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German Pages XIII, 260 [266] Year 2020
Studien der NRW School of Governance
Sebastian Jarzebski
Erzählte Politik Politische Narrative im Bundestagswahlkampf
Studien der NRW School of Governance Reihe herausgegeben von Prof. Dr. Christoph Bieber, Universität Duisburg-Essen, Deutschland Prof. Dr. Andreas Blätte, Universität Duisburg-Essen, Deutschland Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte, Universität Duisburg-Essen, Deutschland
Die Studien der NRW School of Governance sind eine praxisorientierte Schriftenreihe, die einen wichtigen Beitrag zur modernen Regierungsforschung leistet. Sie dokumentiert die Forschungsergebnisse der NRW School of Governance und bietet zugleich ein Forum für weitere wissenschaftliche Arbeiten aus ihrem thematischen Umfeld. Das Interesse gilt der Komplexität politischer Entscheidungsprozesse in den Bereichen Politikmanagement, Public Policy und öffentliche Verwaltung. Untersucht werden die praktischen Bemühungen rational handelnder Akteure ebenso wie die Wirkungsweise institutioneller Koordinationsmechanismen auf der Landes- und Bundesebene. Mit dem Fokus auf ethische Aspekte werden aber auch neue, bisher vernachlässigte Fragestellungen des modernen Politikmanagements wie moralbegründete Argumentations- und Entscheidungsvorgänge sowie ethische Beratungsorgane thematisiert. Die Reihe veröffentlicht Monographien und Konzeptbände, die frei eingereicht oder auf Anfrage durch die Herausgeber der Schriftenreihe verfasst werden. Auf eine sorgfältige theoretische Fundierung und methodische Durchführung der empirischen Analysen wird dabei ein besonderer Wert gelegt. Die Qualitätssicherung wird durch ein anonymisiertes Begutachtungsverfahren sichergestellt.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12350
Sebastian Jarzebski
Erzählte Politik Politische Narrative im Bundestagswahlkampf
Sebastian Jarzebski Hürth, Deutschland Diese Arbeit wurde von der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen als Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades Dr. phil. genehmigt. Name der Gutachterinnen und Gutachter: 1. Univ.-Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte 2. Prof. Dr. Christoph Bieber Tag der Disputation: 29. Januar 2020
ISSN 2626-2843 ISSN 2626-2851 (electronic) Studien der NRW School of Governance ISBN 978-3-658-31013-4 (eBook) ISBN 978-3-658-31012-7 https://doi.org/10.1007/978-3-658-31013-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Für Lientje und Mieke
Vorwort
Natürlich hat jede Dissertation ihre Geschichte. Im Hochgefühl der Fertigstellung, der Setzung des letzten Satzzeichens, beginnt ein eigenartiger Prozess: Die Promovierenden stellen die vergangenen Jahre in einen Sinnzusammenhang. Das Geschehen wird sortiert und den Figuren, die in dieser Geschichte eine Rolle gespielt haben, wird ihr Platz zugewiesen. Da gibt es Held*innen, ohne die die Reise nie möglich gewesen wäre, Held*innen des Alltags, Adjutant*innen, die unterstützend zur Seite standen und in der Tradition der Helfer*innen stehen, und Gegner*innen, die vor allem als Aktanten und anthropomorphisierte Figuren die Welt der Geschichte bevölkern. Die Geschichte dieser Dissertation begann vor genau zehn Jahren. Und sie ist viel zu lang, als dass sie hier erzählt werden könnte. Zu vielfältig ist die Unterstützung, die ich erfahren habe, als dass die Geschichte über diese Unterstützung hier Raum finden könnte. Doch möchte ich die Figuren der Erzählung nennen, die sich ihrer Rolle mal mehr, mal weniger bewusst sein werden. Ihnen gilt mein Dank! Im Zentrum einer jeden Erzählung steht die Protagonistin, deren Rolle unveränderlich feststeht und für deren einzigartige Wichtigkeit ich zum letzten Mal für die folgenden Seiten das Wort Fakt benutzen werde: Katja. Ohne Dich keine Geschichte! Mit ganz viel Liebe: Ute & Jürgen, Andreas, Ulla & Wolfgang. Tiefer Dank: Frank, Taylan, Kalle, Christoph, Patrick, Daniel, Nina, Christopher. Und all die anderen ungenannten Heldi*nnen!
Inhalt
Vorwort............................................................................................................ VII Abbildungsverzeichnis .................................................................................. XIII 1 Einleitung: Was ist geschehen? .................................................................... 1 1.1 Thema: Politische Narrative ...................................................................... 6 1.2 Was, oder wann, ist Wahlkampf? ............................................................ 13 1.3 Wahlkampf in der mediatisierten Öffentlichkeit ..................................... 17 1.3.1 Mediatisierung.............................................................................. 18 1.3.2 Wahlkampf-Kommunikation im Netz .......................................... 20 1.3.3 Textmassen ................................................................................... 21 1.4 Ziel der Arbeit ......................................................................................... 22 1.5 Vorgehen und Aufbau der Arbeit ............................................................ 23 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs ......................................................................................................... 27 2.1 Politische Kommunikation ...................................................................... 31 2.1.1 Was ist politische Kommunikation heute? ................................... 31 2.1.2 Politische Kommunikation in komplexer Öffentlichkeit.............. 37 2.2 Symbolische Politik? ............................................................................... 41 2.3 Inszenierung und Authentizität des Politischen ....................................... 46 2.4 Emotionen und begrenzte Rationalität..................................................... 51 2.5 Frames ..................................................................................................... 55
X
Inhalt
3 Perspektive: Über Methodologie und Methodik ...................................... 61 3.1 Erzählerische Herausforderungen ............................................................ 61 3.1.1 Sprechprozess und Sprachstruktur ............................................... 61 3.1.2 Ebenen der Erzählung .................................................................. 64 3.2 Methodologische Zugänge ...................................................................... 66 3.2.1 Wissen – Poetologische Prämissen .............................................. 68 3.2.2 Das Erzählen der Forschenden – methodologische Reflexion ..... 71 3.2.3 Das Reale – Zur Beziehung von Theorie und Empirie ................. 75 3.3 Methodische Überlegungen ..................................................................... 79 3.3.1 Theoriegeleitete Fallauswahl – Forschungspraktisches Vorgehen .......................................................................................... 80 3.3.2 Drei Diskursräume ....................................................................... 82 3.3.3 Material – Korpus ........................................................................ 83 4 Heuristik: Drei Kernelemente der Narrativanalyse ................................. 89 4.1 Metaphern, Imagination und die Konstruktion des Politischen ............... 90 4.1.1 Metaphern als Paradigma ............................................................. 91 4.1.2 Metaphorische Aufbauprinzipien ................................................. 99 4.1.3 Einstieg in die Narrativanalyse durch die Metapher................... 103 4.1.4 Drei Analyseschritte ................................................................... 105 4.2 Subjekte, Situationen und die Polyphonie der Erzählung ...................... 109 4.2.1 Erzählende Subjekte ................................................................... 110 4.2.2 Erzählsituationen ........................................................................ 118 4.2.3 Vorschlag zur Analyse ............................................................... 122 4.3 Plot-Muster, Konfiguration und die Organisation von Zeitlichkeit ....... 124 4.3.1 Zeitlichkeit von Erzählungen ..................................................... 125 4.3.2 Konfiguration ............................................................................. 127 4.3.3 Plot ............................................................................................. 130 4.3.4 Vorschlag zur Analyse ............................................................... 136
Inhalt
XI
5 Illustration: Politische Narrative des Bundestagswahlkampfes 2013 ... 139 5.1 Leitmetaphern des Wahlkampfes .......................................................... 141 5.1.1 „Mutti“ Merkel ........................................................................... 142 5.1.2 „Klartexter“ Steinbrück .............................................................. 157 5.2 Erzählsituationen ................................................................................... 169 5.2.1 „Muttis Familie“......................................................................... 170 5.2.2 Steinbrück und die „klare Kante“ ............................................... 187 5.3 Zeitlichkeit............................................................................................. 195 5.3.1 Erster Akt: Was ist die Situation? .............................................. 196 5.3.2 Zweiter Akt: Der Wendepunkt ................................................... 202 5.3.3 Dritter Akt: Wertungen .............................................................. 209 6 Fazit: Ergebnisse, Reflexion und Desiderate .......................................... 217 6.1 Narrative als Zugang zur Komplexität der Sprache............................... 218 6.2 Narrative als Analysewerkzeug ............................................................. 220 6.3 Narrative des Wahlkampfes: Mit „Klartext“ gegen „Mutti“ ................. 224 6.4 Neue Narrativanalysen .......................................................................... 227 6.5 Erfolgreiche Narrative? Zur Strategiefähigkeit des Erzählens .............. 229 Literatur .......................................................................................................... 231
Abbildungen und Tabelle
Abbildung 1: NelCartoons 2015......................................................................... 33 Abbildung 2: Share-Pic der Jungen Union Schleswig-Holstein bei Facebook. 175 Abbildung 3: Plakatmotiv der SPD aus dem Bundestagswahlkampf 2013 ...... 179 Abbildung 4: Foto aus einem Tweet des Linken-Politikers Tobias Schulze. ... 181 Abbildung 5: Peer Steinbrück, Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier bei der Verkündung von Steinbrücks Kandidatur am 28. September 2012. ......................................................................... 199 Tabelle 1:
Mögliche Bezugsrahmen in Anlehnung an Wellbery................. 108
1 Einleitung: Was ist geschehen?
Am 22. September 2013 stand fest, dass Angela Merkel in ihre dritte Amtszeit als Bundeskanzlerin gehen würde. Vorausgegangen war dem haushohen Wahlsieg ihrer CDU ein Wahlkampf, der sich vor allem auf das Duell der Kanzlerin mit ihrem SPD-Herausforderer Peer Steinbrück konzentrierte. Es war ein Zweikampf, der im Nachhinein von vielen als aussichtslos für Steinbrück beschrieben wurde. Viel zu stark sei bereits die Zustimmung für eine Kanzlerin Merkel in der Gesellschaft verankert, als dass die Bürger*innen sie abwählen würden. Viel zu ungünstig sei zudem die Konstellation, in der Steinbrück gegen seine ehemalige Vorgesetzte antreten musste, unter der er von 2005 bis 2009 das Amt des Finanzministers bekleidet hatte. Doch die Tür in den Möglichkeitsraum eines Kanzlers Steinbrück war nicht zu jeder Zeit so fest verschlossen, wie es heute scheint. Diverse Medien wie beispielsweise Cicero (Titel Mai 2011: Wer, wenn nicht Peer?), der Tagesspiegel (Tretbar 28.10.2011) und Spiegel Online (Gathmann 05.07.2011) sahen in Steinbrück lange Zeit den kommenden und aussichtsreichen Kanzlerkandidaten der SPD. Noch im Herbst 2011 wurde Steinbrück in der Rangliste der beliebtesten Politiker vor Angela Merkel geführt.1 Zudem war er der favorisierte Kandidat des SPD-Vorstands und fand an der Parteibasis breite Zustimmung, auch wenn sich die Parteilinke nie wirklich mit ihm anfreunden konnte. Als „Retter der Finanzkrise“ schien Steinbrück der geeignete Kandidat, um Kanzlerin Merkel die Stirn zu bieten. Er verkörperte den kompetenten Staatsmann, der bereits zuvor seine Krisenhärte bewiesen und „die deutsche Wirtschaft vor dem Zusammenbruch gerettet hatte“ (Müller von Blumencron/Sauga 13.09.2010). Warum also sollte Steinbrück keine Chance gegen Angela Merkel gehabt haben, der die Meriten als „Krisenlotsin“ (Korte 2015a: 18) erst später, Jahre nach der Bundestagswahl 2013, zugeschrieben werden sollten? Die Deutungen für die Niederlage Steinbrücks sind vielfältig. Einer verbreiteten Erklärung zufolge war Steinbrücks Glaubwürdigkeit als integrer Staatsmann schon zu Beginn seiner Kandidatur durch die nicht abreißende Debatte um 1
Das ZDF-Politbarometer vom 28.10.2011 markierte die Zustimmung für Peer Steinbrück auf einer Skala von +5 bis -5 bei +1,7. Damit lag er vor Frank-Walter Steinmeier und Angela Merkel, die mit +1,3 Punkten geführt wurde.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Jarzebski, Erzählte Politik, Studien der NRW School of Governance, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31013-4_1
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1 Einleitung: Was ist geschehen?
seine Nebeneinkünfte stark beschädigt gewesen. Nach seiner Zeit als Finanzminister war Steinbrück 2009 erstmals in den deutschen Bundestag eingezogen. In den Augen seiner Kritiker füllte er sein Mandat allerdings nicht mit dem nötigen Ernst aus und gab gleichzeitig seinen Nebentätigkeiten zu viel Raum. Schon im Jahr 2010 meldete die Internet-Plattform abgeordnetenwatch.de Einkünfte in siebenstelliger Höhe, die Steinbrück neben seinen Diäten bezog. Gleichzeitig bliebe er den entscheidenden Debatten fern (Reyher 17.08.2010). Zwei Jahre später, unmittelbar nach der Nominierung Steinbrücks Ende September 2012, griffen alle Leitmedien diese Nachricht auf und diskutierten am Beispiel Steinbrücks die Probleme hoher Nebeneinkünfte der Bundestagsabgeordneten. Binnen zehn Tagen war das Thema in allen überregionalen Printmedien platziert und dabei unmittelbar mit dem gerade gekürten Kanzlerkandidaten der SPD verknüpft (Hönigsberger/Osterberg 2013: 22). Besonders ein Honorar der Stadtwerke Bochum, das Steinbrück für einen Vortrag erhielt, wurde als verwerflich und unmoralisch hervorgehoben. Steinbrück war fortan der „Millionen-Kandidat“ (Medick/Wittrock 30.11.2012), ein Kanzlerkandidat „ohne Maß und Instinkt“ (Höll, SZ, 06.11.2012), der paradoxerweise einen Wahlkampf mit sozialer Gerechtigkeit als zentralem Thema führen sollte. Diese Hypothek, so das Fazit dieses dominanten Erklärungsansatzes, konnte Steinbrück den gesamten Wahlkampf über nicht mehr ablegen. Die überwiegende Mehrheit der veröffentlichten sowie akademischen Meinungen stimmt mit dieser Deutung der Niederlage Steinbrücks überein. Sein Image habe keine Chance gegen eine Kanzlerin gehabt, die als „OrientierungsAutorität“ (Korte 2015a: 9) eine Neuauflage des alten CDU-Slogans „Keine Experimente“ erfolgreich verkörperte. Bei der Betrachtung dieser Deutung lässt sich feststellen, dass sie den Einfluss symbolischer Zuschreibungen in den Mittelpunkt ihrer Argumentation stellt. Weder politische Positionen noch Strategien, Koalitionsaussagen oder eine Kritik am Personal der Schattenkabinette werden zum interpretativen Ankerpunkt dieses Deutungsstrangs. Der Fokus liegt vielmehr auf der Diskrepanz zwischen öffentlicher Inszenierung und programmatischer Verortung, die Steinbrücks Authentizität als „Kanzler der sozialen Gerechtigkeit“ untergraben habe. Die Niederlage Steinbrücks sei demnach seiner Glaubwürdigkeit geschuldet. Sie lasse sich also auf symbolische Defizite und einen Mangel an kongruenten Erzählungen zurückführen. Das wahrgenommene Missverhältnis zwischen dem moralischen und politischen Anspruch an die Rolle eines SPD-Kandidaten, der die mangelnde Gerechtigkeit in der Gesellschaft betonte, und der Besetzung durch Steinbrück, der binnen einer Legislaturperiode Millionen neben seinen Diäten verdiente, ließ sich nur schwer überbrücken. Folgendes Beispiel illustriert dieses Missverhältnis zwischen formuliertem Wahrheitsanspruch und öffentlichem Bild. Es ist der Nominierungsrede entnommen, die
1.1 Thema: Politische Narrative
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Steinbrück auf dem Sonderparteitag der SPD Anfang Dezember 2012 in Hannover hielt: Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat uns eines gezeigt, liebe Genossinnen und Genossen: Es ist etwas aus dem Lot geraten – in Deutschland und in Europa und in der Gesellschaft insgesamt […]. Die Marktgesellschaft ist eine Lebensweise, in der viele gesellschaftliche Bereiche einem ökonomischen Kalkül unterworfen werden sollten. Eine Marktgesellschaft ersetzt Moral und Ethik durch Egoismus und Renditemaximierung. Das aber genau zerstört den Zusammenhalt und die innere Friedfertigkeit einer Gesellschaft. Genau das wollen Sozialdemokraten nicht. Mir geht es deshalb um den Primat der Politik statt eines Primats des Marktes. […] denn es gibt Lebensbereiche, deren Qualität nur erhalten und gesichert werden kann, wenn sie eben nicht zu reinen Marktbeziehungen werden (SPD 09.12.2012).
Der Kontrast zwischen dieser Aussage und dem Narrativ2 des „Millionen-Kanzlers“ erzeugt eine erzählerische Irritation. Vorwürfe des Egoismus, der Renditemaximierung und Begriffe wie Moral und Ethik klingen schal vor dem Hintergrund einer breiten Debatte um das richtige Maß des Kandidaten. Zum Problem erwächst für Steinbrück also nicht die reine Anschuldigung einer maßlosen Bereicherung, sondern vielmehr das Zusammenspiel verschiedener kommunikativer Akte, die in ihrer Summe die Form einer Erzählung annehmen. In dieser erscheint Steinbrück als Fehlbesetzung; er passt nicht auf die ihm zugewiesene Rolle. Somit fehlt es der Erzählung an entscheidender Stelle an Glaubwürdigkeit. Eine zweite Erklärung für die Wahlniederlage Steinbrücks ist die Stärke der Gegenerzählung.3 Angela Merkel hatte als amtierende Kanzlerin ein Narrativ anzubieten, das auf Erfolge rekurrierte. Steinbrück trat daher nicht gegen eine chancenlose Gegnerin an, die er mit ein paar Kniffen aus dem strategisch-rhetorischen Werkzeugkasten hätte entwaffnen können. Merkel ging als „Mutti“ der Nation in den Wahlkampf, die wirtschaftlichen Aufschwung versprach und politische Stabilität suggerierte. Auch dank dieses simplen und gleichsam attraktiven Deutungsangebots war zu keinem Zeitpunkt ein Einbruch der Sympathien für Merkel zu beobachten. Sie „schwebte über den Dingen“ und konnte das Wahlkampfgeschehen beinahe entspannt aus der Ferne betrachten.4 Im Gegensatz zu Steinbrück erweckte Merkel den Anschein, keine programmatischen Positionen besetzen zu wollen. Sie selbst war die Botschaft. Zum Abschluss des TV-Duells am 1. September 2 3
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Im Verlauf dieser Arbeit werden die Begriffe Narrativ und Erzählung synonym verwendet. Hier zeigt sich, wie schon die Perspektivierung eine Parteinahme suggerieren kann, denn es ließe sich auch vom Wahlsieg Merkels sprechen. Ob sich dieses Muster im Bundestagswahlkampf 2017 wiederholen sollte, werden zukünftige Forschungen herausarbeiten müssen.
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1 Einleitung: Was ist geschehen?
2013 sagte Sie: „Liebe Mitbürgerinnen, wir haben die Argumente gehört und nun sind sie dran, Sie kennen mich.“ Sie ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass Inszenierung und Person Merkel deckungsgleich sind. Im Wahlkampf profitierte sie von einer in weiten Teilen der Bevölkerung wahrgenommenen wirtschaftlichen Prosperität, die nicht permanent argumentativ unterfüttert werden musste, sondern durch die (oberflächlich) gesunde Wirtschaftslage zu einem „Fakt“ wurde, gegen den der Gerechtigkeitswahlkampf der SPD nicht ankam. Merkels Vorteil war es, dieses Gefühl zu evozieren und mit ihrer persönlichen Präsenz verkörpern zu können. In diesem Sinne lässt sich auch ihre Deutung der Lage lesen, die sie im Rahmen des Bundesparteitages der CDU, der ebenfalls Anfang Dezember 2012 in Hannover stattfand, kundtat: Was ist die Lage? Gerade einmal drei Jahre ist es her, dass unsere Wirtschaft durch die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise um mehr als 5 Prozent eingebrochen ist. Das war der stärkste Wirtschaftseinbruch in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Für 2010, also vor zwei Jahren, mussten wir einen Krisenhaushalt mit einer Neuverschuldung von über 80 Milliarden Euro vorlegen. Das war die höchste Neuverschuldung in der Geschichte unseres Landes. 2011 dann haben wir als erstes Industrieland das Niveau von vor der Krise wieder erreicht. Mit gezielten Maßnahmen haben wir Beschäftigung gesichert und Wachstum geschaffen. Damit haben wir unser Versprechen gehalten: Wir haben Deutschland stärker aus der Krise geführt, als Deutschland in diese Krise hineingegangen ist (CDU 6.12.2012).
Angela Merkel versetzte sich in eine Erzählung, in der Wohlstand und Wachstum mit ihrer Person verknüpft sind. Daraus leitete sich ihr Vorteil im Wahlkampf ab, denn sie erschien als glaubwürdige Besetzung in ihrem eigenen Narrativ. Dieser symbolische Vorteil wurde strategisch genutzt und zu einem maßgeblichen Bestandteil des CDU-Wahlkampfes. Zwar gibt es Stimmen, die die Erzählung der „Mutti Merkel“ als Ergebnis cleverer Wahlkampfführung sehen und sie der Feder der Parteistrategen zuschreiben. Doch verkennt diese Interpretation, dass die „Mutti“-Metapher despektierlichen Ursprungs ist und klar einer Positionierung gegen Merkel entstammt.5 Die aktive Nutzung des Mutti-Narratives durch die CDU-Wahlkämpfer baute im Umkehrschluss auf bestehenden erzählerischen Strukturen auf und war in der Lage, sie umzudeuten beziehungsweise alternative Bezugsrahmen für die Leitmetapher der „Mutti“ zu eröffnen. In dieser Leitmetapher der „Mutti“ zeigt sich, wie sehr politische Sprache von permanenten Wandlungsprozessen geprägt ist, die ihren Ausdruck im Verlauf der verschiedenen Sinnzuschreibungen finden. Nur durch die Unwägbarkeiten der Sprache konnte eine ehemals abwertend genutzte Metapher zum zentralen kommunikativen Ankerpunkt des CDU-Wahlkampfes werden. 5
Zur Metapher der „Mutti Merkel“ und ihrem Ursprung siehe Kapitel 5.1.1.
1.1 Thema: Politische Narrative
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Bei der Betrachtung dieser in Kürze präsentierten Erklärungsansätze erhärtet sich der Eindruck, dass keine der Interpretationen allein die deutliche Niederlage Steinbrücks nachvollziehbar werden lässt. Die Komplexität kommunikativer Akte sperrt sich gegen solche letztlich doch stark komprimierten Deutungen, die in relativ starren Erklärungen münden und der Dynamik sozialer Beziehungen nicht gerecht werden. Für ein besseres Verständnis empfiehlt es sich daher, den Fokus auf den Wettstreit verschiedener Erzählungen zu richten, die in der Bewältigung situativer Problemkonstellationen im Wahlkampf auftauchen. Diese erzählerischen Akte spielen in der Erforschung politischer Kommunikation bislang eine untergeordnete Rolle. Zwar sind Symbole, Mythen, Frames und Metaphern in der Deutung der Wahlkampfkommunikation schon länger keine Randphänomene mehr, doch lassen diese Ansätze bisweilen eine grundsätzliche Offenheit für die Unabgeschlossenheit von Sinngebungsprozessen vermissen. Letztlich geht es darum, Erklärungen für Wahlkampfphänomene zu finden und gleichzeitig die Kontingenz politischer Deutungsprozesse ernst zu nehmen. Ein analytischer Fokus auf die erzählerische Dynamik des Wahlkampfes ermöglicht alternative Deutungen und erweitert so das Verständnis für den Ausgang der Bundestagswahl 2013. In diesem Sinne stellen sich für die hier vorliegende Arbeit zwei Leitfragen. Die erste leitet sich vom Forschungsgegenstand ab, während die zweite die Forschungsperspektive und den Forschungszugang thematisiert: 1. 2.
Wie lässt sich der Ausgang des Bundestagswahlkampfes 2013 erzähltheoretisch deuten? Wie lassen sich Bundestagswahlkämpfe sinnvoll mithilfe einer narrativen Heuristik erklären?
Ausgehend von diesen Leitfragen führt die vorliegende Arbeit politische Erzählungen als Analysewerkzeug für die Erforschung von Wahlkämpfen ein. Im Zentrum steht die Überzeugung, dass Zuschreibungen, Deutungen und Sinnstiftungen einem permanenten Wandel unterzogen und gerade deshalb so bedeutend für den Verlauf von Wahlkämpfen sind. Dabei nehmen sie die Form von Erzählungen an, die als Ergebnis eines vielstimmigen Kommunikationsprozesses Wahrheitsansprüche formulieren und den Bürger*innen als Interpretationsangebote zur Verfügung stehen. So werden Wahlkämpfe zu sprachlichen Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Deutungsangeboten. Um diese Prozesse zu analysieren, bedient sich die politikwissenschaftliche Narrativanalyse dreier heuristischer Werkzeuge, die im Zusammenspiel als Kernelemente politischer Erzählungen zu verstehen sind:
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1 Einleitung: Was ist geschehen? Erstens gruppieren sich Erzählungen im Diskurs um spezifische Leitmetaphern, die oftmals auch als Namensgeberin der Erzählung fungieren. Anhand der Beispiele „Mutti Merkel“ und „Klare Kante Peer“ werden die metaphorischen Aspekte politischer Narrative erläutert. Zweitens setzen sich Erzählungen notwendigerweise mit Figuren auseinander. Diese treten als Erzähler*innen und als Rollen innerhalb der Erzählung auf. In ihren Reden werden Merkel und Steinbrück zu Erzähler*innen und weisen sich gleichzeitig eine Rolle in ihren eigenen Narrativen zu. Drittens werden Erzählungen durch eine zentrale Operation angetrieben: Durch die Konfiguration des Geschehens entsteht eine Sinneinheit, die den Inhalt der Erzählung zugänglich macht. Der Ablauf des Erzählten wird mittels dieser Operation organisiert.
Mittels der Narrativanalyse werden diese drei Kernelemente der Wahlkampferzählungen rekonstruiert und zur Interpretation des Geschehens herangezogen. 1.1 Thema: Politische Narrative “The notion that disseminating the White House’s view takes storytelling genius or social media wizardry is … odd.” “[…] It’s all about controlling the narrative. But you knew that.” “So I’ve heard. But ‘the narrative’ is one of those terms: everyone thinks everyone else knows what is meant by it.” Twitter-Dialog zwischen Jay Rosen und Daniel Johnson (@jayrosen_nyu 07.05.2016). In demokratisch verfassten Gesellschaften gelten Wahlen als zentraler Baustein der Partizipation. Dem Akt der Wahl geht dabei eine Phase intensiven Werbens der politischen Akteur*innen um die Stimmen der Wähler*innen voraus: der Wahlkampf. Wahlkämpfe sind kommunikative Prozesse, die auf verschiedensten medialen und personalen Kanälen parallel ablaufen und dabei das gesamte Arsenal zeichenhafter Vermittlung umfassen. Diese Kämpfe sind eingebunden in das komplexe Kommunikationssystem der politischen Sprache. Für Regierende und Regierte eröffnet sich hier ein Raum, in dem Demokratie gelebt, erschwert, zelebriert und verhindert wird: „Schon seit den Anfängen des menschlichen Nachdenkens über Politik ist die Annahme verbreitet, dass Politik und Sprache aufs Engste miteinander verwoben sind“ (Nonhoff 2014: 51). Doch Sprache ist dabei
1.1 Thema: Politische Narrative
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kein objektiver Solitär, kein feststehendes System aus Gewissheiten. Vielmehr unterliegt sie einem regen Nutzungsprozess, der sich im alltäglichen Sprechen der Bürger*innen über die Politik und das Politische als dynamische Prozessseite der Sprache zeigt. Diese dynamische Seite der Sprachlichkeit von Welt ist hier von Bedeutung, denn politisch sind nicht bestimmte Worte, Satzteile oder Sequenzen. Politisch ist der Aushandlungsprozess, der Bedeutungen verschiebt und unsere Wertvorstellungen als fluide, durchlässige und vor allem kontextuelle Systeme erscheinen lässt: Die sinnhafte Erschließung der Welt […] durch die zahlreichen Zuschreibungen von Bedeutung, ist zutiefst politisch, weil diese Zuschreibungen erstens grundlegend für unser kollektives Handeln und zweitens umkämpft sind (Nonhoff 2014: 51).
Diese Natur des Politischen zeigt sich auch und besonders in Wahlkämpfen. Sie sind Extremzeiten, die sowohl das politische Personal als auch die politische Berichterstattung in einen nervösen Erregungszustand versetzen. In Wahlkämpfen kulminiert eine erhöhte mediale Aufmerksamkeit mit den gesteigerten Sendungsbemühungen der Akteur*innen in einer Phase intensivierten Sprechens über Politik, politische Prozesse und deren Inszenierung. Alles dreht sich um die Sprache, die nicht allein als „das zentrale Instrument und Vehikel der Politik“ (Korte/Fröhlich 2009: 283) zu verstehen, sondern vielmehr der Politik als wirklichkeitskonstituierendes Phänomen des Sozialen vorgelagert ist. Denn gerade „weil Sprache mehr ist als das Medium zum Transfer vorstrukturierter Konzepte, sondern durch Sprache Inhalte geschaffen bzw. situationsspezifisch angedeutet werden müssen, sind die Kommunikations- und Verstehensprozesse relevant“ (Behrens 2011: 306). Daher sind die politischen Akteur*innen gezwungen, sich auf diese Gegebenheit einzulassen und mit der vorgefundenen und ihnen zur Verfügung stehenden Sprache umzugehen. Dies fordert die Kreativität und Kunstfertigkeit des Sprachgebrauchs heraus. Es geht jedoch nicht nur um Originalität oder die Erschaffung neuer Begriffe, sondern oftmals darum, das Alte, Bekannte und wenig Überraschende als überzeugende Positionen sprachlich einzukleiden und dadurch mehrheitsfähige Politiken zu organisieren. Dafür ist eine besondere Einsicht in die Muster und Strukturen der politischen Sprache und eine hohe Sensibilität für die Wirkung der eigenen Sprechakte auf die gesellschaftlichen Diskurse erforderlich, um den gewünschten Einfluss nehmen zu können. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Dies gelingt nicht selten, denn die politischen Akteur*innen stehen den diskursiven Strukturen nicht machtlos gegenüber. Ganz im Gegenteil: Wie der Wahlkampf 2013 zeigte, sind die Parteien durchaus in der Lage, gesellschaftlich bedeutsame Themen zu setzen und Begriffe zu prägen.
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1 Einleitung: Was ist geschehen?
Einzig der Erfolg ihrer Absichten ist nur selten absehbar. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der Bundestagswahlkampf ein öffentliches Spektakel ist. Auf allen medialen Kanälen sowie im Alltagsgespräch der Bürger*innen findet er laut tönenden Wiederklang und bestimmt die öffentlichen Diskurse. Die Maßstäbe der politischen Öffentlichkeit verengen sich in Wahlkämpfen auf die Frage hin, wer für die kommenden vier Jahren die Regierung stellen wird. So erschien in der Süddeutschen Zeitung elf Tage vor der Wahl eine Beilage, deren Aufmacher mit „Deutschland wählt – die Folgen trägt Europa“ überschrieben war (SZ 11.09.2013). Für kurze Zeit schien Politik im Allgemeinen und die Bundestagswahl (ebenso wie die Landtagswahlen in Bayern und Hessen, die in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Bundestagswahl stattfanden) im Besonderen das mediale Rauschen zu einem Klang zu vereinen: Politik ist bedeutend. Sinn und Bedeutung von Politik werden in Wahlkämpfen anders gedacht. Durch die neu justierte Perspektive auf das Machtzentrum Bundestag verschieben sich die Kontexte des politischen Geschehens. Aus politischem Alltag wird Wahlkampf, eine Phase erregten Sprechens über vermeintliche Gewissheiten, Fakten, Ideen und Wahrheiten. Doch sind in diesem sprachlichen Gewirr aus Stimmen und Themen die vermeintlichen Wahrheiten und Fakten nur schwerlich zu identifizieren. Auch wenn die Öffentlichkeit stets auf der Suche nach politischen Gewissheiten ist, um Ankerpunkte für die politische Auseinandersetzung zu finden, lässt sich die Interpretationsoffenheit politischer Ereignisse nicht einfach überwinden. Das politische Geschehen unterliegt stets einer Konfigurationsleistung der Akteur*innen, die Ereignisse und Handlungen in eine sinnhafte Ordnung stellen. Dieser Prozess der Sinnstiftung kann als Erzählung verstanden und entschlüsselt werden. Um dem Entstehen von Sinn im Wahlkampf auf den Grund zu gehen, muss der Begriff der Erzählung für die Wahlkampfforschung analytisch aufbereitet werden. Allerdings besteht bei diesem Vorhaben ein zentrales Problem: Die einzuführenden Kategorien müssen sich gegen tief im Alltagsverständnis verankerte Lesarten durchsetzen. Denn beinahe alltäglich sind wir mit Erzählungen konfrontiert und nutzen den Modus des Erzählens. Es scheint zu gelten: „now narrative is everywhere“ (Richardson 2000: 168 zitiert nach Hyvärinen 2006: 20). Aus wissenschaftlicher Perspektive ergibt sich aus dieser Feststellung die Gefahr der Beliebigkeit: „[I]f everything is narrative, nothing is“ (Rimmon-Kenan 2006: 17). Eine erste Annäherung an den Erzählbegriff hilft, den Nebel etwas zu lichten, und lässt vor allem drei Begriffsdefinitionen aufscheinen, die sich im Alltag mit Erzählungen und dem Erzählen verbinden:
1.1 Thema: Politische Narrative
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1. Alltägliche Sinnstiftung Nichts erscheint alltäglicher zu sein als die Erzählung, wie diese oft zu hörenden Sätze zeigen: „Ich muss euch was erzählen!“ „Ihr werdet es nicht glauben, aber M. hat mir Folgendes erzählt!“ „Erzähl doch mal, wie ist das Spiel gelaufen?“ Das Erzählen ist ein menschlicher Modus, der fest in unserer Sprache verankert ist. „Something happened; or better, someone telling someone else that something happened. This, according to some might be the most minimal and general way to conceive of narrative, an issue that has its own story” (Kreiswirth 2000: 294). Unbewusst nutzen wir tagtäglich dieses Potential der Erzählung, die zum festen Repertoire des rhetorischen Baukastens gehört. Durch das Erzählen teilen wir uns mit. Deutlich sichtbar wird dies auch in den eingangs eingeführten Beispielen. Auch während des Wahlkampfes erzählten beide Kandidat*innen den Bürger*innen ihre Version der aktuellen politischen Situation. Während Peer Steinbrück konstatierte: „Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat uns eines gezeigt, liebe Genossinnen und Genossen: Es ist etwas aus dem Lot geraten – in Deutschland und in Europa und in der Gesellschaft insgesamt“, versicherte Angela Merkel: „Wir haben Deutschland stärker aus der Krise geführt, als Deutschland in diese Krise hineingegangen ist.“ Diese Aussagen beinhalten weder klassische Argumente noch vermeintliche Fakten. Sie sind der Versuch einer erzählerischen Anverwandlung des komplexen Geschehens, für das sich die Begriffe „Bankenkrise“, „Staatsschuldenkrise“ und „Finanzkrise“ durchgesetzt haben. Die Geschehnisse sind auf so vielen Ebenen komplex, dass sie sprachlich einer Reduktion auf bestimmte Aspekte bedürfen – die verschiedenen Bezeichnungen erzählen wiederum von ihnen. 2. Mögliche Welten Erzählungen sind als Geschichten fiktive Verhandlungen möglicher Welten, in denen wir uns mit der eigenen Realität auseinandersetzen. Oftmals gelingt es gerade über Erzählungen, Wahrheiten zu transportieren. Seltener sind die Fälle, in denen Erzählungen sinnbildlich für einen Ausschnitt aus der Realität stehen. Dies geschieht etwa dann, wenn im politischen Alltag Beispiele gebraucht werden und auf das Reservoir fiktiver Welten zurückgegriffen wird. So sagte etwa Steinbrück: „Das Frauen- und Familienbild, das CDU/CSU haben, das stammt eben aus dem Maggi-Kochstudio der 50er-Jahre.“ Das Koch-Studio, auf das Steinbrück hier anspielt, weckt eine Reihe von Assoziationen, die durchaus realweltlich waren (oder sind), jedoch in der fiktiven Welt der Werbung für ein Nahrungsergänzungsmittel ihren sinnbildlichen Ausdruck gefunden haben. Steinbrück ruft eine veraltete Welt ins Gedächtnis, in der die Frauen zuhause ko-
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1 Einleitung: Was ist geschehen?
chend auf den arbeitenden Mann warten. Diese intendierte Vorstellung speist sich in Steinbrücks Rede aus einem fiktiven Abbild in der Werbung. Dem fiktiven Aspekt der Erzählung wohnt also eine Kraft inne, die lohnt, näher beleuchtet zu werden. So würden beispielsweise nur wenige behaupten, dass sich hinter Frank Underwood und seinem House of Cards (USA 2013-2018) eine gänzlich unrealistische Zeichnung US-amerikanischer Politik verbirgt. Bei aller Übertreibung, die der TV-Serie innewohnt, gelingt es House of Cards, die Abgründe der Machtpolitik in einer Art und Weise darzustellen, wie es wissenschaftlichen und journalistischen Publikationen nicht immer gelingen mag. Gerade im Zuge der Präsidentschaft Donald Trumps wurden die Parallelen machtpolitischer Realitäten und fiktiver Möglichkeiten augenscheinlich. Fiktionale Erzählungen sind in der Lage, mögliche Welten zu illustrieren und einen Einblick in eine „andere Realität“ zu geben. Diese Eigenschaft wohnt allen kommunikativen Akten inne: Insofern ist kein Text jemals ganz faktisch; er spielt schon seiner Sprachstruktur, nicht erst seinen Inhalten nach mit allen Registern virtueller Bedeutungsbereitschaft und semantischer Potentialität. Fiktionale Texte tun eigentlich nichts anderes, als diese Struktur sich auf den Text als ganzen ausdehnen zu lassen (Koschorke 2012: 87).
Die möglichen Welten beziehen sich dabei nicht allein auf zukünftiges Geschehen, sondern korrespondieren explizit mit der Bewertung des Vergangenen. „Die Vergangenheit hat Seitenstränge, sie ist nicht mit dem bloß Geschehenen identisch, sondern da gibt es auch das beinahe Geschehene, die Möglichkeitsform“ (Kluge 2017). Ein genauer Blick auf diese Möglichkeitsformen perspektiviert vermeintliche Gewissheiten, indem das Geschehen nicht als notwendige, kausale Abfolge von Ereignissen, sondern als erzählte Konfiguration gelesen wird. 3. Strategisches Storytelling Narrativen wird im Gewand des Storytellings eine zunehmende Aufmerksamkeit seitens der politischen Praxis zuteil. Sie werden in erster Linie als strategische Mittel erkannt und im Sinne des spin doctoring verwendet (Wilhelmy 2013). Kommunikationsprofis, Wahlkampfstrateg*innen und politische Akteur*innen werden sich zunehmend bewusst, dass ein emotionaler Überbau, eine „größere Vision“ (Hillje 2012) des Politischen, wie sie exemplarisch im US-amerikanischen Wahlkampf durch Obamas „Hope“ geliefert wurde (Korte 2012), notwendig ist, um politische Anliegen zu vermitteln. Im deutschen Politikraum unternahm Peer Steinbrück den Versuch, eine solche übergeordnete, verbindende Erzählung zu schaffen. Er sprach von einem Europa, das mehr als nur Wirtschaftsraum sei. Diese Geschichte eines Europas der Freiheit und des Friedens müsse
1.1 Thema: Politische Narrative
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wieder in das Bewusstsein der Bürger*innen gelangen, so Steinbrück (Schmid 2012). Narrative werden in der und durch die Praxis als „eine wesentliche Form der medialen Aufbereitung politischer und gesellschaftlicher Prozesse als rezipierbare Erzählung vor dem Hintergrund tiefliegender Deutungsmuster“ definiert, die „einen komplexen Sachverhalt als Story mit Protagonisten und Antagonisten leichter verstehbar“ (Brosda 2013: 60) machen. Dabei finden Narrative ihren Anfang oftmals in der Sprachkritik und läuten die „Renaissance der politischen Rede [ein]. Die Renaissance der Rede als Gespräch“ (Hütt 2013: 116). Das gestiegene Interesse an Erzählungen kann als eine Unzufriedenheit an dem nicht eingelösten Versprechen der Kraft des besseren Arguments gelesen werden, denn Narrative sind in der Lage, tieferliegende Bedeutungsschichten zu aktivieren und nicht allein auf der Ebene rationaler Argumente zu operieren. Zwar kritisieren einige Beteiligte aus der Berliner „Käseglocke“ (Kister 09.06.2013) gerade deshalb die Tendenz zu einem Mehr an Erzählung als Fehlentwicklung, doch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Bedeutung von Erzählungen für eine strategische politische Kommunikation steigt. Diese drei tief im Alltagsverständnis verankerten Verwendungsweisen des Erzählbegriffs erschweren eine analytische Nutzung, denn diese muss sich gegenüber jenen beweisen und aufzeigen, wie die spezifischen Bedeutungsebenen einen interpretativen Mehrwert bereitstellen können. Alle drei kurz skizzierten Aspekte – das Erzählen als grundlegender Sprachmodus der Sinnstiftung, die Erzählung als fiktiver Träger von Wahrheiten und Narrative als strategisches Kommunikationsmittel im Gewand des Storytellings – werden im Folgenden hinsichtlich ihres analytischen Potentials für die Erforschung der Sprache im Wahlkampf herangezogen. Entscheidend ist, dass diese Aspekte nicht losgelöst voneinander behandelt werden können. Erst im Zusammenspiel dieser vielfachen Bedeutungs- und Wirkungsebenen des Erzählbegriffs entfalten Narrative ihre Wirkung. Daher unterscheiden sich politische Narrative nicht von den kurz skizzierten Bedeutungsebenen. Vielmehr vereinen sie die verschiedenen Ebenen in einem komplexen sprachlichen Phänomen, das neben den Erzählungen noch auf weitere strukturelle Merkmale und zusätzliche Sinneinheiten zurückgreift, die im Verlauf der vorliegenden Arbeit eingehender thematisiert werden. Politische Erzählungen lassen sich jedoch nicht allein durch ihre Form erklären. Neben den verschiedenen Alltagsverständnissen verweisen sie immer auch auf ein oder mehrere Themen. Diese Themen beziehen sich auf bestimmte Ereignisse und Geschehen, um die sich Diskurse entfalten. Für den Bundestagswahlkampf 2013 lassen sich eine Vielzahl von Themen identifizieren, die Einblicke in die sprachlichen Mechanismen des politischen Diskurses in Deutschland bieten. Hinter Stichworten wie „Veggie Day“, „Honorare“, „Staatsschuldenkrise“ oder „Bankenkrise“ verbergen sich weitreichende Bedeutungshorizonte, die
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1 Einleitung: Was ist geschehen?
nicht allein auf ein rationales Verstehen zu reduzieren sind. Vielmehr werden unter den genannten Stichworten Wertewelten verhandelt, die immer auch emotionale Komponenten in sich vereinen. So wurden in der Debatte um den VeggieDay6 grundsätzliche Fragen des Politischen adressiert, die von Freiheit, Gerechtigkeit, Globalisierung und Kapitalismus handeln. Einerseits stand hier die Idee einer besseren Welt, die durch politisches Handeln zu erreichen sein wird, andererseits die Mobilisierung des Freiheitsgedankens als Entscheidungsfreiheit des Einzelnen über das eigene Wohl. Gleiches gilt für die erzählerische Verhandlung von Steuerfragen, ein Thema, dass „die Menschheit in vorbiblischer, in biblischer Zeit und in allen Epochen danach immer beschäftigt“ (Hönigsberger 2013: 42). Allgemeinwohl versus persönliches Vermögen, Gesellschaft gegen Individuum, Gleichheit gegen Freiheit bilden hier die erzählerischen Pole, zwischen denen sich ein öffentlicher Deutungskampf entfaltet. Für die hier vorliegende Arbeit sollen vor allem zwei beispielhafte Erzählungen im Mittelpunkt stehen, die den Bundestagswahlkampf 2013 maßgeblich prägten. Der Herausforderer Peer Steinbrück trat als „Klartexter“ mit „klarer Kante“ gegen die Kanzlerin Angela Merkel an, die als „Mutti“ einen präsidialen Regierungsstil pflegend das Machtzentrum besetzt hielt. Um beide Charakterisierungen gruppierten sich Erzählungen, die nicht allein die Rollen der beiden Kandidat*innen im Diskurs festschrieben, sondern darüber hinaus narrative Muster etablierten, die imstande waren, die Absichten und Ziele der Parteien in eine kommunikable Form zu gießen, moralische Wertungen über die Gegner*innen und bestimmte Politiken zu formulieren und schließlich versuchten, die Deutungshoheit über die herrschenden Verhältnisse zu erlangen. Die Auswahl dieser beiden personenfixierten Narrative folgt dem in der Forschung etablierten Diktum der Personalisierung von Wahlkämpfen (Brettschneider 2002; Ohr 2000). Im Zentrum der Analyse stehen die prägenden Erzählweisen des Wahlkampfes. Die Wahlkampfforschung wird dadurch um eine erzähltheoretisch inspirierte Perspektive ergänzt. Mithilfe der Narrativanalyse, so die Überzeugung, lässt sich dem Verständnis von politischer Sprache und der kommunikativen Verhandlung von Politik eine wichtige Komponente hinzufügen. Nicht „wie Wahlkämpfe geführt werden“, die „Faktoren der Wahlkampfführung“ oder die „Effekte auf Wählerverhalten und Wahlausgang“ (Schoen 2005: 504) im engeren Sinne markieren das Erkenntnisinteresse, sondern es lassen sich durch die Narrativanalyse vielmehr Antworten auf die Frage finden, warum Angela Merkel als Siegerin des Bundestagswahlkampfes hervorgegangen ist. Die sprachlichen Prozesse und ihr Einfluss auf die Wahlkampfführung, das Wahlverhalten, den Wahlausgang und schließlich auch die Wahlkampfforschung lassen sich durch 6
Der Veggie-Day war ein Vorschlag der Grünen, in Kantinen einen fleischfreien Tag einzuführen.
1.2 Was, oder wann, ist Wahlkampf?
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die Narrativanalyse interpretativ erschließen. Im Ergebnis steht eine Rekonstruktion der Deutungs- und Sinngebungsprozesse, die sich im Wahlkampf als Auseinandersetzung verschiedener Erzählungen darstellen. 1.2 Was, oder wann, ist Wahlkampf? „Wahlkämpfe sind ein Ritual, aber beileibe kein überflüssiges oder inhaltsleeres, sondern eines, ohne das die parlamentarische Demokratie gar nicht überlebensfähig wäre.“ (Dörner/Vogt 2002: 7) Das Wesen von Wahlkämpfen wird mit den unterschiedlichsten Metaphern beschrieben: „Wahlkämpfe sind Schlüsselphasen“ (Woyke 2013: 133), Wahlkämpfe sind „Hochämter der Demokratie“7 oder gar ein „demokratischer Mythos“ (Dörner/Vogt 2002: 7). Um diese „Höhepunkte der Kommunikation“ (Stauss 2013: 15) verstehend zu analysieren, verzahnen sich in der Erforschung von Wahlkämpfen Politik-, Sprach- und Kommunikationswissenschaften. Je nach Blickwinkel verschieben sich dabei die Kerncharakteristika, die dem Wahlkampf als Forschungsgegenstand zugeschrieben werden. Während Rüdiger SchmittBeck und Barbara Pfetsch aus Sicht der politischen Kommunikationsforschung Wahlkämpfe als „Wettbewerbe zwischen politischen Akteuren um Einfluss auf die Öffentlichkeit“ (1994: 106) verstehen und Klaus Kamps aus ähnlicher Perspektive die werbende Kommunikation ins Zentrum seines Interesses an Wahlkämpfen stellt (2007: 159-236), sieht Ulrich Sarcinelli in erster Linie legitimatorische Mechanismen am Werk (1987: 12ff.; 2011: 55-154). Führt man hingegen die eingangs aufgestellten Prämissen fort, nach denen die Sprache diesen Prozessen vorgelagert ist und als Diskurs in der Lage ist, Wahlkämpfe zu prägen, so bietet sich der Zugang Andreas Dörners an, der den Wahlkampf als einen „Kommunikations- und Interaktionsprozess, der sich im Wesentlichen in einem Dreieck aus Parteien (und Kandidaten), Medien und Wählern abspielt“, konzeptualisiert (2002: 21). Dieser Prozess erscheint uns als ein „Kampf um Inszenierungsdominanz“ (Kurt 1999; zitiert nach Dörner 2002: 22) und fokussiert die Frage: „Wer kann unter welchen Umständen wem seine eigene Handlungslogik aufzwingen?“ (Dörner 2002: 22). Diese zunächst bewusst weit gefasste definitorische Annäherung, die sich durchaus als Ausgangsbasis einer Mehrheit der Wahlkampfforschungen bezeichnen lässt, beschreibt sehr genau, welche Wesenseigenschaft Wahlkämpfe aus7
So der Name einer Konferenz im Juni 2013. Auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung diskutierten die Wahlkampfmanager der Parteien mit Wissenschaftlern, Journalisten und Publizisten über die Wahlkampfstrategien der Parteien im Bundestagswahlkampf 2013.
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1 Einleitung: Was ist geschehen?
zeichnet: Sie sind Prozesse. Mit dem Fokus auf diese Prozesshaftigkeit wird die vorliegende Analyse vorrangig auf das Kommunikationsgeschehen Bezug nehmen und Akteur*innen sowie Strukturen nachrangig behandeln. Institutionen, Parteien, Medien, Wahlkampfzentralen sowie Politiker*innen werden nur insofern Gegenstand der Analyse sein, als dass sie im Rahmen der Narrativanalyse als Erzähler, Rezipient, Kontext oder Erzählgegenstand konzeptualisiert werden. Dadurch ergeben sich bestimmte „Lücken“ im Forschungsprozess. Die hier vorgelegte Narrativanalyse wird demnach keine Aufschlüsse über die personellen, demographischen oder programmatischen Faktoren des Wahlkampfes liefern. Doch kann durch den Fokus auf die Prozesshaftigkeit der Sprache die Fluidität des Wahlkampfes untersucht und eine starre Unterteilung, die der AkteurStruktur-Problematik folgt, unterlaufen werden. Denn hier wird in der Regel das Primat wiederkehrender Muster und gesellschaftlicher Arrangements beschworen, die den Einfluss des Einzelnen minimieren, oder aber der freie Wille und die Handlungsfähigkeit von Individuen betont. Dieser epistemologische Graben hat in der Sozialtheorie eine lange Tradition (vgl. Elias 1978, Archer 2003). Doch kommunikative Prozesse, wie wir sie im Wahlkampf vorfinden, sind stets sich in Bewegung befindliche, nicht abgeschlossene Konstrukte, die sich nur schwer fassen lassen und nur selten in das Muster einer dichotomen Unterteilung nach Akteur und Struktur passen. Narrative sind ein Abbild der Prozesshaftigkeit von Sprache und können diese repräsentativ beschreiben. Wenn wir nun davon ausgehen, dass die Prozesshaftigkeit das bestimmende Charakteristikum der Wahlkämpfe ist, bleibt zu fragen: Wie lässt sich der Wahlkampf zeitlich oder inhaltlich vom sonstigen politischen Geschehen abgrenzen? Wie kann angesichts eines „Regieren[s] im Wahlkampfstil“ (Korte 2001: 10) der Wahlkampf als solcher identifiziert werden? Wie bedeutend ist die Eingrenzung des Wahlkampfs, wenn es Äußerungen politischer Akteur*innen gibt, die aufgrund ihres Inhaltes als „Wahlkampf“ qualifiziert werden? Wie kann der Wahlkampf untersucht werden, wenn er oftmals als Merkmal von Botschaften gilt, die aufgrund ihres inszenatorischen Gehaltes disqualifiziert werden? Eine definitorische Eingrenzung gestaltet sich also zunächst schwierig. So wundert es nicht, dass der Wahlkampf als Singular bisweilen als „Hilfskonstruktion“ bezeichnet wird, „denn irgendwo ist immer Wahl“ (Siri 2012: 156). Unter dem Schlagwort „Permanent Campaigning“ (Filzmaier/Plasser 2001) setzte sich diese Erkenntnis in jüngerer Zeit immer weiter durch. Ausgangspunkt ist die Frage, wie in der mediatisierten politischen Öffentlichkeit des 21. Jahrhunderts noch glaubhaft Besonderheiten identifiziert werden können, die den Wahlkampf vom alltäglichen Politikgeschehen unterscheiden. Als Antwort lassen sich zunächst drei zentrale Besonderheiten der Wahlkampfzeiten benennen:
1.2 Was, oder wann, ist Wahlkampf?
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Erstens finden Sinnstiftungsprozesse in einer komprimierten Form ihren Rahmen. Im Wahlkampf werden Austauschprozesse über politische Richtungsentscheidungen, gesellschaftliche Werte und grundlegende Fragen des Sozialen ritualisiert. Dieses Ritual stellt dabei „nicht nur ein Mittel zur Stabilisierung einer sozialen und politischen Institutionenordnung, sondern vor allem einen Akt der Erneuerung und der Sinnstiftung der politischen Ordnung“ (Soeffner/Tänzler 2002: 93) dar. Der Wahlkampf und die in ihm ablaufenden Sinnstiftungsprozesse sind also von entscheidender Bedeutung für demokratische Gesellschaften, denn „[k]eine politische Ordnung, wie sie von der institutionellen Gestaltung her auch immer konstruiert sein mag, kann auf die Stabilisierung durch eine symbolische Ordnung mit Mythen und Ritualen verzichten“ (Dörner 2002: 28).
Zweitens steigt in Wahlkampfzeiten das Kommunikationsaufkommen. Wahlkämpfe sind daher „klar vom politischen Normalbetrieb unterscheidbare Perioden intensivierter Kommunikationsanstrengungen der Parteien“ (SchmittBeck/Wolsing 2010: 48). Zu der medialen Omnipräsenz des Wahlkampfes (Höngsberger/Osterberg 2013) – thematisch und personell prägen Kandidatinnen und Parteien den Diskurs für eine bestimmte Zeit – gesellt sich ein gestiegenes Interesse an Metathemen: Kaum sonst wird so intensiv die politische Sprache (Denkwerk Demokratie 2013), die Form des Campaignings (Leif 2013) oder die Rolle einzelner Leitmedien thematisiert und kritisch unter die Lupe genommen (Arlt/Storz 2014). Drittens spiegelt sich in Wahlkämpfen die Zuspitzung der Machtfrage. Hier werden zunächst körperlose Institutionen mit handlungsfähigen Subjekten besetzt. Der Kampf um die Wahl ist allein deshalb so bedeutend für das politische Geschehen, da hier die mächtigsten demokratischen Ämter des Landes vergeben werden (Sarcinelli 2011: 225). Diesen zunächst banal erscheinenden Umstand muss man sich gleich zu Beginn vergegenwärtigen. Es geht nicht allein um Strategien, Kommunikationsverhalten, Koalitionsoptionen oder Wählerwanderung, sondern es wird bei einer Bundestagswahl über die Zusammensetzung der Regierung entschieden. Offen bleibt nach dem Feststellen dieser inhaltlichen Abgrenzungen zum „normalen“ politischen Alltag die zeitliche Eingrenzung von Wahlkämpfen. Da Wahlkampfperioden zeitlich nicht festgelegt sind, sehen sich die Parteien als „Träger des Wahlkampfes“ (Woyke 2013: 132) in der Pflicht, einen Startpunkt für den Wahlkampf zu setzen. Hierfür haben die Parteien in den vergangenen Legislaturperioden einen offiziellen Wahlkampfauftakt etabliert. Diese Veranstaltungen liegen meist in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Wahl und markieren
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1 Einleitung: Was ist geschehen?
lediglich das, was als Hochphase des Wahlkampfes bezeichnet werden kann. So lagen zwischen Steinbrücks Wahlkampfauftakt am 8. August 2013 in Hamburg sowie Merkels Startschuss am 8. September 2013 in Düsseldorf und dem Wahltag maximal sechs Wochen. Dies ist weder genug Zeit, um Themen zu setzen und ausführlich zu bearbeiten, noch um die Kandidaten ins rechte Licht zu rücken. Für das TV-Duell am 1. September 2013 als Wahlkampfauftakt kann hingegen die immense Aufmerksamkeit, die diesem Ereignis bundesweit zugeschrieben wird, ins Feld geführt werden. Im ersten und einzigen direkten Duell der beiden Kandidaten spitzte sich der Wahlkampf in seiner Urform – der rhetorischen Auseinandersetzung – zu, wenn auch in stark reglementierter Form. Naheliegender als diese enge zeitliche Eingrenzung ist jedoch die Setzung des Startpunktes auf den Dezember 2012. Hier hielten sowohl Merkel als auch Steinbrück ihre großen programmatischen Reden, die zu mehr als nur der innerparteilichen Identitätsstiftung dienten. Zwar wurden sie im Rahmen zweier Parteitage gehalten, doch zielten die Inszenierungen auf ein breiteres Publikum ab. Noch weiter ließe sich der Zeitraum des Bundestagswahlkampfes ausdehnen, wenn man bedenkt, dass Peer Steinbrück bereits am 01.10.2012 zum Kandidaten der SPD ernannt wurde. Gerade die Phase zwischen der öffentlichen Ernennung und der Krönungsmesse am 09.12.2012 (Jacobsen 2012) ist für die erzählerische Verhandlung Peer Steinbrücks von entscheidender Bedeutung, sodass sie nicht außen vorgelassen werden kann. Somit lässt sich feststellen, dass die Wahlkampfforschung keine einheitliche zeitliche Eingrenzung des Wahlkampfes kennt. Schoen weist auf diesen Umstand hin, ohne jedoch Vorschläge für den Umgang mit dieser Unschärfe zu machen (2005: 512f.). Ein jeder gewählte Anfang bleibt laut Siri letztlich ein symbolisch bestimmter Zeitpunkt (2012: 156). Für die hier vorliegende Arbeit muss daher eine forschungspragmatische Setzung stattfinden. Da die Narrativanalyse, wie sie hier vorgeschlagen wird, größere Zeiträume im Blick hat und sich diskursanalytischer Verfahren bedient, wird im Verlauf der Arbeit „Wahlkampf“ als die Phase zwischen der Nominierung Peer Steinbrücks am 1. Oktober 2012 und dem Wahltag am 22. September 2013 bestimmt.
1.3 Wahlkampf in der mediatisierten Öffentlichkeit
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1.3 Wahlkampf in der mediatisierten Öffentlichkeit „Medien werden als technische Gegebenheiten verstanden, über die bzw. mit denen Menschen kommunizieren – sie sind in einer spezifischen Gesellschaft und Epoche in Alltag, Kultur und Gesellschaft integriert (und dadurch soziale Institutionen), und die Menschen haben soziale und kommunikative Praktiken in Bezug darauf entwickelt. Menschliche Geschichte kann deshalb als Entwicklung gesehen werden, in deren Verlauf immer neue Kommunikationsmedien entwickelt wurden und auf unterschiedliche Weise Verwendung fanden und finden. In der Konsequenz entwickelten sich immer mehr immer komplexere mediale Kommunikationsformen, und Kommunikation findet immer häufiger, länger, in immer mehr Lebensbereichen und bezogen auf immer mehr Themen in Bezug auf Medien statt“ (Krotz 2001: 33). Der Wahlkampf wird durch Medien vermittelt und erreicht uns nur mediatisiert (Korte 01.09.2013). Dabei zeigt sich, dass Politik und Medien zu einem „Amalgam“ (Zastrow 28.01.2013) verschmolzen sind oder sogar ein „symbiotisches Spiegelverhältnis pflegen, das sich nicht ohne chirurgische Eingriffe differenzieren lässt“, wie Lutz Hachmeister bei einer Konferenz im Juni 2013 anmerkte (Jarzebski 2013). Dies allein ist keine neue Erkenntnis der politikwissenschaftlichen Kommunikationsforschung (Schmitt-Beck/Pfetscher 1994, Donges 2008). Neu ist hingegen, dass sich angesichts permanent wandelnder Öffentlichkeiten stets neue Problemstellungen methodischer, theoretischer und forschungspragmatischer Art ergeben. Technische Entwicklungen, algorithmisierte Meinungs- und Informationsvermittlung sowie veränderte Nutzungsweisen traditioneller und „neuer“ Medien sind dabei die Treiber einer bislang nicht zur Gänze zu überblickenden Veränderung der öffentlichen Verhandlung politischer Probleme. Heutzutage lässt sich vor allem die schwer zu erkennende Grenze zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Wahrheit, Realität und Lüge als zentrales Spielfeld der Metadiskussionen über öffentliche politische Kommunikation identifizieren. Angesichts neuester Entwicklungen werden alte Gewissheiten, beispielsweise über die Kraft der Argumentation oder die Unbestrittenheit von Fakten, im Kern erschüttert. Begriffe wie „gefühlte Wahrheit“ oder „alternative facts“ zeugen vom viel beschworenen postfaktischen Zeitalter. Mit diesem Begriff wird seit Ende der 1990er Jahre das zunehmend komplexe Verhältnis zwischen Politik und Medien beschrieben (Bybee 1999). Unter dem Titel „Can Democracy Survive in the Post-Factual Age?“ beleuchtet Bybee die Herausforderungen politischer Berichterstattung, die ihr Verhältnis zur Politik zwischen Nähe und Distanz stets neu verhandeln muss
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1 Einleitung: Was ist geschehen?
(Farkas/Schou 2018). Die erzählerische Deutung von Wahlkämpfen muss mit diesem „Interaktions- und Handlungszusammenhang mit wechselseitigen Abhängigkeiten“ (Sarcinelli 2011: 123) umgehen und forschungspragmatische Antworten auf die Komplexität postmoderner Öffentlichkeit bereithalten. 1.3.1 Mediatisierung Nicht nur den politischen Akteur*innen werden Interessen zugeschrieben, sondern auch „die Medien“ sehen sich zunehmend (aufmerksamkeits-)ökonomischen Zwängen gegenüber, die bisweilen handlungsleitend sein können (sofern „die Medien“ in ihrer postmodernen Differenzierung überhaupt als Entität zu verstehen sind). Nicht nur die Formen medialen Outputs haben sich im Zuge der Digitalisierung vervielfältigt, sondern auch die Zahl und die Diversität der medial aktiven Prosumenten. Blogs und soziale Medien befähigen Bürger*innen zur reichweitenstarken Meinungsäußerung, während Parteien und Politiker*innen mit selbst erstelltem Content in die Öffentlichkeit drängen. Diese Entwicklung wird mit dem Begriff der „Mediatisierung“8 bezeichnet. Er beschreibt die Wechselbeziehungen zwischen dem Wandel der medialen Kommunikation und soziokulturellen Veränderungen sowie die Auswirkungen dieser Veränderungen auf die kommunikative Konstruktion von Wirklichkeit (Hepp 2013: 4). Mediatisierung ist demnach keine Strategie, die auf Ereignisse angewandt wird (Schoen 2005: 511), sondern ein soziokultureller Zustand, der von Krotz, Despotovic und Kruse als „Metaprozess“ (2017) charakterisiert wurde. Dieser Zustand entzieht sich der Unterteilung in Variablen und dem Zugriff mit Kategorien wie Ursache und Wirkung (Donges 2008: 43f.). Die mediatisierte Welt ist vielmehr ein Konglomerat aus verschiedenen parallel verlaufenden und bisweilen gegenläufigen (Kommunikations-)Prozessen (Donges 2008: 48). Mediatisierung bildet demnach den Hintergrund, vor dem die erzählerischen Wettkämpfe des Wahlkampfes ablaufen. Die Wahlkampfforschung macht eine Reihe von Vorschlägen, um die Spezifika der mediatisierten politischen Welt näher zu charakterisieren. „Amerikanisierung“ (Sarcinelli/Geisler 2002: 49ff.), „Talkshowisierung“ (Tenscher 2002) und „Entertainisierung“ (Holtz-Bacha 2000) sind breit diskutierte diagnostische Zuschreibungen, die auf drei Veränderungen anspielen: Erstens beschreiben sie eine gestiegene Professionalisierung und Ausdifferenzierung ihres strategischen Inventars der politischen Akteur*innen. Tenscher 8
Verschiedentlich auch „Medialisierung“ (Donges 2008; Bader 2013). Die DFG hat im Jahr 2010 ein Schwerpunktprogramm zur Mediatisierung aufgelegt. Krotz und Hepp legten 2013 den ersten Sammelband vor, der als Zwischenbilanz dienen kann.
1.3 Wahlkampf in der mediatisierten Öffentlichkeit
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(2013) konnte diese auf struktureller Ebene empirisch nachweisen. In dieser Perspektive wird die Modernisierung der Wahlkampfzentralen und -mittel kritisch in den Blick genommen und der gestiegene Einfluss externer Beraterinnen und Berater betont (siehe auch Deutscher Bundestag 18/752). Zweitens findet sich in den Begriffen eine Reaktion auf die zunehmende Bedeutung medial vermittelter Realitäten, die nicht allein auf die Wirkweisen der („neuen“) Medien, sondern auf „Zerfallsdiskurse“ und eine Gefährdung der Demokratie abzielen (Bader 2013: 33). Gerade im Begriff der Amerikanisierung spiegelt sich oftmals das Bild „einer negativen Avantgarde, an der sich die schlechte Zukunft eines ‚amerikanisierten‘ Europa ablesen läßt“ (Offe 2004: 121). Drittens offenbart sich in den Konzepten ein gestiegenes Bewusstsein für die Bedeutung der öffentlichen Inszenierung von Wahlkämpfen. Politik wird zum Theater, das dem normativen Ideal einer auf „Gleichheit der Kommunikationschancen, Symmetrie der Kommunikationsverhältnisse, allgemeine[n] Zugänglichkeit und argumentative[n] Rationalität“ beruhenden politischen Kommunikation weitgehend widerspricht (Meyer et al. 2001: 17). Besonders dieser dritte Aspekt des medialen Wandels ist für die Narrativanalyse von Interesse: In welcher Form finden die medialen Diskurse statt, wenn sie nicht nach den Vorstellungen der normativen Kommunikationstheorien ablaufen? Dazu sollte unter anderem den Ergebnissen der DFG-Forschungsgruppe „Argumentativität und Theatralität politischer Diskurse in der Mediengesellschaft“ neue Aufmerksamkeit geschenkt werden. Ihre Untersuchungen zum Verhältnis von Politik und Inszenierung können auf der Suche nach den erzählerischen Aspekten politischer Kommunikation besonders hilfreich sein. Dies kann von den Begriffen der Amerikanisierung und der Entertainisierung nicht vollumfänglich behauptet werden. Sie bezeichnen in erster Linie ein Unbehagen an den strukturellen und inhaltlichen Veränderungen der öffentlichen Kommunikation im Allgemeinen und der Wahlkampfführung im Besonderen. Bei genauerem Hinsehen lässt sich konstatieren, dass der „Amerikaniserungsbegriff als wissenschaftliches Instrument inzwischen nahezu unbrauchbar“ (Sarcinelli 2011: 232) geworden ist. Erfolg und Verbreitung machen ihn als analytische Kategorie untauglich und verweisen eher auf den alltagssprachlichen Charakter als auf analytische Tiefenschärfe. Diese verspricht hingegen der Begriff der Theatralität, führt er doch eine metaphorische Umschreibung des performativen Charakters öffentlicher Kommunikation in den Diskurs ein (siehe Kapitel 4.1). Ohne hier näher auf die vielfältigen Diskussionen, theoretischen und methodischen Problemstellungen der Mediatisierung einzugehen – hier haben sich in der Vergangenheit ganze Forschungsgebiete gebildet –, gilt es, die Herausfor-
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1 Einleitung: Was ist geschehen?
derungen einer ausdifferenzierten und hyperkomplexen politischen Öffentlichkeit im Hinterkopf zu behalten, denn die narrative Verhandlung politischer Deutungsangebote läuft nicht länger in einer klar zu strukturierenden Öffentlichkeit mit klar zuzuordnenden Arenen und Akteur*innen ab. 1.3.2 Wahlkampf-Kommunikation im Netz Das Verhältnis von „der Politik“ zu „den Medien“ und umgekehrt wird durch die Kommunikation im Netz aufgebrochen. Während des Wahlkampfes 2013 wurde diese Beziehung erneut als ein Gegenüber der „klassischen“ Medien diskutiert (Podschuweit/Haßler 2015; Stärk 2015). Begriffe wie „Online-Wahlkampf“ oder „Internetwahlkampf“ erzählen von der wahrgenommenen Andersartigkeit der Kommunikation im Netz. Sie wird nicht als Ergänzung oder Erweiterung klassischer Kanäle gedacht, sondern als defizitäres Surrogat „eigentlicher“, „echter“ oder „richtiger“ Kommunikation konzeptualisiert – wie auch immer diese dann aussehen soll. Der Wahlkampf in den sozialen Netzwerken wird als „belanglos, banal und blöd“ (Sixtus 2013) bezeichnet; die Kommunikation bei Twitter sei „in keiner Weise repräsentativ und der Informationsgewinn gleich Null“ (Hanfeld 2013) und forme eine „Second-Screen-Blase“ (Reissmann 2013). Trotz dieser Kritik lässt sich nicht von der Hand weisen, dass nicht allein boulevardeske Themen wie die @schlandkette9, sondern auch landesweite Debatten wie der #aufschrei10 auf Diskursimpulse aus dem Internet zurückzuführen sind. Am Wahlkampf sind nicht länger allein die Kandidat*innen, ihre Berater*innenstäbe und Wahlkampfhelfer*innen beteiligt, die sich auf der „anderen Seite“ mit den Redakteur*innen der klassischen Medien auseinandersetzen. Vielmehr haben wir es heute mit einem großen sprachlichen Geflecht zu tun, das neben den klassischen Medien und Diskursbeteiligten auch zunehmend webbasierte Kommunikation einbezieht. Welche Bedeutung hat dieses komplexe Kommunikationsgewirr für eine Analyse politischer Narrative im Wahlkampf? Zunächst hat sich das Diskursfeld signifikant vergrößert. Wertet man die kommunikativen Erzeugnisse der User*innen im Netz wenn auch nicht als gleichwertige, aber doch zumindest als ernst zu nehmende Beiträge zum politischen Diskurs, so kann sich die interpretative For9
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So der Name eines Twitter-Accounts, der sich in satirischer Weise der Kette Angela Merkels annahm, die sie während des TV-Duells mit Peer Steinbrück trug. Die „schlandkette“ wurde an verschiedener Stelle medial aufgegriffen und somit zum eigenen Phänomen des Bundestagswahlkampfes. Unter #aufschrei lässt sich eine deutschlandweite Debatte zusammenfassen, die durch einen Artikel der Journalistin Laura Himmelreich im Stern ausgelöst wurde. Die beschriebenen sexuellen Übergriffe wurden bei Twitter unter dem von Anne Wizorek etablierten #aufschrei kommentiert und waren Anlass für eine landesweite Debatte über sexualisierte Gewalt.
1.3 Wahlkampf in der mediatisierten Öffentlichkeit
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schung nicht länger nur auf die Analyse klassischer Medien beschränken. Die Narrativanalyse ist sich der Vielschichtigkeit heutiger Wahlkampfkommunikation bewusst. Sie nimmt deshalb eine bewusst naive Position ein, in der zunächst einmal alle öffentlichen Texterzeugnisse11 als potentielles Forschungsmaterial zur Untersuchung herangezogen werden können. 1.3.3 Textmassen Das hyperkomplexe Kommunikationsgebilde stellt die politikwissenschaftliche Forschung vor einige Herausforderungen. Große Mengen an Text stehen zur Analyse bereit und ein unüberschaubares Geflecht an Interessen, Motiven, Sendungsbemühungen und Interpretationen prägt das öffentliche Gespräch über Politik und das Politische. Der kommunikative Output des Wahlkampfes ist, vor allem durch die verstärkte Nutzung von Online-Plattformen, immens hoch. So versuchen sich die TV-Anstalten in einer Vielzahl neuer Formate, die eine (bisweilen unbeholfene) Reaktion auf das Internet und seine prinzipiell auf Partizipation angelegten Berichterstattungsformate darstellen12, denn aus dem Netz kamen in der Tat neue Formen der Auseinandersetzung mit Kandidaten und Themen der Parteien. Nicht nur der im Jahr 2013 bereits etablierte Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung, der Erfolg des Podcasts Jung & Naiv (D, 2013 – heute) oder die Einrichtung einer Google-Sonderseite zur Bundestagswahl deuten auf diese Veränderung hin, sondern auch die Vielzahl der Twitter- und Facebook-Profile, die von Kandidat*innen und Parteien gepflegt werden, sind ein sicheres Indiz für eine absolut gestiegene Kommunikationsaktivität.13 Wenn sich die Wissenschaft auch über die Reichweite und Bedeutung dieser – oftmals medial gedoppelten – Sendungsversuche uneinig ist, so lässt sich doch eine quantitative Zunahme der Informationsübermittlung nicht von der Hand weisen. Forschungspragmatisch ist diese Masse an potentiellem Material 11
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Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wird ein erweiterter Textbegriff verwendet, der die Vielzahl der zeichenhaften Vermittlungswege politischer Akteur*innen einbezieht. So werden neben den Reden, Plakaten, Webseiten und Fernsehauftritten beispielsweise auch das Corporate Design der Parteien sowie die ästhetische Inszenierung der Parteitage und die innerparteilichen Rituale zum Gegenstand der Untersuchung. Zum erweiterten Textbegriff: Mit dem „Transfer in andere[n] Disziplinen ist eine Ausweitung des T[ext]-Begriffs auf kulturelle Sachverhalte nicht-linguistischer Natur einhergegangen. So wird der T[ext] in der Kultursemiotik Lotmans als Grundeinheit der Kultur bestimmt und umfasst demnach auch mehr oder weniger abgeschlossene Bedeutungseinheiten wie Werke der bildenden Kunst, Musikstücke oder Zeremonien“ (Spoerhase 2011: 322f.). Christoph Bieber (2013) etwa ist der Meinung, dass die Möglichkeiten des Netzes nicht ausgenutzt wurden. Zur Netzaktivität von Bundestags- und Landtagsabgeordneten vgl. die Studie „Politiker im Netz“ der Universität St. Gallen (2013).
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1 Einleitung: Was ist geschehen?
allerdings schwer greifbar. Zwar bieten sich hier Möglichkeiten für die Politikwissenschaft, dem Forschungsmaterial zu begegnen. Vor allem auf dem Feld der quantitativen Sprachforschung hat die datengeleitete Korpusanalyse die technischen Mittel dazu (Bubenhofer/Scharloth 2013). Doch stoßen auch diese Verfahren angesichts des Umfangs an ihre Grenzen. Die hier vorgestellte Narrativanalyse macht einen konstruktiven Vorschlag zum Umgang mit großen Textmengen: Das Forschungsmaterial wird in einem iterativen Prozess aus der Masse der möglichen Daten herausgelöst und zur Illustration der Analyse herangezogen. Dieses Vorgehen hält einen interpretativen Mehrwert bereit, den die Narrativanalyse über die tiefenanalytische Aufschlüsselung der ausgewählten Textfragmente generiert. So können ganz andere Bedeutungsschichten freigelegt werden, als dies eine breit angelegte quantifizierende Textanalyse zu leisten imstande ist. 1.4 Ziel der Arbeit „[…] für praktische Ziele kann es andererseits zweckmäßig und geradezu unvermeidlich sein: soziale Gebilde (‚Staat‘, ‚Genossenschaft‘, ‚Aktiengesellschaft‘, ‚Stiftung‘) genau so zu behandeln, wie Einzelindividuen […]. Für die verstehende Deutung des Handelns durch die Soziologie sind dagegen diese Gebilde lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen, da diese allein für uns verständliche Träger von sinnhaft orientiertem Handeln sind“ (Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 20). Die vorliegende Arbeit verfolgt drei Ziele: Erstens versucht sie, Wahlkämpfe als komplexe sprachliche Prozesse analytisch aufzuschlüsseln. Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass auch Wahlkämpfe diskursiven Mechanismen folgen. Diese lassen sich jedoch vor allem jenseits der Erforschung politischer Strategien, des Wähler*innenverhaltens, der ideologisch-programmatischen Positionen der Parteien, des Kampagnenmanagements, von Wahlprogrammen oder Kommunikationsstrategien finden. Alle diese Felder der Wahlkampfforschung haben wichtige Beiträge zum Verständnis der Bundestagswahlen geleistet und bieten dennoch eine Lücke für die weitere Forschung, denn im „Grunde herrscht […] viel Ungewissheit, die letztlich nur durch eine Intensivierung von Forschungsanstrengungen im qualitativ-interpretativen Spektrum der empirischen Forschung zu überwinden sein wird“ (Dörner 2002: 23). Dieser Forderung Dörners folgend wird der Versuch unternommen, die diskursiven Aspekte von Wahlkämpfen neu zu fokussieren.
1.5 Vorgehen und Aufbau der Arbeit
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Zweitens wird zu diesem Zweck die Einführung erzähltheoretischer Überlegungen in das Feld der sozialwissenschaftlichen Wahlkampfforschung unternommen. Ziel ist es dabei, mithilfe einer Übersetzung dieser fachfremden Zugänge zur Sprache in eine sozialwissenschaftliche Heuristik neue Erkenntnisse über die diskursiven Mechanismen von Wahlkämpfen zu erhalten. Im Zentrum steht dabei die Annahme, dass sich politische Realitäten nicht nur in der Sprache des Wahlkampfdiskurses widerspiegeln, sondern dass sie erst durch die performative Kraft der Sprache konstruiert werden. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie politische Narrative als Analysetool dazu geeignet sind, diese diskursive Macht der Sprache zu veranschaulichen. Drittens werden dazu ausgewählte Erzählungen des Bundestagswahlkampfes 2013 in Form einer empirischen Illustration vorgelegt. Neben dem Narrativ der „Mutti“ Merkel wird hier die „Klare Kante“ Peer Steinbrücks zur Illustration herangezogen. Diese verfolgen das Ziel, die beiden Ausgangsprämissen zu überprüfen. Einerseits soll der diskursive Charakter von Wahlkämpfen dargestellt, andererseits die Anwendbarkeit politischer Narrative als heuristisches Mittel der Wahlkampfforschung überprüft werden. 1.5 Vorgehen und Aufbau der Arbeit „Keine richtigen Sätze, kann mir nichts merken, verstehe die Struktur nicht. […] Satzteile finden nicht von selbst zueinander, ich benutze falsche Worte, ich umschreibe, was ich sagen will, Beim Schreiben hilft Google. Komplizierte Strukturen vermeide ich, vor Freunden schäme ich mich“ (Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, Neunzehn). Um die Ziele der Arbeit zu erreichen, wird ein offenes interpretatives Verfahren gewählt, das sowohl eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Konzepten und Zugängen zu politischer Sprache als auch eine permanente Begriffsreflexion erfordert. Wahlkämpfe werden als spezifische Diskurszusammenhänge verstanden, in denen sich die Kommunikationsprozesse als offene und unabgeschlossene soziale Phänomene zueinander verhalten. In einem ersten Schritt werden diejenigen Bereiche der politikwissenschaftlichen Kommunikations- und Wahlforschung näher beleuchtet, die verwandte Zugänge gewählt und somit Vorarbeiten auf dem Gebiet der politischen Sprachforschung geleistet haben. Begriffe und Konzepte wie Symbolpolitik, Frames, Inszenierung, Authentizität, Theatralität, Performance, Emotionen und Rationalität werden hinsichtlich ihrer theoretischen und forschungspragmatischen Nähe und Distanz zum Konzept der Erzählung erörtert. Der Problemaufriss verfolgt
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1 Einleitung: Was ist geschehen?
dabei nicht das Ziel, einen umfassenden Forschungsstand darzustellen. Vielmehr wird der Anschluss an bestimmte Forschungszweige gesucht und auf weiterführende Diskussionen an anderer Stelle verwiesen. Das Feld wird also interpretativ geöffnet. Gleichzeitig dienen diese Überlegungen in Kapitel 2 der Diskussion bestehender Grundbegriffe der politischen Kommunikationsforschung. Die Reflexion der genannten Termini beleuchtet dabei Leerräume der Forschung und zeigt auf, wo eine eingehende Beschäftigung mit alltäglich genutzten Definitionen zusätzliche Erkenntnisse bereithält, denn der Wandel von Kommunikation und Öffentlichkeit macht vor den Begriffen, die wir für ihre Beschreibung wählen, nicht halt. Auch sie müssen einer permanenten Prüfung standhalten. Nur so können sie ihren analytischen Mehrwert stets aufs Neue beweisen. Die Erforschung politischer Narrative erfordert darüber hinaus eine Auseinandersetzung mit wissenschaftstheoretischen Prämissen. Dabei geht es nicht um die ablenkende Wirkung epistemologischer Fragen, die in der Lage sind, den Blick auf die Unzulänglichkeit empirischer Ergebnisse zu verstellen. Im Gegenteil sind die theoretischen und methodologischen Reflexionen ein gewichtiger Teil erzähltheoretischer Überlegungen. Die Notwendigkeit besteht vor allem durch den Außenseiterstatus diskursiver Wahlkampfforschung sowie durch die Novität narratologischer Analysen in der Politikwissenschaft. Ohne die in Kapitel 3 angestellten Reflexionen würde die Zielrichtung und die wissenstheoretische Fundierung der Erforschung politischer Narrative im Dunkeln bleiben. Deshalb erscheint es wichtig, bestimmte Metadiskussionen flankierend zur Seite zu stellen und im Verlauf der Arbeit immer wieder zu thematisieren. Ausgehend von dieser methodologischen Reflexion wird in Kapitel 4 eine Heuristik politischer Narrative entwickelt. Dazu werden Bausteine der Erzähltheorie für eine sozialwissenschaftliche Analyse aufgebrochen und tauglich gemacht. Eine ausführliche Diskussion der drei zentralen Erzählelemente Metapher, Figuren und Konfiguration dient der Annäherung kulturwissenschaftlicher Theorien an politikwissenschaftliche Fragestellungen. Die abgeleiteten Erkenntnisse bilden schließlich den Analyserahmen und somit das Kernstück der vorliegenden Arbeit. Dadurch wird das zweite Ziel, die Einführung einer Narrativanalyse für die Wahlkämpfe, vorbereitet. Zur Illustration der Tauglichkeit dieses heuristischen Werkzeugkastens werden in Kapitel 5 die Narrative des Wahlkampfes ausschnitthaft beleuchtet. Ausgewählte Beispiele dienen dabei der Veranschaulichung der Narrativanalyse. Dabei lässt sich schon an dieser Stelle sagen, dass dieser empirische Teil keinen Anspruch auf die vollumfängliche Rekonstruktion der erzählerischen Auseinandersetzungen des Bundestagswahlkampfes 2013 erhebt. Die komprimierte Auswahl der Beispiele dient vielmehr der Darstellung einer möglichen Analyse von Sinnzuschreibungen und Deutungsprozessen in Wahlkämpfen. Im Idealfall wer-
1.5 Vorgehen und Aufbau der Arbeit
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den hierbei Erkenntnisse gewonnen, die das Verständnis für die Abläufe des Bundestagswahlkampfes 2013 vertiefen und somit einen interpretativen Mehrwert darstellen. Die Arbeit unterliegt insgesamt einem iterativen Prozess. Sie ist also in Gänze als „Ergebnis“ zu verstehen, da an verschiedenen Stellen Reflexionsschleifen ein kritisches Element markieren. Erzählungen gewinnen gerade durch diesen ganzheitlichen Erkenntnisansatz ihre Kraft.
2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs
Eines der kennzeichnenden Merkmale gegenwärtiger Politik ist die wachsende Komplexität politischer Prozesse. Eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteur*innen interagiert auf unterschiedlichen Politikebenen und bedient sich diverser medialer Kanäle für die Kommunikation ihrer Agenden. Um sich in diesem Gewirr an Stimmen, Themen und Diskursen zurechtzufinden und sich dem Wandel gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse analytisch zu nähern, benötigen die Sozialwissenschaften stets neue Forschungsperspektiven. Mit der politikwissenschaftlichen Narrativanalyse wird an dieser Stelle einer dieser jüngeren Analysezugänge näher beleuchtet. Wie ist die Narrativanalyse im wissenschaftlichen Diskurs zu verorten? Welche bestehenden Ansätze bieten Anknüpfungspunkte? Wo zeigt sich die Narrativanalyse anschlussfähig und wo ergänzt sie die interpretative Forschung um neue Erkenntnisse? Zur Beantwortung dieser Fragen soll hier zunächst ein Beispiel aus dem Bundestagswahlkampf 2013 in den Blick gerückt werden, an dem die Besonderheiten politischer Sprache aufgezeigt und erste Hinweise auf politische Erzählungen erkennbar gemacht werden können. Auf Betreiben der CSU wurde im November 2012 das sogenannte Betreuungsgeld14 von der schwarz-gelben Regierung verabschiedet. Gleich zu Beginn seiner Kandidatur um das Kanzleramt – er stand seit Ende September 2012 als Kanzlerkandidat der SPD fest – bot sich Peer Steinbrück die Gelegenheit, gegenüber der Bundesregierung um Angela Merkel und damit auch gegenüber seiner Kontrahentin im Wahlkampf Stellung zu beziehen: Der Fortschritt unserer Gesellschaft bemisst sich maßgeblich daran, meine Damen und Herren, wie zukünftig Männer und Frauen miteinander leben und arbeiten, insbesondere auch daran, ob Frauen ein größeres Selbstbestimmungsrecht darüber bekommen, eine eigene Berufsbiografie zu schreiben. Deshalb ist das, was Sie mit diesem Betreuungsgeld machen, eine Katastrophe dahin gehend, dass es eine gesellschaftliche Rückwärtsgewandtheit ausdrückt, die mit unseren Vorstellungen über ei14
Das Betreuungsgeld, das im Juli 2015 vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde, war eine Sozialleistung, von der Familien profitieren sollten, die ihre Kinder im zweiten und dritten Lebensjahr nicht fremdbetreuen lassen wollten.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Jarzebski, Erzählte Politik, Studien der NRW School of Governance, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31013-4_2
28 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs ne moderne und aufgeklärte Gesellschaft nichts zu tun hat. Sie verfestigen überholte Rollenbilder. Wir sagen, dieses Betreuungsgeld wird dazu führen, dass weniger Frauen eine eigene berufliche Biografie schreiben und dass weniger Kinder einen chancengerechten Zugang auf Bildung bekommen. Das wird das Ergebnis dieses Betreuungsgeldes sein. Dieses Betreuungsgeld wird Deutschland deshalb ungerechter machen und in ein überholtes Gesellschaftsbild einsperren (Deutscher Bundestag 17/205).
