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German Pages 470 [472] Year 2011
Frühe Neuzeit Band 136
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Erzählen und Episteme Literatur im 16. Jahrhundert
Herausgegeben von Beate Kellner, Jan-Dirk Müller und Peter Strohschneider unter Mitarbeit von Tobias Bulang und Michael Waltenberger
De Gruyter
ISBN 978-3-484-36636-7 e-ISBN 978-3-484-97088-5 ISSN 0934-5531 %LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen 1DWLRQDOELEOLRJUD¿HGHWDLOOLHUWHELEOLRJUD¿VFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHWEHU http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/ New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
Einleitung der Herausgeber: Erzählen und Episteme . . . . . . . . . . . . .
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Rainer Warning Konterdiskursivität bei Rabelais . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Tobias Bulang Zur poetischen Funktionalisierung hermetischen Wissens in Fischarts Geschichtklitterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
Michael Schilling Skeptizistische Amplifikation des Erzählens Fischarts Antworten auf die epistemische Expansion der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marina Münkler Semantische Kohärenz, narrative Inkohärenz? Zum Problem der narrativen Strukturen und der Erzählformen in der Historia von D. Johann Fausten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
Udo Friedrich Providenz – Kontingenz – Erfahrung Der Fortunatus im Spannungsfeld von Episteme und Schicksal in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Julia Richter Genealogie und sozialer Aufstieg in Georg Wickrams Goldtfaden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Armin Schulz Negative Kohärenz Narrative Inversionen im Fincken Ritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
VI
Inhalt
Gerd Dicke Morus und Moros – Utopia und Lalebuch Episteme auf dem Prüfstand lalischer Logik . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Caroline Emmelius History, Narration, Lalespil Erzählen von Weisheit und Narrheit im Lalebuch. . . . . . . . . . . . . 225 Klaus Grubmüller Das Böse ohne Balance? Boccaccio-Rezeption in den Schwankbüchern . . . . . . . . . . . . . . . 255 Alexander Lasch Überlegungen zur ›Logik‹ der Sammlung und zur Relationierung von Einzeltexten in Jakob Freys Gartengesellschaft (1557) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Werner Röcke Die Zerdehnung der Pointe Inszenierte Mündlichkeit und sozialer common sense in Jakob Freys Gartengesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Michael Waltenberger Geltendes im Nichtigen Beobachtungen zur Autorisierung ›niederen‹ Erzählens in der Gartengesellschaft (1557), in Maeynhincklers Sack (1612) und im Roldmarsch Kasten (1608) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Laura Auteri Wissensvermittlung und Erkenntnisleistung in Georg Rollenhagens Froschmeuseler (1595) . . . . . . . . . . . . . . 329 Thomas Schauerte Heraldische Fiktion als genealogisches Argument Anmerkungen zur Wiener Neustädter Wappenwand Friedrichs III. und zu ihrer Nachwirkung bei Maximilian . . . . . . . 345 Julia Zimmermann Die Pfauensymbolik in der Fürstlichen Chronik Jakob Mennels (1518) und ihre Bedeutung für die historisch-genealogischen Konstruktionen Maximilians I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
Inhalt
VII
Jürgen Müller Ein anderer Laokoon Die Geburt ästhetischer Subversion aus dem Geist der Reformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
Einleitung der Herausgeber
Erzählen und Episteme
I. In der germanistischen Forschung ist nach wie vor eine Vernachlässigung des 16. Jahrhunderts unverkennbar. Dies mag eine Folge der immer noch gültigen opinio communis sein, das Deutsche habe erst im Zeitalter des Barock, angestoßen vor allem durch Martin Opitz, Anschluss an die europäischen Literaturentwicklungen gefunden. Die breite Forschung zu Humanismus- und Renaissancepoetik bezieht demgemäß kaum jene Texttypen und -traditionen ein, die sich am Rande elaborierter poetologischer Konzepte in der deutschen Volkssprache entwickelten. So ist die Literatur des 16. Jahrhunderts, die an der Schwelle zur neuen Poetik des Barock steht, trotz wichtiger Vorstöße in der rezenten Forschung1 in ihrer kulturellen und poetischen Bedeutung noch immer bei weitem zu unscharf bestimmt. In den gängigen Periodisierungen der deutschen Literaturgeschichtsschreibung erscheint das 16. Jahrhundert meist als bloße ›Zwischenzeit‹, die allenfalls im Blick auf vorausliegende oder nachfolgende literarische Entwicklungen von Interesse sein mag. Demgegenüber zielen die hier vorgelegten Studien nicht auf eine Perspektivierung der Literatur des 16. Jahrhunderts in groß angelegten, teleologisch bestimmten geschichtlichen Linien. Vielmehr fragen sie gewissermaßen mikroanalytischer nach synchronen Zusammenhängen und interdiskursiven Konstellationen. Sie untersuchen, wie die Erzählliteratur im 16. Jahrhundert als einer Zeit tief greifender gesellschaftlicher, religiöser und medialer Umbrüche in die Prozesse der Pluralisierung von Wissensbeständen und epistemischen Ordnungen verstrickt ist.2 Zentrale Problemzusammenhänge für die deutsche Literatur dieses Zeitraums sind zweifellos die religiösen Veränderungen durch Kirchenkritik, Reformation und Konfessionalisierung. Die Spannungen zwischen den neuen und alten Medien, die teils gefeierte, teils beklagte ›Bücherflut‹, die bisher nicht gekannten, durch den Buchdruck geförderten Möglichkeiten der Expansion und Akkumulation von Wissen, aber auch dessen verwirrende Unübersichtlichkeit verlangen neue Formen und Strategien des Sammelns, Beobachtens, Ordnens, Registrierens und Beschreibens. Die Auseinandersetzungen mit den 1 2
Eine Zusammenfassung bieten: Röcke/Münkler 2004. Vgl. dazu besonders die Publikationen des Münchner SFB »Pluralisierung und Autorität«.
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Erzählen und Episteme
Wissens-, Erziehungs- und Bildungsinhalten der studia humanitatis strahlen weit über die Grenzen der gelehrten Poetik und Rhetorik auf die Literaturen der Volkssprachen aus. Auch die Veränderungen adligen und bürgerlichen Selbstverständnisses, die neuen Entwürfe von Gemeinschaft, die Diskurse über Herrschaft und Macht, Haus, Familie und Ehe manifestieren sich in den zeitgenössischen Texten. Nicht weniger werden die bahnbrechenden Erfindungen und Entdeckungen, die tief greifenden ökonomischen Umwälzungen, Frühkapitalismus, Geldvermehrung, aber auch neue Bewertungen von Zins, Wucher und Monopol im 16. Jahrhundert narrativ reflektiert. Damit verbundene Erfahrungen historischer Disparität, Alterität und Kontingenz können durch die Rufe ad fontes und die mit der epochalen Signatur des renasci unternommenen Rückversicherungen bei den ›alten‹ Autoritäten letztlich nicht mehr bewältigt werden. Die Pluralisierung von Weltbildern, von Erkenntnisweisen und -zielen, von Handlungsnormen und Handlungsoptionen sowie die beginnende Verselbständigung gesellschaftlicher Teilsysteme führen zu wachsenden Spannungen zwischen Bindung an und Distanzierung von Traditionen. Obgleich Herrschaft, Macht und Wissen nach wie vor durch hohes Alter und vornehme Abkunft autorisiert werden können, wird eine allein traditionale Legitimierung zunehmend prekär. Ambivalenzen in den Begründungsstrukturen epistemischer und religiöser, soziokultureller und ästhetischer Ansprüche treten daher im 16. Jahrhundert ubiquitär auf. Sie lassen sich als Effekt frühneuzeitlicher Pluralisierungsprozesse, als Ausdruck des Schwindens metaphysischer Sicherheiten und eines homogenen Welt- und Menschenbildes verstehen. Während die Geistesgeschichte dies als Überwindung mittelalterlicher Traditionalismen gefeiert hat, vor deren Hintergrund der ›Aufbruch‹ in die Neuzeit und die ›Entfaltung‹ des Individuums überhaupt erst möglich gewesen seien, beziehen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes ohne geschichtsphilosophisches Telos und Pathos – mikroskopisch – auf Prozesse des Wandels von sozialen Strukturen, institutionellen Ordnungen und Dispositiven des Wissens sowie auf deren literarische Verarbeitung. Die Frage nach der kulturellen und poetischen Signifikanz der volkssprachlichen Erzählkunst des 16. Jahrhunderts zielt auf die Relationen, die diese Narrationen zu den genannten Zusammenhängen entfalten. Hier werden die erzählerischen Verfahren der Darstellung von Wissen untersucht, die Formen seiner literarischen Inszenierung fokussiert und wird auf der anderen Seite gezeigt, wie das Wissen die Literatur konstituiert. Diese erscheint solcherart zugleich als Gegenstand und Funktionselement von Wissen.3 Literatur reproduziert und produziert Wissen auf spezifisch poetische Weise. 3
Vgl. zu den verschiedenen Ansätzen von Epistemologie, Wissens-, Wissenschaftsgeschichte und Poetologie des Wissens: Pethes 2003, S. 181–231.
Einleitung der Herausgeber
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Es versteht sich, dass damit nicht nur literarische und poetologische Gegenüberstellungen zwischen Volkssprache und Latinität, mündlicher Überlieferung und schriftlichem Archiv gemeint sind. Verschiedene Diskurse und Erzähltraditionen werden gemeinsam in den Blick genommen, um so ein differenziertes Spektrum der narrativen Formen, ihrer Bedingungen und Leistungen in einem Zeitraum nachzuzeichnen, in dem sich mediale und pragmatische Rahmenbedingungen volkssprachlichen Erzählens bereits gefestigter zeigen als zum Beispiel in der mittelalterlichen Hofkultur, während dieses andererseits noch kaum von expliziten poetologischen Reglements strukturiert wird. In Rekonstruktionen solcher synchronen epistemischen Konstellationen wird die historische Signatur frühneuzeitlicher deutscher Erzählliteratur präziser, nämlich von ihren diskursiven Möglichkeiten her, zu beschreiben sein als in vorwiegend diachronen, mehr oder weniger stark teleologisch bestimmten Perspektivierungen einzelner Autoren, Gattungen, Werke und ihrer literaturimmanenten Funktionsmechanismen. Die skizzierten Erkenntnisinteressen werden auf drei, immer wieder in ›dichten‹ Beschreibungen verknüpften Beobachtungsebenen verfolgt:
1. Erzählen: Textstrukturen Die Beiträge des vorliegenden Bandes untersuchen Spezifika vormoderner Erzähltexte und ihre textuellen Status in den Anfängen des Druckzeitalters. Sie fragen nach literarischen Verfahren und Inszenierungen und damit nach unterschiedlichen Symbolisierungsformen in der volkssprachlichen Literatur des 16. Jahrhunderts. Insofern möchten die Studien einen Beitrag leisten zur Erschließung vormoderner Ästhetik an der Schwelle zur Neuzeit. Analysen von Erzähltexten des 16. Jahrhunderts stoßen häufig auf Inkonsistenzen, Widersprüche und Überschüsse. Diese können Ausdruck des Medienwandels und Medienwechsels sein, aber auch Folgen von Pluralisierungstendenzen und -erfahrungen. Allzu häufig hat man derartige Inkohärenzen und Brüche als unbewältigtes Aufeinandertreffen heterogener Stoff-, Motiv- und Gattungsmuster oder als Symptome ungelöster Spannungen zwischen Altem und Neuem, Mittelalterlichem und Neuzeitlichem gedeutet. Solche Erklärungsmuster überspringen mitunter zu schnell die Strukturen und Semantiken der Texte selbst und übergehen Fragen nach narrativen Techniken und Strategien. Die folgenden Beiträge setzen demgegenüber bei der detaillierten Analyse der Narrationen an. Hier werden die Relationen von syntagmatischem und paradigmatischem Erzählen auf der Ebene von Einzeltexten und Textensembles beobachtet. Gefragt wird dabei auch nach der Vermittlung von Narrationen und metanarrativen Reflexionen, Allegoresen, Argumentationen, Kommentaren sowie nach dem Verhältnis von Narrationen und Unterbrechungen des Erzählfortschritts (wie Aufzählungen, Katalogen, Redens-
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Erzählen und Episteme
arten, Sprichwörtern, Exempeln). Ein weites Untersuchungsfeld stellen die Bezüge zwischen Narrationen und ihren Paratexten sowie zwischen Texten und deren Umsetzungen in Bildern oder Graphiken dar. Durch die Agglomeration von Heterogenem und Disparatem, durch die ›Verwilderung‹ konventioneller Strukturmuster des Erzählens stellen sich nicht selten Inkohärenzen ein, die zuweilen bis zur Auflösung textueller Ordnungen gehen. Narrative Strategien der Exposition, aber auch der Drosselung von Kontingenz können auf diese Tendenzen reagieren. Auf der Ebene der Semantik kann die Überblendung verschiedener Erzähltraditionen und Diskursformationen mitunter zu extremen Formen der Verdichtung und Komplexisierung führen. Dabei sind nicht nur Phänomene des Heterogenen und Disparaten zu beobachten, sondern auch neue Formen narrativer Kohärenzbildungen und neue Strategien der Motivierung auf den Mikro- wie den Makroebenen des Erzählten. Darum gilt es, den Wandel narrativer Techniken im 16. Jahrhundert zu erläutern. Zweifellos lassen sich die Spezifika volkssprachlichen Erzählens durch vergleichend angelegte komparatistische Studien, welche stets die Übergänge zwischen den Medien, Gattungen und Sprachen zu berücksichtigen hätten, weiter profilieren. Ausgehend von den narratologischen Untersuchungen richtet sich der Blick in den Beiträgen dieses Bandes immer wieder auch auf die pragmatischen Bindungen der Texte, ihre Ausrichtungen auf unterschiedliche Adressatenkreise, die Grade ihrer Situationsgebundenheit und die Hinweise auf Modi ihrer Rezeption.
2. Episteme: (Inter)diskursive Konstellationen In einer zweiten Hinsicht ist für die hier vorgelegten Studien leitend, in welchen Formen volkssprachliches Erzählen Funktionen der Produktion, Speicherung, Reproduktion, Bearbeitung und Transgression von Wissen übernimmt und welche Koppelungen zwischen Episteme und Narrativik dabei entstehen. Mit der Frage nach der Einbindung der Literatur ins kulturelle Archiv einer Zeit und nach ihren Funktionen im Verhältnis zu anderen Wissensspeichern werden zentrale Probleme des Verhältnisses von Literatur und Geschichte, von Literatur und Gesellschaft neu perspektiviert. Die alte Vorstellung vom literarischen Text als einem Vordergrund, welcher aus seinen historischen Hintergründen zu erklären sei, ist seit dem ›linguistic turn‹ der Geschichts- und Sozialwissenschaften immer fragwürdiger geworden, denn jene historischen Hintergründe sind ihrerseits überwiegend sprachlich vermittelt, sind jedenfalls für die historische Rekonstruktion vor allem ein Gewebe aus Texten, so dass sich zugleich auch das Problem der Differenz zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten stellt. Verfahren der von Foucault inspirierten Diskursanalyse, die in New Historicism und Kulturpoetik aufgegriffen wurden, fragen daher nach den Ver-
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netzungen, den Kontinuitäten, aber auch Diskontinuitäten von diskursiven Formationen. Es geht um Übersetzungsvorgänge zwischen den verschiedenen Diskursen, auch um Austauschprozesse zwischen Literatur und Historiographie, Literatur und Recht, Literatur und Theologie/Philosophie, Literatur und Medizin/Naturkunde, also um Transfers zwischen literarischen und anderen kulturellen Konfigurationen,4 zwischen Texten und Kontexten. Konzeptionell bedeutsam ist dabei zunächst, dass nicht apriorische Hierarchisierungen von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken vorgenommen werden, dass man nicht Texte etwa kausal aus anderen, als vorgängig betrachteten diskursiven und nicht-diskursiven Wissensformationen ableitet. Damit die beobachteten Korrelationen nicht beliebig werden, ist in diesem Zusammenhang zu erwägen, wie Texte ihre Kontexte bloßlegen, inwieweit sie ihre Kontexte produzieren und wie sie in ihrer Eigenart durch unterschiedliche Kontextualisierungen bestimmt sind. Die Studien des vorliegenden Bandes können hier auch von der inzwischen breiten und differenzierten Intertextualitätsdebatte profitieren. Im Sinne von Michel Foucault gilt als Diskurs eine Menge möglicher, vernünftiger und zulässiger Aussagen.5 Diese Menge ist ein Ergebnis von Verfahren der Verknappung und des Ausschlusses, die institutionell über Kontrolle und Zwang geregelt sein können. Die Fülle des Möglichen und Sagbaren wird im Diskurs mithin über verschiedene Weisen der Disziplinierung begrenzt. Demgegenüber ist es ein besonderes Vermögen der Kunst, jene Potentialität gerade auszuschöpfen und zur Sprache zu bringen, die den über Prozesse der Verknappung konstituierten Diskursen sozusagen zugrunde liegt. In Die Gesellschaft der Gesellschaft schreibt Niklas Luhmann dazu: »Was die Kunst erstrebt, könnte man als Reaktivierung ausgeschalteter Possibilitäten bezeichnen. […] Eben deshalb müssen die Normalverweisungen des täglichen Lebens, die Zwecke und Nützlichkeiten gebrochen werden, um die Aufmerksamkeit von diesen Ablenkungen abzulenken.«6 Kunst und Literatur vermögen im Sinne der Proliferation gegen die Verknappung der Diskurse, gegen die Anforderungen des Geltenden den Möglichkeitsreichtum des Imaginären zur Sprache zu bringen. Gegen den »Wirklichkeitssinn«, der waltet, wo immer wir uns im Rahmen geltender Diskurse bewegen und artikulieren, kann sich in der Literatur, mit Robert Musil zu sprechen, der »Möglichkeitssinn« zur Geltung bringen.7 Literarische Texte sind demnach entlastet von unmittelbaren referentiellen Funk 4 5 6
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Wir beziehen uns hier auf Foucault 1994. Vgl. Foucault 1991. Luhmann 1997, S. 352f. Vgl. Köhler 1997, S. 116f.: »Souverän faßt sie [die Dichtung] zerstreutes Mögliches zusammen, wählt aus, konzentriert es im selbstgewählten Zufall, realisiert in der Fiktion Möglichkeiten, die in der Wirklichkeit nicht aktualisiert werden, und die doch wesentliche Elemente dieser Wirklichkeit und der ihr innewohnenden Notwendigkeit sind«. Vgl. Kablitz 2003, S. 251–273. Musil 1978, Bd. 1, S. 16–18.
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tionen, sie können ihre Bedeutung jenseits der Frage nach der Referentialität ihrer propositionalen Gehalte entfalten. Eben deshalb sind in (fiktionalen) literarischen Texten Aussagen möglich, die in anderen diskursiven Zusammenhängen vielleicht ausgeschlossen sind. Literarizität und Fiktionalität hängen also mit der Aufhebung von Restriktionen für Sagbarkeit und Unsagbarkeit zusammen. Ganz in diesem Sinne hat man vom Fingieren als einer »Ermöglichungsbedingung« von Rede gesprochen.8 Es gibt gewiss verschiedene Möglichkeiten, wie Literatur und Episteme, wie Literatur und disziplinäre Diskurse aufeinander bezogen sein können: Semantische Überschüssigkeit und Komplexität, Proliferation und Opazität, Transgression, Konterdiskursivität spielen dabei immer wieder eine besondere Rolle. Literatur, zum Beispiel weite Teile der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen didaktischen Dichtung, kann sich allerdings auch affirmativ zum Geltenden der disziplinären Diskurse verhalten. Die Relation von Erzählen und Episteme ist mithin von Fall zu Fall zu bestimmen. Literatur erscheint als hybrides Gebilde, welches konstitutive Elemente aus allen anderen Diskursen integrieren kann.9 Indem sie auf alles ausgreifen kann, was sonst in Spezialdiskursen verhandelt wird, bringt sie häufig das zum Wuchern, was dort diszipliniert ist. Ihre spezifischen Modalitäten der Rhetorizität, Figurativität, Symbolizität, Narrativität eröffnen Spielräume, Unsagbares sagbar zu machen in Formen potentiell unbegrenzter Semiosis. Im Blick auf das 16. Jahrhundert sind hier besonders die Interferenzen zwischen volkssprachlichen Texten und gelehrt lateinischem Wissen wichtig, wobei weniger die Adaptationen vereinzelter Wissenselemente interessieren als vielmehr die diskursiven Konstellationen, die sich in den Berührungen zwischen verschiedenen kulturellen Sphären abzeichnen: imitierende Annäherungen an gelehrte Diskurse ebenso wie gezielte Distanzierungen und Transgressionen, welche sich auf der Ebene der literarischen Texte nicht selten in der besonderen Ostentation des Körperlichen, des Komischen, Monströsen und Absurden manifestieren. Gefragt wird in den folgenden Beiträgen dabei auch, wie Wissen in literarischen Texten des 16. Jahrhunderts hierarchisiert wird, ob und wie es moralisch und didaktisch funktionalisiert wird, wie es – gewissermaßen topologisch – zwischen den Sphären von Heimlichkeit und Öffentlichkeit verteilt wird, wie es schließlich zwischen den Polen von Wahrheit, Narretei und Lüge bewertet wird. Wissenskonkurrenzen, Formen der Ausdifferenzierung und Vervielfältigung, der Selektion, Perspektivierung und Kombination des Wissens in der Literatur, mithin die Modi, in denen volkssprachliches Erzählen Wissen speichert und organisiert, werden stets vor dem Horizont des oben skizzierten Interesses an frühneuzeitlichen Phänomenen der Pluralisierung 8 9
Vgl. Iser 2004, S. 22. Vgl. etwa Küpper 2000, S. 187–215.
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untersucht. In den literarischen Entwürfen manifestieren sich die epochalen Veränderungen im Wissenshaushalt der frühneuzeitlichen Kultur – dies zeigt sich allenthalben – in anderen Formen als etwa in zeitgenössischen Traktaten oder Enzyklopädien.
3. Geltungsansprüche: Autorisierungsstrategien Das in fiktionalen Texten Präsentierte lässt sich nicht ohne weiteres mit dem in anderen Kontexten etwa des Rechts, der Theologie oder der Medizin sedimentierten Wissen verrechnen. Es beansprucht vielmehr eigene Geltung. Auf einer dritten Beobachtungsebene stellt sich daher die Frage nach der Autorisierung volkssprachlichen Erzählens. Hier lassen sich verschiedene Strategien der imitatio und aemulatio antiker und humanistischer poetischer Verfahren, doch auch Distanzierungen davon bis hin zu jenen paradoxen Autorisierungen des Nichtigen beobachten, wie sie sich in Formen des ›niederen‹ Erzählens finden. Um Autorisierungsstrategien der Literatur des 16. Jahrhunderts möglichst differenziert erfassen zu können, sind Sprach- und Stilniveaus der Texte ebenso in den Blick zu nehmen wie Argumentationsmuster innerhalb der Narrationen oder auch in Paratexten. Die Strategien der Selbstautorisierung volkssprachlichen Erzählens (und die sich dabei ausbildenden Binnendifferenzierungen) können historisch und systematisch nur adäquat eingeschätzt werden, wenn sie im Zeitalter einer entstehenden res publica litteraria in ihren zeitgenössischen lateinischen Kontexten rekonstruiert werden. Hinweise auf die Authentizität und Wahrheit des Erzählten, auf seine Nützlichkeit und Neuigkeit, auf die Möglichkeit des Zeitvertreibs durch Erzählen und auf dessen therapeutische Funktionen (wie die Heilung von Melancholie) zeichnen sich dabei als topisch ab. Signifikant sind in diesem Zusammenhang auch die jeweiligen (Um-)Akzentuierungen von Narrationen in Bearbeitungen, Nachahmungen und Fortsetzungen von Texten, welche auf Stabilisierungen oder Anpassungen von Geltungsansprüchen schließen lassen. Diese kommen immer wieder in thematischen und terminologischen Verschiebungen in Titeln, Vorreden und auktorialen Reflexionen zum Ausdruck. Welchen Status in die Erzählungen inserierte Exempla, Mythen, Sagen, Itinerare als Formen der Versicherung von Authentizität haben, ist von Fall zu Fall zu prüfen. An den Erzählstrukturen der Schwanksammlungen lassen sich jedenfalls Verlagerungen im dialektischen Verhältnis von Exemplarität und Exzeptionalität erkennen, die darauf hindeuten, dass der Anspruch auf Normenvermittlung nicht mehr die einzig dominante Legitimationsfigur für volkssprachliches Erzählen ist.
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Erzählen und Episteme
II. Im Einzelnen beziehen sich die literaturwissenschaftlichen Beiträge des vorliegenden Bandes auf Prosaromane, Schwänke und Schwanksammlungen, Tierdichtung und historiographische Entwürfe des 16. Jahrhunderts. Eine erste Gruppe von Untersuchungen ist François Rabelais’ Pentalogie (Rainer Warning) und der deutschen Adaptation ihres ersten Buches Gargantua in Johann Fischarts Geschichtklitterung gewidmet (Tobias Bulang, Michael Schilling). Über die Zusammenstellung der romanistischen und der germanistischen Beiträge zeichnen sich komparatistische Perspektiven ab, deren weitere Ausarbeitung für die Rabelais- und Fischartforschung überaus wünschenswert wäre. Die genannten Studien nähern sich den Texten Rabelais’ und Fischarts unter den beiden folgenden Perspektiven: Historisch-systematisch wird nach der Verschränkung der Pentalogie und der Geschichtklitterung mit zeitgenössischen Formen und Formationen des Wissens gefragt, und unter literaturwissenschaftlicher Problemstellung steht die spezifische Literarizität der Texte im Vordergrund. Gerade in den parodistischen Texten Rabelais’ und Fischarts wird das Verhältnis von Narration und Diskurs, so könnte man zuspitzen, programmatisch. Im Zeichen humanistischer eruditio bringt der gelehrte französische Autor eine Fülle von Diskursen in die Bücher von Gargantua, Pantagruel und Panurge ein: Erziehungs- und Bildungslehren, Grammatik, Rhetorik, Sprachphilosophie, Historiographie, Theologie, Jurisprudenz, Medizin, Naturkunde, Kosmographie, Anthropologie bestimmen den literarischen Text. In noch erheblich höherem Maße wird Fischarts Geschichtklitterung mit Wissen aus verschiedenen Bereichen überschüttet. Sowohl in den Büchern des französischen Romans wie vor allem auch in der deutschen Version kann die Handlung an jeder beliebigen Stelle unterbrochen werden durch Reihen und Kataloge von Autoritäten, Verweise auf Exempla und auf gelehrte Texte aller Art. Zugleich sind auch die literarischen Bezüge Legion: Literatur wird zum Archiv, das wie alle anderen Kontexte genutzt und ausgeschlachtet wird. Nur vor dem Hintergrund dieser besonderen intertextuellen Konstitution lässt sich die spezifische Literarizität der Pentalogie Rabelais’ und der Geschichtklitterung Fischarts verstehen. Gerade an dieser Literatur und ihren enzyklopädischen Dimensionen kann man zeigen, wie Literatur Wissen aufnimmt, sich produktiv aneignet und verwandelt. Es geht den Polyhistoren Fischart und Rabelais nicht um die pure Präsentation von Wissen, die Texte erklären sich nicht über die bloße positivistische Identifizierung der zitierten literarischen und gelehrten Kontexte. Entscheidend ist vielmehr – so akzentuieren die Beiträge dieses Bandes gegen eine positivistische Quellenkritik –, welchen Transformationen diese im fiktionalen Entwurf unterzogen werden.
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Rainer Warning untersucht die komischen Brechungen des Epistemischen bei Rabelais. Er setzt bei der für die Pentalogie charakteristischen Sprachen- und Redevielfalt an, die im Zeichen des humanistischen Bestrebens steht, die französische Sprache als illustris zu erweisen. Die lexikalische Proliferation mit ihren zahlreichen sprachlichen Neuschöpfungen sprengt die auf Transparenz und Verknappung ausgerichteten Wissensdiskurse. Im Sinne literarischer Konterdiskursivität arbeitet die Pentalogie mithin gegen die zitierten Diskurse wie auch gegen die zitierten literarischen Gattungen an. Am deutlichsten manifestiert sich die für Rabelais typische copia verborum in Listen und Reihungen, von denen die Narrationen durchzogen sind. Gegen die ältere Forschung, die derartige Phänomene zumeist marginalisierte, betrachtet Rainer Warning sie als »Kristallisationskerne Rabelais’schen Erzählens« (S. 25) und zeigt, welche Fülle von imaginären Bedeutungen hier freigesetzt wird. Die Funktionen des Komischen erörtert der Beitrag sodann im Rückgriff auf Plessners Anthropologie des Lachens. Wie Johann Fischart sich in seiner deutschen Übertragung des Gargantua auf zeitgenössische epistemische Formationen bezieht, erschließt Tobias Bulang am Beispiel des hermetischen Wissens. Er geht hier zum einen auf medizinische, alchemistische und emblematische Publikationen Fischarts ein, zum anderen auf die Transformationen des hermetischen Wissens in der Geschichtklitterung. Dabei kann er zeigen, wie die Fachpublizistik des deutschen Autors geradezu ein »Relais« (S. 44) zwischen den diskursiven Formationen und der Arbeit am literarischen Text darstellt. In diesem Horizont wird deutlich, dass das Spiel mit Segmenten hermetischen Wissens in der Geschichtklitterung Fischarts Interesse an der deutschen Sprache und ihren Ausdrucksmöglichkeiten dienstbar gemacht wird. Signifikant ist in diesem Zusammenhang auch, dass bereits Rabelais sich selbst auf den Titelblättern zu Pantagruel und Gargantua als abstracteur de quinte essence inszeniert hat.10 Selbst wenn man dies zunächst als Parodie auf zeitgenössische alchemistische Bemühungen lesen kann, die quinta essentia als reinste aller Substanzen durch Destillationsverfahren zu gewinnen, liegt es zugleich nahe, diese Selbstbezeichnung auf die angedeuteten vielfältigen Transformationsprozesse und Übersetzungsvorgänge zwischen der Literatur und dem gelehrten Wissen zu beziehen. Auch Fischarts Text konstituiert sich über das (Ver-)Mischen verschiedenster Wissensformen, Themen, Kontexte, Stoffe, Stile, Gattungen und Sprachen. Michael Schilling fragt in seinem Beitrag insbesondere danach, welche weltanschauliche Position hinter Fischarts Versuchen stehen könnte, die epistemische Expansion der Frühen Neuzeit zu reflektieren. Er geht dabei von der Vorstellung aus, bei der Geschichtklitterung handele es sich um eine »kritische Dekonstruktion der Wirklichkeit« (S. 70), und möchte diese 10
Rabelais 1995, S. 45 und S. 295.
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historisch präzisieren. Das besondere Kennzeichen von Fischarts Erzählen, jene Amplifikationen, in denen er Wissen unterschiedlicher Provenienz häuft, werden von Michael Schilling als Manifestationen einer fundamentalen Skepsis gelesen. Dieser These entsprechend wird Fischarts Skeptizismus Montaigne an die Seite gestellt. Insgesamt akzentuieren alle drei Untersuchungen zu Rabelais und Fischart, wie außerordentlich komplex und vielfältig die Verschränkungen von Erzählen und Episteme in der Pentalogie und in Fischarts Geschichtklitterung sind. Zu welchen Verknüpfungen zwischen literarischen Narrationen und Formationen des Wissens es in anderen frühneuzeitlichen Romanen kommt, untersuchen die Beiträge zum Faustbuch, zum Fortunatus und zum Fincken Ritter, zu Wickrams Goldtfaden sowie zum Lalebuch. Das Verhältnis dieser Prosaromane zum Wissen ist intrikat: Die zeitgenössische Benennung für die Gattung ist history. Historia ist im Mittelalter als Gegenbegriff zu scientia die Bezeichnung für das kaum übersehbare Feld verstreuter Tatsachen, das sich wissenschaftlicher Strukturierung, Theoretisierung und Gesetzeshypothesen sperrt. Historia vermittelt Singularienerkenntnis. Ein als historia bezeichneter Text enthält »jede Art von […] Tatsachenzusammenstellung, also ohne Beschränkung auf chronologisch zu ordnende Begebenheiten«.11 Der Bedeutungsumfang von historia ist infolgedessen viel weiter als im gegenwärtigen Sprachgebrauch.12 Im 16. Jahrhundert können alle Werke, die Singularienerkenntnis vermitteln, als historia bezeichnet werden. Der nach Gesetzen fragenden Naturwissenschaft geht die Naturgeschichte voraus, die sich in alle Arten von Historien (Historia animalium und ähnliches) gliedert. Noch Francis Bacon macht in seinem großen Programm einer Neufundierung der Naturerkenntnis die in ›Historien‹ versammelte Einzelerkenntnis zum Ausgangspunkt allen wissenschaftlichen Fortschritts. Etymologisch wird historia mit dem griechischen beziehungsweise lateinischen Verbstamm von ›sehen‹/ ›wissen‹ in Verbindung gebracht. Daraus ergibt sich die Folgerung, dass wahre Historien auf Augenzeugenschaft beruhen; historia wird damit Medium von Erfahrung (experientia, experimentum, erfarung). In diesem Sinne enthalten Historien besondere Formen des Wissens, und dies gilt auch für die ›schönen Historien‹, also die Prosaromane.13 Allerdings ist der Beitrag der ›schönen Historien‹ zur Episteme des 16. Jahrhunderts ein höchst unterschiedlicher: Zu einem Teil vermitteln sie konkrete Wissensbestände, etwa geographische Kenntnisse (Fortunatus, Faustbuch), zu einem Teil kosmologisches Traditionswissen (Faustbuch) oder hermetisches Wissen (Wagnerbuch); zu einem Teil problematisieren sie überkommenes Alltagswissen und überkommene Annahmen über die 11 12 13
Kambartel 1968, S. 63; vgl. S. 50–86. Knape 1984. Müller 1984, S. 252–271; ders. 1986, S. 307–342.
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gesellschaftliche Ordnung (zum Beispiel die Romane Jörg Wickrams), zu einem Teil vermitteln sie narrativ neue kognitive Einstellungen zur Welt (Fortunatus). Entsprechend vielfältig sind die Erzählformen, von der Schwankreihe über das Makroexempel bis zum Mehr-Generationen-Roman. Die hier versammelten Beiträge spiegeln diese Vielfalt und thematisieren unterschiedliche Facetten des Verhältnisses von Narration und Wissen. Udo Friedrich führt am Fortunatus vor, wie traditionelle Weltdeutungsmuster aufeinander kopiert werden, so dass sie in Spannung zueinander treten, wie sie in Auseinandersetzung mit einer zunehmend unübersichtlichen Welt scheitern und wie sie die Protagonisten zwingen, neue Weisen der Verarbeitung von Welt zu entwickeln. Einerseits ruft die history traditionelle Verlaufsmuster (Märchen, Rota Fortunae) und traditionelle Weltbilder (biblische Weisheitslehre, Philosophia moralis) auf, andererseits zersetzt sie diese durch radikale Kontingenzerfahrung und ein an erfolgreicher Bewältigung unerwarteter Situationen orientiertes Handeln. Der Fortunatus verabschiedet das »Märchen mit den Mitteln des Märchens« (S. 139) und diskutiert hergebrachte moralische Normen unter den Bedingungen einer von Geld regierten Welt, die sich diesen Normen nicht mehr fügt. Die Narration vermittelt ›Wissen‹ weniger in der Form expliziter Lehren (soweit es dergleichen in der ersten Auflage noch gibt, verschwinden sie in den folgenden), sondern entwirft Modelle einer auf Erfahrung basierenden, flexiblen, Handlungschancen abwägenden, gesellschaftliche Strukturen berücksichtigenden Auseinandersetzung mit der Welt, erfolgreich in der Biographie des Titelhelden, erfolglos in der seiner Söhne. Friedrich zeigt damit, wie schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts der Roman zu einer Sonde der Erforschung gesellschaftlicher Erfahrung wird, die eben nicht abstrakt-diskursiv, sondern nur narrativ gefasst werden kann. Weniger radikal stellt Jörg Wickram traditionelle mittelalterliche Ordnungsrezepte auf den Prüfstand. Julia Richter führt vor, wie in seinem Goldtfaden genealogisches Denken samt seinen auratischen Implikationen allenthalben noch präsent ist, in der Anordnung der Geschichte aber Zug um Zug destruiert wird. Ohne dass dies zu einer prinzipiell-programmatischen Auseinandersetzung führte, wird gegen die hierarchische Ständeordnung ein Modell des Aufstiegs qua Tugend gesetzt, das sich einerseits auf das biblische Vorbild berufen kann, auf der anderen Seite aber an eine Folge glücklicher Zufälle geknüpft ist. In dieser Konstellation ist eine Signatur der Zeit zu greifen: einerseits der Rekurs auf die von Gott garantierte Wahrheit der heiligen Schrift, auf der anderen Seite das wachsende Bewusstsein der Kontingenz menschlicher Verhältnisse, die die vermeintlich feste Gesellschaftsordnung überspielt. Beides zusammen – die überzeitliche Schrift und die Erfahrung rapiden historischen Wandels – kennzeichnet das 16. Jahrhundert als Ausgangspunkt der Moderne.
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Diese Zwieschlächtigkeit charakterisiert auch die Lügengeschichte vom Finkenritter. Natürlich handelt es sich, wie die ältere Forschung hervorhob, um eine ziemlich schlichte Verkehrung trivialen Alltagswissens, wie es zu einem großen Teil in Sprichwörtern niedergelegt ist. Insofern parodiert der Finkenritter einen Diskurstypus, der seit Erasmus von Rotterdam als Gegengewicht zur gelehrten Tradition propagiert und insbesondere im Rahmen des protestantischen Spiritualismus (Sebastian Francks Sprichwortsammlung) als Inbegriff eines letztlich auf Gott zurückgehenden, menschliche Vernunft übersteigenden Wissens betrachtet wird. Armin Schulz zeigt aber nicht nur, welche rhetorischen Verfahren der Verfasser zur Ausfaltung seines Lügenkosmos verwendet: Die eigentliche Pointe ist, dass trotz aller Verkehrungen, die traditionell gültige Ordnungen aufzulösen scheinen, der kategoriale Rahmen des Weltwissens stabil bleibt, so dass auch dieser Roman den widerstrebigen Tendenzen zu Beginn der Frühen Neuzeit entspricht: alles aufzubrechen, ohne es aufzugeben. Das Faustbuch erzählt die Biographie des Erzzauberers am Leitfaden der falschen, veralteten oder einfach belanglosen Erkenntnisse, die ihm der Teufel vermittelt, um so die Sinnlosigkeit einer gottvergessenen curiositas zu belegen. Seit Milchsacks Analyse des Aufbaus stellt sich der Forschung freilich das Problem, inwieweit die drei Hauptteile des Romans integriert sind und ob die systematische Anordnung der history nicht ihre Kohärenz stört. Marina Münkler kann nun zeigen, wie gerade durch die scheinbar dysfunktionale Organisation des Textes der Zusammenhang einer scheiternden Biographie hergestellt wird (beispielsweise wird durch paradigmatische Reihung von Einzelepisoden der Verlust an Zeiterfahrung narrativ gestaltet). Die Semantik der curiositas bestimmt den Roman in all seinen Teilen und hält das disparate Material zusammen. Dieses Material vermittelt nur noch scheinbar Wissen: In Wirklichkeit ist es ein sinnlos angehäuftes, inkonsistentes Konglomerat von Einzelheiten – historia im schlechten Sinne –, das auf kein gemeinsames Zentrum mehr bezogen werden kann, nachdem sich der Magier von Gott abgewendet hat. Das Faustbuch klagt insofern die alte gottzentrierte Weisheit gegen die angeblich teuflischen, jedenfalls aber nichtigen Singularien der historia ein. Auf das Lalebuch bezogen sind die Beiträge von Caroline Emmelius und Gerd Dicke. Sie gehen von unterschiedlichen Voraussetzungen aus, stimmen aber in der Deutung des Symptomcharakters des Textes wieder überein. Das Lalebuch ist mit seinem Vorspann, der intertextuell auf Thomas Morus’ Utopia Bezug nimmt, ein Beispiel für die Interferenz volkssprachlicher und gelehrt lateinischer Diskurse. Die Lalen kehren sich bewusst von der Rolle des gelehrten Fürstenberaters ab, um in der ›kleinen‹ Welt von Haus, Familie und Gemeinde ihr Glück zu finden. Verabschiedet wird damit eine Position, die im 16. Jahrhundert zur Grundüberzeugung der humanistischen Intelligenz gehört: dass nämlich eine rationale Gestaltung von Staat
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und Gesellschaft unter der Führung einer neuen laikalen Intelligenz die verkommenen spätmittelalterlichen Verhältnisse reformieren müsse. Eine solche Position ist in Thomas Morus’ Utopia präsent, wenn auch – worauf Gerd Dicke verweist – dieser Text ein zweifelhafter Garant für das utopische Gemeinwesen ist: Einerseits stellt Hythlodäus, der Schwätzer, der von Utopia erzählt, schon eine Ironisierung dieser Position dar, die andererseits in der Person des späteren Lordkanzlers Thomas Morus eine letztlich unglückliche, doch für die Zeitgenossen suggestive Repräsentanz gefunden hat. Während Emmelius dem Erzähler glaubt, dass die Lalen sich bewusst von der Weisheit ab- und der Narrheit zuwenden, wobei aus dieser Abkehr die heillosen Ereignisse folgen, die letztendlich zu ihrem Untergang führen, bezweifelt Dicke schon, dass der vorige Zustand – die Lalen als Fürstenberater – einer der Weisheit war. Emmelius schildert also den Rückzug der Intelligenz von den Staatsgeschäften als Ursache der Katastrophe des Gemeinwesens, während für Dicke schon das öffentliche Wirken der Lalen selbst den Keim der Narrheit enthält. Dazu analysiert er die hanebüchene Logik, die zu dem Entschluss, sich dumm zu stellen, führt, während Emmelius stärker die zunehmende Verhedderung der Lalen in eine zur zweiten Natur gewordene Borniertheit darstellt. Entsprechend liegt einmal der Akzent stärker auf dem (V)exordium des Textes, das andere Mal auf den beiden Schwankreihen und ihrem problematischen Zusammenhang. Die Forschung wird zwischen den beiden Ansätzen zu entscheiden haben, doch arbeiten beide einen Grundwiderspruch am Ende des 16. Jahrhunderts heraus: dass nämlich der Aufbruch in eine rational zu ordnende Welt mit Opfern und Unglück verbunden ist (wobei nach Dicke dieser Aufbruch selbst schon zum Aberwitz gehört), während der Versuch einer Rückkehr in die Begrenztheit traditionaler Verhältnisse zur Selbstzerstörung führen muss. Damit reflektiert der Prosaroman eine Aporie des späten 16. Jahrhunderts. Der Aufschwung des Absolutismus im 17. und frühen 18. Jahrhundert lässt den Anspruch der Intelligenz auf rationale Gestaltung der Lebensverhältnisse hinter sich und reagiert insofern auf die Krise, deren Folge der Prosaroman diskutiert. Nicht nur in den epischen Großformen, sondern auch in der ›kurzweiligen‹ Kleinepik des 16. Jahrhunderts lassen sich Verarbeitungen neuer historischer Erfahrungen und widersprüchliche Versuche ihrer Auflösung beobachten. Dabei zeigt sich hier oft in noch stärkerem Maße die Reflexion des Neuen in enger Verflechtung mit Orientierungen an der Tradition, den überkommenen Autoritäten, den hergebrachten Lebensverhältnissen. Sie hat ihr Fundament in einer mündlichen Tradierung schwankhafter Erzählformen, deren Kontinuität vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit hinein angenommen werden darf. Dennoch zeichnet sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts eine deutliche Zäsur ab: In schneller Folge und in engem, auch paratextuell markiertem Bezug aufeinander erscheinen nun gedruckte Samm-
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lungen mit deutschen Prosaschwänken, die in erster Linie Predigtexempel, italienische Novellen und lateinische Fazetien adaptieren, nur selten aber und indirekt an die volkssprachliche Tradition des Versmære anschließen. Gerade bei diesen deutschen Prosaschwänken hat die eingangs erwähnte literarhistorische Periodisierung, die das 16. Jahrhundert zur entwicklungsschwachen ›Zwischenzeit‹ herabstuft, den Blick der Forschung besonders stark eingeschränkt: Soweit man sich solcher, wie es schien, offenkundig ästhetisch wie moralisch geringwertiger Literatur überhaupt näher zuwenden mochte, konnte man im Vergleich zu den Prätexten bei Boccaccio oder Poggio an ihr nur Unzulänglichkeiten erkennen und ihr mit der Aussicht auf die barocken Neuansätze kurzepischer Formen (Harsdörffer) wie auf die noch spätere Etablierung einer deutschen Novellistik auch kaum literargeschichtliche Relevanz beimessen. Erst im Zuge neuer sozialgeschichtlicher und kulturanthropologischer Ansätze rückten statt der Bestimmung transhistorischer Kontinuitäten und den Bemühungen um deskriptive Typologien die konkreten literarischen Bezüge und pragmatischen Funktionen der Texte deutlicher in den Vordergrund. Im Schwankerzählen werden dabei Reaktionen auf bestimmte soziale Konstellationen und Konflikte greifbar, insbesondere die Veränderung ständischer und familialer Beziehungen, Disziplinierungsdruck, Ökonomisierung und das Brüchigwerden religiöser Gewissheiten. Die einschlägigen Beiträge des vorliegenden Bandes knüpfen selbstverständlich an die Erkenntnisse der rezenten sozialgeschichtlichen Forschung an. Sie versuchen jedoch zugleich, die spezifischen narrativen Strategien der Texte nicht allein auf Gebrauch und Wirkung der Bücher in der gesellschaftlichen Praxis zu beziehen, sondern auch als diskursive Formen stärker zu beachten, in denen ein spezifisches, lebensweltlich relevantes Wissen bearbeitet und gespeichert wird. Der Vergleich mit fazeten und novellesken Prätexten ist folglich nicht motivgeschichtlich, sondern primär auf die synchrone diskursive Charakteristik der Texte ausgerichtet und unter diesem Vorzeichen auf neue Weise ertragreich.14 Eine einheitliche Bearbeitungstendenz zeigt sich dabei freilich nicht: Selektionsprinzipien und Adaptationsmuster unterscheiden sich von Sammlung zu Sammlung, ja hinsichtlich des gleichen Prätextes sogar zwischen den Sammlungen eines Autors, wie Klaus Grubmüller am Beispiel der beiden Schwankbücher des Martin Montanus zeigt. Werner Röcke macht darauf aufmerksam, wie im Fall von Jakob Freys Gartengesellschaft durch die Zerdehnung und ›Anreicherung‹ der Pointenstruktur fazeter Prätexte deren spielerische Offenheit zur narrativen Exposition einer tief greifenden diskursiven Geltungskonkurrenz ge 14
Besonders das Verhältnis der Schwänke zu ihren fazeten Prätexten ist in den letzten Jahren neu beleuchtet worden. Vgl. bes. Bachorski 2001, S. 318–335; Kipf 2005, S. 219–251; Strohschneider 2007, S. 438–468.
