiert werden soll. Auf diesem Hintergrund sollen nun ein paar Punkte angesprochen werden.
36 Arn, Christof : Ethiktransfer – Kernbegriff für eine Theorie von Ethikgremien, in : Weidmann-Hügle, Tatjana/Christen, Markus (Hg.) : Ethikdialog in der Wissenschaft. Basel 2009 (Handbuch Ethik im Gesundheitswesen, Bd. 5), 167–194 37 Arn : Ethiktransfer. 173 werden diese Fragen angeführt und auf den folgenden Seiten entfaltet.
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6.1 Wir lassen Ethik denken : Ethikgremien im Spezialistenschema
Die ethische Frage ist in vielen Fällen eine komplexe und diffizile, gilt es doch, Sachrationalität und ethische Rationalität im entsprechenden Entscheidungsfeld aufeinander zu beziehen. Dazu kommt oft noch ein Zeitdruck, der durch virulente Entwicklungen in den einzelnen Bereichen ausgelöst und vor den handlungsleitenden Interessen verstärkt wird. In einer „neuen Unübersichtlichkeit“38 ist es wichtig, Experten zu haben, die in den jeweiligen Feldern „zu Hause“ sind. Wer Orientierung geben will, muss selbst wissen, wohin es geht. In einer Gesellschaft, die auch als Beratungsgesellschaft39 apostrophiert wird, sind also Berater gefragt. Und wie Berater in anderen Bereichen gefragt sind, so auch in der Ethik. Oft ist es sogar ein gewisses Guruwesen, das sich breitmacht. Ein Guru spricht, und damit ist der Fall gelöst. Dies zeigt sich auch in den Ethikgremien, die oft mit Experten beschickt sind. Noch einmal : Sachverstand ist nicht nur gut, sondern auch notwendig. Es ist aber verfänglich, wenn man „ethisch denken lässt“, um sich selbst von der Aufgabe der ethischen Orientierung zu dispensieren. Problematisch wird es dann, wenn in Unternehmungen Menschen, die nicht in den Alltag des Unternehmens integriert sind, Ethikrichtlinien oder Ethikkodizes entwerfen und ausarbeiten, ohne die Betroffenen einzubeziehen. Diese können den Alltag oft nicht orientieren. Hinzu kommt die Gefahr, dass die Ethikinitiativen unbekannt bleiben und versanden. Institutionalisierung bedeutet nämlich immer auch Definition von Zuständigkeit. Wenn Experten für zuständig erklärt werden, kommt es nur zu leicht dazu, dass sich die „normalen“ Mitglieder einer Organisation in der Folge dafür nicht zuständig fühlen. Dafür gibt es ja die Experten, die dafür bezahlt werden und in deren Aufgabenbeschreibung die Ethik gehört! Dadurch wird nur zu leicht übersehen, dass Ethikwissen zu jedem Menschen gehört. Wenn etwa im von Christof Arn und Tatjana Weidmann-Hügle herausgegebenen 2. Band des Handbuchs Ethik im Gesundheitswesen mit dem Titel „Ethikwissen für Fachpersonen“ Teil I mit „Grundlegende Werte von Fachpersonen“ übertitelt ist und der II. Teil den Titel „Ethik als Kompetenz und Werkzeug“ trägt, zeigt sich die Notwendigkeit, alle mit Ethik zu befassen, auch wenn der Terminus „Fachpersonen“ eine gewisse Konzentration auf in der Entscheidungsebene Höherstehende suggeriert. Wenn es die Herausgeber in der Einleitung zu diesem Band als Aufgabe der Ethik sehen, in ethisch schwierigen 38 Vgl. dazu : Habermas, Jürgen : Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a. M. 1985 39 Vgl. dazu : Fuchs, Peter/Pankoke, Eckart : Beratungsgesellschaft. Schwerte 1994 (Akademie-Vorträge, Nr. 42)
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Entscheidungssituationen „zu möglichst klaren, überzeugenden und transparenten – kurz ‚guten‘ – Entscheidungen beizutragen“40, muss aber jeder involviert sein. Dies ist auch deswegen notwendig, weil sonst nur zu leicht ein Abschieben der Entscheidung die Folge sein kann : „Ich war in die Konzeption dieser Entscheidungshilfe nicht involviert, deswegen ist sie für mich auch nicht relevant.“ Und dann kommt es zur Umschreibung von Verantwortung : „Wir können alles, aber nichts dafür!“ Weil jeder im Entscheidungsfindungsprozess seinen Ort und damit auch seine Wirkmöglichkeiten hat, ist es wichtig, dass jeder auch Kompetenz in den Entscheidungsfragen besitzt und diese wahrnimmt. Experten muss man die Frage stellen, wie sie dazu in Ethikgremien beitragen. Dabei ist es wichtig, zwischen allgemeinen Ethikinitiativen und deren Anwendung in einem entsprechenden konkreten Fall zu unterscheiden. Christof Arn41 unterscheidet bei der Frage der Qualität des Ethiktransfers deswegen auch – neben den Bezügen zur Öffentlichkeit und den Verarbeitungen in der Ethiktransferorganisation – die Qualität des Anschlusses an das Handlungsfeld und an den wissenschaftlichen ethischen Diskurs. Für den Anschluss an den wissenschaftlichen ethischen Diskurs nennt er drei Momente der Qualität : a) Den rezeptiven Anschluss : Danach haben Ethikgremien „verbindlich die Aufgabe …, den Stand der Diskussion in der Ethik … zu recherchieren und die Recherchen in die gemeinsame Arbeit einzubringen“. b) Den beitragenden Anschluss : Ethikgremien sollen am ethischen Diskurs teilnehmen, „etwa durch die Veranstaltung von Fachtagungen und durch Publikationen“. c) Unabhängigkeit : „Drittens ist es entscheidend, dass Fachpersonen … die maßgeblichen Aufgaben im Rahmen von Ethiktransfer übernehmen, ein Selbstbewusstsein und ein Selbstverständnis entwickeln, das sich bewusst von einem Selbstverständnis unterscheidet, das mit der Tätigkeit als Ethikerin oder Ethiker im universitären (Forschungs-) Betrieb zu verbinden ist.“ Deswegen bedarf es nach Arn eines produktiven Umgangs mit den Zielen, die ein Ethiker in einem Ethikgremium hat, und „den Anreizmechanismen im System der wissenschaftlichen Ethik andererseits“, um Synergien nutzen zu können. 40 Arn, Christof/Weidmann-Hügle, Tatjana : Einleitung – Ethisch kompetent entscheiden, in : Arn, Christof/Weidmann-Hügle, Tatjana (Hg.) : Ethikwissen für Fachpersonen. Basel 2009 (Handbuch Ethik im Gesundheitswesen Bd. 2.), 9–17, 9 41 Arn, Christof : Ethiktransfer – Kernbegriff für eine Theorie von Ethikgremien, in : Weidmann-Hügle, Tatjana/Christen, Markus (Hg.) : Ethikdialog in der Wissenschaft. Basel 2009 (Handbuch Ethik im Gesundheitswesen, Bd. 5), 167–194, 184f. Die folgenden direkten Zitate finden sich auf Seite 185.
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Für die Qualität des Anschlusses an das Handlungsfeld greift Arn wiederum auf die vorher genannten drei Momente zurück : Als rezeptiven Anschluss versteht er dabei die Wichtigkeit, „im intermediären System die Werte und Normen, die im Praxisfeld bereits (traditionell) wirksam sind, wahrzunehmen und zunächst als gewachsene und bewährte zu schätzen. Darauf aufbauend sollen allfällige Einflussmaßnahmen (beitragender Anschluss) in Erwägung gezogen werden.“ Dabei ist auch im Anschluss an das Handlungsfeld relative, also beziehende und bezogene Unabhängigkeit der intermediären Einrichtung eines Ethikgremiums wichtig. Daraus folgert Arn für den Gesundheitsbereich, was aber auch für den Bereich der Forschung in Bezug auf das Forschungsunternehmen etwa zutrifft, „dass Differenzen beispielsweise zwischen dem Ethikgremium und der Spitalsleitung nicht als ein zu vermeidendes Problem, sondern als integraler, notwendiger Teil der Zusammen arbeitskultur betrachtet werden“.42 Der konkrete Fall muss also auf die allgemeinen Kriterien der Ethik bezogen werden. Dabei ist zu bedenken, dass jeder Ethik etwas von Situationsethik anhaftet, weil der jeweilige Fall strukturierend bleibt. Daraus ergibt sich aber auch, dass der einzelne Fall nicht allein durch allgemeine Kriterien gelöst werden kann, sondern – neben den Idealfaktoren – die Realfaktoren in die Entscheidung einbezogen werden müssen. Darüber hinaus ergibt sich durch den „Realisationsfaktor Mensch“ immer auch ein zusätzlich strukturierendes Element. Die Gewissensentscheidung des Einzelnen muss trotz aller Strukturierung durch institutionelle Ethik formierend bleiben. Darauf muss und müssen sich jedes Ethikgremium und die in diesem Gremium tätigen Personen einlassen. Eine weitere Frage lautet : Wie finden die Mitglieder der Gesamtorganisation in das Gremium Eingang ? Die Frage nach der Auswahl der Mitglieder von Kommission oder Gremium ist deswegen entscheidend. Zugleich gilt es aber, über diese Repräsentanz hinaus zu fragen, wie sich im Blick auf ethische Fragen in der Forschung jeder Einzelne von dem, was in der „Ethikabteilung“ verhandelt wird, angesprochen fühlen kann. Es geht um das Gefühl : „Tua res agitur – es geht um deine Sache.“ 6.2 Wir verwenden Ethik : Ethikgremien im Marketingschema
Ethik steht immer in bestimmten Formen der Funktionalisierung – und wenn es nur die Funktionalisierung für das geglückte Gelingen des Lebens wäre. Es ist aber problematisch, wenn Ethik für ein außerhalb der Ethik gelegenes Ziel dienstbar gemacht 42 Arn : Ethiktransfer. 186
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und dies zudem noch verschleiert werden soll. Es ist natürlich so, dass sich Ethik in einem gewissen Sinne auch rechnen muss : sei es in Form von Gewinnung von Prestige, sei es im Sinne der Hebung von Qualität in Bezug auf Produkte und Unternehmensnamen. So titelt etwa die Unternehmensberatungsorganisation Transform : „Ethik spart Transaktions- und Integrationskosten“43 – ein Satz, der in der Wirtschaftsethik immer wieder auftaucht und in diesem Artikel von den Wirtschaftswissenschaften als nachgewiesen dargestellt wird. Und natürlich verringert Ethik das notwendige Maß an Kontrolle, was mit Kostensenkung verbunden ist. Ethik ist also ein Moment der Qualitätssicherung, weil mit Ethik Verlässlichkeit verbunden ist. Es ist aber problematisch, wenn Ethik in der Verlagerung in die Marketingabteilung nur der Werbung dient und nicht auch der substanziellen Gestaltung des Unternehmensablaufes. Mit Ethik hängen sich nämlich jene, die es sich leisten können, oft ein Mäntelchen um, das der Verbrämung der Wirklichkeit dient, nicht aber der Gestaltung. Wenn Ethikgremien hierfür missbraucht werden, ist der Ethik kein guter Dienst erwiesen, weil sie dann oft zur Vertuschung unternehmerischen Alltags und der Unethik in ihm benützt wird. Gerade in Zeiten des Ethikbooms ist das eine große Verführung. Man muss mit Ethikeinrichtungen nach außen hin dokumentieren, dass man „ethisch“ ist. Ethik ist ein Bestandteil der Selbstdarstellung, der in die Rationalität der Unternehmen mit dem Ziel der Gewinnmaximierung eingebaut ist, der in dieser Verlagerung aber nicht die Rationalität des Unternehmens hinterfragt. So spricht Matthias Kettner44 in einer Podiumsdiskussion in diesem Zusammenhang von „moralischen Feiertagen“, die als Sonntagseinrichtungen wenig bis nichts mit dem Alltag zu tun haben. In diesem Zusammenhang gilt es, das mit der Wertegeneralisierung verbundene Phänomen des Auseinanderklaffens von Werten und Handeln zu bedenken – mit der Folge, dass Ethikgremien für die Sonntagsebene eingesetzt werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Ethik des Unternehmens nachprüfbar zu machen und auch zu evaluieren. Damit wird ein Ethikkomitee beispielsweise auch ein Ansprechpartner in Bezug auf Einklagen der Umsetzung von Ethikrichtlinien. Und als solcher kommt auch der für Marketing funktionalisierten Ethik eine Bedeutung zu. Man hat einen Bezugspunkt, welcher der kritischen Anfrage dienlich gemacht werden kann. Wenn zum Beispiel oft darüber geklagt wird, dass Men43 http ://www.mytransform.de/archives/3 bringt unter diesem Titel einen am 7.5.2007 von Ernst-D. Klatte in Newsletter veröffentlichten Artikel. 44 Vgl. dazu : Kettner, Matthias in einer Podiumsdiskussion, dokumentiert im Artikel : Klinische Ethikkomitees : Chancen, Risiken und Nebenwirkungen. Perspektiven der Erlanger Podiumsdiskussion (im Rahmen der Diskussion des 5. Ethiktages am 29.11.2006), in : Frewer, Andreas/Fahr, Uwe/Rascher, Wolfgang (Hg.) : Klinische Ethikkomitees. Chancen, Risiken und Nebenwirkungen. Würzburg 2008 (Jahrbuch Ethik in der Klinik, Bd. 1), 181–201, 183
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schenrechte nicht das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben sind, so stimmt das nicht. Bei Menschenrechtsbrüchen hat man wenigstens die Möglichkeit, sich auf diese geschriebenen Menschenrechte zu berufen. Ethikgremien müssen aber mehr als eine Berufungsinstanz sein, mehr als eine eigenständige Abteilung in einem Unternehmen, sie müssen Ethik auch ganz konkret formen.
6.3 Wir rechtfertigen unser Tun mit Ethik : Ethikgremien im Absolutionsschema
Wenn es eine allgemein anerkannte Ethikinstanz nicht mehr gibt und in der Pluralisierung Ethik auch darin einbezogen ist, besteht in vielen Fällen Rechtfertigungsnotwendigkeit. Da die externe Rechtfertigung aufgrund des äußeren Pluralismus nicht ohne Weiteres zu gewinnen ist, stehen Ethikgremien oft in dieser Funktion des Legitimierens und Absegnens sowie auch im negativen Kontext der Absolution. In der schon vorher kurz zitierten Podiumsdiskussion am 5. Ethiktag am 29.11.2006 fragte Andreas Frewer, ob es sich bei Ethikgremien nicht um eine „Delegation des Gewissens“45 handle, und Matthias Kettner antwortete darauf, dass es vorkomme, dass die Ethik zum Beispiel in der Wirtschaft in die Rahmenbedingung und Rahmenordnung abgeschoben werde. Kettner wörtlich : „So könnte es sein, dass eine Institution anfängt, so zu denken, dass alle, die nicht im Ethikkomitee sind, im Grunde ‚von Ethik entlastet‘ sind und die Ethik ins Ethikkomitee ‚abgeschoben‘ ist.“46 Eine Institution kann in der Folge auch dann moralisch sein, wenn sie unmoralisch ist, sie hat ja eine Institution, die von „Sünden absolviert“. Ethikgremien werden dann angerufen, wenn es darum geht, von unethischen Handlungen im Betrieb freizusprechen, oder sie dienen einfach durch ihr Dasein dieser Absolution. Dabei ist es interessant zu beobachten, dass Gremien gerade im politischen Kontext oft für eine solche Absolution missbraucht werden. Wenn diese ein Gremium nicht leistet, kann man sich den ethischen Anstrich zur Absolution auch dadurch verschaffen, dass man ein weiteres Gremium beruft, das dann diese Funktion wahrnimmt. Zudem kann jener Effekt eintreten : Die beiden Gremien kommen zu verschiedenen Ergebnissen, und man ist somit in seiner Vorgehensweise exkulpiert, denn es ist so kompliziert, dass nicht einmal die Experten zu einem klaren Ergebnis kommen. 45 Andreas Frewer in einer Podiumsdiskussion, dokumentiert im Artikel : Klinische Ethikkomitees : Chancen, Risiken und Nebenwirkungen. Perspektiven der Erlanger Podiumsdiskussion (im Rahmen der Diskussion des 5. Ethiktages am 29.11.2006), in : Frewer, Andreas/Fahr, Uwe/Rascher, Wolfgang (Hg.) : Klinische Ethikkomitees. Chancen, Risiken und Nebenwirkungen. Würzburg 2008 (Jahrbuch Ethik in der Klinik, Bd. 1), 181–201, 183 46 Ebenda 184
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Nicht, dass es in der Bundesrepublik so war, aber es ist erstaunlich, dass sich die Politik neben dem Nationalen Ethikrat, der auf Initiative des Bundeskanzlers durch das Bundeskabinett 2001 berufen wurde und in diesem Jahr seine Arbeit aufnahm, auch eine Enquetekommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ „hält“. Diese Kommission war zur Vorbereitung aktueller Gesetzgebungsverfahren vom Bundesrat mit Zustimmung aller Fraktionen im März 2000 eingesetzt worden. Jedes dieser Gremien hat eine andere Zielsetzung, doch sollten sie in die gleiche Richtung arbeiten. Am Ende ihrer Darstellung der beiden Gremien schreibt Berglund Fuchs : „Der Ort der Entscheidung biopolitischer Grundfragen ist das Parlament. Ethikgremien können den einzelnen Abgeordneten bei der Abstimmung im Parlament ihre Entscheidung nicht abnehmen, die sie vor ihrem Gewissen verantworten müssen. Sie können aber einen wesentlichen Beitrag zur Ausbildung dieses Gewissens leisten, ihnen die Grundlagen unserer Verfassung neu vor Augen führen und zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesen Themen anregen.“47 Ethikgremien sind damit kein Ersatz des Gewissens, sondern Instrumente zur Befähigung des Gewissens. Es ist problematisch, wenn Ethikgremien von den Einzelnen als Außenstellen des Gewissens aufgefasst werden, die man sich „zur Legitimierung gibt und leistet“. Auch die besten Ethikgremien können nicht an die Stelle der Gewissensentscheidung treten, sie können die Entscheidung aus gewissen Gründen nicht zur Gewissensentscheidung machen. Übrigens berichtet Berglund Fuchs davon, dass von der CDU/CSU-Fraktion „kürzlich ein dritter Expertenrat ins Leben“ gerufen wurde, um „dem weiterhin bestehenden Informations- und Diskussionsbedarf Rechnung zu tragen“.48 Aber trägt eine Vermehrung der Gremien wirklich zu einer geschärften Gewissensbildung bei ? 6.4 Wir betreiben Ethik als Rechtsauslegung : Ethikgremien im Rechtsschema
Ethikgremien haben, wie schon angesprochen, besonders in der Gestalt von Ethikkommissionen rechtlichen Status. Sie sind Teil des Rechts, etwa im medizinischen Bereich. In diesem Bereich sind sie auf die revidierte Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes zurückzuführen und in Deutschland beispielsweise im Arzneimittelgesetz und Medizinproduktegesetz, aber auch im Stammzellgesetz als obligatorischer Teil der Genehmigung von Forschungsvorhaben am Menschen vorgese47 Fuchs, Berglund : Die Institutionalisierung der öffentlichen Ethikdebatte in Deutschland, in : Imago Hominis. Quartalschrift für medizinische Anthropologie und Bioethik – Wien 10(2003)H.2, 72–76, 75 48 Fuchs : Die Institutionalisierung. 75
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hen. Sie stellen damit einen Bestandteil des rechtlichen Verfahrens dar – und sind somit auch von den Prämissen des Rechts getragen und bestimmt. Das führt etwa dazu, dass die Durchführung von Forschungsvorhaben mit den Entscheidungen der Ethikkommissionen steht oder fällt. Es kommt also zu einem Beschluss, der „abschließt“ und nicht so sehr eröffnet. Das bedingt dann in Bezug auf Antragstellung, dass der Antrag so „hingebogen“ wird, dass er den rechtlichen Vorgaben entspricht. Dadurch kann es passieren, dass die ethische Diskussion von rechtlichen Vorgaben in einer Art und Weise eingeschränkt wird, dass der ethische Gehalt einer Entscheidungsfindung in den Hintergrund rückt. Ethik wird zum Teil auf Grenzmoral reduziert – zu einem Verhalten, das „durch Unterbieten gesellschaftlich geltender Normen bis an die ‚Grenze‘ des Strafrechts eine Differenzialchance erstrebt und Konkurrenten vor die Alternative von Mitmachen oder Untergang stellt“49, wie Werner Schöllgen Grenzmoral definiert. Dieser Druck an die Grenze des gesetzlich und/oder moralisch Erlaubten führt gerade im rechtlichen Kontext dann aber meist nicht zur ethischen Sensibilisierung, sondern zur Benützung des Ethischen, weil doch damit Sanktionen verbunden sind. In der Folge wird eine Ethikkommission meist nicht dem Eröffnen von Perspektiven dienen können, sondern – wie schon gesagt – vielmehr dem Abschluss eines Verfahrens. Hier gilt es dann, die Frage zu stellen, wie Ethik implementiert werden kann. Dafür ist die Ethikkommission nicht mehr zuständig.
7. Die lernende Ethikinitiative bei J OA N N E U M
RESEARCH
Das Ethikgremium bei joan n eu m r e s earc h wurde als lernende Ethikinitiative50 konzipiert. Es geht nicht um ein rechtlich institutionalisiertes Instrument, sondern eine Institution, die dem Prozess und der Prozesshaftigkeit des Forschens und der Technikentwicklung angepasst ist. Aus verschiedenen Abteilungen des Unternehmens rekrutieren sich die Mitglieder auf freiwilliger Basis, was sich in einer Offenheit für Ethik und ethische Konzepte auswirkt. Zugleich ist auch der Bezug zum Handlungsfeld der Forschung bei den Mitgliedern der Initiative in den verschiedensten Formen und damit eine Sensibilisierung für das Machbare gegeben. 49 Schöllgen, Werner : Grenzmoral, in : Höfer, Josef/Rahner, Karl (Hg.) : Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 4, Freiburg/Br. 21960, 1221–1222, 1221 50 Vgl. zum Konzept einer lernenden Ethikinitiative die Diplomarbeit von Blumenthal, Sara-Friederike : „Wissenschaftsbezogene Ethikinitiativen supra-/nationaler Organisationen im europäischen Forschungsraum“. Berlin 2008, sie wurde im Auftrag der „Arbeitsgruppe Ethik in Forschung und Technik“ von joan n eu m r e s earc h erstellt und ist in diesem Buch veröffentlicht.
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Um ganz kurz auf die vier im vorigen Punkt angesprochenen Aspekte von Ethikgremien einzugehen : 1. Mit der lernenden Ethikinitiative soll nicht Ethik für andere im Unternehmen und darüber hinaus gemacht werden, sondern die Initiative sieht es als ihre Aufgabe, den Ethikdiskurs im Unternehmen anzuregen. Mit der Konzeption und gemeinsamen Erarbeitung von Ethikleitlinien soll der Ethikdiskurs im Unternehmen etabliert und weitergeführt werden. Den Ausgang für den Diskurs schafft die Diskussion in der Arbeitsgruppe selbst. Zu den Gesprächen werden Abteilungen und Einrichtungen, in deren Bereichen sich ethische Fragen stellen, beigezogen. Damit wird ethische Sensibilisierung an Beispielfällen aufgezeigt, wodurch „Nachzieheffekte“ erreicht werden. 2. Die lernende Ethikinitiative ist nicht in der Marketingabteilung verankert, sondern im Leitungskreis des Unternehmens. Natürlich soll mit der Ethikdebatte auch die Qualität der Forschungsarbeit gesteigert werden, es geht aber vor allem um einen Beitrag zur Ermächtigung der einzelnen Forscherinnen und Forscher zur eigenständigen Entscheidung. Über den existierenden Ethikvertrag hinaus geht es um Öffnung von Perspektiven und Unterstützung, nicht um Eingrenzung mit Sanktionen. 3. Die lernende Ethikinitiative ist nicht als Rechtfertigungsinstrument in Bezug auf Ethik, die für das Unternehmen gilt, gedacht. Sie soll nicht Gewissensersatz sein, sondern Anregung, sein Gewissen zu benutzen. Solches erinnert an den Satz des polnischen Satirikers Stanisław Jerzy Lem : „Er hatte ein reines Gewissen, er benutzte es nie.“ Und weiter schreibt er : „Auch die Stimme des Gewissens kennt den Stimmbruch.“51 Es geht also nicht darum, ein reines Gewissen zu haben, sondern das Gewissen zu benutzen. 4. Die lernende Ethikinitiative will der Prozesshaftigkeit der Forschung gerecht werden, indem sie innerhalb der gesetzlichen Vorgaben initiativ auf Forschungsziel und Forschungsmethode wirkt. Es geht um Eröffnung von Perspektiven in der Begleitung des Forschungsprozesses und um die Möglichkeit raschen Reagierens auf Stationen in diesem Prozess, die einen verstärkten Ethikbedarf offenbaren. Dort, wo rechtliche Regelungen in der Ausrichtung auf abschließende Bewertung der Entwicklung nicht gerecht werden können, gilt es, Orientierung zu geben und zu finden.
51 Gefunden in www.zit.at – die große Zitate-Sammlung
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8. Schlussgedanke
In seinem Artikel „Not und Notwendigkeit der Ethikkommissionen“ beschreibt Aurelius Freytag die Ratlosigkeit der heutigen Gesellschaft in Bezug auf das, was als gutes Leben gefasst werden kann. Wer soll hier entscheiden ? In Bezug auf Abtreibung eines erblich belasteten Embryos schreibt Freytag : „Jetzt stellt sich nämlich nicht mehr die Frage, wo der Eingriff repressiver staatlicher Macht in die Entscheidung einer einzelnen Frau nicht mehr rechtfertigbar ist, sondern die Frage, wie viel an prekärer Macht einem Wissenschaftsapparat überantwortet werden soll. Es geht nicht mehr darum, ob der Staat eine Frau durch strafrechtliche Mittel zum Gebären eines Kindes zwingen darf …, sondern darum, ob ein Wissenschaftsapparat standardisiert darüber entscheiden darf, welche Embryonen gleich als menschwürdig einsortiert, welche nach genetischer Überarbeitung als menschenwürdig zugelassen und welche als menschenunwürdig aussortiert werden. Es steht am Spiel, ob sich der Staat des Hütens der Humanmacht begeben und die Kontrolle der Humanmacht einem Wissenschaftsapparat überantworten darf.“52 In der Forschung geht es auch um diese Humanmacht. Es wäre problematisch, wenn Wissenschaftsethikkommissionen hier mit Berufung auf Ethik entscheiden, sie müssen aber die Basis für die Entscheidung des Einzelnen mitschaffen helfen. Es geht um das Humane und die Humanität. Im Artikel „Die Krise des Wissenschaftsethos“ schreibt Carl F. Gethmann : „Das Ethos einer Interaktions- und Kommunikationsgemeinschaft ist das Ensemble der meistens unproblematisierten Regeln des Handels, an die sich jedermann gebunden weiß und deren Befolgung durch andere jedermann erwarten darf. Ein solches Ethos ist gewöhnlich implizites Regelwissen. Wird es explizit zum Thema, ist dieser Vorgang Indikator einer Krise von Interaktions- und Kommunikationszusammenhängen. Die in der letzten Zeit zunehmende Zahl von Veranstaltungen zum Thema ‚Ethos der Forschung‘ sind Indizien für eine Glaubwürdigkeitskrise der Wissenschaften. Diese Krise ist durch einige spektakuläre Forschungsfälschungen der Zeit keineswegs hinreichend erklärt. Vielmehr konnten diese Ereignisse in der Öffentlichkeit nur deswegen als so dramatisch aufgenommen werden, weil sie eine mehr oder weniger latente Stimmung tiefen Unbehagens manifestiert und verstärkt haben.“53 Die Glaubwürdigkeitskrise der Wissenschaft liegt dabei nach Gethmann nicht nur in der „gewohnten älteren Skepsis“ aufgrund der problema52 Freytag, Aurelius : Not und Notwendigkeit der Ethikkommissionen, in : Österreichische Monatshefte Nr. 5, 2005, 45–49, 49 53 Gethmann, Carl F.: Die Krise des Wissenschaftsethos, in : Biospektrum 13 (2007), H. 1., 96f, 96
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tischen Folgen der Anwendung wissenschaftlicher Forschung, sondern die neuere Skepsis gegen die Wissenschaft geht schon in den „Bereich der Erzeugung des Wissens“, in dem jetzt moralische Probleme diskutiert werden. „Da neuzeitliche Wissenschaft nicht lediglich betrachtende, sondern eingreifende Wissenschaft ist und Kausalwissen nur durch Intervention in Naturabläufe erhältlich ist, kann es sich ergeben, dass bereits die Tätigkeit im Labor – und nicht erst nach dem Labor – moralisch relevante Probleme erzeugt. Freilich ist das für das mechanische Labor noch kein Problem. Die modernen Biowissenschaften sind jedoch unter anderem dadurch ausgezeichnet, dass bereits das, was für die Wissenserzeugung getan wird, nicht moralisch irrelevant ist. Man denke nur an Fragen bei der gentechnischen Veränderung von Pflanzen, an jene Fragen, die mit der Biodiversität zusammenhängen, oder das Problem der Humanexperimente in der biomedizinischen Forschung, um sich klar zu machen, dass die Moralität des Forschers bereits bei der Wissenserzeugung von Bedeutung ist.“54 Und Gethmann kommt zum Schluss : „Im Feld der wissenschaftlichen Forschung kann letztlich nur der Wissenschafter, auch der die politischen Institutionen beratende Wissenschafter, für die Kontrolle der Wissenschaft sorgen, und gerade deswegen ist die Moralität des Wissenschafters von so hoher Bedeutung. Das heißt aber auch, dass die Skepsis der Öffentlichkeit gegenüber einer Reihe von wissenschaftlichen Entwicklungen nicht einfach durch Informationsverbesserung zu beseitigen ist.“55 Deswegen ist für Gethmann dann auch die Herausbildung eines wissenschaftlichen Standesethos ein wichtiges Element. Ethikgremien und Ethikinitiativen können ein solches Standesethos entwickeln helfen, stärken und in Bezug zum konkreten Alltag setzen. Hier liegt ihre Aufgabe : Fragen zu stellen, die sonst ungestellt bleiben, um zur Entscheidung zu drängen, die sonst abgegeben zu werden droht.
54 Gethmann : Die Krise des Wissenschaftsethos. 96 55 Gethmann : Die Krise des Wissenschaftsethos. 96f.
Sonja Rinofner-Kreidl
Handlungstheoretische und ethische Aspekte der Verantwortung
Verantwortung ist ein vielschichtiges Problem. Wir können über Verantwortung – z. B. je nach Zuständigkeitsbereich – sprechen, etwa über politische, rechtliche, soziale oder historische Verantwortung. Wir können das Thema der Verantwortung auch unter dem Gesichtspunkt aufgreifen, welche Fähigkeiten wir jenen zusprechen, die imstande sind, Verantwortung zu übernehmen. In diesem Zusammenhang können wir u. a. fragen : Was hat Verantwortung mit kognitiver Reife und Wissen zu tun ? Was hat Verantwortung mit empathischen Fähigkeiten sowie mit Vertrauen und Loyalität zu tun ? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Verantwortung und Verpflichtung ?1 In Anbetracht des vorgegebenen Rahmens werde ich mich auf einige wenige Aspekte des Themas beschränken. Die weitreichendste Restriktion ist, dass ich allein über individuelle Verantwortung sprechen werde. Ich lasse die Problematik der kollektiven Verantwortung unberücksichtigt, wie sie sich etwa mit Bezug auf zerstörende Eingriffe in das ökologische System stellt, unter denen zukünftige Generationen leiden werden. Zwar ist unbestritten, dass globale Probleme (z. B. die Unterernährung und Armut großer Teile der Weltbevölkerung) nicht auf der Ebene individuellen Handelns gelöst werden können, dennoch ist die Grundform der Verantwortung individuelle Verantwortung. Speziell moralische Verantwortung ist individuell adressiert. Sie ist persönliche Verantwortung und als solche weder an andere Einzelpersonen noch an Gruppen oder anonyme Instanzen delegierbar – ungeachtet dessen, dass menschliches Handeln in hohem Maße institutionalisiert und in kooperative Zusammenhänge eingebunden ist, was unvermeidlich Probleme der kollektiven Verantwortung nach sich zieht. Die Stränge, die ich aus dem komplexen Themenknäuel Verantwortung heraus ziehen und sicherlich nicht annähernd vollständig erörtern werde, sind folgende :
1 Verantwortung wurde u. a. als „das menschliche Vermögen, Pflichten sich selbst und anderen gegenüber wahrzunehmen und zu erfüllen“ definiert. (Wilhelm Vossenkuhl : „Moralische und nicht-moralische Bedingungen verantwortlichen Handelns. Eine ethische und handlungstheoretische Analyse“, in : Baumgartner, Hans Michael/Eser, Albin (Hg.) : Schuld und Verantwortung. Philosophische und juristische Beiträge zur Zurechenbarkeit menschlichen Handelns. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1983, 109–140, hier : 113)
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1. Urheberschaft, Freiheit, Zurechnungsfähigkeit 2. Verantwortung und soziale Kohäsion 3. Der Begriff der Handlung : Handlungsmodi – Modi der Zuschreibung von Ver antwortung. Eine Funktion ethischer Theorien ist, unsere moralischen Alltagsüberzeugungen und Alltagsintuitionen daraufhin zu prüfen, ob sie haltbar sind. Es entspricht unserer Common Sense-Auffassung, dass das, wofür wir verantwortlich sind, unsere Handlungen (speziell : deren Ergebnisse) sind, denn mit der Art und Weise, wie wir handeln, greifen wir in die Welt ein, schaffen wir Fakten, die nicht nur uns selbst, sondern auch andere betreffen. Wer über Verantwortung nachdenkt, muss deshalb Klarheit darüber gewinnen, was eine Handlung ist. Eine Aufklärung des Problems moralischer Verantwortung ist mithin nicht nur auf ethische Theorie, sondern auch auf Handlungstheorie verwiesen. Unter „Handlungstheorie“ verstehen wir eine systematische Analyse der Voraussetzungen, Bestandteile und Formen von Handlungen.
1. Urheberschaft, Freiheit, Zurechnungsfähigkeit
Der Ausdruck „verantworten“ – so ist in der Begriffsgeschichte nachzulesen – stammt ursprünglich aus juridischen Kontexten und meint : auf die Nachfrage eines Richters oder Gerichts (oder in religiösem Kontext im übertragenen Sinn : vor dem „Richterstuhl“ Gottes) Rede und Antwort stehen. Auch außerhalb eines juri dischen und religiösen Kontextes ist dies bis heute das gängige Verständnis : Wofür ich verantwortlich bin, dafür bin ich zuständig und muss deshalb dafür einstehen. Für das, was in der Reichweite meiner Verantwortung liegt, wird mir von anderen Rechenschaft abverlangt.2 Diese landläufigen Konnotationen des Ausdrucks „Verantwortung“ lassen sich, philosophiehistorisch, bis auf Aristoteles (384–323 v. Chr.) zurückführen, der im 4. Jahrhundert vor Christus lapidar, aber grundlegend 2 Dass verlangte Rechenschaft häufig verweigert oder (z. B. infolge von Selbsttäuschung und Täuschung) inadäquat erfüllt wird und Rechenschaft ebenso häufig gar nicht eingefordert wird, weil die Unwahrhaftigkeit bzw. die umfassende moralische Depraviertheit des Handelnden antizipiert wird, ist eine traurige Realität. Aus einem solchen Sittenspiegel bestimmter Gruppen oder Gesellschaften einen skeptischen Schluss auf die unmögliche Erfüllung oder die fehlende Berechtigung des normativen Anspruches auf verantwortliches Handeln ziehen zu wollen, wäre dennoch falsch : Wie schlecht auch immer eine reale Praxis sein mag, kann deren Beschreibung doch weder belegen, dass eine bessere Praxis unmöglich ist, noch, dass sie nicht erstrebenswert ist.
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feststellt : „Es scheint also […], dass der Mensch Ursprung (arche) von Handlungen ist.“3 In der Folge erläutert er, wie dieses Ursprungsein näher zu verstehen ist. „[…] dass der Mensch Ursprung (arche) und Erzeuger (genetes) seiner Hand lungen ist, so wie er der Erzeuger seiner Kinder ist. Wenn er aber offensichtlich ein solcher Ursprung ist und wir Handlungen nicht auf andere Ursprünge zurück führen können als die in uns, dann liegt das, dessen Ursprung in uns ist, auch selbst bei uns und geht aus unserem eigenen Wollen hervor (hekousios).“4 Bis heute gehen wir davon aus, dass einer für das, was er tut, verantwortlich ist, wenn er die betreffende Handlung selbst hervorgebracht hat ; wenn es an ihm lag, dass so und so gehandelt wurde. Es muss also einen nicht-zufälligen, in der Sache selbst gründenden, inneren („intrinsischen“) Zusammenhang zwischen Handlung und Handelndem geben. Andernfalls wird die fragliche Handlung der betreffenden Person nicht als ihre Handlung zugeschrieben. Das ist die erste Intuition, die wir mit Bezug auf Verantwortung haben : Nur für meine Handlungen, d. i. für Handlungen, die ich selbst hervorgebracht oder verschuldet habe, die ich von mir aus in Gang gesetzt und vollzogen habe, kann ich verantwortlich gemacht werden.5 Welcher Art ist aber der hierzu nötige innere Zusammenhang zwischen Handlung und Handelndem ? Dieser Frage werden wir im Folgenden nachgehen, indem wir exemplarisch verschiedene Weisen zu handeln unterscheiden. Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, ist im Hinblick auf die Zuschreibung von Handlungen festzuhalten : Zuschreibung und Bewertung sind verschiedene Akte bzw. Ebenen, die sorgfältig zu unterscheiden sind. Jede Handlungsbewer tung, d. i. jedes moralische Urteil über eine Handlung, setzt eine Zuschreibung voraus. Umgekehrt enthalten Zuschreibungen per se keine moralische Bewertung. Darin liegt auch, dass die Feststellung von Verantwortung zunächst nicht negativ konnotiert ist, wie dies etwa der Fall ist, wenn jemand fahrlässig einen Verkehrs unfall verursacht und diesbezüglich, wie wir sagen, zur Verantwortung gezogen wird. Soweit wir Zuschreibung und moralische Bewertung unterscheiden, ist Ver antwortung nicht vorweg im Sinne einer Schuldzuweisung und Aufforderung zur Wiedergutmachung negativ besetzt. Zunächst liegt im Begriff der Verantwortung nur das Faktum der Zuschreibung, das heißt, die Annahme, dass ein nicht-beliebi3 Aristoteles : Nikomachische Ethik. III. Buch, 1112b, 32 (im Folgenden zit. NE) 4 NE, 1113b, 18–22 (III. Buch) 5 Bei genauerem Zusehen und unter bestimmten Handlungsumständen ist dieses Grundprinzip zu relativieren. So ist etwa bekannt, dass sich Personen, die sich stark mit bestimmten sozialen Gruppen – als Leistungseinheiten oder als primär affektive Verbände – identifizieren, oft auch anlässlich von Fehlhandlungen anderer Gruppenmitglieder schuldig, d. i. verantwortlich fühlen. Das gilt z. B. für Eltern, die sich für das verantwortlich fühlen, was ihre (unmündigen) Kinder tun.
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ger Zusammenhang zwischen einer Person und spezifischen Ereignissen, die wir „Handlungen“ nennen, besteht.6 Dieser Zusammenhang wird im Gedanken der Urheberschaft ausgedrückt. Dass der allgemeine Sprachgebrauch dazu tendiert, den Ausdruck „Verantwor tung“ in einer negativen Weise zu gebrauchen, ist pragmatisch begründet : Wir sprechen von „Verantwortung“ vor allem dann, wenn es darum geht, Handlungen zu rechtfertigen, von denen wir annehmen, dass deren Folgen die Rechte und An sprüche anderer gefährden, beschneiden oder (stillschweigend) in Abrede stellen. Das trifft nun in der Tat den Kern des Verantwortungsproblems. Sich (für etwas) verantworten, meint, Rechenschaft darüber abgeben, d. i. Gründe nennen, warum man so und nicht anders gehandelt hat, und im Lichte dieser Gründe die Handlung – speziell : deren Folgen – bewerten. Verantwortung wird im alltäglichen Handeln wie auch in philosophischen Analysen an einen besonderen Status der Handelnden gebunden. Dies bekundet sich darin, dass wir nicht automatisch jedem Mitmenschen Verantwortungsfähigkeit zusprechen. Wir tun dies z. B. nicht bei Kleinkindern, bei Alzheimer-Patienten in einem fortgeschrittenen Erkrankungsstadium und bei Komatösen. Was ist der Grund dieses besonderen Status, den wir verantwortungsfähigen Menschen zuer kennen ? Was ist der Grund unserer moralischen Verantwortung ? Was berechtigt uns, einander für moralisch verantwortlich zu halten ? Die Verantwortungsfähigkeit des Menschen – sowohl in moralischem als auch rechtlichem Sinn – gründet in seiner Freiheit, nämlich darin, dass er in einer gegebenen Situation auch anders handeln hätte können, als er es getan hat. Wäre unser Tun jederzeit alternativlos, stünde also schon vor aller Überlegung fest, wie der zukünftige Verlauf der Ereignisse beschaffen sein wird, dann erübrigte sich die Rede von Freiheit und Ver antwortung. Damit verlören wir aber auch das Recht, von „Handlungen“ – im Unterschied zu Naturereignissen wie Schneefällen, Tornados und Fäulnisprozessen – überhaupt zu sprechen, denn in diesem Fall müssten wir unser eigenes Tun in dem Sinn als natürliches Ereignis verstehen, dass es sich um ein naturgesetzlich geregeltes Geschehen handelt, das unabhängig von unserer Einsicht oder Nicht-Ein sicht, unabhängig von unserem Wollen und Entscheiden ablaufe. Das ist die Auffassung des Determinismus. Diesem zufolge gilt, dass alle Ereignisse aus voraus liegenden Umständen und Gesetzen erklärbar sind. Dass die Ereignisse unter Naturgesetzen 6 Manche Autoren weisen die Redeweise, wonach wir für Handlungen verantwortlich seien, überhaupt zurück, denn verantwortlich sind wir, so deren Einwand, allein für die Folgen des Handelns. Vgl. Pitcher, George : „Handlung und Verantwortung bei Hart“, in : Meggle, Georg (Hg.) : Analytische Handlungstheorie. Band I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, 225–238
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stehen, bedeutet, dass zu jedem beliebigen Zeitpunkt gilt, dass auf einen Zustand eines deterministischen Systems ein und nur ein anderer Systemzustand folgen kann. Deshalb sind alle Ereignisse faktisch oder im Prinzip voraussagbar. Der Determinismus weist also das Prinzip der alternativen Möglichkeit („Ich hätte auch anders entscheiden/handeln können.“) zurück, das wir anerkennen müssen, wenn es eine Freiheit des Willens geben soll.7 Im vorliegenden Zusammenhang können wir auf die Unterscheidung von Willens- und Handlungsfreiheit, die im Zentrum einer philosophischen Auseinander setzung mit dem Thema Verantwortung stehen müsste, nicht näher eingehen. Lediglich auf einen Punkt möchte ich diesbezüglich hinweisen : Wenn wir über das Faktum und die Reichweite menschlicher Verantwortung sprechen, beanspruchen wir nicht, die metaphysische Wirklichkeit von Freiheit bewiesen zu haben. Wir gehen aber davon aus, dass Verantwortung nur von solchen Lebewesen übernommen und nur solchen Lebewesen zugeschrieben werden kann, die frei sind (ob wir dies der Theorie nach beweisen können oder nicht). Das ist eine der großen und unverlierbaren Entdeckungen Immanuel Kants : Dass wir selbst angesichts der Einsicht, dass die Freiheit des Menschen theoretisch nicht zu beweisen ist, daran festhalten können und daran festhalten müssen, dass die Realität von Handlungen – und damit auch die Realität unserer moralischen und rechtlichen Verantwortung – an der Freiheitsvoraussetzung hängt. Die Zuschreibung von Handlungen enthält häufig die Zuschreibung eines spe zifischen Wissens. Es entspricht unserer alltäglichen moralischen Intuition, davon auszugehen, dass jene, die über mehr relevantes Wissen und/oder mehr Einflussmöglichkeiten mit Bezug auf die relevanten Sachverhalte verfügen, in höherem Maße für eine Handlung verantwortlich sind. Anders gesagt : Neben der Anforderung der allgemeinen Zurechnungsfähigkeit sind die spezielle Sachkompetenz und Handlungsmacht, über die ein Handelnder verfügt, relevante Faktoren bei der Zuschreibung von Verantwortung.8 Analog zur Rechtsregel : „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“, gilt auch in Fragen der Moral, dass einer, der sich im Handeln schuldig gemacht hat (z. B., weil er absichtlich rufschädigende Lügen über einen Kollegen verbreitet hat), mit dem Hinweis darauf, ihm sei nicht klar gewesen, was er mit seinem Tun angerichtet habe, nicht aller Verantwortung entbunden ist. Ent7 Die Gegenposition, die annimmt, dass unverursachte Ereignisse möglich sind, und die auf diesem – freilich fragwürdigen – Weg Willensfreiheit zu retten versucht, wird als „Indeterminismus“ bezeichnet. 8 Vgl. z. B.: „Die Verantwortung für das eigene Tun steigt mit der Fähigkeit zu struktureller Rationali tät, das heißt, einzelne Handlungen in den größeren strukturellen Zusammenhang zu integrieren.“ (Nida-Rümelin, Julian : Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft. Stuttgart : Philipp Reclam jun. 2001, 150)
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scheidend ist, ob wir ihm seiner geistigen Verfassung nach zutrauen, dass er wissen hätte müssen, was es bedeutet, so und so zu handeln.
2. Verantwortung und soziale Kohäsion
Auch wenn es unter ethischen Gesichtspunkten durchaus sinnvoll ist, von einer „Selbstverantwortung“, d. i. einer Verantwortung vor mir selbst, zu sprechen, liegt die wesentliche Dimension des Verantwortungsproblems doch im sozialen Leben der Menschen. Zumutung und Zuschreibung von Verantwortung sind dabei nicht nur als Belastungen zu sehen, die dem Einzelnen auferlegt werden, sondern auch als Privilegien : Verantwortungszuschreibung und Verantwortungsübernahme bringen soziale Integration und Anerkennung zum Ausdruck. Indem ich einen anderen als verantwortungsfähig anspreche, mache ich deutlich, dass ich ihn als ein vollgültiges Mitglied der Gesellschaft betrachte. Dabei ist Verantwortlichkeit nicht auf ihre kognitiven und volitiven Aspekte zu reduzieren – also auf jene Momente, welche sich auf Verstand bzw. Vernunft des Handelnden einerseits und auf seine Willensäußerungen andererseits beziehen. Vernunft und Wille kommen natürlich ins Spiel, wenn verlangt wird, für eine Handlung Rechenschaft abzulegen. Der Umgang mit Verantwortungszumutungen bringt darüber hinaus aber auch soziale Emotionen zum Ausdruck. Übernahme von Verantwortung ist eng mit der Zuschreibung von sozialen Rollen und Aufgaben verknüpft. Übernehme ich Verantwortung für etwas, kann ich mich nicht als unbetroffen von den damit zusammenhängenden Anforderungen verstehen. Ich muss mich diesen stellen. Wir können annehmen, dass dieses Sichansprechen-lassen von einer Aufgabe nicht allein von unseren intellektuellen Fähigkeiten abhängt, sondern v. a. von emotionalen Befindlichkeiten und Stärken, z. B. von unseren empathischen Fähigkeiten, also von dem Vermögen, uns spontan in die Lage anderer „hineinzuversetzen“, mit ihnen zu fühlen. Die Lebensbedin gungen in unseren gegenwärtigen Industrie- und Arbeitsgesellschaften erfordern sicherlich Formen von Moralität, die stark kognitiv vermittelt sind. Das trifft z. B. auf Einsichten zu, welche eine Umverteilung von Gütern als Ausgleich ungleicher Startbedingungen und einer weit auseinanderklaffenden Schere von Reichtum und Armut fordern. Ohne die Bedeutung abstrakter Gerechtigkeitsprinzipien und ähnlicher Erwägungen im Kontext ethischer Theorie und politischer Philosophie schmälern zu wollen, ist jedoch daran zu erinnern, dass für die praktische Durchsetzung solcher Prinzipien und für unser Moralleben insgesamt das emotionale Fundament entscheidend ist, das wir in einem frühen Lebensalter in unserer nächs
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ten sozialen Umgebung erwerben. Moralische Motivation und moralische Integrität sind weniger Sachen des denkerischen Kalküls und theoretischer Erwägungen ; sie sind Sachen des Herzens, Sachen des Sich-Kümmerns und Sich-Sorgens. Wissen allein genügt nicht, um moralisch gut zu handeln. Viele notorisch schwierige Fragen der sozialen Gerechtigkeit, die uns heute be schäftigen, z. B. die Frage, wie Fürsorgepflichten gegenüber kranken, behinderten oder sozial benachteiligten Mitgliedern der Gesellschaft erfüllt werden sollen, involvieren sowohl kognitive als auch emotional-empathische Aspekte. Von hier aus lassen sich weiter ausgreifende prinzipielle Fragen stellen, die darum kreisen, wer Nutznießer einer Verantwortungszuschreibung und entsprechenden Hand lungsweise sein soll. Sollen nur jene in den Genuss einer verantwortungsvollen Handlungsweise gelangen, die selbst in der Lage sind, verantwortlich zu handeln ? Beruht Verantwortungsübernahme auf einer symmetrischen Beziehung zwischen gleichartigen und in kognitiver sowie moralischer Hinsicht gleichgestellten Lebe wesen ? Ist Verantwortung ein reziprokes Verhältnis, das wir im Sinne eines sozialen Tauschgeschäftes pflegen, oder schulden wir auch solchen Lebewesen eine verant wortliche Umgangsweise, die prinzipiell nicht (z. B. niedrige Tierarten), nicht mehr (z. B. Demente) oder noch nicht (z. B. Embryonen) zur Gruppe jener Lebewesen gehören, die selbst auch einen verantwortungsvollen Umgang mit anderen zeigen ?
3. Der Begriff der Handlung : Handlungsmodi – Modi der Zuschreibung von Verantwortung
Verantwortung ist ein relationaler Sachverhalt : Wer ist wofür, vor welcher Instanz, warum und wie verantwortlich ? Wir können die diffizilen Probleme, die sich mit Bezug auf Handlungsverantwortung stellen, zumindest schlagwortartig andeuten, indem wir uns exemplarisch auf drei Weisen des Handelns beziehen, welche spezifische Modifikationen der Idee der Urheberschaft darstellen : absichtliches Handeln, vorsätzliches Handeln und Unterlassung. Dabei gehen wir von der These aus, dass die Verantwortung, die jemand für sein Handeln trägt, variiert je nach • Ausmaß von Sachkompetenz und Wissen, das für den fraglichen Bereich relevant ist und dem Handelnden zugeschrieben wird ; • Intensität der Beteiligung („Engagement“) des Handelnden im Sinne der Urhe berschaft ; • Reichweite und Qualität der Folgen.
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Die diesbezügliche Regel, die wir hypothetisch aufstellen, lautet : Über je mehr Wissen und Kompetenz der Handelnde verfügt, je stärker er an der fraglichen Handlung beteiligt ist und je größer die Streuweite und Nachhaltigkeit bzw. je schwerwiegender die Folgen seines Tuns sind, desto stärker wiegt die Last der Verantwortung. „Wachsende Stärke der Beteiligung“ meint : Je mehr anzunehmen ist, dass die Handlung auf Überlegung beruhte und insofern der Kontrolle des Handelnden unterlag, desto eher kann einerseits davon ausgegangen werden, dass der Handelnde sie gegebenenfalls unterbinden hätte können und dass sie andererseits Ausdruck einer Gesinnung bzw. eines dauerhaften Habitus ist. Absichtliches Handeln ist ein bewusstes Handeln, dessen zu erwartende Folgen vorhergesehen, gewollt (intendiert) und im Wissen um die kausale Wirksamkeit der betreffenden Hand lung herbeigeführt werden.9 Absichtliches Handeln impliziert also die Selbstzu schreibung von Handlungsmacht : Der Akteur will nicht nur ein bestimmtes Ziel erreichen, d. i. einen bestimmten Handlungszweck realisieren und kennt die dazu nötigen Mittel, sondern hält sich selbst auch für fähig, die Mittel in adäquater und effizienter Weise einzusetzen, um das fragliche Ziel zu erreichen. Dass die Handlung nicht nur intendiert, sondern bewusst geplant wird und darüber hinaus erhebliche Anstrengungen zur Realisierung des Intendierten unter nommen werden, ist das Unterscheidungskriterium vorsätzlicher Handlungen. Ein Vorsatz ist ein willentliches, d. i. die zu erwartenden Handlungsfolgen direkt in tendierendes, (absichtliches) und planvolles Handeln, das im Wissen um die relevanten Handlungsumstände und unter Aufbietung aller verfügbaren physischen und mentalen Kräfte (sc. unter tatsächlicher Willensanstrengung) intentionsgemäß durchgeführt wird.10 Aus dieser Bestimmung und der vorhin gegebenen Definition absichtlicher Handlungen folgt, dass alle vorsätzlichen Handlungen absichtlich sind, nicht aber umgekehrt. Eine absichtliche, aber nicht vorsätzliche Handlung liegt etwa vor, wenn einer, der starken Hunger verspürt, zufällig beim Vorbeigehen an einem Bäckerstand sieht, wie frische Semmeln ausgelegt werden und sich, ohne lange zu überlegen, eine Semmel nimmt und davonläuft.
9 Dass alle vorhergesehenen Folgen gewollt sind, trifft nicht unter allen Umständen zu, nämlich nicht im Fall so genannter gemischter Handlungen, die sowohl moralisch gute als auch moralisch schlechte Folgen zeitigen. Von dieser Komplikation, die in der Ethik unter dem Titel „Doppelwirkungsprinzip“ verhandelt wird, sehen wir hier ab. Ebenso ist zu beachten, dass die von einem Handelnden tatsächlich vorhergesehenen Folgen nicht mit den unter den gegebenen Umständen vernünftigerweise bzw. durchschnittlich erwartbar vorhersehbaren Folgen übereinstimmen müssen. 10 Vgl. NE, 1113a, 11–12 (III. Buch) : Der Vorsatz ist ein mit Überlegung verbundenes Streben nach den Dingen, die in unserer Macht stehen.