Dieser kurze Ausschnitt aus Steinbrücks Rede vor dem Deutschen Bundestag enthält eine Reihe von Sinnbezügen, die sich als Angriffe auf den politischen Gegner („Deshalb ist das, was Sie mit diesem Betreuungsgeld machen, eine Katastrophe“), Zukunftsmodelle in einem größeren, gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang („Der Fortschritt unserer Gesellschaft bemisst sich maßgeblich daran, meine Damen und Herren, wie zukünftig Männer und Frauen miteinander leben und arbeiten“ und „Dieses Betreuungsgeld wird Deutschland deshalb ungerechter machen und in ein überholtes Gesellschaftsbild einsperren“) sowie als Verortung des Absenders und seiner Partei in das Wertespektrum („unseren Vorstellungen über eine moderne und aufgeklärte Gesellschaft“) zeigen. Zudem lassen sich zahlreiche thematische Referenzrahmen ausmachen, in denen sich wiederum ganze Diskurse widerspiegeln: Vom „Zusammenleben“ in heterosexuellen Partnerschaften über das „Selbstbestimmungsrecht“ von Frauen und die Chancengleichheit im Kindesalter bis hin zum „Fortschritt unserer Gesellschaft“ werden mehrere in sich selbst überaus komplexe Themen- und Diskursfelder tangiert. Jedem dieser Sinnbezüge lässt sich eine eigene narrative Qualität zuweisen. So steckt hinter Steinbrücks Verweis auf das Zusammenleben von Mann und Frau die heteronormative Vorstellung der Familie als Keimzelle der Gesellschaft, die sich zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Textes (im Juni 2017 wurde vom Bundestag die sogenannte „Ehe für alle“ verabschiedet) in Teilen schon wieder überholt hat. Aus erzählerischer Perspektive ist diese Passage vor allem deshalb interessant, da sie bei den Rezipienten der Rede unmittelbar eigene Vorstellungen und Bilder evoziert. Für jeden besteht die Möglichkeit, sich in Zustimmung oder Ablehnung zu dieser Geschichte zu verhalten. Oder anders gesagt: Die Rezipienten verhalten sich automatisch zum Gesagten, lehnen es ab oder stimmen ihm zu, ohne dieses Verhalten als aktiven Prozess zu jeder Zeit zu reflektieren. Dabei handelt es sich bei der Passage nicht um ein Argument im klassischen Sinne. Vielmehr wird auf Wertvorstellungen rekurriert, die sich abseits rationaler Aushandlungsprozesse konstituieren. Ob also das Selbstbestimmungsrecht der Frau von den Rezipienten als fortschrittlich bezeichnet wird, so wie Steinbrück es in seiner Rede tut, ist nicht das Ergebnis einer deliberativen Verhandlung, sondern spiegelt die Wertvorstellungen der Gesprächsbeteiligten
2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs 29 wider. Diese wiederum haben sich im Austausch über bekannte Erzählungen formiert. In der Deutung eines Aussageereignisses sind wir also immer auf solche konstitutiven Erzählungen zurückgeworfen. Für die Analyse ist des Weiteren die Rollenkonstellation der Beteiligten, sprich die Verteilung von Interessen, Motiven und Bemühungen, zu berücksichtigen. So nimmt beispielsweise Steinbrück eine Doppelrolle ein, indem er sowohl als Oppositionspolitiker als auch in seiner Funktion als Kanzlerkandidat spricht. Beide Rollen müssen nicht zwingend mit unterschiedlichen Motivlagen ausgestattet sein, doch lassen sich Unterschiede hinsichtlich des Tonfalls und der Adressaten ausmachen. Während ein Oppositionspolitiker in erster Linie die parlamentarische Debatte und somit die politische Auseinandersetzung um die Gesetzesentscheidung im Sinn hat, spricht der Kanzlerkandidat jederzeit auch seine potenziellen Wähler*innen an. Auch in Zeiten des Permanent Campainging, in denen keine Kommunikation mehr ohne die implizite Adressierung der Wähler*innen stattfindet, lässt sich durchaus eine Unterscheidung hinsichtlich der öffentlichen Aufmerksamkeit feststellen. Diese Rollenpolyvalenz, gepaart mit der erzählerischen Qualität von Normvorstellungen, berührt bereits den Kern der politikwissenschaftlichen Narrativanalyse. Um Aussageereignisse wie im Beispiel des Betreuungsgelds dechiffrieren zu können, muss die interpretative Wahlkampfforschung über die „Genese von Präferenzen ebenso wie die Veränderung und Bedeutung von Wissen“ (Nullmeier 2001: 287) aufklären. Die von Steinbrück skizzierten Bilder und Vorstellungen tangieren letztlich die Erfahrungswelt der Wähler*innen und korrespondieren mit ihrem Wissen von und über die Gesellschaft. Dabei stellen sich viele Policy-Probleme heute komplexer, unsicherer und risikoreicher dar, als es viele Theorien und Methoden der Policy-Analyse antizipieren.15 Gleiches lässt sich auch für das Sprechen über Politikfelder sagen. Ausgehend von dieser Feststellung ist der Kerngedanke der interpretativen Politikwissenschaft, ein gesellschaftliches Problem nicht mehr als gegeben vorauszusetzen (quasi in 'Naturalform') und sich politikwissenschaftlich den Formen administrativer Bearbeitung zuzuwenden, sondern die Wahrnehmung der Beteiligten und ihre Kausalannahmen bei der Konstruktion und politischen Bearbeitung des Problems zu erfassen. 'Bedeutung', 'Interpretation' und die politisch-diskursive 'Konstitution von Wirklichkeiten' sind die Schlüsselvokabeln (Nullmeier 2001: 288).
Auch die Wahlkampfforschung ist aufgerufen, diese Kernbegriffe – Bedeutung, Interpretation und Konstitution von Wirklichkeiten – in die eigene Forschungsagenda zu implementieren. 15
Siehe hierzu beispielsweise Fischer/Gottweis 2012.
30 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs Die vorliegende Arbeit wird sich dieser Perspektive annehmen und die Wahlkampfforschung um einen erzähltheoretischen Zugang erweitern. Ausgehend von der Überzeugung, dass sich politische Narrative als analytisches Instrumentarium zur Beantwortung der eingangs gestellten Fragen in besonderem Maße eignen, wird in diesem Kapitel das Feld der interpretativen Wahlkampfforschung sondiert und auf diejenigen Konzepte hin untersucht, die den Weg für eine politikwissenschaftliche Erzähltheorie ebnen können. Dabei konzentriert sich die Darstellung auf anschlussfähige Forschungszugänge sowie Forschungsbegrifflichkeiten und erhebt somit keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr soll deutlich werden, in welchem Feld sich eine politikwissenschaftliche Narrativanalyse verortet, wo sie sinnvolle Ergänzungen zu bestehenden Forschungszugängen bereitstellen kann und wo sie genuin neue Erkenntnisse bereithält. Dazu werden Kernbegriffe der sprachinteressierten Wahlkampfforschung diskutiert und sukzessive erweitert. Ziel ist es nicht, eine Tiefenvermessung bestehender Forschungsfelder zu unternehmen, sondern die Sensibilität für verwandte Begrifflichkeiten zu wecken, um politische Narrative besser in der Politikwissenschaft verankern zu können. Zunächst wird dazu ein Blick auf das Feld der politischen Kommunikation geworfen, die als Teildisziplin der Politikwissenschaft die weiteren vorgestellten Konzepte umspannt. Eine Auseinandersetzung mit den Prämissen der politikwissenschaftlichen Kommunikationsforschung kann ein Verständnis dafür schaffen, wo politische Narrative dieses Forschungsfeld sinnvoll ergänzen. Des Weiteren wird das Phänomen symbolischer Politik beleuchtet, das eine zentrale Rolle in der interpretativen Wahlkampfforschung einnimmt. Ein vertiefender Blick auf die Begriffe Inszenierung und Authentizität soll im Anschluss daran den Fokus auf Kernprobleme der Interpretation des Wahlkampfgeschehens lenken, denn hier – so die Vermutung – haben Missverständnisse und Fehlannahmen über symbolische Politik ihren Ursprung. Beispielsweise reklamiert oftmals die Kritik an symbolischer Politik eine Authentizität für sich, die für die Abgrenzung zur inszenierten Politik des Gegenübers ins Feld geführt wird. Doch ist es gerade die Authentizität, die erzählerischen Konstruktionsmechanismen unterliegt. Gleiches gilt für das Gegensatzpaar Emotionen und Rationalität, dem in jüngster Zeit mehr und mehr Aufmerksamkeit zuteilwird (Korte 2015b). Der starke Zulauf kognitionspsychologischer Ansätze in der Erforschung politischer Sprache lässt die Bedeutung von Emotionen in den Vordergrund treten. Ein zentraler Begriff ist in dieser Hinsicht der des kognitiven Frames, der vielversprechende Einsichten in die Rolle von Emotionen bei der Deutung politischer Probleme bereithält.
2.1 Politische Kommunikation
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2.1 Politische Kommunikation „Kommunikation, die lange als eine der Quellen der Kultur galt, wird zunehmend zu einem Produktionsfaktor, und Wissen, das als Funktion des subjektiven Bewußtseins galt, wird mehr und mehr zu einem gesellschaftlichen Gut“ (Knoblauch 2001: 208). 2.1.1 Was ist politische Kommunikation heute? Ausgehend von der Überzeugung, dass Politik und Kommunikation nicht sinnvoll voneinander getrennt werden können (Sarcinelli 2011: 18; Jarren/Donges 2011: 15-20), nimmt die Politikwissenschaft auch in der Wahlforschung Sprache als zentralen Untersuchungsgegenstand unter die Lupe. „Ohne Sprache keine Politik“ (Korte/Fröhlich 2009: 272) und demnach auch kein Wahlkampf – so lautet die Prämisse des Forschungsfelds, das unter dem Begriff politische Kommunikation firmiert. Politische Kommunikation bezeichnet dabei sowohl den Forschungsgegenstand, nämlich die Texte und Sprachereignisse des Politischen und der Politik im Allgemeinen und des Wahlkampfes im Besonderen, als auch eine Forschungsperspektive. Letztere begreift Kommunikation als soziale Handlung, die Politik nicht nur kognitiv zugänglich macht, „nicht lediglich die Schauseite von Politik, sondern integraler Bestandteil des Politischen selbst ist“ (Sarcinelli 2011: 248). Was unter dem Forschungsgegenstand politische Kommunikation zu verstehen ist, wird in der Literatur ausführlich diskutiert (Schulz 2011: 15-17; Sarcinelli 2011: 17-31; Jarren/Donges 2011: 19-21; Kamps 2007: 23-24). Einig sind sich die Autoren weitgehend über den Sinn einer analytischen Trennung von politischem Prozess und politischer Kommunikation als reiner Darstellungsebene von Politik (Sarcinelli 2011; auch Jarren/Donges 2011: 20). Unter politischer Kommunikation wird dementsprechend diejenige Kommunikation verstanden, „die von politischen Akteuren ausgeübt wird, die an sie gerichtet ist, oder die sich auf politische Akteure und ihre Aktivitäten bezieht“ (Schulz 2013: 16). Als politische Akteur*innen werden hier in erster Linie Parteien, Politiker*innen und Verbände, aber auch Parlamente, Organisationen und ihre jeweiligen Repräsentant*innen verstanden. Auch Bürger*innen sind in dieser Perspektive als politische Akteur*innen zu begreifen, sofern sie „über politische Themen diskutieren, an Wahlen oder Abstimmungen, an Demonstrationen oder anderen Formen des Protests teilnehmen“ (Schulz 2013: 16). Dieser ersten Annäherung folgend lässt sich Steinbrücks eingangs zitierte Einordnung des Betreuungsgeldes vor dem Deutschen Bundestag als ein Akt
32 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs politischer Kommunikation klassifizieren, dessen Hauptzweck die Mitteilung einer anderweitig zustande gekommenen politischen Position ist. Außerdem sind auch alle Kommentierungen seiner Rede in Presse, Hörfunk und Fernsehen in diesem Sinne als politische Kommunikationen zu bezeichnen. Schwieriger wird es nach dieser Definition allerdings bei der Bestimmung der vor- und nachgelagerten Diskussionen über das Betreuungsgeld. Wie verhält es sich mit Debattenbeiträgen in den sozialen Medien, satirischen Annäherungen oder einer künstlerischen Anverwandlung des Themas? Können auch die folgenden Texte als politische Kommunikation verstanden werden? „Wer Familien unterstützen will und gleichzeitig das Betreuungsgeld und das KiföG vorlegt, hat nicht verstanden, was Familien brauchen“ (@tsghessen, 15. Mai 2013). „Maßnahme verfehlt offenbar ihren Zweck - Experten warnen erneut vor Betreuungsgeld […]“ (@rpo_politik, 13. Mai 2013). „Es gibt allerdings doch einen Aspekt, unter dem das Thema Betreuungsgeld für mich zu einem politischen Aufreger wird, und zwar den der sozialen Unterschiede. Wie schon das Elterngeld so soll nun auch das Betreuungsgeld mit den HartzIVLeistungen verrechnet werden. Oder, im Klartext: Wer von Hartz IV leben muss, bekommt keines. Das Betreuungsgeld ist, ebenso wie das Elterngeld, für diejenigen gedacht, die es nicht so nötig brauchen. Es ist – mal wieder – eine Umverteilung von unten nach oben“ (Schrupp 2012). „Tatsache ist aber, in diesem frühen Alter ist Bindung bedeutend wichtiger als Bildung“ (Initiative Familien Schutz 2012). „was macht die cdu mit der erkenntnis, dass ihr leitbild der "guten mutter" das kinder kriegen unattraktiv macht? - richtig: #betreuungsgeld“ (@reichelS 17.12.2012). „+++ Maria will Betreuungsgeld +++ Verzichtet auf Krippenplatz +++ Hirten stinksauer +++ Muss das Neue Testament neu geschrieben werden? +++“ (@bov 20.12.2012). „CSU plant Einführung von ‚Bildungsgeld‘ für Kinder, die nicht zur Schule gehen“ (Der Postillion 2012).
2.1 Politische Kommunikation
Abbildung 1:
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NelCartoons 2015
Diese Beispiele verweisen direkt auf die gesellschaftliche Diskussion über die Bezuschussung privater Betreuung von Kleinkindern und beziehen sich alle gemäß der eingeführten Definition „auf politische Akteure und ihre Aktivität“. Dennoch fällt eine klare Zuordnung zur politischen Kommunikation schwer, da nicht nur politische Positionen mitgeteilt werden, sondern eine kritische Reflexion der Debattenbeiträge stattfindet. Ein Grund für die Schwierigkeit der Zuordnung könnte die Art der Anverwandlung einer politischen Diskussion in Alltagskontroversen sein. Tonfall und Form unterscheiden sich in ihrer Alltäglichkeit vom Idealbild einer sachlichen und rationalen Verhandlung politischer Themen erheblich, sodass der politische Kommunikationsgehalt solcher Texte und Bilder aus der Perspektive der klassischen Wahlkampfforschung fragwürdig erscheinen muss. Gerade deshalb jedoch, so die in dieser Arbeit vertretene These, müssen sie als Erzeugnisse des öffentlichen Diskurses analytisch aufgewertet werden. Gerade da, wo Politik im Lebensumfeld der Wähler*innen verhandelt wird, erscheint sie meist nicht in einem offiziellen und rationalen Gewand, sondern nimmt alltäglichere Formen an.
34 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs In diesen aber finden sich die gleichen Sprach- und Rollenbilder, die im Rahmen des Betreuungsgeldes auch im Bundestag verhandelt wurden. In den Worten Steinbrücks klingt der Inhalt des ersten vorgestellten Tweets beispielsweise wie folgt: Damit sind wir bei dem springenden Punkt, den er ausnahmsweise zu Recht erfasst hat. Dieses Betreuungsgeld, diese Fernhalteprämie für Frauen im Hinblick auf das Arbeitsleben und eine gesellschaftliche Teilhabe, entspricht einer gesellschaftspolitischen Vorstellungswelt, die eher in die Biedermeieridylle passt als in das 21. Jahrhundert (Deutscher Bundestag 17/205).
Beide Formen – das Alltägliche sowie die Sprache der politischen Profis – erörtern politische Sachverhalte und nehmen in unterschiedlicher Art und Weise Bezug auf die Deutung eines bestimmten politischen Zusammenhangs. Beide können also bei aller Verschiedenheit durchaus als politische Kommunikation gelten, die es in der Forschung zu berücksichtigen gilt. Das Alltagsgespräch lässt sich in ein Verständnis von politischer Kommunikation integrieren, ohne dieses gänzlich aufzuweichen. Diese Erkenntnis hat bereits Einzug in die politische Praxis gefunden: Ein wichtiger Punkt […] sind zudem die Limitationen einer massenmedial vermittelten politischen Kommunikation, die aufgrund ihrer strukturellen Defizite für die politische Mobilisierung eine vorpolitische Durchdringung der lebensweltlichen Milieus jenseits der Medienkommunikation nötig macht, was wiederum voraussetzt, dass man den kommunikativen Eigensinn dieser Milieus er- und anerkennen muss (Bussemer 2014: 125).
Nicht sämtliche Kommunikation ist dadurch politisch, doch lassen sich in vielen Texten politische Aspekte identifizieren und für die Analyse aufschlüsseln, die nicht in den engeren Kreis der politischen Textproduktion fallen. Ob Kommunikation demnach politisch ist oder als politisch bezeichnet wird, hängt von den Kontexten der Betrachtung ab. Deutlich wird die Schwierigkeit dieser Begriffsbestimmung vor allem bei der Betrachtung der zunehmenden Verlagerung politischer Kommunikation in die sozialen Medien. In einem klassischen Verständnis werden die zuvor zitierten Tweets, Blogeinträge und Auszüge aus Youtube-Videos wohl kaum als politische Kommunikation wahrgenommen, während gleichzeitig die Kurznachrichten der politischen Akteur*innen als solche erkannt werden. Wie aber ist mit einem Tweet wie dem Folgenden zu verfahren, den der damalige Bundesumweltminister Peter Altmaier zwei Monate vor der Wahl veröffentlichte: „Sommer, Sonne, Saarland satt - vier Tage frei, der Urlaub lacht!
2.1 Politische Kommunikation
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Kein schöner Land in dieser Zeit, als hier das Unsre weit und breit! :-))“ (@peteraltmaier, 17.7.2013). Liegt hier ein politischer Kommunikationsakt vor, weil ein Politiker öffentlich kommuniziert, wenngleich weder politische Themen noch auf den politischen Entscheidungsprozess bezogene Informationen auszumachen sind? Ist es dagegen eher die Form und nicht der Ort, der eine solche Aussage zu politischer Kommunikation werden lässt? Oder müssen wir hier eher von einer „privaten“ Äußerung eines Politikers sprechen, die lediglich „sozial geteilt“ wird?16 Um eine Entscheidung bezüglich des politischen Gehaltes eines Textes oder eines Aussageereignisses zu treffen, bieten sich verschieden Merkmale an. Wenn aber politische Kommunikation als „Totalphänomen“ (Saxer 1998: 22) ernst genommen werden soll, müssen sämtliche Inhalte des Sprechens von und über Politik zumindest potenziell der politischen Kommunikation zurechenbar sein. Demnach kann das Tischgespräch den gleichen politischen Gehalt haben wie die Debatte im Bundestag und deren Kommentierung oder ein auf den ersten Blick rein humoristischer Tweet. Sobald der Begriff der politischen Kommunikation und ihrer Analyse zu eng gefasst wird, verliert die Politikwissenschaft entscheidende Bedeutungsschichten aus dem Blick: Übersehen wird dabei der lebensweltliche und kulturelle Einfluss auf langfristige und eher lose formierte Lagerbildungen, die politische Wirkung dessen, was grob als Zeitgeist umschrieben werden könnte und sich unabhängig von Einzel-, Gruppenoder Klasseninteressen zu einer kulturell-politischen Formation fügt, deren jeweilige Grundierung den Aufsatzpunkt für ein mehrheitsfähiges politisches Lager darstellt. Anders gesagt: Die in einer Gesellschaft praktizierten Lebensstile und Werthaltungen, kulturellen Vorlieben und Moden sind dem Politischen weit vorgelagert, prägen dieses aber dennoch (Bussemer 2014: 124).
Sofern die kulturelle Resonanz von Aussageereignissen berücksichtigt wird, liegen die Unterscheidungsmerkmale nicht länger auf der Achse politisch – unpolitisch. Zusätzlich werden dann auch Kriterien wie die Möglichkeit der öffentlichen Verbreitung oder die Relevanz für den politischen Diskurs wichtig. Letzteres Unterscheidungsmerkmal ist allerdings nicht einfach anzuwenden, insofern es schwerfallen dürfte, selbst alle Debattenbeiträge im Deutschen Bundestag in ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz unabhängig zu beurteilen. Vielmehr ist 16
Ob es sich hier um eine kalkulierte Inszenierung des Privaten handelt, wird im Verlauf dieser Arbeit noch verhandelt (siehe Kapitel 2.3). An dieser Stelle interessiert vielmehr, wie sich eine Differenzierung zwischen politischem und nicht-politischem Inhalt treffen lässt und somit eine Annäherung an den Begriff der politischen Kommunikation gelingen kann. Zum Verhältnis des Privaten zur Politik siehe Holtz-Bacha (2001).
36 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs die inhaltliche Relevanz einer politischen Kommunikation aus einem vielschichtigen Zusammenspiel verschiedener Faktoren abzuleiten. Die Narrativanalyse schlägt vor, die erzählerische Qualität eines Textes als Relevanzkriterium zu untersuchen. Sobald ein Text bestimmte narrative Muster bedient, die sich im Diskurs der politischen Kommunikation als wichtige Strukturierungsmerkmale zeigen, kann er als relevanter Beitrag zur erzählerischen Verfestigung bestehender Deutungsmuster gelesen werden. Politische Kommunikation wird dadurch zum Diskurs über Politik und das Politische, der von erzählerischen Texten und Debattenbeiträgen getragen wird. Ähnlich komplex gestaltet sich der Blick auf die unterschiedlichen Verbreitungsmöglichkeiten beziehungsweise die Möglichkeit, sich Publikum und Gehör in der Öffentlichkeit zu verschaffen. Diese zentralen Bedingungen für gelungene politische Kommunikation sind Gegenstand der politischen Kommunikationsforschung (Sarcinelli 2011: 55-88; Jarren/Donges 2011: 95-118). Diese Disziplin stellt die Mechanismen von Öffentlichkeit bei der Erforschung politischer Kommunikation in den Fokus. Politische Kommunikation wird dabei „im wesentlichen in einem Dreieck aus Parteien (und Kandidaten), Medien und Wählern“ (Jarren/Donges 2011: 224) verortet. In diesem Raum fragt die Wahlkampfforschung als Zweig der politischen Kommunikationsforschung nach der Interaktion der beteiligten Akteur*innen. Vor allem hinsichtlich ihren „Kommunikationszielen, den Kommunikationsinhalten“ sowie „der Nutzung und Wirkung bei den Rezipienten“ (Jarren/Donges 2011: 19) wird Sprache zum Gegenstand der politischen Kommunikation. Dem politikwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse entspricht es zudem, so Sarcinelli, sich auf die Makro- und Mesoebene zu beschränken und dadurch die institutionellen Kontextbedingungen politischer Kommunikation ins Zentrum des Interesses zu stellen (2011: 19). Dieser Perspektive sind eine Reihe wichtiger Studien entsprungen, die unter anderem Einblicke in die strukturellen Bedingungen von Wahlkampfteams und -kampagnen bieten (u.a. Holtz-Bacha 2015; Korte 2015). Was durch eine solche Konzentration auf die Bedingungen politischer Kommunikation jedoch fehlt, ist ein Verständnis für die Entfaltung von Bedeutungen im politischen Diskurs. Gerade dort, wo geteilter Sinn entsteht und vermittelt wird – im Herzen der Kommunikation also –, hat die Erforschung politischer Kommunikation im Wahlkampf eine Leerstelle. Die Erörterung von Deutungskämpfen und ihrer diskursiven Verhandlung werden in der politischen Kommunikation und insbesondere in der Wahlkampfforschung bislang eher am Rande behandelt (z.B. Dülcke/Futh 2015). Das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Parteien, Bevölkerung und Medien hält Sinneinheiten bereit, die weder Ziel der Kommunikation waren und sind noch als direkte Wirkung bei den Rezipienten messbar sind. Wie sonst lässt
2.1 Politische Kommunikation
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sich der wundersame Wandel der „Mutti“-Metapher erklären, die Angela Merkel nun schon seit über einem Jahrzehnt begleitet? Zunächst als Ausdruck despektierlicher Geringschätzung in CDU-Kreisen eingeführt, wandelte sich die Metapher zu einer öffentlich breit genutzten, wertschätzenden Rollenbezeichnung, die Merkel viele kommunikative Vorteile im Wahlkampf verschaffte.17 Ziele und Inhalte sind in diesem Fall nicht die Kategorien, mit denen sich ein interpretativer Mehrwert in der Analyse schaffen lässt, denn Ziele sind vielfältig und Inhalte wandelbar und vergänglich. Es braucht daher andere Analysekategorien, um die politische Kommunikation auf die Mechanismen der Bedeutungszuschreibung hin zu untersuchen. 2.1.2 Politische Kommunikation in komplexer Öffentlichkeit „Das Internet ist für uns alle Neuland“ (Angela Merkel am 19.06.2013 auf einer Pressekonferenz anlässlich des Besuchs des US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama). In Zeiten komplexer Öffentlichkeit muss eine politikwissenschaftliche Analyse der Deutungskämpfe im Wahlkampf den Blick über die klassischen Medien hinaus auf eine Vielfalt verschiedenster Textsorten ausdehnen. „Zwar sind Massenmedien gerade in Wahlkampfzeiten eine zentrale Quelle politischer Information, die Wahlentscheidungen der Bundesbürger sind jedoch weitaus komplexer“ (Bianchi/Korte 2015: 293). Bürger*innen richten ihre politische Haltung und somit ihre Wahlentscheidung nicht allein an TV-Nachrichten, politischen Talkshows, Radiosendungen und den Leitartikeln der Presse aus, sondern werden immer auch durch Wertungen, Haltungen und Informationen geprägt, die sie in persönlichen Netzwerken verhandeln. Besonders einflussreich erscheinen hier die durch algorithmisierte Informationssteuerung organisierten sozialen Medien. Sie sehen sich dem Vorwurf gegenüber, Filter-Bubbles (Pariser 2011) oder Echokammern (Lühmann 2013) zu etablieren, die demokratische Strukturen aushöhlen, indem sie die etablierten Mechanismen der politischen Öffentlichkeit konterkarieren. Sicher stellen sie einen noch jungen Fall der demokratischen Öffentlichkeit dar, der jedoch schon heute intensiv vonseiten der Sozialwissenschaften ins Blickfeld gerückt wird.18 17 18
Zur Metapher der „Mutti“, siehe Kapitel 5.1.1 An dieser Stelle ist ein Hinweis auf das Entstehungsdatum des vorliegenden Textes vonnöten. Spätestens im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise, die im Sommer 2015 ihren Ausgang nahm, sowie der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im November 2016 ist die Diskussion um den Einfluss digitaler Kommunikationsformen auf etablierte demokratische Kommunikationskonventionen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Dies war im Rahmen des Untersuchungszeitpunkts bis 2013 noch nicht in diesem Umfang der Fall. Durchaus ließen sich
38 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs Auch in diesen Arenen lässt sich fragen, ob und wann wir es mit politischer Kommunikation zu tun haben und welche Faktoren zur Unterscheidung herangezogen werden können. Blickt man nur auf die öffentliche Verbreitungsmöglichkeit von Informationen, so hat die Politik in den sozialen Medien sicherlich andere Möglichkeiten als die Bürger*innen. Durch den Einsatz finanzieller und personeller Mittel lässt sich bei Facebook, Twitter, YouTube und Co. größere Resonanz erzeugen (Marcinkowski 2016). Mitnichten geht es in diesen Arenen also egalitärer zu. Zwar bleiben die Ausnahmefälle privat produzierter viraler Netzerfolge hiervon unberührt, doch bestätigt der Regelfall, dass Parteien und Kandidat*innen mit ihren Posts mehr Reichweite erzielen können als Normalbürger*innen. Hier besteht demnach ein kommunikatives Machtgefälle, das sich nicht signifikant von der Welt der klassischen Medien unterscheidet. Auch für diese gilt: Solcher candidate journalism ist aus politikwissenschaftlicher Perspektive äußerst kritisch einzuschätzen, denn hier dokumentiert sich der Zusammenhang zwischen finanzieller Ausstattung der Kampagne und medialer Dominanz (Bieber 2011: 73).
Was Bieber in diesem Fall für die erste Obama-Kampagne 2008 feststellt, lässt sich in Teilen auch auf den Bundestagswahlkampf 2013 übertragen. Hier sind ebenso verstärkte Bemühungen einer direkten Wähler*innenansprache über Online-Kanäle unter Nichtberücksichtigung der klassischen Medien zu beobachten. Ohne an dieser Stelle die Rolle der sozialen Medien für Wahlkämpfe im Detail nachzuzeichnen, gilt es dennoch, auf die grundlegenden Veränderungen des medialen Wandels hinzuweisen (Hinz 2017). In den letzten zehn Jahren hat sich beispielsweise der Kurznachrichtendienst Twitter zu einem zentralen Medium der politischen Kommunikation entwickelt (Jungherr 2016). Entscheidend ist diese Entwicklung, da beim Kurznachrichtendienst die Unterscheidung zwischen Privatpersonen und politischen Akteur*innen schwerfällt. Alle Nutzer bewegen sich in einem gemeinsamen Raum, der in der Forschung als „personal public“ (Schmidt 2014: 4) umschrieben wird. Nicht erst im Bundestagswahlkampf 2013 konnte die Überlappung dieser personal publics mit den klassischen Öffentlichkeiten beobachtet werden (Schweizer/Albrecht 2011). Die persönlichen Öffentlichkeiten sind ein Charakteristikum der sozialen Medien und unterscheiden sich von den klassischen Kommunikationsräumen der traditionellen Medien in der Art und Weise, wie sie mit Informationen und Bedeutung umgehen:
also einige Einschätzungen zum jetzigen Zeitpunkt anders treffen. Zum Begriff der FilterBubbles ist an dieser Stelle auf die Untersuchung von Axel Bruns (2019) zu verweisen, der sie empirisch wiederlegen konnte.
2.1 Politische Kommunikation
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Erstens werden Information aufgrund persönlicher Relevanz ausgesucht, nicht hinsichtlich ihres Nachrichtenwerts. Zweitens richten sich die in den sozialen Netzwerken gesendeten Informationen an ein spezifisches Publikum. Dieses setzt sich aus dem persönlichen Netzwerk zusammen und besteht nicht aus einer breiten, unbekannten Öffentlichkeit. Drittens werden die Informationen vor allem in Form von Konversationen, mithin also in einem erzählerischen Modus verbreitet, nicht in einem einseitigen Sinne veröffentlicht (Schmidt 2014: 4). Aus diesen drei Spezifika der personal publics leiten sich unmittelbare Konsequenzen für die Analyse von Sinneinheiten im Wahlkampf ab. Zunächst folgt aus der stärkeren Gewichtung der persönlichen Relevanz eine Neubewertung der Sprechakte. Somit ist nicht länger die gesendete Information von entscheidender Bedeutung, sondern die Resonanzmomente, in denen Sinn zugeschrieben wird. Gleiches gilt für die gezielte Ansprache des Publikums. Hier ist von einem geteilten Horizont auszugehen, einem geteilten Erzählkanon, der die kulturelle Anschlussfähigkeit für narrative Muster herstellt. Schließlich verlangt die Verbreitung der Informationen in einem konversationalen, responsiven Modus nach einer stärkeren Fokussierung der erzählerischen Momente. Hier erfahren die am Gespräch Beteiligten Betroffenheit. Über die Erzählung werden sie am Geschehen beteiligt, werden Beziehungen zwischen den Erzählenden, dem Publikum und der Welt hergestellt. Um diesen neueren Entwicklungen nachzugehen, fokussiert die politikwissenschaftliche Narrativanalyse die Mikroebene des alltäglichen Sprechens über Politik. Auf dieser Ebene entstehen eben jene erzählerischen Deutungsangebote, die sich auf der Makroebene des politischen Diskurses als Narrative manifestieren und somit Einfluss auf die Deutung des politischen Geschehens nehmen (vgl. Kapitel 3.2). Makro- und Mikroebene von Narrativen sind als Erzählung und als das Erzählen Gegenstand der Analyse. Diese Perspektive erweitert das bestehende Verständnis von politischer Kommunikation etwa dort, wo es als Raum konzeptualisiert wird. Konstituiert sich dieser Raum in der Politikwissenschaft bislang „im Wesentlichen in einem Dreieck aus Parteien (und Kandidaten), Medien und Wählern“ (Jarren/Donges 2011: 224); so treten die Ecken dieses Dreiecks in der Narrativanalyse nicht so deutlich hervor. Politische Kommunikation muss nicht immer auf „die Medien“ bezogen werden, etwa dann, wenn von personal publics die Rede ist. Permanente Veränderungen der Kanäle, der Frequenz und der Form politischer Sprechakte in der Öffentlichkeit lassen eine Bindung politischer Kommunikation an „die Medien“ problematisch erscheinen. Selbst wenn alle Kommunikation medial vermittelt ist – sei es auch im Medium des gespro-
40 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs chenen Wortes –, verkennt das Erheben „der Medien“ zum Spezifikum politischer Kommunikation den Einfluss neuerer und neuester Kulturtechniken für die politische Kommunikation und verharrt in einem überholten Modell politischer Öffentlichkeit. Diese Feststellung soll die Bedeutung etablierter Formate für das tägliche Agenda Setting, wie beispielsweise der Auftritt im Morgenmagazin oder dem Deutschlandfunk oder aber reichweitenstarker Kanäle wie der BILDZeitung nicht schmälern. Allerdings lässt sich beobachten, dass ein klassischer Medienbegriff die Komplexität postmoderner Öffentlichkeiten nur unzureichend abzubilden vermag. Denn er hat bislang keine zufriedenstellende Möglichkeit gefunden, „das Internet“ als Kommunikationsraum in sein Theoriegebäude zu integrieren. Erste Versuche der deutschsprachigen Wahlkampfforschung, in die Auseinandersetzung mit politischer Online-Kommunikation zu gehen, lassen sich auf die zweite Hälfte der 1990er-Jahre datieren und werden eng mit den Entwicklungen in den USA und dem Bundestagswahlkampf 1998 verknüpft (Bieber 1999). Doch erst im Bundestagswahlkampf 2009 wurde die Kommunikation im Netz in aller Breite diskutiert und analysiert (Schweitzer/Albrecht 2011). Die ständig wachsende Internetnutzung, das Aufkommen neuer Web-2.0-Formate, die zeitliche Nähe zum US-Wahlkampf, in dem Barack Obama neue Wege des OnlineCampaignings aufzeigte, und die Präsenz der Piraten-Partei wurden als Gründe für diesen Paradigmenwechsel ins Feld geführt (Schweitzer/Albrecht 2011: 10 f.). Nach der Frühphase der Online-Wahlkämpfe von 1996-1998, einer Wachstumsphase von 1998-2002 und der sich anschließenden Professionalisierung von 2002 bis eben 2009 (Bieber 2006: 245) lässt sich für den Bundestagswahlkampf 2013 eine neue Phase der Normalität von Online-Kommunikation im Wahlkampf konstatieren. Das Internet mit seinen vielfältigen Kanälen wird mittlerweile professionell bespielt und ist aus den „postmodernen Wahlkämpfen“ (Norris 2000) nicht mehr wegzudenken. Politische Kommunikation heißt heute immer auch Online-Kommunikation, sei es über Webseiten, Blogs oder soziale Medien wie Facebook oder Twitter. Der kulturelle Wandel der vergangenen zwei Jahrzehnte, der eine zunehmend individualisierte Ansprache der Wähler*innen nach sich zog, die sich unmittelbar aus dem technologischen Wandel ergab, ist mit dem Norrisschen Diktum des postmodernen Wahlkampfes nicht abschließend umschrieben. Unterstützend wirken hier Diagnosen, die eine Amerikanisierung, Entertainisierung oder Professionalisierung von Wahlkämpfen konstatieren (Sarcinelli/Tenscher 1998; Sarcinelli/Geisler 2002: 49 ff.; Holtz-Bacha 2000). Alle beschreiben sie eine veränderte Form des Wahlkampfes, die sich in einer Weiterentwicklung (oder Verkümmerung, je nach Perspektive) der Bürger*innenansprache äußert. Ein Symptom dieser Beschreibungen ist die zunehmende Bedeutung von Dienst-
2.2 Symbolische Politik?
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leistern aus Werbung und PR für die Kampagnen der Parteien und Kandidaten (Gennies/Schulze 2013). Angesichts der tiefgreifenden Transformation von politischer Öffentlichkeit im Zuge der Digitalisierung bleibt fraglich, ob sich die Feststellungen und Definitionsversuche politischer Kommunikation noch halten lassen: Insofern ist politische Kommunikation zunächst einmal ein politisch-publizistischer Resonanzraum mit wechselseitiger Beobachtung der am Kommunikationsprozess beteiligten politischen und medialen Akteure (Sarcinelli 2011: 18).
In Sarcinellis Definition fehlen sowohl die professionellen Akteur*innen, die auf einem wachsenden Beratungs- und Dienstleistungsmarkt um öffentliche Auftraggeber konkurrieren, als auch die Bürger*innen, denen durch die direkt nachvollziehbare Vervielfältigung von Informationen in den sozialen Medien eine entscheidende Rolle zukommt, wenn auch nicht unbedingt als Produzenten von Informationen, so doch zumindest als Bauteile eines Resonanzraumes. Für die politikwissenschaftliche Narrativanalyse lässt sich also folgende Definition von politischer Kommunikation zugrunde legen: Politische Kommunikation ist das allgemeine Sprechen von und über Politik und das Politische in diversen Arenen. 2.2 Symbolische Politik? „Viel Symbolik, wenig Inhalt. So ist es oft, wenn die Regierungschefin in diesen Tagen ihre Termine absolviert“ (SPIEGEL Online über die Wahlkampfauftritte Angela Merkels am 7. Mai 2013). Die Bilder schienen erstaunlich bekannt. Als im Juni 2013, im Frühsommer vor der Wahl, weite Gebiete in Bayern, Thüringen und Sachsen durch tagelange Regenfälle überflutet wurden, besuchte Angela Merkel die Flutgebiete und überflog in einem Hubschrauber Dresden und Pirna, die besonders stark von den Wassermassen in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Merkel sagte „unbürokratisch“ Soforthilfe in dreistelliger Millionenhilfe zu und „machte den Hochwasseropfern Mut“, wie in vielen Zeitungen zu lesen war. Ein Akt der Symbolpolitik, wie er bereits 2002, als die Elbe über ihre Ufer trat, von Gerhard Schröder wirkungsvoll inszeniert wurde.
42 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs In der politischen Kommunikation sind Symbolpolitik19 und der Begriff des Symbols allgegenwärtig. Trotz ihrer Verbreitung bleibt jedoch oftmals ungeklärt, ob es sich bei Symbolpolitik um ein kommunikatives Mittel handelt – also eine Form politischer Kommunikation – oder ob mit Symbolpolitik eher eine bestimmte Eigenschaft politischer Zeichen benannt wird. Auf ersteres deutet die Verwendung des Begriffs zur Beschreibung des politischen Geschehens hin, während letzteres eher das Ergebnis einer theoretischen Deutung von Politik ist. Ohne im Detail eine Klärung dieser beiden Pole der Symbolpolitik herbeiführen zu wollen, lässt sich feststellen, dass sich Politik in einer Welt voller Symbole vollzieht. Die politischen Akteur*innen eignen sich diese Symbole an, vermitteln sich wiederum durch Symbole, werden mit und durch Symbole assoziiert, kreieren neue Symbole und lassen alte Symbole obsolet werden. Seit Ernst Cassirer ist diese Vorstellung des Menschen als „animal symbolicum“ gegenwärtig (Cassirer 1964). Die Analyse symbolischer Politik bleibt ein komplexes Unterfangen, denn ähnlich der politischen Erzählung steht Symbolpolitik als wissenschaftliche Kategorie vor der Schwierigkeit, ihren analytischen Gehalt gegen stark im alltäglichen Sprachgebrauch verankerte Nutzungsweisen behaupten zu müssen (Sarcinelli 2011: 137). Gleichzeitig lässt sich ein wachsendes Bewusstsein für die Kraft symbolischer Zeichen in der Politik beobachten, wodurch sich folgende explizit oder implizit formulierten Vorurteile gegenüber der Symbolpolitik im öffentlichen Gespräch über Politik verfestigten: Symbolpolitik verschleiere die tatsächlichen Absichten, Ziele und Handlungsmotivationen der Akteur*innen, lege falsche Fährten, lasse Handlungen in einem anderen Licht erscheinen, bausche Nebensächliches in großen Gesten auf und lenke von unzureichender Kompetenz in der Verrichtung alltäglicher Pflichten ab. Dennoch oder besser gesagt gerade deshalb ist Symbolpolitik ein Kernbestandteil der politischen Kommunikation und ihrer wissenschaftlichen Betrachtung. Symbolische Politik „steht für politische Schauspielerei, hohles Spektakel, für eine auf Täuschung angelegte politische Inszenierung, für politisch-unpolitisches Placebo“ (Sarcinelli 2011: 137) und wird als solche einer an Wahrheit und Fakten interessierten politischen Wirklichkeit gegenübergestellt. Für die Beobachter des politischen Prozesses gilt das Aufdecken von Symbolpolitik als Entlarvung inhaltsleerer Politik: Es ist genau dieses Bild: die Kanzlerin im Kreis der geballten, fröhlichen Frauenmacht. Die Botschaft: Merkel kümmert sich, die Frauen freuen sich. Viel Symbolik, wenig Inhalt (Gathmann/Wittrock 2013). 19
Oft wird auch von symbolischer Politik gesprochen. Beide Begriffe werden im Folgenden synonym verwendet.
2.2 Symbolische Politik?
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Der Begriff der Symbolpolitik ist also eng mit dem Vorwurf nichtssagender, zielloser Politik verknüpft. Dieser wurde im Bundestagswahlkampf 2013 sowohl gegenüber der Kanzlerin – wie das oben stehende Beispiel zeigt –, als auch gegenüber dem Herausforderer Peer Steinbrück erhoben: Es geht hier [Peer Steinbrücks Stinkefinger-Geste im Interview mit dem Magazin der Süddeutschen Zeitung, Anm. SJ], nach fast einem Jahr Wahlkampf, um die symbolische Reaktion auf teils schmutzige Attacken, die politische Konkurrenten und interessierte Medien geritten haben (Hebel 2013).
Dennoch oder gerade deshalb ist Symbolpolitik ein Kernbestandteil der politischen Kommunikation und ihrer wissenschaftlichen Betrachtung. So ist Symbolpolitik als analytischer Begriff zu einem festen Bestandteil des rhetorischen Arsenals der Politikdeutung geworden. Dabei zeigt sich in der politischen Berichterstattung zunehmend eine weitere Bedeutungsdimension. Diese erscheint als selbstreflexive Metaebene und warnt vor möglicherweise als Symbolpolitik verstandenen politischen Handlungen: Hinter vorgehaltener Hand heißt es jedoch, die Steuererhöhungspläne der SPD könnten durchaus als Symbolpolitik verstanden werden. Auf der einen Seite soll die eher linke Klientel gelockt werden. Auf der anderen Seite gebe es durchaus Signale an die Wirtschaft, dass alles nicht so schlimm werde (Frost 2013).
Schon die Möglichkeit symbolpolitischer Handlungen ist also negativ konnotiert (Sarcinelli 2011: 137). Symbolpolitik erscheint als Zerrbild einer „ehrlichen“ und an den Interessen der Menschen orientierten Politik, die sich nicht auf den Schein und auf Äußerlichkeiten reduzieren lässt: „Symbole sind Leerstellen und Platzhalter. Sie verweisen auf Abwesendes. Wo Symbole sind, fehlt etwas, auf das verwiesen wird“ (Kissler 2013: 94). Kritik wie diese, die sich auf den normativen Begriff des „Pseudoereignisses“ stützt und an Symbolpolitik im Allgemeinen richtet, ist verkürzt, denn „den politischen Akteuren [bleibt] praktisch nichts anderes übrig […], als politische Entscheidungsfähigkeit performativ darzustellen“, wie Jasmin Siri (2012: 153) betont. Symbole und symbolhafte Handlungen sind Formen der Vermittlung von Bedeutung, ohne die Politik nicht öffentlich verhandelt werden kann. Gemeinsam mit Inszenierungen, Mythen und Erzählungen bilden sie das imaginative Arsenal einer an Kommunikation gekoppelten Wahlkampfführung. Ohne diese Formen der Sinnerzeugung ist die Herstellung allgemeinverbindlicher Entscheidung – also die Herstellung von Politik – nicht vorstellbar (Sarcinelli 2011). Die Politikwissenschaft hat diesen Umstand erkannt und sich verstärkt mit dem Symbolbegriff auseinandergesetzt, ihn gar ins Zentrum der Erforschung sprach-
44 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs lich vermittelter Politik gestellt (Edelman 1985; Göhler 1999, 2005; Sarcinelli 2011). In anderen Arbeiten tauchen Symbole als Teile übergeordneter Analysekonzepte auf (vgl. Stone 2002) und werden beispielsweise als „Teil gesellschaftlicher Erzählungen“ (Viehöver 2012: 102) verstanden. Doch was bedeuten Symbole und symbolische Politik für die Erforschung von Sinnstiftungsprozessen in Wahlkämpfen? Zunächst einmal lässt sich mit Sarcinelli festhalten: „Als spezifischer, kultureller Ausdruck muss sich Politik immer erst symbolisch konstituieren, um vermittelt und wahrgenommen werden zu können“ (2011: 144). Neben der Sprachlichkeit von Politik wird mit der Symbolhaftigkeit eine weitere Konstante eingeführt, die als Konstitutivum politischer Prozesse zu gelten hat. Politik ist ohne Sprache undenkbar und ohne Symbole nicht zu vermitteln. Sprachgewinn bedeutet Machtgewinn und Sprachverlust heißt Machtverlust (Korte 2009: 285). Gerade in Wahlkämpfen entfalten Symbole eine Kraft, die nur schwerlich zu negieren ist und gegen die ein erhöhter kommunikativer Aufwand betrieben werden muss, um einmal etablierte Deutungen zu verändern. So sorgten Angela Merkel und Peer Steinbrück in der jüngeren Vergangenheit für einen Moment, der geradezu symbolisch für den Begriff der Symbolpolitik steht: Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise im Jahr 2008 traten beide gemeinsam vor die Kameras – Merkel als Kanzlerin, Steinbrück als Finanzminister – und garantierten den deutschen Sparern die Sicherheit ihrer Bankeinlagen. Der gemeinsame Auftritt mit dem Ausspruch „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung ein“ hat die Qualität, nicht allein symbolpolitisch gedeutet zu werden, sondern darüber hinaus eine Erzählung zu begründen, die imstande war, auch den Bundestagswahlkampf 2013 zu beeinflussen.20 Der Auftritt des Duos Merkel und Steinbrück kann deshalb als symbolpolitischer Akt gelten, da er sich fernab der exekutiven und legislativen Befugnisse der Regierung bewegte. Vielmehr inszenierten Merkel und Steinbrück hier einen Moment, der den Bürger*innen Sicherheit vermitteln sollte. Ihre Sprachhandlung hatte dabei performativen Charakter: Sie erklärten die Spareinlagen für sicher und schafften einen Moment, auf den sich die Bevölkerung würde berufen können. Entscheidend ist also nicht die Frage, welche politische (Sprech-)Handlung als symbolisch qualifiziert werden kann oder sollte, sondern vielmehr die Feststellung der potenziellen Symbolhaftigkeit jeder politischen Handlung oder sogar Nicht-Handlung. Politik ist symbolisch und ohne ihre symbolischen Aspekte ließe sie sich in Zeiten medial vermittelten Weltgeschehens nicht sinnhaft erschließen. Symbole sind Ankerpunkte, um die herum abstrakte politische Phänomene in eine sinnhafte Ordnung gestellt werden. So geschehen, als Merkel und Stein20
Zur Bedeutung der gemeinsamen Regierungsvergangenheit von Merkel und Steinbrück und ihrem Einfluss auf die narrative Beziehung der beiden, siehe Kapitel 5.
2.2 Symbolische Politik?
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brück die Geschehnisse der Finanzkrise für die Bürger*innen in eine Ordnung brachten: „Zwar haben wir eine schwierige Situation, doch Eure Spareinlagen sind sicher.“ Die unmittelbare Betroffenheit konnte von der Bevölkerung im Anschluss besser eingeordnet und bewertet werden, sofern sie der Symbolhandlung Glaubwürdigkeit zuschrieben. Dahingehend lässt sich auch der Ansatz Andreas Dörners verstehen, der den Wahlkampf als „rituelle Inszenierung des demokratischen Mythos“ (2002: 29) bezeichnet. Er argumentiert, dass die Inszenierung ein zentraler Baustein der Stabilität politischer Ordnungen sei und verweist darauf, dass dem Wahlkampfritual eine besondere Bedeutung zukomme (Dörner 2002: 28 f.). Mittel dieser Ritualisierungen sind Symbole. Ausgehend von seiner These ergeben sich zwei Möglichkeiten des forschungspragmatischen Umgangs mit dem Material: Einerseits können wir die Wahrhaftigkeit von Symbolhandlungen und Ritualisierungen infrage stellen und nach dem „Eigentlichen“ suchen. Leitend wäre dabei die Frage, ob wir uns in einer demokratischen Gesellschaft befinden oder ob sie eine durch Rituale und Symbole hergestellte Illusion ist. Die Frage, worauf es eigentlich ankommt, auf die Darstellung von Politik oder auf die Politik selber, ist falsch gestellt. Sie verkennt, daß sich Politik, politische Realität für die Masse der Bürger selten als unmittelbar erlebtes, objektives Ereignis darstellt, sondern fast immer nur vermittelt über Kanäle der Information und Realitätsdeutung. Und vermittelt heißt nicht nur selektiert und interpretiert, sondern vielfach auch inszeniert und dramatisiert (Sarcinelli 1987: 5).
Andererseits können wir die Ungewissheit einer zeichenhaft vermittelten Welt als Ausgangspunkt für die weitere Erforschung nehmen und in die Forschungslogik integrieren. Dies erscheint vielversprechender, da sich eine Ontologie des Politischen eher für die Philosophie anbietet. Ausgehend von dieser konstruktivistischen Grundüberzeugung richtet sich die vorliegende Arbeit an das Wie der Symbolhaftigkeit politischer Sprache. Nicht ein Ob soll untersucht werden, sondern die Form der Vermittlung des Politischen und der Politik. Eine Trennung von „genuin politischen Ereignissen“, die sich durch ihre „Funktionalität im politischen Entscheidungsprozess“ von „Pseudoereignissen“, die „keine andere Funktion als die Informationsweitergabe an Medienrepräsentanten haben“ (Schmitt-Beck/Pfetsch 1994: 122), unterscheiden, wird hier ebenso wenig für sinnvoll erachtet wie die sich theoretisch anschließende Aufspaltung in Entscheidungs- und Darstellungspolitik (Sarcinelli 1987: 66; vgl. Schmitt-Beck 1994: 107; Strohmeier 2002: 45 ff.). Die diesem Verständnis zugrunde liegende Fokussierung auf politisches Handeln als das Handeln in „der Politik“ im Sinne eines institutionalisierten Funktionszusammenhang bei gleichzeitiger Ausklammerung weiterer gesellschaftlicher Aushand-
46 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs lungsprozesse verkürzt den Begriff des Politischen, wie er für den hier diskutierten Kontext vorgeschlagen wird. Im Modus des Erzählens gerinnt Entscheidungspolitik zu einer durchsetzungsfähigen Darstellung spezifischer Sachverhalte. Sprachlogisch lassen sich dabei nur bedingt Unterschiede zwischen Entscheidungs- und Darstellungspolitik feststellen, da beide dem Primat des Erzählens unterliegen.21 Dennoch sind beide Begriffe in ihrem Sinngehalt als analytische Kategorien sehr hilfreich, da sie jeweils die Hinter- und Vorderbühne der Politik beschreiben (Sarcinelli 2011: 150). Während die Entscheidungspolitik auf der Hinterbühne als arkanem Bereich politischen Handelns für narrativanalytische Studien schwer zugänglich bleibt, ist es die Darstellungspolitik auf der Vorderbühne, die als öffentliche Arena zum Gegenstand erzähltheoretischer Untersuchungen werden kann. Auf dieser Vorderbühne werden Symbole sichtbar und lassen sich für die Analyse aufbereiten. Auch wenn sie ihre Wirkung auf allen Ebenen des Politischen entfalten und imstande sind, die Entscheidungen der Hinterbühne zu beeinflussen oder gar zu präfigurieren, ist es die öffentliche Arena, in der sich Sinngebungsprozesse nachzeichnen und interpretative Verfahren anwenden lassen. 2.3 Inszenierung und Authentizität des Politischen „Ich lernte sehr spät, dass es in der Politik nicht nur darauf ankommt, was man sagt und was man macht, sondern auch, wie man dabei kuckt.“ (Peer Steinbrück bei seiner Abschiedsrede vor dem Deutschen Bundestag am 29.09.2016) Neben den politischen Symbolen und dem Symbolischen in der Politik sind Inszenierungen ein weiterer Faktor im Wahlkampfgeschehen. Das In-Szene-Setzen ist elementarer Bestandteil der Politik (Kamps 2007: 129-140) und übt eine imaginative Kraft auf alle Beteiligten aus. Dabei bestehen über die Beziehung von Symbolen und Inszenierungen unterschiedliche Ansichten. Vor allem die Hierarchie beider Begriffe ist umstritten: Zum einen gelten Symbole als maßgebliche Elemente bei der Konstruktion politischer Inszenierungen, die wiederum ein konstitutiver Bestandteil politischer Kommunikation sind (Meyer 2003: 13). Zum anderen werden Begriffe wie Symbolpolitik und Inszenierung gleichrangig nebeneinander gestellt: 21
So wie beispielsweise in Strukturen der Richtlinienkompetenz oder der militärischen Befehlskette: In diesen Fällen ist das erzählerische Verhandeln von Problemen nachrangig und weicht bisweilen der Erteilung von Weisungen und Befehlen. Dennoch wirken auch hier erzählerische Muster, beispielsweise, wenn Machtpositionen legitimiert und Ämter verkörpert werden.
2.3 Inszenierung und Authentizität des Politischen
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Versteht man politische Kommunikation als einen Sinn konstituierenden Prozess, der auf einseitige Durchsetzung oder wechselseitige Verständigung über das zielt, was als kollektiv verbindlich gelten soll, so sind Symbolisches, Medialität und Inszenierung demnach auch politischer Kommunikation nicht äußerlich, sondern ihr integraler Bestandteil“ (Sarcinelli 2011: 139).
Auch Erzählungen werden in der Regel der Sphäre des Inszenierten, des Mythischen zugeordnet und vom Logos, von der Vernunft und schließlich auch der Wahrheit getrennt (Koschorke 2012: 16 ff.). In beiden Fällen haben wir es jedoch nicht mit einem Gegensatz von Inszenierung und „echter“ Politik zu tun, sondern mit Politik als politisches Theater22, das „als Schauspiel, als große Inszenierung oder gar als Drama“ (Strohmeier 2002: 23) gelesen und dahingehend analysiert werden kann. Inszenierung ist zum Dauerzustand geworden, dem wir als Bürger einer postmodernen demokratischen Gesellschaft nicht mehr entrinnen können. Willems und Jurga (1998) diagnostizieren gar, dass wir in einer „Inszenierungsgesellschaft“ leben. Auch wenn sich die politische Kommunikationsforschung diese Erkenntnis einer inszenierten politischen Wirklichkeit längst zu eigen gemacht hat (vgl. Kamps 2007: 129-158; Sarcinelli 1987, 2011; Sarcinelli/Geisler 2002, Jarren et al.1998), so hegt sie nach wie vor ein starkes Misstrauen gegenüber der Inszenierung im Wahlkampf. Sie gilt als unecht und verdächtig, die wahren Verhältnisse zu verschleiern: Die politische Kultur Deutschlands ist durch eine lange Tradition des Misstrauens gegen das Inszenierte und Ästhetische in der Politik gekennzeichnet. Inszenierung gilt hier stets als Gegenpol zu allem ‚Echten‘, ‚Authentischen‘ (Dörner 2012: 123).
Ebenso gilt für Soeffner und Tänzler „die mediale Inszenierung von Politik verstärkt als eine zu Personalisierung und Trivialisierung tendierende entpolitisierte Schaupolitik“ (2002: 92). Dennoch sind die „Kämpfe um Inszenierungsdominanz“ (Dörner 2015: 16) konstitutiv für gegenwärtige Wahlkämpfe. Politik ist ohne Inszenierung nicht denkbar, wofür es laut Meyer drei Gründe gibt: Erstens sei die Inszenierung eine „anthropologische Konstante“, zweitens bedürfe selbst das Authentische einer Inszenierung als Authentisches und drittens ergäbe sich aus der Notwendigkeit der Vermittlung zwangsläufig eine Inszenierung (Meyer 2003: 13 f.). Diese maßgebliche Erkenntnis speist sich aus den Theorien, die im Gefolge des lingu22
Vgl. zum Konzept der Theatralität Schichas Beitrag „Politikvermittlung als legitimes Theater?“ (2009: 53-79). Das Konzept der Theatralisierung lässt sich auf den ersten Blick in der Nachbarschaft der hier explizierten Narrativanalyse verorten. Dennoch gibt es einige theoretische wie methodische Unterschiede. So wie das Theater nur ein Medium der Erzählung ist, so kann man auch das Konzept der Theatralität als Teil einer narrativen Weltsicht verstehen.
48 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs istic turn Eingang in die Sozialwissenschaften gefunden haben. Das Paradigma der sprachlichen Vermittlung von Wirklichkeit in Zeichen und Diskursen gehört heute zum Kanon politikwissenschaftlicher Forschung, findet sich allerdings in der Wahlkampfforschung noch nicht ausreichend repräsentiert – vor allem dann, wenn Begriffe wie Realität und Inszenierung noch immer gegeneinander ausgespielt und nicht als Pole eines kommunikativen Spektrums begriffen werden. Als Gegenpart zur Inszenierung wird dabei oft die Authentizität von Akteur*innen und ihren Äußerungen ins Feld geführt: Angela Merkel war authentisch, ehrlich sympathisch. Sie macht nicht Wahlkampf sondern Politik für unser land (@peteraltmaier, 1.9.2013).
Auch angesichts solcher offensichtlich parteinehmenden Aussagen wird deutlich, dass Authentizität nicht diskussionslos festgestellt werden kann. Sie wird selbst zum strategischen Mittel, welches unter Inszenierungsverdacht gestellt wird: „Authentizität verliert damit den Charakter des Ursprünglichen, Echten, Spontanen und gerät ebenfalls unter Inszenierungsdruck“ (Holtz-Bacha 2015: 7). Letztendlich ist Authentizität eine Zuschreibung, nicht eine ontologische Eigenschaft von Akteur*innen und sprachlichen Handlungen. So müssen politische Akteur*innen in einer Vielzahl von unterschiedlichen Situationen für ein höchst diverses Publikum als authentisch gelten können. Dies gelingt jedoch nicht durch eine Steigerung des eigenen „Authentizitätslevels“, sondern vielmehr über die „Inszenierung von Rollenpolyvalenz. Entworfen wird das Konstrukt einer vielschichtigen Persönlichkeit“ (Bandtel 2012: 231). Den Modus, in dem diese vielschichtige Authentizität inszeniert wird, hat Bandtel als narrative Konfiguration identifiziert. Demnach stehen Forscher wie Wähler, die sich auf die Suche nach Authentizität machen, vor dem Problem der ontologischen Differenz im Sinne Heideggers. Authentizität bezieht sich „im Kern auf einen Abgleich zwischen einer ‚objektiven Wirklichkeit‘ und deren Repräsentation“ (Bandtel 2012: 214).23 Auch das Authentische ist also inszeniert und gerinnt so zu einer Kategorie, die das individuelle Urteil fordert. Authentizität kann insofern als ein modernes soziales Kommunikationsideal aufgefasst werden, das sowohl eine Moralisierung als auch eine Privatisierung von Kommunikation anzeigt (Saupe 2015).
Authentizität gilt dabei stets als Qualitätsmerkmal, wie das folgende Beispiel der FDP-Politikerin Katja Suding in einem Interview für das ZEIT-Magazin zeigt: 23
Diese konstruktivistische Prämisse korrespondiert mit der Überwindung der Trennung von Darstellungs- und Entscheidungspolitik.
2.3 Inszenierung und Authentizität des Politischen
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[Frage:] Ist das der größte Mythos in der Politik, dass Wahlkämpfe mit Inhalten gewonnen werden? [Antwort:] Natürlich wählen Menschen aufgrund von Inhalten. Klar ist aber, dass diese Inhalte von glaubwürdigen und authentischen Persönlichkeiten vertreten werden müssen. Das ist entscheidend (von Uslar 2015).
Suding schreibt sich in dieser Antwort in die Rolle der authentischen Politikerin. Sie wird Teil ihrer eigenen Erzählung, die sie unfreiwillig im Verlauf des Interviews fortführt: [Frage:] Politiker müssen eine Geschichte haben, um Wahlen zu gewinnen: In drei Sätzen, was ist die Katja-Suding-Story? [Antwort:] Wahlen gewinnt man nicht mit einer Story, sondern mit einer Überzeugung und einer positiven Lebenseinstellung. Mir geht es um Chancengerechtigkeit. Menschen sind unterschiedlich, aber jeder muss die Möglichkeiten haben, sich zu verwirklichen und den eigenen Traum zu leben (ebd.).
Die Paradoxie ihrer Aussage wird hier offensichtlich. Indem sie von ihrer Überzeugung und ihrer positiven Lebenseinstellung spricht, beschreibt sie keinen objektiven Fakt oder auch nur eine Selbstwahrnehmung, sondern bietet eine narrative Konfiguration ihrer Rolle als Spitzenpolitikerin an. Wenn auch das Authentische eine Inszenierung ist, wo finden wir dann noch die „echten“ Politiker? Oder sollte die Politikwissenschaft viel eher die Suche nach „dem Menschen hinter den Akteuren“ den Biographen überlassen und sich selbst dem (inszenierten) medialen Abbild widmen? Bandtel kommt zu der Überzeugung, dass politische Erzählungen über Authentizität „sowohl demokratietheoretisch als auch auf der individuellen Ebene politischer Akteure zentrale Funktionen“ (Bandtel 2012: 230) erfüllen. Die Frage nach Authentizität und (Un-)Wahrheit in der Sprache des Wahlkampfes wird immer von Uneindeutigkeit begleitet sein – einer Uneindeutigkeit, über die Albrecht Koschorke sagt: Uneindeutigkeit hinsichtlich der Alternative wahr/unwahr betrifft also nicht nur den Inhalt der jeweiligen Einzelgeschichte, sondern ganz allgemein die kulturelle Gültigkeit der symbolischen Transaktionen, bei denen von der Technik des Erzählens Gebrauch gemacht wird (2012: 17).
Ausgehend von der Grundannahme, dass Akteur*innen in ihrem Kommunikationsverhalten oftmals auf Erzählungen als kognitive und sprachliche Konzepte zurückgreifen, wird Uneindeutigkeit zum konstitutiven Element und Wahlkampfsprache zur indifferenten Vermittlungsform. Nicht also die Frage, was Inszenierung und was Realität, was wahr und was unwahr ist, soll mittels einer
50 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs Narrativanalyse beschrieben werden, sondern die Mechanismen, mithilfe derer die Uneindeutigkeit organisiert und für den Rezipienten Sinn erzeugt wird. Ein Paradebeispiel für die Uneindeutigkeiten der Handlungen politischer Akteur*innen und deren Authentizität ist „Peersfinger“. Im Interview „Sagen Sie jetzt nichts“, das Peer Steinbrück dem Magazin der Süddeutschen Zeitung vom 13.09.2013 gab, zeigte er auf die Frage „Pannen-Peer, Problem-Peer, Peerlusconi - um nette Spitznamen müssen Sie sich keine Sorgen machen, oder?“ in einer aggressiven Pose den Mittelfinger. Die Beurteilungen zu Inszenierung oder Authentizität der Geste gingen dabei auseinander: Blieb Steinbrück nun in seiner Rolle als unbequemer Klartexter oder war die Geste vielmehr Ausdruck einer ehrlichen Jetzt-reicht’s-Attitüde, die aus dem Umgang der Medien mit seiner Person resultierte? Solche Fragen können abschließend nicht beantwortet werden. Die Akteur*innen machen „Authentizitätsangebote“, die die Form einer Erzählung annehmen. In dieser stellen „bildsprachliche Konventionen“ die „Referenz der erzählten Wirklichkeit in einer außermedialen Realität“ (Bandtel 2012: 215) dar. Da politische Inszenierungen in der Regel also nicht eindeutig, sondern vielmehr für verschiedene Interpretationen offen sind, müssen neben den sprachlichen Handlungen auch Aspekte der Performance und der Praktiken politischer Inszenierung berücksichtigt werden. Dies gilt in besonderem Maße, wenn wir davon ausgehen, dass aus einer kulturwissenschaftlich interessierten Perspektive der ausgewählte Akt eine Form der symbolischen Kommunikation darstellt, die in höchstem Maße interpretationsbedürftig ist (Alexander/Jaworsky 2014: 6-7). Politische Akteur*innen bieten komplexe und vielschichtige Performances an, mit denen sich die Wähler*innen mit mehr oder weniger Enthusiasmus, mehr oder weniger Kritik oder am Ende sogar gar nicht identifizieren können (Alexander/Jaworsky 2014: 7). Der politische Raum, so Alexander, wurde immer schon als Bühne wahrgenommen und das Theater wurde zu einer entscheidenden Form der sozialen Organisation (Alexander 2011: 48 f.). So liegt es nahe, die Konzepte, Ansichten und Theorien aus Literatur-, Theater- und Kulturwissenschaften über Inszenierung und Authentizität zu berücksichtigen. Auch die literarische Praxis ist sich der schwer greifbaren Schnittstelle zwischen Authentizität und Fiktion bewusst. So äußert etwa der Träger des Büchner-Preises 2015, Rainald Goetz, die Ansicht, dass es „in Texten eine wirklich wahre unmittelbare Authentizität nicht geben kann.“ Vielmehr glaube er „an die Form der konstruierten Authentizität“ (Kegel 8.7.2015). Diese Auffassung erscheint äußerst hilfreich, wenn es darum geht, die Bemühungen der politischen Akteur*innen um eine echte und wahrhaftige Erscheinung zu beschreiben. Aufgabe der Narrativanalyse ist es folglich, diejenigen Muster und Praktiken zu entschlüsseln, die einen solchen Authentizitätsanspruch vermitteln und einlösen.
2.4 Emotionen und begrenzte Rationalität
51
2.4 Emotionen und begrenzte Rationalität „Diese schlichte Neuorientierung des Denkens über Geist, Gehirn und Emotionen legt eine ganz andere Sichtweise auf Wahlkampagnen nahe. Man kann sich mächtig ins Zeug legen, um jene wenigen Millimeter der Hirnrinde anzusprechen, die Fakten, Zahlen und politische Absichtserklärungen verarbeiten. Oder man kann die Kampagne auf die viel breiteren neuronalen Wählerschichten ausrichten, im ganzen Hirn Wahlmänner einsammeln und verschieden emotionale Bundesstaaten mit Botschaften ins Visier nehmen, die so gestaltet sind, dass sie ihre maximale Zugkraft entwickeln.“ (Drew Westen: Das politische Gehirn, S. 89) Nicht nur der Symbolpolitik wird Skepsis entgegengebracht. Auch Emotionen scheinen in einem weit verbreiteten Verständnis wenig mit Politik und politischen Entscheidungen zu tun zu haben. Politische Akteur*innen gelten schnell als „gefühlig, irrational, ja hysterisch“, sofern sie Emotionen zeigen und Entscheidungen jenseits der „Rationalität von Strategien“ und einer von „Statistiken belegten Objektivität“ (Schaal/Heidenreich 2013: 3) fällen. Doch diese Ansicht scheint zunehmend aufzuweichen. In jüngster Zeit lässt sich ein gestiegenes Interesse an emotionalen Aspekten der Sinnvermittlung verzeichnen (Faas et al. 2010; Korte 2015b). Politik wird nicht länger allein als Verhandlung rationaler Argumente verstanden, sondern es werden zusätzlich Bereiche jenseits der Rationalität – die subtileren Bedeutungsschichten – in den Blick gerückt (Yildiz 2015). Somit werden Emotionen und ihre Mechanismen zum Gegenstand der Forschung. Beispielsweise hat Drew Westen prominent auf die Bedeutung von Emotionalität auf politische Entscheidungen im Allgemeinen und Wahlentscheidungen im Besonderen hingewiesen. Sein Credo lautet: „Das politische Gehirn ist ein emotionales Gehirn“ (Westen 2012: 16). Dieser Einsicht folgt die Wahlforschung jedoch nicht uneingeschränkt. Emotionalisierung wird in prominenten Texten zur Wahlkampfforschung noch immer mit Entpolitisierung gleichgesetzt (Woyke 2013: 134) und die Rationalität der Entscheidungsfindung hervorgehoben (Kamps 2007: 161 f.). Ebenso bleibt in den politikwissenschaftlichen Entscheidungstheorien das emotionale Handeln stets ein Gegenpart zum Idealtypus rationaler Entscheidungsfindung und wird als affektiv, impulsiv und „unüberlegt“ (Schimank 2005: 45) beschrieben. Zwar wird bei Schimank die „perfekte Rationalität“ als eine kontrafaktische Kategorie eingeführt (Schimank 2005: 173235), doch lässt sich an dieser Rationormativität das Primat der Vernunft beobachten. Er geht sogar so weit zu behaupten, dass sich der emotional Handelnde seiner „sozialen Rechtfertigungspflicht“ enthebe (Schimank 2005: 71). Schimanks begrenzte Rationalität schließt Emotionen nicht mit ein. Die scharfe
52 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs Grenze zwischen beiden Sphären bleibt bestehen, sei es nun aus theoretischen Überlegungen oder aus epistemologischer Überzeugung.24 Emotionen repräsentieren bei den wissenschaftlichen Überlegungen das Unergründliche, das dunkle Terrain, das sich nur schwer durch Modelle und Theorien vermessen lässt: Es ist wahrscheinlich angemessen zu behaupten, dass Politikwissenschaftler den Emotionen immer etwas skeptisch gegenüber standen. Politik dreht sich um die rationale Entscheidung und die Wahl ist keine Ausnahme (Steenbergen 2010: 21, Übersetzung SJ).
In den USA reicht die Tradition der politischen Psychologie bis in die 1970erJahre zurück. In Europa ist die Berücksichtigung kognitiver Kategorien und Konzepte im Mainstream der Politikwissenschaft noch jüngeren Datums (Steenbergen 2010: 13). Das Erscheinen des Sonderbands 2015 der Politischen Vierteljahresschrift markiert jedoch ein Umdenken, wie der Titel Politische Psychologie beweist (Faas et al. 2015). Dass in der Politik jedoch nicht immer ein rein rationales, geschweige denn auch nur ein begrenzt rationales Handeln dominiert, lässt sich an verschiedensten Entscheidungen und Äußerungen der politischen Akteur*innen belegen. Die Abkehr vom Atomausstieg im „Herbst der Entscheidungen“ 2011 durch die Regierung Merkel zählt dabei ebenso dazu wie ihre Aussage, sie tue sich schwer mit einer vollständigen Gleichstellung homosexueller Paare (Wahlarena 2013). An der Wahrscheinlichkeit für einen Atomunfall hat auch der Super-GAU in Fukushima nichts geändert und das „Schwertun“ der Kanzlerin kann nur bedingt als „vernünftige“ Kategorie zählen. Auch ist nicht anzunehmen, dass die hohen Zustimmungszahlen, die den relativen Erfolg der Alternative für Deutschland (AfD) begründen, sowie die Niederlage der FDP mit einem Modell rationaler Wahlentscheidungen zu verstehen sind. So unterschied sich das Programm der FDP nicht gänzlich von der 2005er Ausrichtung, wodurch ein Stimmenverlust von über 10 Prozent auf der Grundlage rationaler Wahlentscheidungen auszuschließen ist. Nun gibt es zwei Möglichkeiten, mit dem Konzept begrenzter Rationalität in Bezug auf die Kommunikation im Wahlkampf umzugehen: Erstens stellt sich die Frage, ob die Wahlentscheidung überhaupt unter dem von Schimank postulierten Entscheidungshandeln zu subsumieren ist oder ob zweitens die Gegenüberstellung von emotionalem Handeln und begrenzt rationalem Entscheidungshandeln aufrechtzuerhalten ist. Ich plädiere in dieser Arbeit für letzteres. Gründe für diese Haltung liefert unter anderem Westen: „Das Fühlen und das Denken 24
Schimank geht sogar noch weiter, indem er die Etablierung einer Zweckrationalität gegenüber emotionalem Handeln als „großen Schritt“ (Schimank 2005: 83) feiert.
2.4 Emotionen und begrenzte Rationalität
53
haben sich gemeinsam entwickelt, und die Natur hat sie dazu ‚bestimmt‘ zusammenzuarbeiten“ (Westen 2012: 49). Auch Steenbergen streicht den engen Zusammenhang heraus: Erstens ist jede scharfe Unterscheidung von Emotion und Rationalität mit der Architektur unseres Gehirns nicht zu vereinbaren. […] Zweitens erfordert Kognition Emotion (Steenbergen 2010: 21, Übersetzung SJ).
Es stellt sich also die Frage, ob die Gegenüberstellung von Vernunft und Gefühl in jedem Falle zweckdienlich für eine differenzierte Analyse politischer Kommunikation ist. Westen hat auf diese Frage eine deutliche Antwort: Für ihn haben wir es im Wahlkampf nicht mit einem „Marktplatz der Ideen“, sondern mit einem „Marktplatz der Emotionen“ zu tun (Westen 2012: 34). Auch Steenbergen zieht entgegen rationalistischer Konzepte die Neurowissenschaften zurate und plädiert dafür, dass die Politikwissenschaft Emotionen ernst nehmen sollte. Steenbergen verweist dabei auch darauf, dass einer der Gründe für die Abneigung, die die Politikwissenschaft gegen Emotionen hegt, in der Konfusion über Begriffe begründet liegt. Oft würden Emotionen, Gefühle und Stimmungen in einen Topf geworfen (Steenbergen 2010: 22). In diesem Beitrag soll es explizit um Emotionen gehen. Eine Minimaldefinition bietet von Scheve: Über die Komponenten, die zu einer Emotion gerechnet werden, und die Anzahl der Komponenten, deren Aktivierung hinreichend für eine Emotion sind, herrscht zwar zum Teil Uneinigkeit, doch lassen sich fünf Kernkomponenten ausmachen, die in den meisten Definitionen Verwendung finden: 1) die physiologische Erregung, 2) der motorische Ausdruck, 3) das phänomenale Gefühlsempfinden, 4) die kognitive Einschätzung sowie 5) die motivationale Handlungstendenz (2011: 210). In der Emotion ist also immer schon die kognitive Einschätzung angelegt.25 Bei aller Kritik am Konzept der (begrenzten) Rationalität müssen wir dennoch nicht so weit gehen wie George Lakoff und Elisabeth Wehling, die pointiert behaupten: „Rationalismus ist ein Mythos“ (2009: 70). Rationalismus ist vielmehr ein Konzept zur Bewältigung von Komplexität und korreliert mit Bildung und kognitiven Fähigkeiten, die jedoch ohne Emotionen nicht denkbar sind: Die von Emotionen verursachten Verzerrungen sind vielleicht nirgendwo so offensichtlich – und potenziell gefährlicher – wie in der Politik. Lange neigten Politikwissenschaftler zu der Auffassung (oder wollten dazu neigen), dass von Emotionen geleitetes Denken vor allem für weniger gebildete oder schlechter informierte Wähler 25
Grundlegend zu Emotionen und ihrer sozialen Konstruktion in Bezug auf Kommunikation ist Kurilla (2013).
54 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs typisch sei. Je gebildeter Menschen allerdings in politischen Angelegenheiten sind (d.h., je besser sie sich mit einem Thema auskennen), desto eher sind sie in der Lage, komplexe [Hervorhebung im Original] Rationalisierungen zu entwickeln, um Informationen abtun zu können, die sie einfach nicht glauben wollen. Gut informierte Bürger sind außerdem häufiger überzeugte Anhänger einer Partei, so dass sie besonders motiviert sind, Informationen verzerrt wahrzunehmen (Westen 2012: 105).
Die Vorstellung, nach der im Wahlkampf allein mit rational argumentierenden Policy-Offerten um die Wählergunst geworben wird, lässt sich so nicht aufrechterhalten, denn politische Akteur*innen stellen ihre Politiken nicht rational evaluierenden Bürger*innen vor und registrieren dann ihre deliberativ artikulierte Meinung (Alexander/Jaworsky 2014: 7). Entscheidungen werden ebenfalls nicht nach reinen Kosten-Nutzen-Kalkülen und Faktenchecks gefällt, sondern eher aus dem Bauch heraus, wie Korte dies treffend beschreibt: „Wissen ist insofern kein Hauptmotiv für die Wahlentscheidung. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass der Wähler zu wissen glaubt, welche Partei die für ihn individuell relevanten Probleme künftig am kompetentesten zu lösen vermag“ (2015a: 15). Diese Erkenntnis hat den Transfer in die Wahlkampfzentralen der Parteien bereits erfolgreich abgeschlossen. In einem Leitfaden der CDU zum Wahlkampf 2013 ist zu lesen: „Argumentieren Sie vor allem mit starken Werten und Emotionen – selbst wenn Sie starke Fakten haben, reden Sie zuerst über Werte“ (CDU 2013: S. 9). Als Tipp hebt der Leitfaden zudem hervor: „Generell gilt: Informationen ohne Emotionen haben für das Gehirn keinen Wert“ (CDU 2013: S. 4). Wenn die Notwendigkeit der Emotionalisierung der Wähleransprache also keine Neuerung, geschweige denn eine revolutionäre Erkenntnis auf dem Feld der Wahlkampfforschung ist, so sind die daraus gezogenen wissenschaftstheoretischen Konsequenzen bislang weitestgehend ausgeblieben. Hier gilt nach wie vor die normative Abwertung der emotionalen Wahlkampfführung, die das Bundesverfassungsgericht als „trivial“, „unklar“ und auf eine „gewisse Vulgarisierung“ hindeutend bewertet (vgl. Sarcinelli 1987: 13-14). Es lässt sich festhalten, dass wir Rationalität als eines der mentalen Konzepte im Sinne Drew Westens verstehen können. Narrative sind ein Modus (Kahn 2013), in dem diese Rationalität expliziert und transportiert wird. In der folgenden Analyse wird daher nicht davon ausgegangen, dass es keine Rationalität gibt, beziehungsweise, dass Rationalität ein inferiores Konzept ist. Doch es müssen weitere Dimensionen von Entscheidungshandeln und Wählerverhalten in Augenschein genommen werden, um die komplexen kommunikativen Prozesse im Wahlkampf verstehend analysieren zu können. Diese emotionalen Dimensionen werden ebenso wie Rationalität durch Narrative transportiert. Erzählungen „bieten eine Kommunikationsform an, in der neben rationaler Argumentation politi-
2.5 Frames
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sche Überzeugungsarbeit durch Emotionalisierung und individuelle Wertdisposition geleistet werden kann“ (Bandtel 2012: 230). 2.5 Frames „Despite its omnipresence across the social sciences and humanities, nowhere is there a general statement of framing theory that shows exactly how frames become embedded within and make themselves manifest in a text, or how framing influences thinking“ (Robert Entman: Framing. Toward a Clarification of a Fractured Paradigm, 1993). Symbole, Inszenierungen und ihr Zusammenspiel mit Emotionen zeigen uns, wie sehr sich der Fokus in Wahlkämpfen von einer rationalen und an Fakten orientierten Aushandlung politischer Zusammenhänge wegbewegt hat. Sprache wird in all ihren Facetten beleuchtet, sodass der Begriff der Objektivität nicht allein Risse dadurch bekommt, dass sich Politik nicht in einer Welt sachlicher Kommunikation vollzieht, sondern sich auch der Fokus der politikwissenschaftlichen Analyse zunehmend auf diejenigen Bereiche verschiebt, die das Entstehen von Bedeutung maßgeblich beeinflussen: Da es immer mehr als eine Möglichkeit gibt, die Dinge zu begreifen, ist die Wahl des Interpretationsrahmens von entscheidender Bedeutung für unseren Umgang mit der Welt sowie für die Formen und Folgen sozialer Interaktion (Marcinowski 2014a: 7).
Genau hier setzt die Theorie des Framings an, die auf eine reichhaltige Forschungstradition im anglo-amerikanischen Raum zurückblickt. Erving Goffman legte Mitte der 1970er-Jahre den Grundstein des Framing-Konzepts: „Social frameworks […] provide background understanding for events that incorporate the will, aim and controlling effort of an intelligence, a live agency, the chief one being the human being“ (1974: 22). Als Interpretationsschemata sind Frames seitdem ein wichtiger Bestandteil der interpretativen Sozialwissenschaften. Sie finden Antworten auf die zuvor aufgezeigten Leerstellen bei der Analyse von Deutungskonflikten. Die Framing-Theorie nimmt die Unschärfen öffentlicher Diskurse zum Ausgangspunkt und versucht, mittels kognitionswissenschaftlicher Ansätze die Momente der Sinnstiftung in der sprachlichen Handlung zu ergründen. Frames können dabei als Organisationsprinzipien begriffen werden, die fragmentierte Informationen in eine strukturierte und sinnvolle Einheit überführen. Für die hier vorgelegte Analyse sind Frames vor allem deshalb interessant, weil gerade diese Sinnstiftungsprozesse in der Wahlkampfforschung das zentrale
56 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs Interesse der Narrativanalyse darstellen. Dort, wo die öffentlichen Diskurse Unschärfen zeigen, wo nicht Fakten oder Rationalitäten, sondern Wert- und kulturell fundierte Vorstellungen von Politiken die Bilder der Kandidat*innen akzentuieren, vermutet die vorliegende Analyse maßgebliche Ankerpunkte für die Sinnvermittlung im Wahlkampf. „Frames sind Deutungsrahmen, die unser Wissen strukturieren und den Informationen einen Sinn zuordnen.“ (Lakoff/Wehling 2009: 73). Sie sind dabei der Konstruktion von Fakten, also geteilten Wahrheiten, vorgelagert. Zudem bilden sich in Frames bereits Handlungsoptionen ab, die sich aus der jeweiligen, durch die Frames konstruierte Faktenlage ergeben: We assert that the parties to policy controversies see issues, policies, and policy situations in different and conflicting ways that embody different systems of belief and related prescriptions for action, often crystalized in generative metaphors. These frames determine what counts as a fact and how one makes the normative leap from facts to prescriptions for action (Schön/Rein 1994: XVIII).
Diese Aussage lässt sich mühelos auf Wahlkämpfe übertragen, denn nicht allein Fakten oder das, was wir gemeinhin als Fakten bezeichnen, prägen die Wahlentscheidungen, sondern tieferliegende Konzepte: Wer die Fakten kennt, der wird entsprechend wählen. Vollkommen falsch! Weshalb? Weil ein Gutteil unseres Denkens unbewusst abläuft und weil wir in Metaphern und anderen mentalen Konzepten denken, die eben nicht buchstäblich auf unsere Welt zutreffen (Lakoff/Wehling 2009: 71).
Wehling und Lakoff gehen sogar so weit zu konstatieren: „Frames übertrumpfen Fakten“ (2009: 72). Nicht allein Fakten, sondern Frames sind es demnach, die in Wahlkämpfen miteinander um die Deutungshoheit konkurrieren. Donald Schön und Martin Rein sprechen hier von Frame-Konflikten: We suggest that policy controversies [die sich im Rahmen von Wahlkämpfen als thematische Auseinandersetzungen widerspiegeln; Anm. SJ] are frame conflicts that may be pragmatically resolved by reframing – the kind of limited reason that is feasible and appropriate in policy making (1994: 165).
So suchen sich Frames, wie auch Metaphern, einige Bestandteile des (politischen) Geschehens aus, wobei sie gleichzeitig andere vernachlässigen (Fischer 2003: 144). Dadurch werden politische Problemstellungen konstruiert und Handlungsoptionen präfiguriert. Fames determinieren, was die Akteur*innen als Fakten begreifen und wie diese konstruierten Fakten zur normativen Vorlage für politisches Handeln werden. Somit helfen Frames bei der Deutung des unübersichtlichen und zunehmend komplexeren Geschehens: Sowohl Fischer als auch
2.5 Frames
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Lakoff weisen hier auf die Nähe von Frames zu Metaphern hin, die als ein zentrales Moment von Narrativen noch näher beleuchtet werden (siehe Kapitel 4.1). Wie aber wirken die Mechanismen des Framings in Wahlkämpfen? Einen Vorschlag macht Bertram Scheufele, der in seiner Untersuchung des Bundestagswahlkampfes 2009 die Framing-Effekte in den Medien beobachtete: Wenn ein Medienbeitrag ein Thema auf eine bestimmte Weise rahmt, hebt er bestimmte Aspekte hervor, die dann als Schlüsselreize für die Rezipienten fungieren. Kognitiv aktiviert werden somit jene Rezipienten-Schemata, deren Slots mit diesen Schlüsselreizen am stärksten korrespondieren (2009: 270).
Ein Beispiel aus dem TV-Duell zwischen Merkel und Steinbrück ist in der Lage, die Wirkung dieser kognitiven Schlüsselreize zu verdeutlichen: Und ich bin der Meinung, dass wir alles daran setzen müssen, dass Arbeitsplätze erhalten bleiben und neu geschaffen werden. Und dass wir nichts tun dürfen, was Arbeitsplätze in Gefahr bringt. Und die Steuererhöhungspläne der Sozialdemokraten und der Grünen bringen mit sich, dass die Gefahr besteht, dass wir die gute Ausgangslage, die wir jetzt haben, verschlechtern und nicht verbessern. Denn es sind, in der Tat, Menschen, die viel verdienen, aber das sind Selbständige, das sind Mittelständler, das sind Handwerker, all die, die dafür auch zeichnen, dass mehr Arbeitsplätze in Deutschland entstehen“ (Das TV-Duell 2013).