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schärft wird. Klaus Grubmüller beschreibt dagegen für einen anderen Fall – Montanus’ Fortsetzung der Gartengesellschaft –, wie zwar die plot-Struktur einer Boccaccio-Novelle fast unverändert übernommen wird, wie sich ihr Ambivalenz-Potential jedoch bei der Übertragung aus dem komplexen textinternen Diskussionszusammenhang des Decameron in die Schwanksammlung verflüchtigt. Im Fokus schwankhaft inszenierter Geltungskonflikte steht häufig die religiöse Praxis. Dabei fällt auf, dass in den zuerst erscheinenden Sammlungen solche Konflikte noch kaum durch Konfessionalität prädeterminiert sind. Sie verweisen auf fundamentalere Brüche und Verschiebungen in der frühneuzeitlichen Episteme: So zeigt sich etwa in manchen Schwankgeschichten Freys eine Entdramatisierung und Entauratisierung des Heilsgeschehens, die nicht einfach als destruktive Profanisierung abgetan werden kann. Vielmehr ist, Werner Röcke zufolge, die »Exklusion bislang selbstverständlicher Glaubensüberzeugungen« durch einen im Erzählen sich vergewissernden common sense selbst wiederum autorisiert (S. 300). Auch prekäre Überlagerungen von Religion und Ökonomie, Heilsorientierung und Gewinnstreben sind in den Sammlungen des 16. Jahrhunderts unter der Oberfläche motivischer und stofflicher Kontinuität signifikant neu akzentuiert: Die schwankhaft inszenierten Konflikte lassen sich nicht mehr ohne weiteres vor einem geltungssichernden Letzthorizont auf den Bereich der – sündhaften, gerechten, klugen, dummen – Figuren(typen) und ihrer jeweiligen Akte begrenzen, sondern führen auf die diskursiven Bedingungen ihrer Denkmöglichkeiten zurück. Alexander Lasch schildert an Texten aus Freys Sammlung, wie dies durch die Verschiebung der ambivalenten Kipp-Figur schwankhaften Erzählens auf die kulturelle und religiöse Grenze zum Anderen geschieht: So werden beispielsweise in der entlarvenden Beschreibung des christlichen Ritus durch einen eigentlich gutwilligen heidnischen Beobachter pointierend fundamentale diskursive Unabgestimmtheiten offengelegt. Der Beitrag von Michael Waltenberger zeigt an einer Reihe von Sammlungen bis hinein in die ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts, dass solche Momente später zurücktreten: Die Sammlungen vertreten zunehmend einen deutlich konfessionalistischen Standpunkt, der die Ambivalenzen des Schwankhaften reduziert, sich in satirischen und polemischen Zuspitzungen artikuliert und im Gegenzug die Lizenzen zur Darstellung des sexuell Transgressiven ausweitet. Die Optionen schwankhaften Erzählens, diskursive Geltungsansprüche zu unterlaufen und tiefer liegende Geltungskonflikte sichtbar zu machen, werden nun offenbar weniger intensiv genutzt. Der Sonderfall einer späten Adaptation des Buchtyps der Schwanksammlung als imaginäre Ausweichmöglichkeit vor einem ganz konkreten konfessionellen Entscheidungsdruck (der Roldmarsch Kasten von 1607) erweist immerhin, dass ein spezifischer diskursiver »Möglichkeitssinn« des Schwankerzählens
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weiterhin wahrgenommen werden kann: Er bezieht im Übrigen bereits in den ersten Sammlungen seinen Geltungsanspruch ähnlich wie im Prosaroman vor allem aus der ›Erfahrung‹ als einer Kategorie diesseits kontradiktorischer Differenzen zwischen Norm und Transgression, Ordnung und Kontingenz. Die vier den Band abschließenden Beiträge perspektivieren die Leitfrage nach dem Verhältnis von Erzählerischem und Epistemischem in nochmals gattungshistorisch geweiteten Horizonten und dann exemplarisch auch durch eine kunstgeschichtliche Fallstudie. Zunächst kommt mit dem Froschmeuseler auch die Tierepik ins Spiel: Laura Auteri zeigt in ihrem Beitrag, in welcher Dichte Fabeln und Mythen sowie Bibelzitate und Sprichwörter in diesen literarischen Text eingetragen sind. Der Text erscheint als »Sammelbecken der Wissensbegierde des 16. Jahrhunderts« (S. 340), in das Weisheit, durch Autoritäten verbürgtes Buchwissen und neue Erkenntnisse durch Erfahrung sowie empirische Forschung gleichermaßen eingehen. Gerade angesichts der Fülle der Lehren und lehrhaften Versatzstücke ist es schwierig, eine eindeutige didaktische Stoßrichtung des Tierepos auszumachen. Immer wieder ergeben sich Spannungen und Widersprüche zwischen den verschiedenen Lehren. Auffällig ist auch, dass die zitierten Wissenssegmente häufig unangemessen kontextualisiert werden. Laura Auteri vertritt nun die These, dass dies zu Verwirrung und Verwunderung bei Leserinnen und Lesern führe, wodurch deren Erkenntnisprozess in besonderem Maße in Gang komme. Zugleich stellt sie auch Überlegungen an, auf welche Rezipientenkreise der Autor Georg Rollenhagen mit seinem Tierepos zielt. Thomas Schauerte und Julia Zimmermann untersuchen sodann historiographische Konstruktionen und Fiktionen im Umfeld der Habsburgerkaiser Friedrich III. und Maximilian I. Im Fokus ihrer Überlegungen stehen genealogische Denkmuster und Wissensformen, welche in vormodernen Gesellschaften basale Modelle der Legitimierung von Macht und Herrschaft bieten. Gerade mit Blick auf die Universalität und ›longue durée‹ des Genealogischen einerseits und seine historisch je spezifischen Ausprägungen andererseits erscheint es viel versprechend, genealogische Entwürfe jener geschichtlichen Phasen zu betrachten, die wie das 15. und 16. Jahrhundert durch vielfältige Prozesse des gesellschaftlichen Wandels und der Umstrukturierung gekennzeichnet sind. Die Beiträge von Thomas Schauerte und Julia Zimmermann zeigen schlaglichtartig, wie sich die Methoden und Maßstäbe der Arbeit am Genealogischen im Umfeld des Habsburgerhofes zwischen Friedrich III. und Maximilian I. veränderten. Am Beispiel der Wiener Neustädter Wappenwand Friedrichs III. und ihrer Nachwirkung bei Maximilian erläutert Thomas Schauerte, wie heraldische Fiktionen als genealogische Argumente genutzt wurden. Er kann zeigen, dass die Wappensuite an der Ostwand der Wiener Neustädter Burg-
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kapelle, vermittelt über ein Wappenbuch Friedrichs III., auf Leopold Stainreuthers Österreichischer Chronik von den 95 Herrschaften beruht, mithin auf einem genealogischen Machwerk, an dem schon die Zeitgenossen größte Zweifel hegten. Bei genauerer Analyse erweisen sich die meisten der auf der Wappenwand repräsentierten Wappen daher als fiktiv. Dennoch sollte die in Stein gemeißelte Genealogie die besondere Stellung der habsburgischen Länder in monumentalisierter Form ›untermauern‹. In den Gedächtnisprojekten Kaiser Maximilians spielte genealogisches Denken eine besonders prominente Rolle. Dies zeigt sich zum einen in der Vielzahl und Komplexität der genealogischen Entwürfe, zum anderen aber auch in einem Diskurs über die Genealogien, in dem die verschiedenen Genealogien immer wieder kritisch hinterfragt und geprüft wurden. Julia Zimmermann geht in ihrem Beitrag auf die Fürstliche Chronik Jakob Mennels ein. Konkret untersucht sie, wie die Pfauensymbolik in diesem voluminösen Werk des Chefgenealogen am Kaiserhof eingesetzt wird, um die genealogische Gesamtkonstruktion zu stützen. Hier wird deutlich, dass Mennel gleichermaßen auf naturkundliche, mythologische, allegorische und heraldische Aspekte rekurriert, doch die verschiedenen Perspektiven auf den Pfau nicht immer abstimmt. Vielmehr trägt er »kaleidoskopartig« (S. 385) heterogenes Wissen zusammen, verknüpft es aber mit der genealogischen Argumentation und funktionalisiert es im Sinne seines Großentwurfs, mit dem die europäische Vormachtstellung der Habsburger erwiesen werden sollte. Eine kunsthistorische Studie, mit der die Untersuchungen zur frühneuzeitlichen Erzählliteratur und Historiographie in den ikonischen Bereich hinein perspektiviert werden, schließt den Band ab. Jürgen Müller beschreibt unter anderem an Graphiken und Gemälden Dürers, Vellerts und Bruegels, wie Geltungsansprüche einer an der Antike orientierten Ästhetik über Formen der Ironie und des Zitats im ikonischen Medium subvertiert werden und wie dabei zugleich neue ästhetische Normen entstehen. In Albrecht Dürer sieht Jürgen Müller den Erfinder des inversen Zitats als eines neuen ikonographischen Verfahrens, und er erläutert, wie die neu gefundene Ambivalenz im Medium des Bildes bei Vellert und Bruegel d. Ä. weiterentwickelt wird. Die hier versammelten Beiträge gehen auf drei Kolloquien zurück, die in den Jahren 2005 und 2007, am 22. und 23. 9. 2005 in Dresden, am 27. und 28. 10. 2005 in München und vom 11. bis 14. 4. 2007 in Dresden, durchgeführt wurden. Veranstaltet wurden sie von dem Teilprojekt X »Genealogie im ausgehenden Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit. Institutionelle Mechanismen der Legitimierung und Verstetigung von Macht« (Beate Kellner) des Sonderforschungsbereichs 537 »Institutionalität und Geschichtlichkeit« in Dresden, von den Teilprojekten B 4 »Poetica und
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Historica in frühneuzeitlichen Wissenskompilationen« (Jan-Dirk Müller) und B 6 »Autorität des Nichtigen: Wissensformen und Geltungsansprüche ›niederen‹ Erzählens im 15.–17. Jahrhundert« (Peter Strohschneider) des Münchener Sonderforschungsbereichs 573 »Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit (15.–18. Jahrhundert)« sowie von dem DFG-Projekt »Fischart im Kontext. Wissen in parodistischer Literatur des 16. Jahrhunderts« (Beate Kellner). Die Herausgeber des Bandes danken der DFG und den genannten Sonderforschungsbereichen für die großzügige Unterstützung der Tagungen und die Druckkostenzuschüsse. Dank gebührt nicht zuletzt auch Kristina Bieber und Katja Lichtenecker (Dresden), Kathrin Gollwitzer (Zürich) und Kathrin Lukaschek (München), die mit Engagement und großer Sorgfalt an der redaktionellen Einrichtung des Bandes mitgewirkt haben. Im September 2010 ist unser Kollege Armin Schulz nach schwerer Krankheit verstorben. Seine wissenschaftlichen Interessen und Leistungen waren, wie auch sein Beitrag in diesem Band zeigt, in besonderer Weise von Fragen nach dem Erzählen und der Episteme geprägt. Ihm sei dieses Buch gewidmet.
Bibliographie Quellen Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hrsg. von Adolf Frisé. 2 Bde. Neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978. Rabelais, François: Œuvres complètes. Édition établie, annotée et préfacée par Guy Demerson. 2., korrigierte Aufl. Paris: Seuil 1995.
Forschungsliteratur Bachorski, Hans-Jürgen: »Poggios Facetien und das Problem der Performativität des toten Witzes«, in: Zeitschrift für Germanistik 11 (2001), S. 318–335. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter, mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a. M.: Fischer 1991 [französisch zuerst 1972] (Fischer Wissenschaft 10083). – Archäologie des Wissens. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. 6. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994 [französisch zuerst 1969] (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 356). Iser, Wolfgang: »Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur«, in: Aleida Assmann/Ulrich Gaier/Gisela Trommsdorff (Hrsg.): Positionen der Kulturanthropologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 21–43 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1724). Kablitz, Andreas: »Kunst des Möglichen. Prolegomena zu einer Theorie der Fiktion«, in: Poetica 35 (2003), S. 251–273. Kambartel, Friedrich: Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968 (Theorie 2).
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Kipf, Johannes Klaus: »Zwischen Wiedererzählen und Übersetzung. Übertragungen frühneuhochdeutscher Schwänke in neulateinische Fazetien und umgekehrt im Vergleich«, in: Britta Bußmann/Albrecht Hausmann/Annelie Kreft (Hrsg.): Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/New York: de Gruyter 2005, S. 219–251 (Trends in Medieval Philology 5). Knape, Joachim: ›Historie‹ in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext. Baden-Baden: Koerner 1984 (Saecula Spiritalia 10). Köhler, Erich: Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit. Frankfurt a. M.: Fischer 1997 [zuerst 1973]. Küpper, Joachim: »Was ist Literatur?«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 45 (2000), S. 187–215. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1360). Müller, Jan-Dirk: »›Curiositas‹ und ›erfarung‹ der Welt im frühen deutschen Prosaroman«, in: Ludger Grenzmann/Karl Stackmann (Hrsg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Stuttgart: Metzler 1984 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 5), S. 252–271. – »›Erfarung‹ zwischen Heilssorge, Selbsterkenntnis und Entdeckung des Kosmos«, in: Daphnis 15 (1986), S. 307–342. Pethes, Nicolas: »Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 28 (2003) H. 1, S. 181–231. Röcke, Werner/Marina Münkler: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. München/Wien: Hanser 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1). Strohschneider, Peter: »Heilswunder und fauler Zauber. Repräsentationen religiöser Praxis in frühmodernen Schwankerzählungen«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 129 (2007), S. 438–468.
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Konterdiskursivität bei Rabelais
1. Offene Listen Rabelais schreibt im Zeichen renaissancehafter Vollrezeption von Antike und Mittelalter. In elementarer Form dokumentiert sich das in einer Sprachen- und Redevielfalt, die von Michail Bachtin eindringlich und gültig beschrieben wurde, zieht man alles ab, was mit dem Ideologem einer karnevalesken Volkskultur belastet ist.1 Übrig bleibt dann einerseits eine Sprachenvielfalt mit dem Griechischen, dem Hebräischen, dem antiken Latein, dem mittelalterlichen Latein samt seinen defizienten Modi, dem puristischen Humanistenlatein, sodann und vor allem mit den Volkssprachen wie dem Französischen, dem Italienischen, dem Deutschen, Spanischen und Englischen. Und neben dieser Sprachenvielfalt haben wir eine Redevielfalt, die auf der Grundopposition Latein/Volkssprache operiert und das Französische fokussiert mit einer Differenzierung in Soziolekte, Dialekte und Fachsprachen. Neben dieser Differenzierung haben wir die Einbeziehung von Randständigem (Bauernsprache) und hochsprachlich Tabuiertem (Drastik, Obszönitäten), dann auch die Hebung, die Reaktivierung veralteter, vom Verschwinden bedrohter Sprachformen, die oft nur schwer unterscheidbar sind von phantasievollen Neuschöpfungen. Diese Redevielfalt führt so zu dem wohl auffälligsten Merkmal Rabelais’scher Sprache: einer Proliferation, primär einer lexikalischen Proliferation, welche die Syntax häufig auf eine bloße Gerüst- und damit Ermöglichungsstruktur für Lexemkaskaden reduziert. Diese Proliferation ist genetisch nicht gebunden an spezifisch karnevaleske Freigaben und Lizenzen. Sie ist vielmehr Ausdruck eines humanistischen Bemühens um nationalsprachliche illustratio, die im größeren Kontext der translatio studii und translatio imperii zu sehen ist. Das Französische soll ›illustriert‹ werden, soll illustris werden – im Sinne jener Deffence et illustration de la langue française, wie sie Du Bellay im Namen der Pléiade fordert.2 Diese ›Illust 1
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Siehe hierzu die entsprechenden Ausführungen von Lachmann 1995, S. 28ff., wo sie das Verhältnis von Widerspiegelungsbeziehung zwischen literarischem Text und karnevalesker Praxis einerseits und das Verhältnis der Parallelität zweier Zeichensysteme andererseits vorstellt und diskutiert. Auf die Differenz zwischen Rabelais’ sprachlichen Exuberanzen und der von Du Bellay repräsentierten, schon sehr viel klassisch-restriktiver geprägten Pléiade brauche ich hier nicht einzugehen.
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ration‹ ist eine Arbeit an und mit dem Signifkanten beziehungsweise der Signifkantenebene. Proliferation bewirkt Opazität, Entfernung von Transparenz. Sie ist damit wesentlich konterdiskursiv, sofern den zitierten Wissensdiskursen von Haus aus an Transparenz der Zeichen und Verknappung der Aussagestruktur gelegen ist, um Kontrolle nach innen und Machtansprüche nach außen sicher zu stellen.3 Erscheinungen wie spezifisch karnevaleske Parodie oder Profanation sind sekundär gegenüber dieser primären Entmachtung durch Proliferation, die sich einer tendenziellen Selbstreferenzialität sprachlicher Phantasie verdankt. Mit diesem sprachlichen Imaginären überbietet Rabelais alles, was sich die Vertreter der Pléiade diesbezüglich einfallen ließen. Das hängt wesentlich zusammen mit dem Potenzial, das Rabelais aus seinen komischen Brechungen bezog, worauf die ›klassizistischere‹ Pléiade nicht rekurrierte. Als Beispiel nehme ich nur die bekannte Rede des maistre Janotus de Bragmardo zwecks Rückgabe der Glocken von Notre-Dame: Omnis clocha clochabilis, in clocherio clochando, clochans clochativo clochare facit clochabiliter clochantes. Parisius habet clochas. Ergo gluc.4
Das ist nicht einfach eine Satire auf degeneriertes Sorbonne-Latein, sondern eine gezielte Neuschöpfung mittels Mischung von Volkssprache und Latein: Der Stamm ist durchgängig volkssprachlich, die Endungen lateinisch. Rabelais macht die Figur zu einem Sprachkomödianten, der denn auch seine Bittrede mit einem Valete et plaudite ausklingen lässt.5 Rabelais’ Proliferation arbeitet aber nicht nur gegen die zitierten Wissensdiskurse der Philosophie, Theologie, Jurisprudenz, Medizin, Ökonomie usw. an, sondern auch gegen die zitierten literarischen Gattungen, insbesondere die der Heldenepik mit ihren topischen Versatzstücken wie etwa Seestürmen, Belagerungen, Schlachten. Auch hier gelten, wie in den Wissensdiskursen, Regeln, die einem Ökonomieprinzip gehorchen. Zuvörderst zu nennen wäre ein Diskurse wie Gattungen übergreifendes historisches Prinzip der Verhältnismäßigkeit von res und verba: Was ich verbal aufbiete, hat sich an der res, dem Redegegenstand, zu orientieren. Das gilt nicht erst für die Ebene der Tropen, sondern schon für die dispositio und damit für die Periodenbildung, so etwa für das Ideal der Dreigliedrigkeit bis hinab auf lexikalische Ebene, und für die Bedingungen, unter denen sie überboten beziehungsweise unterboten werden darf. Bei Rabelais wäre nun an sich, 3
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Zum hier zugrunde gelegten, über Transparenz und Knappheit (»raréfaction«) bestimmten Diskursbegriff siehe Foucault 1966 und 1971, zu dem unter Bezugnahme auf Foucault entwickelten Konzept poetischer Konterdiskursivität Warning 1999, S. 313–345. Zitate mit Buch- und Kapitelangabe nach der Ausgabe von Pierre Jourda: Rabelais 1962, I 19, Bd. 1, S. 74. Ebd., S. 75.
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das heißt: rhetorisch korrekt, so zu argumentieren, dass man sagt, seine res, sein Gegenstand sind Riesen, ist Gigantismus, und also braucht er, um dieser res gerecht zu werden, auf der Ebene der verba Reichtum: amplificatio, dilatatio, copia verborum. Das aber würde Rabelais’ eigentlichem Interesse gerade nicht gerecht. Die Originalität seiner Phantasie zeigt sich nicht im Gigantismus selbst. Den konnte er aus mittelalterlicher Heldenepik und aus mittelalterlichen Volksbüchern übernehmen und fortschreiben. Seine Erfindungslust liegt im Sprachlichen, und also nimmt er eine res, die dieser Lust Raum gibt. Er kehrt die rhetorische Hierarchie von res und verba um, ordnet die res den verba nach und subvertiert damit den elementaren semantischen Funktionalismus, demzufolge man Sprache der Botschaft dienstbar macht. Daran gemessen ist seine Sprachlichkeit wesentlich dysfunktional. In Reinform präsentiert sich diese Dysfunktionalität in einer Vielzahl von Kapiteln, die nicht einfach reihend erzählen, sondern diese Reihen gleich als Serien, als Kolonnen, als Paradigmen ausformen, den Text also spatialisieren. Einige Beispiele müssen genügen. Bevor die Erziehung Gargantuas dem Ponokrates anvertraut wird, führt er einen turbulenten Tageslauf, in dem Spiele einen großen Platz einnehmen. 217 werden litaneiartig aufgelistet,6 nur grob nach Kartenspielen, Brettspielen, Geschicklichkeitsspielen geordnet, bisweilen unter verschiedenen Namen zweimal genannt, ein unscheinbarer Hinweis auf die Offenheit der Liste unter Signifikantenaspekt. In Paris besucht Pantagruel die Bibliothek von Sankt Victor. Ihre Bücher werden nach Titeln aufgelistet. Eine Ordnung ist nicht erkennbar. Am Ende der über sechsseitigen Liste heißt es: Desquelz aulcuns sont jà imprimés, et les aultres l’on imprime maintenant en ceste noble ville de Tubinge.7 Was in dem als Druckereizentrum bekannten protestantischen Tübingen noch unter der Presse ist, befindet sich bereits im Katalog der katholischen Bibliothek, eine witzige Pointe, die aber insgeheim über sich hinausweist wiederum auf eine Offenheit der Liste und damit auf eine Serialität, eine Paradigmatik, die uns noch weiter beschäftigen wird. So ist offenkundig, dass sich auch die beiden Hoden-Listen nicht in einer Litanei-Profanation erschöpfen, so sehr dieser satirische Effekt vordergründig mitspielen mag. Panurge hat Herrn Grippa (wahrscheinlich eine Anspielung auf Agrippa von Nettesheim) um Rat gebeten, ob er heiraten soll oder angesichts drohender Hahnreischaft besser nicht. Von dessen Auskünften ist er so verwirrt, dass Frère Jean ihn ablenken soll. Die Ablenkung besteht aus einer Auflistung von etwa 170 bald onomatopoetisch, bald konnotativ oder assoziativ ›gefüllten‹ Hoden, nur lose gereiht über formale Merkmale wie Alliterationen, Assonanzen, Reime. Mit dieser Liste war die Erstausgabe 6 7
Ebd., I 22, Bd. 1, S. 83–86. Ebd., II 7, Bd. 1, S. 256.
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dreispaltig bedruckt, die späteren gingen auf zwei Spalten zurück. Ich beschränke mich zur Illustration auf Auszüge:8 […] C. laicté. C. feutré. C. calfaté. […] C. asceuré. C. guarancé. C. calandré. […] C. positif. C. gerondif. C. genitif. […] C. clabault. C. coyrault. C. usual.
[…] C. secourable. C. agréable. C. redoubtable. C. espovantable. C. affable. […] C. diaspermatisant. C. pimpant. C. ronflant. C. paillard. C. pillard. C. guaillard. […]
Frère Jean will mit diesen auf Entleerung drängenden Hoden seinen Rat begründen, schnellstens zu heiraten. Aber dann kommt Panurge mit seiner Angst vor der Hahnreischaft, die Frère Jean mit dem Hinweis auf Alter und Vergänglichkeit nur bekräftigen kann, wieder mit einer Liste von ungefähr 170 Hoden in lamentablem Zustand:9 C. moisy, C. rouy, […] C. lanterné, C. prosterné, […] C. supprimé, C. chetif, […] C. esgoutté C. desgousté,
[…] C. diminutif, C. usé, C. tintalorisé, […] C. hebeté C. decadent C. cornant, […]
Die Entgegensetzung suggeriert eine semantische Opposition gefüllt/leer. Die Liste selbst aber läuft weiter, sie wahrt auch dort, wo die Hoden leer werden, sprachlich ihre lautliche, assoziative oder konnotative Fülle. Metapoetisch gelesen steht also auch sie im Zeichen einer Serialität, welche die narrative Inszenierung vom Tiers Livre bis zum Schluss hin einlöst mit dem von Episode zu Episode weitergeschobenen, aber bis zum Ende offen bleibenden beziehungsweise im Wein ersäuften Kasus des Panurge. Die Forschung bietet hinsichtlich dieser Listen, die noch um viele weitere ergänzt werden, ein Bild der Ratlosigkeit, sofern man sich ihrer überhaupt annahm. Ältere Studien suchen nach verborgenen Bedeutungen rät 8 9
Ebd., III 26, Bd. 1, S. 512ff. Ebd., III 28, Bd. 1, S. 521ff.
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selhafter Lexeme über Volksetymologien, parodistische Brechungen oder Ähnliches. Man kam damit nicht weit und schon gar nicht zur Frage der Funktion der Listen selbst. Das ist bis heute weithin so geblieben, auch in linguistisch orientierten Untersuchungen. Eine Ausnahme bildet Terence Cave, der diese Listen qua Wiederholung dekonstruktivistisch auf eine nur vordergründige Fülle bezieht: copia als Supplement für eine Leere, die ihren Ausdruck finde in den zahlreichen Wiederholungen.10 Mein eigener Vorschlag setzt auch bei diesen Wiederholungen an, nimmt aber die Listen nicht als Ort äußerster Auszehrung, sondern gerade umgekehrt als Kristallisationskerne Rabelais’schen Erzählens. Mein Bezugshorizont ist damit nicht der einer epistemologischen Dekonstruktion, sondern der einer schöpferischen Imagination. Rabelais’ Erzählen gründet nicht in einem diskursiven Wissen, das es mit dekonstruktivem Gestus aufzulösen suchte. Sein Ausgangspunkt ist keine Episteme, weder eine zitierte der Vergangenheit noch eine spezifisch neuzeitliche, die ja noch gar nicht existiert, allenfalls auf der Suche nach sich selbst ist. Sein Ausgangspunkt sind imaginäre Bedeutungen, die sich der Volkssprache ankristallisieren beziehungsweise aus ihr entbunden, freigesetzt werden können. Die Listen laufen nicht auf einen Oberbegriff zu, sie gehorchen keiner Identitätslogik, sondern sie differenzieren eine imaginäre Bedeutung, stehen im Zeichen differenzieller Wiederholung. Damit ist meine Hauptreferenz benannt. Es ist Différence et répétition, die wohl einflussreichste und sicherlich auch wichtigste Arbeit von Gilles Deleuze. Der Titel ist eine Abbreviatur seiner These: »Die Wiederholung ist nicht die Allgemeinheit« (»La répétition n’est pas la généralité«) lautet der erste Satz.11 Nur solange man die Wiederholung dem Repräsentationskonzept Platonischer Genese zuordnet, definiert man sie über ein sich durchhaltendes Identisches gegenüber dem variablen Differenten. Man abstrahiert die Varianten auf eine Begrifflichkeit, die einmündet in ein Allgemeines. Das nennt Deleuze die »nackte Wiederholung« (»répétition nue«). Was sie ausblendet, ist die antiplatonische Kehrseite der Repräsentation, also das von Platon als Trug, Theater, Maske stigmatisierte Imaginäre. Hier geht es nicht um die Identität sich durchhaltender Begrifflichkeiten, sondern um die Differenz der Varianten, um die Einsenkung der Wiederholung in irrationale Tiefen, die von den Masken der Gewalt und des Todes beherrscht sind. Hier erfährt die jeweilige Wiederholung mit den Masken ihre spezifische Verkleidung, die ihre Singularität ausmacht. Diese zweite, die mit den Masken das Differente fokussierende Wiederholung nennt Deleuze die »bekleidete Wiederholung« (»répétition vêtue«): 10
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Dieser Leitgedanke durchzieht das gesamte Rabelais-Kapitel von Cave 1979, siehe insbesondere S. 190–194 und S. 216–222. Deleuze 2007, S. 15.
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Rainer Warning Tatsächlich ist die Wiederholung das, was sich verkleidet, indem es sich konstituiert, und sich nur insofern konstituiert, als es sich verkleidet. Sie liegt nicht unter den Masken, sondern bildet sich von einer Maske zur anderen, wie von einem ausgezeichneten Punkt zu einem anderen, von einem privilegierten Augenblick zu einem anderen, mit und in den Varianten.12
Die »bekleidete Wiederholung« ist der Bereich des Imaginären, ja sie ist »in ihrem Wesen imaginär«.13 Das gilt für die je einzelne Wiederholung wie für ihre Sequenzierung, der nicht Teleologie eigen ist, sondern Steigerung und Intensivierung bis zum Exzess. In diesem Sinne ist die vis repetitiva das Imaginäre.14 Kierkegaard, Nietzsche und Freud sind dafür die Hauptreferenzen. Bei Kierkegaard denkt Deleuze weniger an das Ziel denn an die Tiefpunkte des Glaubenswegs, also an das Existenzial der Angst oder die Figur Hiobs, bei Freud an das Lustprinzip, sofern es Anteil hat am Bestreben alles Lebenden, zur Ruhe der anorganischen Welt zurückzukehren, und bei Nietzsche natürlich an die ewige Wiederkunft, die im strengen Sinne besagt, »daß jedes Ding nur als wiederkehrendes existiert, Abbild einer Unendlichkeit von Abbildern, die kein Original und sogar keinen Ursprung fortbestehen lassen«15 – eine Ewigkeit also, die nichts als Simulakren, als Phantasmen aufeinander folgen lässt. Dem entspricht, dass Deleuze dort, wo er auf literarische Beispiele »bekleideter Wiederholung« zu sprechen kommt, durchweg eine Poesie der Verausgabung und des Todes, also Poesie als »exzessive[ ] Dichtung« in den Blick bringt.16 Das ist natürlich eine historische Fokussierung, die sich nicht einfach auf Rabelais rückprojizieren lässt. Der systematische Ansatz differenzieller Wiederholung bleibt davon indes unberührt, und also lässt er sich auch für Rabelais in Anspruch nehmen. Rabelais’ Erzählen ist ein Erzählen im Paradigma,17 es ist wesentlich episodisch-reihend, und die Kataloge stellen dieses Prinzip in Reinform dar. Sie reihen nicht Begriffe, die unter ein Allgemeines subsumierbar wären, sie sind keine »nackten Wiederholungen«, sondern sie reihen Masken, das heißt: Kerne eines Imaginären, die sich ausphantasieren lassen zu episodisch gereihten Szenen, zu Narrativen. Es sind also potenziell »bekleidete Wiederholungen«. Als solche sind sie wesentlich gebunden an Schriftlichkeit und also an Lektüre. Ein Hörer hat nur bedingt die Zeit, in den einzelnen Positionen Appelle an sein Imaginäres zu gewärtigen und mit dem Ausphantasieren zu beginnen. So sind die Titel der Bibliothek von Sankt Victor zumeist Phantasietitel, zu denen sich szenische Kurzerzählungen ausdenken lassen: Le Beliné en Court (»Der Gefoppte am 12 13 14 15 16 17
Ebd., S. 34. Ebd., S. 106. Ebd. Ebd., S. 95. Ebd., S. 362. Siehe hierzu unter narratologischem Aspekt generell Warning 2001.
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Hof«), Le Pacquet de Mariage (»Das Ehstandsränzel«), L’Esperon de fromaige (»Der Käs-Sporn«).18 Zu imaginärer Inszenierung bieten sich auch die Spiele Gargantuas an: [jouer] à qui faict l’ung faict l’aultre (»Wer eins tut, tut auch das ander«), [jouer] à pet en gueulle (»Furz im Hals«).19 Dasselbe gilt für die Hodenliste: C. repercussif (»Repercussiv-Cujon«), C. martelant (»Sturmbocks-C.«).20 Als letzte Beispiele seien noch einige Einträge der 140 Qualifikationen umfassenden Anatomie von Quaresmeprenant, der Fastnacht, genannt, eine in Vergleichen gehaltene Liste körperlicher Erbärmlichkeiten: L’estomac, comme un baudrier (»Der Magen wie eine Geldkatz«),21 Le trou du cul, comme un mirouoir crystallin (»Das Arßloch, wie ein kristallener Spiegel«, wobei Kristall als Metapher für Sodomie mitspielt),22 S’il mouchoit, c’estoient anguillettes salées (»Wenn er sich schnäuzet, warens Salz-Ael«).23 Zugespitzt formuliert würden meiner Hypothese zufolge die Listen eine Art ›Tiefenstruktur‹ der Pentalogie bezeichnen. Was narrativ ausgearbeitet ist, also oberhalb dieser Listen zu lokalisieren wäre, ist ebenfalls paradigmatisiert, serialisiert, von der copia verborum, den Lexemakkumulationen in den einzelnen Episoden bis hin zur Reihung der Episoden selbst.
2. Komische Episodizität Schon die Kataloge lassen durchweg eine Brechung ins Komische erkennen. Das Komische kann man betrachten unter Struktur- und unter Funktionsaspekten. Strukturell ist die Komik-Theorie seit der Antike durchzogen von der Beobachtung, dass die komische Handlung ob ihrer Konsequenzlosigkeit episodisch ist. Sie wird lachend quittiert und ist damit ›erledigt‹. Daraus folgen generisch unterschiedliche Strukturgesetze. Die Tragödie ist teleologisch gespannt auf ihre finale Anagnorisis als Moment kathartischer Affektentladung, ihre Handlung ist in ihrer kausalen Verknüpfung hin zum Ziel wesentlich sujethaft organisiert. Die Komödie hingegen ist wesentlich paradigmatisch organisiert. Um sie gleichwohl zu einem Ende zu bringen, wird ihr ein Sujet als eine ›anderweitige Handlung‹ unterlegt. Der Begriff stammt aus der Ästhetik von Eduard von Hartmann. Hartmann meint damit eine Art Korsett, ein Gerüst, das das Paradigma der komischen Episoden unterspannt. Diese das Ganze syntagmatisch unterspannende Handlung ist nicht komisch. Sie muss nur von der Art sein, dass sie den komischen Effekt der von ihr gestützten und gerahmten komischen Handlungen nicht 18 19 20 21 22 23
Rabelais Rabelais Rabelais Rabelais Rabelais Rabelais
1962, 1962, 1962, 1962, 1962, 1962,
II 7, Bd. 1, S. 250f., bzw. ders. 1964, Bd. 1, S. 169. I 22, Bd. 1, S. 83 und 85, bzw. ders. 1964, Bd. 1, S. 60f. III 26, Bd. 1, S. 514, bzw. ders. 1964, Bd. 1, S. 354. IV 30, Bd. 2, S. 128, bzw. ders. 1964, Bd. 2, S. 104. IV 31, Bd. 2, S. 131, bzw. ders. 1964, Bd. 2, S. 105. IV 32, Bd. 2, S. 133, bzw. ders. 1964, Bd. 2, S. 106.
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stört, was insbesondere ein glückliches Ende voraussetzt.24 So bezieht beispielsweise die Komödie Shakespeares ihre ›anderweitige Handlung‹ oft aus Novellen mit gutem Ausgang. Bei Rabelais ist es die Heldenepik, vor allem aber das Renaissance-Syntagma der Entdeckungsreise. Vom Tiers Livre an bis zum Schluss ist die Reise nach China mit der Nordwestpassage die syntagmatische Rahmung der Episoden, in denen es um den Heiratskasus des Panurge geht. Das kann und brauche ich hier nicht näher darzulegen. Denn wichtiger ist die Frage nach der Funktion des Komischen. Hier wähle ich als Textbeispiel die bekannte und insbesondere von Erich Auerbach einlässlich interpretierte Episode der »Welt in Pantagruels Mund« und als theoretische Referenz Helmuth Plessners klassische Studie über Lachen und Weinen. Zunächst zur Episode selbst, also zum 32. Kapitel von Pantagruel25 und zu Auerbachs Interpretation im elften Kapitel seines Mimesis-Buchs.26 Im Krieg gegen die Dipsoden wird Pantagruels Heer von einem Regenguss überrascht. Pantagruel streckt seine Zunge heraus – nur zur Hälfte, das reicht schon – und bietet darunter seinen Kampfgefährten Schutz. Allein für den Erzähler Alcofribas Nasier bleibt kein Platz, also klettert er hinauf ins Innere von Pantagruels Mund und inspiziert dort eine Landschaft von gigantischen Ausmaßen: Zähne wie Felswände, Kehlkopf und Rachen wie riesige Handelsstädte usw. Die Gigantisierung der Helden konnte Rabelais, wie gesagt, aus der Tradition mittelalterlicher Epik und mittelalterlicher Volksbücher fortschreiben, für die des Rachenraums lässt er sich zusätzlich von Lukians Erkundungen des Inneren eines Walfisches mitinspirieren. Wichtiger ist, was neu hinzukommt und wie Rabelais damit umgeht. Das Erste, was der Erzähler antrifft, ist ein Bauer, der Kohl pflanzt, um ihn hernach zu Markte zu tragen und damit seine Familie zu ernähren. Jesus, fragt der Erzähler, das hier ist wohl eine neue Welt (un nouveau monde)?27 Der Bauer hingegen, der seinen Kohl pflanzt, wie man in der Touraine Kohl pflanzt, hat auch schon etwas nicht von einer neuen, sondern einer anderen Welt – une terre neufve – gehört, und die soll da draußen liegen, wo der Erzähler herkommt, also ihm, dem Erzähler, als die alte vertraute Welt gilt.28 Das wäre ein Exempel renaissancehafter Pluralisierung, Relativierung, Perspektivierung – nur dass Rabelais auf diese epistemischen Kategorien nicht hinzielt, sondern sie eher schon voraussetzt als Material für Komisierung: In der vermeintlich neuen Welt geht’s zu wie in 24
25 26 27 28
Zu dieser Interaktion der Paradigmatik episodischer komischer Handlungen mit der Syntagmatik einer übergreifenden ›anderweitigen‹ Komödienhandlung im Sinne Hartmanns siehe ausführlich Warning 1976, S. 283–302. Rabelais 1962, II 32, Bd. 1, S. 377–381. Auerbach 2001, S. 250–270. Rabelais 1962, II 32, Bd. 1, S. 379. Ebd.
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der alten. Das beginnt mit dem kohlpflanzenden Bauern und geht weiter mit den Erlebnissen des Erzählers, der sich mit denselben Fährnissen herumschlagen muss wie daheim. Auerbach zieht die Episode zusammen auf erstens Gigantisierung, zweitens ›Neue Welt‹, drittens ›Alles wie gehabt‹, viertens alltäglich-realistische Szenerien, und damit wird das Ganze subsumierbar unter seine Leitkategorie eines ›stilmischenden Realismus‹. Zwar ist auch die Rede von einem »geistigen Wirbel«, einem »Durcheinanderwirbeln[] der Kategorien des Geschehens, des Erlebens, der Wissensbezirke, der Proportionen und der Stile«,29 aber dieser Wirbel scheint sich für Auerbach zu beruhigen in einer lebensweltlichen Positivität, in einem »kreatürliche[n] Realismus«, einem »vitalistisch-dynamischen Triumph[ ] der Leiblichkeit und ihrer Funktionen.«30 Das irritierende Spiel von alter und neuer Welt wird nicht weiterverfolgt, was ich hier mit der Frage nach seinen komischen Implikaten tun möchte. Ausgangspunkt für Plessners Anthropologie des Lachens ist sein Konzept der »exzentrischen Positionalität« des Menschen.31 Anders als das Tier kann sich der Mensch zu seiner eigenen Position inmitten eines jeweiligen Umfelds ins Verhältnis setzen, den Körper in seiner Instrumentalität erfahren, und eben dies geschieht im Lachen. Das Lachen ist, wie das Weinen, die Antwort des Körpers auf eine »Grenzlage« und als solche eine »Grenzreaktion«.32 Im Lachen kollabiert der Mensch als leib-seelische Einheit angesichts einer unbeantwortbaren Situation. Die Antwort übernimmt der Körper, nicht im beherrschten Ausdruck, sondern in der eruptiven, aller symbolischen Prägung entbehrenden Zwangsreaktion des Lachens. Unbeantwortbar ist die Situation ob ihrer Ambivalenz, ihrer Mehrdeutigkeit, ihrer Gegensinnigkeit. Komisch ist eine »Gegensinnigkeit, die gleichwohl als Einheit sich vorstellt und hingenommen werden will«.33 Der komische Konflikt kann »überall da hervorbrechen, wo eine Norm durch die Erscheinung, die ihr gleichwohl offensichtlich gehorcht, verletzt wird«.34 Das Objekt ist in sich selbst gegensinnig, mehrdeutig, widersprüchlich und also nicht einfach oppositiv auf Sinnhaftigkeit zu beziehen. Es entzieht sich logischer Klassifizierbarkeit. Während Oppositionen elementare Strukturen sind, mittels derer wir die Wirklichkeit sinnhaft organisieren, setzt komische Gegensinnigkeit geläufige Sinnraster matt. Mit dem Komischen kommt man nicht zurecht. »Zum Lachen ist es ja nur, weil wir nicht damit fertig werden«.35 Der Körper kompensiert ein Abdanken des Intellekts. »Gegen 29 30 31 32 33 34 35
Auerbach 2001, S. 259. Ebd., S. 263. Vgl. bes. Plessner 1961, S. 42–50. Vgl. ebd., S. 185–211. Ebd., S. 111. Ebd., S. 115. Ebd., S. 121.