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Wenn wir uns selbst und anderen die Verantwortung für eine Handlung zuschrei ben, setzen wir normalerweise voraus, dass die Handlung absichtlich erfolgt ist, dass also eine entsprechende Intention vorlag.11 Im strengen Sinn liegen nur dann Handlungen vor, wenn Absichtlichkeit gegeben ist. Unbewusste (sc. unbewusst motivierte) und unwillkürliche Verhaltensweisen u. dgl. sind nicht im eigentlichen Sinn als Handlungen zu verstehen.12 Für derartige Verhaltensweisen entschuldigen wir uns zwar gegebenenfalls aus Gründen der Höflichkeit oder Konvention – z. B., wenn wir in der Straßenbahn dem Nebenstehenden im Gedränge auf die Füße treten –, wir wären aber nicht bereit, uns dafür in einem anspruchsvolleren mora lischen Sinn zur Verantwortung ziehen zu lassen. Vergleichen wir diese Situation mit dem Fall, dass ich Sachschaden oder Verletzung von Personen allein aufgrund von Langeweile oder Sadismus verursache, indem ich mich z. B. auf einer Autobahnbrücke postiere und Ziegelsteine auf die unten vorbeifahrenden Fahrzeuge fallen lasse – im vollen Bewusstsein der zu erwartenden Wirkung. In diesem Fall werde ich rechtlich und moralisch uneingeschränkt zur Verantwortung gezogen (sofern ich zurechnungsfähig bin). Was lernen wir aus diesen Beispielen, wenn wir sie vor dem Hintergrund unseres Rechts- und Moralbewusstseins interpretieren ? Sowohl die Absicht, in der gehandelt wird, als auch die Tragweite der eintretenden Folgen sind maßgeblich für die Art und Weise, in der einem Handelnden Folgen zugeschrieben werden und ein komplexer Handlungszusammenhang bewertet wird. Das gilt für die Zuschreibung moralischer wie auch rechtlicher Verantwortung.13 Im Zusammenhang der Zuschreibung von Verantwortung stellen sich u. a. fol gende schwierige Fragen : Sind wir ausschließlich für das verantwortlich, was wir im engeren Sinn tun bzw. dessen Vollzug wir veranlassen oder sind wir auch für 11 Wie die Zuschreibung von Absichten oder Intentionen im Einzelnen zu analysieren ist, muss uns im vorliegenden Zusammenhang nicht beschäftigen. Die hauptsächlichen Ansatzpunkte und strittigen Fragen sind : Sind Absichten mentale Zustände, die (nur) introspektiv zu erfassen sind ? Hat jener, der sich in diesem Zustand befindet, einen epistemisch privilegierten Zugang oder sind Intentionen allein über die Handlungen, in denen sie sich manifestieren, zuschreibbar und im Hinblick auf ihre Iden tifizierbarkeit und Erkennbarkeit gegenüber der Unterscheidung von Erste-Person-Perspektive und Dritter-Person-Perspektive indifferent ? 12 Im Fall unbewusster Verhaltensweisen sind es häufig erst andere, die mich darauf hinweisen, was ich getan habe – entweder durch zeitgleiche Beobachtung der betreffenden Verhaltensweise oder durch rückblickende Analyse. 13 Vgl. mit Bezug auf Letzteres den § 1294 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches : „[…] Die widerrechtliche Beschädigung wird entweder willkürlich oder unwillkürlich zugefügt. Die willkürliche Beschädigung aber gründet sich teils in einer bösen Absicht, wenn der Schaden mit Wissen und Willen ; teils in einem Versehen, wenn er aus schuldbarer Unwissenheit, oder aus Mangel der gehörigen Aufmerksamkeit, oder des zugehörigen Fleißes verursacht worden ist. Beides wird ein Verschulden genannt.“
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das verantwortlich, was wir wissentlich zulassen, was wir geschehen lassen, ohne selbst der „Anstoß“ zu sein ? Es besteht weithin Einigkeit darüber, dass wir für das verantwortlich sind, was wir intendieren. Was wir intendieren, muss nun aber nicht notwendigerweise dasselbe sein wie das, was wir selbst verursachen. Wir sind u. U. auch für das verantwortlich, was wir unterlassen zu tun.14 Nehmen wir an, ein Mann wird beim Betreten eines Badezimmers Zeuge eines Unfalls. Das Kind, das in der Badewanne sitzt – sein 6-jähriger Neffe –, rutscht nach einer ungeschickten Bewegung aus, schlägt mit dem Kopf gegen den Beckenrand, wird ohnmächtig, sinkt unter Wasser und ertrinkt. Der Mann steht neben der Badewanne und beo bachtet reglos das Geschehen. Es stünde in seiner Macht, einzugreifen und das Kind zu retten. Er tut es nicht. In Wahrheit hatte er sich gerade beim Betreten des Badezimmers überlegt, wie er es ohne Gefahr, entdeckt zu werden, anstellen könnte, das Kind aus dem Weg zu schaffen, um als einziger lebender Verwandter das beträchtliche Vermögen des verwaisten Kindes zu erben. Anhand derartiger Beispiele wurde ausgeführt, dass die Unterscheidung aktiver und passiver Formen des Handelns moralisch nicht zwingend relevant ist.15 Dass ich nicht tätig werde, muss keineswegs heißen, dass ich nicht für das, was passiert, Verantwortung trage, denn verantwortlich sind wir nicht nur für das, was wir im engeren Sinn getan haben, sondern auch für das, was wir gewollt haben, also für unsere guten oder bösen Absichten. Unter einem „Unterlassen“ verstehen wir das Nichtausführen einer Handlung, die in einer bestimmten Situation moralisch geboten und für das handelnde Subjekt physisch-real möglich gewesen wäre. Etwas zu unterlassen, ist mithin nicht identisch damit, etwas nicht zu tun. Ein bloßes Nicht-Tun wird nur unter der Bedingung, dass ein entsprechendes Tun moralisch geboten gewesen wäre, zu einer Unterlassung. Um im Einzelfall zu angemessenen Beurteilungen der Urheberschaft zu ge langen, müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, dass Verantwortungsübernahme nicht mit Souveränität und uneingeschränkter Selbstmächtigkeit des Handelnden einhergeht. Dass ich bereit bin, in spezifischen Bereichen Verantwortung zu übernehmen, bedeutet nicht, dass ich jederzeit und nach jedem Aspekt weiß, was ich tue ; worauf ich mich einlasse ; worauf ich es längerfristig abgesehen habe ; wer 14 Vgl. Birnbacher, Dieter : Tun und Unterlassen. Stuttgart 1995 ; ders.: Tun und Unterlassen, in : Wiesing, Urban (Hg.) : Ethik in der Medizin. Stuttgart 2000, 213–220 ; Hoßfeld, Felix H.: Tun und Unterlassen. Zur normativen Unterscheidung auf der Grundlage einer rechtebasierten Ethik. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2007 15 Vgl. Sass, Hans-Martin (Hg.) : Medizin und Ethik. Stuttgart 1989 (darin : Brody, Baruch A.: Der vegetabile Patient und die Ethik der Medizin. 296–310 ; Rachel, James : Aktive und passive Sterbehilfe. 254–264
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ich als moralische Persönlichkeit bin und was ich mir zumuten kann. Es bedeutet auch nicht, dass ich beanspruchte, die Handlungskontexte, in denen ich mich bewege, vollständig zu durchblicken und im Sinne praktischer Handlungsmacht zu beherrschen. Letzteres wird etwa anhand der Problematik nicht-intendierter Handlungsfolgen deutlich. Die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, setzt zwar die Freiheit des Wählen-Könnens zwischen Alternativen voraus. Allein, dass wir frei sind zu entscheiden, wie wir handeln wollen, ist jedoch nicht ausreichend, um Verantwortung zu übernehmen. Dazu bedarf es auch eines bestimmten Wissens, der Reflexion auf Handlungsprinzipien und Motive, der Berücksichtigung von Handlungsfolgen usw. Unsere Verantwortung lässt sich kaum auf isolierte und singuläre Entschei dungen begrenzen. Entscheidungen sind einerseits in komplexe Überlegungspro zesse und individuelle Handlungsgeschichten, d. i. aus der Sicht des Akteurs, in interne Strukturen eingebettet ; sie werden andererseits im Rahmen gegebener Handlungsumstände und Formen der sozialen Interaktion getroffen, unterliegen also externen Bedingungen ihrer Realisierung. Sowohl im Hinblick auf externe Bedingungen als auch auf interne Strukturen gilt, dass Entscheidungen in z. T. unüberschaubaren, intransparenten Lagen stattfinden. Die Entscheidungsträger sind in dem Sinn, dass sie die internen Strukturen und externen Bedingungen ihrer Entscheidungen vollständig erkennen und unter ihre Kontrolle bringen könnten, nicht absolut autonom. Wenn wir (graduelle) Verantwortungsfähigkeit an (graduelle) Zurechnungs- und Reflexionsfähigkeit binden, was wir zweifellos tun, meint die hier unterstellte Vernünftigkeit oder Rationalität nicht vollständige Transparenz, vollständiges Wissen und volle Kontrolle. Insofern können wir Verantwortung immer nur auf Risiko übernehmen. Das ist Bestandteil dessen, was wir die „Bürde“ oder „Last“ der Verantwortung nennen.
Claudia Reitinger
Moralische Verantwortung im wissenschaftlich-technischen Bereich – mehr als nur ein leerer Begriff ?* 1
In der wissenschaftsethischen Literatur nimmt der Verantwortungsbegriff seit Jonas’ „Prinzip Verantwortung“ (1979) eine zentrale Stellung ein. Um eine Wissenschafts ethik an dieses Prinzip anzuknüpfen, muss man sich einerseits darüber klar sein, was eigentlich mit Verantwortungsethik gemeint ist, andererseits muss man eine Antwort auf die Frage finden, wie die Forderung nach „verantwortungsbewusster“ Gestaltung von Wissenschaft und Technik umgesetzt werden kann. Um der Beantwortung dieser Fragen näherzukommen, wird in einem ersten Schritt eine Analyse des Verantwortungsbegriffs durchgeführt, werden also die notwendigen und hinreichenden Bedingungen sowie die verschiedenen relationalen Bezüge von Verantwortung bestimmt. In einem zweiten Schritt wird genauer auf das Subjekt der Verantwortung eingegangen. Dabei zeigt sich, dass nicht nur der einzelne Wissenschafter, sondern auch Kollektive, Organisationen und Institutionen Subjekte von (moralischer) Verantwortung sind. Da sich in den vergangenen Jahren – neben der Einrichtung von Ethikkommissionen – die Implementierung von Ethikkodizes etabliert hat, wird auf diese Möglichkeit der institutionellen Wahrnehmung von Verantwortung näher eingegangen, und aus deren Funktion werden die wichtigsten Anforderungen an Ethikkodizes bestimmt.
1. Einleitung
Eine Wissenschaftsethik auf dem „Prinzip Verantwortung“ gründen zu wollen, erscheint heute angesichts der teilweise negativen Auswirkungen auf Mensch und Umwelt, die sich durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung ergeben, als Selbstverständlichkeit. Wenn der technologische Fortschritt dem Menschen zum Guten gereichen soll, gilt es, „verantwortungsbewusste“ Forschung zu betreiben, um künftige ∗ Diplomarbeit im Fach Philosophie an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Salzburg, durchgeführt als Fellow der Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ der joan n eu m r e s earc h Forschungsgesellschaft mbH im Jahr 2008. Begutachter waren die Professoren Dr. Rolf Darge und Dr. Leopold Neuhold (KFU Graz). Für die Veröffentlichung bearbeitet.
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Schäden möglichst gering zu halten. Da darüber scheinbar Einigkeit herrscht, taucht der Verantwortungsbegriff oft und gerne in öffentlichen Debatten über Klimaerwärmung, Gentechnologie, Welthungerproblematik, Seuchenbekämpfung in Dritte-WeltLändern, politisches Fehlverhalten, Umweltkatastrophen, Nanotechnologie usw. auf, sodass sich angesichts dieser inflationären Verwendung die Frage auftut, ob der Begriff in all diesen Kontexten wirklich Inhalt besitzen kann oder in vielen Fällen als bloßer Platzhalter für Hilflosigkeit verwendet wird, um bei den ebenso hilflosen Adressaten ein verständnisvolles Nicken auszulösen. In diesem Sinn schreibt Lenk : „Das Reden von ‚der Verantwortung‘, von einem einheitlichen Verantwortungsbegriff, kann geradezu ideologisch missbraucht werden, um spezifische Verantwortlichkeiten in den Vordergrund zu rücken und etwa die moralische Allgemeinverantwortlichkeit zu verdrängen oder zu unterdrücken.“1
Gerade, weil „Verantwortung“ in vielen Fällen plakativ verwendet wird, ist einiges an philosophischer Begriffsarbeit nötig, um die Möglichkeiten und Grenzen einer Wissenschaftsethik, die beim „Prinzip Verantwortung“ ansetzt, aufzuzeigen. Ziel dieses Aufsatzes ist, zur Klärung der Fragen : „Was heißt (moralische) Verantwortung im wissenschaftlich-technischen Bereich ?“, bzw.: „Was heißt es, eine Wissenschafts- oder Technikethik auf dem ‚Prinzip Verantwortung“ zu gründen ?‘, beizutragen. Dazu werden in einem ersten Schritt die Bedingungen für die Zuschreibung von Verantwortung bestimmt, um gerechtfertigte von ungerechtfertigten Verantwortungszuschreibungen abgrenzen zu können und deutlich zu machen, dass die Rede von „Verantwortungsethik“ irreführend ist, da sich diese immer schon auf ethische Normen stützt, die sie selbst nicht begründen kann. In einem zweiten Schritt werden die wichtigsten Relationen des Verantwortungsbegriffs bestimmt und auf wissenschaftlich-technisches Handeln bezogen. Dabei wird gezeigt, dass es in diesem Bereich nicht ausreicht, die Verantwortungswahrnehmung auf Individuen zu beschränken, sondern dass Organisationen und Institutionen eine zentrale Rolle spielen. Eine Möglichkeit der institutionellen Wahrnehmung von Verantwortung, die sich im letzten Jahrzehnt etabliert hat, ist die Verfassung von Ethikkodizes für Wissenschafter oder Techniker, in denen moralische Berufsgrundsätze festgelegt werden. Die Untersuchung unterschiedlicher Ethikkodizes zeigte, dass diese inhaltlich stark divergieren können und es höchst unklar ist, welchen Kriterien dieses Instrument genügen soll. In einem letzten Punkt wird daher versucht, aus der Funktion von Ethikkodizes einige wichtige inhaltliche Forderungen zu bestimmen. 1 Lenk, Hans/Ropohl, Günter (Hrsg.): Technik und Ethik. 2. erw. Aufl., Stuttgart 1993, 116
Moralische Verantwortung im wissenschaftlich-technischen Bereich – mehr als nur ein leerer Begriff ?
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2. Notwendige und hinreichende Bedingungen für die normative Zuschreibung von Verantwortung
Betrachtet man den Alltagssprachgebrauch des Ausdrucks „Verantwortung“, wird deutlich, dass es sich dabei um einen Zuschreibungsbegriff handelt : Der Schiedsrichter ist für einen fairen Spielablauf verantwortlich. Eltern sind für ihre Kinder verantwortlich. Der Sicherheitsbeauftragte ist für einen Störfall verantwortlich. Ein Dammbruch ist für die Überflutung verantwortlich. Diese Beispielsätze zeigen, dass die Zuschreibung von Verantwortung auf zwei verschiedene Weisen erfolgen kann, nämlich im deskriptiven und normativen Sinn.2 Die deskriptive Verwendung von Verantwortung geht über die Feststellung eines Kausalzusammenhangs nicht hinaus und besitzt keine moralische Bedeutung. Je nachdem, ob Verantwortung im deskriptiven oder normativen Sinn verwendet wird, ändern sich die Bedingungen des Verantwortungsbegriffs. Für den normativen Gebrauch von Verantwortung können vier notwendige Bedingungen angegeben werden, die zusammen hinreichend sind : I Kausalität
Für die Zuschreibung von Verantwortung bedarf es der Annahme der Kausalität als Interpretation von Naturereignissen. Im Falle des deskriptiven Gebrauchs kann „x ist verantwortlich für p“ mit „x verursacht(e) p“ oder „x ist zuständig für p“ gleichgesetzt werden. Für die deskriptive Verwendung ist die Annahme der Naturkausalität notwendig und hinreichend. Für die normative Zuschreibung von Verantwortung ergeben sich weitere Bedingungen, da diese mehr bedeutet als die bloße Feststellung eines Kausalzusammenhangs. Fällt beispielsweise ein Hund einen Menschen an, ist es nicht möglich, dieses Tier für die daraus entstandenen Verletzungen im normativen Sinn verantwortlich zu machen. Ebenso tragen Naturereignisse, wie Erdbeben, Wirbelstürme und dergleichen, keine normative Verantwortung für etwaige Schäden. Der normative Verantwortungsbegriff kann sich nur auf Personen beziehen. Dies setzt eine Differenz von Mensch und Natur voraus. 2 Für eine ausführliche Darstellung dieser Unterscheidung und den Bedingungen für die Zuschreibung von Verantwortung siehe Bayertz, Kurt: Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung, in: Bayertz, Kurt (Hrsg.): Verantwortung. Prinzip oder Problem? Darmstadt 1995, 9ff., Neumaier, Otto: Etwas anderes tun können, in: Bauer, Emmanuel (Hrsg.): Freiheit in philosophischer, neurowissenschaftlicher und psychotherapeutischer Perspektive. München 2007, 193ff., und Neumaier, Otto: Moralische Verantwortung. Beiträge zur Analyse eines ethischen Begriffs. Paderborn 2008, 94ff.
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II Freiwilligkeit der Handlung
Neben der Kausalität ist die zweite notwendige Bedingung für die Zuschreibung von normativer Verantwortung die Freiwilligkeit der Handlung. Nur freiwillige Handlungen unterliegen der moralischen Bewertung. Dabei ist vorausgesetzt, dass die Kategorie „freiwillige Handlung“ nicht leer ist. Die klassische Unterscheidung von unfreiwilligen und freiwilligen Handlungen, die auch im Zusammenhang mit dem Verantwortungsbegriff von Bedeutung ist, trifft Aristoteles im dritten Buch der „Nikomachischen Ethik“. Als unfreiwillig gilt nach Aristoteles dabei eine Handlung, die unter Zwang und aufgrund von Unwissenheit geschieht. Dementsprechend darf als freiwillig das gelten, dessen bewegendes Prinzip in dem Handelnden selbst liegt, wobei er ein volles Wissen von den Einzelumständen der Handlung hat.3 Beide Voraussetzungen der Freiwilligkeit, die Wissentlichkeit und die Willentlichkeit der Handlung, bedingen die Möglichkeit der Verantwortungszuschreibung ebenso, wie sie diese begrenzen.4 Ausgenommen von normativer Verantwortung ist eine Person erstens, wenn sie aufgrund eines äußeren oder inneren Zwangs handelt, zweitens, wenn Situationen vorliegen, in denen keine Handlungsalternativen zur Verfügung stehen (mindestens die Alternativen ‚Handeln’ oder ‚Unterlassen der Handlung’) bzw. wenn alternative Handlungsmöglichkeiten zur gleichen Konsequenz führen, und drittens, wenn sie um die Folgen oder Nebenfolgen der Handlung nicht Bescheid wissen kann. Die letzte Einschränkung verdient im wissenschaftlich-technischen Bereich besondere Beachtung, da die Folgen und Nebenfolgen von Forschungshandeln nur selten mit völliger Sicherheit vorausgesagt werden können. In der reinen Grundlagenforschung bleibt die Vorhersage möglicher Anwendungen selbst spekulativ. Dass Wissenschafter, die in der reinen Grundlagenforschung tätig sind, keine normative Verantwortung für die Folgen und Nebenfolgen zeitlich weit entfernter Anwendungen tragen, ist plausibel. Falls es sich – unwahrscheinlicherweise – zeigen sollte, dass genetisch veränderte Nahrungsmittel negative Folgen für den menschlichen Organismus haben, ist es nicht gerechtfertigt, Watson und Crick dafür Verantwortung im normativen Sinn zuzuschreiben. Ohne die Bezugnahme auf weitere moralische Prinzipien, wie beispielsweise der Forderung nach Risikoabschätzung oder dem Vorsorgeprinzip, würden allerdings auch viele Gebiete der anwendungsorientierten For3 Aristoteles: Nikomachische Ethik, Stuttgart 2003, Buch III. 1111a7–27 4 Vgl. Bayertz, Kurt: Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung, in: Bayertz, Kurt (Hrsg.): Verantwortung. Prinzip oder Problem? Darmstadt 1995, 7
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schung aus der Verantwortungszuschreibung herausfallen, da unerwünschte Folgen und Nebenfolgen neuer Technologien oft nicht absehbar sind. III Betroffensein von Interessen5
Von normativer Verantwortung wird nur dann gesprochen, wenn die Folgen einer Handlung nicht spurlos an der Welt vorübergehen, sondern jemand davon betroffen ist. Von einem Sachverhalt betroffen zu sein, bedeutet nach Neumaier, „dass dadurch ein Interesse berührt wird, das einem (menschlichen oder nicht-menschlichen) Wesen zukommt.“6 „Interesse“ bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht auf bloß subjektive Gegebenheiten, sondern auf nachvollziehbare, objektive Kriterien. Je nachdem, welcher ethische Ansatz vertreten wird, ändert sich der Kreis der betroffenen Wesen, die es zu berücksichtigen gilt. Zählt bei einer anthropozentrisch ausgerichteten Ethik nur das Wesen „Mensch“, kommen bei einer pathozentrischen Ethik alle leidensfähigen Wesen in Betracht, eine biozentrische Ethik berücksichtigt hingegen auch Pflanzen oder die Natur als solche. Die Bezugnahme auf unterschiedliche Theorien besitzt in vielen Fällen allerdings nur theoretische Bedeutung. Für die Praxis macht es beispielsweise keinen Unterschied, ob Umweltschutz biozentrisch oder anthropozentrisch begründet wird. IV Die Bezugnahme auf ein Werte- bzw. Normensystem
Die letzte notwendige Bedingung für die Zuschreibung normativer Verantwortung ist die Bezugnahme auf ein System von Werten und Normen, aufgrund dessen die Handlung überhaupt bewertet werden kann. Normen- und Wertesysteme sind bei der Rede von normativer Verantwortung also immer schon vorausgesetzt. Durch die Bezugnahme auf unterschiedliche Normensysteme (Rechtssystem, Religion, Berufskodizes, Moralsystem usw.) ergeben sich unterschiedliche Verantwortungstypen (rechtliche, religiöse, berufliche, moralische Verantwortung usw.). Die Voraussetzung des Werte- und Normensystems macht zweierlei deutlich : Erstens ist es wichtig, bei der Rede von Verantwortung freizulegen, auf welche Normen dabei Bezug genommen wird, da sich aufgrund differierender Bewertungsmaßstäbe unterschiedliche Verantwortungszuschreibungen ergeben. Zweitens ist der Verantwortungsbegriff weder ein eigenes Moralprinzip, noch liefert er Bewer5 Vgl. Neumaier, Otto: Moralische Verantwortung. Beiträge zur Analyse eines ethischen Begriffs. Paderborn 2008, 94ff. 6 Ebd.
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tungskriterien. Nach Bayertz ergibt sich daraus, dass „jede Theorie der Verantwortung parasitär gegenüber einer Theorie der Moral ist : Sie lebt von moralischen Wertungen, die sie selbst nicht begründen kann.“7 Eine „Verantwortungsethik“ benötigt somit weitere Prinzipien bzw. andere ethische Theorien als Überbau.
3. Moralische Verantwortung
Von moralischer Verantwortung kann nur gesprochen werden, wenn die Bedingungen i-iv erfüllt sind und das Normen- und Wertesystem, auf das Bezug genommen wird, ein Moralsystem ist. Aufgrund der Pluralität moralischer Prinzipien ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten der Verantwortungszuschreibung. Selbst, wenn die Wahl zugunsten einer konsequenzialistischen Ethik ausfällt, können aufgrund des differierenden Umfangs der Interessengruppen – Mensch, leidensfähige Lebewesen, alle Lebewesen usw. – die Verantwortungszuschreibungen voneinander abweichen. Prinzipien, die als Grundlagen für die Zuschreibung von moralischer Verantwortung dienen können, sind nach Neumaier u. a.:8 – – – –
Das Prinzip der gleichen Behandlung gleicher Fälle (abgeändert nach Singer) Das Prinzip der Priorität primärer gegenüber sekundärer Interessen Das Prinzip der Priorität des Gemeinwohls vor dem Individualwohl Das Prinzip des Abwägens der Konsequenzen aller verfügbaren Handlungsalternativen (in Anlehnung an Frankena) – Ein Vorsichtsprinzip (in Anlehnung an Dagfinn Follesdal) : „Eine Handlung h eines Subjekts x ist nur dann als moralisch richtig anzusehen, wenn gute Gründe für die Annahme sprechen, die Wahrscheinlichkeit, dass h gravierende negative Konsequenzen hat, sei äußerst gering.“9 Weiters bedarf es Prinzipien, die es möglich machen, den Vor- bzw. Nachrang von Handlungen zu bestimmen. Jonas schlägt in Bezug auf wissenschaftlich-technisches Handeln aufgrund der „Ungewissheit aller Forschungsprognosen [vor], […] der Unheilsprognose größeres Gewicht als der Heilsprognose zu geben.“10 Reihungs 7 Bayertz, Kurt: Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung, in: Bayertz, Kurt (Hg.): Verantwortung. Prinzip oder Problem? Darmstadt 1995, 66 8 Neumaier, Otto: Moralische Verantwortung. Beiträge zur Analyse eines ethischen Begriffs. Paderborn 2008, 141ff. (Neumaier führt insgesamt acht Prinzipien an.) 9 Ebd., 155 10 Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt a. M. 1984, 76
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schwierigkeiten ergeben sich auch bei der Interessengleichrangigkeit zweier Wesen. Als Lösung in derartigen Konfliktsituationen kann beispielsweise das Prinzip der Nähe11 herangezogen werden, das bei Interessengleichheit vorschlägt, den Interessen desjenigen Wesens den Vorrang zu geben, das dem Handelnden nähersteht. Während insbesondere bei der Abwägung von Interessen der Bezug auf unterschiedliche Prinzipien vorstellbar ist, erweisen sich andere Prinzipien, wie dasjenige des Abwägens der Konsequenzen aller Handlungsalternativen, als grundlegend für die Zuschreibung von moralischer Verantwortung. Das Prinzip der gleichen Behandlung gleicher Fälle und dasjenige der Priorität primärer gegenüber sekundärer Interessen erweisen sich als grundlegend für moralisches Denken. Das Vorsichtsprinzip ist vor allem in Bezug auf wissenschaftlich-technisches Handeln von Bedeutung. Eine Handlung nach dem Vorsichtsprinzip auszurichten, ist nach Neumaier dann geboten, „wenn wahrscheinlich ist, dass eine Handlung sehr gravierende oder irreversible Folgen hat, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit solcher Folgen nur sehr gering sein mag […] [oder] wenn wir aufgrund mangelnder Erfahrung so gut wie nichts darüber wissen, welche Folgen eine Handlung haben könnte.“12 Im EU-Raum drückt sich diese risikoaversive Einstellung in der Implementierung des Vorsorgeprinzips aus. Die Zuschreibung von moralischer Verantwortung lässt also aufgrund der Wahlmöglichkeit zwischen mehreren Prinzipien einen gewissen Spielraum zu, ohne völlig beliebig zu werden.
4. Verantwortung als mehrstelliger Relationsbegriff
Der Verantwortungsbegriff besitzt, wie in der bisherigen Darstellung angedeutet, verschiedene relationale Bezüge und Elemente. Ropohl beschreibt den Verantwortungsbegriff als insgesamt sechsstelligen Relationsbegriff und schlüsselt diesen mittels folgender Fragen auf :13 – Wer ? Verantwortung wird Personen (als Menschen, Rollenträger, Experten, Mitglieder) bzw. Organisationen und Institutionen zugeschrieben. – Was ? Nur Handlungen (bzw. Unterlassungen) können verantwortet werden. 11 Neumaier, Otto: Moralische Verantwortung. Beiträge zur Analyse eines ethischen Begriffs. Paderborn 2008, 160 12 Ebd., 155 13 Ropohl, Günter: Neue Wege, die Technik zu verantworten, in: Lenk, Hans/Ropohl, Günter (Hg.): Technik und Ethik. 2. erw. Aufl., Stuttgart 1993, 155
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- Wofür ? Verantwortung trägt man sowohl für Schäden als auch für die Herstellung bzw. Erhaltung erwünschter Zustände. Als Rollenträger kann sich diese Dimension auch auf die Erfüllung der jeweiligen Rolle bzw. auf Pflichteinhaltung oder Aufgabenerfüllung beziehen. Ist das Subjekt der Verantwortung eine Organisation, fällt unter diesen Punkt beispielsweise die Auswahl von Forschungszielen. - Weswegen ? Verantwortung bezieht sich auf normative Kriterien, wie moralische Prinzipien, Rechtsnormen, universalmoralische Werte, Normen, religiöse Werte usw. - Wovor ? Als mögliche Rechtfertigungsinstanzen der Verantwortung kommen das eigene Gewissen, die Gesellschaft bzw. andere Personen, der Arbeitgeber, das Gericht, Gott oder Institutionen infrage. - Wann ? Verantwortungszuschreibung bzw. -übernahme kann prospektiv oder retrospektiv erfolgen. Im Folgenden wird näher auf die drei wichtigsten Bezüge – der Frage nach dem Subjekt, dem Gegenstand und der Rechtfertigungsinstanz – eingegangen. Das Subjekt der Verantwortung
Durch die Bestimmung der Voraussetzungen des Verantwortungsbegriffs ist deutlich geworden, dass es nicht „das System Wissenschaft“ sein kann, das Verantwortung trägt, sondern dass die Zuschreibung immer auf eine Person verweist. Wurde in einem klassischen Verständnis Verantwortung individualistisch interpretiert, wird seit einiger Zeit vermehrt die Frage diskutiert, ob moralische Verantwortung in Bezug auf wissenschaftlich-technisches Handeln von Kollektiven bzw. Organisationen, wie Arbeitsgruppen, Universitäten, Forschungsförderungseinrichtungen usw., wahrgenommen werden soll und einer institutionellen Verankerung bedarf.14 Dem liegen erstens eine realistische Einschätzung der Forschungssituation im naturwissenschaftlichen-technischen Bereich, die dem einzelnen Wissenschafter nur einen eingeschränkten Handlungs- und Entscheidungsspielraum ermöglicht, zweitens die Unüberschaubarkeit der Forschungssituation aus dem Blickwinkel des Einzelnen aufgrund der ständig zunehmenden Spezialisierung und Untergliederung von Forschungsgebieten, drittens die vermehrte Schwierigkeit, Folgen in Bezug auf wissen14 Vgl. Handschuh, Gerhard: Die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaftler. Zur Bedeutung der institutionell vermittelten Orientierung der Wissenschaft für die Wahrnehmung wissenschaftlicher Verantwortung. Frankfurt a. M. 1982, 110ff., und Hubig, Christoph: Technik und Wissenschafts ethik: ein Leitfaden. 2. Aufl., Berlin 1995, 100ff.
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schaftlich-technisches Handeln abzuschätzen, zugrunde. Diese Handlungssituation ist für den einzelnen Wissenschafter in seiner Wahrnehmung von moralischer Verantwortung entscheidend. Moralische Verantwortung soll und muss aufgrund der arbeitsteilig-kooperativen Handlungssituation auch auf einer höheren Ebene wahrgenommen werden, ohne dass sich dabei die individuelle Komponente gänzlich auflöst. Eine Möglichkeit, individuelle Verantwortung in Kollektiven zu bewahren, ist Lenks Vorschlag der Mitverantwortung. Nach Lenk kommen als Subjekte moralischer Verantwortung primär Individuen infrage. Moralische Verantwortung ist „im ursprünglichen Sinne stets persönlich, sie kann auch nicht stellvertretend übernommen werden.“15 In Kollektiven löst sich moralische Verantwortung aufgrund einer großen Zahl von Mitgliedern weder auf, noch wird sie weniger. Jeder Einzelne ist für die Folgen der Kollektivhandlung mitverantwortlich. Aufgrund seines Handlungsspielraums und seiner Kompetenzen ergibt sich allerdings ein unterschiedlicher Grad an Mitverantwortung. Neben der Zuschreibung von Mitverantwortung des Einzelnen in Kollektiven sind auch Organisationen oder Institutionen als solche Träger moralischer Verantwortung, da deren Handlungen ebenso real wie die von Individuen sind. So ist es beispielsweise gerechtfertigt, einem Forschungsunternehmen moralische (eventuell auch strafrechtliche) Verantwortung zuzuschreiben, wenn durch mangelhafte Technologiefolgenabschätzung Schäden für Mensch und/oder Umwelt entstehen. Dennoch ist es nicht möglich, die persönliche Verantwortung mit der höherstufigen Verantwortung von Organisationen und Institutionen gleichzusetzen. Um diese Differenz deutlich zu machen, hat sich in der Literatur die Bezeichnung „sekundär moralische/moralanaloge Verantwortung“ eingebürgert.16 Die Andersartigkeit moralischer Verantwortung von Organisationen und Institutionen zeigt sich darin, dass sie durch ihre Zielsetzung aufgrund von Werten und Normen und der Bereitstellung der Mittel ein Handlungsumfeld für Individuen schaffen. Dabei unterliegen einerseits die gesteckten Ziele, Mittel, Werte und Normen einer moralischen Bewertung, andererseits ist es die Aufgabe von Organisationen, einen Rahmen zu schaffen, der dem Einzelnen ein verantwortungsvolles Handeln ermöglicht.
15 Lenk, Hans: Zwischen Wissenschaft und Ethik. Frankfurt a. M. 1992, 34 16 Vgl. Lenk, Hans (Hg.): Wissenschaft und Ethik. Stuttgart 1991, 117ff., Hubig, Christoph/Reidel, Johannes (Hg.): Ethische Ingenieursverantwortung. Handlungsspielräume und Perspektiven der Kodifizierung. Berlin 2003, 21ff., Maring, Matthias: Institutionelle und korporative Verantwortung in der Wissenschaft, in: Lenk, Hans (Hrsg.): Wissenschaft und Ethik. Stuttgart 1991, 135ff.
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Der Gegenstand der Verantwortung
Hinsichtlich des Gegenstands der Verantwortung steht im wissenschaftlich-technischen Bereich die Vermeidung negativer Folgen und Nebenfolgen, die sich aus der Forschungshandlung selbst oder aus der technologischen Anwendung von Erkenntnissen ergeben, im Vordergrund. In der experimentellen Forschung kann sich die moralische Verantwortung auf den Forschungsgegenstand selbst oder auf vorhersehbare Nebenwirkungen im Sinne einer direkten Handlungsverantwortung beziehen. So ist der Wissenschafter beispielsweise bei der Durchführung von Humanexperimenten für etwaige Schäden des Probanden bzw. dafür, mögliche Risiken abgeklärt zu haben, verantwortlich. Forschungsunternehmen oder Forschungsförderer sind u. a. dafür verantwortlich, Forschung mit Technologiefolgenabschätzung zu verbinden. Neben der moralischen Verantwortung trägt der Wissenschafter auch Rollenund Aufgabenverantwortung. Lenk bezeichnet diese – im Gegensatz zur externen Folgenverantwortung – als interne Verantwortung, die sich aufgrund des zunftinternen Ethos ergibt.17 Dazu zählen beispielsweise die faire Behandlung von Kollegen, Pflichten gegenüber dem Vorgesetzten oder dem Auftraggeber, die korrekte und vollständige Veröffentlichung von Daten oder die Pflicht einer sachgemäßen Information der Öffentlichkeit. Instanzen der Verantwortung
Als Rechtfertigungsinstanzen, die bestimmte Prinzipien, Normen, Werte usw. verkörpern, kommen für Wissenschafter selbst- oder fremdgegebene Instanzen infrage.18 Als persönliche Instanz moralischer Verantwortung gilt in der Ethik gewöhnlich das Gewissen. Die Aufgabe des Gewissens geht über jene einer bloßen Rechtfertigungsinstanz insofern hinaus, als das Gewissen die Voraussetzung für moralisches Handeln und somit für die Wahrnehmung moralischer Verantwortung darstellt.19 Ohne das Gewissen wäre es dem Menschen nicht möglich, den Sinn von moralischer Verantwortung zu verstehen, da die persönliche Betroffenheit fehlen würde. 17 Vgl. Lenk, Hans: Verantwortung und Gewissen des Forschers. Innsbruck 2006, 9 & 36 18 Hubig, Christoph/Reidel Johannes (Hg.): Ethische Ingenieursverantwortung. Handlungsspielräume und Perspektiven der Kodifizierung. Berlin 2003, 24f. 19 Handschuh, Gerhard: Die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaftler. Zur Bedeutung der institutionell vermittelten Orientierung der Wissenschaft für die Wahrnehmung wissenschaftlicher Verantwortung. Frankfurt a. M. 1982, 322
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Sieht man von einer rein psychoanalytischen Interpretation des Gewissens im Sinne des Über-Ichs als autoritärem Gewissen ab, kommt dem autonomen Gewissen die Aufgabe zu, zwischen verschiedenen Ansprüchen, wie rationalen, intuitiven, persönlichen und anderen Interessen, moralischen Verhaltensansprüchen, Tatsachenwissen, Umfeld usw., zu vermitteln, um zu einem handlungsleitenden Urteil zu gelangen, das – im Idealfall – den moralischen Ansprüchen gerecht wird. Um diesen Idealfall Wirklichkeit werden zu lassen, muss sich der Wissenschafter erstens seiner moralischen Verantwortung bewusst und zweitens dazu bereit sein, moralische Ansprüche über andere zu stellen. Fremdgegebene Instanzen der Verantwortung können sich für Wissenschafter einerseits aus der moralischen Verantwortung ergeben, andererseits durch die spezielle Rollen- und Aufgabenverantwortung. Moralisch hat sich der Wissenschafter nicht nur seinem eigenen Gewissen gegenüber zu verantworten, sondern auch gegenüber denen, die von seiner Handlung betroffen sind. Infrage kommen dafür direkt Betroffene, wie beispielsweise Versuchspersonen, zukünftige Generationen und – sofern akzeptiert – andere Lebewesen oder die Natur. Der Aufgaben- und Rollenverantwortung stehen als Rechtfertigungsinstanzen der jeweilige Auftraggeber, die wissenschaftliche Gemeinschaft oder Institutionen, wie Standesregeln, Verhaltensoder Ethikkodizes, gegenüber. Die differierenden Ansprüche verschiedener Rechtfertigungsinstanzen verweisen neuerlich auf das autonome Gewissen, das eben dazu dient, derartige Ansprüche gegeneinander abzuwägen und zu vereinen oder – wenn nötig – zu stufen. Natürlich wäre es in diesem Zusammenhang wünschenswert, dass Wissenschafter in Konfliktsituationen moralischen Ansprüchen den Vorrang geben. Nach Handschuh ist diese Forderung aus Sicht des Wissenschafters jedoch insofern problematisch, als der Einzelne innerhalb eines konkreten Projekts kaum die Freiheit hat, das Forschungsprogramm oder seine Aufgabenstellung nach moralischen Normen zu modifizieren, wenn diese nicht schon auf der Ebene von Organisationen und Institutionen berücksichtigt wurden. Er sieht darin eines der Hauptprobleme bei der Wahrnehmung moralischer Verantwortung im wissenschaftlich-technischen Bereich durch den Einzelnen. „Die konkrete Arbeit wird, da sie sich als individuell kaum beeinflussbar erweist, um eine weitere Identifikation mit ihr zu ermöglichen, der Verantwortungsreflexion gegenüber immunisiert […]“20 Dies kann zu einer Entlastung des persönlichen Gewissens und zum typischen „Ich bin ja gar nicht schuld“-Phänomen führen. Daran wird ersichtlich, dass das „Prinzip Verantwortung“ in der Wissenschaft – ebenso wie in anderen Bereichen – nur durch eine hi20 Ebd.
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erarchische Stufung und Differenzierung von Verantwortungsbereichen umgesetzt werden kann.
5. Das Verhältnis von individueller und institutioneller Verantwortung
Aus der bisherigen Analyse des Verantwortungsbegriffs haben sich in Bezug auf wissenschaftliches Handeln zwei Subjekte moralischer Verantwortung mit teils unterschiedlichen Interessen und Aufgaben herauskristallisiert – der einzelne Wissenschafter und Organisationen bzw. Institutionen, wobei letzteren sekundäre/moralanaloge Verantwortung zugeschrieben wird. Diese beiden Verantwortungsarten können nicht aufeinander reduziert werden, da sich diese kategorial voneinander unterscheiden,21 sollen aber in Beziehung zueinander gesetzt werden. In Bezug auf individuelles Handeln besitzen Organisationen und Institutionen unterschiedliche Funktionen, die der allgemeinen Struktur einer Handlung entsprechen. Um von individuellem Handeln sprechen zu können, bedarf es des Einsatzes von Mitteln, die dazu dienen, einen bestimmten Zweck zu realisieren. Bei der Wahl der Mittel und Zwecke orientiert sich das Individuum an Werten. Institutionen wie Ethikkodizes, Richtlinien, Ethikkommissionen, Religionen, Leitbildern von Unternehmen, Gesetzen, dem Wissenschaftsethos usw. kommt nach Hubig in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu, „die ‚Kandidaten’ individueller Wahl von Zwecken vor[zu]geben […]. Institutionen als ‚Träger von Wertideen’ (Maurice Hauriou) garantieren die so genannte Hintergrunderfüllung individuellen Handelns, indem sie über bloße Erfüllung konkreter Zwecke, die der Einzelne – auch ein Unternehmer – anzustreben gezwungen ist […], hinausreichen.“22
Institutionen dienen dem Einzelnen also als Leitbilder. Die Festsetzung von Werten spannt einen Handlungsspielraum auf, worin die Zwecksetzung von Individuen eingebettet ist. Organisationen setzen sich ebenso Zwecke wie Individuen. Aus der Sicht des Einzelnen kommt ihnen aber die Aufgabe zu, die Mittel für die Handlungsrealisierung vorzugeben. Hubig erläutert dieses Verhältnis durch folgenden Vergleich :
21 Hubig, Christoph: Verantwortung und Hochtechnologie, in: Bayertz, Kurt (Hg.): Verantwortung. Prinzip oder Problem? Darmstadt 1995, 108 22 Ebd.
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Institutionen verhalten sich zu Organisationen also wie ein Fahrplan (der uns Ziele im Blick auf ihre mögliche Erreichbarkeit anbietet) zur Organisation eines Schienenverkehrssystems (das uns die realen Handlungsmittel bereitstellt […]). Sie verhalten sich wie Wissenschaftsideale zum praktischen Laborbetrieb […].23
Das Zusammenspiel von Institution und Organisation entspricht somit der Handlungsstruktur des Individuums. An dieser Stelle lässt sich einwenden, dass ein Individuum zur Setzung von Zwecken keiner Institutionen bedarf, sondern diese autonom wählen kann. In Bezug auf wissenschaftlich-technisches Handeln lassen sich für Nutzung von Institutionen verschiedene Gründe anführen.24 Erstens sind die Individuen aufgrund ihres Handlungsspielraums nicht in der Lage, Systementwicklungen zu steuern. Zweitens ist es für den einzelnen Wissenschafter aufgrund der Systemkomplexität nur schwer möglich, die Folgen von wissenschaftlich-technischem Handeln abzuschätzen. Drittens soll die institutionelle Verankerung von Verantwortung sicherstellen, dass verantwortungsvolles Handeln des Einzelnen im Gesamtgefüge nicht wirkungslos bleibt – etwa dadurch, dass es von anderen kompensiert wird. Die Idee, die dem Verhältnis von institutioneller und individueller Verantwortung bzw. dem Gedanken von Lenks Mitverantwortung zugrunde liegt, ist das Prinzip der Subsidiarität.25 Dabei soll dem Einzelnen soviel Selbst- und Eigenverantwortung wie möglich zugestanden werden. Übersteigt die Wahrnehmung von Verantwortung die Fähigkeiten und Möglichkeiten des Einzelnen, verschiebt sich die Problemlösung auf die nächsthöhere Ebene. Auf diese Weise entsteht eine hierarchische Stufung von Verantwortungswahrnehmung, die einer Überforderung des Einzelnen entgegenwirken und eine tatsächliche Umsetzung des Verantwortungsprinzips gewährleisten soll. Als Maßnahmen der Institutionalisierung von Verantwortung im wissenschaftlichen Bereich gelten die Errichtung von Forschungsethikkommissionen, Ethikkomitees, die Verfassung von Ethik- und Verhaltenskodizes, die Einführung eines „hippokratischen“ Eids, die Einrichtung von Ethikhotlines und dergleichen.
23 Ebd., 105 24 Ebd., 98 25 Maring, Matthias: Kollektive und korporative Verantwortung. Begriffs- und Fallstudien aus Wirtschaft, Technik und Alltag. Münster 2001, 346
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6. Institutionelle Wahrnehmung von Verantwortung durch Ethikkodizes
Mit einer Zeitverzögerung von ungefähr einem Jahrzehnt lässt sich beobachten, dass sich die Konjunktur der angewandten Ethik auch in der vermehrten Veröffentlichung von Ethikinitiativen seit den Neunzigerjahren niedergeschlagen hat. Ethik- und Verhaltenskodizes beschränken sich dabei nicht auf den wissenschaftlich-technischen Bereich, sondern reichen von Kodizes für Berufe im Dienstleistungssektor über Fankodizes oder Fischereikodizes bis hin zu Kodizes für Hundezüchter. Hatten Ethikkodizes zuerst vor allem die Funktion, das standesinterne Ethos zu explizieren, finden sich in neueren Kodizes für Wissenschafter oder Techniker in zunehmendem Maße universalmoralische Formulierungen und eine verstärkte Betonung der moralischen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, die mit der Ausübung dieser Berufe einhergeht.26 Daneben werden in vielen Ethikkodizes auch andere Forderungen, wie Nachhaltigkeitsprinzipien, Loyalitätsverpflichtungen, Diskriminierungsverbote, Effizienzsteigerungsvorschläge, Leistungsanforderungen an Mitarbeiter usw., aufgenommen. Sollen Ethikkodizes nicht bloß als Marketing dienen, sondern tatsächlich zur Wahrnehmung von Verantwortung beitragen, stellt sich die Frage nach den Anforderungen an Kodizes umso dringlicher. Was gute von schlechten Kodizes unterscheidet, wird deutlicher, wenn man die Funktion von Ethikkodizes im Verantwortungsgefüge betrachtet. Die Festlegung moralischer Berufsgrundsätze in Kodizes soll dem Wissenschafter erstens zur allgemeinen Orientierung in moralischen Fragen, die sich im Rahmen seiner Tätigkeit stellen, dienen bzw. die Wahrnehmung von moralischer Verantwortung fördern (Orientierungsfunktion) und zweitens sicherstellen, dass moralisches Handeln des Einzelnen im Gesamtgefüge nicht wirkungslos bleibt oder ihm zum Nachteil gereicht (Schutzfunktion).27
a) Orientierungsfunktion
Ethikkodizes sollen dem Einzelnen als Wegweiser für verantwortungsvolles Handeln dienen. Dies wird dadurch erreicht, dass Kodizes nicht bloß standesinterne Forderungen enthalten, sondern auch moralische Leitlinien, Werte und Ziele, wie die Förderung des Gemeinwohls, die Wahrung der Menschenrechte/-würde oder die Forderung, Forschungsprojekte im Sinn der Nachhaltigkeit zu gestalten. Eine erste Anforderung an einen Ethikkodex ist es, Begriffe, die über die Common-Sense-Mo26 Lenk, Hans: Ethikkodizes für Ingenieure, in: Lenk, Hans/Ropohl, Günter (Hg.): Technik und Ethik. 2. erw. Aufl., Stuttgart 1993, 195. 27 Vgl. Hubig, Christoph/Reidel, Johannes (Hrsg.): Ethische Ingenieursverantwortung. Handlungsspielräume und Perspektiven der Kodifizierung. Berlin 2003, 60ff.
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ral hinausgehen, zu erklären und Ausdrücke zu vermeiden, die selbst mehrdeutig sind bzw. Handlungskonflikte erzeugen können. Ein typisches Beispiel für Letzteres ist die oft und gern verwendete Formulierung, Forschung (oder Unternehmen) im Sinne der sozialen, ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit gestalten zu wollen, ohne darauf einzugehen, dass es höchst fragwürdig ist, ob sich diese drei Nachhaltigkeitssäulen überhaupt vereinbaren lassen.28 Neben genuin moralischen Prinzipien können Kodizes auch Leitlinien und Grundsätze, welche die Aufgaben- und Loyalitätsverantwortung, die der Wissenschafter/Techniker gegenüber dem jeweiligen Auftraggeber der Forschung bzw. gegenüber dem Unternehmen trägt, enthalten. Da sich aufgrund von Aufgabenund Rollenverantwortung, Loyalitätsverantwortung und universalmoralischen Forderungen oftmals unterschiedliche Zielsetzungen ergeben, empfiehlt es sich, diese verschiedenen Ebenen der Verantwortung in Kodizes klar voneinander zu trennen, um deutlich zu machen, worauf sich bestimmte Verantwortlichkeiten beziehen, und konfligierende Ziele klar erkennen zu können. Im Sinne der Handlungsorientierung sollen Ethikkodizes dazu dienen, dem Wissenschafter Kriterien an die Hand zu geben, um eventuelle Interessenkonflikte, insbesondere diejenigen, die sich aus der Spannung zwischen Rollenverantwortung, Loyalitätsverantwortung und universalmoralischer Verantwortung ergeben können, zu lösen. Dazu muss ein Kodex festlegen, welche Interessen im Konfliktfall Priorität besitzen, oder auf ein Lösungsverfahren verweisen. Im Idealfall kann auf die vorhandene Ethikkommission und deren beratende Funktion zurückgegriffen werden. Ein positives Beispiel für den Umgang mit Konflikten und eine breitere institutionelle Einbettung bietet der VDI-Kodex von 2001, in dem es heißt : 2.4. In Wertekonflikten achten Ingenieurinnen und Ingenieure den Vorrang der Menschengerechtigkeit vor einem Eigenrecht der Natur, von Menschenrechten vor Nutzenserwägungen, von öffentlichem Wohl vor privaten Interessen sowie von hinreichender Sicherheit vor Funktionalität und Wirtschaftlichkeit. […] 3.3. Widerstreitende Wertvorstellungen müssen in fach- und kulturübergreifenden Diskussionen erörtert und abgewogen werden. […] 3.4. In berufsmoralischen Konflikten, die nicht zusammen mit dem Arbeit- und Auftraggeber gelöst werden können, suchen Ingenieurinnen und Ingenieure institutionelle Unterstützung bei der Verfolgung ethisch gerechtfertigter Anliegen.29
28 Exemplarisch dafür: Empfehlung der EU-Kommission für einen Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und -technologien, 2008 29 Hubig, Christoph/Reidel, Johannes (Hg.): Ethische Ingenieursverantwortung. Handlungsspielräume und Perspektiven der Kodifizierung. Berlin 2003, 79ff.
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b) Schutzfunktion
Ethikkodizes sollen weiters die Funktion erfüllen, den Wissenschafter, der sein Handeln nach moralischen Grundsätzen ausrichtet, vor eventuellen Nachteilen, die sich daraus ergeben können, präventiv zu schützen. Kodizes leiten nach Bowie „nicht nur das Verhalten der Angestellten, sondern sie schränken auch die unumschränkte Macht der Arbeitgeber ein“.30 Deutlich wird die Wichtigkeit dieser Schutzfunktion, wirft man einen Blick auf den Fall BART aus dem Jahr 1972.31 Das Unternehmen Bay Area Rapid Transit (BART) hatte einen Auftrag für die Automatisierung des Zugkontrollsystems an der San Francisco Bay angenommen. Drei Ingenieure machten wiederholt darauf aufmerksam, dass die Mängel dieses Systems, das der Öffentlichkeit als das sicherste und weltbeste präsentiert wurde, aufgrund seiner billigen Ausführung derart gravierend waren, dass sie die Inbetriebnahme als unverantwortlich einschätzten. Die Ingenieure leiteten diese Einschätzung an den Vorstand weiter, sie wurden firmenintern zurückgewiesen. Ein Vorstandsmitglied informierte die Lokalpresse, worauf die Ingenieure ohne Abfindung und Begründung entlassen wurden. Die Arbeitssuche eines Betroffenen wurde danach vom Management behindert. Der Fall gelangte an die Öffentlichkeit, als sich aufgrund des Versagens des Schienensystems ein Zugunglück mit mehreren Verletzten ereignete. Das Verhalten der Ingenieure stimmte mit dem damals geltenden Ethikkodex der amerikanischen Elektroingenieure überein, in dem es heißt : [D]ie Ingenieure sollten „Verantwortlichkeit für ihre Handlungen übernehmen“ und „die Sicherheit, Gesundheit und Wohlfahrt der Öffentlichkeit schützen und ihre Stimme erheben gegen Missbräuche in diesen Bereichen, die das öffentliche Interesse berühren“32
Obwohl also das Verhalten der Ingenieure in diesem Fall durch den Kodex gerechtfertigt war, wird an diesem Beispiel deutlich, dass die Berufung auf Kodizes mehr theoretische als praktische Relevanz besitzen kann. Um den Schutz des Einzelnen zu gewährleisten, ist es nötig, den Kodex mit anderen Formen der Institutionalisierung zu verbinden.33 Zu möglichen Implementierungen, die eine präventive Schutz30 Bowie, Norman E.: Unternehmenskodizes: Können sie eine Lösung sein?, in: Lenk, Hans/Maring, Matthias (Hg.): Wirtschaft und Ethik. Stuttgart 1992, 338. 31 Vgl. Lenk, Hans: Ethikkodizes für Ingenieure, in Lenk, Hans/Ropohl, Günter (Hg.): Technik und Ethik. 2. erw. Aufl., Stuttgart 1993, 200ff. 32 Ebd., 203f. 33 Hubig, Christoph/Reidel, Johannes (Hrsg.): Ethische Ingenieursverantwortung. Handlungsspielräume und Perspektiven der Kodifizierung. Berlin 2003, 72
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funktion gewährleisten können, zählen für Hubig neben Ethikkodizes insbesondere die Einrichtungen von Ethikkommissionen, Vertrauens- und Beratungsstellen oder Ethikhotlines, die dem Einzelnen die nötige Unterstützung bieten, beispielsweise auch eine Beratung in rechtlichen Fragen oder im Extremfall Hilfe bei der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle. Ethikkodizes bedürfen also, um ihre Funktion zu erfüllen, einer größeren institutionellen Einbettung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, im Kodex selbst auf diesen institutionellen Bezug zu verweisen. Kodizes, die für den Einzelnen weder angemessene Prioritätsregeln für Regelung von Konfliktfällen enthalten, noch institutionell verankert sind, können deren eigentliche Funktion nicht erfüllen.