Merkel zeichnet zur Frage nach der Arbeitsmarktpolitik das Bild einer fragilen Situation, die durch unbedachte Handlungen „in Gefahr“ gebracht werden könnte. Gleich zweimal in dieser kurzen Passage bemüht sie diese potenzielle Gefahr, die als Schlüsselreiz bei den Rezipienten wirkt. Der staatliche Eingriff in den Arbeitsmarkt wird durch diese Wortwahl als Bedrohung gerahmt, die hier vor allem von der SPD und den Grünen ausgeht. Arbeitslosigkeit und schwindende Prosperität – Umstände, denen sich viele Wähler*innen und Wähler noch in der jüngeren Vergangenheit angesichts der Finanzkrise ausgesetzt sahen (wenn auch nur potenziell) – werden als drohende Konsequenzen einer rot-grünen Arbeitsmarktpolitik gezeichnet. Merkel zeigt damit sehr eindrücklich, dass Framing in der Praxis der politischen Kommunikation zunehmend bewusst eingesetzt wird, um „durch bewusste Auslassung und Hervorhebung wünschbarer Situations- und Sachverhaltsdeutungen bei den Adressaten persuasiver Botschaften zu erzeugen“ (Marcinowski 2014). In diesem Sinne sind Frames und der Ansatz des Framings in der politischen Praxis angekommen. Sie werden als bewusste Kommunikationstechnik eingesetzt, um die potenziellen Wähler*innen zu überzeugen. Gerade in der Krisenkommunikation spielt das Framing dabei eine entscheidende Rolle, wie sich beispielsweise in der Finanzkrise der späten Nullerjahre gezeigt hat (Völker 2017). Denn in akuten Krisensituationen, so Daniel Völker, haben sta-
58 2 Kontext: Zur Verortung der Thematik im politikwissenschaftlichen Diskurs tushohe Regierungsakteur*innen gute Chancen mit ihren Frames im öffentlichen Diskurs durchzudringen (2017: 29). Für ein Verständnis von Frames gilt es auch die Rezipient*innen-Perspektive zu reflektieren. Wie gelingt der Transfer gewünschter Frames in die Vorstellungswelt der Rezipient*innen? Eine zentrale Erkenntnis der Frame-Forschung lautet, dass Botschaften nur dann erfolgreich ankommen können, wenn sie mit den Erfahrungen der Rezipient*innen korrespondieren: „Inhalt und Struktur eines Frames, also die jeweilige Frame-Semantik, speisen sich aus unseren Erfahrungen mit der Welt. Dazu gehört die körperliche Erfahrung […] ebenso wie etwa die Erfahrung mit Sprache und Kultur“ (Wehling 2016: 28). Dabei gilt es zu berücksichtigen: „Die Rezeption der Botschaft wird durch Faktoren beeinflusst, die außerhalb dieser Botschaft liegen“ (Bussemer 2014: 135). Als dieses „außerhalb der Botschaften“ lassen sich die Erfahrungen und das Erfahrungswissen der Wähler*innen sowie die medialen und diskursiven Kontexte des Sprechaktes benennen. Gerade hier kann die Narrativanalyse den Framing-Ansatz sinnvoll ergänzen, da sie nicht allein die Sprachakte als isolierte Kommunikationsbestandteile in den Blick nimmt, sondern den kommunikativen und diskursiven Kontext in die Analyse einbezieht. Wie aber lassen sich Narrative von Frames unterscheiden? Zunächst hilft hier ein Blick auf die Gemeinsamkeiten, um die Unterschiede herauszuarbeiten. Ähnlich wie bei Narrativen haben wir es bei Frames mit einem doppeldeutigen Konzept zu tun, das sowohl eine Struktur als auch einen Prozess beschreibt. Erzählungen entstehen aus dem Erzählen, ebenso wie Frames durch den Akt des Framings in die Welt gesetzt werden. Frames lassen sich sowohl akteur- als auch strukturseitig beleuchten. Während Frames also Organisationsprinzipien bezeichnen, ist das Framing als (unbewusste) Handlung wichtig für die Interpretation des Geschehens. Framing ist ein dynamischer Prozess, in dem die Produzenten und die Empfänger von Inhalten Informationen in ein stimmiges und sinnhaftes Ganzes transformieren, indem sie auf bestehende und ihnen bekannte soziale, psychologische und kulturelle Axiome und Prinzipien zurückgreifen (Fischer 2003: 144). Die kognitionswissenschaftlich geprägte Framing-Forschung folgt der Annahme, dass nur zwei Prozent unseres Denkens einem bewussten Prozess folgen (Wehling 2016: 48). Der Großteil des Framings geschieht demnach unbewusst und bleibt im Verborgenen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob wir es mit informierten, gebildeten Bürger*innen zu tun haben – im Gegenteil seien wir alle den tieferliegenden Framing-Mechanismen unterworfen, so Wehling weiter (2016: 51). Wehling selbst zeigt hier den Weg in die Leerstellen der von ihr vorgeschlagenen Frame-Analyse, wenn sie konstatiert: „Sprache aktiviert Frames“ (2016: 66). Frames können demnach keine sprachlichen Konstrukte sein, wenn sie erst durch Sprache aktiviert werden. Gleichzeitig könnten mithilfe
2.5 Frames
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eines solchen Frame-Verständnisses keine Aussagen über die aktivierenden sprachlichen Muster getroffen werden, wenn der Fokus auf die passiv aktivierten Frames gelegt wird. Die Narrativanalyse widmet sich eben jenen sprachlichen Prozessen, die in der Lage sind, Frames zu aktivieren. Dazu nimmt die Narrativanalyse drei Kernbestandteile politischer Erzählungen in den Blick: Neben den metaphorischen Bezugsrahmen, die auch ein Kernbestandteil politischer Frames darstellen (Lakoff 1980), werden Narrative zusätzlich durch die Erzählsituation und die darin verhandelte Konfiguration konstruiert (vgl. Kapitel 4). Nur im Zusammenspiel dieser drei Aspekte werden politische Narrative zu einer sinnvollen Einheit. Frames und ihre Analyse lassen sich demnach in politische Narrative eingliedern. Sie sind Bestandteile politischer Erzählungen und die Frame-Analyse eine andersartig fokussierende Form der Untersuchung. Während jene die Deutungsund Sinngebungsprozesse sowie den Wandel von Bedeutungen im Wahlkampf ins Zentrum des Interesses stellen, untersuchen diese die kognitiven Mechanismen der Sinngebung. Um die Korrespondenzen zwischen Frames und Wertvorstellungen der Rezipient*innen verstehend zu analysieren, benötigen wir die Narrativanalyse. Sie gibt, wie die folgenden Kapitel zeigen werden, weitere Hinweise auf die metaphorische Natur derjenigen Sinneinheiten, die hier als Frames bezeichnet werden. Mitnichten stehen die Bedeutungen metaphorischer Bezugsrahmen fest, sondern sind Gegenstand sozialer Interaktionen und Aushandlungsprozesse. Fischer stellt fest, dass der Zugang zu einer Frame-Analyse über Erzählungen und ihre Erzähler erfolgt, und schlägt vor, dass Frames und ihre Bedeutungssysteme durch die Analyse der unterschiedlichen Geschichten der Beteiligten aufgedeckt werden können (2003: 145).
3 Perspektive: Über Methodologie und Methodik
Qualitative und interpretative Methoden in den Geistes- und Sozialwissenschaften, sehen sich heute einem besonderen Druck ausgesetzt. Gerade angesichts aktueller Debatten um Fake News und die Zuverlässigkeit öffentlicher Kommunikation müssen sich Ansätze, die sich auf die interpretative Aufschlüsselung von Sinn- und Bedeutungseinheiten stützen, neu beweisen. Dieses Kapitel dient der Reflexion des Standpunktes der Narrativanalyse und der theoretischen Erörterung ihrer spezifischen Wissensformen. 3.1 Erzählerische Herausforderungen „Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt“ (Christoph Ransmayer, Atlas eines ängstlichen Mannes). Um die politikwissenschaftliche Narrativanalyse methodologisch und methodisch einzurahmen, bedarf es einer genauen Bestimmung der Komplexität des Gegenstandes. Erzählungen lassen sich in zweierlei Hinsicht aufschlüsseln. Zum einen ist ihnen eine Doppelstruktur eigen, die hier zunächst näher beleuchtet wird: das Erzählen als Prozess und die Erzählung als Struktur. Zum anderen lassen sich innerhalb der im Diskurs auffindbaren Erzählungen verschiedene Ebenen ausmachen, die in der Analyse berücksichtigt werden müssen. Eine Darlegung dieser Komplexität muss sowohl der Methodologie als auch der Methode vorgeschaltet werden, um analytische Fallstricke im Vorfeld zu identifizieren und zu vermeiden. 3.1.1 Sprechprozess und Sprachstruktur Politische Narrative schieben sich in den Zwischenraum, den die Auseinandersetzung von strukturalistischen und intentionalistischen Ansätzen der Erforschung von Sprache hinterlassen hat. Zwischen diesen beiden Polen entfacht sich die Debatte, die als structure-agency debate in der Politikwissenschaft geführt wird (Hay 2002: 89-134). Die in dieser Debatte verhandelten grundlegenden on-
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Jarzebski, Erzählte Politik, Studien der NRW School of Governance, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31013-4_3
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3 Perspektive: Über Methodologie und Methodik
tologischen und epistemologischen Fragen lassen sich nahtlos auf den Narrativbegriff übertragen. Der Erzählbegriff besitzt einen dialektischen Charakter, wie durch die Handlung des Erzählens deutlich wird. Wer das Wort „erzählen“ verwendet, verweist implizit gleichzeitig auf das Erzählte. Narrative vereinen so den Sprechprozess und die Sprachstruktur. „In meinem Verständnis sind Narrative/Narrationen in jeder Ebene aktiv. So können sie kleine Alltagserzählungen (meine Identität als Grünen-Wähler) sowie gleichsam große gesellschaftliche Metaerzählungen (Verfassungspatriotismus) sein“, so etwa Frank Nullmeier über die bivalente Struktur von Narrativen (2006: 297). In der politischen Praxis finden sich zwei dominante Lesarten des Erzählbegriffs. Einerseits werden Narrative als Meta-Erzählungen klassifiziert (Turowski/Mikfeld 2014), die Identität über „Erzählgemeinschaften“ (Müller-Funk 2008: 321) organisieren. Narrative werden in diesem Sinne als verbindende, traditionsstiftende Diskurselemente verstanden, die kollektive Sinnmuster (Gadinger et al. 2014) bereitstellen. Dies ist etwa der Fall, wenn Peer Steinbrück von einer neuen Erzählung, die Europa fehle, spricht. Erzählungen bieten nach diesem Verständnis Orientierung in einer komplexen und kontingenten Welt. Sie strukturieren Diskurse und bilden dadurch Anknüpfungspunkte für politische Akteur*innen. Hier sind Narrative im Sinne einer sprachlichen Struktur oder eines „opus operatum“ zu verstehen (Viehöver 2006: 180). Narrative sind in dieser Dimension als Diskurse strukturierende Elemente zu bezeichnen, die sich durch Vielstimmigkeit auszeichnen und sich zu „bestimmten Zeitpunkten und in bestimmten Kontexten […] auf ihre Strukturen und Inhalte (deren Differenz und Veränderung)“ (Viehöver 2006: 181) hin untersuchen lassen. Somit können Erzählungen als Diskurselemente thematisch interpretiert, auf ihre inhaltliche Verortung und auf Anknüpfungen an bestehende kulturelle Muster wie Ideologien, Mythen, Weltbilder, wissenschaftliche Theorien, Werteordnungen, belief systems oder Traditionen dekonstruiert werden. Narrative als opus operatum entfalten ihre diskursive Wirkung durch das Wieder- und Weitererzählen verschiedenster Akteur*innen. Sie sind daher keine abgeschlossenen Entitäten, sondern wandeln sich stetig mit dem Diskurs. Andererseits kennt die Politikwissenschaft Narrative aus einer handlungstheoretischen Perspektive, wie sie vor allem in der interpretativen PolicyForschung unter dem Begriff des storytelling genutzt wird (Schön/Rein 1994; Hajer 1995; Stone 2002). Das Erzählen als Handlung wird dabei als grundlegende Kulturtechnik bezeichnet. So betont Niles (1999: 2), dass alles, was wir im Feld sozialer Sinnvermittlung ernst nehmen können, zu einem großen Teil auf den Geschichten basiert, die sich die Akteur*innen erzählen. Im Kern geht es somit um die komplexitätsreduzierende Funktion im Akt des Erzählens selbst.
3.1 Erzählerische Herausforderungen
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Komplizierte Sachverhalte werden in den Modus des Erzählens eingebunden und durch das Erzählen vermittelt, um sich und dem Gegenüber Klarheit über Handlungs- und (wie im hier diskutierten Falle) Wahloptionen zu verschaffen. In der Politik erscheint das Erzählen aus dieser Perspektive als strategisch genutzte Form der Kommunikation, die komplizierte Inhalte des politischen Prozesses handhabbar macht. Als sprachliche Handlungen oder „modus operandi“ (Viehöver 2006: 181; 2012: 69) bezeichnen Narrative hier den Sprechakt, den Prozess des Erzählens, in dem der Akt der Konfiguration im Mittelpunkt steht. Die Erzähler konfigurieren Ereignisse und Handlungen zu einem sinnhaften sprachlichen Konstrukt. Dabei stellen sie chronologische oder kausale Beziehungen zwischen den heterogenen Ereignissen und Handlungen her. Dieser Prozess kann durchaus strategisch motiviert sein, doch sind Erfolge im Sinne der Glaubhaftigkeit nie durch eine rationale Kalkulation bestimmter Erzählelemente garantiert. In dieser Prozessdimension lässt sich dennoch die strategische Verwendung narrativer Rhetorik im Wahlkampf analysieren. Somit rücken die Absichten des Erzählers, die Kontexte und die Adressaten der Rede in den Blick (Viehöver 2006: 181). Dieses Doppelverständnis von Narrativen ist konstitutiv für die Analyse politischer Erzählungen. Gerade durch ihre Zweiseitigkeit heben sich Erzählungen von Diskursen auf der einen und der Rhetorik auf der anderen Seite ab. Sie vereinen in sich beide Seiten der Sprache und stellen somit die originäre Andersartigkeit zu bestehenden Ansätzen der politikwissenschaftlichen Sprachforschung dar. Dabei soll die Analyse politischer Narrative nicht als Theoriesynthese oder gar als Königsweg vorgestellt werden, denn ohne die Erkenntnisse aus der Rhetorik- und Diskursforschung lässt sich eine Narrativanalyse nicht durchführen. Vielmehr stellt sie einen Versuch dar, beide Seiten der Erforschung von politischer Sprache in einem integrativen Ansatz zu verbinden. In der an Diskursen interessierten Analyse finden so die Akteur*innen als Erzähler wieder Gehör, wobei sie nicht allein auf ihren strategischen Zeichengebrauch reduziert werden. Grundlegend sollen Narrative also zunächst in zwei Dimensionen verstanden werden: erstens als sprachliche Handlungen und zweitens als sprachliche Strukturen.26 Durch diese Doppelperspektive durchbricht die Erforschung politischer Narrative die alte Dichotomie von Akteur und Struktur und nimmt die Sprache selbst zum Ausgangspunkt der Analyse (Gadinger et al. 2014). Beide Seiten des Narrativen finden auch in der Unterscheidung zwischen der Erzählung und dem Erzählen ihren Ausdruck. Beides sind voneinander zu unterschei26
Diese Zweiteilung orientiert sich an einer Unterscheidung, die auf Ferdinand de Saussure zurückgeht. Bereits an der Schwelle zum 20. Jahrhundert identifizierte de Saussure (2016) neben der langage, dem biomechanischen Vermögen des Menschen, sich in Worten auszudrücken, die langue und die parole. Unter langue versteht de Saussure eine Sprache, wie beispielsweise Deutsch oder Englisch, und unter parole hingegen den Akt des Sprechens.
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3 Perspektive: Über Methodologie und Methodik
dende Forschungsgegenstände, die sich stets aufeinander beziehen und nie losgelöst vom Gegenüber gedacht werden können. Es gibt keine Erzählung, die nicht erzählt wurde, und kein Erzählen, ohne das am Ende eine Erzählung entstünde. Forschungspragmatisch ergibt sich aus diesem Umstand immer die Notwendigkeit, den Gegenstand klar zu benennen. So kann sich die Narrativanalyse in Bezug auf die Wahlkampfsprache beiden Perspektiven widmen; in der Analyse muss die Trennung allerdings reflektiert werden. Es entsteht ein analytisches Springen zwischen den Dimensionen, das nicht zwingend einem planbaren Ablauf entspricht. Im Folgenden werden daher Vorschläge erarbeitet, wie die Narrativanalyse einem bestimmten Muster folgen kann, ohne dass die Sprünge vorher festgelegt sind. Wichtig ist hier zu erwähnen, dass mit diesen Vorschlägen kein „anything goes“ legitimiert werden soll, sondern dass der Versuch unternommen wird, der Komplexität des Gegenstandes Rechnung zu tragen. 3.1.2 Ebenen der Erzählung Nicht nur in der eingangs geschilderten Doppelstruktur aus Sprachprozess und Sprachstruktur wird die Komplexität von Narrativen deutlich. Betrachten wir die innere Struktur einer Erzählung, so werden verschiedene Ebenen sichtbar. Die Einteilung wie Benennung dieser Ebenen ist innerhalb der Erzähltheorie bislang nicht eindeutig geklärt.27 Zu Recht kann die Frage aufgeworfen werden, welche Erkenntnis eine weitergehende Differenzierung für die Politikwissenschaft bereithält. Als Antwort darauf lässt sich formulieren, dass sich in den unterschiedlichen Ebenen einer Erzählung der Konfigurationsprozess „der Realität“ sehr anschaulich darstellen lässt.28 Als Gegenstand der Analyse liegt den Forscher*innen zunächst der narrative Text bzw. die Erzählung vor. Sie bildet die erste Ebene und hat einen (oder mehrere) Erzähler*innen, der einem (oder mehreren) Adressat*innen eine Story mitteilt. Dabei unterliegt die Erzählung im Sinne der hier vorgeschlagenen politikwissenschaftlichen Narrativanalyse immer auch einer Konstruktionsleistung der Forschenden (vgl. Kap. 3.2.2). Im Gegensatz zu den Erzählungen der Literaturwissenschaft haben wir es in der Politik auf der Ebene der Sprachstruktur – also der Erzählung als Diskurselement – nicht mit abgeschlossenen Texten oder Werken zu tun. Vielmehr stehen wir vor einem angenommenen Narrativ, das im Forschungsprozess gewissermaßen als Hypothese den Ausgangspunkt der Erforschung bildet. Wenn der Forschungsgegenstand keine konkrete Rede oder Erklä27
28
Die Begriffsverwirrungen innerhalb der Narratologie betreffen vor allem die Beschreibung der Differenz von Erzählen und Erzähltem. Die Termini werden durch die Ebenen gemischt. Eine gelungene tabellarische Übersicht bieten Martinez/Scheffel an (2012: 28). Zur heuristischen Erschließung des Konfigurationsprozesses siehe Kapitel 4.3.
3.1 Erzählerische Herausforderungen
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rung, kein TV-Auftritt oder Werbespot und damit keine einzelne Erzählung ist, so sind wir gezwungen, das Narrativ als Diskurselement zu benennen bzw. festzulegen. Im Akt der Benennung ist die Konstruktion bereits angelegt, wodurch die Dialektik der Narrativanalyse offenkundig wird. Der Gegenstand der Forschung wird also durch die Analyse gewissermaßen erst geschaffen. Auf der zweiten Ebene der Erzählung finden wir die Story. Die Story markiert den Inhalt des Textes, der das Geschehen auf eine jeweils spezifische Art und Weise darstellt. Hier werden Ereignisse in eine logische und/oder zeitliche Beziehung zueinander gesetzt. Die Story markiert also das kreative Moment des Erzählprozesses und zeigt unterschiedliche Konfigurationen von Ereignissen auf. Nun können unterschiedliche Stories über dasselbe Geschehen vorliegen. In diesen unterschiedlichen Storys sehen wir die Diversität der Intentionen, Hintergründe, Zwänge und Ziele, die die Erzähler*innen mit ihren Erzählungen implizit wie explizit verfolgen. Der Begriff der Story ist in der Politikwissenschaft bereits bestens bekannt, ist er doch seit einiger Zeit fester Bestandteil der interpretativen Policy-Forschung (Kaplan 1986, Fischer/Forester 1993, Patterson/Monroe 1998, Hajer 2004). Stories werden dabei in der Regel mit Narrativen gleichgesetzt. Somit entfällt die hier angestrebte Differenzierung der verschiedenen Ebenen, die in erster Linie in den Literaturwissenschaften vorgenommen wird. Stories und Narrative setzen sich in einer weiteren Ebene aus Ereignissen zusammen, die die „elementare Einheit eines narrativen Textes im Bereich der Handlung“ (Martinez/Scheffel 2012: 27) darstellen. Auf der Ebene des Ereignisses findet der Forscher die „realen“ Begebenheiten. Im Sinne der konstruktivistischen Prämissen dieser Arbeit (vgl. Kapitel 3.2) ist uns diese Realität nur über die Sprache zugänglich. Daher werden bisweilen Differenzen in Narrativen offensichtlich, etwa wenn zwei Akteur*innen voneinander abweichende Konfigurationen der Ereignisse anbieten (Breithaupt 2012). Zur Verdeutlichung der verschiedenen Ebenen dient ein Auszug aus Angela Merkels Rede beim 25. Parteitag der CDU am 05.12.2012: Die CDU-geführte, christlich-liberale Bundesregierung ist die erfolgreichste Bundesregierung seit der Wiedervereinigung, weil wir mit dem tiefsten Stand der Arbeitslosigkeit seit 1990 und dem höchsten Stand der Erwerbstätigkeit, den wir jemals hatten, für Millionen Menschen und Familien Arbeit und Sicherheit geschaffen haben (Merkel 2012a).
Die Erzählerin dieses narrativen Textes ist Angela Merkel, die CDU-Mitglieder, FDP-Mitglieder als mögliche Koalitionspartner*innen, die Presse und durch diese die Öffentlichkeit (in dieser Reihenfolge) adressiert. Bewusst wurde hier zur Illustration ein in sich abgeschlossener Text genutzt. Die Story, die Merkel präsentiert, ist die des Erfolgs auf dem Arbeitsmarktsektor. In dieser Story werden
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3 Perspektive: Über Methodologie und Methodik
bestimmte Charaktere installiert, die für diesen Erfolg verantwortlich seien. So taucht die christlich-liberale, von der CDU geführte Bundesregierung in der Rolle der Protagonistin – der Heldin – auf, die für Arbeit und Wohlstand sorgt. Die Erzählerin Merkel konfiguriert dadurch eine Story, die sich in folgende bedeutende Sequenzen aufgliedern lässt: Wiedervereinigung – Erhöhung der Beschäftigungszahlen – Verringerung der Arbeitslosenquote – Schaffung von (Teilzeitund Niedriglohn-)Arbeit – Schaffung von Sicherheit. Die darauf folgende Ebene der Ereignisse ist nun notwendiger Weise interpretationsoffen. Wo und wann beginnt die Wiedervereinigung? Was definieren wir hier als „arbeitslos“? Was bedeutet Sicherheit? In diesen Fragen zeigt sich, dass entlang solcher vermeintlichen Fakten und Ereignisse politische Deutungskämpfe ausgetragen werden. Die Ereignisse sind also mitnichten klar und deutlich, sondern letztlich immer nur als Teil einer Story zugänglich. Diese kurze Illustration zeigt, dass sich politische Narrative in ihrer Bezugnahme auf die realweltlichen Ereignisse hin strukturieren. Sie verweisen nicht nur auf eine angenommene Realität, sondern stellen diese vielmehr über die Praxis des Erzählens her, die wiederum in eine kontextsensitive Erzählsituation eingebunden ist. Politische Narrative sind demnach das Ergebnis einer Verweispraxis. 3.2 Methodologische Zugänge „Auch für das Erzählen kann gesagt werden, dass es ‚den Gegensatz von Spiel und Ernst, Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit, Phantasie und Realität nicht ‚als einen unbedingten‘ behandelt. Es reicht ihm nicht ‚bis zum tiefsten Grunde‘ hinab, als ob die Fähigkeit und das Bedürfnis des Menschen, Geschichten zu erzählen, einer ursprünglicheren, unterhalb solcher Gegensätzlichkeiten liegenden Schicht des Daseins entstammt“ (Koschorke, Wahrheit und Erfindung, S. 16). Die interpretative Sozialforschung gewinnt ihre Überzeugungskraft nicht aus dem Rückbezug auf messbare Größen oder durch einen Abgleich mit „der Realität“. Vielmehr zeigt sie auf, wie sich Zusammenhänge rekonstruieren und verstehend analysieren lassen (Kleemann et al. 2013: 14). Dies gilt in besonderem Maße für die politikwissenschaftliche Narrativanalyse (Gadinger et al. 2014a, 2014b), die in der hier vorgestellten und angewandten Variante methodologisch vor allem von der Erzähl- und Metaphernforschung (Koschorke 2012, Junge 2010, 2014), wie auch von der Diskursanalyse (Viehöver 2006) und Praxistheorie (Bueger/Gadinger 2014) inspiriert wurde. Allen diesen Theorieschulen ist gemein, dass sie keine einheitlichen Forschungsmethoden vorgelegt haben, sondern sich in ihrer eklektizistischen Heterogenität ähneln. Sie verknüpfen jeweils
3.2 Methodologische Zugänge
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verschiedene Perspektiven zu einem Forschungszugang und versuchen somit Sozialtheorie als integrative Wissenschaft ernst zu nehmen. Das Verbinden verschiedener Theorieschulen wird in diesen Ansätzen als gewinnbringend angesehen. Die Narrativanalyse schließt sich hier an und nutzt die Vielfalt dieser methodischen und methodologischen Eklektizismen als Pool für die eigene Forschungsperspektive. Gerade in dieser Offenheit für die Diversität wissenschaftstheoretischer Prämissen liegt eine Stärke der Erzähltheorie. Ohne sich in starre Systeme einfrieden zu lassen, kann das Kontingenz- und Kontextbewusstsein und das damit einhergehende Vermeiden analytischer Gewissheiten und Fakten als Chance für eine ergebnisoffene Forschungsagenda gelten. Denn – so die forschungsleitende Überzeugung, die dieser Arbeit zugrunde liegt – wie kann die Analyse komplexer und fluider gesellschaftlicher Prozesse gelingen, ohne gleichzeitig das Bewusstsein für die Flüchtigkeit der Analyse zu formulieren? Im folgenden Kapitel werde ich das Methodenbündel beschreiben, dass geeignet ist, die Narrative des Wahlkampfes zu erforschen. Diesem liegt in Bezug auf das Wissenschaftsverständnis eine Nähe zum „interpretativen Paradigma“ (u.a. Nullmeier 1997) zugrunde, das in den unterschiedlichsten Ausführungen grob im Feld der „Qualitativen Sozialforschung“ (Bohnsack 2014, Flick 2016) zu verorten ist. Die Narrativanalyse verfolgt eine „Intensivierung von Forschungsanstrengungen im qualitativ-interpretativen Spektrum der empirischen Forschung“ (Dörner 2002: 23). Dabei wird an dieser Stelle weder auf die Debatte zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung Bezug genommen noch eine differenzierte Einordnung der hier vorgelegten Methodologie in die verschiedenen Schulen der qualitativen Politikwissenschaft verfolgt. Beide Debatten wurden an anderer Stelle ausführlich diskutiert (Nullmeier 1997). Außerdem erscheinen diese vor allem auf Identitätsbildung abzielenden Grenzziehungen, die sich in der Politikwissenschaft auch entlang methodologischer Fragen vollziehen, nicht zwingend zielführend, um die konkrete Forschungsarbeit voranzubringen. Dass diese Abgrenzungs- und Anlehnungsstrategien der „Sozialdimension von Zeichenoperationen“ (Koschorke 2012: 336) geschuldet sind, hat unter anderem Albrecht Koschorke überzeugend ausführen können (2012: 341-351). Stattdessen werden in diesem Kapitel einige grundlegende Gedanken über den Forschungsprozess und die Qualität sozialwissenschaftlicher Forschung formuliert, die im späteren Verlauf als Messlatte für die Analyse der Wahlkampfnarrative dienen sollen. Zudem gilt es, epistemologische Prämissen aufzustellen, die das der Arbeit zugrunde liegende Forschungsverständnis transparent machen. Das Kapitel folgt dabei grundsätzlich einem Prinzip von Patrick Jackson: „Methodologie ist verkörperte Philosophie [Übersetzung S.J.]“ (2006: 278). Die Methodologie ist eine Philosophie, weil bestimmte ontologische und epistemologische Grundentscheidungen gefällt werden. Sie ist weiterhin „ver-
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3 Perspektive: Über Methodologie und Methodik
körpert" („enacted“), da diese Annahmen konkreten Einfluss auf das Vorgehen in der Analyse haben. Daher ist die hier vorgelegte Methodologie als verkörperte oder auch praktisch gewordene Philosophie zu verstehen, die grundlegend auf die Analyse wirkt und somit ein wichtiger Teil des Forschungsprozesses selbst ist. 3.2.1 Wissen – Poetologische Prämissen Zunächst ist ein Blick auf die Programme der interpretativen Sozialforschung geboten, da hier hilfreiche Konzepte vorliegen, die sich zur Kontrastierung der Narrativanalyse eignen. Exemplarisch werden anhand bestimmter Teilaspekte die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen dem interpretativen Programm auf der einen Seite sowie der Erforschung politischer Erzählungen auf der anderen Seite dargestellt. Denn obwohl es zahlreiche Entwürfe für den Zugang zur Sprachlichkeit der Welt gibt, wurden wichtige Spezifika der Erzähltheorie bislang in der Politikwissenschaft nicht ausreichend methodologisch berücksichtigt. Nahtlos lässt sich die Erzähltheorie also nicht in die interpretative Sozialforschung eingliedern. Hierfür lassen sich zwei Gründe ermitteln: Erstens stehen sich epistemologische Grundannahmen teilweise entgegen. Wenn etwa die klassische Inhaltsanalyse – oder auch die objektive Hermeneutik nach Overmann (1993) – davon ausgeht, „dass jeder Text(-teil) einen ‚Inhalt‘, d.h. eine Bedeutung transportiert, und dass dieser ‚Inhalt‘ von der Inhaltsanalyse erschlossen werden kann“, so fehlt im Gegensatz zur Narrativanalyse „nach wie vor eine Auseinandersetzung mit einer Theorie der Bedeutungskonstitution“ (Glasze 2008: 196-197). Methodologisch wird in der Narrativanalyse demnach eine Zwischenstufe eingezogen, die die Bedeutung von Texten nicht als gegeben hinnimmt, sondern die Möglichkeiten der Entstehung von Bedeutung hinterfragt und näher ausleuchtet. Eben jene Bedeutungskonstitution zu erkennen gelingt wiederum nur, wenn „ungeachtet von Autorenintentionen Textmuster wirksam sind“ (Llanque 2014: 8). Entscheidend sind laut Willy Viehöver nicht „die Intentionen des Sprechers, sondern die durch Narrationen oder narrative Texte eröffneten Bezüge und deren Interpretationen sowie die durch sie entworfenen möglichen Welten“ (2012: 72). Narrative sind also durch ihren spezifischen Aufbau und ihr Vermögen zur Strukturierung von Bedeutung von Interesse für die Politikwissenschaft. In der Narrativanalyse wird nicht nach einem ontischen oder „wahren“ Inhalt der Texte gesucht, sondern nach bereits vor der Formulierung aktiven Sinnmustern. Sie folgt der Poetologie des Wissens, die in jüngster Vergangenheit prominent von Joseph Vogl (1997) vertreten wurde. Die Poetologie des Wissens besagt, „dass jede Wissensordnung bestimmte Darstellungsoptionen ausbildet,
3.2 Methodologische Zugänge
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dass in ihrem Inneren besondere Verfahren wirksam sind, die über die Möglichkeit, über die Sichtbarkeit, über die Konsistenz und die Korrelation ihrer Gegenstände entscheiden“ (Vogl 2008: 13). Aus dieser These ergibt sich: Wir können nur so über den Bundestagswahlkampf 2013 nachdenken, wie wir es einerseits kulturell gelernt haben und wie es andererseits wissenschaftlich und medial vorgezeichnet ist. Die Sichtbarkeit politischer Narrative im Wahlkampf ist vor allem deshalb nicht gegeben, da sie bislang nicht zu den bekannten „Wissensobjekten“ (Vogl 2008: 13) gehörten. Oder in den Worten Vogls: „In diesen Operationen ließe sich die poetologische Kraft einer Wissensform erkennen, die nicht von ihrem Erkenntniswillen, nicht von der Art und Weise zu trennen ist, wie sie ihren eigenen Objektbereich sondiert, fasst und systematisiert“ (2008: 13). So werden beispielsweise in weiten Teilen der qualitativen Politikforschung „politische Entscheidungen und politisches Handeln sowie ihre Darstellung und Wahrnehmung als ein komplexer Interpretations- und (Re-)Konstruktionsprozess“ (Blatter et al. 2007: 17) aufgefasst. Allein die hier induzierte Trennung von Entscheidung und Handlung auf der einen und Darstellung und Wahrnehmung auf der anderen Seite, die zu den weit verbreiteten epistemologischen Grundannahmen einer an Sprache interessierten Wahlkampfforschung gehören (vgl. Kap. 2.2), erschwert einen Fokus auf die Performativität politischer Sprachhandlungen. In der Narrativanalyse wird versucht, eben diese Trennung begründet aufzuheben und die Performativität des Erzählerischen zu betonen. Dieser Perspektivwechsel radikalisiert die „sprachliche Analyse politischer Kommunikation“, da er annimmt, dass das Politische „unmittelbar szenisch organisiert“ ist (Vogl 2008: 20). Marcus Llanque formuliert die zentrale Annahme dieser narrativen Forschungsperspektive wie folgt: Hier wird von der Annahme ausgegangen, dass das narrative Element ein Strukturmerkmal des Politischen selbst ist. Demnach ist die Narration ein notwendiges Konstruktionselement des Politischen, und zwar in formaler Hinsicht, weshalb die poetologische Perspektive der Literaturwissenschaften die maßgebliche Disziplin für die Erforschung des Politischen zu sein scheint. Narrationen bieten aus dieser Hinsicht einen geradezu objektiven Einblick in die internen Aufbauprinzipien des Politischen ungeachtet des Autors der Erzählung, der Diskursivität ihrer Vermittlung oder den Bedingungen ihrer Rezeption (2014: 9).
Die Poetologie des Wissens interessiert sich als kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise demnach „für die Verfahren und Regeln […], nach denen sich ein historischer Diskurszusammenhang ausbildet […] und seine interne Ordnung stabilisiert“ (Vogl 2008: 13). Sobald wir diesem poetologischen Zugang folgen, gelangen wir zu neuen Einschätzungen bei der Deutung des Diskursgeschehens (Gadinger et al. 2014a). Wenn etwa Merkle in ihrer Untersuchung der Personali-
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3 Perspektive: Über Methodologie und Methodik
sierung und genderspezifischen Berichterstattung im Bundestagswahlkampf 2013 zu dem Ergebnis kommt, dass sich „keine […] Genderframes nachweisen“ (2015: 235) lassen, so weicht diese Interpretation fundamental von der in Kapitel 5 dargelegten Erzählung der „Mutti-Merkel“ ab. Diese ist im Gegenteil untrennbar mit einem weiblichen Referenzrahmen verknüpft, etwa dort, wo Merkel als „schwäbische Hausfrau“ oder „Kohls Mädchen“ tituliert wird. Die Vermutung liegt nahe, dass die unterschiedlichen Ergebnisse der Analyse auf einer abweichenden Codierung beruhen und somit methodische Gründe haben. Doch greift eine solche Erklärung zu kurz. Vielmehr scheint schon der Anspruch des „Nachweises“ bestimmter Frames einer narratologischen Untersuchung entgegenzustehen. Die Narrativanalyse formuliert ihre Erkenntnisansprüche deutlich defensiver, macht Angebote zur Interpretation, zeigt narrative Muster auf und zeichnet Deutungsmechanismen nach. Zweitens weicht, wie bereits an anderer Stelle angeklungen, das Vokabular der Erzähltheorie von den bekannten Termini der Sozialforschung ab und bedarf einer Übersetzung. Die (Begriffs-)Welt der kulturwissenschaftlich inspirierten Erzähltheorie muss aus dem Blickwinkel sozialwissenschaftlicher Forschung für die Analyse aufbereitet werden. Die genutzten Begriffe stehen dabei auf einem Fundament, das der Überzeugung folgt, dass Wissen „weder in den Disziplinen und Wissenschaften aufgehoben ist noch bloß lebensweltlichen Charakter besitzt, das vielleicht vorbegrifflich, aber nicht vordiskursiv ist, das verstreut und zusammenhängend zugleich erscheint und die diversen Textgattungen und Diskurse durchquert“ (Vogl 2008: 15). Diese allgemeine wissenstheoretische Aussage der Poetologie Vogls konkretisiert Albrecht Koschorke und wendet sie auf Erzählungen an. Er formuliert die Annahme, „dass Narrative ein wesentliches Element in der Organisation von Wissensordnungen sind. Demnach stehen Erkennen und Erzählen nicht, wie es das klassische Ideal von Wissenschaftlichkeit nahelegt, zwingend in Widerspruch. Narrative Techniken sind auf mehreren Ebenen der Wissensproduktion wirksam“ (Koschorke 2012: 329). Beide Autoren betonen, dass sich das Wissen nicht nur nach dem Inhalt des untersuchten Materials orientiert, sondern auch die Form seiner Vermittlung und darüber hinaus in besonderem Maße die Möglichkeiten seiner Entfaltung berücksichtigt. Diese epistemologische Grundannahme vermeidet Grenzziehungen bei der Auswahl von Material und Gegenstand und ist somit vor allem für eine kulturwissenschaftlich interessierte Politikwissenschaft von Interesse. Wissen entfaltet sich folglich transdisziplinär und transsektoral sowie auf die verschiedensten Träger verteilt. So erhält nicht nur ein erweiterter Textbegriff (Kristeva 1972) Einzug in die Analyse politischer Zusammenhänge, sondern es wird auch eine alternative Konzeption der Analyse empirischen Materials vonnöten. Der Begriff der Poetologie spielt dabei eine zentrale Rolle, bezeichnet
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er doch die Aufhebung einer epistemologischen und forschungspragmatischen Trennung aus Fakt und Fiktion. Durch die Performativität narrativer Praktiken ist es gerade die Fiktion, die als wirkmächtige Kategorie in die Analyse drängt. Dies gilt vor allem, da das Faktische uns ebenso fiktiv erscheint wie das Fiktive eine faktische Kraft besitzt. Neben der Poetologie des Wissens ist auch das Projekt „Poetologie der Körperschaften“ diesen Schritt gegangen und hat in der ersten Hälfte der 2000er Jahre mit den Studien zum „fiktiven Staat“ (Koschorke et al. 2007) und den „Metaphern der Gesellschaft“ (Lüdemann 2004) den Bruch zwischen beiden Welten vollzogen. Wissen selbst wird hier als Narrativ verstanden, dass stets offen für neue Interpretationen ist (Johnson 2008: 481). Somit wird das Wissenswerte neu konzeptualisiert. Ziel der Poetiken ist es also nicht, die Bedeutung aus den Texten herauszukristallisieren, sondern sich den Möglichkeiten und Bedingungen der Bedeutungskonstruktion zu widmen. Sie zielen nicht auf eine immer exaktere Interpretation von Texten, sondern fragen danach, wie eine bestimmte Wirkung durch den Text erzielt werden konnte. Jonathan Culler fasst diese Differenzierung folgendermaßen zusammen: „Es ist etwas grundsätzlich anderes, ob man Bedeutungen und Wirkungen zu seinem Ausgangspunkt macht (Poetik) oder ob man darauf hinarbeitet, Bedeutung zu finden (Hermeneutik)“ (2002: 91-92). Dieser Unterscheidung schließt sich die Narrativanalyse an und tendiert dabei zu den Poetologien als Orte eines kritischen Verstehens der Konstruktion von Sinnstrukturen. 3.2.2 Das Erzählen der Forschenden – methodologische Reflexion Das Forschungshandeln und im besonderen Maße das Verfassen einer wissenschaftlichen Arbeit unterliegen dem Primat des Erzählens. Diese Erkenntnis wurde prominent von Hayden White in die Geschichtswissenschaft eingeführt. White präsentierte in seiner Metahistory (1973a) erstmals den Gedanken, dass die Geschichtsschreibung ihr Wissen auch im Gewand der Erzählung vermittelt. Nach White kombinieren Geschichtsschreibungen „eine bestimmte Menge von ‚Daten‘ [zu den Geschehnissen], theoretische Begriffe zu deren ‚Erklärung‘ sowie eine narrative Struktur, um ein Abbild eines Ensembles von Ereignissen herzustellen, die sich in der Vergangenheit zugetragen haben sollen“ (2008: 9). Whites Metahistory und der darin vorgestellte Gedanke, dass Wissenschaft ihre Überzeugungskraft nicht allein aus ihrer Argumentation, sondern auch durch die gestalterische Kraft des Erzählerischen zieht, fand auch in der Politikwissenschaft Gehör, insbesondere in den Policy Studies (Somers 1994, Stone 2002). Dabei schließt sich die eingangs geäußerte epistemologische Grundüberzeugung Joseph Vogls an Whites Vorstellung einer „Poetik der Geschichte“ an. Die Differenz zwischen „realistischen und fiktionalen Diskursen und damit auch zwi-
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schen historischen und fiktiven Erzählungen“ sieht er als graduell, nicht aber als substanziell an (Nullmeier 2014: 51) und postuliert im Anschluss an Deleuze: „Wissenschaft und Poesie sind gleichermaßen Wissen“ (Vogl 2008: 15). Was aber kennzeichnet dann die narrativen Formen der Wissenschaft, das Erzählen des Forschenden und welchen Beitrag können sie zum vorliegenden Erkenntnisinteresse leisten? Nach Koschorke sind Erzählungen „ihrer Tendenz nach holistisch“ und „dem Assoziationsreichtum natürlicher Sprache näher“, als es die bisweilen sperrige Wissenschaftssprache sein kann (2012: 337). Erzählungen bewegen sich in einem Referenzrahmen, der weitaus alltäglicher ist, als ihn die ausdifferenzierten und hoch spezialisierten Sozialwissenschaften oftmals bereithalten. Wissenschaftserzählungen können folglich eingängiger in den eigenen Erfahrungshorizont integriert werden. Genau darin liegt jedoch ein zentrales Problem der narrativen Wissenschaft. „[K]eine Wissenschaft, die Welterkenntnis sein will, kommt ohne eine Form von verbindlicher Referenzialität aus, die sie über die Gefahr eines mentalen oder kulturellen Solipsismus hinwegrettet“ (Koschorke 2012: 338). Für die politikwissenschaftliche Narrativanalyse von Wahlkämpfen bedeutet dies, dass wir nicht allein in der eigenen Vorstellungswelt des erzählenden Forschers verhaftet bleiben dürfen. Vielmehr ist eine Reflexion der eigenen Forschungsleistung notwendig. Umgekehrt darf jedoch nicht der Fehler begangen werden, die Unzuverlässigkeit des Erzählens als Ausschlusskriterium für die Möglichkeit des Wissenstransports heranzuziehen, denn gerade diese Unzuverlässigkeit ist es, die „symptomatisch für den Wirklichkeitssinn von Kulturen im Ganzen“ (Koschorke 2012: 338) stehen kann. Die Narrativanalyse erzählt demnach ihren Gegenstand. Davon können sich auch die Naturwissenschaften nicht frei machen, wenn sie zur Präsentation ihrer Ergebnisse narrative Muster bemühen (Müller-Funk 2008: 41, vgl. auch grundlegend Knorr-Cetina 1981). Für die textbasierte Politikwissenschaft gilt dies gleichermaßen. Wie bereits angeklungen bedarf es einer methodologischen Reflexion, um die analytischen Schritte nachvollziehbar offenzulegen und einen „epistemologischen Bruch“ (Diaz-Bone 2006: 76) zu vollziehen, der sich von der Alltagserkenntnis abgrenzt, ohne die Rationalität des Alltäglichen dabei auszuklammern. In dieser Operation beschreibt Diaz-Bone den „kontinuierlichen Selbstverdacht“ (2006: 76), der immer nach der Außensicht strebe und somit die Analyse objektiviere, ohne den Zustand der Objektivität erreichen zu können. Im Rahmen der politikwissenschaftlichen Narrativanalyse ist diese Selbstreflexion zwingend erforderlich, um die Analyse über ein einfaches „Glauben und Meinen“ hinweg wissenschaftlich zu gestalten, [w]eil [eine] schlichte, uninterpretierte Sinneserfahrung wissenschaftlich keine Relevanz gewinnen kann, sondern weil wir dort, wo wir es mit wissenschaftlich rele-
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vanter Erfahrung zu tun haben, immer schon interpretierte, und d.h. sprachlich fassbare und formulierte, Sachverhalte vor uns haben (Bohnsack 2014: 15).
Ein Fokus auf Narrative in der Politik ist folglich ein Blick auf die (sprachlich vermittelten) sozialen Erfahrungen, aus denen sich das Politische kulturell destilliert. Demnach ist die Narrativanalyse Teil der empirischen Sozialwissenschaften und bleibt nicht allein in der Theorie verhaftet. Als Teil der Selbstreflexion gilt es aber, die eigenen Erfahrungen nicht systematisch aus der Analyse zu verbannen, sondern sie im Gegenteil als gewinnbringende Bestandteile in die Forschung einfließen zu lassen. [W]enn wir die kommunikativen Kompetenzen zu rekonstruieren versuchen, können wir das nur in Kommunikation und bedienen uns dabei eben der Vorverständnisse, der Vorverständigungen, die auf Einübung in gemeinsame Traditionszusammenhänge zurückgehen und in die die kommunikativen Kompetenzen immer schon eingebunden sind (Bohnsack 2014: 71).
Die eigenen (Vor-)Erfahrungen sind also explizit als Bestandteil des Forschungsprozesses anzuerkennen. Damit geht eine gewisse Subjektivität einher, der hier keine Absage erteilt werden soll. Vielmehr gilt es, die „Forscher/innensubjektivität“ reflektiert anzuerkennen und ihre Stärken wahrzunehmen. So müssen wir sie bei der „Themenfindung“, beim „Finden der Fragestellung“ und dem ersten „Auftauchen einer Hypothese“, bei der „Datenerhebung“ und der „Datenauswertung“ sowie schließlich bei der „Theoriebildung“ berücksichtigen (Reichertz 2015: 11-16). Zudem finde sich die Subjektivität auch im Prozess des Schreibens und des Lesens: Nie studiert man die Schriften anderer ohne Zorn und Eifer, immer hat man Vorlieben für bestimmte Autor/innen, weil sie so treffend, gelungen, wohlinformiert und dennoch nicht überheblich schreiben, oder aber man lässt die Arbeiten anderer links liegen, weil sie aufgebläht geschrieben und voll eitler Selbstbeweihräucherungen sind“ (Reichertz 2015: 18).
Der Forschungsprozess selbst wird geöffnet und nicht allein auf einen formalen Prozess begrenzt. Wie Glaser und Strauß bereits in ihrem Programm der Grounded Theory (1967) formulierten, ist der Forschungsprozess in letzter Konsequenz eingebunden in den Alltag. Die Grounded Theory lieferte aus wissenschaftstheoretischer Sicht bahnbrechende Erkenntnisse und konnte für die Offenheit des Forschungsprozesses an sich sensibilisieren, doch in der hier vorliegenden Arbeit wird dieser Weg nicht in vollem Umfang mitgegangen, um der Interpretation den Vorrang vor dem ethnologischen Nachzeichnen der Spuren zu geben. So wird dieser Arbeit weder ein Forschungstagebuch beiliegen, das die Gedanken im
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Prozess festhält, noch liegen Interviews oder Beobachtungen erster Ordnung zugrunde. Wichtig bleibt aber der Gedanke, „dass wir über intuitive Kompetenzen der Theoriebildung, der Theoriegenerierung verfügen, die es auszuschöpfen, zu systematisieren und weiterzuentwickeln gilt“ (Bohnsack 2014: 29). Wie bereits bei der Beschreibung der Poetologien zielt auch dieser epistemologische Schritt darauf ab, sich nicht von vornherein bestimmten Wissensquellen zu verschließen. Somit ist die Grounded Theory wichtig für die hier konzeptualisierte Methodologie, da sie die Alltagsrationalität mit in die Analyse einfließen lässt. Auch der Fokus auf die Theoriegenerierung ist für den hier verfolgten Weg von Bedeutung. Die politikwissenschaftliche Narrativanalyse strebt an, ihren Gegenstand verstehend zu analysieren. Damit setzen sich die Forschenden stets in eine Beziehung zum Objekt und nehmen eine performative Einstellung ein, d.h. sie werden zu virtuellen Teilnehmern des analysierten Geschehens (Bohnsack 2014: 132). Die zuvor reflexiv eingeführte Distanz muss somit immer relativiert werden, um über die Deskription hinaus auch eine Verstehensleistung zu erbringen. Als Ergebnis der Narrativanalyse steht also eine (wissenschaftliche) Erzählung über den Gegenstand. Die Analyse ist somit ein Angebot zur Interpretation der Erzählungen über die Ereignisse – ebenso wie der Ereignisse selbst –, die immer in eine gegenseitige Beziehung gesetzt werden. Die eigene Haltung zum Fall wird folglich nicht verschwiegen, sondern nur bestmöglich versucht auszublenden. Dabei bleiben die Narrativforschenden stets im Dilemma ihres eigenen Erzählens gefangen und der Zwang zur Darstellung der eigenen Analyse in Form eines Textes lässt sich nicht ablegen. Uwe Flick betont, dass die qualitative Sozialforschung diese Erkenntnis nicht mehr ignorieren kann und die „Bedeutung des Schreibens als konstitutiver Teil des Forschungsprozesses und nicht nur als Wiedergabe seiner Ergebnisse“ zunehmend berücksichtigt (2000: 193). Dadurch lässt sich mit Koschorke sagen: Glaubhaftigkeit, nicht Objektivität ist das entscheidende Erfolgskriterium. Sie kommt nicht allein dort zur Geltung, wo die empirischen Evidenzen lückenhaft sind, sondern auch wo sie einer deutenden Synthese bedürfen, die anders als erzählerisch nicht zu erzeugen ist“ (2012: 335).
Der Forschungsprozess lässt sich methodologisch in eine Reihe mit den „forschungsleitenden Gerüsten“, „analytischen Ansätzen“ und „Forschungsheuristiken“ stellen, die einer „lateralen Logik“ folgen und „als Instrumente der Beschreibung von Gegenstandsbereichen oder Interpretation von komplexen Phänomenen“ (Blatter et al. 2007: 30) dienen. Die Bundestagswahl 2013 wird analog zu diesen Ansätzen zum „konstruierten Fall“ im Sinne Flicks (2000: 190193), dessen Gegenstand sich erst durch den Forschenden selbst konstituiert. Die
3.2 Methodologische Zugänge
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in diesem Fall angebotenen Interpretationen sind somit immer auch Deutungen der Interpretationen der beteiligten Akteur*innen (Bevir 2006: 283). Auf einer methodologischen Metaebene lässt sich also mit Anthony Giddens von einer „doppelten Hermeneutik“ (1985) sprechen, die in der interpretativen und rekonstruktiven Sozialforschung mittlerweile kanonisiert wurde. Die Forschungsergebnisse erscheinen immer als „Narrationen über Narrationen“ (Biegon/Nullmeier 2014), als „Diskurse über Diskurse“ (Diaz-Bone 2006: 76) oder schließlich als „Rekonstruktion der Rekonstruktion“ (Bohnsack 2014: 27). 3.2.3 Das Reale – Zur Beziehung von Theorie und Empirie Eine der Kernfragen wissenschaftlicher Arbeiten, die sich im Umfeld poststrukturalistischer, konstruktivistischer und/oder praxistheoretischer Theorien bewegen, zielt auf die Möglichkeit, „das Reale“ nach dem Verständnis von Žižek oder die „Realität“ angemessen untersuchen zu können. Selbiges ist auch im Rahmen der Narrativanalyse fraglich. Der Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu finden, wird in diesem Abschnitt auch auf die Einordnung der Narrativanalyse in die Forschung, zwischen Sozialtheorie und empirischer Sozialforschung eingehen. Wie bereits angeklungen ist diese zwar bemüht, die Performativität des Erzählens und damit eine „reale“ Handlungsdimension ins Zentrum ihrer Analysen zu rücken, doch ist damit nicht geklärt, in welchem Verhältnis Narrative in ihrer Fiktionalität zum Realen stehen. Besehen wir uns die narrativen Praktiken der Aushandlung politischer Probleme, deren Möglichkeiten der Sinnvermittlung und Wirkmechanismen, so scheint eine Harmonisierung mit einem radikalen Konstruktivismus – wie von Foerster und von Glaeserfeld beschrieben – nur schwer vorstellbar. Die Narrativanalyse bemüht sich stets, den eingangs beschriebenen empirischen Bezug zu wahren und somit in ihrer Symbol- und Zeichenhaftigkeit gegenwärtig zu bleiben. Dabei besteht das Hauptproblem in der Anerkennung der Prozesshaftigkeit des Narrativen, die sich einer Objektivierung versagt. Die Objektivierung wiederum könne nur als „Effekt einer […] Fixierung“ (Glasze 2008: 186) von Differenz zwischen unterschiedlichen Elementen des Diskurses erreicht werden. Da aber der Moment der Fixierung immer eine Letztentscheidung beinhaltet, die wiederum der Prozesshaftigkeit entgegensteht, entstünde somit eine paradoxe Konstruktion. Deshalb ist es für Deleuze beispielsweise angezeigt, eine „Immanenzebene“ einzuziehen, die den Studien „Konsistenz verleih[t] ohne irgend das Unendliche preiszugeben“ (Balke 1998: 83). Aus diesem Paradox ausbrechen kann die Narrativanalyse nur, indem sie eine immaterielle Materialität der zu untersuchenden Narrative akzeptiert:
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3 Perspektive: Über Methodologie und Methodik Zur Wirklichkeit eines sozialen Geschehens gehört ja gerade das, was seine methodische Fixierung für die soziologische [und politikwissenschaftliche] Analyse notwendig macht – seine Flüchtigkeit. Aber eben mit seiner Fixierung büßt ein soziales Geschehen seine Flüchtigkeit ein (Flick 2000: 192).
Vor dieser Situation steht die Sozialforschung allerdings nicht allein. Selbst in der Physik finden sich ähnliche Probleme: In der Heisenbergschen Unschärferelation ist beispielsweise beschrieben, dass sich niemals Ort und Geschwindigkeit (Impuls) eines Teilchens zugleich exakt bestimmen lassen, da die Beobachtung in diesem Falle immer Einfluss auf die kleinsten Teilchen nähme (Scheibe 2006: 240-274). Auf die Sozialwissenschaften übertragen heißt dies: Wir können niemals die Flüchtigkeit (Geschwindigkeit) unserer sozialen Realität exakt in einer Fixierung (Ort) abbilden. Wendet man dieses Diktum nun auf die Politikwissenschaft im Allgemeinen und auf die Narrativanalyse im Besonderen an, so trifft eine Aussage von Stephan Lorenz über seine prozedurale Methodik den Kern des Problems: Eine prozedurale Methodik kann die Gesellschaftsdiagnostik empirisch aufschließen. Sie greift die Strukturproblematik der Unsicherheit reflexiv auf, indem sie sie zum methodischen Drehpunkt macht, das heißt sie auf sich selbst ebenso wie auf ihre Untersuchungsgegenstände anwenden kann. Sie schafft damit eine Reflexionsfolie – wenn man so will: Qualitäts- und Bewertungskriterien – für die empirische Forschungsarbeit selbst sowie dafür, inwieweit Unsicherheiten im Untersuchungsfeld empirisch prozessiert oder eliminiert werden beziehungsweise welche ,Abkürzungsstrategien‘ greifen (2007: 3).
Der epistemologische „blinde Fleck“ wird somit nicht wegargumentiert, sondern als wichtiger Filter der eigenen Forschung verstanden. Er entsteht nicht nur durch die Übersetzung einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Terminologie in das Vokabular und die Methoden empirischer (Sozial-)Wissenschaft, sondern ist darüber hinaus paradigmatisch für jegliche zeitgenössische Wissenschaftstheorie. Das bedeutet, so lebensweltlich und gegenständlich das Untersuchungsobjekt auch sein mag, der Weg zur Zuschreibung von Bedeutung und sozialen Beziehungen, von normativen Urteilen oder Problemdefinitionen bleibt uns nur über die Sprachlichkeit der Welt zugänglich. Die Narrativanalyse fokussiert eben diese Bedeutungszuschreibung und widmet sich der Rekonstruktion und den Mechanismen des Prozesses, in dem sich jene Bedeutung formt. Es ist also die Möglichkeit der Generierung von Sinn, der durch den Blick des Forschenden nachgespürt werden soll. Zwar bleibt dieser Prozess sprachlich vermittelt, doch nicht zwingend abstrakt, denn die Sprachlichkeit der sozialen Sinnvermittlung hindert uns nicht, selbige zu akzeptieren und die performativen Handlungen genauer unter die Lupe zu nehmen. So rückt nicht das Ob, sondern
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das Wie der narrativen Konstruktion von Sinn in den Mittelpunkt des Interesses: Wie entstehen im Wahlkampf Bedeutungsmuster, deren Aufdeckung uns Einblick in Machtbeziehungen geben können? Mit Lorenz lässt sich also festhalten: Vorerst jedenfalls erscheint dieser Weg als äußerst fruchtbar, weil er recht heterogene Methoden und Forschungsanforderungen zusammenzuführen erlaubt. Darüber hinaus liefert er besondere Qualifizierungskriterien für die Forschungsarbeit. Diese ergeben sich daraus, dass ein solcher methodologischer Ansatz einen reflexiven Anschluss an die zeitgenössische Gesellschaftsdiagnostik findet, da er mit ihr ein zentrales Strukturproblem teilt, nämlich die Frage nach dem Umgang mit uneindeutigen Anforderungen und kontingenten Optionen, kurz: mit Unsicherheit (2008: 2).
Es ist genau diese Unsicherheit, die in zweierlei Hinsicht eine Erforschung von Narrativen erschwert: Erstens bleibt der zuvor beschriebene blinde epistemologische Fleck bestehen und zweitens sind die Ereignisse, die Gegenstand der Analyse sind, selbst in höchstem Maße kontingent und diffus. Anders als in der Objektiven Hermeneutik hat die Narrativanalyse also nicht in erster Linie „den Anspruch das sozial Unbewußte – ‚latente‘ soziale Sinnstrukturen – herauszuarbeiten (die nicht vollständig psychisch repräsentiert sind)“ (Bohnsack 2014: 73), sondern versucht darüber hinausgehend, die Möglichkeiten für diese Sinnstrukturen und damit auch deren Vermachtung zu thematisieren. Der Sinn ist somit wie eingangs erwähnt nicht einfach im Text auffindbar, sondern wird erst in der Rekonstruktion der Beziehungen verschiedener narrativer Elemente erkenn- und dadurch analysierbar. Der Narrativanalyse liegt demnach kein „methodologischer Realismus“ zugrunde, wie er von Oevermann (1993) in der Objektiven Hermeneutik dargelegt wurde. Hier liegt eine Hauptunterscheidung zu dieser breit rezipierten qualitativen Methode. In der Objektiven Hermeneutik wird „[n]icht nur die (untersuchte soziale) Realität […] ungetrübt von konstruktivistischen (Selbst-)Zweifeln als gegeben unterstellt, sondern auch der Charakter der rekonstruierten Strukturen als objektiv gegebene Realität angenommen“ (Bergmann, zitiert nach Flick 2000: 190). Diesen Annahmen wird hier mit Flick widersprochen und für eine sozialkonstruktivistische Lesart politischen Handelns plädiert: Weder wird die untersuchte Realität als gegeben unterstellt noch die eigene Rekonstruktion – sprich das eigene wissenschaftliche Narrativ – als objektiv bezeichnet. Flick benennt hierzu in Abgrenzung zur Objektiven Hermeneutik „drei konstruktivistische Einbrüche“: Erstens gibt es verschiedene sprachlich vermittelte „Wirklichkeiten als Versionen der Welt auf Seiten der Beteiligten“, zweitens sind auch wissenschaftlich erhobene Daten konstruiert und drittens bleibt der Nachweis einer objektiven Wirklichkeit fraglich (Flick 2000: 193). Die untersuchte soziale Realität wird nicht als gegeben unterstellt, sondern als einzig durch den Blick des Forschenden zugänglich charakterisiert.
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Die Narrativanalyse bietet also eher ein Interpretationsangebot, das auf einem notwendigerweise ausschnitthaften, weil durch den Forscher selbst konstruierten Fall beruht. Folglich ist auch der Begriff der Objektivität mit der Analyse von Erzählungen nur schwerlich vereinbar und in diesem Sinne auch nicht erstrebenswert. Nur eine Geschichte aus der Masse der Erzählungen als gültig herauszuheben hieße, andere zu marginalisieren und ihren möglichen Gehalt nicht ernst zu nehmen. Darüber hinaus liegt in der Beschränkung auf eine gültige Geschichte immer auch ein fatales, totalitäres Potenzial, wie die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie in ihrem breit rezipierten TED-Talk unter Bezugnahme auf die narrative Verhandlung von Einwanderergeschichten betonte (Adichie 2009). Adichie warnt vor der Gefahr monolithischer, nicht kritisierbarer erzählerischer Deutungen, die die Entfaltung von Freiheiten einengen. Sobald von türkischen, italienischen und griechischen Migrationen und Migrant*innen in Deutschland nur in einem gastronomischen Kontext als „Gemüsehändler“ oder „Pizzabäcker“ gesprochen wird, bleiben ihnen bestimmte Lebens- und Karrierewege versperrt. Während dann der unbeholfene Versuch, auf Italienisch Pasta zu bestellen, folkloristisch überhöht wird, gerät Ingo Zamperoni, der Sohn italienischer Einwanderer, in die Kritik, sobald er in den Tagesthemen in seiner Muttersprache der italienischen Nationalmannschaft im Spiel gegen die deutsche Glück wünscht.29 Für die Narrativanalyse lässt sich mit Bohnsack ein „untrennbarer Zusammenhang von Theorie und Beobachtung bzw. Theorie und Empirie“ (2014: 30) feststellen. Weder bleibt die Narrativanalyse im Stadium reiner Theorie verhaftet, noch lässt sie sich einfach als reine Erfahrung vorfinden. Das Verhältnis aus Theorie und Empirie kann nur gemeinsam gedacht werden, da die hier oft überbetonte Differenz selbst dem Forschungsprozess inhärent ist. Geeigneter ist eine Unterscheidung zwischen den Beobachtungen erster und zweiter Ordnung, wobei die Narrativanalyse in letztere Kategorie gehört. So gilt: „Eine Theorie ist ihrem Gegenstand nur angemessen, wenn sie aus ihm heraus entwickelt worden ist“ (Bohnsack 2014: 32). Ohne die Empirie oder die praktische Dimension des untersuchten Gegenstandes ist folglich eine theoretische Entwicklung der Erzählungen des Wahlkampfes nicht zu leisten. Für die vorliegende Arbeit lässt sich feststellen, dass hier aus der Theorie abgeleitete Handreichungen zur Rekonstruktion eines Falles geleistet werden. 29
In der Halbzeitpause des Halbfinales zwischen Italien und Deutschland bei der FußballEuropameisterschaft der Männer: „Und beenden möchte ich diese Tagesthemen aus gegebenem und auch aus persönlichem Anlass mit Worten des italienischen Dichterfürsten Dante: ‚Das Gesicht verrät die Stimmung des Herzens‘. Ich weiß jetzt nicht, was Ihnen mein Gesicht verrät, aber seien Sie versichert, dass ich innerlich ziemlich zerrissen bin. In diesem Sinne: ‚che vinca il migliore‘ – möge der Bessere gewinnen.“ Zu diesem Zeitpunkt stand es 2:0 für Italien.
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Zusammenfassend lassen sich an dieser Stelle fünf Kriterien für die Narrativanalyse ermitteln, die Colin Hay (2002: 251, Übersetzung: S. J.) in Bezug auf die kritische Policy-Analyse als wünschenswerte Eckpunkte festgelegt hat. Diese solle 1. 2. 3. 4. 5.
empirisch, nicht aber empiristisch sein, ein ausgewogenes Verhältnis von Akteur*innen und Strukturen berücksichtigen, einen inklusiven Politikbegriff vertreten und ebenso inklusiv mit außerpolitischen Faktoren umgehen, aufmerksam bezüglich der womöglich ursächlichen und grundlegenden Rolle der Ideen im sozialen, politischen und ökonomischen Kräftespiel sein, und vor allem aufmerksam gegenüber der Kontingenz, Offenheit und inhärenten Unberechenbarkeit sozialer, politischer und ökonomischer Systeme sein.
Hays Quintessenz scheint, obwohl für die Policy-Analyse formuliert, passgenau auf die Analyse politischer Narrative projiziert werden zu können. Die Narrativanalyse soll gerade deshalb weiterhin als empirische Sozialforschung gelten, obwohl sie in besonderem Maße mit den kulturwissenschaftlichen Poetologien und Erzähltheorien sympathisiert. Diese bleiben letztlich begriffliches Fundament und Ausgangspunkt für die Analyse politischer Prozesse. 3.3 Methodische Überlegungen „This is what keeps interpretive methods from being a subfield of qualitative methods: The two increasingly do not live under the same philosophical umbrella when it comes to their respective procedural enactments of assumptions about the reality status and knowability of their subjects of inquiry“ (Yanow/Schwartz-Shea, Interpretation and Method, xv.). Ausgehend von den zuvor dargelegten wissenschaftstheoretischen Prämissen wird im folgenden Abschnitt das methodische Vorgehen erläutert. Dafür ist es wichtig, das Forschungsziel erneut in Erinnerung zu rufen: Die vorliegende Arbeit soll die Anwendbarkeit und die Relevanz der politikwissenschaftlichen Narrativanalyse für die Wahlkampfforschung anhand exemplarischer Fälle überprüfen. Dazu werden die in Kapitel 3 formulierten definitorischen und methodologischen Vorarbeiten mit den in Kapitel 4 dargelegten heuristischen Analyseschritten zu einer Forschungsmethode zusammengeführt. Das methodische Vorgehen
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gliedert sich dabei in drei Schritte auf. Als Erstes werden die konkreten Untersuchungsfälle und deren theoriegeleitete Auswahl dargestellt (1). Im Anschluss folgt die Beschreibung der Materialauswahl sowie der Korpuskompilation (2). Schließlich wird das interpretative Vorgehen in komprimierter Form zusammengefasst (3). 3.3.1 Theoriegeleitete Fallauswahl – Forschungspraktisches Vorgehen Aus dem zuvor dargelegten Verständnis einer Verzahnung von Empirie und Theorie wird nun in aller Kürze der dieser Arbeit zugrunde liegende Fall erläutert. In der Terminologie der Methodenliteratur qualitativer Sozialforschung kann das hier zur Analyse herangezogene empirische Material durchaus als Fallstudie bezeichnet werden. Allerdings werfen die bekannten Bezeichnungen in der genaueren Auseinandersetzung einige Fragen auf, die in diesem Kapitel diskutiert werden sollen. Zunächst ist fraglich, ob wir es mit einem „historischen Fall“ im Sinne Renate Mayntz‘ (2002) zu tun haben. Zwar können wir das Geschehen im Bundestagswahlkampf zeitlich eingrenzen und als die Phase von der Nominierung des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück am 01.10.2012 bis zum Wahltag am 22.09.2013 definieren, aber ist dies ein abgeschlossener und genau zu lokalisierender Fall? Im Verständnis einer diskursiven sprachlichen Struktur von Bedeutungszusammenhängen, die in ihrer Tendenz – wie bereits angeklungen – einen eher holistischen Charakter haben, bleibt fraglich, ob der Referenzrahmen des Bundestagswahlkampfes 2013 so festgelegt und eindeutig zu lokalisieren ist. Nur wenn wir von einem linearen Zeitbegriff ausgehen, ist der Wahlkampf als ein abgeschlossenes Gebilde zu bezeichnen (vgl. Kap. 1.2). Auch eine räumliche Begrenzung erscheint in Zeiten transnationaler Politik immer schwieriger durchzuhalten. Wie etwa lassen sich die Ereignisse in Afghanistan vor dem Hintergrund einer neueren Verteidigungsdoktrin der Bundesrepublik begründet ausblenden, wenn die narrative Konfiguration Peter Strucks, die sich in dem prominenten Ausspruch „Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“ manifestierte, so wirkmächtig werden konnte? Muss nicht ein zumindest rudimentäres Verständnis der Zusammenhänge in Afghanistan vorliegen, um eine Einordnung dieses Narrativs in die Wahlkampfkommunikation leisten zu können? Der Begriff des Referenzrahmens erscheint demnach den Fallbegriff sinnvoll zu ergänzen, wobei letzterer weiterhin Bestand hat. Auch Narrativanalysen konzentrieren sich auf „Phänomene, bei denen keine klare Grenze zwischen dem Phänomen und dem Kontext existiert“, und „sind durch ein Verständnis von Fällen als ‚Konfigurationen‘ gekennzeichnet; d.h. dem epistemologischen Ansatz und der spezifischen Methode liegt eine holistische Ontologie zugrunde“ (Blatter
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et al. 2007: 124). Beide Feststellungen stammen aus der Auflistung Blatters zu den diversen Definitionen dessen, was in der Politikwissenschaft als Fallstudie zu gelten hat. Interessant ist hier die nahtlose Anschlussfähigkeit des Narrativbegriffs an die vorgegebenen Definitionen. So kann der Analyse politischer Erzählungen – in Analogie zu Fallstudien – die Affinität für eine deskriptive Tiefenanalyse (Blatter et al. 2007: 126 ff.) nicht abgesprochen werden. Darüber hinaus sind Fallstudien laut Blatter (2011: 68) sogar in besonderem Maße dafür geeignet, Diskurse und soziale Prozesse, zu denen Narrative zählen, in ihrer Tiefe zu analysieren. Eine politikwissenschaftliche Narrativanalyse lässt sich unter diesen Maßgaben also problemlos als Fallstudie bezeichnen. Dennoch gibt es auch bedeutsame Unterschiede: So werden in der Narrativanalyse weder Effekte noch Mechanismen der Kausalität aufgespürt, sondern die Entstehungsmöglichkeiten dieser Mechanismen untersucht. Bei der Narrativanalyse wird daher die wissenstheoretische Grundannahme vorausgesetzt, dass es einen Einfluss narrativer Muster auf Kausalität gibt, die Kausalität selbst bleibt jedoch arkan. Die konkrete Konstruktion wird zum Gegenstand der Analyse. Wenn bei der Definition des Bundestagswahlkampfes also von einem „Fall“ die Rede ist, wird es spätestens bei der Begründung der Auswahl, die stets in der Logik der Fallanalyse erfolgen muss, kompliziert. Warum wird der Bundestagswahlkampf 2013 und nicht etwa der aus den Jahren 2005 oder 1972 auf seine Narrative hin untersucht? Oder warum nicht ein Landtagswahlkampf, etwa der in Bayern 1994? Zunächst einmal stellt Robert Stake (2005: 450) fest: „Intrinsic casework regularly begins with cases already identified”. Zudem gelte: „The cases are of prominent interest before formal study begins” (ebd.). Diese Aussagen passen für die Auswahl des Bundestagswahlkampfes 2013, als für diese Arbeit ein Gegenstand gesucht wurde: Er lag vor und war von bedeutendem Interesse in der Gesellschaft. Zwar erscheint diese Begründung verkürzt und in gesteigertem Maße pragmatistisch, doch auch Bates et. al. (1998: 13) stellten fest: „In effect, our cases select us, rather than the other way around“. Eine genaue Begründung der Fallauswahl dient in erster Linie positivistischen Argumenten, die sich auf eine objektivierte Vergleichbarkeit und potenzielle Generalisierungen stützen (Blatter 2011: 69). Für den hier zugrunde liegenden Fall kann stattdessen von einer intrinsischen Auswahl gesprochen werden. Spannender wird es bei der Frage, welche Teilaspekte des Falles beleuchtet werden sollen. Diese „cases within the case“ (Stake 2005: 451) beziehen sich auf die Frage der Datenauswahl. Durch das forschungspragmatische Vorgehen kommt dem Material also eine größere Bedeutung zu als der Auswahl des Falles selbst. Das Material dient nicht allein der Illustration zuvor gewonnener theoretischer Konzepte, sondern ist gerade in seiner performativen Qualität essenziell für deren Interpretation. Die Bedeutung wird – im Idealfall – nicht nur an das Mate-
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rial herangetragen, sondern entwickelt sich aus dem Material heraus. Die politischen Narrative, die in Kapitel 5 zur Illustration herangezogen werden, sind nicht allein Ergebnis eines Auffindens im Diskurs, sie sind der Diskurs. In einem iterativen Forschungsprozess lassen sich die analytischen Schritte demnach nicht immer trennscharf voneinander separieren. Nicht immer ist deutlich, ob zunächst der theoretische Gedanke oder das empirische Vorfinden vorrangig war. 3.3.2 Drei Diskursräume Materialgrundlage der Narrativanalyse sind „natürliche“ Aussageereignisse (Keller 2011: 87), d.h. Materialien, die nicht durch vorgefertigte Fragenkataloge (Einstellungs- und Meinungsforschung), experimentelle Studien (Verhaltensforschung), strukturierte Gruppendiskussionen (Sozialpsychologie) oder narrative Interviews (qualitative Forschung) generiert wurden, sondern im Forschungsfeld eigenständig entstanden sind. Da der Wahlkampf 2013 unzählbares Material dieser Art bereithält, ist es notwendig, eine weitere Eingrenzung vorzunehmen. Diese sollte im Sinne des theoretical sampling ein bearbeitbares Maß hervorbringen, ohne damit die Komplexität des Falles zu reduzieren. Hierzu schlage ich eine strukturierte, iterative Sammlung des Materials entlang dreier Diskursräume vor. Ausgehend von der Annahme, dass Wahlkämpfe nicht länger allein in den massenmedialen Kanälen entschieden, sondern zunehmend aus den formalen Kontexten abwandern und in alltäglichen Konstellationen verhandelt werden, wird in der vorliegenden Arbeit zwischen staatlichen, deliberativen und anarchischen Diskursräumen unterschieden (Yildiz et al. 2018). Der staatliche Diskursraum umfasst die narrativen Erzeugnisse des politischen Herrschaftskontextes. Dazu zählen neben klassischen Texten wie Regierungserklärungen und parlamentarischen Reden auch die kommunikativen Vorgänge der etablierten Politik in sozialen Medien wie Twitter oder Facebook. Mit dem zweiten Diskursraum wird die Materialsammlung um jene öffentlichen Kontroversen erweitert, die einem repräsentativen Wahlkampfdiskurs folgen und die politische Macht deliberativ begleiten. So werden hier in erster Linie journalistische Beiträge berücksichtigt, die als institutionalisierte Kritiken integraler Bestandteil demokratischer Willensbildungsprozesse sind. In diese Kategorie fallen neben Zeitungsartikeln und politischen Talkshows auch die Internetauftritte der großen Printmedien, Fernseh- und Rundfunkanstalten. Hinzu kommt drittens ein anarchischer Diskursraum, der sich von den ersten beiden in zweierlei Hinsicht unterscheidet. Zunächst lässt er kommunikative Akte ungefiltert zu und funktioniert dabei nahezu ohne Zugangsvoraussetzungen, etwa das als Blogosphäre bezeichnete Netzwerk semi-professioneller Textproduzenten (Bieber 2013). Außerdem kann in diesem Diskursraum nutzergeneriertes Material stu-
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diert werden, das einen Einblick in die narrative Logik des alltäglichen politischen Gesprächs erlaubt. Hier sind Tweets und Blogs von Privatpersonen ebenso zu nennen wie Werke der Street- und Web-Art-Szene. Dass daraus nicht zu unterschätzende Wirkungen auf den Wahlkampf hervorgehen, zeigt sich etwa am Beispiel der Veggie-Day-Debatte oder der unter #aufschrei geführten Diskussion, die als ein Baustein für das schlechte Abschneiden der FDP interpretiert wird (Niedermayer 2015: 122). Der Korpus der Arbeit wird durch eine explorative Suche nach narrativem Material in diesen drei Diskursräumen angelegt. Bestandteile sind natürliche Aussagen unterschiedlichster Textsorten, audiovisueller Materialen sowie kultureller Artefakte und Praktiken. Dabei unterliegt die Auswahl der Materialien (im Sinne des theoretical sampling) „theoriegeleiteten, also reflektierten Kriterien“ (Keller 2011: 90). Dies bezieht sich hier auf das Vorfinden narrativer Praktiken – also Metaphern, Identitätskonstruktionen und Konfigurationen von Zeitlichkeit. Zudem werden diskursanalytische Verfahren (Keller 2011; Herschinger/Renner 2014) in dieser Arbeit um den literaturwissenschaftlichen Begriff der Polyphonie (Michail Bachtin, vgl. Kap. 4.2) ergänzt. Dadurch wird die grundsätzliche Vielstimmigkeit von Diskursen unterstrichen und gleichzeitig das schöpferische Potenzial der Sprechenden bzw. Handelnden sowie deren Möglichkeit, Interessen und eigene Perspektiven auf die Welt zu artikulieren, betont (Couldry 2010: 2). Ein besonderes Augenmerk legt die Arbeit auf die beiden letztgenannten Diskursräume. Der Grund liegt in der Überzeugung, dass sich Bedeutungsstrukturen anhand kultureller Muster besser ablesen lassen, als dies im „artifiziellen“ Raum staatlichen Handelns der Fall ist. Zwar lassen sich auch aus den Materialien des staatlichen Diskursraums politische Erzählungen rekonstruieren, doch findet sich ein Großteil des Materials in deliberativen und anarchischen Quellen. 3.3.3 Material – Korpus Die größte Problematik bei der Identifikation des narrativen Materials, das schließlich zur Analyse herangezogen wird, ist die scheinbar grenzenlose Menge potenziellen Materials. Wenn alle Akteur*innen erzählen und Erzählungen Diskursstrukturen sind, die über die Politik hinausweisend kulturelle Muster bereithalten, kommt der Selektion des Forschungsgegenstandes eine bedeutende Rolle zu. Welche Erzählungen können wir gemäß einem tieferen Verständnis für eine Analyse nutzbar machen, ohne dabei entscheidende Aspekte zu vernachlässigen? Auf diese Frage kann im Sinne der politikwissenschaftlichen Narrativanalyse nur eine annähernde Antwort gefunden werden. Die zur Analyse ausgewählten Materialien stehen uns nicht einfach zur Verfügung, sondern müssen identifiziert und
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aufgespürt werden. Sie müssen ihre Bedeutung für die Analyse vielmehr selbst offenbaren. Schon der Bezeichnung des konkreten Gegenstandes der Narrativanalyse kommt durch das eingangs Gesagte eine gewisse Brisanz zu. Nutzt man den Terminus der Daten, so evoziert er unweigerlich eine technisierte und wohl auch quantifizierbare Größe. Der Begriff des Materials erscheint tauglicher, um sich mit Performativität, Kontingenz und Fluidität auseinandersetzen zu können, da er eine gewisse Rohheit impliziert, die den Eingriff des Forschenden erfordert. Erst durch den Zugriff des erzählenden Forschers kann aus dem Material der Gegenstand einer Narrativanalyse herausgeschält werden. Als Material wird dabei jedoch nicht die potenziell unendliche Vielheit der sprachlichen Aussageereignisse bezeichnet, sondern die bereits selektierten und zur Analyse herangezogenen Textformen. Zugrunde liegt ein erweiterter Textbegriff, der vor allem auf die materielle Dimension als Bedeutungsträger abzielt. Text meint hier in einer literaturtheoretischen Lesart die Gesamtheit der „mehr oder weniger abgeschlossenen Bedeutungseinheiten“ (Spoerhase 2011: 323), zu denen neben Zeitungsartikeln und Pressemitteilungen auch Videos, bildende Kunstwerke, Architektur, Street-Art usw. zu zählen sind. Beim Text handelt es sich demnach um alle kulturellen Materialien, die Bedeutung im politischen Prozess erlangen können. Gleich zwei prominente Beispiele für die Ausweitung des Textbegriffs als Bedeutungsträger im Wahlkampf lassen sich an Angela Merkel zeigen: Zum einen kam ihrer charakteristischen Handhaltung als „Merkel-Raute“ eine beinahe ikonographische Bedeutung zu und zum anderen gelangte der Halsschmuck, den sie im TV-Duell trug, als „Schlandkette“ zu einiger Berühmtheit. Beide Beispiele haben nicht nur anekdotischen Wert, sondern können im Sinne der Narrativanalyse als Textbestandteil einer Merkel-Erzählung dechiffriert werden. Seine Bedeutung erlangt der zu analysierende Text aber nicht allein durch die in ihm getroffenen Aussagen, „sondern in dem, was er tut“ (Culler 2002: 83). Es ist die Performativität des Textes, die Bedeutung stiftet und die zum Gegenstand der Narrativanalyse wird. Nur durch die Kombination aus Inhalt, Struktur und Performativität lässt sich eine Bedeutungskonstruktion erschließen (vgl. Lucius-Hoehne 2010: 588). Diese performative Ebene liegt nicht auf der Oberfläche des Textes, sondern wird ihm erst durch die narrative Rekonstruktion zugeschrieben. Im Moment der Interpretation steckt folglich ein Akt der Konstruktion. In dieser Sichtweise auf texthafte Materialien liegt ein weiterer Unterschied zur Objektiven Hermeneutik, denn in jener werden „Konstruktionsprozesse bei der Erstellung von Datenmaterial (programmatisch als Protokoll bezeichnet) völlig ignoriert“ (Flick 2000: 190). In der Narrativanalyse wird der Prozess des Erzählens als Forschungsstrategie als bedeutendes selbstreflexives Moment in die Analyse einbezogen (Nullmeier 2014).
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Wie bereits angeklungen entsteht das Forschungsmaterial erst durch den Zugriff des Forschenden. Dabei haben wir es im Fall der Narrativanalyse mit „natürlich entstehendem“ (Peräkylä/Ruusuvuori 2011: 529; übersetzt von S.J.) Material zu tun. Peräkylä und Ruusuvuori grenzen dieses von solchem Material ab, das beispielsweise aus Interviews gewonnen wird. Die vermeintliche Natürlichkeit des Materials der Narrativanalyse im Sinne von Peräkylä und Ruusuvuori bezieht sich dabei auf den Eingriff des Forschenden, wobei die Grenze zu geformten Gegenständen eher fließend als dichotomisch ist. Fraglich ist, wo der Eingriff des Forschenden größer ist und ob es lohnt, im Kontext dieser Arbeit eine normative Verortung vorzunehmen. Für die vorliegende Arbeit wird auf Interviews verzichtet, um dem erzählerischen Forschungsprozess den Vorrang zu geben. Zwar wäre es durchaus denkbar, Interviews mit beteiligten Akteur*innen aus dem Wahlkampf zu verwerten, doch würde solcherlei erhobenes Material auf andere Art und Weise narrativ untersucht werden müssen. Einen Vorschlag für diese Alternative unterbreitet beispielsweise Kleemann (Kleemann et al. 2013: 63-110). Hier wären es die Narrative der Beteiligten selbst und deren Verbindung zum Wahlkampfdiskurs, die Teil der Analyse wären. Da der Fokus aber auf den Möglichkeiten der Bedeutungszuschreibung durch Erzählungen liegt und sich diese diskursiv wie performativ zeigen, wird auf Interviews verzichtet. Aus den dargestellten Überlegungen ergibt sich für diese Arbeit: Die erhobenen Materialien sind textförmig und können ob der potenziellen Menge nur ausschnitthaften Charakter haben. Da es sich bei der Narrativanalyse – wie bereits erläutert – um eine Tiefenanalyse von Bedeutungsstrukturen handelt, wird die Menge des Materials durch den notwendigen Aufwand bei der Untersuchung selbst begrenzt. Es sind pragmatische, ressourcenbezogene Gründe, die eine Begrenzung des Materials erzwingen. Zieht man für die Narrativanalyse ein breites Spektrum an Datenträgern bzw. Materialformen heran, so wird deutlich, dass die Tiefe der Analyse negativ mit der Menge des Materials korreliert. Je tiefer die Analyse narrativer Strukturen greifen soll, desto weniger Material kann im Rahmen einer einzigen Forschungsarbeit als Gegenstand betrachtet werden. Dies gilt nicht allein für das im und durch das Internet entstehende Material (Gaffney/Puschmann 2013: 65), sondern auch für Filme (Heck/Schlag 2015). Die erhobenen Materialien sind des Weiteren nicht standardisiert, da sie nicht „in Form“ gebracht werden müssen. Vielmehr handelt es sich bei der Sammlung und Analyse des Materials um einen ständigen, iterativen Prozess, der sich bis zum Abschluss der Schreibarbeit erstreckt. Dies hängt auch mit der Unabgeschlossenheit politischer Prozesse zusammen, die immer einen direkten Einfluss auf „das Geschehen“ (vgl. Kap. 3.1) hat. Daher ist es geboten, mit einem „offenen Korpus“ zu arbeiten, um die Kontingenz eines Wahlkampfes abzubilden:
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Mit der Integration eines solchen ‚offenen Korpus‘ in das Forschungsdesign wird zudem einem Risiko der Arbeit mit homogenen und geschlossenen Korpora begegnet, welches darin liegt, dass die Analyse einseitig auf hegemoniale Diskurse abhebt und subalterne, marginalisierte Stimmen nicht gehört werden (Glasze 2008: 205). Wie Glasze (2008: 203 f.) hervorhebt, stoßen bei der Analyse narrativer Strukturen lexikometrische Verfahren an ihre Grenzen, da es nicht allein um eine Verknüpfung von Worthäufigkeiten geht, sondern die Qualität dieser Verbindungen interpretiert werden muss. Somit besteht ein Unterschied zwischen der poetologisch und diskursiv verfahrenden und an Performativität und Praxis des Erzählens interessierten Narrativanalyse und einer eher sprachwissenschaftlich orientierten Politolinguistik, die die Bedeutung auf Satz- und Wortebene sucht (Niehr 2014, Klein 2014). Die Arbeit mit dem Material vollzieht sich als ein stetiger Wechsel zwischen Mikro- und Makroperspektive, der in der Narrativforschung an anderer Stelle als „Zooming-In“ und „Zooming-Out“ beschrieben wurde (Nicolini 2009). Diese analytische Pendelbewegung wird benötigt, da politische Erzählungen in ihrer Mittelposition zwischen Diskursen auf der Makroebene und erzählerischen Praktiken auf der Mikroebene keiner der beiden Sphären zur Gänze zuzuordnen sind. Narrative teilen sich immer in das Erzählen und das Erzählte. Die untersuchten Erzählungen werden demnach stets eng am Material entlang entwickelt und gleichsam auf die narrative Gesamtstruktur bezogen. Die Arbeit nutzt dabei eine Form der Politikanalyse, die eher „das Mikroskop des sorgfältigen Interpretierens und detaillierten Observierens, als das Teleskop mit seinem Weitblick und seiner Fernbeobachtung” (Alexander 2014: 107 [Übersetzung S.J.]) wählt. Zur Annäherung an die Offenheit des Materials wurden verschiedene Recherchezyklen in den Forschungsprozess eingebaut. Zu Beginn stand eine explorative Suche nach relevanten Narrativen, die aussagekräftig für die diskursive Strukturierung des Wahlkampfes 2013 sind und die über eine ausreichende illustrative Kraft verfügen, um die Wirksamkeit politischer Narrative zu veranschaulichen. Bei dieser ersten Suche lässt sich das Feld sehr schnell auf zwei zentrale Erzählungen einschränken, die die beiden Spitzenkandidaten narrativ einkleiden: Die „Mutti-Merkel“ und der „Klare-Kante-Steinbrück“ sind nicht nur hochgradig metaphorisch aufgeladen, sondern darüber hinaus in der Lage, die Personalisierung des Wahlkampfes auf narrative Muster zurückzuführen. Diese beiden für die Untersuchung als zentral empfundenen Erzählungen sind in den bedeutsamen Wahlkampfinterpretationen aus den Reihen der Politikwissenschaft bislang nicht oder nur ganz am Rande untersucht wurden. Einzig Susanne Merkle (2015) nimmt sich im Rahmen ihrer quantitativen Medienanalyse in einem Absatz der „Mutti“-Metapher an, verweist jedoch auf eine nicht ausreichende
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Repräsentativität ihres Datenmaterials. Wird der Untersuchungszeitraum allerdings ausgeweitet, finden sich deutlich mehr Belegstellen für die „MuttiMerkel“-Erzählung. Gerade in Bezug auf die „Mutti“-Metapher lässt sich feststellen, dass wir „eine vergleichbare Metapherninflation, wie wir sie im Augenblick mit der ja kinderlosen Kanzlerin“ (Feltscher 19.05.2012) sehen, noch nicht erlebt haben. Zu berücksichtigen ist bei dieser Inflation allerdings die begrenzte Zahl derjenigen Interpreten, die dem deliberativen Diskursraum eine Stimme geben. Zwar umfasst der Materialkorpus über 500 Quellen, doch die zitierten Erzählstimmen, die als Interpreten des politischen Berlins die Tagespresse bestimmen, belaufen sich auf eine deutlich geringere Zahl. Auf der einen Seite kann dies als analytischer Bias bezeichnet werden und die Generalisierbarkeit der Aussagen erschweren. Andererseits illustriert diese quantitativ nicht näher verifizierte Nebenbeobachtung der Materialsammlung, dass Aussageereignissen der sogenannten Qualitätspresse eher aus traditionellen als aus inhaltlichen Gründen mehr Gehör geschenkt wird. Ausgehend von diesen beiden Erzählungen wurden mehrere iterative Materialsuchen gestartet, die sich zum einen auf eine Google-, Twitter-, Facebooksowie Youtube- und zum anderen auf Nexis-Abfragen der beiden Leitmetaphern stützen. Dieser offene Korpus dient als Grundlage für die Analyse der politischen Narrative des Bundestagswahlkampfes 2013.