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sinnigkeit« also bezeichnet in diesem Prozess den Objektpol, »Grenzreaktion« in einer durch Gegensinnigkeit verursachten Grenzlage den Subjektpol. Plessners Kategorien greifen bei einfacheren wie komplexen Formen des Komischen. Zwar ist ein gegebenes Objekt nicht für jedermann gleichermaßen gegensinnig und also unbeantwortbar, aber wann immer gelacht wird, hat der Körper die Antwort übernommen. Das gilt, um auf Rabelais zurückzukommen, für die kotbeschmierten Gitterstäbe der Sorbonne wie für die epistemisch-epistemologisch sicherlich gewichtigere Frage der Pluralität von Welten und ihrer wechselseitigen Perspektivierung. Daher das Spiel nouveau monde/terre neufve. Inmitten des ins Gigantische irrealisierten Rachenraums trifft der Erzähler auf einen völlig normalen Bauern, qui plantoit des choulx. Damit wird er nicht fertig, er ist verwundert (esbahy) und fragt nach, nur um vom Bauern den Gegensinn bestätigt zu bekommen: Je plante, (dist-il), des choulx.36 Der Erzähler selbst lacht nicht, aber der Autor hat für seinen Leser eine Konstellation gerichtet, die dessen Körper lachend beantworten wird. Eine epistemische Aporetik wird somatisch ›gelöst‹.
3. Körperlichkeit Zu den bekanntesten Abteilungen von Bachtins Rabelais-Buch zählt die über den grotesken Körper. Konzipiert in Opposition zum geschlossenen Körper der klassischen Antike ist er ein wesentlich offener Körper, der in ständigen Austauschprozessen mit seiner Umwelt lebt und demgemäß vor allen Dingen über seine Öffnungen bestimmt ist: Nase, Mund, Genitalien, After. Über diese Öffnungen laufen die Akte des »Körperdramas«: Essen, Trinken, Ausscheidungen, Begattung, Geburt, Altern, Krankheiten, Tod.37 Dieses Drama steht für Bachtin im Zeichen einer ungebrochenen Positivität, einer naturwüchsigen Ambivalenz von Leben und Tod. Alles Leben muss sterben, alles Sterben ist Voraussetzung für neues Leben. Das ist der Kern aller karnevalesken Ambivalenzen und so auch der substanzielle Kern der Rabelais’schen Pentalogie. Hinzu kommt eine Steigerung ins Gigantische, die mit der Irrealisierung alles Bedrohliche tilgt und ein Lachen freisetzt, das den karnevalesken Austritt aus der Normalität gesellschaftlicher Zwänge ermöglicht. Und wieder haben wir Bachtins basales Ideologem: Das Karnevalslachen ist ein »Werkzeug in der Hand der Volkes«.38 Bachtin spricht nicht vom epistemischen Substrat Rabelais’schen Erzählens, aber wenn man ihn darauf befragt hätte, wäre diese substanzielle Fülle des grotesken Körpers und das ihm korrespondierende karnevaleske Lachen seine Antwort gewesen. 36 37 38
Rabelais 1962, II 32, Bd. 1, S. 378. Bachtin 1995, S. 359. Ebd., S. 143.
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Die Genese dieser Konzeption ist weithin aufgearbeitet, auch kritisch aufgearbeitet, kritisch vor allem im Blick auf eine als zeitlos-substratartig gedachte karnevaleske Volkskultur, die neben spezifisch karnevalesken Gattungen auch eine karnevalisierte Literatur hervorgebracht habe, Letzteres insbesondere in historischen Umbruchssituationen. Diesen werden Autoren wie Rabelais oder Dostojevskij zugeschlagen. Eine Berücksichtigung des Humanismus bei Rabelais scheint Bachtin damit hinreichend abgegolten. Nun kann und darf man natürlich die eminente Rolle der Körperlichkeit bei Rabelais nicht leugnen, aber man kann sich ihr auch auf anderem Wege nähern, und das will ich versuchen. Ich nehme dazu als Ausgangspunkt das bekannte Bild von jenem philosophischen Hund, der laut Prolog zu Gargantua aus seinem Knochen die sustantificque mouelle saugt.39 Der philosophische Hund konkurriert, ebenfalls gleich im Prolog zu Gargantua, mit den Silenen des Alkibiades.40 Beide Bilder sind platonischer Herkunft. Die Silenen kommen, vermittelt über die Adagia des Erasmus, aus dem Symposion,41 der philosophische Hund aus der Politeia.42 Über beide ist viel und kontrovers geschrieben worden. Zumeist hat man die in beiden Fällen abstrahierbare Opposition außen/innen metapoetisch als Legitimation einer von Rabelais selbst nahegelegten allegorisierenden Lektüre genommen, die denn auch in der Forschung trotz Warnungen aus kompetentem Mund, so insbesondere von Seiten Leo Spitzers,43 eifrig betrieben wurde, ohne dass von ihren Anfängen bis zum heutigen Tag viel ›Substanzielles‹ zutage gekommen wäre. Weshalb das so ist, zeigt schon eine genaue Lektüre des Prologs selbst, wobei ich mich auf den philosophischen Hund konzentriere, um mit ihm die Spur meiner These von der somatischen Lösung epistemischer Aporetik weiterverfolgen zu können. Ich beginne damit, dass Rabelais seine Leser mit dem Hund auf eine falsche Fährte lockt. Bei Platon ist der Hund philosophisch, weil er lernbegierig ist, weil er zu unterscheiden lernt zwischen Fremden und Bekannten und also bildlich, metaphorisch steht für einen guten Wächter, einen guten Wehrmann. Vom Knochen oder Knochenmark ist nicht die Rede. Die kommen aber auch nicht aus dem Karneval. Dem grotesken Körper lässt sich das Bild nicht integrieren. Es stammt wahrscheinlich von Rabelais selbst,44 der es mit Platons philosophischem Hund fusioniert und damit 39 40 41 42 43
44
Rabelais 1962, Bd. 1, S. 7. Ebd., S. 5. Vgl. Platon, Symposion, 215a–d. Vgl. Platon, Politeia, 375a–376c. Spitzers kämpferisch antipositivistisches Plädoyer für die Dominanz des Phantastischen gegenüber dem Epistemischen durchzieht all seine Rabelais-Arbeiten von der Kölner Antrittsvorlesung im Jahre 1931 bis in die fünfziger Jahre, am aggressivsten vielleicht in Spitzer 1960. Als Deckmetaphern für den zweifachen Schriftsinn sind geläufig Rinde/Mark, Schale/ Kern und Spelze/Korn. In der hierfür einschlägigen Arbeit von Spitz finden sich für
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antikisch adelt. Aber im gleichen Zug hängt er diesem Hund die Schelle an, indem er mit dem Knochen eine Opposition außen/innen suggeriert: Außen die verba, innen die kostbare, philosophische res. Wer aber einen Hund dabei beobachtet hat, wie er mit einem Markknochen umgeht, der weiß, dass er auch schon das Äußere lustvoll beleckt und bereits dort sorgsam mit seiner Arbeit beginnt. Rabelais selbst trägt dem Rechnung mit einer aus sechs Kola bestehenden Periode: Si veu l’avez, vous avez peu noter [1] de quelle devotion il le guette, [2] de quel soing il le guarde, [3] de quel ferveur il le tient, [4] de quelle prudence il l’entomme, [5] de quelle affection il le brise, [6] et de quelle diligence il le sugce. (Wenn ihrs gesehen habt, habt ihr wohl merken können, [1] wie andächtig er es verschildwachtet, [2] wie eifrig ers wahrt, [3] wie hitzig ers packt, [4] wie schlau ers anbricht, [5] wie brünstig zerschrotet, [6] wie emsig aussaugt.)45
Sechs Kola sind nach klassischer Rhetorik zuviel. Drei wären der Transparenz am dienlichsten, vier oder fünf bringen bereits die Gefahr der obscuritas mit sich. Der Vergleich ist also syntaktisch dysfunktional, die verba haben mehr Gewicht als die res, die Opposition außen/innen wird dekonstruiert. Dasselbe gilt für die phonetische Ebene. Rabelais’ Sprache ist wesentlich geprägt durch eine Exuberanz der Signifikanten gegenüber den Signifikaten. Wenn die verba die res nicht geradezu zuschütten, verdecken, so drängen sie sich doch derart in den Vordergrund der Aufmerksamkeit, dass sich Referenzielles oft im Ungefähren, wenn nicht im Chaotischen der Akkumulation verliert. Das zentrale Stichwort ist hier ein kratylistisches Spiel mit der Motiviertheit der Zeichen, also der von Gérard Genette so getaufte »cratylisme secondaire«.46 Ein Beispiel wäre gleich der Auftakt des Bildes rompre l’os et sugcer la sustantificque mouelle.47 In rompre haben wir gleich zweimal das r, seit Platon der Lieblingskonsonant der Kratylisten, immer mit neuer und anderer Bedeutung versehen (›Bewegung‹, ›Fließen‹ bei Platon, ›Rundheit‹, ›Vollkommenheit‹ bei Ronsard, was schon seinem Eigennamen schmeichelte und möglicherweise auch für François Rabelais galt), immer also ein implizites Dementi naturgegebener Motiviertheit selbst, immer aber neu geliebt. Bei Rabelais wirken die Verb- und Substan-
45 46
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Knochen/Mark nur zwei Belege, der eine in einem Brief Luthers, der andere in einer Predigt Bernhards von Clairvaux (Spitz 1972, S. 65 bzw. 72). Auch Spitzer zitiert die mittelalterliche Tradition von cortex/medulla, die Rabelais, angeregt von Platons Hund, um den Knochen ergänzt habe, geht aber auf das schon bei Rabelais selbst greifbare Spiel mit der Hierarchie innen/außen nicht ein. Dass der Vergleich nicht mehr funktional sei, ist zutreffend, dass er »autonom« geworden sei, hingegen missverständlich (Spitzer 1965, S. 432ff., und ders. 1969, S. 47). Rabelais 1962, Bd. 1, S. 7, bzw. ders. 1964, Bd. 1, S. 10. Genette, 1976, S. 36. Leider ist Genette auf Rabelais nicht näher eingegangen. Eine Kompensation speziell für den Bereich der Onomastik bietet aber Rigolot 1977. Rabelais 1962, Bd. 1, S. 7.
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tivkaskaden im Prolog zum Tiers Livre über weite Strecken wie eine einzige Hommage an den ›r‹-Konsonantismus. Aber zurück zu unserem Knochen. Natürlich ist auch die Vokalpalette komplett inszeniert, mit deutlich markierter Opposition dunkel/hell. Sustantificque ersetzt substantiel. Wahrscheinlich ist es eine Neuprägung von Rabelais. Das Suffix -ficque liefert, anders als substantiel, ein zweites reines i und darüber hinaus die Möglichkeit einer obszönen Assoziation von figue, die uns später wieder begegnet bei den Papefigues,48 also denjenigen, die dem Papst ›die Feige machen‹. Das muss hier reichen als Beispiel dafür, dass wir bei Rabelais statt des Begriffs stets, mit Deleuze gesprochen, die Maske haben. Rabelais ist der wichtigste Repräsentant dieses ›sekundären Kratylismus‹ in der gesamten Romania. Die verba ›designieren‹ nicht die res, vielmehr steckt die res metonymisch immer schon in den verba. Die Pointe der Knochenmetapher also ist deren doppelte Lesbarkeit: einmal, und das wird zunächst suggeriert, als umhüllender Signifikant und umhülltes Signifikat, sodann im Sinne semantischer Motiviertheit des Signifikanten durch das Signifikat. Immer sind wir mit der satten, fetten, markigen Sprache schon bei jener sustantificque mouelle. Die Faszination der Sprache saugt die Semantik in sich auf, beraubt sie jener Eigenständigkeit, die eine allegorische Lektüre voraussetzt. Die ›neue Welt‹ in Pantagruels Mund ist eine sprachlich gigantisierte Touraine mit einem Bauern qui plante des choulx. Gargantuas Erziehung durch seine Lehrer der Sorbonne und hernach durch Ponokrates zerfällt nicht in eine falsche und eine richtige Phase, sondern sie ist hier wie dort abwegig. Wie François Rigolot gezeigt hat, ist die epistemische Opposition nur Anlass für eine stilistische von sprachlicher Monotonie und energetischer Bewegtheit.49 Interpretationen der Abtei von Thélème reichen von einer humanistischen Utopie bis zur Farce. Sprachlich geht Rabelais mit dieser Episode, in der er sich am weitesten von der Motiviertheit wegbewegt, bis hin zu semiotischer Arbitrarität, also hin zur Episteme der Repräsentation. Aber deren Transparenz ist auch ironisch interpretierbar, so zum Beispiel und vor allem darin, dass sich das Motto des Fay ce que vouldras50 konkretisiert in immer neuen Regeln, Restriktionen, Negationen.51 So lebt die Pentalogie nicht von einer neuen Episteme, sondern von Rabelais’ schöpferischem Umgang mit der französischen Volkssprache, die alle Faszination auf sich zieht. Und immer ist der Leser der philosophische Hund, dem diese somatisierte Sprache als kostbare Speise vorgesetzt wird und der sie lachend zu sich nimmt. Je gewichtiger freilich die epistemischen Positionen sind, desto deutlicher wird auch, dass dieses Lachen 48 49 50 51
Ebd., IV 45, Bd. 2, S. 170. Rigolot 1972, S. 62–76. Rabelais 1962, I 57, Bd. 1, S. 204. Ebd., S. 77–98.
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etwas Unabgegoltenes zurücklässt,52 wobei offen bleiben muss, wie weit dies dem zeitgenössischen Leser oder auch Rabelais selbst schon zu Bewusstsein kam.
4. Triboullet Eine hierfür wichtige, wenn nicht die wichtigste Stelle der Pentalogie überhaupt ist sicherlich die Begegnung Panurges mit dem Narren Triboullet gegen Ende des Tiers Livre. Auch bei ihm sucht er Rat mit seinem Kasus, und angesichts der Schlüsselfigur des Narren für die literarische Perspektivierung der Renaissance als empistemisch-epistemologische Umbruchssituation darf man annehmen, dass diese Konsultation nicht einfach eine unter den vielen anderen ist. Das zeigt sich schon daran, dass sie sich in zwei Schritten vollzieht. Der Begegnung mit Triboullet selbst53 geht wiederum eine Liste mit 210 Einträgen voraus, die ausdrücklich nach der Gattung der Rhétoriqueurs als blason betitelt ist.54 Pantagruel und Panurge übernehmen bei dieser epideiktischen Beschreibung je einen Part, Pantagruel den der Aufwertung, Panurge den der Abwertung. Wir haben also wieder eine Oppositionsstruktur wie bei der Hodenliste, nur ist die Sequenz der beiden Teile ersetzt durch eine Synopse, das heißt: die Listen von Pantagruel und Panurge sind graphisch parallelisiert. Blason und Contreblason stehen einander gegenüber wie die beiden Pole einer Opposition, womit formal Panurges Totalitätsanspruch eingelöst scheint: Triboullet ist [p]roprement et totalement fol.55 Die Auflistung selbst gibt sich denn auch zunächst sehr viel konsistenter als all ihre Vorgänger. Pantagruel scheint an einer kategorialen Ordnung interessiert, die epistemischen Merkmalen folgt (kosmische, soziale, philosophische Dimension der Narrheit), während Panurge jeden dieser positiven Einträge durch Wortspiele, offene semantische Gegensätze oder somatisierende, wenn nicht obszöne Repliken epistemisch entleert. Diese Tendenz greift sukzessive auch auf Pantagruels Liste über, so dass das Lob der Torheit seine mit dem Blason suggerierte oppositive Ordnung nicht zur Totalität einer verborgenen Episteme hinführt, sondern noch hinter rhetorische in 52
53 54 55
Dieses Unabgegoltene gerät mit der anthropologischen Perspektive der Plessnerschen Theorie des Lachens in den Blick. Andere Perspektiven lassen anderes sehen. So hat Teuber in seiner Dissertation zur karnevalesken Tradition der frühen Neuzeit die Komiktheorie Joachim Ritters zugrunde gelegt, nach der das Lachen normativ Ausgegrenztes hereinhole, Negativiertes positiviere. Damit kann Teuber dann zeigen, wie bei Rabelais, Quevedo, Cervantes und Sorel im Bereich der Sprache, des Körpers und der Wahnrede eine schon überholte analogistische Episteme im Modus komischer Positivierung gleichsam nostalgisch erinnert wird (Teuber 1989, S. 160–182). Rabelais 1962, III 45, Bd. 1, S. 588–591. Vgl. die Überschrift zu III 38 (ebd., Bd. 1, S. 561). Ebd.
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ventio zurückgeht auf ein sprachliches Imaginäres, das sich bald der puren Kontingenz überlässt, bald aber auch auf semantisierbare Anreize ganz verzichtet zugunsten offenkundiger Neuschöpfungen. F. souverain/F. boursouflé ist als semantische Opposition lesbar, F. redoubté/F. radotant steht mittels Assonanz nur noch formal in Opposition, F. special/F. supercoquelicantieux bricht ins Imaginäre aus.56 Hier von Dekonstruktion zu sprechen, wäre insofern zu kurz gegriffen, als ja die beiden Listen nicht durch eine Entmarkierung von Markierungen aufeinander bezogen sind, sondern alles scheinbar Epistemische ins Imaginäre überführen. Den beiden Listen ist weder je immanent noch untereinander identitätslogisch beizukommen. Sie sind Musterbeispiele differenzieller Wiederholung und darin, wie Deleuze sagt, Manifestationen einer ursprungs- wie teloslosen Imagination.57 Die scheinbar so perfekt geschlossene Opposition von Blason und Contreblason ist eine wahnhafte Synthese, ist das, was Cornelius Castoriadis in seiner Theorie des Imaginären als »folie unificatrice« bezeichnet58 und was Rabelais selbst Triboulletinale[] nennt:59 eine metapoetische Emblematisierung der Pentalogie als einer einzigen Maskerade. Die Dimension der Liste ist die offene Horizontale, eine Oberfläche ohne Tiefe. Rigolot hat darauf hingewiesen, dass Erasmus Stultitia selbst ihr Lob sprechen lässt, bei Rabelais hingegen der Autor den Dialog Pantagruels mit Panurge inszeniert.60 Das ist richtig, aber noch nicht entscheidend. Wichtiger ist, dass Erasmianische Ironie, die immer noch die Möglichkeit einer christlichen Torheit, also einer Tiefe unter der närrischen Oberfläche weltlichen Treibens bewahrt, bei Rabelais getilgt ist. Hinter der Maske verbirgt sich, im Sinne differenzieller Wiederholung, wieder nur eine Maske und so fort. Daher kann, syntagmatisch unmotiviert, paradigmatisch aber geschickt prozessiert, auf den ins Kontingente zerfallenden Lobpreis Triboullets der Besuch beim Richter Bridoye folgen, der seine Urteile nach gründlichem Aktenstudium auswürfelt,61 und dann erst die Begegnung mit Triboullet selbst. Zwei Kapitel sind ihr gewidmet, die sich leicht als episodische Ausschreibungen auf die chaotisierende Liste rückbeziehen ließen, Kapitel 45 etwa auf F. joyeulx et folastrant, F. de mere goutte oder F. de la prime cuvée:62 Triboullet ist auf dem Wasserweg – par eaue – von Blois gekommen,63 wird von Panurge mit einer Reihe abstruser Geschenke bedacht, vor 56 57 58 59 60 61 62 63
Ebd., III 38, Bd. 1, S. 562. Deleuze 2007, S. 106. Castoriadis 1975, S. 404. Rabelais 1962, III 38, Bd. 1, S. 564. Rigolot 1972, S. 167. Rabelais 1962, III 39, Bd. 1, S. 565–569. Ebd., III 38, Bd. 1, S. 561. Ebd., III 45, Bd. 1, S. 588.
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allem aber mit einer Flasche Tourainer, also Rabelais’ Heimat entstammenden Weins. Der versetzt ihn in die nötige Verfassung, mit schlotterndem Kopf Panurge abzuspeisen: guare moine,64 von Mönchen droht Hahnreischaft. Mehr ist aus ihm nicht herauszuholen, was Pantagruel Gelegenheit gibt, sich sprachlich auf den schlotternden Kopf zu konzentrieren. Mit der Häufung von branslant, esbranlée, branslement65 durchzieht eine dichte Isotopie das ganze Kapitel mit dem Ziel, das Zittern von Kopf und Händen vom vermeintlichen Inspirationssymptom medizinisch umzupolen und als Debilität, als Torticollis zu diagnostizieren,66 von Regis übersetzt mit »den Kopfhänger machen«.67 Damit die sprachliche Maskerade beibehalten wird, sind die namentlich aufgerufenen Autoritäten freilich keine Mediziner, sondern Plautus, Catull, Titus Livius, Julianus und Vergil. Nicht namentlich genannt werden in diesem Kapitel Rabelais’ Informationslieferant Budé und im nächsten Erasmus. Dort, also in Kapitel 46, wird dann auch Triboullets Orakel selbst zerspielt, indem Panurge moine nicht als Mönch verstehen will, sondern als moyneau, jenen Sperling, der mit seinem Fliegenfang Catulls Lesbia erfreut habe.68 Damit ist der Kasus neuerlich offen geblieben, der Knoten der Sache stecke wieder einmal in der Weinflasche, wie Rabelais Panurge zu Beginn von Kapitel 47 feststellen lässt,69 um damit gegen Ende des Tiers Livre bereits vorauszuweisen auf das Ende des Ganzen, den Orakelspruch der Dive Bouteuille also, der ein für alle Male die Wahrheit in den Wein versenkt. Diese Wein-Wahrheit aber lässt Rabelais Bacbuc mit Platons Kratylos begründen,70 nicht etwa mit dem süßen Wein der Apostelgeschichte, den Erasmus seine Stultitia im Schutze der Ironie als Lob einer christlichen Torheit, einer Paulinischen Raserei zitieren lässt. Dass Triboullet, wie gesagt, per Schiff von Blois kommt, ist ein nur vorderhand harmlos wirkender Auftakt der Begegnung. Seit Louis XII. gehörte Blois zur Krone, unter ihm und François I. war Le Feurial, genannt Triboulet, ein berühmter Hofnarr, ein Narr zur Zeit aufblühender Renaissance also. Die Assoziation mit Wasser und Schiff aber ist älter. Sie gehört, wie Michel Foucault gezeigt hat, in jene Zeit des ausgehenden Mittelalters, da der Wahnsinn als Krankheit, ja als tödliche Bedrohung empfunden und gesellschaftlich ausgegrenzt, vorzugsweise per Schiff in ein unbekanntes Nichts transportiert wurde.71 Das Schiff gehört zur Bildwelt des in seiner möglicherweise satanischen Unheimlichkeit zugleich gefürchteten wie faszinierenden Wahnsinns, wie es uns noch bei Bosch, Bruegel, Bouts und 64 65 66 67 68 69 70 71
Ebd., S. 589. Ebd., S. 588–591. Ebd., S. 590. Rabelais 1964, Bd. 1, S. 408. Rabelais 1962, III 46, Bd. 1, S. 592. Ebd., III 47, Bd. 1, S. 593. Ebd., V 45, Bd. 2, S. 454. Vgl. Platon, Kratylos, 406 c. Foucault 2007, S. 25–31.
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Dürer begegnet. Die Renaissance, so weiter Foucault, löst diese Bildwelt des tragischen Wahnsinns der Welt durch ein humanistisch geprägtes Universum der Sprache ab. Bewahrte das Bild dem Wahnsinn seine Faszination, so unterwirft ihn die besprechende Sprache der Kritik. Sie macht ihn zu einer Bezugsform der Vernunft und schafft damit die Voraussetzung für jene neuzeitlich-neue Trennung, die nach Foucaults bekannter These dazu führt, dass der Wahnsinn nicht mehr per Schiff verfrachtet, sondern kaserniert wird und auch in der Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts nur scheinbar befreit ist. Ich zitiere diese These vor allem deswegen, weil Foucault als eine Form kritischer Distanzierung des Wahnsinns in der Renaissance das Lachen nennt.72 Er befragt dieses Lachen nicht weiter, er hält es schlicht für die schlimmste Art, in der der Wahnsinn dem Blick des Weisen zum Objekt werde. Nun ist aber Rabelais ein eindringliches Beispiel dafür, dass man schlecht argumentieren kann mit der Entgegensetzung von faszinierender Bildlichkeit und kritischer Sprachlichkeit, welcher letzteren man das Lachen funktionsäquivalent zur Seite stellt. Denn gelacht wird auch in den Triboullet-Kapiteln wiederum über sprachliche Komik, und deren Subjekt ist letztlich der Autor François Rabelais, der sich in der Maskierung zu Alcofribas Nasier zum wahren Narren der gesamten Pentalogie gemacht hat. Seine Sprachspiele setzen freilich die Auskünfte Triboullets, also insbesondere die Warnung vor geilen Mönchen voraus, und die sind ihrerseits wesentlich Produkt seiner Trunkenheit. So ergibt sich ein höchst komplexes Spiel zwischen erzähltem Narren und närrischem Erzähler. Alcofribas Nasier ist ein Narr aus humanistischem Geist, aber anders als die Stultitia des Erasmus entwertet dieser Narr nicht die Körperlichkeit. Er partizipiert metonymisch an jenem Wein der Touraine, den man Triboullet zum Geschenk gemacht hat. Wo sich also Erasmus an die Geistigkeit der Ironie hält, da bringt der entlaufene Franziskaner eine Körperlichkeit ein, die ganz auf Komik und Lachen abstellt und damit aller Spiritualität Grenzen setzt. Seine närrische Rede bleibt an der Oberfläche spielerischen Zitierens und spielerischer Neuschöpfungen, sie geht nicht in die Tiefe. Wo Epistemisches angesprochen wird, pflegt es in sprachliche Komik zu kippen. Als Beispiele nannte ich Gargantuas Erziehung oder die Abtei von Thélème, und in diese Sequenz gehört gewiss auch die Triboullet-Episode. Und so muss denn Rabelais auch in der Maske des Narren Epistemisches als unabgegolten zurücklassen, wird doch in der komischen Brechung immer auch ein intellektuelles ›Nichtfertigwerden‹ mit der Sache greifbar. Das Lachen schafft Distanz, gegebenenfalls bis hin zur Kritik von Autoritäten, doch ist es seinerseits nicht autoritätsstiftend. Wohl aber leistet es etwas anderes. Denn, so nochmals Plessner: »Mit dieser Kapitulation als leibsee 72
Ebd., S. 48ff.
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lisch-geistige Einheit behauptet [der Mensch] sich als Person. Der außer Verhältnis zu ihm geratene Körper übernimmt für ihn die Antwort«.73 Und mit dieser personalen Selbstbehauptung ist er auch mehr als Platons philosophischer Hund. Lachen kann nur der Mensch, nicht das Tier. Und das wissen wir nicht vom Karneval oder aus karnevalesker Volkskultur, sondern das wissen wir von jenem Aristoteles, den Rabelais noch vor dem Prolog zu Gargantua gleich in der Widmung an seine Leser zitiert hatte: Mieulx est de ris que de larmes escripre, | Pour ce que rire est le propre de l’homme.74 Dass unter allen Lebewesen allein der Mensch zu lachen vermag, steht bei Aristoteles.75 Rabelais sagt das nicht, der Name Aristoteles fällt hier nicht. Rabelais setzt entsprechende Vertrautheit bei seinem Leser voraus. Dieser Leser freilich muss sich klar sein, dass er nicht distanziert-autoritär über ein dargestelltes »Körperdrama« (Bachtin) lacht, sondern selbst an diesem Drama teilhat.
Bibliographie Quellen Rabelais, François: Œuvres complètes. Introduction, notes, bibliographie et relevé de variantes par Pierre Jourda. 2 Bde. Paris: Garnier 1962. – Gargantua und Pantagruel. Aus dem Französischen verdeutscht durch Gottlob Regis. Hrsg., mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Ludwig Schrader. 2 Bde. München: Hanser 1964.
Forschungsliteratur Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 10. Aufl. Tübingen/Basel: Francke 2001 (Sammlung Dalp). Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Übersetzt von Gabriele Leupold. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1187). Castoriadis, Cornelius: L’institution imaginaire de la société. Paris: Seuil 1975. Cave, Terence: The Cornucopian Text. Problems of Writing in the French Renaissance. Oxford: Clarendon 1979. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. Aus dem Französischen von Joseph Vogl. 3. Aufl. München: Fink 2007 [französisch zuerst 1968]. Foucault, Michel: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard 1966 (Bibliothèque des sciences humaines). – L’ordre du discours. Leçon inaugurale au Collège de France prononcée le 2 décembre 1970. Paris: Gallimard 1971. – Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. 17. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 39). Genette, Gérard: Mimologiques. Voyage en Cratylie. Paris: Seuil 1976. 73 74 75
Plessner 1961, S. 191. Rabelais 1962, Bd. 1, S. 3. Aristoteles, De partibus animalium, III 10, 673a 8.
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Lachmann, Renate: »Vorwort«, in: Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Übersetzt von Gabriele Leupold. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1187), S. 7–46. Plessner, Helmuth: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens. 3. Aufl. Bern/München: Francke 1961 (Sammlung Dalp 54). Rigolot, François: Les Langages de Rabelais. Genf: Droz 1972 (Études Rabelaisiennes 10; Travaux d’humanisme et renaissance 121). – Poétique et Onomastique. L’Exemple de la Renaissance. Genf: Droz 1977 (Histoire des idées et critique litteraire 160). Spitz, Hans-Jörg: Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends. München: Fink 1972 (Münstersche Mittelalter-Schriften 12). Spitzer, Leo: »Zur Auffassung Rabelais’«, in: ders., Romanische Stil- und Literaturstudien. Bd. 1. Marburg: Elwert 1931 (Kölner Romanistische Arbeiten 1), S. 109–134. – »Rabelais et les rabelaisants«, in: Studi Francesi 4 (1960), S. 401–423. – »Ancora sul prologo al primo libro del ›Gargantua‹ di Rabelais«, in: Studi Francesi 9 (1965), S. 423–434. – »Die Werke Rabelais’«, in: ders., Texterklärungen. Aufsätze zur europäischen Literatur. Aus dem Englischen und Französischen von Gerd Henniger, Helmut Hofman und Gerd Wagner. München: Hanser 1969, S. 34–53 [englisch zuerst 1953]. Teuber, Bernhard: Sprache – Körper – Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit. Tübingen: Niemeyer 1989 (Mimesis 4). Warning, Rainer: »Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie«, in: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hrsg.): Das Komische. München: Fink 1976 (Poetik und Hermeneutik 7), S. 279–333. – Die Phantasie der Realisten. München: Fink 1999. – »Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition«, in: Romanistisches Jahrbuch 52 (2001 [erschienen 2002]), S. 176–209.
Tobias Bulang
Zur poetischen Funktionalisierung hermetischen Wissens in Fischarts Geschichtklitterung
Johann Fischarts Roman Geschichtklitterung, der zu Lebzeiten des Verfassers in drei zunehmend umfangreicheren Ausgaben erschien,1 ist durchgehend geprägt von Rekursen auf alle Arten von Wissensliteratur: Juristisches, medizinisches, historiographisches, philologisches und ethnographisches Wissen im weitesten Sinne werden immer wieder Gegenstand eines literarischen Spiels.2 Dieses erstreckt sich auch auf hermetische Wissensbereiche unterschiedlicher Provenienz. In Fischarts Übersetzung von Rabelais’ Gargantua (1534/1536) wird zudem der enzyklopädische und parodistische Gestus der Vorlage aufgenommen und in eine spätere, gegenüber Rabelais veränderte Wissenslandschaft überführt.3 Integriert werden dabei Bezüge auf viele aktuelle hermetische Texte. Ich werde im Folgenden die diskursive Formation des Hermetismus skizzieren, sodann auf medizinische, alchemistische und emblematische Publikationen Fischarts eingehen, die sich mit dem Hermetismus auseinandersetzen, um schließlich den 1
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1575 erschien die noch als Geschichtschrift betitelte Ausgabe, ihr folgten jeweils erweitert 1582 die zweite und 1590 die dritte. Ich zitiere die Edition von Nyssen (Fischart 1963) und nutze auch die synoptische Edition der drei Fassungen, die von Hildegard Schnabel neu herausgegeben wurde (Fischart 1969). Trotz dieses offenkundigen Befundes fehlt es nach wie vor in vielen Bereichen an wissensgeschichtlichen Einzelstudien zu Fischarts Spielen mit gelehrtem Wissen, was sicher auch auf das Fehlen eines Kommentars zur Geschichtklitterung zurückzuführen ist. Für die Erschließungsarbeiten bieten die älteren quellenkundlichen Arbeiten (Crecelius 1873; Wendeler 1877; Meusebach 1879; Hauffen 1898/1899, 1908 und 1921/ 1922; Weidmann 1911/1912; Böss 1923) nach wie vor nützliche Hilfestellungen. Mit den umfassenden Quellen- und Zitat-Katalogen von Seelbach 2000, S. 289–499, ist die Forschung auf eine neue Grundlage gestellt (vgl. die Rezension von Kellner 2005). Zum Verhältnis von Literatur und Wissen bei Fischart vgl. bes. Müller 1998 sowie die Arbeiten des vormals Dresdner und Zürcher Fischart-Projekts, in welchem grundlegend (Kellner 2007) sowie in Einzelstudien zu verschiedenen Wissensbereichen (Bulang 2006, 2008 und 2010; Kellner 2008) über das Verhältnis der Geschichtklitterung zum Wissen ihrer Zeit geforscht wurde. Vgl. in diesem Band insbesondere auch die Beiträge von Warning, S. 21–39 und Schilling, S. 69–89. Auch für die diskursiven Verschiebungen in Fischarts ›Über-Setzung‹ seiner Vorlage fehlen weitere wissensgeschichtliche Untersuchungen. Zu Fischarts Übersetzungspraxis vgl. Schwarz 1885; Zitzmann 1935; Spengler 1969, S. 259–291; Weinberg 1986, S. 11–19; Baldinger 1991; Schübler 1992, S. 116–143; Hausmann 1995 (Lachkulturen); ders. 1995 (Unmöglichkeit); Bachorski 2006, S. 365f.
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Tobias Bulang
Umgang mit dieser Wissensformation in der Geschichtklitterung näher zu bestimmen.
1. Hermetisches Wissen in der frühen Neuzeit – Wissensgenealogie, hermetische Semiose und sekundärer Kratylismus Unter dem Begriff des Hermetismus ist mit Wilhelm Kühlmann zu verstehen: de[r] diskursive[] Zusammenhang und die vom 15. bis ins 19. Jahrhundert reichende literarische Ausstrahlung eines Teilsektors der neuplatonischen Renaissancephilosophie im Sinne einer ›synkretistischen‹, die christliche Offenbarung überwölbenden, gegen den Aristotelismus und den Konfessionalismus gerichteten Weisheitslehre und theosophisch akzentuierten Naturtheorie.4
In diesen Zusammenhang gehört eine Fülle von frühneuzeitlichen Wissensbereichen, die auf den ersten Blick heterogen anmuten: Astrologisches, alchemistisches, naturmagisches und kabbalistisches Schrifttum zählen zur hermetischen Formation ebenso wie Editionen, Kommentare und Auslegungen bestimmter antiker Texte oder Bilddiskurse über Hieroglyphen und Embleme. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichsten Aktivitäten zunächst ein ähnlicher wissensgenealogischer Entwurf. Hermetiker befassen sich mit der »Überlieferung, Entschlüsselung, Auswertung und […] Restitution eines auf mosaische, ja auf Abrahams oder gar Adams Zeiten zurückweisenden Wissens«, das oft Hermes Trismegistos zugeschrieben wird.5 Neben solchen wissensgenealogischen Behauptungen kennzeichnet hermetische Schriften die charakteristische Verwaltung eines Geheimnisses, eine hermetische Semiose. Arkansprachen, allegorische Verschlüsselungen, gleitende Wortbedeutungen, die Behauptung der Zugänglichkeit des Wissens nur für Eingeweihte sollen auf ein Geheimnis verweisen, dessen Entzogenheit zugleich inszeniert wird, wobei dem Weisen seine heilsame, magische und erlösende Wirkung verheißen wird.6 Zu diesen beiden Merkmalen hinzu kommt das Ungenügen an der Arbitrarität des Zeichens.7 Eine dagegen ins Feld geführte Zeichenkonzeption kann mit Rückgriff auf Platons Kratylos als ›Kratylismus‹ bezeichnet werden. Ihm liegt der Gedanke zugrunde, die Namen repräsentierten die Dinge 4 5 6
7
Kühlmann 1999, S. 145. Ebd. Vgl. Eco 1992, S. 65. Zur Sprache der Hermetiker vgl. Kühlmann 2002, Telle 2002 sowie mit umfassender Aufarbeitung der Literatur Kühlmann/Telle 2004, S. 18–27; zur Sprache der Alchemie auch Buntz 1968, S. 52–67; Biedermann 1973, S. 10ff.; Butor 1984; Haage 2000, S. 41–44. Vgl. zu Sprachreflexionen der frühneuzeitlichen Hermetiker Coudert 1978; Klein 1992, S. 57–202; Nate 1999.
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aufgrund natürlicher Beziehungen und nicht aufgrund einer willkürlichen Einsetzung oder der Konvention.8 Weil diese Vorstellung bereits in Platons Kratylos äußerst kontrovers diskutiert wird, hat Gérard Genette schon bei Platon einen »sekundären Kratylismus« festgestellt, worunter er das Verlangen versteht, »durch irgendeinen Kunstgriff den Naturzustand herzustellen oder wiederherzustellen«.9 Genette verwendet diesen Begriff, um von Sokrates bis Mallarmé immer wieder ›Reisen nach Kratylien‹ auszumachen. Rainer Warning hat gegenüber einem solchen ahistorischen Vorgehen angeregt, den Begriff des sekundären Kratylismus als spezifischen Sprachdiskurs von Renaissancepoetiken zu fassen, wo die Schwierigkeit, sich mit der Arbitrarität des Zeichens abzufinden, greifbar werde.10 Ich meine, dass man diesen Befund auch für die hermetische Formation der frühen Neuzeit ausweiten sollte. Kratylistische Positionen werden in dieser Zeit gegen die in Aristoteles’ Perihermeneias (lateinisch: De interpretatione) entwickelte sprachtheoretische Konzeption einer Arbitrarität des Zeichens artikuliert, also gegen die Vorstellung, dass weder die Schrift noch das gesprochene Wort im Sinne einer im Wesen der Sache gegründeten Analogie die ihm zugeordneten Signifikate bezeichnet. Für die Philosophie des Mittelalters, aber auch für die Schultradition der frühen Neuzeit kann die aristotelische Konzeption der Arbitrarität des Zeichens als communis opinio gelten.11 Der Kratylos dagegen gehört nicht zu den im Mittelalter gelesenen Texten Platons. Man kennt den Inhalt des Dialoges nur insofern er im weitverbreiteten Perihermeneias-Kommentar des Ammonios Hermeiu erwähnt wird.12 Erst 1484 erscheint in Florenz die Übersetzung des Kratylos von 8
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Genette 2001; vgl. zu diesem Thema das Kapitel »Die Richtigkeit der Namen« in der nach wie vor lesenswerten und so kurzweiligen wie instruktiven Einführung in die Linguistik von Porzig 1993, S. 13–49. Wissens- und literaturgeschichtliche Untersuchungen zum Kratylismus finden sich u. a. bei Rigolot 1976; Coudert 1978; Screech 1979, S. 377–396 und S. 424–431; Kaczmarek 1987; Demonet 1992; Eco 1994; Nate 1999. Genette 2001, S. 44. Warning 1987, S. 343–346. Vgl. das Kapitel »The extraordinary fate of ›Peri hermeneias‹« bei Arens 1984, S. 6– 15, sowie Thiel/Radke/Lohr 2005, S. XVI. Dass die Arbitrarität des Zeichens nicht von Saussure ›entdeckt‹ wurde, zeigt eindrücklich Coseriu 1968; vgl. auch MeierOeser 1997, S. 273. Foucaults Ausführungen zu einer Episteme der Ähnlichkeit und einer Episteme der Repräsentation (Foucault 1974) leisteten mitunter der Vorstellung eines Gegensatzes vormoderner analoger und moderner arbiträrer Zeichenkonzeptionen Vorschub (vgl. etwa Fuß 2002). Eine solche Vorstellung wird der Komplexität der historischen Sachverhalte nicht gerecht. Klärend dazu: Otto 1992; Regn 1993, S. 137f., und Meier-Oeser 1997, S. 261f. Ammonius 2005; vgl. Arens 1984, S. 58–158. Der Ammonioskommentar zum Perihermeneias und die dort statthabende Auseinandersetzung mit dem Kratylos war Fischart aus ihrer Darstellung bei Goropius bekannt; vgl. Goropius Becanus 1580, S. 7ff. Fischart besaß diese Ausgabe und hatte sie ausführlich durchglossiert; vgl. zu Fischarts Goropius-Lektüren mit weiterer Literatur Bulang 2006, S. 140–144.
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Tobias Bulang
Marsilio Ficino im Druck.13 Im Kratylos-Kommentar Ficinos wird Platon hermetisiert; er wird eingebunden in die typischen wissensgenealogischen Entwürfe der Hermetiker und in dieser Fassung zum bedeutenden Bestandteil verschiedener frühneuzeitlicher Diskurse neben dem Aristotelismus.14 Der Platonismus Ficinos und das kratylistische Sprachverständnis dringen nicht in die Unterrichtsprogramme der Schulen und Universitäten vor, wo der Aristotelismus weiterhin dominiert,15 und bleiben insofern auch institutionell inferior und sekundär.16 Nicht nur in Fischarts Geschichtklitterung, auch in seiner Fachpublizistik17 finden sich Auseinandersetzungen mit den wissensgenealogischen Entwürfen, der Semiose des Geheimnisses und den Sekundärkratylismen des Hermetismus. Fischarts außerliterarische Publikationen können so auch als eine Art Relais zwischen diskursiven Formationen und der im engeren Sinne literarischen Arbeit Berücksichtigung finden, womit sich in diesem Falle einer Doppelpartizipation die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wissen und Literatur beziehungsweise Episteme und Erzählen erheblich konkretisiert.
2.