7. Zusammenfassung
Die Untersuchung des Verantwortungsbegriffs hat gezeigt, dass die Forderung, eine Wissenschafts- oder Technikethik auf dem „Prinzip Verantwortung“ gründen zu wollen, durchaus funktionieren kann. Zentral für die Umsetzung dieses Anliegens ist es, sich darüber Klarheit zu verschaffen, wann es gerechtfertigt ist, dem Wissenschafter oder Techniker normative Verantwortung zuzuschreiben. In der Begriffsanalyse wurden vier notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen – Kausalität, Freiwilligkeit der Handlung, Betroffensein von Interessen, Bezugnahme auf ein Werte- und Normensystem – für die Zuschreibung von normativer Verantwortung bestimmt. Neben der Angabe dieser Bedingungen ist die Darlegung der relationalen Bezüge für das Verständnis der unterschiedlichen Verantwortungstypen von Bedeutung, um erkennen zu können, dass der Einzelne in ein Netz von Verantwortungen eingespannt ist, die untereinander konfligieren können. Aufgrund der Komplexität des wissenschaftlich-technischen Handelns hat sich gezeigt, dass es nicht ausreicht, die Wahrnehmung von Verantwortung auf den Einzelnen zu beschränken, sondern dass es einer hierarchischen Stufung von Verantwortung im Sinne des Subsidiaritätsprinzips bedarf. Ein Teilbereich betrifft dabei die institutionelle Verankerung mittels Ethikkodizes, welche die Aufgabe erfüllen sollen, dem Einzelnen durch die Festlegung moralischer Berufsgrundsätze Orientierung zu geben und durch eine größere institutionelle Einbettung gegebenenfalls Schutz zu gewähren.
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Claudia Reitinger
Quellen a) Literatur
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Moralische Verantwortung im wissenschaftlich-technischen Bereich – mehr als nur ein leerer Begriff ?
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Claudia Reitinger
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Erwin Kubista
Kritische Reflexionen zu Erwartungen und Möglichkeiten von ethischen Kontrollinstanzen in Natur- und technischen Wissenschaften
Die Forderung nach ethischen Richtlinien und Kontrollen für Forschung und Technik hat eine bereits jahrzehntelange Tradition, ist akzeptiert und wird praktisch von niemandem infrage gestellt. Eine typische Erwartungshaltung an Ethik in Forschung und Technik ist, dass durch das Bewusstsein über ethische Problemlagen potenziell gefährliche Technologien nicht entwickelt werden oder nicht zur Anwendung kommen. Historische und aktuelle Beispiele werden angeführt, um die Möglichkeiten und Grenzen von ethischen Richtlinien und Kontrollen und deren praktischer Auswirkung zu diskutieren. Werner Heisenberg präsentiert in seinem Buch „Der Teil und das Ganze – Gespräche im Umkreis der Atomphysik“ (1969) im Kapitel „Über die Verantwortung des Forschers (1945–1950)“ Überlegungen über die Abschätzung von Folgen der Forschung für den Einzelnen und die Gesellschaft. Auslöser für Diskussionen unter prominenten deutschen Physikern dieser Zeit war die Zündung der Atombombe über Japan. Dort wird die Schlussfolgerung gezogen, dass die Verantwortung des Einzelnen eingeschränkt ist, da der Einzelne im Prinzip ersetzbar sei und der jeweils gegenwärtige Stand von Wissenschaft und Forschung erwarten lasse, dass, wenn nicht gerade dieser Einzelne diese Entdeckung gemacht hätte, diese von einem anderen zu einem späteren Zeitpunkt getätigt worden wäre. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Anmerkung, dass durch diese Feststellung die Leistung des Einzelnen nicht infrage gestellt werde, sondern der Einzelne nur von der geschichtlichen Entwicklung an die entscheidende Stelle gesetzt worden sei. Weiter wird erörtert, dass weder der Einzelne noch die Gemeinschaft alle späteren Folgen einer Erfindung wirklich überschauen könnten. Als Schlussfolgerung steht dann die Forderung, dass der Anspruch an den Einzelnen nur der sein könne, dass er nur wegen der Interessen einer kleinen Gruppe nicht viele weitere Gemeinschaften unbedacht in Gefahr bringen dürfe. Zitiert wird auch Carl Friedrich von Weizsäcker, der dem Satz : „Der Zweck heiligt die Mittel“ den Grundsatz, „dass erst die Wahl der Mittel darüber entscheidet, ob eine Sache gut oder schlecht sei“, entgegenhält. Diese Diskussionen zeigen ein Verständnis von Ethik, das ich auch heute, sechzig Jahre später, uneingeschränkt unterstützen kann.
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Erwin Kubista
Grundsätzlich ist die Frage zu stellen, wodurch sich ethisches Handeln in Forschung und Technik von ethischem Handeln in anderen Tätigkeitsbereichen unterscheidet bzw. auch mit ihm überschneidet. Begriffe wie Ethik in der Arbeitswelt, Wirtschaftsethik (z. B. Fair-Trade-Agreements, ethische Veranlagungsstrategien) sind allgegenwärtig und werden heute auch teilweise als Werbeargumente für Produkte, deren Verkauf und Vermarktung verwendet. Forschung ist Arbeit, Forschung bedeutet auch wirtschaftliche Aktivität. Wodurch unterscheidet sich also Ethik in der Forschung von anderen Ethikansätzen ? Dazu sind erst die Begriffe Forschung und Technik zu klären. Nach Wikipedia http ://de.wikipedia.org/wiki/Forschung Sept. 2010 ist Forschung „die geplante Suche von neuen Erkenntnissen im Gegensatz zum zufälligen Entdecken sowie deren systematische Dokumentation und Veröffentlichung in Form von wissenschaftlichen Arbeiten. Forschung wird sowohl im wissenschaftlichen als auch im industriellen Rahmen betrieben.“ http ://de.wikipedia.org/wiki/Technik Sept. 2010 : „In der westlichen Welt wird der Begriff ‚Technik‘ von Klaus Tuchel 1968 folgendermaßen definiert : […] der Begriff für alle Gegenstände, Verfahren, Systeme sowie die mit ihnen verbundenen menschlichen Handlungen, die zur Erfüllung individueller oder gesellschaftlicher Bedürfnisse aufgrund schöpferischer Konstruktion geschaffen werden, durch definierbare Funktionen bestimmten Zwecken dienen und insgesamt eine weltgestaltende Wirkung haben.“ Weiter ist es notwendig, über den Begriff Ethik Einigkeit herzustellen. An sich ist unbestritten, dass Begriff und Verständnis von Ethik an ein persönliches Bekenntnis gebunden sind, das von der eigenen Weltanschauung abhängt und von Kultur, Religion und politischem Umfeld und damit auch vom gerade herrschenden Zeitgeist geprägt ist. Anzumerken ist, dass auch der Begriff Technik jeweils vor dem relevanten kulturellen Hintergrund zu sehen ist. Hans Jonas („Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“, 1979) stellt fest, dass das Bedürfnis, die Folgewirkungen von Forschung und Technik auf den Menschen (oder Teile seiner Umwelt) abschätzen zu wollen, grundsätzlich voraussetzt, dass der Mensch über seine eigene Existenz hinaus ein Weiterbestehen der Menschheit als solche als wünschenswert betrachtet. Weiter geht er von einer Pflicht der Menschheit zur Existenz aus, da der Mensch faktisch die Verantwortung für sein Handeln habe. Jonas lehnt damit den kollektiven Selbstmord der Menschheit aus ethischen Gründen ab. Daraus folgert er, dass bei der Abschätzung von Technikfolgen grundsätzlich die schlechtere Prognose heranzuziehen sei. Daraus entstand das Leitmotto „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten mensch-
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lichen Lebens auf Erden“, das heute vielfach als theoretische Grundlage für den Begriff des nachhaltigen Wirtschaftens dient. Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal bei Diskussionen um Ethik in Forschung und Technik zu anderen Ethikdiskussionen ist, dass Zukunftsängste von Menschen in ihrer Gesamtheit in den Vordergrund treten, verbunden mit Fragen, ob das Wohl des Einzelnen für das Wohl des Gesamten abgewogen werden darf. Besonders problematisch ist dabei, dass die wissenschaftlich-technischen Entwicklungen eine so hohe Komplexität aufweisen, dass diese nur von einer kleinen, meist sehr in sich geschlossenen Gruppe von Forschern wirklich verstanden werden und daher die Beurteilung von Aussagen besonders schwierig ist. Dazu stelle ich folgende Thesen zur Diskussion : a) Die hohe Komplexität von Forschung und Technik erzeugt Zukunftsängste, die mithilfe ethischer Kontrollinstanzen scheinbar beherrschbar und kontrollierbar werden. b) In Ermangelung eines gemeinsamen Weltbildes der Kontrollinstanzen beschränken sich diese häufig auf Feststellungen, ob etwas rechtskonform sei oder nicht, und treffen daher häufig nicht wirklich eine Aussage zur Ethik. Sie liefern eine (meist) nur laienhafte Interpretation der herrschenden Gesetzeslage für anstehende Entwicklungen, deren Auswirkungen sie selbst nicht wirklich abschätzen können. c) Ethische Verbote führen zu Verlagerungen von Forschungen in Kulturen, in denen andere ethische Grundhaltungen vorherrschen. Den Nutzen aus eventuell dort entstandenen Entwicklungen zieht man jedoch gerne. d) Ethikargumente werden zur Mitteleinwerbung in der Forschung verwendet. Ein gutes Beispiel für die Thesen a) und b) ist die Kontroverse der Physiker Edward Teller und J. Robert Oppenheimer in der Zeit von 1947 bis 1954, die eine der interessantesten Diskussionen darüber ist, ob Forscher auch für die Folgen der Anwendung der von ihnen entwickelten Technologien verantwortlich seien. Oppenheimer, der das Manhattan-Projekt zur Entwicklung der Atombombe leitete, sprach sich später gegen die Entwicklung der Kernfusionsbombe aus. Die Folge war, dass Oppenheimer das Projekt entzogen und er in der Öffentlichkeit desavouiert wurde und erst 1963 von Präsident Kennedy durch die Verleihung des Enrico-Fermi-Preises öffentlich (teilweise) rehabilitiert wurde. Sein Opponent Edward Teller hingegen wurde in der wissenschaftlichen Community aufgrund seiner Aussagen zu Oppenheimer als Paria behandelt (http ://de.wikipedia.org/). Grundsätzlich kann daher das Handeln von Oppenheimer als ein ethisches Handeln im Sinne einer
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personenbezogenen Ethik gesehen werden, die durch ihr Handeln Schaden an der Menschheit verhindern will. Vergessen wird dabei die Tatsache, dass vor der ersten Zündung einer Atombombe auf dem Testgelände in Los Alamos Berechnungen vorlagen, die nicht zur Gänze ausschließen ließen, dass durch die Zündung ein „Brand“ der Atmosphäre ausgelöst werden könnte, der die Auslöschung der gesamten Menschheit zur Folge gehabt hätte. Noch in den Jahren 1975/76 fand eine öffentliche Auseinandersetzung der Atomphysiker Bethe und Dudley statt, in der Dudley festhielt, dass die Möglichkeit einer Katastrophe damals mit rund 3 zu 1 Million berechnet wurde. Bethe, der am Manhattan-Projekt mitwirkte, widersprach. (H. C. Dudley „The Ultimate Catastrophe“, Bulletin of Atomic Scientist, Nov. 1975, pp. 21–24 ; E. Konopinksi, C. Marvin and E. Teller, report LA–602, Los Alamos Laboratory ; H.A. Bethe, „ No chance whatever that an atomic weapon might ignite the atmosphere or the Ocean“, June 1976 Bulletin of Atomic Scientist ; H.C. Dudley, „Are your assumptions tenable ?“ 1976, Bulletin of Atomic Scientist) Die Diskussionen wurden vom Bulletin nicht mehr weitergeführt, da keine Einigung der Forscher absehbar war und eine weitere „Eskalation“ aus Sicht des Bulletin nicht zielführend gewesen wäre. Wäre zur Absicherung der menschlichen Existenz der schlimmste mögliche Fall angenommen worden, wie es Jonas forderte, hätten die Entscheidungsträger und damit auch Oppenheimer nie einem Test zustimmen dürfen. Dieses Beispiel unterstützt die These a), da es zeigt, dass selbst bei Techniken, die mehr als sechzig Jahre alt und hochkomplex sind, Berechnungen nur von einer kleinen Gruppe von Menschen wirklich nachvollzogen werden können. These b) wird durch die Kontroverse Teller und Oppenheimer unterstützt, da dieser Konflikt vor dem ideologischen Hintergrund der Politik in den 1950er-Jahren der USA stattfand und Oppenheimer vorgeworfen wurde, mit seinen Bedenken gegen die Entwicklung der Kernfusionsbombe kommunistische Politik zu unterstützen und damit den USA zu schaden. Die analoge Übertragung auf heutige Entwicklungen in der Gentechnik und Nanotechnologie macht deutlich, dass man auf das konkrete Expertenwissen angewiesen ist und Kontrollinstanzen nur unterstützende Argumente für oder gegen die Anwendung einer Technologie geben, die Technologieentwicklung an sich aber nicht wirklich beeinflussen können, da sich der betroffene Forscher in einer globalisierten Welt ein Umfeld suchen kann, in der seine Weltanschauung eine entsprechende Akzeptanz findet. Vielfach beschränken sich Kontrollinstanzen daher darauf festzustellen, ob Forschung oder deren Ergebnisse herrschende Gesetze verletzen. In seltenen Fällen werden anlassbezogen neue Gesetze erlassen, um anstehende Entwicklungen lokal
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zu verhindern. Deutlich erkennbar wurde diese Vorgehensweise bei der Diskussion um das Klonen von Tieren und Menschen sowie bei der Erforschung der Einsatzmöglichkeiten von Stammzellen. Lokale Verbote führten zu einer Verlagerung der Forschung in Regionen, in denen der wissenschaftliche Erfolg und die damit verbundene weltweite Aufmerksamkeit mehr zählen als etwaige ethische Bedenken. Sollte sich zu einem späteren Zeitpunkt herausstellen, dass die Befürchtungen negativer Auswirkungen einer Technologieentwicklung nicht eingetroffen sind und die Technologie so weit fortgeschritten ist, dass sie als beherrschbarer erscheint, kann der Nutzen aus dieser Technologie ohne ethische Bedenken globalisiert werden. Als Beispiel dafür ist die friedliche Nutzung der Kernenergie anzusehen, die aus heutiger Sicht – mit Ausnahme einiger weniger Regionen, darunter auch Österreich – als eine beherrschbare und wünschenswerte Technologie gesehen wird. Würde die mit Kernkraftwerken erzeugte Energie durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe gewonnen werden und berücksichtigt man die mögliche Auswirkung auf die angenommene globale Erwärmung , wäre dann nicht auch Österreich Nutznießer dieser Technologie ? Insbesondere die Diskussion um Grenzen, Möglichkeiten und Nutzen der Stammzellenforschung unterstützt These c). Kritisch zu hinterfragen sind auch Entwicklungen, in denen der ethische Anspruch neben naturwissenschaftlich-technischen Fakten als Werbemittel für bestimmte Forschungsrichtungen gebraucht wird. Kritischen Fragen zur These der vom Menschen verursachten Klimaerwärmung wird weniger mit Wissen und Fakten entgegnet als mit Stigmatisierung der Fragesteller. Wird hier das ethische Argument zur Einwerbung von Forschungsmitteln in den Vordergrund gestellt ? Wenn mehr als 10 000 ForscherInnen zur weltweiten Klimakonferenz reisen, spiegelt das möglicherweise den selbst gewählten Anspruch der Branche auf Ressourceneffizienz wider ? Diese Fallbeispiele und Zitate wurden gewählt, um zu zeigen, dass eine allgemeingültige Ethik entsprechend den angeführten Thesen nicht existiert. Daher ist die Erwartung, dass durch Kontrollinstanzen unerwünschte Entwicklungen, wie z. B. das Klonen von Menschen zur „Ersatzteilproduktion“, verhindert werden können, falsch. Ich bin überzeugt, dass – unabhängig von der Verfasstheit von ethischen Kontrollinstanzen – diese die langfristigen Folgen einer Technologie nicht wirklich erfassen können. Ich kann an dieser Stelle nicht umhin, die Diskussionen über die Rationalisierungseffekte bei der Entwicklung und dem Einsatz von Computern ins Treffen zu führen, bei der ein entstehendes Heer an Arbeitslosen befürchtet wurde – heute ist die IT-Branche einer der größten Arbeitgeber. Weiter bin ich überzeugt, dass der wesentliche Nutzen einer ethischen Kontrollinstanz dem Bild, das Heisenberg und Weizsäcker skizziert haben, am besten
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Erwin Kubista
entspricht, in dem sie den/die Forscher/in dabei unterstützen, die Wahl der Mittel so zu treffen, dass der Fortschritt einer „guten“ Sache dient. Die Entscheidung über die Berücksichtigung dieser Empfehlungen muss aber beim Forscher selbst liegen, da er sich den Rahmen für eine mögliche Umsetzung, auch gegen die Empfehlungen einer Kontrollinstanz, insbesondere im globalen Wettbewerb um Talente, selbst suchen kann. Folgt man den Aussagen von Heisenberg, ist, da der Einzelne austauschbar ist, durch ethische Kontrollinstanzen jedenfalls keine Entwicklung zu verhindern, insbesondere dann nicht, wenn der Einzelne in Kauf nimmt, das Risiko der Auslöschung der Menschheit einzugehen.
Elke Jantscher
Zur ethischen Beurteilung militärischer Forschungsprojekte bei JOAN N EU M R E SE ARC H
Es gibt im Forschungsbereich nur weniges, das so kontroversiell wie der Bereich der militärischen Forschung diskutiert wird. Grund dafür ist nicht nur die Vielschichtigkeit des Themas, sondern in erster Linie der Umstand, dass militärische Forschung unmittelbar daran geknüpft ist, Menschen mit ihren Ergebnissen und den daraus ableitbaren Entwicklungen und Technologien in ihrer persönlichen Freiheit massiv einzuschränken, „unschädlich“ zu machen und zu töten. Das Militär wendet im staatlichen Auftrag Gewalt an, was auch nicht mit dem Verweis auf den gerechten Krieg zu beschönigen ist. ForscherInnen, die sich im Bereich der militärischen Forschung engagieren, müssen sich stets darüber im Klaren und ihrer Verantwortung bewusst sein. Dies gilt auch dann, wenn die eigene Forschung nur einen Teilbereich oder ein Mosaiksteinchen im großen Ganzen darstellt und die wohlige Sicherheit am Schreibtisch vor dem Computer oder im Labor suggeriert, als WissenschafterIn nicht unmittelbar an den Schrecken und Folgen eines realen militärischen Einsatzes, womöglich noch in einem anderen Teil der Welt, beteiligt oder sogar für den Tod anderer Menschen verantwortlich zu sein. Vergleichbares trifft auf kaum einen anderen Bereich der Forschung zu, auch nicht auf die ebenfalls sehr heftig diskutierte Forschung an bzw. mit menschlichen Embryonen oder auf Fragen der Gentechnik und Hybridisierung – Bereiche, bei denen es ebenso gegen den Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geht, konkret gegen das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Es gibt in der Forschung andererseits aber auch keinen Bereich, in den so viel Geld hineingepumpt wird : So haben die USA im Jahr 2008 laut European Defence Agency (EDA) rund 454 Milliarden Euro für die Verteidigung ausgegeben, wobei allein Forschung und Entwicklung rund 54 Milliarden Euro ausmachten (EDA 2009). In den zivilen Bereichen bleiben solche Forschungsbudgets wohl nur unerfüllbare Wünsche, doch alles hat seinen Preis – hinter der militärischen Forschung stehen potente Auftraggeber und ein lukrativer Milliardenmarkt, die sich weder davor scheuen, entsprechende finanzielle Mittel in die Hand zu nehmen noch die Forschung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Gleichwohl darf nicht außer Acht gelassen werden, dass alternative Anwendungsfelder der militärischen
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Elke Jantscher
Forschung zu einer Fülle höchst bedeutender zivil genutzter Errungenschaften und Produkte geführt haben, die nicht nur unser tägliches Leben erleichtern, sondern durchaus auch Menschenleben retten können. Der Ursprung des Internets liegt beispielsweise in dem am Ende der 1960er-Jahre aus militärischer Forschung entstandenen ArpaNet, das zu Zeiten des Kalten Krieges auch im „Ernstfall“ die Kommunikation wichtiger militärischer Einrichtungen der USA gewährleisten sollte. Weitere Beispiele sind das Satellitennavigationssystem GPS (Global Positioning System), das beispielsweise bei der Suche nach vermissten Personen eingesetzt wird, oder auch der ganz gewöhnliche Mikrowellenherd, der durchaus zur Grundausstattung eines durchschnittlichen modernen Haushaltes gezählt werden kann. Vice versa stellt sich die Frage, inwieweit Technologien, die bereits im militärischen Bereich Anwendung finden, im Rahmen der Konversion auch zur zivilen Nutzung freigegeben werden oder ob sie einer entsprechenden Geheimhaltung unterliegen und damit für die zivile Gesellschaft von vornherein nicht zugänglich sind. An diesem Punkt wird auch das vielschichtige Problem des Dual-Use – des doppelten Verwendungszweckes – sichtbar, das heißt, Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung können auch für militärische Zwecke relevant sein bzw. in Zukunft relevant werden. Die Strategie des Dual-Use baut geradezu darauf auf, dass die klare Trennung zwischen ziviler und militärischer Forschung verschwimmt, was wiederum durch gezielt vorgegebene Programmlinien und Schwerpunkte in der Forschungsförderung beinahe beliebig gesteuert werden kann. Beiträge zu diesem Thema können beispielsweise bei Liebert et al. (1994) über „Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik. Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz“ nachgelesen werden. Es ist gleichermaßen interessant und bedenklich, dass nach Jahren der propagierten Abrüstung durch die gegenwärtig stark veränderten Rahmenbedingungen auf der globalen, aber auch der europäischen Ebene unter dem Deckmantel der Sicherheitsforschung eine gewissermaßen subtile Trendumkehr festzustellen ist. Laut Europäischer Sicherheitsstrategie 2003 sind seit 1990 weltweit fast vier Millionen Menschen in Kriegen ums Leben gekommen, und über 18 Millionen Menschen haben wegen eines Konfliktes ihr Heim verlassen. Abrüstung und friedliche Nutzung vormals militärisch eingesetzter Technologien werden angesichts solcher unumstößlicher Fakten zwar nicht öffentlich infrage gestellt, doch durchaus in anderer Form wieder thematisiert. So wird beispielsweise in der Europäischen Sicherheitsstrategie 2003 festgehalten, dass Europa nie zuvor so wohlhabend, so sicher und so frei gewesen sei, dafür aber mit neuen Bedrohungen konfrontiert sei, die verschiedenartiger, weniger sichtbar und weniger vorhersehbar seien : Terro-
Zur ethischen Beurteilung militärischer Forschungsprojekte bei J OA N N E U M R E S E A R C H
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rismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte, Scheitern von Staaten und organisierte Kriminalität. Festgehalten wird in diesem Dokument weiters, dass es bei einer Summierung dieser verschiedenen Elemente – extrem gewaltbereite Terroristen, Verfügbarkeit von Massenvernichtungswaffen, organisierte Kriminalität, Schwächung staatlicher Systeme und Privatisierung der Gewalt – durchaus vorstellbar sei, dass Europa einer sehr ernsten Bedrohung ausgesetzt sein könnte. Angesichts dieser Tatsachen ist es nicht überraschend, dass die Europäische Union beschlossen hat, ihre Aktivitäten im Bereich der Sicherheitsforschung zu verstärken und im 7. Forschungsrahmenprogramm 2007–2013 das „Europäische Sicherheitsforschungsprogramm“ ausgeschrieben hat. Auch Österreich verfügt über ein Sicherheitsforschungsprogramm kiras (http ://www.kiras.at/das-programm/ grundlagen-von-kiras/), das nationale Forschungsvorhaben mit dem Ziel der Erhöhung der Sicherheit Österreichs und seiner Bevölkerung unterstützt. Für die Programmlaufzeit von 2005 bis 2013 ist ein Gesamtbudget von 110 Millionen Euro vorgesehen. Heute sind nicht mehr nur die ausgewählten klassischen Disziplinen, wie Medizin, Luft- und Weltraumtechnik oder Informations- und Kommunikationstechnologien, für die militärische Forschung von Interesse. Durch die fortschreitende Entwicklung zukunftsweisender Hochtechnologien, insbesondere durch die „Emerging Technologies“ (allen voran die Nano-Bio-Info-Cogno-Technologien) gibt es eine Fülle von Forschungsbereichen, die von den militärischen Einrichtungen verfolgt werden. Neben der unmittelbaren Entwicklung von Waffensystemen und -plattformen sowie Schutztechnologien gegen Waffenwirkung geht es unter anderem um Forschung und Entwicklung von Aufklärungs- und Kommunikationssystemen, Robotik, den Einsatz neuer Materialen und Werkstoffe bis hin zum „Virtual Soldier“ (http ://www.virtualsoldier.us/). Die Homepage der US-amerikanischen Defense Advanced Research Projects Agency darpa (vgl. http ://www.darpa.mil/) zeigt auf eindrucksvolle Weise einen Ausschnitt aus dem aktuellen zu bearbeitenden Themenkatalog. Der Umgang mit militärischer Forschung im weitesten Sinn berührt auch die joan n eu m r e s earc h Forschungsgesellschaft mbH, die als professionell unternehmerisch operierender Innovations- und Technologieanbieter stark auf die angewandte Forschungs- und Technologieentwicklung fokussiert und seitens ihrer Eigentümer den Auftrag hat, einen entsprechenden Wirtschaftsanteil von rund 40 Prozent der Gesamtfinanzierung zu erzielen. Dies bedeutet, dass die unmittelbare Auftragsforschung für die joan n eu m r e s earc h eine sehr wesentliche Rolle spielt und keine leichtfertige Ablehnung eines Auftrages erfolgen wird. Hinzu kommt die aktive Beteiligung an den großen europäischen oder nationalen
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Forschungsprogrammen, mit deren Hilfe finanzielle Mittel für die Durchführung von Projekten gesichert werden können. Aufgrund der Bandbreite der Themen, die bei joan n eu m r e s earc h bearbeitet werden, arbeiten ForscherInnen der joan n eu m r e s earc h unter anderem an Forschungsfragen und Technologien, die der „zivilen Sicherheitsforschung“ zuzurechnen sind, aber auch an solchen, die für das Militär von Relevanz sind bzw. sein können. Wenn sich der Fokus des Interesses bei der joan n eu m r e s earc h in diesen Bereichen auch vorrangig auf die zivile Sicherheitsforschung richtet, beispielsweise auf Anwendungen u. a. im Bereich Katastrophenschutz, bei der kontinuierlichen Überwachung von Trinkwasserreservoirs, spannt sich der Bogen doch bis zur intelligenten Bildauswertung für den Einsatz in öffentlichen Räumen oder zur Entwicklung von Systemen zur Entscheidungsunterstützung, wobei die bereits angesprochene Dual-Use-Problematik zum Tragen kommt. Am deutlichsten wird das, wenn von potenziellen Auftraggebern oder Projektpartnern Angebote zur Projektmitarbeit an die ForscherInnen der joan n eu m r e s earc h herangetragen werden, bei denen ethische Bedenken aufkommen, oder wenn die potenziellen Auftraggeber von vornherein eindeutig dem militärischen Bereich zuzuordnen sind. Da es im Bereich der Ethik kein reines Schwarz-Weiß, sondern vielmehr ein Mehr oder Weniger gibt, besteht die Lösung für die joan n eu m r e s earc h darin, beim Aufkommen ethischer Bedenken, ob ein Forschungsprojekt im militärischen Bereich angenommen bzw. durchgeführt werden soll, das Vorhaben auf institutioneller Ebene anhand vier zentraler Indikatoren zu diskutieren und auf Basis dieser Diskussion über die Beteiligung zu entscheiden. Wichtig dabei bleibt, dass die persönliche ethische Entscheidung, die nicht delegierbar ist, von jedem Forscher und jeder Forscherin bewusst und verantwortungsvoll getroffen wird. Ebenso ist dabei zentral, dass keine generalisierten Grundentscheidungen getroffen werden. Ziel ist nicht eine Vorwegnahme, sondern die konkrete Prüfung des Einzelfalles und des zugehörigen Sets an Rahmenbedingungen, die dabei stets berücksichtigt werden müssen. Aus diesem Grund werden Vorhaben, die dem militärischen Bereich zuordenbar sind, nicht von vornherein abgelehnt. Konkret geht es aber um die nachfolgenden Fragen, die einer eingehenden Prüfung bedürfen : 1. „Wollen wir das ?“ Diese Frage ist die übergeordnete Grundfrage ; sie inkludiert den Willen zur Durchführung sowie die entsprechende vorhandene Kompetenz seitens der ForscherInnen der joan n eu m r e s earc h.
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2. Wer ist der Auftraggeber ? Es ist ein großer Unterschied, ob der Auftraggeber beispielsweise eine private Sicherheitsfirma, ein klarer Interessenträger oder eine demokratisch-kontrollierte staatliche Institution ist. Dieser Punkt inkludiert auch die Prüfung des jeweiligen Anwendungskontextes. 3. Trägt die Annahme des Projekts zur Konfliktvermeidung bzw. zum Frieden bei ? Diese Frage ist nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten. Dabei müssen auch die eigenen Implikationen mitgedacht werden. Möglicherweise trägt auch die Verweigerung der Mitarbeit an dem Vorhaben zum Frieden bei. 4. Frage des Innovationsmanagements (Konversion) : Kann die Entwicklung für zivile, industrielle Anwendungen nutzbar gemacht werden ? Es muss die Möglichkeit gesichert sein, dass die Technologie nicht gebunden und dadurch anderen, möglicherweise bedeutenden Anwendungen vorenthalten wird. Die Festlegung dieser Punkte ist in Zusammenarbeit von ForscherInnen der joann eu m r e s earc h und der Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ der joan n eu m r e s earc h erfolgt, wobei ein konkreter Anlassfall an einem der Institute der Auslöser für die dialogische Erarbeitung der Punkte war. Der „konkrete Anlassfall“ war die zunächst relativ harmlos klingende Einladung zur Mitarbeit an einem internationalen Projekt. In den Unterlagen, die der Einladung bald folgten, waren jedoch eindeutige Informationen enthalten und ein Bild, das einen Soldaten mit Waffe, eine Straßenflucht, Mündungsfeuer und eine am Boden liegende Person zeigte, verdichtete die textlichen Ausführungen des angestrebten Forschungszieles und seines künftigen Einsatzbereiches. Seitens der Institute für Informationssysteme und Informationsmanagement und für Angewandte Systemtechnik (seit 1. Juli 2010 zusammengeführt im Institut dig ital – Institut für Informations- und Kommunikationstechnologien), bei denen die Kernkompetenz der joan n eu m r e s earc h im Bereich Sicherheitsforschung liegt, wurde gebeten, den speziellen Fall gemeinsam mit den Mitgliedern der Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ zu diskutieren und die Vorgehensweise in solchen Fällen auf eine institutionelle Ebene zu heben. Auf diese Weise ist es nicht nur gelungen, unterschiedliche Perspektiven auf das Vorhaben zu erhalten, sondern auch im Hinblick auf die „Durchführung eines aus ethischer Sicht bedenklichen Projektes – ja oder nein ?“ die vorhin angeführten Punkte gemeinsam modellhaft zu erarbeiten, die bei einer solchen Fragestellung auf Unternehmensebene auf jeden Fall zu berücksichtigen sind. joan n eu m r e s earc h hat sich an diesem Projekt übrigens nicht beteiligt.
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Literatur
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Franz Prettenthaler
Anmerkungen zur moralischen Eigenverantwortung des Forschers und zu angewandter Ethik als Beruf in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften
Die Ethikinitiative der joan n eu m r e s earc h Forschungsgesellschaft hat zu einer Intensivierung der Frage nach der individuellen moralischen Verantwortung der Forscherin und des Forschers in unserem Berufsalltag geführt und gleichzeitig auch das Wissen darum und die Gewissheit dafür gestärkt, dass wir mit diesen Fragen nicht alleine gelassen sind und sich das Unternehmen diesen Fragen auch als Institution stellt. Unser insgesamt stark technologisch ausgerichtetes Unternehmen beherbergt am Zentrum für Wirtschafts- und Innovationsforschung neben anderen Kompetenzen auch rund 30 Sozial- und Wirtschaftswissenschafter. Insbesondere für die Wirtschaftswissenschafter gilt wie für kaum eine andere Berufsgruppe (Theologen vielleicht ausgenommen), dass sie in ihrer akademischen Ausbildung meist implizit, aber auch explizit stark auf die Weltauffassung einer philosophie geschichtlichen Tradition festgelegt werden. Im Falle der Wirtschaftswissenschaften ist dies die Weltauffassung der schottischen Aufklärer Hume, Fergusson und Smith und das auf deren Basis (von Bentham, Mill u. a.) errichtete Gebäude der ethischen Theorie des Utilitarismus, wobei zumindest dessen konsequenzialistische1 Orientierung auch heute in der gesamten normativen Ökonomik, wie den Finanzwissenschaften und der rationalen Entscheidungstheorie, weitestgehend unumstritten ist.2 Zusätzlich zur Frage der Eigenverantwortung als Forscher und der Frage des institutionellen Umgangs als Forschungsgesellschaft beschäftigt uns Ökonomen in der angewandten Forschung also auch die Frage nach der professionellen Anwendung ethischer Theorie in unserer Arbeit. Weil uns als Wirtschaftswissenschafter immer wieder die explizit normative Frage der Gesellschaft : „Was sollen wir tun ?“ 1 Der Konsequenzialismus fordert, dass man, um eine Handlung moralisch zu bewerten, die Konsequenzen der Handlung ermitteln muss und diese unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Glücks bzw. Wohlergehens zu bewerten sind. Andere Fragen – etwa, ob eine Handlung aus gutem Willen erfolgt oder nicht, – sind hierbei von untergeordnetem oder gar keinem Interesse. 2 Siehe etwa jene in der Bibliografie angegebenen Arbeiten von broom e, ham mon d, aber auch die erwähnenswerte interessante Außenseiterposition der „Resolute Choice“, vertreten etwa von mcc l e n n e n.
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– etwa im Zusammenhang mit großen Investitionsentscheidungen oder der Reform von Steuer- und Transfersystemen –, gestellt wird, müssen wir uns mit diesem speziellen Aspekt der von uns nachgefragten Forschungskompetenz gesondert auseinandersetzen. Ethik bzw. normative Theorien sind in unserem Arbeitsalltag also nicht nur Hilfen zur Reflexion unseres eigenen Tuns, sondern gleichsam auch Rohstoff, ein Produktionsmittel. Die Anwendung ethischer Theorien ist auch Teil unseres Berufes. In den folgenden Ausführungen werde ich mich daher auf die erst- und drittgenannte Frage konzentrieren und beide zunächst gesondert behandeln – auch, wenn sie natürlich miteinander verwoben sind : Moralische Eigenverantwortung des Forschers und angewandte Ethik als Beruf.
Moralische Eigenverantwortung der Forscherin und des Forschers
Zunächst geht es also auch in unserem Forschungsalltag um die Wahrung der persönlichen moralischen Integrität, um eine im doppelten Wortsinn gewissenhafte Ausführung unserer Tätigkeiten, dass wir uns keiner unmoralischer Handlungen bedienen, um zu Ergebnissen zu kommen, dass wir die jeweils besten uns bekannten Methoden und Daten verwenden, um eine Fragestellung zu beantworten etc. Dazu gehört auch ein bestimmtes moralisches Reflexionsniveau, das sich die Frage stellt, ob man die im gesellschaftlichen Umgang mit den eigenen Ergebnissen zu erwartenden Konsequenzen moralisch vertreten kann oder nicht. Dieser Anspruch kann wahrscheinlich nicht sehr umfassend gelebt werden, weil wir als Forscher nicht für die Konsequenz jeder Tat eines anderen, die dieser unter Zuhilfenahme unserer Arbeit bewerkstelligt, persönlich moralisch verantwortlich gemacht werden können : Überspitzt und mit einem Augenzwinkern formuliert, kann man schließlich auch mit so manchem unserer Endberichte (mit 350 Seiten und mehr) einen Menschen erschlagen (nicht im übertragenen Sinn, indem man ihn auffordert, den Bericht zu lesen, sondern im wörtlichen, physischen Sinn : erschlagen). Dennoch kann man aus dieser Tatsache keine moralische Pflicht ableiten, Endberichte auf eine bestimmte Seitenanzahl zu beschränken. Auch den Herstellern von Bügeleisen, Schürhaken und Bronzeplastiken wird keine derartige Selbstbeschränkung abverlangt. Daher ist auch die Verantwortung für andere Handlungen, die andere – moralisch selbst verantwortliche – Personen unter Zuhilfenahme unserer Forschungsergebnisse durchführen, nur beschränkt gegeben. Dies gilt vor allem für die missbräuchliche Verwendung unserer Ergebnisse. Da wir aber auch Sozialwissenschafter sind, wird uns völlige Naivität im Hinblick auf die instrumentelle
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Verwendung unserer Forschungsergebnisse in gesellschaftlichen Diskussionsprozessen nicht abgenommen werden. Ein gewisses Maß an Fantasie über die Absichten des Auftraggebers bzw. eine Resistenz gegen Versuche, die Fragestellung zu sehr einzuschränken, darf von uns hier verlangt werden. Die Annahme von Anfragen müssen wir selbst moralisch verantworten, und hier sind wir auch im Rahmen unseres Kollektivvertrages rechtlich geschützt, wenn unser Arbeitgeber hier Druck zur Annahme eines aus unserer Sicht unmoralischen Auftrages ausüben wollte (was er nicht tut). Persönlich kann ich mich bisher nur an eine Situation erinnern, in welcher ich eine Anfrage aufgrund moralischer Skrupel abgelehnt habe. Es ging um die Darstellung des gesamtgesellschaftlichen Nutzens eines größeren Investitionsprojektes mit auch erheblichen negativen Umweltfolgen und starken Eingriffen in die Eigentumsrechte der Anrainer ; diese Aspekte sollen jedoch nicht untersucht werden. Mein damaliges Argument gegen die Annahme des Auftrages lautete : Nur, wenn wir das Projekt einer umfassenden Kosten-Nutzen-Untersuchung unterziehen können, bin ich bereit, diesen Auftrag anzunehmen. Dies wollte der Auftraggeber weder riskieren noch finanzieren, daher haben wir den Auftrag nicht bekommen. Gebaut wurde trotzdem. Wenn ich heute darüber nachdenke, habe ich damals entgegen der zuvor erwähnten beruflichen Prägung implizit eine deontologische Position3 ungefähr dieses Inhalts bezogen : „Es ist unmoralisch, an der Rechtfertigung eines Investitionsprojektes beteiligt zu sein, das möglicherweise gesamt gesellschaftlich höhere Kosten hat, als es Nutzen stiftet, und daher zu Unrecht gebaut werden würde.“ Viel könnte man nun darüber diskutieren, ob diese moralische Überzeugung korrekt ist oder nicht, durch welche fundamentalen moralischen Grundsätze sie u. U. gestützt wird oder ob sie rational begründet werden kann. Fest steht jedenfalls, dass sie einen Bereich betrifft, in dem unsere natürlichen (bzw. durch Erziehung erworbenen) moralischen Intuitionen rar gesät sind, nicht nur, weil sich weder Mose in den Zehn Geboten noch unsere moralische Erziehung seit dem Kindergarten mit dem korrekten Verhalten bei Kosten-Nutzen-Untersuchungen (oder Teilen davon) beschäftigt hat, sondern auch, weil es sich dabei um unsichere Konsequenzen unseres Tuns handelt, wie das Wort „möglicherweise“ andeutet. Meine These lautet aber, dass fast alle Entscheidungen im gesellschaftlichen Kontext heute Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit sind und ein zentrales 3 Deontologische Ethik oder Deontologie (griechisch : δέον – deon – „das Erforderliche, das Gesollte, die Pflicht“) bezeichnet eine Klasse von ethischen Theorien, die einigen Handlungen – unabhängig von ihren Konsequenzen – zuschreiben, intrinsisch gut oder schlecht zu sein.
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Kriterium für die Anwendbarkeit ethischer Theorien darin besteht, ob sie diesem Umstand überzeugende Konzepte entgegensetzen. Es liegt also nahe, die getroffene moralische Entscheidung mit einer Methode zu untersuchen, in der die konsequenzialistische Ethik ihre großen Stärken mittels Entscheidungsbäumen, die auch unterschiedliche Weltzustände umfassen und somit Risiko bzw. Unsicherheit in die Analyse aufnehmen können, ausspielen kann. Bevor wir das aber tun, gilt es noch festzuhalten, dass dies in diesem Abschnitt, in dem es um die moralische Eigenverantwortung der Forscherin und des Forschers geht, eigentlich müßig ist : Sollten sich meine moralischen Bedenken als übertrieben herausstellen, habe ich meinem Unternehmen gegenüber dennoch nicht falsch gehandelt. Zwar steckt im Wort „Verantwortung“ die Idee, dass ich für mein Tun und Lassen Rede und Antwort stehen kann, aber genau genommen bezieht sich das nur auf das Tun, nicht aber auf das Nicht-Tun. Für ersteres verpflichten mich etwa unsere Ethikleitlinien, bestimmte Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis einzuhalten, und auch meine eigenen, grundsätzlichen moralischen Reflexionen werden hier eingefordert. Sollte ich aber zu einem u. U. nicht gut argumentierbzw. für andere nachvollziehbaren „Finger weg“-Entschluss gekommen sein, stehe ich für dieses Nicht-Tun nach meiner Lesart unserer Ethikleitlinien unter keinem Rechtfertigungsdruck : Besser, ein moralisch unbedenkliches Projekt zu viel abgelehnt, denn ein moralisch verwerfliches Projekt zu viel angenommen. Nun aber, gleichsam bereits als Überleitung zum nachfolgenden Abschnitt, komme ich zur Anwendung einer Analysemethode auf das obige Beispiel, die wir auch angewendet hätten, wenn diese Fragestellung von Dritten an uns herangetragen worden wäre, mit der Bitte um Beratung in einer Entscheidungssituation unter Risiko. Die Fallbeschreibung weicht leicht vom vorherigen Beispiel ab : Der Fall betrifft ein „politisch sensibles Projekt“, das heißt, worin der Auftraggeber unter Umständen Interesse hat, dass eine bestimmte volkswirtschaftliche Investition getätigt wird, die u. U. aber eine volkswirtschaftliche Fehlinvestition darstellt. Ohne dass der Auftraggeber es ausspricht, liegt die Annahme nahe, dass er sich ein so genanntes Gefälligkeitsgutachten erwartet, was aus ethischen Überlegungen von unserer Forschungsgruppe abzulehnen wäre. Da es unter Umständen aus konsequenzialistischer Sicht einen Unterschied macht, ob jemand anderer dieses Gutachten liefert oder dieser Vorgang insgesamt unterbleibt, weil unser Institut der einzige Anbieter ist, müssen diese beiden Fälle unterschieden werden. Die Entscheidung, den Auftrag anzunehmen oder nicht, muss in der Periode 1 getroffen werden, in Periode 2 stellt sich heraus, ob die Investition sinnvoll ist und erst in Periode 3 steht somit das Gesamtergebnis fest. Da sich erst im Laufe der Untersuchungen herausstellen würde, ob die Investitionsentscheidung aus volkswirtschaft-
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licher Sicht in Ordnung ist, ist die Entscheidung eine Entscheidung unter Risiko. Dabei gelten folgende Wahrscheinlichkeiten : Investitionsprojekt ist O.K.: π Investitionsprojekt ist NICHT O.K.: 1-π Aus ethischer Sicht hätte unsere Forschungsgruppe die folgenden Präferenzen im Hinblick auf die möglichen Konsequenzen : A>C, D>B, das heißt, Alternative A wird Alternative C vorgezogen, während Ergebnis D gegenüber Ergebnis B vorgezogen wird. Der Entscheidungsbaum stellt sich für den Fall, dass es auch noch andere Anbieter gibt, demnach wie folgt dar : Periode 1
Periode 2
π Auftrag annehmen 1-π
Periode 3 A: Investition wird zu Recht durchgeführt, JR daran beteiligt B: Investition wird zu UNrecht durchgeführt, JR daran beteiligt
C: Investition wird zu Recht durchgeführt, π JR NICHT daran beteiligt Auftrag nicht annehmen D: Investition wird zu UNrecht 1-π durchgeführt, JR NICHT daran beteiligt
Als Lösung des ethischen Entscheidungsproblems gilt somit : Für π = 0,5 ist es gleichgültig, ob der Auftrag angenommen wird oder nicht. Wenn die Einschätzung π ist kleiner als 0,5 lautet, ist es besser, den Auftrag nicht anzunehmen. Wenn wir die Einschätzung haben, dass π größer als 0,5 ist, soll der Auftrag angenommen werden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass mithilfe dieser Überlegungen eine oft schwer nachvollziehbare subjektive moralische Einschätzung in eine Entscheidung verwandelt wird, die zwar von ebenso subjektiven Einschätzungen abhängt, diesmal aber von Einschätzungen im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit von unterschiedlichen Weltzuständen. Es ist leicht nachvollziehbar, dass diese Art des ethischen Argumentierens über mögliche Konsequenzen der Handlungen auch besser für die Diskussion in Ethikkommissionen etc. geeignet ist als die direkte Diskussion darüber, ob bestimmte Handlungen per se moralisch richtig oder falsch sind. Ein Vorteil besteht darin, dass die moralische Bewertung der Konsequenzen von der ebenso relevanten Ein-
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schätzung von Wahrscheinlichkeiten über den Eintritt dieser Konsequenzen bzw. deren zeitlicher Struktur, die ebenso relevant sein kann, getrennt wird. Der Vorteil besteht auch darin, dass fachliche Expertise, die bei der Einschätzung der Wahrscheinlichkeiten und der zeitlichen Struktur vermutlich Vorteile gegenüber reinen Ethikexperten hat, in das Gesamtergebnis stärker einfließen kann. Allerdings ist diese Art des ethischen Argumentierens auch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft – etwa, dass die moralische Bewertung der Konsequenzen in einem Weltzustand unabhängig von den Konsequenzen in anderen Weltzuständen ist. Zur Diskussion dieses Unabhängigkeitsaxioms siehe broom e (1991). Alle diese Überlegungen, die freilich in dieser Ausführlichkeit nur selten die eigene Reflexion über die individuelle moralische Verantwortung prägen wird, sind grundsätzlich vom Fachgebiet unabhängig und potenziell für alle Kolleginnen und Kollegen in der Forschung relevant. Kommen wir aber nun zur zweiten Frage, zur tendenziell ketzerischen Interpretation der Tätigkeit unserer eigenen Berufsgruppe, wonach wir Ökonominnen und Ökonomen nach wie vor eine sehr spezifische Form der Moralphilosophie betreiben, und worin die spezielle moralische Verantwortung für uns besteht.
Angewandte Ethik als Beruf
Es geht also auch darum, dass viele unserer Arbeiten als Ökonominnen und Ökonomen selbst einen genuin moralischen Charakter haben. Die Frage : „Was sollen wir tun ?“, die oft am Beginn einer Auftragsbeziehung mit unseren Kunden steht, ist zwar meist nicht in dieser Totalität gemeint, offenbart ihren genuin normativen Charakter durch das „Sollen“ und kann durch das Hinzufügen von : „Und was sollen wir vielmehr nicht tun ?“ in die pathetische Ausgangsformulierung des menschlichen Nachdenkens über Moral verwandelt werden. Kritiker, die der These von der Werturteilsfreiheit unserer Wissenschaft anhängen, werden nun einwenden, dass die Frage immer auch mit Zusätzen und Zielangaben versehen ist, etwa : „Was sollen wir tun, um das Verkehrsproblem ökonomisch effizient in den Griff zu bekommen ?“, „Was sollen wir tun, um die ausufernden Sozialausgaben sozial verträglich einzudämmen ?“ oder „Kann man soundso viele Millionen an öffentlichen Mitteln in dieses Infrastrukturprojekt investieren ?“. Das ist natürlich richtig, aber die Tatsache, dass viele Auftraggeber den Wertemaßstab meist implizit und unbewusst mit der Fragestellung übermitteln, bedeutet erstens noch nicht, dass dieser unhinterfragt bleiben muss und wir – „sozialen Ingenieuren“ gleich – nur mehr ein Optimierungsproblem zu lösen haben.
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Zweitens gibt es meist doch Spielraum, den Bezugsrahmen der Untersuchung gemeinsam mit dem Auftraggeber festzulegen. Drittens, und das ist hier vermutlich der entscheidende Punkt, verwenden wir zur Bestimmung der gesellschaftlichen Effizienz nur ein einziges Wertekonzept und Werturteil : Ein Ding ist dann – und nur dann – wert, produziert zu werden, wenn irgendein Individuum seine Produktion für wert befindet, das heißt, wenn die Zahlungsbereitschaft (u. U. die Summe der Zahlungsbereitschaften aller Nutznießer) für dieses Gut zumindest so hoch wie die Kosten seiner Produktion ist. Das ist ein sehr kluges Wertekonzept, weil es die rein „rhetorische“ Produktion eines Gutes, von dem alle sagen, dass sie es toll fänden, solange es die anderen zahlen, verhindert und somit eine Ressourcenverschwendung stoppt. Das ist auch ein elegantes und demokratisches Wertekonzept, weil es uns nicht dazu zwingt, paternalistische Werte zu postulieren, wozu wir als externe moralische Beobachter kein Recht bzw. als Teil der Gesellschaft zumindest kein Vorrecht haben sollten. Es gibt noch viele andere Dinge, die man über das Verhältnis von Nutzentheorie und Ethik sagen könnte und müsste, was hier zu weit führen würde. Einen sehr guten Überblick bieten beispielsweise mong i n und d’as p r e mont (1999). Zu den interessanten Fällen von kollektiven Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit, die unterschiedliche ethische Positionen berücksichtigen (z. B. Utilitarismus oder Egalitarismus) und damit auch Gerechtigkeitsaspekte ansprechen, siehe mye r son (1981), mong i n (1995, 1998), f l eu r baey (1996) oder p r et te nthal e r (2008). Worum alle diese meist recht sophistizierten und formal anspruchsvollen Arbeiten zum Verhältnis von Nutzentheorie und Ethik aber nicht herumkommen, ist die Tatsache, dass eine Präferenz eines Individuums für ein Gut gegenüber einem anderen Gut noch nicht impliziert, dass jenes im moralischen Sinne besser ist als das andere, auch nicht wenn sich alle Menschen auf der Welt darüber einig sind. Auch wenn alle Menschen der Welt eine höhere Zahlungsbereitschaft für ein Kilo Bananen als für ein Kilo Äpfel hätten und deren Produktionskosten annahmegemäß gleich wären, kann daraus noch nicht abgeleitet werden, dass die Produktion von Bananen moralisch wertvoller sei, und zwar aus einem ganz einfachen Grund : Menschen können sich irren. Nun sollten wir meiner Meinung nach nicht den Fehler einer Planwirtschaft machen und einem zentralen Komitee die Frage überlassen, wie viele Bananen und wie viele Äpfel produziert werden sollen, weil die subjektiven Werturteile ausgedrückt in Zahlungsbereitschaften koordiniert über Märkte das erwiesenermaßen besser können. Vor allem könnte man auch meinen, dass diese Frage in moralischer Hinsicht trivial sei. Diese Trivialität hat ihr Ende aber darin, dass wir Ökonomen auch den Wert anderer, nicht-trivialer Güter (bzw.
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„Ungüter“) – wie CO2, Atomkraftwerke oder die Zerstörung des Regenwaldes- mit diesen Konzepten messen. Und auch als Ökonom bin ich bereit, dieses grundsätzliche Unbehagen des Nutzenkonzeptes zu teilen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, als dies viele der auf oft sehr dürftigem Argumentationsniveau agierende Globalisierungskritiker oder Umweltbewegte tun. Ein Kritikpunkt ist etwa die Praxis, für Kosten-NutzenGutachten die verschiedensten Güter, wie Biodiversität, Gesundheit und auch menschliches Leben, mit monetären Werten zu versehen. Angesichts der Wahrnehmung, dass Kosten-Nutzen-Rechnungen so etwas wie die Fetwas der säkularisierten westlichen Gesellschaften darstellen, kann man das Unbehagen, dass diese rein ökonomische Methode so ubiquitäre Anwendung findet, nachvollziehen. Diese Zuschreibung von monetären Werten für verschiedene Güter und Dinge, die wir als werthaft empfinden, die aber für gewöhnlich nicht auf Märkten gehandelt werden, ist jedoch bestenfalls ein Symptom eines Problems, sicher aber nicht das Problem selbst, als das es manchmal dargestellt wird. In der Regel dienen diese Monetarisierungen sehr effizient dem Schutz eben dieser Güter und würden bei anderen Bewertungsmethoden gegenüber den Marktwerten den Kürzeren ziehen. Die Kritik an der allgemeinen Verwendung des Nutzenkonzeptes muss daher aus meiner Sicht tiefer, nämlich bei den humeanischen Wurzeln der Wirtschaftswissenschaften ansetzen, die in der moralphilosophischen Tradition auch längst überwunden sind, nur dass die meisten Ökonomen, insbesondere aber auch die Theoriebildung, dies noch nicht nachvollzogen haben : In einem klassischen humeschen Kontext – broome (1993) nennt ihn „extrem“ – gibt es ein klares Primat der emotionalen Zustände (der „Leidenschaften“) vor der Rationalität. „Reason is, and ought only to be, the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them“. Die Idee, einzelne Präferenzen der Kritik durch die Vernunft – und sei es auch nur durch Verweis auf andere Präferenzen – auszusetzen, ist in einem solchen Kontext einfach nicht denkbar – auch nicht, wenn man argumentieren würde, dass ein Individuum bei Verletzung bestimmter Anforderungen der Vernunft möglicherweise gegen sein eigenes „höheres“ Interesse verstößt, denn, wie Hume an derselben Stelle weiterschreibt, ist es „… not contrary to reason to prefer even my own acknowledg’d lesser good to my greater, and to have a more ardent affection for the former than the latter.“ Jedoch könnte man auch eine moderate humesche Position einnehmen, der Rationalität einen gewissen Einfluss auf Präferenzen einräumen – zumindest formale Rationalitätskriterien, wie etwa Transitivität oder Unabhängigkeitsaxiom, akzeptieren und dennoch ein gewisses Primat der Leidenschaften anerkennen.