4 Heuristik: Drei Kernelemente der Narrativanalyse
Nach den ersten Erörterungen zur Komplexität des Erzählbegriffs und den implizierten methodologischen Prämissen gilt es nun, ein heuristisches Grundgerüst für die Analyse politischer Erzählungen zu präsentieren. Dazu wird auf Basis der eingangs formulierten Problematik politischer Narrative im Wahlkampf eine theoretische Annäherung an die drei Kerndimensionen von Erzählungen angestrebt: Metaphern, Erzählinstanzen und Konfiguration. Um diese drei Begriffe gruppieren sich Erzählungen als fluide sprachliche Einheiten, die nicht losgelöst von eben jenen Elementen denkbar wären. Metaphern, Erzählinstanzen und deren Konfiguration verweisen auf die grundlegenden Konzepte von Sinn und dessen Vermittlung: Zunächst stehen Metaphern sinnbildlich für die Sprachlichkeit von Erzählungen. Sie sind die bedeutendste Trope, in der sich die imaginative Kraft politischer Sprache zeigt. Zwar sind sie nicht das einzige rhetorische Stilmittel, in dem sich Sinneinheiten transportieren lassen, doch sollen sie hier im Zentrum des Interesses stehen. Für die Erzähltheorie sind Metaphern die zentrale Analyseeinheit auf Wort- und Satzebene. Sie werden des Weiteren über die Erzählinstanzen zueinander in Beziehung gesetzt. Unter Erzählinstanzen versteht die politikwissenschaftliche Narrativanalyse die anthropomorphen Figuren des Erzählprozesses. Hier sind sowohl Erzähler*innen – im weitesten Verständnis des Begriffs – als auch die Rezipient*innen und die Charaktere der Erzählung selbst eingeschlossen. Hier kommt der Akteursbegriff zur Anwendung, der sich in erster Linie um handelnde (menschliche) Personen kümmert, jedoch in einem erweiterten Verständnis auch Aktanten (Greimas 1971) einschließt. Schließlich können Metaphern und Erzählinstanzen jedoch nur durch das zentrale Movens, der Konfiguration, als Narrativ zusammengefasst werden. In der Konfiguration werden durch die Wandlung von Zuständen Zeitlichkeit und Kausalität organisiert. Im Prozess der Konfiguration verhandelt sich auch das Verhältnis von Stasis und Bewegung, das unmittelbaren Einfluss auf politische Prognosen, Handlungsanleitungen oder retrospektive Bewertungen des politischen (Wahlkampf-) Geschehens nimmt. Diese drei Kernelemente zusammengenommen charakterisieren politische Narrative als Bedeutungsträger im Diskurs. Jedem dieser drei Elemente ist dabei eine Vielschichtigkeit zu eigen, die eine politikwissenschaftliche Herangehensweise erschwert. Wenn wir Metaphern, Erzählinstanzen und Konfiguration als © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Jarzebski, Erzählte Politik, Studien der NRW School of Governance, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31013-4_4
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Kernelemente definieren, benötigen wir zunächst einen Einblick in deren Dimensionen. So wird hier die Frage aufgeworfen, welche Aspekte für eine politikwissenschaftliche Narrativanalyse nutzbar gemacht werden können und wieso gerade diese Teilaspekte des Narrativen Eingang in die Erforschung von Wahlkämpfen finden sollen. Die folgenden Abschnitte dieses Kapitels werden sich diesen Fragen annehmen und versuchen, Antworten zu finden. Zum einen sollen die theoretischen Grundannahmen der Konzeption dieser Kernbegriffe geklärt werden, zum anderen werden bereits Vorschläge zur Analyse unterbreitet, die in Verbindung mit Kapitel 3 das Analyseraster für die empirische Illustration in Kapitel 5 bilden. 4.1 Metaphern, Imagination und die Konstruktion des Politischen „Der Aufweis absoluter Metaphern müßte uns wohl überhaupt veranlassen, das Verhältnis von Phantasie und Logos neu zu durchdenken, und zwar in dem Sinne, den Bereich der Phantasie nicht nur als Substrat für Transformationen ins Begriffliche zu nehmen – wobei sozusagen Element für Element aufgearbeitet und umgewandelt werden könnte bis zum Aufbrauch des Bildervorrats –, sondern als eine katalysatorische Sphäre, an der sich zwar ständig die Begriffswelt bereichert, aber ohne diesen fundierenden Bestand dabei umzuwandeln und aufzuzehren“ (Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 11). Das durchaus problematische – weil nicht gänzlich geklärte – Verhältnis von Metaphern und Narrativen ist bislang sowohl in der literatur- als auch in der politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht ausreichend thematisiert worden (Fludernik 2010: 88).30 Die Bedeutung von Metaphern zeigt sich bereits, wenn wir den empirischen Gegenstand dieser Arbeit begrifflich genauer inspizieren. Der „Wahlkampf“ erscheint im eigentlichen Wortsinn für eine verfasste Demokratie westlichen Vorbilds auf den ersten Blick unpassend und hat sich trotz seines martialischen Gehaltes dennoch etabliert. Dabei lässt sich die Geschichte der Kampf-Metapher in der Rhetorik bis in die griechische Antike zurückverfolgen. Schon Cicero verglich die Boxer und Gladiatoren mit den politischen Rednern und bemerkte: „[E]benso [wie der Boxer] landet auch der Redner keinen erfolg30
Dies zeigt sich auch in der Tatsache, dass die einschlägige sozialwissenschaftliche Literatur zur Metaphernanalyse einen anderen Fokus wählt. Die Begriffe Erzählung und Narrativ finden sich in der hier verwendeten Lesart als diskursstrukturierendes und/oder rhetorisches Bündel kommunikativer Äußerungen weder im Band von Kruse et al. (2011) noch in der Textsammlung von Junge (2014). Zum Verhältnis aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive, vergleiche unter anderem Müller-Funk (2008).
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reichen Schlag, wenn seine Attacke nicht kunstgerecht geführt ist“ (zitiert nach Hetzel 2011: 189 f.). Rede und Kampf kann die strukturelle Ähnlichkeit nicht abgesprochen werden. Dabei ist der Wahlkampf heute weit mehr als die Rede, die im antiken Griechenland noch den Kern der politischen Kommunikation ausmachte. Heute haben wir es mit einer Vielzahl an Medien, Akteur*innen und Kanälen zu tun, die die Wähler*innen mit einem „erweiterten Kommunikationsarsenal mit erhöhter Kommunikationsintensität“ (Geisler/Sarcinelli 2002: 54) zu erreichen suchen. Auch wenn die Rede nicht allein heutige Wahlkämpfe auszeichnet, so zeigt uns das voranstehende Zitat doch, dass wir es nicht nur akteursseitig, sondern auch in der politikwissenschaftlichen Betrachtung mit einer hochgradig metaphorischen Sprache zu tun haben. Die Metaphorik vom Kampf zieht sich über Jahrhunderte durch die an Sprache und Kommunikation interessierte Erforschung politischer Prozesse und zeigt exemplarisch die performative Kraft des Imaginativen auf. Wahlkämpfe werden von Bürger*innen wie politischem Personal gleichermaßen als Kampf verbalisiert und lassen dadurch nur bestimmte Kategorienbilder zu (Jarzebski 2015a). Einen Schritt weiter geht die Koschorke-Gruppe, wenn sie behauptet, dass „die politische Verfasstheit einer Gesellschaft nicht unabhängig von ihren Selbstbeschreibungen ist“ (Koschorke et al. 2007: 58). Diese Selbstbeschreibungen sind notwendigerweise metaphorisch, wie die moderne Metapherntheorie sowohl in ihrer kognitiven (Lakoff/Johnson 1980) als auch ihrer philosophischen (Blumenberg 1998) und sprachwissenschaftlichen (Spieß 2014) Spielart zeigen konnte. Metaphern bilden gerade in der politischen Kommunikation einen oftmals vernachlässigten Kern, um den sich Narrative gruppieren können. „Metaphern“, so Marcus Llanque (2014: 9), „präfigurieren die Wahrnehmung des Politischen, so dass sie zur handlungsleitenden Realität selbst werden“. Sie scheinen also gerade durch ihre imaginative Kraft Wirklichkeiten zu evozieren. Doch was verstehen wir eigentlich als Metapher und welche Implikationen hat dieses Konzept auf die sozialwissenschaftliche Analyse politischer Prozesse? 4.1.1 Metaphern als Paradigma In der oft beschworenen Vielschichtigkeit der Metapher liegt sowohl ihre analytische Stärke als auch das Problem begründet, sie in ein forschungs-pragmatisches Korsett zu schnüren. Deshalb ist es zunächst notwendig, sich ihrer Komplexität theoretisch zu nähern und für die Wahlkampfforschung sowie die Analyse politischer Narrative wertvolle Teilaspekte der Metaphernforschung exemplarisch darzulegen. Metaphern sind als „Master-Trope“ (Burke 1945) in besonderem Maße dazu geeignet, die wirklichkeitsstiftende Kraft der Sprache verständ-
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lich aufzuschlüsseln. Dazu bedarf es eines Verständnisses, das über die herkömmliche Definition der Metapher als Übertragungsmedium hinausgeht. So gliedert sich das hier vorgeschlagene Verständnis von Metaphern als Kernelement politischer Narrative in zwei maßgebliche Dimensionen: einer sprachlichen und einer kognitiven. Metaphern können also als „kontroverses Phänomen der Interaktion zwischen Denken und Sprache verstanden werden“ (Kohl 2007: 99). In der sprachlichen Dimension versammeln sich die Problemstellungen, die Metaphern als grundlegendes Phänomen der Übertragung kennzeichnen (Lüdemann 2004: 30). Für die Politikwissenschaft ist diese Perspektive von unmittelbarem Interesse, da der Fokus auf dem Wie der sprachlichen Konstruktion politischer Probleme liegt. Es bleibt „festzuhalten, dass wir in Hinblick auf abstrakte Zusammenhänge nicht die Wahl haben, ob wir Metaphern benutzen; frei steht uns nur, welche wir wählen“ (Kohl 2007: 2). Die kognitive Dimension von Metaphern beeinflusst hingegen, wie wir die Performativität von Sprache konzeptualisieren. Wie vor allem George Lakoff zeigt, sind Metaphern nicht nur ein sprachliches Mittel der Persuasion, sondern darüber hinaus ein kognitiver Modus der Ordnung von Wissen (Lakoff/Wehling 2009: 14, vgl. auch grundlegend Lakoff/Johnson 2011). In den Sozialwissenschaften fällt es mittlerweile schwer, „noch Ansätze zu finden, die sich nicht an der kognitiven Metapherntheorie nach Lakoff und Johnson orientierten“ (Schmitt 2014: 15). Der Fokus auf diese Dimension eröffnet alternative Akteursmodelle, die sich nicht allein auf rationalistische Verkürzungen berufen. Wenn Metaphern als „mentale Konzepte“ (Lakoff/Wehling 2009: 21) zu gelten haben und dabei keinen abgeschlossenen, ontischen Gehalt haben, wird es schwierig, die metaphorische Repräsentation politischer Prozesse auf einen „echten“ oder „wahren“ Gehalt zu reduzieren. Gleichzeitig öffnen sich die Akteurskonzepte zu einer fluideren und zunehmend kontingenten Lesart, da sie sich eher über das assoziative Spiel der Metaphorik als über rationale Handlungsabläufe definieren. Zwar kann der Gebrauch von Metaphern durchaus rational, zweckgebunden und strategisch sein, doch kann von einer solch bewussten Verwendung nicht ausgegangen werden. Kognitive Dimension Besehen wir uns die kognitive Dimension von Metaphern ein wenig genauer. Schon die eingangs skizzierten Analogien des Wahlkampfes zur kriegerischen Auseinandersetzung, die das Werben um den Wähler und den Austausch von (vermeintlichen) Argumenten hervorbringen, führen uns zu einer ersten Prämisse, die – aus der kognitiven Linguistik importiert – eine erweiterte Perspektive auf Wahlkämpfe anbietet: Metaphern sind nicht länger „ein rein sprachliches Phänomen“ (Lakoff/Johnson 2011: 11). Lakoff und Johnson stellen fest, „daß die
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Metapher unser Alltagsleben durchdringt, und zwar nicht nur unsere Sprache, sondern auch unser Denken und Handeln. Unser alltägliches Konzeptsystem, nach dem wir sowohl denken, als auch handeln, ist im Kern und grundsätzlich metaphorisch“ (ebd.). Um Wähler und Worte wird also gekämpft. Wir stellen uns diesen Wahlkampf bildlich als physische Auseinandersetzung der konkurrierenden Parteien vor, die um Argumente ringen und Wortgefechte führen (Lakoff/Wehling 2009: 20). Metaphorisches Denken prägt dabei nicht nur unsere Fachgespräche und -diskussionen, sondern ist in der Alltagskommunikation präsent; in den meisten Fällen jedoch unbewusst (Kruse et al. 2011: 65). Das Denken in Metaphern haben wir von Kindesbeinen an gelernt. Es basiert auf unseren Erfahrungen in der Welt und ermöglicht uns, diese Erfahrungen mithilfe andersartiger Erfahrungen zu verstehen (Spieß 2014: 36), die Komplexität der Welt fassbar zu machen und eine Sortierung der vielfältigen Eindrücke vorzunehmen (Lakoff 2009: 22). Lakoff und Johnson bedienen sich eines erweiterten Metaphernbegriffs, der auch andere Tropen – wie etwa die Metonymie – einschließt. Dabei steht deren „Funktion für die Konstruktion von Realität“ (Kruse 2011: 64) im Vordergrund. Fest steht: Metaphern kommt eine zentrale Bedeutung zu, wollen wir die Realität als sprachlich konstruierten Interaktionszusammenhang analytisch fassbar machen. Dabei sind unser Denken und Handeln selbst durch die uns umgebenden Metaphern beeinflusst. Lakoff und Johnson sprechen hier von Gestalten, durch die wir als „vieldimensionale strukturierte Ganzheiten“ (Lakoff/Johnson 2011: 98) Welt und Wirklichkeit erfahren.31 Mit der Metapher der Gestalt versuchen Lakoff und Johnson, der Verschiebung von Komplexität – von der erfahrenen Welt auf die Sprache – Herr zu werden und nutzen hierfür ironischerweise erneut eine Metapher. Als Gestalten sind Metaphern somit nicht mehr nur durch ihren Inhalt, sondern immer in Beziehung zu den einzelnen Teilen und deren jeweiligen Kontexten zu entziffern (Spieß 2014: 36). Überträgt man das dargelegte Konzept auf die politische Sprache, ist die Performativität von Metaphern nicht auf symbolische Politik oder Darstellungspolitik im Sinne Sarcinellis begrenzt. Vielmehr haben Metaphern die Kraft, „die physikalische Wirklichkeit zu evozieren“, wie Kathrin Kohl (2007: 97) am Beispiel der Physik eindrucksvoll zeigt. Auch in diesem Feld, das uns als durchweg rationales Forschungsgebiet gilt, sind Metaphern als Sprachbilder unumgänglich. Dennoch sind Metaphern in gewisser Weise defizitär, denn Tropen evozieren zwar ein Bild, „[z]ugleich jedoch vermitteln sie ein Ungenügen an der imaginativen Sprache“ (Kohl 2007: 97). Diesem Ungenügen wird in den Naturwissen31
Die Vieldimensionalität dieser Gestalten lässt sich auf die Bestandteile Teilnehmer, Teile, Phasen, lineare Abfolge, Kausalität und Zweck reduzieren (Lakoff/Johnson 2011: 93-99). In dieser Tiefe müssen Metaphern hier jedoch nicht behandelt werden.
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schaften mit dem Wechsel auf ein anderes Sprachsystem begegnet: der Mathematik. Fraglich ist, ob dieses System gleichsam fähig ist, auch die komplexen menschlichen Interaktionen, die sich in Sprache und Text vollziehen, adäquat abzubilden. Hierzu scheint gerade die unabgeschlossene Kontextabhängigkeit einer metaphorischen Sprache, die eine „prozessuale Sprachkonzeption vertritt“ (Kohl 2007: 103), deutlich besser geeignet. Die Frage, in welcher Weise wir Metaphern definieren und nutzen, korrespondiert also unmittelbar mit epistemologischen und methodologischen Problemstellungen, die um die beiden Komplexe Sprache und Denken kreisen. Die Beziehung beider „kann entweder räumlich als stabile Relation konzeptualisiert werden oder zeitlich als prozessuale Interaktion“ (Kohl 2007: 104). In dieser Arbeit schließe ich mich einem prozessualen Sprachverständnis an, das mit den poetologischen Prämissen, die in Kapitel 3 dargelegt wurden, harmonisiert. Dies dient in erster Linie dem Ziel, die kontingenten und fluiden Sprachprozesse des Wahlkampfes angemessen in einer Analyse abbilden zu können. Das Mehr an analytischem Gehalt liegt gerade in der Unabgeschlossenheit metaphorischer Bedeutungszuschreibungen, die aus dem prozessualen Sprachverständnis resultiert. Akteur*innen haben es in politischen Prozessen oftmals mit abstrakten Begriffen zu tun, für die sie Interpretationsangebote liefern müssen, um bei den Wähler*innen Anklang zu finden. Worte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Macht, Frieden, Wohlstand, Beteiligung, Sicherheit usw. sind von einer solchen Bedeutungsfülle, dass ihr Inhalt in Demokratien notwendig umstritten bleiben muss (Lakoff/Wehling 2009: 167). Die Idee der Essential Contested Concepts besagt, dass abstrakte politische Begriffe über einen Begriffskern hinaus mit wertbehafteten individuellen Ausgestaltungen belegt sind. Der Kern – oder das „Bedeutungsskelett“ – sichert dabei die Möglichkeit des gemeinsamen Austauschs über eine Idee (Lakoff/Wehling 2009: 170). Beispielsweise deutet die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit – als der Freiheit von und der Freiheit zu etwas – an, welche Dimensionen sich hinter den bedeutungsschweren, abstrakten Begriffen verbergen können. Da die politischen Akteur*innen täglich mit Ideen und Konzepten agieren, die inhaltlich nicht eindeutig sind und nicht auf eine ontologische Realität referieren, sind sie gezwungen, ihre Ideen metaphorisch auszukleiden. Durch diesen Prozess werden die unterschiedlichen Wertvorstellungen und Erfahrungswerte der Rezipienten aktiviert und Überzeugungen evoziert. Die Metaphern der politischen Sprache verweisen also nicht nur auf die Wirklichkeit, die wir vorfinden, sondern sie sind unsere Realität. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass durch die Vorarbeiten der kognitiven Metapherntheorien eine prozessuale Sprachkonzeption, die das Verhältnis von Denken und Sprache als einen dem Politischen vorgelagerten Prozess
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versteht, in den Möglichkeitsraum politikwissenschaftlicher Theorien Eingang gefunden hat. Hier hat sich die Frame-Theorie großzügig bedient. Zudem ist die performative Kraft der Sprache in Gestalt der Metapher wieder unmittelbar an die Akteur*innen gebunden und somit nicht allein ein diskursives Problem. Sprachliche Dimension Die kognitive Dimension von Metaphern ergibt – wie bereits angeklungen – nur im Verbund mit der sprachlichen Perspektive ein Gesamtbild, das der Komplexität des Begriffes gerecht wird. Metaphern gelten „als grundlegendes Phänomen der Sprache“ (Culler 2002: 104 f.) und stehen als zentrale rhetorische Figur im Zentrum eines sprach- und literaturwissenschaftlichen Interesses an der imaginativen Kraft sprachlicher Bilder. In dieser Perspektive ergeben sich weitere Sinnhorizonte, die über die kognitive Verarbeitung metaphorischer Konstruktionen hinausgehen. Dies zeigt beispielhaft eine Passage aus einem Interview mit Angela Merkel: Europa, so Merkel, „durchläuft ohne Zweifel eine schwere Zeit“ und werde am Ende „stärker als vor der Krise sein“ (Leithäuser/Lohse 17.08.2013). Erscheint dieser Satz zunächst weniger gehaltvoll, so lässt ein genauer Blick erkennen, dass Europa in dieser Aussage selbst zum Akteur wird, der auf seinem Weg in eine bessere Zukunft aufgehalten wird. „Laufen“ kann Europa natürlich nur in der fiktionalen griechischen Sage und es stellt sich die Frage, wo diese Aussage näher an der „Wirklichkeit“ ist: Können wir eher glauben, dass die fiktive Europa der griechischen Mythologie beim Spiel mit ihren Freundinnen am Strand dem Stier Zeus entgegenläuft oder dass sich der Kontinent auf seine Beine erhebt und in die Zukunft schreitet? An diesem Beispiel zeigt sich, dass in der Metapher auf Wort- und Satzebene mögliche Bedeutungshorizonte komprimiert sind, die sich erst im Kontext aus Sprecher, Empfänger, Situation, Rahmen etc. entfalten. Die sprachliche Dimension tendiert somit eher zu einem diskursiven und/oder linguistischen Verständnis der Wirkung von Metaphern. Hier ist nicht der kognitive Prozess der Bedeutungszuschreibung von Interesse, sondern es werden vielmehr die möglichen Sinnbeziehungen einer Metapher beleuchtet. In der Herstellung eben dieser Sinnbeziehungen besteht laut Paul Ricœur die größte Nähe zwischen Metapher und Erzählung. Dabei beruhen die von beiden hervorgebrachten Sinnwirkungen auf demselben Phänomen der semantischen Innovation. In beiden Fällen tritt diese nur auf der Ebene der Rede, also der Sprechakte auf, deren Umfang demjenigen des Satzes entspricht oder darüber hinausgeht (Ricœur 1988: 7).
Die metaphorische Konstruktion des beschriebenen Beispiels wird also gerade in der sprachlichen Dimension offensichtlich. Über eine Zustandsbeschreibung hin-
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aus wird eine Zielvorstellung oder gar ein politisches Programm formuliert. Da wir aber Metaphern immer im Rahmen politischer Narrative beleuchten wollen, ist ein Wiederholen, Aufgreifen, Weitererzählen, Ergänzen und/oder Modifizieren der Metapher unerlässlich. Erst wenn sich die Metapher in einem Geflecht aus verschiedenen Sprachhandlungen in Interviews, Reden, auf Plakaten, in Fernsehspots oder Webauftritten und anderen Formen der Wahlkampfkommunikation zeigt, wird sie in einem größeren Zusammenhang als Teil eines Narrativs bedeutend. Durch die Wiederholung kann die metaphorische Konstruktion eines politischen Problems zu einem diskursstrukturierenden Element erwachsen – sofern es weitere erzähltheoretische Kriterien erfüllt, die im Verlauf dieses Kapitels dargelegt werden. Durch die sprachliche Dimension verbinden sich in der Metapher Akteur*innen und (Sprach-)Strukturen. So sind sie in einer sprach- und literaturwissenschaftlichen Perspektive zunächst „punktuelle oder kompakte Modellierungen“, die „zwei (oder mehrere!) Systeme, jeweils aus Elementen und deren Relationen bestehend, zueinander in Beziehung setzen, ohne jedoch alle Elemente und Relationen namhaft zu machen, ja ohne diese eindeutig zu fixieren“ (Wellbery 1999: 140). Die Systeme, die Merkel in ihrer Metapher in Beziehung setzt, sind das formal-juristische Gebilde Europa, also die durch Verträge aneinander gebundenen Staaten der EU, und der menschliche Körper, der läuft, erstarkt und Hoffnungen und Wünsche hat. Hinzu kommt mit der griechischen Mythologie eine weitere Bedeutungsebene, die es hier allerdings nicht weiter zu vertiefen gilt. Wir stellen fest: Metaphern beruhen auf einem „Kontextbruch“, „genauer: Sie sind dieser Bruch“ (Gehring 2010: 204). In unserem Beispiel besteht der Bruch in der Menschwerdung Europas. Diese ersten definitorischen Annäherungen zeigen, dass sich Metaphern in ihrer sprachlichen Dimension immer auf Transformationen beziehen, die im Folgenden noch eine gewichtigere Rolle spielen sollen (vgl. Kap. 4.3). Metaphern verknüpfen verschiedene Bedeutungsbereiche und kreieren so neuen oder zusätzlichen Sinn. Indem Europa von Merkel als anthropomorphe Figur metaphorisiert wird, kann sie das Staatengebilde mit Emotionen und vor allem Interessen ausstatten. Metaphern sind in diesem Sinne „poetische Verfahren“, deren Zweck die Verfremdung ist und „die zum Ziel ha[ben], konventionalisierte Wahrnehmungsgewohnheiten zu irritieren und so ein neues Sehen zu provozieren“ (Philipowski 2011: 173). Somit wohnt Metaphern immer ein kreatives Moment inne, das auf sprachlicher Ebene die kognitiven Prozesse der Wirklichkeitsgestaltung repräsentiert. Aufgrund ihres imaginativen Potenzials wird den Metaphern – ganz ähnlich wie der Erzählung – eine gewisse Skepsis in Bezug auf ihren Wahrheitsgehalt entgegengebracht. Es scheint, als misstraue man den Sprachbildern als Mittel zur
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Verschleierung, der mythischen und erfinderischen Kraft der Tropen und ganz besonders den Metaphern. Als rein sprachliches Phänomen verstanden, gilt die Metapher tendenziell als von der Wahrheit wesenhaft, zeitlich und räumlich geschieden, inauthentisch und der Erkenntnis hinderlich (Kohl 2007: 107).
Unmittelbar berührt die Konzeption des Metaphernbegriffs in seiner sprachlichen Dimension damit epistemologische Prämissen. Es zeigt sich der Graben, der in anderen Abschnitten dieser Arbeit thematisiert wird und sich als Charakteristikum der Narrativforschung erweist: die Trennung zwischen Fakt und Fiktion. In Bezug auf die Metapher spricht Susanne Lüdemann (2004: 24) sogar von einer „phobisch zu nennenden Abwehr der (angeblichen) poststrukturalistischen Einebnung des Gattungsunterschieds von Literatur und Philosophie (bzw. Wissenschaft)“ und sieht vor allem ein radikal aufklärerisches Denken, das „die strenge Trennung von Begriff und Metapher, Vernunft und Imagination, Logos und Mythos“ (ebd. 2004: 23) eingeführt hat, für die Diskreditierung eines sozialwissenschaftlichen Interesses an Metaphern verantwortlich. Dabei ist die Metapher eben kein „‚Sonderfall‘, sondern das ‚allgegenwärtige Prinzip der Sprache‘“ (ebd. 2004: 31) und die imaginative Kraft der Sprache ihr ureigenster Charakter. In der Konsequenz sind Metaphern kein Instrument, das sich einzig als strategisches Werkzeug einsetzen lässt, um neue Wege der Persuasion zu finden. Vielmehr besteht keine Möglichkeit, außerhalb einer metaphorischen Sprache zu agieren. In Blumenbergs (1998) Konzeption der „absoluten Metapher“ wird dieser Widerspruch annähernd aufgelöst. Die absolute Metapher bezeichnet das sprachliche Abbild einer prinzipiell nicht anschaulichen Idee. Ein prominentes Beispiel, das Blumenberg verwendet und das in der Praxis des Wahlkampfes allzu oft anschaulich Verwendung findet, ist die Wahrheit. Für sie gilt Blumenbergs Definition der absoluten Metapher ebenso wie für andere politisch zentrale Begriffe wie die Freiheit, die Gleichheit, der Staat und die Gesellschaft. Die absolute Metapher ist eine „Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann“ (Blumenberg 1998: 12). Absolute Metaphern können also nicht aufgelöst, nicht auf ihren „wahren“ Gehalt zurückgeführt werden. Ihr Gehalt ist pragmatischer Natur und „bestimmt als Anhalt von Orientierungen ein Verhalten, sie geben einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität“ (ebd. 1998: 25). Blumenbergs Pragmatismus erscheint passgenau für eine zeitgemäße Metaphernkonzeption und gleichsam „symptomatisch für eine Weltsicht, die sich nicht am Maßstab des Absoluten orientiert, sondern sich in menschlichen Relationen bewegt“ (Kohl 2007: 119).
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Vorschlag zur Synthese beider Dimensionen Einen Vorschlag, beide hier in Kürze vorgestellten Dimensionen in eine holistische Theorie der Metapher zu integrieren, unterbreitet Kathrin Kohl. Sie versteht Metaphern als „kognitiv-sprachlichen Prozess des imaginativen Denkens“ (Kohl 2007: 2). Kohl konstatiert: „In der Auseinandersetzung um die Metapher geht es grundsätzlich um die Situierung der Metapher in der Beziehung zwischen Sprache und Denken“ (ebd. 2007: 98) und stellt fest: Wesen wie auch Wirkung der Metapher gründen in ihrem Potenzial, imaginativ zwischen körperlichen, emotionalen, rationalen Prozessen und sprachlicher Gestaltung zu vermitteln – und bis ins menschliche Handeln hinein produktiv wirksam zu sein (ebd. 2007: 170).
Hinter dieser integrativen Auflösung des theoretischen Spannungsfeldes verbirgt sich eine hochgradig komplexe und gleichzeitig vielversprechende Konzeption von Metaphern, die nicht zuletzt auch sozialwissenschaftlich wirksam werden kann. Dies liegt an der Verbindung akteursseitiger, kognitiver Potenziale mit diskursiv-sprachlichen Wirkweisen. Der Versuch, beide Aspekte des Metaphorischen greifbar zu machen, gibt eine Antwort auf die (nicht nur) in den Sozialwissenschaften präsente Akteur-Struktur-Problematik. Schlüssel zum Verständnis von Metaphern ist also ein Fokus auf die „Interaktion von Kontexten“ (Lüdemann 2004: 32). Dabei ist es wichtig zu betonen, dass hier nicht der Fiktion der Vorrang vor den Institutionen, Interessen und physischen Zwängen eingeräumt werden soll, sondern vielmehr die Bedeutung des Imaginativen für die politikwissenschaftliche Analyse hervorgehoben wird (vgl. Koschorke et al. 2007: 61). Gerade hier liegt die Bedeutung von Metaphern für politische Erzählungen begründet. Sie sind der kreative, imaginative Baustein, der Narrativen ihre gestalterische Kraft verleiht und sie aus der Sphäre rationaler Argumente entführt. Dabei sind Metaphern elementarer Bestandteil politischer Narrative und nicht auf einer Ebene mit Erzählungen anzusiedeln (Gadinger et al. 2014a: 75). Metaphern sind vielmehr Kleinsterzählungen, die mit Narrativen eine untrennbare Beziehung verbindet: In jeder Metapher spiegeln sich bereits die Grundzüge einer Erzählung. Metaphern können daher als kondensierte Erzählung bezeichnet werden, da sie in einem Ausdruck einen ungeheuren Bedeutungsschatz vereinen. So wird im hier vorgeschlagenen Modell einer politikwissenschaftlichen Narrativanalyse die Metapher zum zentralen sprachlichen Merkmal politischer Narrative. Um dieses zentrale Merkmal genauer analysieren zu können, ist es nun vonnöten, seine inneren Aufbauprinzipien genauer zu beleuchten.
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4.1.2 Metaphorische Aufbauprinzipien Metaphern verfügen – und hier ähneln sie Narrativen und Diskursen – über interne Aufbauprinzipien, deren Verständnis Voraussetzung für die Analyse ist. Dies gilt es festzuhalten, da aufgrund der bislang betonten imaginativen Kraft der Eindruck entstehen könnte, dass es sich bei Metaphern um ein relativistisches Phänomen handeln könnte. Metaphern sind also, in dem Maße, wie sie etwas besagen, weder „flüssig“ noch „offen“. Sie weisen zwar über Strukturen hinaus, aber sie verweisen wiederum auf Strukturen und vielleicht stiften sie diese auch (Gehring 2010: 204).
Im Rahmen der hier angedachten Narrativanalyse sind diese von Gehring angesprochenen Strukturen in erster Linie narrativer Natur. Die Metapher ist auf der Wortebene das kleinste sprachliche Teilchen, aus dem sich Erzählungen zusammensetzen. Darüber hinaus lässt sich auch eine innere Struktur der Metapher feststellen, die mit dem sogenannten Fokusausdruck einen ersten Anhaltspunkt erhält. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass Metaphern nicht einzig aus dieser kleinsten Einheit bestehen. Sie sind nicht nur „Fokusausdruck“ (Gehring 2010: 210 ff.), nur Wort, wie im oben zitierten Fall des Wahlkampfes. Zwar leitet sich die Essenz einer Metapher aus ihrem Fokus ab, ohne die diskursive Rahmung bleibt sie allerdings als Sprachbild stumm. In den Worten Gehrings: Die Einheit der Metapher ist so besonders, wie die Metapher selbst. Und der Fokusausdruck allein ist ein schwieriger Anhaltspunkt – wie überhaupt eine Fokuswendung nicht mit ‚der‘ Metapher verwechselt werden darf. Vielmehr spannen feine Wechselwirkungen im Text und in Intertexten die Metapher auf (2010: 205).
Fokusausdrücke bieten einen Anhaltspunkt für die Interpretation politischer Erzählungen, ohne jedoch abschließend die imaginativen Kapazitäten zu erfassen. Hier drängt sich ein epistemologischer Fehlschluss auf, der die Bedeutung von Metaphern unnötig überhöht. Dieses imaginative, kreative Vermögen von Sprachbildern ist nicht zwangsläufig mit einem Mehr an Bedeutung oder einem spezifischen Hang zur Subversion zu verwechseln (Gehring 2010: 205). Dennoch lassen sich gerade durch die Andersartigkeit des metaphorischen Sinngehaltes weitere Bedeutungsebenen erschließen. Als Fokusausdruck wird also die sprachliche Einheit bezeichnet, die in einem Alltagsverständnis bereits als Metapher gilt. Diese vermeintliche Verkürzung des Metaphernkonzepts ist allerdings der Sprachlichkeit der Sprache geschuldet – einem Problem, wonach wir immer Wörter benötigen, um Wörter zu beschreiben. Schon in der Benennung einer Metapher versteckt sich folglich eine Verkürzung auf ihren Fokusausdruck.
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Doch der Sinngehalt der Metapher entspannt sich erst in der Beziehung, der Interaktion zum Kontext, die den Fokusausdruck einrahmt (Gehring 2010: 211). Anschaulich wird die Beziehung zwischen Fokusausdruck und Kontextrahmen in der Projektionsrichtung, die die Metapher beschreibt. David Wellbery (1999: 141) sieht im „Aufsuchen von Projektionsregeln“ sogar den Schlüssel zum Verstehen von Metaphern. Diese Regeln grenzen die möglichen Sinnbezüge, die durch eine Metapher hergestellt werden, ein. Dabei sind sie „einerseits vielfältig und andererseits nicht festgelegt“ (Wellbery 1999: 143). Die Projektionen zeigen uns, welche Bedeutungen hinter einer Metapher zu vermuten sind, obwohl diese Zuschreibungen letztlich nur im Lichte des Interpreten augenscheinlich werden. Im eingangs zitierten Beispiel des Wahlkampfes wird zwar das Bild einer kriegerischen Auseinandersetzung evoziert, dieses wird jedoch nicht gleichsam mit blutrünstigen, archaischen Kämpfen assoziiert. Dem zeitgenössischen Interpreten eröffnen sich deutlich mehr potenzielle Projektionen als noch dem zuvor zitierten Cicero. Hatte dieser als Kampf noch das Boxmatch im Sinn, wird jener eher an ein Fußballspiel oder einen Schaukampf denken, dem modernen Wrestling gleich, mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch eher nicht an die kriegerischen Auseinandersetzungen. Um die Projektionsregeln […] herauszufinden und anzuwenden, bedarf es einer Kunst (des Lesens, der Interpretation), die nicht im voraus durch einen Regelkanon bestimmt ist; es bedarf einer Erfindungskunst, deren Resultate zwar Plausibilität, aber niemals Gewißheit beanspruchen können (Wellbery 1999: 143).
Eine überaus eindrückliche und plausible Rekonstruktion der Projektionsregeln politischer Metaphern wurde beispielsweise von der Gruppe um Albrecht Koschorke vorgelegt. Sie konnten nachzeichnen, dass sich ein gewichtiger Teil politischer Metaphorik zu staatlichen Institutionen und Machtgefügen einer körperschaftlichen Bildsprache bedient (Koschorke et al. 2008). Die Plausibilität hängt dabei immer auch von einem Gespür für die kulturspezifischen Hintergründe des jeweiligen Rahmens ab. Ein Blick zurück auf das bereits skizzierte EuropaBeispiel zeigt, wie sehr bestimmte Projektionen aus dem kulturellen Gedächtnis verschwinden und andere wiederum hinzukommen. „Europa“, so Merkel „durchläuft ohne Zweifel eine schwere Zeit“ und werde am Ende „stärker als vor der Krise sein“. Die zuvor erwähnte Projektion auf die mythische Europa der griechischen Sage dürfte in Umfragen weniger präsent sein als beispielsweise die vorgelagerte allgemeine Körperschaftsmetaphorik, die wiederum im Sinne Koschorkes eine lange Traditionslinie aufweist. Die Metapher setzt also „ein Reflexionsspiel in Gang, das verschiedene Projektionsmöglichkeiten erprobt und damit die Implikationen der Metapher entfaltet“ (Wellbery 1999: 146). Reflexionsspiele entlang des Fokusausdrucks sind in diesem Sinne der Ausgangspunkt für
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eine schlüssige Interpretation, nicht aber ihr Ende. Zwar ist der Kreativität der Metapher nur durch ein freies Kräftespiel der Kreativität im Interpretationsprozess zu begegnen, doch bleibt die Notwendigkeit bestehen, die Projektionsrichtungen und -regeln zu benennen. Nicht außer Acht gelassen werden kann im Zuge dieses Interpretationsprozesses ein weiteres Element der internen Aufbauprinzipien: die sogenannte Hintergrundmetaphorik, die auf ein Konzept von Hans Blumenberg zurückgeht. Die Hintergrundmetaphorik ist bei Blumenberg (1998: 20) ein „implikatives Model“. Deren Ergründen ist notwendig, da die Interpretation des Metapherngebrauchs eines Akteurs erst dann geglückt ist, „wenn es uns gelungen ist, nachvollziehend in den Vorstellungshorizont des Autors einzutreten, seine Übertragung ausfindig zu machen“ (Blumenberg 1998: 91). Um den Begriff der Hintergrundmetaphorik genauer zu fassen, ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass Blumenbergs Werk bereits 1960 im Archiv für Begriffsgeschichte erschien und damit vor den diskursanalytischen Schriften des Strukturalismus das Licht der Wissenschaftswelt erblickte. Die Hintergrundmetaphorik kann hier also in gewisser Weise als Diskurs, wenn nicht gar als durch Narrative strukturierter Diskurs gelesen werden, was die Anschlussfähigkeit der hier vertretenden Theorien an die Blumenbergschen Texte verdeutlicht. Als Zwischenfazit lässt sich also festhalten, dass Metaphern ihre Bedeutung aus dem Spannungsverhältnis, das sich als Projektion zwischen Fokusausdruck und Kontextrahmen vollzieht und vor der Hintergrundmetaphorik abläuft, gewinnen. Die Idee der Hintergrundmetaphorik korrespondiert mit der Idee des kontextgebundenen Erzählens, das sich nicht aus dem Sprachgebrauch allein erklärt. Hier wird erneut die schon mehrfach thematisierte Doppelstruktur der Sprache erkennbar: Sie lässt sich nie nur durch den Sprechakt allein und genauso wenig über ihre diskursive Struktur erklären. In der impliziten Metaphorik spiegelt sich dieses Spannungsverhältnis wider, denn die Hintergrundmetapher bietet kulturell spezifische Rahmungen an, in denen sich die jeweiligen Metaphern ausgestalten können: Das bedeutet, daß Metaphern in ihrer hier besprochenen Funktion gar nicht in der sprachlichen Ausdruckssphäre in Erscheinung zu treten brauchen; aber ein Zusammenhang von Aussagen schließt sich plötzlich zu einer Sinneinheit zusammen, wenn man hypothetisch die metaphorische Leitvorstellung erschließen kann, an der diese Aussagen abgelesen sein können“ (Blumenberg 1998: 20).
Die Hintergrundmetaphorik gibt als implizite Rahmung die Tonart für eine metaphorische Komposition, die dann Teil einer politischen Erzählung wird, vor (Schlechtriemen 2014: 240). Dabei spricht sich Gehring (2010: 210) gegen ein Übergewicht latenter und impliziter Metaphorik aus und betont den Bruch als
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konstitutives Merkmal. Diese Argumentation stützt die Vermutung, nach der Blumenbergs Hintergrundmetaphorik in heutigen Kontexten eher auf einen Diskursbegriff verweist, dessen Wirkmächtigkeit er nicht antizipieren konnte. Während also in der Hintergrundmetaphorik die Grenze von Metaphern und Diskurs verschwimmt, finden sich auf der anderen Seite Überschneidungen zum Begriff des Erzählens, die Blumenberg in seiner Konzeption der absoluten Metapher dargelegt hat. Wie bereits erläutert ist die absolute Metapher eine solche, die sich in die „Grundbestände der philosophischen Sprache“ (Blumenberg 1998: 10) eingeschrieben hat. Sie sind „Übertragungen, die sich nicht ins Eigentliche“ (ebd. 1998: 10) zurückholen lassen. Als prominentes Beispiel dient erneut die metaphorische Übertragung vom Staat auf den Körper, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt (Koschorke et al. 2007). Diese absoluten Metaphern lassen als Mini-Narrative Rückschlüsse auf die Interpretationen zu, welche die Gesellschaft als akzeptabel ansieht (Bal 2009: 35). Mieke Bal schlägt dafür die Analyse kultureller Muster vor, um eben jene von der Gesellschaft geteilten Deutungsmuster zu entschlüsseln: It requires analysis – cultural analysis – to follow up on the question of cultural interaction involved here. This is a case of ideology in ordinary language that becomes visible through narratological analysis. The argumentative nature of the metaphor becomes apparent as soon as we consider the metaphor an implied narrative. This is one example of how narratological analysis inherently serves political or ideological critique. It demonstrates, therefore, that all approaches that isolate ideology from structure, or reject structural analysis because it is not political, are missing an important point of narrative theory (2009: 35).
Bal präsentiert hier in komprimierter Form gewichtige Gründe für eine politikwissenschaftliche Narrativanalyse, die von Metaphern als Untersuchungsgegenstand ausgeht. Gleichzeitig begründet sie, warum die Analyse von Erzählungen prinzipiell eine kritische – und damit auch politische – Implikation hat. Beides ist nicht losgelöst voneinander zu konzeptualisieren, wie sich vor allem in der absoluten Metapher zeigt. Es wird deutlich, dass Metaphern als Term stets zwischen Narrativen, Begriffen und Diskursen oszillieren. Die Beziehung zu Erzählungen lässt sich somit nicht in Gänze klären. Festzuhalten bleibt aber, dass sie in jedem Fall als sprachliche Repräsentanten von Narrativen angesehen werden müssen, denn ohne Metaphern würden sich Erzählungen nicht entfalten können. Gleichzeitig gibt es aber Metaphern, die nicht in Beziehung zu einer spezifischen politischen Erzählung stehen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sie als singuläre Sprachereignisse auftauchen oder ohne Bezug zu den im weiteren Verlauf charakterisierten Elementen auftaucht. Auch hier ist natürlich ein politischer Ge-
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halt anzunehmen, dieser kann aber im Zuge der hier vorliegenden Arbeit nicht zusätzlich bearbeitet werden. 4.1.3 Einstieg in die Narrativanalyse durch die Metapher Aus analytischer Perspektive gibt es verschiedene Dimensionen, aus denen man sich der Metapher als Gegenstand nähern kann. Zusätzlich zu den bereits identifizierten kognitiven und sprachlichen Aspekten gesellt sich im Anschluss an Constanz Spieß (2014: 38 f.) eine dritte Untersuchungsdimension. Nach dieser sind Metaphern weder allein kognitive Konzepte nach Lakoff und Johnson, die Metaphern als „mentale Repräsentationen“ verstehen, noch aus „linguistischer Perspektive [auf] sprachliche Formen“ zu reduzieren. Vielmehr können Metaphern als „soziopragmatische Phänomene“ (Spieß 2014: 39) konzeptualisiert werden. Vor allem diese Dimension ist für die Narrativanalyse von großem Interesse, da sie Metaphern in ihren sozialen und kulturellen Kontext setzt und deshalb „gesellschaftliche, kulturelle Mentalitäten, Erfahrungen“ (Spieß 2014: 39) aufdecken kann. In dieser, an die Diskursanalyse angelehnte Interpretation der Wirkweise von Metaphern zeigt sich die analytische Nähe zur Erzählforschung. Als soziopragmatisches Phänomen bieten Metaphern einen Einstiegspunkt in die Analyse des Politischen selbst und werden somit zu einem Kernelement der Erforschung politischer Sprache. Es stellt sich die Frage, wie methodisch mit diesem Einstieg umgegangen werden muss. So ist beispielsweise offen, ob wir es mit einer synchronen oder einer diachronen Analyse der Metaphern zu tun haben. Die Antwort kann hier nur heißen: beides! Denn natürlich folgt die eingangs beschriebene Idee der Leitmetapher eines politischen Narrativs einer synchronen Logik. Das Fokuswort und die sich aufspannenden Referenzrahmen sind nur aus einem synchronen Blickwinkel heraus angemessen zu beurteilen. Die Erzähler*innen, die die jeweilige Leitmetapher aufgreifen und somit dasselbe Fokuswort in ein metaphorisches Konstrukt überführen, bewegen sich zeitlich meist in einem Rahmen, der zumindest ähnliche Kontextfaktoren aufweist. Gleichzeitig ist eine diachrone Betrachtung des Vorkommens einer spezifischen Metapher für das Verständnis der sich angliedernden Bedeutungshorizonte notwendig. So ist der bereits erwähnte mythologische Bezugsrahmen Europas heutzutage sicher nicht der prägnanteste. Ein diachroner Blick allerdings fördert die ehemals hegemoniale Stellung dieses Sinngehalts zutage. Die Diskussion dieser beiden Zugänge zeigt die Schwierigkeit einer methodischen Einordnung der Narrativanalyse und im Speziellen der Metaphernanalyse.
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4 Heuristik: Drei Kernelemente der Narrativanalyse
Fraglich ist demnach auch, ob und wie sich methodische Gütekriterien für die Analyse von Metaphern voranstellen lassen. Schmitt (2014: 23) macht hierzu Vorschläge und setzt folgende Gütekriterien fest: 1. 2. 3. 4. 5.
die Vollständigkeit von Erhebung, Interpretation und Präsentation von Metaphern; die Qualität der metaphorischen Konzepte im Hinblick auf Sättigung und Prägnanz; die Gründlichkeit der Entfaltung der Implikationen der metaphorischen Konzepte; die kritische Reflexion des forschungs- und kontextbedingten Einbringens von Metaphern in das Material und die Triangulation mit nicht-metaphernanalytisch erhobenen Befunden.
Diese scheinen jedoch nur bedingt auf die hier vorgestellte Form der Metaphernanalyse als Teilelement der Erforschung politischer Narrative zu passen. Folgende Passage von Hans Blumenberg nimmt zu den Punkten 1 und 4 dezidiert Stellung und relativiert die Absolutheit, die in einem Begriff wie „Gütekriterium“ steckt: „Das in der Selektion des einschlägigen Metaphernstoffes Herausspringende verlangt ja seinerseits, ehe es als Punkt für jene Kurve fixiert werden kann und darf, eine Interpretation aus dem gedanklichen Zusammenhang, innerhalb dessen es steht und fungiert […]“ (1998: 49). Die Vollständigkeit ist auch vor dem Hintergrund der Bedeutung von Metaphern als grundlegendes Element der Sprache an sich ein nicht zu erfüllendes Kriterium. Wichtiger sind hingegen die Punkte 2 und 3, an denen sich jede interpretative Forschung messen lassen muss. Punkt 4 wiederum ist in der hier verfolgten Forschungslogik bereits angelegt. Eine Triangulation wird in dieser Arbeit insofern durchgeführt, als dass sich die Narrativanalyse von einer Vielzahl divergierender Theorien und Methoden speist, die in der Zusammenführung einen Zugewinn an Erkenntnis erhoffen lassen. Korrespondierend plädiert auch Blumenberg für „Querschnitte“ zur Analyse, „um vollends faßbar zu machen, was die herangezogenen Metaphern jeweils bedeuten“ (1998: 49). Zu klären bleibt schließlich, wie die entsprechenden Metaphern identifiziert werden, die den folgenden Analyseschritten unterzogen werden sollen. Durch die aufgezeigte Verbindung von (politischer) Sprache und Metaphern ist die Fülle des potenziellen Materials beinahe unendlich. Die Auswahl der zu untersuchenden Metaphern wird im Rahmen dieser Arbeit stichprobenartig erfolgen und soll die Wirksamkeit und die analytischen Möglichkeiten einer an Metaphern orientierten Narrativanalyse illustrieren. Die Relevanz der Auswahl unterliegt dem Verdacht der Subjektivität, dem interpretative Politikforschung generell ausge-
4.1 Metaphern, Imagination und die Konstruktion des Politischen
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setzt ist (vgl. Kap. 3). Somit ergibt sich die Überzeugungskraft der Analyse aus dem Text selbst und wird nicht durch extratextuelle Faktoren methodischer Art determiniert. 4.1.4 Drei Analyseschritte Nach diesem theoretischen Einblick in die unterschiedlichen Dimensionen und Aufbauprinzipien von Metaphern sowie Hinweisen zu den Zielen des Einstiegs in die Metaphernanalyse wird im Folgenden ein Vorschlag für die empirische Aufarbeitung unterbreitet. Eingangs ist es hilfreich, das Erkenntnisinteresse an Metaphern zu fokussieren: Die Analyse soll helfen, „Aufschluss über sprachliches und nicht-sprachliches Wissen, über Diskursstrukturen und -kulturen sowie über Diskursdynamiken“ (Spieß 2014: 31) zu geben. In diesem Fall können wir problemlos „Diskurs“ durch „Narrativ“ ersetzen und erhalten somit eine Zielvorstellung, die den Rahmen für die empirische Analyse von Metaphern vorgibt. Um diese Narrativkulturen und Erzähldynamiken nachzuzeichnen, sind drei methodische Schritte notwendig. Erstens ist die Bestimmung des Abstraktionsgrades des Untersuchungsgegenstandes zu leisten. Im Anschluss an Gehrings (2010: 208) methodologische Bemerkungen sollen Metaphern in dieser Arbeit als „Individuum“ zur Analyse herangezogen werden. Es handelt sich dann bei der Metapher nicht um ein „unverbindliches Beispiel“ oder eine „Belegstelle“, sondern um „die präzisen Vorkommen einer Metapher, die Kontexte und vor allem singulären Bezüge“ (Gehring 2010: 208). Demnach gilt es nicht, eine allgemeine Aussage über den politischen Gebrauch der Metaphorik zu machen, sondern die spezifische Bedeutungswelten der politischen Akteur*innen des Bundestagswahlkampfes 2013 anhand exemplarischer Leitmetaphern und den korrespondierenden Narrativen nachzuzeichnen. Gegenstand der Analyse sind Textstellen, die sich nicht auf ein Fokuswort beschränken, sondern die den Rahmen der Metapher abstecken. Gehring (2010: 212 f.) bezeichnet sie als „Stelle“ im Text und das Zitieren dieser Stellen als „Basisoperation der Metaphorologie“. Ein bereits vorgestelltes Beispiel kann diese Basisoperation anschaulich machen: Europa durchläuft ohne Zweifel eine schwere Zeit. An deren Ende wird Europa aber stärker als vor der Krise sein. Wir Deutschen waren schon früh, kurz nach dem Einstieg in den Euro, zu tiefgreifenden Reformen etwa im Rahmen der Agenda 2010 gezwungen, denn damals hatten wir mit einer sehr hohen Arbeitslosigkeit zu kämp-
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4 Heuristik: Drei Kernelemente der Narrativanalyse fen. Heute kann Deutschland in Europa wieder Wachstumsmotor und Stabilitätsanker sein (Leithäuser/Lohse, faz.net 18.08.2013).32
Die metaphorische Konstruktion lässt sich hier offensichtlich nicht auf ein Fokuswort beschränken. So ist „Europa“ nicht allein in seiner Bildlichkeit und der Bedeutungsübertragung aus der griechischen Sagenwelt in den institutionellen Kontext der EU-Politik bedeutend, sondern verweist darüber hinaus auf eine vielschichtige Struktur, die beispielsweise ein friedliches kontinentales Zusammenleben, einen prosperierenden gemeinsamen Wirtschaftsraum oder eine kulturelle Gemeinschaft konstruieren helfen. Der erste Schritt der Analyse zielt also auf ein Abstecken der Belegstelle ab, aus der sich die weitergehende Untersuchung des Bezugsrahmens ergibt. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass der Einstieg in die Analyse politischer Narrative über die Metapher nicht den Weg für irgendwie geartete „wahre“ oder „eigentliche“ Bedeutungen ebnet (vgl. Gehring 2010: 205; 209 f.). Vielmehr gilt die Rekonstruktion der narrativen Diskursstruktur einem tieferen Verständnis der sprachlichen Ausgestaltung unserer politischen Realität. Zweitens folgt auf die Identifikation der Belegstelle – also der präzisen Benennung und Zitation der betreffenden Textstellen – die Exploration möglicher Bezugsrahmen. In dieser ersten Annäherung an die narrative Struktur der Metapher wird die „Oberflächenform“ durch die Bestimmung verschiedener möglicher „Zielsysteme“ sichtbar (Wellbery 1999: 147). Hier findet eine erste inhaltliche Sortierung statt, die den Bedeutungsgehalt ausdifferenziert und die expliziten und impliziten Verweise auflistet. Um eine Metapher und deren Bezugsrahmen aufzuschlüsseln, müssen zunächst die einzelnen Elemente identifiziert werden. Im vorangestellten Beispiel sieht eine solche Aufschlüsselung wie folgt aus: Bezugsrahmen der Metapher „Europa durchläuft eine schwere Zeit.“ In Tabelle 1 zeigen sich die möglichen Bezugsrahmen, die für die weitere Analyse genutzt werden können. Gleichzeitig wird deutlich, wie sehr die Analyse politischer Metaphern von der Perspektive der Forschenden abhängig ist. Die Identifikation der Ausgangs- und Zielsysteme der Übertragungsleistung findet zunächst ohne Wertung statt. Hier werden lediglich die möglichen Bezüge nach bestem Wissen und Gewissen benannt und zur Interpretation dargelegt. Wie das oben stehende Beispiel zeigt, findet sich bereits in einer zunächst so alltäglichen Aussage – wie sie sich in beinahe jeder politischen Rede finden lässt – eine un32
Der Fokusausdruck der hier zitierten Stelle lautet „Europa", nicht etwa „Stabilitätsanker“ oder „Wachstumsmotor“. Zwar wären diese beiden Ausdrücke aufgrund ihres metaphorischen Gehaltes durchaus für die Analyse geeignet, doch soll hier für die Illustration das Beispiel Europa hinreichen.
4.1 Metaphern, Imagination und die Konstruktion des Politischen
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gemeine Fülle an Bedeutungsverweisen, die Rückschlüsse auf die narrative Struktur politischer Diskurse zulassen. Da Metaphern jedoch immer im Kontext der politikwissenschaftlichen Narrativanalyse erforscht werden sollen und somit (nur) den Einstiegspunkt in die Analyse bieten, wird nicht jeder Bezugsrahmen nacheinander einzeln auf seine jeweilige Dynamik hin untersucht. Diese Analysetiefe kann nur durch eine Konzentration auf die Metaphern allein geleistet werden. Vielmehr bieten die so aufgezeigten Sinnhorizonte Möglichkeiten, um mit der Analyse der narrativen Struktur fortzufahren. Drittens werden diejenigen Bezugsrahmen hervorgehoben, die sich im Sinne der weiteren narrativen Elemente, der Personifizierung und der Konfiguration, lesen lassen. So wird der Untersuchungsraum notwendigerweise eingeschränkt und konkretisiert. Im hier vorgestellten Beispiel lässt sich die Personifizierung im Begriff „Europa“ besonders deutlich hervorheben. Europa ist das anthropomorphe Subjekt des zum Vorschein tretenden Narrativs. Auch das Verb „durchlaufen“ dient der Personifizierung und öffnet gleichzeitig eine räumliche und eine zeitliche Struktur, die jeweils auf die Konfiguration der Erzählung verweisen. Schließlich findet sich in der Benennung der „schweren Zeit“ eine Zustandsbeschreibung, die wiederum Rückschlüsse auf die Zielvorstellung zulässt. So entfaltet sich aus der Metapher die Analyse der weiteren narrativen Elemente und Operationen. Aus diesen drei Schritten lassen sich erste Konturen einer narrativen Struktur herausarbeiten. Dabei erschöpft sich die Narrativanalyse jedoch nicht in der Offenlegung von Metaphern, denn „[p]olitische Kommunikation besteht“ zwar, so Marcus Llanque (2014: 12), „aus miteinander konkurrierenden Diskursen, die ihre Argumente um unterschiedliche Metaphern gruppieren.“ Wenn aber „[…] die Sprache Zugang zur politischen Wirklichkeit sein [soll], dann muss die ganze Sprache erörtert werden, und nicht ein sorgsam ausgesuchter Teil der sprachlichen Konstitution der Wirklichkeit“ (ebd. 2014: 12). Llanque verweist auf die Bedeutung, die sich durch die Beziehung der einzelnen Metaphern unter- und zueinander entfalten. Der Anspruch, „die ganze Sprache“ zu erörtern, ist hier natürlich als kontrafaktisches Idealbild zu sehen, das den Horizont der Analyseleistung markiert. Dennoch ist klar, dass eine solch umfassende Untersuchung an dieser Stelle nicht zu leisten ist. So kann das Hinzuziehen der beiden im Folgenden dargestellten Faktoren der Narrativanalyse zwar hilfreich sein, einer holistischen Sprachanalyse näherzukommen, doch wird auch über die Personifizierung und die Konfiguration von Erzählungen nicht die „ganze Sprache“ analytisch abbildbar sein. Vielmehr illustrieren die hier konzipierten Analyseschritte und die daraus folgende empirische Untersuchung die Komplexität der Sprache als Zugang zur politischen Wirklichkeit.
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4 Heuristik: Drei Kernelemente der Narrativanalyse
Tabelle 1: Mögliche Bezugsrahmen in Anlehnung an Wellbery (1999: 147).
Ausgangssystem
Zielsystem 1. räumliches System
Europa
Kontinent/Geografie
durchlaufen
unklare Grenzen (Ukraine, Türkei)
schwere Zeit
Integration/Erweiterung 2. kulturelles System
Europa
Kulturraum/griechische Sage/christlicher Glaube/Aufklärung
durchlaufen
Heterogenität
schwere Zeit
kulturelle Identifikation 3. institutionelles System
Europa
Staatenbund/Institutionen/Bürokratie
durchlaufen
Wandel der Institutionen/Mitgliedsstaaten
schwere Zeit
Legitimation/Politikverdrossenheit 4. ökonomisches System
Europa
Wirtschaftsraum/Freihandel/Währungsunion
durchlaufen
Konjunkturzyklen
schwere Zeit
Finanzkrise/Rezession/Staatsverschuldung
4.2 Subjekte, Situationen und die Polyphonie der Erzählung
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4.2 Subjekte, Situationen und die Polyphonie der Erzählung „From the perspective of the politician struggling to take power, however, becoming a collective representation is a project, an action requiring extraordinary agency. He becomes a character in his own script, writing a story in the unfolding of his personal lifetime. Such self-fashioning must be responsive to unending contingency, even as it strives to maintain the arc of its coded narrative themes“ (Alexander 2011: 121). Durch die Identifizierung von Metaphern und deren Bezugsrahmen ist ein Einstieg in die Analyse politischer Narrative gefunden, der die Perspektive für die weitergehenden Forschungsschritte festlegt. Demnach ist der zunächst gewählte Fokus auf Metaphern dem Primat der Sprachlichkeit des Politischen geschuldet. Doch erschöpfen sich Erzählungen nicht in Tropen und die Narrativanalyse nicht in deren Entschlüsselung. Politische Erzählungen sind nicht zuletzt deshalb fähig, Bedeutungsstrukturen des Wahlkampfes aufzuzeigen, da sie Akteur*innen mit Handlungsmotiven ausstatten und ihnen so eine Rolle im gesellschaftlichen Gefüge zuweisen. Anders gesagt: Narrative sind ohne personifizierte Instanzen nicht denkbar. Dies gilt gerade dann, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass wir es in der politischen Sprache im Allgemeinen und insbesondere im Wahlkampf mit hochgradig strategieaffinen Sprechakten zu tun haben, die von verschiedenen Personen durchgeplant und auf einen Erfolg bei den Rezipient*innen abzielend formuliert wurden. Es ist wichtig, diese Figuren der Erzählung näher zu betrachten. Dabei ist in diesem Zusammenhang in zweierlei Hinsicht von personifizierten Instanzen zu sprechen: Erstens haben wir es mit internen Personifizierungen zu tun, die in der Erzählung die Handlung vorantreiben und sich als Identifikationsfiguren anbieten, indem sie eine Projektionsfläche für Wünsche, Hoffnungen, Ziele, Sympathien und Antipathien der Rezipient*innen bieten. Dies geschieht vor allem bei Kandidat*innen, wenn sie Zukunftsabsichten im Stile von „Ich werde …“ formulieren. Die Akteur*innen setzten sich dann als Teil ihrer eigenen Geschichte in eine handelnde Position und treten in doppelter Weise auf. Sie sind gleichzeitig Figur der Handlung und Erzähler*innen der Geschichte im Sinne einer Ich-Erzählung (Alexander 2011: 121). Dabei muss es sich nicht zwangsläufig um menschliche Figuren handeln. Der Erzähler muss dabei nicht das individuelle Subjekt sein, auch kollektive Akteure (Gruppen, Organisationen, soziale Bewegungen) lassen Erzählungen verlautbaren; die Intentionen des Subjekts treten sogar zurück, sobald die Erzählung in schriftlicher oder in anderen Text-/Bildformen objektiviert wird (Viehöver 2012: 72).
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4 Heuristik: Drei Kernelemente der Narrativanalyse
Diese Figuren stehen im Zentrum der Erzählung und werden – auch durch den Einsatz von Metaphern – anthropomorphisiert, das heißt, sie werden mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet. Hier lässt sich erneut sehr gut auf das Beispiel des durch eine schwere Zeit laufenden Europas verweisen. Aus dem Kontinent, der wie gezeigt in einem metaphorischen Sinne einen institutionellen Rahmen veranschaulicht, wird durch seine Anthropomorphisierung eine Figur mit menschenähnlichen Gefühlen, Sehnsüchten und Wünschen. Zweitens stehen den internen Personifizierungen externe Figuren des Erzählprozesses gegenüber. Diese spiegeln sich in erster Linie in den Konzepten Erzähler*innen und Publikum wider und sind ein entscheidender Faktor bei der konzeptionellen Abgrenzung der Narrativ- von der Diskursanalyse. Um das Wesen einer politischen Erzählung zu verstehen, gilt es, die Beziehung von Erzähler*innen und Publikum zu rekonstruieren und aus der spezifischen Situation Rückschlüsse auf die Wirkweisen und Machtkonstellation des Erzählprozesses zu ziehen. Da sich im Erzählen das Prinzip der Stimme (Couldry 2010) spiegelt und damit eine kreative Handlungsfähigkeit in das Diskursgeschehen eingefügt wird (vgl. Gadinger et al. 2014b), nimmt die Analyse externer Figuren eine wichtige Rolle in der Erforschung narrativer Erzählweisen ein. Durch diesen Schritt bezeichnen politische Narrative nicht nur eine Diskursformation, die einer spezifischen Strukturierung unterliegt, sondern verweisen darüber hinaus immer auf eine Handlungsdimension, die sich in den narrativen Praktiken des kommunikativen Aktes zeigt. So sind vor allem Metaphern und damit die Sprachlichkeit von Narrativen als Teil politischer Narrative im Erzähltext wie andere expressive Elemente ein Phänomen […], das der Kategorie ‚Stimme‘ (voice, voix) zugeordnet werden muss. Eine Metapher im Erzähltext entstammt entweder zunächst einmal dem Diskurs des Erzählers, den Gedanken einer Figur oder den Äußerungen des Helden (Fludernik 2010: 88).
Diese Charakterisierung von Erzählungen liefert Argumente dafür, dass Metaphern einzig im Verbund mit den Erzählinstanzen, ihren Rollen und Charakteren zu einem Narrativ zusammengefasst werden können. Gleichzeitig zeigt sich, dass Metaphern das (Nach-)Empfinden des Geschehens ermöglichen, da sie durch ihre spezifische Struktur Identifikationspotenzial bieten und somit der Personifizierung von Erzählungen den Weg bereiten. 4.2.1 Erzählende Subjekte Um zu den Mustern und Dynamiken dieser veränderten Perspektive vorzudringen, muss die Narrativanalyse den Akteursbegriff um einige konzeptionelle Überlegungen erweitern. Im Zentrum dieser Erweiterung stehen die Begriffe
4.2 Subjekte, Situationen und die Polyphonie der Erzählung
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homo narrans und Polyphonie. Durch die Anwendung dieser beiden Konzepte werden die fiktionalen, kreativen und emotionalen Aspekte des Sprachhandelns in das Feld der Akteurstheorien überführt. Dabei werden die entscheidenden Wesensmerkmale des Erzählerischen betont und in den Kontrast zu klassischen Akteursmodellen gestellt. Oftmals bilden diese Modelle im Sinne einer heuristischen Annahme den Ausgangspunkt einer politikwissenschaftlichen Analyse; außen vorgelassen bleiben dabei diejenigen Aspekte menschlichen Handelns, die nicht über Rationalisierungen von Interessen, Motiven und Zielen, sondern über das Nachspüren und Interpretieren von Sprachmustern und -dynamiken erschlossen werden können. Die beiden literaturwissenschaftlich inspirierten Konzepte homo narrans und Polyphonie eröffnen Alternativen zu „nutzenmaximierenden (homo oeconomicus) oder normbefolgenden (homo sociologicus)“ (Gadinger et al. 2014b: 5) Akteur*innen. Dies ist von besonderer Bedeutung, da die Narrativanalyse Sprachkritik betreibt, ohne dabei die Akteur*innen zu vernachlässigen. Der Blick auf die Akteur*innen der Erzählung bietet somit ein Ordnungskriterium für das Feld narrativer Wahlkampfpraktiken. Akteur*innen reduzieren dabei die Möglichkeiten des Umgangs mit der Sprache des Wahlkampfes auf ein handhabbares Maß. An dieser Stelle muss nochmals betont werden, dass wir es bei den internen wie externen Erzählinstanzen – im Sinne der Narrativanalyse wie auch bei den Akteur*innen des politischen Prozesses – nicht zwingend mit Menschen zu tun haben. Sofern wir den Ausspruch von Kanzlerin Merkel nicht auf ein über etwas Sprechen reduzieren, sondern darüber hinaus die nachgelagerten Muster nachzeichnen wollen, muss die Aussage zusätzlich in ihrer Eigendynamik betrachtet werden. Dies gelingt nur, indem die handelnden Figuren identifiziert und auf ihre Rollen und Funktionen hin aufgeschlüsselt werden. Als anthropomorph haben im Folgenden die beseelten Gestalten der im Erzählprozess eingewobenen Charaktere und Figuren zu gelten. Auf den ersten Blick fallen dabei zwei zentrale Punkte auf, die es theoretisch zu untermauern gilt. Erstens ergibt sich aus der anthropomorphen Komponente des Narrativen eine unmittelbare Verbindung zur kognitiven Dimension von Metaphern, die eingangs vorgestellt wurde. Erzählungen werden im Gewand von Metaphern als kognitiver Modus begriffen, der im Umkehrschluss die Kognition voraussetzt. Können also beispielsweise Institutionen, Verträge oder kulturelle Artefakte als Erzählinstanzen auftreten? Oder sind sie lediglich Objekte, die den Erzählenden zur Verfügung stehen? Diese Fragen berühren zweitens unmittelbar das Akteursverständnis, das der Narrativanalyse zugrunde liegt und das – soviel kann an dieser Stelle schon vorweggenommen werden – einen Unterschied zu klassisch diskursanalytischen Verfahren darstellt. Da dem Erzählen immer eine Handlungsdimension inhärent ist, kommt den Akteur*innen in einer Erweiterung der Dis-
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kursanalyse neue Bedeutung zu, ohne jedoch auf die intertextuelle Ebene des Diskurses zu verzichten. Homo narrans Der homo narrans ist nicht nur ein Träger gesellschaftlicher Interessen, sondern in erster Linie eine handelnde Figur im politischen Prozess. Dabei werden zunächst noch keine Aussagen über die Erfolgsabsichten seiner Handlungen getätigt. Vielmehr wird versucht, über die Muster der Handlungen selbst – folglich auf der Ebene der narrativen Praktiken – ein tieferes Verständnis für die Chancen und Risiken kreativen Sprachgebrauchs zu erlangen. Die Konzeption des homo narrans blickt auf eine lange wissenschaftliche Geschichte zurück, wurde allerdings in der Politikwissenschaft bislang eher spärlich rezipiert (Gadinger et al. 2014a, 2014b). Vor allem die Ethnographie und die Literaturwissenschaften haben sich bei der Ausarbeitung dieses Konzepts hervorgetan. War es zunächst der Versuch, die „Selbst-Konstitution erzählender Menschen durch ihre Geschichten“ (Lehmann 2009: 60) zu bezeichnen und damit die kognitive Dimension des Erzählens zu betonen, bekam der Begriff spätestens durch Alasdair MacIntyres Erwähnung des storytelling animals (2007) eine neue Wendung. MacIntyre beklagte die mangelnde Bindung an identitätsstiftende Geschichten, wendete den analytischen Fokus jedoch auf die gleichzeitig verlaufende Überbetonung unpersönlicher, rationaler Argumente. Wissenschaftstheoretisch wurde der homo narrans oftmals als Kontrapunkt zum Streben nach Rationalisierung in der Moderne begriffen und im Sinne einer Rückbesinnung auf antike Formen der Sinngenerierung (Niles 1999) oder einer Neujustierung anthropologischer Konstanten eingesetzt (Fisher 1984). So ist der erzählende Mensch in höchstem Maße dazu geeignet, der gestiegenen Sensibilität für emotionale Aspekte der politischen Sprache Rechnung zu tragen. Zugrunde liegt allen theoretischen Ausformungen des homo narrans die Annahme, dass der Mensch als kulturelles Wesen unweigerlich an das Erzählen als kulturelle Praxis gekoppelt ist. Nur über die Erzählung werden Wissensbestände abrufbar (Niles 1999: 2) oder bestehende hegemoniale Sinnbezüge deformiert oder aufgelöst (Koschorke 2012: 11). Dabei werden diese Prozesse immer aus der Perspektive der an der Erzählung beteiligten Anthropomorphismen erfahren – entweder also aus der Sicht der Erzählenden oder durch die Träger der Erzählung. Das Erzählen trägt demnach Sinn in die Welt, versieht ihren Lauf mit Absichten und Zielen, bevölkert sie mit anthropomorphen Akteuren, bringt sie überhaupt erst in eine intelligible Form und verwandelt sie so den Menschen an, die sich in ihr nicht nur praktisch, sondern auch symbolisch einrichten müssen (Koschorke 2012: 11).
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Im homo narrans bündelt sich folglich eine Kernthese der politikwissenschaftlichen Narratologie, nach der das Erzählen als grundlegende Kulturtechnik bei der Analyse politischer Prozesse berücksichtigt werden muss. Der homo narrans ist demnach in der Lage, „im Modus der kulturellen Improvisation symbolische Machtkämpfe auszutragen“ (Gadinger et al. 2014a: 69). Da es sich beim homo narrans „nicht notwendig um ein männliches Individuum noch überhaupt um eine Person handelt, der ein bestimmtes Sprechen zurechenbar ist“ (Koschorke 2012: 84), erweitert er das herkömmliche Verständnis von Erzähler*innen als externe Instanzen des Erzählprozesses. In seiner klassischen Auslegung reduziert eben jener Begriff der Erzähler*in die Komplexität der Figuren, die am Erzählprozess beteiligt sind. So dreht sich die Rekonstruktion der Erzähler*in politischer Narrative nicht um konkrete Personen, sondern um die politischen Subjekte, die als Akteur*innen sichtbar werden. Dieser Wandel vom Akteur hin zum Subjekt politischer Handlung wurde nicht zuletzt von Andreas Reckwitz (2006) vollzogen, der Subjekte als diskursive Formationen begreift, die in ein soziales Geflecht kultureller Praktiken eingebunden sind. Dementsprechend wandelbar und vergänglich sind politische Subjekttypen, wenn wir in gegenwärtigen Debatten etwa wesentlich häufiger den Bürokraten als den Krieger imaginieren (Reckwitz/Schlichte 2013). Diese Fluidität des Subjektbegriffs zeigt sich in den Ideen der Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2007) und der pragmatischen Soziologie (Boltanski/Thevenot 2007). So macht etwa Latour deutlich, „dass nie klar ist, wer und was handelt, wenn wir handeln“ (2007: 77). Im Gegensatz zum Akteur ist das Subjekt wesentlich deutlicher in ein Geflecht aus inneren und äußeren Spannungen eingewoben, die sich in der Kontingenz politischer Deutungsmuster zeigen. Schon bei John Dewey war dieser Gedanke im Konzept des „widerstreitenden Ichs“ (1996: 160) angelegt. Während der Akteur als Analysefigur bereits auf seine Zugänge festgelegt ist und somit die Grenzen seines Handelns konzeptionell vorbestimmt wurden, kann das Subjekt als „wanderndes, disperses und vielfach fragmentiertes Wesen“ (Koschorke 2012: 84) die Möglichkeitsräume des Handelns deutlicher aufzeigen. Gerade weil dem Subjekt Gewissheiten fehlen, kann er der Kontingenz des Politischen offener begegnen. Das politische Subjekt wird somit um die gewöhnlichen Akteur*innen erweitert, deren sprachpraktische Kompetenzen substanziell aufgewertet werden (Boltanski 2010: 50 ff.). In diesem Zusammenhang werden alltägliche Aussageereignisse für die Rekonstruktion politischer Prozesse bedeutend. Gerade im Wahlkampf kann eine Aussage gewöhnlicher Akteur*innen Rückschlüsse auf die Mechanismen der Sinnzuschreibung zulassen. Schwierig gestaltet sich dabei jedoch der Zugriff auf diese alltäglichen Aussageereignisse, die am ehesten über soziale Medien wie Twitter oder Facebook zugänglich sind. Gleichzeitig kann über die Rekonstruktion dieser Deutungsprozesse auch die
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Machtfrage anders beleuchtet werden: Eine „Beschäftigung mit Subjekttypen ist zugleich ein Beitrag zur Analytik der Machtverhältnisse“ (Reckwitz 2013: 109). Auch der Wahlkampf lässt sich unter diese Analytik subsumieren, ist er doch die formalisierte Variante demokratischer Legitimation politischer Macht. In dieser Wendung lässt sich einer der zentralen Unterschiede der Narrativanalyse zur verwandten Diskursanalyse zeigen. Vor allem in ihrer Foucaultschen Lesart werden Subjekte aus der Analyse politischer Machtverhältnisse systematisch ausgeklammert: „Es ist eine der Pointen der Diskursanalyse, sich von Subjektbezügen zu lösen, und zwar nicht nur ein bisschen, sondern ganz“ (Gehring 2012: 21). Die Figuren des politischen Prozesses werden in einer handlungstheoretischen Perspektive auf die Erzähltheorie als Subjekte und nicht im Sinne klassischer Akteursmodelle konzeptioniert: Der dahinterliegende sozialtheoretische Anspruch besagt, dass der Mensch, auch der Mensch moderner säkularisierter Gesellschaften – solange sich menschliche Gesellschaft basal über Sprache, ethische, normative und rechtliche Regeln und sprachkompetente Subjekte konstituieren – ein Geschichtenerzähler bleibt (Viehöver 2012: 72).
Durch den homo narrans erhalten wir die Möglichkeit, den Wahlkampf als dynamischen Prozess wahrzunehmen und dabei die strategischen Ambitionen der Akteur*innen nicht zu vernachlässigen. Es wird vorausgesetzt, dass einer Handlung Motive und Ziele zugrunde liegen, und das Aufspüren der Intentionen wird nicht allein auf den Diskurs verlegt. Vielmehr muss das intentionale Moment in pragmatischer Lesart notwendig schon von vornherein wirksam (nicht unbedingt: seiner selbst gewiss) sein, bevor es durch Diskurse ‚erzeugt‘ bzw. suggeriert wird, ohne dass dabei souveräne Subjekte, Akteure oder Sprecher frei von Abhängigkeiten unterstellt werden müssten (Renn 2012: 36).
Dennoch bleibt im Verlauf der hier vorgeschlagenen Analyse die Strategie der Handelnden ein blinder Fleck, der nicht zum Gegenstand der Untersuchung wird. Weder berührt er die zentralen Bereiche der Forschungsfrage noch sieht sich die Narrativanalyse imstande, zufriedenstellende Antworten auf diese Fragen zu finden. Hierzu stehen der Politikwissenschaft theoretisch und methodisch anders gelagerte Ansätze zur Verfügung, die für diese Forschungsziele konsultiert werden können (vgl. Korte et al. 2006, Florack/Grunden 2011, Raschke/Tils 2013). Polyphonie Über den homo narrans allein lassen sich die diskursiven Dynamiken von Erzählungen nicht rekonstruieren. Deshalb muss ihm ein Konzept zur Seite gestellt werden, in dem die Interdependenz verschiedener, gleichzeitig erzählender Ak-
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teur*innen zum Ausdruck gebracht wird. Mieke Bal erinnert daran, dass narrative Praktiken nicht nur von Subjekten verkörpert werden, die eine gemeinsame Beziehung zur jeweiligen Erzählung teilen, sondern dass diese Erzählungen auch unbedingt als polyphon zu verstehen sind (2009: 202). Die Diskursivierung von erzählerischem Handeln gelingt über die Polyphonie, das heißt über ein Gewahr werden der Vielstimmigkeit von Erzählungen. Da die Anthropomorphismen politischer Erzählungen ein Geflecht bilden, aus dem nicht immer eindeutig der Ursprung einer Erzählung ersichtlich ist, und Erzählungen nur durch das Aufgreifen, Modifizieren und Weitererzählen kulturelle und damit politische Bedeutung erlangen, ist die Polyphonie ein zentraler Bestandteil der politikwissenschaftlichen Narrativanalyse. Polyphonie bezeichnet die Vielheit der Stimmen, die im Zusammenspiel kulturell wirksame Deutungsmuster in Form von Narrativen konstituieren können. In ihr ist die Vorstellung angelegt, dass sich politische Macht als relationales Verhältnis und „Bewegungsprinzip“ (Gadinger et al. 2014b: 13) verstehen lässt. Macht wird nach diesem Verständnis immer in der Interaktion erzählerischer Praktiken verhandelt und ist nicht allein als kategoriale Einheit zu verstehen. Den politischen Subjekten ist die Interdependenz ihres Handelns durchaus bewusst. Bisweilen können wir sogar von einem reziprok antizipierenden Handeln sprechen, das „das Spezifische der Politik“ ausmacht (Korte/Fröhlich 2009: 177 f.). Die Narrativanalyse ergänzt mit der Polyphonie die kommunikativen Makrostrukturen des Wahlkampfes, in dem nicht die absichtsvoll handelnden Akteur*innen, sondern die über den homo narrans konzeptualisierten Subjekte im Zentrum des Interesses stehen. Der Begriff Polyphonie geht auf den Kulturphilosophen Michail Bachtin zurück und bezeichnet ursprünglich die aus der Musiktheorie entlehnte Vielstimmigkeit eines Stücks. Bachtin übertrug dieses Prinzip auf seine Analyse der Werke Dostojewskis und stellte heraus, dass sich die Vielzahl der Stimmen nicht unter eine einzelne Perspektive auf ein Geschehen subsumieren lässt. Die Essenz der Polyphonie liegt gerade darin, dass die unterschiedlichen Stimmen unabhängig sind und sich als solche zu einer höheren Ordnung zusammenfügen (Bachtin 1984: 21). Jede dieser einzelnen Stimmen hat, so Bachtin, ein eigenes Gewicht, eine ganz eigene Form der Geltungskraft, die sie aus der narrativen Kraft der Erzählung zieht. Der narrative Diskurs ist nach Bachtin also ein Geflecht aus verschiedenen Erzählsträngen, die sich vor ganz unterschiedlichen Hintergründen abspielen können. Dabei sind die unterschiedlichen Stimmen, die Bachtin anspricht, nicht notwendigerweise auf verschiedene Akteur*innen beziehungsweise verschiedene Erzähler*innen verteilt. Ein entscheidendes Argument der Bachtinschen Polyphonie ist, dass sich selbst in einer Figur divergierende Stimmen widerspiegeln können. Durch diese theoretische Wendung lassen sich mithilfe der Polyphonie nicht nur die verschiedenen Stimmen des Wahlkampfes analysieren,
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sondern darüber hinaus Rollenkonflikte nachzeichnen, die vor allem im Fall von Peer Steinbrück Einfluss auf seine narrative Performanz gehabt haben. So wurde Steinbrück einerseits zu Beginn des Wahlkampfes als Wirtschaftsliberaler wahrgenommen, musste jedoch im weiteren Verlauf einen vermeintlich „linken“ Wahlkampf führen. Dieser Rollenkonflikt lässt sich mithilfe narrativer Verfahren nachzeichnen und rekurriert nicht allein auf ein strategisches Defizit, denn „wer einen erzählerischen Text hervorbringt, schreibt sich immer schon in eine vorgängige Textmatrix ein“ (Koschorke 2012: 87). Der Erzähltext schiebt sich durch seine polyphone Struktur „als mächtige dritte Größe zwischen die Rollenfunktionen von Erzähler und Rezipient“ (ebd.). Somit sind die politischen Subjekte stets mit den an sie gestellten Erwartungen, Hoffnungen und Anfeindungen konfrontiert, die sie nur in bedingtem Maße beeinflussen können. Der Zugewinn dieses intertextuellen, ja interdiskursiven Konzepts der Polyphonie wirkt befreiend, da allein die Erkenntnis, dass selbst die individuellen Sprechhandlungen keine abgeschlossene Einheit bilden, Einsicht in die sehr feingliedrigen kulturellen Differenzen innerhalb eines Textes gewährt (Bal 2009: 70). Hier zeigt sich, wie eine kulturwissenschaftlich inspirierte Politikanalyse den Blickwinkel auf politische Prozesse erweitert. Nur das Zusammenspiel verschiedener homini narrantes lässt Erzählungen entstehen. In diesem Sinne kann das Erzählen als dialogischer beziehungsweise „multilogischer“ kommunikativer Prozess verstanden werden, der die Dynamik beider Konzepte in sich vereint (Kreiswirth 2000: 303). Gerade der polyphone Charakter politischer Narrative ist imstande, Identitäten zu bestärken oder gar herauszubilden. Durch ihre Rezitation werden Narrative in Gemeinschaften eingeschrieben und binden diese gleichsam zusammen (Ricœur 1980: 176). Polyphonie fungiert als identitätsstiftendes Moment, sowohl innerhalb eines Diskurses als auch im Bachtinschen Sinne durch die Selbstvergewisserung der Subjekte. Nur wer die Vielzahl der eigenen Stimmen anerkennt, die durch unsere vielfältigen sozialen Rollen in uns und aus uns sprechen, kann sich eine reflektierte und komplexe Identität zu eigen machen. Dabei birgt diese Komplexität von Identitätsbildungsprozessen stets die Gefahr des Scheiterns narrativer Entwürfe, etwa dann, wenn es durch inkonsistente Erzählweisen und kontingente äußere Einflüsse nicht gelingt, die Vielzahl der Stimmen unter einem sinnstiftenden Narrativ zu vereinen. Darauf aufbauend werden in der Narrativanalyse die polyphonen Subjekte als Aktanten verstanden. Der Aktantenbegriff geht zurück auf die strukturale Semantik von Julien Greimas und wurde jüngst für die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) wiederentdeckt (Bal 2009: 7). In Analogie zum oben skizzierten homo narrans wird mithilfe der Aktanten versucht, klassische Akteursmodelle hinter sich zu lassen und im Sinne der Polyphonie die narrativen Verbindungen zwischen heterogenen Subjekten und anderen kulturellen Artefakten zu diskutieren.