Zur Behandlung des Hermetismus in Fischarts Fachpublizistik
2.1 Onomastica II – sprachhermeneutische Aufarbeitung von Arkanbegriffen Fischart gab zusammen mit dem oberrheinischen Paracelsisten Michael Schütz alias Toxites18 bei Jobin einen Band mit zwei Onomastica heraus.19 Im ersten Onomasticon findet sich ein polyglottes Verzeichnis der Synonyme von Namen, welcher – wie es auf dem Titel heißt – sich die Arzet / Apoteker / auch Theophrastus zu gebrauchen pflegen. Diesem ersten, von 13
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Vgl. Hankins 1994, S. 4, und den Census der gedruckten Ausgaben ebd., S. 738–796. Eine philologische Auswertung von Ficinos Übersetzung und der Aufweis ihres immensen Einflusses anhand der Editions- und Rezeptionsgeschichte findet sich bei Hankins 1986; vgl. auch Kristeller 1986, S. 15–196. Vgl. Walker 1954, S. 221–234. Vgl. Kristeller 1959, S. 45. Dies manifestiert sich auch in einem massiven Antikratylismus der aristotelischen Gegenfraktion. Ein Beispiel dafür sind Scaligers antikratylistische Argumente und Invektiven gegen Platonis defensores (Scaliger 1580, S. 146ff.; in anderen Ausgaben: die Kapitel 67 und 68); vgl. dazu Jensen 1990, S. 151–156. Es handelt sich dabei natürlich um einen Verlegenheitsbegriff, bei dem der Aspekt der Publizistik zentraler ist als der des Fachschrifttums. Denn die in den interessierenden Texten verhandelten Sachverhalte lassen sich nicht ohne weiteres Fächern oder Disziplinen zuordnen, wie sie an Schule und Universität relevant sind. Ich nutze den Begriff mit Vorbehalten für Fischarts nicht im engeren Sinne poetischen Texte. Biogramm und Werkverzeichnis in: Corpus Paracelsisticum 2004, S. 41–66. Fischart/Toxites 1574.
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Fischart erstellten Onomasticon folgt ein Onomasticon Theophrasti Paracelsi, das wohl von Toxites kompiliert wurde und bei dem es sich um ein Glossar paracelsischer Arkanbegriffe mit Erklärungen in lateinischer, deutscher, mitunter auch französischer und italienischer Sprache handelt.20 Eröffnet wird der Band durch eine Einleitung des Toxites und eine von Fischart, beide in lateinischer Sprache.21 Insbesondere das zweite Onomasticon gehört in den Kontext des Hermetismus. Sowohl in den Schriften des Hohenheimers und der Paracelsisten als auch in jenen der Alchemisten lassen sich die Merkmale der hermetischen Formation ausmachen. Bei Paracelsus stehen die rechten Namen, die der adamitischen Sprache des Paradieses entstammen,22 im Gegensatz zu den konventionell eingesetzten Begriffen der Universitätsmedizin.23 Adam habe, als er die Tiere benannte, nit aus seinem gut gedunken, sonder aus einer praedestinirten kunst, nemlich aus der kunst signata die rechten Namen gegeben.24 In den paracelsistischen Schriften nun manifestiert sich in solchen Namen eine Arkansprache, die esoterische Traditionen der Alchemie fortschreibt. Allenthalben finden sich hier »rätselhafte, demgemäß ›neue‹, demgemäß (teilweise bis heute!) ›dunkle‹ Ausdrücke, deren begriffliche Eindeutigkeit, elementare semantische Zuordnung oder Ableitung bzw. praktisch-medizinische oder naturkundliche Referenz sichtlich der Klärung« bedürfen.25 Die dunkle Rede wird zum Reizthema der Auseinandersetzungen zwischen den Paracelsisten und ihren Gegnern.26 Das Onomasticon des Toxites reiht sich ein in eine Fülle paracelsischer und alchemistischer Thesauri und Synonymenverzeichnisse des 16. Jahrhunderts,27 in denen Arkansprache hermeneutisch aufgearbeitet wird. Typisch in diesem Zusammenhang ist auch die Vorrede des Toxites; sie enthält eine differenzierte Apologie der dunklen Rede,28 20 21
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Bei Jobin erschienen weitere Paracelsistika: Paracelsus 1572; Wolff 1582. Die Vorrede des Toxites findet sich mit deutscher Übersetzung und Kommentar in: Corpus Paracelsisticum 2004, Nr. 55, S. 321–331. Fischarts Vorrede wurde in Birlingers Alemannia gedruckt (Fischart 1873); vgl. auch die Paraphrase bei Hauffen 1922, S. 185ff. So z. B. in Die 9 Bücher De Natura rerum (Paracelsus 1928, S. 397f.). Vgl. zur Sprachreflexion der Signaturisten Klein 1992, S. 121–144; Ohly 1999, S. 73–86; Fuß 2002. Vgl. Paracelsus’ Defensiones Septem (Paracelsus 1928, S. 131ff. und 135f.); vgl. Weimann 1999; Fuß 2002, S. 341. Paracelsus 1928 (Bücher), S. 397f.; vgl. etwa auch Paracelsus’ Astronomia Magna oder die ganze Philosophia sagax der großen und kleinen Welt (ders. 1929, S. 92); vgl. Ohly 1999, S. 74. Kühlmann/Telle 2004, S. 19; vgl. auch das Kapitel »Fach- und ›Arkansprache‹« bei Buntz 1968, S. 52–60. Vgl. dazu Kühlmann/Telle 2004, S. 20. Eine Übersicht über diese Publikationen ebd., S. 19f. Zu handschriftlichen ParacelsusGlossaren der Zeit vgl. Quecke 1953; zur Paracelsus-Lexikographie auch Weimann 1981. Vgl. Hauffen 1922, S. 185.
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ebenso die Auseinandersetzung mit dem Problem, dass Erläuterungen der Arkansprache mit dem alchemistischen Geheimhaltungsgebot konfligieren. Die dunkle Rede wird gerechtfertigt, zugleich wird ihr lexikographisch entgegengearbeitet.29 Das erste, von Fischart erstellte Onomasticon hat Berührungspunkte mit der hermetischen Formation, steht aber auch in anderen Kontexten. In seiner Vorrede wendet sich Fischart an die Studenten der Medizin, denen mit dem Onomasticon die Sprache der Alchemisten, Apotheker und Salber erschlossen werden soll. Paracelsus wird nicht erwähnt. Behandelt wird in der Vorrede weitgehend die Nomenklatur der Pflanzen, wobei auf Gesners Catalogus plantarum und auf Dioskurideskommentare sowie auf pflanzenkundliche Schriften von Lusitanus, Matthiolus, Johannes Ruellius und Lonicerus Bezug genommen wird; erwähnt wird auch der polyglotte Nomenclator onmium rerum des Hadrianus Junius.30 Fischart betont, dass die Pflanzennamen verschiedener Sprachen im Gehalt übereinstimmten und dass mittels der Etymologie der Namen die Gestalt oder Wirkungen der Pflanzen erschlossen werden könnten.31 Im Fischartschen Verzeichnis dann macht die Pflanzennomenklatur nur einen Teil aus. Die Einträge des Onomasticon I sind nach folgenden Sachgruppen geordnet: Gemmen und Metalle, Tierwelt, soweit sie für die Apotheke in Betracht kommt, Bäume und was von ihnen kommt, Wohlgerüche und Spezereien, Getreidearten und Hülsenfrüchte und schließlich die Namen der in den Apotheken gebräuchlichen Pflanzen und Wurzeln.32 Die gewählten Sachgruppen weisen auf ein pharmakognostisch und pharmako-alchemisch interessiertes Zielpublikum.33 Das lexikographische Ergebnis ist hybrid. Es ist weder als Verzeichnis paracelsistisch-alchemistischer Fachsprache noch als nach Sachgruppen geordnetes Synonymlexikon noch als deutsches Wörterbuch ohne Probleme 29
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Kühlmann 2002, S. 249, spricht treffend von der »Ambivalenz einer paraenetischen Kundgabe des Fortschritt und Nutzen verheißenden Arkanums einerseits, einer auch die verdunkelte Andeutung rechtfertigenden Restriktion andererseits«. Über Vorreden zu den lexikographischen Versuchen der Paracelsisten generell und über die Vorrede des Toxites im besonderen vgl. Kühlmann/Telle 2004, S. 25ff. Fischart 1873, S. 145f.; vgl. Böss 1923, S. 2 und 8f. Zum Diskurs über die Nomenklatur der Pflanzen in der frühen Neuzeit und Fischarts Spiel damit vgl. mit weiterer Literatur Bulang 2010. Einen fundierten Überblick über diesen Diskurs und die in ihm verhandelten philologischen Probleme bietet Meier Reeds 1991. Zum Humanismus in der Pflanzenkunde vgl. Dilg 1980. Onomastica II gliedert sich wie folgt: de Gemmis & Metallicis (Fischart/Toxites 1574, S. 1–51), Animalia quorum vsus est in Officinis (S. 51–65), Arbores et quæ ex arboribus generantur (S. 66–99), Aromata & Species (S. 99–110), Frumenta et legumina (S. 110–122), Herbæ radiesque Officinarum (S. 122–382). Über dieses Zielpublikum weiß man einiges: Die Fugger-Brüder, denen das Buch gewidmet ist, sind als Alchemisten bekannt, und durch einen glücklichen historischen Zufall ist das Inventar ihres Laboratoriums in Kirchberg am Wagram/Oberstockstall erhalten geblieben. Deshalb lassen sich die vorgenommenen Praktiken und Experimente nachvollziehen; vgl. Soukup/Mayer 1997.
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benutzbar. Die Ordnungssysteme sind inkonsequent verwendet: Die Einträge in den einzelnen Sachgruppen sind nicht durchgängig alphabetisch geordnet, die Sachgruppengliederung selbst ist unzuverlässig: Unter den Steinen und Metallen findet sich auch Butter, Fett, Milch und Wasser, Kuhmist und Hundekot. Im letzten Teil, der die Pflanzennamen behandelt, findet sich gegen Ende immer mehr Heterogenes: unter anderem Wasserfrosch, Bier und Menschenblut.34 Auffällig ist eine eigentümliche Doppellemmatisierung der Synonymketten. Die ersten Ausdrücke der untereinander angeordneten Einträge sind die kursiv gesetzten deutschen. Die Ausdrücke jedoch sind nicht alphabetisch geordnet.35 Mit breiterem Durchschuss und größerer Antiquatype ist nach den deutschen, französischen, italienischen und gegebenenfalls englischen oder spanischen Wörtern ein weiterer Begriff noch einmal abgesetzt und hervorgehoben, dem dann, wie im Vorwort angekündigt, die »verschiedenen Synonyme bald der Araber, bald der Hebräer, Griechen, Libyer, Meder und Lateiner, der Alchemisten und Quacksalber« folgen.36 Die zusätzlich markierten Begriffe entstammen verschiedenen Sprachen,37 auch sie folgen keiner alphabetischen Ordnung. Die den Einträgen vorangestellten Nutzungshinweise lassen diese drucktypisch herausgesetzte Stelle unbestimmt; man wird nicht in der Annahme fehlgehen, dass es sich bei ihnen um die auf dem Titel angegebenen Ausdrücke handelt, welcher sich die Arzet / Apoteker / auch Theophrastus zu gebrauchen pflegen. Da die in der Vorrede angekündigten Wortindices fehlen, ist eine zuverlässige Benutzbarkeit kaum gewährleistet.38 Fischart hat für die Kompilation der Einträge neben Gesners Catalogus Plantarum weitere pflanzenkundliche Schriften, Dioskurideskommentare und alchemistische Glossare genutzt sowie den Nomenclator omnium rerum des Hadrianus Junius.39 Die Heterogenität solcher Quellen trägt zu der Hy 34
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Fischart/Toxites 1574, S. 321, 358, 377. Vgl. auch den folgenden Eintrag, ebd., S. 318f.: Nichts / Gro nichts / Weis nicht / vnˉ Rusfuncken von gebrantem Helfenbein, sowie S. 330: Harm / Brunn / Brunz / Brunzwasser / Pisse / Seich – mit Sicherheit keine Pflanzen. Zur Lemmatisierung deutscher Ausdrücke und ihrer alphabetischen Gliederung als Voraussetzung für ein deutsches Wörterbuch vgl. Grubmüller 1986. Übersetzung T. B.; Fischart/Toxites 1574, S. 1: Ut Onomasticon hoc cuiuscunque nationis hominibus conduceret: collocauimus primo loco nomina materiarum Germanico nostro idiomate reddita: secuˉ do Francico: tertio Italico: quarto (si dari potuit) Hispanico, aut Anglico: eáque loco subiecti (ut ita loquar) quod deinde per uaria synonima cúm Arabûm, tum Hebræorum, Græcoruˉ , Lybicorum, Medoruˉ , & Latinorum, Chymicorum, & Pharmacopolarum explicatur. Hauffens Bemerkung, als »zweite Überschrift« stehe der lateinische Ausdruck (Hauffen 1922, S. 186), trifft so nicht durchgehend zu. Fischart/Toxites 1574, S. 1: Tractaturque per literas Alphabeti priores, ut commodius postea in Indice quæuis materia quæri poßit. Vgl. zur Benutzbarkeit auch Hauffen 1922, S. 187. Zu weiteren Quellen vgl. Böss 1923. Den Nomenclator nutzt Fischart auch ausgiebig zur Kompilation seiner Wortketten in der Geschichtklitterung; vgl. dazu Weidmann 1911/1912 und Bulang 2008, S. 93f.
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bridität des Verzeichnisses bei. Man betrachte nur den Eintrag zum Quecksilber: Quecksilwer. | Gal. Argent vif. | Hisp. Azogue. | Argentum vivum. | Argentum Martis. | Azoch. | Assob. | Assor. | Arbachest. | Az. | Azar. | Azerot.| Azet. | Azut. | Azduc. | Zalubar. | Argentum aquosum. | Albach uiuum. | Agrios. | Amarit. | Aqua nostra: Chy. | Aqua philosophorum. | Aqua lucens. | Aqua acuta. | Aqua congregationis. | Aqua cœli. | Aqua frigida. | Aqua lubrica. | Aqua mortis. | Zibatum. | Vomica liquoris æterni. | Hydrargyrum. | Χυτὸς ἀργυρὸς. | Αποσπερματισμὸς δράκοντος: Chy. | Minij secundarij effectus. | Fel draconis | Discus solis. | Aqua uiscosa. | Aqua Siaca. | Aqua uiua. | Almargasita. | Album plumbum. | Alembic. | Alkardi. | Anima mineralis: Chym. | Aquila volans: Chym. | Antherit. | Acetum acerrimum. | Acetum adhærens. | Bezech. | Belach. | Arsenicum. | Centrum terræ. | Caligo. | Caphaym. | Caffar. | Cauda draconis. | Cantir. | Coagulum: Chymicè. | Dominus elementorum: Chymicè. | Syret. | Dabeth. | Latro. | Draco: Chymice. | Draco, qui exurit omnem rem. | Draco, qui maritat seipsum. | Draco, qui impregnat seipsum. | Draco, qui interficit in die suo. | Draco, qui interficit omnia ueneno suo. | Draco, qui perdit omnem rem. | Draco, qui punit omnem rem. | Eylacus. | Fons uiuus. | Filius fugitiuus: Chymicè. | Fida. | Fiada. | Frigiditas. | Fumus albus. | Fons animalis. | Barchar. | Giumna alba. | Humiditas. | Herba ablutionis. | Ipostas albus. | Idosseos. | Keseff uagus. | Luna uiua. | Latro fugitiuus. | Lapis noster: Chymicè. | Lapas. | Lac uirgineum. | Mercurius. | Massal. | Mysterium: Chymicè. | Mors: Chymicè. | Modar. | Nubes. | Mahot. | Oculus auri: Chymicè. | Oculus argenti. | Oleum mollificans. | Ocultum scientiæ: Chym. | Ozac. | Pater mirabilis, Chymicè. | Racha. | Scorpio caudatus, Chym. | Serpeˉ s uenenosus, Chym. | Saybacht. | Seruus nequaˉ , Chymicè. | Seruus citrinus, Chy. | Seruus fugitiuus, Chy. | Seruus ambulans, Chym. | Spiritus ambulans, Chy. | Spiritus fatuus, Chym. | Spiritus uolans, Chym. | Sperma lunæ, Chym. | Sperma acerrimum, Chy. | Sputum acerrimum, Chy. | Sputum melancholicum. | Sputum non adurens. | Stagnum. | Stilbous. | Tharit. | Totum secretum, Chy. | Tußis. | Zarachar. | Zybat.| Zauco. | Zaucolezuco. | Zahyber.40
Neben Übersetzungen (Argentum vivum) gibt es hier auch eine Fülle von alchemistischen Decknamen (Alembic) und allegorischen Chiffrierungen (Vomica liquoris æterni. […] Draco, qui maritat seipsum. | Draco, qui impregnat seipsum. […] Sperma lunæ […] | Sputum melancholicum usw.). Die Synonymkette wird von den hermetischen Chiffrierungen regelrecht überwuchert (Abb. 1–3). Man betrachte andererseits die Pflanzennomenklatur. In seiner beeindruckenden Aufarbeitung der historischen deutschen Pflanzennamen bemerkt Heinrich Marzell, dass Fischart in seinem Onomasticon viele Verwechslungen unterlaufen seien, dass er oft deutsche Namen durch Übersetzung aus dem Lateinischen oder durch Neubildungen gewonnen habe.41 Dies wird deutlich am Eintrag zum Lauspfeffer: Lauspfeffer / Laͤ uskraut / Berkicher / Brachrosin / Beisminz / speichelkraut / Minˉ erbrüdersameˉ / Observantensameˉ / Barfůsersamen / Wolfskraut. Gal. Saphisagrie, herbe aux poulx. Italicè, Staphisagria, staphusaria, semenza de frati. Hisp. Fabaraz, paparraz, havarraz. | Abeldras. | Abelius. | Astaphis. | Αταφις ἀγρία. | Apanthropon. | Arsanotha. | Caput purgium. | Granum capitis. | Grana armonia. | Gra 40 41
Fischart/Toxites 1574, S. 11ff. Marzell 1980, Bd. 1, S. 16.
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namina. | Halberas. | Habaras. | Harahas. | Herba pedicularis. | Halieldras. | Ibeseaoede. | Istias fisagria. | Minberigi. | Pascula montana. | Pedicularia. | Pituitaria. | Pseudopathes. | Φθειροκτόνον. | Phtheroctonon. | Staphis agria. | Σταφὶς ἀγρία. | Stafisagria. | Stesion. | Triphillon. | Vua siluestris.42
Viele der deutschen Namen, aber auch einige der anderen Sprachen sind bereits vor Fischart für Delphinium Staphisagria Linné, den scharfen Rittersporn, belegt. Mit Minˉ erbrüdersameˉ / Observantensameˉ / Barfůsersamen jedoch hat Fischarts Onomasticon Erstbelege.43 Heinrich Marzell führt sie auf die verschmutzten Kutten der Franziskaner zurück, die sehr unter Läusen zu leiden gehabt hätten.44 Vielleicht hat ja Fischart diese Namen erfunden, indem er von den Bezeichnungen ausging, welche auf die Läuse vertilgende Wirkung der Pflanze anspielen – entsprechende konfessionspolemische Reflexe wären gerade bei diesem Autor nicht unwahrscheinlich. Anregend für die Sprachspielerei könnte zudem der italienische Ausdruck semenza de frati gewesen sein, den Fischart aus dem Nomenclator des Hadrianus Junius übernommen hat.45 Dass es in einem solchen Wörterverzeichnis Neubildungen gibt, überrascht nicht. Die Unvollständigkeit der deutschen Sprache ist ein Problem der Zeit, Neubildungen sind allenthalben notwendig. Bei der Aufarbeitung hermetischer Begriffe inventarisiert Fischart deutsche Ausdrücke und eruiert mitunter Möglichkeiten der deutschen Sprache, wie sich auch im teilweise glossierten Handexemplar des Verfassers zeigt, welches am Rande weitere deutsche Sprachspiele enthält.46 Die sprachhermeneutische Aufarbeitung der paracelsischen Arkanbegriffe verbindet sich dabei mit einem Interesse an der Lexikographie der deutschen Sprache und Mundarten einerseits, an ihren Ausdrucksmöglichkeiten andererseits.47
2.2 Correctorium Alchymiæ – Stilkritik hermetischer Semiose Auch als Herausgeber und Übersetzer alchemistischer Schriften reflektiert Fischart auf die Sprache der Hermetik. Die Vorrede zu dem erstmals 1581 bei Jobin erschienenen Correctorium Alchymiae enthält die von Fischart verfasste Vorwarnung An den Gönstig Gutherzigen Kunstliebenden Leser von Achtung der Alchimei.48 Die Vorrede nimmt alchemische Schriften und Praktiken gegen ihre Gegner ebenso in Schutz wie gegen ihre Befürworter. 42 43 44 45 46
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Fischart/Toxites 1574, S. 176f. Marzell 1980, Bd. 2, S. 74–77; vgl. auch Böss 1923, S. 8; Hauffen 1922, S. 187. Marzell 1980, Bd. 2, S. 75. Junius 1567, S. 158 (unter Staphys agria). Zu Fischarts handschriftlichen Einträgen Hauffen 1922, S. 188; Hoffmann 1996, S. 552f. In diesem Sinne würdigt Jacob Grimm das Onomasticon; vgl. Meusebach 1879, S. 217. Fischart 1596. Zu diesem Themenkomplex sind nach wie vor die Ausführungen Wendelers 1877 informativ, auch wenn diese letztlich nicht ihre Ablehnung der Alchemie
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Die gängige Apologetik und Topik ist bei Fischart aufgelockert durch beigegebene Spottverse und Exempel. Jenes von Kaiser Tiberius, der, als das Glas erfunden worden sei, die neue Erfindung verboten und die Tötung der Erfinder veranlasst habe, um eine Entwertung des Goldes zu verhindern, eröffnet die Vorrede. Alternativ zur ökonomischen Begründung der harten Strafe bietet Fischart eine diätetische für das Verhalten des Kaisers: Tiberius sei ein Biberius gewesen und hätte aus dem neuen Glase jhm selbs eyn Aberwitz getruncken gehabt, weil der Wein ihn so schön angelacht habe.49 Die Folgen des Abusus habe der Kaiser dem Glas und den Glasmachern angelastet. Davon ausgehend rechtfertigt die Vorrede einerseits die Goldmacherkunst, andererseits die auf Basis alchemistischer Praktiken entwickelten neuen Arzneimittel. Die Arkannamen der Alchemisten werden dabei für die Exempel und die Gegenwartsdiagnostik funktionalisiert: Tiberius sei kein Lutum sapientiae, sondern eyn Lutum sanguine maceratum, das ist eyn Leymen mit Blut gewürcket.50 Jene, die Goldmacherei und neue Arzneikunst ablehnten, werden als Luta macerata Consuetudine bezeichnet.51 Aber auch die Geheymnuß Erfahrene[n] stellten ihrerseits fürwitzige Tiberios dar.52 Weil sie fürchten, es möchte dises Mystery zu gemeyn vnˉ jederman bekantlich werden, vnd also männiglich zu vberflüssiger Reichtum ˉ gedeien, so befleißigten sie sich, dise Kunst auffs aller verborgenest, vnverständlichst, vndeitlichst, vnˉ wie eyn verdeckts Essen den Leuten fürzutragen, vnˉ gleichsam Sphyngis oder Rähtersweiß auffzugeben.53 Hier kritisiert Fischart die dunkle Rede, fordert von den Autoren Verständlichkeit und occinir[t] den Rhätersschreibern folgendes Lied: Entweder schreib, daß man versteh, Oder des Schreibens müssig geh: Willt schreiben, daß man nicht soll wissen, So last das Papir wol vnbeschissn.54
Im Folgenden entkräftet Fischart die Standardapologien der Alchemisten ihre dunkle Rede betreffend und fordert schließlich eine Klarheit der Diktion als Form des naturgemäßen Schreibens: Wiltu ein Nachömer [!] vnd Folger der Natur sein vnd heyssen, so folge auch im schreiben der Natur, vnd schreib verstäntlich: Es wirts dannoch nur fassen, der da mag.55 Die Polemik gegen die fremdesten vnˉ weitgesuchtesten Wörter vnd Gleichnus-
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verhehlen und Fischart entsprechend in Schutz zu nehmen suchen. Ebd., S. 496–501, auch ein Abdruck der Vorrede, aus dem ich hier und im Folgenden zitiere. Ebd., S. 496f. Ebd., S. 497. Ebd., S. 498. Ebd., S. 499. Ebd. Ebd. Ebd., S. 500.
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sen56 zeigt, wie auch das Onomasticon, eine Zwischenposition Fischarts an: Der hermetische Diskurs wird einerseits bedient, andererseits stilkritisch, sprachdidaktisch beziehungsweise durch sprachhermeneutische Aufarbeitung auch distanziert.
2.3 Emblematum Tyrocinia – die Germanisierung der Embleme Mathias Holtzwarts Emblematum Tyrocinia erschien 1581 bei Bernhard Jobin.57 Man hat dieses Emblembuch zu Recht im Zusammenhang einer Emanzipation volkssprachlicher, moraldidaktisch funktionalisierter Emblematik von dem esoterischen, ›hieroglyphischen‹ Emblemverständnis humanistischer Gelehrtenzirkel situiert.58 Die von der Renaissancehieroglyphik inspirierte frühe Emblematik gehört in den hermetischen Komplex.59 Die Florentiner Neuplatoniker sehen Hermes Trismegistos selbst als Erfinder der ägyptischen Hieroglyphen an.60 Die vermutlich erst in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts nach Christus verfassten Hieroglyphica des Horapollo61 werden 1419 wiederentdeckt, ab 1505 vielfach ediert und übersetzt und sogleich als uraltes Dokument ägyptischer Weisheit aufgefasst.62 Die Humanisten betrachten Hieroglyphen fälschlicherweise als reine Bilderschrift und als initiatorische Symbole, die das geheime Wissen einer Priesterkaste codieren.63 Als »Modellfall einer für das Auge direkt erfaßbaren, nicht-kon 56 57
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Ebd. Holtzwart 2006. Digitalisat online unter: http://diglib.hab.de/drucke/t-355-helmst-8f-2/ start.htm. Düffel/Schmidt 2006, S. 226; Henkel/Schöne 1996, S. XVII; Lailach 2000, S. 38. Zu den Zusammenhängen zwischen Hieroglyphik und Emblematik vgl. z. B. Giehlow 1915; Volkmann 1923, S. 4–9; Dieckmann 1970. Vgl. z. B. Walker 1954, S. 221–234; Wittkower 1996, S. 222f. Ausgaben: Horapollo 2002 sowie ders. 2001 mit sehr hilfreicher deutscher Übersetzung. Die englische Übersetzung von Boas (Horapollo 1950) hat eine sehr gute Einleitung. Vgl. generell zur Rezeption Thissen 1998. Nach der ersten Ausgabe 1505 bei Aldus Manutius in Venedig (vgl. dazu Giehlow 1915, S. 16–24) erschienen in den nächsten hundert Jahren 30 Editionen, Übersetzungen und Nachdrucke in verschiedenen Sprachen (vgl. Thissen 1998, S. 3), auf deutsch zuerst in Herold 1554, dritter Teil, S. 85– 130. Pirckheimers handschriftliche Übersetzung für Kaiser Maximilian mit den Illustrationen Dürers wird ausführlich dargestellt bei Giehlow 1915, S. 99–102. Zu Dürers Hieroglyphik vgl. Panofsky 1955, S. 173f. Zu den Formen phonologischer Referenz bei Hieroglyphen und zur Geschichte ihrer Auslegung vgl. die kurzen und anschaulichen Ausführungen von Thissen 1998, S. 1– 6; zur aenigmatischen Hieroglyphik vgl. auch Dieckmann 1970. Typisch für das folgenreiche doppelte Missverständnis der Renaissancehieroglyphik ist auch der Titel der deutschen Übersetzung von Johannes Herold (1554, dritter Teil, S. 85): Bildschrift Oder Entworffne Wharzeichen dero die vhralten Aegyptier / in ihrem Goͤ tzendienst / Rhaͤ tten / Gheymnussen / vnd anligenden gschaͤ fften / sich an statt der buͦ chstaͤ blichen schrifften gepraucht habend. Jnn zwei buͤ cher durch etwa Horum ein Heylig geachten Priester vnd Künig in Aegypten / vor dreytausent hundert jaren verfaßt / vnnd beschriben.
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ventionellen, d. h. ›natürlichen‹ Sprache«64 wird das Hieroglyphenverständnis auch auf emblematische Sinnbildung übertragen.65 Mit dem Übergreifen der Emblematik auf die Volkssprachen tritt das hermetische Moment dann zunehmend zurück. Diese Ablösung ist über weite Strecken Gegenstand von Fischarts Vorrede zum Holtzwartschen Emblembuch: In diesem Kurtze[n] vnd Woldienliche[n] Vorbericht / von Vrsprung / Namen vnd Gebrauch der Emblematen / oder Eingeblömeten Zierwercken66 wird die emblematische Tradition erstmals in deutscher Sprache thematisiert. Der – wie es heißt – noch zur zeit bei den Teutschen vngewohnte[] Titel des Buches67 enthält bereits mehrere deutsche Übersetzungen des Emblembegriffs.68 Die auf dem Titelblatt versammelten deutschen Entsprechungen für den Emblembegriff enthalten Spannungen zwischen dem Handwerklich-Ornamentalen (Zierwerck), poetischer Sinnbildung (Gemælpoesy) und aenigmatischer Semiose (GeheymnußLeren), welche von der Vorrede aufgegriffen und wie folgt begründet werden: Bezeichne man heute Poetische[] Geheymnuslehrige[] Gemäle[] als Embleme, so hätten die Griechen ursprünglich andere Arbeytsinnige[] Künste[], insbesondere Bauschmuck, so bezeichnet; der Begriff sei erst später auf Lehrgemäl verwendet und gezogen worden.69 Insbesondere wenn solche Schmuckelemente bedeutsam aufgeladen waren und Geheimnisse enthielten, hätten die Griechen ihnen mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen als den Gebrauchsgegenständen selbst. Deshalb nun sei es auch im Deutschen zulässig, für Sinnreiche[] Erfindungen / Poetische[] Dichtungen / Gemälmysterien vnd verdeckte[] Lehrgemäle[] Begriffe aus der Sphäre des Handwerks zu übertragen: Darumb haben auch wir nunzumal inn vnserer Sprach / gleich so wol als die Griechen / vns diser Freiheyt angenommen / vnd von obberuͦ rten Künsten auff fürgeschlagene Materi sondere Wörter vnd Namen verwendet: Gäntzlich darfür haltend / wa man vorgesetztes alles gründlich erwiget / daß man sich nicht mer der Frembde zuverwunderen / sondern der Deitlichkeyt vnd Reichlichkeyt vnserer Sprach wird zubefräuen haben.70
Das Emblemverständnis wird so durch die sprachgeschichtliche Begründung rationalisiert und ›ent-hermetisiert‹. Zugleich betont und exponiert 64
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Scholz 2000, S. 46; vgl. auch das Kapitel »Die vollkommene Sprache der Bilder« bei Eco 1994, S. 153–187, sowie Scholz 1994, S. 315f. Zur Auffassung der Hieroglyphe als Sinn-, nicht als Sprachträger vgl. Winter 1991, S. 99; Wittkower 1996, S. 218–245; Gombrich 1986. Wie die Hieroglyphenkunde des Humanismus in der Allegorie der Renaissance weiterwirkt, zeigt Giehlow 1915; vgl. auch Henkel/Schöne 1996, S. Xf. Fischart 2006. Ebd., S. 7. Weitere Übersetzungsvorschläge Fischarts: Ein oder angeworffen arbeyt (ebd., S. 8), Kleynotgehänck vnd Einbluͦ mungen (ebd., S. 10); vgl. hierzu auch Lailach 2000, S. 35. Fischart 2006, S. 7. Ebd., S. 10f.
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Fischart bei dieser Gelegenheit den Möglichkeitsreichtum der deutschen Sprache. Nach der Abhandlung des Namens wendet sich Fischart dem Ursprung der Embleme zu. Kurz kommt Fischart in diesem Zusammenhang auch auf die liebe[n] Redliche[n] Vorfaren zu sprechen, die der Reden vnd Worten gewarsam vnd sparsam / aber der Wehr sehr gefarsam gewesen seien und welche Ehr und Wehrgemerck […] zur auffmanung vnd anreytzung / jrer ererbte[n] […] Tugend verwendet hätten.71 Gemeint sind die Germanen, die keine Schriften hinterlassen haben, über deren virtutes man aber bei Tacitus einiges lesen kann.72 Gegen die These vom kriegerischen Ursprung der Embleme im Waffenschmuck der Noachiden, insbesondere Nimrots, führt Fischart die Commentatores vber den ältesten Historicum Berosum an, um nun zu zeigen, [w]as aber eygentlich solcher Schmuck oder Bildnuß bei den ersten Enickeln / Nefen vnd Nachkommenen des Noe sei gewesen.73 Sie hätten nämlich zum Gedächtnuß der Weltflut Schiffe, Meerfische oder den Ölzweig der Taube auf ihren Waffen, Fahnen und Segeln geführt.74 Den Emblemen wird also ein funktioneller Ursprung in der memoria zugewiesen und ein historischer Ursprung bei den Noachiden. Dabei fallen einige deutsche Etymologien auf: Die Noachiden hätten das Schiff nach Noa(ch) einen Nachen genannt, und aufgrund des Wallen[s] auff den Wassern hätten sie von einer Walleen beziehungsweise einer Galee gesprochen.75 Hier wird nun nicht nur der Name, sondern auch der Ursprung der Embleme germanisiert.76 Denn dies steht in den Fluchtlinien der Rezeption, die deutsche Humanisten den Schriften des Priesters Berosus angedeihen ließen. Es handelt sich dabei um die Fälschung des Giovanni Nanni (Annius von Viterbo), die von nationalistischen Geschichtsschreibern 100 Jahre lang immer wieder beansprucht wird, um die unmittelbare Abkunft der Germanen von den Noachiden (insbesondere von dem von Annius erfundenen Tuisco) zu behaupten und so den uralten Ursprung der Deutschen zu entwerfen und mit der Heilsgeschichte zu harmonisieren.77 Entsprechend kommt auch bei der Abhandlung des Gebrauchs der Embleme den Deutschen eine wichtige Rolle zu: Barbarossa habe gegen den ausschweifenden Umgang mit solchen 71 72 73 74 75 76
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Ebd., S. 11. Vgl. zur Tacitus-Rezeption der Zeit Krebs 2005. Fischart 2006, S. 12. Ebd. Ebd. In der Geschichtklitterung erwähnt Fischart den biblischen Jäger und ersten Beherrscher der Menschen Nimprot (Nimrot), der so heiße, weil er den Leuten auf seinen Kriegszügen das Brot weggenommen habe; Fischart 1963, Kap. 28, S. 284.9–15. Annius 1498. Zu dieser Fälschung jüngst und ausführlich Schmidt-Biggemann 2006. Zu Fischart und Giovanni Nanni vgl. mit weiterer Literatur Bulang 2006, S. 132f. Zur Rolle der Hieroglyphen in Annius’ Fälschung der berosischen Schriften Giehlow 1915, S. 40–46.
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Zeichen eine neue Ordnung etabliert, die dann alle Völker, insbesondere die Franzosen und zuletzt auch die Italiener den Deutschen nachgeahmt hätten. Den heutigen Verwirrungen und Missbräuchen in dieser Angelegenheit würden die Emblembücher begegnen, die Fischart nach Verfassern katalogisiert und in deren Fluchtlinie er sein deutsches Projekt stellt. Durchgängig zeigt sich in Fischarts Vorrede, dass die offensive ›Ent-hermetisierung‹ der Emblematik mit ihrer Germanisierung verklammert wird.78 Es ist vor diesem Hintergrund völlig schlüssig, dass den Emblematum Tyrocinia zwölf Bildnisse der ersten deutschen Könige und Fürsten beigebunden sind, bei denen es sich um Holzschnitte handelt, die Tobias Stimmer nach Vorlagen von Peter Flötner, Wolfgang Lazius und Jost Ammann angefertigt hatte und die mit lateinischen und deutschen Versen versehen sind.79 Vor und nach dieser Graphikserie ist jeweils ein patriotisches Blatt mit einem Bild von Stimmer und einem Gedicht von Fischart eingefügt; eines davon ist überschrieben mit: Germania domitrix gentium (Abb. 4), das andere behandelt die deutschen Tugenden.80 Einmal mehr wird hier die nationalistische Funktionalisierung der Bilddiskurse und -praktiken deutlich.
3. Hermetik und Fischarts Geschichtklitterung – einige Beispiele Bereits Rabelais parodierte in der Riesen-Pentalogie hermetisches Wissen,81 so beispielsweise auch auf dem Titelblatt des Gargantua, auf dem Rabelais 78
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Dass Fischart hier die Tradition der Hieroglyphica im Sinne eines Nationalgedankens umschreibt, betont auch Lailach 2000, S. 33f. Es handelt sich dabei um eine neue Bearbeitung der bereits 1573 bei Jobin gedruckten Eikones cum brevissimis descriptionibus duodecim primorum primariorumque, quos scire licet, ueteris Germaniæ Heroum. Im oben, Anm. 57, erwähnten Digitalisat der Emblematum Tyrocinia ist die beigebundene Neuausgabe der Eikones von 1581 mit erfasst. Die deutschen Verse stammen von Burkhard Waldis und wurden 1543 mit Bildern Peter Flötners in Nürnberg gedruckt. Nach Flötners Bildern fertigte Wolfgang Lazius Holzschnitte für sein Buch über die Völkerwanderungen (Lazius 1557). Waldis’ deutsche Verse finden sich mit Holzschnitten von Jost Ammann auch zu Beginn von Turmairs Bayrischer Chronik (Aventinus 1566). Die lateinische Übersetzung der Verse stammt von Mathias Holtzwart; die erste Ausgabe der Eikones bei Jobin erschien auf Latein, ohne Beigabe der deutschen Verse. Die Ausgabe von 1581 versammelt also die Stimmerschen Bilder der alten Ausgabe, gibt die lateinischen Verse Holtzwarts und die deutschen von Waldis wieder und ergänzt zwei deutsche Gedichte Fischarts. Zu den verschiedenen Graphikserien der ›Zwölf ersten deutschen Könige‹ vgl. mit viel Bildmaterial die Untersuchung von O’Dell 1993. Die Abbildung der Germania und Fischarts Gedichte finden sich auch in Fischart 1895, S. 385–390. Eine knappe inhaltliche Darstellung der Bilder und Gedichte bei Hauffen 1922, S. 19f. Etwa in den Prologen zum Pantagruel: Rabelais weist an, dass sein Buch überliefert werden solle wie die Kabbala (Rabelais 1973, S. 213). Im dritten Buch nimmt der verzweifelte Panurge bei allen möglichen hermetischen Künsten Zuflucht, um heraus-
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seinen Namen als Alcofribas Nasier anagrammatisiert und Abstracteur de quinte essence daruntersetzt. Fischart überbietet Rabelais’ Anagramm durch ein Traduktionym des eigenen Namens: In Huldrich Elloposcleron verbirgt sich die deutsche Entsprechung für den hebräischen Namen Johannes (Huldrich), und es werden die griechischen Lexeme für ›Fisch‹ und ›hart‹ kombiniert: ἔλλοψ und σκληρόν.82 Anstelle des alchemistischen Abstraktors der Quintessenz bei Rabelais spielt Fischart zunächst seine eigene »Sprachalchemie« ein83 und sodann ein Bildarrangement: ein Autorensignet, das verschiedene ›Fischarten‹ (einen Krebs und einen Aal) mit einer lateinischen Devise und ihrer deutschen Übersetzung als Überschrift (Si laxes erepit: Si premas erumpit. | Zu Luck entkriechts: Ein Truck entziechts.) sowie einer Bildunterschrift zeigt (Im Fischen Gilts Mischen – ein Kryptonym). Auf den Perspektivenreichtum dieses programmatisch übercodierten Titelblatts (Abb. 5) kann ich hier nicht umfassend eingehen.84 Aber deutlich geworden sein dürfte die literarische Anverwandlung hermetischer Elemente: Bei der Übersetzung von Rabelais’ alchemistischem Spiel in ein emblematisches bleibt Fischart innerhalb der hermetischen Formation. Mehr noch als Rabelais operiert Fischart dabei mit Vielsprachigkeit und komplexen Codierungstechniken. Die ›Pantagruelismen‹, die Rabelais auf dem Titelblatt des Gargantua ankündigt, gibt Fischart in charakteristischer dilatatio als Pantadurstige[] Mythologien oder Geheimnus deutungen wieder,85 womit er dem Rabelaisschen Begriff einen spezifischen Akzent verleiht, der die Parodie hermetischen Wissens betont. Elemente hermetischen Wissens werden im Text durchgängig parodierend aufgegriffen. Dies geschieht beispielsweise zu Beginn des Romans, als die Grablege des Riesen aufgefunden und darin die hohe Abkunft des Gargantua entdeckt wird, sein Noachischer Stamm […], der auß dem Seethurn Saturni herkommet.86 Im Sarg wird ein woltischponierte[r] Hofbecher
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zufinden, ob er heiraten soll oder nicht. Die grandioseste Parodie auf den hermetischen Diskurs bei Rabelais findet sich im 18., 19. und 20. Kapitel des Pantagruel mit der Debatte zwischen Thaumast und Panurge, die vor den Gelehrten der Sorbonne in Gebärdensprache erfolgt (ebd., S. 289–300); vgl. u. a. zum Kratylismusdiskurs in diesen Passagen Screech 1979, S. 86–96, zur Rätselprophezeiung bei Fischart auch Kellner 2008. Nyssen 1964, S. 19, Kommentar zu S. 5.23. Bachorski 2006, S. 491, erfasst systematisch weitere Verfahren der Namensverschlüsselung bei Fischart. Das Versteckspiel mit seinem Namen betreibt Fischart auch bei den Besitzvermerken in den Büchern seiner Bibliothek; vgl. dazu insbesondere das Verzeichnis der Autographen von Hoffmann 1996 sowie Hauffen 1922, S. 250. Dieser Begriff von Hess 1971, S. 226. Vgl. u. a. Weinberg 1986, S. 11–15; Müller 1994, S. 78ff.; Bachorski 2006, S. 490–498; Kellner 2007, S. 222. Fischart 1963, S. 5.19f.; vgl. ebd., S. 10.39–11.2: ›Mythologias Pantagruelicas‹ dz ist Alldurstige Grillengeheimnussen und Märendeitungen (dann diß wer dieses buches warer Titul) […]. Ebd., Kap. 1, S. 40.25f.
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eingegraben gefunden,87 um den herum des Riesen Hierogliphisch Grabschrifft angeordnet ist.88 Mit der Schrift, die aus Cimbrischen Scytischen, Tracischen, Phrygischen unnd Hetrurischen alten Buchstaben gebildet ist, werden wissensgenealogische Behauptungen parodiert.89 Das Epitaph bedient sich einer Mischsprache aus lateinischen und lateinisch makkaronisierten deutschen Bildungen, die sich allesamt auf das Weintrinken beziehen und so ›hieroglyphisch‹ das tiefere Wesen Gargantuas anzeigen. Die tiefen Geheimnisse versinken so im lallenden Weinrausch, wo die hermetische Semiose in der Natursprache der Trinker kulminiert.90 Auch die aufgezeigte Germanisierung des hermetischen Diskurses hat in der Geschichtklitterung ihr poetisches Seitenstück. In der Grablege findet sich nämlich neben der Genealogie des Pantagruel ein von Tieren angenagtes Traktätlein. Der Text wird als bisher unbekannte Quelle der Vorzeit ausgewiesen, die neben den Berosischen und Römischen Aneteichen unnd Antiquariis,91 also der berühmten Fälschung des Annius von Viterbo, noch gefehlt habe. Diese Alte[] Mistwälcke[] Pantagruelische[] Vorsagung92 wird als hermetischer Text inszeniert, der nur durch eine halb Caballistisch kunst dechiffriert werden kann93 und in dem es in hermeneutisch schwer nachvollziehbarer Weise um die Sintflut und ihre Folgen geht.94 Sprachlich wird dabei das Althochdeutsche imitiert, das Fischart aus der 1571 von Flacius edierten Evangelienharmonie Otfrids von Weissenburg beziehungsweise aus den Beispielen, die Wolfgang Lazius in seinem Buch über die Völkerwanderungen anführt, bekannt ist.95 Fischart entwirft auf diese Weise eine Quelle aus der deutschen Urgeschichte der Noachiden. Das aberwitzige althochdeutsche hermetische Gedicht, auf das ich hier nicht eingehen kann,96 schließt mit dem berühmten Glucktrara.97 Darauf folgt ein Exkurs über die Möglichkeiten der deutschen Sprache und ihre Exemplifizierung durch deutsche Hexameter und Distichen. In ihnen ist auch von einem deutschen Orpheus die Rede: 87 88 89
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Ebd., S. 41.38f. Ebd., S. 42.9. Ebd., S. 42.3f.; vgl. zu dieser Stelle Rathmann 1991, S. 125. Die Parodie zielt hier nicht nur auf die Hermetiker, sondern auch auf die humanistische Quellenforschung; vgl. dazu Bulang 2006, S. 144; Kellner 2008. Müller 1994, S. 85f. Fischart 1963, Kap. 1, S. 44.12f. Ebd., Kap. 2, S. 44.25. Ebd., Kap. 1, S. 43.25f. Ebd., Kap. 2, S. 44.22–52.24. Vgl. Lazius 1557, S. 81f. Zu Fischarts Laziusübersetzung mit weiterer Literatur Bulang 2006, S. 136–140. Mit seiner Situierung der Vorsagung vor dem Hintergrund der sprachgeschichtlichen Diskurse des 16. Jahrhunderts hat Bachorski ein wichtiges Forschungsdesiderat behoben: Bachorski 2006, S. 402–408. Fischart 1963, Kap. 2, S. 52.1–24.