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Diese Position, die sich auch auf Aussagen Humes an der bereits zitierten Stelle der Treatise of Human Nature berufen kann, und zwar auf jene zur instrumentellen Rolle der Vernunft zur Erreichung eigener Ziele (ends), wird von der Mehrheit der Ökonomen – wenn auch meist unbewusst – eingenommen. Dort wird ausgeführt, in welchen beiden Fällen man eine Gefühlsregung (affection) als unvernünftig bezeichnen kann : erstens, wenn sie sich auf etwas bezieht, das nicht existiert, und zweitens – wie schon erwähnt –, wenn wir zur Erreichung unseres Zieles untaugliche Mittel gewählt haben. Dies sind die einzigen beiden Fälle, in denen Hume zugibt, dass Emotionen zumindest dadurch kritisierbar sind, dass sie in enger Verbindung mit falschen kognitiven Inhalten auftreten. Freilich beeilt er sich hinzuzufügen, dass es ja eigentlich wieder gerade diese möglicherweise vernünftigen (also nicht emotionalen) Anteile sind, welche hier der Vernunft eine Angriffsfläche bieten. Dennoch : Hier haben moderate Humeaner einen Ankerpunkt für ihre Positionen. Wie broom e (1993) jedoch gezeigt hat, sind diese moderaten humeanischen Positionen nicht haltbar. Das Monströse der humeanischen Weltauffassung, das ich etwa in p r et te nthal e r (2007) versucht habe, qualitativ zu bebildern und das sich am besten in der folgenden Passage einfangen lässt, bleibt bestehen : „‚Tis not contrary to reason to prefer the destruction of the whole world to the scratching of my finger.“ (Humes Treatise, Book II, part iii, sec. 3). Genau das ist der Vorwurf, den man dem globalen ökonomischen Produktions- und Konsumsystem aufgrund seiner Akzeptanz dieser Prämisse der schottischen Aufklärung machen kann : Für den rational nicht begründbaren Wunsch nach teils äußerst trivialen Konsumgütern wird die Zerstörung ganzer Landstriche in Kauf genommen. Alle ökologischen Steuerreformen, Emissionszertifikate, die alle wertvolle Instrumente in der Eindämmung der (unintendierten) Umweltzerstörung sind, werden genau dieses eine Problem nicht lösen : Wenn die Mehrheit der Bevölkerung nach aller Einpreisung der Umweltzerstörung z. B. noch immer darauf bestehen würde, vergoldete oder mit Platin beschichtete Wegwerf-Babywindeln auf Teakholzbasis kaufen zu wollen, werden dafür nach der Logik unserer ökonomischen Wohlfahrtstheorie zu Recht ganze Kontinente umgegraben und mit Plantagen überzogen. Die hervorragende Verwendbarkeit all unserer formalen Methoden der Nutzentheorie, die – wie broom e (1999) zeigt – auch für genuin moralische Fragen bestens anwendbar ist, entbindet uns Ökonominnen und Ökonomen aus meiner Sicht nicht der Verpflichtung, in den Dialog mit substanziellen ethischen Theorien einzutreten, die den Menschen bestimmte Werthaltungen direkt nahebringen wollen und sich nicht aus den subjektiven individuellen Wertempfindungen alleine herleiten lassen.
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Bibliografie
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Werner Theobald
Umweltethik – eine kritische Bestandsaufnahme Dem Menschen ist aufgetragen, die Umwelt zu gestalten, sie so zu gestalten, dass sie dem Menschen optimaler Lebensraum sein kann. Diese Gestaltung hat aber Maß zu nehmen an den Regelabläufen der Natur in der Beachtung ihrer Belastbarkeitsgrenzen, an den Bedürfnissen der nachfolgenden Generationen, an der Möglichkeit des Fortbestehens von Leben überhaupt. Die Tatsache, dass der Mensch in der Tradition als „Krone der Schöpfung“ bezeichnet worden ist, darf nicht in eine Haltung der Ausbeutung der Schöpfung durch den Menschen führen, sondern setzt ihn vielmehr in die Verantwortung der Schöpfung und seinen Mitmenschen, den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen, gegenüber. Soweit die Handlungswirkungen reichen, reicht auch die Verantwortung. Diese Verantwortung wird in diesem Mariazeller Dialog auf verschiedenen Feldern konkretisiert und in dieser Verantwortung sollen Handlungsmodelle entwickelt werden. Der Mariazeller Dialog 2010 steht ganz im Zeichen von Umweltforschung, -technik und Ethik …1
Wenn ein Ethiker diese Sätze hört oder liest, wird er (wahrscheinlich) protestieren. Zu viel ist darin die Rede vom „Sollen“ („Dem Menschen ist aufgetragen, …“) und „Müssen“ („Diese Gestaltung hat aber Maß zu nehmen …“), vom „Nicht-dürfen“ und existenziellen Verpflichtungen – es werden hier Normen gesetzt und ihre Gültigkeit als fraglos bzw. unbezweifelbar vorausgesetzt – oder mit den berühmten Worten Arthur Schopenhauers : „Hier wird Moral gepredigt.“ Als Aufgabe der Ethik, um die es in diesem Dialog gehen soll, gilt nicht das (dogmatische) Setzen oder Predigen von Moral, sondern ihre Begründung. Genauer : Die rationale, für jeden vernünftigen Menschen nachvollziehbare Begründung von Normen wird als das Geschäft der Ethik erkannt und anerkannt. Das gilt auch – und insbesondere (Birnbacher 1991, 286f.) – für die Umweltethik. Der Rekurs auf „die Schöpfung“ beispielsweise und eine daraus folgende Verantwortung gelte ihr als nicht rational, da er weltanschaulich-religiös gebunden sei und in einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr als universalisierungsfähige Normgrundlage gelten könne. Allenfalls den Schluss von einer evolutionären Sonderstellung des Menschen auf eine besondere Verantwortung gegenüber der Natur und seinen Mitgeschöpfen hält man zum Teil für tragfähig (Busch et al. 2002). Ich werde mich im Folgenden 1 Ankündigung des von der Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ veranstalteten Mariazeller Dialogs 2010 : „Ethik der Umweltforschung“
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mit den wichtigsten umweltethischen Begründungsansätzen und -modellen beschäftigen und sie ihrerseits einer kritischen Prüfung unterziehen. Die ersten Versuche, Begründungen für den moralisch richtigen Umgang mit der Natur zu entwickeln, waren noch recht unbeholfen. Man bewegte sich in einem dualistischen Modell, dessen Pole mit den Begriffen „Anthropozentrismus“ versus „Physiozentrismus“ markiert wurden. Beides waren konkurrierende, einander radikal ausschließende Ansätze : Der Anthropozentrismus stand für einen Schutz der Natur im Interesse des Menschen (reiner Umwelt- bzw. Ressourcenschutz), der Physiozentrismus für einen Schutz der Natur „um ihrer selbst willen“ (Naturschutz). Während der Anthropozentrismus unmittelbar einsichtig und nachvollziehbar war, galt der Physiozentrismus als mit uneinlösbaren Begründungslasten verbunden. Das war die umweltethische Situation in den 70er- und 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Anfang der 90er-Jahre kam es zu einer Ausdifferenzierung dieses Dualismus in ein mehrdimensionales Modell der Umweltethik. Es bestand aus vier Dimensionen, die eine schrittweise Erweiterung der anthropozentrischen Perspektive vorsahen : 1. Zum Pathozentrismus, der über das universalisierungsfähige Wertekriterium „Leidensfähigkeit“ auch Tiere zu moralischen Subjekten machte 2. Zum Biozentrismus, der die organische Natur (z. B. Pflanzen) in den Bereich des Schutzwürdigen einbezog 3. Zum Holismus, der die gesamte Natur (auch Landschaften, Ökosysteme usw.) als schutzwürdig auswies Die ehemals physiozentrischen Intuitionen wurden dabei entweder ästhetisch rekonstruiert (Böhme 1989, Krebs 1996, Seel 1996 u. a.) oder über einen so genannten Integrity-Ansatz (Westra 1994) rationalisiert. Heutzutage ist der umweltethische Diskurs so weit ausdifferenziert, dass er über dieses mehrdimensionale Modell hinaus – das komplexere, differenziertere Bewertungen möglich machte – Brücken schlägt zur Ökonomie, zur politischen Theorie oder zu den Agrar- und Ernährungswissenschaften. So gilt z. B. der Klimaschutz mittlerweile als Querschnittsauf gabe, bei der Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, der Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen, der Energieversorgung, Armutsbekämpfung und Landnutzung gleichzeitig ineinander greifen (Ott 20092). All diese verschiedenen Ansätze der Umweltethik einigt ein Paradigma : die Orientierung an der Vernunft. Gerade die Umweltethik versteht sich als normbegrün 2 http ://www.aknw.de/data/aktuelles/detail/1248686269–9799463.pdf
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dendes Unternehmen, das heißt, als ein solches, das auf die Überzeugungskraft von Argumenten setzt. Nun hat die Umweltbewusstseinsforschung gezeigt, dass die „Macht der Vernunft“ im Bereich des Umweltschutzes sehr begrenzt ist. Es besteht faktisch keine sonderlich hohe Korrelation zwischen dem Wissen über Umweltprobleme, der daraus resultierenden Einsicht in nötige Verhaltensänderungen und dem Umwelt verhalten selbst. Die stärkste Beziehung besteht noch zwischen der so genannten Handlungsbereitschaft und dem Umweltverhalten, das heißt, wer die Absicht bekundet, sich für die Umwelt einzusetzen, verhält sich auch umweltgerechter als jemand, der diese Absicht nicht äußert – wobei es auch Studien gibt, die selbst diesen Zusammenhang infrage stellen. Ein Beispiel : Der amerikanische Psychologe L. Bickman führte folgendes Experiment zum Umgang mit Abfall durch :3 Vor einer Collegebibliothek wurde mitten auf dem Fußweg eine zerknüllte Zeitung auf den Boden gelegt. Sie war so platziert, dass Fußgänger darüber steigen oder um sie herum gehen mussten. Es war also garantiert, dass die Vorbeikommenden auf den Abfall aufmerksam wurden. Ein Papierkorb stand in unmittelbarer Nähe. Jede fünfte Person, die vorbeiging, wurde zehn Meter weiter von einem Mitglied der Forschergruppe Bickmans angehalten. Man erklärte, dass man im Rahmen eines Ökologiekurses Interviews über das Abfallverhalten durchführe. Die entscheidende Frage, die den Passanten im Verlauf der Interviews gestellt wurde, lautete : „Wenn Müll auf dem Boden liegt, sollte es dann in die Verantwortung aller fallen, den Müll aufzuheben, oder sollte dies die Angelegenheit der städtischen Straßenreinigung sein ?“ 94 Prozent der Befragten antworteten, dass es in die Verantwortung aller fallen sollte, den Müll aufzuheben. Insgesamt wurden 506 Personen auf diese Weise befragt – von ihnen hatten nur 8 Personen, das heißt, ganze 1,4 Prozent den Müll tatsächlich aufgehoben. Wie sehr Einsicht und Verhalten im Bereich des Umweltschutzes auseinanderfallen, zeigt auch dieser demoskopische Befund : Nahezu 90 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung stufen es als „sehr wichtig“ ein, die Umwelt vor Verschmutzung zu bewahren (HK 1996, 71) und knapp 70 Prozent glauben, dass ein globaler Temperaturanstieg für sie „sehr“ bzw. „extrem gefährlich“ sei (HK 1996, 69), aber nur knapp 20 Prozent sind bereit, weniger mit dem Auto zu fahren (HK 1996, 81) – obwohl sie wissen, dass die durch das Autofahren entstehenden CO2-Emissionen die Umwelt verschmutzen und für den Treibhauseffekt wesentlich verantwortlich sind. Die Bereitschaft, weniger mit dem Auto zu fahren, rangiert in Deutschland 3 Bickman (1972), zit. nach Haan/Kuckartz (1996), 107 (im Text abgek. als HK 1996).
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sogar noch hinter der hypothetischen Bereitschaft, finanzielle Opfer für die Erhaltung des Regenwaldes zu erbringen (ebd.). Die Umweltethik steht also vor einem grundsätzlichen Dilemma : Selbst, wenn es ihr gelingen sollte, mithilfe normbegründender Argumentationen allgemein geteilte Einsichten zu generieren – was bis heute nicht der Fall ist (vgl. Theobald 2006) –, selbst, wenn man über ein schlüssiges, allseits überzeugendes Konzept von Umweltethik verfügte – was ebenfalls bis heute nicht der Fall ist –, blieben noch genügend Motivationsprobleme übrig (vgl. dazu auch Ott 2001, 35). Und : Selbst, wenn diese gelöst wären, bliebe immer noch das konstatierte Vollzugsdefizit. Anders formuliert : Moralische Argumente, sie mögen noch so gut theoretisch be gründet sein, bewirken nicht per se Einstellungsänderungen von der Art, dass sie ein konsequentes Handeln nach sich zögen. Schon Augustinus, einer der ersten Argumentationstheoretiker, hat dies in aller Klarheit erkannt. Er sagte : Damit „sittliche“ Argumente – also Argumente, die darauf aus sind, ein bestimmtes Verhalten zu bewirken – ihr Ziel auch erreichen, dürfen sie nicht nur rational überzeugen, sondern müssen ihre Adressaten auch „rühren“ (Augustinus 1925, 187). Mit anderen Worten : Moralische Argumente müssen, damit sie handlungsleitend werden, auch tiefere, emotionale Schichten ansprechen. Erst durch das Zusammenspiel von Vernunft und Gefühl werden „stabile“ Überzeugungen möglich, denen auch entsprechende Handlungen folgen. Nun hat die Moderne ein zwiespältiges Verhältnis zum Gefühl. Einerseits, in ihren ethischen Fundamenten auf ihm beruhend, verdankt sie ihm (nahezu) alles. Ohne die Aufwallung des Protestes, ohne die „Parteinahme des Gefühls“ (Hans Jonas), würde es so etwas wie die Menschenrechte – als politisch-juristischen Rechtsanspruch – nicht geben. Es war das Gerechtigkeitsgefühl, das die Menschen 1789 für „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ auf die Barrikaden gehen ließ ; keine noch so gut begründete moralphilosophische bzw. ethische Theorie hätte dies zu leisten vermocht.4 („Die Vernunft erzählt Geschichten, die Leidenschaften drängen zur Tat“, konstatierte Rivarol). Andererseits ist die Moderne, ihrem aufklärerischen Grundimpetus entsprechend, extrem gefühlsskeptisch bzw. -aversiv eingestellt. Sie setzt eher auf die „Macht der Vernunft“. Diese Abwertung des Gefühls zeigt sich auch auf der Ebene ethischer Reflexion. Emotionen wird in nur eingeschränktem Maße ethische Bedeutsamkeit zugestan4 Revolution, schrieb Camus, sei zwar „Bewusstwerdung“ und insofern (auch) ein kognitiv-reflexiver Prozess : „die plötzlich durchbrechende Erkenntnis, dass im Menschen etwas ist, womit er sich identifizieren kann.“ Diese Identifizierung wurde bis zum Zeitpunkt des Revoltierens aber nicht wirklich gefühlt (Camus 1969, S. 15). Davon unberührt bleibt die kulturgeschichtliche Tatsache, dass Humanismus und Menschenrechtsidee ohne die christliche Tradition nicht zu denken wären (Theobald 2008).
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den, insofern sie (analog zur Rolle von Daten im Rahmen empirischer Theorien) dazu dienen können, Moraltheorien zu falsifizieren (Habermas 1983, 60) – bspw. dann, wenn solche Theorien so genannte „kontraintuitive Konsequenzen“ haben (Bayertz 1988, 95 ; Krebs 1997, 349). In positivem Verstande wird ihnen ethische Bedeutsamkeit weitgehend aberkannt. Wer sich im Rahmen umweltethischer Überlegungen von Emotionen oder gar Intuitionen leiten lässt, gilt als naiv, unreflektiert oder sentimental (Birnbacher 1998, 21). In ihrer Spezifik, das Emotionale abzuspalten, verfehlt die moderne Ethik so jedoch die „motivationale Anziehungskraft“ des Guten – nicht nur in der Theorie, indem die „Attraktivität des Guten […] auf das Gefühlsleben“ ausgeblendet wird, sondern auch in der Praxis, indem man ein wichtiges Element für die Wirksamkeit von Ethik preisgibt (Schockenhoff 2007, 50). Ein Ausweg aus diesem Dilemma scheint nur möglich, wenn man das rationalistische Selbstverständnis der Umweltethik überwindet. Ethik, damit sie handlungsleitend wird, muss mehr sein als ein reines „Begründungsprojekt“, das die Frage seiner Umsetzung als nachgeordnetes Problem behandelt und im Sinne einer Art Sozialtechnologie versteht – sie muss sich an den ganzen Menschen richten. Aus der Moralpsychologie weiß man inzwischen, dass sich z. B. Verantwortung – ein Schlüsselbegriff der Ethik – in den „Tiefenschichten“ der Persönlichkeit (Rosenau 2006) und nicht durch die Vernunft allein bildet. Selbst institutionenethische Ansätze, die den Einzelnen von seiner „Verantwortung“ entbinden und diese einem ordnungspolitischen Regelungsmechanismus übertragen wollen, bleiben letztlich auf diese subjektive Komponente angewiesen (SRU 1994, Theobald 1997). Wie aber kann man die Tiefenschichten der Persönlichkeit erreichen, Emotionen ansprechen, die Motivationen erzeugen, ohne dabei die Vernunft preiszugeben ? Ich möchte zur Beantwortung dieser Frage zunächst auf einen Paralleldiskurs eingehen – auf einen nicht so sehr umweltethischen, sondern eher bioethischen Diskurs : auf die aktuelle Auseinandersetzung mit der „inneren Natur“, der Natur bzw. dem Wesen des Menschen. Beide Diskurse, der bio- und umweltethische, hängen zusammen, da unser Naturverständnis, die Sicht der „äußeren Natur“, letztlich von unserem Selbst verständnis abhängt. Die Frage nach der Natur oder dem Wesen des Menschen wurde seit Jahrzehnten nicht mehr gestellt. Dies hing damit zusammen, dass die Philosophische Anthropologie, welche die Spezialistin für die Beantwortung dieser Frage war, seit einem halben Jahrhundert als „tot“ galt. Die Existenz, der je eigene Entwurf des Menschen, so das Fazit des Existenzialismus vor ca. fünfzig Jahren, gehe der Essenz voraus. Jede Diskussion über ein vorgängiges Wesen des Menschen schien damit beendet zu sein. Was die Existenzialisten nicht wissen konnten, war, dass man Jahrzehnte später, nämlich heute, mit jener Formel praktisch Ernst machen
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würde. Wir entwerfen heute Menschen und zwar auf eine Weise, wie sie bislang undenkbar schien : als Klone, Mensch-Tier-Hybriden oder nanotechnologisch optimierte Organismen. Im Zuge solcher Visionen, welche die Chance haben, durchaus einmal Realität zu werden, beschäftigt man sich nun mit dem moralischen Gefühl des „Abscheus“ (Hauskeller 2009). Ist es doch dieses – tiefe – moralische Gefühl – Habermas (1998) spricht von einem „archaischen Abscheu“ –, das viele bei der Vorstellung von „geklonten Ebenbildern“ empfinden (Habermas 1998, 13). Die rationalistische Ethik attestiert ihm einen rationalen Kern : Es seien die mangelnde Autonomie und „Unfreiheit des Klons“, dessen Identität durch gezielte menschliche Produktion prädeterminiert werde (ebd.), die den archaischen Abscheu vor ihm hervorriefen. Tatsächlich dürften die Verhältnisse jedoch anders liegen. Das zeigt etwa ein Blick aus tiefenpsychologischer Perspektive. Hinter dem „archaischen Abscheu“, so der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs, stehe ein „mächtiges archetypisches Motiv“ – ein Motiv, das nicht nur Abscheu, sondern auch Schauder und Faszination zu erwecken vermöge (Fuchs 2000). Diese Deutung scheint adäquater zu sein als die rationalistische, ist es doch jene ambi valente Mischung von Gefühlen, die von den Visionen moderner Biotechnologie typischerweise hervorgerufen werden. Um welches Motiv handelt es sich genau ? Es sei, so Fuchs, der Archetypus des Doppelgängers. Das Doppelgängermotiv zeige sich bereits in archaischen Vorstellungen von der Seele. Das Ka der Ägypter, die Psyche der Griechen und der Genius der Römer seien jeweils unsichtbare Abbilder oder Doppelgänger eines Menschen, die nach seinem Tod als Seelenschatten fortdauern – zugleich repräsentierten sie seinen „Dämon“, sein Schicksal und Verhängnis. Der „unheimliche Doppelgänger“ sei aber auch ein zentrales Thema der Romantiker und ihrer Nachfahren. Ob als verselbstständigtes Spiegelbild, als halluzinatorische Truggestalt oder als abgespaltenes, triebhaftes alter ego – immer erscheine er als Verkörperung der „Nachtseite des bewussten Ich“, jener Seite der Person, die Furcht und Entsetzen, aber auch eine geheime Faszination auszulösen vermag (Fuchs 2000, 56). Worin besteht dieses „Unheimliche“ und seine Faszination ? Fuchs zeigt, dass es einerseits das Todessymbol ist, für das der Doppelgänger steht, andererseits aber auch die Verheißung der Überwindung des Todes, die Verheißung von Wiedergeburt und Unsterblichkeit (57ff.). Das gelte bereits für den archaischen Seelenschatten, der den Tod begleitet und zugleich überdauert ; das gelte aber auch für die Fantasien und Projekte künstlicher Lebenszeugung : Der Mensch begegne im Klon seinem eigenen Leben von außen, das heißt, aus der Perspektive des Todes – in seiner Fantasie aber glaube er, den Tod zu überwinden, indem er sich selbst technisch reproduziert (59ff.). „Es gehört zu unserem Leben und Lebendigsein,
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dass es seinen Grund in einer Tiefe hat, die nie ganz in die Helligkeit des rationalen Begreifens zu bringen ist“, resümiert Fuchs (68). Das heißt : Auf dem Grunde unserer moralischen Gefühle, in der Tiefe5 unseres Erlebens von Natur stoßen wir auf Dimensionen, die eher auf metaphysischreligiöse als auf rationalistisch-profane Inhalte verweisen. Das ist im Falle unserer moralischen Beschäftigung mit der „äußeren“ Natur nicht anders. Auch hier kann man beobachten, dass es eine Reihe von Emotionen (genauer : Intuitionen) gibt, die – bezeichnenderweise – im Zuge der modernen Umweltkrise aufkamen und letztlich auf metaphysische Dimensionen verweisen : die fundamentale Intuition eines „Eigenwerts“ der Natur, ohne die z. B. der Artenschutz nicht denkbar wäre (vgl. Gorke 1999) ; das „Trauern“ um einen alten gefällten Baum, das mehr ist als die Trauer über den Verlust eines „Sauerstoffproduzenten“ – überhaupt die vielen verschiedenen Formen einer „wesenhaften“ Wahrnehmung der Natur, wie ich sie in meinem Buch „Mythos Natur“ (Theobald 2003) beschrieben habe. Sie stehen letztlich hinter dem, was die traditionelle Umweltethik als „ästhetische Naturerfahrung“ zu rekonstruieren versucht und auf diese Weise nicht rekonstruieren kann – weil sie die Eigenart solcher Phänomene verkennt. Nur sie aber erklärt das leidenschaftliche Engagement für die Natur, das viele heute an den Tag legen – und das trotz seiner (vermeintlichen) „Irrationalität“ selbst rationalistisch gestimmten UmweltethikerInnen als „ehrbar“ und „lobenswert“ erscheint. Allein das sollte ihnen zu denken geben. Last but not least : Auch der eingangs erwähnte IntegrityAnsatz, der als alternative Rationalisierung bestimmter Naturschutzintuitionen ersonnen wurde, erweist sich bei genauerer Betrachtung als Rekonstruktion eines ursprünglich metaphysischen Konstrukts : der Telos-Idee der aristotelischen Metaphysik (Hauskeller 2009, 85ff.) – wie überhaupt des 4-Dimensionen-Modells der modernen Umweltethik als solches –, die auch auf diese zurückgehen : auf die vier Formen des Seelischen in Aristoteles „De anima“ und die daraus abgeleitete „scala naturae“. Die Metaphysik aber ist nichts anderes als die Fortsetzung der Theologie mit anderen Mitteln. Das heißt : Natur- und Umweltschutz haben – auch, wenn es den wenigsten bewusst ist – viel mit Religion zu tun. Nicht ohne Grund bezeichnete selbst einer ihrer Kritiker die Umweltbewegung als eine „kosmologische Erweckung großen Stils“, als „ein Volksbegehren nach Schöpfung“, das erstaunlicherweise selbst von Atheisten unterschrieben wurde (Timm 1991). Thomas Mann hat diese profanreligiöse Doppelgesichtigkeit unseres Verhältnisses zur Natur in wenigen Zeilen auf den Punkt gebracht : 5 Zum Topos der „Tiefe“ vgl. Theobald (2004).
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„Ist nicht der Strom ein Gott ?“, fragte er in seinem Josephs-Roman : „Hat er nicht das Land geschaffen, und nährt er es nicht ? Das hindert nicht ein sachliches Verhältnis zu seinem Wasser, nüchtern gleich diesem : man trinkt’s, man befährt es, man wäscht seinen Leinen darin, und nur das Wohlgefühl, das man empfindet beim Trinken und Baden, mag einer Mahnung an höhere Gesichtspunkte gleichkommen : Zwischen Irdischem und Himmlischem ist die Grenze fließend, und nur ruhen zu lassen brauchst du dein Auge auf der Erscheinung, damit es sich breche ins Doppelgesichtige.“6
Diese Doppelgesichtigkeit der Natur, ihre zugleich profane wie metaphysisch-religiöse Dimension, zeigt auch der Ökothriller „Protectors“, in dem es um die Motive des politischen Umweltengagements geht … … ein letzter Rundblick über den „wunderbaren Planeten Erde“ – die Macht der Bilder zeigt es : Wir sind wieder beim Thema „Schöpfung“ angelangt ; bei dem Thema, von dem dieser Beitrag seinen Ausgang nahm und das sich aus der inneren Logik des Umweltbewusstseins heraus durchaus als „rational“ erweist (auch, wenn der Begriff „Schöpfung“ in diesem Bewusstsein nicht explizit vorkommen muss).7 Beim Schöpfungsglauben geht es aber letztlich um die elementare Frage (ich zitiere aus einem früheren Werk Benedikt XVI., damals noch Kardinal Joseph Ratzinger), „ob die Vernunft bzw. das Vernünftige am Anfang aller Dinge und auf ihrem Grunde steht oder nicht“, ob die Welt auf Zufälligkeiten aufbaue, „oder ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung des christlichen Glaubens und seiner Philosophie bildet : In principio erat verbum – am Anfang steht die schöpferische Kraft der Vernunft“ (Ratzinger 2005, 146). „Der Logos aller Welt, der schöpferische Urgedanke“, so Ratzinger an noch früherer Stelle (Ratzinger 2000, 136), sei aber „zugleich Liebe, ja, dieser Gedanke“ sei schöpferisch, „weil er als Gedanke Liebe und als Liebe Gedanke“ sei. Wahre Liebe aber, Liebe, die nicht bloß Gefühl sei, sondern „alle Kräfte des Menschseins“ einbeziehe, „den Menschen sozusagen in seiner Ganzheit“ integriere, sei niemals „fertig“ und vollendet ; sie sei lebendig und schenke Leben (Benedikt XVI. 2006, 17) – wie der schöpferische Urgedanke, der Logos selbst. Eine Umweltethik, die den (Tiefen-)Aspekt der Natur als Schöpfung 6 Mann (1991), 217. 7 Zum Rationalitätsgehalt von Schöpfungsglaube und Religion vgl. Hübner (2001).
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(mit) im Blick hat, kann daher nicht abgeschlossen sein im Sinne eines konsistenten argumentativen Lehrgebäudes. Und sie muss es auch nicht. Es genügt, wenn sie „ansteckt“, etwas bewirkt (neue Gedanken, Einsichten, Haltungen, Motivationen) – kurz : wenn sie „neue Dimensionen“ (Benedikt XVI. 2006, 8) eröffnet. Dazu möge schließlich ein – letzter – Gedanke beitragen, mit dem ich die Brücke zum praktischen Aspekt schlagen möchten : den „Green Jobs“. Emotionen und Intuitionen, der – psychologisch gesprochen – gesamte Bereich des Nicht- oder Vor-Bewussten, ist, wie man inzwischen weiß, derjenige Bereich, dem Kreativität und Innovation entspringen. Wissenschaftstheorie und Kreativitätsforschung sprechen in diesem Kontext vom „Entdeckungszusammenhang“, den sie – bezeichnenderweise – dem Begründungszusammenhang entgegensetzen. Innovative Umwelttechnologien sind unmittelbarer Ausdruck von Kreativität. Sie sind darüber hinaus konnotiert mit „sauberer“ Energie, der „Frische“ des Windes, dem „Licht“ der Sonne und „hoffnungsvollem“ GRÜN – alles Gestalt- oder Wesensqualitäten der Natur, die einen durchatmen, Energie tanken oder Optimismus „schöpfen“ lassen. Egal, welche Prognosen man ihnen bescheinigt, ich bin sicher, dass diese Technologien eine Zukunft haben werden, denn sie „passen“ auf genau jene Tiefendimension, die das Umweltbewusstsein selbst besitzt. Und : Statt „verkopfter“ Risikoszenarien des traditionellen „Green Movements“ („Bekämpfung komplexer und globaler Probleme wie Klimawandel“ etc.) bieten sie eine positive Vision, welche die gesamte Gesellschaft anspricht : neben den technologischen Innovationen als solchen Investitionen in erneuerbare Energien, Lebensqualität, grünes Wachstum und Hightech-Jobs, die in das Zentrum politischer Strategien gestellt werden sollen.8 Die Umwelt- und Ressourcenökonomen sind da freilich etwas zurückhaltender : Innovative Energien, so heißt es, seien zwar zweifellos umweltfreundlich, einige von ihnen seien auch ökonomisch effizient (Windenergie), ob sie aber auch zu positiven Arbeitsmarkteffekten führen, müsse nach derzeitigen Erkenntnissen als fraglich gelten (Frondel et al. 2009). Ihre positive Wirkung entfalteten diese Technologien nur im Rahmen eines Energiemix, so das Credo der kühlen Rechner. Apropos Ökonomie : Ich hatte Ende des Jahres 2009 ein längeres Fachgespräch mit einem Ressourcenökonomen, worin dieser folgende umweltethische Position vertrat : Der Dreh- und Angelpunkt für die Bewältigung der Umweltprobleme, so meinte er, seien die Präferenzen der jetzt Lebenden – nicht die Präferenzen zukünftiger Generationen, über die wir ja gar nichts wüssten. Man müsse sich fragen : „Inwiefern bin ich bereit, das Wohl meiner Kinder und Kindeskinder in meine eigenen Präferenzen einzubeziehen, auf bestimmte meiner Bedürfnisse zu verzichten für 8 Nils, Simon (http ://carta.info/16294/klimapolitik-paradigmenwechsel/)
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die Zukunft meiner Kinder und Kindeskinder ?“ Abgesehen davon, dass wir durchaus etwas über die Präferenzen zukünftiger Generationen wissen (auch sie werden saubere Luft zum Atmen schätzen, auf erträgliche klimatische Bedingungen Wert legen etc.) und das Argument implizit auch die Annahme solcher Bedürfnisse unterstellt (das „Wohl“ der Kinder), ist es ein merkwürdiges Argument. Für den, der Kinder hat, dürfte (und sollte) es selbstverständlich sein, dass ihm deren „Wohl“ am Herzen liegt – in der Sprache der Ökonomie : dass es in seine Präferenzen eingeht. Wenn er sich erst die Frage stellen muss, inwiefern er bereit sei, es in seine eigenen Präferenzen einzubeziehen, stimmt irgendetwas an der Beziehung zu ihnen nicht. Dann helfen aber auch keine moralischen Argumente. Mit unserem Verhältnis zur Natur ist es ähnlich : Wenn wir keine „Beziehung“ zu ihr haben, wenn sie nur reines Material oder nur reiner Rohstoff zur Verwirklichung unserer Interessen ist, wird keine Umweltethik, sie mag noch so gut argumentativ begründet sein, etwas an den damit verbundenen Problemen ändern (ich erinnere noch einmal an das diskutierte Motivations- und Umsetzungsproblem). Genau dies ist der Punkt, an dem ein „Umdenken“ ansetzen muss, wenn sich tatsächlich etwas ändern soll. Bisher geschmähte Ansätze der Umweltethik, wie beispielsweise die „Tiefenökologie“ (Deep Ecology) oder die skizzierten Eigenwertintuitionen, die in einer Art „Wesenserfahrung“ der Natur gründen, sind Ausdruck einer Beziehung zur Natur. Man muss nur genau hinschauen, um sie zu erkennen. Und : Man muss sie ernst nehmen und nicht als sentimental, vormodern oder naiv diskreditieren. Dass man sie ernst nehmen darf, dafür spricht der uralte Schöpfungsgedanke ebenso wie die moderne Rationalitätstheorie, die verschiedene Zugänge zur Wirklichkeit kennt (vgl. Hübner 1987 ; Theobald 2003, 135ff. und Theobald 2006, 108f.). Man kann es auch einfacher haben : indem man sich einfach von der faszinierenden Schönheit der Natur, die Ausdruck einer fantastischen Schöpfungsidee ist, anstecken lässt.
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Sara-Friederike Blumenthal
Wissenschaftsbezogene Ethikinitiativen supra-/nationaler Organisationen im europäischen Forschungsraum1
Einleitung
In der vorliegenden Arbeit „Wissenschaftsbezogene Ethikinitiativen supra-/nationaler Organisationen im europäischen Forschungsraum“ werden unterschiedliche Formen der Setzung ethischer Standards für die Wissenschaft durch Organisationen im europäischen Forschungsraum analysiert. Hierbei werden wirtschaftswissenschaftliche, soziologische, politologische, philosophische und pädagogische Ansätze zusammengeführt. Neben einer kurzen Darstellung der Entstehung von Ethikinitiativen und einer Datensammlung über Ethikinitiativen ist es das wesentliche Ziel der Arbeit, die Inhalte aktueller Initiativen zu beleuchten. Hierbei wird der Frage nach der Verwendung von Schlüsselterminologien der Ethik, wie etwa Moral, Freiheit, Verantwortung und Menschenwürde, nachgegangen. Der erst aufkommenden Konjunktur des Themas geschuldet, gibt es vor allem im deutschsprachigen Raum wenig Forschung zu Ethikinitiativen und -kodizes2 (vgl. Winkler/Remišová 2007, S. 158). Besonders deutsche Unternehmen bevorzugen einen informellen Umgang mit moralischen Fragen (vgl. Palazzo in Winkler/ Remišová 2007, S. 159), die Nutzung von Ethikinitiativen wird in der europäischen Debatte eher skeptisch gesehen (vgl. Köpke/Röhr 2003, S. 182). Die Frage der Chancen und Risiken wissenschaftsbezogener Ethikinitiativen habe ich im Rahmen dieser Arbeit wie folgt beantwortet : Ethikinitiativen sind potenziell flexible und vielseitige Instrumente der Selbstregulierung von Organisationen. Grundlegend ist bei der Implementierung einer Ethikinitiative, dass nicht bloß eine Kommunikation nach außen, sondern auch ein Bildungsprozess bezüglich der ethischen Aspekte wissenschaftlicher Arbeit im Inneren der Organisation vonstat1 Diplomarbeit im Fach Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin, durchgeführt als Fellow der „Arbeitsgruppe Ethik in Forschung und Technik“ der joan n eu m r e s earc h ForschungsgesmbH im Jahr 2008. Begutachter waren Prof. Dr. Tobias Rülcker (Erstgutachter), Prof. Dr. Christoph Wulf (Zweitgutachter), beide FU Berlin, und Prof. Dr. Leopold Neuhold, KFU Graz. Für die Veröffentlichung bearbeitet. 2 An der TU Chemnitz wurde von Dr. Ingo Winkler 2007 zu „Ethikkodizes der Dax 30 Unternehmen“ geforscht, vgl. Winkler/Remišová in Lang/Schmidt 2007
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ten geht. Im Prozess einer solchen lernenden Ethikinitiative gilt es zu reflektieren, dass Handlungen, die legal sind, nicht ethisch sein müssen. Ethikinitiativen können nutzbar gemacht werden, um den Anspruch, mit dem berufliches Handeln ausgeführt wird, einem ethischen Ideal näherzubringen. Ein wichtiger Moment ist in diesem Zusammenhang die Herstellung eines Berufsethos. Ein disziplinenübergreifender Aspekt des Berufsethos von WissenschafterInnen ist redliches wissenschaftliches Arbeiten. Die Vermittlung der Praxis guten wissenschaftlichen Arbeitens sollte in der Ausbildung von WissenschafterInnen gefördert werden (DFG 1998). Dies impliziert das Streben nach einem integrativen, diskriminierungsfreien Arbeitsumfeld. Ethikinitiativen sollten bezüglich des Schutzes von Mensch, Tier und Natur ein höheres Niveau als rechtliche Regelungen haben. AdressatInnen von Ethikinitiativen sollten dazu angehalten werden, Gesetzgebungen, welche nicht ethisch sind, zu kritisieren und auf eine Verbesserung dieser Gesetzgebungen hinzuarbeiten. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass Ethikinitiativen gewerkschaftliche Arbeit und gesetzlich geregelte Sozial-, Umwelt und Arbeitsstandards aber keinesfalls ersetzen, sondern bloß ergänzen können (vgl. Beisheim in Bass 2004, S. 173). Durch Ethikinitiativen werden sich Menschenrechtsverletzungen, die Ausbeutung von Tieren und natürlichen Ressourcen nicht im Handumdrehen verhindern lassen. Ein angemessener Vergleich bezüglich der Wirkung von Ethikinitiativen ist wohl weniger der zur Erreichung eines ethischen Idealzustands, als der zur Wirkung anderer Politikinstrumente (vgl. ebd., S. 181). So sind im Zusammenhang globaler Zuliefererketten gesetzliche Regelungen träge und hinken Formen der Selbstregulierung hinterher. Auch bezüglich der Forschung erfassen gesetzliche Regelungen aktuelle Entwicklungen häufig nicht. Auch hier haben Ethikinitiativen durch ihre Flexibilität einen Vorteil. Die Arbeit ist in vier Teile gegliedert : 1. Darstellung der Genese von Ethikinitiativen 2. Organisations- und Initiativenrecherche 3. Analyse der Ethikinitiativen 4. Reflexion der Analyse mit Hinblick auf die Entwicklung einer Ethikinitiative für das Forschungsunternehmen joan n eu m r e s earc h Das Menschenbild, welches meiner Arbeit zugrunde liegt, ist an die Ausführungen von Zygmunt Bauman in Postmoderne Ethik angelehnt. Menschen sind weder gut noch schlecht, sondern moralisch ambivalent. Die menschliche Fähigkeit zum mo-
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ralischen Handeln lässt sich nicht durch starre Leitlinien regulieren. Moralisches Handeln ist spontan. Das in dieser Arbeit entstandene Konzept der lernenden Ethikinitiative sieht daher vor, das Zweifeln über die Rationalitäten des Arbeitsalltags zu befördern und Dilemmata und Interessenkonflikte als Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung um Ethik in den Wissenschaften zu thematisieren. Die Fähigkeit, eigene Interessen zu erkennen, zwischen Handlungsalternativen zu wählen und in dieser Wahl eigene Werte zum Ausdruck zu bringen, macht m. E. nach die Freiheit der Menschen aus. Diese Freiheit so zu nutzen, dass weder einseitig egoistischen Interessen gefrönt noch das eigene Interesse vernachlässigt wird, ist eine Kunst, die es zu erlernen gilt – Lebenskunst.
1. Darstellung der Genese von Ethikinitiativen 1.0 Anmerkung zur Begriffsverwendung Ethikinitiative
Die Fest- und Offenlegung ethischer Standards in Organisationen verschiedenster Art hat Konjunktur. Seit Mitte der 1990er-Jahre lässt sich eine stark vermehrte Veröffentlichung von Ethikinitiativen feststellen (vgl. Köpke/Röhr 2003, S. 10 ; SCRES o.J., S. 2). Der Initiativenbegriff bezeichnet im alltäglichen Sprachgebrauch einen Anstoß zu einer Handlung, im politischen Kontext bezeichnet der Begriff jedoch eine konkrete politische Aktion. So werden zum Beispiel Gesetzesvorlagen im Deutschen Bundestag als Initiativen bezeichnet. Im gewerkschaftlichen Diskurs um Selbstregulierung von Organisationen dient der Initiativenbegriff als Sammelbezeichnung für verschiedene Formen der Setzung ethischer Standards (vgl. Köpke/Röhr 2003, S. 10). An diese Begriffsverwendung schließe ich in dieser Arbeit an.3 In der gegenwärtigen Debatte werden Verhaltenskodizes unter „freiwillige Selbstverpflichtungen“ gefasst. Die Internationale Arbeitsorganisation bezeichnet Codes of Conduct sowie Soziallabels4 als Voluntary Private Initiatives (VPIs) (ebd.). Der Initiativenbegriff ist somit dem Kodizesbegriff5 übergeordnet. Als Ethikinitiativen werden in der vorliegenden Arbeit, gemäß Evers (2003), auch Verhaltenskodizes, Richtlinien usw. gefasst, die – den Begriff Ethik nur am Rande erwähnend 3 Die hier recherchierten Formen der Setzung ethischer Standards werden unter Punkt 2.6 erläutert. 4 SAI – die amerikanische Social Accountability Initiative beispielsweise bietet seit 1997 ein Zertifizierungssystem namens SA 8.000 an, welches auch in Deutschland Maßstäbe der Selbstregulierung von Unternehmen gesetzt hat (vgl. Köpke/Röhr 2003, S. 80). 5 Kodex/Kodexe, Kodize/Kodizes und Codex/Codices sind in der deutschen Sprache gleichbedeutend (vgl. Duden, das Fremdwörterbuch 2001).
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– Verhaltens-, Qualitäts-, Arbeits-, Umwelt- und Sozialstandards zum Gegenstand haben. Der Begriff der Freiwilligkeit bezieht sich darauf, dass die Implementierung von Ethikinitiativen in Organisationen nicht im Sinne verbindlicher Rechtsvorschriften (Hard Law) durch nationale oder überstaatliche Stellen rechtlich vorgegeben wird, sondern sich die Organisationen „freiwillig“ zur Implementierung entschließen6. Mit „freiwilligen“ Ethikinitiativen können so durchaus betriebswirtschaftliche und rechtliche Verbindlichkeiten einhergehen – etwa, indem sie vertraglich mit LieferantInnen festgelegt werden (Köpke/Röhr 2005, S. 11). Der Begriff der Freiwilligkeit ist hier auch deshalb zu relativieren, da als Beweggründe für die Implementierung von Ethikinitiativen zunächst zwei Dynamiken im Vordergrund stehen. Erstens der Druck, welchen zivilgesellschaftliche Netzwerke, NGOs und Medien auf Organisationen ausüben, und zweitens das Bestreben von Organisationen, drohenden Regierungsvorschriften durch „freiwillige“ Selbstregulierung zuvorzukommen (vgl. Bowie in Lenk/Maring 1992, S. 337). Weitere Gründe für das Interesse von Organisationen an Selbstregulierung durch Ethikinitiativen gehen aus der Entstehungsgeschichte von Ethikinitiativen hervor. 1.1 Vom Ehren- zum Ethikkodex
Vom Mittelalter bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wurde berufliches Handeln unter anderem durch das androzentrische7 Identitätskonzept des Ehrenmanns reguliert (vgl. Baker 1999, S. 1). Ehre, Charakter, Tugend und Laster waren eingangs des 19. Jahrhunderts die Schlüsselbegriffe der Moralphilosophie. Die erstmalige Forderung nach einem Ethikkodex wurde 1794 durch den englischen Arzt Thomas Percival (1740–1804) gestellt. Der von ihm geforderte Ethikkodex sollte das berufliche Handeln von Ärzten und Chirurgen regulieren. Im Jahre 1803 prägte Percival die Begriffe professional ethics und medical ethics (vgl. ebd.). Diese Forderung wurde zuerst von der American Medical Association aufgegriffen, welche sich bei der Entwicklung ihres Ethikkodex in ihrem Gründungsjahr 1847 an Percival anlehnte (vgl. AMA 1847).8 Baker zufolge war dieser Ethikkodex der erste als solcher benannte Ethikkodex überhaupt. Obwohl von Percival in England aus6 Beispielsweise bei Vertragsvereinbarungen von Unternehmen mit Zulieferern 7 Als nach dem androzentrischen Prinzip organisiert können Gesellschaften bezeichnet werden, in denen „das Männliche“ als Norm gesetzt wird (vgl. Bourdieu 2005, Kroll 2002, S. 10). 8 Der Code of Ethics, den die AMA in einer kontinuierlich überarbeiteten Form bis heute beibehalten hat, formulierte die Pflichten des Arztes gegenüber seiner Patienten, die Pflichten der Ärzte in ihrer Zunft und gegenüber der Öffentlichkeit.
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gearbeitet, wurden Ethikkodizes also zunächst in einer US-amerikanischen Organisation implementiert. Den ersten Ethikkodex im Bereich Wissenschaft und Technik ortet Lenk bei den englischen Bauingenieuren 1910 (vgl. Lenk 2005, min 71.42). Ethikkodizes verdrängten Baker zufolge „… the earlier ethics of gentlemanly honor“ (vgl. Baker 1999, S. 1). Die erste Generation von Ethikkodizes war noch stark durch die Vorläufer, die Ehrenkodizes, geprägt. So war etwa im Ethikkodex der amerikanischen Bauingenieure festgeschrieben, dass ein Bauingenieur einen anderen Bauingenieur nicht öffentlich kritisieren dürfe.9 In der Konjunktur, welche Ethikinitiativen derzeit (insbesondere in Form von Ethikkodizes) haben, drückt sich ein spezifisches Regulierungsbedürfnis von Organisationen aus. Doch warum reichte eine Moral der persönlichen Ehre für die Regulierung moderner Organisationen nicht mehr aus ? Der hippokratische Eid diente ursprünglich – sowie auch bei seiner Wiederaufnahme im europäischen Diskurs der Renaissance um klassische Texte – als Markierung eines speziellen (im Kontext des 16. bis 19. Jahrhunderts über die gewöhnlichen moralischen Verpflichtungen eines Ehrenmanns hinausgehenden) Berufsverständnisses, welches Ärzte haben sollten. Die auf dem hippokratischen Eid beruhende Regulierung beruflichen Handelns wie auch das Konzept des Ehrenmanns waren (und sind) rein individualistisch angelegt. So wurden Variationen des hippokratischen Eids in der ersten Person Singular formuliert und verlangten eine starke subjektive Auslegung.10 Da der stärkste Garant redlichen beruflichen Handels der Charakter der jeweiligen Person war, gefährdeten Angriffe auf Charakter und Ehre ernsthaft die soziale Position des Angegriffenen und wurden beispielsweise in Form von Streitschriften oder Duellen ausgetragen (vgl. Baker 1999, S. 2). Mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft verlangte die Organisation moderner Institutionen nach neuen Kooperationsformen, die transparenter und klarer als die bisherigen Regulierungen beruflichen Handelns qua des Konstruktes „Ehre“ 9 Diese Form der zunft-internen Regulierung wurde zwei Bauingenieuren zum Verhängnis, welche 1932 auf Pfusch beim Dammbau im US-amerikanischen County Los Angeles aufmerksam machten. Sie wurden wegen ethischen Versagens aus dem Bauingenieursverband ausgeschlossen (vgl. Lenk 2005, min.72.34). 10 „From the Renaissance through the Enlightenment, ideals of gentlemanly honor infused the ‘hippo cratic oaths’ sworn by medical practitioners, not only in Europe, but in European settlements in the new world. As late as 1807, the Medical Society of the State of New York required practitioners to sign the following oath upon admission to the society … I do solemnly declare, that I will honestly, virtuously, and chastely conduct myself in the practice of physic and surgery, with the privileges of exercising which profession I am now to be invested ; and that I will, with fidelity and honor, do everything in my power for the benefit of the sick committed to my charge” (Baker 1999, S. 2).
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waren. „For professionalism to assume its modern form, some alternative conception of ‚professional morality‘ was required“ (ebd.).11 Statt Formulierungen in der ersten Person, der für den Eid typischen Sprache, und Formulierungen, die eine starke subjektive Auslegung verlangten, wurden die neuen Verhaltensregeln in der zweiten oder dritten Person Plural sowie in Form von Pflichten gefasst. Die Implementierung des ersten Ethikkodex war somit eine Reaktion auf die mangelnde Passung von „… personalized ethics of individual honor and the requirements for standardization inherent in a modern institution, the hospital“ (ebd., S. 3). Aus dieser Perspektive diente die Implementierung von Ethikkodizes in modernen Organisationen der Rationalisierung von Arbeitsabläufen. Dieses Regulierungsbedürfnis moderner Organisationen lässt sich in drei Punkten zusammenfassen : 1. Bedarf an allgemeinen Verhaltensstandards 2. Bedarf nach einer Minderung des Wettstreites unter den Organisationsmitgliedern, welchen die Moral der individuellen Ehre erzeugt hatte 3. In Bezug auf Krankenhäuser : Bedarf der Herstellung einer gewissen Unabhängigkeit von Ärzten gegenüber ihren Arbeitgebern im Namen einer allen anderen Interessen übergeordneten Verpflichtung für das Wohl des Patienten (vgl. ebd., S. 3) 1.2 Die Allgemeinwohlorientierung : Ethikinitiativen im Kontext von Deregulierung
Die Entwicklung und Verbreitung von Ethikinitiativen verlief und verläuft generell nicht graduell, sondern in Brüchen (vgl. Köpke/Röhr 2003, S. 13). Neben der Verschiebung von Ehren- zu Ethikkodizes lässt sich in der Entwicklung von Ethikkodizes ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel feststellen. Neben der Regulierung zunft-internen Verhaltens gehen die Inhalte von Ethikkodizes heute üblicherweise über eine organisationsinterne Regulierung hinaus. Im Rahmen der Debatte um Social Accountability and Responsibility beschreiben Organisationen in Ethik kodizes und anderen Formen der Selbstregulierung explizit ihr Verhältnis zur Gesellschaft und zum Allgemeinwohl. Eine solche Allgemeinwohlverpflichtung, im 11 Ein Beispiel ist der Zusammenbruch der medizinischen Versorgung während einer Epidemiewelle in Manchester im Jahre 1792. In dem Krankenhaus Manchester Infirmary, in welchem Percival tätig war, wurden aufgrund einer Auseinandersetzung zwischen Verwaltungsrat und Ärzten notleidende Personen nicht mehr behandelt. Um die Wiederholung eines solchen Fiaskos zu verhindern, forderte Percival die Einführung standardisierter Verhaltensregeln (vgl. ebd., S. 2f ).
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Kontext des Umgangs mit Kritik auch Whistleblowing Ethic12 genannt, wurde 1947 erstmals in einem Ethikkodex gesetzt (Lenk 2005, min. 74.29). Zu einer „gerechten“ Kritik wird in aktuellen Ethikkodizes häufig ausdrücklich aufgefordert und das Allgemeinwohl als anderen Interessen vorrangig expliziert. Die Schwächung beziehungsweise das Nichtvorhandensein staatlicher Regulierungsmöglichkeiten und Selbstregulierung von Organisationen stehen in einem direkten Zusammenhang. In Europa wurden Verhaltenskodizes, der Entwicklung in den USA nachfolgend, zunächst in den Ländern eingeführt, in welchen der Grad der Flexibilisierung und Deregulierung der Marktwirtschaft relativ hoch war, namentlich in Holland und England (vgl. Köpke/Röhr 2003, S. 23). Die aktuelle Konjunktur, welche Ethikinitiativen vor allem in Form von Ethikkodizes haben, lässt sich somit als Effekt der Deregulierung, „… der Privatisierung von Politik“ (ebd., S. 11), begreifen. Auf Unternehmen mit komplexen Zulieferketten bezogen, steht Selbstregulierung „… in einem direkten Zusammenhang mit dem Abbau von Handelsschranken und der zunehmenden Internationalisierung der Produktions- und Handelsverflechtungen. Staatsgrenzen verlieren dabei für Anbieter-Nachfrage-Beziehungen … an Bedeutung“ (ebd., S. 19). Dieser Effekt der Globalisierung von Produktionsund Handelsbeziehungen forciert den Schwund von nationalstaatlichen Kontrollund Steuerungsmöglichkeiten (vgl. Altvater/Mahnkopf 1996 in Köpke/Röhr 2003, S. 19). Mit dem Schwund dieser Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten geht ein „certain shift from law to rules“ (Sassen in Köpke/Röhr 2003, S. 13) einher. Konsumstrukturen globalisieren sich jedoch in einem geringeren Maße als Produktions- und Handelsverflechtungen. „Die global agierenden Handelshäuser bleiben in einem gewissen Sinne von den spezifischen KonsumentInnenmärkten der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften für die Realisierung ihrer Gewinne abhängig. Hierin drückt sich eine Grenze der Globalisierung aus, weil Unternehmen aufgrund ihrer Abhängigkeit von KonsumentInnenmärkten Rechtfertigungsdiskursen ausgesetzt sind“ (Sassen in Köpke/Röhr 2003, S. 19). Die inhaltliche Verschiebung von der Selbst- zur Allgemeinwohlorientierung lässt sich so auf ein im Besonderen seit den 1990er-Jahren gestiegenes kritisches Interesse an der Organisation von Unternehmen seitens zivilgesellschaftlicher Netzwerke und Medien zurückführen (vgl. Arnet 2007, S. 4). „Kein Unternehmen im Bereich Bekleidung/Sportbekleidung und Spielzeug kann beispielsweise heute am US-Markt ohne Kodex und Verifizierungssystem bestehen, es müsste mit öffent12 Als „Whistleblower“ wird ein ehemaliges oder gegenwärtiges Organisationsmitglied bezeichnet, das illegales oder unethisches Verhalten in der Organisation öffentlich thematisiert.