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Den Aktanten kommt nicht nur in einer erzähltheoretischen Perspektive Bedeutung zu. Sie umreißen eher eine grundsätzliche Sichtweise auf soziale Sprachhandlungen: „An actant is a class of actors that shares a certain characteristic quality. That shared characteristic is related to the teleology of the fabula as a whole” (Bal 2009: 202). Die Identität von Aktanten entsteht folglich immer im Zusammenspiel aus narrativer Konfiguration und der Konstellation der in ihr eingewobenen Subjekte. So bildet sich die Identität des homo narrans stets aus einem Geflecht erzählender Subjekte. Ein Begriff der Literaturwissenschaft findet in der Konzeption des homo narrans als sozialwissenschaftlichem Subjekttyp keine Anwendung: die*der Autor*in. Spätestens seit in den 1960er-Jahren mit Roland Barthes „Der Tod des Autors“ und Michel Foucaults „Was ist ein Autor?“ gleich zwei programmatische Schriften für „die Verabschiedung des Autors aus der Interpretation literarischer Texte“ (Jannidis et al. 2000: 181) gesorgt haben, kann er auch für die politikwissenschaftliche Analyse keinen signifikanten Zugewinn mehr bedeuten. Wenn überhaupt, dann sind Autor*innen noch im Sinne seiner Funktion (Foucault 2000: 211) von Interesse, die gerade im Wahlkampfkontext wirksam wird. Hier finden wir Figuren wie Redenschreiber*innen, Campaigner*innen, Wahlkampfmanager*innen und -berater*innen; alles in allem Figuren des Hintergrunds, die in der öffentlichen Wahrnehmung als Autor*innen bestimmter Ideen, Ausdrücke, ja Erzählungen stilisiert werden (Stauss 2013; Höngigsberger 2013). Zwar können sie in einem diskursiven Verständnis nicht als alleinige Autor*innen einer Rede und der darin enthaltenen Narrative bezeichnet werden, doch kommen sie nah an die realweltliche Entsprechung der erzähltheoretischen Figur der Autor*in heran. In der politisch-medialen Praxis hingegen werden die Berater*innenstäbe nicht selbst zum Thema gemacht. „Den Medien fehlte damit das personalisierte strategische Zentrum, aus dem sie die Strategie der Kandidaten ablesen konnten“ (Bussemer 2013: 55). Der Tod des Autors geht also einher mit dem Verschwinden der Spin-Doktor*innen aus der öffentlichen Wahrnehmung. Somit ist davon auszugehen, dass aus analytischer Sicht Berater*innen und politische Akteur*innen in den Erzähler*innen-Figuren zusammenfallen (vgl. Koschorke 2012: 84) – zumal im Fall der Redenschreiber*innen der Zugang zu den Informationen darüber, wer tatsächlich „Autor*in“ einer Rede ist, nicht immer gegeben ist, zumindest nicht, ohne die diskursanalytische Distanz zum Untersuchungsgegenstand abzuschwächen. Wie also begegnen wir diesen Schattenfiguren, die zweifellos gewichtige Teile des politischen Prozesses prägen? Im Zuge der Narrativanalyse werden sie analog zur*m Autor*in sprichwörtlich zu Grabe getragen. Mit den Mitteln der Interpretation erzählerischer Diskursstränge und narrativer Sprechakte ist eine Differenzierung zwischen Erzähler*innen und diesen vermeintlichen Autor*innen politischer Narrative nicht zu leisten.
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So ist Angela Merkel eben nicht „der Mensch hinter dem Amt“, sondern in erster Linie das Amt, das Sie ausfüllt. Hinzu kommen ihre Beraterinnen, wie Beate Baumann, sowie ihr gesamter Stab aus dem Kanzleramt und der Parteispitze, der hier nicht näher benannt werden soll. Natürlich sind diese Helfer*innen, die hinter den Kulissen des politischen Theaters agieren, mitzudenken, wenn wir Merkel als Erzählerin identifizieren und analysieren. Doch spricht dieser Umstand gerade für ein erweitertes Akteursverständnis, das Anleihen aus der Theorie der Aktanten gewinnt und als polyphon bezeichnet werden kann. 4.2.2 Erzählsituationen Der homo narrans und die Polyphonie politischer Erzählungen geben der Narrativanalyse zwei Konzepte an die Hand, die die Subjektivität des Politischen betonen und diese im Rahmen einer diskursorientierten Analyse politischer Sprache aufrechterhalten. Hier ist nicht nur die Handlungsfähigkeit im Sinne einer Stimme im Diskurs angelegt, sondern gleichzeitig die Interdependenz der erzählenden Subjekte beschrieben. Aber welche Muster stehen hinter den Sprechhandlungen der Erzähler? Und wie lassen sich die Sprechakte der externen und internen Personifizierungen der Erzählung greifbar machen? Dazu gilt es ein zentrales Problem von Erzählungen zu thematisieren: den Blickwinkel des Erzählens. Für diesen lassen sich zunächst drei grundsätzliche Perspektiven identifizieren, die im Weiteren genauer ausgeführt werden. Erstens gibt es den Blick der Charaktere, also der internen Personifizierungen der Erzählung. Zweitens besteht der Blick der Erzähler*innen, sprich der politischen Subjekte, die als Sprecher*innen der Sprechakte handeln. Drittens, vor allem im Zuge der politikwissenschaftlichen Narrativanalyse nicht zu vernachlässigen, existiert die Perspektive des Publikums. Das Problem des Blickwinkels ist der Narrativanalyse eigen und unterscheidet sie von anders gelagerten Zugängen zur Sprache (Scholes et al. 2006: 240). Zwischen den unterschiedlichen Blickwinkeln, die sich durch voneinander abweichende Hintergründe, Kontexte und Zugänge zu den jeweiligen Narrativen auszeichnen, entwickelt sich eine Spannung, die zudem auf der Ungleichheit der Einsicht in das erzählte Geschehen beruht. Um sich dieser ungleichen Einsicht zu nähern und die Personifizierungen der Erzählung nachzuzeichnen, muss zunächst zwischen zwei Kernfragen an die Erzählung unterschieden werden: „Wer sieht?“ und „Wer spricht?“. Diese Fragen beschreiben im Kern den Unterschied, den die Literaturtheorie als Fokalisie-
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rung eingeführt hat. Der Ansatz geht zurück auf Gerard Genette (2010), der erstmals die Instanz des Fokalisators (Bal 2009: 147) einführte und somit über eine bloße Darstellung der Erzählperspektive hinauswies. Genette und später Bal trennten die beiden eingangs aufgestellten Fragen voneinander, indem sie sie unterschiedlichen Instanzen zuordneten. Der Fokalisator ist die Instanz, durch die das Geschehen erfahren wird, während die Erzähler*innen im wörtlichen Sinne sprechen. Die Kernfragen lassen sich also differenzieren in: „‚Wer spricht‘ und ‚Aus wessen Sicht erfolgt die Darstellung‘“ (Culler 2002: 129)? Auch die politischen Narrative kennen den Modus der Fokalisation: Die Fokalisation durch den Erzähler, also seine Blickrichtung auf das Geschehen und die auftretenden Figuren, richtet zugleich das Wahrnehmungsfeld der Rezipienten aus, ebenso wie die Erzählstimme dem Hörer/Leser/Zuschauer Ort-ZeitKoordinaten im beziehungsweise zum Geschehen zuweist (Koschorke 2012: 85).
Die Positionierung von Erzählinstanzen zu betrachten stellt für die Politikwissenschaft kein nachgelagertes Spezialwissen dar. Vielmehr berührt es weitere wichtige Aspekte der Auseinandersetzung mit Sprache und Sprechsituationen, die auch im Wahlkampf ihre Wirkung zeigen. „Sehen, Sprechen und Wissen sind im Prozess der Narration ineinander verwoben, aber niemals deckungsgleich oder simultan“ (Koschorke 2012: 86). Über die Rekonstruktion der Erzählsituation entsteht ein Bild der Bedeutungszuschreibungen, das sich nicht als Produkt der Inhaltsebene des Gesagten, sondern aus dem dynamischen Geflecht der in Beziehung stehenden Subjekte ergibt. Scholes, Phelan und Kellog (2006: 240) betonen, dass in der Beziehung zwischen Erzähler*in und Erzählung und in der Beziehung zwischen Erzähler*in und Publikum die Essenz narrativer Kunst liegt. Erzählungen sind also multiperspektivisch und unterscheiden sich in ihrer Deutung je nach Standpunkt. Während der politische Akteur als Erzähler*in oftmals in seiner Rolle wahrgenommen wird, diese gewissermaßen essenzieller Bestandteil seiner Person geworden ist, wird das Publikum meist versuchen, zu dem „Menschen hinter der inszenierten Fassade“ durchzudringen. Dabei scheint dieses Streben nach Nähe ein kompliziertes Unterfangen, da es dem Problem der Authentizitätsnarration unterliegt, die an anderer Stelle bereits thematisiert wurde (vgl. Kap. 2.3). Gleichzeitig gilt für den politischen Akteur in seinen Bemühungen um Machterhalt oder -gewinn, dass das Kreieren und Aufrechterhalten seiner öffentlichen Rolle außergewöhnliche Anstrengungen und ein hohes Maß an Handlungsfähigkeit bedürfen (Alexander 2011: 121). Erzählsituationen stellen sich als hochgradig komplexe Gebilde dar, wenn wir berücksichtigen, dass es sich um eine Konstellation aus internen und externen Personifizierungen der Erzählung und deren Beziehungen zum Publikum sowie zum polyphonen Kontext handelt. Es gilt folglich einerseits herauszuarbei-
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ten, in welcher Beziehung die Erzählinstanzen zu den internen Figuren der Erzählung stehen, und andererseits, wie beide mit dem Publikum interagieren. Zu fragen ist, ob interne und externe Personifizierungen zur Deckung gebracht werden oder ob bewusst eine Distanzebene eingezogen wird. Werden die politischen Akteur*innen zu Charakteren ihrer eigenen Erzählung oder setzen sie sich selbst als Handelnde ins Zentrum ihrer Narrative? Und was geschieht in diesem Zusammenhang mit dem Publikum selbst? Wird es einzig als Empfänger Teil der Erzählsituation oder spielt es im Rahmen der Erzählung selbst eine Rolle? Die Betrachtung der Fokalisierung kann hierüber Aufschluss geben. Gerade in politischen Kontexten, wenn Akteur*innen für eine bestimmte Gruppe sprechen, etwa Arbeitnehmer*innen, die Mittelschicht, junge Familien etc., wird die Differenz zwischen Sprechenden und Sehenden offenbar. Nur wenn die Probleme, Wünsche, Hoffnungen und politischen Anliegen der betreffenden Gruppe von Wähler*innen konsequent aus einer Innensicht präsentiert werden, erscheinen die Erzähler*innen als Teil der internen Figuren. Bleiben sie jedoch in der Rolle der allwissenden Erzähler*innen, so kann ihnen schnell ein bevormundender Charakter unterstellt werden. Einige Passagen aus dem TV-Duell helfen, diese Differenz zu verdeutlichen. So ist von Peer Steinbrück zu vernehmen: [A] Tja, und gleichzeitig beschäftigt die Menschen aber: [B] wie sieht es mit meiner Zukunft aus? Wie sieht es mit der Pflege meiner Angehörigen und von mir aus? Wann war die letzte Pflegereform? Wie sieht es aus mit der Bekämpfung gegen die Altersarmut? Was ist mit der Finanzlage meiner Kommune? Wie wird eigentlich diese Energiewende gestaltet? Kommen wir da eigentlich voran: ja oder nein? [C] Das sind alles Fragen, die die Menschen gleichzeitig beschäftigen. Wenn auf der anderen Seite ziemlich deutlich ist, dass 30 bis 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler […] sich erst in den letzten zwei bis drei Wochen entscheiden, ja dann ist auch nichts entschieden, dann sind diese Umfragen auch ziemlich Makulatur.
Steinbrück ist hier Erzähler einer narrativen Konfiguration, in der die Fokalisation im Verlauf der Erzählung wechselt.33 Die erste Passage [A] verweist auf eine allwissenden Erzähler, der im Sinne einer Nullfokalisierung mehr weiß als die handelnden Personen. Steinbrück kennt hier (vermeintlich) die drängenden Fragen der Wähler*innen. Diese formuliert er in Form einer internen Fokalisierung, in der er die Rede der Wähler*innen zu zitieren scheint [B]. Der Erzähler sagt hier anscheinend nicht mehr, als die Figuren wahrnehmen (Martinez/Scheffel 2012: 67). Steinbrück begibt sich durch diese interne Fokalisation auf eine Ebene mit den adressierten Wähler*innen, die sich in den jeweiligen Situationen (Pflege 33
Dieser Umstand gehört zum Wesen einer jeden Erzählung. So finden wir nach Genette keine Erzählung mit Reinformen bestimmter Fokalisierungstypen (2010: 136). Zur differenzierten Debatte um neuere Forschungen zur Fokalisierung siehe auch Klauk/Köppe 2011.
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von Angehörigen, Altersarmut, etc.) befinden, und versucht somit, sich mit ihnen gemein zu machen. Dieser Versuch der Vereinnahmung kann selbstredend scheitern. Vor allem dann, wenn den erzählenden Subjekten in ihrer jeweiligen Rolle ein solches Maß an Empathie nicht zugesprochen wird, kann sich die interne Fokalisation als Beleg für mangelnde Authentizität gegen sie drehen. Die Fokalisation bezeichnet die Beziehung zwischen der Wahrnehmung einer Erzählung und der in ihr ablaufenden Ereignisse (Bal 2009: 149). Dieses Spannungsverhältnis schiebt sich bisweilen zwischen den Erzähler und die wahrnehmende Instanz und kreiert somit eine Distanz zur Erfahrungswelt des Narrativs. Ein Blick auf die Art und Weise, wie die Erzählung fokalisiert wird, kann demnach Einblicke in die Anschlussfähigkeit bestimmter Erzählweisen geben. Dennoch kann hier nicht unbeachtet bleiben, dass sich eine Übersetzung der Theorie der Fokalisierung in die politikwissenschaftliche Anwendung der Narrativanalyse schwierig gestaltet. Die kurze Diskussion ist jedoch wichtig, um die Komplexität von Erzählsituationen darzustellen und sie nicht auf klassische Sender*innen-Empfänger*innen-Modelle zu reduzieren. Das Bewusstsein für die Diversität der Textebenen gewährt Einblicke in die Vielfältigkeit der Faktoren einer Sprachanalyse. Diese lässt sich eben nicht auf eine umgrenzte Anzahl an Variablen reduzieren, sondern verbleibt vielmehr in einem permanenten Status der Unzulänglichkeit. Neben der Fokalisierung ist vor allem das Verhältnis von Erzähler*in und Publikum zu berücksichtigen, um die Erzählsituation angemessen rekonstruieren zu können. Dies gilt vor allem, da es sich bei der Rezeption von Erzählungen nicht um einen passiven Vorgang, sondern um einen aktiven „Prozess der Bedeutungskonstruktion“ (Christmann 2011: 168) handelt. Wurde die Rezeptionsseite im bisherigen Verlauf der Arbeit eher vernachlässigt, so wird sie hier zumindest ansatzweise thematisiert und in Beziehung zum Erzählprozess gesetzt. Dabei folgt die hier vorgeschlagene Analyse weiterhin der Handlung des Erzählens und verlässt sich nicht auf eine rezeptionsästhetische Interpretation. Dennoch muss die Narrativanalyse dem Umstand Rechnung tragen, dass sich die Forschenden nur auf ihre eigene Rezeption der Erzählungen verlassen können. Die analysierten Erzählungen sind nicht vom Prozess der Bedeutungskonstruktion der Forschenden zu trennen. Das Verhältnis der Erzählenden zum Publikum ist in unserem Zusammenhang insofern von Interesse, als dass die implizierten Leser*innen34 Teil der Rekonstruktion einer politischen Erzählung sind. Sie sind einerseits als „presumed addressees“, andererseits als „ideal recipients“ Bestand34
Die Erzähltheorie spricht in der Regel von impliziten Leser*innen. Analog dazu wird hier der Begriff der Rezipient*in verwendet, da somit die Verschiedenartigkeit der Zeichen zum Ausdruck gebracht wird. Implizite Rezipient*innen können sowohl Leser*in als auch Zuhörer*in, Zuschauer*in, Passant*innen etc. sein (vgl. Eco 1998)
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teil der Vorstellungswelt der Erzähler*innen (Schmid 2011: 5 f.). Als mutmaßliche Adressat*innen fungieren die impliziten Leser*innen insofern, als dass ihre linguistischen Codes sowie Normen und Werte bei der Interpretation einer Erzählung berücksichtigt werden müssen (Schmid 2011: 5). Genau aus diesem Unterschied leiten sich die verschiedenen Rollen der politischen Subjekte als Akteur*innen ab und lassen Merkel einerseits als Parteivorsitzende, andererseits als Kanzlerin erzählen. Dabei kann es zu Fehleinschätzungen bei der Projektion auf die impliziten Leser*innen kommen. So ist es durchaus möglich, dass die Erzählungen Werte oder andersartige Konfigurationen transportieren, die Widerspruch provozieren und vom Publikum nicht geteilt werden. So kann es laut Schmid (2011: 6) vorkommen, dass die Erzähler*innen die philosophischen und ideologischen Positionen der Rezipient*innen falsch einschätzen oder die interpretative Offenheit ihrer Erzählung unterschätzen und somit nicht zu geteilten Urteilen gelangen. Implizierte Leser*innen bleiben ein Konstrukt in der Vorstellungswelt der Erzählinstanz. Im Wahlkampf entspricht er in der Regel den Wähler*innen. Es gibt kaum Akteur*innen, die in ihren Erzählungen nicht das gesamte Wahlvolk zu adressieren suchen oder zumindest die eigenen Wähler*innenpotenziale im Blick haben. Das strategische Anliegen der Ansprache aller Wähler*innen kann jedoch gerade durch den erzählerischen Modus scheitern – gerade dann, wenn die intendierten Rezipient*innen sich nicht von der Erzählung angesprochen fühlen oder gar in einem Reaktanzmoment die eigene Beteiligung an der Erzählsituation verweigern. Durch den Blick auf die Erzählsituation werden Rezipient*innen also in zweierlei Hinsicht Teil des Narrativs: Zum einen sind sie Adressat*innen und somit Beteiligte des Aussageereignisses, zum anderen sind sie als implizite Rezipient*innen stets schon in das Aussageereignis selbst integriert. 4.2.3 Vorschlag zur Analyse Wie in den vorangegangenen Abschnitten gezeigt wurde, steht die Analyse der Erzählinstanzen vor verschiedenen komplexen Problemen. Zunächst muss zwischen externen und internen Instanzen unterschieden werden, wobei beide durchaus aufeinander verweisen oder im Sinne einer internen Fokalisierung zur Deckung gebracht werden können. So ist die polyphone Erzählsituation zu rekonstruieren, in der von den spezifischen Metaphern Gebrauch gemacht wird und die somit auf die vorliegende narrative Konstruktion einwirkt. Das Geflecht der Anthropomorphismen zu entwirren ist also die Aufgabe dieses Abschnitts der Narrativanalyse. Ausgangspunkt bildet dabei die in Kapitel 4.1.3 dargelegte Vorsortierung der narrativen Metapher. Hier schließt sich eine dreischrittige Un-
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tersuchung an, als deren Ergebnis ein tieferes Verständnis für die Komplexität von Akteursbeziehungen steht. (1) Der erste Schritt der Untersuchung besteht in der Deskription der externen Erzählinstanzen. Hier werden die verschiedenen Erzähler*innen – im Sinne eines polyphonen Erzählverständnisses – der narrativen Konstruktion benannt. Dabei ist die jeweilige Sprechsituation, die Rolle der Erzählenden sowie die expliziten und impliziten Adressat*innen zu benennen. Der erste Analyseschritt beantwortet die Frage „Wer spricht?“ und gibt zusätzlich Auskunft über das „Zu wem?“. Die Antworten auf diese Fragen können vielfältig sein, da sich bestimmte metaphorische Konstruktionen, die den Ausgangspunkt bilden, nicht nur in einer Situation finden lassen, sondern vielmehr – einem polyphonen Verständnis nach – an unterschiedlichen Stellen auftauchen können. (2) Auf diese Darstellung der Erzählsituation erfolgt der Blick in das „Innere der Erzählung“. Erst die Rekonstruktion der Rollen und Charaktere der Erzählung lassen Rückschlüsse auf die Handlungsmotive und -absichten der Akteur*innen zu. Um das Personal der Erzählung zu bezeichnen, wird die zitierte Belegstelle der Metapher benötigt. Sie ist die kleinste sprachliche Einheit, aus der sich die Instanzen der Erzählung extrahieren lassen. Dabei kann die Aufteilung der unterschiedlichen Rollen durchaus abweichen, je nachdem, welcher Bezugsrahmen genauer untersucht wird. Ziel dieses Untersuchungsschrittes ist es, eine mögliche Differenz oder gegebenenfalls eine Deckung von externen und internen Figuren der Erzählung zu finden. Somit wird die Frage „Wer sieht?“ beantwortet. (3) Schließlich wird in einem dritten Analyseschritt das Beziehungsgeflecht der verschiedenen Rollen und Charaktere erörtert. In den Relationen der Erzählinstanzen – so die erkenntnisleitende Vermutung – lassen sich die identitätsstiftenden Momente der Erzählung rekonstruieren. Den externen Erzählinstanzen werden in den verschiedenen Erzählsituationen verschiedene Rollenprofile erzählerisch anverwandelt. Durch eine analytische Aufschlüsselung der spezifischen Verwendung einer Leitmetapher in einer konkreten Erzählsituation lassen sich die (Selbst-)Zuschreibungen bestimmter Identitäten aufdecken. Gleichzeitig werden diejenigen Rollen sichtbar, die für die jeweiligen politischen Gegner*innen angedacht sind, denn Rollenzuschreibungen im politischen Diskurs sind zu gleichen Teilen Ergebnis der Selbst- wie der Fremdwahrnehmung und lassen sich nur durch ein polyphones Erzählgeflecht stabilisieren.
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4.3 Plot-Muster, Konfiguration und die Organisation von Zeitlichkeit „Let us define a plot. We have defined a story as a narrative of events arranged in their time-sequence. A plot is also a narrative of events, the emphasis falling on causality. ‚The king died and then the queen died‘ is a story. ‚The king died, and then the queen died of grief‘ is a plot“ (E. M. Forster, Aspects of the Novel, S. 86). Grundlegende Operation einer Erzählung ist die Konfiguration. Jeder Erzählung ist dieser Prozess inhärent: „Es muss eine Ausgangssituation geben, einen Wandel, der irgendeine Form der Verkehrung mit sich bringt, und eine Lösung, die den Wandel als bedeutungsvoll ausweist“ (Culler 2002: 122 f.). Gilt diese Operation als grundlegend für literarische Erzählungen, so lässt sich dies im besonderen Maße für politische Narrative behaupten. Da Politik stets gezwungen ist, auf die Ereignisse der Welt (sprachlich) zu reagieren, sie fassbar in Worte zu kleiden und daraus Handlungsoptionen und -empfehlungen abzuleiten, müssen politische Narrative ein Moment der Transformation aufweisen. Wandel und Veränderung sind Größen, mit denen die Politikwissenschaft in ihrer Arbeit stets konfrontiert ist und auf die sie theoretisch, methodisch und analytisch reagieren muss. Die politikwissenschaftliche Narrativanalyse versucht, dieser Notwendigkeit mit der Hervorhebung der Konfiguration als Teil des Erzählprozesses zu begegnen. In der Konfiguration politischer Erzählungen zeigt sich in besonderer Weise das zunächst paradox erscheinende epistemologische Problem der Gleichzeitigkeit von Stasis und Bewegung. Ausgehend von einer der Quantenphysik entlehnten Vorstellung politischer Phänomene sind Narrative gleichzeitig prozessual und konkret. Einerseits finden wir Metaphern und anthropomorphe Figuren als erzählerische Elemente vor, andererseits befinden sich diese in ständiger Bewegung. Vor allem die Bezüge singulärer Erzählelemente sind fluide und wandeln sich – ebenso wie ihre Bedeutungen – permanent. Mit der Konfiguration ist dieser Zustand gleich in doppelter Hinsicht in den Blick genommen: Während sich Erzählungen selbst als Analyseeinheiten ständig wandeln, werden sie erst durch eben diesen Wandel konstituiert. Die Konfiguration kann also in gewisser Weise als externes wie internes Merkmal des Erzählerischen gelten. Da es sich bei der Narrativanalyse um eine Reaktion auf die Komplexität dieser sprachlichen Wandlungsprozesse handelt, muss sie an den dynamischen Schnittstellen ansetzen, die von der Diskursanalyse oder der Begriffsgeschichte nicht primär bearbeitet werden. Die Konfiguration erzählerischer Elemente ist eben jene Schnittstelle, die sich zwischen Semantik und Diskurs schiebt. Konfiguration als ein „Dazwischen“ (Koschorke 2012) öffnet den Blick für ein Konzept, ohne das Erzählungen nicht denkbar wären: die Konfiguration von Zeitlichkeit. Da Zeit seit dem
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20. Jahrhundert nicht mehr als einförmige und lineare Erstreckung gedacht [wird], richtet sich die Aufmerksamkeit auf Modi der Sequenzierung, Periodisierung und Synchronisierung, der Abfolge und Gleichzeitigkeit, durch die, abhängig von den jeweils herrschenden historisch-kulturellen Bedingungen, Weltzusammenhänge allererst erzeugt werden (Koschorke 2012: 203).
Ein solcher Modus ist die erzählerische Konfiguration. Im Folgenden wird zunächst das grundlegende Verhältnis von Zeitlichkeit und Erzählungen beleuchtet, um im Anschluss die Operation des Konfigurierens dieser Zeit besser verstehen zu können. 4.3.1 Zeitlichkeit von Erzählungen Die Verbindung von Zeitlichkeit und Narrativität ist an den verschiedensten Stellen intensiv diskutiert worden. Den wohl umfangreichsten Vorschlag zu einer theoretischen Einfriedung dieses komplexen Verhältnisses hat Paul Ricœur (1980) vorgelegt. In Ricœurs Konzeption einer reziproken Beziehung ist die Zeitlichkeit der ultimative Referenzpunkt des Erzählens, wobei sie gleichzeitig die Struktur der Sprachlichkeit im Narrativen bedingt (Ricœur 1980: 169). Wirkt diese Umschreibung zunächst überaus sperrig, so wird doch eine erste Annäherung an den Moment der Konfiguration von Zeitlichkeit erkennbar, denn eine Erzählung lässt sich nie ohne die Organisation von chronologischen Abläufen denken. Dabei ist gerade der kritische Blick auf diese Operation des Erzählens dazu imstande, die alltägliche – und oft unbewusste – als linear wahrgenommene Abfolge von Ereignissen zu hinterfragen (Ricœur 1980: 170). Auch Chronologien werden erst durch Erzählungen konstruiert. Albrecht Koschorke hat diesen Prozess sehr treffend als kulturelle Modellierung von Zeit bezeichnet: Menschliche Geschichte vollzieht sich demnach nicht nur in der Zeit, sie ist keine bloße Ereigniskette im Takt einer auf ewig festgelegten chronometrischen Ordnung, sondern bringt ein vielfach gegliedertes Zeituniversum mit seinen Übergängen, Abrissen, Sprüngen, Wiederholungen, Dehnungen und Beschleunigungen hervor. In dieser kulturellen Modellierung von Zeit wirken Techniken und symbolische Verfahren zusammen, so dass Praxis und Wissen immer neu aufeinander abgestimmt werden müssen (2012: 203).
Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass es in den Wissenschaften konträre Meinungen zur erzählerischen Verhandlung von Zeitlichkeit gibt. So geht beispielsweise William Labov (1972: 359 ff.) davon aus, dass wir nur von einer narrativen Struktur sprechen können, wenn die erzählerische Darstellung von Ereignissen mit dem chronologischen Ablauf des Geschehens übereinstimmt. Nach dieser engen Definition wären jedoch Analepsen und Prolepsen keine erzähleri-
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schen Stilmittel. Labov versucht in seinen soziolinguistischen Studien über die narrative Struktur der Aussagen von Jugendlichen, auf ihren Erfahrungen zu schließen und die kommunikativen Muster des Erfahrungsaustauschs zu entschlüsseln. Dabei unterliegt seine Theorie einer scharfen Trennung von faktualem und fiktionalem Erzählen, die in der Narratologie noch immer viele Vertreter findet (vgl. Martinez/Scheffel 2012). In Abgrenzung zu dieser klassischen Narratologie wird in dieser Arbeit die Bindung des chronologischen Handlungsablaufs an die Zeitstruktur der Erzählung aufgehoben. Zeit wird als komplexe Struktur mit mehreren Ebenen wahrgenommen und nicht nur als eine lineare Abfolge von Jetzt-Ereignissen (Ricœur 1980: 170). Dies zeigt zum Beispiel der standardisierte Aufbau von Nachrichten oder Zeitungsartikeln, die in der folgenden empirischen Analyse eine große Rolle spielen. Jede Meldung in den Fernsehnachrichten beginnt mit einer kurzen Synopse der Nachricht (Arnold 2012: 33).35 So wird schon in der medialen Vermittlung des Wahlkampfes die Chronologie der Ereignisse permanent bewusst durcheinander gebracht, um das Geschehen in eine intelligible Form zu bringen und schließlich auch zu bewerten. Dieser Prozess lässt sich ebenfalls bei den politischen Akteur*innen beobachten, vor allem dann, wenn sie Verbindlichkeiten herzustellen versuchen: Denn immer dort, wo politische Probleme und Lösungsstrategien verhandelt werden, sind die Akteure dazu gezwungen, in der Zeit zu springen, das Vergangene nach Ursachen abzufragen und das Künftige in Szenarien zu zerlegen, um so Aussagen über die Handlungsalternativen in der Jetztzeit gewinnen zu können (Yildiz et al. 2015: 425).
Erzählungen verhandeln demnach stets unser Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Jedem dieser Zeitzustände lassen sich bestimmte Eigenschaften zuordnen, die als archetypische Merkmale in unserem Allgemeinverständnis die politischen Implikationen des Wahlkampfgeschehens präfigurieren. Während die Vergangenheit als Ausgangspunkt das Setting der jeweiligen Erzählung markiert und die Zukunft eine Projektion wünschenswerter oder katastrophaler Zustände darstellt, zeigen sich in der erzählerischen Deutung der Gegenwart oftmals die (politischen) Handlungsoptionen der Akteur*innen. Gegenwartskonfigurationen müssen dabei auf das imaginative Zeichenarsenal zurückgreifen und verwenden häufig Metaphern, um zukünftige Szenarien zu entwerfen. Der Gegenwart ist immer ein Bezug zur Zukunft und zum Werden inhärent. 35
Über den narrativen Gehalt von Nachrichtenmeldungen lässt sich grundsätzlich streiten. Im Verständnis dieser Arbeit unterliegen aber auch Nachrichten einer narrativen Struktur, in der die Nachrichtensprecher*innen als Erzähler*innen auftreten, ein Publikum adressieren und sich einer notwendig metaphorischen Sprache bedienen.
4.3 Plot-Muster, Konfiguration und die Organisation von Zeitlichkeit
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Ein Wissen von der Zukunft, ebenso wie eine Verständigung über sie, ist nicht möglich ohne Rückgriff auf Erzählungen, die von der Zukunft aus auf die Gegenwart ‚zurückblicken’ oder die aus der Kenntnis bisheriger Verläufe eine Voraussage über das Kommende extrapolieren. Solche Narrative strukturieren die Art und Weise, wie wir Künftiges antizipieren, planen, aber vor allem auch zu verhindern suchen. Das Verhältnis zur Zukunft ist daher nicht denkbar ohne Metaphern, Visionen oder hypothetische Szenarien möglicher künftiger Welten (Horn 2014: 22 f.).
Gerade in Wahlkämpfen sind die Zukunft und unsere Vorstellungen von ihr von entscheidender Bedeutung. Während etwa Regierungen in der Gegenwart agieren und Antworten auf aktuelle, zeitnahe Problemstellungen finden müssen, lassen sich in den Kampagnen Entwürfe einer zukünftigen Gesellschaft verhandeln (Alexander/Jaworsky2014: 10). Eine besondere Schwierigkeit für die Narrativanalyse liegt in der Erfassung der Gegenwärtigkeit als Zeitpunkt der Sprechhandlung. Um diese dynamische Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft zu erfassen und sich möglichst nah an die Gegenwärtigkeit kultureller und politischer Sinnkonstruktion zu bewegen, muss die Kontingenz des Gegenwärtigen ernst genommen werden. Denn letztlich lässt sie sich nicht abbilden. Gegenwart, so Deleuze, „ist das, worin die Struktur sich verkörpert, oder vielmehr das, was sie konstituiert, indem sie sich verkörpert. Doch durch sich selbst ist sie weder gegenwärtig noch fiktiv, weder real noch möglich“ (1992: 27). Wenn also das Gegenwärtige selbst ein unerreichtes Oszillieren bleibt, kann es nur als idealtypischer Zielpunkt der Analyse dienen. Für die Narrativanalyse folgt so unmittelbar eine rekonstruktive Forschungslogik. Narrative sind immer nur historisiert auffindbar und können nachgezeichnet werden. Zwar besteht potenziell die Möglichkeit, eine politische Erzählung im Werden zu begleiten, also die Analyse parallel zu ihrer Entstehung stattfinden zu lassen, doch ist der Regelfall ein anderer. Meist müssen wir uns mit einer vorgefundenen Erzählung auseinandersetzen, die ihren Ursprung in Vergangenheit hat. Sie kann zwar Zukunftsmodelle enthalten, doch sind diese selbstverständlich fiktiver Natur und somit Ergebnis der Erzählung. 4.3.2 Konfiguration Metaphorische Reflexionsspiele bleiben nicht an situativen Erzählsituationen und ihrer Übersetzung in politische Funktionsrollen stehen. Sie gehen meist in eine narrative Konfiguration der Ereignisse über, die die politischen Akteur*innen mit einer Vorstellung von einem zeitlichen Davor und Danach ihrer Irritationserfahrungen versorgt und diese Vorstellungen in ein handlungsstiftendes „Wegeneinander“ (Koschorke 2012: 75) überführbar macht. Dazu ist die Bildung sequenzieller Ordnungen erforderlich, in denen akute Irritationserfahrungen mit
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früheren Ereignissen kausal verknüpft werden (Somers 1994; Czarniawska 2004: 19). Diese narrative Praktik stellt eine Grundoperation des Erzählens dar, insofern sie dazu beiträgt, dass der Anschluss an die kulturellen Gedächtnisbestände gewahrt und den Situationsdefinitionen und Rollenbildern der „Anschein natürlicher Evidenz“ (Koschorke 2012: 245) verliehen werden kann. Das zentrale Anliegen dieser Praktik ist nicht das Einfrieren der Jetztzeit in kalkulierbaren Situationsdefinitionen oder die Übersetzung von überlieferten Identitäten zu funktionalen Rollen. Es ist die zeitliche Dehnung der Erfahrungen, die es ermöglicht, vorausgehende Ereignisse in die akuten Fälle einzubeziehen und sich an einem hinreichend tiefen und politisch manipulierbaren „Gesamtgeschehen“ zu orientieren. Nur so ist die Formierung zielgerichteter und organsierterer politischer Handlungsvorgaben möglich. Dabei können selbst widersprüchliche Semantiken angenähert oder bis dahin Zusammengedachtes auseinandergezogen werden. Die verhandelten Identitäten und Rollenbilder können mit Blick auf die Kausalitätsimaginationen verschoben werden, um genauere Vorstellungen von den potenziellen Verursachern, den Erlösern und Helfern zu erhalten. Es ist aber auch denkbar, dass die Kausalitätsvorstellungen selbst dem Beharrungsvermögen der verhandelten Rollenbilder unterzogen und dadurch modifiziert oder kritisch hinterfragt werden. Zentral für diese narrative Praktik ist die Bestimmung des Anfangs; nicht nur, weil jede Geschichte anfangen muss, sondern auch, weil der Anfang den Stoff für die Ursache liefert. Aus diesem Stoff werden Verantwortlichkeiten hergestellt. Es ist beispielsweise ein erheblicher Unterschied, ob die Finanzkrise von der Haushaltspolitik überschuldeter Staaten oder von einer Regulierungsschwäche neoliberaler Regierungen ausgehend erzählt wird. Ebenso folgenreich ist es, wenn am Anfang der Überwachungsaffäre nicht die Eigendynamik der Geheimdienste, sondern die Neuartigkeit der digitalen Kommunikation steht. All dies wirkt sich darauf aus, wer als Bösewicht verfolgt oder als Heldenfigur zur Tatkraft aufgerufen wird. Die Zeit im Modus des Erzählens zu verarbeiten, ist die Aufgabe der Konfiguration. Sie kann als Basisoperation des Narrativen bezeichnet werden. Paul Ricœur differenziert sie als eine der mimetischen Handlungen in seiner Theorie der erzählerischen Zeiterfahrung aus. Die Konfiguration wird von Ricœur „im Sinne eines allgemeinen Paradigmas der Erzählung verstanden, das als solches Differenzierungen in Hinblick auf Gattungen und Typen des Erzählens vorgängig und sowohl für die historische, als auch die fiktionale Erzählung maßgeblich ist“ (Scharfenberg 2011: 136). Für die Konfiguration als Operation des Erzählens ist es folglich unerheblich, ob wir es mit Fakt oder Fiktion zu tun haben. Zwar lassen sich für historisch-faktische wie für literarisch-fiktive Erzählungen Unterschiede und Differenzen in der Art und Weise der Konfiguration ausmachen, doch ist beiden der Akt selbst zu eigen.
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Im Akt der Konfiguration verschwimmt die bisweilen künstlich gezogene Grenze zwischen Faktischem und Fiktivem, obwohl sich beide Sphären in erster Linie „hinsichtlich ihrer Referenzdimension und des ihnen inhärenten Wahrheitsanspruchs“ (Scharfenberg 2011: 136) unterscheiden. Während das Faktische den Bezug zur (auch durch Erzählungen) erfahrenen sozialen Wirklichkeit sucht, kommt die fiktive Erzählung ohne den Wahrheitsanspruch einer wahrheitsgemäßen Wiedergabe des Geschehens aus (Scharfenberg 2011: 136 ff.). Dabei zeigt sich hier im Akt der Konfiguration, der auch die kreative Komponente des erzählerischen Diskurses verkörpert, dass Erzählen nicht nur die Beschreibung von Ereignissen und die erzählerische Nachahmung von Handlungen umfasst, sondern auch die Neukombination von Elementen ermöglicht (Viehöver 2012: 69).
Die reine Nutzung einer Metapher durch die internen wie externen anthropomorphen Instanzen der Erzählung kann, wie gezeigt wurde, noch nicht allein als erzählerisches Konstrukt gelten. Die Konfiguration lässt den Narrativbegriff präziser werden. Nur jene sprachliche Einheiten, die im Gegensatz zu Listen und Chroniken, zu Nachrichten und Typologien einzelne Vorfälle zu einem als „als Handlungsablauf faßbares Geschehen zusammenfassen“ (Knape 2003: 98) und somit den Erfahrungen der Welt Kohärenz verleihen (White 2008: 4), können als Narrative verstanden werden. Zu konfigurieren bedeutet für den homo narrans also immer auch die Herstellung von Kausalität. Dass diese jedoch nicht im Gewand rationaler Argumente, sondern als relationale Beziehung bestimmter Erzählkomponenten gewonnen wird, hat Margaret Somers (1994: 616) herausgestellt. Sie verwendet den Begriff des Emplotments, um zu zeigen, wie aus einem bloßen Nach- und Nebeneinander ein sinnhaftes „Wegeneinander“ (Koschorke 2012: 75) wird. Durch die Konfiguration ist in der Erzählung die Möglichkeit unterschiedlicher Weltdeutungen angelegt. In ihr zeigt sich die Existenz konkurrierender Wahrheiten (Rimmon-Kenan 2006: 12), die sich nicht durch eine Letztentscheidung auflösen lässt. Hier scheint sich ein Relativismus Bahn zu brechen, der auf dieser Einsicht und der sich anschließend notwendigen Kontingenz aufsattelt. Der Akt der Konfiguration ist durchaus folgenreich, da er Identitäten und Optionen perspektiviert und Realitäten dem Druck moralischer Urteile unterzieht (vgl. White 2008: 14). Dies zeigt sich etwa, wenn bestimmte Ereignisabläufe von verschiedenen Erzählern unterschiedlich geordnet und narrativ gedeutet werden oder aber wenn (politische) Figuren wie beispielsweise Julian Assange einerseits als Freiheitskämpfer, andererseits als manipulativer und misogyner Intrigant erzählt wird. In der unterschiedlichen Auslegung bestimmter Handlungsabläufe sieht auch Fritz Breithaupt das Wesen des Narrativen begründet:
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4 Heuristik: Drei Kernelemente der Narrativanalyse Immer wenn zwei oder mehr Versionen eines Hergangs von intentional handelnden Akteuren gleichzeitig zur Verhandlung stehen, die sich nicht ausschließlich anhand des beobachteten objektiven Sachverhalts unterscheiden lassen […], liegt eine Narration vor (2011: 38).
Breithaupt wählt einen weiten Narrativbegriff und zielt in seiner Definition auf das Konzept von Rede und Gegenrede ab, das in der Tradition der Aristotelischen Rhetorik zu sehen ist. Schon hier finden sich Definitionsversuche, die ihren Blick auf den Disput und die notwendig unterschiedlichen Konfigurationen vor Gericht richteten (Aristoteles 2007). Problematisch an dieser Definition ist allerdings die Erklärung ex post. Eine Erzählung kann nach Breithaupt nur dann zur Erzählung werden, wenn sich gleichzeitig eine alternative Konfiguration des Geschehens ihren Weg in den Diskurs sucht. Das Erzählerische wäre somit keine wesenhafte Eigenschaft eines Sprechaktes, sondern würde sich erst durch die Diskurskonstellation ergeben. Zwar lassen sich aus dieser Begriffsbestimmung für die Sphäre des Politischen hilfreiche Gedankengänge herausfiltern, doch die hier zugrunde gelegte Definition geht wie gezeigt einen Schritt weiter und sieht das Erzählen als grundlegenden Modus menschlicher Kommunikation. 4.3.3 Plot Die Manifestation der Konfiguration in der Erzählung ist der Plot (Ricœur 1980: 171). Hier wird der Handlungsablauf für den Rezipienten erfahrbar. Es gibt folglich keine Erzählung „außerhalb des Plots“, die sich dem Publikum oder selbst dem Erzähler oder den Figuren der Erzählung darbietet. Der Plot einer Erzählung zieht uns zwangsläufig in seinen Bann, da wir gespannt der Auflösung entgegensehen und gleichzeitig mit unseren Hoffnungen und Wünschen auf ihn reagieren (Ricœur 1980: 174). Unsere Reaktionen werden gleichsam Teil des narrativen Prozesses. Der Plot stellt die Gesamtheit dar, die die Abfolge der Ereignisse und Handlungen der Erzählung regelt (Ricœur 1980: 171). Somit kann der Plot als Logik oder gar als Syntax eines Narrativs bezeichnet werden (Somers 1994: 617). Die Interpretation eines politischen Narrativs muss sich demnach auf die Struktur des Plots beziehen. Plot-Muster Diese Überzeugung, nach der im Plot bereits die interpretativen Grundlagen für die Analyse angelegt sind, geht auf die Arbeit Hayden Whites (2008) zurück. White arbeitete eine narrative Analytik für die Geschichtswissenschaften heraus, die sich zu großen Teilen auf die Plotstruktur als Kernelement des Narrativen konzentriert. Er formulierte vier grundlegende Plot-Muster, die die Art und Weise vorbestimmen, in der wir unsere Geschichte – hier explizit als Kollektivsingu-
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lar – schreiben. Kausalität vermittelt sich laut White immer in Form von Romanzen, Satiren, Komödien oder Tragödien (2008: 21 ff.). Diese „archetypischen Erzählformen“ (White 2008: 21) erwecken sowohl beim Erzähler als auch beim Rezipienten den „Anschein natürlicher Evidenz“, indem sie „soziale Erfahrungen und kulturelle Gedächtnisbestände“ aktivieren (Koschorke 2012: 245). Doch lässt sich die Wirkweise des Plots nicht auf diesen Mechanismus beschränken, der ihn letztlich auf eine Ebene mit kognitiven Frames stellen würde. Über die Frame-Systematik hinaus ist dem Plot die Fähigkeit zu eigen, selbst auf die kulturellen Gedächtnisbestände zurückzuwirken: Was der Plot einer Geschichte also leistet, ist nicht nur, eine Synthese von Ereignissen, Handlungen und Charakteren zu bewältigen und die Oberflächensemantik mit der Grammatik der Tiefenstrukturen zu verbinden. Der Plot aktiviert und refiguriert des Weiteren die Plotmuster einer Kultur und wendet diese auf thematische Erzählungen an (Viehöver 2014: 86).
Die archetypischen Erzählformen sind also Idealtypen, die der Analyse dienen. Gleichzeitig erschöpft sich die Gesamtheit der im Diskurs auffindbaren PlotMuster nicht in den vier Typen Whites. Darüber hinaus sind vielfältige Schattierungen wie die Tragikomödie oder die romantic comedy denkbar, die gegenwärtig das kulturelle Gedächtnis mitprägen. Das Konzept der Plot-Muster wurde von Deborah Stone für die Politikwissenschaft adaptiert und in das Feld sozialer Interaktion übertragen. Für sie sind zwei typische Erzählmuster dominant: die Erzählung des Niedergangs (story of decline) und die Erzählung der Hilflosigkeit und Kontrolle (story of helplessness and control) (Stone 2002). Beim ersten zentralen Erzählmuster, der Erzählung des Niedergangs, verweist die Handlung auf eine gute und schöne Vergangenheit, die in eine nicht hinnehmbare Gegenwart verwandelt wurde. An ihrem Ende steht eine Handlungsaufforderung: So kann es nicht weitergehen, wir müssen handeln! Folgende Passage aus Steinbrücks Antrittsrede als Kanzlerkandidat dient hier als Beispiel: Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat uns eines gezeigt, liebe Genossinnen und Genossen: Es ist etwas aus dem Lot geraten – in Deutschland und in Europa und in der Gesellschaft insgesamt. Das spüren nicht nur viele Menschen, das wissen und thematisieren auch viele aus Wirtschaft und Wissenschaft, kluge Zeitgenossen. Und was genau scheint aus dem Lot geraten zu sein? Der Philosoph Michael Sandel hat dies auf eine – wie ich finde – ganz eingängige Formel gebracht. Er sagt: ,Wir sind von einer Marktwirtschaft in eine Marktgesellschaft gerutscht‘. Die Marktwirtschaft ist ein bloßes Instrument. Die Marktgesellschaft ist eine Lebensweise, in der viele gesellschaftliche Bereiche einem ökonomischen Kalkül unterworfen werden sollten. Eine Marktgesellschaft ersetzt Moral und Ethik durch Egoismus und Renditemaxi-
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4 Heuristik: Drei Kernelemente der Narrativanalyse mierung. Das aber genau zerstört den Zusammenhalt und die innere Friedfertigkeit einer Gesellschaft. Genau das wollen Sozialdemokraten nicht (Steinbrück 2012).
Steinbrück verweist auf den moralischen Verfall der kapitalistischen Gesellschaft und macht ihn zum Ausgangspunkt sozialdemokratischer Politik. Die dramatische Spannung wird in den Erzählungen vom Niedergang durch den Bezug auf eine bessere Vergangenheit und die Kontrastierung mit gegenwärtigem Leid erzeugt (Stone 2002: 139). Die Erzählung des Niedergangs kennt zwei weitere Varianten. Zum einen die Geschichte des verhinderten Fortschritts (story of stymied progress), in der die Ausgangssituation als schlecht gezeichnet wird, dieser schlechte Zustand jedoch durch entschiedenes Handeln verbessert werden konnte. In diesem Sinne lässt sich Merkels Passage aus ihrer Rede beim CDU-Parteitag im Dezember 2012 deuten: Liebe Freunde, die gute Entwicklung unseres Landes ist nicht vom Himmel gefallen, sie ist das Verdienst fleißiger Menschen. Aber auch zu rot-grünen Zeiten waren die Menschen fleißig. Es hat nur weniger bewirkt, weil in den Jahren von Rot-Grün die Rahmenbedingungen nicht gestimmt haben. Das zeigt: Es macht eben einen Unterschied, wer regiert: ob Rot-Grün oder eine christlich-liberale Koalition. Darauf können wir stolz sein (Merkel 2012a).
Die zweite Variante ist die Erzählung des vermeintlichen Wandels (change-isan-illusion-story). In diesem Fall zeigt der Erzähler, dass das Gegenteil der weit verbreiteten Vorstellung einer Verbesserung oder Verschlechterung wahr ist und die Entwicklung in Wirklichkeit in die andere Richtung verläuft. Steinbrück bedient sich dieses Plot-Musters, um Merkels Deutung der Wirtschaftslage zu kritisieren: Das derzeit vergleichsweise gute Wirtschaftswachstum suggeriert ein ,Weiter so!‘, obwohl immer weniger davon profitieren und sich die Wolken am Konjunkturhimmel eher zuziehen (Steinbrück 2012).
Beim zweiten zentralen Erzählmuster, der Erzählung der Hilflosigkeit und Kontrolle (story of helplessness and control), ist die Ausgangssituation schlecht, doch werden die Held*innen der Geschichte (nicht notwendigerweise die Erzähler*innen) erzählerisch in die Lage versetzt, alles unter Kontrolle zu haben. Zwar seien die Umstände beinahe aussichtslos, doch erzählt der Plot von der für unmöglich gehaltenen Kontrolle durch den Protagonisten. Dieses Muster lässt sich u.a. in Angela Merkels Hannover-Rede entdecken:
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Gerade einmal drei Jahre ist es her, dass unsere Wirtschaft durch die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise um mehr als fünf Prozent eingebrochen ist. Das war der stärkste Wirtschaftseinbruch in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Für 2010, also vor zwei Jahren, mussten wir einen Krisenhaushalt mit einer Neuverschuldung von über 80 Milliarden Euro vorlegen. Das war die höchste Neuverschuldung in der Geschichte unseres Landes. 2011 dann haben wir als erstes Industrieland das Niveau von vor der Krise wieder erreicht. Mit gezielten Maßnahmen haben wir Beschäftigung gesichert und Wachstum geschaffen. Damit haben wir unser Versprechen gehalten: Wir haben Deutschland stärker aus der Krise geführt, als Deutschland in diese Krise hineingegangen ist.
Durch die Erzählung von Hilflosigkeit und Kontrolle werden ehemals zufällige, natürliche oder schicksalhafte Ereignisse der Kontrolle menschlichen Handelns unterworfen (Stone 2002: 143). Sie stellt ein grundlegendes Muster der Kontingenzbewältigung dar. Alle diese von Stone beschriebenen Plot-Muster führen jeweils eigene moralische Urteile mit sich (Wagenaar 2011: 213). Sie wirken jedoch nicht deterministisch, sondern stellen Foren bereit, in denen sich Erzähler und Rezipienten begegnen können. Auf diesen Foren werden politische Probleme verhandelt: Definitions of policy problems usually have narrative structure; that is, they are stories with a beginning, a middle, and an end, involving some change or transformation. They have heroes and villains and innocent victims, and they pit the forces of evil against the forces of good. The story line in policy writing is often hidden, but one should not be thwarted by the surface details from searching for the underlying story. Often what appears as conflict over details is really disagreement about the fundamental story (Stone 2002: 138).
Eine Berücksichtigung der Plot-Muster bei der Analyse politischer Narrative hilft, den Blick auf politische Konflikte zu schärfen. Diese zeichnen sich meist durch voneinander verschiedene narrative Strukturen aus und lassen sich auf unterschiedlich konfigurierte Plots zurückführen. Uneinigkeit besteht, wenn Einigkeit über eine gemeinsame Geschichte nicht erzielt werden kann, oder zumindest die fundamentalen Bestandteile der Erzählung als gemeinsame Basis der Verhandlung geteilt werden. Dies zeigt sich in den Beispielen aus den Reden Merkels und Steinbrücks. Sie nehmen implizit oder explizit Bezug auf die narrativen Konfigurationen des jeweils anderen. Hier lässt sich sehr schön zeigen, dass Politik sich erst im Modus der Erzählung konstituiert: In solchen Momenten, in denen die politischen Probleme nicht für sich sprechen, sondern erst zur Sprache gebracht werden müssen, äußert sich bereits die Kontingenz kommunikativer Prozesse (Gadinger et al. 2014: 25).
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Emplotment Die Erkenntnis der Kontingenz kommunikativer Prozesse führt einerseits zur Auflösung von Gewissheiten, befähigt andererseits jedoch die Akteur*innen, aus den strukturellen Fängen des Diskurses auszubrechen. Das Emplotment, also die Verwendung der geschilderten Plot-Muster, ist ein Moment der Kreativität, der die erzählenden Instanzen ermächtigt, Einfluss auf ihre Umwelt zu nehmen. Ein Beispiel kann die Wirkung dieses Emplotments veranschaulichen: Die CDU-geführte, christlich-liberale Bundesregierung ist die erfolgreichste Bundesregierung seit der Wiedervereinigung, weil wir mit dem tiefsten Stand der Arbeitslosigkeit seit 1990 und dem höchsten Stand der Erwerbstätigkeit, den wir jemals hatten, für Millionen Menschen und Familien Arbeit und Sicherheit geschaffen haben (Merkel 2012a).
Merkel setzt – intentional – einen Anfangspunkt und bedient sich somit eines sprachlichen Mittels, dass schon die antike Rhetorik als Narratio beschrieben hat. Die Narratio ist der Redeteil, der gemeinsam mit der Argumentatio den Hauptteil der Rede ausmacht. In ihr wird erzählt, was der Sachverhalt ist. Die eigenen Anliegen werden möglichst in ein positives Licht getaucht (Göttert 2009: 33). Die Setzung, welches Ereignis als erzählenswert, folglich als für die Story des Erzählers geeignet befunden wird, obliegt dem Erzähler selbst: „Erzählen ist eine hochgradig selektive Tätigkeit. Es hebt wenige Einzelzüge als signifikant aus einer Masse von Daten heraus“ (Koschorke 2012: 29). Im Moment des Anfangs finden wir meist die Problemidentifikation oder die Konstruktion des Falls. Von hier aus nimmt die Geschichte ihren Ausgang, auch wenn dieser Punkt oftmals fluide erscheint, wie Koschorke betont: Dabei ist zu berücksichtigen, dass erst das Ende den kompositorischen Anfangspunkt einer Handlung gewissermaßen ex post bestätigt, dass die narrative Struktur also nicht einfach linear uns progredierend, sondern in hohem Maße rekursiv angelegt ist (ebd.: 61).
Obwohl wir also den Startpunkt einer Erzählung zur Analyse herausgreifen können, werden wir ihn nicht losgelöst vom Ende interpretieren können. Nur in der Gesamtschau ergibt sich ein stimmiges Bild. Die Anfänge von Erzählungen werden dabei nicht selten durch eine Komplikation gekennzeichnet (van Dijk 1978: 141). Dieses Strukturmerkmal bezeichnet das Erzählenswerte, das Interessante, das Neue des erzählten Gegenstandes: „Es gibt also einen Teil des Textes/der Makrostruktur, dessen spezifische Funktion das Ausdrücken einer Komplikation in einer Handlungsreihe darstellt“ (van Dijk 1978: 141).
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Merkel hätte ebenso behaupten können, sie stünde der erfolgreichsten Regierung der Geschichte der Bundesrepublik vor oder sie hätte die wirtschaftlichen Erfolge mit Europa bzw. der westlichen Welt in Beziehung setzen können. Doch sie entschied sich für die direkte Konkurrenz zu den Jahren der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder (und zur letzten Legislaturperiode unter Helmut Kohl). Diese Konfiguration folgt dabei den „Vertrautheitserwartungen“ (Koschorke 2012: 29) der Rezipient*innen, als welche nicht nur die eigene Partei, sondern auch das (potenzielle) Wähler*innenklientel verstanden werden kann. Hätte Merkel ihr Erfolgsnarrativ in Abgrenzung zu den europäischen Bündnispartner*innen entwickelt, so würde dies nicht in die vertraute christdemokratische Erzählung des europäischen Friedens passen, sondern könnte viel eher europafeindliche Grundmuster aktivieren, wie sie beispielsweise im Europawahlkampf 2015 von der AfD zu vernehmen waren. Auch eine zeitliche Ausweitung auf „die erfolgreichste Bundesregierung seit der Gründung der Bundesrepublik“ hätte die Vertrautheitserwartungen enttäuschen können. Merkel hätte sich in dieser Konfiguration offen gegen die positive Vergangenheitsfolie Konrad Adenauer und die Traditionslinien der Partei gestellt. Es ist wichtig zu betonen, dass es nicht unmöglich ist, solche Narrative entgegen der Erwartungen im Diskurs zu verankern, doch ist der Erfolg gegenläufiger Erzählungen nur schwer zu antizipieren. So ist es zwar möglich, dass eine ungewohnte Geschichte „im Rezeptionsprozess entsprechend umgeschrieben und eingespielten Erzählmustern angepasst“ (Koschorke 2012: 29) werden kann, doch welche Faktoren diesen Erfolg begünstigen können, wird in dieser Arbeit nur implizit verhandelt. Eine Aufgabe der Narrativanalyse ist es also, die gegenläufigen narrativen Konfigurationen des Geschehens im Wahlkampf aufzuspüren und dem Emplotment Angela Merkels entgegenzustellen. Die Konfiguration der Ereignisse hört sich bei Peer Steinbrücks Rede vier Tage später gänzlich verschieden an: Frau Merkel sagt, sie führe die beste und erfolgreichste Bundesregierung seit der Wiedervereinigung. Selten so gelacht! Tatsächlich blendet die Bundesregierung die Realität aus. Das ist ungefähr so, als ob jemand im Winter vor seiner StrandmotivTapete steht und sich mit Sonnenmilch einreibt. Es gibt eben eine wachsende, eine steigende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern, die sich trotz stabiler Arbeitslosenzahlen und steigendem Wachstum ausgeschlossen und abgehängt fühlen. Das sind inzwischen Millionen in Deutschland. Es sind Menschen, mit denen wir Tag für Tag in Berührung kommen: zum Beispiel in Pflegeheimen, wo Pflegekräfte, die unsere Mütter und Väter teilnehmend und unter großer körperlicher Anstrengung betreuen, eben nicht angemessen bezahlt werden, und zum Beispiel in Produktionshallen von weltweit erfolgreichen Unternehmen, die Kolleginnen und Kollegen in der Montage beschäftigen, die das Gleiche tun, aber dennoch unterschiedlich – bis zu 30, 40 Prozent weniger – bezahlt werden (Steinbrück 2012a).
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Steinbrück verstärkte in seiner Konfiguration beispielsweise Aspekte der sozialen Gerechtigkeit und vernachlässigte die wirtschaftliche Erfolgsstory. Nun könnte man diesen Auszug und die darin geäußerte Sichtweise Peer Steinbrücks lediglich als die Betonung anderer Aspekte klassifizieren, doch würde dieses eher weiche Kriterium keiner Konzeptualisierung offenstehen. Steinbrücks Story unterscheidet sich von Merkels Konfiguration deutlich. Er verknüpft das Geschehen nicht zu einer Geschichte des Erfolgs, sondern betont die Probleme der sozialen Ungerechtigkeit, gewissermaßen also einer story of decline. In seiner Story finden wir Charaktere und anthropomorphe Akteur*innen (Koschorke 2012: 11), die der Identifikation dienen: Merkel, die die Realität ausblende, und die Bürger*innen, die sich abgehängt fühlen, sind solche Rollenbilder und Personifikationen, die kennzeichnend für Erzählungen sind. In diesem Ausschnitt aus Steinbrücks Rede lässt sich auch erneut der doppelte Charakter von Narrativen ablesen: So wie sie vor uns liegt, stellt die Rede eine eigene Geschichte dar, die sich unmittelbar auf das Narrativ Angela Merkels bezieht. Sie ist aber außerdem anschlussfähig an die Erzählungen, die aus dem SPD-nahen, merkelkritischen Lager in den Wahlkampfdiskurs einfließen und somit am Narrativ der Kanzlerinnengegner mitstricken. An dieser Stelle sei bemerkt, dass es im Folgenden nicht um eine Aufschlüsselung nach Wahrheit und Lüge oder einen Abgleich der Narrative mit der vermeintlichen Realität geht. Die Narrativanalyse fragt, wie bereits kurz angeklungen ist, nach der sprachlichen Organisation der Uneindeutigkeit politischer Ereignisse und Handlungen. Sie ist eine Apparatur36 (Czarniwska 1997: 6; 2004: 1), derer man sich bedienen kann, um die Strategien der Kontingenzbewältigung abzubilden und komplexe sprachliche Gebilde begreiflich zu machen. Es wird deutlich, dass wir es mit einer interpretativen und rekonstruierenden Forschungslogik zu tun haben. 4.3.4 Vorschlag zur Analyse Die Analyse der zeitlichen Struktur beschließt den Analyseprozess. Hier werden ausgehend von der zitierten Metapher und ihren potenziellen Bezugsrahmen, der rekonstruierten Erzählsituation, den internen und externen Figuren sowie dem impliziten und expliziten Publikum die Handlungsabläufe der Erzählung ausdifferenziert. Aus den unterschiedlichen Konfigurationen lassen sich Handlungsmotive und –absichten ableiten, die nicht zwingend aus der Inhaltsebene des Gesagten herauszulesen sind. Das Politische der Wahlkampfrede verbirgt sich mithin ebenso in der impliziten Struktur narrativer Konfiguration. 36
Im englischen Original spricht Czarniawska von „device“. Hierzu besteht bislang keine einheitliche Übersetzung. Der Terminus device bietet vielschichtige Übersetzungsmöglichkeiten.
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Erstens bedarf es einer Rekonstruktion der Anfangsmomente, um die narrative Konfiguration einer Erzählung zu analysieren. Im Zentrum steht dabei die erzählerische Markierung des Ausgangspunktes. Aus diesem lassen sich bereits die zentralen narrativen Mechanismen ableiten, denn über die Setzung des Anfangs werden die politischen Problemstellungen erst in die Welt gesetzt. Zweitens erfolgt im Anschluss der Abgleich mit konkurrierenden Konfigurationen desselben Geschehens, sofern diese vorliegen. Wie das Beispiel zeigte, verweisen Erzählungen selten auf das gleiche Set an Ereignissen. Dennoch ist es hilfreich, einen solchen Abgleich in die Analyse einzubeziehen, da er Irritationen sichtbar macht, die auf unterschiedliche Deutungsmuster und Werteordnungen verweisen. Drittens werden die aus dem Anfangspunkt abgeleiteten Handlungsoptionen dargelegt, die sich hinter der narrativen Konfiguration verbergen. An dieser neuralgischen Stelle der Erzählung, dem Moment der Wandlung, besteht interpretativ die größte Unsicherheit. So kontingent sich oftmals die verschiedenen Verläufe einer Erzählung ausgehend von einem gesetzten Zeitpunkt darstellen, so unterschiedlich sind auch die Deutungen dieser Verläufe. Viertens werden sich die verhandelten Zukunftsvisionen interpretativ erschlossen. Gerade dort, wo sie explizit auf ein politisches Programm verweist, ist die mögliche Zukunft ein bedeutender Bestandteil der Erzählung. Zudem lösen sich in ihr die zuvor diskutierten Problemstellungen und Handlungsoptionen auf und werden einer politischen „Lösung“ zugeführt. In der Narrativanalyse soll diese Lösung nicht ausgespart und ebenfalls interpretativ analysiert werden.
5 Illustration: Politische Narrative des Bundestagswahlkampfes 2013
Der Bundestagswahlkampf 2013 wurde maßgeblich durch zwei zentrale Erzählungen strukturiert. Diese Narrative versammelten sich um die Kanzler*inkandidat*innen Angela Merkel und Peer Steinbrück. Während Merkel als „Mutti“ eine weitgehend unumstrittene Führungsrolle zugeschrieben wurde, versuchte Steinbrück mit „Klartext und klarer Kante“ zu überzeugen und eine Machtalternative anzubieten. Im folgenden Kapitel werden diese beiden Erzählungen Gegenstand der empirischen Illustration einer heuristischen Analyse politischer Narrative im Wahlkampf. Die Entscheidung für die Fokussierung auf die beiden Kandidat*innen-Narrative leitet sich aus den theoretischen Prämissen der vorliegenden Arbeit ab. Zum einen wird somit der seit langem konstatierten Personalisierung von Wahlkämpfen Rechnung getragen. Zum anderen erlaubt das iterativ gewonnene Forschungsmaterial die These, dass sich der Bundestagswahlkampf 2013 in besonderem Maße zu einem Zweikampf zweier politischer Akteur*innen zuspitzte. Die Deutungen der Wahlkampfforschung kommt weitgehend zu einem ähnlichen Ergebnis (Korte 2015, Niedermeyer 2015a). Darüber hinaus ließe sich eine Reihe weiterer Erzählungen finden, die als illustrative Gegenstände ebenso geeignet wären, die empirische Anwendbarkeit der Narrativanalyse zu überprüfen. So böten sich beispielsweise eine Untersuchung der Grünen als Verbotspartei oder eine genauere Betrachtung der „sozialen Schere“ als erzählerisch konfigurierte Metapher an, um weitere Bedeutungsebenen des Wahlkampfes zu erschließen. In der Erzählung der grünen Verbotspartei wurde der „Veggie-Day“ als zentrale narrative Figur verhandelt und nahm als metaphorischer Bezugspunkt eine zentrale Rolle ein. Hier ließe sich zeigen, wie einzelne Begriffe eine metaphorische Aufwertung erfahren und so imstande sind, neue Bedeutungsräume zu eröffnen. Der Veggie-Day wurde zur Chiffre für das Image einer Partei und konnte über die polyphone Nutzung derart stabilisiert werden, dass sich jegliche Sprachhandlungen der Grünen auf ihn beziehen ließen. Die „soziale Schere“ hingegen fungierte als sozialpolitische Leitmetapher, die für alle Beteiligten des Wahlkampfes unausweichlich war. Mit ihr musste sich auseinandersetzen, wer im Jahr 2013 Wahlkampf betrieb. Die „soziale Sche-
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Jarzebski, Erzählte Politik, Studien der NRW School of Governance, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31013-4_5
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5 Illustration: Politische Narrative des Bundestagswahlkampfes 2013
re“ wurde Teil verschiedenartig gelagerter Konfigurationen und ist somit ebenfalls geeignet, den Erkenntnisgewinn durch eine Narrativanalyse zu illustrieren. Entlang der zuvor entwickelten, aus der Heuristik abgeleiteten Analyseschritte wird im Folgenden gezeigt, wie die untersuchten Narrative strukturiert sind und wie sich ihre Wirkung als polyphones Zusammenspiel verschiedener diskursiver Kräfte entfalten konnte. Die illustrativ angelegte Narrativanalyse wird dazu das kommunikative Wahlkampfgeschehen in den Blick nehmen und in einem ersten Schritt die Leitmetaphern der beiden Narrative in zahlreichen Belegstellen darlegen. Durch diese Operation der breiten Zitation lässt sich eine Idee des polyphonen Charakters politischer Narrative vermitteln. Entlang der zitierten Metaphern eröffnet sich darauffolgend die Erörterung der Narrative, die sich als Pendelbewegung zwischen dem Blick in das Material und der analytischen Distanz vollzieht. So werden zunächst einige relevante Bezugsrahmen der Leitmetaphern benannt und in Hinblick auf ihre Konnotationen und diskursiven Einflüsse diskutiert. Dies ist notwendig, da sich die politischen Implikationen verschieben, wenn Angela Merkel als fürsorgende und beschützende „Mutti“ erzählt oder in einer bevormundenden und ordnenden Rolle zur Protagonistin „ihres“ Narrativs wird. Diese Rollenzuweisungen ergeben sich u.a. aus der jeweiligen Erzählsituation, in der die Leitmetapher der „Mutti“ oder des „Klartexters“ Steinbrück bemüht wird. So widmet sich der zweite Abschnitt der Rekonstruktion einiger Erzählsituationen, die etwa aus den Reihen der Partei, in der Öffentlichkeit oder in Bezug auf den politischen Gegner an der narrativen Strukturierung des Wahlkampfes mitwirkten. Ausgehend von den breit zitierten Leitmetaphern geht es nun darum, die unterschiedlichen Erzähler zu benennen und sie zueinander in Beziehung zu setzen. Somit lässt sich das Rollengeflecht der einzelnen Narrative illustrieren, denn diese können erst durch das Aufgreifen und Weitererzählen an verschiedenen Stellen im Diskurs zu einer wahrnehmbaren Größe erwachsen. Die verschiedenen Erzählsituationen geben darüber hinaus Aufschluss über die situativ unterschiedliche Erzählweise einzelner narrativer Stränge. In der Kombination von Leitmetaphern und Erzählsituationen wird anschließend ein Bild der unterschiedlichen Konfigurationen des politischen Geschehens sichtbar. Wie werden die Rollen der Akteur*innen bewertet und welche moralischen Implikationen lassen sich aus diesen Wertungen ablesen? An den Konfigurationen lässt sich auch der Umgang mit Zeitlichkeit erkennen. Somit können die Absichten und Ziele der Akteur*innen interpretativ erschlossen werden. In den Konfigurationen des Klartext-Narrativs zeigt sich beispielsweise, wie sehr die kommunikativen Handlungsmöglichkeiten Steinbrücks durch die semantischen Umzäunungen einer Erzählung eingeschränkt waren.
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5.1 Leitmetaphern des Wahlkampfes Die beiden zentralen Leitmetaphern der „Mutti“ Merkel und des „Klartexters“ Steinbrück, der mit „klarer Kante“ als Gegenkandidat ins Feld zog, eröffnen ihren metaphorischen Gehalt nicht automatisch. Bei „Mutti“ stellt sich die Frage, inwieweit wir es hier mit einer metaphorischen Konstruktion zu tun haben. Hilfreich ist hierfür der von Gehring eingeführte Terminus des Kontextbruchs, der einer jeden Metapher zugrunde liegt (vgl. Kap. 4.1). Über den Fokusausdruck „Mutti“ wird die öffentliche Persona der Kanzlerin, die klar der Sphäre des politischen Handelns zugeordnet wird, um Bedeutungsbereiche erweitert, die es im Folgenden näher zu erläutern gilt. „Mutti“ entstammt semantisch nicht nur aus dem familiären Umfeld, sondern es finden sich in der interpretativen Ausgestaltung der politischen Rolle Merkels Anknüpfungspunkte, die erst durch die metaphorische Bedeutungserweiterung möglich sind. Die unterschiedlichen Bezugsrahmen, die auf den folgenden Seiten skizziert werden, nähern sich diesen erweiterten Bedeutungswelten an und können somit einen Einblick in die Sinnhorizonte der Mutti-Metapher bieten. Der metaphorische Charakter der Fokusausdrücke „Klartext“ und „klare Kante“ lässt sich intuitiv erkennen, da hier offensichtlich Bedeutungstransformationen eröffnet werden. Auch für diese Leitmetaphern des Steinbrückschen Klartext-Narrativs lassen sich verschiedene Transformationsbereiche benennen, die der Kandidatenrolle Tiefe geben. Diese verschiedenen Bedeutungsebenen charakterisieren die öffentliche Persona Steinbrücks. Zwischen der als empirischem Material vorgefundenen Sprache und dem Denken aller im Diskurs Beteiligter (politische Akteur*innen, Journalist*innen, andere private und professionelle Kommentator*innen usw.) nehmen die Metaphern eine wichtige Funktion ein, insofern wir an ihnen wirklichkeitsstiftende Sinnstrukturen ablesen können. Dazu gilt es vor allem einschlägige Belegstellen aufzusuchen, um die metaphorische Entfaltung nachzuzeichnen. Besonders deutlich zeigt sich in beiden Fällen, wie sehr der „Erfolg“ einer Metapher von ihrer Nutzung abhängt. Sobald ein Sprachbild von unterschiedlichsten Seiten aus bemüht, aufgegriffen und in seiner Bedeutung modifiziert und angepasst wird, kann mit einiger Sicherheit von einer einflussreichen Metapher gesprochen werden. Sie ist dann in der Lage, unser Bild von bestimmten Charakteren und Politiken zu dominieren. Selbst wenn wir die Leitmetaphern in ablehnender Haltung nutzen, wird Bedeutung zugeschrieben, die als Teil des Narrativs gelesen werden muss, wie beispielsweise folgender Tweet illustriert: „Wieso sollte es ein Kompliment sein die Bundeskanzlerin #Mutti zu nennen? Danke auch, brauche bestimmt keine Mutter... #Merkel“ (@silvercomet21, 18.9.2013). Die Position der Userin ist deutlich und trotz ihrer Abneigung gegenüber der
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Kanzlerin wählt sie die Metapher der „Mutti“, um ihre abgrenzende Meinung zu äußern. Gerade eine solche Verwendung exemplifiziert, wie sich die Polyphonie politischer Narrative im Alltag gestaltet. Auch in Bezug auf Peer Steinbrücks „Klare Kante“ lässt sich zeigen, dass die (Be-)Deutung dieser Metapher mitnichten eindeutig ist. Vielmehr wirkt sie als Folie, auf der sich Wünsche, Ängste und Hoffnungen ebenso kaprizieren wie Ablehnung und offene Anfeindung. Die Bedeutung einer Metapher und der von ihr dominierten Erzählung kann also durchaus indifferent sein und in vielerlei Richtungen deuten. Aufgabe der Narrativanalyse ist es jedoch nicht, die „wahre“ Bedeutung ausfindig zu machen, sondern die Möglichkeiten der Bedeutungskonstruktion nachzuzeichnen. Der Verweis auf den Sinnhorizont lässt dann in einem finalen Schritt die Möglichkeiten des Erzählbaren und die diskursiven Machtstrukturen erkennbar werden. Um einen ersten Eindruck vom metaphorischen Kern der politischen Narrative des Wahlkampfes zu erlangen, werden in den folgenden Abschnitten die zentralen Leitmetaphern erörtert und in Hinblick auf die relevanten Bezugsrahmen untersucht. Dabei werden verschiedenste Belegstellen der Metapher zur Illustration herangezogen, um die Vielfalt des Aufkommens abzubilden. Es ist wichtig zu betonen, dass sowohl die Mutti- als auch die Klartext-Metapher nicht allein auf die Ebene der schriftlichen und mündlichen Äußerungen beschränkt sind. Vielmehr haben sie auch einen performativen Charakter, der sich in Merkels und Steinbrücks Handlungen, Gestik und Mimik widerspiegelt. Auch die Art und Weise, in der beide argumentieren, der Stil ihrer Rhetorik, gliedert sich in die Bezugsrahmen der Leitmetaphern ein. Allerdings sind diese Belegstellen in der hier vorliegenden textlichen Form schwer zu zitieren und zu erörtern. So nehmen beispielsweise Analyse und Interpretation von Filmausschnitten deutlich mehr Raum ein, als dies im hier anvisierten Rahmen geplant und geboten ist (Heck/Schlag 2015). 5.1.1 „Mutti“ Merkel „Wer Merkel sagt, kommt an Mutti nicht mehr vorbei“ (Mika 18.09.2013). Die Belegstellen für die Metapher der „Mutti“ Merkel sind zahlreich zu finden. Eine Google-Abfrage liefert über 80.000 exakte Treffer.37 Auch für den Zeitraum vor der Bundestagswahl 2013 ist die CDU-Vorsitzende und Kanzlerin der Bundesrepublik kaum mit einem anderen Sprachbild häufiger charakterisiert worden. Welche Implikationen diese metaphorische Einkleidung für den Wahlkampf haben, wird im Rahmen der folgenden narrativanalytischen Erörterungen aufgezeigt. Ziel ist dabei nicht allein die Deutung der „Muttisierung“ (Berg 05.10. 37
Google-Abfrage der Operatoren „Mutti Merkel“, zuletzt durchgeführt am 19.07.2019. Am 15.06.2015 betraf die Zahl der Suchergebnisse noch ca. 50.000 Treffer.
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2013) Merkels, sondern vor allem das Benennen der semantischen Denkmöglichkeiten und -grenzen, die eine Charakterisierung Merkels als „Mutti der Nation“ mit sich bringen. Auffällig ist dabei, dass nicht von der „Mutter Merkel“ gesprochen wird, sondern dezidiert von der „Mutti“. Gerade Koseformen unterliegen einem ständigen Begriffswandel. Doch die Assoziationen, die der Mutti-Begriff hervorruft, sind relativ eindeutig konnotiert: Wie die schriftlichen Belege des Digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache (DWDS) zeigen, war Mutti nie so beliebt wie in den Vierzigerjahren. Dann begann sein allmählicher Abstieg zum Spottwort für eine etwas dickliche sexuell unattraktive mittelalte Frau (Heine, 27.09.2013).
Sicher lässt sich annehmen, dass wir es mit generationsspezifischen Unterschieden in der Deutung des Mutti-Begriffes zu tun haben, doch werden auch die heute geläufigen Assoziationen in der Regel nicht von dieser im besten Fall liebevollen, im Kern jedoch leicht abschätzigen Charakterisierung abweichen. Der Ursprung der Mutti-Metapher ist nicht einfach zu rekonstruieren. Er wird in der Regel in CDU-Kreisen vermutet und soll auf das Jahr 2008 und Merkels Verweis auf die schwäbische Hausmutti und ihre Nachgiebigkeit gegenüber dem Koalitionspartner SPD zurückgehen: „Wenn diese Herren […] von Mutti sprachen, dann war das alles andere als freundlich gemeint“ (Müller-Vogg 20.09.2013; Stempel 13.09.2009). Vielmehr nutzten vor allem Männer die MuttiMetapher, um die Kanzlerin in einem patronisierenden Tonfall zu adressieren. „Abwertend, arrogant und frech sexistisch kam die Beschwörungsformel ‚Mutti‘ daher – und war auch genau so gedacht. Als Etikett zum Kleinmachen“ (Mika 18.09.2013). Heutzutage überwiegen hingegen positive Konnotationen der Mutti-Metapher. Sie vermittelt Stabilität und Sicherheit in komplexen und unruhigen Zeiten. Der Fokus hat sich verschoben. Waren es zu Beginn die Nutzer*innen der Metapher, erscheint es nun so, als sei Merkel – also die Adressierte selbst – diejenige, die die Deutungshoheit und Verfügungsgewalt über die Mutti-Metapher zurückerlangt hat. Zu stark sind die positiven Bezugsrahmen in den Mittelpunkt der Interpretation gerückt. Sicher, auch heute lassen sich noch abwertende Lesarten der Mutti-Metapher finden. Doch werden diese in erster Linie von politischen Gegnern bemüht und kaum als hinderlich für die politische Rolle Merkels angesehen. Im Gegenteil wurde die Metapher 2013 zum Kern einer Wahlkampfstrategie erhoben, aus der Merkel zum dritten Mal als Kanzlerin hervorging (Rosar/Hoffmann 2015: 125). Die Mutti-Metapher ist daher ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich die dominanten Bezugsrahmen wandeln können. Eine ehemals beleidigend genutzte Metapher erwächst zu einer positiven Charakterisierung, markiert den diskursi-
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5 Illustration: Politische Narrative des Bundestagswahlkampfes 2013
ven Kern des Bundestagswahlkampfes und illustriert so die Wandlungsfähigkeit von sinnhaften Bedeutungszuschreibungen im Modus des Erzählens. In diesem Fall lässt sich also durchaus von einer erfolgreichen strategischen Nutzung einer narrativen Konfiguration sprechen: „Zuerst war es als Herabsetzung gemeint, jetzt ist es ein positives Image“ (Oestreich/Reinecke 07.09.2013). Zu finden war (und ist) die Mutti-Metapher nicht nur in den sogenannten Qualitätsmedien und dem deliberativen Diskursraum der Berliner Republik, sondern darüber hinaus im anarchischen Diskursraum. Nicht finden lässt sich die Metapher hingegen im staatlichen Diskursraum, obwohl Merkel auch in Parteikreisen als „Mutti“ bezeichnet wird, etwa wenn sie bei einer CDU-Veranstaltung in Magdeburg begrüßt wird (Richter 27.09.2013 und Vates 18.09.2013). So ist hier die Konzentration auf die deliberativen und anarchischen Aussageereignisse geboten, da die humoristische Nutzung der Metapher in Parteikreisen nicht so weit ging, Merkel öffentlich als Mutti zu bezeichnen. Gerade eine solche Metaphorik aber, die sehr wohl geeignet ist zum Gegenstand des alltäglichen politischen Gesprächs zu werden, entfaltet ihre diskursive Macht. In der „Mutti“ zeigen sich die verschiedensten Bezugsrahmen, die jeweils auf eine längere politische Tradition zurückschauen lassen und die ihre je eigenen Assoziationen und Bedeutungsstrukturen aufweisen. Im Folgenden werden die drei zentralen Bezugsrahmen entlang der Belegstellen aus dem Material entwickelt. Die Mutti-Metapher kontextualisiert Merkel als Frau (1) und lässt somit Rückschlüsse auf ihre Wahrnehmung in einer männlich geprägten Politik zu. Des Weiteren wird sie als Erzieherin (2) dargestellt. Diese Kontextualisierung gewährt Einblicke in die gesellschaftliche Psyche und ihre Machtstrukturen. Schließlich lässt sich die „Mutti“ auch aus einer Perspektive der Abgrenzung lesen (3), in der nicht der behütende, sondern der bevormundende Charakter der „Muttikratie“ betont wird. Dieser Bezugsrahmen wird in erster Linie von Kritiker*innen der Kanzlerin bemüht. Mutter als Frau Dass Angela Merkel im Wahlkampf zunehmend in die Rolle der Mutter der Nation schlüpfte, hat vielfältige Gründe, die nicht zuletzt mit ihrem Frausein zu tun haben. Zwar klingt diese Feststellung zunächst banal, doch wird bei genauerer Betrachtung deutlich, dass Merkels Bild in der Öffentlichkeit schon immer von ihrem Frausein geprägt war. Galt sie zu Beginn ihrer Karriere noch als „Kohls Mädchen“, so wurde schon bald über das „Girls‘-Camp“ geschrieben, dass mit Eva Christiansen und Beate Baumann auch die beiden Beraterinnen Merkels in das Narrativ einverleibte (Jarzebski 01.10.2014). Merkel selbst hat im Interview mit dem heute-Journal eine scheinbar einfache Erklärung für diese Betonung der Weiblichkeit gefunden: „Da ich nun mal eine Frau bin, sind männliche Bezeich-
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nungen eher unwahrscheinlich“ (Merkur 05.02.2010). Hinter dieser reduzierten Interpretation, die sich nicht um diskursive Mechanismen zu kümmern scheint, lassen sich jedoch weitere Bedeutungsebenen aufdecken. So wird etwa die Novität einer Bundeskanzlerin in manchen Analysen zur Eigenschaft erklärt und ihr Erfolg auf die Fähigkeit einer „Männerleserin und Männerversteherin“ (Schumacher 2006) zurückgeführt. Die Frau ist hier die „Andere“, die in die männlich dominierten Zirkel eindringt und mithilfe ihrer weiblichen Beraterinnen eine neue Form der Führung etabliert: „Aber fast alle der Männer, die sich einst für begnadet überlegene Polit-Strategen hielten, sind weg. Gescheitert an Angela Merkel und ihrem Girls’ Camp, der Schlüsselstelle ihres Machtsystems“ (Schütz 01.10.2014). Dass diese dichotome Sichtweise auf einem überholten Rollenmodell beruht, welches Merkel als Frau den politischen Erfolg nicht nur nicht zutraut, sondern ihn auch zu neiden scheint, wird im Rahmen dieses Bezugsrahmen durchaus bemerkt: „Wesentlicher als Dolchstoßlegenden ist aber, dass eine patriarchal imprägnierte politische Klasse beim Blick auf die Kanzlerin einen Knick in der Optik hat“ (Dernbach 07.10.2013). So konstatieren die Kritiker*innen der Betonung von Merkels Frausein: „‚Mutti‘ ist nur ein völlig untaugliches Bild, um eine politische Persönlichkeit zu beschreiben. Der Schritt von der sorgenden Mama zur (männer-) mörderischen Boa constrictor ist dabei so kurz wie der zwischen Heiliger und Hure“ (Dernbach 07.10. 2013). Offenbar sind es tief verwurzelte chauvinistische Bezugsrahmen, die noch immer imstande sind das Bild einer weiblichen Politikerin im 21. Jahrhundert zu prägen. Die Assoziationen zum Weiblichen scheinen sehr stark in Klischees verhaftet zu sein. Erst durch die Wahl Merkels zur ersten Bundeskanzlerin der Bundesrepublik im Jahr 2005 ist die Figur einer weiblichen Regierungschefin in den erzählerischen Fundus der deutschen Politikdeutung eingegangen. Zwischen dieser Wahl und den hier genutzten Belegstellen liegen mindestens sieben Jahre. Diese Zeit reicht offenbar nur bedingt aus, um neue Bezugsrahmen zu etablieren. Es bleibt offen, ob sich weibliche Politiker nach Merkel noch immer an diesen traditionellen Deutungen der Weiblichkeit abarbeiten müssen oder ob „Mutti“ Merkel selbst zum Bezugsrahmen wird und somit etwa Katharina die Große ablöst, die in den Merkel-Erzählungen punktuell als Referenz der weiblichen Herrscherin auftaucht (etwa Kurbjuweit 02.11.2009). Es lässt sich festhalten, dass der politischen Figur Merkel über den Bezugsrahmen der Weiblichkeit Charaktereigenschaften angedichtet werden, die für das politische Berlin eine Neuheit darstellen. Der öffentliche politische Diskurs bedient sich bei etablierten Metaphern und bestehenden narrativen Konfigurationen, um diese neue Konstellation – eine Frau im mächtigsten Amt des Staates – mit Sinn zu füllen. Dies war, wie bereits erwähnt, schon in den frühen Jahren ihrer politischen Karriere der Fall, in denen Merkel als „Kohls Mädchen“ das Licht
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der Öffentlichkeit betrat. Die Zeitungsmeldungen zu ihrem 60. Geburtstag im Juli 2014 zeigen, wie diese Metapher ihre öffentliche Persona eingangs prägte. Der Tenor ist dabei übereinstimmend und lautet in etwa: Von Kohls Mädchen zur mächtigsten, einflussreichsten Frau/Politikerin Europas/der Welt. Die Rolle als Mädchen nimmt eine zentrale Funktion in der Erzählung der Mutti Merkel ein, denn „[f]ür die Öffentlichkeit war Merkel lange Zeit ‚Kohls Mädchen‘, das als Frauen- und als Umweltministerin schon mal im Kabinett heulte und sich ansonsten tapfer durchschlug“ (Hildebrand 10.03.2001). Die Metapher des Mädchens drückt neben ihrer Abhängigkeit vom übermächtigen Kanzler Kohl auch eine gewisse Naivität im Umgang mit der harten politischen Realität aus. Dass sie dabei zunächst Ministerien besetzt hielt, die vom Macho-Politiker Schröder einst als „Gedöns“ verspottet wurden, verfestigte dieses erzählerische Muster nur noch mehr. Zu Beginn ihrer politischen Karriere im wiedervereinigten Deutschland, war Merkel Ministerin für Frauen und Jugend, der Bezugsrahmen wurde also auch in der Denomination ihres Ressorts bedient. Auch in anderen Fällen hochrangiger Politikerinnen lässt sich eine starke Bezugnahme auf ihre Weiblichkeit beobachten: Neben der Kanzlerin wird auch bei anderen politischen Akteurinnen das Frausein über die Metapher der Mutter betont. Hervorzuheben sind hier vor allem die nordrheinwestfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, die in Anlehnung an Johannes Rau als „Landesmutter erzählt“ (Wolfram 29.08.2013) wurde, CDU-Ministerin Ursula von der Leyen, deren Ambitionen an mancher Stelle gar als direkte Mutter-Konkurrenz zu Merkel gedeutet werden –„Mutter Ursula, so scheint es, fordert Mutti Merkel zum Duell“ (Denkler 10.09.2012) oder „[a]uch keine ‚Mutti‘ trotz ihrer sieben Kinder“ (Dunz 04.08.2012) – sowie die ehemalige Parteivorsitzende der Grünen Claudia Roth, die sich „stets als eine Mutti der Partei“ (Bigalke et al. 12.11. 2012) verstand. Der Bezugsrahmen erscheint so dominant, dass er fast allgemein auf Frauen in der Politik angewendet wird. Somit zeigt sich, dass er keine Eigenschaft Merkels beschreibt, sondern einen imaginativen Zugewinn an Bedeutung erwecken möchte. Gleichzeitig lässt diese eindimensionale Zuschreibung einen Mangel an kreativer Politikdeutung erkennen. Wenn Frauen in der Politik auf ihr Frausein zurückgeworfen werden und gleichzeitig Männer selten mit ihrer Männlichkeit konfrontiert sind, werden Machtstrukturen sichtbar, die vielfach Gegenstand gendersensibler Kritik geworden sind (Merkle 2015). Der Mann als die Norm des Politischen zeigt sich in den metaphorischen Bezugsrahmen bundesdeutscher Politik (Richter 2018). Um Angela Merkel stricken sich nun alternative Deutungen. Wirkung und Stabilität des auf Weiblichkeit abzielenden Bezugsrahmens der Mutti-Metapher werden durch die vielfache Nutzung multipliziert und verstärkt. So entsteht eine polyphone Leitmetapher, die in der Lage ist, zur tragenden
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Säule einer narrativen Konfiguration zu erwachsen. Sie inkorporiert dabei neben den positiv-bestärkenden auch negative Stimmen, die sich von der Metapher abgrenzen. So sehen nicht wenige in der inflationär genutzten Wendung einen trivialen Rückgriff auf dichotome Geschlechterbilder. […] Dieses furchtbare ‚Mutti‘ sagt ja vor allem Trauriges über diejenigen, die es benutzen und eine Frau an der Macht offenbar als dermaßen bedrohlich wahrnehmen, dass sie sich selbst wieder zu Kleinkindern machen. Wie Kleinkinder können sie ihre gespaltenen Mutterphantasien dann auf die eine an der Spitze projizieren. So wird aus der lieben „Mutti“ schnell die rachsüchtige Furie, die ihren ‚Klügsten‘ verstößt (Roll 29.05.2012).