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O Harffeweis Orpheus, jetzumal kompt widerumb hoche Dein artige Reimeweiß, Zu ihrigem ersten preiß: Da du eyn Tracier von geburt unnd Teutscher Sprache Der erst solch unterweist, Frembd Völckeren allermeyst, Diselbige lange zeit haben mit unserer kunste Alleyn sehr stoltziglich, Gepranget unpilliglich: Jetzumal nun baß bericht, wollen wir den fälschlichen dunste Ihn nemmen fom angesicht, Uns nemmen zum Erbgedicht.98
Orpheus, einer der Gewährsmänner der Hermetiker,99 hat demnach also deutsch gesungen und alle Völker darin unterwiesen, die sich dann fälschlich der Erfindung der Poesie gerühmt hätten. Im Althochdeutschen als dem uralten orphischen Gesang der Noachiden kulminieren hermetische Diskurssegmente, nationalistische Geschichtsentwürfe, eine Apologie deutscher Poesie und freies poetisches Spiel. Auch das bereits auf dem Titelblatt entfaltete Spiel mit den hermetischen Bilddiskursen wird im Roman wieder aufgenommen. Im Zusammenhang der Ausführungen zur Farb- und Kleidersymbolik des jungen Gargantua geht Fischart im Anschluss an das neunte Kapitel bei Rabelais – aber auch deutlich darüber hinaus – auf den Zeichenstatus von Wappen und Devisen sowie auf die Praxis des Blasonierens ein.100 Anders als die willkürlich gesetzten Blasons gelten bei Rabelais und Fischart die altägyptischen Hieroglyphen als natürlich motivierte Zeichen, [w]elche keiner nicht verstund, er verstünd dann auch die Natur, krafft und eygenschafft der vorfigurirten unnd fürgemaleten Natürlichen sachen.101 Fischart fügt hier in der Erstausgabe von 1575 eine Liste von nicht weniger als 49 hieroglyphischen Zeichen und ihren Bedeutungen ein, in der Zweitausgabe ergänzt er weitere: Als der Helffant ein Keyser: ein groß Ohr ein Weiser, Schaf gedult, Taub einfalt, Schlang listig, Wolff fräsig, Fuchs diebisch, Delphin libisch, KürißPferd Krieg, Han sig: Hund unflätig. Aff unverschamt: Seu wüst: Schneck langsam: Wider widersinnig: Wölfin ein Hur: Esel ein Stockfisch: ein Beschneidstul: ein Cartetschbanck: Has forchtsam: Mauß schaden: Katz Weiberrammel: Maulwerff plind: Storck fromm, Kranch wacker: Eul weiß: Aug Auffsehen: Greiff schnelligkeit: ein tod Roß schelmigkeit: Crocodyl untreu: ein Schermeußlin ein Mäutzlein: ein Schöffel ein Rhatsherr: ein Sessel ein Richter: ein Cantzel ein Predigkautzen: zwen Finger über eim Kelch ein Priester, ein Kelch inn Munsteri Mapp ein Hussit: ein Lucern ein Candelabrum Patriæ: eins Menschenhaupt ein Gelehrten: ein Eselskopff ein unverständigen: Fisch stumm: Schwalb leidig: Nachtigall Music: Hetz geschwetz: Ganß geschwigen: Pfau stoltz: der Gauch ein guter Mann: der die Frembde Schuh bei seiner Frauen Bett vor zorn zerschneidet: die Binen einig: Muck verdrüssig: Spinnwepp vergeben werck: Krebs hindersich: Frösch Beurisch: Hebheu alter: Weiden Unfruchtbar: Maulbör ein Maultasch: Feigen Or Feig: Apffel Meydlinspil: Ror zart: oder unbeständig: Dornen 98 99 100 101
Ebd., S. 53.31–38. Dazu Walker 1953. Fischart 1963, Kap. 12f., S. 173.12–184.16; vgl. Weinberg 1986, S. 151. Fischart 1963, S. 177.19–22; vgl. Volkmann 1923, S. 100ff.
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Tobias Bulang haß: Lilgen schöne: Nesselen Kranckheit: Rut zucht: Bonen Keusch: Zwibel weynen: Kürbs onnütz hoffnung: Oelzweig Frid: darauß man sicht das Gott etwas auff solche zeichen gehalten: weil er mit Noe durch ein Rappen: Taub unnd ölzweig inn der Arch geredt hat. Auch Jonas auff die Kürbs vergebens hoffnung satzt, da citò quod fit, cito perit.102
Ich gehe hier nur auf den Kelch inn Munsteri Mapp ein, bei dem es sich seltsamerweise um eine altägyptischen Hieroglyphe für Hussit handeln soll. In Sebastian Münsters Cosmographei finden sich auf der Karte Behemer landschafft […] mit vnderscheid der Baͤ pstischen und Hussischen flecken103 unter anderem mehrere stilisierte Kronen, Schlösser und Kelche. Diese Zeichen werden in einer Legende ausgewiesen, der Kelch steht darin für die im Titel der Karte vermerkten hussischen flecken (Abb. 6). In Fischarts Zitat der Münsterschen Karte werden die hieroglyphischen Phantasmen schon durch die Angabe einer altägyptischen Hieroglyphe für ein Phänomen des 15. Jahrhunderts deutlich unterlaufen, worin wohl auch eine satirische Invektive auf die Ausstattung zeitgenössischer Phänomene mit alten Traditionen gesehen werden kann. Auch handelt es sich beim Kelch in der Karte offensichtlich um ein konventionell gebrauchtes und arbiträr eingesetztes Zeichen, das als Beleg für die kratylistische Verfasstheit altägyptischer Hieroglyphen auch semiotisch nicht taugt. Deutlich wird dabei das Unterlaufen kratylistischer Vorstellungen. Die Sprache und die Praktiken der Alchemie, der Apotheker und der Pflanzenkundler, die Gegenstand von Fischarts Onomasticon sind, finden sich auch in der Geschichtklitterung. Im 27. Kapitel wird geschildert, wie Gargantua mit seinen Lehrmeistern an Regentagen verschiedene Werkstätten, Schulen und öffentliche Plätze aufsucht. Fischart ergänzt hier seine Vorlage, das 24. Kapitel in Rabelais’ Gargantua, um ein Vielfaches, indem er in die knappe Erwähnung der Orte bei Rabelais detaillierte Listen des dort Inspizierten einfügt und gegen betrügerische Praktiken der verschiedenen Berufsstände polemisiert. Drei umfangreiche Invektiven gelten den Alchemisten, Apothekern und Quacksalbern; unter die Polemik gegen die Betrügereien wird parodistisch, aber auch inventarisierend der jeweilige Spezialwortschatz gemengt. Inventarisiert werden dabei unter anderem die alchemistischen Verben auf ›-ieren‹104 sowie die allegorischen Chiffrierungen der Laboranten: Oder sie giengen auß, oder fuhren herumb etliche künstliche Werck und fünd zubeschauen, wie man die Metall extrahirt und solvirt, scheidet und auß ziehet: die Alchemisten, wie sie calcinieren, reverberiren, cimentiren, sublimiren, fixiren, putreficirn, circulirn, ascrudirn, laviren, imbibiren, cohobiren, coaguliren, tingiren, transmutiren, 102 103 104
Fischart 1963, S. 177.22–178.10. Münster 1550, Karte IX. Vgl. zur Abfolge und Begrifflichkeit des opus magnum Jüttner/Telle 1980, Sp. 334; Haage 2000, S. 15–18.
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laminiren, stratificiren, den König suchen, den Geist, den lapidem philosophorum, den Mann beim Weib, den entloffenen Mercurium, und per omnes species gradiren, es seien Metall, gemmæ, Mineralien, kräuter, säfft, olea, salia, liquores, oder anders […].105
Auch die apologetischen Topoi der Alchemisten werden parodiert und die Fälschungen angeprangert. In dieser Weise verfährt Fischart auch bei der Schilderung der Apothekenbesuche. Hier wird wieder unter Hinzuziehung des Spezialwortschatzes gegen das Fälschen von Gewürzen, Gewichten und Rezepten polemisiert.106 Eine dritte Invektive richtet sich gegen Lugenpriviligirte wortbeutelige Landfarer, alte weiber Clistirer, Coloquintenpurgatzer und andere.107 Ihnen wird vorgeworfen, sie würden das Blaue vom Himmel verkaufen; parodiert werden dabei die Anpreisungen und auch die Sprache der Quacksalber: hie rauch Bibergeil unnd Frauwenkut für den Krampff gut: diß Kirsenmuß mit Teriacs vermegt ist gut mithridat: stileoswurtz fürs Podagram: ein pfund Victrill für würm, gepraten Speck für Ratten […].108 So gestaltet sich dieses Kapitel bei Fischart als nach Sachgruppen geordnetes Verzeichnis verschiedener ›Fachsprachen‹ beziehungsweise Spezialwortschätze.109 Hier greift Fischart ausgiebig auf sein Fachschrifttum zurück, die dort aufgearbeiteten Wortfelder – und mit ihnen die darin enthaltenen hermetischen Elemente – werden zum Material für die Satire. Im Zusammenhang einer aberwitzigen Aitiologie des Krieges, in der zunächst den Vögeln, dann aber den Eiern zugeschrieben wird, die Ursache der ersten Kriege gewesen zu sein, entwirft Fischart eine Kosmogonie, an deren Ursprung ein magisches ›Ur-Ei‹ steht. Wir alle – so Fischarts Fazit – kommen aus einem Ei. Dabei kommt er auch auf die Alchemisten zu sprechen:110 daß wir all auß eim Ey herkommen, weil die Welt ein Ey ist: das hat gelegt ein Adler, das ist die hoch, weit und schnellfliegend Hand des Jupiters, das ist das Chaos, das Cavum, das Chaovum, der offen Ofen, hauffen, Hafen, welches des Adlers Hitz Chaovirt, Fovirt, Feurofirt, Chaoquirt unnd Coquirt: Ja Jupiters krafft war distillirer inn dem Vacuo Cavo Ovo, inn dem Ofen Hafen Ey: Der schoß war der Himmel: O ihr Alchymisten freuet euch, hie geht euer geheimnuß an. Diß schön Ey, hat zerstört die Sündflutisch Mistkäferey […].111
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Fischart 1963, Kap. 27, S. 273.19–28; vgl. zu diesem Passus Buntz 1968, S. 54. Fischart 1963, Kap. 27, S. 276.16–278.15. Ebd., S. 280.39f. Ebd., S. 281.15–19. Bachorski 2006, S. 384f., erkennt die Differenz der Fischartschen Übertragung zu Rabelais’ Roman darin, dass das städtische Leben wesentlich stärker akzentuiert werde. Dieses freilich scheint mir bei Fischart eher sekundärer Effekt eines lexikographischen Interesses zu sein. Zum Ei und zum philosophischen ›Welten-Ei‹ bei den Alchemisten vgl. Sheppard 1958, S. 140–148. Zur Unverbindlichkeit von Welterklärungsmodellen und zur Pluralität von Deutungsmöglichkeiten in diesem Zusammenhang vgl. Bachorski 2006, S. 410f. Fischart 1963, Kap. 28, S. 287.34–288.4.
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Wendeler hat für diesen Passus zeigen können, dass sich Fischart hier bei einem Standardwerk der Hermetik, John Dees Monas Hieroglyphica, parodistisch bedient.112 Fischart nutzt dabei die hermetische Semiose für das eigene Ursprungskonstrukt eines Sprachchaos.113 Die ›Fachsprache‹ der Laboranten wird verfremdet. Die Rede ist von einem Chaos im ›Ur-Ei‹. Durch Assoziation wird aus dem Chaos ein Cavum, also eine Höhle, in der Feuer brennt. Der offen Ofen evoziert den Athanor, den Ofen der Alchemisten. Die Wortkette Chaos, Cavum, Chaovum, offen Ofen, hauffen, Hafen, Chaovirt, Fovirt, Feurofirt, Chaoquirt, Coquirt, Vacuo Cavo Ovo, Ofen Hafen Ey bewegt sich recht nah am alchemistischen Schrifttum, enthält aber auch spezifisch Fischartsche Verballhornungen und Neologismen wie zum Beispiel einige untypische Verben auf ›-ieren‹.114 Fischart nimmt die Frage nach dem Ursprung des Krieges hier also zum Anlass, das vielbeschworene geheimnus der Alchemisten beziehungsweise der Hermetiker dem Gelächter preiszugeben und seine sprachliche Kreativität ein weiteres Mal zu exponieren.115 Aus diesen, hier nur punktuell in ihrem Bezug auf die hermetische Formation befragten Beispielen ergibt sich recht klar der Befund einer poetischen Transformation des Hermetismus in der Geschichtklitterung, der sich wie folgt zusammenfassen lässt: Die charakteristischen Wissensgenealogien werden umgemünzt in chaotische Ursprungskonstrukte voller Sprachturbulenzen. Die hermetische Semiose wird einerseits satirisch distanziert und parodistisch unterlaufen, andererseits ebenso wie der Kratylismus produktiv zur Sprachgewinnung eingesetzt und der ›Bastelei‹ an deutschen Neologismen nutzbar gemacht, wodurch die Möglichkeiten der deutschen Sprache erprobt werden und das lexikalische Inventar Transgressionen erfährt.116 Dieser Vorgang wird durch nationalistische Programmatik flankiert, wodurch das Spiel mit den hermetischen Wissenssegmenten programmatisch auf eine Arbeit an der deutschen Sprache hin dimensioniert wird.117
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Die Vorlage ist das »Theorem XVIII« bei Dee 1564; der einschlägige Passus ist abgedruckt bei Wendeler 1877, S. 492f. Vgl. hierzu auch Bulang 2008, S. 110f. Vgl. ders. 2006, S. 146ff. Fischarts »Manipulationen am sprachlichen Material« untersucht besonders Seitz 1974, S. 26, 28f. u. ö.; zur »Grenze zwischen semantischer und materialer Sprachnutzung« in Fischarts Wortspielen vgl. Kleinschmidt 1993, S. 49ff. Dazu Bulang 2008. Hess spricht von der »Demonstration des unerschöpflichen deutschen Vokabulars« (Hess 1971, S. 227); vgl. auch die Beispiele bei Bachorski 2006, S. 464f. Fischarts Arbeit am hermetischen Wissen ist kein Einzelfall. Es gibt eine noch nicht angemessen erfasste Literaturgeschichte der Bearbeitung dieser Wissensbereiche, die bis zur Inanspruchnahme von Signaturenlehre, Hieroglyphenkunde und alchemistischer Terminologie etwa bei Novalis und darüber hinaus reicht. Eine der Linien, die in eine solche Geschichte gehört, untersuchte am Beispiel der frühneuzeitlichen Kabbala: Kilcher 1998.
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Bibliographie Quellen Ammonius Hermeae commentaria in Peri hermeneias Aristotelis. Übersetzt von Bartholomaeus Sylvanus. Neudruck der Ausgabe Venedig 1549 mit einer Einleitung von Rainer Thiel, Gyburg Radke und Charles Lohr. Stuttgart-Bad Cannstatt: FrommannHolzboog 2005 (Commentaria in Aristotelem Graeca. Versiones latinae temporis resuscitatarum litterarum 12). Annius von Viterbo: Commentaria […] super opera diversorum auctorum de Antiquitatibus loquentium […]. Rom: Silber 1498. Aventinus, Johannes: Chronica […]. Frankfurt a. M.: Raben, Feyerabend und Hanen 1566. Corpus Paracelsisticum. Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie. Bd. 2: Der Frühparacelsismus. Zweiter Teil. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle. Tübingen: Niemeyer 2004 (Frühe Neuzeit 89) Dee, John: Monas Hieroglyphica. Antwerpen: Guillelmus Silvius 1564. Ficino, Marsilio: »›Cratylus‹ Commentary. A Transcription and Edition« [hrsg. von W. Keith Percival], in: Studi umanistici piceni 11 (1991), S. 185–196. Fischart, Johann (Hrsg.): I. Correctorium Alchymiæ Richardi Anglici. Das ist Reformirte Alchimy/oder Alchimeibesserung / vnd Straffung der Alchimistischen Mißbraͤ uch: vom Alten und laͤ ngstberumten Medico / Richardo aus Engellandt beschriben. II. Raimundi Lulli Apertorium et Accuratio Vegetabilium. Von eröffnung vnˉ entdeckung wachsender Sachen vnˉ des Philosophischeˉ steyns / des Wolbekannten Philosophi vnd Eremiten Rainmundi Lulli Tractat. III. Des Königs Gebers auß Hispanien Secretum, dessen sich die Venetianer hoch außthun. Alles nun erstmals zu dienst vnˉ nutz allen Reyner Geheimnußreicher Artznei vbenden vnˉ beliebenden inn Truck gefaͤ rtigt. Straßburg: Bernhard Jobins Erben 1596 [zuerst 1581]. – »Lexicographische Vorrede […] zu: Onomastica II […]« [hrsg. von A. Birlinger], in: Alemannia 1 (1873), S. 145–147. – Werke. Eine Auswahl. Erster Teil. Hrsg. von Adolf Hauffen. Stuttgart: Union Deutsche Verlagsgesellschaft 1895 (Deutsche National-Litteratur 18,1). – Geschichtklitterung (Gargantua). Text der Ausgabe letzter Hand von 1590. Mit einem Glossar hrsg. von Ute Nyssen. 2 Bde. Düsseldorf: Rauch 1963. – Geschichtklitterung (Gargantua). Synoptischer Abdruck der Fassungen von 1575, 1581 und 1590. Mit 3 Titelblättern und den Originalholzschnitten der Ausgabe von 1590 von Tobias Stimmer. Neu hrsg. von Hildegard Schnabel. 2 Bde. Halle a. d. S.: Niemeyer 1969 (Neudrucke deutscher Literaturwerke 65/69, 70/71). – »Kurtzer vnd Woldienlicher Vorbericht / von Vrsprung / Namen vnd Gebrauch der Emblematen / oder Eingeblömeten Zierwercken«, in: Mathias Holtzwart: Emblematum Tyrocinia. Mit einem Vorwort über Ursprung, Gebrauch und Nutz der Emblematen von Johann Fischart und 72 Holzschnitten von Tobias Stimmer. Hrsg. von Peter von Düffel und Klaus Schmidt. Stuttgart: Reclam 2006 (Reclams Universal-Bibliothek 18464), S. 7–18. Fischart, Johann/Michael Toxites: Onomastica II. I. Philosophicum, Medicum, Synonymum ex varijs vulgaribusque linguis. II. Theophrasti Paracelsi: hoc est, earum vocum, quarum in scriptis eius solet usus esse, explicatio. Nunc primum in commodum omnium Philosophiæ, ac Medicinæ Theophrasticæ studiosorum, cuiuscunque nationis sint: fideliter publicata. Gruͤ ndliche Erklaͤ rung in allerlei Sprachnˉ / der Philosophischeˉ , Medicischen und Chimicischeˉ Namen / welcher sich die Arzet / Apoteker / auch Theophrastus zu gebrauchen pflegen. Nun erstmals idermaͤ niglichen zu meherem nuz / richtigerem verstand vnd foͤ rderlicher lesung der Theophrastischen vnd sonst buͤ cher / ordentlich und fleisig inn truck gefaͤ rtiget. Straßburg: Bernhard Jobin 1574.
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Michael Schilling
Skeptizistische Amplifikation des Erzählens Fischarts Antworten auf die epistemische Expansion der Frühen Neuzeit
IHR meine Schlampampische gute Schlucker, kurtzweilige Stall und Tafelbrüder: ihr Schlaftrunckene wolbesoffene Kautzen und Schnautzhän, ihr Landkündige und Landschlindige Wein Verderber unnd Banckbuben: Ihr Schnargarkische Angsterträher, Kutterufstorcken, Birpausen, und meine Zeckvollzepfige Domini Winholdi von Holwin […] Und du mein Gartengeselschaft vom Rollwagen, vom Marckschiff, von der Spigeleulen, mit eueren sauberen Erndfreien Herbstsprüchen. Ihr Sontagsjüngherlin mit dem feyertäglichen angesicht, ihr Bursch und Marckstanten, Pflastertretter, Neuzeytungspäher, Zeitungverwetter, Naupentückische Nasen und Affenträher, Rauchverkeuffer, Geuchstecher, Blindmeuß und Hütlinspiler, Lichtscheue Augennebeler […] Ja kurtzumb du Gäuchhornigs unnd weichzornigs Haußvergessen Mann unnd Weibsvolck, sampt allem anderen dürstigen Gesindlein, denen der roh gefressen Narr noch auffstoset […] euch wil ich zuschreiben diß mein fündlein, pfündlein und Pfründlein, euer sey diß Büchlin gar mit haut und haar […].1
Mit diesen und anderen Worten begrüßt über anderthalb Seiten der Erzähler in Fischarts Geschichtklitterung seine Leser, und er konfrontiert sie mit einer – beim lauten Lesen im Wortsinn – atemberaubenden Reihung rhythmisierter Apostrophen, die durch zahllose Asyndeta, Alliterationen, Wortspiele, Neologismen und Binnenreime nicht weniger gekennzeichnet sind als durch intertextuelle Verweise vielfältiger Art.2 Geradezu schlicht und nüchtern knapp mutet demgegenüber dieselbe Leseranrede bei Rabelais an: Beuveurs tres illustres, et vous, Verolez tres precieux – car à vous, non à aultres, sont dediez mes escriptz.3 1 2
3
Fischart 1963, S. 19.5–20.13. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert. Allein im verkürzten Eingangszitat werden genannt oder alludiert: die Fabel vom Fuchs und Storch (Kutterufstorcken), Jakob Freys Gartengesellschaft, Jörg Wickrams Rollwagenbüchlein, Marx Mangolds Marckschiff (der früheste bekannte Druck stammt allerdings erst aus dem Jahr 1596), Johann Fischarts Eulenspiegel Reimensweiß, Hans Sachs’ Narrenfresser. Winholdi von Holwin greift ein Pseudonym Fischarts auf, und die sauberen Erndfreien Herbstsprüche könnten ein verdrehter Hinweis auf die beliebte Erzählsammlung Le Printemps d’Yver, contenant cinq histoires von Jacques Yver sein, der sich selbst seigneur de Plaisance et de la Bigottrie nennt (Lyon 1572 und öfter). Zur Leseranrede vgl. Glowa 2000, S. 36–43. Rabelais 1912, S. 1. In der Übersetzung von Gottlob Regis: »Sehr treffliche Zecher, und ihr meine kostbaren Venusseuchling (denn euch und sonst niemandem sind meine Bücher zugeschrieben)« (Rabelais 1964, Bd. 1, S. 9).
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Derartige Amplifikationen, mit denen der Straßburger Autor seine Vorlagen, aber auch – wie etwa die Druckgeschichte der Geschichtklitterung oder des Flöh Haz zeigt – seine eigenen Texte kontinuierlich erweiterte, gelten nach einhelligem Konsens der Forschung als auffälligstes Merkmal Fischart’schen Erzählens. Ob in der Geschichtklitterung oder anderen Werken – überall beginnen die oft eher dürftigen Handlungsstränge mit Aufzählungen, Katalogen, Listen, Reihen zu wuchern, werden Wissensfragmente, Anspielungen und Zitate angelagert. Die Forschung hat für die amplifizierende Narration Fischarts verschiedene Deutungen angeboten. Zum einen handle es sich bei der narrativen, satirisch verzerrten Ausstellung von Wissensbeständen um einen zentralen Aspekt einer Poetik, die Dichtung und Gelehrsamkeit zusammenzubinden beabsichtigt: Fischart inszeniere sich als poeta doctus.4 Komplementär zu dieser Auffassung hat man die partikularisierende, allusorische, vexierende und verhüllende Präsentation von Wissen als Herausforderung an die Bildung des Lesers angesehen.5 Stilgeschichtlich ist die These begründet, dass die Fischart’sche Erzählweise als ästhetisches Programm eines literarischen Manierismus zu lesen sei.6 Der Interpretation, die polyhistorische Narration Fischarts sei ein Versuch, die Beschleunigung und Vervielfältigung des Wissens zu seiner Zeit im Hohlspiegel satirischer Darstellung einzufangen und zu bannen,7 wurde jüngst die These entgegengehalten, es handle sich zumindest bei der Geschichtklitterung um eine kritische Dekonstruktion der Wirklichkeit.8 Die folgenden Ausführungen schließen an die letztgenannte Deutung an, um sie historisch angemessener dahingehend zu modifizieren, dass das amplifikatorische Erzählen Fischarts, das alltägliches, entlegenes, absurdes, widersprüchliches, groteskes Wissen weniger verbindet als aufeinander prallen lässt, als Ausdruck einer tiefgehenden Skepsis zu lesen ist gegenüber dem Anspruch einer metaphysisch begründeten Ordnung und den Versuchen, diesen Anspruch mit moralischen Kategorien oder wissenschaftlichen Methoden aufrechtzuerhalten. Im Licht dieser These erscheint Fischart als literarisches Pendant zu seinem Zeitgenossen Michel de Montaigne. Während Montaignes fundamentaler Skeptizismus seine Form in der Ungebundenheit der Essais fand, sind es bei Fischart die satirisch gebrochenen Amplifikationen, in denen sich sein radikales Misstrauen gegenüber vorgeblich orientierungsstiftenden Wissensbeständen äußert. Diese These wird im Folgenden an drei Texten des Straßburger Juristen – anhand des Flöh Haz, der Geschichtklitterung und des Catalogus Catalogorum – näher beleuchtet. 4 5 6 7 8
Kleinschmidt 1982, S. 300–327; Kühlmann 1993. Seelbach 2000. Mühlemann 1972. Seitz 1974. Bachorski 2006, S. 345–530.
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1. Flöh Haz, Weiber Traz Der Plot dieses Büchleins ist schnell erzählt, weil es so gut wie keinen gibt: Ein kriegsversehrter Floh erhebt in einem Dialog mit einer mitfühlenden Mücke Anklage vor Jupiter wegen der übergroßen Grausamkeit der Frauen. Die Klage wird in einer Verteidigungsrede und Urteilsverkündung durch den vom obersten Gott eingesetzten Flöhkanzler abgewiesen. Ohne hier näher auf die Textgenese eingehen zu wollen, sei nur gesagt, dass der Text der Erstausgabe von 1573 in der zweiten Auflage von 1577, die dem Folgenden zugrunde liegt, auf etwa den doppelten Umfang erweitert worden ist.9 Diese Erweiterung resultiert nicht aus einer irgendwie geänderten Handlung, sondern ausschließlich aus Amplifikationen, die aus unterschiedlichen Wissensbereichen und Diskursen eingespielt worden sind. Wie und mit welchen Absichten Fischart seine Amplifikationen vornimmt, sei am literarischen, juristischen, medizinisch-naturkundlichen und moralisch-didaktischen Diskurs näher betrachtet. Die literarische Tradition, in die sich der Text stellt, wird sowohl von den augenscheinlich belesenen Dialogpartnern aufgerufen10 als auch besonders vom Sprecher des Epilogs. Es ist dies selbstverständlich der große Bereich der satirischen Literatur, die mit antiken, mittelalterlichen und modernen Werken und Autoren namhaft gemacht wird und aus der mit Tierepos und Fabel einerseits und dem ironischen Enkomion anderseits die nächsten Gattungsverwandten herausgehoben werden. Zugleich erscheint in der Auflistung der literarischen Vorgänger mit Lukian auch jener Autor, von dem Fischart die Form des satirischen Dialogs übernommen hat. An der ersten Stelle des Satire-Katalogs im Epilog wird die pseudohomerische Batrachomyomachia genannt. Damit rückt Fischart die Parodie des Heldenepos in den Blick, der auch der Flöh Haz verpflichtet ist. In der älteren Forschung wurde wiederholt auf die große Zahl sprechender Flohnamen bei Fischart à la Hindenzu und Nimmerru oder Fechtimbusch und Wezdenzan hingewiesen.11 Dabei wurde übersehen, dass es sich bei der Aufzählung solcher Namen um eine Reminiszenz an die Heldenkataloge im carmen heroicum handelt. Ebenso gewinnt der entschlossene und todesmutige Kampf der militärischen Flohformationen gegen das weibliche Geschlecht erst vor der Folie des Heldenepos seinen literarischen Reiz, der durch eine entsprechend pathetische Wortwahl zusätzlich erhöht 9
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In der Ausgabe von 1573 umfasst die ›Flohklag‹ 892 und die ›Verantwortung‹ 1228 Verse, in der Ausgabe von 1577 sind es 2492 bzw. 1698 Verse; vgl. Fischart 1877 und ders. 1967. Reynke de vos (Fischart 1967, S. 22, V. 539f.); Rabelais (S. 41, V. 1109f.); Ps.-Ovid: Elegia de pulice (S. 41, V. 1131f.); Hans Sachs: Hasenklage (S. 80, V. 2367); Ps.-Ovid: De nuce (S. 80, V. 2368). Hauffen 1895, S. XVII; Haas 1967, S. 152.
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wird.12 Auch das anfängliche Zaudern des Flohs, über die Ursache seines Leids und die Herkunft seiner Verletzungen zu sprechen, verweist auf das carmen heroicum und erinnert an die Furcht des Aeneas, durch das Erzählen der zurückliegenden Erlebnisse alte Wunden wieder aufzureißen. Neben dem carmen heroicum wird auch der literarische Liebesdiskurs aufgerufen, der sich zudem über das Bildfeld der militia amoris leicht mit der literarischen Heroik verbinden ließ.13 Der Floh, der sich bislang mit Hunden, Vieh- und Küchenmägden sowie alten Marktweibern begnügt hatte, erblickt in einer kostbar eingerichteten Schlafkammer [a]in schöne Jungfrau14 – and falls in love. Er schildert seiner Mutter die Schönheit seiner Angebeteten mit den Topoi erotischer Dichtung: Ich wais ain / ist glatt wie ain käst / Sie hat so ainen zarten balg / Das ain gelust / das er sie walg. Das plut scheint durch die weise haut / Als rot Rosen durch Lilgenkraut.15
Komik entsteht nicht nur dadurch, dass es ein Floh ist, der den zeitgenössischen Liebesdiskurs bemüht, sondern besonders dadurch, dass hinter dem erotischen immer auch das kulinarische Begehren aufscheint.16 Wenn der Floh seinem Vater von seinen Liebeswunden erzählt, bewegt er sich zunächst ganz in den Bahnen erotischen Sprechens: Mein herz ist gegen ir gar wund / Wann ich sie jzunt nur anplick So geb ich iren gern ain zwick / Dann sie ist linder dan ain schmalz / Ich wag um sie kopf / bart und Hals.17
Ist schon der zwick als Liebesbeweis einigermaßen überraschend, so erst recht der Vergleich weiblicher Zartheit mit Schmalz, der eben die kulinarischen Interessen des Sprechers verrät. Auch die wiederholt verwendete Bildlichkeit der Minnejagd steht weniger unter dem Zeichen erotischen 12
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So, wenn der Kampfplatz als Walstatt bezeichnet (Fischart 1967, S. 25, V. 614 und S. 76, V. 2248) oder wenn der Schlussreim des Nibelungenliedes verwendet wird: Insumma da war solche Not / | Das nichts da war / als der gwis Tod (S. 59, V. 1687f.). Zur Heldenepik gehört auch die Ansprache des Heerführers an seine Soldaten vor der Schlacht (vgl. S. 53, V. 1491–1512). Auf das deklamatorische Pathos der tierischen Sprecher verweist auch Bachorski 2001, S. 255f., ohne indes das literarische Spiel mit der Gattung des carmen heroicum zu bemerken. Vgl. jetzt Müller 2007. Vgl. etwa Fischart 1967, S. 74, V. 2174–2180. Ebd., S. 33, V. 854. Ebd., S. 37, V. 986–990. Hinzu kommen stilistische Brechungen, wenn in dem Zitat zwar einerseits die Rosen und Lilien des Liebesdiskurses zitiert werden, dieser anderseits aber durch Worte wie ›Balg‹ und ›walken‹ unterlaufen wird. Ebd., S. 73, V. 2140–2144.
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denn kulinarischen Genusses.18 Die Zitationen des literarischen Liebesdiskurses lagern sich zum einen den obszönen Komponenten des Textes an, in dem »das sexuelle Wunschdenken den Floh als Vehikel seiner Ausschreitung gebraucht« und der pulex irritans »als feinstes Tastorgan männlicher Imagination, als Erkunder des weiblichen Körpers« erscheint.19 Zum andern steht die Diskrepanz zwischen dem sprechenden lästigen Insekt und dem von ihm gebrauchten hohen Ton der Heldenepik und der Liebesdichtung im Dienst der Komik. Ähnliches gilt auch für die Einbeziehung des juristischen und medizinisch-naturkundlichen Diskurses. Juristisches kommt zunächst dadurch ins Spiel, dass die Todesarten, welche die Flöhe erleiden oder ihnen angedroht werden, auf die Strafen an Leib und Leben in der frühneuzeitlichen Strafjustiz bezogen werden. Wenn festgestellt wird, dass die Flöhe es verdienten, mit einem Mühlstein um den Hals in dem tifsten Rhein ertränkt zu werden,20 dass der Tod durch Rädern und den Strang ebenso vorzusehen sei21 wie prennen / praten / siden gemäß der Carolina,22 so erzeugt hier die imaginierte Anwendung der peinlichen Strafen auf ein kaum drei Millimeter großes Wesen einen komischen Effekt.23 Doch geht die Einbeziehung des juristischen Diskurses noch weiter, indem die Floh klag24 sich auch als Anklage vor Gericht lesen lässt, der dann im zweiten Teil die Notwendige Verantwortung der Weiber […] samt […] vertrag und urtail […] durch den Flöhkanzler entgegengestellt wird.25 In beiden Textteilen begegnen dementsprechend Elemente der Gerichtsrede. So verteidigt der Floh in einer ausführlichen refutatio den bescheidenen Blutzoll, den er von den Frauen erhebe, als Mundraub, stellt ihn als medizinische Notwendigkeit dem Aderlass zur Seite und schildert ihn schließlich in seinen kosmetischen Vorzügen – bräuchten die Frauen doch ihre Wangen nicht erst künstlich zu röten. Der Flöhkanzler rechtfertigt in einer fünfteiligen argumentatio das gewalttätige Vorgehen der Frauen gegen die Flöhe unter anderem mit Notwehr, Erhaltung des häuslichen Friedens und dem Naturrecht. Das anschließend verkündete Urteil bestätigt allerdings nur scheinbar die Position der Frauen: Zum einen wird den Flöhen zugestanden, zur Dämpfung weiblicher 18
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Vgl. ebd., S. 33, V. 877f.; S. 34, V. 882ff.; S. 36, V. 948–952; S. 53, V. 1511f.; S. 69, V. 2018–2025. Haas 1967, S. 154. Fischart 1967, S. 93, V. 2767f. Ebd., S. 115, V. 3471. Ebd., S. 118, V. 3587f. Vgl. auch ebd., S. 58, V. 1657f.; S. 60, V. 1733; S. 61, V. 1768; S. 121, V. 3670; S. 126, V. 3855; S. 128, V. 3903f. und 3923f. Eine ähnliche Wirkung entsteht, wenn die Flöhe die Martyrien des Heiligen Laurentius (S. 58, V. 1667f.) und des Heiligen Erasmus (S. 62, V. 1787–1790) erleiden. Ebd., S. 7. Ebd., S. 85.
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Schwatz-, Putz- und Tanzsucht die Zunge, die Halskrause, den linken Zeh und die hintern Küßbacken der Frauen zu besuchen.26 Zum andern wird das generelle Verbot, die Frauen zu stechen, durch eine Einschränkung unterlaufen, die da lautet: […] kain Floh kain soll beissen Er wiß dan auch schnell auszureissen / Kain Floh kain Frau soll zwingen / tringen / Er wais dann wider zuentspringen.27
Ließe sich aber ein Floh bei der Stillung seines Blutdurstes erwischen, will der Flöhkanzler dem Weib sehr gonnen wol | Das sie zu tod den kizeln sol.28 Die mit einigem rhetorischen Aufwand betriebene Anklage und Verteidigung der Frauen verpufft somit in einem Urteil, das scheinbar den Frauen Recht gibt, tatsächlich aber nur den Status quo bestätigt. Die Rechtsprechung gibt – so der Jurist Fischart – kein geeignetes Mittel an die Hand, etwas an dem Zustand der Welt zu ändern, geschweige denn zu verbessern. Es ist denn auch kein Zufall, dass der mit höchster göttlicher Autorität ausgestattete Flöhkanzler sich mit Tonnerwurz und Rinderschmalz eingerieben und seinen Mercurisch Richterstab | Mit Igelschmalz bestrichen hat.29 Diese Vorkehrungen zur Abwehr von Flohbissen zeigen, dass selbst der Flöhkanzler nicht damit rechnet, mit seinem Urteil der Flohplage Einhalt gebieten zu können, sondern lieber auf pharmakologisch empfohlene Hausmittel von allerdings zweifelhaftem Wert vertraut. Die Skepsis gegenüber der Korrekturfähigkeit einer naturgesetzlich agonalen Welt tritt auch bei den freilich nur kursorischen Bezügen zum medizinisch-naturkundlichen Diskurs hervor. Wenn die Flöhe ihre Tätigkeit mit der eines Baders vergleichen und sich über den ausbleibenden Schröpflohn beklagen,30 so ist dies der komischen Verbrämung der wahren Beweggründe der Blutsauger geschuldet. Dagegen liegt die Erwähnung der Wunderbücher, also der Prodigiensammlungen eines Lykosthenes, Fincel oder Goltwurm, auf einer anderen Ebene. Als die Mücke am Beginn des Dialoges den Floh klagen hört, stellt sie unter Berufung auf eben jene Wunderbücher ahnungsvoll fest: Bedeits nichts guts / wan die Thir schwetzen.31 Diese Feststellung aus dem Stechrüssel einer Mücke ist natürlich schon per se paradox. Im Kontext der Prodigienliteratur geht es freilich um Berichte, nach denen Tiere zu sprechen begonnen hätten, um göttliche Warnungen zu vermitteln; es sei nur an Bileams Eselin erinnert. Die Beispiele, welche 26 27 28 29 30 31
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 131f., V. 4029, 4038ff., 4050f. S. 130, V. 3987–3890. S. 130, V. 3993f. S. 85, V. 2515 und S. 123, V. 3747f. S. 12f., V. 229–262. S. 7, V. 63f.
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die Mücke anführt, stehen einer solchen göttlichen Offenbarung ganz fern, versammeln sie doch Belege für Äußerungen Sterbender und gipfeln in der Bemerkung: die Sau / so sonst allzeit grummt / | Schreit anders / wenn der Mezger kummt.32 Die Wunderzeichen, welche die Prodigiensammlungen zusammengestellt haben, um Gottes Ratschluss zu erkunden, werden von Fischart auf das banale Quieken eines Schweins beim Schlachten reduziert. Nun mag man die Äußerung der Mücke vielleicht eher dem begrenzten Horizont eines culex pipiens zuschreiben wollen denn einer grundsätzlichen Skepsis des Autors gegenüber dem naturkundlich-prodigiösen Wissen seiner Zeit.33 Doch gibt es weitere Hinweise, die eine solche Skepsis unterstreichen. Gegen Ende des Textes wird dreimal der berühmte Arzt, Astronom und Physiker Hieronymus Cardanus zitiert. Das erste Mal wird der Gelehrte als Autorität für die Aussage ins Feld geführt, dass die Kartäuser von Läusen und Flöhen verschont blieben, weil ihr Blut aufgrund der häufig genossenen Fastenspeisen einen fischigen Beigeschmack aufweise.34 Ich habe nicht nachgeprüft, ob es sich dabei um eine echte oder fingierte Berufung handelt. Doch scheint diese Frage auch nachgeordnet gegenüber der Feststellung, dass hier ein erkennbar zweifelhaftes Wissen mit dem Namen einer anerkannten medizinischen Kapazität verbunden, mithin die zeitgenössische Gelehrsamkeit in ein dubioses Licht getaucht wird. Derselbe Cardanus erscheint wenig später im Kontext der Flohrezepte, die Fischart im Anhang seines Büchleins gesammelt hat. Dabei wird dem Gelehrten ein Rezept zugeschrieben, das empfiehlt, Ungeziefer zu verbrennen, weil der Rauch weiteres Ungeziefer vertreibe. Wie alle anderen Flohrezepte mündet auch dieses in einen Reim, dessen ironische Formulierung Zweifel an der Wirksamkeit der Empfehlung weckt: derhalben mach man vil Flöhrauch / so vertreibt es die Flöh auch / gleich wie ein bös Weib den Gauch.35 Noch deutlicher tritt die Ironie und damit der Zweifel an der Glaubwürdigkeit in dem letzten Rezept hervor: Schmire ain Stecken mit Igelsschmalz / stelle in mitten inn die Kammer / so kommen die Flöh alle an den Stecken / die prat als dan für Schnecken / wer waißt / sie mögen vileicht eben so wol schmecken.36
Die ironischen Distanzierungen, die Fischart von der durch Cardanus repräsentierten Wissenschaft vornimmt, werden fortgesetzt, wenn im Epilog das satirische Enkomion des Italieners auf Nero genannt wird:
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Ebd., S. 7f., V. 71f. Diese Einstellung bekundet sich allerdings auch in anderen Werken des Autors; vgl. Fischart 1891 sowie Deutsche illustrierte Flugblätter 1997, Nr. 66. Fischart 1967, S. 135, V. 4144–4148. Ebd., S. 138. Ebd.