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lichen Angriffen rechnen, die sich geschäftsschädigend auswirken“ (Köpke/Röhr 2003, S. 25). Besonders bei global agierenden Unternehmen werden die Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards in Zulieferbetrieben kritisch von gesellschaftlichen Netzwerken und Medien thematisiert. – Branchen mit komplexen Zulieferketten werden daher auch als „kodexsensibel“ bezeichnet (vgl. ebd., S. 62). Ethikinitiativen von Organisationen haben den Status von Soft Law bzw. Inter national Soft Law.13 Auf die Europäische Union bezogen, stehen mittels Interna tional Soft Law Instrumente bereit, mit denen die Europäische Kommission ihre politischen Absichten signalisiert. Meilensteine auf dem Weg zum gegenwärtigen Punkt, an dem das International Soft Law der Vereinten Nationen (VN/ UN), der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der International Labour Organization (ILO) abgestimmt ist, sind der Verhaltenskodex der Internationalen Handelskammer 1937, die OECD-Erklärung zu multinationalen Unternehmen von 1976, die Empfehlungen der ILO von 1977 (Tripartite Declaration on Multinational Enterprises) und 1998 (Tripartite ILO Declaration on Fundamental Principles and Rights at Work) und der UN Draft Code of Conduct for Transnational Corporations von 1982 (vgl. Köpke/Röhr 2003, S. 14). Generell kann festgestellt werden, dass Soft Law von privaten Organisationen14 als Vorlage für International Soft Law dient (ebd. S. 15). Im europäischen Kontext werden mittels International Soft Law auf überstaatlicher Ebene mehr Verbindlichkeit sowie die Vereinheitlichung des Konstruktes „europäischer Forschungsraum“ angestrebt (vgl. ebd., S.15, vgl. Evers 2003, S. 7). Als gegenwärtige Endpunkte der europäischen Debatte sind die OECD-Guidelines für multinationale Unternehmen 2000, der UN Global Compact 2000 und die UN Universal Human Rights Guidelines for Companies 2001 zu nennen (vgl. Köpke/Röhr 2003, S. 13f ). Andersherum werden aber auch von privaten Organisationen internationale Standards, wie etwa die Kernarbeitsnormen der ILO, übernommen. 13 Soft Low bezeichnet nicht rechtsverbindliche Übereinkünfte, Absichtserklärungen oder Leitlinien. Generell ist Soft Law, zu dessen Vollzug sich die Beteiligten verbindlich verpflichten, gegenüber Hard Law weniger streng bindend. Kritisiert wird an der Bezeichnung Soft Law, dass es sich genau genommen nur bei Hard Law um Gesetze handelt. 14 Ein Vorreiter bei der Entwicklung von Verhaltenskodizes ist ein Mitglied des Aufsichtsrats von General Motors, Leo Sullivan mit den Sullivan Principles 1977. Diesen Verhaltenskodex, der die Handelsbeziehungen zwischen US-amerikanischen TNKs und südafrikanischen Organisationen regulieren sollte, unterschrieben bis 1986 zweihundert Unternehmen. Die Sullivan Principles wurde weiterentwickelt, so wurde in den folgenden Jahren auch der geschäftliche Umgang mit Nordirland und China reguliert. Weiters dienten die Sullivan Principles als Vorlagen für unilaterale Kodizes von Bekleidungsvermarktern wie Nike und Wal Mart (vgl. Köpke/Röhr 2003, S. 23).
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Im Bereich der Wissenschaft orientieren sich Organisationen in Deutschland beispielsweise an der Charta der Wissenschaft der Europäischen Kommission (etwa die Freie Universität Berlin oder die Alexander-von-Humboldt-Stiftung). 1.3 Nutzung von Ethikinitiativen – Chancen und Risiken
Organisationen der Politik, beispielsweise Regierungskommissionen oder die EU, forcieren die Standardisierung von Ethikinitiativen mit dem Ziel der Stärkung spezifischer Standorte (im Fall der EU : des Europäischen Forschungsraums), indem sie Monitoringinstrumente entwickeln und den Organisationen die Verwendung dieser Instrumente nahelegen (vgl. Evers 2003, vgl. Deutsches Global Compact Netzwerk 2008). Organisationen können ethische Standards auch nutzen, um sich von gleichgestellten Organisationen – mit der Absicht der Erzielung eines Wettbewerbsvorteils – abzugrenzen. Führt dies dazu, dass die konkurrierenden Organisationen in ihrer Selbstregulierung nachziehen, wird dies als Peer Pressure bezeichnet (vgl. Bowie in Lenk/Maring 1992, S. 337). Weiters ist die Implementierung von Ethikkodizes für Organisationen insofern interessant, als dass sie so gegebenenfalls einer staatlichen Regulierung durch Gesetze ausweichen können. Gerade bei der Überwachung der Einhaltung der Standards, dem Monitoring, verläuft eine Diskursschlacht mittels Expertise und Gegenexpertise zwischen zivilgesellschaftlichen Netzwerken, Gewerkschaften, staatlichen Akteuren und Unternehmen. Dies hat zu einem stets komplexer werdenden System von Verfahren (Monitoring, Zertifizierung, übergreifende Standardsetzung) geführt, welche, so die Kritik von Köpke und Röhr, eher zur Clusterbildung statt Vereinheitlichung der Standards beitrugen. „Eine objektive Vergleichbarkeit von Implementierungsprozessen scheitert daran, dass ein von allen Stakeholdern akzeptierter Bewertungsrahmen bezogen auf evaluierende Maßnahmen insbesondere in Deutschland fehlt“ (Köpke/ Röhr 2003, S. 65). Darüber hinaus wird die Verlagerung der Regulierung von Sozial-, Qualitätsund Umweltstandards von Hard zu Soft Law in der europäischen Debatte tendenziell skeptischer betrachtet als in der amerikanischen um den Zusammenhang von Globalisierung und Selbstregulierung (vgl. ebd., S. 13). In der europäischen Debatte liegt eine starke Betonung darauf, dass Soft Law Hard Law nicht ersetzen kann. Besonders in Staaten mit korporatistischen Aushandlungsmodellen, wie etwa Österreich oder Deutschland, lässt sich generell eine größere Skepsis gegenüber „privaten Regulierungsformen“ in der Debatte um
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Ethikinitiativen feststellen (vgl. Köpke/Röhr 2003, S. 182). Ein Grund zur Skepsis ist die Ansicht, dass freiwillige Selbstregulierung eine Privatisierung von Menschenrechten forciert (ebd., S. 12). Werben Organisationen mittels ethischer Standards für sich und ihre Produkte, kann dies eine weitere Entpolitisierung der Bevölkerung nach sich ziehen. Begreifen Menschen politische Arbeit nicht mehr als ein Handlungsfeld jenseits von Konsumentscheidungen, sondern kommunizieren politische und ethische Ansichten alleine durch diese, ist dies sicherlich nicht im Sinne der Weiterentwicklung eines demokratischen und aufgeklärten gesellschaftlichen Miteinanders. Weiters ist ein Zustand ethisch inakzeptabel, in welchem VerbraucherInnen mit geringem Einkommen der Konsum von sozialverträglich hergestellten Produkten, die oft vergleichsweise teuer sind, nur begrenzt oder gar nicht möglich ist. „Am wichtigsten für die Menschenrechtsdiskussion ist aber, dass man sich mit dem Vertrauen auf Marktmechanismen […] von der Verbindlichkeit von Rechten verabschiedet. Stattdessen führt man ein Menschenrechtsverständnis der Unverbindlichkeit ein, das es jedem Teilnehmer erlaubt, je nach Produkt mal Menschenrechte zu achten (zu erkaufen) und mal nicht“ (vgl. Braun in Brühl, Debiel, Hamm et al. 2001, S. 275). Diese Ansicht führt zu der Frage, wie Ethikinitiativen zu einer Rück- oder Einführung von Sozialstandards in nationale oder überstaatliche Gesetzgebungen genutzt werden können (Köpke/Röhr 2003, S. 13). Bei berechtigter Kritik an dem Missbrauch von Ethikinitiativen zur Imagepflege (so genanntes Window Dressing – „Augenauswischerei“ – oder Bluewash15) und der Thematisierung der Gefahr der Privatisierung der Menschenrechte kann ein einseitig skeptischer Blick auf die Debatte um Selbstregulierung allerdings „[…] den analytischen Blick auf den Wirkungsgrad der Debatte, die sich anhand der Verhaltenskodizes eröffnet hat“ (Köpke/Röhr 2003, S. 12), verstellen. Köpke/Röhr kommen zu der Einschätzung, dass „[…] in Deutschland Unternehmen bei der Entwicklung von komplexeren Systemen eindeutig Vorreiter gegenüber Netzwerken und vor allem gegenüber Betriebsräten und Gewerkschaften sind […] Vor diesem Hintergrund erscheinen uns Debatten über die ‚Privatisierung von Menschenrechten durch Verhaltenskodizes’ (Braun 2000) bezogen auf den deutschen Kontext eher abstrakt“ (ebd. S. 24).
15 Bei Bluewash handelt es sich um eine kritische Bezeichnung von Partnerschaften zwischen den Vereinten Nationen und Unternehmen unter dem United Nations Global Compact. Da mit dem Global Compact höchstens eine von den Unternehmen selbst zu verfassende Auskunft über ihr Geschäftsgebaren einhergeht, betrachten KritikerInnen den Global Compact vornehmlich als Imagekampagne (vgl. Bruno, K. ; Karliner, J. 2000).
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Darüber hinaus ist es, hinsichtlich einer notwendigen Veränderung von Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards, wohl eher angemessen, Ethikinitiativen nicht nur an der Erreichung eines ethischen Ideals, sondern auch im Vergleich zu anderen Ansätzen zur Anhebung von Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards zu bewerten (vgl. Beisheim in Bass, Melchers 2004, S. 181). Soft Law entwickelt sich, gerade im Kontext globaler Zuliefererketten, schneller und dynamischer als Hard Law (Köpke/ Röhr 2003, S. 13). „Im Gegensatz zu gesetzlichen Verpflichtungen – etwa nach nationalen Arbeitsgesetzen – sind Codes of Conduct freiwillige Instrumente. Diese können jedoch aufgrund vertraglicher Vereinbarungen mit Lieferanten rechtliche und betriebswirtschaftliche Verbindlichkeit haben, wenn sie Teil des allgemeinen Qualitätsmanagements bzw. der Lieferbeziehung sind.“ (ebd., S. 11) Generell lässt sich sagen, dass Soft Law aufgrund seiner Flexibilität dort ein sinnvolles Steuerungsinstrument darstellt, wo Regierungen Standards nicht durchsetzen können oder wollen (vgl. Beisheim in Bass, Melchers 2004, S. 173). Ein Faktor, der die Verbindlichkeit freiwilliger Initiativen erhöht, ist der Umstand, dass Ethikinitiativen zunehmend nicht mehr nur als unilaterale Maßnahmen, sondern als multilaterale bzw. Multi-Stakeholder-Vereinbarungen getroffen werden. Ein weiterer Faktor, der zur Verbindlichkeit von Ethikinitiativen beiträgt, ist, dass sich trotz der Unübersichtlichkeit des Feldes der Zertifizierungssysteme diese zunehmend angleichen. Hinzu kommt, dass sich auch die Inhalte der Ethikinitiativen zunehmend angleichen (vgl. Köpke/Röhr 2003, S. 11). Schwierig bleibt eine allgemeine Einschätzung von Ethikinitiativen aufgrund der Heterogenität ihrer Inhalte. Während in einem Verhaltenskodex versucht wird, gewerkschaftliche Organisation zu unterwandern16, ist bei anderen Initiativen, Gewerkschaften und VertragspartnerInnen die Wichtigkeit des gewerkschaftlichen Engagements ausdrücklich betont (vgl. Ethikvertrag : Österreichischer Gewerkschaftsbund und Verein Forschung Austria 2003). Die Deregulierung von Wirtschaftsbeziehungen, welche die Konjunktur von Ethikinitiativen bedingt, begrenzt jedoch gleichzeitig auch die Wirkung von Ethikinitiativen. Solche ethischen Standards, die einen Wettbewerbsnachteil für eine Organisation bedeuten, sind entweder nicht in den Ethikinitiativen beinhaltet oder werden nur in einem begrenzten Maße praktisch umgesetzt (vgl. Bowie in Lenk/ Maring 1992, S. 348). Diese Grenzen sollten in einer Ethikinitiative klar benannt werden.
16 Als Beispiel hierfür sei auf die International Operating Principles der Sara Lee Corporation verwiesen (vgl. Braun in Brühl, Debiel, Hamm et al. 2001, S. 268).
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Eine Einschätzung der Auswirkungen der analysierten Ethikinitiativen in den jeweiligen Organisationen kann in dieser Arbeit nicht systematisch betrieben werden. Zu einer Einschätzung der Auswirkungen der Implementierung von Ethikinitiativen müsste eine umfassendere, empirisch ausgerichtete Studie erarbeitet werden. Im Gegensatz zum US-amerikanischen oder englischen Kontext liegt über die Selbstregulierung von Organisationen durch Ethikinitiativen im deutschsprachigen Raum wenig empirisches Material vor und die Anzahl von Ethikinitiativen von Unternehmen, etwa in Deutschland, ist derzeit unbekannt (vgl. Köpke/Röhr 2003, S. 10). 1.4 Resümee 1
Die Standardisierung beruflichen Handelns erfolgt vor dem Hintergrund der mangelnden Übereinstimmung der Ethik der individuellen Ehre mit den Strukturbedürfnissen moderner Organisationen. Fraglich ist, in welchen Bereichen Standards eine nützliche Orientierungshilfe oder sinnvolle Vorschriften zum Schutz von Mensch, Tier und Umwelt sind und in welchen Bereichen eine weitere „Ver-Standardisierung“ beruflichen Handelns eine Abgabe jeglichen persönlichen Verantwortungsgefühls und Konformismus forciert. Weiters können Ethikkodizes genutzt werden, um spezifische Verhaltensstandards in einer Branche zu etablieren, die aufgrund der Wettbewerbsbedingungen Verbindlichkeit erfahren. Auch kann bei Entwicklung von Verhaltensstandards eine Eingliederung dieser Standards in das Hard Law durch Gewerkschaften oder zivilgesellschaftliche Netzwerke forciert werden. Zur Verbesserung der Umsetzung der Inhalte von Ethikinitiativen sollten diese möglichst multilateral angelegt sein. Monitoring Instrumente sollten standardisiert werden, um die Umsetzung der Ethikinitiativen transparenter nachverfolgen zu können. Organisationsinternen Personen, die unethisches wissenschaftliches Arbeiten problematisieren, muss rechtlicher Schutz geboten werden. Ethikinitiativen sollten stets ein höheres Niveau als gesetzliche Regelungen haben und diese nicht ersetzen, sondern ergänzen. Sie sollten der Anpassung der Gesetzeslage hinsichtlich der Schutzbedürfnisse von Mensch, Tier und natürlicher Umwelt dienen. Auch gewerkschaftliche Organisation sollte durch die Inhalte von Ethikinitiativen nicht zu ersetzen getrachtet, sondern ausdrücklich wertgeschätzt werden.
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2. Organisations- und Initiativenrecherche 2.1 Definitionen
Zur Orientierung bei der Initiativenrecherche wurden wesentliche Begrifflichkeiten der vorliegenden Arbeit – ethischer Standard/Norm, Wissenschaft und Organisation – wie folgt bestimmt : 2.1.1 Verwendung und Verhältnis der Begriffe ethischer Standard und Norm
Der Normbegriff ist umgangssprachlich wie wissenschaftlich vieldeutig. Er lässt sich in logische Normen17, wissenschaftliche Normen18, technische Normen19 und praktische Normen unterteilen. Für die Analyse von Ethikinitiativen sind praktische Normen, im Sinne rechtlicher und moralischer Grundsätze, „[…] die mehrere oder alle Subjekte einer Gruppe oder Gesellschaft situationsabhängig oder situationsunabhängig zu Zwecksetzungen oder Handlungen auffordern und die Form von Gemeinschaft vorgeben […]“ (vgl. Höffe 2008, S. 230), relevant. Von diesen praktischen Normen lassen sich subjektiv-praktische Grundsätze (persönliche Lebensgrundsätze oder Maxime) unterscheiden (vgl. ebd.). Normen dienen der Komplexitätsreduktion gesellschaftlichen Miteinanders und machen das Verhalten von Menschen zu einem gewissen Grad vorhersehbar. So ermöglichen Normen erst das gesellschaftliche Zusammenleben. Normen liefern einen Maßstab bei der Beurteilung eigener oder fremder Handlungen. „Damit sind Normen auch Maßstäbe für die Beurteilung einzelner Handlungen und für die Angemessenheit bzw. die ‚Rationalität‘ moralischer Gefühle angesichts eigener oder fremder Handlungen (Empörung, Schuld, Scham usw.).“ (Düwell/Hübentahl/ Werner 2002, S. 458) Der Begriff ethischer Standard wird im Ethikdiskurs der Europäischen Kommission in der Absicht verwendet, einen „neutraleren“ Begriff an die Stelle des Normbegriffs zu setzen (vgl. Evers 2003, S. 11). Den Norm- und den Standardbegriff synonym zu verwenden, ist zwar umgangssprachlich zulässig, führt allerdings m. E. nach zur Unterlassung einer weiteren Differenzierung der Grundlagen menschlicher Entscheidungsfindung, welche im 17 Regeln, welche die widerspruchsfreie und folgerichtige Form möglichen Redens überhaupt bestimmen (vgl. Höffe 2008, S. 230) 18 Diese bestimmen in „[…] ihren terminlogischen sowie methodischen Festsetzungen den Rahmen für ein mögliches System kognitiv-wahrer Aussagen über einen bestimmten Gegenstandsbereich“ (ebd.). 19 Solche enthalten „[…] pragmatisch fundierte Anweisungen methodischer Naturbeherrschung […]“ (ebd.).
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wissenschaftlichen Diskurs um den Normbegriff bereits angelegt sind. Menschen können nach praktischen Normen handeln, aber auch nach den vorhin genannten subjektiv-praktischen Grundsätzen. Ethikinitiativen, die einen Bildungsanspruch haben, müssen das mögliche Auseinanderfallen von praktischen Normen und subjektiv-praktischen Grundsätzen berücksichtigen. WissenschafterInnen, deren Verhalten einem ethischen Ideal nähergebracht werden soll, muss vertraglich versichert werden, dass Handlungsentscheidungen, die sie aufgrund subjektiv-praktischer Grundsätze treffen, nicht sanktioniert werden. 2.1.2 Wissenschaft
Allgemein lässt sich sagen, dass Wissenschaft ein eigenes Teilsystem moderner, funktional differenzierter Gesellschaften ist. Aus einer objektivistischen Perspektive hat Wissenschaft die Aufgabe, Wissen zu produzieren, welches mittels rational begründ- und nachvollziehbarer Methoden generiert wurde. Wissenschaftliche Befunde unterliegen dem Kriterium der Prüf- und Falsifizierbarkeit (vgl. Brockhaus, Band 30). Die Annahme der Wertneutralität, welche sich aus einem Rationalitäts- und Objektivitätsanspruch an unter wissenschaftlichen Kriterien hergeleiteten Arbeitsergebnissen ableiten lässt, prägt auch die heutige wissenschaftsbezogene Ethikdebatte (vgl. Huisken 2003). Die ethische Dimension von Wissenschaften zu thematisieren, verlangt diese proklamierte Wertneutralität zu hinterfragen und so „… die impliziten moralischen Werte und Normen explizit und damit verhandelbar zu machen“ (Singer 2005, S. 31). „NaturwissenschafterInnen sind kein neutrales Sprachrohr der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten, und SozialwissenschafterInnen sind keine neutralen ReflektorInnen sozialer Verhältnisse“ (ebd., S. 32). Mit einer erkenntniskritischen Perspektive auf Wissenschaft lässt sich eine Trennung von Wissenschaft und Politik nicht aufrechterhalten. Vielmehr sind die Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens solche, in denen sich unterschiedliche, stets auch politische, Interessen niederschlagen. „Das beginnt bei den Bedingungen der Möglichkeit, überhaupt WissenschafterIn werden zu können, warum jemand als wissenschaftlich anerkannt wird oder nicht, setzt sich fort bei der Auswahl dessen, was als erklärungsbedürftig angesehen wird, das heißt, der Wahl der Forschungsfragen im so genannten Entdeckungszusammenhang bzw. context of discovery, der Wahl der Methoden und Techniken im Rahmen des Begründungszusammenhangs bzw. context of justification bis hin zum so genannten Überzeugungskontext bzw. context of persuasion, das heißt, jene Überzeugungsprozesse, die einer
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wissenschaftlichen Erkenntnis zu ihrer Durchsetzung verhelfen, wie zum Beispiel rhetorische Strategien oder das Bilden von Netzwerken zur Anwerbung von Verbündeten.“ (ebd., S. 29) Die Inhalte der wissenschaftsbezogenen Ethikinitiativen, welche im Folgenden dargestellt werden, sollen auch dahingehend analysiert werden, ob und wie darin wirtschaftliche und gesellschaftliche Interessen vertreten werden. 2.1.3 Forschung
Der Begriff Forschung kommt vom lateinischen poscere und bedeutet „er-/fragen, verlangen, sich bemühen um, suchen“. Forschung bezeichnet somit die systematische Bemühung um die Vermehrung des Wissens mit wissenschaftlichen Methoden (vgl. Brockhaus 2006, Band 9). „Forschung und ihre Förderung werden in den hochindustrialisierten Staaten als wichtige Wettbewerbsfaktoren im Rahmen der Globalisierung angesehen. Forschungsleistungen, gemessen in erteilten Patenten und Veröffentlichungen und Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E), werden im nationalen und internationalen Vergleich analysiert.” (ebd.). Wie auch in der Charta der Wissenschaft der Europäischen Kommission angelegt (vgl. EUKommission 2005, S. 15), muss das Wissen, welches im europäischen Forschungsraum per Forschung generiert werden soll, zunehmend Kriterien ökonomischer Verwertbarkeit entsprechen. 2.1.4 Organisation
Welcher Art sind nun die Interaktionsräume, in denen die Ethikinitiativen zur Anwendung gebracht werden sollen ? „Organisation ist ein kollektives Ganzes mit relativ festgelegten und identifizierbaren Grenzen, einer normativen Ordnung, einem hierarchischen Autoritätssystem, Kommunikationssystem und einem koordinativen Mitgliedssystem ; dieses kollektive Ganze besteht aus einer relativ kontinuierlichen Basis innerhalb einer sie umgebenden Umwelt und beschäftigt sich mit Handlungen und Aktivitäten, die sich gewöhnlich auf ein Endziel oder Objektiv hin beziehen oder eine Menge von Endzielen und Objektiven“ (Weinert in Arnold/Nolda/Nuissl 2001, S. 244). Im Kontext des Lernens (bzw. der Lernfähigkeit) von Organisationen ist weiters auf die Interaktionsstrukturen von Organisationen zu verweisen. Organisationen lassen sich aus einer sozial-konstruktivistischen Perspektive nicht als objektiv abbildbar, sondern als durch menschliche Interaktion konstruierte Handlungszusammenhänge begreifen (vgl. Endruweit/Trommsdorff 1989, S. 479).
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Anstelle der Abbildung der Organisationsstruktur mit objektivistischem Anspruch lassen sich subjektive bzw. begrenzt kollektive „kognitive Landkarten“ der Organisationsstruktur herstellen (Endruweit/Trommsdorff 1989, S. 479). In den Fokus wird somit die Frage nach den Regeln der Interaktion in einer Organisation gerückt. Aufgrund der hierarchischen Ordnung von Organisationen, der Abhängigkeit von Mitgliedern von Organisationen, von ihrem Status als Organisationsmitglieder im Falle eines bezahlten Arbeitsverhältnisses sowie der Arbeitsteilung zugunsten der Erreichung eines Endziels oder einer Menge von Endzielen ist fraglich, wie den einzelnen Organisationsmitgliedern Verantwortung innerhalb einer Organisation zugeschrieben werden kann. Unterscheidet sich die Verantwortung, welche Personen sich in der Ausübung ihrer Berufstätigkeit zuschreiben oder die ihnen zugeschrieben wird, von der, welche sie sich als Privatpersonen zuschreiben oder die ihnen zugeschrieben wird (vgl. Evers 2003, S. 18f ) ? Haben die Personen am unteren Ende der Organisationshierarchie genauso viel Verantwortung für das Handeln der Organisation wie die Organisationsmitglieder am oberen Ende der Organisationshierarchie ? 2.1.5 Organisationstypologisierung
Typologisierungen von Organisationen, die in der Organisationssoziologie konstruiert wurden, sind „[…] relativ ungenau und wenig aussagekräftig“ (Scott in Tacke 2001, S. 141). So bestehen teilweise bis zum Rechtskonflikt ausgetragene Differenzen zwischen Selbst- und Fremdtypologisierungen von Organisationen (vgl. ebd., S. 142). Auch die im Folgenden erstellte Typologisierung von Organisationen ist unscharf. Eine Wissenschaftsorganisation oder ein Verband kann vornehmlich wirtschaftliche Interessen verfolgen und könnte somit auch als Wirtschaftsorganisation betrachtet werden. Die in Anlehnung an Mintzberg20 gefundene Typologisierung soll einen Überblick über den Datensatz geben. Die Zuordnung der Organisation zu den Organisationstypen erfolgt, soweit möglich, anhand der Selbstverortung der Organisationen. Bei der Auflistung der Organisationen wurden die Kategorien Organisationen der Politik (etwa die Europäische Kommission), Wissenschafts organisationen (etwa die Latvian Academy of Sciences), Wirtschaftsorganisatio20 Bei einer Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Ausübung politischer Macht, wie sie in Mintzbergs Organisationstypologisierung von Organisationen der Politik und politischen Organisationen angelegt ist, drängt sich die Frage nach dem dahinterstehenden Politikverständnis auf, die hier leider nicht ausgeführt werden kann (vgl. ebd., S. 145f ).
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nen (etwa Ingenitex) sowie berufsständische und andere Organisationen, NGOs, Gewerkschaften, Assoziationen (wie etwa EuropaBio – The European Association for Bioindustries) verwendet. 2.1.6 Formen der Standardsetzung
Die Ethikinitiativen von Organisationen haben unterschiedliche Formen der Standardsetzung zum Ergebnis. Diese sich teils überlagernden (vgl. Düwell/Hübentahl/Werner 2002, S. 459) Konstrukte21 sind im Folgenden nach der Häufigkeit ihres Vorkommens in der anhängenden Literaturliste aufgeführt und definiert. Unter einem Verhaltenskodex, in Englisch „Code of Conduct“22, einem Kodex oder Code, lässt sich eine Sammlung von Verhaltensweisen verstehen, die in unterschiedlichsten Zusammenhängen angewandt werden können bzw. sollen (vgl. Brockhaus 2006, Band 15). Codes of Conduct ist ein Sammelbegriff für „… Verhaltensregeln, ethische Grund- oder Leitsätze wie auch Verfahrensrichtlinien, in denen Qualitätsstandards, Sozialstandards und Umweltstandards festgelegt sind“ (vgl. Köpke/Röhr 2003, S. 11). Im deutschsprachigen Raum wird häufig der englische Begriff „Codes of Conduct“ anstelle des Ausdrucks „Verhaltenskodizes“ verwendet, da das Konzept dieser Form der Selbstregulierung von Organisationen ursprünglich aus England stammt (vgl. Lenk 2005, min 71.10)23. Im Regelfall ist die Zielgruppe nicht zwingend an die Einhaltung eines Verhaltenskodex/Code of Conduct/Kodex/Code gebunden. Unter einem Prinzip, in lateinisch „Anfang“, wird in der Ethik eine oberste inhaltliche Norm oder ein formales Prinzip, von dem aus sich die Gültigkeit einzelner Normen beurteilen lassen kann, verstanden (vgl. Düwell/Hübentahl/Werner 2002, S. 458). Als Beispiele für oberste inhaltliche Normen sei hier das Gebot der „Ehrfurcht vor dem Leben“ von Albert Schweitzer genannt. Unter formalen Prinzipien seien mit der Goldenen Regel („Was du nicht willst, das man dir tu’, das füge auch keinem anderen zu“) und dem kategorischen Imperativ die im europäischen Raum bekanntesten genannt (vgl. ebd.). Die im Bereich der ethischen Standardsetzung ebenfalls geläufige Form der Deklaration stammt vom lateinischen Begriff declaratio („Kundmachung, Offen 21 Hierbei lassen sich begriffliche Überschneidungen feststellen. Deshalb finden sich in den Überschriften nur diejenigen Begriffe, nach welchen die im Folgenden analysierten Ethikkonzepte benannt wurden. 22 Falls in den anhängenden Ethikkonzepten das englische Wort benutzt wird, ist es angeführt. 23 Der erste Ethikkodex im Bereich Technik ist der Kodex der englischen Bauingenieure von 1910.
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barung“) und bezeichnet eine Form, in völkerrechtlich zulässiger Weise etwas kundzutun, einen Willen zu erklären (vgl. Brockhaus 2006, Band 6). Hierunter fallen auch feierliche Erklärungen, wie etwa die Menschenrechtsdeklarationen. Eine Empfehlung bezeichnet im Europarecht einen unverbindlichen Rechtsakt und kann synonym mit Stellungnahme verwendet werden (vgl. Brockhaus 2006, Band 8). Unter Charta – lateinisch „Pergament“ oder „Urkunde“ – werden im Staatsund Völkerecht prinzipielle Äußerungen oder Forderungen internationaler gesellschaftlicher oder politischer Gruppen (z. B. Charta der Wissenschaft der EU) verstanden (vgl. Brockhaus 2006, Band 5). Mit dem Begriff „Charta“ wird Rekurs auf die Magna Carta Libertatum – im Deutschen „Großer Freibrief “ – von 1215 genommen. Diese Vereinbarung zwischen dem englischen König und dem revoltierenden englischen Adel gilt als die wichtigste englische verfassungsrechtliche Rechtsquelle. Juristisch sind Deklarationen, Abkommen, Vereinbarungen, Übereinkommen, Konventionen und Pakte völkerrechtliche Verträge. Rechtlich besteht kein Unterschied zwischen den verschiedenen Konstrukten. Völkerrechtliche Verträge werden nach einem bestimmten Schema verfasst. Nach der Überschrift, die den Vertragsinhalt bezeichnet und die Vertragspartner sowie das Abschlussdatum angibt, folgt die Präambel und dieser zuweilen eine Vollmachtklausel. Daran schließt sich der eigentliche Vertragstext an. Häufig endet dieser mit einer Schlussklausel über Vertragsdauer, Kündigungs- und Revisionsmöglichkeiten, Möglichkeit des Beitritts Dritter oder Notwendigkeit einer Ratifikation. Unter einem Memorandum lässt sich eine Denkschrift bzw. „… an eine offizielle Stelle gerichtete Schrift über wichtige (öffentliche) Angelegenheiten“ verstehen (Brockhaus 2006, Band 18). Mit dem Begriff Vertrag oder auch Kontrakt wird ein Rechtsgeschäft bezeichnet, welches durch übereinstimmende (kongruente) Willenserklärungen – durch Angebot und Annahme – zwischen zwei oder mehreren Beteiligten zustande kommt und grundsätzlich rechtlich bindend ist (vgl. Brockhaus 2006, Band 29). 2.2 Kriterien der Organisationsauswahl
Die im Anhang aufgeführten Ethikinitiativen wurden von Organisationen hervorgebracht, welche sich in den EU-Mitgliedsstaaten befinden, ohne Berücksichtigung der Überseedepartments. Weiters wurden aufgrund ihrer hohen Qualität auch Initiativen aus Andorra, Norwegen und der Schweiz aufgenommen. Das erste Auswahlkriterium ist somit das der geopolitischen Verortung der Organisationen. Das
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zweite Auswahlkriterium ist das der zeitlichen Aktualität. Die hier recherchierten Initiativen wurden zwischen 1997 und 2008 erstellt, überarbeitet oder wieder geschlossen. Zur zeitlichen Rahmung bei der Auswahl der Ethikinitiativen wurde eine Zäsur in der Genese der Initiativen gewählt. 1997 begannen die Internationalen Gewerkschaften aufgrund der zunehmenden Globalisierung von Handels- und Produktionsverhältnissen Codes of Conduct verstärkt einzufordern (vgl. Arnet 2007, S. 5. IBM 2006, S. 2). So beschlossen die Delegierten des Internationalen Metallgewerkschaftsbunds 1997 in San Fransisco „[…] ein Aktionsprogramm, in dem das Ziel angestrebt wurde, Verhaltenskodexe von Unternehmen auszuhandeln, um die Arbeitnehmerrechte zu einem Teil des Dialoges zwischen Arbeitnehmern und Management auf nationaler Ebenen zu machen” (ebd.). In der engeren Literaturauswahl wird das Zeitfenster nach den im Anschluss aufgeführten Kriterien weiter eingegrenzt (vgl. 4., S. 33). Ein weiteres Auswahlkriterium ist das der Meinungsführerschaft. Mithilfe der Datenbanken CODEX, BEKIS und GEObs, einer Diplomarbeit (Arnet 2007), einer Dissertation (Köpke/Röhr 2003) sowie einschlägigen Veröffentlichungen der Europäischen Kommission (Evers 2003) wurden die meinungsführenden internationalen politischen Organisationen mit ihren entsprechenden Ethikinitiativen identifiziert und aufgelistet. Wie die grundlegenden Studien zur Analyse ethischer Standards (vgl. Evers 2003, S. 7, SCRES o.J., S. 1) erhebt auch die vorliegende Arbeit, aufgrund der Vielzahl von relevanten Veröffentlichungen, keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Unter Organisationen der Politik werden unter anderem die aktuellen Ethikinitiativen der Europäischen Kommission und verschiedener Regierungskommissionen angeführt. Bei Wissenschaftsorganisationen wird aufgrund der Vielzahl von Quellen möglichst eine Ethikinitiative pro EU-Mitgliedsstaat (ohne Überseedepartments, mit Andorra, Norwegen und der Schweiz) angeführt. Weiters wurden Organisationen und ihre Ethikinitiativen aufgeführt, welche unter anderem mithilfe der vorhin genannten Quellen als meinungsführend identifiziert wurden. Bemerkenswert an diesem Punkt der Recherche ist ein Quantitätsgefälle zwischen nord- und westeuropäischen sowie süd- und osteuropäischen Organisationen. Es gab beispielsweise bis 2003 kein Konzept zur Regulierung ethischer Standards der Wissenschaft in Spanien und Portugal (Evers 2003, S. 10). Wie aus der Aufschlüsselung der Anzahl der Initiativen nach EU-Mitgliedsstaaten hervorgeht (vgl. 5.1, S. 38), schlägt sich dieses Gefälle in der folgenden Initiativenauswahl nieder.
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Die Auswahl der Organisationen der Kategorie Wirtschaftsorganisationen konzentriert sich auf solche, welche Forschung in den auch von joan n eu m r es earc h abgedeckten Bereichen betreiben. Diese Bereiche sind Sustainability and Environment, Informatik, Elektronik und Sensorik, Werkstoffe und Verarbeitung, Wirtschaft, Technologie und Humantechnologie. In den einzelnen Bereichen wurden die Ethikinitiativen (soweit vorhanden) der marktführenden Wirtschaftsorganisationen angeführt. 2.2.1 Exklusion von Organisationen
Es sei an dieser Stelle auf die Ethikinitiativen der Organisationen verwiesen, welche als die wesentlichen Rückbezüge in den nachfolgend aufgeführten Ethikinitiativen vorkommen. Die hier aufgelisteten Organisationen und ihre Initiativen hatten wesentlich Einfluss auf die bisherige Entwicklung von Ethikinitiativen im europäischen Forschungsraum, wurden an sich aber in der Auswahl der Ethikinitiativen nicht berücksichtigt. Bei den Internationalen Rahmenvereinbarungen (im folgenden IFA – International Framework Agreements) handelt es sich um eine Form von Standardsetzungen auf Initiative der Gewerkschaften. IFA wurden beispielsweise in transnationalen Unternehmen wie IKEA oder Volkswagen implementiert (Köpke/Röhr 2003, S. 136) und werden in dieser Arbeit nicht behandelt. Teilweise gehen die Inhalte von Internationalen Rahmenvereinbarungen jedoch in „freiwilligen“ Ethikinitiativen auf, oder Organisationen übernehmen Ethikinitiativen von Gewerkschaften vollständig.24 Als weitere wesentliche Bezugsquellen der recherchierten Ethikinitiativen seien die Erklärung über die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit und ihre Folgemaßnahmen der IAA25 sowie die Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechtewegweiser für die Internationalisierung der Bioethik der Deutschen UNESCO-Kommission26 genannt. 24 Anzumerken sei an dieser Stelle, dass Ethikkonzepte von Unternehmen, die IFA angenommen haben, wie etwa PSA Peugeot, sich auf diese IFA inhaltlich berufen. Die IFA beziehen sich auf die Modellrahmenvereinbahrung des Internationalen Metallgewerkschaftsbundes (IMB), welche sich wiederum hauptsächlich auf zwei Quellen beruft. Diese sind die Dreigliedrige Grundsatzerklärung über Multinationale Unternehmen und Sozialpolitik der IAA/ILO sowie die OECD Leitsätze für multinationale Unternehmen der OECD. – Im Falle des Bioengineers Institute Norway wurde das Ethikkonzept der größten norwegischen Gewerkschaft für Ingenieure – NITO – übernommen (vgl. NITO 2006). 25 IAA/IAO : „Erklärung über die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit und ihre Folgemaßnahmen“ 1998 26 Deutsche UNESCO-Kommission : Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte – Wegweiser für die Internationalisierung der Bioethik 2005
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Mit der International Declaration of Human Genetic Data hat die United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization 2003 eine häufig verwendete Referenz für Standardsetzung im Bereich der Bioethik geschaffen. Ein weiteres Soft Law-Instrument, auf das in den hier recherchierten Initiativen oft Bezug genommen wird, ist der UN Global Compact27. Er bezieht sich auf die Menschenrechtserklärung der UN von 1948, die Abschlusserklärung des Sozialgipfels von Kopenhagen 1995 und die Erklärung des Umweltgipfels 1992 in Rio und ist das Ergebnis einer mehr als dreißigjährigen Debatte der UN über den politischen Umgang mit TNKs (vgl. Köpke/Röhr 2003, S. 42). – Häufigster Kritikpunkt am Global Compact sind die ihm fehlenden Monitoring- und Sanktionsmaßnahmen. UnterzeichnerInnen verpflichten sich bloß, eine regelmäßige Selbstauskunft zu erstellen. Positiv wird dem UN Global Compact von NGOs und Gewerkschaften attestiert, dass er „… partiell einen Dialog mit Unternehmen öffnen und das Prinzip des Multi-Stakeholder-Approachs fördern“ (Köpke/Röhr 2003, S. 44) kann. Nationale Ethikgremien, wie etwa Ethikräte oder –kommissionen, erarbeiten für den wissenschaftlichen Diskurs um Ethik in Forschung und Technik wichtige Stellungnahmen zu spezifischen ethisch relevanten Fragen, wie etwa dem Patentieren von biotechnologischen Erfindungen, bei denen biologische Materialien menschlichen Ursprungs verwendet wurden28 (vgl. Fuchs 2005, S. 9ff ). Die in dieser Arbeit analysierten Ethikinitiativen haben auf EU-Ebene den Anspruch, für die im europäischen Forschungsraum beschäftigten WissenschafterInnen allgemeine Standards zu generieren sowie auf nationaler Ebene Standards für ihre jeweilige Branche oder Organisation zu setzen. Die Stellungnahmen der vorhin genannten Ethikgremien beziehen sich jedoch auf spezifische Fragestellungen (wie den vorhin genannten Umgang mit biologischen Materialien menschlichen Ursprungs) und erläutern diese ausführlich. Somit sind die Stellungnahmen als relevante Bezugspunkte für die Erarbeitung organisationsspezifischer Ethikinitiativen, jedoch nicht als Ethikinitiativen im Sinne der hier vorliegenden Arbeit zu verstehen. Eine weitere, in Bezug auf Standardsetzung meinungsführende Organisation ist die Internationale Organisation für Standardisierung, welche an einem Leitfaden für soziale Verantwortlichkeit arbeitet (ISO 26000, 2010). Das Ziel dieser Initiative ist, freiwilligen Einsatz für soziale Verantwortung zu fördern und einen allgemei27 DGCN : Verbindungen schaffen – GRI-Leitlinien und Fortschrittsmitteilung des Global Compact 2008 28 vgl. Nationaler Ethikrat : The patenting of biotechnological inventions involving the use of biological material of human origin, 2005
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nen Leitfaden für Konzepte, Definitionen und Methoden der Evaluierung ethischer Standards bereitzustellen. Der Standard wird 2010 veröffentlicht und wird, im Gegensatz zu anderen ISOs, nicht zertifizierbar sein. 2.3 Die engere Initiativenauswahl
Die engere Initiativenauswahl wurde nach den Kriterien der Quantität und zeitlichen Aktualität getroffen. Seit 2001 arbeitet die Europäische Kommission mit dem Aktionsplan Science and Society daran, ethische Standards im europäischen Forschungsraum stärker und einheitlicher zu verankern (Rhode in Evers 2003, S. 7). Im Rahmen dieses Projektes wirbt die EU-Kommission für die Herstellung und Vereinheitlichung ethischer Standards von Wissenschaftsorganisationen im europäischen Forschungsraum. Es wurden Initiativen aus dem Zeitraum ab 2001 bis 2008 in die engere Initiativenauswahl aufgenommen.29 Unter den ausgewählten Initiativen werden diejenigen zur Analyse herangezogen, welche im Hinblick auf die Erstellung eines hauseigenen Ethikkodex für joan n eu m r e s earc h interessante Beispiele bieten : eu ropäi sc h e kom m i ss ion : Europäische Charta für Forscher/Charta der Wissen schaft http ://www.eubuero.de/arbeitsbereiche/wissenschaftundgesellschaft/charta/ Download/dat_/fil_1601 Brüssel, Belgien 2005 Die EU-Kommission versucht, mittels dieser Initiative auf mitgliedsstaatlicher Ebene die Entstehung von Ethikinitiativen und anderen Formen der Selbstregulierung zu forcieren. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft : Empfehlungen der Kommission „Selbstkontrolle in der Wissenschaft“, Vorschläge zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis http ://www.dfg.de/aktuelles_presse/reden_stellungnahmen/download/empfehlung_wiss_praxis_0198.pdf Deutschland 1998 Die Initiative der DFG hat eine Vorreiterrolle für Initiativen der Selbstregulierung im deutschen Wissenschaftsbereich und expliziert Regeln guter wissenschaftlicher Praxis. 29 Eine Ausnahme bildet die Initiative der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufgrund ihrer Vorreiterrolle und besonderen Qualität (vgl. Evers 2003) aus 1998.
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Österreichischer Gewerkschaftsbund, Verein Forschung Austria : Ethikvertrag Wien, Österreich 2003 Mit dem Ethikvertrag zwischen dem Österreichischen Gewerkschaftsbund und Forschung Austria wird eine Ethikinitiative untersucht, in der unternehmensübergreifende Richtlinien für Beschäftigte in der außeruniversitären Forschung in Österreich gesetzt werden. Bioengineers’ Institute, Norway : Ethics for Biomedical Laboratory Scientists http ://www.nito.no/dm/public/115266.PDF Oslo, Norwegen 2006 Bei der Ethikinitiative des Norwegian Institute of Biomedical Science handelt es sich um eine Orientierungshilfe für LaborwissenschafterInnnen der Biomedizin, welche mit der Reflexion von Konfliktsituationen arbeitet.
3. Analyse der Ethikinitiativen 3.1 Grundlegende Begriffe der Analyse der Ethikinitiativen
Im Vorfeld der Analyse werden Begrifflichkeiten, die in Ethikinitiativen eine wesentliche Rolle spielen, von mir wie folgt verwendet. 3.1.1 Ethik und Moral : Ethymologie und Vorverständnis
Die Verwendung der Begriffe Ethik und Moral ist, nicht nur im wissenschaftlichen Ethikdiskurs, uneinheitlich. Das Wort Ethik ist mit dem Wort Ethos verwandt, welches wiederum auf die griechischen Wörter εθος (Gewohnheit, übliche Sitten, Bräuche) und ηθος (Charakter, Grundhaltung des Tugendhaften) zurückgeführt wird30 (vgl. Fischer 2003, S. 10). Das Wort Moral stammt vom lateinischen Begriff moralis (sittlich, die Sitte betreffend), seine Wortwurzel teilt es sich in den indogermanischen Sprachen mit dem Wort Mut (vgl. ebd.). Das lateinische mos, von dem moralis abgeleitet ist, bedeutet „starker, zur Regel gewordener Wille, der sich auf eine innere Gesinnung gründet“ (ebd.). Mos und das ebenfalls lateinische mores bedeuten aber auch, wie die schon angeführten griechischen Wörter εθος und ηθος : Gewohnheit, Brauch, Sitte, Charakter. „Außerdem standen die lateinischen Wörter und ihre Ableitungen 30 Als Tugend wurde im antiken Griechenland die Fähigkeit bzw. das Können eines Menschen bezeichnet, dem Gemeinwesen zuträgliche Handlungen zuverlässig und präzise auszuführen (vgl. ebd., S. 10).
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insbesondere im Deutschen und im Französischen auch für Lebensart, Anstand, Benehmen und wurden in Wendungen gebraucht, die eine sittliche Belehrung durch Beispiele oder eine Zurechtweisung ausdrücken : die Moral von der Geschichte oder jemanden Mores lehren“ (ebd., S. 10f ). Mit den Begriffen Ethik und Moral verbinden sich demnach zwei voneinander zu unterscheidende Ansprüche : Einerseits werden im alltäglichen Sprachgebrauch gesellschaftliche Konventionen (die bereits erwähnten Sitten und Bräuche) als das Substrat des Moralischen und somit Guten/Richtigen verstanden und von gesellschaftlichen Normen abweichende Handlungen als unmoralisch betrachtet. Andererseits wird Moral oder Charakter aber auch gerade den Personen zugesprochen, die ihr Handeln, unabhängig von gesellschaftlichen Konventionen, an persönlichen Lebensgrundsätzen oder Maximen ausrichten und diese auch, ohne den argumentativen Rückgriff auf gesellschaftliche Konventionen, begründen können (vgl. Fischer 2003, S. 12f ). Aus der Etymologie und dem alltäglichen Sprachgebrauch lässt sich schließen, dass die Wörter Ethik und Moral in ihrer Vielseitigkeit eng aufeinander bezogen sind. Die Begriffe Ethik und Moral lassen sich folgendermaßen voneinander differenzieren : „Moral bezeichnet den Kanon der Regeln und Normen, die von bestimmten Individuen, einer Gruppe oder einer ganzen Gesellschaft akzeptiert werden“ (vgl. Reitinger 2008). Ethik hingegen meine die Reflexion über Lebens- und Verhaltensweisen und Begründung von richtigen oder guten Lebens- und Verhaltensweisen (Fischer 2003, S. 13).31 In der Ethik, als Teilgebiet der Philosophie, soll unter anderem begründet werden, wie Menschen „richtig“ leben können, indem sie „richtig“ handeln. Fischer (2003) bemerkt, dass dieser Anspruch schon beinhaltet, dass Menschen sich einander als frei denken. Der Begriff der Handlung32, so Fischer, impliziert, dass durch ihn Verantwortung bzw. Handlungsfolgen zugeschrieben werden können (im Gegensatz zum Begriff des Widerfahrnisses) und der Mensch sich theoretisch auch hätte anders verhalten können. Ethik ist somit nach Fischer immer schon parteilich zugunsten der menschlichen Autonomie. 31 B. Pelzl vertritt die Aufassung, dass die beiden Termini Ethik und Moral überhaupt nur als Synonyma aufzufassen und beliebig austauschbar seien. Die Unterscheidung sei in der Geschichte der Wissenschaft aus Gründen wissenschaftlicher Systematik eingeführt worden. 32 Ebenso wie sein Synonym „Tätigsein“, ein Begriff von Ich, Wir, Ihr usw., sowie der Begriff der Verantwortlichkeit (vgl. ebd., S. 42) nur unter der Voraussetzung menschlicher Freiheit überhaupt denkbar sind.
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Weder die Annahme menschlicher Freiheit noch menschlicher Determiniertheit ist beweisbar. Auch Kant beweist mit seiner Moralphilosophie die Existenz der Freiheit nicht, sondern setzt sie voraus.33 „Es ist offensichtlich angebracht, auf ontologisierende Redeweisen zu verzichten. Zu sagen : Personen sind frei, oder : alles ist durch kausale Bedingungskomplexe determiniert, sind unbeweisbare Sätze“ (ebd., S. 45). Jedoch dient die Annahme der Kausalität beispielsweise als Voraussetzung wissenschaftlichen Arbeitens, die Annahme der menschlichen Freiheit dient der Organisation des menschlichen Zusammenlebens (vgl. ebd.). „Wir sehen daraus, dass ,Freiheit‘ kein rein empirisches, sondern ein normatives Prädikat ist“ (Bayertz 1995, S. 12). Die Bedingung und einzige anthropologische Grundannahme, um Ethik zu betreiben, ist die Annahme der menschlichen Freiheit. Mit menschlicher Freiheit ist hier die Freiheit gemeint, überhaupt „wollen und tun“ zu können. Dies impliziert, dass Menschen sich zu ihren Lebensäußerungen in ein wertendes Verhältnis setzen können (vgl. Ladenthin 2002, S. 23). 3.1.2 Postmoderne Ethik
Das moralische Selbst, so Zygmunt Bauman, fühle und handle stets im Kontext von Ambivalenz und ist von Unsicherheit durchsetzt (vgl. Bauman 1995, S. 25). Jedes universelle Normensystem, welches eine klare, kohärente ethische Orientierung bieten soll, diene nach Bauman dem Ersatz des moralischen Selbst durch Fremdbestimmung. „Der allgemeine Effekt solcher Anstrengungen ist daher nicht so sehr die Universalisierung der Moralität als vielmehr ein Verstummen moralischer Impulse und ein Kanalisieren moralischer Fähigkeiten in Richtung gesellschaftlich vorgefertigter Ziele, die unmoralische Zwecke einschließen können und es auch tun“ (vgl. ebd., S. 26).34 Das moralische Urteilsvermögen wurde Bauman zufolge von den modernen Moralphilosophen also nicht nur konstruiert35, sondern auch 33 „Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei. Daher kommen alle Urteile über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich nicht geschehen sind. Gleichwohl ist diese Freiheit kein Erfahrungsbegriff, und kann es auch nicht sein … Daher ist die Freiheit nur eine Idee der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist“ (Kant 1933, S. 85). 34 Bauman zufolge wurde beispielsweise mit Kants Pflichtenethik schlicht das alte, repressive System (der strafende Gott) durch ein Neues (die zwingende Vernunft) ersetzt (vgl. ebd., S. 18). „Man kann sagen, obwohl sich die existenzielle Situation der Männer und Frauen unter den Bedingungen des modernen Lebens deutlich verändert hatte, beherrschten weiterhin die alten Annahmen – wonach freier Wille sich nur in falschen Entscheidungen ausdrücke, Freiheit ohne Überwachung immer an Zügellosigkeit grenze und daher ein Feind des Guten sei oder werde – die Köpfe der Philosophen und die Praktiken der Gesetzgeber“ (ebd., S. 17). 35 Wurde im Mittelalter schlicht zwischen richtig und falsch unterschieden, erfolgte im Zuge der
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enteignet. Bauman setzt die Philosophie der Aufklärer in Wechselwirkung mit den Rationalisierungsprozessen, die mit der anlaufenden Industrialisierung einhergingen, sowie den sich verändernden Regierungsformen. Individualität hätte demnach erst herausgebildet werden müssen, um den Rahmen für die Entstehung des autonomen, sich selbst disziplinierenden Individuums zu schaffen. Individuen disziplinierten sich selbst mittels der rationalen Vernunft, welche ihnen auch zur Wahrnehmung äußeren Drucks verhelfe. Mit äußerem Druck sind Verhaltensanforderungen gemeint, die eben nur rational denkende Subjekte anerkennen und mit Androhung von Sanktionen, durch Gesetzgebung usw., einhergehen. „Die individuelle Urteilsfähigkeit weiterzuentwickeln […] und die Einsätze so zu gestalten, dass die Verfolgung der eigenen Interessen dazu veranlassen würde, sich an die Ordnung zu halten, die der Gesetzgeber zu installieren wünschte, musste man als sich bedingende und ergänzende Vorgänge ansehen […] Autonomie rationaler Individuen und Heteronomie rationaler Führung konnten nicht ohne einander, aber sie konnten ebenso wenig friedlich miteinander auskommen“ (Bauman 1995, S. 18f ). Aus dieser wechselseitigen Bedingung von Fremd- und Selbstbestimmung ergebe sich eine Aporie, ein unauflöslicher Widerspruch, welcher in einen unlösbaren Konflikt münde (vgl. ebd., S. 18). Der unlösbare Konflikt ist Bauman zufolge die Suche und Anwendung geschlossener Ideologien, durch welche eine widerspruchsfreie Gesellschaftsordnung geformt werden solle. Es gebe jedoch kein universelles Normensystem, dessen Befolgung zu einer idealen Gesellschaftsordnung führte. Versuche, das Gegenteil zu beweisen, führen Bauman zufolge eher „[…] zu größerer Grausamkeit als zu mehr Menschlichkeit – und sicherlich zu weniger Moralität […]“ (vgl. ebd., S. 23). Eine klare Trennung von Rationalität und Emotionalität, wie sie etwa das Denken Kants impliziert, lehnt Bauman ab. Die Gefühle, so Bauman, sollen ihre Würde zurückerhalten (vgl. ebd., S.56). Als moralisch fasst Bauman gerade den Prozess des Zweifels über Handlungsentscheidungen und die Verantwortungsübernahme gegenüber dem anderen und dem eigenen moralischen Gewissen (vgl. ebd., S. 24). Die Annahme, moralisches Handeln könne nach den Regeln des Rechts gedacht werden, unterschlägt Bauman zufolge genau das moralische Moment menschlichen Handelns.
oderne die Ausdifferenzierung von Verhaltensmaßstäben wie Wahrheit, Schönheit, Brauchbarkeit. M Mit dieser Ausdifferenzierung entstanden die vielen unterschiedlichen Wertesysteme, in welchen sich das postmoderne Subjekt orientieren müsse (vgl. ebd., S. 13).