Oder sie fordern: „Aber nennen Sie Frau Merkel nicht ‚Mutti‘. Das ist nichts anderes als ein schaler Sexismus“ (Luig 29.09.2013). Stimmen der kritischen Theorie aus dem anarchischen Diskursraum gehen in der diskursiven Deutung der Mutter als Frau noch einen Schritt weiter: [D]as Mütterliche ist seit jeher Kern nationaler Ideologie, die Frau figuriert dabei als organisch-völkisches Sinnbild für den ‚Körper‘ der Nation, der jedoch durch symbolisch männlich konnotierte Momente nationaler Ideologie, den ‚Vater Staat‘, unterworfen wird (Theoriebüro 23.09.2013).
Gemein ist diesen kritischen Einwürfen, dass sie in der Abgrenzung die Existenz des Bezugsrahmens bestätigen und ihn durch ihre abgrenzende Analyse aufwerten, perpetuieren und zu seinem Fortbestand beitragen. Allein die Benennung des Bezugsrahmens verfestigt ihn im Diskurs. Je mehr über ihn erzählt wird, desto häufiger wird er erzählt. Die Logik der Erzählung lässt den Kritikern dabei jedoch keine Wahl. Erfolgversprechender als ein bloßes Hoffen auf die Abnutzung bestehender Narrative erscheint es, abweichend konnotierte Bezugsrahmen über eine Gegenerzählung zu etablieren und diese über Bedeutungstransformationen in den Diskurs einzuschreiben. Dass der weiblich konnotierte Bezugsrahmen nicht allein durch die deutenden Texte des deliberativen Diskurses erzählt wurde, sondern auch in kulturellen, sprich anarchischen Diskursräumen beheimatet ist, zeigt eine Erweiterung des metaphorischen Materials auf Gestik und kulturelle Artefakte. Sowohl die ikonographische Merkel-Raute als auch die im TV-Duell zu medialer Präsenz gelangte „Deutschlandkette“ betonen als Symbole der Weiblichkeit die Fokussierung dieses Bezugsrahmens. Die Halskette stellt dabei das weibliche Gegenstück zur Krawatte dar und erweitert den symbolischen Interpretationsschatz des politischen Diskurses um ein neues Artefakt (Bieber 02.09.2013). Zudem lässt sich anhand der „Schlandkette“ beobachten, wie ein Mem in der Lage ist, aus dem anarchischen Diskursraum des Netzes in die deliberative Deutungsmaschine der Berliner Republik zu wandern (Gradl 01.09.2013, Roth/Wittrock 02.09.2013).
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Zwar erscheint die Kette Merkels im Lichte klassischer Politikdeutung zunächst wie ein unbedeutendes Detail, doch verschaffte sie der Kanzlerin Aufmerksamkeit und den Wähler*innen auf einer persönlichen Ebene die Möglichkeit zur Identifikation. Gerade die humoristische Anverwandlung der „Schlandkette“ als nicht besonders stilsicheres Accessoire zeigt das Authentizitätsangebot Merkels. Nicht der perfekt durchgestylte, für das TV-Studio polierte Designer-Schmuck, sondern die bewusst gewählte Referenz auf die Nationalfarben bei gleichzeitigem Verzicht auf modische Gepflogenheiten lassen Merkel authentisch erscheinen. Sicher ist dieser Aspekt Ergebnis einer strategischen Entscheidung, denn Kleidung und Auftritt der Kandidat*innen werden von einem Berater*innenstab reflektiert. Doch ließ sich in diesem wie in anderen Fällen die Resonanz in der Öffentlichkeit und die erzählerische Anverwandlung nicht antizipieren. Gerade die Benennung als „Schlandkette“ verweist dabei auf einen Bedeutungsrahmen, der für viele Wähler*innen positiv konnotiert ist und in direktem Zusammenhang mit den Erfolgen der deutschen Fußballnationalmannschaft der Männer steht. Der sich im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 etablierende FeierPatriotismus und die „als Partyerlebnis gelebte Deutschland-Atmosphäre“ (Lichtenberg 29.10.2012) waren offenbar so assoziativ mit Merkels Kette verknüpft, dass sich diese Bezeichnung anbot und durchsetzen konnte. Während des Wahlkampfes noch deutlich präsenter als die „Schlandkette“ zeigte sich die Merkel-Raute. Auch sie lässt sich als Symbol der Weiblichkeit deuten (Löffler 03.09.2013). Dies gelingt vor allem dann, wenn wir die zuvor formulierte Aufgabe der Narrativanalyse ernst nehmen, nach der das Politische als Ergebnis kultureller Deutungsprozesse interpretierbar ist. Ein Blick auf weitere Bereiche der kulturellen Bedeutungsproduktion eröffnet diese Perspektive, etwa wenn die Geste in der Gebärdensprache das weibliche Geschlecht bezeichnet (vgl. auch Stefanowitsch 04.10.2014 und Dewitz 31.10.2009) oder die Psychoanalyse sich an das Symbol des weiblichen Genitals erinnert fühlt (Dernbach 04.05.2014). Die Relevanz solcher diskursanalytischer Deutungsangebote wird durch die Aussagen Angela Merkels nicht geschmälert, in denen sie eröffnet, die Geste eher aus Verlegenheit gewählt zu haben und weder für die Namensgebung verantwortlich zu sein noch „überhaupt mit jemandem darüber gesprochen zu haben“ (Brigitte 02.05.2013). Trotz dieser unbewussten oder impliziten Botschaften lässt sich eine kulturgeschichtliche Traditionslinie zeichnen, die auf die Metaphorik der Weiblichkeit verweist (Burmester 15.09.2013). Vor allem wenn wir sie symbolisch dem „Stinkefinger“ Peer Steinbrücks gegenüberstellen, wird deutlich, welche Symbolik in der Geste der Ruhe und der weiblichen Kraft liegt. Die Raute hat sich als Mem in die kulturelle Deutungswelt der Bundesrepublik eingeschrieben und ist untrennbar mit der Regierungszeit Merkels verwoben. Sie symbolisiert ikono-
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graphisch Ruhe, weibliche Kraft und Sicherheit und ist dabei untrennbar mit Merkel verbunden. Die Raute ist imstande, mühelos das Konterfei der Kanzlerin zu ersetzen, was auf maximalen Wiedererkennungswert bei gleichzeitig maximaler Bedeutungsvielfalt steht. Merkel ist die Raute und die Raute ist symbolgewordene Botschaft. Sogar im digitalen Raum hat sie dabei eine zeichenhafte Entsprechung gefunden und wird als in den sozialen Netzwerken verwendet. Wie stark die Strahlkraft der Raute als gestisches Symbol Merkels ist, zeigt sich besonders eindrücklich an dem großflächigen Plakat, das in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofes zum wohl bekanntesten Wahlkampfelement 2013 wurde. In dieser Bildmontage hunderter Rautenbilder, die eine große Raute ergaben, kulminiert die beinahe kultische Dimension der Merkel-Geste. Dabei ist es mitnichten hinderlich, dass Merkel-Kritiker verschiedene (pop-)kulturell verankerte Bösewichter auf die Raute montieren (vgl. der Tumblr „merkelraute“). Diese spielerische Kritik führt vielmehr zu einer Stabilisierung der Raute als Symbol für Merkels Macht. Schlandkette und Merkel-Raute korrespondieren unmittelbar mit der MuttiMetaphorik und vor allem mit den auf Weiblichkeit abzielenden Bedeutungstransformationen. Sie helfen so, den metaphorischen Rahmen für das wirkmächtige Merkel-Narrativ zu stärken. Die symbolische Kraft beider Artefakte zeigt sich in ihrer strategischen Nutzbarkeit. Vor allem die Raute wurde Teil der Wahlkampfstrategie. Von der Jungen Union vereinnahmt und in stilisierter Form zum Logo erwählt (vgl. das Titelbild der Zeitschrift „Die Entscheidung 9/10 2013) und überdimensioniert in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofes plakatiert, bot die Merkel-Raute in ihrer Reduzierung auf eine handhabbare Bildmetapher ein Identifikationssymbol, das sich verschiedentlich aufgreifen ließ und als Teil des Mutti-Narrativs in die Leiterzählung der Kandidatin einfloss. Sie erwies sich dabei als derart flexibel, dass sie die Umdeutungsversuche der MerkelKritiker beinahe unbeschadet überstand. Mutter als Erzieherin Ein weiterer Bezugsrahmen öffnet die Mutti-Metapher für einen zwiespältigen Sinnhorizont. In der Lesart der „Mutti“ als Erzieherin lässt die Leitmetapher Merkel zum einen als behütende und sorgende Mutter der Nation erscheinen, die sich als „schwäbische Hausfrau“ um die Wähler*innen kümmert, zum anderen wird sie als gestrenge Erzieherin gelesen, die Kontrolle über ihre Parteianhänger*innen und mittelbar auch über die Bürger*innen ausübt. Diese beiden Sinnbezüge sind die Kehrseiten ein und derselben Medaille. Ebenso wie der Erziehung stets Fürsorge und Bevormundung attestiert werden kann, wird auch „Mutti“ Merkel mit beiden Attributen assoziiert. So klingen auch die Interpretationen, die sich dieses Bezugsrahmens bedienen: „Lag in der Mutti-Metapher
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zuvor ein Gran ironisch-liebevoller bis anhänglich-infantiler Verehrung, so ist sie nun vollends ambivalent geworden“ (Feltscher 19.05.2012). Zum einen suggeriert sie Sicherheit und Geborgenheit, zum anderen übt sie Macht und Kontrolle aus. Merkel wird in verschiedenen Belegstellen mit dieser zweischneidigen Mütterlichkeit assoziiert, „in der sowohl Fürsorge steckte als auch Hierarchisierung“ (Kurbjuweit 02.11.2009). Dass beide Bezugssysteme auf sich wiederum divergierende Bewertungen vereinen, kann als Vorteil der Merkel-Erzählung interpretiert werden. Sie zeigen sich nicht als starre Interpretationsangebote, sondern als dehnbare und flexibel einsetzbare metaphorische Gebilde, die imstande sind, eine Vielzahl unterschiedlicher Lesarten auf sich zu vereinen. Im Kern steht dabei die „Mutti“ als Sinnbild der Verlässlichkeit: Auf jeden Fall profitiert Merkel von dieser Vorstellung. Eine Mutter kann schließlich nicht abgewählt werden. Ich glaube, die meisten Menschen haben eine Muttersehnsucht, wollen das aber nicht wahrhaben. Sie projizieren deswegen diese Sehnsucht auf Frauen, die das garantiert nicht erfüllen können. Merkel ist so ein Fall. Darin liegt ein Grund für ihren Wahlerfolg (Stock 27.09.2013).
Ob Mutti also in kümmernder oder strafender Rolle in der Erzählung auftaucht, ändert nichts an der Verlässlichkeit der Beziehung. Die Mutter ist immer da. Sie ist nicht gewählt, sondern schon vor uns präsent. Die Rolle der fürsorgenden „Mutti“ ist also deutlich positiv konnotiert: „Was sie aber kann, ist zuhören, den Leuten das Gefühl geben, dass sie ihre Sorgen ernst nimmt. Nicht umsonst wird sie ‚Mutti‘ genannt“ (Nauer 17.10.2012). Der Bezugsrahmen eröffnet für Merkel zusätzliche Charaktereigenschaften, die durch eine semantische Transformation aus dem häuslich-familiären System auf die Politik Merkels übertragen werden. So lautet die Kernbotschaft: „‚Mutti‘ hat’s im Griff und passt auf uns auf“ (Casdorff 02.09.2913). In einer als komplex empfundenen politischen Gegenwart entlastet das Gefühl der Geborgenheit von den Sorgen einer postmodernen Unübersichtlichkeit. Im Rahmen dieser metaphorischen Konstellation scheint klar: „Mutti macht Ordnung“ (Tagesspiegel 14.08.2012). Selbst in ausländischen Quellen lässt sich dieser narrative „Bezugsrahmen der Leitmetapher finden. So schrieb ein Kommentator unter der Überschrift „Why Germans came home to ‚Mummy’“: Your mummy is always there for you. She doesn't care what she looks like but you can rely on her. Sometimes she might tell you to clean up your room but she's always there for you (Evans 23.09.2013).
Aus diesen Quellen spricht eine gewisse Ehrfurcht, die nicht mit anderen historischen Vorbildern vergleichbar ist. Während etwa Margaret Thatcher nie die
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Wärme und Sorge der Mutter angedichtet wurde, ist es gerade diese Komponente, die der Machtpolitikerin Merkel im Ausland eine staatsfrauliche Aura verleiht. Sie steht dabei für einen neuen Politikstil, der unmittelbar mit ihrer Weiblichkeit verknüpft ist und für den es vor ihr kaum Begriffe gab. Sicherheit und Geborgenheit werden aus dem familiären Bezugssystem entlehnt und auf die entpersonalisierte, unübersichtliche (Bundes)Politik übertragen. Diese „tiefe[n] Sehnsucht nach Sicherheit“ entspringt einer diffusen Furcht vor dem Wandel, die als Diagnose über die anarchischen und deliberativen Diskursräume bereits in die akademischen Gesellschaftsdiagnosen gewandert ist (Korte 2015c). Merkel wird bei Korte zu einer „Orientierungsautorität“, eine Funktion, die sich mühelos auch auf die Mutter in ihrer Beziehung zum Kind übertragen lässt. Sie bietet Halt, Orientierung und Stabilität. Dieser Orientierung folgt eine ganze Generation, die als Generation Merkel – so ein SPIEGEL-Titel aus dem Jahr 2014 – nach (ökonomischer) Sicherheit strebt und sich ansonsten in die Hände von „Mutti“ begibt. In dieses Bezugssystem eingelassen strahlt „Mutti“ Merkel Ruhe aus. Der Schutz vor sozialem Abstieg, der Bedrohung vor Terrorismus und europäischer Schuldenkrise lässt sich unter der Obacht der „Mutti“ besser verarbeiten. Dabei scheint ein Geheimnis dieser Protektion die defensive Haltung der Kanzlerin zu sein: „Merkel gab an diesem Abend die Mutti der deutschen Politik. Ja nur keinen Streit anzetteln, ja nur immer die schwäbische Hausfrau geben“ (Schütz 09.09.2013). Der Befriedung und dem Ausgleich wird hier ein Vorrang vor dem politischen Disput eingeräumt, das Politische somit einer gewichtigen Komponente beraubt. Dissens wird als störend empfunden, dem häuslichen Frieden abträglich. Hier lässt sich eine Brücke schlagen zur „klaren Kante“, die Steinbrück als Leitmetapher dankend annahm (vgl. Kapitel 5.1.2). Während Merkel den Ausgleich und die konstruktive Lösungsorientierung als Leitmotive wählte, wirkte Steinbrücks konfrontativer Kurs als Angriff auf die heimelige Ruhe, die Merkel ausstrahlte. Metaphorisch wären hier auch alternative Leitmetaphern für Merkel denkbar, die ihre Kampfeslust betonen würden, doch lassen sich keine Belegstellen finden, die Merkel als „Löwen-Mutter“ oder „Eiserne Lady“ bezeichnen. Diese Bezüge scheinen nicht kompatibel mit der Politikerin Merkel. Unerheblich scheint für diesen Zusammenhang, ob Merkel im alltäglichen Verhandlungs- und Entscheidungsmodus der politischen Praxis in das Rollenprofil der „Mutti“ passt, oder ob sie viel eher als „knallharte“ Politikerin agiert. Die Narrativanalyse verfolgt nicht das Ziel, einen Abgleich zwischen der erzählerisch verhandelten Persona Merkels und ihrem „eigentlichen“ Handeln auf der Mikroebene des politischen Entscheidens zu leisten. Zwar würde dieser Abgleich spannende und erhellende Erkenntnisse bereitstellen, die zu einem tieferen Ver-
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ständnis der Politikerin Merkel und dem politischen Entscheiden im Allgemeinen beitragen, doch zielt die Narrativanalyse auf die erzählerische Verhandlung im Wahlkampf und fokussiert die öffentliche Arena der diskursiven Politikdeutung. Wie stark Metaphern im politischen Diskurs Sinnzuschreibungen evozieren können, zeigt sich, wenn über Leitmetaphern stets neue semantische Bezüge und Verknüpfungen zu anderen metaphorischen Konstellationen hergestellt werden: „Sie hätte wohl auch kaum etwas dagegen, die deutschen Wähler in ihrem ‚Hotel Mama‘ auf Dauer zu beherbergen. Ihren Gästen vermittelt sie ein Wohlgefühl, sie müssen sich um nichts kümmern“ (Neugebauer 31.8.2013). In dieser Belegstelle funktioniert die Wendung „Hotel Mama“ in einer Weise, die ein technisch-rationaler Politiksprech nicht würde erreichen können. Vielmehr integriert sie einen reichen Schatz emotionaler Sinnbezüge in die politische Persona Angela Merkel. Die Leitmetapher der „Mutti“ wird moduliert und mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen. Das pure „Dasein“ wird in diesem Bezugsrahmen zu einer Kerncharakterisierung der Kanzlerin: „Mutti ist die Frau, die sich um das Heim kümmert, die einem das Leben angenehm macht, die Sorgen vom Leib hält“ (Kurbjuweit 13.05.2013). Ist der metaphorische Kern einmal etabliert, so lassen sich spielend weitere Elemente hinzufügen, die auf der sorgenden Mutti aufbauen: „Manchmal wird Bundeskanzlerin Angela Merkel heimlich ‚Mutti‘ genannt. […] Hier ist jemand, heißt das, die sich kümmert, unprätentiös, uneitel, vermittelnd, zuverlässig“ (Beise 29.07.2013). Die hier eröffnete Komponente zielt auf die nicht vorhandene Eitelkeit Merkels ab und kann als impliziter Vorwurf an die anderen Kandidaten gelesen werden. Außerdem lässt der Bezugsrahmen Persönlichkeitsdeutungen zu, die ein demütiges Arbeitsethos in den Vordergrund stellen und Merkel als sorgende und dennoch akribische Arbeiterin zeigen. Merkel selbst kann in ihren öffentlichen Aussagen mühelos auf diesem metaphorischen Fundament aufsatteln und ihre Rolle mit der „Verantwortung für die Regierung, aber auch Verantwortung für die Menschen im Lande“ (Merkur 05.02.2010) verbinden. Die Verantwortung bietet einen Ankerpunkt für den zweiten großen Bedeutungskomplex, der sich hinter dem Bezugsrahmen der „Mutti“ als Erzieherin versteckt. Zur sorgenden und kümmernden Funktion des schützenden Heims kommt der „Mutti“ auch immer die Aufgabe zu, Verantwortung für ihre Schutzbefohlenen zu übernehmen. Vor allem in der Finanzmarktpolitik drängt sich die „Schwäbische Hausfrau“ in den Vordergrund, die mit eisernem Sparen einer vermeintlich ausufernden Haushaltsführung begegnet: „Gegen Schulden, sagt Mutti, hilft nur eisernes Sparen“ (Zinsen 07.12.2012). „Mutti“ hat demnach auch eine harte Seite: „Mutti kann sich durchsetzen. Mutti zeigt wo es langgeht. Mütter sind stark“ (Oestreich/Reinecke 07.09.2013). Der Eigenschaft, sich um die
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Wähler*innen familiär zu kümmern, geht also die Fähigkeit zur Durchsetzung eigener Interessen voraus. Dies wurde auch im Ausland wahrgenommen. So griff die internationale Presse die Metapher der Mutti auf und fragte: „Does anyone stand a chance against a candidate Germans call Mommy?“ (Meyer 23.09.2013). Der britische Economist empfahl den deutschen Wähler*innen: „Stick with Mutti“ und gründete diese Anregung eine Woche vor der Wahl zum einen auf Merkels Vertrauenswürdigkeit und zum anderen auf ihre Fähigkeit „in holding Europe together“ (Economist 14.9.2013). In Polen wurde Merkel vom Magazin „Newsweek Polska“ als "Ukochana Mamusia“, als „geliebte Mutti“ bezeichnet (RP Online 05.09.2013). Die verschiedenen Belegstellen zeigen, wie sehr die Metapher der „Mutti“ genutzt wurde, um Merkel eine Vielzahl an Charaktereigenschaften zuzuschreiben, die sich aus ihrem politischen Handeln nur mittelbar erschließen lassen. „Mutti“ als Leitmetapher ist dabei ein Deutungsangebot, das durch seine performative Kraft zur interpretativen Wirklichkeit des Wahlkampfes wurde. Derjenige Bezugsrahmen, der der sorgenden „Mutti“ eine härtere Komponente hinzufügt, kann dabei nicht unterschätzt werden: Sie ist keine nur liebe Mutti. Man sieht ihr an, dass sie sich in der überhitzten Küche wohlfühlt. Sie hat die guten und die harten Züge einer alleinerziehenden Mutter, die ihren Mann steht, auch wenn die Kinder mal Probleme machen […]. Sie ist, wie gute Mütter, ausgleichend, beruhigend, gar mit beruhigender Härte begabt (Moser 05.08.2013).
„Mutti“ kann demnach auch eine kontrollierende Machtfigur sein. Merkel wurde als solche vor allem im Rahmen der Entlassung Norbert Röttgens bezeichnet. Auffallend häufig wird in diesem Fall die Mutter-Sohn-Beziehung bemüht, um dem Abstieg Röttgens vom „Liebling“ zum „Verlierer“ auch semantisch ein sinnvolles Gerüst zu bieten. Der schützende Charakter wandelt sich in ein beherrschendes Gemüt, wenn es heißt, „Mutti hat einen von ihren Söhnen geköpft“ (Stern 17.05.2012). Auch in der Wahlbevölkerung gibt es Stimmen, die die „Mutti“ eher als Respektsperson denn als liebevolle, beschützende Hausfrau lesen: „Die ‚Mutti‘, wie die Kanzlerin ehrfurchtsvoll genannt wird, ist bei Freund und Feind gefürchtet“ (Fink 02.10.2013). „Huuu. Eiskalt. Ja, manch einer fürchtet die Merkel. Männer zumal, die ‚Mutti‘ gern als ‚Meisterin der Macht‘ zeichnen, als ‚schwarze Witwe‘“ (Schimmeck 06.05.2013). Die Charakterisierung der Mutti als sorgende oder strafende Erzieherin ist nicht vollständig ohne die in Beziehung gesetzten „Kinder“. Dabei bleibt oft indifferent, wer diese Rolle einnimmt. Mal sind es, wie in der oben zitierten Belegstelle, die Parteigenossen, mal die Jugendorganisationen der CDU (Sutthoff 13.10.12). An anderer Stelle sind es die potenziellen Koalitionspartner*innen,
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die sich darum streiten, „wer bei Mutti auf den Schoß darf“ (Ostwest1000 02.03. 2010), oder auch das Wahlvolk, das in seiner Gesamtheit unter dem Schutz der „Mutti“ steht. Auch gegenüber dem Konkurrenten Steinbrück wird ihr das Verhalten einer „Mutti“ attestiert: „Muttiesk wird sie, als Steinbrück sagt, mit der SPD würden die Beamten-Pensionen an die gesetzlichen Renten gekoppelt“ (Maier 01.09.2013). Aus dem Blickwinkel der Narrativanalyse lassen sich aus metaphorischen Charakterisierungen ebenfalls Aussagen über Beziehungsgeflechte herauslesen. Da Politik immer aus einem solchen Netz an Verknüpfungen verschiedener Akteur*innen besteht, kann die Bestimmung zweier Punkte Einblick in die Distanzen zwischen den Punkten gewähren. Somit entscheidet nicht der Bezugsrahmen allein, in welcher Funktion die Mutti-Metapher in die Erzählung eingekleidet wird, sondern auch die Nutzung der Metapher durch die politischen Akteur*innen (vgl. 5.2). Dies zeigt auch der Blick auf ein weiteres Bedeutungssystem, das vor allem von Merkel-Gegnern im öffentlichen Diskurs bemüht wurde und in dem sich die negative Lesart der Mutti-Metapher widerspiegelt. Die Abgrenzung von Mutti Nicht selten kam es im Rahmen des Wahlkampfes vor, dass auch Abgeordnete und Anhänger*innen von SPD, Bündnis 90/die Grünen, den Linken oder sonstige Kritiker Merkels erzählerisch das Mutti-Narrativ bemühten. Auch wenn es in abgrenzender Haltung geschah, konnte sich die Metapher somit stabilisieren. Wenn etwa die Grüne Kandidatin Sabine Wetzel im sachsen-anhaltinischen Quedlinburg den Wahlspruch „Ich kann das schon ohne Mutti“ plakatieren ließ (Kugenbuch 10.09.2013), stimmte dieses Aussageereignis letztlich in die Merkel-Erzählung ein. „Mutti“ als Metapher eröffnet hier einen Bedeutungsraum, der der negativen Abgrenzung dient. Sie weist über die erziehende Mutter hinaus und evoziert das Bild einer bevormundenden und kontrollierenden Mutti, deren Einfluss als störend empfunden wird: „Hätte Euch Eure Mutti damals mit so hohlen Phrasen zugetextet wärt Ihr mit 12 zuhause ausgezogen...aber #Merkel wählen ...#btw13 #Wahlkampf“ (Howahkan 18.09.2013). Die Kritik bedient in diesen Fällen das Bild der Familie und erzählt sie entsprechend in diesem semantischen Rahmen: „Wenn Angela Merkel die Mutti ist, dann möchte ich sie so schnell wie möglich ins Altersheim stecken“ (MyHeartIs4YEO 19.09.2013). Der Tonfall der Auseinandersetzung und das Medium verweisen dabei auf jüngere Erzählstimmen, bei denen Mutti nicht zwingend nur mit einem fürsorgenden Set an Eigenschaften assoziiert wird, sondern vielmehr in der abweisenden Perspektive eines pubertierenden Teenagers adressiert wird. Vor allem in den sozialen Medien Twitter und Facebook wird Kritik an Merkel über die Metapher der „Mutti“ artikuliert. Wie oben beschrieben rutschen dabei auch die Kritiker*innen in ein Rollenprofil und werden dadurch Teil des Narrativs. Sie gleichen pubertie-
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renden Kindern, die durchaus selbstkritisch diese Rolle reflektieren. So äußerte sich der Fraktionsvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen Martin Runge im Bayrischen Landtag in Bezug auf die Euro-Politik der Kanzlerin und strickte dabei aktiv an der Erzählung der Mutti Merkel mit: „Es wird vorgemault, es wird nachgemault – und dann doch das getan, was Mutti Merkel sagt und will“ (Müller 06.08.2012). Zwar bediente er in erster Linie den kritischen Bezugsrahmen der pubertierenden Abgrenzung, doch ist die Macht Merkels als Bedeutungsschicht noch immer präsent. In diesem Beispiel zeigt sich, dass einzelne Belegstellen narrativer Metaphern nie auf einen Bezugsrahmen allein festgelegt sind. Vielmehr lassen sich auch deutlich abwegigere Interpretationsangebote als die hier vorgeschlagenen finden. Im Kern können zwei Bezugsrahmen benannt werden, in denen die Metapher der „Mutti“ Merkel als negative Folie interpretiert wird. Zunächst ist dabei ein übertriebener Pragmatismus hervorzuheben, der als apolitisch empfunden wird. Von Merkels Anhängern wird dieser Bezugsrahmen oftmals strategisch genutzt und als problemorientiertes Handeln interpretiert. Die Bedeutungszuschreibung der Gegner hingegen betonen „Muttis“ „Aussitzen“ kritischer Situationen. Positiv gewendet liest sich dieser Bezugsrahmen wie folgt: „Sie gilt als ‚Kümmererin‘, als ideologiefreie Pragmatikerin“ (Maron 25.07.2013), während die kritische Lesart folgenden Aspekt akzentuiert: „Vor allem aber gnadenlos pragmatisch, frei von Überzeugungen, Idealen und Visionen“ (Hoffmann 21.09. 2013). Aus diesen unterschiedlichen Betonungen der verschiedenen Bedeutungsebenen der Mutti-Metapher lassen sich nicht nur voneinander abweichende Politikkonzeptionen ableiten, sondern auch diejenigen Assoziationen illustrieren, die sich hinter dem Pragmatismus der „Mutti“ verbergen. Leidenschaftslos und ohne Ideale sei Merkels Politikstil. Sie befördere somit eine sich an Machterhalt klammernde, letztlich jedoch apolitische Politik: Das [CDU-Wahlkampfteam] will Merkel als ‚Menschen‘ zeigen – genau wie die ZDF-Doku übrigens – und präsentiert sie auf der Homepage so apolitisch wie noch nie: Mutti gärtnert, kocht, backt und liebt Kartoffelsuppe (Sorge 15.08.2013).
Das strategische Kalkül wird entlarvt und „Mutti“ als Aussitzerin gebrandmarkt. Leidenschaft wird zur Chiffre für eine werteorientierte Politik: „Merkel entwickelt für nichts Leidenschaft, außer für den Machterhalt. Leidenschaft für die Demokratie muss man ihr nach dem Ausspruch ‚Die Demokratie muss marktfähig werden‘ nicht unbedingt und zwingend unterstellen“ (Quinten 14.8.2013). Dass die Korpuslinguistik in diesem Zusammenhang zu anderen Ergebnissen kommt und Merkel eine deutlich emotionalere Sprache attestiert (Sagener 2013), ändert nichts an der Bedeutungszuschreibung, die sich diskursiv festgeschrieben hat und Merkel mit einer apolitischen Leidenschaftslosigkeit assoziiert. Dennoch
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muss hier festgehalten werden, dass die kritischen Stimmen Merkel gegenüber nicht in der Mehrheit sind. „Mutti“ wird in erster Linie als problemlösungsorientierte Kümmerin wahrgenommen. Die Zuschreibung des apolitischen Aussitzens ist jedoch als erzählerische Deutung existent und ist durchaus in der Lage dominant zu werden. Ein zweiter kritischer Bezugsrahmen geht einen Schritt weiter und erzählt Merkel als inkompetent. So wird ihr nicht nur diplomatisches Feingefühl abgesprochen: „Mutti ist mit der Brechstange losgezogen“ (Caceres/Gammelin 26.07. 2013), sondern gerade in Bezug auf netzpolitische Themen versucht diese Verwendung der Mutti-Metapher, eine abgrenzende Rahmung zu setzen. Hier ist sie die alte Frau, die nicht versteht, was die fortschreitenden Entwicklungen jenseits technischer Neuerung für die Gesellschaft bedeuten könnten. Vor allem die unter #neuland vorgebrachte Kritik an der Unkenntnis Merkels ist hier hervorzuheben: „Mutti ließ sich nicht nehmen, das Interweb zu erklären und als ‚Neuland‘ zu bezeichnen – welches Jahr haben wir nochmal?“ (Göbel 19.06.2013) In der Neuland-Metapher zeigt sich, wie auch andere Sprachbilder zum Teil einer narrativen Konfiguration werden können und somit neue Sinnbezüge eröffnen. Vor Merkel waren Verbindungen der familiären Sphäre, der die Mutti-Metapher zugerechnet werden muss, mit dem Neuland als Metapher der Kolonialisierung eher ungewöhnlich. Erst über Merkels prominenten Ausspruch (Kriti kell 19.6.2013) wird beides zueinander gefügt und im Sinne der Mutti-Erzählung konfiguriert, wie die folgende Belegstelle zeigt: „‚Mutti‘ muss endlich Muttergefühle für das Thema Datenschutz entwickeln – und zwar nicht erst, wenn sie selbst betroffen ist“ (sueddeutsche.de 24.10.2013). Hier schwingt eben jener Vorwurf der Unkenntnis und der mangelnden Sorge um die wirklich drängenden Themen mit, der sich oftmals mit Pubertierenden assoziieren lässt. Es wird klar: „Eines darf ‚Mutti‘ allerdings nicht sein: ahnungslos!“, denn „Ihr Image, das sie zuletzt nahezu unangreifbar machte, nimmt Schaden. Eine gute ‚Mutti‘ hätte nämlich viel besser auf ihre Kinder aufgepasst“ (Maron 25.07.2013). Zwar ließe sich noch immer wohlwollend behaupten: „Wer es gut mit ihr meint, kann den NeulandSatz als typischen Mutti-Moment abhaken“ (Beuth 19.06.2013), doch wird in der Unkenntnis der vermeintliche Schwachpunkt der Merkel-Erzählung offenbart. Aus der sorgenden „Mutti“ wird so schnell „eine überängstliche Frau, deren Ratschläge man als Halbstarker nicht befolgen muss. Mutti ist von gestern“ (Luig 29.09.2013). Die Merkel-Kritiker versagen „Mutti“ die Folgsamkeit. Abweichende Haltungen werden aber stets im Gewand der Rebellion erzählt und schüren so die Ängste vor Veränderung. In Zeiten gefühlten Wohlstandes birgt die Rebellion immer die Gefahr des Wandels zum Negativen. Jedes Aufbegehren wird zur Bedrohung und „Muttis“ Alternativlosigkeit gewinnt an Gewicht. Der Opposition ließ sich leicht das Image der störrischen Moralisten anheften. Die
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normative Grundlage der angebotenen Alternativpolitik stand dabei immer im Konflikt mit der an tagesaktuellen Notwendigkeiten orientierten Realpolitik der Kanzlerin. Schließlich bleibt abzuwarten, ob sich die Erzählung der „Mutti“ als hinreichend stabil erweist und nicht eines Tages erneut die negativen Konnotationen in den Vordergrund rücken. Denn ein rein strategisches Verständnis verkennt den Bedeutungsüberschuss, der trotz dominierender Bezugsrahmen existiert. Werden also die intendierten Sinnzuschreibungen nicht mit den im Diskurs dominanten Bezugsrahmen zur Deckung gebracht, so kann sich die strategische Nutzung einer Metapher im Zweifelsfall gegenteilig auswirken. So wurde Merkels Mutti-Rolle im Rahmen der Griechenland-Krise und hier vor allem in den Verhandlungen mit der griechischen Syriza-Regierung zunehmend kritisch gesehen. Hier war sie nicht länger die sorgende, kümmernde, sondern vielmehr die strenge, bevormundende Mutter, die mit ihrem Hang zur Kontrolle Griechenland unterdrücke (etwa Friebe 30.06.2015 oder Gutschker 07.06.2015). Es wird spannend sein zu sehen, wie und ob sich die Mutti-Metapher am Ende einer Amtszeit Merkels erneut gegen sie wendet und zur Erklärung einer möglichen Wahlniederlage herangezogen wird oder ob sie positiv im Gedächtnis verbleibt.38 5.1.2 „Klartexter“ Steinbrück Auch Peer Steinbrück wurde im Wahlkampf mit einer dominanten Leitmetapher bebildert. Als „Klartexter“ mit „klarer Kante“ zog er gegen Amtsinhaberin Angela Merkel ins Feld. Beide Metaphern beziehen sich auf denselben semantischen Kern und werden im Folgenden abwechselnd als Leitmetaphern des Steinbrück-Narrativs erörtert. Ihren Anfang nahm diese Bebilderung des „Typen“ Steinbrück zu seiner Zeit als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Bundesweit wurde die Klartexter-Metapher ausgerechnet an der Seite von Angela Merkel zu einem ständigen Begleiter Steinbrücks und prägte so sein Rollenbild: „Klare Kante zeigen, das war bislang ein Markenzeichen von Peer Steinbrück. Damit hat er als Bundesfinanzminister zum Beispiel in der Finanz- und Bankenkrise Erfolg gehabt“ (Barth 31.12.2012). Spätestens jedoch seit dem Sommer 2011, als er medial zum Retter für die SPD ausgerufen wurde, waren „Klartext“ und „klare Kante“ untrennbar mit der politischen Figur Steinbrück verbunden. Von Anfang an eröffnet die „klare Kante“ ambivalente Bezugsrahmen, denn „auch an einer klaren Kante kann man sich den Kopf blutig stoßen, wenn man 38
Zum Enstehungszeitpunkt dieser Arbeit drängen bereits negative Konnotationen in den Vordergrund, die sich vor allem im Zuge der „Flüchtlingskrise“ im Sommer 2015 und dem Aufstieg der rechtspopulistischen AfD im Diskurs finden. An dieser Stelle verbleit der Fokus der Analyse jedoch auf dem Untersuchungszeitraum 2012/2013.
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immer und immer wieder auf dieselbe Stelle knallt“ (Akyün 04.01.2013). In einem ersten Impuls grenzt sich die „klare Kante“ vom trüben, schwammigen, vagen Übergang ab. Sie trennt zwischen hier und dort, richtig und falsch, gerecht und ungerecht. Zu Recht lässt sich aber Kritik an der semantischen Stichhaltigkeit der Metapher anbringen: „Schon die Selbstlob-Litanei von der ‚klaren Kante‘ lässt ja jeden Sprachempfindlichen fragen, ob es auch eine ‚unklare Kante" gibt“ (Raddatz 24.08.2013). So deutlich scheinen die Bezugsrahmen der KantenMetaphorik also nicht zu sein. Sichtbar wird dies bei der Überlegung, welches Verb denn der Kante beiseitegestellt werden soll und ob ein „zeigen“ der „klaren Kante“ nicht weniger deutlich ist als ein „haben“ oder „sein“ (Frasch 21.06. 2013). Die Kante gehört zum etablierten Sprecharsenal der politischen Kommentator*innen. Intuitiv verweist sie auf eine gewisse Rücksichtslosigkeit in dem Bemühen, die „Wahrheit“ auszusprechen und dabei nicht vor „unbequemen Fakten“ zurückzuschrecken. Analysiert man die Metapher genauer, zeigen sich vielfältige metaphorische Bezugsrahmen, die dabei helfen, die Leitmetapher der Steinbrück-Erzählung zu rekonstruieren. Aus dem Material, das der hier vorgelegten Narrativanalyse zugrunde liegt, lassen sich drei zentrale Bezugsrahmen der Leitmetapher hervorheben. Die „Klare Kante“ verweist auf den Fachmann Steinbrück (1), der als Experte Politik betreibt. Sie erzählt des Weiteren von Steinbrücks Authentizität, von seiner unverstellten Echtheit als Mensch und Politiker (2) und sie lässt schließlich eine gewisse Kaltherzigkeit hervorscheinen, die vor allem von Steinbrücks Kritikern in den Vordergrund gestellt wurde (3). In allen Bezugsrahmen steckt wiederum eine deutliche, wahrheitsliebende Ansprache an die Bürger*innen, als zusätzliche Bedeutungsschicht. Diese Ehrlichkeit provoziert mitunter die Frage: „Wie viel Ehrlichkeit verträgt der Wähler?“ (Panorama 17.01.2013). Der hier konstruierte Gegensatz zur Schwammigkeit (auch dies eine schöne, untersuchenswerte Metapher aus dem politischen Alltag) oder zur Unehrlichkeit dient in erster Linie zur positiven Attribuierung des Bezeichneten: „Klartext-Peer gegen Schwurbel-Angela“ (Sturm 03.03.2013). „Klare Kante“ und „Klartext“ stehen als werteorientierte, weil transparente und somit „ehrliche“ Eigenschaften einer verschleiernden und abwartenden Verwaltungsmentalität gegenüber. Sie können dabei auf eine Vielzahl einzelner Politiken übertragen werden: Klare Kante erwarten die Bundesbürger auch vom Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten darüber, wie es weitergeht mit der Gleichstellung von Frauen, mit unseren Renten. Sie wollen wissen, wie er verhindern will, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft (Barth 31.12.2012).
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Die deutlich formulierten Erwartungen spiegeln die Anforderungen an eine solche Klartext-Politik wider und eröffnen einen zweiten Bezugsrahmen des „Klartextes“. Dieser fügt die Bedeutungswelten der Kompetenz und des rational Analysierenden in die Erzählung ein. Nur wer den Anschein des Sachverstandes glaubhaft bespielen kann, ist somit in der Lage, als authentisch gelten zu können. Der formulierte Authentizitätsanspruch lässt sich dabei als narrative Konfiguration entschlüsseln: „Er scheint so programmiert, dass er nur der sein kann, der er eben gerade ist. Manch einer nennt das authentisch oder echt“ (Akyün 04.01. 2013). Über die Klartext-Metapher wird der Persona Steinbrück also eine Kompetenz als Eigenschaft hinzugefügt, die als echt und ursprünglich erzählt wird. Dass sich dabei auch andere Bedeutungsräume öffnen, zeigt folgende Belegstelle: „Die Deutschen müssen erst noch warm werden mit ihm. Und mit seinen Ecken und Kanten“ (Berliner Kurier 09.10.2012). Hier zeigt sich, dass die „klare Kante“ oftmals mit emotionaler Kälte assoziiert wird. Die Kehrseite einer überbetonten Rationalität. Fraglich ist, ob dieser Sinngehalt der Klartext-Metapher bewusst ausgeblendet oder gar nicht erst antizipiert wurde. In jedem Fall ist diese Bedeutungstransformation im Verhältnis zur „Mutti“ Merkel eine besonders spannende Komponente des narrativen Deutungskampfes im Bundestagswahlkampf 2013. „Klare Kante“ – Der Fachmann Der erste Bezugsrahmen der „klaren Kante“ als metaphorische Rahmung der politischen Persona Steinbrück ist ein Sinnzusammenhang, der die analytische, korrekte und fachlich ausgewiesene Kompetenz des Kandidaten Steinbrück betont: „Er komme gut bei den Menschen an, spreche klare Kante und besteche durch Sachkompetenz“ (Delphendahl et al. 29.09.2012). Seine „Gabe“ sei es, „gut erklären zu können“ (Maier 01.09.2013). Steinbrück wird als „Fachmann und Schachspieler“ (Krauel 01.09.2013) charakterisiert, der als Kenner der Zusammenhänge Probleme lösen kann, etwa in dem Ende 2011 erschienenen Gesprächsband „Zug um Zug“, in dem Steinbrück mit Altkanzler Helmut Schmidt über Großlagen der Politik debattiert. Auf dem Cover sind beide in das Spiel der Könige vertieft abgebildet. Ikonographisch ein starker Kontrast, beispielsweise zum fußballspielenden Altkanzler Schröder, der als „Acker“ auf Torjagd ging. Steinbrück, der Schachspieler, erweckt ganz andere Identifikationsmöglichkeiten und verspielt gleichzeitig die Nähe „zum Volk“. Dem Schachspiel kommt dabei eine besondere Rolle zu, denn gegenüber dem „Volkssport“ Fußball, der als Massenphänomen allwöchentlich Millionen vor die Fernseher und in die Stadien lockt, wird der Schachsport als hochgeistiges Nischenphänomen für „Nerds“ und „Sonderlinge“ wahrgenommen. Zwar wird den Schachspielern in der Regel ein hohes Maß an Anerkennung ob ihrer geistigen Fähigkeiten entgegengebracht,
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doch wird kaum ein Sport weniger mit Emotionen assoziiert als das kühle, analysierende und strategische Schachspiel. In Verbindung mit Steinbrück wird das Schachspiel zum unterstützenden Aktanten. Im Sinne der Erzähltheorie lässt es sich als anthropomorphisierter Adjutant Steinbrücks lesen, der ihm bei öffentlichen Auftritten hilft und ähnlich der Merkel-Raute eine bildreiche Symbolik mitbringt. Über das Schachspiel gelingt die erzählerische Anverwandlung des strategischen Moments, da Strategie als Konzept keine natürliche Bildlichkeit hat. Die Publikation „Zug um Zug“ ist jedoch nicht nur wegen ihrer SchachSymbolik von Interesse. Auch die Inszenierung der Beziehung von Steinbrück und Schmidt dient der Klartext-Metaphorik und schafft es, eine Person als Teil eines Bezugsystems in die Erzählung zu integrieren. So wirbt der Verlag im Werbetext mit der Metaphorik des Klartexts: „Sie stehen für Zuverlässigkeit, wegweisende Entscheidungen und klare, oft unbequeme Positionen“ (Hoffmann und Campe 2011). Schmidt gilt als Vorbild für die Rolle des fachmännischen Analytikers aus dem Norden und stand im Wahlkampf gerne als Unterstützer bereit. Viele sehen in seinem Ausspruch „Er kann Kanzler“ in der Talkshow Günter Jauchs sogar den Startpunkt für Steinbrücks Kandidatenreise. Schmidt spielt eine bedeutende Rolle im Bezugssystem des „Klartexters“, denn auch mit dem Altkanzler wurden stets ähnliche Assoziationen verbunden. Die vor allem im Alter gestiegene Wertschätzung für den ehemaligen Regierungschef sollte auf den neuen „Klartexter“ abfärben. Bewusst wurde die Beziehung beider medienwirksam inszeniert. Darüber hinaus weist die Konstellation jedoch auch eine erzählerische Qualität auf, die mit der Klartext-Metapher verbunden ist. Gerade in der Kombination aus altem, erfolgreichem und angesehenem Analytiker und einem neuen starken Mann, der ähnliche Wesenszüge aufzuzeigen scheint, liegt ein narratives Deutungsschema. Steinbrück wird als legitimer Nachfolger eingeführt, der imstande ist, die „vergessene Tradition“ des klugen Strategen, des analytischen Fachmanns fortzuführen. Das rationale Kalkulieren wird konsequent als Stärke Steinbrücks erzählt: „Das ist Steinbrücks Stärke, die Faktizität“ (Casdorff 02.09.2013). An anderer Stelle verfestigt sich das Kompetenz-Narrativ in einfachen Feststellungen wie „Peer Steinbrück ist ein intelligenter Mann“ (Widmann 01.09.2013). Diese Attribute sind auch Gegenstand eines Fernsehporträts mit dem Titel „Kante Klartext Kandidat“, das im September 2013 in der ARD ausgestrahlt wurde. Der Film zeigt sehr anschaulich, wie „Klartext“ und „klare Kante“ als Metaphern in die öffentliche Person Steinbrücks eingeschrieben sind und beinahe untrennbar mit ihm verbunden zu sein scheinen. Es gibt kaum Äußerungen und Handlungen, die sich nicht in Beziehung setzen lassen zu der Leitmetapher des Klartext-Narrativs. Beispielsweise zeigt der Film Steinbrück mit seinem Sohn bei der Billard-Spielart Karambolage. Aus dem Off heißt es: „Strategie ist
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gefragt, Vorausdenken, Berechnen“ (Fuhrmann/Richter 19.09.2013). Das Billardspiel erfüllt die gleiche Funktion wie das Schachspiel: Beide symbolisieren die Rationalität des Klartexters. Neben diesen symbolischen Aufladungen weist die Klartext-Metapher in verschiedenen Belegstellen einen direkten Bezug zu Merkels Politikstil auf: Gerade vor dem Hintergrund einer Kanzlerin, die geistige Führung verweigere, nur moderiere und keine spannende persönliche Geschichte erzähle, sehnten sich die Menschen nach ‚klarer Kante‘ oder wenigstens nach dem Versprechen solcher Entschiedenheit, und das verkörpere Steinbrück (Tagesspiegel 17.12.2012).
Die klare Kante steht dabei neben der Kompetenz in erster Linie für eine direkte Ansprache. Politisches Handeln wird nicht als taktierendes und abwartendes Agieren, sondern als meinungsstarke Aktion erzählt. „Klare Kante – steht für eindeutig die Meinung sagen“ (Berliner Kurier 13.09.2013). Der Meinung kommt dabei eine gewichtige Rolle zu. Zum einen ist sie Fundament der Haltung Steinbrücks, die er als Gegengewicht zu Merkels fürsorglichen und diplomatischen Mutti-Erzählung in den Ring werfen kann. Zum anderen eröffnet sich hier eine erste semantische Paradoxie, die sich nicht so leicht auflösen lässt. Einerseits spielt die „klare Kante“ mit der Aura des fachmännischen Akteurs, der rational analysierend Problemlösungskompetenz verkörpert. Andererseits entsagt das Bezugssystem der Ehrlichkeit und Entschiedenheit jeder strategischen, verbiegenden Handlung. „#Steinbrück wäre ein interessanter Kanzler. Kein Geschwurbel, stattdessen klare Kante. Soviel ist sicher“ (@deppentoeter 14.09.2013). So ist es folgerichtig, dass Steinbrück selbst „Beinfreiheit“ für sich fordert und mit dieser Metapher beide unvereinbaren Bezugssysteme gleichzeitig bedient: Peer Steinbrück will ein Kandidat mit Ecken und Kanten bleiben, betonte er am Wochenende: ‚Ich sage, was ich denke, und ich tue, was ich sage. Das ist mein Gegenentwurf zu Politikern, die oft nur reden, wie es opportun ist.‘ Soll heißen: Seine frühzeitig geforderte ‚Beinfreiheit‘ will er sich nicht nehmen lassen (Spieker 07.01.2013).
Beinahe scheint es, als sei die Beinfreiheit für seine bisweilen provozierende Klartext-Rhetorik vonnöten, um die Parteigenoss*innen nicht zu verprellen. In dieser Forderung zeigt sich auch, dass Steinbrück viel offener und bewusster das eigene Narrativ bedient, als es Merkel mit der Mutti-Metapher handhabt. Dass diese strategische Aneignung der Erzählung nicht vor Widersprüchlichkeiten schützt, illustriert beispielhaft die Ambivalenz des Kompetenz-Bezugsrahmen. Die Maßgabe erscheint klar: „Klare Kante statt Kuschelkurs und halbherziger Enthaltungen?“ (Slangen 10.05.2012). Konfrontation gehört hier zum Sinnhori-
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zont. Die „Klare Kante“ ist deutlich aggressiver als die Merkelsche Mutti-Metaphorik: Klare Kante, auch mal gegen den Strich, ein Raubein. Kein glattgeschliffener Kieselstein im Politikbetrieb, sondern ein eigener Kopf. In der Politik, so sieht Steinbrück es, darf es nicht nur merkeln, es muss auch mal krachen. Der Mittelfinger? Steinbrück pur, wenn man so will (Medick 13.09.2013).
Das Bezugssystem der „klaren Kante“ verweist auf einen Bedeutungsraum mit „Ecken und Kanten, kompetent und zum Teil schnodderig zugleich“ (Tyrock 08.12.2012). Sie wird als Metapher der Wahrheit und der rationalen, deutlichen Politik erzählt und hat durchaus das Potenzial, eine wirksame Rahmung für den Wahlkampf eines Herausforderers zu bilden. Dies wurde auch von der CDU bemerkt, die sich rhetorisch gegen den Vorwurf der Konfliktscheue wappnete. So sprach Generalsekretär Gröhe von einem Wahlkampf, „bei dem auch die klare Kante, die harte Auseinandersetzung dazugehört“ (CDU 05.08.2013). Der „Klartext“ gewinnt anhand solcher Aussagen an Vielstimmigkeit und diskursiver Stabilität. Wenn auch die CDU die Notwendigkeit der „klaren Kante“ erkennt und erzählerisch bemüht, stärkt dies vor allem die positiven Konnotationen. Die mehr oder weniger subtile Abgrenzungsrhetorik, die sich oft gegen das „Lavieren“, „Rumeiern“ oder „Ausweichen“ des politischen Gegners richtet, wird in solchen Fällen von den Kompetenzzuschreibungen überlagert. Sofern sich die Belegstellen der Leitmetapher aber – wie im Bundestagswahlkampf 2013 geschehen – in erster Linie in den Sprechakten der eigenen Anhänger und Unterstützer wiederfinden, so offenbart sich die strategische Nutzung der Konfiguration. Nach dem TV-Duell konstatierte der SPDVorsitzende Gabriel: „Peer Steinbrück redet Klartext und eiert nicht herum“ (Bannas 01.09.2013). Diese offensive strategische Aneignung der Leitmetaphern birgt das Risiko des Glaubwürdigkeitsverlusts. Identitäten der Kompetenz gewinnen ihre Stärke gerade aus der gelebten Kompetenz, nicht aus der kommunikativen Überhöhung derselben. Dem Bezugsrahmen der Kompetenz ist eine starke Handlungskomponente immanent, die vor allem dann glaubwürdig wird, wenn Menschen die Ergebnisse der Handlungen sehen, spüren oder erleben können. Kompetenz will unter Beweis gestellt werden. Sie wird immer wieder aufs Neue auf die Probe gestellt. Gerade deshalb ist es schwierig aus einer kommunikativen Nutzung der Metapher Authentizität abzuleiten. Ein strategisches Spiel mit der Leitmetaphorik erscheint riskant. „Klare Kante“ – Authentizität Wie eng das Verhältnis von Authentizität und Erzählung im Kontext politischer Kommunikation ist, lässt sich an der Klartext-Metapher und Steinbrücks meta-
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phorischer Einkleidung im Bundestagswahlkampf 2013 illustrieren. „Steinbrücks Markenzeichen ‚klare Kante‘ steht einerseits für Authentizität im oft glatt geschliffenen Berliner Polit-Sprech“ (Südwest Presse 28.02.2013). Das Echte und Unverfälschte wird im Rahmen von Authentizitätserzählungen zu einem absoluten Gut, auf das im öffentlichen Diskurs gerne Bezug genommen wird: „Auch wer kein Freund der Sozialdemokraten ist, muss eingestehen, dass Steinbrück klare Kante zeigt und sich nicht verstellt“ (Abel 14.09.2013). Über die Parteigrenzen hinweg, so die Forderung in dieser Belegstelle, ist das authentische Moment als positive Eigenschaft zu akzeptieren. Gleichlautend äußerte sich auch verschiedentlich der SPD-Parteivorsitzende Gabriel: Über dessen Kompetenz hinaus schätzt er aber vor allem, dass Steinbrück ein Mensch mit Ecken und Kanten sei und gerade heraus sage, was er denke. Gabriel: ‚Er ist eine Type. Und von der Sorte gibt es eher zu wenige als zu viele‘ (Südwest Presse 06.02.2013).
Dieser Bedeutungskern der Leitmetapher wurde durch verschiedene Aussageereignisse akzentuiert. Steinbrück bespielt ihn sogar selbst, indem er etwa Lou Reeds „Take a Walk on the wild side“ als seinen Lieblingssong bezeichnete (Monath 04.04.2013) und damit den Privatmann in die Erzählung des unbequemen, leicht rebellischen, aber stets authentischen Politprofis einfügte. Bereits vor seiner Nominierung als Kanzlerkandidat der SPD hieß es: „Auf seine Unabhängigkeit legt Peer Steinbrück großen Wert. Er fühlt sich zwischen allen Stühlen wohl“ (Sturm 16.05.2012). Steinbrück stellte diese Unabhängigkeit im Rahmen eines Interviews mit dem Magazin der Süddeutschen Zeitung eindrucksvoll unter Beweis. Er untermalte die „klare Kante“ mit dem „Stinkefinger“, den er an alle seine Kritiker*innen richtete. Dass es die Geste in das SZ-Magazin schaffte und Steinbrück sich in diesem Punkt gegen seinen Pressesprecher durchsetzte, ist eine weitere Anekdote seines Narrativs: „Aber Steinbrück bestand darauf, schließlich lautet seine Devise ja ‚Klartext‘ und ‚klare Kante‘“ (Vieregge 14.09.2013). Vielfach wurde Peersfinger – unter diesem Begriff wurde die Geste in einer spielerischen Aneignung in den sozialen Medien aufgegriffen – in Beziehung mit der Leitmetapher gesetzt und somit zur unterstützenden Geste der Authentizitätserzählung erhoben: „Der #Stinkefinger von #Steinbrück ist ok, weil es authentisch wirkt bei ihm. Mir ist so ein #Klartext lieber als #Merkel’s Inhaltsleere“ (@einaugenschmaus 12.09.2013). Die Meinung der Userin schmiegt sich hier besonders eng an die Leitmetaphern des Steinbrück-Narrativs und trägt so zur polyphonen Stabilisierung bei. Peersfinger zeigt darüber hinaus auch, wie sehr die „klare Kante“ dem Kompromiss widerstrebt. Ikonographisch wurde er zum Gegenentwurf der Merkel-Raute stilisiert und konnte in dieser Funktion auch gegen Steinbrück ver-
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wendet werden: „Au Weia! Klare Kante hin oder her, aber als Kanzlerkandidat kann man sich doch nicht so ablichten lassen. #Steinbrück“ (@davidgutensohn). Die Ambivalenz der konfrontativen Metaphorik kann demnach als ein bedeutender Faktor für die mangelnde Anschlussfähigkeit Steinbrücks an die Vorstellungen der Wähler*innen gelesen werden. Es ist davon auszugehen, dass nicht alle uneingeschränkt einem solchen Kurs folgen wollten. Denkt man den konfrontativen „Klartext“ konsequent zu Ende, so entlarvt er sich in seiner „Sachlichkeit“ selbst. Gerade dann, wenn die „Kante“ als Selbstzweck wahrgenommen wird, verkehrt sich die Authentizitätserzählung ins Gegenteil und wird als Inszenierung begriffen. Die Leitmetapher der „klaren Kante“ und die daran andockende Authentizitätserzählung verspricht Ehrlichkeit, die sich stets auch gegen den Bezeichneten wenden kann, denn der größte Feind der Authentizität ist die Entlarvung selbiger als Inszenierung: „Die Suche nach Kompromissen war Steinbrück lange fremd. Er wollte Pläne ‚eins zu eins‘ umsetzen, er beanspruchte ‚klare Kante‘. Steinbrück inszenierte sich lange wie ein alter, stämmiger Baum, der sich nicht verbiegt“ (Sturm 20.09.2013). In der „klaren Kante“ offenbart sich dabei das inszenatorische Wesen der Authentizität und die Kontingenz des Erzählens: „Viele schätzen ebenso die ‚klare Kante‘, die Steinbrück zeigt und noch öfter zelebriert“ (Sturm 04.10.2012), denn die Erzählung einer authentischen Persona, einer authentischen Kandidat*in bedarf stets eines offenen und wohlwollenden Publikums. So hätte beispielsweise seine Aussage über italienischen Weißwein, nach der Steinbrück seine Qualitätsansprüche offenlegte, durchaus als authentischer und ehrlicher Zug interpretiert werden können. Unter Weinkenner*innen dürfte die Aussage „Ich kaufe keinen Weißwein unter 5 Euro“ durchaus Zustimmung erfahren haben. Die Öffentlichkeit legte ihm diese „ehrliche“ Aussage jedoch als hochnäsigen Elitismus aus. Gerade in der Verbindung mit anderen Ereignissen wie den breit diskutierten Vortragshonoraren muss der Eindruck einer elitären Prägung Steinbrücks entstehen. Wer das authentische Moment nicht glauben will, der dreht die Inszenierung der Ehrlichkeit als politisches Schauspiel gegen den Kandidaten. Der Vorwurf der Taktiererei kann also postwendend zurückkommen: „[K]lare Kante sei angesagt, keine Taktiererei, wie er sie Kanzlerin Merkel (CDU) oft vorwirft“ (Kowalewsky 18.04.2013). Die Gefahr der „klaren Kante“ wird also allerorts erkannt: „Denn der ‚Klare Kante‘-Kandidat mit Rasiermesser-Zunge ist seit seiner Installierung Vergangenheit. Jetzt heißt es: Die Worte wägen!“ (Kröter 01.10. 2012). Paradoxerweise wird gerade dieses Aufweichen der zuvor kritisierten Klartext-Pose als Schwäche verstanden. Die Metapher der „klaren Kante“ funktioniert nur in letzter Konsequenz. Ihre Sinnbezüge erlauben keine Konzessionen gegenüber einer strategischen Vorgehensweise und lassen eine Verwässerung der
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Position nicht zu. Die einmal erzählte Authentizität erlaubt keinen Weg zurück, wenn sie nicht als bloße Inszenierung verstanden werden soll. Fraglich ist darüber hinaus, inwieweit Steinbrücks Authentizität als rationaler Analytiker überhaupt von einer so offensichtlich bildhaften Metapher wie der „klaren Kante“ eingerahmt werden konnte. Besteht hier nicht schon ein sprachlich fixierter Bruch, der sich durch das Wesen der Metapher im öffentlichen Empfinden vertieft? Nicht selten werden Metaphern als von der Wahrheit „wesenhaft und räumlich geschieden, inauthentisch und der Erkenntnis hinderlich“ (vgl. Kohl 2007: 107) charakterisiert. Wäre also eine technokratische Sprache treffender und die Vermeidung einer offensichtlich metaphorischen Rahmung des Wahlkampfes strategisch vorteilhafter? Schließlich bleibt auch die „klare Kante“ nicht gefeit davor, als inhaltsleer entlarvt zu werden: „Er habe nichts gegen Ecken und Kanten, so Mützenich. Aber er würde sich ‚freuen, wenn wir uns wieder auf die inhaltlichen Fragen konzentrieren‘“ (Decker 07.01.2013). „Klartext“ und die Behauptung der „klaren Kante“ sind keine Versicherung gegen den Vorwurf rhetorischer Tricks. Erzählerisch befand sich Steinbrück hier in der Zwickmühle, denn sobald der Klare-Kante-Kandidat von seiner Linie abweicht, geht ihm das Alleinstellungsmerkmal verloren: „Der Kandidat kann sich beherrschen – wenn’s sein muss und wenn der Gegenüber so freundlich ist wie Jauch. Aber mal ehrlich, wenn er das tut, wird er auch der Konkurrenz ähnlicher, die weniger Ecken und Kanten aufweist“ (Kröter 08.10.2012). Die Kante markiert hier Grenzen und Abwege. Wer nicht mit den inhaltlichen Prämissen des Klartext-Kandidaten übereinstimmt, der ist gezwungen, die andere Seite zu wählen. Die Konfrontation wird zum Wesenszug, der aus sich selbst heraus Bedeutung gewinnt: „Er mag das Duell, braucht einen Gegner“ (Fuhrmann/Richter 19.09.2013). Nicht die Inhalte, über die gestritten werden soll, bleiben im Gedächtnis der Wähler*innen, sondern die Sehnsucht nach Auseinandersetzung an sich. Steinbrücks Gegner*innen griffen die Kante-Metaphorik in Form von Peersfinger gerne auf und versuchten diesen als Grenzüberschreitung zu stigmatisieren. Die Unternehmensgruppe Tengelmann schaltete Anzeigen, in denen sie einen karikativen Wahlzettel veröffentlichte, der zwei Alternativen anbot. Unter der Überschrift „Im Zweifel für die Raute“ waren dort Peersfinger und die Merkel-Raute abgebildet. Beide können durchaus als ikonographische Gesten der dominanten Leitmetaphern interpretiert werden. Zumindest ist es schwierig, die Bedeutung beider Gesten in Opposition zu den maßgeblichen Bezugsrahmen der beiden Metaphern zu stellen. Natürlich stellt sich bezüglich der Leitmetapher der „klaren Kante“ die Frage, inwieweit sie mit der Wahlkampfstrategie der SPD vereinbar war. Die SPD ging 2013 mit dem Motto „Das WIR entscheidet“ ins Rennen und zielte damit
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auf den vermeintlich fehlenden sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft ab (SPD 09.04.2013). Wie sehr wurde der „Klartext“ Steinbrücks dem großflächig plakatierten „Wir“, das entscheidet, zum Verhängnis. Oder war es umgekehrt? Schadete letztlich das „Wir“ der unbequemen Kante-Erzählung, die Steinbrück gegen Merkel ins Feld führte? Während dem authentischen Klartexter immer ein Moment des Alleingangs und eine Einzelkämpfermentalität zu eigen ist, zielt das „Wir“ explizit auf eine Überwindung dieser Individualisierung ab, ein Widerspruch, der sich konsequent durch die Kampagne der SPD zieht. An dieser Stelle gilt es nicht, eine abschließende Beurteilung dieses semantischen Spannungsverhältnisses vorzunehmen, doch ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die eröffneten Bezugsrahmen nur schwerlich zur Deckung bringen lassen.39 Die Offenlegung der Bezugsrahmen zeigt, wie sehr strategische Fragen mit dem narrativen Potenzial von Leitmetaphern verknüpft sind. Beides kann nicht unabhängig voneinander gedacht werden, will man den Einfluss auf das Wahlkampfgeschehen nicht dem Zufall überlassen. „Klare Kante“ – Kaltherzig Während Authentizität und Kompetenz positive Konnotationen hervorrufen oder zumindest als ambivalent bezeichnet werden können, gibt es auch Bezugsrahmen der „klaren Kante“, die dem Kandidaten Steinbrück eher negativ konnotierte Bedeutungsebenen hinzufügen. Kanten sind hart. Überträgt man diese Härte auf das politische Handeln als soziales Interaktionssystem, so steht sie Eigenschaften wie Emotionalität und Sympathie gegenüber: „Sympathien bringt ihm diese Art von klarer Kante nicht“ (Barth 31.12.2012). Die Kante erweist sich dann nicht mehr als Zeichen von Problemlösungskompetenz, sondern wird im Sinne einer empathielosen Technokratie rezipiert: Steinbrück musste zeigen, dass er kompetent und ebenbürtig ist. Das ist ihm gelungen. Das war ein wichtiger Etappensieg. Aber die bissig angespannte Oberlippe Steinbrücks gab ihm eine unduldsame Ausstrahlung. […] Oft aber wirkte er wie ein Studienrat, der Frontalunterricht liebt (Krauel 01.09.2013).
Wissen und Kompetenz werden in diesem Fall eher mit einer Verbissenheit in Verbindung gebracht, die den Lehrer als „arrogante[n] Besserwisser“ (Greven 02.09.2013) wirken lassen und die positiven Attribute des ehrlichen und offenen Klartexters an den Rand drängen. Eine tiefergehende kulturgeschichtliche Auseinandersetzung dieses Zusammenhangs lässt auf Begriffe wie Anti-Intellektualismus stoßen und die abwertend konnotierten Seiten der Wissenden und Kundi39
Die Metaphorik des sozialdemokratischen „Wir“ ist sicher ein ebenso lohnendes Untersuchungsfeld, wurde in der hier vorliegenden Arbeit jedoch zurückgestellt.
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gen offenlegen. Schon einmal wurde eine anti-intellektuelle Chiffre im Wahlkampf bedeutend, als es Gerhard Schröder gelang, Paul Kirchhoff mit dem Titel „Professor aus Heidelberg“ nachhaltig zu schaden. Der akademische Hintergrund des CDU-nahen Finanzexperten aus dem Schattenkabinett Merkels schien 2005 auszureichen, um ihn zu diskreditieren. Es zeigte sich in dem Hohn und Spott, der in jenen Tagen über Kirchhoff ausgeschüttet wurde, nicht nur die tief verwurzelte Skepsis gegenüber dem „Geist“ als abseitiges und elitäres Gut, sondern auch die performative Kraft narrativer Assoziationen. Im Falle Steinbrücks lässt sich hier außerdem das Schachspiel als Kippfigur anführen, insofern es neben der Intelligenz und dem analytischen Denken eben auch Bilder der emotionalen Kälte hervorruft. In Deutschland lässt sich über eine Affinität zum Fußball nach wie vor besser Volksnähe demonstrieren als über eine Ikonographie des Geistes. Merkels Besuche der Nationalelf scheinen hier deutlich näher an den erzählerischen Mustern vieler Wähler*innen als das Schachspiel. Dass auf dem Titelbild der Schach-Publikation „Zug um Zug“ das Schachbrett um 90 Grad gedreht und somit falsch aufgebaut war, multiplizierte den Eindruck der inszenierten Großmannssucht im Diskurs (Morell 30.10.11). „Der Grat zwischen klarer Kante und Instinktlosigkeit ist schmal“ (Gathmann 30.12.2012) und das Beschreiten dieses Grades bedarf neben einem sicheren Schritt vor allem eine Sensibilität für die Abgründe. Die Kehrseite der deutlichen Ansprache ist das Unverständnis der Bürger*innen: „Zu zaghaft, zu technokratisch, zu unverständlich setzte Steinbrück seine Attacken“ (Nelles 01.09.2013). Der „Klartext“ spielt auch immer mit der vermeintlichen Unwissenheit der Rezipient*innen. Wo es einen Klartexter braucht, da ist die Erkenntnis noch nicht hingelangt. Diese Überbetonung des rationalen, die totale Unterwerfung unter das „bessere Argument“, ist nicht ohne einen Verlust der empathischen Seite der Persona Steinbrücks zu bewerkstelligen. Die Kante markiert semantisch eine Grenze, die beiderseitig absolute Positionen voneinander trennt und einen weichen Übergang nicht zulässt. Auch Steinbrücks Bruder Birger erzählt den Klartexter im Sinne dieses Bezugsrahmens: Bei ihm überwiegt die rationale Seite. Er ist ein rationaler pragmatisch denkender und schlussfolgernder Mensch. Ich kann ihm jetzt nicht zum Vorwurf machen, dass seine emotionale Seite mir dabei manchmal ein bisschen zu kurz kommt (Fuhrmann/Richter 19.09.2013)
Die Überzeugungskraft der Authentizität ist demnach eng mit der Glaubwürdigkeit der Emotionalität des Kandidaten verknüpft. Gelingt es, letztere Sinnbezüge in den Vordergrund zu rücken, so wird die Echtheit einer öffentlichen Persona gestärkt. Schließlich hängt die Dominanz der eher wohlwollenden bzw. diskreditierenden Zuschreibungen auch an der grundsätzlichen Sympathie mit den Kan-
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didaten. So zeigt sich in Belegstellen wie der Folgenden, dass in bestimmten Konstellationen jedwedes Handeln vergebens ist, da stets die negativ konnotierten Bezugsrahmen der Leitmetapher zur Sinnstiftung bemüht werden: Noch unangenehmer ist die Vorstellung, dass Steinbrück einfach ehrlich sein wollte, weil er ‚klare Kante‘ liebt. Dann hätten wir es mit einem zu tun, der sich emotionaler Höhen und Tiefen nicht enthalten kann - sei es weinend beim Parteikonvent, sei es ausfallend beim Fotoshooting (Bauer 14.09.2013).
Emotionale Kälte sowie vermeintlich inszenierte und mit dem Makel des Falschen attribuierte Authentizität sind Zuschreibungen, die in verstärktem Maße mit der Erzählsituation und daher mit dem Rezipient*innenkreis korrespondieren. Steinbrücks „klare Kante“ markierte eine Grenze, die ihn bei Teilen der Wahlbevölkerung ins Abseits beförderte. Ihm gelang es nicht, die Rolle des Schachspielenden ähnlich glaubwürdig einzunehmen, wie es bspw. Gerhard Schröder als „Acker“ gelang. Dabei lebt diese Stilisierung des ehemaligen Kanzlers als Fußballer, der das Spiel auf den Ascheplätzen arbeitete, ebenso von einer erzählerischen Überhöhung. Doch schien in diesem Narrativ die Leitmetapher „Acker“ zum hemdsärmeligen Politiker Schröder zu passen. Dies gelang Steinbrück nur unzureichend. Vor allem Frauen konnte Steinbrück bei der Wahl nicht für sich gewinnen. Dem Kompetenz betonenden Bezugsrahmen wurde eine weitere Bedeutungsebene hinzugefügt, die seinen Erklärmodus mit einem von Frauen oftmals als bevormundend empfundenen Mansplaining deutete. Mit diesem Begriff bezeichnen Soziologen das Phänomen des männlichen Sendungsbewusstseins Frauen gegenüber (Solnit 2014). Gegen die positiv gewendete Weiblichkeit Merkels wird Steinbrücks Männlichkeit so zum Problem, „weil die SPD mal wieder einen Mann aufgestellt hat, Modell 80er Jahre. Peer Steinbrück wirkt neben ihr irgendwie altmodisch, gestrig“ (Oestreich/Reinecke 07.09.2013). Ähnlich argumentiert auch Thymian Bussemer, der konstatiert: „Die ‚have gun, want travel‘-Attitüde des sozialdemokratischen Kandidaten inszenierte im Hinblick auf Geschlechterbilder einen Typus des raubeinigen und durchsetzungsstarken Politikers, der in vielen Milieus so nicht mehr nachgefragt wird“ (2013: 54). Steinbrücks Persona wird analog zu Merkels Weiblichkeit mit einer Männlichkeit aufgeladen, die als chauvinistisch empfunden wird: „Steinbrück hört nicht zu, beantwortet nichts und textet die Teilnehmer nieder. Das ist nicht klare Kante, das ist Penisparade #wahlarena“ (@thehardcorpse 11.09.2013). Steinbrück wird zum „Polit-Macho“ (Sturm 16.05.2012), der neben Mutti-Merkel nicht in der besten Position ist. Es lässt sich sogar fragen, ob die vereinnahmende Charakterisierung der Kanzlerin als „Mutti“ einen Klartext-Frontalangriff überhaupt zulässt oder ob Steinbrück hier angesichts ihrer gemeinsamen Vergangen-
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heit im Kabinett Merkel 1 nicht von seiner „klaren Kante“ abweichen muss: „Angela Merkel ging er an, ohne die Dame zu verletzen“ (Maier 01.09.2013). Aus: „Peer the Pitbull“ (Eickler 17.07.2013), dem angriffslustigen Klartexter, wird schnell ein Hund, der bellt, aber nicht beißt. Diese Inkonsequenz eröffnet Interpretationsangebote, die die Brüchigkeit seiner Persona betonen: „Diesen Mann ohne Ecken und Kanten nehmen die Wähler Steinbrück wie der Partei sowieso nicht ab“ (Müller 02.01.2013). Die positiven Konnotationen der Leitmetapher sind so schnell zunichte gemacht. Beinahe alle negativen Charakterisierungen Steinbrücks lassen sich folgerichtig auch auf die „klare Kante“ beziehen. Ob Problem-Peer, Prosecco-Peer oder die Peerspitze; alle diese Begriffe fügen sich in das Bild des etwas sperrigen, doch wahrheitsliebenden Politprofis. Auch die vielerorts kritisierten Honorare für Steinbrücks Auftritte als Redner gingen auf seine Rolle als „Klartexter“ zurück: „Klare Kante und klare Aussagen: Mit dieser Kombination komme man auf dem Markt gut an“ (Schelk/Tretbar 04.12.2012). Konnte man Steinbrück hier auch kein Fehlverhalten nachweisen, so waren die öffentlich gewordenen Honorare nicht nur seiner Inszenierung als authentischer Politikerfigur abträglich, sondern zudem an der SPD-Basis nicht vermittelbar. Obwohl es sich bei den Vortragstätigkeiten um eine Normalität des politischen Alltags handelt, wären hier zumindest Anzeichen von Reue oder Entschuldigungen sicher zuträglich gewesen. Die von Steinbrück in seiner Partei eingeforderte Beinfreiheit bekam so jedoch einen Beigeschmack, den Steinbrück nicht einmal selbst zu verantworten hatte. Denn es war die narrative Konfiguration im Einklang mit der ihn umgebenden Metaphorik, die sich nicht mit der öffentlichen Verhandlung von Politikerhonoraren vertrug. 5.2 Erzählsituationen Die Analyse politischer Narrative des Bundestagswahlkampfes erschöpft sich nicht in der Erörterung der Leitmetaphern und ihrer dominanten Bezugsrahmen. Nur wenn die Erzählsituationen der jeweiligen Belegstellen rekonstruiert und auf ihre narrativen Mechanismen hin untersucht werden, lassen sich die politischen Implikationen einer Erzählung rekonstruieren. Sowohl entlang der Mutti-Metapher als auch im Hinblick auf die Klartext- und Klare-Kante-Metaphorik werden in unterschiedlichen Erzählsituationen verschiedene Bezugsrahmen akzentuiert. Die externen Erzählinstanzen, also Absender*innen und (intendierte) Empfänger*innen, geben Aufschluss über die Intentionen des Sprachaktes, da sie die Belegstellen kontextualisieren. So kann „Mutti“ sowohl einen despektierlichen als auch einen bewundernden Unterton erhalten, sie kann zum Angriff auf den politischen Gegner als auch zur Unterstützung der eigenen Position genutzt werden.
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Die Deutung und die damit verknüpfte Verwendung der Metapher im Diskurs entfalten sich nicht losgelöst vom Kontext der Erzählung. Die Sprechhandlungen der beteiligten Akteur*innen, die soziale Situation und die gewählten Medien sind die maßgeblichen Bestandteile dieses Kontextes und sind Gegenstand der Interpretation der Erzählsituation. Die Narrativanalyse löst sich von einer schematischen Sender-EmpfängerLogik, die die diskursive Bedeutung lediglich an diesen dichotomen Faktoren festmacht. Darüber hinaus wird im Rahmen der hier vorgeschlagenen Narrativanalyse auch den internen Erzählinstanzen eine wichtige Funktion zugeschrieben. Über das Personal der Erzählung, das sich entlang der Frage „Wer sieht was?“ rekonstruieren lässt, werden die Akteur*innen erzählerisch in eine Beziehung zueinander gesetzt, aus der sich Rückschlüsse über Loyalitäten und Allianzen, Gleichgültigkeit und Neutralität oder Ablehnung und offene Feindschaft herauslesen lassen. Die Erzählsituationen zu analysieren bedeutet also die internen und externen Erzählinstanzen zu rekonstruieren und die somit verhandelten Rollenzuweisungen interpretativ zu analysieren. Für die hier verhandelten Leitmetaphern lassen sich zahlreiche Belegstellen finden. Jeder dieser Belegstellen ist eine spezifische Erzählsituation mit externen und internen Erzählinstanzen zu eigen. Zwar ließen sich erneut die im vorangegangenen Kapitel rekonstruierten Belegstellen herausgreifen und hinsichtlich der Erzählsituation analysieren, doch werden an dieser Stelle weitere idealtypische Belegstellen für die Analyse der Erzählsituationen identifiziert und entlang der beiden Leitfragen „Wer spricht zu Wem?“ und „Wer sieht was?“ interpretiert. So kann eine größere Vielfalt an Belegstellen gezeigt werden. Ziel ist es die Bedeutung der Erzählsituationen im Rahmen einer Narrativanalyse zu illustrieren und zudem tiefere Erkenntnisse über die Wirkung der beiden Leitmetaphern zu erhalten. Dafür bieten sich unterschiedliche Formen der Analyse an. Zum einen können die Erzählsituationen entlang der Erzähler sortiert werden. Zum anderen ist auch eine Analyse entlang der unterschiedlichen metaphorischen Bezugsrahmen denkbar. Während dort der Fokus auf den beteiligten Akteur*innen, ihren Motiven und erzählerischen Kapazitäten liegt, steht hier die Tiefenanalyse der verschiedenen Sinnhorizonte im Fokus. Schließlich lassen sich beide Perspektiven auch integriert mit dem Fokus auf die diskursive Bedeutung der Erzählung denken. Alle drei Wege sollen im folgenden Kapitel genutzt werden, um die Vielschichtigkeit der politikwissenschaftlichen Narrativanalyse zu verdeutlichen. 5.2.1 „Muttis Familie“ Die Metapher der „Mutti“ Merkel birgt großes Identifikationspotenzial. Nicht nur für die Bürger*innen, sondern auch für die politischen Akteur*innen bietet
5.2 Erzählsituationen
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sie Anschlussmöglichkeiten und Reibungsflächen auf emotionaler Ebene. Da die Metapher aus dem semantischen Feld der Familie entlehnt ist, sind bestimmte Rollenkonstellation und somit auch die Beziehungen der internen Erzählinstanzen präfiguriert. Sowohl Zustimmung, Aneignung und Bejahung der MuttiMetapher durch die Union und ihre Unterstützer*innen als auch in der Ablehnung, Kritik und Verneinung bestimmter Bedeutungszusammenhänge durch die Akteur*innen anderer Parteien, bieten sich Rollen aus dem Feld der Familie an. Politik erscheint in dieser erzählerischen Konfiguration als Familiendisput, in dem Väter, Kinder, Enkel, Onkel und Tanten eine Rolle spielen. Die Metapher der „Mutti“ verweist dabei fast ausnahmslos auf Angela Merkel. Meist ist eine Nennung des Namens der Bundeskanzlerin sogar überflüssig, da die Metapher beinahe in den Status eines Synonyms übergegangen ist. Durch die Analyse treten drei zentrale Muster an Erzählsituationen auf, die im Folgenden kurz erörtert werden. Zunächst wird die Leitmetapher der „Mutti“ im Rahmen erzählter Familienbeziehungen in der Union analysiert (1). Des Weiteren sind diejenigen Erzählsituationen von Interesse, in denen „Mutti“ von anderen Parteien in eine narrative Konfiguration eingebunden wurde (2). Schließlich hat sich auch Angela Merkel selbst in die Rolle der „Mutti“ erzählt und somit interne und externe Erzählinstanz zur Deckung gebracht (3). Mutter und Kind: Erzählte Beziehungen in der Union Eine erste Belegstelle, die eingehender in den Blick genommen wird, stammt von Michel Friedman, der in der Rubrik „Wort der Woche“ in der Welt am Sonntag unter dem Titel „Mutti“ die Metapher in Reinform aufgreift und sprachlich mit dem familiären Bezugsrahmen spielt. Welche Mutter träumt nicht von so viel Liebe, Akzeptanz, Umarmung, Wohlwollen, Kritiklosigkeit, wie sie gerade Angela Merkel als „Mutti“ der CDU (von ganz Deutschland?) auf dem Parteitag in Hannover erlebt hat? 97,94 Prozent der CDUFamilie wollen Mutti als Familienoberhaupt behalten (Friedman 09.12.2012).