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Michael Schilling Cardano ist sehr angelegen Das er bei Leuten pring zuwegen Das man nit meh den wust der Welt / Neronem ain Tirannen schelt.37
Zweifel an der Zuverlässigkeit der von Medizin und Pharmazie empfohlenen Mittel gegen die Flöhe hat Fischart schon in seiner Vorrede gesät. Voller Selbstironie preist er dort seinen Flöh Haz als anerkanntes Standardwerk, das seinen Platz gleich beym Katechismo habe und es verdiene, mit Gebetbüchlein oder den Secreta mulierum des Albertus Magnus zusammengebunden zu werden.38 Eine Frau habe das Buch sogar als Amulett auf der bloßen Haut getragen: Die lob ich / dise glaubt uns doch / | Dan wir es ernstlich mainen noch.39 Der ironische Spott, den der Autor hier über seine Jüngerin ausgießt, signalisiert dem Leser, er möge den anschließenden Aussagen, Lehren und Rezepten mit gehörigem Zweifel und entschiedener Distanz begegnen. Eben diese Zweifel gelten aber nicht nur dem juristischen und medizinisch-naturkundlichen Wissen, sie gelten in gleichem Maße der Didaxe, die der Text in einem dichten Netz von Sprichwörtern, Exempeln und Fabeln ausbreitet. Ein großer Teil der Klage des Flohs besteht aus einer ›klassischen‹ Unterweisung, die der Flohvater seinem Sohn zuteil werden lässt, damit dieser von dem Vorhaben, seine Lust an einer Jungfrau von Stand zu stillen, ablasse. Die Belehrungen, die sich über nahezu tausend Verse erstrecken, bedienen sich der genannten Textsorten, vor allem aber eigener Erfahrungen, um dem Sohn nahezulegen, sein Glück innerhalb der vorgegebenen ständischen Grenzen zu suchen: Darum las dich deins Glücks benügen / Dan höher fligen thut betrigen. Du bist nicht hoher Leut genos / Zu grosem ghört auch etwas Gros. Pleib du bei Kundel unser Magd / Da kanstu waiden unverjagt.40
Kaum hat der Vater jedoch einen Blick auf das Objekt der Begierde seines Sohnes geworfen, vergisst er die soeben erteilten guten Ratschläge und schließt sich mit seinem ehelichen Weib und vielen anderen Verwandten und Bekannten dem Beutezug seines Sohnes an – mit verheerenden Folgen, da nahezu sämtliche Flöhe ein grausames Ende finden. Die Wirkungslosigkeit didaktischer Rede wird auch an den Worten der Mücke demonstriert, deren allzeit parate Weisheiten nicht nur im Überfluss sprudeln, sondern auch überflüssig sind, da sie immer erst ex post geäußert 37 38 39 40
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 141, V. 47–50. S. 5f., V. 23–27. S. 6, V. 33f. S. 64, V. 1877–1882.
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werden und zuletzt nur die Unveränderlichkeit und Naturgesetzlichkeit der Feindschaft zwischen Flöhen und Frauen bestätigen.41 Die Skepsis gegenüber den Versuchen, sich in der Welt mithilfe guter Lehren zurechtzufinden, tritt auch an der begrenzten Gültigkeit von Fabel und Sprichwort hervor, die in verschiedenen Argumentationszusammenhängen unterschiedlichen und gegensätzlichen Zielen dienstbar gemacht werden. Wenn der Flohvater seinen Sohn unter Berufung auf die Alten mit der Redewendung Alls glück ain weil zur Mäßigung aufruft,42 hält dieser eine andere Spruchweisheit entgegen: Es wissens nicht alls die Alten / | Jung Leut die Junge Welt erhalten.43 Ein Sprichwort wird durch ein anderes entkräftet, die Orientierungsleistung der im Sprichwort sedimentierten Erfahrung wird zweifelhaft. Ähnliches gilt für die Fabel: Die Mücke erzählt die Fabel von der Stadtmaus und der Feldmaus,44 um die Lehre des Flohvaters zu bekräftigen, nach der ein gefahrloses Leben in einfachen Verhältnissen vorzuziehen sei gegenüber einer Existenz in Saus und Braus, die durch äußerste Gefahr für Leib und Leben erkauft werde; die Entscheidung der Feldmaus für ihr bescheidenes Dasein wird also ausdrücklich gutgeheißen. Dagegen verengt der Flöhkanzler bei seiner Adaption derselben Fabel die narratio auf die Entscheidung der Feldmaus, [m]it der Stattmaus zu nacht zuessen, und leitet daraus den Schluss ab, dass die Feldmaus, von Hochmut verblendet, nach guldin gwand und Seiden verlangt habe.45 Auch hier belegen die gegensätzlichen Perspektiven, in welchen dieselbe Fabel präsentiert wird, die begrenzte, ja mangelhafte Orientierungsleistung didaktischer Rede. Man könnte vermuten, dass Fischart die amplifizierenden Bezüge auf den juristischen und andere Diskurse hergestellt habe, um die Handlungsarmut seines Plots zu verdecken. Doch ist das Gegenteil der Fall: Die beigezogenen Diskurse erweisen sich als ungeeignet, die Natur der Welt, wie sie sich in dem immerwährenden Konflikt der Flöhe und Frauen darstellt, zu verändern oder gar zu verbessern. Die Statik der Handlung und die Amplifikation bilden zwei Seiten derselben Medaille: Die Welt ist allen Anstrengungen zum Trotz unveränderbar. Der Zusammenhang von Amplifikation und Skepsis, der bisher auf der narrativen Ebene verfolgt wurde, zeigt sich auch in der Komposition des gesamten Buches, dessen einzelne Teile sich wechselseitig in ein ironisches Licht rücken. Schon die Titelei ironisiert etwaige Lesererwartungen, das Buch könne bei der Bekämpfung von Ungeziefer vielleicht von Nutzen sein. Nachdem im eigentlichen Titel angedeutet wird, dass die Stiche der 41 42 43 44 45
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 80f., V. 2371–2390. S. 75, V. 2200. S. 75, V. 2205f. S. 66f., V. 1917–1978. S. 121, V. 3664f.
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Flöhe das Lesevergnügen beeinträchtigen könnten, bietet die werbende Beteuerung, es würden hier weg vnd mittel an die Hand gegeben, der Flöhe ledig zu werden, nur noch geringe Überzeugungskraft. Die hyperbolische Ankündigung eines Neu gelaͤ s / auf das vber kurzweiligst zubelachen, karikiert zunächst einmal die Methoden der Eigenwerbung auf dem frühneuzeitlichen Buchmarkt.46 Zugleich deutet die Hyperbolik des vber kurzweiligst aber auch an, dass dem Leser das annoncierte Lachen im Halse stecken bleiben könnte. In der Vorrede setzt sich das Verfahren der Titelei fort: Die ironische Brechung der marktbezogenen Selbstanpreisung signalisiert dem Leser, dass die vom Buch geweckten Erwartungen von Hilfe und Orientierung möglicherweise nicht erfüllt werden. Im Licht von Titelei und Vorrede zeigt sich dann umso deutlicher, dass der Haupttext vorführt, wie die unterschiedlichen Versuche, die Welt zu regulieren und zu korrigieren, an den naturgesetzlichen Gegebenheiten scheitern; sämtliche Bemühungen bleiben wirkungslos und führen nur wieder auf den Status quo agonaler Auseinandersetzung von Mensch und Insekt zurück. Die Rezeptsammlung mit ihren ambivalenten Übergängen in den Reim bekräftigt die Skepsis gegenüber der Annahme, dass es irgendein wirksames Mittel gegen das Ungeziefer gebe. Mit dem im Anschluss abgedruckten Flöhlid zitiert Fischart zudem einen Text aus der vorgängigen Flohliteratur,47 der ganz auf der Linie des Flöh Haz liegt und in verwandter Ironie alle Künste auffordert, Mittel und Wege zu finden, Das man zur Frauen dinste / Der Flöhen mutwill leg.48 Der Epilog schließlich ist nicht nur durch die Anführung der Satiretradition bemerkenswert, sondern auch durch eine Leerstelle. Er verzichtet nämlich darauf, in irgendeiner Form die Satire zu rechtfertigen, wie dies etwa durch die alten satiretheoretischen Topoi von der mit Zucker glasierten bitteren, aber heilsamen Pille oder dem mit Honig bestrichenen Wermutglas möglich gewesen wäre. Eine Besserung der Welt ist von der Satire ebensowenig zu erhoffen wie von den anderen Diskursen. Die einzige Gewissheit, die der Erzähler zu verkünden hat, ist die von der Unabänderlichkeit des Weltlaufs. Die Schlussverse bringen dies noch einmal lapidar zum Ausdruck: Wolan / ain Floh thut mich schon schrecken / Das ich aufhören sol zugecken. Gut Nacht / biß mich di Flöh wider wecken.49
Vom Floh gebissen, beschließt der Erzähler seinen Text in der Gewissheit, dass ihn die Flöhe am nächsten Morgen wieder piesacken werden. 46 47
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Ebd., S. [3]. Das Lied stammt von Jörg Graff und ist seit 1530 nachzuweisen; vgl. Holzapfel 2006, Bd. 1, S. 322. Fischart 1967, S. 139. Fischart 1967, S. 144, V. 125ff.
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2. Geschichtklitterung Die Skepsis, die Fischart im Flöh Haz gegenüber den Erkenntnis- und Orientierungsleistungen der Jurisprudenz, der Ethik und Naturwissenschaft seiner Zeit an den Tag legt, bestimmt in radikalisierter Form auch die Geschichtklitterung. Die Fülle des Wissens, die der Verfasser in immer neuen sprachlichen Wucherungen und Eruptionen darbietet, ist zweifelsohne eine Reaktion auf die immense Erweiterung, Erneuerung und Beschleunigung von Information und Wissen in der Frühen Neuzeit. Als Lektor, Korrektor und Autor im Verlag seines Schwagers Bernhard Jobin war er unmittelbar in die Entwicklungen involviert, die sich auf dem Buchmarkt und in der Publizistik vollzogen. Nicht zuletzt auf seine Doppelrolle als Mitspieler und Zuschauer im Theater der zeitgenössischen Medien dürften die irritierenden Verwerfungen und Brüche in Fischarts Œuvre zurückzuführen sein. So steht seiner immer wieder bekundeten satirischen Kritik der Anpassung der Buchproduktion an die Erfordernisse des Marktes entgegen, dass er selbst sich diese Einsichten in die Marktmechanismen und -strategien bedenkenlos und sei es in kritisch verbrämter grotesker Hyperbolik zunutze macht.50 So verspottet er einerseits den Wunderglauben seiner Zeitgenossen, um ihn andererseits durch einschlägige Prodigienberichte zu bedienen.51 So stehen Bekenntnissen zu religiöser Toleranz52 die massiven Polemiken gegen das Papsttum und ein antijüdisches Pamphlet gegenüber. Und so kann Fischart sich auf der einen Seite in ernsthafter Manier an wissenschaftlichen und juristischen Diskursen seiner Zeit beteiligen, um auf der anderen Seite eben diese Diskurse satirisch zu unterlaufen.53 Die Reaktion des Straßburgers auf die frühneuzeitliche epistemische Expansion besteht nicht in deren enzyklopädischer Reproduktion. Seine Form der Verarbeitung zielt vielmehr auf Subversion. Auf mehreren Ebenen unterläuft Fischart in seiner Geschichtklitterung das Vertrauen des Lesers in das vom Erzähler ausgebreitete Wissen. Das 17. Kapitel berichtet davon, [w]ie Gurgelstrozza von einem Weißheitwichtigen Sophisten inn Latinischer geschrifft und kunst ward underricht.54 Der Blick in Gargantuas lateinisches Vokabelheft, den der Erzähler seinen Lesern gewährt, zeigt, wes Geistes Kind der Sophistische[] Supermagister ist;55 dort trifft man unter anderem auf Wörter wie Vilwundus – 50
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Etwa durch die Titelgebung seiner Werke oder in seinen Beiträgen zum zeitgenössischen Tagesschrifttum. Beispiele in Deutsche illustrierte Flugblätter 1997, Nr. 62, 65f., 102 und 105. In der Schrift Die Gelehrten, die Verkehrten (1584) und der Vorrede zu Mino Celsis In haereticis coercendis quatenus progredi liceat (1577); vgl. dazu Gilly 1993. Vgl. etwa Bulang 2006. Fischart 1963, S. 201.24ff. Ebd., S. 202.37.
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Hackbanck, Vilhelmus – Strosack, Vilrincus – Pantzer, Stercus – Küssin, Anus – Lecker, Fornicator – Ofenpletzer, biszinkus – Ofengabel.56 Amüsante Belege bieten auch die Vokabeln für allerlei Schuhwerk: Poltopfodium – Holtzschuch, culpo – baurenschuch, Stulpo – baurenstiffel.57 Wenig später werden einige lateinische Gebete aus dem Unterricht Gargantuas zitiert: Agnus Dei, O ihr lieben Herrn, qui tollis, die ihr hinnembt, peccata mundi, das Gelt der Welt, Miserere nobis, Ach gebt uns auch ein theil.58 Die literarischen Paten des solchermaßen verspotteten Mangels an Sprachkenntnissen werden anschließend als Verfasser von abstrusen oder obsoleten ›Standardwerken‹ angeführt, mit denen sich Gargantua auseinandersetzen muss. Es sind die viri obscuri, deren Latein und Bildung als Vorlage für den Supermagister gedient haben.59 Es versteht sich, dass diese Karikatur in erster Linie auf die scholastische Gelehrsamkeit zielt; Fischart knüpft an Rabelais’ Vorgaben an, amplifiziert sie und visiert sie auf den Teutschen Meridian.60 Bei Rabelais ist die Erziehung, die Gargantua anschließend von den moderni erhält, als humanistischer Gegenentwurf angelegt. Auch in der Geschichtklitterung heben sich Didaktik und Lehrstoffe des neuen Präzeptors Kundlob mit ihrer praxisorientierten Ausrichtung auf das künftige Herrscheramt Gargantuas von dem alten Lehrprogramm deutlich ab. Dennoch baut Fischart anders als sein Vorgänger Elemente und gedankliche Widerhaken ein, die auch die Erziehung der moderni in ein Zwielicht tauchen. Die Zweifel, die Fischart sät, beginnen schon mit der Nieswurzkur, die ein Arzt namens Theodor Lilgenkol oder Lüllenkul alias Cullingius oder Lingeculius Gargantua angedeihen lässt; dabei wird der Arzt zwar als klüger, aber weniger erfolgreich hingestellt als jener Bauer, der durch die Einnahme eines Laxativums zufällig seinen verlorenen Esel wiederfindet.61 56
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Ebd., S. 203.24ff. Hackbanck als Platz, auf dem Fleisch zerteilt wird, daher Vilwundus; Vilhelmus als ›viele Halme‹, daher Strosack; Vilrincus als ›viele Ringe‹, daher (Ring-) Pantzer; Stercus (›Hintern‹) mit Küssin als ›Sitzkissen‹ und als ›Küss ihn‹ (nämlich den Hintern); Anus (›Arsch‹) mit Lecker als Kompositum; Fornicator (eigentlich ›Hurenbock‹) hier von Fornax (›Ofen‹) abgeleitet, wobei Ofen- und Kesselflicker als unehrliche Leute galten; biszinkus als makkaronischer Neologismus für ›Zweizack‹, Ofengabel. Ebd., S. 203.38–204.9. Poltopfodium von ›poltern‹ und ›Pfote‹; culpo als korrekte mittellateinische Bezeichnung für Bauern- oder Bundschuh; Stulpo als Reimwort zu culpo, abgeleitet von ›Stulpe, Stulpenstiefel‹. Ebd., S. 204.23ff. Fischart zitiert hier Frey 1896, Kap. 8, S. 17.1–19; Frey seinerseits griff auf die Margarita facetiarum des Johannes Adelphus (1508) zurück (abgedruckt in Frey 1896, S. 170.7–18). Detaillierte Nachweise bei Seelbach 2000, S. 347. Titelseite der Erstausgabe von 1575. Fischart 1963, S. 252.1–33. Die Namen Lüllenkul, Cullingius und Lingeculus desavouieren den Arzt als ›Arschlecker‹ (lat. culus, frz. cul – ›Hintern‹; lullen – ›saugen‹; lat. lingere – ›lecken‹). Die Geschichte vom Bauern und seinem Esel findet sich zum Beispiel in Poggios Fazetien (Nr. 87); vgl. Seelbach 2000, S. 458. Bei Rabelais ist
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Die Zweifel setzen sich fort, wenn die Aufzählungen all der Fertigkeiten, die sich der junge Gargantua aneignet, mit verfremdeten und erfundenen Elementen angereichert werden; so begegnen in der Beschreibung der Fechtschule, die der Schüler durchläuft, unter zahlreichen korrekten Fechttermini auch die Begriffe des Ecken eckhau, des Laurins Zwerckzug, Fasolts blindhau sowie der Vatterstreich, welchen der Schmidlein inn seinen Fechtschulpredigten weißt, unnd des Bauren Speichelhau.62 Auch wenn Eckhau, Zwerchzug und Blindhau echte Bezeichnungen für bestimmte Streiche und Hiebe sind,63 werden sie doch durch die Genitivattribute ihres ursprünglichen Sinns entkleidet: Der Eckhau (Schlag mit der Spitze des Schwertes) wird zu einer Spezialität des Protagonisten aus dem Eckenlied umgedeutet; der Zwerchzug (ein seitlicher Hieb, mhd. twerch – ›quer‹) erscheint als Hieb, dessen sich der Zwergenkönig Laurin bevorzugt bediente, und der Blindhau (wohl ein Hieb aus der Drehung, mit dem Rücken zum Gegner) wird mit dem Recken Fasolt vermutlich deswegen zusammengebracht, weil dessen erste Äußerung im Eckenlied über seinen späteren Gegner Dietrich von Bern lautet: ich gesach in nie mit oͮ gen.64 Der Vatterstreich (eigentlich: vom Vater verabreichte Ohrfeige) aus den Fechtschulpredigten des Schmidlein spielt auf den publizistischen Schlagabtausch Jakob Andreaes alias Schmidlin mit dem Jesuiten Conrad Vetter an.65 Spätestens der bäurische Speichelhau, also das Aus- und Anspucken, lässt die Errungenschaften, die sich Gargantua in der Fechtschule aneignet, in einem zweifelhaften Licht erscheinen. Und die Zweifel an der humanistischen Pädagogik werden auch zum Abschluss des Erziehungsprogramms nicht aufgehoben, wenn berichtet wird, dass Gargantua und seine Lehrer an Regentagen viel kleine sinnreiche automata bauen und darunter [d]as Fünfft Rad am Karren oder die Popfingisch Narrenschleiffen genannt werden.66 Auch sich selbst stimmende Lauten und ein Feuerzeug, das sich im Busen von allein entzündet, gehören zu den Basteleien, deren Funktionsfähigkeit und Sinnhaftigkeit sich jedenfalls nicht auf den ersten Blick erschließen.67
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nur von einem sçavant medicin de celluy temps, nommé Maistre Theodore die Rede (Rabelais 1913, S. 215). Fischart 1963, S. 276.1–15. Seelbach 2000, S. 377 und 384. Eckenlied 1999, Version E2, Str. 8, V. 3, S. 9. Vgl. Jakob Andreaes Abfertigung Conrad Vetters, seinen Sendbrieff […] an Conrad Vetter und seine Widerlegung Der Antwort Conrad Vetters […] auff mein Sendbrieff (alle 1589). Fischart 1963, S. 283.15–20. Das Narrenschleifen von Bopfingen konnte bisher nicht nachgewiesen werden; es dürfte sich um eine Satire aus dem Bereich des Städtespotts oder um einen Fastnachtsbrauch handeln. Einen Narrenschleifer zeigt ein Flugblatt von 1541 (Gotha, Schlossmuseum: 40, 36f.); zum Motiv des Schleifens in der Moralsatire vgl. Schilling 1990, S. 77ff. Fischart 1963, S. 283.27f.
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Dem Wissen und seiner Vermittlung an den jungen Gargantua werden in der Geschichtklitterung beträchtlicher Raum zugebilligt. Indem Fischart aber nicht nur den Lernstoff seines Helden ausbreitet – etwa um seine Leser daran partizipieren zu lassen –, sondern, wie gesehen, immer wieder unterläuft, zieht er den Nutzen jeglichen Bildungsprogramms in Zweifel. Anders als Rabelais, dessen Kritik sich nur gegen die antiqui richtet, bezieht Fischarts Skepsis auch den Anspruch der moderni ein. Die Reihungen widersprüchlicher, ambivalenter, teils realer, teils fiktiver Elemente, welche die Erziehungsprogramme Gargantuas kennzeichnen, sind auch sonst für das Erzählen in der Geschichtklitterung typisch. Als Gargantua es ablehnt, sich nach den Diätvorschriften der zeitgenössischen Medizin zu richten, führt er eine umfangreiche Liste berühmter Ärzte und Pharmazeuten an, deren Rezepte er nicht befolgen wolle68 – mit gutem Grund: Die Aufzählung stellt nämlich immer je zwei miteinander verfeindete und unterschiedlichen Schulen angehörende Gelehrte zusammen,69 so dass auch jemand mit einer grundsätzlich positiveren Einstellung zum Fasten, als sie Gargantua mitbringt, sich in einem Labyrinth widersprüchlicher Lehrmeinungen wiederfindet.70 Auch Fischarts wiederholte Rekurse auf die zeitgenössische Theorie einer gemeinsamen Ursprache zielen nicht auf ein tiefer liegendes Ordnungsmuster, dem sich die chaotische sprachliche Vielfalt der Erzähloberfläche zuordnen ließe; sie sind vielmehr ihrerseits »einer gezielten Verwirrung und Verballhornung unterworfen«,71 so dass auch die zeitgenössische Sprachwissenschaft als unfähig erscheint, Orientierung zu stiften. Nicht nur auf der Ebene des Erzählten wird die Verlässlichkeit des Wissens fortwährend unterlaufen – auch der Erzähler selbst trägt das Seine dazu bei, eventuelle und im Horizont der deutschsprachigen Literatur des sechzehnten Jahrhunderts durchaus wahrscheinliche Lesererwartungen von geistigem, geistlichem oder praktischem Nutzen der Lektüre zu brechen. Immer wieder sät er Zweifel an der Glaubwürdigkeit, Sinnhaftigkeit und Stringenz des von ihm Erzählten. So referiert er unter Bezug auf Phlegon von Tralleis den Fund eines steinernen Weinfasses, in dem der Kopf des Trojaners Idaios mit zwei kompletten Zahnreihen (als ob er noch dem Wein treuet ihn zu beissen)72 bestattet worden sei. Er schließt den Absatz mit der entlarvenden Bemerkung Aber beati credentes: wers nicht glaubt, dem wirds nicht eingeschraubt.73 Zusätzliche Schärfe erhält diese Absage an verbürgte Überliefe 68 69
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Ebd., S. 235.6–18. Es sei die Bemerkung erlaubt, dass sich an diesem Erscheinungsbild der Ernährungswissenschaft bis heute wenig geändert hat. Vgl. Seelbach 2000, S. 210–213. Bulang 2006, S. 148. Fischart 1963, S. 42.33f. Ebd., S. 42.34f.
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rungen und diejenigen, die ihnen Glauben schenken, durch die parodierende Anspielung auf das Wort Jesu (Mk 16,16). Ähnlich verfährt der Erzähler, als er in einer Reihe von Exempelfiguren, die einen Zusammenhang von Nahrungsaufnahme und Körperkraft belegen soll, den antiken Athleten Milon von Kroton anführt, der einen lebendigen Ochsen auff den achseln getragen und, bevor er ihn verzehrte, wie ein Ballen mit der Racketlichen hand bandirt und geschlagen habe. Letztere Information wird durch die Parenthese zusetzlich zulügen eingeleitet, durch die dem gesamten Passus en passant die Glaubwürdigkeit abhanden kommt.74 Könnte man von den bislang angeführten Belegen vielleicht noch behaupten, sie besäßen nur von Fall zu Fall für ihren engeren Kontext einigen Zeugniswert, so gilt dies nicht für die theoretischen und metapoetischen Aussagen der Vorreden, denen programmatische Bedeutung für den gesamten Text zukommt. Im Flöh Haz hatte Fischart noch davon abgesehen, den literaturtheoretischen Topos von der heilsamen Wirkung der Satire vorzutragen, weil er einen praktischen Nutzen literarischer und wissenschaftlicher Gelehrsamkeit wie auch satirischer Kritik bestreitet. In der Geschichtklitterung bringt er hingegen die topischen Argumente für den Nutzen der Satire, allerdings nur, um sie sogleich wieder in Frage zu stellen. In aller Ausführlichkeit wird ein Zusammenhang von Rabelais’ Beruf als Arzt und seiner Autorschaft eines wendunmütige[n] Stücks ausgebreitet75 – ein Zusammenhang, der eben in der heilungsfördernden Wirkung des Lachens begründet sei. Doch die Beispiele, die der Erzähler anführt, sind alles andere als eindeutig: Der einschlägige Fall des Erasmus, der bei der Lektüre der Epistulae obscurorum virorum so gelacht habe, dass sich ein eitriges Geschwür öffnete,76 wird in einen ironischen Kontext gestellt; es schließt sich nämlich die Bemerkung des Erzählers an, dass die Erschütterung des Zwerchfells in vergleichbarer Weise auch manchen Magenrumpeligen, Därmspenstigen und Bauchhängstigen Furtz vertreiben könne.77 Auch die folgenden Belege für die Heilkraft der Musik werden durch die Ergänzungen des Erzählers ironisiert: Ja sie schreiben, das Gesang heile die Schlangenbiß: Wie vil mehr dann den Narrenstich. Ja der Jurist Tiraquellus von Wasserschöpffingen hat, wie er schreibt, das Viertägig Fieber mit singen vertrieben: unnd ich mit trincken.78
Und der Abschluss dieser asyndetischen Reihung stellt dann den Ausgangspunkt vollends auf den Kopf: 74 75 76
77 78
Ebd., S. 56.21–25. Ebd., S. 17.13. Die Herkunft dieser Geschichte ist ungeklärt; sie wird im Fischart’schen Wortlaut zitiert bei Sommer 1609, S. 18. Fischart 1963, S. 16.21f. Ebd., S. 16.33–36.
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Michael Schilling Ja Asclepias hat mit der Trommeten einen Tauben hörend gemacht: Ja ich glaub noch mehr, er hab inn eim engen gemach darmit ein hörenden daub gemacht.79
Ist es in der ersten Vorrede der Topos von der heilsamen Wirkung satirischer Literatur, der evoziert und zugleich revoziert wird, so führt die zweite Vorrede das Modell allegorischen Sprechens an, das bei der Abfassung des Textes Pate gestanden habe und folglich als methodischer Ansatz für ein angemessenes Verständnis des Werkes beigezogen werden müsse. Der Leser möge bedenken, dass ein belustigendes äußeres Erscheinungsbild nichts über den ernsthaften inneren Wert einer Sache oder Person verrate, und das umso weniger, als man in der Literatur mit dem didaktischen Prinzip des Köders zu rechnen habe: […] es sey angenemer ermant werden schertzlich als schmertzlich, schimpflich dann stümpflich, gecklich dann schrecklich, wörtlich dann mördlich. Also auch hie, muß ich euch fein hinderschleichen, und wie eim Kind das muß einstreichen […].80
Diese Hinweise des Erzählers münden in das von Platon entlehnte Bild des ›philosophischen Hundes‹, der seinen Knochen andächtig, eifrig, verständig und unermüdlich zerprech und zerreiß, und anmütig vernag, saug unnd zerbeiß, bis er schließlich an das Schmerhafft marck gelange.81 An dieses Vorbild solle sich der Leser halten: […] erprecht das beyn fleissig durch genau sorgfeltiges lesen, unnd stätem unauffhörlichem nachsinnen, und sauget darauß dz substantzialisch wesenlich Marck.82
Doch kaum hat der Leser das Versprechen eines nahrhaften Gehalts zur Kenntnis genommen, der ihm nach intensiver und methodisch angemessener Lektüre winke, als ihm diese Aussicht auch schon wieder entgleitet. Der Erzähler fährt nämlich mit seiner Aufforderung fort: Schlappert nit auff Chorherrisch die Wort in euch, wie der Hund die Sup, sonder kauet und widerkauet sie wie die Küh, distilliert sie durch neun balcken, so findet ihr die Bon […].83
Was mit der Ermahnung zum sorgsamen Lesen beginnt, endet mit einem doch sehr ambivalenten Versprechen: Die Bohne, die als Lohn gründlichen Kauens annonciert wird, verweist auf den Neujahrsbrauch des Bohnenfestes. Bei diesem Brauch buk man in einen Kuchen eine Bohne ein; wer sie am Dreikönigstag in seinem Stück fand, durfte für die Dauer des Tages 79 80 81
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Ebd., S. 16.37ff. Ebd., S. 24.30–34. Ebd., S. 26.3–19. Zu dieser Passage bei Rabelais vgl. Schröder 1991, S. 509, und im vorliegenden Band Warning, S. 31–34. Fischart 1963, S. 26.26–29. Ebd., S. 26.30–33.
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König spielen und mit seinem ›Hofgesinde‹ feiern.84 Die Bohnen-Belohnung, die der Erzähler seinen Lesern in Aussicht stellt, hat also nur den Wert eines sehr begrenzten und kurzfristigen Vergnügens. Wie gering der Erzähler den Erfolg eingehender Interpretationsanstrengungen einschätzt, wird dann im anschließenden Abschnitt deutlich, in dem gelehrte Exegeten von der Antike bis zur Gegenwart verspottet werden, die aus den Texten Homers und Ovids gekrümte allegorien und verwänte gleichnussen […] nach ihren köpffen […] gepreßt, gekältert, getrott, gezwungen, und wie ein Bauchwäscherin gerungen hätten.85 Im 13. Kapitel knüpft Fischart noch einmal an die allegorische Exegesepraxis an, wenn er ausführt, [w]as bedeitet werd durch Plau und Weiß.86 In zum Teil abstrusen gedanklichen Operationen und mit entlegenen, ja abwegigen Belegen wird als triviale Erkenntnis entwickelt, dass die Farbe Weiß mit Freude konnotiert ist. Wiederholt bekundet der Erzähler, dass er sich bei seinem Thema verrannt habe, und macht dadurch erst eigentlich darauf aufmerksam, dass die Methode allegorischer Zeichenauslegung als Aberration erscheint. Indem die umständliche Allegorese der Farbe Weiß letztendlich verhindert, dass auch die Farbe Blau, wie in der Überschrift angekündigt und vom Wappen Gargantuas her erwartbar, angemessen erläutert wird, läuft der Leser auch hier wieder einmal ins Leere.
3. Catalogus Catalogorum Fischarts Catalogus Catalogorum ist Teil seines Projekts, Rabelais’ Gargantua und Pantagruel für ein deutsches Publikum zu bearbeiten.87 Er übernimmt die Titel von 140 Büchern, die Pantagruel in der Bibliothek des Klosters Sankt Viktor vorgefunden haben soll und die Rabelais im siebten Kapitel seines zweiten Buchs aufgelistet hat, und baut sie zu 527 Positionen aus. Anders als beim Flöh Haz und bei der Geschichtklitterung handelt es sich bei dem letzten Werk des Straßburger Juristen nicht um einen Erzähltext, sondern um einen Katalog. Daher verschiebt sich der Fokus von der Narration (deren amplifizierende Reihungen sich allerdings schon in der Geschichtklitterung immer wieder auch zu Katalogen ausgewachsen haben) hin zur Episteme. Und um Epistemisches geht es umso 84
85 86 87
Vgl. Sartori 1987; Deutsche illustrierte Flugblätter 1985, Nr. 61f.; van Wagenberg-ter Hoeven 1997; Fugger 2007. Fischart 1963, S. 26.39–27.4. Ebd., S. 178.33. Die folgenden Ausführungen basieren auf meiner Einleitung zu Fischart 1993, S. IX– XXXV, deren Ergebnisse mittlerweile von verschiedenen Seiten bestätigt wurden; vgl. Kleinschmidt 1995; Müller 1998; Seelbach 2000 (mit wertvollen Ergänzungen zu einzelnen Buchtiteln des Catalogus); Kilcher 2003, S. 157f.; Müller 2003, S. 480–486; Werle 2007, S. 170–201.
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mehr, als der Catalogus eben Buchtitel verzeichnet. Fischart schließt an drei konkrete Vorbilder an: den Messkatalog, den Bibliothekskatalog und die Bibliographie. In seiner Vorrede bezieht sich Fischart auf die Messkataloge des willers vnnd Portenbachs.88 Auch der Titel Catalogus Catalogorum perpetuo durabilis nimmt in Aufmachung und Formulierung auf die halbjährlich erscheinenden Messkataloge Bezug und persifliert diese zugleich, indem er sie hyperbolisch kräftig übertrumpft: Sowohl die Potenzierung der Gattungsangabe als auch das Epitheton perpetuo durabilis, das zeitgenössischen Kalender- und Praktikentiteln entlehnt ist und in demonstrativem Widerspruch zum sachbedingt zeitlich begrenzten Gültigkeitsanspruch der Messkataloge steht, weisen auf Entwicklungen des Buchmarkts wie die werbende und dabei irreführende Titelgebung vieler Werke hin. Die Expansion des Buchmarkts ging einher mit der Expansion des Wissens. Diese Wissenserweiterung, die mit einer erheblichen Beschleunigung verbunden war, führte zu einem erhöhten Bedürfnis an gesicherter Orientierung, Ordnung und Zusammenfassung. Dieses Bedürfnis wiederum schlug sich zum einen in der Anlage ausgedehnter Sammlungen in Gestalt von Bibliotheken oder auch Kunst- und Wunderkammern nieder. Und zum andern reagierte man auf dieses Bedürfnis mit der Produktion umfangreicher enzyklopädischer Werke. Beide Reaktionen werden von Fischart satirisch als untaugliche Versuche hingestellt, der andrängenden neuen Fülle des Wissens Herr zu werden. So seien die im Catalogus verzeichneten Bücher kaum in den berühmtesten und größten Bibliotheken der Gegenwart in München, Wien, Heidelberg und andernorts zu finden; und die drei antiken Bibliotheken mit insgesamt 265 000 Bänden, die der Verfasser geerbt zu haben behauptet, lassen den Vorredner als Großmaul erscheinen und deuten zugleich an, dass jeglicher Anspruch auf eine vollständige Sammlung verfehlt sei. Der andere Weg, die epistemische Expansion in enzyklopädischen Werken aufzufangen und zu ordnen, wird gleichfalls von Fischart satirisch zum Scheitern verurteilt. Die Skepsis gegenüber derartigen Werken kommt zum einen in einschlägigen hyperbolischen und damit unglaubwürdigen Titeln zum Ausdruck.89 Zum andern äußert sie sich in der ironisch-parodistischen Bezugnahme auf Conrad Gesners Bibliotheca universalis, in der das menschheitliche Gesamtwissen bibliographisch erfasst werden sollte: Gesner habe die im Catalogus verzeichneten Titel bedauerlicherweise ›übersehen‹, wobei die satirische Spitze weniger in den Krokodilstränen Fischarts 88 89
Fischart 1993, S. 5.2. Nur zwei Beispiele: Commentaria commentariorum, cum Additionibus additionum, & Annotationibus super Annotata […] (ebd., S. 17, Nr. 216) und Thesaurus Thesaurorum thesaurizatus ex multis thesauris […] (ebd., S. 35, Nr. 521).
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über dieses ›Versäumnis‹ besteht als darin, dass viele der Titel fingiert sind und ihr Erscheinen erst einer ferneren Zukunft anheimgestellt wird. Der Blick auf den Flöh Haz, die Geschichtklitterung und den Catalogus Catalogorum hat gezeigt, dass Fischart in zunehmender Konzentration auf die epistemische Expansion der Frühen Neuzeit reagiert. Im Flöh Haz sind es noch eher großräumige Diskurse, deren Ordnungsanstrengungen gegenüber einer naturgesetzlich agonalen und chaotischen Welt scheitern. In der Geschichtklitterung bieten die amplifikatorische Detailfülle und ein Erzähler, der seinen Lesern permanent den Boden vermeintlich vertrauter Wahrheiten und Wertvorstellungen wegzieht, ein Bild notorischer Verunsicherung und grundlegender Skepsis gegenüber einer sich fortwährend und mit wachsender Geschwindigkeit verändernden Gegenwart. Der Catalogus Catalogorum schließlich führt auch die Versuche ad absurdum, die neue epistemische Unübersichtlichkeit durch Thesaurierung – sei es konkret in Kunstkammern und Bibliotheken, sei es geistig in Enzyklopädien – und durch bibliographische Erfassung – ob in periodischer Form oder mit Universalanspruch – ordnen und zugänglich machen zu wollen. Ob Fischart sich als idealen Leser jemanden hätte vorstellen wollen, der in der Lage ist, alle Anspielungen seiner Texte aufzulösen, mag angesichts dieses grundsätzlichen Skeptizismus bezweifelt werden. Auch eine Kennzeichnung der Geschichtklitterung als »Spiel mit gelehrtem Wissen«,90 in der die bekannte These von der beginnenden Autonomisierung der Literatur bei Fischart noch einmal aufscheint, greift zu kurz, solange nicht die tiefe, bis zum Zynismus reichende Skepsis, der durchaus ein Moment der Verzweiflung innewohnt, als die dunkle Grundierung im Werk des Straßburgers erkannt und benannt wird.
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Marina Münkler
Semantische Kohärenz, narrative Inkohärenz? Zum Problem der narrativen Strukturen und der Erzählformen in der Historia von D. Johann Fausten 1. Einleitung Unter den Prosaromanen der Frühen Neuzeit ist die Historia von D. Johann Fausten das Musterbeispiel für die Kombination narrativer Strukturen mit deskriptiven Elementen, die nicht-narrativen Ordnungen angehören. Aus unterschiedlichsten Quellen kompiliert, zeichnet sich das Faustbuch durch die bemerkenswerte Heterogenität der verwendeten Prätexte aus. Einerseits geht es auf zahlreiche in den protestantischen Exempelsammlungen des 16. Jahrhunderts verbreitete Exempel über Faust und andere Zauberer zurück, andererseits integriert es Elemente aus verschiedenen wissensvermittelnden Quellen, die sich aufgrund ihrer deskriptiven Struktur überaus sperrig zur Narration einer Vita verhalten.1 Das ist umso deutlicher, als diese Elemente an zahlreichen Stellen unverändert und teilweise blockartig in die Narration von Fausts Vita integriert worden sind.2 Es stellt sich von daher die Frage, welche Folgen ein solches Verfahren für die narrative Kohärenz einer biographischen Erzählung hat. Sowohl in der älteren als auch der jüngeren Forschung ist wiederholt die These vertreten worden, dem Faustbuch-Autor sei es nicht gelungen, das völlig heterogene Material seiner ›Quellen‹ zu einer kohärenten biographischen Erzählung zu vereinen.3 Insbesondere wurde behauptet, dass die ein 1
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Der deutlich größere Teil der herangezogenen Exempel bezog sich ursprünglich nicht auf Faustus, sondern auf andere, in den Exempelsammlungen teils namentlich genannte, teils anonyme Zauberer. Von den über Faustus umlaufenden Exempeln ist ein erheblicher Teil ausgelassen worden, obwohl er in den verwendeten Exempelsammlungen zuhanden gewesen wäre. Vgl. Münkler 2007, S. 46–57. Vgl. die Auflistung der Quellen bei J.-D. Müller 1990, S. 1326–1329, sowie bei Füssel 1991, S. 19f.; außerdem Milchsack 1892, S. XVIII–CCXCVI, und Ruberg 1995. Insbesondere in der Forschung des 19. Jahrhunderts war diese Überzeugung gespeist aus Werturteilen über die Qualität narrativer Texte, die vorwiegend am zeitgenössischen Roman orientiert waren; vgl. Scherer 1884, S. XIII; vgl. auch Ellinger 1887/ 1888, S. 157f.; Szamatólski u. a. 1888, S. 162. Ähnlich negative Einschätzungen finden sich auch noch in der jüngeren Forschung. So hat Frank Baron der Historia attestiert, den Ansprüchen einer literarischen Erzählung nicht zu genügen: »When we examine the Historia on its own terms, we find that the prose lacks the harmony and unity of a literary text« (Baron 1992, S. 95). In seinen früheren Untersuchungen hatte er sie denn auch konsequent nicht der Faust-Dichtung, sondern der Faust-Sage zugeschlagen; vgl. ders. 1978, S. 49ff., und 1982, S. 70–83.
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zelnen Teile der Erzählung völlig unterschiedlich strukturiert und nur durch den von außen hergestellten biographisch-linearen Ablauf verbunden seien, also keine innere Kohärenz aufwiesen. Als Beleg dafür wurde hauptsächlich die Differenz zwischen dem dritten und dem vierten Teil, zwischen den ›Zauberschwänken‹ und den ›Weheklagen‹ hervorgehoben.4 Dem standen und stehen Forschungsmeinungen gegenüber, die von einer hohen Kohärenz der Erzählung ausgehen, die sie entweder aus der Psychologie der Figur oder aus den eingesetzten rhetorischen Mitteln ableiten.5 Erschwert wurde die Forschungsdebatte dadurch, dass die Kohärenzfrage innerhalb dieser Diskussion auf ganz unterschiedlichen Ebenen verhandelt worden ist, ohne dass dies jedoch präzise benannt worden wäre. Auf diese Weise haben sich unter anderem Fragen nach der narrativen Kohärenz des Romans, der identitären Kohärenz der Figur, der diskursiven Kohärenz der eingearbeiteten Prätexte, der epistemischen Kohärenz der in die Erzählung integrierten Wissensbestände und der ideologischen Kohärenz der paränetischen Funktionalisierung des Romans miteinander vermischt. Die Kohärenz des Faustbuches soll daher im Folgenden auf drei Ebenen untersucht werden: Auf der Ebene der histoire im Sinne der zeitlichen Abfolge der Ereignisse, auf der Ebene des discours im Sinne der syntagmatischen Verknüpfung der einzelnen Erzählelemente und auf der Ebene der unterschiedlichen Semantiken, denen Fausts Vita untergeordnet ist. Dabei beschränke ich mich hier auf den Aspekt der curiositas. Abschließend werde ich erläutern, welche Rolle die Zeiterfahrung der Hauptfigur als Verknüpfungsmodus innerhalb der Erzählung spielt.
2. Der Aufbau der Narration: Paradigmatische Reihung, syntagmatische Verknüpfung und die Geschwindigkeit der Erzählung Wie in den Prosaromanen, aber auch den Schwankromanen der Frühen Neuzeit durchaus üblich, ist die Historia in einzelne Kapitel unterteilt, von denen jedes mit einer Überschrift versehen ist.6 Insgesamt umfasst 4
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Vgl. Könneker 1967, S. 196; Dohm 1989, S. 168; Strauss 1989, S. 36; Scholz Williams 1990, S. 18; Füssel 1991, S. 34; Baron 1992, S. 107; Auteri 1997, S. 13; Walch-Paul 1998, S. 95–98; Riedl 2003. Zur psychologischen Kohärenz vgl. Jones 1994, S. 9; zur Annahme rhetorischer Kohärenz vgl. Petsch 1911, S. XXV; Roloff 2003, S. 92; vgl. auch M. E. Müller 1988, S. 54. Hans Joachim Kreutzer hat die These vertreten, in der Historia vollziehe sich der Übergang vom seriellen zum sequentiellen Erzählen, was Faust die »Fortexistenz in der Neuzeit« ermöglicht habe (Kreutzer 2006, S. 342). Ich zitiere die Historia von D. Johann Fausten parallel nach den beiden kritischen Ausgaben von Müller (1990) und von Füssel und Kreutzer (2006), da erstere über einen unverzichtbaren Stellenkommentar verfügt, letztere für Studierende leichter greifbar ist und im Anhang die verwendeten Quellentexte bietet. Die Unterteilung in einzelne, jeweils mit einer Überschrift versehene Kapitel findet sich auch bei allen
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die Historia 69 Kapitel, deren Überschriften auch in einem an den Schluss gestellten Register durchnummeriert aufgeführt sind.7 Auf der Oberfläche betrachtet signalisiert die Unterteilung einer biographischen Erzählung in einzelne, teilweise sehr kurze Kapitel eher die paradigmatische Reihung von Episoden als die syntagmatische Verknüpfung solcher Episoden zu einem kohärenten Ganzen. Neben der Gliederung in einzelne Kapitel finden sich innerhalb des Textes allerdings auch größer gesetzte Zwischenüberschriften, welche die Historia in drei beziehungsweise vier Teile untergliedern. Der erste Teil, der selbst noch nicht mit einer separaten Überschrift betitelt ist, beschreibt in den Kapiteln 1 bis 17 nach einem Überblick über Fausts Herkunft, Studium und Promotion dessen Abfall von Gott, die Beschwörung des Teufels, das Zustandekommen des Teufelspaktes nach längeren Verhandlungen, erste Konflikte über die Vertragsbedingungen sowie die anschließenden Disputationen mit Mephostophiles, die sich ganz auf den Teufel und seine Macht sowie die Hölle und das Los der Verdammten konzentrieren. Teil II versammelt unter der Überschrift Folget nun der ander Theil dieser Historien / von Fausti Abenthewren vnd andern Fragen8 in den Kapiteln 18 bis 32 Fausts Tätigkeit als Kalendermacher und Astrologe, Lehrgespräche zwischen Faustus und Mephostophiles über Fragen der Kosmologie, die Fahrten in die Hölle und hinauf zu den Gestirnen sowie seine Reisen durch die alte Welt. Daran schließen sich dann Lehrgespräche zu unterschiedlichen Naturphänomenen an, in denen Faustus nicht mehr als ›Schüler‹, sondern als Belehrender auftritt und nunmehr Fragen beantwortet, die an ihn gerichtet werden. Der dritte Teil umfasst zwei Unterabschnitte, wie auch aus der Überschrift deutlich wird: Folgt nun der dritt vnnd letzte Theil von D. Fausti Abenthewer / was er mit seiner Nigromantia an Potentaten Hoͤ fen gethan vnd gewircket. Darauf folgt im Schriftbild abgesetzt: Letzlich auch von seinem jaͤ mmerlichen erschrecklichen End vnnd Abschiedt.9 Teil III/1 schildert in den Kapiteln 33 bis 59 Faustens in unterschiedlichen sozialen Kontexten eingesetzte Zauberkunststücke, wobei deren Funktion und soziale Einbindung sehr unterschiedlich ist. Manche Zauberkunststücke führt Faustus auf Nachfrage der höheren Stände vor, andere zur Belustigung
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anderen der von Jan-Dirk Müller gemeinsam mit dem Faustbuch edierten Prosaromane des 15. und 16. Jahrhunderts: Melusine, Hug Schappler, Fortunatus, Magelone und Knabenspiegel. Das Register hat allerdings nur 68 Kapitel, da die im Text vorhandene Überschrift des Kapitels über Fausts Wirken am Hofe des Grafen von Anhalt fehlt (Von einer andern Abenthewer / so auch diesem Grafen zu gefallen durch D. Faustum geschehen / da er ein ansehenlich Schloß auff ein Hoͤ he gezaubert) und das Kapitel folglich nicht mitgezählt wird. In Faustbuch 1990, S. 983.31–34, und Historia 2006, S. 127.16ff., wird es unter der Nummer 44a geführt. Faustbuch 1990, S. 881.9f.; Historia 2006, S. 44.1ff. Faustbuch 1990, S. 923.1–7; Historia 2006, S. 77.1–6.