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Auch wenn Bauman seine Aufgabe zunächst in der Kritik der modernen Moralphilosophie sieht und es genau genommen nicht sein Anspruch ist, ein geschlossenes Normensystem zu konstruieren, positioniert er sich gegen eine wertrelativistische Erkenntnistheorie (vgl. ebd., S. 11). Wie auch die menschliche Freiheit sei die menschliche Moralität nichts, was sich beweisen oder widerlegen ließe. Nach Bauman gibt es „… kein Selbst vor dem moralischen Selbst“ (Bauman 1995, S. 27). Erst würden sich Menschen als Subjekte konstituieren, indem sie einander (an-)erkennen, und dann könnten sie in einen Diskurs über die Bedingungen der Subjektkonstitution eintreten. Mit dieser Gedankenfigur kritisiert Bauman unter anderem, Egoismus und Altruismus als binäre Antagonismen zu denken (vgl. ebd., S. 28). „Moralisches Verantwortungsgefühl ist jedoch gerade ein Akt der Selbstkonstitution. Der Verzicht [auf Moral, A.d.A.] geschieht, wenn überhaupt, dann auf dem Wege vom moralischen zum sozialen Selbst, vom Fürsein zum bloßen Mitsein“ (ebd., S. 28). „Die Gesellschaft, ihre Fortdauer und ihr Wohlergehen werden durch die moralische Kompetenz ihrer Mitglieder ermöglicht – nicht umgekehrt“ (Alan Wolfe in Bauman 1995, S. 54). Die einzige Chance auf eine Vermehrung des moralischen Handelns liegt Bauman zufolge in der Förderung menschlicher Autonomie, nicht in einer verstärkten Kontrolle menschlichen Handelns (vgl. Bauman 1995, S. 29).36 In diesem Sinne könne moralisches Handeln auch nicht durch Richtlinien erzwungen, sondern lediglich gefördert werden, indem Personen ein Handlungsspielraum gelassen wird, in welchem sie Entscheidungen nach ihren persönlichen Lebensgrundsätzen oder Maximen fällen können. 3.1.3 Menschenwürde
Häufig beziehen sich Ethikinitiativen auf die Anerkennung der UN-Menschenrechtskonvention von 1948, welche wiederum im ersten Artikel auf die angeborene Würde und die Rechte des Menschen verweist. „Alle Mensche sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ (UN-Menschenrechtskonvention 1948, Artikel 1). Vor dem Hintergrund der baumanschen Kritik des Universalismus als Herrschaftsinstrument sollte eine solche Naturalisierung der Menschenwürde und -rechte hinterfragt werden. 36 Eine Politik, welche exklusiv/beschränkt ist und somit den Interessen einiger weniger dient, bezeichnet Bauman als parochial. „Die die gesamte Menschheit umspannende moralische Einheit ist, wenn überhaupt, nicht als Endprodukt eines globalisierten Herrschaftsbereiches politischer Gewalt mit ethischen Ambitionen denkbar, sondern als utopischer Horizont der Dekonstruktion des Nach-unsdie-Sinflut-Denkens von Nationalstaaten […].“ (Bauman 1995, S. 29)
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Menschenwürde und Rechte sind Menschen eben nicht angeboren, sondern müssen in sozialen Interaktionen hergestellt werden. Da bereits vergesellschaftete Subjekte Ethik betreiben, ist zu fragen, wie Menschen überhaupt eine Frage nach der über- oder vorgesellschaftlichen Natur des Menschen beantworten können, wenn sie selber aus der befangenen Perspektive von vergesellschaftlichten Subjekten reflektieren. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass der Mensch sich selbst als Mensch bestimmen muss (vgl. Ladenthin 2002, S. 23). „Die notwendige Voraussetzung von Selbstbestimmung ist die Freiheit, sich zum eigenen Wollen und Tun in ein freies, das heißt, wertendes Verhältnis setzen zu können. Diese Freiheit macht menschliche Würde aus […]. Die Aufgabe der Selbstbestimmung ist durch nichts zu hintergehen […]“ (Ladenthin 2002, S. 23). Oberstes Moralprinzip sollte daher auch bei Weiterbildungsmaßnahmen stets die Wahrung der Menschenwürde im Sinne der Selbstbestimmung sein. Aus einer pädagogischen Perspektive sollte deshalb auch nie die Einhaltung einer Ethikinitiative durch die AdressatInnen als Ziel eines Bildungsprozesses angestrebt werden. Ziel des Bildungsprozesses einer Ethikinitiative sollte vielmehr das selbstbestimmte und verantwortliche Handeln von Menschen sein. Hierzu sind ein Verstehen und Hinterfragen der Ethikinitiative unerlässlich – und auch, damit sie weiterentwickelt werden kann. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass eine Ethikinitiative nicht rechtlich verbindlich sein kann und soll. Über die verbindlich einzuhaltenden Normen sollten die Organisationsmitglieder jedoch diskutieren und in einem bestimmten Intervall abstimmen können. Eine Ethikinitiative, an deren Gestaltung die Organisationsmitglieder mitwirken können und die das Verstehen und Hinterfragen ethischer Normen zum Ziel hat, soll daher als „lernende Ethikinitiative“ bezeichnet werden. 3.1.4 Verantwortung
Der Verantwortungsbegriff ist im 20. Jahrhundert zu einer ethischen Schlüssel kategorie avanciert (Bayertz 1995, S. 3). Mittels des Verantwortungsbegriffs werden Zuschreibungen konstruiert. Grundlagen dieser Zuschreibungen sind die bewusste Entscheidung zum Handeln und der Wille, die Handlung auszuführen. Wird davon ausgegangen, dass Verantwortungszuschreibungen zulässig sind, setzt dies die Annahme menschlicher Autonomie und Freiheit voraus (ebd., S. 5). Um diese Zuschreibungen nachvollziehen zu können, sei es hilfreich, den inneren Bezug des Begriffes zu verstehen. Weiters ist nach der Instanz zu fragen, welche die Zuschreibung vornimmt, also auch danach, ob es sich um eine Selbst- oder Fremdzuschreibung von Verantwortung handelt.
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Der Verantwortungsbegriff ist somit ein relationaler Begriff, zu dessen Verständnis Subjekt, Objekt, Normensystem und Instanz, welche die Verantwortung zuschreibt, festgelegt werden sollten. Prospektive und retrospektive Verantwortung, die aufgrund eines Normensystems Personen zugeschrieben wird, sollte mit deren Einfluss auf die Handlung, für welche die Verantwortung zugeschrieben wird, korrespondieren. Bezogen auf Verantwortungszuschreibungen in Organisationen haben Personen am oberen Ende der Organisationshierarchie mehr Verantwortung für das Handeln der Organisation als Personen im unteren Bereich der Organisationshierarchie. „Je größer die Macht, desto größer die Verantwortung.“ (vgl. Bayertz 1995, S. 53) Dieses Prinzip gilt auch in Bezug auf Berufsfelder. WissenschafterInnen kann, je nach den Auswirkungen, die ihre Tätigkeiten auf die Menschheit haben, eine entsprechende handlungsspezifische Verantwortung zugesprochen werden. Fraglich ist, wie diese Zuschreibungen prospektiv, etwa im Bereich von Technologiefolgenabschätzung, vorzunehmen sind. Um Verantwortungsdiffusion zu vermeiden, ist es zuträglich, das Subjekt, dem Verantwortung zugesprochen wird, zu spezifizieren. 3.1.5 Berufsethos
Unter Berufsethos lassen sich die sittlichen und moralischen Gesetze verstehen, die das gute Handeln einer Berufsgruppe gewohnheitsmäßig bestimmen. In Organisationen wird ein Berufsethos – klar ausformuliert oder implizit – durch das Handeln der Personen hergestellt. In organisationsinternen Bildungsprozessen kann ein ausformuliertes Berufsethos dazu dienen, das Verhalten der Organisationsmitglieder zu regulieren. Vor allem kann die Formulierung eines Berufsethos dazu genutzt werden, die ihm zugrunde liegenden Normen zu diskutieren und weiterzuentwickeln. 3.1.6 Resümee 2
Für die Analyse der Ethikinitiativen ergibt sich aus den vorangehenden Ausführungen folgende Perspektive : Da der Ethikbegriff sehr vielfältig gebraucht wird, ist in Bezug auf Ethikinitiativen stets nach den Zielen und Interessen von Ethikinitiativen zu fragen. Weiter ist zu prüfen, ob diese Ziele und Interessen mit dem Konzept der Menschenwürde übereinstimmen. Da Ethik parteiisch zugunsten der menschlichen Autonomie ist, können nur solche Initiativen als ethisch bezeichnet werden, deren Ziele mit dem Schutz der Menschenwürde übereinstimmen.
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Soll mit einer Ethikinitiative eine Reflexion der AdressatInnen über ihr Handeln einhergehen, muss eine Ethikinitiative stets als ein Bildungsprozess gestaltet werden, der möglichst die gesamte Organisation erfasst. Da Bildung eine Selbsttätigkeit ist, sollte in einer Ethikinitiative für die Organisationsmitglieder ein Raum geschaffen werden, in welchem eine Reflexion über die ethischen Aspekte ihres Handelns möglich ist. Eine so konzipierte Ethikinitiative kann auch als lernende Ethikinitiative bezeichnet werden. Die Verwendung des Verantwortungsbegriffs ist auf ihre Verständlichkeit hin zu prüfen. Wird der innere Bezug des Begriffs nicht klar oder das Subjekt, welches Verantwortung übernehmen soll, nicht spezifiziert, können das Ziel der Verhinderung negativer Handlungsfolgen bzw. die Aufrechterhaltung eines gewünschten Zustandes durch Verantwortungszuschreibung und gegebenenfalls -übernahme nicht effektiv angestrebt werden. Die Explizierung eines Berufsethos, welches sich an den Maßstäben redlichen wissenschaftlichen Arbeitens misst, kann zur Umsetzung einer Ethikinitiative genutzt werden. 3.2 Analyse der Europäischen Charta für Forscher/Verhaltenskodex für die Einstellung von Forschern der Europäischen Kommission
Bei der Europäischen Charta für Forscher/Verhaltenskodex für die Einstellung von Forschern handelt es sich um eine Initiative der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2005. Umgangssprachlich wird die 32-seitige Initiative als „Charta für Forscher“ oder „Charta der Wissenschaft“ bezeichnet.37 Das Interesse, mit dem die Charta lanciert wurde, ist, die EU bis zum Jahr 2010 global zum wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsstandort zu entwickeln (vgl. EU-Kommission 2005, S. 3). Dieses Ziel hat sich die Europäische Gemeinschaft auf dem Europäischen Gipfel von Lissabon gesetzt. Ein Weg dorthin führt über die Herstellung eines „… attraktiven, offenen und beständigen europäischen Arbeitsmarktes für Forscher …“ (ebd., S. 4). Ein solcher Arbeitsmarkt soll die Einstellung und Weiterbeschäftigung von ForscherInnen derart gewährleisten, dass „… effektive Leistung und Produktivität …“ (ebd., S. 5) gefördert werden. Weiters soll mit der Initiative einem möglichen Mangel an ForscherInnen vorgebeugt werden. 37 Die Charta der Wissenschaft ist im generischen Maskulinum formuliert. Da ein Grundsatz meiner wissenschaftlichen Arbeit die Verwendung einer geschlechtergerechten Sprache ist, verwende ich das generische Maskulinum nur in Zitaten, nicht in Paraphrasen oder dem sonstigen Text.
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Vor allem einem Arbeitskräftemangel in einigen wichtigen Fachbereichen der F&E38 (vgl. ebd., S. 4), welche nicht näher spezifiziert werden, soll vorgebeugt werden. Als Grund hierfür wird genannt, dass ein solcher Mangel die Innovationskraft, das Wissenspotenzial und somit das Produktivitätswachstum der EU bedrohe (vgl. EU-Kommission 2005, S. 4). Die sich aus dem Ausbau der europäischen Forschungskapazitäten ergebende Laufbahn und Mobilitätspolitik für ForscherInnen soll „ […] nicht auf Kosten der weniger entwickelten Länder oder Regionen […]“ (ebd., S. 5) innerhalb oder außerhalb Europas erfolgen. An welche Regeln sich die AkteurInnen einer wettbewerbsorientierten Forschungspolitik halten sollen, sodass die Interessen „weniger entwickelter Länder und Regionen“ gewahrt werden, wird in der Charta nicht weiter thematisiert (vgl. 9., S. 101). Die Initiative ist in drei Abschnitte gegliedert, denen eine Empfehlung der Kommission vom 11. März 2005 über die Charta für Forscher und den Verhaltenskodex für die Einstellung von Forschern vorausgeht, und wurde seit 2005 nicht überarbeitet : 1. Abschnitt : Die Europäische Charta für Forscher 2. Abschnitt : Verhaltenskodex für die Einstellung von Forschern 3. Abschnitt : Begriffsbestimmungen39 Das Ziel des ersten Abschnittes (S. 10–24) der Europäischen Charta für Forscher liegt in der Regulierung des Verhältnisses zwischen ForscherInnen und ArbeitgeberInnen/FörderInnen. Somit ist die Europäische Charta für Forscher in die Teile, für Forscher geltende allgemeine Grundsätze und Anforderungen (S. 12–16) und für Arbeitgeber und Förderer geltende allgemeine Grundsätze und Anforderungen (S. 17–24), unterteilt. Der Abschnitt 2 der Charta der Wissenschaft, „Der Verhaltenskodex für die Einstellung von Forschern“ (S. 25–29), hat die Regulierung von Einstellungsverfahren von ForscherInnen zum Ziel. Die Initiative hat keine rechtliche Verbindlichkeit, sondern empfehlenden Charakter. Die EU-Kommission hofft, dass der Beitritt zur Charta zu einem Gütesiegel von ForscherInnen oder Institutionen wird. Für die Interessengruppe Arbeitgeber 38 Abk. für „Forschung und Entwicklung“, im Englischen „Research and Development – R&D“. Mit F&E kann, je nach Betonung, die anwendungsorientierte Forschung oder die Zusammenfassung von Grundlagenforschung und ingenieurstechnischer Entwicklung gemeint sein. 39 In diesem Abschnitt werden die Begriffe Forscher, Arbeitgeber, Förderer sowie Ernennung oder Beschäftigung definiert (vgl. EU-Kommission 2005, S. 30–32).
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und/ oder Förderer von Forschern soll die Befolgung des Verhaltenskodex für die Einstellung von ForscherInnen attraktiv sein, da sie so „… offen ihre Bereitschaft, verantwortlich und ehrbar zu handeln und Forschern faire Rahmenbedingungen zu bieten, …“ (ebd., S. 25) zeigen können. Selbige Interessengruppe kann der EUKommission zufolge bei Befolgung des Verhaltenskodex „… ihre Absicht, zur Weiterentwicklung des Europäischen Forschungsraums beizutragen,“ (ebd.) beweisen. Die Umsetzung der Charta soll auch durch ein Beratungsangebot für in der EU mobile ForscherInnen unterstützt werden. Wenn ForscherInnen in verschiedenen Mitgliedsstaaten der EU arbeiten, können sie sich bei Rechtsfragen, beispielsweise zur Anrechnung von Rentenansprüchen, an die eu- solvit-Stelle wenden.40 Die EU-Kommission stellt somit keine eigens für ForscherInnen geschulte Einrichtung, sondern verweist auf eine allgemein für binneneuropäische Behördenfragen zuständige Einrichtung. Generell wird in der Charta dazu aufgerufen, die jeweils geltenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zu beachten und diese nicht mittels der Charta zu unterwandern, falls bereits günstigere Vorschriften zur Stärkung des europäischen Forschungsraums im Sinne der Inhalte der Charta gesetzt wurden (vgl. EU-Kommission 2005, S. 11). Die Charta der Wissenschaft hat bei ihrer Umsetzung bisher nicht die erwünschte Wirkung entfalten können (vgl. Europäische Kommission. Grünbuch : Der Europäische Forschungsraum – Neue Perspektiven, S. 8). Derzeit wird auf EU-Ebene diskutiert, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Umsetzung der Inhalte der Charta zu forcieren. Ein Ansatz ist, ArbeitgeberInnen und FörderInnen von ForscherInnen, welche die Charta mit Erfolg umsetzen, ein Gütezeichen (Charta und Code Label) zu verleihen. Weiters wird derzeit diskutiert, welche Empfehlungen spezifiziert oder verbindlicher gestaltet werden müssen (vgl. ebd. S. 9). Als Autor der den Abschnitten eins bis drei vorangehenden Empfehlungen wird der Wirtschaftswissenschafter Janez Potočnik, zuständiges Mitglied der EUKommission für Science and Research und Wissenschaftskommissar 2004–2009, genannt. Autorin der gesamten Initiative ist die Generaldirektion Forschung der EU-Kommission. Diese konsultierte in einem neunmonatigen Prozess die für sie wichtigsten InteressenvertreterInnen (eu rococ, Leitungsgruppe Humanressour40 Die EU-SOLVIT-Stelle ist eine Einrichtung der EU, welche von Privatpersonen und Organisationen bei fehlerhafter Anwendung von Binnenmarktvorschriften durch Behörden in der EU konsultiert werden kann. Online unter : http ://europa.eu.int/solvit/site/centres/addresses/index_en.htm#germany (Stand 07.07.2008)
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cen und Mobilität, Gewerkschaften usw.), um die Charta der Wissenschaft zu erstellen. AdressatInnen der Initiative sind ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen in der Forschung der EU sowie GeldgeberInnen der Forschung. Die Empfehlungen fassen Charta und Verhaltenskodex zusammen und sind an die Mitgliedsstaaten gerichtet. Im Abschnitt drei – Begriffsbestimmungen – werden als ForscherInnen „Spezialisten, die mit der Planung oder der Schaffung von neuem Wissen, Produkten, Verfahren, Methoden und Systemen sowie mit dem Management diesbezüglicher Projekte betraut sind“ (Frascati-Handbuch in EU-Kommission 2005, S. 30)41, bezeichnet. Insgesamt wird in der Charta betont, dass die Aufgaben von ForscherInnen neben Forschung und Entwicklungsarbeit auch Betreuungs-, Mentoring-, Management- und Verwaltungsaufgaben umfassen (vgl. EU-Kommission 2005, S. 11). Weiters wird zwischen Nachwuchs- und erfahrenen ForscherInnen unterschieden, wobei NachwuchsforscherInnen solche sind, welche vier Jahre Forschungstätigkeit (Vollzeit) einschließlich Forschungsausbildungszeit unterschreiten. Erfahrene ForscherInnen sind solche, welche mindestens vier Jahre seit Erreichen des Hochschulabschlusses Vollzeit geforscht oder promoviert haben (vgl. EUKommission 2005, S. 31). Die Initiative wendet sich an alle ForscherInnen in der EU – unabhängig von Forschungsgebiet, Sektor und Art der Ernennung oder des Beschäftigungsverhältnisses sowie der Rechts- und Organisationsform der Einrichtungen, bei denen sie beschäftigt sind (vgl. ebd., S. 10). Als ArbeitgeberInnen sind auch solche öffentlichen oder privaten Einrichtungen angesprochen, die ForscherInnen ohne direkte finanzielle Beziehung, etwa im Rahmen einer Ausbildung oder eines Stipendiums, beschäftigen (Hochschuleinrichtungen, Fakultätsabteilungen, Laboratorien, Stiftungen, private Gremien). Mit FörderInnen sind Gremien gemeint, welche öffentlichen und privaten Einrichtungen Gelder zur Verfügung stellen, um ForscherInnen zu beschäftigen (vgl. ebd. S. 31f ). Diese GeldgeberInnen werden dazu aufgerufen, die Umsetzung der Charta der Wissenschaft durch die von ihnen geförderten Einrichtungen zur Grundvorauset41 Die Tätigkeiten von ForscherInnen umfassen demnach Grundlagenforschung, strategische Forschung, angewandte Forschung, experimentelle Forschung und Wissenstransfer. Unter Wissenstransfer werden Innovation und Beratung, Leitungs- und Lehrtätigkeiten, Wissensmanagement und Management von geistigem Eigentum, Verwertung von Forschungsergebnissen und Wissenschaftsjournalismus verstanden. Weiters wird explizit darauf hingewiesen, dass die Tätigkeit von ForscherInnen vielseitig sei : ForscherInnen führen nicht nur F&E, sondern auch Betreuungs-, Mentoring-, Management- und Verwaltungsaufgaben aus (vgl. ebd., S. 11).
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zung der Förderung zu machen (ebd.). Dies wäre sicherlich ein wirksamer Anreiz, um die Inhalte der Charta auf institutioneller Ebene umzusetzen. Beigetreten werden kann der Charta der Wissenschaft, indem sie von den einzelnen interessierten Einrichtungen oder Einzelpersonen unterzeichnet wird.42 Mit der Unterzeichung der EU-Charta der Wissenschaft bejahen die UnterzeichnerInnen auch die Inhalte der EU Grundrechte Charta43 (vgl. EU-Kommission 2005, S. 11). Bis zum 14. Juni 2008 haben neunundneunzig Organisationen die Initiative unterzeichnet. Darunter sind zwölf österreichische und zwei deutsche Organisationen.44 Einige Beitrittsorganisationen haben ihre Maßnahmen bei der Implementierung der Charta mittels eines Umsetzungsprotokolls dargelegt (vgl. Alexander von Humboldt Foundation Implementation Protocol 2008). Die Charta der Wissenschaft sowie einige der Beitrittserklärungen der UnterzeichnerInnen sind öffentlich einsehbar. Im Folgenden werden die Verwendung ethischer Schlüsselterminologien und die in der Charta gesetzten Normen dargelegt. 3.2.1 Freiheit der Forschung
Als Sollensmaßstab wird Forschung als eine im Dienste der Menschheit auszuführende Tätigkeit gesetzt. Forschung sollte außerdem auf die Ausweitung der wissenschaftlichen Kenntnisse ausgerichtet sein (EU-Kommission 2005, S. 12). Der Freiheitsbegriff wird in diesem Zusammenhang auf Gedankenfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung und darauf, „… Methoden zur Lösung von Proble42 Die Alexander von Humboldt-Stiftung veröffentlichte ein siebenseitiges Umsetzungsprotokoll, in dem sie ihr Verständnis der Charta expliziert und ihren Kompetenzbereich definiert (vgl. AvH, 2008). 43 Die EU-Grundrechte-Charta bildete Teil II des Europäischen Verfassungsvertrages und ist an die Europäische Menschenrechtskonvention angelehnt. Sie beinhaltet u. a. Artikel zur Würde des Menschen, Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Nachdem die Ratifizierung des Verfassungsvertrages 2007 gescheitert ist, soll ein neuer EU-Grundlagenvertrag ausgearbeitet werden. Die Grundrechte-Charta ist nicht mehr als Teil des Vertrags vorgesehen. Mittels eines Verweises soll sie für alle Staaten, außer Großbritannien und Polen, dennoch für bindend erklärt werden. 44 In Österreich : Forschung Austria, die Österreichische Akademie der Wissenschaften, die Österreichische Rektorenkonferenz, der Österreichische Austauschdienst, das Österreichische Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, der FWF Wissenschaftsfonds, joan n eu m r e s earc h, die medizinische Universität Graz, die Universität Innsbruck, die Universität für Bodenkultur Wien, die Universität Wien, The Vienna University of Economics and Business Administration. In Deutschland : die Hochschulrektorenkonferenz, die Alexander von Humboldt-Stiftung (vgl. http ://ec.europa.eu/ euraxess/index_en.cfm ?l1=42&CFID=14367137& CFTOKEN=64f674eb6302f738–8622FFBB-BFC7 -1039-82FFD69C98EF9490, (Stand 14.06.2008)
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men in Übereinstimmung mit anerkannten ethischen Grundsätzen und Verfahrensweisen zu finden,“ (ebd.) bezogen. Solche allgemein anerkannten ethischen Grundsätze werden in der Charta der Wissenschaft nicht expliziert, sondern sollen auf mitgliedsstaatlicher, sektorenspezifischer und institutioneller Ebene festgelegt werden. ForscherInnen sollen Einschränkungen der Freiheit der Forschung anerkennen, welche sich aus ökonomischen Faktoren ergeben. Explizit werden hier haushaltstechnische oder infrastrukturbedingte Beschränkungen sowie der Schutz von geistigem Eigentum genannt (vgl. ebd., S. 12). Diese Einschränkungen der forscherischen Freiheit dürfen nicht „… allgemein anerkannten ethischen Grundsätzen und Verfahrensweisen zuwiderlaufen, die von Forschern eingehalten werden müssen“ (EU-Kommission 2005, S. 12). Die möglichen Dilemmata und Konflikte, die sich daraus ergeben können, dass ForscherInnen eine Einschränkung der Freiheit der Forschung durch ökonomische Bedingungen akzeptieren und gleichzeitig die Freiheit der Forschung bewahren und im Dienste der Menschheit arbeiten sollen, werden in der Charta der Wissenschaft nicht thematisiert. 3.2.2 Ethische Grundsätze
Obwohl sich die EU um die Vereinheitlichung des europäischen Forschungsraums mittels der Setzung ethischer Standards bemüht (vgl. Evers 2003), wird der Begriff „ethischer Standard“ in der Charta der Wissenschaft nicht verwendet. In dieser Initiative werden Verhaltensnormen expliziert, welche ich, in Übereinstimmung mit Evers 2003 (vgl. ebd., S. 9), unter ethische Standards subsumiere. In der Europäischen Charta für Forscher wird darauf verwiesen, dass ForscherInnen die ethischen Grundsätze und Verfahrensweisen ihrer Fachbereiche sowie die ethischen Normen der Ethikkodizes der Institutionen, Sektoren oder Staaten, für die sie arbeiten, einhalten sollen (EU-Kommission 2005, S. 12). Der Ethikbegriff bleibt somit in der Charta der Wissenschaft undefiniert. 3.2.3 Verantwortung/Verantwortlichkeit
Der Verantwortungsbegriff wird in der Charta der Wissenschaft stellenweise unklar verwendet. ForscherInnen, ArbeitgeberInnen und FörderInnen sollen in ihrem Arbeitsumfeld verantwortlich agieren (vgl. EU-Kommission 2005, S. 10). Sie sind die Subjekte, die Verantwortung übernehmen sollen. Die Objekte – das, wofür sie Verantwortung übernehmen sollen, – und die Normen, auf deren Grundlage sie diese Verantwortung übernehmen sollen, sind ihre Arbeitsaufgaben und in der Charta
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der Wissenschaft sowie der EU-Charta der Grundrechte niedergelegt (vgl. EUKommission 2005, S. 11). Im ersten Teil der Europäischen Charta für Forscher – Für Forscher geltende allgemeine Grundsätze und Anforderungen – wird eine Berufsverantwortung formuliert. Das verantwortliche Subjekt ist hier die jeweilige ForscherIn, das Objekt die Arbeitsaufgabe und Verantwortungsinstanz „… die Gesellschaft“. Da der Satz vollständig lautet : „Forscher sollten alles daran setzen zu gewährleisten, dass ihre Forschung für die Gesellschaft relevant ist und in Bezug auf anderswo bereits durchgeführte Forschung keine Doppelarbeit darstellt“ (ebd., S. 13), lässt sich nur mutmaßen, welche Gesellschaft45 mit „die Gesellschaft“ gemeint ist. Die Verantwortungsinstanz bleibt somit unbestimmt. Weiter bleibt fraglich, wie eine Relevanz der Forschung für die Gesellschaft bestimmt werden soll. Mit dem Verantwortungsbegriff wird häufig dann gearbeitet, wenn sich Steuerungsprobleme ergeben (vgl. Bayertz 1995, S. 46). Gerade bei komplexen Aufgaben, die Flexibilität und Selbstständigkeit erfordern, sind starre Regelkataloge ungeeignet, um das Handeln der Arbeitskräfte zu regulieren. So wird im ersten Teil der Europäischen Charta für Forscher der Verantwortungsbegriff auch darauf bezogen, dass ForscherInnen Plagiatismus zu vermeiden, geistige Eigentumsrechte zu wahren und dafür zu sorgen haben, dass MitarbeiterInnen an Projekten alle Informationen zur Durchführung ihrer Arbeit erhalten (vgl. EUKommission 2005, S. 13). Hier wird ein Regulierungsbedürfnis sichtbar, welchem die DFG-Kommission mit Vorschlägen zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis begegnet (vgl. DFG 1998, 9). 3.2.4 Corporate Social Responsibilities
Eine grundsätzliche Norm der Charta der Wissenschaft ist die Transparenz der Arbeit von ForscherInnen und auch der Einstellungsverfahren. Die Notwendigkeit der Gleichbehandlung aller BewerberInnen bei Einstellungsverfahren im europäischen Forschungsraum wird betont (vgl. ebd., S. 25). Reformbedarf wird auch in Bezug auf die Mobilität von ForscherInnen innerhalb der EU gesehen. Die EU-Kommission verwendet einen weiten Mobilitätsbegriff. Die Förderung geografischer, sektorenüberschreitender, interdisziplinärer, transdisziplinärer und virtueller Mobilität sowie Mobilität zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor sollen den europäischen Forschungsraum zu einem attraktiven Arbeitsmarkt machen (EU-Kommission 2005, S. 20). 45 Etwa die Gesellschaft des jeweiligen Nationalstaats, in dem der oder die ForscherIn arbeitet ?
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In der Europäischen Charta für Forscher (S. 10–24) werden Rollen, Zuständigkeiten und Ansprüche der beiden Interessengruppen Forscher und Arbeitgeber/ Förderer festgelegt (vgl. ebd., S.10). Das Verhältnis der Interessengruppen soll mittels der hier lancierten Grundsätze und Anforderungen derartig reguliert werden, dass „[…] erfolgreiche Leistungen bei der Erzeugung, dem Transfer, dem Austausch und der Verbreitung von Wissen und technologischen Entwicklungen sowie für den beruflichen Werdegang von Forschern […]“ (ebd.) gefördert werden. ForscherInnen sollten die Ziele ihres Forschungsumfeldes und Finanzierungsmechanismen kennen, zu Beginn ihrer Forschung/ Verwendung von Ressourcen erforderliche Genehmigungen einholen und Verzögerungen, Umgestaltungen oder Ergänzungen von Projekten an Arbeitgeber, Betreuer, Förderer kommunizieren (EU-Kommission 2005, S. 13). In der Charta wird die Wichtigkeit des kooperativen Zusammenarbeitens der ForscherInnen betont. Hierbei wird vor allem eine strukturierte, regelmäßige Betreuung von ForscherInnen in der Aus- oder Weiterbildungsphase empfohlen. Diese wird auch durch Buchführung über sämtliche Arbeitsfortschritte und Forschungserkenntnisse, Rückmeldungsvereinbarungen und deren Umsetzung durch Berichte und Seminare sowie dem Arbeiten nach Zeitplänen definiert (vgl. ebd., S. 15f ). Die Leistung von ForscherInnen soll an allen Punkten ihrer Laufbahn regelmäßig durch transparente Beurteilungssysteme erfasst werden. Dies soll unter Berücksichtigung der Faktoren „generelle Kreativität“ und „Forschungsergebnisse“46 geschehen (vgl. ebd., S. 23). Neben der Schwierigkeit, generelle Kreativität als Kriterium zur Beurteilung von Leistung zu definieren, bleibt an dieser Stelle auch zu fragen, ob die hier vertretene Bürokratisierung der Forschung die implizit geforderte kreative Forschungsarbeit nicht eher behindert. ForscherInnen sind gegenüber ArbeitgeberInnen rechenschaftspflichtig, so die EU-Kommission. Auch gegenüber der Gesamtgesellschaft wird den ForscherInnen Rechenschaftspflicht zugesprochen, diese ergibt sich aus „eher ethischen Gründen“ (vgl. ebd., S. 14). Transparenz bei Finanzverwaltung und interner sowie externer Prüfung ist eine Arbeitsnorm, welche die EU-Kommission von ForscherInnen einfordert. Kooperation bei Finanzprüfungen wird, da Forschungsprojekte auch aus Steuergeldern finanziert werden, mit der Rechenschaftspflicht gegenüber der Gesamtgesellschaft begründet. Weiters wird unter „Bewährte Verfahrenswei46 Hiermit wird beispielsweise auf das Erfassen von Veröffentlichungen, Patenten, Forschungsmanagement, Lehrtätigkeit/Vorlesungen, Betreuung, Mentoring, nationaler und internationaler Zusammenarbeit, Verwaltungsaufgaben, Öffentlichkeitsarbeit und Mobilität abgezielt.
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sen in der Forschung“ auf die Notwendigkeit der Einhaltung einzelstaatlicher Gesundheits- und Sicherheitsstandards sowie der Notwendigkeit des Treffens von Vorkehrungen zur Überwindung technischer Ausfälle hingewiesen. ForscherInnen sollen ihre Arbeit so gestalten, dass sie den geltenden Rechtvorschriften bezüglich Datenschutz und Vertraulichkeit entspricht (vgl. EU-Kommission 2005, S. 14). Die Ergebnisverbreitung und -verwertung soll gefördert werden. Kommerzielle Nutzung sowie öffentliche Zugänglichkeit der Forschungsergebnisse werden von der EU-Kommission gewünscht (vgl. ebd., S. 15). Fraglich bleibt, ob die Forcierung der Kommerzialisierung von Forschung der Qualität der Forschung zuträglich ist oder nicht, die Herangehensweise an Forschungsprojekte derartig auf ihre ökonomische Verwertung verengt wird, dass Kreativität und Kritikfähigkeit von ForscherInnen unterbunden werden. Dass ForscherInnen ihre Arbeit der Gesamtgesellschaft verständlich vermitteln, wird als Engagement für die Gesellschaft bezeichnet. ForscherInnen sollen durch die Kommunikation mit der Öffentlichkeit deren Belange besser verstehen und das Interesse der Gesellschaft an Forschung fördern (vgl. ebd.). Im zweiten Teil der Charta für Forscher, „Für Arbeitgeber und Förderer geltende allgemeine Grundsätze und Anforderungen“ (S. 17–24), wird zunächst die Anerkennung der Berufsgruppe der ForscherInnen eingefordert. Dies erfasst zum Beispiel Angestellte, Studierende mit Hochschulabschluss, Post-/DoktorandInnen und verbeamtete ForscherInnen gleichermaßen. Alle ForscherInnen sollten „… als Angehörige einer Berufgruppe angesehen und entsprechend behandelt werden“ (ebd., S. 17). Zur Stärkung des europäischen Forschungsraums soll die Interessengruppe Arbeitgeber und Förderer von Forschern ein motivierendes Forschungs- bzw. Ausbildungsumfeld schaffen47 (vgl. ebd.), einschließlich geeigneter Betreuung der NachwuchsforscherInnen (vgl. ebd., S.22). Weiters sollen die Arbeitsbedingungen unter Beachtung des einzelstaatlichen Rechts und von Tarifverträgen derart flexibel gestaltet werden, dass behinderte und ForscherInnen mit Kindern erfolgreich tätig sein können.48 Die EU-Richtlinie über befristete Arbeitsverträge soll beachtet und stabile Beschäftigungsverhältnisse sollen gefördert sowie attraktive Finanzierungsbedingungen und/oder Gehälter sowie Sozialversicherungsschutz angeboten werden (vgl. EU-Kommission 2005, S. 18f ).49 47 Geeignete Ausrüstungen und die Einhaltung von Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften sowie die Förderung räumlich entfernter Zusammenarbeit sind hier als Mittel genannt (vgl. ebd., S. 17). 48 Hierzu werden flexible Arbeitszeiten, Teilzeitregelungen, Telearbeit, Urlaub zur persönlichen Weiterbildung als geeignete Instrumente betrachtet (vgl. ebd., S. 18). 49 Die Österreichische Akademie der Wissenschaft (ÖAW) hat mit Beitritt zur Charta 2006 ihren DOCStipendien eine soziale Absicherung hinzugefügt (vgl. Eppenschwandtner 2008, S. 1).
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Auf allen Personalebenen sowie in Auswahl- und Bewertungsgremien soll ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis geschaffen werden. Als Mittel zur Gleichstellung wird eine Qualitäts- und Fähigkeitskriterien nachgeordnete Chancengleichheitspolitik bei der Einstellung von ForscherInnen gesehen (vgl. ebd., S. 19, vgl. 9., S. 103). ArbeitgeberInnen/ FörderInnen sollen auch für ForscherInnen mit befristeten Verträgen Laufbahnberatung, etwa im Rahmen eines Mentorings, anbieten (vgl. EU-Kommission 2005, S. 19f ). Als weitere Aspekte einer zu gewährleistenden Laufbahnentwicklungsstrategie werden Laufbahnberatung und Hilfe bei der Arbeitsplatzvermittlung in den betreffenden Einrichtungen, selber oder durch Weitervermittlung, genannt (vgl. ebd., S. 21). Jedwede Form von Mobilität von ForscherInnen muss als Mittel des Kenntnisgewinns und der beruflichen Weiterentwicklung von ForscherInnen in jeder Etappe ihrer Laufbahn wertgeschätzt werden (vgl. ebd., S. 20). Weiterbildung sollte für alle ForscherInnen gefördert werden, Fortbildung in der Lehr- und Betreuungstätigkeit ist zur allgemeinen Weiterbildung zu zählen (vgl. ebd., S. 22f ). Weiterbildungsmaßnahmen sollten regelmäßig bezüglich ihrer Zugänglichkeit, Umsetzung und Effektivität evaluiert werden (vgl. ebd., S. 21). ArbeitgeberInnen/FörderInnen haben auch die Wahrung der Rechte an geistigem Eigentum, Anerkennung von Co-AutorInnentum und die Möglichkeit, eigene Forschungsergebnisse unabhängig von den betreuenden ForscherInnen zu veröffentlichen, zu gewährleisten (vgl. ebd., S. 21f ). Lehrtätigkeiten sind als wesentliche Bestandteile des Wissenstransfers wertzuschätzen, zu bezahlen und zum Verdienst von ForscherInnen zu zählen (vgl. ebd., S. 22f ). Zu Beginn der Laufbahn sollten Lehrtätigkeiten nicht in einem solchen Maß ausgeführt werden, dass sie die Forschungsarbeit behindern. MentorInnen sollte ihre Tätigkeit als Teil der Lehrverpflichtung angerechnet werden. Als letzter Punkt des ersten Abschnitts der Europäischen Charta für Forscher wird darauf verwiesen, dass Einstellungsverfahren unter Berücksichtigung der im zweiten Abschnitt gesetzten Normen zu erfolgen haben (vgl. EU-Kommission 2005, S. 24). Die Abschnitte eins und zwei ergänzen sich somit gegenseitig. Im zweiten Abschnitt der Charta der Wissenschaft, dem Verhaltenskodex für die Einstellung von Forschern, werden allgemeine Grundsätze und Anforderungen für die Ernennung oder Einstellung von Forschern dargelegt (vgl. ebd., S. 25). Grundsätzliche Werte bei der Arbeitsplatzvergabe im europäischen Forschungsraum sollen Transparenz des Einstellungsverfahrens und Gleichbehandlung aller BewerberInnen sowie die Wertschätzung der bereits erwähnten, weitgefassten Mobilität sein. Ein-
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stellungsverfahren sollen „… offen, effizient, transparent, unterstützend und international vergleichbar wie auch auf die Art der angebotenen Stelle zugeschnitten sein“ (ebd.). Dies soll sich auch in einer transparenteren Gestaltung der Stellenausschreibung50 und der Auswahlausschüsse51 niederschlagen. BewerberInnen sollten vor dem Bewerbungsgespräch über das Einstellungsverfahren und die Auswahlkriterien sowie die Anzahl der verfügbaren Stellen und Karriereaussichten unterrichtet werden. Weiters sollte das Einstellungsverfahren nachbereitet und den BewerberInnen die Stärken und Schwächen ihrer Bewerbung offengelegt werden (vgl. ebd., S. 26). Neben quantitativen Gesichtspunkten (Anzahl der Veröffentlichungen) bei der Bewertung von Verdiensten von BewerberInnen sollten auch Lehre, Betreuung, Teamarbeit, Wissenstransfer, Forschungs- und Innovationsmanagement sowie Öffentlichkeitsarbeit bei der Beurteilung der Verdienste der BewerberInnen gewichtet werden (vgl. ebd., S. 27). Gerade bei BewerberInnen aus der Industrie sind Beiträge zu Patenten, Entwicklungen und Erfindungen bei der Beurteilung der Verdienste zu beachten. Lebensläufe mit Abweichungen in der chronologischen Abfolge sollten nicht generell als Nachteil, sondern als „… potenziell wertvoller Beitrag zur beruflichen Weiterentwicklung von Forschern hin zu einem mehrdimensionalen beruflichen Werdegang gewertet werden“ (EU-Kommission 2005, S. 27). Auch sollen bei der Beurteilung der Qualifikation der BewerberInnen die Kompetenzen und Leistungen und nicht andere Faktoren, wie etwa der Ruf der Einrichtung, welcher die ForscherInnen angehören, im Vordergrund stehen (vgl. ebd., S. 29). Am Ende des Verhaltenskodex wird auf die Einstellung und Ernennung von WissenschafterInnen nach der Promotion eingegangen. Diese sollen mittels Leitlinien transparent geregelt werden. Auch Höchstdauer und Ziele der Ernennung sollen expliziert werden. Der PostdoktorandInnengrad soll als Übergangsphase verstanden werden und die Zeit, welche ForscherInnen nach der Promotion in anderen Einrichtungen verbrachten, ihnen angerechnet werden (vgl. EU-Kommission 2005, S. 29). In der Charta der Wissenschaft wird die Nicht-Diskriminierung von ForscherInnen anhand folgender Kategorien gefordert : Geschlecht, Alter52, ethnische/nationale/sozi50 Hiermit wird auf eine weit gefasste Stellenbeschreibung, die potenzielle BewerberInnen nicht abschreckt, gezielt. Arbeitsbedingungen, Leistungsansprüche, Karrierechancen sollten expliziert werden. Der Zeitraum zwischen Bewerbungsaufforderung und Abgabetermin der Bewerbung sollte realistisch sein (vgl. ebd., S. 26). 51 In Auswahlausschüssen sollten Personen mit vielfältigen Fachkenntnissen und Fähigkeiten vertreten sein und es sollte ein adäquates, ausgewogenes Geschlechterverhältnis herrschen (vgl. ebd.). 52 Der Fonds für wissenschaftliche Forschung (FWF) und die Alexander von Humboldt-Stiftung haben
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ale Herkunft, Religion, Weltanschauung, sexuelle Ausrichtung, Sprache, Behinderung, politische Anschauung, soziale und wirtschaftliche Umstände (vgl. EU-Kommission 2005, S. 17). Hinsichtlich der strukturellen Einbettung der möglichen Familienplanung von ForscherInnen und der Chancengleichheit für behinderte Menschen in Wissenschaftsorganisationen bietet die Charta eine Orientierung, indem sie das Angebot von flexiblen Arbeitszeiten, Teilzeitregelungen und Telearbeit unterstützt. Generell sollen Arbeitsbedingungen geboten werden „… die es weiblichen und männlichen Forschern ermöglichen, Familie und Arbeit, Kinder und Karriere zu verbinden.“(ebd., S. 18). Auch die Einstellungsbedingungen für benachteiligte Gruppen und ForscherInnen, die ihre Forschungstätigkeit etwa durch Lehre unterbrochen haben, sollen verbessert werden (vgl. ebd., S. 24). Da es sich bei der Charta der Wissenschaft um eine Initiative handelt, welche zur Orientierung bei der Erstellung von Initiativen der Selbstregulierung auf nationalstaatlicher, sektoren- und institutionsspezifischer Ebene dienen soll, sind die Ausführungen auch zum Thema Diversität eher abstrakt gehalten. Bei der Umsetzung von Ethikinitiativen auf institutioneller Ebene wäre es notwendig auszuführen, wo Probleme im Diversitätsmanagement gesehen werden und Konflikt- oder Dilemmasituationen zu benennen und gegebenenfalls durch Prioritätenregelungen zu regulieren. Auch insgesamt wird in der Charta nicht auf Dilemma- und Konfliktsituationen hingewiesen, welche sich aus den empfohlenen Normen ergeben. Gerade Dilemma- und Konfliktsituationen sollten in branchen- oder institutionsspezifischen Ethikinitiativen jedoch als Bildungsgegenstände genutzt werden. Hinsichtlich der Überwachung der Umsetzung der Charta sollen von den Mitgliedsstaaten Strukturen eingerichtet werden, um ArbeitgeberInnen, FörderInnen und ForscherInnen auf die Umsetzung der Charta der Wissenschaft hin zu überprüfen (vgl. EU-Kommission 2005, S. 8). Hierbei soll die EU-Leitungsgruppe Humanressourcen und Mobilität von den Mitgliedsstaaten für die Kriterienfindung konsultiert werden (vgl. ebd.). Die Mitgliedsstaaten sollen der EU-Kommission jährlich über die Umsetzung der Charta berichten (vgl. ebd., S. 9). ArbeitgeberInnen und FörderInnen sollen eine unparteiische Stelle schaffen, an die sich ForscherInnen im Fall von Beschwerden oder Einsprüchen vertraulich wenden können (vgl. ebd., S. 23). in Reaktion auf die Charta der Wissenschaft biologische Altersgrenzen auf akademische Altersgrenzen von BewerberInnen umgestellt. Bei Förderungen, wie etwa dem Herta-Firnberg-Programm und dem START-Programm, zählt nun, wie viele Jahre seit der Promotion vergangen sind, anstelle des biologischen Alters.
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Die individuelle und kollektive Interessenvertretung von ForscherInnen durch Teilnahme an Informations-, Konsultations- und Entscheidungsgremien der sie beschäftigenden Einrichtungen soll von ArbeitgeberInnen/FörderInnen wertgeschätzt werden (vgl. ebd., S. 24). Zu der Bedeutung gewerkschaftlicher Organisation für einen attraktiven Arbeitsmarkt wird in der Charta keine Stellung bezogen. Die Empfehlungen, welche der Charta der Wissenschaft vorausgehen, werden von der Kommission mittels der offenen Koordinierungsmethode53 regelmäßig geprüft. 3.3 Analyse der DFG Empfehlungen der Kommission „Selbstkontrolle in der Wissenschaft“ – Vorschläge zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis
Die durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)54 berufene Kommission „Selbstkontrolle in der Wissenschaft“ entwickelte 16 Empfehlungen, in denen wissenschaftsethische Prinzipien entfaltet werden (vgl. DFG 1998, S. 3). Die dreiteilige Initiative stammt aus dem Jahre 1998 und umfasst 38 Seiten. 1. Empfehlungen, S. 2–21 2. Probleme im Wissenschaftssystem, S. 21–29 3. Ausländische Erfahrungen, S. 29–33 Die Initiative wurde aufgrund eines in der Öffentlichkeit umfassend diskutierten Falles von wissenschaftlichem Fehlverhalten55 lanciert. Das Interesse der DFG ist der Erhalt wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit durch die Bereitstellung von Kontrollmechanismen zur Qualitätssicherung wissenschaftlicher Arbeit (vgl. ebd., S. 2) und Verfahrensregeln für den Umgang mit 53 Die offene Koordinierungsmethode (OKM) ist ein Instrument der Lissabon-Strategie : Mitgliedsstaaten der EU werden durch andere Mitgliedsstaaten bewertet ; die Kommission überwacht diese Prozesse. Bei dieser Form der Regierungszusammenarbeit werden zunächst gemeinsame, vom Rat gebilligte Zielvorgaben ermittelt, dann Messinstrumente festgelegt und angewandt, wie etwa Statistiken, Indikatoren und Leitlinien. Die Umsetzung der Vorgaben der Mitgliedsstaaten wird vergleichend ermittelt, um Best-Practice-Modelle auszutauschen. 54 Bei der DFG handelt es sich um die europaweit größte Einrichtung zur Förderung der Forschung an Hochschulen und öffentlich finanzierten Forschungsinstitutionen in Deutschland. Die DFG wird durch Gelder von Bund und Ländern finanziert und hat ihren Sitz in Bonn. Die DFG fördert mit diesen Geldern Forschungsvorhaben aller Wissenschaftsgebiete. 55 Als wissenschaftliches Fehlverhalten wird der Tatbestand der bewussten Verletzung elementarer wissenschaftlicher Grundregeln bezeichnet. Ein untergeordneter Begriff ist wissenschaftliche Unredlichkeit (vgl. ebd., S. 3).