Friedman selbst tritt hier als Erzähler in Erscheinung. Er ist Absender des Artikels und richtet sich an die Leser*innen der Zeitung sowie implizit auch an die Parteimitglieder*innen, da er als CDU-Mitglied eine Innensicht des Parteitages präsentiert. Friedman übernimmt die Familien-Metaphorik für die Beschreibung der Partei und lässt dabei den semantischen Bruch zwischen der Familie und der Partei als politischer Institution außen vor. Anders als eine Parteivorsitzende steht die Mutter nicht zur Wahl. Selbst in Phasen der maximalen Distanz zur eigenen Mutter ist ein Loslösen nicht denkbar. Das Verwandtschaftsverhältnis verunmöglicht eine solche Lösung. Dieser Umstand markiert das identitätsstiftende Moment dieser narrativen Beziehung: Alles andere als eine überwältigende
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Mehrheit würde die eigene Rolle als Kinder und Enkel der „CDU-Familie“ konterkarieren. Erzählerisch war die Wiederwahl also unumgänglich, da der Bruch mit dem eigenen Narrativ sich zu keinem Zeitpunkt abzeichnete. Die Wahlentscheidung der Delegierten folgte einer Erzählung und bestätigte die bislang imaginierte Einigkeit der familiären Bande. In diesem Punkt wird deutlich, dass im Rahmen der Narrativanalyse ein Schwerpunkt auf die internen Erzählinstanzen zu legen ist. Nicht nur die externen Faktoren der Erzählung, also der Kontext des Erzählaktes geben Aufschluss über die identitätsstiftenden Momente der diskursiv wirksamen Erzählung, sondern auch das über die Erzählung in Beziehung gesetzte Personal des Narrativs. Was ist das denn eigentlich für eine seltsame Familie? Sind alle Jungs voller ödipaler Komplexe? Durchläuft keines der Kinder die Pubertät, wehrt sich, schlägt um sich, grenzt sich vom weiblichen Elternteil ab? Kann Angela Merkel machen, was sie will? Oder ist ihre Stärke definiert, weil sie oft (scheinbar) wenig tut und entscheidet? Oder hat Mutti in ihrer Familie alle anderen Machtzentren stillgelegt, indem sie sie entweder gut versorgt oder einfach weggebissen hat? Vielleicht spürt aber auch die Familie, dass Mutti ihre Verantwortung wahrnimmt, versucht, sich zu kümmern, die Probleme abzuarbeiten, pragmatisch. Ohne sich nach außen wichtig zu machen (Friedman 09.12.2012).
Friedman erzählt Merkel hier als Parteivorsitzende ohne echte Konkurrenz. Er bedient damit denjenigen Bezugsrahmen, der Merkel als erziehende Mutter konzeptualisiert. Bei Friedman ist „Mutti“ ein Machtbegriff, der die anderen Spitzenakteur*innen der Partei Merkel unterordnet. Sie lässt in dieser Erzählung keinen Widerspruch, keine Kontroverse zu. Eine besondere Betonung legt Friedman zudem auf die männlichen CDU-Mitglieder, wie die Anspielung auf Ödipus zeigt. Bedient wird hier ein Erzählstrang, der mit weiblicher Führung hadert. In Erwartung einer männlichen Machtposition ist die weibliche Führungsrolle ein störendes Moment. Aus der Analyse der Bezugsrahmen wissen wir, dass gerade die männliche Perspektive auf das Primat einer machtvollen Frau ambivalent ist. Die Geschlechterbeziehung wird unvermittelt zum Thema und die Erzählung des Ödipus zum Sinnbild dieser ambivalenten Beziehung.40 Friedman erzählt Merkel als ein Familienoberhaupt, dessen Machtfülle sich von der Partei auf das Land übertragen lässt. Seine Erzählung insinuiert dabei, 40
An dieser Stelle böte sich eine eingehendere Analyse der Ödipus-Erzählung an. Der Fokus der hier vorgeschlagenen Narrativanalyse liegt jedoch nicht auf den rhetorischen Bezügen auf literarische Erzählungen, sondern versucht vielmehr in der politischen Alltagssprache selbst erzählerische Muster zu identifizieren. Die Analyse literarisch-kultureller Rückbezüge wird hier nur in Hinblick auf die metaphorischen Bezugsrahmen angestrebt. Darüber hinausgehende Interpretationen sind jedoch sicherlich aufschlussreich und würden Einblicke in die kulturellen Sinneinheiten gegenwärtiger politischer Sprache bieten.
5.2 Erzählsituationen
173
dass das Rollenverhältnis einer allmächtigen Mutter mit gehorsamen Kindern auch in der bundesdeutschen Politik wirkmächtig ist. Diese Rollenverteilung bedarf weiterer Prüfung anhand anderer Belegstellen. Zunächst lässt sich die Erzählung von „Mutti“ Merkel als mächtiger Erzieherin der eigenen Partei untermauern. Zum Beispiel in folgendem Tweet der CSU-Politikerin Dorothee Bär: „Unsere Mutti ist die Beste!“ (@dorobaer 01.09. 2013). Form, Medium und Diskursraum unterscheiden sich von der zuvor gezeigten Belegstelle Friedmans. Trotzdem lassen sich beide als Teil derselben Erzählung lesen. Bär nutzt hier in ihrer Funktion als Erzählerin einen Tweet als live-kommentierendes Aussageereignis und adressiert dabei ebenso wie Friedman die politische Öffentlichkeit. Bärs Adressat*innen sind jedoch einer personal public, also einer den sozialen Medien spezifischen Form der Öffentlichkeit zuzuordnen. Friedman hingegen wählt die Arena der klassischen politischen Öffentlichkeit, in der sich die Welt am Sonntag bewegt.41 Erneut liegt der Fokus hier nicht auf der externen Erzählsituation. Vielmehr sind es die verhandelten Rollen der internen Erzählinstanzen, die näher betrachtet werden. Bär, die ihrem Tweet ein Foto der Kanzlerin im TV-Duell zur Seite stellt, ist unmittelbarer Teil der Mutti-Erzählung und zeigt diese Zugehörigkeit über das Possessivpronomen „unsere“ an. Nicht „eure“ oder „die“ Mutti sei die Beste, sondern „unsere“. Bär ist als Absenderin deckungsgleich mit der internen Erzählinstanz. Sie spricht und sieht gleichzeitig. Bär ist Teil der Familie und bejaht die bei Friedman noch kritisch angemerkte Machtposition der Kanzlerin unhinterfragt. Da Bär Mitglied der „Schwesterpartei“ CSU ist, ist diese bekundete Loyalität nicht zwingend. Bär erweckt hier jedoch den Anschein, dass diese gemeinsame Identität der Unions-Familie unkritisch sei. Durch die Synchronisierung externer und interner Instanzen der Erzählung entsteht das Bild einer starken Identifikation. Die Parteifamilie scheint sich also zumindest über die bayrischen Landesgrenzen hinweg zu erstrecken. Auch die CSU ordnet sich der politischen Führung Merkels unter. Die eigenen Spitzenkandidaten müssen sich ins zweite Glied einreihen. Nicht immer war diese Loyalität innerhalb der Fraktionsgemeinschaft in der Vergangenheit so ausgeprägt und auch spätere Wahlkämpfe sollten zeigen, dass die Betonung der familiären Beziehung eine Momentaufnahme darstellt.42 Für den Wahlkampf 2013 wird in dieser erzählerischen Ver41
42
Die Unterschiede dieser beiden Arenen der politischen Öffentlichkeit sollen an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Wichtig ist jedoch der Hinweis auf die formale Differenz der beiden Aussageereignisse. Vgl. hierzu die Literatur in Kapitel 2.1.2. Erinnert sei an den Trennungsbeschluss im Jahr 1976, als die gemeinsame Fraktion im Deutschen Bundestag aufgelöst wurde. Auch im Zuge der „Flüchtlingskrise“ 2015 brachen inhaltliche Differenzen zwischen CDU und CSU auf und in den gescheiterten Jamaika-Koalitionsverhandlungen 2017 galt Merkel in der CSU nicht mehr als die unangefochtene Orientierungsautorität. Im Oktober 2017 fand ein sogenanntes Beziehungsgespräch zwischen beiden Partei-
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handlung der Mutti-Metapher jedoch deutlich, wie sehr die Reihen des konservativen Lagers kommunikativ hinter der Kanzlerin standen. Die Erzählung der „Mutti“ transportiert in den beiden kurz skizzierten Erzählsituationen Verhaltenserwartungen an die Absender*innen, in diesem Fall Bär und Friedman, an die Bezeichnete, hier Angela Merkel und die Anhänger*innen von CDU/CSU. Die Erwartungen speisen sich hier aus den Bezugsrahmen der gewählten Metaphorik. Während in der Leitmetapher lediglich bestimmte Bezugsrahmen angelegt sind, werden sie über die Erzählsituation aktiviert. Erst die internen Erzählinstanzen lassen Sinnbezüge hervortreten. Dabei bringt die erzählerische Konstruktion einer familiären Akteurskonstellation für die CDU/CSU Vorteile mit, denn sie verweist unmittelbar auf die Wertetradition der Partei. Traditionelle Familienbilder sind seit jeher ein Fundament der christdemokratischen Identität (CDU/CSU 2013, S. 38ff). Die Familie als Rahmung der politischen Identität weist emotionale Bezüge auf, die sich in militärischen oder unternehmerischen Metaphern nicht transportieren lassen. Auch wenn berechtigte Einwände politischer Profis dafür plädieren, Parteien nur ja nicht als Familie zu erzählen, da Parteien Organisationen „zur Machterringung, Machtausübung und Machterhaltung“ (Spreng 25.05.2012) seien und diese Attribuierungen nicht in den semantischen Raum der familiären Heimeligkeit zu passen scheinen, lässt sich die identitätsstiftende Kraft eines Familiennarrativs nicht von der Hand weisen. Nicht nur verkennt Sprengs Einwand hier die essenzielle Bedeutung von Parteien für die politische Willensbildung, die Legitimierung politischen Handelns und die Repräsentation gesellschaftlicher Anliegen, sondern er unterschätzt auch die Notwendigkeit einer emotionalen Teilhabe politischer Akteur*innen. So ist es nicht verwunderlich, dass sich die unterschiedlichsten Erzählinstanzen im Sinne des Mutti-Narrativs äußern und die CDU somit als Familie imaginieren. Ein Blick an die verschwommenen Grenzen des anarchischen Diskursraums, dort wo sich Parteiorganisationen im Internet äußern, zeigt, wie die familiären Bezugsrahmen auch hier akzentuiert werden. Die Allmacht der „Mutti“ Merkel wird auf dieser Wahlkampfpostkarte des schleswig-holsteinischen Landesverbands der Jungen Union auf die Spitze getrieben.
spitzen statt, bei dem die Form der weiteren Zusammenarbeit geklärt und der öffentliche Streit beigelegt werden sollte.
5.2 Erzählsituationen
Abbildung 2:
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Share-Pic der Jungen Union Schleswig-Holstein bei Facebook.
„Ohne Mutti ist alles doof“, so der Titel dieser Karikatur. Neben der zentral positionierten Kanzlerin finden sich die unterschiedlichsten Politikfelder anhand schematischer Zeichnungen wieder. Dabei setzt die JU „Mutti“ noch nicht einmal in Anführungszeichen und nutzt die Metapher selbstverständlich zur Bezeichnung Merkels. Die infantile Wortwahl unterstützt dabei die Erzählung einer bis zur Unterwürfigkeit loyalen Jugendorganisation. „Mutti“ scheint also nicht allein für die „Erwachsene“ Wähler*innenschaft eine Erzählung mit Identifikationspotenzial darzustellen, sondern hält auch für jüngere Wählerschichten eine gewisse Attraktivität bereit. Auch die Lesben- und Schwulen in der CDU, die sich in unter anderem in der LSU organisieren, warben in einer strategischen Aneignung der Metapher mit ihrer Zugehörigkeit zu „Muttis“ Familie, indem sie sich selbst auf Plakaten als „Muttis GAYle Truppe“ bezeichneten. Die LSU ist hier Absender und Personal der Erzählung zugleich. In dieser Selbstbeschreibung spiegelt sich nicht nur die Zustimmung zu Merkel als Kandidatin wider, sondern wird auch ein deutliches Bekenntnis zur Familie als „Keimzelle der Gesellschaft“ formuliert. Die LSU zeigt dabei, dass inhaltliche Differenzen dem Mutti-Narrativ (noch) nicht zwingend gefährlich werden müssen. Auf der Homepage der LSU kann das Bekenntnis zu „Mutti“
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problemlos neben der Forderung der rechtlichen Gleichstellung der sogenannten „Homoehe“ stehen, obwohl sich Merkel im Wahlkampf nicht eindeutig zu einer möglichen Einführung der Ehe für alle geäußert hatte (Wahlarena 09.09.2013). Die Familie bietet als narrative Rahmung genügend Spielraum, um diese divergierenden Ansichten auszuhalten. So lange Merkel als sorgende Mutter die Parteiarbeit überschaut, kann der inhaltliche Dissens sogar positiv im Sinne der Pluralität der Partei erzählt werden. Hier spielt auch der auf Konsens ausgelegte Bezugsrahmen der ausgleichenden Mutter eine Rolle. Die Familie wird zu einem Raum der Toleranz. Inhaltliche Unterschiede stehen hinter der Loyalität zur Parteivorsitzenden zurück. Die Mutti-Metaphorik bietet also deutlich mehr Raum für abweichende Meinungen als die Kante des Peer Steinbrück. Mühelos können sich die unterschiedlichsten Erzählinstanzen positiv in die Erzählung der Mutti Merkel integrieren. Die Union und ihre Unterstützer*innen verstanden es auch im anarchischen Diskursraum, die Erzählung der Mutti und ihrer Partei als Familie konsequent durchzuhalten. Bei Twitter wurde das Hashtag #muttimachts etabliert und unter http://muttimachts.tumblr.com/ ein Tumblr eingerichtet, der kurz vor der Wahl Blogeinträge und sonstige Fundstücke aus dem Netz sammelte. Dabei trat die Partei nicht direkt als Erzählerin in Erscheinung. Das Narrativ wurde vielmehr durch „das Netz“ als diffuser Erzählinstanz bedient. Hashtags wurden als anthropomorphe Figuren zum Teil der Erzählung. Sie kontextualisierten das Gesagte als Teil der Mutti-Erzählung. Dabei vereinigen sie Stimme und Inhalt in einer diffusen Instanz, deren Funktion und Wirkung in den komplexen Kommunikationszusammenhängen des politischen Alltags noch nicht eindeutig geklärt sind (Thimm et al. 2012). Auffällig ist jedoch, dass sich unter den Top30 Hashtags im Bundestagswahlkampf 2013 neben der Rahmung #btw13 auf Platz eins und den Namen der Kandidaten auf den Plätzen zwei und drei, auch #mutti auf Platz zehn wiederfindet (Thimm et. al. 2014).43 Wie sehr die Erzählsituation und der Bedeutungshorizont von Metaphern aufeinander bezogen sind, zeigt sich, wenn man die ursprüngliche Nutzung der Mutti-Metapher vor allem durch die Männer der CDU und ihrem Umfeld erinnert. Sätze wie: „Du solltest ihn anrufen und bitten, dass er das Meeting mit Sarko organisiert. Oder Du fragst Mutti, ob sie Dir das organisieren kann“ (Hagelüken/Deinigner 26.06.2012), die im Rahmen der EnBW-Affäre ans Licht kamen und vom damaligen Deutschland-Chef der US-Bank Morgan Stanley an den ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus gerichtet waren, zeigen nicht nur den internen Umgangston politischer Funktionseliten, sondern veranschaulichen auch, wie die Erzählsituation und die konkrete 43
Hier bieten sich weitere aufmerksamkeitsökonomische Untersuchungen an, die im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter verfolgt werden.
5.2 Erzählsituationen
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Verwendung von Metaphern viel über die Ziele und Intentionen von Akteur*innen aussagen können. Hier lässt sich durchaus ein patronisierender Tonfall herauslesen. Zudem sind keine Aussageereignisse auffindbar, in denen Parteimitglieder und ihre Assoziierten öffentlich in despektierlicher Art und Weise die Mutti-Metapher bedienten. Der abwertende Gebrauch der Metapher spielt in der Erzählung der CDU/CSU keine Rolle. Die im vorangegangenen Abschnitt zitierten Belegstellen zeigen hingegen, dass sich vor allem der fürsorgliche Sinnhorizont der Mutti-Metapher für die eigene Erzählung eignet und entsprechend häufig von den Anhänger*innen und Mitglieder*innen der Merkel-Partei genutzt werden. Mutti und die anderen Parteien Neben diesen Erzählsituationen, die sich dem Umfeld der Union und ihrer Anhängerschaft zuordnen lassen, war die Leitmetapher der „Mutti“ Merkel auch in den Erzählungen der anderen Parteien präsent. Im Unterschied zu den Erzählsituationen mit Unions-Beteiligung werden in den Erzählungen der anderen Wahlkampfbeteiligten alternative Bezugsrahmen adressiert. „Mutti“ Merkel ist Gegenstand des öffentlichen Gesprächs ihrer politischen Gegner*innen. Dabei wird sie natürlicher Weise zur Zielscheibe von Kritik, die jedoch keine alternative Metaphorik annimmt, sondern im semantischen Rahmen der Familie verbleibt und sogar die Leitmetapher der „Mutti“ aufgreift. SPD Wie problematisch eine kritische Auseinandersetzung mit „Mutti“ kommunikativ sein kann, zeigt sich bei einem Blick auf die Erzählsituationen, in denen die SPD und ihre Anhänger das Narrativ bemühen. Die Süddeutsche Zeitung zitiert kurz nach der Wahl – Sondierungs- oder gar Koalitionsgespräche waren noch nicht geführt und auch eine Schwarz-Grüne Koalition war zu diesem frühen Zeitpunkt noch im Raum des Möglichen – ein Mitglied der SPD: „Erst hat Mutti die SPD geheiratet und ausgesaugt. Und dann hat Mutti die FDP geheiratet und ausgesaugt“ (Salger 25.09.2013). Die hier eröffneten Sinnbezüge fügen dem MuttiNarrativ neue Bedeutungsebenen zu, die den Bezugsrahmen der „Mutti“ als Frau ergänzen (vgl. Kap. 5.1.1). Die SPD war in dieser Erzählvariante bereits einmal „Ehemann“ Merkels. Diese tritt als „männermordende Mutti“ in Erscheinung, die sich über nahezu wehrlose Partner hermacht. SPD und FDP werden hier zu anthropomorphen Charakteren des Narrativs. Merkel steht diesen Charakteren gegenüber. Nicht etwa die Union, sondern Merkel, die als „Parteienfresserin“ imstande sei, gleich zwei Regierungspartner nacheinander machtpolitisch zu marginalisieren, ist hier Ziel der kommunikativen Angriffe. Merkel fungiert in dieser Erzählung als personifizierte Union, der die Schuld an der „gescheiterten
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Ehe“ zwischen SPD und CDU zugeschrieben wird. Diese Deutung ist aufschlussreich, da sie zeigt, wie sehr sich die SPD bereits in der passiven Rolle eingerichtet hatte, denn sie war durchaus aktiver Part der Großen Koalition in der 16. Legislaturperiode und hätte die Chance gehabt, sich gegenüber Merkel zu behaupten. Rückwirkend Merkel die Schuld am eigenen Verhalten in der Regierung zuzuschreiben bedeutet auch, die eigene Handlungsfähigkeit kleinzureden. Erzählerisch besteht hier zudem ein Bruch zum „männlichen“ Wahlkampf 2013, der sehr stark auf Steinbrück und die „Klare Kante“ fokussierte. Das Image des „Machers“ lässt sich erzählerisch nur schwer mit einer übermächtigen „Ehefrau“, die imstande ist, die SPD „auszusaugen“, übereinander bringen. Dass diese Stimme aus der SPD selbst kommt, ist ein Hinweis dafür, dass das Mutti-Narrativ seine Wirkung an der sozialdemokratischen Basis entfaltet hat. Auch im gegnerischen Lager wurde Merkel als „Mutti“ erzählt. Zwar war diese erzählerische Anverwandlung immer mit dem Versuch einer Umdeutung, einer negativen Auslegung der Sinnhorizonte verknüpft, doch lässt sich anhand weiterer Belegstellen zeigen, wie dieses Vorhaben mit der Kraft dieser Erzählung zu kämpfen hatte. SPD-MdB Rita Schwarzelühr-Sutter twitterte in Bezug auf die Wirtschaftspolitik der CDU: „Mehr netto vom brutto - Mutti macht Werbung für die FDP! D.h. Auch in Zukunft Steuersenkung auf Pump und auf Kosten unserer Kinder!“ (@rischwasu 03.09.2013). Interessant an diesem Tweet ist vor allem der doppelte Verweis auf die Familie. Die Politik der Mutti sei gefährlich für unsere Kinder. Welche Rolle spielt die Absenderin und ihre Partei die SPD in dieser Konstellation? Das Sprachbild der Unionsfamilie und der „Mutti“Merkel ist so dominant, dass ein ernstes Argument hier in eine semantische Dissonanz verfällt. Wie kann „Mutti“ nicht das Beste ihrer Kinder im Sinn haben? Offensichtlich wollte Schwarzelühr-Sutter die Mutti-Metapher in abwertender Weise nutzen. Doch verkennt sie, dass die Intention einer Botschaft nicht deckungsgleich ist mit der empfangenen Bedeutung. So verkehrt sich diese kommunikative Attacke in einen Punktgewinn für Merkel, die erneut ihre wirkmächtige Erzählung bestätigt sieht. Ähnlich verhielt es sich bei einer Plakatkampagne der SPD, die Motive der Kanzlerin nutzte und sie mit ablehnenden Botschaften versah. Die prominente Darstellung der Handtasche in Abb. 3 passt in die Mutti-Erzählung. Bei der Motivwahl muss der SPD und der ausführenden Agentur hier Absicht unterstellt werden. Die Tasche ist zentrales Merkmal der intendierten Kritik an der Datenschutzpolitik der Kanzlerin. Als Gegenstand mit privatem Inhalt symbolisiert die Tasche hier den Bereich des Privaten. Diese offensive Kritik an Merkel, die durch die Text-Bild-Schere vermittelt werden soll, ist jedoch in zweierlei Hinsicht problematisch.
5.2 Erzählsituationen
Abbildung 3:
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Plakatmotiv der SPD aus dem Bundestagswahlkampf 2013
Zunächst benötigt die formulierte Kritik einen hohen Wissensstand über die Verwendung der Neuland-Metapher.44 Außerdem lassen sich auch aus narrativanalytischer Sicht Gründe finden, warum das Motiv nicht geeignet ist für eine erfolgreiche Kommunikation der intendierten Botschaft. Durch das Bedienen des Mutti-Narrativs wird die Metapher der „Mutti“ im Diskurs stabilisiert. Gerade durch eine Erzählsituation, in der die politischen Gegner auf die mächtige Erzählung von „Mutti“ Merkel Bezug nehmen, bleibt sie im öffentlichen Gespräch präsent. Die eigenen Inhalte und das eigene Personal werden so immer in Bezug zur Kanzlerin erzählt. Aufmerksamkeitsökonomisch wird Merkel somit nicht nur visuell, sondern auch erzählerisch in den Mittelpunkt des Wahlkampfes gerückt. Hier spielt erneut die Semantik der familiären Verwandtschaft eine Rolle. Eine Mutter kann nicht abgewählt werden, so sehr man sich auch bemüht. Die Sozialdemokraten schreiben sich (unbewusst) in passive Rollen ein, die der Übermacht Merkels ausgesetzt sind. Ausgehend von dieser Konfiguration wird die Sehn44
Merkel nutzte diesen Begriff, um die wachsende Bedeutung des Internets zu umschreiben und wurde dafür in Netzkreisen als rückständig belächelt (vgl. den hashtag #neuland bei Twitter und Facebook).
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sucht nach einem offensiven „Klartexter“ verständlich. Die SPD als interne Erzählinstanz wird jedoch durch diese offen zur Schau gestellte Passivität nicht in die Lage versetzt, eine Wahlalternative darzustellen. Vielmehr scheint sie gezwungen, sich zu „Mutti“-Merkel zu verhalten. Dies zeigt auch das Beispiel Hannelore Krafts, die auf Landesebene als sozialdemokratische Landesmutter inszeniert wurde. In Anlehnung an den „Landesvater“ und ehemaligen NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau, der „Landesvater“ NRWs, wurde Kraft ebenfalls mit der Metapher der Mutter assoziiert. Und deshalb muss sich Kraft im Wahlkampf zwar immer noch ständig inszenieren, als Landesmutti, zu der man gern mal zum Quatschen auf eine Tasse Kaffee rüberkommen könnte. Aber verstellen muss sie sich dafür nicht (Dahlkamp/Schmid 30.04.2012).
Die familiäre Identität funktionierte in der SPD nur auf Landesebene, da der Spitzenkandidat Steinbrück in andere erzählerische Bedeutungszusammenhänge eingekleidet war und in NRW bereits mit Johannes Rau eine erzählerische Vorlage zum Familiennarrativ existierte. Dennoch war Kraft keine echte Alternative zu „Mutti“-Merkel, allein deshalb, da sie nicht zur Wahl stand. Die „Mutti“Metaphorik wurde im Gegenteil durch Kraft auch vonseiten der SPD legitimiert. Etwa, als sie im Interview mit Oliver Welke in der ZDF heute-show gefragt wurde: „Stichwort Kanzlerin: Kommt es denn 2017 endlich zum ersehnten Duell Mutti gegen Mutti 2.0?“ Krafts Antwort: „Ja, natürlich nicht, weil bis dahin ist die andere Mutti weg!“ (heute show 15.02.2013). Hier wird deutlich, wie wenig attraktiv der Kampf zweier Mütter auf die Diskursbeteiligten wirkt. Erneut gilt: Da Verwandtschaft nicht zur Wahl steht, kann die Antwort Krafts nur als Drohung wahrgenommen werden. Der rhetorische Angriff verhallt in seiner eigenen Konnotation. Gleichzeitig wird die Mutter als legitime Inszenierung von Führung in Gestalt Hannelore Krafts erzählt. Eine Deutungshoheit über die Metapher der Mutter zu erringen, gelang der SPD allerdings zu keinem Zeitpunkt. Im Moment der Ablehnung wird die Bedeutung der Erzählinstanzen für das Verständnis von Narrativen deutlich. Nicht nur konfigurieren sie alternative Deutungen der Leitmetaphorik, sondern bilden sie durch ihre Positionierung zur Leitmetapher auch neue Erzählungen. Während die SPD in der familiären MuttiErzählung der CDU keine Rolle spielt und diese sich auf ihre eigene Innen- und Außendarstellung konzentrieren kann, muss die SPD erzählerisch vorbestimmte Wege gehen. Denn wie sollte sie sich zu einer „Unions-Familie“ verhalten, in der emotionale Bande aufgrund einer geteilten Wertetradition bestehen? Kritisiert die SPD die Familie CDU und vor allem ihr Familienoberhaupt, so sieht die Erzählung für sie die Rolle des „Störers“ vor, der von außen negativen Einfluss auf den inneren Frieden nimmt. Negiert sie die Konfiguration der Familie und ver-
5.2 Erzählsituationen
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sucht sie als Inszenierung zu entzaubern, so läuft sie Gefahr, auf eigene identitäre Defizite aufmerksam zu machen. Diese waren im Wahlkampf offensichtlich. Zentraler Begriff der SPD-Kampagne war das „Wir“, das eine gemeinsame Identität schaffen sollte und im nächsten Abschnitt näher beleuchtet wird. Die LINKE Deutlich unbefangener als die SPD konnten die anderen Parteien mit der MuttiMetapher umgehen. Einen alternativen Weg der Anverwandlung zeigt das Beispiel eines Tweets des LINKEN-Politikers Tobias Schulze: „‚Onkel Gysi statt Mutti Merkel.‘ Das nenne ich Straßenwahlkampf. #btw13 #48stunden #tvtotal“ (Schulze 21.09.2013).
Abbildung 4:
Foto aus einem Tweet des Linken-Politikers Tobias Schulze.
Schulze und das Bild, auf welches er verweist (Abb. 4), erzählen die LINKE als Teil der Familie Merkels. Diese Konfiguration greift die ursprünglich humoristische oder doch zumindest nicht allzu ernste Bedeutung der Mutti-Metaphorik auf und erweitert den Familienkreis. Durch die ironische Brechung gelingt es in die-
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ser Konstellation, die nötige Distanz zu Merkel zu transportieren. Dies hängt entscheidend mit der Erzählsituation zusammen. Die „Verwandtschaft“ von LINKE und CDU wird unmittelbar als ironische Anverwandlung einer dominanten Metapher interpretierbar. Denn anders als bei der SPD, die auf eine gemeinsame Vergangenheit mit der CDU in der großen Koalition von 2005-2009 zurückblickt, ist die LINKE einer Zusammenarbeit mit der Regierungspartei unverdächtig. Zu unterschiedlich sind die inhaltlichen Positionen, als dass eine Verwandtschaft anders als ironisch gelesen werden kann. Gleichzeitig gehört der Bezug zu traditionellen Familienmodellen innerhalb der LINKE nicht zum kommunikativen Arsenal. Die eher lose Verbindung zum „Onkel“ Gysi verweist daher auf eine inhaltliche Nähe, die sich von hierarchischen Beziehungen lossagt. Trotz dieser gelungenen Anverwandlung der Mutti-Metapher stabilisiert auch die hier zitierte Belegstelle die Erzählung Merkels als mächtigem Familienoberhaupt. Zur Selbstvergewisserung der eigenen Anhänger scheint diese Form des Metapherngebrauchs jedoch geeignet. Bündnis 90/Die Grünen Anders gestaltet sich die Erzählsituation unter Beteiligung von Bündnis 90/Die Grünen als externe Erzählinstanzen. In der Vergangenheit wurden die Grünen oftmals als natürlicher Koalitionspartner der SPD gesehen, doch im Verlauf des Bundestagswahlkampfes 2013 wurde erstmals auch auf Bundesebene eine gewisse Nähe zur Union attestiert (Weckenbrock 2017). Sogar eine schwarz-grüne Koalition schien im Bereich des Möglichen zu sein. Dennoch überwogen die kritischen Konnotationen in der Nutzung der Mutti-Metapher. Auffällig häufig wurde in den vorgefundenen Belegstellen die Beziehung zwischen „Mutti“ Merkel und der FDP thematisiert. Zum TV-Duell twitterte MdB Tobias Linder: #Mutti hat heute Abend irgendwie keinen Humor. Ich sag nur "vollsten Vertrauen" der FDP aussprechen. #tvduell (@tobiaslindner 01.09.2013),
von MdL Jürgen Frömmrich war zu vernehmen: Erschöpft und verbraucht, da kann auch Mutti nicht helfen! Bei der FDP stimmt die Richtung: -11,2% #hlt #fb (@jfroemmrich 03.07.2013)
und MdL Ali Bas twitterte: Die UnionswählerInnen werden sich trotz aller Beteuerungen von Mutti in christlicher Nächstenliebe zur Fdp üben. Das wird spannend. ;) (@alibas76 15.09.2013).
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Diese Belegstellen können in mehrere Richtungen interpretiert werden. Zum einen wird von Außenstehenden etwas über die Beziehung FDP und CDU/Merkel erzählt, zum anderen jedoch auch das Verhältnis von FDP und Bündnis 90/Die Grünen thematisiert. Beide Parteien eint die ihnen zugeschriebene Rolle als Juniorpartner der Volksparteien.45 In diesem Sinne erzählen die Grünen-Politiker in den Belegstellen von einer gestörten Mutter-Kind Beziehung bei CDU und FDP. Diese sei das drangsalierte Kind, das durch „Mutti“ begrenzt und kleingehalten wurde. Die FDP befindet sich also in einem klaren Abhängigkeitsverhältnis zur CDU und kann sich von der übermächtigen Kanzlerin nicht emanzipieren. Dies formuliert Volker Beck noch deutlicher: Rechtsausschuss will nicht über Gleichstellung sprechen http://www.queer.de/detail.php?article_id=18825 … via @queer_de FDP kneift aus Angst vor Mutti (@volker_beck 15.03.2013).
Diese Belegstellen zeigen eine ähnliche Rollenverteilung wie die Erzählungen in der SPD. Merkel ist stets das mächtige Familienoberhaupt, neben dem die Koalitionspartner eine bedeutungslose Position einnehmen und marginalisiert sind, sobald die Koalition endet. Warum die Grünen so häufig diese Erzählung bedienen, kann auf zweierlei Weise beantwortet werden. Zunächst wird deutlich, dass die Grünen die FDP als natürliche Konkurrenz im bürgerlichen Lager wahrnehmen. Inhaltliche Unterschiede allein rechtfertigen eine solche Konzentration auf den politischen Gegner wohl kaum. Vielmehr spielen hier fundamentale Wertedifferenzen eine Rolle, die sich in den erzählten Rollen widerspiegeln. Zum anderen impliziert diese Erzählung der FDP-Schwäche auch die Eigenständigkeit der Grünen gegenüber der SPD. „Seht her, wir lassen uns nicht von der Vorsitzenden einer anderen Partei ans Gängelband nehmen“ – so kann diese zweite Bedeutungsebene der zitierten Belegstellen zusammengefasst werden. In beiden Fällen ist zu beobachten, dass sich die Grünen nicht in die Mutti-Erzählung einschreiben. Sie sind vielmehr ein Außen der familiären Beziehung und stellen auch erzählerisch eine Distanz zu Merkel und der Union her. FDP Auch in der FDP war die Mutti-Metapher präsent. Vor allem die Jugendorganisation Junge Liberale nutzten die Metapher, um eine inhaltliche Distanz zur Kanzlerin zu markieren, wie folgende Belegstellen zeigen:
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Diese dichotome Lagerverteilung galt letztmals im Bundestagswahlkampf 2013. Spätestens seit den ersten schwarz-grünen Koalitionen auf Landesebene und den Sondierungsgesprächen für eine Jamaika-Koalition im Jahr 2017 sind die politischen Lager diffundiert.
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5 Illustration: Politische Narrative des Bundestagswahlkampfes 2013 Keine Mütterrente für Mutti Merkel #FDP+ #Freiheit #24 (@jungeliberale 29.08. 2013). Nicht jede #Mutti ist ne Schwulenmutti. Liberal ist nur die #FDP. Wir wollen Gleichstellung von Homosexuellen jetzt! #Merkel #CDU #KK (@jungeliberale 05.12.2012).
Erneut zeigt sich, wie präsent die Metapher im Wahlkampfdiskurs gewesen ist. In diesen beiden Belegstellen ist jedoch auffällig, dass die FDP sich nicht selbst in die Erzählung einschreibt. Als interne Erzählinstanzen taucht sie jeweils nur in Form eines Hashtags auf, wobei dieser nur in letzterem Beispiel als anthropomorphe Figur gewertet werden kann. Hier ist die FDP ein toleranter Gegenspieler der konservativen „Mutti“. Sie stehen also in keinem verwandtschaftlichen Verhältnis. Ähnlich ist auch der folgende Tweet des JuLi-Politikers Konstantin Kuhle zu lesen: „Allein die Freiheit des Einzelnen ist die Mutti der #FDP... und #Schnarri ;-) @Volker_Beck @FlorianBrill (@konstantinkuhle 06.12.2012). Die FDP-Akteur*innen sagen sich los vom verwandtschaftlichen Verhältnis zur Mutti und erzählen sich als eigenständig, was im vorliegenden Fall noch durch die Betonung der individuellen Freiheit bestärkt wird. Der FDP werden im Bundestagswahlkampf 2013 verschiedene Erzählungen angedichtet. Während die politischen Gegner und vor allem die Grünen von einer kleinen, marginalisierten Partei unter dem Einfluss der Kanzlerin erzählen, versucht sich die FDP als emanzipierte Kraft zu inszenieren. Aus dem untersuchten Material lässt sich dabei keine Dominanz einer dieser Erzählstränge herauslesen. Beide existieren parallel. Diskursiv entsteht durch diese Dissonanz zweier nebeneinander existierenden Erzählstränge ein diffuses Bild der FDP. Sie ist nicht wirklich verortet in den Erzählungen. Dies wäre nicht weiter problematisch, würde sie nicht selbst mitstricken an den erzählerischen Netzwerken, die so entstehen. Lohnenswert wäre sicherlich eine genauere Betrachtung der politischen Narrative rund um die FDP. Es ist zu erwarten, dass sich auch in der erzählerischen Anlage schon Hinweise für die Wahlniederlage und das Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag finden lassen. Vermutlich fehlte mit der Klarheit über die Erzählung auch ein Moment der Klarheit über die Positionen, die es den Wähler*innen erschwerte, ihre Wahlentscheidung für die FDP zu fällen. Merkel und Mutti Neben diesen in aller Kürze skizzierten Beispielen der verschiedenen Erzählsituationen in der öffentlichen Verhandlung der „Mutti“ Merkel im Bundestagswahlkampf, existiert noch eine weitere erzählerische Konfiguration. Immer dann, wenn Merkel sich selbst zur Erzählung verhält, verschwimmen die Grenzen zwischen externer und interner Erzählinstanz. Merkel ist beides in Personalunion.
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Merkel verstand es bestens, ihr Frausein als Bonus bei den Wähler*innen in Szene zu setzen. Sie erzählte „Mutti“ als eine „normale Frau“, die Pastorentochter aus der Uckermarck. Über diese Rollenzuschreibung formuliert sie einen Authentizitätsanspruch, der nur schwerlich zu hinterfragen ist und der sich unmittelbar mit dem Narrativ der Mutti deckt. Merkel verschmilzt kommunikativ mit ihrem Image. In Aussagen wie „Mein Mann beschwert sich selten. Nur auf dem Kuchen sind ihm immer zu wenig Streusel. Er ist halt Konditorensohn“ (Focus Online 04.08.2013) spitzt sich diese Fusion aus Narrativ und Person zu. Auch die Bilder der Paparazzi, die Merkel beim Wandern mit ihrem Mann oder am Vorabend der Wahl beim Einkauf in der lokalen Supermarkt-Filiale zeigen, machen deutlich, wie sehr Merkel in ihrer Performanz mit der Rolle der „Mutti“ verknüpft ist. Die Natürlichkeit der Inszenierung speist sich in erster Linie aus der Deckungsgleichheit zwischen interner und externer Erzählinstanz. Merkel erzählt sich nicht anders, als „Mutti“ im Diskurs erscheint. Merkel fungiert in ihrem Narrativ nur selten als externe Erzählinstanz. Neben der Streuselkuchen-Passage ist vor allem die Aussage „Sie kennen mich“ überliefert, die sich durchaus im Rahmen der Mutti-Erzählung lesen lässt. Mit dem Statement „Sie kennen mich“ verabschiedete Merkel sich von den Zuschauer*innen des TV-Duells am 01.09.2013. In dieser direkten Ansprache vereinnahmte Merkel das Wahlvolk als Teil ihrer eigenen Geschichte. Ihr seid Teil der Mutti-Erzählung. Ihr kennt mich. Merkels Wahlaufruf appelliert an das Vertrauen der Bürger*innen und stimuliert den fürsorglichen Bezugsrahmen der sich als Bedeutungsraum an die Mutter als erzählerisch konfigurierte Rolle schmiegt. Auch in wissenschaftlichen Interpretationen wird diese diskursive Atmosphäre thematisiert und als Ergebnis bestimmter Erzählungen gedeutet. Hier wird den Rezipienten eine hervorgehobene Rolle zugewiesen: „Die Heile-Welt und Wohlfühl-Erzählung der Kanzlerin hat der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler eingeleuchtet, weil sie so etwas hören und glauben wollten“ (Hönigsberger 2013: 43). Die Mutti-Erzählung reproduziert sich als Mutti-Erzählung, ebenso die Rollenverteilung von Kanzlerin und Wahlvolk. Die Wähler*innen sind nicht nur als Adressat*innen von Interesse, sondern müssen auch in ihrer Funktion innerhalb der Erzählung thematisiert werden. Hier werden sie klar in die Rolle der passiven Empfänger*innen politischer Botschaften verwiesen und scheinen keinen Einfluss auf die eigene Deutung des Geschehens und die damit verknüpften politischen Handlungen zu haben. Vielmehr verharren sie in einer Starre, die an anderer Stelle bereits als wichtiger Bestandteil der Merkel-Erzählung das öffentliche Gespräch zu prägen scheint. An diesem Fall lässt sich durchaus ablesen, wie sehr die Entpolitisierung des Wahlkampfes der narrativen Struktur des Diskursklimas geschuldet ist. Die Kategorien der Beschreibung lassen in dieser Erzählung nichts anderes zu als die
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Passivität des Wahlvolkes. Denn hier wird nicht nur die politische „Realität“ der Bundesrepublik in sprachlicher Form abgebildet, sondern vielmehr in performativen Sprachakten konstruiert. Eine passive, auf Empfang von Botschaften ausgerichtete Wähler*innenschaft ist nicht imstande, proaktiv Einfluss auf das politische Geschehen zu nehmen. Wenn der fürsorgliche Bezugsrahmen der „Mutti“ Merkel bemüht wird, dann stehen die Bürger*innen automatisch in der Rolle der Unmündigen, die unter dem „Welpenschutz“ der Kanzlerin stehen. Die Konstellation drückt gewissermaßen eine „kindliche Sehnsucht nach dem Rockzipfel“ (Dernbach 29.11.2013) aus, in der sich politische Unmündigkeit der Wähler*innen mit einer partiellen Apathie mischt, die politisches Handeln einzig den Funktionseliten zutraut. Die eigene Initiative, das eigene Aufbegehren wird somit diskursiv bereits im Keim erstickt. Da diese politische Passivität in der dominanten Erzählung aber mit der Wohlfühlatmosphäre der sich kümmernden „Mutti-Kanzlerin“ konnotiert ist, wird sie nicht als negative Isolation von gesellschaftlichen Themen, sondern als vertrauensvolles Überlassen erzählt. Merkel wird die Politik als Sphäre politischen Handelns überlassen. Die Rollen sind verteilt und lassen in ihrer Konstellation weitere Rückschlüsse auf die narrative Struktur der Wahlkampfdiskurse zu. Die Erzählung von „Mutti“ Merkel wurde von der politischen Berichterstattung bereitwillig aufgegriffen und somit im Diskurs verfestigt: „Mutti kann sich durchsetzen. Mutti zeigt wo es langgeht. Mütter sind stark. Das gefällt insbesondere den Wählerinnen über sechzig, ihrer stärksten Unterstützergruppe“ (Oestreich/Reinecke 7.9.2013). Dieses Beispiel illustriert, wie Wähler*innen erzählerisch in ein Narrativ integriert werden. Sie sind ein Bestandteil derjenigen Erzählung, die das häusliche Umfeld mit der Bundespolitik gleichsetzt und somit die „Familienarbeit“ aufwertet. Auch die Wählerinnen über 60 können auf einen Erfahrungsschatz blicken, der all die metaphorischen Anknüpfungspunkte bestätigt, die sich in Merkels Narrativ der „Mutti“ wiederfinden. In ihrer Rolle als Mutter der BRD-Jahre mussten sie neben ihrer mütterlichen Fürsorge auch kontrollierende Strenge walten lassen, um ihre (Erziehungs-)Interessen durchzusetzen. Verschiedene Erzählsituationen lassen Merkel in eben diesem Licht erscheinen und erzählen Merkel als erziehende, kontrollierende Mutti. Dies war vor allem im Zuge der Entlassung Norbert Röttgens der Fall. Es war Merkel, die „Muttis Besten“ kaltstellte. Hier decken sich viele Interpretationen mit dem dominanten Mutti-Narrativ. Zumindest die öffentliche und veröffentlichte Meinung in Deutschland stimmt dabei in das Lied der CDU-Familie ein und erzählt Merkel als „Partei-Mutti“, der gleichzeitig die Erziehung des Wahlvolkes anvertraut ist. Offen muss an dieser Stelle die Frage nach der strategischen Aneignung dieser speziellen Erzählsituation bleiben. Denn natürlich sind sowohl die Streuselkuchen-Passage als auch das „Sie kennen mich“ Bestandteil einer bis ins De-
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tail durchkonzeptionierten Inszenierung, die durch einen Stab an Berater*innen und parteipolitischen Akteur*innen vorbereitet wurde. Erfolgreich war hier vor allem die Analyse der im Diskurs vorgefundenen Narrative und Deutungsmuster. Auch wenn die bereits vorhandene Mutti-Metapher mit all ihren verschiedenen Bezugsrahmen eine dankbare Vorlage für die strategische Aneignung bereithielt, so bedarf es doch eines erzählerischen Gespürs für die strategische Nutzung solcher Diskursmuster. Im Falle Merkels wurden vor allem die unterschiedlichen Erzählsituationen idealtypisch aufgegriffen und nur diejenigen aktiv bespielt, die nicht unmittelbar in eine politische Gegnerschaft münden. Somit ließ sich die Mutti-Erzählung als Wohlfühlnarrativ etablieren. Dennoch muss an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen werden, dass die Leiterzählung der Union nicht allein auf die Parteistrateg*innen zurückzuführen ist. Das Mutti-Narrativ konnte sich nur deshalb als wirkmächtige Erzählung im Wahlkampf etablieren, da das sich der Leitmetaphern bedienende Stimmvolumen so groß war. Gerade hierin bestand ein entscheidender Vorteil für die Union, den sie klug gegen die SPD ausspielen konnte. 5.2.2 Steinbrück und die „klare Kante“ Anders als Angela Merkel wurde Peer Steinbrück im Bundestagswahlkampf 2013 nicht mit einer Leitmetapher erzählerisch eingekleidet, die unmittelbar auf die Semantik der Familie rekurrierte. Die „klare Kante“ verweist eher auf technische, topographische und geometrische Bedeutungszusammenhänge. Die emotionale Wärme der „Mutti“ kann sie somit nicht ausstrahlen. Dennoch impliziert sie Sinnhorizonte, die im politischen Raum eine ganz eigene Geschichte erzählen. Um diese nachzuzeichnen, müssen auch hier die Erzählsituationen rekonstruiert werden, in denen der „Klartexter“ mit „klarer Kante“ kommunikativ gerahmt wird. Dazu wird in einem ersten Schritt die Identität des „Klartexters“ und seiner Anhänger*innen nachgezeichnet (1). Anschließend wird über den Blick auf die Erzählsituationen die Einzelgängernatur der narrativen Figur Steinbrück nachgezeichnet (2). Abschließend wird die Tradition der Klartext-Metapher in verschiedenen Erzählsituationen rekonstruiert (3). Klartext-Identität Eine elementare Funktion von Erzählungen im Raum des Politischen ist die Identitätsstiftung. Während das gemeinsame Moment in der Union über die Semantik der Familie erzählt wurde, versuchte die SPD, Identität über die Klartext-Metaphorik und das sozialdemokratische „Wir“ herzustellen. Vor allem erstere ist hier von Interesse. Denn ähnlich der Familienerzählung der CDU wurde auch in der SPD ein zentraler Bezugsrahmen der Kandidaten-Leitmetapher zum
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erzählerischen Ankerpunkt und somit zum gemeinsamen Nenner der Wahlkämpfenden. Sowohl in den alltäglichen Erzählungen über die SPD als auch im offiziellen Sprachgebrauch des sozialdemokratischen Personals ist die KlartextMetaphorik präsent. Beispielsweise wurden Steinbrücks Wahlkampfveranstaltungen als „Klartext-Tour“ betitelt und beworben (SPD 2013). Hier ist die SPD als anthropomorphe Erzählinstanz Erzählerin des Klartext-Narrativs. Adressiert werden Wähler*innen, aber natürlich auch die Parteimitglieder*innen. Die Wahlkampfauftritte wurden durch diese Betitelung eng an den Kandidaten gebunden, weniger an ein inhaltliches Programm. Der Klartext selbst, so die hier intendierte Botschaft, ist der Inhalt. Steinbrück als Figur in dieser Erzählung kommt die Rolle des Aufklärers zu. Er ist derjenige, der im Rahmen der Wahlkampfauftritte Wahrheiten ausspricht und Klarheit in eine trübe, neblig verschleierte politische Wirklichkeit trägt. Steinbrück wird erzählerisch mit einem Wahrheitsanspruch assoziiert, der wiederum unmittelbar mit dem Begriff der Authentizität korrespondiert. Denn Steinbrück, so die Erzählung, sei nicht nur gewillt und in der Lage, Wahrheiten auszusprechen und Klarheit zu schaffen, sondern tue dies auch authentisch. So wird Steinbrück vonseiten der Parteispitze erzählt: „Steinbrück ist ein solches Original – mit Ecken und Kanten, klar“ (Nitschmann 04.12.2012). An dieser Stelle ist es der SPD-Fraktionsvorsitzende Norbert Römer, der sich als externe Erzählinstanz einreiht in die Liste derjenigen, die den Klartext als maßgebliche metaphorische Rahmung bemühen. Es scheint als müsste gerade ob der gemeinsamen Regierungsvergangenheit von Merkel und Steinbrück nach innen diese Form der Distinktion erzählt werden, um sich selbst des eigenen Alternativangebots zu vergewissern. Auch Generalsekretärin Nahles war Teil dieser polyphonen Erzählung: „Wir brauchen diese klare Alternative zu Angela Merkel. Peer Steinbrück zeigt klare Kante, ob bei der Steuerpolitik oder bei Mietbremsen“ (Slangen 13.04.2013). Ebenso der baden-württembergische SPD-Fraktionsvorsitzende Nils Schmid: „Er ist und bleibt ein Politiker mit Ecken und Kanten. Er hat große Kompetenz in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, er hat klare Vorstellungen, wie es gerechter zugehen kann in Deutschland“ (Pörtner 22.01.2013). Diese Aussageereignisse richten sich auch an die potenziellen Wähler*innen. Doch ist die Funktion für den innerparteilichen Kurs nicht von der Hand zu weisen. Betont wird das unbequeme Moment, das als störender Gegenpol zur bestehenden Regierung installiert wird. Auf Steinbrücks Kantigkeit projiziert sich die Hoffnung auf eine politische Alternative. So finden sich Erzählsituationen, in denen das politische Personal der SPD die „klare Kante“ folgendermaßen erzählerisch rahmt: „Unser Kanzlerkandidat zeigt Gestaltungswillen und klare Kante. Das ist der Kontrast zu Angela Merkel, die all diese Probleme von einem Gipfeltreffen zum anderen verschleppt“ (Beikler/Ide 25.05.2013). Erzählsituationen
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wie diese offenbaren einen entscheidenden narrativen Malus der SPD-Erzählung: Der Berliner SPD-Chef Jan Stöß erzählt zwar von „unserem“ Kanzlerkandidaten und drückt damit seine Nähe zu Steinbrück aus, doch wird die Wahlalternative voll und ganz auf den Kandidaten überschrieben. Aus dieser Erzählung liest sich eine auf die Spitze getriebene Personalisierung, denn Steinbrück verkörpert die Alternative zu Angela Merkel. Vordergründig geht es nicht länger um den Unterschied zwischen Parteien und Positionen, sondern um einen Unterschied im politischen Stil. Diese erzählerische Strategie verkennt, dass sich (wie gezeigt) hinter den beiden Kandidat*innen metaphorische Bedeutungszusammenhänge verbergen, die auf Wertekontexte verweisen. Interessant ist hier die sich offenbarende Distanz zwischen Kandidaten und Partei. Denn Steinbrück ist es, der die Kante zeigt, nicht die SPD. Dennoch scheint der „Klartext“ zu einer zentralen Eigenschaft der SPD-Politik mutiert. So wird auch dem Kompetenzteam Steinbrücks Rauflust und eine klare Kante bescheinigt (Bröcker 31.07.2013). Die Kante wird zum Selbstzweck: Die Abgeordneten der SPD klatschen laut, das ist der Steinbrück, den sie sehen wollen. Einer, der klare Kante gegen eine aus ihrer Sicht inhaltsleere Kanzlerin zeigt, die ihre ganze Politik nur dem Ziel Machterhalt unterordne (Stuttgarter Zeitung 27.06.2013).
Der Form wird Vorrang vor dem Inhalt eingeräumt, denn die „klare Kante“ kann metaphorisch keine inhaltliche Akzentuierung bezeichnen. Im Gegenteil lädt sie einen politischen Stil mit Bedeutung auf, der sich jedoch durch die Rhetorik und das Image eher auszuzeichnen vermag, als durch eine klare Positionierung in bestimmten Policy-Positionen. Die Distanz zwischen Partei und Kandidat offenbart sich auch in Formulierungen wie dieser: „das ist der Steinbrück, den sie sehen wollen.“ Es ist nicht der Kandidat, dem sie folgen wollen, den sie unterstützen, für den sie kämpfen wollen, geschweige denn, der sie selbst gern wären. Es ist ein Kandidat, der gerne ins Schaufenster und auf die Bühne gestellt wird, dem man applaudieren kann, ohne ihn vollumfänglich unterstützen zu müssen. In der Erzählung der „klaren Kante“ spiegelt sich diese Diskrepanz zwischen Kandidaten und Anhängerschaft wieder. Steinbrück wird durch die Erzählung in der eigenen Partei isoliert. Selbst die unterstützenden Äußerungen können dann nicht das Bild einer zusammenstehenden Partei hervorrufen, sondern lassen den Kandidaten allein an der Spitze zurück. Der Rat Hannelore Krafts im Interview mit dem Focus gerät dann zu einem vergifteten Lob: „Die Menschen schätzen ehrliche Worte und klare Kante, und sie schätzen deshalb auch Charakterköpfe wie Peer Steinbrück. Er muss so bleiben, wie er ist“ (Demmer 04.02.2013). Steinbrück, einmal auf dem Pfad des wahrheitsliebenden Klartexters, der mit kühler und rationaler Analyse die ver-
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meintlich inhaltsleere Politik der Kanzlerin attackiert, kann nicht mehr zurück. Die Erzählung der Kante, um die sich die Partei zu sammeln scheint, bleibt auf ihn fokussiert. Diesen Aspekt seines Narrativs hatte Steinbrück erkannt: „Nur eine Bündelung aller Kräfte ermöglicht es der SPD, die Bundesregierung und Frau Merkel abzulösen“, sagte Steinbrück: „Ich erwarte deshalb, dass sich alle – auch der Parteivorsitzende in den nächsten 100 Tagen konstruktiv und loyal hinter den Spitzenkandidaten und die Kampagne stellen“ (Sturm 16.06.2013).
Nur Steinbrück kann sie mit Leben füllen, was zum notwendigen Bruch mit der Partei zu führen scheint. Dies klingt auch bei Thomas Oppermann durch: „Peer Steinbrück hat die Fähigkeit, sich deutlich und klar auszudrücken. Das ist seine große Stärke. Klare Kante ist sein Markenzeichen, und das muss er behalten“ (Bröcker 10.01.2013). Die Häufigkeit, in der Parteimitglieder Steinbrücks die klare-Kante-Metaphorik bedienen, lässt eine bewusste strategische Nutzung der Klartext-Erzählung vermuten. Auch wenn es nicht die Aufgabe der Narrativanalyse ist, dieses strategische Element näher in den Blick zu nehmen, sondern die von der Strategie ausgehenden Sinnbezüge zu analysieren, muss dies hier erwähnt werden. Denn sofern die SPD Hoffnungen in die Klartext-Erzählung als Strategie gelegt hat, kann dies auf eine folgenschwere Fehleinschätzung der narrativen Wirkung hinweisen. Gerade aus den oben geschilderten Erzählsituationen spricht dann eine Entfremdung zwischen Partei und Kandidat, die der Einigkeit der CDU-Familienerzählung nur wenig entgegenzusetzen hatte. Zudem wirkt vor diesem Hintergrund das „Wir“ als Kampagnen-Leitmotiv sinnentleert. In der Dissonanz zwischen den Erzählsituationen und den metaphorischen Bezugsrahmen ist ein Mangel an Identifikationsmöglichkeit angelegt. Hinzu kommt, dass zu dem Klartext-Narrativ Steinbrücks seit jeher ein Erzählstrang gehört, der die mangelnde Bindung des Kandidaten an die Partei bemängelt. Dieser Plot wird durch verschiedene Erzählinstanzen stabilisiert. Nicht nur die hochrangigen SPD-Vertreter*innen, die in oben zitierten Belegstellen die Eigenwilligkeit Steinbrücks betonen und ihn somit gleichzeitig rhetorisch in der Partei isolieren, stricken an dieser Erzählung mit, sondern auch Steinbrück selbst. Besonders prominent lässt sich hier eine spontane Replik auf die Frage Rainer Brüderles während einer Bundestagsdebatte zitieren, in der Steinbrücks Antwort auf die Frage, ob er noch Sozialdemokrat sei, lautete: „Ich bin Peer Steinbrück“ (Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 17/130). Wie aber passen Aussagen wie diese, die idealtypisch die „klare Kante“ erzählen, in die SPDKampagne unter dem Slogan „Das Wir entscheidet“. Lassen sich in den öffentlichen Erzählsituationen Anhaltspunkte für ein semantisch präfiguriertes Scheitern der „Vernunftehe“ zwischen „Klartexter“ und Sozialdemokratie finden?
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Auf einsamen Wegen Die Leitmetapher der „klaren Kante“ konnte durch die polyphone Nutzung zum narrativen Kern der Steinbrück-Erzählung werden. In den verschiedensten Erzählsituationen wurde der Bezugsrahmen des unbequemen Außenseiters bemüht, so dass im Ergebnis eine beinahe untrennbare Verquickung aus strategischer Figur und öffentlicher Person stand. Steinbrück war der Klartexter: Bei Journalisten war Steinbrück daher immer ein beliebter Gesprächspartner. ‚Mister Klare Kante‘ nannten sie ihn. Eine Rolle, die Steinbrück gefiel. Er will, wie er sagt, kein politischer Phlegmatiker sein, kein Langweiler, kein rundgeschliffener Kieselstein. ‚Mein Lieblingssatz ist: Eine gute Grundlage ist die beste Voraussetzung für eine solide Basis. Mit solch einem Satz ecke ich niemals an.‘ Doch Peer Steinbrück will anecken, will gehört werden (Schaefer 26.02.2013).
Der in dieser Belegstelle referenzierte Bezugsrahmen betont die Sperrigkeit des Kandidaten und hebt das Bild vom Machtmenschen Steinbrück hervor. Er selbst ist dabei Erzähler und Figur seines Narrativs, interne und externe Erzählinstanz in einem. Dies zeigen nicht nur seine Wahlkampfauftritte und textlichen Äußerungen in Interviews und Pressemitteilungen, sondern auch seine öffentliche Performance als Kandidat auf der Bühne. So ist es nicht verwunderlich, dass die Interpret*innen des politischen Berlin Steinbrücks Tränen bei einer Wahlkampfveranstaltung in das bestehende Deutungsangebot der „klaren Kante“ einpassen. Dem Narrativ folgend ist es dem „harten Brocken“ Steinbrück nicht zuzutrauen, die Fassung zu verlieren: „Als Gertrud Steinbrück ihren Mann tröstend berühren wollte, wehrte er brüsk ab. Patsch, da war er wieder, der ruppige Peer“ (Riekel 20.06.2013). Seine öffentlichen Tränen auf dem SPD-Parteikonvent konnten kaum einen angemessenen Platz finden in der Erzählung des harten Analytikers, wurde die Authentizität dieses Gefühlzeigens doch augenblicklich bezweifelt. Gertrud Steinbrücks fügt ihre Erzähltakte ein in das Narrativ des wenig gefühligen Rationalisten: „Wenn Menschen das brauchen, das er einen WeichspülerEffekt hat indem ne Frau kommt und sagt‚ der hat auch noch ne andere Seite‘, dann kann ich das gerne bringen, dann bin ich die Lenor-Frau für ihn“ (Fuhrmann/Richter 19.09.2013). Die Tränen als Aussageereignis werden hier an den Rand der Geschichte gedrängt und zu einer Anekdote verkleinert. Obwohl es wohlwollende Stimmen gab, die Steinbrück hier endlich ein echtes Auftreten attestierten (Sturm 16.06.2013), scheint es, als seien die Rezipient*innen dieses Erzählstrangs doch auf die dominante Deutung des emotionslosen Politikers versteift. Das komplizierte Geflecht aus Rezipient*innen und Multiplikator*innen der narrativen Muster ist vor allem im Fall der Steinbrückschen Authentizität schwer zu entwirren. Wie bereits an anderer Stelle hervorgehoben, ist die Glaubwürdig-
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keit der Kandidat*innen immer auf ein wohlwollendes Entgegenkommen der (medialen) Rezipient*innen angewiesen. Sie müssen prinzipiell die Bereitschaft zeigen, die Authentizitätsbehauptung als wahrhaftig anzunehmen. Steinbrück geht dabei ein Risiko ein: Die Angst vor klarer Kante ist bei Politikern weit verbreitet, zumal SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück als Meister dieser Kategorie seit Monaten wiederholt schmerzhaft erfährt, wie in der Medienöffentlichkeit Halbsätze zu vermeintlich großen Verwerfungen aufgebauscht werden (Braune 12.08.2013).
Die Liste dieser vermeintlichen Verwerfungen ist im Fall Steinbrücks besonders lang. Angefangen bei den öffentlich gewordenen Vortragshonoraren, über das Bekenntnis für Wein ab fünf Euro, den Vorwurf an Angela Merkel, sie entwickle als Ostdeutsche keine Leidenschaft für Europa, die Äußerungen über die „Clown-Politiker“ aus Italien sowie schließlich der Stinkefinger im Interview mit dem Magazin der Süddeutschen Zeitung, lässt sich ein roter Faden der Erzählstränge beobachten. Wer die Kante als Leitmetapher eines (Gegen-)Kandidaten bespielt, der beschreitet einen schmalen Grad zwischen Glaubwürdigkeit und Überdrehen der eigenen Rolle. Dieser Eindruck verfestigt sich durch die verschiedenen Stimmen, die sich Steinbrück auf dieser Metaebene der Interpretation widmeten. Sein Stil war Gegenstand der Wahlkampfkommentare, viel mehr als es der Inhalt seines Programms oder seiner alternativen Politikansätze gewesen ist. Als Klartexter angetreten, war fortan diese Rolle des Unfehlbaren, des Unbequemen der Maßstab seiner eigenen Kampagne. Dies scheint vor allem deshalb der Fall, da er gleichzeitig die Funktion des Erzählers und der Figur in seiner Erzählung einnahm. So finden sich Einschätzungen, die wie folgt eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Rolleninszenierung festmachen: Dabei böte das Netz gerade für einen Politiker mit Ecken und Kanten eine Reihe von Möglichkeiten, das eigene Profil zu schärfen, wundert sich der Experte. ‚Sein WebAuftritt ist weichgespült. Das passt eigentlich nicht zu ihm. Steinbrück wirkt im Internet professionell, aber lieblos. Als Wähler wäre ich enttäuscht‘ (Strozyk 01.10. 2012).
Es scheint, als sei Steinbrück in dieser narrativen Konfiguration gefangen gewesen. Jeder Schritt in eine eher auf Ausgleich und Diplomatie bedachte Richtung wäre ihm als Aufweichen seiner „klaren Kante“ gedeutet worden, während die konsequente Performance als „Klartexter“ in erster Linie die negativen Bedeutungsebenen zu betonen schien. Die bereits beschriebene Diskrepanz zwischen Partei und Kandidat war darüber hinaus nicht gerade geeignet, um diese Spannung in der Klartext-Erzählung aufzulösen:
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Konfrontation mit Merkel. Aus Angst, man könnte diese Auseinandersetzung wegen der Beliebtheit der Gegnerin verlieren, hat die SPD sie schlicht unterlassen. Mit dem Risiko aber ‚vermied‘ sie auch die Chance, die Amtsinhaberin zu demaskieren (Hebel 02.09.2013).
Steinbrück allein konnte die Rolle des „Bad-Cop“ nicht spielen. Vor allem durch seine Vergangenheit an der Seite Merkels, die als ein wichtiger Teil zu seiner Erzählung des fachmännischen „Klartexters“ gehört, wäre die umgekehrte Rollenverteilung geeigneter gewesen, Alternativen deutlich zu machen. Steinbrück als ehemaliger Finanzminister wäre so nicht zwischen die Fronten seiner Partei und der Kanzlerin geraten, sondern hätte in einer Erzählung der Souveränität und Kompetenz mit ein wenig mehr Demut die Rolle des Gegenkandidaten annehmen können. Diskursiv politische Gegnerschaft zu erzählen fällt vor allem dann schwer, wenn sich Narrative bereits stabilisieren konnten. Für Steinbrück ein Problem, wurde dieser Umstand für Merkel zum Vorteil im Wahlkampf, denn wenn auch kritische Bemerkungen unmittelbar in die Muster der Leitmetaphern zurückfallen und diese verfestigen, so ist eine positive Vorprägung förderlich für die weitere Deutung der Erzählungen. Dies geschieht bei wirkmächtigen und letztlich erfolgreichen Metaphern ebenso, wie bei denjenigen narrativen Umschreibungen, die den Kandidat*innen und ihrem Streben nach Wähler*innenstimmen nicht zuträglich waren. Im Einklang mit Steinbrücks „klarer Kante“ liest sich etwa folgende Kritik vernichtend: Hier erkennt man zwei rhetorische Modelle Steinbrücks: völlig unangebrachte, pausbäckige Siegesgewissheit; also einen intellektuellen Pseudostatus. Und einen Anbiederungsstatus an vermutete Sprachschemata des sogenannten kleinen Mannes, vulgo: des erhofften SPD-Wählers (Raddatz 24.08.2013).
Das polyphone Erzählen in der Öffentlichkeit weist dabei über die Sprechakte der Kandidaten hinaus. Hinzu gesellen sich Wiedergänger der narrativen Rhetorik in anderen Erzählfiguren. Bei Twitter liefern sich @peersfinger und @schlandkette satirische Wortgefechte. Zwar verbergen sich hinter diesen beiden Accounts humoristisch-ironische Anverwandlungen der beiden Kandidat*innen, doch sind gerade solche öffentlichen Auseinandersetzungen imstande, diskursive Strukturen zu verfestigen. Sowohl der Gestus Steinbrück als auch Merkels Kette werden zu Aktanten der beiden zentralen Erzählungen. Sie flankieren die Kandidat*innen und unterstützen ihr Anliegen. Peersfinger, indem er die echte, authentische Seite Steinbrücks wiedererstarken lässt, während Merkels Schlandkette die Basisinformation ihres Wahlkampfes aufs Radikalste reduziert: Ich bin da für Euch in Deutschland.
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Tradition des Klartexts Die Metaphern des „Klartexts“ und der „klaren Kante“ verfügen über starke Traditionslinien in den Rollenbildern der deutschen Politik. Als Referenzpunkte werden dabei oft Namen wie Herbert Wehner und Franz-Josef Strauß bemüht (Zinsen 02.03.2013; Idries 01.03.2013). Sie werden mit Wahrheitsliebe und direkter Ansprache assoziiert, die sich fernab von taktierendem „Politikergeschwafel“ an den Bedürfnissen der Wähler*innen orientieren. Dass diese vermeintlichen Vorbild-Politiker auch heute noch von Kommentatoren des politischen Geschehens zum Vergleich herangezogen werden, zeigt die Kraft narrativer Rollenkonfigurationen und deren Bedeutung für die diskursiven Strukturierungen. Auch die CDU war sich dieses Umstandes bewusst und formulierte ihr Unbehagen an dem weiteren Bedienen des klare-Kante-Narrativs: Einigen schwant, der forsche Gegenkandidat eile vielleicht gar nicht von Fehler zu Fehler, sondern baue ein Image auf. ‚Hier wird die Grundlage für ein Narrativ gelegt‘, sagt einer aus der CDU-Führung, ‚das im Wahlkampf durchaus Sinn ergeben kann: Der Mann, der die Wahrheit spricht, koste es, was es wolle‘ (Alexander/Sturm 28.02.2013).
Politische Narrative sind ohne solche Rollenzuschreibungen nicht vollständig. Die Deutungen und Einordnungen dieser jeweiligen Charakterisierungen unterliegen dabei der Kontingenz des Erzählens. Das heißt, sie werden je nach Erzählsituation, Intention und Kontext in verschiedener Art und Weise in die narrative Struktur eingewoben. Diese unterschiedlichen Auskleidungen der Rollen korrespondieren dabei mit den Bezugsrahmen und können dadurch auf verschiedene Bedeutungshorizonte der Leitmetaphern verweisen. Obige Belegstelle illustriert diese polyphone Vielschichtigkeit narrativer Rollenmuster anhand des „Klartexters“. Diese Metapher bildet den semantischen Kern der Rollen, die Steinbrück im Verlauf der verschiedenartigen Erzählungen einnimmt. Die einfachsten Aussageereignisse schreiben sich dann unmittelbar in die Erzählung ein: „‘Stimmt doch nicht!‘ #Steinbrück ist herrlich direkt! #KlareKante #tvduell“ (@roterclaus 01.09.2013). Der Diskursraum macht dabei keinen Unterschied. Sowohl im anarchischen Raum, beispielsweise bei Twitter, als auch in den deliberativen Statements des politischen Berlin finden sich ausreichend Charakterisierungen Steinbrücks als „Klartexter“. Die Rolle oszilliert dabei zwischen dem Unbequemen und dem Störenden, zwischen dem rationalen Analytiker und dem wenig empathischen und emotionslosen Machtmenschen. Klar ist nur, dass sich die metaphorische Einkleidung sowie die Erzählsituationen so sehr verfestigt haben, dass der Diskurs kaum um die Klartext-Erzählung und die dazugehörigen Rollenmuster herumkommt. Interessant bei Steinbrücks Rolle ist dabei der Umstand, dass sich die wertenden Einschätzungen vor allem entlang dem Maß an Sympa-
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thie für den Kandidaten ausrichten. Steinbrück selbst zeigte in Interviews Sympathie für „gebrochene Charaktere“ und misstraut den Superhelden ohne Fehler (Mediacontainer 16.09.2013). Steinbrück bedient dieselben Muster und konfiguriert das Gebrochene, nicht Geschliffene und Perfekte als positives Eigenschaftensetting. Während Merkel unter der Metapher der „Mutti“ in den verschiedensten Erzählsituationen Aspekte derselben Rolle versammeln konnte, fiel es Steinbrück schwerer, seine Rollenambivalenz zu kommunizieren. Die Brüche in seiner öffentlichen Persona waren zu stark für das Mindestmaß an Kohärenz, welches als Maßstab für politische Narrative anzulegen ist. Zwar fällt es schwer, dieses Maß taxonomisch zu fixieren, sind doch die Grenzen auch hier fluide und kontingent, doch zeigt die Vielfältigkeit der Klartext-Erzählung in den polyphonen Erzählsituationen an, dass ein heterogenes Erzählen derselben narrativen Leitmetapher die Elastizität narrativer Konfigurationen überspannen kann. Ein Blick auf die Zeitlichkeit der Klartext-Erzählung verspricht hier weitere Einblicke. 5.3 Zeitlichkeit Leitmetaphern und Erzählsituationen werden erst durch den Akt der Konfiguration zu einem Narrativ zusammengebunden. Diese Grundoperation des Erzählens lässt die Sprache und die Figuren in einem als Handlungsablauf erfahrbaren Zusammenhang erkennbar werden. In der Konfiguration zeigt sich, wie bedeutend die Organisation von Zeitlichkeit sein kann. Dabei lässt sich die Zeitlichkeit der Erzählungen grundsätzlich in zwei Perspektiven analysieren. Erstens kann der Fokus auf der Konfigurationsleitung der Akteur*innen selbst liegen. Hier wird untersucht, wie die Erzählenden den Anfang ihres Narrativs setzen, die Metapher in einen Handlungsablauf einbinden und Handlungsoptionen oder Zukunftsmodelle entwerfen. Dies geschieht beispielsweise, wenn Merkel und Steinbrück sich in ihren Reden und Interviews direkt zu ihrem politischen Programm äußern, aber auch, wenn mit Ihnen assoziierte Kräfte sich in die narrativen Muster einklinken. Zweitens werden die politischen Akteur*innen selbst zum Gegenstand der Erzählung. Vor allem in der medialen Berichterstattung und im Alltagsgespräch werden sie zu narrativen Figuren und mit Hilfe der Zeitlichkeit zum Gegenstand der Deutung des politischen Geschehens. Beide Perspektiven sollen im Folgenden kurz anhand ausgewählter Beispiele illustriert werden. Die Analyse folgt dabei der chronologischen Abfolge von Anfang, Mitte und Ende der Erzählung.
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5.3.1 Erster Akt: Was ist die Situation? Die Konfiguration eines Narrativs ist maßgeblich geprägt durch die Setzung eines Startpunkts, eines Anfangs, der über das Erzählenswerte berichtet, den Tonfall bestimmt und den nachfolgenden Ereignissen die Bahn ebnet. Verlauf und moralische Wertung zum Ende der Erzählung beziehen sich stets auf diesen Anfang, der gleichsam eine enge Kopplung mit dem zeitlichen Verlauf der Erzählung als Ganzes aufweist. Ausgangspunkt Steinbrück: „Auftritt des Klartexters“ Bei der Suche nach dem Anfangspunkt des Klartext-Narrativs lassen sich verschiedene Wege wählen. Zum einen kann die Rekonstruktion die Ursprünge der Erzählung nachzeichnen und ergründen, wann die Metapher erstmals im Diskurs auftauchte. Dieser etymologische Versuch würde allerdings das Ziel aus den Augen verlieren, welches die narrative Konfiguration im Rahmen des Bundestagswahlkampfes 2013 zu ergründen sucht. Deshalb gilt es hier entlang einzelner Belegstellen aus dem untersuchten Zeitrahmen seit der Bekanntgabe der Kandidatur Ende September 2012 die Setzung bestimmter Anfänge innerhalb des KlartextNarrativs zu rekonstruieren.46 So können Rückschlüsse auf dessen erzählerische Kraft gewonnen werden. Der Klare-Kante-Erzählung Steinbrücks ist die Setzung eines Anfangspunktes inhärent. Schon in der Leitmetapher der „klaren Kante“ ist ein Startpunkt angelegt. In einer Situation, wo vermeintlich die Verschleierung, das Negieren und Umschiffen bestimmter politischer Gegebenheiten akut erscheint und der Stillstand regiert, scheint der Klartext vonnöten. Peer Steinbrück gilt als kompetent, geradlinig. Der designierte SPD-Kanzlerkandidat will mit ‚klarer Kante‘ in den Wahlkampf gegen Merkel ziehen (Bröcker 30.09. 2012).
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In dieser Arbeit werden die Umstände der Nominierung Steinbrücks bewusst ausgeblendet. Es geht nicht um die Rekonstruktion des zeitlichen Ablaufs der Kampagne. Der Fokus liegt auf der sprachlichen Verhandlung des Geschehens. Flankierend wäre auch eine Analyse der politischen Situation, der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und/oder der parteipolitischen und taktischen Handlungen beteiligter Akteur*innen fruchtbar. So wäre zu bemerken, dass die zunächst herausgezögerte Nominierung und die dann auf medialen Druck hin angesetzte Pressekonferenz der SPD-Troika sicher nicht den besten Start in eine Kampagne darstellte. Auch ist die Vermischung von Nominierung und Thematisierung der parteiinternen Rentendebatte in der SPD durch Gabriel im Rahmen der Pressekonferenz aus kommunikativer Sicht zu kritisieren. Diese Aspekte sind hier jedoch nicht Gegenstand der Analyse und werden hoffentlich in anderen Untersuchungen eingehender betrachtet.
5.3 Zeitlichkeit
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Er verspricht die Auflösung des phlegmatischen Zustandes durch „schonungslose“ Analyse und „tatkräftige“ Lösungsvorschläge. Was Merkel, die politisch gern auf Sicht fährt, nicht nur in der Europapolitik im Ungefähren lässt, wird Steinbrück klar benennen. […] Merkel wird auf Steinbrücks neuen, kantigen Sound mit klarer Sprache reagieren müssen (Mahlzahn 30.09.2012).
Wer also den Klartext offensiv einfordert und zur Notwendigkeit stilisiert, der sieht das Neblige der aktuellen Situation als änderungswürdigen Zustand. Für die SPD und Steinbrück markiert dieser aufklärerische Impuls den Ausgangspunkt für die erzählerische Positionierung im Bundestagswahlkampf. Bereits auf der Pressekonferenz zur Bekanntgabe der Kandidatur Steinbrücks, sprach Parteichef Sigmar Gabriel vom viel beschworenen Politikwechsel, der nun nötig sei und „wirtschaftliche Kompetenz, soziale Gerechtigkeit und ökologische Vernunft“ (SPD 28.09.2012) miteinander verbinde. Ohne hier konkret den „Klartext“ oder die „klare Kante“ zu benennen, werden doch die verwandten Bezugsrahmen der Vernunft und des rationalen Kalküls bemüht (vgl. Kap. 5.1.2). Sie setzen den Ton für die Kandidatur Steinbrücks. „Steinbrück steht für "Klare Kante" - und damit das Gegenteil der wolkigen Präsidialkanzlerin Angela Merkel“ (Sturm 28.09.2012). Bei Twitter wird die Inthronisierung Steinbrücks unmittelbar mit der Klartext-Metapher in Verbindung gebracht: „Ich glaube, dass #Steinbrück Krise kann. Und dazu Klartext reden, Alternativen aufzeigen. Die Deutschen werden ihn lieben. Das wird spannend“ (@gikmainz 29.09.2012). Die hier formulierte Zukunftshoffnung erzählt eine Aufbruchsstimmung, die „Klartext“ und „klare Kante“ vermitteln wollen. Die Erzählung greift auf Muster einer klassischen Oppositionskonfiguration zurück. Nicht überraschende, innovative Gegenerzählungen werden gegen Merkel ins Feld geführt, sondern erwartbare Narrative, die den „Klartext“ als Neuanfang konfigurieren. Das politische Alltagsgespräch knüpft diese Verbindung und zeigt somit die Wirkmächtigkeit der Bezugsrahmen auf. Die Klartext-Erzählung synchronisiert die Chronologie des Geschehens, den Anfang der Kampagne, mit den metaphorischen Bezugsrahmen der KlartextMetaphorik. Wechsel und Neubeginn sind die intendierten symbolischen Marker. Zusätzlich wird auch das Unbequeme zu einem Merkmal der Erzählung, vor allem dann, wenn Steinbrück seine Positionierung als Klartexter in eigenen Interviews unterstreicht: Das ist wirklich Unfug. Dass es jetzt heißt, ich sollte solche Sätze nicht sagen, weil ich Kanzlerkandidat bin, darüber sollten andere nachdenken. Ich sage, was ich denke,
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5 Illustration: Politische Narrative des Bundestagswahlkampfes 2013 und ich tue, was ich sage. Das ist mein Gegenentwurf zu Politikern, die oft nur so reden, wie es opportun ist (Sirleschtov 06.01.2013).47
Hier erscheint jemand auf der politischen Bühne, der sich durch seine anpackende Art als Retter in Szene setzen kann. Die Figur des Retters baut dabei auf die im Zitat belegte Authentizitätserzählung. Das Wahre wird zum Attribut, welches das Unbequeme in Kauf nimmt. Wohlwollende Deutungen der politischen Berichterstattung greifen den Klartext als Beginn des Narrativs auf: Steinbrück hat noch einen anderen Vorteil: Merkel scheut die Positionierung. Im Vergleich zu vielen ihrer Vorgänger redet sie nicht mehr als nötig, im Zweifel sagt sie lieber gar nichts. Vor allem seit 2009 weigert sich die Kanzlerin, ihre Politik zu erklären. Viele Menschen vermissen mehr Haltung, mehr Transparenz, mehr Begründung. Diese Instinkte befriedigt Steinbrück. Er steht für klare Kante, hält sich mit seiner Meinung nicht zurück. Das kommt an. ‚Mr. Klartext‘ wird Merkel im Wahlkampf deshalb auch schärfer attackieren als Steinmeier, der 2009 so blass blieb, auch weil er das Problem hatte, dass er bis zur Wahl als Vizekanzler eng mit Merkel zusammenarbeitete (Rothenberg 28.09.2012).
Auch visuell prägt die Pressekonferenz die Kandidatur Steinbrücks (Abb. 5). Drei Männer, jeder an seinem eigenen Pult, verfestigen den in der Metaphorik des „Klartexts“ angelegten Fokus auf das Maskuline. Der Politikwechsel, den die SPD anbieten kann, ist männlich. Diese Botschaft wird hier erzählt, ohne dass eine strategische Absicht erkennbar wird. Die hier von der SPD-Troika offensiv gezeigte Männlichkeit lässt bestimmte kämpferische, mithin also aggressive, männlich assoziierte Deutungsrahmen zu. In der politischen Berichterstattung wurde diese betonte Männlichkeit erkannt und zum Teil der Steinbrück-Erzählung. Steinbrücks Berater*innen, vorwiegend Männer, wurden zu Figuren des Narrativs, zu Adjutanten des Kandidaten: Bei Steinbrück sind das vor allem Kerle, welcher Art auch immer. Breitbeinigkeit ist ein herausragendes Merkmal bei einigen von ihnen, Testosteron übernimmt einen wichtigen Teil der Steuerungsfunktionen. Sie unterscheiden sich also nicht so sehr vom Kandidaten selbst. Dagegen setzt Bundeskanzlerin Merkel vor allem auf Bera47
Steinbrück wehrt sich in dieser Belegstelle gegen die Kritik an einer Äußerung, in der er einen Vergleich zwischen dem Gehalt des Bundeskanzlers und anderen Funktionseliten in Deutschland anstrebt. Im Interview mit der FAZ sagte er im Dezember 2012 auf die Frage „Verdient die Kanzlerin zu wenig?“: „Ein Bundeskanzler oder eine Bundeskanzlerin verdient in Deutschland zu wenig - gemessen an der Leistung, die sie oder er erbringen muss und im Verhältnis zu anderen Tätigkeiten mit weit weniger Verantwortung und viel größerem Gehalt“ (Hoffmann et al. 29.12.2012).
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terinnen, auf Ruhe und Zurückhaltung. Der Wahlkampf 2013 wird auch ein Duell von Männern gegen Frauen, von der Boygroup gegen das Girlscamp. Und eines der Themen werden ausgerechnet Geschlechterrollen sein (Eder et al. 26.11.2012).
Abbildung 5:
Peer Steinbrück, Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier bei der Verkündung von Steinbrücks Kandidatur am 28. September 2012.
Männer gegen Frauen. Im Bundestagswahlkampf 2013 ist augenscheinlich, wie diese geschlechtliche Charakterisierung der Kandidat*innen die politische Kommunikation präfigurieren konnte. Die Erzählmuster sind so dominant, dass sowohl Merkel als auch Steinbrück kaum aus ihren Geschlechterrollen ausbrechen konnten; sicherlich nicht zum Nachteil Merkels. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Wahl der Klartext-Metapher als Anker der Steinbrück-Erzählung. Denn auch 2009 trat ein Mann für die SPD gegen Merkel an. Eine erste These, die es im Rahmen weiterer Untersuchungen noch zu verifizieren gälte, wäre, dass Steinmeier nicht in diesem extremen Maße mit einer aggressiven Männlichkeit assoziiert wurde wie Peer Steinbrück. Ein weiterer Aspekt, der Aggressivität und Maskulinität in Steinbrücks Kampagne bestärkt, ist eine mit existentiellen Komponenten aufgeladene Dringlichkeit: „Steinbrück brennt, er ist kampfbereit. Bei ihm heißt es: alles oder nichts“ (Nelles 28.09.2012). Aus dieser Konfiguration der Dringlichkeit ergeben sich neben den Chancen, die vor allem in der Betonung des Wechsels liegen, auch Probleme. Eine Erzählung, die den Wandel mittels unbequemer Wahrheit
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5 Illustration: Politische Narrative des Bundestagswahlkampfes 2013
herbeiführen will, muss Ergebnisse liefern und das gemachte Versprechen einlösen, will sie nicht als leere Formel enttarnt werden: Peer Steinbrücks klare Kante als Gegenentwurf zu Merkels Unverbindlichkeit hat Grenzen. Zwölf Monate unbequeme Wahrheiten können Wähler vergraulen. Und ein lockeres Mundwerk kann zum Fluch werden, wie Mitt Romney gerade erlebt. Peer Steinbrück und die SPD werden auf einem schmalen Grat wandern (Zaruba 01.10. 2012).
Das Beispiel Steinbrück zeigt, wie sehr ein zeitlicher Bruch schon in der anfänglichen Konfiguration begründet sein kann und sich auch durch nachträgliche Anstrengungen nicht wird in Form gießen lassen. So ist zu vermuten, dass sich die „klare Kante“ vor allem als kurzfristige Metapher eignet, die der Rolle eines zupackenden und auf Veränderung drängenden Kandidaten zuträglich ist. Längerfristig hingegen scheint diese Direktheit nicht wirklich zielführend: „Mit seiner ‚klaren Kante‘ ist er sicher der Kandidat, der Merkel am gefährlichsten werden wird. Aber eine so lange Strecke bis zur Wahl wollte er vermeiden - aus Angst, wundgerieben zu werden“ (Ismar 28.09.2012). Solche Deutungen, schon zu Beginn von Steinbrücks Kandidatur im Diskurs präsent, eröffnen erzählerische Deutungen, die die Kurzfristigkeit der Klartext-Erzählung betonen. Stellt man dieser auf Dringlichkeit und Wandel angelegten Konfiguration Merkels MuttiErzählung gegenüber, wird deutlich, wie hier bestimmte Verläufe der Deutungskämpfe bereits erzählerisch angelegt sind. Ausgangspunkt Merkel: Alles ist gut Der Anfangspunkt der Merkel-Erzählung ist deutlich diffuser. Denn der Beständigkeit, die als ein Leitmotiv der Mutti-Erzählung gelten kann (siehe Kap. 5.1.1), geht die Singularität des Moments beinahe gänzlich ab. Situationen sind hier stets eingebunden in das größere Ganze. Sie sind Teil einer längeren Abfolge von Geschehnissen. So ist es schwierig, den Beginn, das Novum des Narrativs als Moment zu identifizieren. Dies ist jedoch kein Nachteil, denn die Erzählung der „Mutti“ schafft es, einen größeren Rahmen zu spannen und über den Wahlkampf hinauszuweisen. Dem Narrativ geht die Dringlichkeit des Steinbrückschen „Klartexts“ ab. Doch gerade deshalb strahlt die Erzählung der „Mutti“ Souveränität aus und ist auf Ruhe und Besonnenheit angelegt „[…] und deswegen weiß Merkel, dass sie sich vergleichsweise ruhig auf Steinbrück, der seit gestern offiziell Spitzenkandidat der SPD ist, einstellen kann“ (Casdorff 02.10. 2012). Souveränität und Ruhe verlangen nicht nach einer aktiven Gestaltung des Wahlkampfdiskurses. Die Erzählung ist vielmehr in der Lage, Reaktionen als
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legitimes politisches Handeln zu rechtfertigen. Sicher, das reaktive Verhalten Merkels ist einer der am häufigsten artikulierten Kritikpunkte: ‚Mutti‘ wird sie gelegentlich genannt, was sowohl eine indezente Anspielung auf ihre Körperformen als auch auf ihren angeblich prinzipienlosen, wenig entscheidungsfreudigen Politikstil ist (Kister 23.05.2012).