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der sich um ihn scharenden Studenten, wieder andere setzt er zu Zwecken des Betrugs, der Hilfe, der moralischen Belehrung oder der Bestrafung ein. Daneben erzählt dieser Abschnitt aber auch von dem Bekehrungsversuch des Nachbarn, Faustens Bereitschaft zur Umkehr, den darauf folgenden Drohungen des Teufels, die in die zweite Verschreibung münden, und von der Buhlschaft mit Helena. Teil III/2, der nochmals durch eine Überschrift abgesetzt ist (Folget nu was Doctor Faustus in seiner letzten Jarsfrist mit seinem Geist vnd andern gehandelt / welches das 24. vnnd letzte Jahr seiner Versprechung war),10 umfasst in den Kapiteln 60 bis 68 das Aufsetzen des Testaments und das Gespräch mit Wagner über Fausts materielles und geistiges Erbe, die Weheklagen, die beiden letzten Begegnungen mit Mephostophiles und schließlich Faustens Bekenntnis und Abschied mit der Oratio Fausti ad Studiosos sowie sein greuwliche[s] vnd erschreckliche[s] Ende.11 Die Gliederung in vier Teile, denen nicht nur bestimmte Zeitabschnitte, sondern auch bestimmte Ereignis- und Handlungsabläufe zugeordnet werden, unterläuft also bereits die paradigmatische Reihung und signalisiert schon auf dieser Ebene eine syntagmatische Verdichtung der Erzählung. Ordnendes Grundprinzip der Narration ist Fausts Vita, deren chronologisch-linearer Ablauf dem ordo naturalis von der Geburt bis zum Tod folgt. Allerdings hat dieses biographische Verlaufsschema markante Einschnitte: Von Kindheit und Jugend aus, in der sich die viel versprechende Begabung des Knaben zeigt, wird zunächst eine steil aufsteigende Linie zum Doktor der Theologie gezogen, die mit der Beschwörung des Teufels und dem Pakt einen jähen Bruch erfährt. Danach wird Fausts Leben im Bann des Teufels gezeigt. Dabei ist der teuflische Geist Mephostophiles für lange Zeit Fausts einziger Gesprächspartner und Gefährte: In langen Disputationen vermittelt er Faust scheinbar gelehrtes Wissen und mittels seiner Zauberkräfte ermöglicht er ihm Reisen durch die alte Welt sowie Fahrten hinab in die Hölle und hinauf zu den Gestirnen. Anschließend erscheint Faustus in den Zaubereikapiteln, die ihn wieder im Kontakt mit anderen Menschen zeigen, als ein mit den Fähigkeiten des Teufels ausgestatteter Zauberer, der in seiner sozialen Umgebung erhebliche Reputation genießt. Im letzten Teil erfolgt ein erneuter Rückzug von der Gesellschaft, der mit dem Verfall der Person unter dem Druck des erwarteten Endes verbunden ist. Obwohl der anonyme Verfasser im Widmungsschreiben wie in der Vorrede behauptet, die Historia sei die wahrhaftige Lebensbeschreibung jenes Doct. Johannis Fausti / deß weitbeschreyten Zauberers vnnd Schwartzkuͤ nstlers, nach dessen Geschichte allenthalben ein grosse nachfrage […] bey den Gastungen vnnd Gesellschafften geschicht12 und der noch bey Men 10 11 12
Faustbuch 1990, S. 964.1–4; Historia 2006, S. 111.1–4. Faustbuch 1990, S. 974.26 und 973.6f.; Historia 2006, S. 119.28 und 118.17f. Faustbuch 1990, S. 833.8–12; Historia 2006, S. 5.9–13.
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schen Gedaͤ chtnuß gelebet,13 werden seine Lebensdaten nicht angegeben. Auch lineare Zeitangaben sind nicht sehr häufig, nehmen aber im Verlauf der Erzählung zu und sind alle auf den Ablauf der vierundzwanzigjährigen Paktdauer bezogen. Zwischen dem ersten Zyklus der Disputationen über die Hölle und die Verdammten und dem zweiten Zyklus der Gespräche über kosmologische Fragen liegen zwei Jahre, in denen Faustus Practicam vnd Calender erstellt.14 Im achten Jahr enden die Disputationen mit Mephostophiles, und es beginnen die eingebildeten oder tatsächlichen Reisen durch die Hölle und zu den Gestirnen. Im sechzehnten Jahr unternimmt Faustus seine Reisen durch Europa und Asien, bei denen er zunächst nur für einen kurzen Zeitraum von fünfundzwanzig Tagen und dann eineinhalb Jahre unterwegs ist; im siebzehnten Jahr verschreibt er sich zum zweiten Mal dem Teufel. Danach haben alle Kapitel Zahlenangaben für die bereits abgelaufene Zeit innerhalb der vierundzwanzigjährigen Paktzeit, das heißt: die Zeit erscheint als ablaufende Frist. Im letzten Jahr setzt Faust sein Testament auf, im letzten Monat fängt er an zu phantasieren und schreibt sein Elend in drei Weheklagen auf, am vorletzten Tag erscheint ihm der Geist, am letzten Abend legt er vor den befreundeten Studenten und Magistern sein Bekenntnis ab. Es kommt also auf der Ebene des discours zu einer Dehnung der Zeit, bei der die erzählten Zeitabschnitte immer kürzer, die Narration jedoch immer umfangreicher wird. Gerade dies hat jedoch den Effekt einer Akzeleration der Zeit auf der Ebene der histoire, denn Fausts letzte Lebenstage scheinen durch die Dichte der Ereignisfolge förmlich auf das Ende zuzustürzen. Das Zentrum des Verlaufsschemas, auf das alles zu- und von dem alles wegläuft, ist ein performativer Sprechakt: der Pakt, in dem Faustus dem Teufel seine Seele verschreibt. Dieser Pakt, von dem der Erzähler vorgibt, ihn wörtlich zu zitieren, ist mit allen Signifikanten eines juristisch verbindlichen illokutionären Sprechaktes ausgestattet: Jch Johannes Faustus D. bekenne mit meiner eygen Handt offentlich / zu einer Bestettigung / vnnd in Krafft diß Brieffs […].15 Die juristisch korrekte Form dieses Sprechaktes ist aber nicht nur im Hinblick auf die formale Gültigkeit des Vertrages zwischen Faust und dem Teufel performativ wirksam, sondern auch für den weiteren Verlauf der Erzählung. Genau so wie es formuliert ist, wird der Vertrag auch verwirklicht: Vom Abschluss des Pakts an hat Faustus vierundzwanzig Jahre, innerhalb derer ihm der Teufel zu Diensten ist, seine Fragen beantwortet, ihn belehrt, ihm herausragende Erfahrungsmöglichkeiten verschafft und die Fähigkeiten eines Geistes verleiht. Am Ende dieser 13 14 15
Faustbuch 1990, S. 839.23f.; Historia 2006, S. 11.5f. Faustbuch 1990, S. 882.17f.; Historia 2006, S. 45.4f. Faustbuch 1990, S. 854.17ff.; Historia 2006, S. 22.22f. Zum Begriff des (konventional) illokutionären Sprechaktes und zu seiner Unterscheidung vom (intentional) perlokutionären Sprechakt vgl. Austin 2002, S. 112–124.
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vereinbarten Zeit kommt der Teufel, holt sich Fausts Seele und schaltet mit seinem Leib, wie er will: Er zerschmettert ihn an der Wand, so dass sein Blut in der Stube verspritzt wird, das Hirn an der Wand klebt, Augen und Zähne auf dem Boden verteilt sind und der Rest des Körpers schließlich auf dem Misthaufen landet.16 Die Abfolge der Erlebnisse und Ereignisse wird nicht gleichförmig erzählt. Grundprinzip des narrativen discours ist die Variation der Dauer der Erzählung, also der Wechsel unterschiedlicher Erzähltempi, die von extrem kurzen Summaries bis zu szenisch breit auserzählten, dem dramatischen Modus angenäherten Sequenzen reichen.17 Das Summary von Fausts Jugend und Studium ist ganz danach organisiert, auf den Teufelspakt hinzuführen. Faustus wird als hochbegabt beschrieben (eins gantz gelernigen vnd geschwinden Kopffs / zum studiern qualificiert vnd geneigt),18 aber auch als unbelehrbar, leichtfertig und hochmütig ([d]aneben hat er auch einen thummen / vnsinnigen vnnd hoffertigen Kopff gehabt / wie man jn denn allezeit den Speculierer genennet hat),19 sodass sein Weg in den Teufelspakt als eine konsequente Folge der ihm zugeschriebenen Eigenschaften erscheint, was der Erzählerkommentar durch das Zitieren eines Apophthegmas markiert: Aber es ist ein wahr Sprichwort: Was zum Teuffel wil / das laͤ ßt sich nicht auffhalten / noch jm wehren.20 Sowohl auf der Performanz- als auch der Kommentarebene arbeitet der Erzähler hier mit einer dichten syntagmatischen Verknüpfung, welche die Beschwörung des Teufels als konsequenten, aus den Faustus zugeschriebenen Eigenschaften motivierten Schritt erscheinen lässt: sein Fuͤ rwitz/Freyheit vnd Leichtfertigkeit stache vnnd reitzte jhn also / daß er auff eine zeit etliche zaͤ uberische vocabula / figuras / characteres vnd coniurationes / damit er den Teufel vor sich moͤ chte fordern / ins Werck zusetzen / vnd zu probiern jm fuͤ rname.21
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Unter dem Aspekt der Auflösbarkeit von Verträgen ist das eigentlich unwahrscheinlich, denn Faustus hält einen Vertrag ein, der für ihn so erhebliche Nachteile hat, dass dies die illokutionäre Kraft des Vertrages im Prinzip aushebeln müsste. Da Verträge Versprechen auf die Zukunft sind, bei denen unterstellt wird, dass beide Vertragsparteien von der Einhaltung des Vertrages profitieren und wo dies nicht der Fall ist, die Vertragserfüllung unwahrscheinlich wird, bedarf die von Austin unterstellte illokutionäre Kraft von Verträgen einer ganzen Reihe institutionell garantierter Zusatzbedingungen. Grundsätzlich zum Problem der illokutionären Kraft von Verträgen in Auseinandersetzung mit Austins Position vgl. Werber 2002; zur Performativität und Performanz des Teufelspakts in der Historia vgl. Münkler 2008. Zu den unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Erzählung vgl. Genette 1998, S. 61– 80. Faustbuch 1990, S. 843.23ff.; Historia 2006, S. 14.13f. Faustbuch 1990, S. 844.3–6; Historia 2006, S. 14.20ff. Faustbuch 1990, S. 844.10ff.; Historia 2006, S. 14.26f. Faustbuch 1990, S. 845.17–22; Historia 2006, S. 15.20–25. Zur curiositas als der zentralen Begründung für Fausts Pakt mit dem Teufel in der Historia vgl. J.-D. Müller 1984, 1986 und 1992; Münkler 2005/2006.
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Die Beschwörung selbst ist szenisch breit ausgestaltet und zeichnet sich durch eine dichte Folge von Präsenzeffekten aus, die etwa durch die Beschreibung von Blitzen, Donnern, unheimlichen Lauten und bedrohlichen Effekten erzielt werden.22 Allerdings werden diese Präsenzeffekte durch Kommentare des Erzählers gebrochen. Denn als D. Faustus den Teuffel beschwur / da ließ sich der Teuffel an / als wann er nicht gern an das Ziel vnd an den Reyen kaͤ me / wie dann der Teuffel im Wald einen solchen Tumult anhub / als wolte alles zu Grund gehen / daß sich die Baͤ um biß zur Erden bogen.23
Im Sinne einer Theorie magisch-rituellen Sprechens lässt sich der Akt der Teufelsbeschwörung als illokutionärer Sprechakt verstehen.24 Der Erzähler distanziert sich freilich von der Unterstellung einer illokutionären Kraft solcher ritueller Handlungen, indem er der Beschreibung der ersten Beschwörung die folgende Bemerkung voranstellt: Da wirdt gewißlich der Teuffel in die Faust gelacht haben / vnd den Faustum den Hindern haben sehen lassen / vnd gedacht: Wolan / ich wil dir dein Hertz vnnd Muht erkuͤ hlen / dich an das Affenbaͤ ncklin setzen / damit mir nicht allein dein Leib / sondern auch dein Seel zu Theil werde.25
Damit demaskiert der Erzähler die erst im Anschluss beschriebene Beschwörungszeremonie und das Widerstreben des Teufels von Beginn an als Täuschung: Um Faustus glauben zu machen, er könne den Teufel beherrschen, gibt dieser sich widerstrebend und entfacht auf diese Weise Fausts Machtwillen nur umso mehr. Solche Performanzen im Sinne mehr oder minder aufwendiger zeichenhafter Inszenierungen werden als ein wichtiges Element der Machtmittel des Teufels beschrieben. Zumeist haben sie einen perlokutionären Effekt auf Faustus, indem sie affektive Zustände der Freude und der Gier, vor allem aber auch der Furcht auslösen. 22
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In den letzten Jahren ist solchen Präsenzeffekten des Narrativen jenseits des Signifikativen in der Forschung breiterer Raum gewidmet worden. Auf einzelne Ergebnisse dieses hochinteressanten Forschungsgebiets kann hier nicht eingegangen werden, verwiesen sei etwa auf Largier 2005 und Lechtermann 2005. Als theoretische Grundlegung ist hier nur zu nennen Gumbrecht 2004; vgl. auch Kiening 2003, S. 7–31. Einen Überblick über die spezifisch altgermanistische jüngere Forschung bietet in einem thematisch auf Minnereden bezogenen Aufsatz Waltenberger 2006; eine kritische Würdigung des Ansatzes findet sich bei Peters 2007, S. 70f. Faustbuch 1990, S. 846.14–19; Historia 2006, S. 16.8–12. Tambiah 1998, S. 213f., definiert das Ritual als »kulturell konstruiertes System symbolischer Kommunikation. Es besteht aus strukturierten und geordneten Sequenzen von Worten und Handlungen, die oft multi-medial ausgedrückt werden und deren Inhalt und Zusammenstellung mehr oder weniger charakterisiert sind durch: Formalität (Konventionalität), Stereotypie (Rigidität), Verdichtung (Verschmelzung) und Redundanz (Wiederholung)«. Zur möglichen Verknüpfung zwischen den hier zugrunde gelegten Ritualtheorien, den sprechakttheoretischen Überlegungen und der Konstatierung von Präsenzeffekten vgl. Münkler 2008. Faustbuch 1990, S. 846.4–10; Historia 2006, S. 15.33–16.5.
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Nach der Beschwörung führt Faustus mit dem teuflischen Geist Mephostophiles szenisch breit inszenierte Verhandlungen über den Gegenstand und die Bedingungen eines möglichen Pakts. Bemerkenswerterweise erscheint das Auslösen von Furcht bereits vor dem Abschluss des Vertrags als einer der vom Teufel intendierten perlokutionären Effekte. Schon bei ihrem ersten Gespräch erläutert der teuflische Geist Faustus, er könne über die Herrschaft und das Regiment des Teufels erst nach seinem Tod als Verdammter etwas erfahren. Faustus reagiert darauf entsetzt und erklärt, [j]ch wil darumb nicht verdampt seyn / vmb deinet willen, worauf der Teufel mit dem Merkvers repliziert: Wiltu nit / so hats doch kein Bitt / Hats denn kein Bitt / so mustu mit / Helt man dich / so weistu es nit / Dennoch mustu mit / da hilfft kein Bitt / Dein verzweiffelt Hertz hat dirs verschertzt.26
Dieser Merkvers ruft bei Faustus widersprüchliche Reaktionen hervor: Zunächst jagt er den Geist davon, aber gleich darauf wird er eines andern zweiffelhafftigen Gemuͤ hts27 und beschwört den Teufel erneut. Diesen Widerspruch markiert der Erzähler dann erneut in einem Kommentar: Es ist hie zu sehen deß Gottlosen Fausti Hertz vnd Opinion / da der Teuffel jhm / wie man sagt / den armen Judas sang / wie er in der Hell seyn muͤ ste / vnd doch auff seiner Halßstarrigkeit beharret.28
Der hier beobachtbare Dreischritt von Performanz, perlokutionärem Effekt und illokutionärem Erzählerkommentar, der das Ende proleptisch vorwegnimmt, ist eines der Grundprinzipien, nach denen die Kommunikation zwischen Faustus und dem Teufel organisiert und kommentiert wird. Nach dem Paktschluss wird der Erzählverlauf mithilfe von Ellipsen wieder beschleunigt.29 Diese Ellipsen werden zumeist in den die Kapitel einleitenden Situierungen durch Erzählerbemerkungen wie Doct. Faustus name jm widerumb ein Gespaͤ ch fuͤ r […] oder Doctor Faustus / nach dem jhme sein Vnmuht ein wenig vergienge / fragte er seinen Geist […], Doctor Faustus hatte wol jmmerdar eine Rew im Hertzen […] expliziert, zeitlich aber unbestimmt gelassen.30 Durch diese zeitliche Unbestimmtheit machen sich auf der Ebene der histoire die Ellipsen kaum bemerkbar, denn die auf 26 27 28 29
30
Faustbuch 1990, S. 850.8–14; Historia 2006, S. 19.3–9. Faustbuch 1990, S. 850.18; Historia 2006, S. 19.12f. Faustbuch 1990, S. 850.22–26; Historia 2006, S. 19.17–20. Solche Ellipsen können nach Genette 1998, S. 76ff., explizit oder implizit sein: Der Leser wird im ersten Fall auf die Auslassung hingewiesen, im zweiten kann sie nur erschlossen werden. Die expliziten Ellipsen können außerdem zeitlich bestimmt oder unbestimmt sein. Faustbuch 1990, S. 865.21f., 868.3f., 870.23f.; Historia 2006, S. 32.4, 34.4f., 36.5.
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den Pakt folgenden Disputationskapitel des ersten Teils zeichnen sich insgesamt durch einen szenischen Modus aus und widmen sich alle der Hölle, sodass eine metaphorische Similarität der Kapitel erzeugt wird. Daneben verbindet die Kapitel aber auch metonymische Kontiguität, denn sie sind durch Fausts Frageinteresse kausal miteinander verknüpft.31 Darüber sind auch die zeitlichen Ellipsen funktionalisiert, denn sie markieren Fausts Probleme, die Antworten des Teufels auf seine Fragen zu verarbeiten und zu bewältigen. Die ersten Jahre von Fausts Vertragszeit vergehen mit Gesprächen, die Faustus affektiv so betroffen machen, dass er dazwischen Pausen benötigt, die mit Grübeln oder Ablenkungen gefüllt sind. Diese Zwischenphasen werden in der Regel nicht ausführlich erzählt, aber durch einleitende oder abschließende Erzählerkommentare angedeutet, einmal auch in einem kurzen Summary beschrieben: D. Faustus gieng abermals gantz Melancholisch vom Geist hinweg / wardt gar Verwirret vnd Zweiffelhafftig / gedacht jetzt da / dann dorthin / trachtete diesen dingen Tag vnnd Nacht nach / Aber es hatte kein bestandt bey jme / Sondern wie oben gemeldet / hat jhn der Teuffel zu hart Besessen / Verstockt / Verblendt vnd Gefangen. Zu dem / wann er schon allein war / vnd dem Wort GOttes nachdencken wolte / schmuͤ cket sich der Teuffel in gestalt einer schoͤ nen Frawen zu jme / haͤ lset jn / vnd trieb mit jm all Vnzucht / also daß er deß Goͤ ttlichen Worts bald vergaß / vnd in Wind schluge / vnnd in seinem boͤ sen Fuͤ rhaben fortfuhre.32
Nach dem resignativen Abschluss der Disputationskapitel (Doct. Faustus / als er von Gottseligen Fragen vom Geist keine Antwort mehr bekommen kondte […]33) beginnt der zweite Teil mit einem Summary, das Fausts Tätigkeit als Kalendermacher und Astrologe zusammenfasst. Danach wechselt die Erzählung wieder in den ›langsameren‹ szenischen Modus des Dialogs, der weitgehend demselben Schema folgt wie die Disputationen des ersten Teils: Faustus fragt, Mephostophiles antwortet und lässt Faustus beunruhigt oder verzweifelt zurück. Der diskursive Gesprächsmodus wird dann durch den Bewegungsmodus abgelöst, denn nach dem Abschluss dieser zweiten Disputationsreihe beginnen Fausts Reisen in die Hölle, zu den Gestirnen sowie durch Europa und Asien. Hier arbeitet der Verfasser mit einer Mischung aus Beschleunigung 31
32 33
Ich verwende die Begriffe metaphorische Similarität und metonymische Kontiguität in Anlehnung an Roman Jakobson. Jakobson benennt damit unterschiedliche sprachliche Verknüpfungsmodi: Erstere bezeichnet die Substiuierbarkeit, letztere die prädikative Verknüpfung von Worten (vgl. Jakobson 1979, S. 133–139). Diese Differenzierung ist in der Erzähltheorie zur Beschreibung der Verknüpfung freier Motive übernommen worden. Freie Motive in metaphorischer Verwendung sind jene, die eine semantische Identität oder Ählichkeit haben, freie Motive in metonymischer Verknüpfung dagegen solche, die durch räumliche, zeitliche oder kausale Nähe oder durch eine synekdochische pars pro toto-Beziehung, also durch Kontiguität, verbunden sind. Vgl. Martinez/Scheffel 2002, S. 114ff. Faustbuch 1990, S. 879.9–22; Historia 2006, S. 42.15–25. Faustbuch 1990, S. 881.12f.; Historia 2006, S. 44.6f.
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und Verlangsamung, denn durch die Fülle der beschriebenen Elemente wird einerseits der Eindruck rasender Geschwindigkeit vermittelt, andererseits aber ein narrativer Stillstand erzeugt, weil die umfangreichen Deskriptionen narrative Pausen erzeugen, in denen Ereignislosigkeit dominiert. In den anschließenden Kapiteln mit den von Faustus beantworteten kosmologischen Fragen setzt der Verfasser dann erneut vorwiegend szenische Kapitel ein, wobei auch hier, wie bei den ersten Gesprächskapiteln, die thematische Uniformität der Fragen nach kosmologischen Phänomenen metaphorische Ähnlichkeiten erzeugt. Dagegen nimmt die metonymische Kontiguität im Sinne kausaler oder finaler Motivierung der einzelnen Episoden ab, denn die letzten Kapitel des zweiten Teils sind bereits auf Kontingenz umgestellt (Zu Eißleben ist ein Comet gesehen worden […]. Da fragten etliche seine gute Freundt D. Faustum / wie das zugieng;34 Ein fuͤ rnemmer Doctor N. V. W. zu Halberstatt / lude D. Faustum zu Gast […]).35 In diesen Kapiteln, in denen Faustus Fragen beantwortet, sind die Frageanlässe kontingent und die Inszenierungen seines Antwortens verweisen zwar darauf, dass er in der Zwischenzeit zu sozialem Ansehen und einer gewissen Reputation als Astrologe gekommen ist, aber dieses Ansehen wird nicht in der Form einer charismatisch gestalteten Lehrerrolle inszeniert. Mit dem Übergang zum dritten Teil, der mit dem Auftritt am Hofe Kaiser Karls V. zunächst Fausts Reputationskarriere in einer steil ansteigenden Linie fortführt, scheint Kontiguität völlig zu verschwinden. Die Kapitel sind im Vergleich zu den vorherigen Teilen häufig relativ kurz, Szenen werden eher kurz angerissen als breit auserzählt. Grundsätzlich dominiert hier elliptisch-szenische Erzählweise, es fehlen jedoch Summarys, welche die einzelnen Szenen verknüpfen könnten, und die Ellipsen zwischen den Kapiteln werden kaum durch einleitende Bemerkungen explizit gemacht, sondern können nur implizit erschlossen werden. Einige der Kapitel werden mit Floskeln wie er kam einmal gen Gotha in ein Staͤ ttlein36 oder Doctor Faustus kam in ein Statt / Zwickaw genannt37 lediglich räumlich, nicht aber zeitlich situiert, sodass sich zwischen den Kapiteln zeitliche Ellipsen zwar erahnen, nicht aber festmachen lassen. Die paradigmatische Reihung überwiegt hier gegenüber der syntagmatischen Verknüpfung. Allerdings sind die Kapitel alle durch metaphorische Ähnlichkeit verknüpft, denn sie zeigen Faustus als Zauberer, der vorwiegend mit Hilfe von Sinnestäuschungszaubern seine soziale Umgebung täuscht und dabei positiv oder negativ beeindruckt. Insgesamt lässt sich dieser Teil als eine Phase der äußeren Ereignishaftigkeit beschreiben. Während der erste und der zweite Teil ausgesprochen 34 35 36 37
Faustbuch Faustbuch Faustbuch Faustbuch
1990, 1990, 1990, 1990,
S. 918.5ff.; Historia 2006, S. 73.3ff. S. 919.2f.; Historia 2006, S. 73.25f. S. 928.3; Historia 2006, S. 81.4. S. 935.9f.; Historia 2006, S. 87.3.
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ereignisarm, aber erlebnisintensiv sind, ist der dritte Teil außerordentlich ereignisreich, aber erlebnisarm. Faustus wird im Kontext immer neuer Situationen gezeigt, in denen er mit Hilfe der ihm vom Teufel verliehenen Zauberkräfte innerhalb des sozialen Systems agiert. Diese Situationen werden zu einem erheblichen Teil als kontingent und Fausts Verhalten darin als okkasionell beschrieben. Faustus reagiert häufig auf vorgegebene Situationen, die ihm zufällig begegnen, wie etwa in dem Kapitel Von einem Hader zwischen 12. Studenten, in dem er zwölf vor seinem Haus streitende Studenten wegen der ungleichen Zahl der Kontrahenten (sieben gegen fünf) kurzzeitig verblendet.38 Solche Ereignisse, die im Grunde belanglos sind und keinerlei intentionale Richtung der Hauptfigur mehr erkennbar werden lassen, finden sich im dritten Teil gehäuft. Die Kontingenz und die Abundanz solcher Ereignisse führen dazu, dass sich die Reihenfolge eines Teils der Kapitel ändern ließe, ohne dass dies die narrative Logik der Erzählung stören würde. Anders als im ersten und zweiten Teil ist Faustus in diesen Kapiteln affektiv auch kaum betroffen: Angst scheint ihm ebenso fern gerückt wie der Wunsch, alle Gruͤ nd am Himmel vnd Erden zu erforschen.39 Kontingente Reihenfolge und Austauschbarkeit gelten allerdings nicht für alle Kapitel: Einige Kapitel sind zeitlich-kausal,40 andere nur zeitlich41 oder kausal42 so eng miteinander verknüpft, dass sich zumindest ihre innere Abfolge nicht umkehren ließe. Auch fehlende affektive Betroffenheit ist nicht für alle Kapitel zutreffend, denn mitten in die Reihe der Zauberepisoden sind der Bekehrungsversuch durch den Gottesfoͤ rchtige[n] Artzt / vnd Liebhaber der H. Schrifft / auch ein Nachbawr deß D. Fausti und die darauf folgende zweite Verschreibung integriert.43 Das Bekehrungskapitel ist wie die Gesprächskapitel des ersten Teils szenisch breit gestaltet und zeigt Fausts affektive Beeinflussbarkeit in beide Richtungen. Nachdem ihm der Nachbar freundlich zugeredet hat, ist Faustus bereit sich zu bekehren, aber 38 39 40
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Faustbuch 1990, S. 936.1–10; Historia 2006, S. 87.19–27. Faustbuch 1990, S. 845.16f.; Historia 2006, S. 15.20. Zeitlich-kausale Verknüpfung gilt etwa für die Kapitel 44 und 44a, in denen Faustus beim Grafen von Anhalt wohlwollend empfangen wird und sich vor seiner Abreise mit einem Zauberspektakel bedankt, sowie für die Kapitel 49 und 59: Faustus beschwört für die Studenten am Weißen Sonntag das Bild der Helena herauf (Kap. 49); daran erinnert er sich im letzten Paktjahr und lässt sie daraufhin von Mephostophiles für sich selbst darstellen (Kap. 59). Die kausale Verknüpfung wird in diesem Fall also durch eine Analepse hergestellt, die mittels einer Fokalisierung auf Faustus erzählt wird. Zum Begriff der Analepse vgl. Genette 1998, S. 32–45. Zeitliche Verknüpfung findet sich insbesondere in den Kapiteln 45 bis 48, in welchen Faustus mit Wittenberger Studenten über mehrere Tage Fastnachts-Bacchanalien veranstaltet. Kausale Verknüpfung findet sich im Zusammenhang der Kapitel 34, 35 und 56, in denen Faustus einem Baron am Kaiserhof ein Hirschgeweih auf den Kopf zaubert, wofür sich dieser zweimal zu rächen versucht. Kap. 52 und 53; das Zitat: Faustbuch 1990, S. 952.26ff.; Historia 2006, S. 101.18f.
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im unmittelbaren Anschluss zeigt sich, dass er nicht fähig ist, dem Teufel zu widerstehen: Mit einer Performanz aggressiver Gewalt ([…] tappet nach jm / als ob er jhme den Kopff herumb drehen wolte)44 und der Androhung der ihm zu Gebote stehenden Machtmittel (Wo nit / woͤ lle er jn zu stuͤ cken zerreissen) erreicht Mephostophiles eine erneute Ausfertigung des Teufelspaktes: D. Faustus gantz erschrocken / bewilligt jm widerumb auffs newe / setzt sich nider / vnd schreibt mit seinem Blut […].45 Unter dem Aspekt der Performanz folgt der Abschluss des zweiten Vertrages dem Muster der syntagmatischen Verknüpfung von affektauslösender Inszenierung des Teufels, perlokutionärer Wirkung auf Faust und verdiktivem Sprechakt des Erzählers, der hier allerdings ex negativo funktioniert und mit einem Fokuswechsel einhergeht: Nach der zweiten Verschreibung trachtet Mephostophiles aus Rache dem Nachbarn nach dem Leben, aber dieser verspottet und vertreibt ihn. Der Erzählerkommentar also beschuͤ tzet GOtt alle fromme Christen / so sich GOtt ergeben vnnd befehlen wider den boͤ sen Geist 46 kommt einem Verdikt über Faustus gleich. Im vierten und letzten Teil schließlich sind sämtliche Kapitel final motiviert, denn sie sind alle auf Fausts nahenden Tod bezogen. Summarische und szenische Darstellung wechseln sich ab oder gehen ineinander über, so dass neben die finale Motivierung aller Kapitel häufig noch die kausale Motivierung einzelner Kapitel tritt. Daraus ergibt sich eine extrem hohe syntagmatische Verdichtung der Narration. Dennoch gibt es auf der Ebene des narrativen discours zwischen den Kapiteln hinsichtlich der Performanz von Fausts Reaktionen auf das Näherrücken des Ablaufs der ihm zugestandenen Frist erhebliche Differenzen: Ein Teil der Kapitel inszeniert die soziale Dimension des nahenden Todes, ein anderer Teil die affektive Dimension. Bezogen auf das soziale System agiert Faustus gemäß den Regeln der sozialen und der religiösen Funktionssysteme: Er setzt ein Testament auf, in dem er seinem Famulus Christoph Wagner sein Haus und sein sonstiges Vermögen vermacht (Kap. 60), er regelt sein Nachleben im Gedächtnis der Gemeinschaft, indem er Wagner aufträgt, er solle seine Geschichte auffzeichnen / zusammen schreiben / vnnd in eine Historiam transferiren (Kap. 61),47 und lädt für den letzten Tag seine vertraweten Gesellen / Magistri[ ] / Baccalaurei[ ] / vnd andern Studenten mehr48 zu einem gemeinsamen Mahl ein (Kap. 67). An seinem letzten Abend schließlich legt er in seiner Oratio […] ad Studiosos ein Geständnis seiner Teufelsbündnerschaft ab (Kap. 68). Die ersten Kapitel des vierten Teils zeigen damit einen zweckrational agierenden Faustus, der ganz im Sinne einer bürgerlichen ars mo 44 45 46 47 48
Faustbuch Faustbuch Faustbuch Faustbuch Faustbuch
1990, 1990, 1990, 1990, 1990,
S. 955.4f.; Historia 2006, S. 103.14f. S. 955.20–23; Historia 2006, S. 103.28–31. S. 957.14ff.; Historia 2006, S. 105.9ff. S. 966.14ff.; Historia 2006, S. 112.33f. S. 974.5ff.; Historia 2006, S. 119.10f.
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riendi verfährt, die den Sterbenden dazu anhält, vor seinem Tod seine Angelegenheiten zu regeln. Im letzten Kapitel folgt er den Imperativen der religiösen Kommunikation und deren ars moriendi, indem er eine Generalbeichte ablegt. In den zwischen diese Kapitel eingespannten Weheklagen wird jedoch mittels der Fokalisierung auf Fausts Wahrnehmung ein anderer Faustus gezeigt, der sich von der Gesellschaft zurückzieht, über keine geordnete Sprache mehr verfügt und völlig von Angst und Verzweiflung beherrscht wird: Dem Fausto lieff die Stunde herbey / wie ein Stundglaß / hatte nur noch einen Monat fuͤ r sich / […] / da ward Faustus erst zame / vnd war jhme wie einem gefangenen Moͤ rder oder Raͤ uber / so das vrtheil im Gefaͤ ngnuß empfangen / vnd der Straffe des Todes gewertig seyn muß. Dann er ward geaͤ ngstet / weynet vnd redet jmmer mit sich selbst / fantasiert mit den Haͤ nden / aͤ chtzet vnd seufftzet / nam vom Leib ab / vnnd ließ sich forthin selten oder gar nit sehen / wolte auch den Geist nit mehr bey jm sehen oder leyden.49
Die so erzeugte Sprachlosigkeit und damit der Austritt aus der diskursiven Vermittelbarkeit wird in den anschließenden Kapiteln aber wieder aufgehoben, weil Faustus sein Leid auffzeichnet[]/damit ers nicht vergessen moͤ chte50 und durch die Inserierung dieser Aufzeichnung in das Buch vorübergehend die Rolle der Erzählerstimme übernimmt. Beredsamkeit und Sprachlosigkeit des Leidens, schriftliche Aufzeichnung und mündliche Klage wechseln sich dabei ab, inszenieren aber alle mit intensiven Präsenzeffekten Fausts Verzweiflung, seine Angst, aber auch seinen Schmerz über die verlorene Seele. Dabei adressiert er sich in seiner Not selbst als jenes Gegenüber, das ihm fehlt (Ach Fauste / du verwegenes vnnd nicht werdes Hertz),51 indem er Fragen an sich beziehungsweise einzelne Instanzen seines Körpers und seiner Seele richtet (Ach jhr Glieder / vnnd du noch gesunder Leib / Vernunfft vnd Seel / beklagen mich).52 Der einzige Adressat, den er in dieser Zwischenphase der Isolation und Verzweiflung erreicht, ist Mephostophiles, der [a]uff solche obgehoͤ rte Weheklag53 zu ihm tritt und ihn in einer Szene gnadenloser Kommunikationsverweigerung mit einer Serie von Sprichwörtern überschüttet (Kap. 65), die alle nur eines sagen: Du hättest es wissen können und müssen, jetzt aber ist es zu spät: Dein Vngluͤ ck keinem Menschen klag. | Es ist zu spat / an Gott verzag.54 Allerdings gesteht die Logik der Erzählung Mephostophiles nicht zu, damit die Inszenierung von Fausts Ende festzulegen. Zwar wird Faustus am Schluss vom Teufel geholt, aber in dem mit der Oratio inszenierten 49 50 51 52 53 54
Faustbuch Faustbuch Faustbuch Faustbuch Faustbuch Faustbuch
1990, 1990, 1990, 1990, 1990, 1990,
S. 966.23–967.5; Historia 2006, S. 113.9–19. S. 967.9f.; Historia 2006, S. 113.24. S. 967.12; Historia 2006, S. 113.26. S. 967.18ff.; Historia 2006, S. 114.3f. S. 969.3; Historia 2006, S. 115.8. S. 969.19f.; Historia 2006, S. 115.22f.
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Bekenntnis tritt Faustus auf der intradiegetischen Ebene wieder in die Regeln der religiösen Kommunikation ein, die Sprache an das Geständnis bindet.55
3. Heteronome Quellen und die syntagmatische Funktion der Semantiken am Beispiel der curiositas Dass der Historia neben einer zeitlichen auch eine systematische Ordnung zugrunde liegt, hat bereits Gustav Milchsack angenommen, der Entdecker und erste Herausgeber der Wolfenbütteler Handschrift des Faustbuches. Milchsack hielt allerdings eine andere Unterteilung als die von den Zwischentiteln vorgegebene für erforderlich, um diese systematische Ordnung des Faustbuches offenlegen zu können. Er unterteilte die Historia in fünf Teile, nämlich in einen ersten mit Herkunft, Studium und Abschluss des Teufelspaktes, einen zweiten mit den Disputationen über die Hölle, einen dritten mit den Reisen in die Hölle, in die Gestirne sowie durch Europa und Teile Asiens, einen vierten mit den Zauberkunststücken und einen fünften und letzten mit den Weheklagen, der Oratio ad Studiosos und Fausts Tod.56 Milchsack charakterisierte den zweiten Teil mit den Disputationen über die Hölle als theologischen, den dritten Teil mit den Reisen als naturwissenschaftlichen und den vierten Teil mit den Zauberkunststücken als dämonologischen oder zauberischen. Waren Milchsacks Begriffe teilweise auch anachronistisch, so verdeutlicht seine Beschreibung doch zutreffend, dass sich über die zeitliche Ordnung der Vita eine systematische Ordnung legt, die bestimmte Aspekte von Fausts Interessen und Handlungen eng miteinander verknüpft und in den einzelnen Teilen konzentriert.57 Als Gelenkstelle dieser Verknüpfungen sind in der Historia der Pakt und die ihm vorausgehenden Verhandlungen zu betrachten, in denen die Beantwortung aller Fragen Faustens durch den Teufel, das [S]peculieren der Elementa58 sowie die Weitergabe aller Fähigkeiten des Geistes an Faustus als Bedingungen und Bestandteile des Paktes vereinbart werden.59 Betrachtet man die Teile im Lichte der Paktbedingungen, so wird deutlich, dass der – 55
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Zur Funktion der Beichte für die Etablierung eines Regimes der Selbstbeobachtung vgl. Foucault 1983, S. 75ff., und Hahn 2000; vgl. auch Münkler 2007 [2010]. Milchsack 1892, S. CCCXXVIIf. Eine solche Verknüpfung der chronologischen mit einer sachlich-systematischen Ordnung hat auch J.-D. Müller 1990, S. 1334f., konstatiert. Nach Müller wird die Gliederung in vier Teile durch eine sachlich-systematische Ordnung bestimmt: 1. Teufelspakt und Fragen nach den letzten religiösen Geheimnissen; 2. naturkundliche Fragen und Erforschung der Natur und des Kosmos; 3. lockere Folge von Zauberschwänken; 4. Fausts Ende mit Testament, Weheklagen, Verspottung durch den Teufel und Tod. Faustbuch 1990, S. 854.20; Historia 2006, S. 22.24f. Faustbuch 1990, S. 848.13–855.19; Historia 2006, S. 17.22–23.17.
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nach der Aufteilung in der Historia – erste Teil nach dem Paktschluss die Beantwortung aller Fragen erfüllt, der zweite das [S]peculieren der Elementa und der dritte die Ausübung der Fähigkeiten des Geistes. Auch der vierte Teil steht in einem engen Bezug zum Pakt, denn er bezieht seine syntagmatische Verknüpfung aus dem Ablaufen der vereinbarten Paktzeit. Alle diese Verknüpfungen lassen sich nicht nur systematisch ordnen, sondern auch semantisch verdichten: Betrachtet man die vier Teile der Historia unter dem Aspekt der mit ihnen jeweils verbundenen Semantiken, so wird deutlich, dass die Narration von Semantiken gesteuert wird, aus denen Fausts zentrale identitäre Markierungen hervorgehen: curiosus, magus und melancholicus. Der erste und der zweite Teil präsentierten Faustus als curiosus, der dritte Teil beschreibt ihn als Zauberer und der vierte Teil zeigt ihn als melancholicus. Der Beginn des ersten und der vierte Teil bilden zugleich die biographische Klammer, die den Mittelteil integriert: Um seine curiositas zu befriedigen, lässt sich Faustus auf einen Bund mit dem Teufel ein; am Ende der ihm zugestandenen Frist aber ist er von Angst beherrscht und verfällt in Trauer und tiefe Melancholie. Die biographische Klammer erweist sich damit als kausale Verknüpfung von Ursache und Wirkung. Teilaspekte der Semantik von Melancholie lassen sich aber auch bereits im ersten Teil finden, insofern Melancholie prinzipiell bipolar codiert ist und nicht nur Aspekte der Verzweiflung (desperatio), sondern auch der Vermessenheit (praesumptio) umfasst.60 Neben der curiositas ist es die Vermessenheit seiner Annahme, er könne sich das hoͤ chste Haupt auff Erden untertan machen,61 ohne einen Preis dafür zahlen zu müssen, die Faustus in die Arme des Teufels treibt. Der zentrale Stellenwert der curiositas zeigt sich auch an den drei Paktbedingungen, die Faustus nach der zweiten Beschwörung dem Teufel stellt: Der Geist solle ihm zum ersten vnterthaͤ nig vnd gehorsam seyn / in allem was er bete / fragte / oder zumuhte […], zum zweiten das jenig / so er von jm forschen wuͤ rd / nicht verhalten und zum dritten auff alle Interrogatorien nichts vnwarhafftigs respondiern.62 Der Wortlaut des Vertrages wird denn auch vom Motiv der curiositas dominiert und benennt sie selbst als dessen ausschließliche Begründung: Jch Johannes Faustus D. bekenne mit meiner eygen Handt offentlich / zu einer Bestettigung / vnnd in Krafft diß Brieffs / Nach dem ich mir fuͤ rgenommen die Elementa zu speculieren / vnd aber auß den Gaaben / so mir von oben herab bescheret / vnd gnedig mitgetheilt worden / solche Geschickligkeit in meinem Kopff nicht befinde / vnnd solches von den Menschen nicht erlehrnen mag / So hab ich gegenwertigen gesandtem 60
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Zu den Begriffen praesumptio und desperatio vgl. Ohly 1995. Zur Semantik der Melancholie in der Historia vgl. M. E. Müller 1986, Münkler 2004 und 2007 [2010]; dort auch weiterführende Literatur zum Melancholie-Begriff. Faustbuch 1990, S. 847.19; Historia 2006, S. 16.36. Faustbuch 1990, S. 848.25–849.2; Historia 2006, S. 18.3–10.