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wissenschaftlichem Fehlverhalten (vgl. ebd., S. 3) in Deutschland. In diesem Sinne kann die DFG-Veröffentlichung als Vorreiter der EU-Charta der Wissenschaft auf nationaler Ebene gesehen werden. Die Empfehlungen enthalten keine neuen Regeln, sondern sollen zur täglichen Bewusstmachung der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis beitragen. Dies wird als die beste Vorbeugung gegen Fehlverhalten erachtet (vgl. ebd.). Die Veröffentlichung wird in der Publikation der EU-Kommission „Codes of Conduct – Standards for ethics in research“ als Beispiel der Exzellenz angeführt (Evers 2003, S. 26). Empfehlungen sind generell nicht rechtlich verbindlich, sondern sollen in diesem Fall den einzelnen Organisationen bei der Übereinkunft über ihre ethischen Standards Orientierung bieten. Die Mitgliederversammlung der DFG beschloss am 17. Juni 1998, dass bei der Verwendung von Mitteln der DFG die Empfehlungen eins bis acht einzuhalten sind (vgl. DFG : Antragsstellung 2008). Bei laufenden Projekten sind weitere Fördermittel bei schweren Verstößen gegen die Empfehlungen eins bis acht zu verweigern. Statt des Rückgriffs auf das Bereicherungs- und Deliktsrecht sollen Förderorganisationen zum Beispiel Vertragsstrafen mit Beihilfeempfängern vereinbaren. So kann auch durch Verwarnungen, Ausschlüsse usw. sanktioniert werden (vgl. DFG 1998, S. 18f – Empfehlung 14). Wie auch die EU-Kommission in der Charta der Wissenschaft ruft die Kommission der DFG dazu auf, die bereits bestehenden Gesetze, Normen und Regelungen zu beachten und die Empfehlungen als Ergänzungen zu betrachten. Die Empfehlungen wurden von der Kommission einstimmig verabschiedet (vgl. DFG 1998, S. 1). Die Kommission „Selbstkontrolle in der Wissenschaft“ bestand aus einem interdisziplinären ProfessorInnenteam, in welchem WissenschafterInnen aus Deutschland, Frankreich und den USA vertreten waren.56
56 Dr. Ulrike Beisiegel, Medizinische Universitätsklinik Hamburg, Dr. Johannes Dichgans, Neurologische Universitätsklinik Tübingen, Dr. Gerhard Ertl, Fritz Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin, Dr. Siegfried Großmann, Fachbereich Physik der Universität Marburg, Dr. Bernhard Hirt, Institut Suisse de Recherches Expérimentales sur le Cancer, Epalinges s. Lausanne, Dr. Claude Kordon, INSERM U 159 Neuroendocrinologie, Paris, Dr. Lennart Philipson, Skirball Institute of Biomolecular Medicine, New York University, New York, Dr. Eberhard Schmidt-Aßmann, Institut für deutsches und europäisches Verwaltungsrecht der Universität Heidelberg, Dr. Wolf Singer, Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt am Main, Dr. Cornelius Weiss, Fakultät für Chemie und Mineralogie der Universität Leipzig, Dr. Sabine Werner, Max-Planck-Institut für Biochemie, Martinsried, Dr. Björn H. Wiik, Deutsches Elektronen-Synchrotron, Hamburg
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AdressatInnen der Empfehlungen sind deutsche Wissenschaftsorganisationen, vor allem Universitäten und dadurch auch die Mitglieder dieser Institutionen (vgl. DFG 1998, S. 3). Die Initiative hat auch die Regulierung der Ausbildung von NachwuchsforscherInnen zum Ziel und spricht in diesem Punkt vor allem Universitäten an (vgl. ebd.). Die AdressatInnen sollen die Empfehlungen umsetzen, indem sie faire Verfahren im Umgang mit Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens entwickeln. Die Empfehlungen sollen den einzelnen Institutionen als Vorlage für die Entwicklung interner Kontrollmechanismen dienen. Dies ist, wie auch im Falle der Charta der Wissenschaft der EU-Kommission, der Grund dafür, dass die Empfehlungen nicht als detailliertes Regelsystem konstruiert wurden. Die Kommission erachtet die Empfehlungen auch nicht als für alle Wissenschaftsgebiete gleichförmig anwendbar. Die Institutionen sollen die Empfehlungen umsetzen, indem sie diese als Orientierungshilfen bei eigenen Überlegungen, „[…] die sie selbst jeweils gemäß ihrer äußeren und inneren Verfassung […]“ (ebd., S. 3) sowie ihrer Aufgaben entwickeln, verwenden. Kernaufgabe der Hochschulen ist es, den Studierenden Ehrlichkeit als Grundlage einer guten wissenschaftlichen Praxis zu vermitteln. Die Kernaufgabe der Selbstverwaltung der Wissenschaft (und somit der DFG) ist, die Voraussetzungen für die Geltung und Anwendung der guten wissenschaftlichen Praxis zu sichern (ebd.). Handlungsbedarf wird vor allem auf institutioneller Ebene gesehen : In Hochschulen, Forschungsinstituten, Fachgesellschaften, wissenschaftlichen Zeitschriften und Förderungseinrichtungen sollen die Normen guten wissenschaftlichen Arbeitens hervorgehoben und angewandt werden (vgl. ebd.). Die Initiative ist öffentlich einsehbar. Viele deutsche Universitäten und Forschungseinrichtungen haben in Anlehnung an die Initiative der DFG eigene Grundsätze guten wissenschaftlichen Arbeitens formuliert oder die Empfehlungen der DFG übernommen.57 Im Falle der Verletzung von Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis hat die DFG auf Empfehlung der Kommission hin 1999 ein unabhängiges Ombudsgremium eingerichtet. Staatliche Maßnahmen werden zur Prävention wissenschaftlichen Fehlverhaltens als nicht notwendig erachtet (DFG 1998, S. 3). 57 Z. B. die Universitäten Kassel, Leipzig und das Zentralinstitut für Kunstgeschichte München (online unter : http ://www.uni-kassel.de/wiss_tr/Nachwuchs/Leitlinien.pdf, http ://www.zikg.eu/main/ richtlinien.htm, http ://www.uni-leipzig.de/rektorat/praxis.html, Stand 18.08.2008)
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Im Folgenden werde ich die Verwendung des Verantwortungsbegriffs und die in den Empfehlungen enthaltenen Normen darlegen. Subjekt und Objekt der Verantwortung werden bei der Begriffsverwendung im Text expliziert. Das Normensystem, aufgrund dessen die Verantwortungszuschreibung stattfindet, bilden die Empfehlungen der Kommission. Den Personen am oberen Ende der Organisationshierarchie wird mehr Verantwortung für das Handeln der Organisation zugeschrieben als Personen im unteren Bereich der Organisationshierarchie. Vor allem die Leitenden von Institutionen sowie die für Grundsatzfragen zuständigen Organe haben die Pflege guter wissenschaftlicher Praxis und den Umgang mit Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens zu verantworten (vgl. DFG 1998, S. 3). Eine besondere Verantwortung für die Überwachung guter wissenschaftlicher Praxis kommt den Hochschulen zu, da sie allein akademische Grade verleihen (vgl. ebd.). Die Grundprinzipien wissenschaftlichen Arbeitens sind der Kommission zufolge in allen Ländern und Disziplinen gleich. Als erste universale ethische Norm wissenschaftlichen Arbeitens wird Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen genannt (vgl. ebd., S. 2). Ehrlichkeit wiederum ist die Grundlage der von Disziplin zu Disziplin variierenden wissenschaftlichen Professionalität und Voraussetzung des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Wissenschaft. Unter dieser wissenschaftlichen Professionalität wird gute wissenschaftliche Praxis verstanden (ebd.). Entwerfen sich einzelne Organisationen Regeln, sollten diese, so die Kommission in der ersten Empfehlung, die allgemeinen Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens aufgreifen. Diese sind beispielsweise, lege artis – „nach den Regeln der Kunst“ – zu arbeiten, Resultate zu dokumentieren, alle Ergebnisse konsequent selbst anzuzweifeln, strikte Ehrlichkeit im Hinblick auf die Beiträge von PartnerInnen, KonkurrentInnen und VorgängerInnen zu wahren, Zusammenarbeit und Leitungsverantwortung in Arbeitsgruppen sowie die Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses und die Sicherung und Aufbewahrung von Primärdaten zu gewährleisten (vgl. ebd., S. 3). In Empfehlung zwei wird den einzelnen WissenschafterInnen die Verantwortung für die Pflege der grundlegenden Werte und Normen der Wissenschaft zuge sprochen (vgl. DFG 1998, S. 4). Ein solcher Wert ist beispielsweise die in der deutschen Verfassung garantierte Freiheit der Wissenschaft in Forschung, Lehre und Studium. Aus dieser sich aus der Freiheit ergebenden Verantwortung der einzelnen WissenschafterInnen leitet die Kommission ab, dass Regeln guter wissenschaftlicher Praxis durch die Gremien der wissenschaftlichen Selbstverwaltung im Konsensverfahren gefunden werden müssen (vgl. ebd., S. 5). Diese Regeln sollen unter Beteiligung aller wissenschaftlichen Mitglieder der Gremien formuliert und
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für alle Mitglieder der Institution verpflichtend sowie fester Bestandteil der Lehre und Ausbildung der NachwuchswissenschafterInnen sein. Erfahrene WissenschafterInnen sollen dem wissenschaftlichen Nachwuchs in ihrem Verhalten als Vorbilder dienen (vgl. ebd.). Gelegenheit „[…] zur Diskussion der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis einschließlich ihrer (im weiten Sinne) ethischen Aspekte …“ soll gegeben sein (vgl. ebd., S. 4). Empfehlung drei bezieht sich auf die Verantwortung für die Gewährleistung von Strukturen, in denen eine gute wissenschaftliche Praxis möglich ist. Die Verantwortung hierfür liegt zuerst bei der Leitung der gesamten Institution, dann bei den ArbeitsgruppenleiterInnen und danach bei den einzelnen WissenschafterInnen. Die Arbeitsbedingungen in den Arbeitsgruppen sollen Verlässlichkeit, Vertrauen und eine produktive Diskussionskultur ermöglichen (vgl. DFG 1998, S. 5). Arbeitsgruppen müssen nicht hierarchisch organisiert sein, sondern können funktional organisiert werden (vgl. ebd., S. 5f ). In größeren Arbeitsgruppen soll die Kommunikation der Arbeitsergebnisse, beispielsweise in Form von Kolloquien, erfolgen. Die wiederholbare wechselseitige Überprüfung von Arbeitsergebnissen muss gewährleistet sein (vgl. ebd., S. 5). Hinsichtlich der Leitung einer Arbeitsgruppe sollen Aufgaben delegiert werden, anstatt Verantwortungsdiffusion aufkommen zu lassen (vgl. ebd., S. 6). Wie die EU in der Charta der Wissenschaft (vgl. EU-Kommission 2005, S. 15) formuliert auch die Kommission die Notwendigkeit, NachwuchsforscherInnen gründlich zu betreuen (Empfehlung 4). Hierzu sollen Hochschulen und Forschungseinrichtungen für die einzelnen Arbeitseinheiten verpflichtende Grundsätze festlegen, nach denen die Betreuung der NachwuchsforscherInnen zu erfolgen hat (vgl. DFG 1998, S. 6). Die Kommission empfiehlt, dass in Arbeitsgruppen die jüngeren WissenschafterInnen (DoktorandInnen, fortgeschrittene Studierende, jüngere Postdocs) jeweils primäre AnsprechpartnerInnen haben (vgl. ebd.). Zusätzlich empfiehlt die DFG Zweit- und DrittbetreuerInnen, wovon mindestens eine/r durch die zu Betreuenden selbst zu wählen ist. BetreuerInnen sollten örtlich erreichbar sein, aber nicht alle derselben Arbeitsgruppe angehören, und müssen nicht von derselben Fakultät oder Institution sein (vgl. DFG 1998, S. 7). In Bezug auf Prüfungen, Verleihung akademischer Grade, Beförderungen, Einstellungen, Berufungen und Mittelzuweisungen drängt die DFG-Kommission weniger als die EU-Kommission auf Vergleichbarkeit der Einstellungsverfahren (vgl. EU-Kommission 2003, S. 25). Die DFG-Kommission betont, dass Originalität und Qualität als oberste Werte vor Quantität gelten sollen (vgl. DFG 1998, S. 7). Organisationen sollen ihre Bewertungsmaßstäbe auf allen Ebenen (Prüfungsanforderungen, Promotion, Habilitation) überprüfen. Haben Umfang der schrift-
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lichen Arbeit und Zahl der Publikationen Vorrang vor qualitativen Maßstäben, wird eine Rückkehr zu qualitativen Maßstäben empfohlen. Da mittels quantitativer Maßstäbe der Druck auf Personen, in Masse zu veröffentlichen, verstärkt wird, begünstigen quantitative Maßstäbe wissenschaftliche Unredlichkeit. Diesem Umstand kann entgegengewirkt werden, indem etwa bei Bewerbungen prinzipiell eine (geringe) Maximalanzahl von Veröffentlichungen als Leistungsnachweis verlangt wird (vgl. DFG 1998, S. 8). AutorInnen wissenschaftlicher Arbeiten wird angeraten, stets möglichst wenige und dafür gelungene Veröffentlichungen zur Beurteilung einzureichen (vgl. ebd., S. 9). Bezüglich der Sicherung von Primärdaten wissenschaftlicher Arbeit rät die Kommission in Empfehlung sieben, die Daten auf haltbaren und gesicherten Trägern in den Institutionen, in denen sie erarbeitet wurden, für zehn Jahre aufzubewahren. Empfohlen wird der Standard renommierter Labors, die kompletten Datensätze zu Publikationen als Doppel mit dem Publikationsmanuskript und den dazu geführten Korrespondenzen zu archivieren. Auch die Aufzeichnung der Daten sowie Verantwortungen zur Sicherung der Daten bei einem Ortswechsel sollen klar geregelt sein. Bei einem Ortswechsel sollen Duplikate angefertigt und Zugangsrechte bestimmt werden (vgl. ebd.). Empfehlung acht bezieht sich auf die Gestaltung von Verfahren, die, unter Berücksichtigung rechtlicher Regelungen, den Umgang mit Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlverhaltens festlegen (vgl. DFG 1998, S. 10). Tatbestände wissenschaftlichen Fehlverhaltens müssen definiert sein. Hierzu zählen Erfindung und Fälschung von Daten, Plagiat und Vertrauensbruch als Gutachter oder Vorgesetzter. Weiters müssen Zuständigkeit, Verfahren einschließlich Beweislastregelung und Fristen für die Ermittlung zur Feststellung des Sachverhalts geregelt sein und Regeln zur Anhörung Beteiligter oder Betroffener, zur Wahrung der Vertraulichkeit und zum Ausschluss von Befangenheit gefunden werden. Sanktionen sollen in Abhängigkeit vom Schweregrad des nachgewiesenen Fehlverhaltens festgelegt sowie die Zuständigkeit für diese Festlegung bestimmt werden (vgl. DFG 1998, S. 10). Die Kommission beschreibt ein Verfahren mit Vorermittlungen und Hauptverfahren, dessen Ziel – gegenüber oft langwierigen rechtlichen Prozessen – die schleunigste Aufklärung und gegebenenfalls Schlichtung von Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens ist (vgl. ebd., S. 11). Angemerkt wird, dass solche Verfahren ein hohes Maß an juristischer Erfahrung erfordern. Daher bittet die Kommission die Hochschulrektorenkonferenz darum, ein Musterverfahren zu erarbeiten (vgl. ebd. S. 12f ). Im Hinblick auf einheitliche Verfahrensmaßstäbe wird außeruniversitären Forschungsinstituten, die keiner Trägerorganisation angehören, in Empfehlung neun
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geraten, gemeinsam mit anderen Institutionen Maßstäbe zu erarbeiten (vgl. ebd., S. 14). Wissenschaftliche Fachgesellschaften haben Verantwortung für die Willensbildung ihrer Mitglieder und sollen, so die Kommission in Empfehlung zehn, zur Qualitätssicherung beitragen, indem sie fachspezifische Verhaltenskodizes erarbeiten. Auch auf europäischer Ebene sollen von Fachgesellschaften die Fragen guter wissenschaftlicher Praxis diskutiert werden (vgl. ebd., S. 15). AutorInnen sollen die Verantwortung für wissenschaftliche Veröffentlichungen stets gemeinsam tragen. EhrenautorInnenschaften58 sind auszuschließen, so die Kommission in Empfehlung elf. Die Auswahl der Beiträge für wissenschaftliche Zeitschriften sollen in den AutorInnenrichtlinien anhand der besten internationalen Praxis festgeschrieben werden. Die GutachterInnen der Manuskripte sollen zu Vertraulichkeit und auf Offenlegung von Befangenheit verpflichtet werden (vgl. ebd.). Eingangsdatum des Manuskriptes und das Datum, an welchem es akzeptiert worden ist, sollten veröffentlicht werden. Wissenschaftliche Veröffentlichungen mit Innovationsanspruch sollten Ergebnisse vollständig und nachvollziehbar beschreiben, korrekt zitieren (um eigene und fremde Vorarbeiten nachzuweisen) und ältere Ergebnisse als solche transparent machen und nur wiederholen, wenn dies zum Verständnis notwendig ist (vgl. DFG 1998, S. 16). Eine Selbstverpflichtung der Zeitschriften zur kurzfristigen Rückmeldung seitens der GutachterInnen an AutorInnen wird empfohlen (vgl. ebd., S. 17). Auch das Verhalten von Gutachtern bei der Vergabe von Fördermitteln soll von absoluter Vertraulichkeit und der Offenlegung von Befangenheit gekennzeichnet sein. Beurteilungskriterien sollen gegenüber den BewerberInnen spezifiziert werden, und unreflektierte quantitative Indikatoren (zum Beispiel Impact-Faktoren) sollen nicht für die Fördermittelvergabe entscheidend sein (vgl. ebd., S. 19). Gutachten sind ehrenamtliche Tätigkeiten. Regelungen bei Fehlverhalten der gutachtenden Person sollen von den Förderorganisationen transparent festgeschrieben werden, wie etwa Verlust des Wahlamtes, falls die Tätigkeit auf einem solchen beruht. 58 Verantwortung für die Einwerbung von Fördermitteln, Beitrag wichtiger Untersuchungsmaterialien, Unterweisung von MitautorInnen in bestimmte Methoden, Beteiligung an der Datensammlung und -zusammenstellung, Leitung einer Institution oder Organisationseinheit, in der die Publikation entstanden ist, sind keine ausreichenden Gründe, um eine AutorInnenschaft zu begründen. Solche Leistungen sollten in Fußnoten oder Danksagungen erwähnt werden (vgl. ebd., S. 16).
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Nachgewiesenes Fehlverhalten kann die Aufhebung der Anonymität von GutachterInnen oder MitarbeiterInnen/Mitgliedern von Entscheidungsgremien rechtfertigen (vgl. ebd.). Das Verhältnis von Förderinstitutionen und WissenschafterInnen basiert, so die Kommission in Empfehlung 13, auf einem unentbehrlichen Vertrauen in die Einhaltung von Grundprinzipien der wissenschaftlichen Arbeit und der Begutachtung (vgl. ebd., S. 7). Deshalb sollten die Förderinstitutionen gute wissenschaftliche Praxis durch klare Vorgaben gegenüber den AntragstellerInnen stützen. Ein qualifizierter Antrag sollte Vorarbeiten korrekt und vollständig darstellen und noch nicht erschienene Literatur genau zitieren und kennzeichnen. Weiter soll das Projekt in der Art, wie auch dessen Durchführung beabsichtigt wird, beschrieben und die Absicht und Möglichkeit der Zusammenarbeit aller Involvierten sollen erklärt werden (vgl. ebd. S. 17f ). Die Auskünfte in Kenntnisnahme dieser Vorgaben sollen von den AntragstellerInnen unterschrieben werden (vgl. ebd., S. 18). In der Initiative finden sich keine Empfehlungen zur Nicht-Diskriminierung von ForscherInnen anhand politischer Kategorien (beispielsweise Alter, Religion, Hautfarbe, Geschlecht, eventuelle Behinderung, ethnische oder nationale Herkunft, Abstammung, Familienstand oder sexuelle Orientierung). Auch zu Frauenförderung oder Familienplanung/Kinderfreundlichkeit sind keine Empfehlungen vorhanden. Der DFG wird von der Kommission empfohlen, eine unabhängige Instanz – etwa in Form einer Ombudsperson – zur Beratung und Unterstützung von WissenschafterInnen bezüglich guter wissenschaftlicher Praxis und ihrer Verletzung durch wissenschaftliche Unredlichkeit zu schaffen (vgl. DFG 1998, S. 20). Diese Instanz soll allen WissenschafterInnen in Deutschland zugänglich sein und über ihre Arbeit jährlich öffentlich berichten. Vor allem NachwuchswissenschafterInnen, die wissenschaftliches Fehlverhalten älterer KollegInnen gegebenenfalls aus Schutz ihrer Position nicht melden, soll der Schutz der guten wissenschaftlichen Praxis durch eine solche vertrauenswürdige unabhängige und mit Autorität ausgestattete Position, welche die Vertrauensinstanzen an den einzelnen Institutionen ergänzt, erleichtert werden (vgl. ebd.). Außerdem sollen die einzelnen Wissenschaftsorganisationen eine neutrale, qualifizierte und vertrauliche Ansprechstelle innerhalb ihrer Organisationsstrukturen schaffen (Empfehlung 5). Diese sollte durch eine Person „bewährter persönlicher Integrität“ (vgl. ebd.) oder eine Kommission besetzt sein. Die AnsprechpartnerInnen sollen der Organisation angehören und unabhängig sein. Hier kommen der DFG zufolge in Hochschulen ProrektorInnen und in außeruniversitären Forschungseinrichtungen Mitglieder der Leitung infrage.
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3.4 Analyse der Ethikinitiative „Ethics for Biomedical Laboratory Scientists” des Norwegian Institute of Biomedical Science
In der Ethikinitiative „Ethics for Biomedical Laboratory Scientists” des Norwegian Institute of Biomedical Science werden ethische Leitlinien für die Arbeit von LaborwissenschafterInnen der Biomedizin (BLS – Biomedical Laboratory Scientists) in Norwegen reflektiert. Dies geschieht auf Grundlage der BLS Professional Ethical Guidelines des Norwegian Institute of Biomedical Science59 von 1996. Die Initiative aus dem Jahre 2006 umfasst 19 Seiten und besteht aus folgenden Teilen : – Professional Ethical Guidelines for Biomedical Laboratory Scientists, S. 4–5 – Ethical Theories, S. 6–13 – Reflections on the professional ethical guidelines, S. 14–19 Im letzen Teil werden die Leitlinien aus Teil eins anhand ethischer Dilemmata aus dem Arbeitsalltag von BLS anwendungsbezogen diskutiert (vgl. NITO 2006, S. 3). Ziel der Initiative ist die Regulierung des beruflichen Handelns von LaborwissenschafterInnen der Biomedizin auf der Grundlage ethischer Leitlinien. Die Ethikinitiative soll den Bildungsprozess von BLS hinsichtlich ethischer Aspekte ihrer Arbeit unterstützen. Die Leitlinien sind für die Angestellten rechtsgültig. Bei Verstößen kann das Ethikkomitee des Norwegian Institute of Biomedical Science Sanktionen erheben. Als Autorin der Initiative wird das Ethics Committee (YER) genannt. Das Ethikkomitee ist eine Körperschaft des Norwegian Institute of Biomedical Science und hat beratende und überwachende Funktion in Bezug auf die Einhaltung der ethischen Standards. Es besteht aus einem Vorsitzenden, zwei festen Mitgliedern und einem stellvertretenden Mitglied des Instituts, das von den Mitgliedern des Institutes für drei Jahre gewählt wird. Das Direktorium des Norwegian Institute of Biomedical Science lässt die Aktivitäten des Ethikkomitees durch ein Mitglied des Direktoriums beobachten (vgl. NITO 2006, S. 3). Das Vorwort des zweiten Teils ist von Eva Bohlin, stellvertretendes Mitglied im Ethikkomitee von 2002–2004, verfasst. AdressatInnen der Initiative sind LaborwissenschafterInnen der Biomedizin in Norwegen. Die Initiative wurde mit der Absicht veröffentlicht, das professionelle 59 Das Norwegian Institute of Biomedical Science ist eine unabhängige Körperschaft innerhalb von NITO – The Norwegian Society of Engineers and Technologists. NITO ist die größte Gewerkschaft für IngenieurInnen und TechnikerInnen in Norwegen.
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Handeln dieser Berufsgruppe durch die Reflexion über die ethischen Aspekte der Arbeit von LaborwissenschafterInnen der Biomedizin zu fördern und die Identität der Berufsgruppe zu stärken (ebd.). Insofern wird hier ein Berufsethos von LaborwissenschafterInnen der Biomedizin gepflegt. Zur Umsetzung der Leitlinien wird angeraten, die Broschüre als Hilfe in Dilemmasituationen in der alltäglichen Arbeit zu verwenden. Beispielsweise sollen Studien- oder Diskussionsgruppen gegründet werden, in denen der wissenschaftliche Nachwuchs anhand der Ethikinitiative geschult wird (ebd.). Auf die Einhaltung der BLS Professional Ethical Guidelines soll vor allem durch interne Weiterbildung hingewirkt werden. Weiters werden die in der Initiative vertretenden Normen sowie die Verwendung ethischer Schlüsselterminologien analysiert. Ein Aspekt der ethischen Reflexion ist, der Initiative des Norwegian Institute of Biomedical Science zufolge, grundsätzliche Bescheidenheit. Situationen können nicht generell bewertet werden, sondern ForscherInnen sollen sich fragen, welches in der spezifischen Situation mit den spezifischen AkteurInnen das richtige Verhalten ist (vgl. ebd., S. 7). Hierzu ist es im Arbeitsalltag notwendig zuzuhören, zu versuchen, sich zu verstehen, sich gegenseitig kennenzulernen und die jeweiligen Einstellungen zu respektieren sowie Verantwortung zu übernehmen. Das Bewusstwerden über eigene Werte und die eigene Identität gibt Menschen Selbstsicherheit und Vertrauen. Selbstsicherheit und Vertrauen wiederum verhelfen Menschen dazu, wissen und fühlen zu können, was für sie selbst und andere Personen wichtig ist. Eine Kommunikation, welche von gegenseitigem Respekt gekennzeichnet ist, wird in der Initiative daher als dialogisch bezeichnet. Führen LaborwissenschafterInnen der Biomedizin einen Dialog mit den sie umgebenden Menschen, kann eine verantwortungsvolle Praxis gewährleistet werden (ebd.). Im ersten Teil der Initiative werden die 11 Leitlinien des Norwegian Institute of Biomedical Science angeführt. Diese gebe ich hier sinngemäß in Deutsch wieder : 1. Der BLS muss Respekt vor dem Leben und der inhärenten Würde des Menschen demonstrieren. 1.1 Jeder Mensch trägt Würde und ein gleiches Recht auf Respekt, ungeachtet seiner ethnischen Herkunft, seines Geschlechts, seines Alters, seiner Kultur, seiner Religion, seiner politischen Einstellung, seines Gesundheitszustandes und seiner Lebenssituation in sich. 2. Der BLS muss Respekt vor dem Recht des Patienten/die Patientin auf informierte Einwilligung, Autonomie und Integrität zeigen. 2.1 Der BLS muss seine Arbeit so ausführen, dass der Patient/die Patientin sich sicher fühlt.
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2.2 Der BLS muss auf den Patienten/die Patientin und seine/ihre Familie Rücksicht nehmen. 2.3 Der BLS muss seine Aufmerksamkeit auf die Patientin/den Patienten fokussieren. 2.4 Der BLS muss die Patientin/den Patienten über die bioanalytischen Aspekte der Behandlung informieren. 2.5 Der BLS muss private und medizinische Informationen vor unautorisiertem Zugriff schützen. 3. Der BLS muss seine Arbeit auf eine einwandfreie, professionelle Weise ausführen und Verantwortung für sein Handeln übernehmen. 3.1 Der BLS muss seine berufliche Verantwortung anerkennen. 3.2 Der BLS sollte die ethischen Konsequenzen seiner Arbeit reflektieren. 3.3 Der BLS muss seine Kompetenzen erhalten und dafür sorgen, sie zu aktualisieren. 4. Der BLS muss biologische Materialien mit Respekt behandeln. 5. Der BLS sollte helfen, die Lebenswissenschaften zu fördern. 5.1 Der BLS muss sicherstellen, dass die Forschungsarbeit, an welcher er teilnimmt, vorschriftsmäßig ist. 5.2 Der BLS sollte Forschungsarbeit, die mit seinen Überzeugungen konfligiert, ablehnen. 5.3 Der BLS muss Tiere mit Rücksicht und Respekt behandeln. 6. Der BLS muss seinen Arbeitsvertrag und Vorschriften beachten, solange diese nicht mit unseren beruflichen ethischen Leitlinien konfligieren. 6.1 Der BLS muss auf das Konfligieren grundsätzlicher Zielvorstellungen und der professionellen ethischen Leitlinien reagieren. 7. Der BLS muss Respekt für und Besorgnis um seine/ihre KollegInnen zeigen. 7.1 Der BLS muss Toleranz für die Arbeit, Methoden und Lebenssituationen anderer entwickeln. 8. Der BLS muss Disziplinen und Verantwortungsbereiche anderer Berufsgruppen respektieren. 8.1 Der BLS muss zur guten Kooperation mit anderen Berufsgruppen beitragen. Bei Interessenkonflikten sollen das Leben und die Gesundheit des Patienten/der Patientin im Vordergrund stehen. 9. Der BLS muss seine Berufsexpertise verfügbar halten, auch in Krisen. 10. Der BLS sollte sich an Umweltdebatten beteiligen. 11. Der BLS sollte dazu beitragen, dass ethische Aspekte in Gesundheits- und Sozialdebatten betont werden.
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11.1 Der BLS sollte sich für die Bereitstellung und den Gebrauch von Ressourcen, welche ethisch einwandfreies Arbeiten in den Laboren und im sonstigen Gesundheitswesen sichern, einsetzen (NITO 2006, S. 3). Im zweiten Teil der Initiative, Theory (S. 6–13), erfolgt eine kurze Heranführung an den Ethikbegriff mit Bezug auf die Arbeit von LaborwissenschafterInnen der Biomedizin (ebd., S. 6–7). Der Unterschied zwischen Moral und Ethik wird hierbei in der Entstehung von Verhaltensnormen gesehen. Moral bezeichnet ausschließlich aus Tradition, sozialem Druck, der auf Individuen ausgeübt wird, gewachsene Verhaltensnormen. Ethik hingegen bezeichnet Normen, die Individuen durch Reflexion herstellen. Der Initiative zufolge reflektieren Menschen in Krisensituationen, in denen durch die gesellschaftliche Moral vorgegebene Bewertungsmaßstäbe nicht anwendbar sind (vgl. ebd., S. 8), ethisch. Wenn Moral tradierte Normen repräsentiert und Ethik die Reflexion über Normen und gegebenenfalls die Herstellung eigener Normen, wird die spontane Anwendung persönlicher Lebensgrundsätze oder Maximen, so genannter subjektiv-praktischer Grundsätze (vgl. 2.1, S. 20), mit der hier gemachten Unterscheidung von Moral und Ethik nicht mitgedacht. Unter „Important Terms“ und „Concepts“ (S. 8–11) werden Schlüsselbegriffe der Ethik, wie etwa die Begriffe Wert/Wertesystem, Norm, Moral und Ethik, Metaethik, deskriptive Ethik, Medizinethik und die Pflicht der Vertraulichkeit mit Bezug auf die Tätigkeiten von LaborwissenschafterInnen der Biomedizin kurz anhand einiger Beispiele aus der Praxis von LaborwissenschafterInnen der Biomedizin erläutert. Beispielsweise wird Vertraulichkeit als zentrale Norm der Medizinethik genannt. Die Bedeutung dieser Norm wird bereits im hippokratischen Eid ausgeführt. Nur, wenn medizinisches Personal Vertraulichkeit garantiere, würden PatientInnen die zur Behandlung relevanten Informationen über sich preisgeben. In der Initiative wird ein kurzer Überblick über die wichtigsten staatlichen Gesetze zum Thema Vertraulichkeit gegeben (vgl. ebd., S. 13). Im letzen Teil der Initiative, Reflections on the Professional Ethical Guidelines (NITO 2006, S. 14–19), wird jede Leitlinie kurz erläutert und werden zur Förderung der Umsetzung Situationen, in denen eine ethische Reflektion ratsam ist, hinzugefügt. Hierbei wird die Frage nach der Meinung der LaborwissenschafterInnen der Biomedizin beim Lesen der Situation in Bezug auf die Leitlinien gestellt (vgl. ebd.). Im Folgenden werden drei Richtlinien und die beispielhaften Konfliktsituationen dargelegt. In der Konfliktsituation zur ersten Leitlinie wird das Verhältnis des BLS zu seinen PatientInnen reflektiert : „Stell’ dir eine Situation vor, in der deine innere Haltung in Beziehung auf den Patienten/die Patientin herausgefordert wird. Wie beeinflusst deine innere Haltung dein Verhalten ? Gibt es Situationen, in denen deine
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Verunsicherung dazu führt, dass es schwierig wird, den Patienten/die Patientin mit Respekt zu behandeln ?“ Die Konfliktsituation zu den Leitlinien 3 bis 3.3 betrifft die gute wissenschaftliche Arbeit eines BLS : „Es wurden neue analytische Instrumente geliefert, die Angestellten wurden an ihnen geschult und sollen sie nun benutzen. Du denkst, du brauchst noch mehr Zeit, um geschult zu werden, und fühlst dich im Vergleich zu deinen KollegInnen unzulänglich. Du weißt, dass du selbst nach einer Nachschulung fragen musst, wirst aber mit dem selbstständigen Gebrauch der Maschine am nächsten Tag beauftragt.“ Zu Leitlinie 7 und 7.1 wird eine Konfliktsituation genannt, in der es um das Verhältnis der LaborwissenschafterInnen der Biomedizin zueinander geht : „Einer deiner Kollegen hat persönliche Probleme. Dies beeinträchtigt seine Arbeit mit den PatientInnen, KollegInnen und die Qualität der Arbeit insgesamt.“ Insgesamt sind die Konfliktsituationen so konzipiert, dass die LaborwissenschafterInnen zum Nachdenken über sich selbst in ihrer Rolle als WissenschafterInnen und über die Ansprüche von PatientInnen, MitarbeiterInnen und ihrem Arbeitgeber kommen sollen. So können LaborwissenschafterInnen der Biomedizin mittels der ersten Dilemmasituation reflektieren, ob sie sich PatientInnen gegenüber diskriminierend verhalten. Anhand der Dilemmasituation zu Leitlinie 3.–3.3 soll hervorgehoben werden, dass gute wissenschaftliche Praxis persönlichem Leistungsdruck übergeordnet ist. Auch in der Dilemmasituation zu 7.–7.1 gilt es, das Verhältnis von guter wissenschaftlicher Praxis und persönlichen Problemen abzuwägen. Wie in der Charta der Wissenschaft gibt es auch in dieser Ethikinitiative eine Passage zur Nicht-Diskriminierung (vgl. Leitlinie 1.1, NITO 2006). Sie umfasst die Kategorien ethnische Herkunft, Geschlecht, Alter, Kultur, Religion, politische Einstellung, Gesundheitszustand und Lebenssituation. Um zu erzielen, dass alltägliche Diskriminierung abgebaut wird, ist eine genaue Spezifizierung der Kategorien, die zur Diskriminierung von Personen genutzt werden, sinnvoll. Personen beispielsweise nicht wegen ihrer Religionszugehörigkeit oder ihres Geschlechts zu diskriminieren, ist eine klare Handlungsanweisung. Da Religionszugehörigkeit und geschlechtsspezifisches Verhalten zu der Kultur einer Person gehören, scheint die Kategorie Kultur an sich jedoch in diesem Kontext eher abstrakt. Dass Personen auch aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, (körperlichen) Behinderung, Nationalangehörigkeit, Weltanschauung und Sprache diskriminiert werden könnten, wird in der Ethikinitiative nicht erwähnt (vgl. Anhang, 3.). Zur systematischen Problematisierung von Diskriminierung sollten diese Kategorien jedoch aufgeführt werden.
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Die Leitlinien werden als Garantie für das ethisch einwandfreie berufliche Verhalten von LaborwissenschafterInnen der Biomedizin gegenüber der Gesellschaft bezeichnet (ebd., S. 3). Das Ethikkomitee hat die Aufgabe, soziale Entwicklungen hinsichtlich ihres Konfliktpotenzials für die Arbeit von LaborwissenschafterInnen der Biomedizin abzuschätzen. Weiters hat das Ethikkomitee die interne Überwachung der Einhaltung der Leitlinien zur Aufgabe. Wie genau diese Überwachung vonstatten gehen soll, wird nicht dargelegt. Der Umstand, dass es kein externes Monitoring gibt, ist hinsichtlich der Gewährleistung transparenter Organisationsstrukturen gegenüber der Öffentlichkeit problematisch. 3.5 Analyse des Ethikvertrags zwischen Forschung Austria und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB)
VertragspartnerInnen des Ethikvertrags zum Kollektivvertrag für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in der außeruniversitären Forschung von 2003 sind der Verein Forschung Austria und der Österreichische Gewerkschaftsbund. Der siebenseitige Vertrag ist in drei Abschnitte gegliedert : 1. Ethisches Grundverständnis 2. Forschung 3. Die Ethikkommission Mit dem Ethikvertrag soll das Bewusstsein der ForscherInnen der außer-/universitären Forschung in Österreich für die ethischen Aspekte ihrer Arbeit geschärft werden. Die Fähigkeit der ForscherInnen, das eigene Handeln kritisch zu reflektieren, soll geschult werden. Die Richtlinien regulieren zwei Themenbereiche : Einerseits sollen die Folgen wissenschaftlicher Arbeit durch die angestrebten Aufträge, Produkte und Forschungsergebnisse mittels der Richtlinien reguliert werden. Andererseits soll durch die Richtlinien die Zusammenarbeit in der Forschungsgemeinschaft nach Maßstäben des Diversity Managements60 gestaltet werden (vg. Ethikvertrag 2003, S. 1). Im Ethikvertrag sind, im Gegensatz zur Charta der Wissenschaft der EU-Kommission und den Empfehlungen der DFG-Kommission, die Interessen der ArbeitnehmerInnen durch die Gewerkschaften vertreten. Gewerkschaftliche Organisation wird ausdrücklich wertgeschätzt, und es wird sogar als Sollmaßstab gesetzt, 60 Durch Diversity Management soll die Vielfalt der Eigenschaften von Personen in der Organisation konstruktiv genutzt werden (Cleveland, Stockdale, Murphy 2000, S. 359).
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dass ArbeitnehmerInnen ihre Kompetenzen bei der Arbeit und in der Gewerkschaft einsetzen (Ethikvertrag 2003, S. 1). Der Vertragspartner Österreichischer Gewerkschaftsbund hat ca. 1,2 Millionen Mitglieder. In dem seit 1945 bestehenden Gewerkschaftsbund sind unselbstständige Erwerbstätige aller Branchen organisiert (vgl. Österreichischer Gewerkschaftsbund. Die Grundlagen, 2008). Der Verein Forschung Austria – Gemeinnützige Vereinigung zur Förderung der außeruniversitären Forschung wurde von verschiedenen Forschungsunternehmen mit dem Ziel, einen gesamtösterreichischen Dachverband der außeruniversitären anwendungsorientierten Forschung und technologischen Entwicklung zu schaffen, gegründet (vgl. Forschung Austria. Organisation, 2008). Ordentliche Mitglieder sind : Austrian Research Centers (inkl. der Tochterunternehmen), arsenal research (beide Institutionen wurden 2009 zum Austrian Institut of Technology – AIT zusammengefasst), joan n eu m r e s earc h und salzburg research. Außerordentliche Mitglieder sind BMVIT, ACR – Austrian Cooperative Research und CTR – Carinthian Tech Research (vgl. ebd., Mitglieder). Die im Ethikvertrag explizierten Richtlinien sind für alle ordentlichen Mitgliedsbetriebe der Forschung Austria und somit auch für die „… in ihnen tätigen Personen“ rechtlich bindend (Ethikvertrag 2003, S. 1). Unterzeichnet wurde der Vertrag durch den Präsidenten und ein Vorstandsmitglied des Vereins Forschung Austria sowie durch RepräsentantInnen der Gewerkschaft der Privatangestellten, der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst und der Gewerkschaft der Chemiearbeiter. Wie werden nun Schlüsselterminologien der Ethik im Ethikvertrag verwendet, und welche Normen werden gesetzt ? 3.5.1 Ethisches Grundverständnis
Die Erarbeitung und Verbreitung angewandter Forschung werden im Ethikvertrag als soziale Prozesse gesehen, in welchen ethische Erwägungen und Entscheidungen von den AkteurInnen gefordert werden (vgl. Ethikvertrag 2003, S. 1). Im Ethikvertrag wird ein Berufsethos von ForscherInnen formuliert. Aufgrund der Arbeitsaufgabe der ethischen Erwägung und Entscheidung sollten sich ForscherInnen über die ethischen Aspekte von Wissensproduktion, -verwendung und -weitergabe stets bewusst sein (vgl. Ethikvertrag 2003, S. 1). Der Ethikbegriff wird im ersten Abschnitt „Ethisches Grundverständnis“ durch sechs Richtlinien expliziert. Erstens wird die außeruniversitäre Forschung darauf verpflichtet, Gefahren für Leben, Sicherheit und Gesundheit von Personen zu ver-
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meiden. Auch Natur- und Sachschäden sind bei Forschungsarbeiten zu vermeiden. Weiters wird eine Allgemeinwohlorientierung ausgedrückt. Gesundheit und Sicherheit werden im Sinne des öffentlichen Interesses durch außeruniversitäre Forschung geschützt (vgl. ebd.). Zweitens verpflichtet sich die außeruniversitäre Forschung in Österreich, die Menschenrechte, Gewerkschaftsrechte und entsprechende internationale Konventionen zu achten und zu verteidigen. Das Recht von ArbeitnehmerInnen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, wird im Ethikvertrag festgelegt. Bezüglich eines Berufsethos von ForscherInnen wird der Anspruch, ihre Kompetenzen in der Arbeitswelt und im gewerkschaftlichen Engagement einzusetzen, formuliert. Drittens wird die Aneignung interkultureller Kompetenzen als Basis internationaler Handelsbeziehungen gefordert. Außeruniversitäre Forschung61 muss sich bei Auftragsabwicklung in anderen Ländern über Kultur, wirtschaftliche und soziale Hintergründe sowie relevante Gesetze, Regelungen und Vorschriften des jeweiligen Landes informieren. Viertens soll außeruniversitäre Forschung so organisiert sein, dass die berufliche Integrität von ArbeitnehmerInnen nicht unterwandert wird oder werden kann (vgl. ebd.). Die außeruniversitäre Forschung muss demnach so organisiert sein, dass in ihr tätige Personen nicht gegen die für sie geltenden Arbeitsnormen verstoßen müssen. Fünftens wird ein Berufsethos von Führungskräften der außeruniversitären Forschung formuliert. Besonders demokratische Tarifverhandlungen und die Beteiligung und Mitbestimmung der ArbeitnehmerInnen in den Unternehmen sowie am Arbeitsplatz sind durch die Führungskräfte zu stützen. Auch die Konsultation von und Informationsweitergabe an ArbeitnehmerInnen bei Veränderungen ihrer Arbeitsbedingungen sollen Führungskräfte beachten. Außerdem sollen sie für Arbeitsbedingungen sorgen, die den Bedürfnissen der ArbeitnehmerInnen angemessen sind und ArbeitnehmerInnen bestmöglich fördern. Auch Aus- und Weiterbildung der ArbeitnehmerInnen sollen generell und durch angemessene Mittelbereitstellung gefördert werden (vgl. Ethikvertrag 2003, S. 2). Das Berufsethos von Führungskräften könnte um einen Aspekt erweitert werden, der auch in der Ethikinitiative des Norwegian Institute of Biomedical Science angeführt wird. Hier wird in Leitlinie elf gefordert, dass LaborwissenschafterInnen der Biomedizin zur Betonung ethischer Aspekte in Gesundheits- und Sozialdebatten beitragen sollen (vgl. NITO 2006, S. 5). Ähnlich dieser Leitlinie können 61 Damit sind die Institutionen und alle in ihnen tätigen Personen gemeint.
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sich Führungskräfte darauf verpflichten, die ethischen Aspekte wissenschaftlichen Arbeitens in öffentlichen Debatten und am Arbeitsplatz hervorzuheben. Sechstens wird nochmals eine Allgemeinwohlorientierung formuliert. „Außer universitäre Forschung übernimmt gesellschaftspolitische und soziale Verantwortung.“ (vgl. ebd.) Diese Verantwortung wird daraus abgeleitet, dass die Aussagen, Empfehlungen und Entscheidungen von ForscherInnen Einfluss auf das Leben von Menschen haben können. ForscherInnen sollen potenzielle Auswirkungen von Forschung unter Berücksichtigung der unterschiedlichen politischen Kategorien62 von Personen kritisch reflektieren. Außeruniversitäre Forschung weiß über den möglichen Missbrauch ihres Einflusses Bescheid und vermeidet diesen sowie mögliche, aus einem Missbrauch ihres Einflusses resultierende Nachteile für AuftraggeberInnen, ForschungsteilnehmerInnen, KooperationspartnerInnen und ArbeitnehmerInnen (ebd.). An dieser Stelle wäre ein Hinweis darauf wünschenswert, wie der Missbrauch des Einflusses außeruniversitärer Forschung aussehen könnte und wie, im Falle eines Missbrauches außeruniversitärer Forschung, nachteilige Folgen unterbunden werden sollen. Im zweiten Abschnitt, Forschung, werden Richtlinien für den Prozess der Forschungsarbeit spezifiziert. Erstens sollen wissenschaftliche Integrität und Objektivität im Nutzen der AuftraggeberInnen stehen. Außeruniversitäre Forschung orientiert sich an Best Practice-Modellen. Bei fachspezifischer Beurteilung sollen ForscherInnen Transparenz gewährleisten, indem sie ihr Arbeitsgebiet, ihren Wissenstand, ihre Fachkenntnis, Methoden und Erfahrungen „… eindeutig und angemessen … “ offenlegen (Ethikvertrag 2003, S. 2). Redliches wissenschaftliches Arbeiten bedarf der Publikation und Präsentation ohne verfälschende Auslassung wichtiger Forschungsergebnisse. Zur richtigen Einschätzung, auch von Grenzen der Gültigkeit von Forschungsergebnissen, sollen relevante Einzelheiten der Theorien, Methoden und Forschungsdesigns dargestellt werden (vgl. ebd., S. 1f ). In öffentlich zugänglichen Publikationen sind alle Finanzierungsquellen zu nennen. An dieser Stelle wird im Ethikvertrag auf einen Interessenkonflikt verwiesen. Da Publikationen mit den Interessen der AuftraggeberInnen konfligieren können, erfolgen sie im Falle eines begrenzten Veröffentlichungsrechts nur in Absprache mit den AuftraggeberInnen (vgl. ebd., S. 3). Das Recht auf den Schutz vertraulicher Aufzeichnungen muss durch den Verzicht auf Publikation gewährleistet werden. 62 Geschlecht, nationale, religiöse, ethnische Zugehörigkeit, Behinderung, Familienstand oder sexuelle Orientierung
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Weiters sollen die Interessen der GeldgeberInnen nicht zu einer Verzerrung der Forschungsergebnisse führen. Im Ethikvertrag wird eine Prioritätenregelung eingeführt : Wenn die Veröffentlichung im Interesse der Öffentlichkeit ist, wird sie in jedem Fall erfolgen. Letztlich verbleibt durch diese Regelung die Entscheidung, ob das Interesse des Schutzes der Öffentlichkeit oder das Interesse der AuftraggeberInnen überwiegt, bei den ForscherInnen. Unter 2.2, Rechte von Personengruppen, welche in die Forschungsarbeiten einbezogen sind, werden folgende Richtlinien formuliert : ForscherInnen müssen gegenüber Institutionen, Individuen oder Gruppen aus wissenschaftlichen Methoden resultierende „… ungünstige Konsequenzen oder spezielle Risiken… “ (Ethikvertrag 2003, S. 3) antizipieren und negative Folgen vermeiden. Personen, „… die über einen geringen Bildungsgrad verfügen, einen niedrigen Sozialstatus haben, Minoritäten oder Randgruppen angehören“ (ebd.), müssen besonders gründlich über ihren Einbezug in den Forschungsprozess informiert werden. Der Ethikvertrag nimmt hiermit auf, dass nicht alle Personengruppen Informationen gleichartig verarbeiten und sie deshalb mit besonderem Bedacht zu informieren sind. Persönlichkeitsrechte von in Forschungsarbeiten einbezogenen Personen sowie ihr Recht, über die Beteiligung an Forschungsvorhaben zu entscheiden, sind zu respektieren. In Fällen der Verzerrung der Forschungsergebnisse durch Vorabinformation sollen andere Möglichkeiten der informierten Einwilligung genutzt werden. Fraglich bleibt an dieser Stelle, welche dies sein könnten. Wie auch in der Ethikinitiative des Norwegian Institute of Biomedical Science (NITO 2006, S. 4) sind Verantwortlichkeiten im Umgang mit vertraulichen Informationen im Ethikvertrag genau geregelt. Datenschutz muss in der außeruniversitären Forschung gewährleistet sein, auch durch die Anwendung von Verfahren, die eine Identifizierung von Personen vorsorglich ausschließt. Führungskräfte und ProjektleiterInnen müssen Kontrolle über den Zugriff zu vertraulichem Material haben sowie den vertraulichen Umgang der ihnen untergeordneten MitarbeiterInnen mit dem Datenmaterial verantworten (vgl. ebd., S. 3f ). Zum Umgang mit Publikationen werden folgende, mit den Empfehlungen der DFG übereinstimmende (vgl. DFG 1995, S. 15f ) Richtlinien gesetzt : – Maßgeblich an Forschung Beteiligte sind als AutorInnen zu nennen. Die Reihenfolge der AutorInnen soll den Grad der Beteiligung an Forschungsprozess und Veröffentlichung widerspiegeln. – Referenzen auf die Arbeit anderer sind kenntlich zu machen und dürfen nicht wissentlich unterlassen werden.
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– Zeitschriften haben die Förderung des kritischen Austausches der ForscherInnen eines Fachs zur Aufgabe. – Die Beurteilung von Publikationen hat fair und ohne politische oder ideologische Vorurteile in einem angemessenen Zeitraum zu erfolgen, Entscheidungen über Veröffentlichungen sind unverzüglich mitzuteilen. Die Entscheidung zur Veröffentlichung ist bindend. Das Thema EhrenautorInnenschaften, welche laut den DFG-Empfehlungen nicht unter gute wissenschaftliche Praxis fallen (vgl. DFG 1998, Empfehlung 11, S. 15), wird im Ethikvertrag nicht explizit reguliert. Wie auch in den DFG-Empfehlungen sollen GutachterInnen Begutachtung von Manuskripten, Forschungsanträgen und Einschätzungen von Personen bei Interessenkonflikten ablehnen (vgl. ebd., vgl. Ethikvertrag 2003, S. 4). Maßstäbe, die an Begutachtung angelegt werden, sind Vollständigkeit, Sorgfältigkeit, Vertraulichkeit, Angemessenheit des Zeitraums, in welchem die Begutachtung erfolgt, und Fairness. Ein Berufsethos von GutachterInnen wird im Ethikvertrag und den Empfehlungen der DFG-Kommission besonders genau formuliert (vgl. DFG 1998, S. 19). Begutachtungen in Personalfragen müssen bezüglich Integrität, Objektivität, der Vermeidung von Interessenkonflikten höchsten Anforderungen genügen und vertraulich behandelt werden (Ethikvertrag 2003, S. 4). Gutachten in Form von Rezensionen sollen nicht doppelt ausgeführt werden, Rezensionen von Arbeiten, an denen das Forschungsunternehmen beteiligt war, sollen unterlassen werden. Bezüglich der Zusammenarbeit mit MitarbeiterInnen und KooperationspartnerInnen haben Einstellungen, Entlassungen, Beurteilungen, Weiterbildung, Beförderung, Gehaltsfestsetzungen, Arbeitszeitreglungen usw. objektiv und gerecht zu erfolgen. Die Notwendigkeit der Nicht-Diskriminierung von ForscherInnen wird, übereinstimmend mit den Empfehlungen der EU-Kommission, betont (vgl. Ethikvertrag 2003, S. 4f, vgl. EU-Kommission 2005, S. 25). Zu Beginn eines Forschungsvorhabens sind Vereinbarungen mit freien MitarbeiterInnen oder anderen beteiligten Institutionen über die Rechte und Verantwortlichkeiten bei der Zusammenarbeit zu treffen. Veränderungen dieser Vereinbarungen sollen einvernehmlich getroffen werden. Als letzter Punkt ist eine Richtlinie gegen Korruption und zum Schutz von Personen, die auf organisationsinterne Missstände hinweisen (Whistleblowing), angeführt. „Außeruniversitäre Forschung darf von niemandem […] persönliches oder geschlechtsspezifisches Entgegenkommen oder einen persönlichen oder berufli-
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chen Vorteil erzwingen“ (Ethikvertrag 2003, S. 5). Undefiniert bleibt, was unter geschlechtsspezifischem Entgegenkommen zu verstehen ist, wahrscheinlich wird hier jedoch auf erzwungene sexuelle Handlungen abgezielt. Zuwendungen, Verträge oder Forschungsaufträge, die dem Ethikvertrag widersprechen, sind durch die ordentlichen Mitgliedsbetriebe der Forschung Austria abzulehnen. Die berufliche Integrität von Personen, die in der außeruniversitären Forschung tätig sind, wird am Ende des Ethikvertrags noch einmal dadurch unterstrichen, dass die Ablehnung von Forschungstätigkeiten, welche die Inhalte des Ethikvertrags verletzen, den ForscherInnen nicht zum beruflichen Nachteil gemacht werden darf (Ethikvertrag 2003, S. 5). Wie auch in den Empfehlungen der DFG-Kommission festgelegt (DFG 1998, S. 20), dürfen durch Whistleblowing den InformantInnen keine beruflichen Nachteile entstehen. In der Ethikinitiative wird das Ziel von Diversity Management, die Vielfalt von ArbeitnehmerInnen produktiv für die Organisation nutzbar zu machen, folgendermaßen berücksichtigt : Die Rahmenbedingungen der außeruniversitären Forschung sollen ein Berufsleben für alle Personengruppen ermöglichen. Hierfür sollen bauliche und technische Maßnahmen ergriffen werden und Arbeitszeiten und -orte möglichst flexibel sein. Terminlegung, Arbeitspläne und gemeinsame Aktivitäten sollen die Lebensplanung der ForscherInnen berücksichtigen. Unterschiedliche Formen der Arbeitsleistung sollen anerkannt und gefördert werden63, und ein geschlechtergerechter sowie personengruppensensibler Kommunikationsstil soll gepflegt werden (vgl. Ethikvertrag 2003, S. 5). In Abschnitt 2.5, „Zusammenarbeit mit Mitarbeiter/innen und Kooperationspartnern und Kooperationspartnerinnen“, wird die Nicht-Diskriminierung anhand der Kategorien Alter, Geschlechtszugehörigkeit, sexuelle Orientierung, körperliche Behinderung, soziale und religiöse Herkunft, ethnische und Nationalzugehörigkeit, Religionszugehörigkeit oder politische Einstellung verlangt (vgl. ebd.). Bezüglich der kritischen Reflexion potenzieller Auswirkungen von Forschung auf Menschenleben wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in dieser Reflexion Geschlecht, nationale, religiöse und ethnische Zugehörigkeit, Behinderung, Familienstand und sexuelle Orientierung von Personen mitgedacht werden müssen (Ethikvertrag 2003, S. 2). Somit wird im Ethikvertrag nicht nur Nicht-Diskriminierung verlangt (vgl. ebd., S. 5), sondern auch darauf verwiesen, wie sie umgesetzt werden kann. 63 Z. B. Präsentationstalent, Teamfähigkeit, Genauigkeit, Kreativität
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Allerdings wurden die unter 2.5 angeführten Kategorien Alter und Gesundheitszustand von Personen zur Abwägung von Risiken nicht berücksichtigt. Die Institutionen der außeruniversitären Forschung und die in ihnen tätigen Personen werden hinsichtlich der Auftragsabwicklung in anderen Ländern dazu angehalten, sich über die Kultur, den wirtschaftlichen und sozialen Hintergrund sowie relevante Gesetze, Regelungen und Vorschriften des jeweiligen Landes zu informieren (Ethikvertrag 2003, S. 1). Die ForscherInnen könnten beim Aus- und Aufbau ihrer interkulturellen Kompetenzen gefördert werden, indem die Aneignung dieser Kompetenzen durch einschlägige Weiterbildungsmaßnahmen unterstützt wird. Da sich UnterzeichnerInnen des Ethikvertrags auf eine, mündlich wie schriftlich, geschlechts- und auf Personengruppen sensible Sprache verpflichten (vgl. Ethikvertrag 2003, S. 5), wird die Gewerkschaft der Chemiearbeiter mit ihrer Namensgebung dieser Richtlinie nicht gerecht. Die Korrektur der Namensgebung wäre ein wichtiger Schritt in Richtung der selbstgesetzten zukünftigen Herausforderung der Gewerkschaft der Chemiearbeiter. Die Gewerkschaft hat Chancengleichheit für Frauen zu schaffen und die Humanisierung der Arbeitswelt als „… wichtige zukünftige Herausforderung …“ formuliert.64 Insofern wäre es angemessen, diesen Herausforderungen mit einer entsprechenden Namensänderung zu begegnen und die Arbeitsleistung der Chemiearbeiterinnen explizit anzuerkennen. Für die Zusammensetzung der Ethikkommission werden keine Maßstäbe des Diversity Managements dargelegt (vgl. Ethikvertrag 2003, S. 6). Mit Vertragsabschluss verpflichten sich die ordentlichen Mitgliedsbetriebe des Vereins Forschung Austria, „… auf ihre Mitglieder zwecks Einhaltung der Richtlinie Einfluss zu nehmen“ (vgl. Ethikvertrag 2003, S. 1). Der gesamte dritte Teil des Ethikvertrages, die Ethikkommission, reguliert die Beschaffenheit dieser Kontrollinstanz. Die Ethikkommission, bestehend aus vier Personen, welche zu gleichen Teilen von den beiden VertragspartnerInnen entsendet werden, schafft sich die Satzung für ihre dreijährige Amtszeit selber. Die VertragspartnerInnen, Forschung Austria und der Österreichische Gewerkschaftsbund, bestätigen die Satzung. Das Zuständigkeits- und Aufgabenspektrum der Ethikkommission umfasst die Beratung der Forschungsinstitutionen in generellen ethischen Fragen. Die UnterzeichnerInnen des Ethikvertrags können bei der Ethikkommission Verstöße gegen den Ethikvertrag anzeigen. Die Ethikkommission soll möglichst eine Beilegung der Anzeige vermittelnd herbeiführen (vgl. Ethikvertrag 64 Vgl. Gewerkschaft der Chemiearbeiter. 100 Jahre Gewerkschaft der Chemiearbeiter. Online unter : http ://www.gewerkschaft.at/chemie/100jahre/jubileum.htm (Stand 19.07.2008)
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2003, S. 6). Das Anstreben einer außergerichtlichen Beilegung entspricht auch den Zielen des Ombudsgremiums der DFG (vgl. DFG 1998, S. 3). Hierzu soll Mediation der Konfliktparteien betrieben und sollen den Mitgliedern des Vereins Forschung Austria Maßnahmen zum Umgang mit Konfliktfällen empfohlen werden. Die Ethikkommission soll, gleich der Praxis des Ombudsgremiums der DFGKommission (vgl. ebd., S. 20), jährlich Bericht erstatten und ihre Arbeit zum Ende der Amtszeit auswerten. Für die VertragspartnerInnen sollen aus den Erfahrungen heraus Empfehlungen gemacht werden. Zur Informationspflicht und zu Sanktionsempfehlungen der Ethikkommission ist festgelegt, dass bei Feststellung eines Verstoßes gegen den Ethikvertrag ein Bericht hierüber an die VertragspartnerInnen auszuhändigen ist. Wird ein möglicher Verstoß bei der Ethikkommission angezeigt und von dieser nicht festgestellt, sind die VertragspartnerInnen hierüber zu informieren und ist der Vorgang abzuschließen. Maßnahmen bei Vertragsbruch können Vorschläge zur Bereinigung und/oder Sanktion sein oder Weiterleitung der Vorfälle an die zuständige öffentliche Institution.