Doch bleibt dieses reaktive Verhalten letztlich im Einklang mit der dominanten Erzählung und fügt sich reibungslos in das Mutti-Narrativ ein. Reaktives Entscheiden wird hier von Kurt Kister in der SZ unmittelbar mit den Merkmalen der „Mutti“ verknüpft. Metapher, Rollen und Konfiguration der Handlung befinden sich im Einklang und erzeugen eine stabile und anschlussfähige Erzählung. Selbst in Momenten der Kritik wird die Erzählung also verfestigt. Gleichzeitig verknüpft sich das Reaktive mit der Beständigkeit als Hoffnung und Versprechen. Beides gipfelt in dem Ausspruch: „Mutti wird‘s schon richten“ (van Ackeren 23.07.2012), der die Essenz der Konfiguration zusammenfasst. Der Plot der Erzählung entkoppelt Merkel beinahe vom politischen Wettstreit. Als Mutter ist sie in der Lage, über den Dingen zu schweben und sich der Notwendigkeit der politischen Auseinandersetzung zu entziehen. „Als Kanzlerin muss sie nicht zuspitzen und angreifen“ (Niejahr 08.11.2012). Für Merkel scheinen andere Regeln zu gelten. Ihr „präsidialer“ Regierungsstil ist im Einklang mit der Rolle der Mutti, beides zu einer erzählerischen Figur verschmolzen. Betont werden die Bezugsrahmen, in denen Merkel als ordnungsstiftende, umsorgende Mutti die Bürger*innen beschützt. Dafür muss sie jedoch paradoxer Weise nicht aktiv werden. Sie kann Dinge geschehen lassen und gleichzeitig Ordnung stiften. Ein erzählerischer Vorteil, gegen den schwer anzukommen ist. Vor allem wenn man bedenkt, dass Merkels Handeln dennoch anerkannt wird. „Sie poltert nicht, sie handelt – und das in einem höchst komplizierten europäischen Geflecht“ (Krauel 22.11.2012). Zwar handelt sie reaktiv, doch sie handelt. Untätigkeit ist für einen politischen Akteur nicht verzeihbar, reaktives Handeln hingegen scheint situationsbezogen sogar geboten. Mit Bezug auf Merkel muss an dieser Stelle noch unterschieden werden zwischen ihren Aktivitäten auf nationaler und internationaler Bühne. Zur Erinnerung: Während des hier untersuchten Wahlkampfzeitraums fanden zahlreiche Gespräche und Verhandlungen auf europäischer Ebene zur Stabilisierung der Finanzmärkte statt. Diese waren auch beinahe ausschließlicher Inhalt von Merkels Regierungserklärung im Februar 2013. Merkel war aktiv, doch vor allem auf europäischem Parkett. Im Rahmen der Oppositionskampagnen wurde dieser europäische Fokus als nationale Untätigkeit erzählt:
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5 Illustration: Politische Narrative des Bundestagswahlkampfes 2013 Rot-grün habe Deutschland mit der Agenda 2010 ‚völlig neu aufgestellt‘ und den ‚Turn-around‘ geschafft, bemüht Steinmeier eine Sprache, die auch Manager sprechen. Nun aber verspiele die untätige schwarz-gelbe Regierung den von Rot-Grün mühsam erkämpften ‚Zukunftsvorsprung‘ vor den anderen Ländern (von Borstel 17.10.2012).
Fraglich bleibt, ob eine solche Erzählung Anklang bei den Rezipient*innen findet. Merkel Untätigkeit vorzuwerfen, während sie „in Europa“ die „Zukunft des Landes“ sichert, scheint auch für die Wähler*innen nur schwer zu akzeptieren. Sie mögen Merkels politische Haltung nicht immer teilen, sie jedoch als untätig zu bezeichnen, scheint ihnen dann doch zu weit hergeholt. Die Narrative von Steinbrück und Merkel basieren auf unterschiedlichen Prämissen, die sich in der Setzung der Anfangspunkte zeigen. Während der „Klartexter“ antritt, um eine „bessere Politik“ zu gestalten und sich somit auf normative Kriterien beruft, orientiert sich die Erzählung der „Mutti“ Merkel an den Notwendigkeiten einer Politik, die sich in erster Linie als Entscheidungshandeln definiert. Die Kritik an Merkels „prinzipienlosen, wenig entscheidungsfreudigen Politikstil“ (Kister 23.05.2012) greift erzählerisch also ins Leere, da hier grundsätzlich verschiedene Ausgangspunkte als narrative Anfänge konfiguriert werden. Indem Steinbrück ein normatives Versprechen von einer „besseren“ Politik artikuliert, richtet er selbst eine gewisse Fallhöhe ein, die kommunikativ zur Herausforderung wird. Während Merkel ihren formtreuen Governance-Stil exerzieren kann, ohne sich inhaltlich genau festzulegen, muss Steinbrück seine Vorstellung eines besseren Deutschlands schlüssig darlegen. Er und seine Erzählung mussten damit in einen doppelten Begründungszusammenhang eintauchen und erstens erzählen, warum die Situation der Deutschen entgegen der Wahrnehmung vieler problematisch, ungerecht und schwierig ist, und zweitens aufzeigen, was er unternimmt, damit Deutschland unter seiner Führung besser dasteht. In den Bewertungen der politischen Berichterstattung liest sich die Ausgangsposition dann so: „Merkel hat also immer noch die weitaus besseren Karten. Aber nicht mehr ganz so leichtes Spiel“ (Alexander 29.09.2012). Ihr wird ein Vorsprung eingeräumt, der in sich eine erzählerische Kraft trägt. Denn diesen Vorsprung gilt es für Steinbrück aufzuholen, zunächst unabhängig von Positionen, Haltungen und politischem Programm. 5.3.2 Zweiter Akt: Der Wendepunkt In der Mitte der Erzählung spitzt sich die Handlung zu. Hier werden Weichen gestellt, indem das Geschehen auf einen Konfliktpunkt hin sortiert wird. Die Dramatisierung eines Narrativs zur Mitte der Handlung lässt sich besonders deutlich an der Steinbrück-Tragödie des Klartexts erkennen.
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Konfiguration der Klaren Kante: Handeln, jetzt! Steinbrück will handeln. Er will einen Politikwechsel. Er will den Wandel. Tatkraft und anpackender „Klartext“ sollen diesen Wandel begleiten. Der Versuch, diese Erzählung konsequent im Diskurs zu implementieren, konnte die diskursiven Rahmenbedingungen nicht ausblenden. Einige Brüche der Erzählung sind dabei offensichtlich: Wie schlag- und tatkräftig ist ein Kandidat, der sich seine Beinfreiheit erst erkämpfen muss? Diese forderte Steinbrück beim Landesparteitag der SPD am 29. September 2012 in Münster: 62 Millionen Wählerinnen und Wähler muss man erreichen von denen man dann einen maximal oder einen höchsten Anteil auch gewinnen will, dass sie das Kreuz an der richtigen Stelle machen. Das geht nur unter zwei Bedingungen: Das Programm muss zu dem Kandidaten passen und umgekehrt der Kandidat zum Programm. Und Ihr müsst dem Kandidaten an der ein oder anderen Stelle auch etwas Beinfreiheit einräumen (nrwspdvideo 29.09.2012).
Die Reaktionen im Saal zeigten, wie weit es mit der Beinfreiheit gediehen war. Durch den vereinzelten Applaus waren sogar Buh-Rufe zu hören. Diese Szenen wirken performativ und entfalten ihre erzählerische Kraft über den audiovisuellen Text. Sie setzen sich fest, nicht nur in den Köpfen der anwesenden Genoss*innen, sondern auch in den Texten der berichterstattenden Journalist*innen. Breite Zustimmung sieht anders aus. Nichtsdestotrotz wurde die Klare Kante in der Regel als rettendes Moment konfiguriert. Sie erlöse die erlahmte Republik aus der Merkelschen Sedierung: „Wie lange setzen wir noch auf #merkels anbiedernden opportunismus statt auf klare kante & profil? #steinbrück“ (@carmenzendler 11.07.2013). In der Steinbrückschen Klartext-Erzählung ist die Tatkraft als zentrale Handlungsfigur angelegt. Sie ist gleichsam Maßstab für das Gelingen seiner Politik und wirft somit Fragen bezüglich früherer Zeiten in der Regierung auf. Warum handelt er jetzt und nicht schon zu Zeiten der Regierungsbeteiligung. Die Erzählung lenkt den Fokus auf die Handlungen. Im Kern bedeutet dies: Wer von Tatkraft und Aufklärung erzählt, kann von den eigenen Handlungen nicht schweigen. So konnte Merkel mit gleich bleibender Freundlichkeit, Ruhe und Zugewandtheit in staatsfraulicher Attitüde verharren, während ihr Herausforderer polternd, zuspitzend, anklagend und zum Teil überdrehend immer mehr in die Rolle des Rumpelstilzchens mit viel Pinot Grigio im Keller geriet (Bussemer 2013: 54).
In dieser flapsig formulierten Analyse greift Bussemer große Teile des narrativen Spektrums der beiden zentralen Erzählungen auf und benennt mit dem Pinot Grigio einen handelnden Aktanten in der Erzählung um Peer Steinbrück. Der nicht zu billige Wein wird hier zum diabolischen Gegner des Rechtschaffenden,
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5 Illustration: Politische Narrative des Bundestagswahlkampfes 2013
scheint er doch die großmannssüchtige Natur des SPD-Kandidaten zu offenbaren. Noch im Jahr 2011 wurde Steinbrück als Retter der Sozialdemokratie gefeiert. Er sei der einzige Kandidat, der sich Merkel entgegenstellen könne. Im Sommer desselben Jahres hatte er Angela Merkel in den Zustimmungswerten sogar überholt. Was dann passierte ist mit einer Analyse, die sich an Argumenten oder Sachentscheidungen orientiert, nur schwer fassbar. Steinbrücks Abstieg, der in die Wahlniederlage im September 2013 mündete, kann als Geschichte des gefallenen Helden gedeutet werden. War seine „klare Kante“ zunächst noch ein Gut, welches er als Alternative in den Ring schmeißen konnte, wandelte sich dieses Zutrauen auch durch eine anders gelagerte Konfiguration der erzählerischen Elemente. In die Geschichte flossen nach und nach Ereignisse ein, welche die Klare Kante als „kaltherzigen“ (taz 30.12.2012), „arroganten“ (Thewes 05.10.2012; Magnis 09.03.2013) oder „unsympathischen“ (Zinsen 31.08.2013) Wesenszug charakterisierte. Besonders prominent wurden seine vermeintlichen Pannen in die Geschichte des gefallenen Helden eingewoben. Als Aktanten stärkten sie die Erzählung des gescheiterten Klartexters. Seine Aussagen zum geringen Verdienst der Kanzler*innen in Deutschland (Hoffmann et al. 29.12. 2012), seine Vortragshonorare (Knauß 09.11.2012), seine Aussage, nach der er keinen Wein für fünf Euro kaufen würde (Der Westen 03.12.2012) sind nur einige der Beispiele, die als Teil einer Erzählung gegen ihn in Stellung gebracht wurden. Dabei spielt hier jeweils das Monetäre eine wichtige Rolle. Geld und das Verhältnis zum Geld werden so konfiguriert, dass sie elementarer Bestandteil des Steinbrück-Narrativs werden. Diese Komponente der Erzählung hat unmittelbare Auswirkungen auf die Authentizitätserfahrung der Klartext-Metapher. Fast scheint Steinbrücks Handeln aussichtslos, wird ihm doch zum einen ein Festhalten an seiner Klare-KanteErzählung als Sturheit ausgelegt: „Steinbrück hat sich so sehr in sein Selbstbild als Klartexter verguckt, der eine ewig ungefähre Kanzlerin vor sich hertreibt, dass er gar nicht mehr merkt, wo der Klartext endet und die Torheit beginnt“ (Dausend 28.02.2013). Zum anderen scheint auch eine Abkehr von selbiger keine Option: „Da kämpft einer so sehr um Selbstkontrolle, dass er nicht mehr er selbst ist“ (Dausend 11.4.2013). Diese beiden Belegstellen stammen vom selben Erzähler, dem ZEIT-Journalisten Peter Dausend und wurden im Abstand von zwei Monaten veröffentlicht. Sie zeigen auch, dass es im Diskurs ein besonderes Engagement bei der Deutung von Steinbrücks Engagement gegeben hat. Das Bedürfnis nach Deutung dieses ambigen Charakters war hoch. Doch Widersprüchlichkeiten sind nicht leicht vermittelbar. Sie stoßen sich am Kohärenzbedürfnis der Wähler*innen. Die komplexe Erzählung des rationalen „Klartexters“, der die Menschen „über den Kopf, nicht über den Bauch“ (Fuhrmann/Richter
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19.09.2013) erreichen will, wird durch die Sehnsucht nach dem „Walk on the Wild Side“ gebrochen. Mit diesem Song assoziiert sich Steinbrück in einem filmischen Portrait selbst, das die ARD etwa einen Monat vor der Wahl ausstrahlte. Zu dieser Rollenambivalenz passt die Steinbrück oft zugeschriebene Ironie (ARD 09.12.2011). Sie ist als rhetorisches Mittel geradezu Ausdruck des Bruchs zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem und in der politischen Landschaft nur selten anzutreffen. Ironie gilt gemeinhin auch nicht unbedingt als Mittel des „Klartexts“. Die Komplexität der öffentlichen Rolle des Akteurs Steinbrück mag den Reiz seiner Interpretation ausmachen. Doch erschwert seine Vielschichtigkeit die Kommunikation klar formulierter Politikoptionen. Steinbrücks „klare Kante“ rief nicht immer gleichklingende Konnotationen hervor und ließ ihn als interne Erzählinstanz ganz unterschiedliche Rollen in verschiedenen Narrativen einnehmen. Deutlich formulieren die beiden markanten Erzählungen der Kandidat*innen einen Authentizitätsanspruch, der bei Merkel auf ihre besonnene Art, bei Steinbrück hingegen auf die Deutlichkeit seiner Aussagen bezogen ist. Belegstellen wie diese zeigen diese dominante Konfiguration: „Balancieren war bislang nicht Steinbrücks Stärke. Er liebt das Brachiale und Eindeutige“ (Geis 04.10.2012). Teilweise wurde diese Konfiguration affirmativ erzählt: Peer Steinbrück muss sich auf jeden Fall treu bleiben. Er muss der kantige, manchmal rüpelige Kerl bleiben, als der er bekannt geworden ist, der er eben ist. Jeder Versuch, ihn glatt zu schleifen, muss scheitern, weil damit jede Glaubwürdigkeit verloren geht (Schmale 24.11.2012).
Wie schon in der Metaphernanalyse und der Erörterung der Erzählsituationen gezeigt, scheint der „Klartext“ eher kurzfristige politische Lösungen anzubieten. Mit zunehmender Dauer einer Kampagne beraubt sich die Leitmetapher ihrer Stärke. Die „lange Strecke“ wurde vielerorts als Problem des Steinbrückschen Wahlkampfes thematisiert und somit zum zeitlichen Aktanten in der Erzählung der klaren Kante. So wurde er bereits vor dem Wahltermin zum Kandidaten, „der sich immer als ein Mann der klaren Kante gab, zuletzt an Schärfe verloren hat“ (Der Tagesspiegel 06.08.2013). An anderer Stelle wurde bereits zu Beginn der hier beobachteten Wahlkampfphase die Fallhöhe für Steinbrück definiert: „Ich glaube das ist das spannendste am ganzen Wahlkampf, wie lange es dauert bis Herr Steinbrück über sich selbst ausrutscht“ (WELT Nachrichtensender 10.12. 2012). Diese Einschätzung korrespondiert mit der aus Sicht der SPD verfrühten Bekanntgabe der Kandidatur Steinbrücks. Zunächst hatte die Troika mit einer späteren Nominierung eines Kandidaten geplant. Der öffentliche Druck jedoch hatte zur Nominierung Ende September 2012 geführt. Diese ex-post Analyse der Kommunikationsstrategie drängt sich auf, geht aber an der Rekonstruktion der
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5 Illustration: Politische Narrative des Bundestagswahlkampfes 2013
politischen Erzählung vorbei. Festzuhalten bleibt, dass sich durch den „Klartext“ eher kurzfristige und klare Handlungsoptionen eröffnen als langfristige, groß angelegte politische Programme. Konfiguration der Mutti: Stabilität Das transformative Moment in der Erzählung von Mutti Merkel ist komplex. Es dreht sich um das politische Handeln Merkels und den Begriff der Entscheidung. Die Logik der Erzählung scheint gerade deshalb zu funktionieren, da es keinen dauerhaften Handlungsdruck gibt. Sie ist auf das Bewahren angelegt und handelt wenn überhaupt situativ und reaktiv. Blut-, Schweiß- und Tränen-Rhetorik ist einerseits nicht ihre Sache. Andererseits steckt auch Kalkül dahinter: Das Volk soll fühlen, dass seine Kanzlerin das Richtige tut. Fühlen, nicht wissen (Alexander 21.02.2013).
In solchen erzählerischen Belegstellen erscheint Merkels Mutti-Erzählung als das fundamentale Gegenteil von Steinbrücks Narrativ. Hier Emotionen, dort das rationale Kalkül. Hier das Bewahren und die Stabilität, dort Veränderung und Wandel. Merkel bewegte sich erzählerisch auf sicherem Terrain. Sie war nicht in der Position, alternative Handlungsoptionen aufzeigen zu müssen. Selbst die SPD konfigurierte die Merkel Erzählung so, dass Stabilität zum wichtigsten Bezugsrahmen erwachsen konnte. So warb Steinbrück auf dem SPD-Landesparteitag in Münster Ende September 2012 offensiv für die Mobilisierung der SPD-Anhängerschaft, um sich gegen die „Sedierung“ durch die Regierung Merkel zur Wehr zu setzen. Zum einen ist Steinbrücks Aufruf natürlich eine Selbstverständlichkeit. Nur eine mobilisierte Anhängerschaft verschafft die nötigen Stimmen für den Wahlsieg. Zum anderen liegt in seiner Forderung jedoch auch eine Entmündigung der potenziellen SPD-Wählerinnen. Denn sediert wird man nicht, sedieren lässt man sich. Umgekehrt könnte die Sedierung auch als Vertrauen in die Stabilität erzählt werden. Denn die SPD und vor allem Steinbrück ist in der Rolle die Notwendigkeit für ein „Aufwachen“ darzulegen. Ein bloßer Appell reicht hier nicht aus. Merkel nutzte ihre Regierungserklärung am 21. Februar 2013, um das Narrativ der Stabilität weiter zu stützen: Wir verstärken damit auch die Entwicklung für eine nachhaltige Stabilisierung des Euro, und wir setzen damit ein klares Signal, dass wir auch wieder zu mehr Wachstum und mehr Beschäftigung kommen. Jeder versteht, dass das in der augenblicklichen Zeit von überragender Bedeutung ist (Merkels Regierungserklärung im Deutschen Bundestag 21.02.2013).
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Merkels Signal bedeutet Stabilität. Die sprichwörtliche Alternativlosigkeit wird zu ihrem ständigen Begleiter. Durch ihre Konfiguration lässt sie die Beinfreiheit, die Steinbrück für sich erst noch innerparteilich erkämpfen musste, als Selbstverständlichkeit erscheinen. Sie hat den Gestaltungsspielraum, sie kann agieren und regieren. Steinbrück hingegen muss diesen Spielraum aktiv erbeten. In diesem Diskursumfeld verhallen Angriffe wie dieser hier von Steinbrück: „Sie haben eine Neigung zum Nicht-Handeln, Noch-Nicht-Handeln, Später-Handeln“ (Deutscher Bundestag 17/222: 27495 B). Die Wähler*innen erkennen die Dissonanz, die dieser Angriff hervorruft. Sie spüren intuitiv, dass dieser Angriff einem Abgleich mit dem Geschehen nicht standhält. Gleichzeitig empfinden sie nicht die Notwendigkeit zum Wandel. Er ist kein Selbstzweck und Steinbrück konnte seine Notwendigkeit nicht in eine schlüssige Erzählung gießen. So klingen einige Deutungen der Merkelschen Position wie folgt: „Es geht den Deutschen in der Krise so gut, dass sie sich noch immer eher nach Stabilität als nach Veränderung sehnen“ (Geis 04.10.2012). Neben der Stabilität wurde im Rahmen des Mutti-Narrativs noch ein weiterer Bezugsrahmen konfiguriert, der hier bislang noch weniger Beachtung fand und vor allem in Abgrenzung zu Steinbrücks Klartext erzählerische Wirkung entfalten konnte: Die Mündigkeit und Selbstverantwortung der Wähler*innen. Während der Klartext immer auch etwas Bevormundendes in sich trägt, da hier ein „Klartexter“ vonnöten ist, um den Nebel des Diffusen zu lichten, wird den Wähler*innen in der Mutti-Erzählung eine deutlich selbstbestimmtere Rolle zugewiesen. Die CDU ermutigt die Menschen, Neues zu wagen und immer wieder Innovationen hervorzubringen. […] Wir trauen den Menschen etwas zu, statt sie zu bevormunden. (CDU 05.01.2013: S. 2)
Diese Selbstermächtigung der Wähler*innen korrespondiert mit der oftmals als kritisch eingeordneten Entscheidungsschwäche der Kanzlerin. Positiv gewendet klingt die Erzählung dann so: Merkel will nur die Dinge entscheiden, die sie auch entscheiden kann und muss. Den Rest können die Bürger*innen eigenverantwortlich regeln. Die Rollenverteilung zwischen Politik und Wähler*innen ist also gänzlich anders als im Klartext-Narrativ, wo Bürger*innen aktiv überzeugt werden müssen von einem Kandidaten, der ihnen seine Version des Wandels nahelegen möchte. In der folgenden Belegstelle äußert sich Merkel selbst zum Thema Entscheidungsfreude: Es ist seit der großen internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise eine besondere Situation entstanden, die ich vorher nur aus der Zeit der deutschen Einheit persönlich so kannte. Ich und alle meine Kollegen in der Regierung und im Parlament sind
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5 Illustration: Politische Narrative des Bundestagswahlkampfes 2013 im Grunde auf neues Terrain gegangen und davon gab es sehr sehr viel plötzlich, dass man Dinge entscheiden musste, für die es kein Vorbild gab und wo man jetzt auch nicht darauf warten konnte, dass irgend einer auf der Welt das alles von Haus aus weiss […] also das waren schon besondere Situationen. Wenn Sie in der Politik sind, das ist jedenfalls meine Überzeugung, dann muss man das annehmen, dass jede Minute ein solcher Zustand entstehen kann. […] Ich will beschreiben, wie Entscheidungen bei mir zum Beispiel reifen und da ist es so, dass viele politischen Entscheidungen – so stellt es sich mir zumindest dar – ja keine Entscheidungen sind wo ich sage 100% ja und 0% nein, sondern viele politische Entscheidungen sind im Grunde Entscheidungen, die mit 40% Argumenten für die eine Meinungsbildung entstehen und mit 60% dann vielleicht überwiegenden Argumenten in eine andere Richtung und ich versuche mir in meiner Entscheidungsfindung die gesamte Breite der Möglichkeiten vor Augen zu führen, sie auch hin und her zu wenden und dann zu einer Abwägung zu kommen, an dessen Ende auch eine Entscheidung steht (Stern 18.05. 2013).
Die Entscheidung steht für Merkel am Ende eines ausführlichen Abwägungsprozesses. Genau dieser Prozess ist es, der das transformative Moment von Merkels Mutti-Narrativ beschreibt. Hier wird aus einer politischen Gemengelage, aus einem Set an verschiedenen Positionen und Situationen eine ausgewogene Entscheidung destilliert. Trotz der sehr rationalen Sprache – Merkel spricht in Prozentzahlen – strahlt diese Charakterisierung ihres Entscheidungsprozesses Vertrauenswürdigkeit aus. Merkels Rationalität ist weniger aktionistisch als die des „Klartexters“ Steinbrück. So fügt sie sich in die Konfiguration der Stabilität ein. Die Entscheidung markiert dann das Ende, die Schließung der narrativen Konfiguration. Sie ist nicht das bestimmende Moment, da Merkel Wert auf die Qualität der Entscheidung, nicht auf Entscheidungsfindung zu legen scheint. Das Mutti-Narrativ traf sowohl mit seinen metaphorischen Bezugsrahmen als auch mit seiner zeitlichen Konfiguration auf eine Diskursstimmung, welche die Wähler*innen gut mit ihrer eigenen Wahrnehmung in Einklang bringen konnten. Die Stabilität bot sich als naheliegendes Deutungsschema an und konnte erzählerische Vorteile gegenüber dem Wandel geltend machen. Diese Vorteile wurden von der CDU erkannt und aktiv genutzt. Prominent beispielsweise in der sogenannten Wilhelmshavener Erklärung, einem Beschluss des CDU-Parteivorstands, der Anfang Januar 2013 die programmatische Grundlage für den Wahlkampf bot. Auf der ersten Seite des Strategiepapiers wird diese Stabilitätskonfiguration des politischen Geschehens gleich in mehreren Aussagen erzählt: Unserem Land geht es gut. Die Menschen leben in Freiheit und Wohlstand. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind trotz der anhaltenden Herausforderungen durch die europäische Staatsschuldenkrise weiterhin gut. Während viele Länder mit einer Rezession zu kämpfen haben, kann Deutschland zuversichtlich auf das Jahr 2013 blicken. […] Diese Erfolge sind das Gemeinschaftswerk
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der Menschen in unserem Land. […] Unser Land steht gut da, weil die CDU die Rahmenbedingungen richtig gesetzt hat (CDU 05.01.2013: S. 1). 5.3.3 Dritter Akt: Wertungen Narrative Konfigurationen erhalten ihre Wertung über die erzählerische Schließung, die sich etwa in Form eines Aus- oder Rückblicks gestalten kann. Durch die Formulierung von Handlungsabsichten und normativen Urteilen und Wertungen gelingt es politischen Erzählungen direkten politischen Einfluss auszuüben. Hier, in der Schließung der Erzählung, findet sich die „Moral von der Geschichte“, mithin der Kerngedanke des Erzählten. Denn vieles läuft auf diese abschließende Beurteilung hinaus. Zwar lassen sich auch aus den vorangegangenen Analyseschritten wertvolle Erkenntnisse über die narrative Strukturierung politischer Diskurse ablesen, doch findet sich die normative Wertung meist erst in den formulierten Absichten und Zielen. Erst hier klärt sich, ob die zuvor geschilderte Situation wünschenswert oder zu kritisieren ist, ob die Protagonist*innen der Erzählung als Held*innen, Schurk*innen, Sieger*innen oder Verlierer*innen charakterisiert werden oder ob sich durch die Konfiguration des Geschehens einzelne Wertungen wandeln, verändern oder sogar umdrehen lassen. In der hier vorgelegten Illustration der Narrativanalyse habe ich wie zuvor angekündigt, die Analyseschritte ineinanderlaufen lassen. Sie sind nicht immer trennscharf, so dass Beurteilungen der narrativen Schließung auch schon in vorherigen Analyseschritten aufgezeigt wurden. An dieser Stelle werden einige dieser Deutungsangebote erneut aufscheinen und zusätzlich neue Interpretationen der Narrative vorgestellt. Eine erste Feststellung, die sich aus der Anschauung des Materials ergibt, ist, dass sich drei unterschiedliche Zeittypen durch den Blick auf die narrative Schließung der Erzählungen identifizieren lassen: Erstens narrative Schließungen mit einer retrospektiven Perspektive. Hier wird die normative Wertung aus der Anschauung einer Konfiguration des Geschehens gezogen. Dieser Typ zeigt sich etwa, wenn in der Berichterstattung das Handeln der Akteur*innen eingeordnet und in einen Handlungsablauf eingefasst wird. Zweitens narrative Schließungen, die sich auf die akute Erzählsituation beziehen. Dieser Typ lässt sich vor allem in Debatten zwischen Kandidat*innen im Parlament oder in Fernsehstudios sowie in Interviews beobachten. Hier wird direkt auf Äußerungen des Gegenübers Bezug genommen und dabei die Situation selbst als Teil einer narrativen Konfiguration erzählt. Drittens narrative Schließungen, die auf die Zukunft gerichtete Prognosen, Wünsche, Hoffnungen, Pläne und Zielstellungen artikulieren. Dieser Typ
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5 Illustration: Politische Narrative des Bundestagswahlkampfes 2013
nimmt in der Kampagnenkommunikation der Kandidat*innen naturgemäß eine größere Rolle ein. Eine Einteilung in diese drei Typen ist natürlich nie trennscharf, kann jedoch Hinweise auf die Wirkung des Narrativs generieren. „Mutti“ Merkel: Unpolitische Sedierung oder schützende Hand? Aus der Analyse des Mutti-Narrativs haben sich in der hier vorgelegten Analyse bislang vor allem positive Deutungsangebote herauslesen lassen. Doch gibt es auch erzählerische Konfigurationen, in der Merkels Mutti-Erzählung kritisch beäugt wird. Diese ergeben sich in erster Linie aus einer spezifischen narrativen Konfiguration, die hier im Folgenden eingehender betrachtet werden soll. So sieht ein dominanter Erzählstrang der Merkel-Kritiker die Metapher der „Mutti“ als unpolitisches Diskurselement: „Mit Mutti wird nämlich nicht gestritten. Mutti hat immer Recht. Mutti ist damit letztlich völlig unpolitisch“ (Oestreich/Reinecke 07.09.2013). Der in der Leitmetapher angelegte protektive Bezugsrahmen der fürsorglichen Beschützerin wird dann als problematisch konfiguriert, denn er evoziert eine „Entpolitisierung der Politik […] Mutti kümmert sich, heißt die alles verschlingende Botschaft. Bleib ruhig Kind, schlaf weiter, Volk!“ (Mika 18.09.2013). An dieser Stelle lassen sich die Deutungskämpfe zwischen unterschiedlichen narrativen Konfigurationen gut illustrieren. Eine andere Belegstelle erzählt beispielsweise folgende Geschichte: Die Journalisten mögen an ihr herumnörgeln, die Volksmeinung bleibt annähernd konstant. Auch im Wahlkampf bleibt sie der fürsorgliche weibliche Haushaltsvorstand, der sich nicht scheut, für die eigene Familie gute Ideen aus der grünen und roten Nachbarschaft zu übernehmen, als hätte sie nie anders gedacht. […] Sie ist, wie gute Mütter, ausgleichend, beruhigend, gar mit beruhigender Härte begabt. […] Nur Böswillige reden von Wankelmut, wenn sie überraschende Wendungen ausführt und diese plötzlich als alternativlos bezeichnet. Das Volk bewundert das eher als Flexibilität und Fähigkeit, Fehler einzusehen sowie überholte Ansichten fast geräuschlos fallen zu lassen (Moser 05.08.2013).
Beide Konfigurationen teilen die Einschätzung, Merkel würde sich als „Mutti“ kümmernd in den Diskurs einschreiben. Die Schlüsse, die aus dieser Haltung gezogen werden, unterscheiden sich jedoch deutlich. Genau hier zeigt sich ein Vorteil der Narrativanalyse. Sie kann die Kontexte politischer Deutungskämpfe darstellen und die Bedeutungsschichten unterschiedlicher Positionen offenlegen. Dabei geht es nicht immer um Argumente, sondern wie im hier skizzierten Fall um unterschiedliche Haltungen zu einer politischen Figur, die sich in verschiedenen narrativen Konfigurationen zeigen. So wird das Vertrauen, das die Wähler*innen Merkel auch in Krisenzeiten zukommen lassen, in einer kritischen Er-
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zählvariante als unpolitische Sedierung konfiguriert. Diese Sedierung zeichnet sich durch die Abwesenheit konstruktiver Auseinandersetzungen aus. „Die Kanzlerin versucht in der Regel, politische Kontroversen wegzumoderieren“ (Sagener 06.08.2013). Streit gehört nicht zum Bedeutungsarsenal der Merkel-Erzählung. Sie ist auf Ausgleich und Frieden bedacht. Diese stabilisierende Erzählung kann nur dann gelingen und mit der Erfahrungswelt der Wähler*innen resonieren, wenn diese sich ebenfalls in einer stabilen Situation wähnen. Aussagen wie „Im Konrad-Adenauer-Haus ist alles friedlich“ (Alexander 25.08.2013) könnten in anderen Kontexten auch hochgradig kritisch verstanden werden. Beispielsweise angesichts einer akuten Krise ist der Friede in der Parteizentrale sicher kein wünschenswerter Zustand. Da nicht wenige die gesamtgesellschaftliche Situation in Deutschland rund um die Wahl 2013 nicht so friedlich und positiv einschätzten, wie es die Mutti-Erzählung suggerierte, lesen sich anderslautende Konfigurationen unter anderem so: „Was mich an Merkel noch wütender macht als Betreuungsgeld, EU-Politik und Prism: dass mich ihre Schwafelei so dumpf und unpolitisch macht“ (@daniel_erk 19.07.2013). Die Stabilität ist nur für die Gewinner*innen der aktuellen politischen Großwetterlage ein zufriedenstellender Zustand. Kritiker sehen in der Betonung dieser Stabilität selbst das Problem: „Große Frage: War #Merkel die letzten 10 Jahre wählen? Sie ist ja tendenziell eher unpolitisch. /cs“ (@jusos 25.08.2013). Entlang dieser Konfiguration lassen sich auch Differenzen zwischen progressiven und konservativen Einstellungen ablesen. Das Bewahrende der Stabilitätserzählung ist für progressive Kräfte in sich eine Figur der gegnerischen Seite: Schwarz-Gelb befindet sich vier Monate vor der Bundestagswahl selbst im HangoutModus. Das Regieren hat man weitgehend eingestellt, es scheint nur noch darum zu gehen, den Vorsprung in den Umfragen zu verwalten. Ideen für die Zeit nach dem Wahltag, für die nächsten Jahre? Bisher Fehlanzeige. Deutschland geht es doch gut, lautet die Botschaft, also weiter so (Gathmann/Wittrock 07.05.2013).
Dem „Weiter so!“ der Merkel-Erzählung stellte die SPD Tatendrang im Rahmen des Klartext-Narrativs entgegen. So etwa Frank-Walter Steinmeier in einem Interview mit dem Spiegel: Unter der Kanzlerin ist in den letzten Jahren nichts passiert, was uns sicher über die eigene Zukunft sein lässt. Diese Regierung lebt von den Entscheidungen aus der Mitte des letzten Jahrzehnts. Sie erntet nur ab, was andere gepflanzt haben. Ansonsten herrscht Taten-, Entscheidungs- und Mutlosigkeit! (Medick/Nelles 16.01.2013)
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Interessant zu sehen ist, dass diese kritische Erzählung in der CDU registriert wurde und aktiv in die eigene narrative Konfiguration eingebaut wurde. Dem Vorwurf der Tatenlosigkeit wollte man sich nicht ausgesetzt sehen: Offenbar herrscht doch etwas Angst, dass der träge Wahlkampf und Merkels MuttiAttitüde nicht nur die Wähler, sondern auch die Partei einlullen könnten. Und so warnt Merkel in ihrer Rede vor einem ‚bösen Erwachen‘ am Wahltag. ‚Es gibt viele, die denken vielleicht, die Wahl ist schon gelaufen‘, sagt sie. Nicht nachlassen, das ist die eine Botschaft. Die andere: Alles wird gut, gemeinsam machen wir das schon‘ (Romberg 08.09.2013).
Der Versuch der Inkorporation bestimmter Muster der Gegenerzählungen in das eigene Narrativ ist ein bekannter Spin der politischen Kommunikationspraxis. Hier scheint er nur leidlich zu gelingen. Vor allem, wenn sich ein weiterer Vorwurf anschließen lässt: „Aber was ist dass [sic] denn für eine Mutti? Eine Mutti, die erst eingreift, wenn sie selbst betroffen ist?“ (Zurhausen 31.10.2013). Die kritischen Konfigurationen der Mutti-Erzählung mussten sich letztlich immer gegen die von vielen Wähler*innen als gut empfundene Gesamtsituation durchsetzen, die selbst zu einem wichtigen Aktanten der Erzählung wurde. Sie tauchte als Helferin, Unterstützerin Merkels immer dann im Narrativ auf, wenn von Steinbrück sozialpolitische Reformvorschläge ins Feld geführt wurden: Angela Merkel knüpft geschickt an die Verdrossenheit vieler Menschen an, die Auseinandersetzungen um politische Programme und unterschiedliche Wege oft nur als Parteiengezänk wahrnehmen. Aber daran hat ihre Art, Politik zu machen, Konflikten auszuweichen und Unterschiede abzuschleifen, erheblichen Anteil. Dass ohne solchen Streit die Demokratie verkümmert, dass Auseinandersetzungen auch fruchtbar sein können, blendet sie aus. Und sie erinnert die Menschen an das Gefühl, dass die vier vergangenen Jahre doch gute Jahre waren – warum also jetzt zum Beispiel Steuern erhöhen? Lassen wir lieber alles beim Alten (Schmale 16.08.2013).
Letztlich gelingt trotz dieser alternativen Deutungsangebote die Entfremdung von „Mutti“ und ihrem „Uns-geht’s-Gut-Wahlkampf“ nur schwerlich, da Merkel „den Eindruck vermittelt, unter ihrer Führung könne Deutschland trotz aller Krisen weitermachen wie bisher“ (Hebel 02.09.2013). „Klartext“ Steinbrück: Zwischen den Stühlen Nicht nur im Rahmen der Mutti-Erzählung lässt sich zeigen, dass politische Inszenierungen durchschaut und Deutungen der intendierten Wirkung entgegenstehen können. Auch bei Steinbrück war dies zu beobachten. Grundsätzlich konfigurierte die Erzählung der „klaren Kante“ die Situation in Deutschland in klarer Abgrenzung zu Merkels Mutti-Narrativ: „Merkel fasste ihre Amtszeit zusammen
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mit den Worten ‚vier gute Jahre‘. Steinbrück konterte mit ‚vier Jahre Stillstand‘“ (Seibt 03.09.2013). Ausgehend von dieser Bewertung der vorangegangenen Legislatur wurde Steinbrücks „Klartext“ als alternative Erzählung in den Diskurs eingespeist: „klartext von peer steinbrück beim wahlkampfauftakt. klare ansagen, aufzeigen von alternativen. das wir entscheidet!“ (@kahrs 08.08.2013). Der „Klartext“, so die hier formulierte Hoffnung, kann den Stillstand durchbrechen und eine echte Konkurrenz zu Merkel darstellen. Dabei fällt auf, dass die Konfiguration immer auf Merkel bezogen bleibt. Die Erzählung ist immer eine Alternative und somit in einem Stadium der Referenz gefangen. Für sich genommen kann sie kaum eine Wirkung entfalten. Daraus erwächst ein massiver strategischer Nachteil, da „Mutti“ in der Klartext-Erzählung immer eine Rolle zugewiesen wird, während Merkel ohne den Verweis auf den Kontrahenten auskommt. In ihrem Narrativ ist weder Steinbrück noch die SPD eine Figur. So entsteht im Mutti-Narrativ Raum für die Bürger*innen, die sich einschreiben können in die Konfiguration der „vier guten Jahre“. Der „Klartext“ hingegen referenziert das politische Geschehen in der „Berliner Blase“ und erzählt von einer Auseinandersetzung politischer Akteur*innen, mit der sich die Wähler*innen nicht intuitiv identifizieren können. Insofern trifft der Vorwurf der Entpolitisierung, der gegenüber Merkels Erzählung erhoben wurde, durchaus zu. Doch konnte er nicht zu einem strategischen Vorteil für die SPD erwachsen. Dafür hätte das Leitnarrativ deutlicher in der Lebensrealität der Menschen verankert werden müssen. Wie sehr die Klartext-Erzählung auf „Mutti“ bezogen bleibt, zeigen Konfigurationen, wie diese: „20 Mio können beim #tvduell vergleichen: Klartext oder Ausweichen, Aufbruch oder Stillstand, gestalten oder aussitzen, Steinbrück oder Merkel“ (@thomasoppermann 01.09.2013). Steinbrück selbst unternimmt an einigen Stellen den Versuch, ohne den Verweis auf die Kanzlerin eine Zukunftsvision zu erzählen. So will er Kanzler werden „um diese Republik in eine bessere Zukunft zu führen“ (kanzlerduell 09 40:25). Dabei musste er jedoch stets mit einem fundamentalen Glaubwürdigkeitsproblem kämpfen, denn auch die „Klare Kante“, die an einigen Stellen als „Masche“ (Alexander 1.3.2013) interpretiert wird, ist offen für konkurrierende Deutungen. Eine Konfiguration etwa erzählt Steinbrücks „Klartext“ als in erster Linie quantitativ gesteigerte Kommunikation: „‚Klartext‘ ist nur der Euphemismus für: Ich spreche, bevor ich nachgedacht habe #steinbrück“ (@claudiusseidl 28.02.2013). Demnach bleibt das Narrativ hinter seinen selbst gesteckten Normen der Klarheit und der Deutlichkeit, der direkten Ansprache von Problemen und dem Entwurf neuer Optionen zurück: Es sind Allgemeinplätze, die strotzen vor Selbstgerechtigkeit und würden das Land schnell und ungerührt ins Trudeln bringen. Wie sein neues Vorbild Hannelore Kraft redet er nur über das Geldausgeben, über höhere Steuern und weiß nicht, wie er diesem Land über eine stickige Gemütlichkeit hinaus eine Vision für die Zukunft spen-
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5 Illustration: Politische Narrative des Bundestagswahlkampfes 2013 diert. ‚Wer viel redet‘, heißt es in Balzacs ‚Verlorenen Illusionen‘, ‚glaubt am Ende, was er sagt‘. Bei Steinbrück scheint das so zu sein. Das macht ihn in der Partei irgendwie sympathisch: Er will es unbedingt wissen und muss strampeln wie der kleine Mann eben auch. Beinfreiheit gilt auch auf den Knien (Poschardt 11.12.2012).
Demgegenüber stand eine weitere Konfiguration im Diskursraum, die sich ebenfalls durch Vielstimmigkeit Gehör verschaffen konnte. Diese Erzählung wertete Steinbrücks Handeln als nicht konsequent genug und wünschte sich „Klartext“ in Reinform: „Der Mann wäre als Politiker nicht mehr glaubwürdig, wenn er nur noch über Solidarität und Gemeinsinn sprechen würde“ (Sagener 06.08.2013). Aus diesem kommunikativen Dilemma konnte Steinbrück nicht ausbrechen. Die Figur Steinbrück war gefangen zwischen Zuviel und Zuwenig an Direktheit, zwischen „Klartext“ und Inhaltsleere. Die Deutungen gingen auseinander, der kritische Tonfall blieb. Zudem steckt in der Leidenschaft des „Klartexts“ ein weiteres Problem: „Leidenschaft in der Politik gilt den Deutschen dagegen als unbequemer, riskanter Zug – in kritischen Zeiten“ (Becker 06.08.2013). Während die Kanzlerin „für alles Mögliche, für allerlei eben noch für unmöglich gehaltene politische Wendungen, aber doch eher auf pragmatischster Basis“ (Becker 06.08.2013) steht und damit gerade in ihrer technokratischen Ruhe zu überzeugen wusste, konnte Steinbrücks leidenschaftlicher „Klartext“ als Aktionismus gedeutet werden. Die Rahmenbedingungen, in denen die Metaphorik zu einem Narrativ konfiguriert wird, sind also von entscheidender Bedeutung und müssen sorgfältig geprüft werden. Zu dieser komplizierten diskursiven Situation gesellt sich ein kompliziertes Verhältnis zwischen Steinbrück und der SPD. Während bei Merkel die Beziehung zwischen Kanzlerin und Partei ohne Brüche verlief, war sie bei Steinbrück von Beginn an fragil: Wer in der Partei stark war, opferte viel, blieb aber in seiner Kantigkeit sichtbar. Auch deshalb waren die Führer bis auf wenige Ausnahmen stets unbeliebt: Sie untergruben den kollektiven Code ihrer Partei. Die Metapher des Stallgeruchs romantisierte den Zwang zur Unterwerfung unter die Parteiraison (Poschardt 11.12.2012).
Das Verhältnis zwischen SPD und Steinbrück bietet Stoff für eine eigene Analyse. Die Dynamik der Beziehung ist dabei so komplex, dass sie weitere Bedeutungsschichten bereithält, die sicher aufschlussreich sind für die Deutung des Geschehens im Bundestagswahlkampf 2013. Muster, die zum Vorschein kommen könnten, wären Steinbrücks Rolle als „Geheimwaffe, um die Mitte zu erreichen“ (BFPD-Politiker Gerhard Baum bei Anne Will, Hahn 13.12.2012) oder seine Vergangenheit als liberal agierender Finanzpolitiker. Diese Faktoren machten es
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wahrscheinlich, dass Steinbrück und sein „Klartext“ zu einer erzählerischen Fehlbesetzung in der Hauptrolle eines SPD-Gerechtigkeitswahlkampfes werden würde. Die Diskurskonstellation und in ihr aktiven narrativen Muster waren nicht zugunsten Steinbrücks organisiert. Zudem formierten sich neben den politischen Gegner*innen Steinbrücks aus dem Lager der Regierungsparteien CDU/CSU und FDP eine Reihe semantischer Aktanten, die sich als unschlagbar erwiesen. Zwei besonders einflussreiche Antagonist*innen waren wie gezeigt die Authentizität, die nicht als schlüssige Erzählung durch die Wähler*innen rezipiert wurde, und ein diffuses Bild kommunikativer Normen der Politik, die sich als „das sagt man nicht“ manifestierte. Steinbrück redete über den Pinot Grigio, über Kanzler*innengehälter und Nebenverdienste, über die ihm zustehende Beinfreiheit und eckte so mit seiner Kante an. All diese Aktanten wurden eingewoben in die Erzählung des „Klartexts“, deren Konfiguration letztlich nicht mehrheitsfähig war, da sie den Wähler*innen nicht genug Möglichkeiten bot, sich positiv in das Narrativ einzuschreiben und eine positiv konnotierte Rolle zu übernehmen. Aus Sicht der Narrativanalyse bieten diese Entschlüsselungen erzählerischer Konfigurationen Einblicke in die Wirkweise von Bedeutungskonstruktionen im Wahlkampf. Ob und wie die Bürger*innen sich selbst diese Narrative vergegenwärtigen, wie wirkmächtig sie in einem quantifizierbaren Sinne für den Bundestagswahlkampf 2013 waren oder ob sie als subtile Bedeutungsschichten auf der Ebene unterschwelliger Sinneinheiten verbleiben, werden hoffentlich weitere narrativanalytische Untersuchungen zeigen.
6 Fazit: Ergebnisse, Reflexion und Desiderate
Wahlkämpfe vollziehen sich nicht allein im Kampf um das bessere Argument. In diesen politischen Hochphasen sind andere Bedeutungs- und Wissensformen aktiv, die es zu berücksichtigen gilt, will man die kontingenten Prozesse der Aushandlung von Positionen und Werteordnungen verstehend analysieren. Mit der politikwissenschaftlichen Narrativanalyse habe ich in dieser Arbeit ein Werkzeug vorgelegt, das dabei hilft, diese Bedeutungsschichten zu rekonstruieren und ihre Wirkung auf den Diskurs zu analysieren. Für mich stand die sorgfältige Entwicklung dieses konzeptionellen und methodologischen Werkzeuges im Zentrum. Was macht Narrative aus? Aus welchen Elementen setzen sie sich zusammen? Und wie entwickelten sich Narrative im Bundestagswahlkampf 2013? Angesichts einer starken Konjunktur des Erzählbegriffs in der politischen Praxis war es besonders interessant, die Ursprünge der Konzepte Narrativ und/oder dem Synonym Erzählung zu ergründen und zu zeigen, welche existierenden Theorien und Heuristiken sich in ein sozialwissenschaftliches Analyseschema übersetzen lassen. Als erstes Ziel hatte ich formuliert, dass die vorliegende Arbeit Wahlkämpfe als komplexe sprachliche Prozesse aufschlüsseln soll. Jenseits politischer Strategien, Wähler*innenwanderungen oder Policy-Analysen, so die Ausgangsvermutung, gibt es weitere Bedeutungsschichten, die zur Wahlentscheidung der Bürger*innen beitragen. In meinen Augen konnte ich jedoch zeigen, dass eine Analyse von Wahlkämpfen aus einer diskursiven Perspektive neue Erkenntnisse bereithält: Politik und das Politische werden sprachlich verhandelt. Die Prozesse dieser Verhandlung waren bislang jedoch nicht im Fokus der Wahlkampfforschung. Sprache und ihre Deutungsmechanismen sollten weiter oben auf die Agenda der sozialwissenschaftlichen Analyse gesetzt werden, sofern man der Konstruktion von Sinn und Bedeutung eine Rolle in Wahlkämpfen zuschreibt. Die hier angestellten Überlegungen haben den Hinweis Andreas Dörners ernst genommen und eine „Intensivierung von Forschungsanstrengungen im qualitativ-interpretativen Spektrum der empirischen Forschung“ (Dörner 2002: 23) unternommen. Mithilfe einer erweiterten Perspektive auf Sprache, die sich großzügig bei den Kultur- und Literaturwissenschaften bedient, konnte ich der Analyse von Sprache in Wahlkämpfen neue Aspekte hinzufügen, die bislang kaum beachtet wurden. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Jarzebski, Erzählte Politik, Studien der NRW School of Governance, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31013-4_6
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6 Fazit: Ergebnisse, Reflexion und Desiderate
Das zweite Ziel der Arbeit war die Einführung erzähltheoretischer Überlegungen in das Feld der sozialwissenschaftlichen Wahlkampfforschung. Dazu habe ich bestehende, an Sprache interessierte Konzepte der Wahlkampfforschung reflektiert (vgl. Kap. 2). Dabei fiel auf, dass der linguistic turn in der Wahlkampfforschung bislang kaum Wiederhall fand und sich ein strukturalistisches Verständnis von Sprache und ihrer Wirkung im Feld der politischen Kommunikationsforschung durchsetzen konnte. Entlang kulturtheoretischer Konzepte wie der Poetologie des Wissens und methodologischer Überlegungen zur Erkenntnisfähigkeit verschiedener Wissensformen habe ich anschließend die Rolle der interpretativen Forschung für die Wahlkampfforschung reflektiert (vgl. Kap. 3). Politik, so die Quintessenz, vollzieht sich in und durch die Sprache, so dass wir für ihre Analyse vor allem die bislang vernachlässigten schöpferischen und imaginativen Aspekte analysieren müssen, um tieferliegende Bedeutungsschichten ans Tageslicht zu holen. Ein reiner Rückgriff auf quantifizierende Methoden verstellt den Blick auf die Aushandlung von Bedeutung und Sinn, die sich oftmals im kontingenten Raum der Zwischenmenschlichkeit entfaltet. Deshalb war es von entscheidender Bedeutung drei zentrale narratologische Begriffe in ein sozialwissenschaftliches Vokabular zu überführen. So habe ich Metaphern, Erzählsituationen und die Konfiguration als Kernelemente politischer Narrative vorgestellt (vgl. Kap. 4). Schließlich wollte ich, einem dritten Ziel folgend, die Anwendbarkeit der zuvor entwickelten Narrativanalyse am Fall des Bundestagswahlkampfes 2013 illustrieren. Durch die Rekonstruktion zentraler politischer Narrative habe ich gezeigt, warum Angela Merkel auf dem Feld der erzählerischen Verhandlung von Politik Vorteile gegenüber ihrem Herausforderer Peer Steinbrück hatte, die sich nicht strategisch oder taktisch auflösen ließen (vgl. Kap. 5). Gleichzeitig zeigten sich in dieser Illustration die Chancen und Limitierungen der Narrativanalyse, die spätere Analysen berücksichtigen sollten und die ich an dieser Stelle noch einmal diskutieren möchte. Entlang der drei Ziele werde ich hier abschließend die Ergebnisse dieser Arbeit kurz zusammenfassen. 6.1 Narrative als Zugang zur Komplexität der Sprache Die Narrativanalyse ist weder ein umfassendes noch ein perfektes Instrument für die Untersuchung von Wahlkämpfen als Diskurszusammenhänge. Obwohl sie einen heuristischen Werkzeugkasten an die Hand gibt, um versteckte Bedeutungsstrukturen und deren Zuschreibungsmechanismen zu entschlüsseln, ist sie weniger eine holistische „Super-Theorie“, sondern eher ein konzeptioneller Forschungsansatz mit einer spezifischen methodologischen Orientierung. Zum einen
6.1 Narrative als Zugang zur Komplexität der Sprache
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wiederspricht der hier gewählte sozialkonstruktivistische Zugang einem positivistischen Erkenntnisideal. Zum anderen lassen sich auch innerhalb der hier skizzierten Illustration Aspekte finden, die ausgebaut, vertieft, überdacht oder gänzlich neu konzipiert werden könnten. In den empirischen Anschauungen der Narrativanalyse habe ich zeigen können, wie sich Wissensordnungen im Wahlkampf herausbilden und welchen Dynamiken sie unterworfen sind. Welche dieser Wissensordnungen allerdings im Vorfeld als wirkmächtig bezeichnet werden kann und in welcher Form über den Bezug zu bestimmten Wissensordnungen Macht ausgeübt wird, habe ich im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht dargestellt. Hier ergibt sich ein Anknüpfungspunkt für weitergehende Studien, die sich dann stärker um die Vermachtung narrativer Strukturen kümmern können. Mit der Einführung politischer Narrative als nützlichem Instrument der Wahlkampfforschung lassen sich dennoch drei wichtige Erkenntnisse verknüpfen: Erstens lässt sich festhalten, dass politische Kommunikation äußerst komplex ist. Gewiss kann nur die Ungewissheit sein, die sich mit kommunikativen Prozessen verbindet. Dies gilt im Besonderen, wenn neue Zugänge zu Emotionen und Wertvorstellungen gewählt werden und Narrative in dieser Hinsicht die Kontingenz sozialer Prozesse ernst nehmen. Politische Kommunikation ist kein einfaches Spiel von Sender*innen und Empfänger*innen, die über Medien ihre Argumente austauschen und sich überzeugen lassen. Sprache ist weder funktional noch berechenbar und lässt ihre wahre Kraft oftmals erst in der Rekonstruktion und der retrospektiven Analyse aufscheinen. Zweitens: Text ist politisch! Nicht nur die Reden der Kandidat*innen, Wahlplakate, Interviews und Zeitungsanalysen formieren wichtige Deutungsmuster. Vielmehr gilt es, dem Alltagsgespräch und der Verhandlung politischer Themen in alternativen Arenen und Diskursräumen Gehör zu schenken. Denn Politik ist nicht allein auf eine klassische Öffentlichkeit beschränkt. Im Gegenteil ist es gerade das alltägliche Gespräch, in dem Deutungsangebote getestet werden. In diesem vorpolitischen Raum sind dieselben narrativen Muster aktiv wie in der politischen Öffentlichkeit. Beide Sphären interagieren, wobei die Interaktionsfelder einer Analyse meist verschlossen bleiben, da sie sich im Privaten vollziehen und somit kaum aufzuschlüsseln sind. Gerade deshalb müssen wir unser Verständnis vom Material politischer Kommunikationsforschung erweitern und diesen Paradigmenwechsel noch radikaler vollziehen, als ich es in dieser Arbeit leisten konnte. Drittens lässt sich eine erneute Hinwendung zu Deutungen und Interpretationen beobachten (vgl. auch Münch et al. 2019). Angesichts der Komplexität politischer Prozesse, der vielerorts eine wachsende Dynamik zugesprochen wird, steigt die Nachfrage für Einordnungen und Orientierungen. Für die Sozialwis-
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senschaften lässt sich daraus ein Bedürfnis nach fundierten Deutungen und Interpretationen ablesen. Wissen, so eine Kernforderung meiner Arbeit, steckt nicht nur in Zahlen und quantifizierten Methoden, sondern auch im persönlichen Gespräch, in der Einschätzung, der Meinung, der Ahnung und vor allem der Deutung. Nicht im Sinne einer objektivierbaren Wahrheit, sondern eher im Verständnis einer tieferen Einsicht in die Verläufe von Politik und dem Politischen. Sprache kann nicht allein durch Quantifizierungen entschlüsselt werden. Sie muss weiterhin interpretativ auf ihre kulturellen Verankerungen hin untersucht und hinsichtlich ihrer subtilen Bedeutungsschichten analysiert werden. Soziale Interaktionen laufen nicht im Zeichensatz der Mathematik ab und Sprache ist mehr als Argumentation und Sprachlogik. Sie ist die Grundlage kreativer Schaffensprozesse und in dieser Eigenschaft essenziell für die Problemlösungsfähigkeit politischer Akteur*innen. 6.2 Narrative als Analysewerkzeug Eine der großen Chancen der Narrativanalyse liegt sicherlich in der Rekonstruktion von historischen Erzählverläufen. Historisch, da es sich um Erzählungen handelt, die zu einem gegebenen Zeitpunkt in einem gegebenen Setting formieren und somit nur als historische Fälle analysierbar sind. Politische Narrative wurden in der Politikwissenschaft bislang eher als Instrument der Policy-Forschung (u.a. Schön/Rein 1994; Hajer 1995; Stone 2002) oder im Rahmen kritischer Analysen in den Internationalen Beziehungen (Yildiz et al. 2018; Gadinger et al. 2019) angewandt. In der politischen Kommunikationsforschung und vor allem der Wahlkampfforschung gibt es hingegen keine umfassende Auseinandersetzung mit dem Begriff des Narrativs. Diese Lücke wollte ich mit der Entwicklung eines heuristischen Werkzeugs für die Rekonstruktion politischer Narrative schließen. Dazu habe ich mich auf drei zentrale narratologische Begriffe konzentriert, deren Vorzüge ich auf den vorangegangenen Seiten aufgezeigt habe. Dennoch gibt es Leerstellen, die hier kurz diskutiert werden sollen. Es lässt sich feststellen, dass die Narrativanalyse dazu geeignet ist, Sinnhorizonte sichtbar zu machen, die Wahlkämpfe als diskursive Formationen strukturieren. Diese meist unterschwellig aktiven Bedeutungen öffentlicher Aussageereignisse erhellen die komplexen Kommunikationsbeziehungen beteiligter Akteur*innen und bringen politische Aspekte zum Vorschein, die sich nicht an der Problemoberfläche des öffentlichen Diskurses wiederspiegeln. Das Konzept der politischen Erzählung ist dabei ein notwendiges, sicherlich jedoch kein hinreichendes Kriterium zur Analyse politischer Prozesse. Es kann Interpretationsan-
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gebot und Interpretationshilfe sein, erhebt jedoch nicht den Anspruch einer umfassenden Erklärung kommunikativer Prozesse. Dies liegt auch in der Zielgebung der Narrativanalyse begründet, die eher auf das Verstehen von Diskursstrukturen ausgerichtet ist denn auf das kausale Erklären von Sinnbezügen. Die hier skizzierten heuristischen Teilaspekte der Narrativanalyse leisten einen wichtigen Beitrag zur Beschreibung politischer Prozesse im Rahmen von Wahlkämpfen. Metaphern Die Analyse von Metaphern bildet den Kern der Narrativanalyse. Metaphern wurden schon zuvor im Rahmen sozialwissenschaftlicher Verfahren zum Gegenstand des Interesses (u.a. Gehring 2012, Junge 2010, Lüdemann 2004). Metaphern muss, so eine wichtige Erkenntnis meiner Überlegungen, in der Analyse politischer Sprache eine größere Aufmerksamkeit zuteilwerden. Wenn auch die Naturwissenschaften in der Beschreibung ihrer Phänomene nicht um den Gebrauch imaginativer Tropen herumkommen, so gilt dies im Besonderen für die Politik. Sie ist voll von metaphorischen Umschreibungen. Deshalb ist es notwendig, metapherntheoretische Vorarbeiten für die Sozialwissenschaft zu adaptieren und sie in die Teildisziplinen, hier die politische Kommunikations- und Wahlkampfforschung, zu integrieren. Je nach Erkenntnisinteresse verschiebt sich in diesen Analysen sowohl die Perspektive als auch das methodische Vorgehen. So treten verschiedene Stärken und Schwächen zutage, die sich auch im hier vorgelegten Vorschlag, der sich auf die diskursiven Wirkweisen von Metaphern konzentriert, nicht gänzlich auflösen lassen. Metaphern sind für mich vor allem dank ihrer Bezugsrahmen von Interesse, da in diesen Referenzierungen von Bedeutungsordnungen die erzählerische Kraft der jeweiligen Metaphern angelegt ist. Dieser Fokus ist bewusst gewählt und lässt andere Perspektiven der Metaphernforschung außen vor. Dazu habe ich eine integrierte Analyse vorgeschlagen, die sowohl die sprachliche als auch die kognitive Dimension von Metaphern in Betracht nimmt. Kritisch anmerken lässt sich, dass Metaphern neben dieser diskursiven Wirkung auch im Rahmen einer Rhetorikanalyse als Tropen untersuchbar sind. Über diese stärkere Fokussierung der strategischen Nutzung ließen sich die Genese und teilweise auch die intendierten Bedeutungszuschreibungen nachzeichnen. Dort, wo sich die Narrativanalyse auf das Erörtern der relevanten Bezugsrahmen zentraler Leitmetaphern konzentriert, erhellt die Rhetorikanalyse das Zusammenspiel der Metaphern auf Satzebene und bindet so auch andere Tropen mit ein. Dieser kleinteiligere Blickwinkel, der auf der Mikroebene der Sprechakte verweilt, vermag es, deutlich genauere Aussagen über die rhetorischen Eigenheiten einzelner Kandidat*innen oder spezifischer Akteur*innenkonstellationen zu lie-
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fern. Dies erfordert neben einem erweiterten Methodenbaukasten auch den Raum, um die Analyse entfalten zu können. Eine Fokussierung auf einzelne Metaphern oder die Konzentration auf einen engeren Untersuchungszeitraum wären sicherlich angezeigt. Je nach Ressourcen ließen sich dann neben diesen synchronen Vergleichen auch diachrone Studien über den Wandel von Leitmetaphern anstellen. Gerade in Bezug auf die beiden hier verhandelten Kandidat*innen wäre eine solche Längsschnittuntersuchung sicherlich fruchtbar und möglicherweise imstande, Lernkurven und bestimmte festgefahrene Sprachmuster aufzudecken. Erzählsituation Erzählsituationen habe ich in erster Linie als weiteren Kontextfaktor für die Rekonstruktion der vorgefunden Narrative angelegt. Die erzählenden Personen wurden also in ihrer Funktion für die Erzählung untersucht, nicht hinsichtlich ihrer Rolle, ihres Amtes, ihrer Identität oder sonstiger Faktoren. Aussageereignisse gewöhnlicher Bürger*innen stehen somit in der Analyse gleichberechtigt neben Sprechakten politischer Akteur*innen. Dem Text habe ich stets Vorrang eingeräumt. Er konnte für sich sprechen. Dies macht die Analyse frei von einer Debatte um Relevanz einzelner Aussagen. Die wahrscheinlich dringlichste Frage in Bezug auf die verschiedenen Erzählsituationen, die ich nicht beantwortet habe, kreist demnach folgerichtig um die Vermachtung bestimmter Sprechpositionen. Gibt es Erzählstimmen im Diskurs, denen mehr oder weniger Gehör geschenkt wird und deren narrative Überzeugungskraft außerhalb der Erzählkonfiguration strukturelle Vorteile genießen? Die Antwort kann hier nur heißen: mit Sicherheit. Denn nicht nur waren andere Forschungsarbeiten in der Lage, eine überzeugende Vermessung verschiedener Voice-Faktoren vorzunehmen (u.a. Couldry 2010; Stauss 2013, Völker 2015), sondern kommt der Frage „Wer spricht?“ eine besondere Bedeutung zu, die im Rahmen dieser Arbeit nicht als Machtfrage Gegenstand der Analyse war. Sie markierte hier eher den Ort des Sprechaktes, weniger die Vermachtung dieses Ortes in Relation zu den Rezipient*innen oder den Erzähler*innen konkurrierender Deutungsangebote. Letztlich führen diese Überlegungen hin zum Problem der Diskurshegemonie, das bereits in anderen Studien für Wahlkämpfe diskutiert worden ist (Lerch 2014). Für die Narrativanalyse steht die Beantwortung dieser Frage noch aus, ist jedoch im Begriff der Polyphonie zumindest konzeptionell angelegt. Auch wurde in der hier vorgeschlagenen Konzeption bewusst die sozialwissenschaftliche Rollentheorie ausgeklammert, die sowohl klassenbezogene (Marx), habituelle (Bourdieu) oder auch Gesellschaften konstituierende (Dahrendorf) Aspekte in die Betrachtung öffentlicher Sprechakte mit einbezieht. Durch
6.2 Narrative als Analysewerkzeug
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eine Ergänzung um diese Perspektiven wäre eine Konzentration auf die Erzählenden denkbar, die die Narrativanalyse eher auf die Akteur*innen beziehen würde. Hier wären dann auch strategieanalytische Studien denkbar (vgl. Gadinger/Simon 2019). Konfiguration Die Kernoperation des Erzählens, nämlich das Konfigurieren des Geschehens zu einer als Handlungsablauf erkennbaren Sinneinheit, habe ich vor allem hinsichtlich der abschließend durch die Erzählung in den Diskurs eingespeisten Wertungen untersucht. Leitend war die Frage, wie durch die Nutzung spezifischer Metaphern und einer Zusammenstellung des erzählten Geschehens Deutungen im Diskurs wirksam werden. Ausgeklammert wurde hier – auch angesichts der Fülle des Materials und der Konzentration auf die beiden Kandidat*innennarrative – ein Abgleich verschiedener Konfigurationen ähnlicher Situationen. Dies wäre beispielsweise hinsichtlich bestimmter Policy-Positionen denkbar. Hier lassen sich erneut die ausführlichen Studien der Policy Studies nennen, die für eine solche Analyse bereits Instrumentarien bereitgestellt haben. Die von mir vorgeschlagene Fokussierung auf die implizit in den Narrativen eingewobenen Wertungen war jedoch bewusst gewählt. Im Fokus standen Normvorstellungen, die Identifikationsangebote für die Wähler*innen formulieren. Eine Leerstelle in der Analyse der Konfiguration betrifft die Zeitlichkeit politischer Erzählungen. Nicht nur hinkt hier die empirische Analyse den anderen Teilaspekten der Narrativanalyse hinterher, sondern scheint auch die Theoriearbeit in diesem Bereich noch nicht ausreichend in die Tiefe vorgedrungen zu sein. Dies verwundert vor allem deswegen, da in Bezug auf die Zeitlichkeit gleich zwei maßgebliche Texte der Philosophie vorliegen. Sowohl Heideggers Sein und Zeit als auch Ricoeurs Zeit und Erzählung konnten jedoch noch nicht adäquat in eine forschungspragmatisch umzusetzende sozialwissenschaftliche Heuristik überführt werden. Dies mag zum einen der Komplexität und dem Abstraktionsgrad des Gegenstandes, zum anderen jedoch der wissenschaftstheoretischen Ausrichtung der Sozialwissenschaften geschuldet sein. Interessant wäre hier die Implementierung eines non-linearen Zeitbegriffs in die Sozialwissenschaften, die vor allem in Zeiten wachsender Bedeutung sozialer Medien noch von gesteigertem Interesse sein dürften. Typen und Kategorien Die Differenzierung verschiedener Typen von Narrativen habe ich nicht weiter verfolgt. Analog zu Stone (2002) oder White (2008) ließen sich sicherlich in einer weiteren Abstraktionsebene Muster verschiedener Narrative identifizieren. Beispielsweise wäre eine Kategorisierung nach Erzähler*innen und/oder Rezipi-
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6 Fazit: Ergebnisse, Reflexion und Desiderate
ent*innen denkbar. Alternativ ließen sich politische Erzählungen auch entlang unterschiedlicher Referenzrahmen ihrer Leitmetaphern typologisieren. In Zukunft wird auch zu zeigen sein, ob und inwieweit bestimmte Formen von Erzählweisen mit spezifischen institutionellen Settings korrespondieren. Für diese Muster, Typen und Kategorien müssten jedoch neue Vorbilder und metaphorische Umschreibungen gefunden werden, die einem gegenwärtigen kulturellen Zeichengebrauch entspringen. Nutzen White und Stone noch das Vokabular der Literaturwissenschaft und orientieren sich an traditioneller Prosa, etwa wenn sie von Helden und Schurken sprechen, so würden sich heute sicherlich eher Serien oder Podcasts mit ihren spezifischen Typen als Blaupausen anbieten, da sie imstande sind, mit heutigen kulturellen Mustern zu resonieren. Serien als Muster sind gerade deshalb interessant, da sie heute eine gesellschaftspolitische Funktion erfüllen. Sie geben den Rezipient*innen durch ihren Konsum serieller Erzählformen eine Identität. Über diese Identität werden Ausdrucksformen wie Fan-Fiction, Besprechungen und Deutungen bei YouTube oder aber Diskussionen über weitere Verläufe bei reddit aktiviert. Die Rezipient*innen interagieren also mit dem erzählten Stoff selbst. Sie beginnen Forderungen an die Serien und ihre Macher*innen zu stellen. Je grösser die Zahl der Rezipienten wird, desto heterogener – und damit schwerer umsetzbar – werden diese Forderungen. Um all dies erfolgreich bewerkstelligen zu können, müssen Serien ihre Rezeption ernst nehmen: sich abzuschotten und das einmal vorgefertigte Programm einfach nur abzuspulen, funktioniert in der Regel nicht (Stein 27.08.2016).
Hier lassen sich durchaus Parallelen zu politischen Narrativen ziehen, die in Zukunft näher betrachtet werden sollten (Switek 2018). 6.3 Narrative des Wahlkampfes: Mit „Klartext“ gegen „Mutti“ Mit der empirischen Illustration der Narrativanalyse wollte ich in erster Linie das Vorgehen und die Anwendbarkeit erzähltheoretischer Überlegungen veranschaulichen. Darüber hinaus lassen sich jedoch auch erste Ergebnisse skizzieren, die als diskursive Deutungen des Wahlkampfgeschehens hier zusammengetragen werden sollen. Diese Ergebnisse sind ein Interpretationsangebot. In der Methodologie habe ich mich ausführlich mit der Rolle der Forschenden auseinandergesetzt und dargelegt, wie wichtig das Zulassen subjektiver Deutungen in der Analyse des politischen Geschehens ist (vgl. Kap. 3.2). Dieser Überzeugung folgend habe ich in Kapitel fünf eine Tiefenanalyse der Bedeutungsstrukturen des Bundestagswahlkampfes entlang der dominanten Narrative unternommen, die sich
6.3 Narrative des Wahlkampfes: Mit „Klartext“ gegen „Mutti“
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um die beiden Leitmetaphern „Mutti“ und „Klartext“ bzw. „klare Kante“ gruppieren. Der Fokus lag auf dem „Wie“ der sprachlichen Verhandlung von Politik im Allgemeinen und der beiden Kandidat*innen im Besonderen. Zwei dominante Narrative strukturierten den Bundestagswahlkampf 2013: „Mutti“ Angela Merkel wurde vom „Klartexter“ Peer Steinbrück mit „klarer Kante“ herausgefordert. Diese erzählerischen Konfigurationen prägten die Vorstellungen, Diskussionen und Auseinandersetzungen über die beiden Kandidat*innen. Und sie trugen dazu bei, dass Angela Merkel am Ende als Siegerin des Wahlkampfes hervorging. Ausgehend von diesen beiden Narrativen konnte ich durch die Illustration der Narrativanalyse zwei zentrale Erkenntnisse über den Bundestagswahlkampf 2013 und die beiden Kandidat*innen gewinnen. Erstens bestätigte sich in diesem Wahlkampf die bereits etablierte These der steigenden Personalisierung von Wahlkämpfen und wurde in erzählerischer Hinsicht sogar auf die Spitze getrieben. Unter den Top 30 Hashtags im Bundestagswahlkampf 2013 liegen die Namen Merkel und Steinbrück, hinter dem rahmenden #btw13, auf den Plätzen zwei und drei. Auch #mutti findet sich auf Platz zehn unter den meist genutzten Hashtags (Thimm et. al. 2014). Personen übertrumpfen Parteien und stechen sie aufmerksamkeitsökonomisch aus. Dies zeigte sich in diesem Wahlkampf noch einmal in besonderer Weise. Vor allem an der häufigen Verwendung von #mutti lässt sich ablesen, wie sehr die Kanzlerin das Sprechen im Wahlkampf erzählerisch überstrahlte Mehr Merkel war nie. […] Dieser Wahlkampf ist seltsam. Diesmal kommt die Wahl ohne Kampf aus. Ohne Spannung, ohne echte Kontroversen, ohne ernst genommenen Herausforderer. Stattdessen nur: Merkel. Dabei läuft die Merkel-Maschine erst ab dieser Woche auf vollen Touren: Neue Großflächen-Plakate zeigen großflächig Merkels Gesicht. Der 80 Sekunden lange Fernsehspot zeigt 80 Sekunden lang Merkel. Online wird nicht www.cdu.de, sondern www.angela-merkel.de beworben (Alexander 25.08.2013).
Die CDU hatte diese Personalisierung aktiv befeuert und den Wahlkampf strategisch auf die Kanzlerin ausgelegt. Erzählt wurde von und über Angela Merkel. Die Partei als komplexes, polyphones Gebilde, als multidimensionale Figur, trat hinter der Kanzlerin beinahe gänzlich zurück. Unerheblich scheint, ob Merkel im alltäglichen Verhandlungs- und Entscheidungsmodus der politischen Praxis in die erzählte Rolle der „Mutti“ passt, oder ob sie viel eher als „knallharte“ Politikerin agierte. Dieser Abgleich fand im Wahlkampfdiskurs beinahe nicht statt. Merkel war „Mutti“ und die Kommunikation der CDU war zur Gänze auf diese Konfiguration bezogen. Da alle Parteien sich in ein Verhältnis zu „Mutti“ stellten, ist anzunehmen, dass „Mutti“ Merkel als fixer Orientierungspunkt imaginiert wurde. Der Wahlkampf war also nicht nur vonseiten der CDU ein „Mutti“-
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6 Fazit: Ergebnisse, Reflexion und Desiderate
Wahlkampf, sondern ist als Ganzes ungemein deutlich auf das Narrativ der „Mutti“ bezogen. Dagegen wies Steinbrücks Klartext-Narrativ deutlich mehr Brüche auf. Zwischen dem Kandidaten und seiner Partei entstanden Dissonanzen, die dazu führten, dass beide als unterschiedliche Figuren in der Erzählung wahrgenommen wurden. Während sich die CDU bruchlos zu „Mutti“ verhalten konnte, ließ der „Klartext“ das Verhältnis zwischen Kandidaten und Partei offen. Diese Unklarheit war kommunikativ spürbar und fand ihren Ausdruck in der von Steinbrück selbst gewählten Metapher der „Beinfreiheit“. Spätestens durch das offensive Einfordern seiner Klartext-Strategie büßte die Kampagne Authentizitätspunkte ein. Steinbrück musste seinen Klartext immer aufs Neue herstellen, erklären und schließlich beweisen. Während „Mutti“ Merkel sich in ihrer von den Wähler*innen gelernte Rolle fallenlassen und in ihr sicher und frei agieren konnte, musste Steinbrück erst sprichwörtlich in seine Rolle reinwachsen. In der Illustration konnte ich zeigen, dass sich in Steinbrücks Narrativ eine auf die Spitze getriebene Personalisierung spiegelt. Steinbrück selbst musste die Alternative zu Merkel verkörpern. Er musste mit seinen Performances den Gerechtigkeitswahlkampf der SPD verkörpern. Dabei spielte auch der politische Stil eine gewichtige Rolle, der erzählerisch zu einem Gegner Steinbrücks erwachsen konnte. In der Figur des „Pannen-Peer“ konterkarierten die erzählerischen Deutungsversuche die Intention des „Klartexts“. Angesichts dieser erzählerischen Dynamik lässt sich von einem gewichtigen strategischen Nachteil sprechen, der in einem stark personalisierten Wahlkampf ein wichtiger Faktor für die Diskurshoheit war. Denn sofern die SPD Hoffnungen in die Klartext-Erzählung als Strategie gelegt hat, kann dies auf eine folgenschwere Fehleinschätzung der narrativen Wirkung hinweisen. Ob und inwieweit die Narrative also absichtsvoll erzählt wurden oder ob auch die politischen Akteure hier nur auf bestehende Deutungseinheiten zurückgriffen, müssen andere Studien zeigen. Dazu müssten die handelnden Personen befragt werden. Zweitens sind aus narrativer Perspektive Identitätsangebote von entscheidender Bedeutung, um die Wähler*innen in die eigenen Narrative einzubinden. Nimmt man das Wahlergebnis als Maßstab für den „Erfolg“ einer narrativen Konfiguration, so setzte sich 2013 schließlich die Erzählung „Unter Mutti wird schon alles gut“ durch. Dass sich im Sommer 2019 jedoch noch immer alternative Konfigurationen des Geschehens finden lassen, deutet darauf hin, dass die zugrunde liegende Kausalitätsannahme zu kurz greift. Für Wahlentscheidungen spielen immer auch andere Faktoren eine Rolle. Sie erschöpfen sich nicht in der erzählerischen Kraft bestimmter Leitmetaphern. Die Identitätsangebote beider Narrative sind in sich wiederum komplex. Während der „Klartexter“ antritt, um eine „bessere Politik“ zu gestalten und sich
6.4 Neue Narrativanalysen
227
somit auf normative Kriterien beruft, orientiert sich die Erzählung der „Mutti“ Merkel an den Notwendigkeiten einer Politik, die sich in erster Linie als Entscheidungshandeln definiert. Interessant ist, dass sich das normative Fundament des Steinbrück-Narrativs sehr stark auf rationale Argumentationen verlässt und die emotionale Ansprache beinahe komplett vernachlässigt. Identifikation ist so nur schwer herzustellen, da die „klare Kante“ hier in hell und dunkel, richtig und falsch, gerecht und ungerecht teilt und die Wähler*innen ob dieser Resolutheit verschreckt. Sie sind stets gefordert, sich zu einer politischen Position zu verhalten, und sehen sich in ihrer Urteilsfähigkeit kritisiert, sofern sie abweichende Haltungen vertreten. In der Mutti-Erzählung stellt sich diese Situation anders dar. Hier konnten die Wähler*innen ihre Indifferenz zu einzelnen Themen sorgenfrei an die Entscheidungsgewalt der Kanzlerin delegieren, ohne dabei kritisch beäugt zu werden. Dort, wo „Mutti“ sich kümmert, stellt sich die Frage nach dem eigenen Handeln weniger. Die Kritik an Merkels „prinzipienlosen, wenig entscheidungsfreudigen Politikstil“ (Kister 23.05.2012) greift erzählerisch also ins Leere, da der Entscheidung an sich keine gesonderte Bedeutung zugemessen wird. Gerade durch die Ambivalenz der Sinnzuschreibungen zur Mutti-Metapher fielen auch die Gegner Merkels immer wieder in die Erzählung zurück. Der Kern der Erzählung in Form der Leitmetapher wuchs somit um weitere Bedeutungsschichten. Intuitiv ist die Betonung eines alternativen Bezugsrahmens die erfolgversprechendste Strategie, um die Deutungshoheit über ein Narrativ zu erlangen. Doch zeigt sich gerade anhand der „Mutti“, wie schwierig es ist, bestimmte Leitmetaphern abweichend zu besetzen. Die Probleme wachsen vor allem dann, wenn sich die durch den etablierten Bezugsrahmen evozierten Bedeutungssysteme mit der Erfahrungswelt der Rezipienten decken. In solchen Fällen können Versuche der Gegenerzählung zu einer Stabilisierung der eigentlich attackierten Narrative führen. 6.4 Neue Narrativanalysen Um die Erfolgschancen von politischen Narrativen im Wahlkampf oder darüber hinaus zu antizipieren, müsste die Forschung in zweierlei Hinsicht vertieft werden. Erstens bedarf es eines noch tieferen und detaillierteren theoretischen Verständnisses der Dynamiken und Muster narrativer Diskurse. Diese müssen durch weitere empirische Studien eine theoretische Sättigung erfahren. Zweitens benötigen wir weitere Einsicht in die Verbreitungslogiken von Sprache. Wie kommt es, dass sich gewisse Sprachformen, -strategien und -eigenheiten erfolgreich „vermehren“, weitergetragen werden und so wiederum neue Strukturen ausbil-
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6 Fazit: Ergebnisse, Reflexion und Desiderate
den? Um diese Frage zu beantworten, ist ein erneuter Blick über die Fachgrenzen hinweg sicherlich hilfreich. So gibt es bereits Forschungsrichtungen, die sich mit den Logiken der Verbreitung befassen, allen voran die Verkehrsforscher, Geologen oder Virologen und Epidemiologen. Vor allem letztere Gruppe kann möglicherweise Ideen für bestehende Verbreitungslogiken liefern, deren Anwendbarkeit auf Erzählungen und deren Wanderung durch den Diskurs getestet werden könnte. Schließlich verhalten sich Narrative ganz ähnlich den Viren: Ein einzelner Impuls reicht nicht zwingend zur Verbreitung aus. Dafür braucht es vielmehr gewisse Dispositionen, die es näher zu beleuchtet gilt. Sind es bei Viren beispielsweise Faktoren wie Temperatur und Luftfeuchtigkeit, so könnten für Erzählungen die Werte für die Häufigkeit, Innovationskraft oder auch die Macht der Erzählstimme ermittelt werden. Die Hoffnung besteht, dass auch in Zukunft Analysen politischer Narrative auf die Suche nach Deutungsschemata in der politischen Sprache gehen. Auch heute gibt es Figuren im Diskurs, die Gegenstand von Deutungskämpfen sind und die lohnenswerte Untersuchungen vermuten lassen. Zum einen könnten andere Akteur*innen auf ihre narrative Verhandlung hin untersucht werden. Heute – zum Zeitpunkt der Finalisierung dieser Arbeit im Sommer 2019 – würde sich beispielsweise Robert Habeck anbieten, der als neue Retter-Figur erzählt wird. Natürlich wäre auch die moderne „Jeanne D’Arc“ Greta Thunberg ein überaus interessanter Fall. Auch der YouTuber Rezo würde als Verkörperung einer sich wandelnden Mediennutzung spannende Erkenntnisse bereithalten. In allen Fällen könnte die Narrativanalyse Erkenntnisse über den gegenwärtigen Zeitgeist und seine Politisierung bereithalten. Zum anderen gibt es gegenwärtig eine Reihe anthropomorpher Diskursfiguren, deren Analyse hinsichtlich ihrer erzählerischen Rolle sich ebenfalls aufdrängt. So erfährt die „Soziale Schere” im Rahmen der Debatte um die Wiedereinführung der Vermögenssteuer eine Renaissance der Aufmerksamkeit. Auch der „Mietendeckel”, den die rot-rot-grüne Senatsverwaltung in Berlin diskutiert, ist Gegenstand hochgradig konfliktiver Auseinandersetzungen. Gleiches gilt für das Feld der Mobilitätspolitik, in welchem der SUV als Feindbild progressiver Urbanitätserzählungen konzipiert wird und das Fahrrad beinahe in den Rang einer Erlöserfigur erhoben wird. Die Art und Weise, wie hier Wertungen in den Diskurs eingespeist werden, darüber könnte eine Analyse politischer Narrative viel erzählen. Für zukünftige Analysen bietet es sich in jedem Fall an, kleinere Analyseeinheiten zu wählen. Durch die Konzentration auf eine Figur und/oder eine Metapher ließe sich die Analyse noch exakter durchführen.
6.5 Erfolgreiche Narrative? Zur Strategiefähigkeit des Erzählens
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6.5 Erfolgreiche Narrative? Zur Strategiefähigkeit des Erzählens Eine Frage, die im Zuge der Beschäftigung mit dem Narrativ-Begriff immer wieder aufgeworfen wird ist diejenige nach der Strategiefähigkeit von Erzählungen. Wie lassen sie sich gewinnbringend einsetzen? Wie kann durch eine kluge Verwendung narrativer Techniken die Erfolgschancen der Akteur*innen gesteigert werden? Auf diese Fragen habe ich in dieser Arbeit bewusst keine Antworten gesucht. Dennoch ergeben sich aus den theoretischen Überlegungen wie auch aus der Illustration der Narrativanalyse Anhaltspunkte über die Strategiefähigkeit von Erzählungen. Was sich als vorsichtige Antwort formulieren lässt: Narrative sind dann besonders anschlussfähig, wenn Metaphern, Rollen und die Konfigurationen in einem größtmöglichen Einklang sind, wenn sie schlüssig, konsequent und konsistent erzählt werden und Möglichkeiten zur Identifikation bieten. Gleichzeitig benötigen erfolgreiche Narrative stets ein größtmögliches Maß an Kontextsensitivität und Wissen über die Diskurssituation. Was bedeutet das konkret? Drei Faktoren lassen sich identifizieren und anhand der Illustration belegen: Erstens müssen die Leitmetaphern organisch sein, also in bereits gelernten semantischen Feldern angelegt werden. Das bedeutet nicht, dass innovative, also gänzlich neue Metaphern sich nicht in den Diskurs einspeisen lassen. Allerdings dürfen die Bezugsrahmen dieser neuen Metaphern nicht auf unbekannte oder wenig intuitive Bedeutungen verweisen. Gleichzeitig müssen die Metaphern ein ausgewogenes Verhältnis an rationalen und emotionalen Identifikationsangeboten bereithalten. Reine Emotion sieht sich stets dem Vorwurf der Inhaltsleere ausgesetzt, während reine Vernunft technokratische und menschenferne Sinneinheiten zur Verfügung stellt. Zweitens ist die Konfiguration von Rollen überaus komplex. Den Figuren der Erzählungen müssen eine möglichst exakte Positionierung auf dem Kontinuum zwischen polyvalenten und konkreten Rollen zugewiesen werden. Diese Positionierung wiederum hängt eng mit der aktiven Leitmetaphorik zusammen. Während für den einen Zusammenhang besonders ambivalente Figuren gefragt sind, die ein größtmögliches Maß an Indifferenz mitbringen und somit vielen verschiedenen Positionen eine Heimat bieten, sind es an anderer Stelle klar definierte Heldenfiguren, die „mit festem Stand“ und einem „klaren moralischen Kompass“ eine spezifische Haltung verkörpern. Während dort dem Vorwurf der Beliebigkeit begegnet werden muss, sehen sich hier die Helden oftmals dem Angriff moralisierenden Handelns ausgesetzt. Drittens müssen die durch die Konfiguration des Geschehens eingepflegten Wertungen die Bezugsrahmen der Leitmetaphorik aufgreifen und die Rollen-
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6 Fazit: Ergebnisse, Reflexion und Desiderate
konfiguration berücksichtigen. Dabei ist es entscheidend, alle Aspekte des konfigurierten und vor allem des nicht konfigurierten Geschehens in Betracht zu ziehen. Bewusste Aussparungen wichtiger Aspekte einer Erzählung werden meist schnell entdeckt und können dann gegen die intendierte Wirkung ins Feld geführt werden. Gleichzeitig braucht es ein gewisses Maß an Komplexitätsreduktion, die sich nur durch das Weglassen bestimmter Ereignisse bewerkstelligen lässt. Auch hier sind die Bezüge zur Metaphorik und zu den erzählten Figuren stets mitzudenken. Was für Sprache im Allgemeinen gilt, gilt also auch für Narrative: Sie sind strategiefähig, jedoch unterliegt der Erfolg dieser Strategie nicht einer rationalen Kalkulation sondern ist vielmehr in hohem Maße kontingenzanfällig. Der Umgang mit Narrativen lehrt eine neue Kontextsensibilität für unser Sprechen über Politik. Für die Zukunft kann also in der Tat gelten: Politische Kommunikation heißt Erzählen.
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