4. Reflexion der Analyse mit Hinblick auf die Entwicklung einer Ethikinitiative für J OANN EU M R E S E AR C H
Aus den vorigen Ausführungen resultiert vor allem die Erkenntnis, dass eine erfolgreiche Umsetzung von Ethikinitiativen stark an einen Lernprozess der AdressatInnen in der Organisation gebunden ist. In der ersten Empfehlung werden daher zunächst die Grundzüge eines Konzepts der „Lernenden Ethikinitiative“ entfaltet, deren Kern ein Bildungsprozess in der Organisation ist. Die weiteren Empfehlungen schließen an das Konzept der lernenden Ethikinitiative an. 4.1 Die „lernende Ethikinitiative“
Grundsätzlich lebt eine Ethikinitiative von der Akzeptanz und der Umsetzung durch die Organisationsmitglieder. Deshalb empfiehlt sich, mit einer Ethikinitiative Weiterbildungsmaßnahmen in der Organisation zu verbinden. Dabei sollte auch darauf verwiesen werden, dass nicht erst am Arbeitsplatz, sondern bereits in der Ausbildung von WissenschafterInnen ethische Reflexion betrieben werden sollte. Lernziel eines Bildungsprozesses im Rahmen einer wissenschaftsbezogenen „lernenden Ethikinitiative“ sollte das selbstbestimmte und verantwortliche Handeln von Menschen sein. Mittel zum Erreichen dieses Ziels sind das Verstehen
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und Hinterfragen ethischer Normen inklusive des eigenen Berufsethos – auch, damit die Ethikinitiative weiterentwickelt werden kann. Die Einhaltung der Inhalte der Ethikinitiative als oberstes Ziel des Bildungsprozesses zu setzen, widerspricht dagegen dem, der Ethik inhärenten Emanzipationsgedanken. Die Reflexion des eigenen Handelns und nicht die Einhaltung ethischer Normen als das Lernziel einer lernenden Ethikinitiative zu setzen, bedeutet nicht, dass mit einer „lernenden Ethikinitiative“ keine rechtliche Verbindlichkeit einhergehen kann. Bei dem Lernziel des Bildungsprozesses und den in der Ethikinitiative gesetzten Normen handelt es sich um zwei voneinander zu unterscheidende Ebenen. Empfehlenswert wäre, eine „lernenden Ethikinitiative“ im Bildungsprozess mit den Organisationsmitgliedern zu gestalten und in einem bestimmten Intervall über die Inhalte der „lernenden Ethikinitiative“ abzustimmen. 4.2 Grenzen von Ethikinitiativen als Thema in der Weiterbildung
Am Ökonomisierungsprozess des Wissenschaftssektors zeigt sich, dass die Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens solche sind, in denen sich unterschiedliche, zunehmend auch wirtschaftspolitische Interessen niederschlagen. In einer Ethikinitiative, in der Ehrlichkeit von WissenschafterInnen gefordert wird, sollten die Intentionen und Grenzen der Initiative offengelegt werden. Die globale Wettbewerbssituation bedingt die Konjunktur von Ethikinitiativen und setzt gleichzeitig auch die Grenzen ihrer Wirksamkeit (vgl. Bowie in Lenk/ Maring 1992, S. 348). Ethische Normen, die einen Wettbewerbsnachteil für eine Organisation bedeuten würden, sind entweder nicht in Ethikinitiativen beinhaltet oder werden nur in einem begrenzten Maße praktisch umgesetzt (vgl. ebd.). Ehrlich und redlich ist es somit, diese Grenzen der Nutzung von Ethikinitiativen anzuerkennen und darauf hinzuweisen, dass strukturell erzeugte Konflikte auch der Veränderung der Struktur, durch gesetzliche Maßnahmen etwa, bedürfen. Hier können Ethikinitiativen staatlichen Gesetzen vorausgehen, sollten diese sowie die Vertretung der Interessen der ArbeitnehmerInnen durch die Gewerkschaften jedoch nicht zu ersetzen suchen (vgl. Beisheim in Bass 2004, S. 173). Die Infragestellung bzw. kritische Diskussion gesellschaftlicher Entwicklungen sollte eine wesentliche Aufgabe einer an ethischen Maßstäben orientierten Debatte um Wissenschaft sein. In diesem Sinne sollten in einer „lernenden Ethikinitiative“ nicht nur die Formen des wissenschaftlichen Arbeitens, sondern auch die Ziele wissenschaftlichen Arbeitens zum Gegenstand der Diskussion um eine an ethischen Maßstäben orientierte Wissenschaft gemacht werden.
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4.3 Ethische Reflexion anhand der Formulierung eines Berufsethos
Aus den Empfehlungen der DFG-Kommission „Selbstkontrolle in der Wissenschaft“ geht hervor, dass die tägliche Bewusstmachung der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis die beste Vorbeugung gegen Fehlverhalten ist (vgl. DFG 1998, S. 3). Hierbei sollen erfahrene WissenschafterInnen NachwuchswissenschafterInnen als Vorbilder dienen (vgl. ebd., S. 5) und die Diskussion der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis forcieren (vgl. ebd., S. 4). In der wissenschaftlichen Praxis wird ein Berufsethos, klar ausformuliert oder implizit, durch das Handeln der WissenschafterInnen hergestellt. In dem organisationsinternen Bildungsprozess einer „lernenden Ethikinitiative“ können das Herausarbeiten der Normen des alltäglichen Handelns und die Ausformulierung eines Berufsethos dazu genutzt werden, die Identität der Berufsgruppe zu stärken (vgl. NITO 2006, S. 3). Nur mit einem expliziten Berufsethos sind die Normen, die das Handeln von Organisationsmitgliedern bestimmen, auch diskutier- und verhandelbar. Unter der Berücksichtigung des Umstandes, dass Personen am oberen Ende der Organisationshierarchie Verantwortung in einem besonderen Ausmaß zu tragen haben, ist es außerdem empfehlenswert, dies durch die Formulierung eines Berufsethos für Führungskräfte hervorzuheben. Im Ethikvertrag zwischen Forschung Austria und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund wird ein Berufsethos von Führungskräften der außeruniversitären Forschung beispielhaft formuliert (Ethikvertrag 2003, S. 2). 4.4 Ethische Reflexion anhand von Konfliktsituationen
In den Publikationen der EU-Kommission wird der Standardbegriff anstelle des Normbegriffs verwendet (vgl. Evers 2003). Dies unterschlägt, dass Menschen neben praktischen Normen auch persönliche Lebensgrundsätze oder Maximen, so genannte subjektiv-praktische Grundsätze, anwenden. Gerade bei komplexen Aufgaben in der Wissenschaft sind starre Regelkataloge ungeeignet, um Arbeitskräften, welche flexibel und selbstständig handeln müssen, Orientierung zu bieten. In einer „lernenden Ethikinitiative“ sollten daher die persönliche Integrität und die Dilemma- und Konfliktsituationen, welche beispielsweise aus der Divergenz von persönlichen und legalen oder illegalen Arbeitsnormen resultieren, zum Gegenstand der Reflexion gemacht werden. Beispielhaft wird dies im Teil drei der Initiative Ethics for Biomedical Laboratory Scientists des Norwegian Institute of Biomedical Science ausgeführt (vgl. NITO 2006, S. 14–19 ; vgl. 9.3, S. 89f ).
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4.5 Ehrlichkeit als oberste Norm
Wie in den Empfehlungen der DFG-Kommission dargelegt, ist die Substanz und oberste Norm wissenschaftlichen Arbeitens die Ehrlichkeit der WissenschafterInnen (vgl. DFG 1998, S. 23). Da wissenschaftliche Erkenntnisse aufeinander aufbauen und wissenschaftliches Arbeiten einer Fortschrittslogik unterworfen ist, unterwandern gefälschte wissenschaftliche Erkenntnisse das gesamte Wissenschaftssystem. Willentliche Täuschung widerstrebt dem wissenschaftlichen Arbeiten in einer grundsätzlichen Weise (vgl. ebd.). Somit sollte Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen (vgl. ebd., S. 2) die oberste Norm eines Berufsethos von WissenschafterInnen sein. 4.6 Herstellung eines integrativen Arbeitsklimas
Vielfalt und Differenzen, die Menschen in ihren Interaktionen wahrzunehmen, sind für die Produktion von Bedeutung und sozialer Identität notwendig. Gleichzeitig sind aber auch Differenzen – das, was als „anders“ und fremd wahrgenommen wird, – Quellen negativer Gefühle bis hin zu Aggressionen gegenüber dem „anderen“ (vgl. Hall 2004, S. 122). Zur systematischen Problematisierung von Diskriminierung sollte in den spezifischen Weiterbildungsmaßnahmen thematisiert werden, dass bei Diskriminierung vor allem folgende Kategorien zur Auf- und vor allem Abwertung von Personen instrumentalisiert werden : Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, soziale Herkunft, Religionszugehörigkeit, ethnische Zugehörigkeit, regionale Herkunft, Nationalzugehörigkeit, ethnische Zugehörigkeit, politische Einstellung, Behinderung, Gesundheitszustand, soziale und wirtschaftliche Situation. Weiters könnte eine Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht, die den Umstand in Betracht zieht, dass diese beiden Kategorien bei einer Person voneinander abweichen können65 oder Personen die Selbstbezeichnung in den Grenzen binär gedachter Geschlechtskategorien (Mann/Frau) aus politischen Gründen ablehnen, integriert werden. Um Diskriminierung abzubauen, sollten die Kategorien, die zur Diskriminierung von Personen genutzt werden, verständlich formuliert sein. Die Kategorie Kultur beispielsweise erscheint in diesem Kontext eher abstrakt.
65 Diese Personen werden, in Abgrenzung zum medizinischen und psychopathologischen Begriff Trans sexuelle, als Transgender People bezeichnet (Kroll 2002).
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Bezüglich der Erreichung eines integrativen Arbeitsklimas sind Weiterbildungsmaßnahmen zu den Themen interkulturelle Kompetenzen, Geschlechtergerechtigkeit und Kommunikation empfehlenswert. In diesem Rahmen sollten Geschlechterstereotype und diskriminierendes Verhalten sowie sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz problematisiert werden. 4.7 Sprachliche Transparenz der Ethikinitiative
Um die Aussageabsicht der Initiative zu unterstreichen, sollte die Sprache der Initiative mit ihrem Gültigkeitsanspruch übereinstimmen. Begriffe, wie etwa Grundsätze und Anforderungen, welche in einem Vertrag oder einer Charta durchaus passend erscheinen, sollten in einer Empfehlung zugunsten weniger verbindlicher Termini vermieden werden. Komplexe Begriffe, wie der Ethik- oder der Verantwortungsbegriff, sollten ver ständlich verwendet werden. Aus einer Ethikinitiative sollte leicht verständlich und argumentationsgestützt hervorgehen, welches Verhalten als ethisch bzw. unethisch betrachtet wird. Der Verantwortungsbegriff ist z. B. ein relationaler Begriff, zu dessen Verständnis Subjekt, Objekt, Normensystem und Instanz, welche die Verantwortung zuschreibt, dargelegt werden sollten. Generell sollte die Verantwortungszuschreibung mit dem Einfluss der Person auf die zu verantwortenden Handlungsabläufe übereinstimmen. 4.8 Partnerschaftlichkeit
Multilaterale Ethikinitiativen zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus privater Initiative heraus entwickelt werden und verschiedene PartnerInnen einbinden. Mit multilateralen Initiativen kann eine breitere Wirkung von Ethikinitiativen erreicht werden, wenn die Interessen der eingebundenen Organisationen ausgewogen berücksichtigt und die Einhaltung der Initiative effizient überwacht werden (Beisheim in Bass, Melchers 2004, S. 181). Gerade Anliegen wie etwa die Veränderung der Bewertungsmaßstäbe, die an die Verdienste von WissenschafterInnen angelegt werden (vgl. DFG 1998, Empfehlung 6, S. 7f ), bedürfen eines Netzwerks von gemeinsam agierenden PartnerInnen. 4.9 Rechtsschutz
Um unethisches wissenschaftliches Arbeiten zu verhindern, ist es notwendig, Fehlverhalten zu definieren. Die DFG-Kommission zählt zu den Tatbeständen wis-
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senschaftlichen Fehlverhaltens Erfindung und Fälschung von Daten, Plagiat und Vertrauensbruch als Gutachter oder Vorgesetzter. Auch sollte in der Ethikinitiative das Verfahren im Falle der Verletzungen der Ethikinitiative festgelegt sein (vgl. DFG-Kommission 1998, S. 10). Die Transparenz von Organisationsstrukturen kann durch die Verbesserung des Schutzes von Whistleblowern erhöht werden. Da vor allem NachwuchswissenschafterInnen wissenschaftliches Fehlverhalten älteren KollegInnen – gegebenenfalls aus Schutz ihrer Stellung in der Organisation – verschweigen, muss in einer Ethikinitiative verbindlich festgelegt werden, dass Whistleblowing in der Organisation nach einem zu spezifizierenden Prozedere erwünscht ist und Nachteile für Whistleblower möglichst vermieden werden. Für die konstruktive Kommunikation über unredliches Arbeiten von KollegInnen empfiehlt sich, eine organisationsinterne Stelle einzurichten, die von InformantInnen konsultiert werden kann (vgl. Ethikvertrag 2003, S. 6). Erst hiernach sollte eine externe Ombudsstelle und erst in letzter Instanz sollten die Medien informiert werden (vgl. Ledergerber 2007, S. 4). 4.10 Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit
Häufigster Kritikpunkt an Ethikinitiativen und anderen Formen der Selbstregulierung von Organisationen (wie etwa dem Global Compact) sind fehlende Monitoring- und Sanktionsmaßnahmen (vgl. Köpke/Röhr 2003, S. 44). Somit sollten mit einer Ethikinitiative, mit welcher der Anspruch einer transparenten Umsetzung einhergeht, ein organisationsinternes, aber auch externes Monitoringinstrument installiert werden. Als nicht empfehlenswert erachte ich es, die Implementierung einer Ethikinitiative ohne externes Monitoring als Garantie für ethisch einwandfreies berufliches Verhalten gegenüber der Gesellschaft zu setzen (NITO 2006, S. 3). Meiner Einsicht nach sollte das Ziel einer Ethikinitiative aufgrund des ideellen Charakters, den ethische Zielvorstellungen haben, bescheidener sein. Organisationsinternes Handeln kann in Richtung eines ethischen Ideals überprüft und verändert werden. Ein ethisches Ideal sollte jedoch immer als Orientierung betrachtet werden, anhand dessen der Arbeitsprozess bemessen und immer wieder neu ausgehandelt und gestaltet wird. Ethik ist Kommunikation (vgl. Mjøs in NITO 2006, S. 6) und somit ein Prozess, der sich gerade durch das wiederholte Hinterfragen und Zweifel an Handlungsentscheidungen auszeichnet (vgl. Bauman 1995, S. 25).
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Ethikleitlinien für die Forschung in der JOAN N EU M R E SE ARC H Forschungsgesellschaft mbH
1. Präambel
Ethik erfordert – über eine allgemeine Rede hinaus – konkrete Verankerungen. Dies gilt auch im Unternehmen joan n eu m r e s earc h. Dafür bedarf es des Aufbaus eines individuellen Forschungsethos für die einzelnen im Unternehmen tätigen Personen – besonders, wenn sie sich in leitender Funktion befinden. Zugleich ist es notwendig, eine institutionelle Ethik für das Unternehmen joanneum research zu entwickeln, die als Orientierung für die Forschungsarbeiten und als Vorbild für andere Forschungseinrichtungen dienen kann. Dieses Ziel soll durch die „lernende Ethikinitiative joanneum research“ angestrebt werden. Die hier vorliegenden Leitlinien betreffen die Arbeit der Forscherinnen und Forscher der joan n eu m r e s earc h und wurden dafür entwickelt. Sie können nur dann mit Leben erfüllt werden, wenn alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Unternehmens an der Arbeit der Forscherinnen und Forscher Anteil nehmen und sie bei ihren ethischen Reflexionen mit ihren Werteauffassungen und Lebenserfahrungen begleiten und unterstützen. Mit dieser Einbeziehung aller im Unternehmen Tätigen soll verhindert werden, dass das Streben nach wissenschaftlichen Ergebnissen allein zur einseitigen Orientierungsvorgabe wird. Auch dürfen Ergebnisse von Forschung nicht vorschnell zu ethischen und gesellschaftlichen Normen gemacht werden. Folgende Entwicklungen in Wissenschaft und Forschung machen für joanneum research eine verstärkte Ausrichtung an ethischen Grundsätzen wichtig : • Das immer tiefere Eingreifen der Forschung in die Grundlagen natürlicher und gesellschaftlicher Systeme und des menschlichen Lebens selbst, mit der Schwierigkeit, die Folgen dieser Eingriffe zu überblicken : • die rasche und in ihrer Gesamtheit unüberschaubare Entwicklung in Wissenschaft, Forschung und Technik • die Tatsache, dass sich in einer „Multioptionengesellschaft“ mit dem Wegfall von früher handlungsleitenden Traditionen verstärkt Optionen – also neue Möglich-
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Ethikleitlinien für die Forschung in der J OA N N E U M
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keiten – auftun, mit denen man nun ethisch verantwortlich umgehen muss : Bei immer mehr Forschungsprojekten sind moralisch relevante Entscheidungen zwischen Optionen zu treffen, die jede für sich mit erheblichen Risiken und Unsicherheiten im Hinblick auf ihre Konsequenzen behaftet ist. Dabei geht es meistens nicht um ein klares Ja oder Nein, sondern um ein Eher oder Eher-nicht. Erst der Vergleich entscheidet in vielen Fällen über die Wahl der Option. die Konzentration und Spezialisierung von Forschung auf immer kleiner werdende Ausschnitte der Welt, wie sie uns erscheint, was unter anderem die Schwierigkeit mit sich bringt, die Auswirkungen der Forschung auf das Ganze der Welt und der Gesellschaft abzuschätzen – besonders dann, wenn die Umweltbedingungen unterschiedlich sind die zunehmenden ökonomischen Erfolgs- und Verwertungszwänge, denen Wissenschaft und Forschung unterworfen werden die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit globalen, umfassenden Fragestellungen, welche die Gefahr in sich birgt, die konkreten, kleinräumigen Lebensbedingungen der Menschen zu vernachlässigen die verstärkte Internationalisierung, die mit dem Überschneiden verschiedener Rechtssysteme, Kulturräume, Wertesysteme und Moralvorstellungen und daher mit teilweisen rechtlichen Leerstellen, Regelungslücken und Unschärfen verbunden ist
Diese und andere Entwicklungen haben joan n eu m r e s earc h veranlasst, sich Ethikleitlinien zu geben, die das Ziel verfolgen, für das wissenschaftliche und forscherische Vorgehen ethische Bezugspunkte und Vorgehensweisen anzugeben. Diese ethischen Perspektiven dienen der Orientierung, sowohl für die einzelne Forscherin und den einzelnen Forscher wie auch für die Forschungsgesellschaft joanneum research und ihre VertreterInnen als Ganzes. Diese Ethikleitlinien geben – weil lernende Ethikinitiative – keine fertigen Lösungen vor, sondern enthalten – vor allem für den Prozess, das „Wie“ des Vorgehens – Richtlinien. Ebenso können diese Leitlinien nicht allgemeingültig Widersprüche lösen, sie sollen aber solche Wider sprüche erkennbar machen, für die Lösung Schritte entwickeln oder eine Vorgehensweise bei weiter bestehenden ethischen Widersprüchen vorschlagen. Der Ethikvertrag, geschlossen zwischen der Forschung Austria und dem Öster reichischen Gewerkschaftsbund am 16.12.2003 und wesentlich mitgestaltet von joan n eu m r e s earc h, bildet eine rechtliche Grundlage in Bezug auf Ethik für das Verhältnis Forschungsunternehmen – Forscherin/Forscher. Die rechtliche Bestimmung, ethische Gesichtspunkte zu achten und sie festzuschreiben, soll aber nicht einer Verrechtlichung der Ethik Vorschub leisten. Recht und Ethik sind ver-
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schiedene Materien. Während Recht einen Konflikt durch Entscheidung abschließt, versucht Ethik, die im Konflikt gelegenen Möglichkeiten nutzbar zu machen ; während dem rechtlichen Entscheid ein teilweise langwieriger Zeitraum für das Treffen des Entscheids vorausgeht und dieser deswegen auf den Prozess der Forschung blockierend wirken kann, eröffnet Ethik die Möglichkeit der Orientierung des Forschungsprozesses. Deshalb sollen über dieses Rechtsverhältnis hinaus die hier vorliegenden Leitlinien der Positionierung des Unternehmens in der Forschungslandschaft, der Entwicklung des Verhältnisses Kunde – Unternehmen – Forscherinnen/Forscher, der Möglichkeit der Identifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit dem Unternehmen und dem Schutz von Forscherinnen/Forschern und Unternehmen in Konflikten dienen, in denen ethische Orientierungen zur Diskussion stehen. Als ethische Orientierungen werden Werte verstanden, die als Maßstäbe für das Handeln, wie es sein soll, sowohl an die Ziele der Forschung wie auch an deren Methoden angelegt werden, um deren ethischen Gehalt zu ermessen. Ethische Werte verweisen auf das Ganze eines gelungenen Lebens für sich und für andere und dienen so der Beurteilung von Forschungsinitiativen in • • • • •
allgemein menschlichen, sozialen, auf die Zukunft bezogenen, die Umwelt berücksichtigenden, dem weltweiten Ausgleich dienenden
Perspektiven. Das Wesen dieser Ethikleitlinien ist also „anthropo-relational“, das heißt, ihre Grundlage ist das komplexe und auch oft widersprüchliche Beziehungsgeflecht der menschlichen Existenz in ihrer Ganzheit. Der anthropo-relationale Ansatz geht davon aus, dass der Mensch als Verantwortungssubjekt zwar im Zentrum steht, dabei aber streng auf andere Maßstäbe bezogen bleibt (daher relational). Er verpflichtet den Menschen etwa darauf, seine instrumentell-technische Vernunft nicht von der ökologischen Vernunft losgelöst zu gebrauchen. Ein allgemeiner umweltethischer Imperativ lässt sich auf dieser Basis folgendermaßen formulieren : „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen die angemessene Lebensfähigkeit und Integrität der Menschheit und der nicht-menschlichen Natur nicht zerstören bzw. nachhaltig stören.“
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2. Ethische Aspekte der Forschungslandschaft und des Forschungsprozesses a) Forschungsziele Handlungsleitende Interessen
Forschung wird – wie jedes menschliche Handeln – von persönlichen und gesellschaftlichen Interessen geleitet. Es ist Aufgabe der ethischen Reflexion, diese Interessen transparent zu machen, um dann den Interessenraum und die Einschränkungen dieses Freiheitsraumes durch diese Interessen bewusst und verantwortlich zu gestalten. Verantwortung bezieht sich dabei auf die Gestaltungsmöglichkeiten, die den einzelnen Akteuren in diesem Interessenraum offenstehen. Daraus folgt, dass ein Rahmen geschaffen werden muss, der dazu dient, die einzelnen Akteure im Forschungsprozess zum Abgleich der Interessen – beispielsweise in Kompromissen – zusammenzuführen. Dazu ist es notwendig, dass die Forscherinnen und Forscher von joan n eu m r e s earc h erstens für die Interessengebundenheit von Wissenschaft und Forschung sensibilisiert werden und sich dann in den Prozess der Interessenabgleichung verantwortlich einbringen können. Weltbilder
Sowohl Forschungsaufträge als auch die Tätigkeit des Forschens und die Akzeptanz von Forschungsergebnissen beruhen auf Werte- und Lebensauffassungen, welche Weltbilder spiegeln. Diese Werte- und Lebensauffassungen bzw. Weltbilder müssen immer wieder bewusst gemacht und einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Das Bewusstmachen der Werte- und Lebensauffassungen als Ausdruck von Weltbildern erleichtert die kritische Sichtung des Interessenfeldes. Kritische Sichtung der Ziele
Die in der Forschung verfolgten Ziele sind oft ambivalent. In der Erweiterung der Menschenwürde, die nicht nur Idee bleiben kann, sondern konkret realisiert werden muss, kann ein wichtiger Bezugspunkt für die Prüfung der Forschungsvorhaben liegen. b) Forschungsprozess
Die ethische Bewertung von Wissenschaft und Forschung kann nicht nur auf die Betrachtung der Ziele, die mit Forschung angestrebt werden, beschränkt sein, sondern betrifft auch den Prozess der Forschung selbst, der immer wieder von Einschnitten
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gekennzeichnet ist, an denen ein Rückblick notwendig ist oder an denen Entscheidungen zum weiteren Vorgehen gefällt werden müssen. Dabei sind die vorgeschlagenen Punkte durchaus auch wichtige Beiträge zur Qualität wissenschaftlichen Arbeitens und eröffnen Möglichkeiten zur Senkung von Kontroll- und Transaktionskosten, wenn sie als ethische Verpflichtungen angenommen werden. Die wissenschaftsinterne Stärkung dieser Ziele genügt in vielen Fällen nicht, um sie auch zur Durchführung zu bringen. Wahl der Methoden
Die Wahl der Methoden muss vom Bewusstsein geleitet werden, dass mit den verschiedenen Methoden nur jeweils beschränkte, auf Teilaspekte abzielende Zugänge zu einer wissenschaftlichen Frage gegeben sind. Deswegen dürfen Methoden nicht verabsolutiert werden, was in eine Ausrichtung auf Methodenvielfalt bzw. prinzipielle Methodenoffenheit münden soll. Deklarieren der Art der Studie
Im Zusammenhang mit den Methoden steht die Frage, welche Art von Studie durchgeführt wird. Bei Studien der Auftragsforschung sind die Interessenlagen transparent zu machen und, wenn möglich, die Auftraggeber bekanntzugeben. Wirkweise der Methoden auf „Studienobjekte“
Dazu stellt sich die Frage, wie die gewählten Methoden auf die „Studienobjekte“ wirken. Werden durch die gewählten Methoden z. B. Menschen in ihrer Freiheit oder Menschenwürde beeinträchtigt, wird die Umwelt geschädigt oder werden Gemeinwohlinteressen missachtet, ist die Methodik kritisch zu hinterfragen, und es sind Modifikationen in eine Richtung vorzunehmen, die Verstöße gegen die Integrität der Menschen oder schädliche Natureingriffe vermeiden. Ethisch signifikante Phasen des Forschungsprozesses
In Forschungsprozessen können Phasen auftreten, die von Unsicherheit über die Erreichung des Forschungszieles geprägt sind. In solchen Phasen sollen sich die Forscherinnen und Forscher bewusst sein, dass die Gefahr besonders groß ist, die „Regeln guter wissenschaftlicher Praxis“ nicht einzuhalten.
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Ethische Fragen im Umgang mit Studienergebnissen
Der ethische Umgang mit Studienergebnissen soll sich zumindest von folgenden Fragen leiten lassen : Werden etwa Ergebnisse einer Studie vollständig präsentiert oder nur Teilergebnisse, die für die Kundin oder den Kunden „genehm“ sind ? Inwieweit ist der Forscher oder die Forscherin, aber auch die Forschungsgesellschaft, betroffen, wenn die Ergebnisse vom Kunden in einer Art und Weise verfälscht werden, dass sie dem Ergebnis der Studie widersprechen bzw. das Ergebnis der Studie in der Öffentlichkeit nicht adäquat dargestellt wird ? Wie soll auf solche Vorgehensweisen reagiert werden ? Zudem gilt es in Bezug auf die Ergebnisse von Studien die Frage zu stellen, wie wahrscheinlich die Ergebnisse eintreffen, ob sie unter allen Umständen in der angegebenen Weise zu erwarten sind oder ob die Bedingung „rebus sic stantibus“ (keine Veränderung der Grundlagen) gilt. Zu diesen ethischen Aspekten des Forschungsprozesses lassen sich nicht ein für allemal gültige Festlegungen treffen, weil für eine ethische Handlung die in Frage kommenden Werte, die realen in der Situation gelegenen Vorgaben (z. B. Interessen des Auftragsgebers oder die konkrete Ausstattung) sowie das Gewissen der entscheidenden Person berücksichtigt werden müssen. Wohl aber legen wir Wert darauf, dass diese Perspektiven in die Beurteilung eingebracht werden. Eine Ethik, die nur auf abstrakte Werte pocht, ist nicht hilfreich, sondern es gilt, eine praxisrelevante Beziehung zwischen den Werten und den Realitäten, in denen das Forschungsprojekt steht, herzustellen. Dieser Abstimmungsprozess, auf den sich Forscherinnen und Forscher sowie die Organisation verpflichten, erfolgt in einer lernenden Ethikinitiative, die von der Forschungsgesellschaft joan n eu m r e s earc h eingerichtet wird. c) Forschungsethos
Für die Forschung gibt es noch kein kodifiziertes Berufsethos, wie es für das Ärzte ethos etwa der hippokratische Eid darstellt. In bestimmten Situationen kann dies zur Versuchung führen, sich auch auf unredliche Weise Vorteile zu schaffen und die verstreuten Regeln guter wissenschaftlicher Forschung, die Qualitätsmerkmale für Forschung darstellen, in der Konkurrenz um Forschungsgelder oder um das Prestige als Forscherin oder Forscher zu unterlaufen. Deswegen ist es wichtig, am Aufbau eines Forschungsethos, das zur Selbstverständlichkeit der Einhaltung von Qualitätsmerkmalen auch unter Druck führt, zu arbeiten. Auf der Grundlage dieses Spannungsfeldes zwischen Ideal und Realität kann sich ein Forschungsethos ausbilden, das durch folgende Eckpunkte gekennzeichnet ist :
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Regeln guter wissenschaftlicher Praxis
Unverzichtbare Grundlage jedes Berufsethos von Forscherinnen und Forschern sowie von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern sind die „Regeln guter wissenschaftlicher Praxis“ : • Methodisch redliche Generierung von Daten • Transparenter Umgang mit Daten, vor allem deren unverfälschte Wiedergabe • Eine unvollständige Veröffentlichung der Daten darf zu keiner Verfälschung des Ergebnisses führen • Achtung des geistigen Eigentums, speziell durch Beachtung der Zitationsregeln • Vermeiden der Anmaßung von Autorenschaft • Klare Kennzeichnung von Vermutungen und Spekulationen Die Regeln haben auch zu gelten, wenn durch das jeweilige Forschungsprojekt ein wirtschaftliches Interesse verfolgt wird. Verantwortungsbewusstsein
Wissenschafterin und Wissenschafter haben ein Bewusstsein von der Verantwortung für die voraussehbaren Auswirkungen ihrer Handlungen. Außerdem sind ihre speziellen Rollenpflichten in einem Projekt in Bezug auf ihre Handlungsmöglichkeiten im Rahmen des Gesamtprojekts zu überprüfen und dementsprechend auszugestalten. Wissenschafterinnen und Wissenschafter haben über ihre Handlungen gegenüber ihrem Berufsstand, den gesellschaftlichen Institutionen, den Arbeitgebern wie den Auftraggebern und den Nutzern der Forschungsergebnisse offen Rede und Antwort zu stehen. Dies kann sich auch im Aufbau von Gruppen von Forscherinnen und Forschern aus verschiedenen Disziplinen und Vertretern gesellschaftlicher, wirtschaftlicher Institutionen zum verantwortungsvollen Umgang mit Forschungsergebnissen zeigen. Achtung grundsätzlicher moralischer Prinzipien
Wissenschafterinnen und Wissenschafter achten bei ihrer Tätigkeit darauf, grundlegende moralische Prinzipien nicht zu verletzen (Ehrlichkeit, Selbstbestimmungsrecht von Versuchspersonen, Menschenrechte, Beachtung möglicher negativer Konsequenzen von wissenschaftlich-technischem Handeln für Mensch und belebte bzw. unbelebte Natur).
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Forscherinnen und Forscher berücksichtigen in ihrer Arbeit das vielfache Bezugsnetz, in dem die Forschung steht, durch Beachtung der vier Perspektiven • der Wissenschaftlichkeit und ihrer Regeln • der Menschengerechtigkeit mit der Beachtung der Menschenrechte und der Menschenwürde, welche die Achtung der so genannten „Eigenrechte der Natur“ impliziert, deren Grundlage die Einsicht in die Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung ist, welche sowohl die Lebenssituation der heutigen Generation verbessern soll (Entwicklung) als auch die Lebenschancen künftiger Generationen nicht gefährden darf (Erhalt der Umwelt). Dabei gewinnt gegenüber der bisher vorherrschenden Frage nach technischen Mitteln die Frage menschlicher Zielorientierung in und mit der Natur zunehmend größeren Raum. • der Umweltgerechtigkeit in der Berücksichtigung ökologischer Chancengleichheit, dem Menschenrecht auf eine intakte Umwelt und ökologische Gestaltungsrechte • der Gesellschaftsgerechtigkeit in der Beachtung der Auswirkung der Forschungsergebnisse auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten. d) Aufgabe der Forschungsgesellschaft
Diese Aufgabe stellt sich aber nicht nur den Forscherinnen und Forschern, sondern auch der Forschungsgesellschaft als solcher, die sich zu diesem Perspektivennetz als Maßstab für die Entwicklung eigener Forschungsprojekte, die Annahme von Aufträgen, Stellungnahmen in der Öffentlichkeit und die öffentliche Darstellung verpflichtet. Daraus ergibt sich etwa die Notwendigkeit der Überprüfung von Forschungsprojekten an den Kriterien der Menschen-, Umwelt- und Sozialgerechtigkeit durch die lernende Ethikinitiative. Eine Konsequenz für die Forschungsgesellschaft zeigt sich darin, dass in Bezug auf Ergebnisse von Forschungsprojekten, bei denen die Folgen von wissenschaftlichtechnischem Handeln ungewiss sind, auf das Risiko bzw. auf die Notwendigkeit einer Risikoforschung hingewiesen wird.
3. Wertekonflikte und Prioritätsregeln
Da mit diesen Wertebekundungen Konflikte nicht schon gelöst sind, sondern in vielen Fällen erst sichtbar werden, bedarf es Prioritätsregeln, mit denen die Lösung der Konflikte strukturiert werden kann. Solche Prioritätsregeln sind :
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a) Verantwortungskonflikte
Bei Verantwortungskonflikten, die sich aufgrund unterschiedlicher Verantwortungstypen (Rollenverantwortung, Loyalitätsverantwortung, moralischer Verantwortung) bzw. unterschiedlicher Pflichten ergeben können, besitzt die moralische Verantwortung der einzelnen Forscherin bzw. des einzelnen Forschers die oberste Priorität. Handlungen, die aus dieser ethischen Verantwortung heraus gesetzt werden, dürfen nicht zu Nachteilen für Forscherinnen und Forscher, die diese ethische Verantwortung wahrnehmen, führen (siehe Ethikvertrag). b) Wertekonflikte
Im Anwenden der folgenden Vorrangregeln in Wertekonflikten muss der Tatsache gerecht gehandelt werden, dass es beispielsweise nicht um ein Wahrnehmen der Menschenrechte gegen Nutzenerwägungen geht, sondern dass Nutzenerwägungen in einer Art verfolgt werden, die es erlaubt, dass Menschenrechte der jetzigen Generation und auch zukünftiger Generationen nicht verletzt werden. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass sich eine Vorrangregel im konkreten Fall als ethisch nicht haltbar erweist. Das Aufzeigen der folgenden Prioritäten muss jedenfalls zu einer Vorgehensweise führen, die zuerst nach Vereinbarkeiten der verschiedenen Werte fragt und diese Vereinbarkeiten in Richtung der als vorrangig gesetzten Werte ausgestaltet. Erst, wenn diese Werte nicht vereinbar gemacht werden können, soll der höhere Wert den Vorzug auf Kosten des niedrigeren erhalten. In Wertekonflikten gelten für Forscherinnen und Forscher von j oa n n e u m r esearch folgende Vorrangregeln : • • • •
Vorrang der Menschengerechtigkeit vor den so genannten „Eigenrechten der Natur“ Vorrang von Menschenrechten vor Nutzenserwägungen Vorrang von öffentlichem Wohl vor privaten Interessen Vorrang von hinreichender Sicherheit vor Funktionalität und Wirtschaftlichkeit
c) Dialog zur Werterealisierung
Dabei sind sich die Forscherinnen und Forscher, aber auch die Forschungsgesellschaft, bewusst, dass Kriterien und Indikatoren für die unterschiedlichen Wertbereiche nicht dogmatisch vorauszusetzen, sondern nur im Dialog mit der innerbetrieblichen und außerbetrieblichen Öffentlichkeit zu ermitteln, abzuwägen und abzugleichen sind.
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d) Auf dem Weg bleiben
Im ethischen Zugang zu Problemen und Konfliktsituationen steht – im Gegensatz zum Recht mit seinem Machtbezug – der Freiheitsbezug im Vordergrund. Natürlich bedeutet das nicht, dass ethische Werte nicht bindend sind, es bedeutet aber, dass ihre Durchsetzung nicht durch Vorschriften, sondern nur im überzeugenden Dialog geschehen kann. Das bedingt auch eine entsprechende Vorgangsweise bei der Entwicklung der Ethikleitlinien und beim Umgang mit Konflikten, die aus der Bezugnahme auf die in den Leitlinien formulierten Werte entstehen. Der Tatsache Rechnung tragend, dass es keine ein für allemal richtigen Lösungen gibt und eine Verabsolutierung von Regeln und Werten dem dynamischen Prozess der Forschung nicht gerecht werden kann, ist ein dynamischer Umgang mit den Ethikleitlinien notwendig. Dies bedeutet konkret, dass der Dialog als ein Ringen um die allseitig optimierte, bessere Lösung im Vordergrund steht – und nicht Beurteilung oder gar Verurteilung.
4. Die lernende Ethikinitiative bei J OA N N E U M R E S E A R C H
Die Institutionalisierung der Ethik erfolgt bei joanneum research nicht in Form einer Ethikkommission, die ethische Fragen abschließend beurteilt und mit Sanktionsmacht ausgestattet ist. Nicht Gesetze, Normen anderer Art, Überwachung oder Evaluierung sind das Ziel, sondern ein eröffnender Dialog, der im Überschreiten der Grenzen der einzelnen Disziplinen die Verantwortung des Einzelnen stärken soll. Die lernende Ethikinitiative darf nicht zum Abschieben der Verantwortung auf eine Institution führen, sondern zur Zusammenarbeit der verschiedenen Einrichtungen von joanneum research zur Entwicklung eines Forschungsethos. Dabei geht es um Konvergenzargumentation in der Art, dass von verschiedenen Seiten ethisches Verhalten bestärkt wird. Diese Bestärkung soll dabei vor allem über Anerkennung und Wertschätzung ethischen Verhaltens, nicht über Sanktionierung unethischen Verhaltens erfolgen. a) Mitarbeit an den Ethikleitlinien
Mit der Einrichtung einer lernenden Ethikinitiative bei joanneum research erhalten die bei joanneum research Beschäftigten die Möglichkeit, an der Weiterentwicklung der Ethikleitlinien mitzuarbeiten.
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b) Ethikinitiative als Plattform
Die lernende Ethikinitiative dient als Plattform, mit der die von einem Projekt Betroffenen als Beteiligte in den Dialogprozess zur Entwicklung eines ethischen Vorgehens einbezogen werden. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter der joanneum research hat das Recht, bei gegebenem Anlassfall einen derartigen Dialogprozess einzuleiten. Dabei geht es um das Einleiten eines offenen Prozesses, der zur Orientierung der Einzelnen und der Forschungsgemeinschaft als solcher dient, und nicht um das Herbeiführen eines Ethiktribunals oder um Anklage einzelner Forscherinnen und Forscher. c) Ausbildung eines Berufsethos
Um Sensibilität für ethische Probleme zu wecken und zu entwickeln, werden von der Ethikinitiative Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten in Bezug auf Ethik angeboten. In diesen Bildungsmöglichkeiten kann sich wissenschaftliches und forscherisches Berufsethos weiterentwickeln und auch die notwendige Korrektur erfahren. Die Ethikinitiative der joan n eu m r e s earc h schafft Möglichkeiten, sich in ein Berufsethos einzugewöhnen und dieses zugleich kritisch zu hinterfragen. In konsequenter Folge führt das dazu, dass jeder und jedem neu zur joanneum research Kommenden die Ethikleitlinien nicht nur zur Kenntnis gebracht, sondern auch als Teil der Arbeitsplatzanforderungen bewusst gemacht werden. d) Aufwerfen ethischer Fragen
In manchen Fällen wird die Ethikinitiative nicht einfache Antworten geben und Entscheidungen fällen, sondern „nur“ Fragen in den Forschungsprozess einbringen können. Diese Fragen haben aber ihren Grund in den dargelegten Werten. Im Stellen der Fragen werden für den Einzelnen wie auch für die Organisation Perspektiven eröffnet, die ethisches Lernen ermöglichen und auf Entscheidungen vorbereiten. e) Anregen der ethischen Diskussion in der Gesellschaft
Mit der lernenden Ethikinitiative möchte joan n eu m r e s earc h die öffentliche Beschäftigung mit der ethischen Frage verstärken, in der Wissens- und Forschungsgesellschaft ein sichtbares Zeichen für die notwendige Integration der ethischen Frage in den Forschungsprozess setzen und damit einen neuen Benchmark schaffen. Die lernende Ethikinitiative will dabei als Einrichtung des Unternehmens für die
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einzelnen Abteilungen und im Dialog mit ihnen stimulierende, integrierende und kritisierende Funktionen ausüben – auch, indem sie „infrage stellt“, was erforscht und warum es erforscht wird, und das dem gegenüberstellt, was nicht erforscht und warum es nicht erforscht wird. Durch breite öffentliche Diskussion soll damit auch der Gefahr entgegengetreten werden, dass sich Forschung und Wissenschaft durch die Forschungsleistungen als Institutionen, die vorgeben, was gut ist, festsetzen.
Die Autoren
Blumenthal, Sara, Dipl.-Päd., *1981, Diplomstudium der Erziehungswissenschaften an der Freien Universität Berlin und Aufenthalt La Trobe University Melbourne, Abschluss 2008 ; 2008 Fellow des international orientierten Fellowship-Programms der joan n eu m r e s earc h, bis 2012 Graduiertenschule und Doktoratsstudium am Cluster „Languages of Emotion“ der Erziehungswissenschaft und Psychologie an der Freien Universität Berlin zum Thema „Schäm’ dich! Reproduktion geschlechtsund sexualitätsbezogener Normen sowie Herstellung schulischer Disziplin durch Scham und Beschämung in der Sexualerziehung“. Jantscher, Elke, Mag. Dr., *1973, Studium der Archäologie, Studium der Biologie und
Zoologie an der Karl-Franzens-Universität Graz (Abschluss 2001), Josef-KrainerFörderungspreis 2003, Förderungspreis der Österreichischen Entomologischen Gesellschaft 2003, Business-Cross-Mentoring in Graz und Universitätslehrgang Frauen an der Universität (2002/2003), Politiklehrgang für Frauen (2004/2005) ; seit 2003 bei joan n eu m r e s earc h Forschungsgesellschaft mbH, Abteilung für Forschungsplanung, Technologieberatung und Projektmanagement, seit 2007 Assistentin der Geschäftsführung für den wissenschaftlichen Bereich, Geschäftsführung der Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“. Kubista, Erwin, DI, *1958, Studium der Elektronik und Nachrichtentechnik an der
Technischen Universität Graz (Abschluss 1985), Assistent am Institut für Nachrichtentechnik und Wellenausbreitung (1985 bis 1989), seit 1989 Mitarbeiter bei joann eu m r e s earc h Forschungsgesellschaft in verschiedenen Funktionen, Projektleiter, stellvertretender Institutsleiter des Instituts für Angewandte Systemtechnik, seit 2007 Prokurist der joan n eu m r e s earc h, 2007 bis 2010 Leiter der Abteilung für Forschungsplanung, Technologieberatung und Projektmanagement, seit 2010 Leiter der Abteilungen Strategische Planung, Future Lab und Innovationsmanagement und -marketing. Betriebsratsvorsitzender der joan n eu m r e s earc h 1999 bis 2007. Bundesvorstandsmitglied der Gewerkschaft der Privatangestellten 2005 bis 2007. Schwerpunkt der Forschungsarbeiten waren Funkwellenausbreitung im Bereich Radartechnik, Satellitenkommunikation und -navigation.
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Die Autoren
Neuhold, Leopold, Univ.-Prof. Dr., *1954, Studium der Theologie mit Schwerpunkt
Ethik und Gesellschaftslehre, Univ.-Dozent in Ethik und Gesellschaftslehre, 2003 Ernennung zum Professor in Ethik und Gesellschaftslehre, Forschungsschwerpunkte : Katholische Soziallehre, Wertewandel, Religionssoziologie, moderne Gesellschaft und katholische Soziallehre, Friedensethik ; verschiedene Vortragstätigkeiten in kirchlichen und gesellschaftlichen Bereichen. Nida-Rümelin, Julian, Prof. Dr., *1954. Studium der Philosophie, Physik, Mathematik und Politikwissenschaft in München und Tübingen, 1983 Promotion in Philosophie, dann wissenschaftlicher Assistent in München und Habilitation 1989 ; Gastprofessur in den USA, Übernahme des Lehrstuhls für Ethik in den Bio-Wissenschaften an der Universität Tübingen (1991–1993) und eines Lehrstuhls für Philosophie an der Universität Göttingen (1993–2003). Wechsel auf den Lehrstuhl für Philosophie und politische Theorie am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft in München ; 2004 bis 2007 Direktor des Geschwister-Scholl-Institutes für Politikwissenschaft. 2009 Lehrstuhl für Philosophie am Seminar für Philosophie der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1998 bis 2000 Kulturreferent der Landeshauptstadt München sowie 2001 und 2002 Kulturstaatsminister der Bundesregierung. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Europäischen Akademie der Wissenschaften ; Honorarprofessor an der Humboldt-Universität Berlin (Institut für Philosophie) und Kuratoriumsvorsitzender des Deutschen Studienpreises. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie (2009 bis 2011). Pelzl, Bernhard, Hon.-Prof. Dr., *1949, Studium der Sprachwissenschaften, Orienta-
listik, Geschichte und Philosophie (Wissenschaftstheorie) an der Universität Graz ; 1971–1979 Forschungs- und Lehrtätigkeit an den Universitäten Graz, Hamburg und Münster/Westfalen, dazwischen Verlagslektor und Buchhändler ; 1979–1997 beim ORF, zuletzt Leiter der ORF-Radio-Wissenschaftsredaktion im Programm Österreich 1 (Wien). Seit Juli 1997 Wissenschaftlicher Direktor der joan n eu m r e s earc h Forschungsgesellschaft mbH. in Graz ; Honorarprofessor für Medienwissenschaften an der Karl-Franzens-Universität Graz ; seit 2007 Diakon am Dom zu Graz. Prettenthaler, Franz, Mag. Dr. M.Litt, *1972, Studienabschlüsse der Volkswirtschaft
mit Umweltsystemwissenschaften, der Philosophie und der Finanzwissenschaften in Graz, St. Andrews und Paris. 2002 Promotion mit einer Arbeit über Dynamische Konsistenz von Entscheidungen unter Risiko, arbeitet am Zentrum für Wirtschafts-
Die Autoren
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und Innovationsforschung der joan n eu m r e s earc h Forschungsgesellschaft mbH als Leiter der Forschungsgruppe Regionalpolitik, Risiko- und Ressourcenökonomik (RRR). Prisching, Manfred, Univ.-Prof. Mag. Dr., *1950, Studium der Rechtswissenschaften
(Dr. jur. 1974) und der Volkswirtschaftslehre (Mag. rer. soc. oec. 1977), Universi tätsassistent an den Instituten für Rechts- und Sozialphilosophie, für Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschaftspolitik und für Soziologie. Habilitation für Soziologie 1985. Verleihung des Innitzer-Preises (1985), des Josef-Krainer-Forschungspreises (1994), des Wilfried-Haslauer-Forschungspreises für Zeitgeschichte (1996). 1987/88 an der Rijksuniversiteit Limburg (Maastricht, NL). Gastprofessor an den Universitäten Salzburg, Innsbruck, Linz, Klagenfurt. 1994 tit.a.o. Univ.-Prof., 1995/96 Schumpeter-Gastprofessur an der Harvard University (Cambridge/Boston) ; Visiting Scholar u. a. an den Universitäten von New Orleans, Little Rock, Las Vegas. 1997–2001 wissenschaftlicher Leiter der Technikum Joanneum GmbH (steirische Fachhochschulen). Korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Reitinger, MMag. Claudia M., *1980, Studium der Genetik und Biotechnologie an der
naturwissenschaftlichen Fakultät Salzburg, Universitätslehrgang Psychotherapeutisches Praktikum an der FB für Erziehungswissenschaften und Kultursoziologie Salzburg, Studium der Philosophie an der Kath.-theol. Fakultät Salzburg. Während der akademischen Ausbildung verschiedene Praktika im sozialen und naturwissenschaftlichen Bereich. 2008 Fellow des international orientierten Fellowship-Programms der joan n eu m r e s earc h. Derzeit Research Fellow am Human Technology Centre (EET – Ethics for Energy Technology), RWTH Universität Aachen. Rinofner-Kreidl, Sonja, Univ.-Prof. Dr., *1965 ; Studium an der Karl-Franzens-Univer-
sität Graz (Philosophie/Kunstgeschichte) ; von 1994–1998 Mitarbeiterin des interdisziplinären Spezialforschungsbereiches Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900 ; Promotion 1997 ; 1998–2002 Univ.-Ass., seit 2002 ao. Univ.-Prof. am Institut für Philosophie der Karl-Franzens-Universität Graz. Von Oktober 2005 bis März 2009 Leiterin des Instituts für Philosophie der Karl-Franzens-Universität Graz. Seit Januar 2008 European Editor der Husserl-Studies. Seit Dezember 2008 Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie. Theobald, Werner, PD Dr., *1958, Studium der Philosophie, Psychologie, Sozialwis-
senschaften und Theologie in Münster und Kiel, 1994 Promotion in Philosophie,
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Die Autoren
1996–1999 Stipendiat der Deutschen Forschungsgesellschaft und Aufbaustudium „Umweltwissenschaften“, Forschungstätigkeit am Ökologiezentrum der Universität Kiel 1996–2001, Habilitation „Umweltbewertung“ in Karlsruhe, 2003 Lehrverpflichtungen in Medizin, Bio- und Umweltwissenschaften, ab 2008 konzeptionelle Leitung des Zentrums für Ethik an der Universität Kiel.
MA X JOSEF SUDA
ETHIK EIN ÜBERBLICK ÜBER DIE THEORIEN VOM RICHTIGEN LEBEN
Das vorliegende Buch bezieht nicht Position – wie das heute öfter geschieht – für eine bestimmte Ethik, etwa die Wert- oder Verantwortungsethik, sondern für das Gesamt der ethischen Theoriebildung im Westen, indem es von den christlichen und philosophischen Wurzeln ausgeht. Die Eigenart der Darstellung liegt darin, dass sie einen pluralistischen sowie dialektischen Zusammenhang mehrerer ethischer Systeme bzw. Systemansätze, die dabei zugleich historisch angeordnet sind, entwickelt. Zehn ethische Theorien werden diskutiert und von ihren Vertretern her lebendig gemacht. 2005. 290 S. BR. 150 X 215 MM. ISBN 978-3-8252-2647-3
böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43(0)1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
Nikol aus kNoepffler
aNgewaNdte ethik eiN systematischer leitfadeN (utB für wisseNschaft 3293 s)
Angewandte Ethik handelt wesentlich von Konflikten. Der hier vorliegende systematische Leitfaden vermittelt auf anschauliche Weise die Grundlagen, wie lebensdienliche Regeln und verantwortliches Handeln in (Gen)Technik und Wirtschaft, im Umgang mit Pflanzen und Tieren, in Medizin, Sport und in den Medien beschaffen sein sollten. Nach einem kurzen Überblick zu unterschiedlichen ethischen Ansätzen werden die Prinzipien von Menschenwürde und Menschenrechten, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit als die wesentlichen Fundamente herausgearbeitet, mit deren Hilfe ethische Konflikte strukturiert und im Idealfall gelöst werden können. 2009. 284 S. Mit zahlr. Grafiken. Br. 120 x 185 MM. iSBn 978-3-8252-3293-1
böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau.de | köln weimar wien