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Geist / der sich Mephostophiles nennet / ein Diener deß Hellischen Printzen in Orient / mich vntergeben / auch denselbigen / mich solches zuberichten vnd zu lehren / mir erwehlet / der sich auch gegen mir versprochen / in allem vnderthenig vnnd gehorsam zuseyn.63
Gemessen an der im Vertragstext explizit gemachten Intention, alle Gruͤ nd am Himmel vnd Erden zu erforschen, schlagen Fausts anschließende Fragen jedoch eine zunächst kontraintentional wirkende Richtung ein. Sie richten sich nämlich nicht auf den Himmel und die Erde, sondern auf die Hölle, deren Beschaffenheit, Ordnung sowie die Ewigkeit der Strafen. Auch diese Fragen lassen sich zweifellos der Semantik von curiositas zuordnen, aber sie sind eben nicht von einem szientifischen Interesse geleitet, sondern von Sorge und Angst. Diese Verschiebung des Interesses markiert der Erzähler in der Regel durch die einleitende Situierung der Kapitel, in denen er auf Fausts jeweiligen Gemütszustand und damit den affektiven Ausgangspunkt der nachfolgenden Frage fokalisiert. Schon die zweite Frage wird von Angst bestimmt: Dem Doct. Fausto / wie man zusagen pflegt / Traumete von der Helle / vnd fragte darauff seinen boͤ sen Geist / auch von der Substantz / Ort vnnd Erschaffung der Hellen / wie es darmit geschaffen seye.64
Fausts ›Frageinteresse‹ hat damit einen Ausgangspunkt, der in der Etymologie von curiositas durchaus angelegt ist, in den anfänglich geschilderten Intentionen Fausts aber völlig ausgeblendet wird. Curiositas erscheint hier im Sinne von cura, der Sorge, und spezieller: der Sorge um sich.65 Diese Sorge um sich ist hier freilich nicht im Sinne einer ethisch-ästhetischen Sozialtechnik zu verstehen,66 sondern als Ausdruck der Furcht. Einerseits inszeniert der Erzähler Faustus zwar als von Angst beherrscht, andererseits zeigt er aber auch, wie Faustus versucht, diese Angst als Sozialtechnik zu instrumentalisieren, weil er hofft, dass er durch die Schrecken der Hölle einmal zur Besserung / Rew vnd Abstinentz gerahten moͤ chte.67 Freilich setzt Mephostophiles dem seinerseits eine überaus raffinierte Affektbeherrschungstechnik entgegen, die mit einer Mischung aus Neugier 63 64 65
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Faustbuch 1990, S. 854.17–855.1; Historia 2006, S. 22.22–23.1. Faustbuch 1990, S. 864.2–6; Historia 2006, S. 30.18–21. Zur Geschichte des curiositas-Begriffs und seiner wechselnden Semantiken vgl. Blumenberg 1996, S. 263–528, und Bös 1995. Zum Gebrauch des curiositas-Begriffs speziell in der frühen Neuzeit vgl. Kenny 1998. Vgl. dazu Foucault 1989, bes. S. 53–94. Faustbuch 1990, S. 871.14f.; Historia 2006, S. 36.20f. Faustens Versuch, durch die Beschäftigung mit der Hölle zur Besserung / Rew vnd Abstinentz zu gelangen, kann zugleich als ironisches Spiel mit der von katholischer Seite für die Beichte teilweise als hinreichend betrachteten attritio, der Angst-Reue, gedeutet werden, während Luther nur die contritio, die wahrhafte Zerknirschung des Sünders gegenüber Gott, gelten ließ. Zur Gegenüberstellung von attritio und contritio innerhalb der Diskussion um die Beichte vgl. Hahn 2000, S. 204ff.
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und Angst spielt. Mephostophiles’ Antworten werden nach anfänglichen Ausflüchten zunehmend ausführlicher und verstricken Faustus immer tiefer in die Sündhaftigkeit, indem sie weitere Fragen provozieren, die ihn immer weiter von der Erkenntnis weg führen, dass nicht das Wissen um die Qualität und Beschaffenheit der Hölle und um die zu erwartenden Strafen, sondern allein der Glaube ihn zu Gott zurückführen könnte. Die Verzögerungsstrategien des Teufels, inszeniert als Unkenntnis68 oder Besorgnis,69 vertiefen nur den Fragedrang und führen ihn gezielt in die falsche Richtung. Die Selbstbezogenheit Fausts verdrängt jede Form von curiositas im Sinne der fragenden Erkenntnis um ihrer selbst willen. Faustus fragt um seiner selbst willen. Damit ist seine curiositas aber nicht nur impia, indem sie sich nicht auf heilsrelevante, der Gotteserkenntnis dienende Fragen bezieht, sondern im eigentlichen Sinne anti-pia, weil sie zwar die richtige Frageintention verfolgt, die Frage aber an die grundfalsche Adresse richtet und damit fortgesetzt den Teufel an die Stelle Gottes setzt. Das Selbst und der Teufel gehen hier, vermittelt durch die curiositas, eine unheilvolle Verbindung ein, denn die curiositas spiritualis im Lutherschen Sinne würde sowohl ein Absehen vom Teufel als auch von sich selbst und die vertrauensvolle Hinwendung zu den Trostworten der Bibel fordern.70 Erst nach dem Abschluss der Disputationen über die Hölle richtet sich Faustens Neugierde auf die Elementa, und er fragt seinen Geist was es fuͤ r eine gelegenheit hab mit der Astronomia oder Astrologia,71 worauf ihn dieser bescheidet, die Menschen könnten darüber nichts sonderlich Gewisses wissen, denn es bedürfe dazu genauer Naturkenntnis, die auf jahrhundertelanger Erfahrung beruhe, welche nur den Geistern möglich sei. Aber alle Junge vnd Vnerfahrne Astrologi machen jhre Practica nach gutem Wohn vnd Gutduͤ ncken.72 Faustus selbst gelingt es allerdings mit Hilfe seines Geistes, zutreffende Kalender und Practicken zu stellen, wie der Erzähler anerkennend vermerkt: Es waren seine Calender nit / als etlicher Vnerfahrnen Astrologen […].73 Folgerichtig spielt im zweiten Teil die Wahrnehmung eine entscheidende Rolle. Auch sie wird jedoch zunächst angeleitet von der Angst um das eigene Seelenheil. Nachdem er wiederum ›von der Hölle geträumt‹ hat, verlangt Faustus von Mephostophiles, die Hölle wahrhaftig zu sehen. Die 68
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Faustbuch 1990, S. 864.13 ff.; Historia 2006, S. 30.27 f.: So koͤ nnen wir Teuffel auch nit wissen / was gestalt vnd weiß die Helle erschaffen ist. Faustbuch 1990, S. 871.34–872.5; Historia 2006, S. 37.2–7: Darumb lieber Fauste / laß anstehen / viel von der Helle zu fragen / frage ein anders dafuͤ r / Dann glaube mir darumb / da ich dirs erzehle / wirdt es dich in solche Rew / Vnmuht / Nachdencken vnnd Kuͤ mmernuß bringen / daß du woltest / du hettest die Frage vnterwegen gelassen. Vgl. Münkler 2004, S. 254ff. Faustbuch 1990, S. 882.19f.; Historia 2006, S. 45.5f. Faustbuch 1990, S. 883.13ff.; Historia 2006, S. 45.22ff. Faustbuch 1990, S. 882.5f.; Historia 2006, S. 44.22f.
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Beschäftigung mit der Hölle markiert damit den Übergang von der Disputation zur Autopsie als angestrebter Erkenntnisform: Als sich der Teufel schließlich weigert, ihm noch weitere Auskünfte über die Hölle zu erteilen, erbittet Faustus die Erlaubnis, die Hölle selbst besuchen zu dürfen, damit er der Hellen Qualitet / Fundament vnd Eygenschafft / auch Substantz […] sehen / vnd abnemmen könne.74 Die Fahrt in die Hölle bildet damit in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur: Sie leitet von einer Erkenntnisform in eine andere über, sie stellt den Versuch dar, den Teufel als Vermittler von Erkenntnis durch die eigene Augenzeugenschaft abzulösen, und sie dient im doppelten Sinne einem Streben nach Erfahrung: einerseits nach der Erfahrung im Sinne von Wahrnehmung, andererseits nach Erfahrung im Sinne des Überprüfens und der Überprüfbarkeit von Erkenntnis.75 Während Faustus auf der intradiegetischen Ebene versucht, den veralteten Quellen durch Autopsie zu entkommen, diskreditiert der Verfasser auf der Ebene des narrativen discours dieses Bemühen jedoch dadurch, dass er hier dieselben veralteten Quellen als Intertexte einsetzt wie in den Gesprächen zuvor. Darüber hinaus arbeitet er mit der wiederholten Markierung von Sinnestäuschungen, indem er im Erzählerkommentar den Leser auf die Verblendungskünste des Teufels hinweist: Nu hoͤ ret / wie jn der Teuffel verblendet / vnnd ein Affenspiel macht / daß er nit anders gemeinet / denn er seye in der Helle gewest.76 Damit macht er dem Leser deutlich, dass sich die Definitionsmacht des Teufels auf diese Weise nicht aushebeln lässt, denn an die Stelle der falschen Information und des Verschweigens tritt die Sinnestäuschung, die den Primat der sinnlichen Erkenntnis nicht als Stärkung, sondern als Schwächung des Erkenntnisvermögens ausweist. Die Zweifelhaftigkeit der so gewonnenen Erkenntnis wird in der Fokalisierung auf den Teufelsbündner und durch einen sich anschließenden Erzählerkommentar markiert: D. Faustus im Bett ligend / gedachte der Hellen also nach / Einmal nam er jm gewißlich fuͤ r / er were drinnen gewest / vnd es gesehen / das ander mal zweiffelt er darab / der Teuffel hette jhm nur ein Geplerr vnnd Gauckelwerck fuͤ r die Augen gemacht / wie auch war ist / Dann er hatte die Hell noch nicht recht gesehen / er wuͤ rde sonsten nicht darein begert haben.77
Mit der nachfolgenden Gestirnsfahrt wird die sinnliche Erkenntnis einer erneuten praktischen Quasi-Überprüfung durch den Erzähler unterzogen, wobei er auch hier wieder mit überaus subtilen Mitteln der Diskreditierung arbeitet. Was Faustus mit Hilfe seines teuflischen Dieners Mephostophiles zunächst sieht, ist die Welt von oben: Aus der Vogelperspektive kann Faus 74 75 76 77
Faustbuch 1990, S. 892.6ff.; Historia 2006, S. 52.17ff. Zum Begriff der Erfahrung vgl. J.-D. Müller 1986. Faustbuch 1990, S. 892.14–17; Historia 2006, S. 52.23–26. Faustbuch 1990, S. 896.2–10; Historia 2006, S. 55.20–26.
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tus die Länder, die er betrachtet, jedoch nicht erkennen und muss deshalb Mephostophiles bitten: So weise vnd zeige mir nu an / wie diß vnd das Land vnd Reich genennet werde.78 Der von Mephostophiles angeleitete Blick ist jedoch den Zufälligkeiten der Blickrichtung und der Wechselhaftigkeit des Windes ausgeliefert, so dass er bald hierhin, bald dorthin fällt, ohne dass damit mehr erreicht würde als die völlig ungeordnete Aufzählung von Ländernamen, die in ihrer Isoliertheit den Blick von oben als leeres Schweifen diskreditieren. Ähnliches gilt auch für die Gestirnsbewegung, der Faustus sich im Anschluss zuwendet: Er sieht nicht mehr, als bereits im Lucidarius und der Schedelschen Weltchronik beschrieben ist, und vermag deshalb auch seinen Freund am Ende des Briefes, in dem er selbst von der Gestirnsfahrt berichtet und den er hochtrabend als Doctor Faustus der Gestirnseher unterzeichnet, nur darauf zu verweisen, er könne, was er ihm berichtet habe, in seinen Büchern nachprüfen, ob meinem Gesicht nach diesem nicht also seye.79 An dieser Stelle dekonstruiert der vorübergehend in die Erzählerrolle eingerückte Faustus selbst seinen autoptischen Erkenntnisgewinn durch den Verweis auf die Bücher: Was anhand der überlieferten Texte nachprüfbar ist, kann keine darüber hinaus weisende Erkenntnis erbracht haben. Gleiches gilt auch für Fausts Fahrten durch Europa und Asien, bei denen er den Blick bald hierhin, bald dorthin wendet und zahllose Länder und Städte überfliegt. Zur Beschreibung dieser Reisen bedient sich der anonyme Autor erneut der Schedelschen Weltchronik, wobei er deren Ordnungsprinzipien stellenweise beibehält, gerade dadurch aber Fausts Ziellosigkeit vor Augen führt.80 So sind die Städte in der Schedelschen Weltchronik nach Rang und Alter geordnet, und die Historia übernimmt diese Ordnung, bezeichnet sie aber als Folge von Faustens jeweiliger Eingebung.81 Was bei Schedel als plausible Ordnung erscheint, degeneriert so in der Historia zur Unordnung, welche wiederum auf die Ungeordnetheit eines Erkenntnisstrebens verweist, das lediglich, wie Jan-Dirk Müller angemerkt hat, einen »Schuttberg disparater Wissenstrümmer« aufhäuft, ohne daraus irgendeinen Erkenntnisfortschritt ziehen zu können.82 Curiositas erscheint hier ganz im augustinischen Sinne als concupiscentia oculorum, als Augenlust und oberflächliche Zerstreuung im Sinne von Albertus Magnus und Thomas von Aquin, wobei freilich der Aspekt des Lustgewinns deutlich zurückgenommen ist. Anstelle von Lust empfindet Faust schon nach kurzer Zeit Überdruss: Er will nicht mehr hören, was Mephostophiles ihm über die jeweiligen Orte zu sagen hat, und nicht wirklich sehen, was er ihm zeigt, sondern 78 79 80 81
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Faustbuch 1990, S. 899.23ff.; Historia 2006, S. 58.16f. Faustbuch 1990, S. 901.20–24; Historia 2006, S. 59.30–33. Zum Umgang mit den enzyklopädischen Quellen in der Historia vgl. Ruberg 1995. Faustbuch 1990, S. 902.27f.; Historia 2006, S. 60.30ff.: Was nu dem Fausto fuͤ r Staͤ tt vnd Landschafften in Sinn fielen / die durchwandert er. J.-D. Müller 1992, S. 179f.
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strebt ziel- und ruhelos von einem Ort zum nächsten. Die bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin kritisierte Zerstreuung und Ungeordnetheit wird hier zum eigentlichen Signum der curiositas, die eine wahre Erkenntnis gerade durch ihr Ausleben verhindert. Auch die Reisen belegen nicht die schrankenlosen Erkenntnismöglichkeiten des Teufelsbündners, sondern dekonstruieren sie: Wo die durch den Teufel scheinbar ermöglichte Autopsie keinen Erkenntnisgewinn bringt, weil sie nicht mehr als das ohnehin schon Bekannte in Erfahrung zu bringen vermag, wird sie als eine gegenüber dem tradierten Buchwissen in irgendeiner Weise zu bevorzugende Möglichkeit der Wissensakkumulation geschickt diskreditiert. Und wo Erfahrung nicht einmal den interessiert, der sie macht und dafür den höchstmöglichen Preis entrichtet, wird sie auch für den Leser zur quälenden Aufzählung, mit der sich die Neugierde quasi im Vorbeigehen erledigt. Freilich ist das keine einfache Perhorreszierung der curiositas, sondern ihre subtile Integration in die Struktur eines verfehlten Lebens und damit seiner narrativen Darstellung. Curiositas wird zum textstrukturierenden Prinzip, denn der Aufbau der Historia lässt sich nach den unterschiedlichen Aspekten der curiositas gliedern.83 Das zeigt sich insbesondere an der Geordnetheit der von Faustus beschrittenen Erkenntniswege: Lektüre, Lehrgespräch und visuelle beziehungsweise persönliche Erfahrung. Diese Erkenntniswege sind offenbar hierarchisiert, denn in der Fokalisierung auf Faustus wird deutlich, dass er sukzessive eine Verbesserung seiner Erkenntnisfähigkeit anstrebt. Allerdings verweisen diese drei Erkenntniswege auch auf unterschiedliche Erkenntnisgründe: Dient die Lektüre von Zauberbüchern in erster Linie der ›Erlustigung‹84 und Selbstbemächtigung und konnotiert damit eben jene verbotenen Züge der impia curiositas, die aus der superbia resultieren, so demonstrieren die Lehrgespräche, die Fragen an Mephostophiles nach der Hölle, nach der Hierarchie der Teufel, der Strafe für die Verdammten und die Frage, ob sie ewig sei, nicht eigentlich den Wunsch nach Erkenntnis der irdischen oder der letzten Dinge, sondern eine Form der cura, der Sorge um sich, die sich durchaus als Ausdruck melancholischer desperatio verstehen lässt. Als dritte Form der curiositas schließt sich die sinnliche Erkenntnis mit der Fahrt in die Hölle, zu den Gestirnen und durch Europa und Asien an: Curiositas wird dabei als weder Erkenntnis vermittelnde noch Lust bereitende concupiscentia oculorum destruiert. Die für die Inszenierung der Semantik von curiositas zugrunde gelegten Intertexte lassen sich weitgehend als populäre Wissenstexte beschreiben. Innerhalb der Erzählung werden sie eingesetzt, um das von Faustus mittels 83
84
M. E. Müller 1986 hat demgegenüber die These vertreten, Melancholie werde in der Historia zum textstrukturierenden Prinzip. Das ist zweifellos zutreffend, schließt aber nicht aus, dass weitere Semantiken textstrukturierend wirken. Vgl. Faustbuch 1990, S. 863.1–4; Historia 2006, S. 29.23ff.
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des Teufelspaktes erlangte Wissen mimetisch zu repräsentieren. Insoweit haben diese Wissenstexte innerhalb der Erzählung einen hochgradig prekären Status, denn auf ihnen basiert die Performanz der Vertragserfüllung durch den Teufel. Betrachtet man die Auswahl der Intertexte unter diesem Aspekt, so fällt auf, dass gerade solche Texte fehlen, die man für die Präsentation des durch Mephostophiles vermittelten Wissens am ehesten erwarten würde: Texte der hermetischen oder okkulten Wissenschaften und zeitgenössische astronomisch-astrologische Traktate.85 Versucht man die ausgewählten Wissenstexte epistemologisch einzuordnen, so lassen sie sich alle einer »Episteme der Ähnlichkeit« zuordnen, welche die Welt als ordo begreift, keine systematische Grenze zwischen Raum und Zeit errichtet und von einem universal-transzendentalen Verweisungszusammenhang zwischen allen Gegenständen der Welt und ihrem Schöpfer ausgeht.86 Als paradigmatischen Repräsentanten dieser Episteme unter den ausgewählten Intertexten kann man den im 12. Jahrhundert von einem Anonymus in mittelhochdeutscher Sprache verfassten Lucidarius betrachten, der als Vorlage für die Beschreibung der Hölle, des Firmaments und für kosmologische Fragen verwendet worden ist. In der Verwendung des Lucidarius vermischen sich überdies aber architextuelle und intertextuelle Bezüge,87 denn er ist nicht nur für die Inhalte eingesetzt worden, sondern er liefert auch die Grundlage für den dialogischen Modus des ersten Teils. Unter architextuellem Aspekt nehmen die Dialoge zwischen Faustus und Mephostophiles die im Lucidarius gepflegte Form des Lehrer-SchülerDialogs wieder auf. Allerdings gibt es einen zentralen Unterschied in der Funktionalisierung der Dialoge: Während die Rolle des Lehrers im Lucidarius als Wissensvermittler durchweg autoritativ und positiv angelegt ist, verwandelt sich diese Rolle in der Aneignung durch Mephostophiles in eine performative Machttechnik, bei der nicht der Inhalt der Antworten im Mittelpunkt steht, sondern deren affektive Wirkung. Insofern kann man also nicht behaupten, mit der Historia werde eine epistemologische Grenzziehung vorgenommen, in der Wissenstexte über ihre Funktionalisierung für eine Teufelsbündnerlegende per se als überholt diskreditiert und damit aus dem Kanon des Wissenswerten ausgeschieden würden. Vielmehr ist ihre Auswahl offenkundig darauf angelegt, zu repräsentieren, dass sich mit Hilfe des Teufels keine neuen Erkenntnisse gewinnen – und damit auch keine epistemologischen Grenzen überschreiten – lassen. 85
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87
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Historia gab es in lateinischer, aber auch in deutscher Sprache auf dem deutschen Buchmarkt zahlreiche alchimistische, kabbalistische und astrologische Traktate; vgl. Buntz 1968; Yates 1991, S. 27–33 und S. 43–55. Zur »Episteme der Ähnlichkeit«, der auch ein großer Teil der nicht herangezogenen speziellen alchimistischen und astrologischen Traktate des 16. Jahrhunderts zuzuordnen wäre, vgl. Foucault 1974, S. 46–77. Zur ordo-Konzeption vgl. Münkler/Röcke 1998, S. 716–722. Zum Begriff des Architextes vgl. Genette 1993, S. 13f.
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4. Narrative und ideologische Inkohärenz? Der sogenannte Schwankteil der Historia Obwohl sich der dritte Teil der Historia eindeutig der Semantik von Magie und Zauberei zuordnen lässt, ist er in der Forschung als die Kohärenz der biographischen Erzählung grundsätzlich störend betrachtet worden. Gleichzeitig hat jedoch die in der Forschung übliche Bezeichnung dieses Teils als ›Schwankteil‹ dessen architextuelle Kohärenz behauptet. Gerade die angenommene architextuelle Kohärenz erwies sich aber als problematisch für die gleichzeitig unterstellte ideologisch-paränetische Kohärenz der FaustVita. Für deren Unterstellung nämlich war die nahezu unisono behauptete Unterhaltsamkeit des ›Schwankteils‹, in dem Faustus sich als Zauberer betätigt, ein Problem, denn sie ließ sich mit der orthodox lutherischen Zielrichtung des Textes nur schwer in Einklang bringen. Die Problematisierung der narrativen Anschlussfähigkeit des dritten Teils geht demnach von zwei verschiedenen Prämissen aus: zum einen von der Reduktion des Schwanks auf Unterhaltsamkeit, zum anderen von der architextuellen Vereindeutigung des dritten Teils der Historia als ›Schwankteil‹. Letztlich hängt die Annahme der ideologischen Vereinbarkeit des ›Schwankteils‹ mit der Funktion der Exempel davon ab, wie man das Kommunikationsmedium ›Schwank‹ beschreibt. Von daher nämlich ergeben sich bestimmte kommunikative Anschlussmöglichkeiten, deren Relevanz von der Forschung meines Erachtens bislang unterschätzt worden ist. Ähnlich wie im Falle des Exempels ist sich die Forschung weitgehend darüber einig, dass ›Schwank‹ kein Gattungsterminus ist, sondern vielmehr eine besondere Funktionalisierung des Erzählens.88 Peter Strohschneider hat in einem knappen, aber luziden Lexikonartikel erläutert, dass sich der Schwank in der Vielfalt seiner Stoffe und narrativen Formen zwar traditioneller deskriptiver wie präskriptiver Gattungspoetik entziehe, das sogenannte »Schwankhafte«, nämlich spezifische Formen des kurzepischen Handlungsaufbaus, aber doch eine Einheit stifte: [Schwänke] gehen stets von einer allgemein konfliktträchtigen und öfters (sozial, intellektuell, sexuell) asymmetrischen Konfiguration zweier Handlungsträger aus und transformieren sie. […] Dies ist im Regelfall auf eine Pointe hin und mit komischen Effekten inszeniert, die bevorzugt das Spannungspotential des sexuellen Tabu-, des sozialen Norm- oder des logischen Konsistenzbruchs ausbeuten.89
Eine ähnliche ›Gattungsbeschreibung‹ hat auch Werner Röcke formuliert, wobei er jedoch größeren Wert auf die Aggressivität solcher Tabu- und Normbrüche legt. Insbesondere in seiner Untersuchung zum spätmittelalterlichen Schwankroman hat er hervorgehoben, dass »die Freude am Bösen« 88 89
Vgl. Ziegeler 2003, S. 407f. Strohschneider 1993, S. 354f.
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nicht einfach in der Unterhaltsamkeit des Schwanks durch die witzige Pointe aufgehe, sondern vielmehr Aggressivität, Bösartigkeit und List repräsentiere: Nicht befreiendes Lachen zeichnet deshalb das ridiculum des Schwanks aus, sondern eine höchst ›paradoxe Verknüpfung von Freude und Bösartigkeit‹ [Jauß], komischem Vergnügen und Aggressivität, Lachen und Lust am Schadentrachten.90
Dieser Definition zufolge kann der Schwank neben der Unterhaltungsfunktion auch eine exemplarische haben, die dazu dienen kann, sowohl die Verworfenheit des Schwankhelden als auch jene der ihn umgebenden Gesellschaft zu demonstrieren.91 In diesem Zusammenhang hat Werner Röcke bereits darauf hingewiesen, dass man die Schwänke in der Historia nicht zu sehr vereinheitlichen dürfe, denn der Anonymus zitiere zwar typische Erzählmuster der Schwankdichtung, nehme ihnen stellenweise aber ihre komische Wirkung.92 »Dabei geht die Komik der Schwankdichtung in dem Maße verloren, wie sie der Warnung vor Zauberei und ›fürwitz‹, Magie und Empörung gegen Gott geopfert wird.«93 Am deutlichsten schwankhaft im Sinne einer »asymmetrischen Konfiguration zweier Handlungsträger« und ihrer Inszenierung »auf eine Pointe hin« sind die beiden Kurzerzählungen von Fausts Auftritten an der Kurie und am Kaiserhof in Konstantinopel. Hier dienen die von Faust auf Kosten seiner unfreiwilligen Gastgeber angerichteten Verwirrungen offensichtlich dem Verlachen zweier negativ besetzter Institutionen. Diese Kurzerzählungen finden sich aber gerade nicht im sogenannten ›Schwankteil‹, sondern in der Beschreibung von D. Fausti dritte[r] Fahrt in etliche Koͤ nigreich vnnd Fuͤ rstenthumb / auch fuͤ rnembste Laͤ nder vnd Staͤ tte.94 Die Erzählung von Faustens Treiben drey tag vnnd Nacht / vnsichtbar / in deß Bapsts Palast95 gibt den katholischen Aberglauben der Fürbitte und der Macht des Papstes, Seelen zu verdammen, dem Gelächter preis:96 Einmal lachte D. Faustus / daß mans im gantzen Saal hoͤ rete / dann weynete er / als wenn es jm ernst were / vnd wusten die Auffwarter nit was das were. Der Bapst beredete das Gesinde / es were ein verdampte Seele / vnd bete vmb Ablaß / Darauff jhr auch der Bapst Busse aufferlegte. Doct. Faustus lachte darob / vnd gefiel jm solche Verblendung wol. Als aber die letzte Richten vnd kosten auff des Bapsts Tisch kamen / vnd jn / D. Faustum / hungert / hub er / Faustus / seine Hand auff / als bald flogen 90 91 92 93 94 95 96
Röcke 1987, S. 24. Vgl. Röcke 1993. Vgl. Röcke 1986, S. 81. Ebd., S. 83. Faustbuch 1990, S. 901.25f.; Historia 2006, S. 60.2ff. Faustbuch 1990, S. 904.30f.; Historia 2006, S. 62.17f. Frank Baron hat dazu angemerkt, Fausts Besuch in Rom habe dem lutherischen Autor eine unwiderstehliche Gelegenheit für eine Satire auf den Papst gegeben: »The pope’s capricious use of indulgences confirms Luther’s rightful rebellion against church corruption« (Baron 1992, S. 100).
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jm Richten vnd Kosten / mit sampt der Schuͤ ssel in die hand / vnd verschwand also damit / sampt seinem Geist / auff einen Berg zu Rom / Capitolium genannt / asse also mit Lust. Er schickte auch seinen Geist wider dahin / der must jm nur den besten Wein von deß Bapsts Tisch bringen / sambt den silbern Bechern vnd Kanten. Da nun der Bapst solchs alles gesehen / was jm geraubt worden / hat er in derselbigen Nacht mit allen Glocken zusammen leuten lassen. Auch Meß vnd fuͤ rbitt fuͤ r die verstorbene Seel lassen halten / vnd auff solchen Zorn des Bapsts / den Faustum / oder verstorbenen Seel in das Fegfeuwer condemniert vnd verdampt. D. Faustus aber hette ein gut fegen mit deß Bapstes Kosten vnd Tranck.97
Ähnlich funktioniert auch der Abschnitt über den Besuch am Hof des Tuͤ rckischen Keyser[s] Solimanno in Konstantinopel.98 Faustus tritt im prachtvollen päpstlichen Ornat auf und gibt sich als Mahomet aus, beschläft anschließend die Frauen des Kaisers und schwängert sie, was dieser als ein großes Geschenk betrachtet.99 Diese in der Tradition schwankhaften Erzählens geradezu klassische Übertölpelungsszene, bei der der Gehörnte noch meint, belohnt worden zu sein, ist in der Tat typisch für schwankhaftes Erzählen, nicht jedoch für den so genannten ›Schwankteil‹ der Historia.100 Keines der Kapitel dieses Teils hat eine vergleichbare Pointenstruktur. Vergleicht man etwa die in den Reiseteil inserierten Schwänke mit dem fünfzigsten Kapitel, in dem Faust einem Bauern die Räder seines Wagens durch die Luft zaubert, so wird deutlich, dass es dabei nicht um eine komische Pointe geht, in der ein Konflikt zwischen zwei ungleichen Parteien zu Ungunsten der einen und damit zum Lachen des Beobachters dritter Ordnung aufgelöst wird:101 Als Faustus nach Braunschweig unterwegs ist, um einem Marschalck / der die Schwindsucht hatte / […] zu helffen, begegnet jm ein Bawr mit vier Pferden / vnd einem leeren Wagen. Disen Bawrn sprach D. Faustus guͤ tlich an / daß er jn auffsitzen lassen / vnd vollends biß zu dem Statt Thor fuͤ hren wolte / welches jm aber der Doͤ lpel wegerte vnd abschluge / sagende / Er wuͤ rde one das genug herauß zufuͤ hren haben. D. Fausto ward solch begeren nicht Ernst gewest / sondern hatte den Bauren nur probieren woͤ llen / ob auch ein Guͤ tigkeit bey jhme zufinden were. Aber solche Vntrew / deren viel bey den Bauren ist / bezahlte D. Faustus wider mit gleicher Muͤ ntze / vnd sprach zu jhme: Du Doͤ lpel vnnd nichtswerdiger Vnflat / dieweil du solche Vntrew mir beweisest / dergleichen du gewiß auch andern thun / vnd schon gethan haben wirst / soll dir darfuͤ r gelohnet werden / vnd solt deine vier Raͤ der / bey jeglichem Thor eins finden. Drauff sprangen die Raͤ der in die Lufft hinweg […]. Es fielen auch deß Bauwren Pferd darnider / als ob sie sich nicht 97 98 99 100
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Faustbuch 1990, S. 905.4–28; Historia 2006, S. 62.22–63.7. Faustbuch 1990, S. 912.22; Historia 2006, S. 68.23f. Vgl. Faustbuch 1990, S. 913.15–914.15; Historia 2006, S. 69.11–70.1. Zu diesem Aspekt schwankhaften Erzählens vgl. Röcke 1986, S. 73f.; ders. 1993, S. 113ff.; Strohschneider 1993. Mit dem Beobachter dritter Ordnung ist hier der Leser gemeint; Beobachter zweiter Ordnung ist der Erzähler, Beobachter erster Ordnung sind die Parteien innerhalb des Schwankes, wobei die unterlegene Partei häufig gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass ihre Beobachterposition unterminiert wird, zumeist weil ihre Beobachtungen in eine falsche Richtung gesteuert werden, die es ihr unmöglich macht, die richtigen Schlüsse zu ziehen.
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mehr regten / Darob der Bauwer sehr erschracke / masse jhme solches fuͤ r ein sondere Straff GOttes zu / der Vndanckbarkeit halb / auch gantz bekuͤ mmert vnnd weynet / bate er den Faustum mit auffgereckten Haͤ nden / vnd neigung der Knie vnnd Bein / vmb Verzeihung / vnd bekannte / daß er solcher Straff wol wirdig were / Es solte jhm auff ein andermal ein erjnnerung seyn / solcher Vndanckbarkeit nit mehr zugebrauchen / Darvber Faustum die Demuth erbarmete / jm antwortete: Er solts keinem andern mehr thun / dann kein schaͤ ndtlicher ding were / als Vntrew vnd Vndanckbarkeit / darzu der stoltz so mit vnderlaͤ ufft.102
Anschließend macht Faust den Schaden wieder gut und stellt den status quo ante wieder her, nicht ohne jedoch dem Bauern die Mühe zuzumuten, die Räder einzeln aufzusammeln, was der Erzähler am Schluss des Kapitels mit der Bemerkung kommentiert, also traff Vntrew jhren eygen Herrn.103 Hier ist jede komische Konfrontation zwischen einem Überlegenen und einem Unterlegenen durch den moralisierenden Ausgangspunkt der Inszenierung (Faust will die Guͤ tigkeit seines Gegenübers probieren) und durch Fausts Erbarmen mit dem reuigen Bauern ›wegerzählt‹.104 Der perlokutionäre Effekt dieser Erzählung ist nicht Gelächter, sondern moralische Belehrung. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Fausts Funktionalisierung innerhalb eines moralischen Exempels: Der Erzähler ignoriert hier zumindest partiell, dass Faustus als moralische Instanz eigentlich nicht fungieren kann, und setzt ihn in die Systemstelle des moralischen Belehrers ein – das funktioniert aber nur dann, wenn das System der Religion vom Code der Moral punktuell entbunden wird.105 Eine ähnliche Entbindung des Systems der Religion vom Code der Moral zeigt sich in dem Kapitel, in welchem Faustus am Kaiserhof einem Ritter ein Hirschgeweih auf den Kopf zaubert, welches der Keyser warname / daruͤ ber lacht / vnd jm wol gefallen liesse / biß endtlich D. Faustus jhm die Zauberey widerumb auffloͤ sete.106 Hier ist das schadenfrohe Gelächter in die Erzählung integriert und der Erzähler beteiligt sich an der Verspottung des geschädigten Adeligen, indem er in einem der Erzählung inserierten Kommentar zwar betont, er habe diesen mit Namen nicht nennen woͤ llen / denn es ein Ritter vnd geborner Freyherr war, direkt daneben in der Marginalglosse Erat Baro ab Hardeck seine angebliche Identität offen 102 103 104
105 106
Faustbuch 1990, S. 949.15–950.24; Historia 2006, S. 89.28–99.29. Faustbuch 1990, S. 951.3f.; Historia 2006, S. 100.4. Vergleicht man etwa dieses Exempel mit der 88. Historie aus Dil Ulenspiegel (Ulenspiegel 2001, S. 251f.), so werden die Unterschiede deutlich: Dil fäkaliert einem Bauern, der ihn freundlicherweise auf seinem Fuhrwagen mit Pflaumen mitnimmt, auf dessen kostbare Handelsware und macht sie damit unverkäuflich. Eine moralische Lehre ist aus solch anstößig unmoralischem Verhalten nicht zu ziehen, vielmehr provoziert es ein überlegenes Gelächter, denn die Lehre, die aus diesem Schwank zu ziehen wäre, könnte bestenfalls lauten: Denk immer nur an dich, denn die anderen wollen dich ohnehin nur bescheißen. Aber das ist keine Moral, die sich außerhalb des Komischen formulieren ließe. Zum Verhältnis von Religion und Moral vgl. Luhmann 2002, S. 173–184. Faustbuch 1990, S. 926.30–927.2; Historia 2006, S. 80.4ff.
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legt.107 Es gibt hier aber keine Pointe, die aus der Konfrontation eines Stärkeren mit einem Schwächeren resultierte, in der dieser jenen überlisten würde: Der schlafende Baron ist der Macht des Zauberers einfach hilflos ausgeliefert. Wenn es denn eine Pointe gibt, dann besteht sie darin, dass ein Mitglied der Hofgesellschaft der Lächerlichkeit preisgegeben wird, und dass an diesem Spiel nicht nur Faustus und der Kaiser, sondern mit der nebenhin erfolgten Preisgabe des angeblichen Namens auch der Erzähler beteiligt ist. Dass dieses Machtspiel nicht eines unter vielen ist, zeigt sich daran, dass aus ihm zwei weitere Kapitel hervorgehen, eines direkt im Anschluss und eines am Ende des dritten Teils, in denen der Baron zweimal versucht, sich zu rächen, beide Male aber an Faustens magischer Überlegenheit scheitert. Entscheidend ist hier, dass der narrative Diskurs die soziale Stigmatisierung einer Figur in deren Gedächtnis verankert und auf diese Weise zwei Episoden miteinander verknüpft. Zwar hat der Erzähler kein Mitleid mit dem Baron und kommentiert in einer weiteren Marginalglosse am Schluss der zweiten Begegnung, in welcher der Baron erneut den Kampf verloren hat, hämisch: Wer sich an Kessel reibt / empfeht gerne Ron [Ruß].108 Aber es bleibt doch zu konstatieren, dass Faustus nicht nur amüsiert, sondern auch verletzt, und darin nicht nur Aspekte magischer Überlegenheit, sondern auch teuflischer Bosheit zeigt, selbst wenn es sich nur um Sinnestäuschungszauber handelt und der Erzähler seine Schadenfreude teilt. Wenn man denn den dritten Teil benennen will, dann sollte man ihn mit guten Gründen nicht als ›Schwankteil‹, sondern als Exempel-Teil innerhalb des Makro-Exempels bezeichnen. Alle hier versammelten Kapitel sind nicht nur den protestantischen Exempelsammlungen entnommen, sondern sie sind auch exemplarisch funktionalisiert, was nicht heißt, dass ihre Funktionalisierung einsinnig ist. Die Kapitel des dritten Teils zeigen vielmehr ganz unterschiedliche Aspekte möglicher Funktionalisierung des Teufelsbündners und der Semantik von Zauberei und Magie.
5. Schluss: Zeit der Erzählung, Zeit der Geschichte und die Zeiterfahrung der Figur Wie gezeigt, erzeugt das Vitenmodell mit dem Paktschluss im Zentrum keine gleichmäßige Narration, sondern erhebliche Anisochronien zwischen der Zeit der Geschichte und der Zeit der Erzählung.109 Diese Anisochronien 107 108 109
Faustbuch 1990, S. 926.18ff.; Historia 2006, S. 79.26ff. Faustbuch 1990, S. 961.26–29; Historia 2006, S. 108.32–35. Als Anisochronien bezeichnet Genette Differenzen zwischen der Dauer der histoire und dem Umfang des discours. Vgl. Genette 1998, S. 60–68.
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lassen sich aber nicht nur als Hinweise auf mangelnde narrative Kohärenz deuten, die durch semantische Kohärenz ausgeglichen werden müsste, sondern verdeutlichen auf unterschiedliche Weise wichtige Aspekte der Zeiterfahrung der Hauptfigur.110 Zeit tritt bei Faust nicht nur als biographischlineare Verknüpfung, sondern als vertändelte oder verrinnende Zeit in den Vordergrund, was am Schluss in der Fokalisierung auf Faust als innere Zeiterfahrung beobachtbar wird.111 Diese innere Zeiterfahrung zeigt sich aber bereits in den Schlusskapiteln des dritten Teils, in denen die Fokalisierung auf Faustus erste performative Effekte der ablaufenden Frist auf sein Verhalten intradiegetisch sichtbar macht: Als Doctor Faustus sahe / daß die Jahr seiner Versprechung von Tag zu Tag zum Ende lieffen / hub er an ein Saͤ uwisch vnnd Epicurisch leben zu fuͤ hren / vnd beruͤ fft jm siben Teuffelische Succubas / die er alle beschlieffe / vnd eine anders denn die ander gestalt war / auch so trefflich schoͤ n / daß nicht davon zusagen. […] mit denselbigen Teuffelischen Weibern triebe er Vnkeuscheit / biß an sein Ende.112
Durch die Fokalisierung auf die Erfahrung der ablaufenden Frist erscheint Fausts Sexualität nicht als Lebensgenuss, sondern als letztes Aufbäumen gegen die Furcht vor dem Ende. Das zeigt sich auch am letzten Kapitel dieses Teils, in dem Faustus sich an die vormalige Beschwörung der Helena für die Wittenberger Studenten erinnert: Darmit nun der elende Faustus seines Fleisches Luͤ sten genugsam raum gebe / faͤ llt jm zu Mitternacht / als er erwachte / in seinem 23. verloffenen Jar / die Helena auß Grecia / so er vormals den Studenten am Weissen Sontag erweckt hatt / in Sinn / Derhalben er Morgens seinen Geist anmanet / er solte jm die Helenam darstellen / die seine Concubina seyn moͤ chte […].113
In diesem Kapitel tritt als weiterer Aspekt des Ausweichens vor der zunehmend bedrängender werdenden Zeiterfahrung neben die Sexualität die Illusion einer genealogischen Kontinuität, welche die Begrenztheit der eigenen Lebenszeit aufheben könnte: Zunächst bittet Faustus Mephostophiles, er solte jm die Helenam darstellen, aber gleich darauf macht der Erzähler in wenigen auf Faustus fokalisierten Worten deutlich, dass es diesem nicht gelingt, das Bewusstsein ihres bloßen ›Dargestelltseins‹ aufrechtzuerhalten: Als nun Doct. Faustus solches [= Helenas liebliches Anblicken] sahe / hat sie jhm sein Hertz dermassen gefangen / daß er mit jhr anhube zu Bulen / vnd fuͤ r sein Schlaffweib bey sich behielt / die er so lieb gewann / daß er schier kein Augenblick von jr seyn
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Unter dem Aspekt der Anisochronien ist es, wie Paul Ricœur in teilweise kritischer Abgrenzung zu Genette gezeigt hat, zentral, die Zeiterfahrung der Figuren einer Erzählung zu berücksichtigen, weil diese intradiegetische Zeiterfahrung häufig die Anisochronien des narrativen discours steuert; vgl. Ricœur 2007, S. 143–149. Vgl. J.-D. Müller 1990, S. 1335. Faustbuch 1990, S. 962.3–16; Historia 2006, S. 109.4–14. Faustbuch 1990, S. 963.9–16; Historia 2006, S. 110.7–13.
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konnte / Ward also in dem letzten jar Schwangers Leibs von jme / gebar jm einen Son / dessen sich Faustus hefftig frewete / vnd jhn Iustum Faustum nennete.114
Faustus kann seine Affekte nicht mehr auf der Höhe seines Wissens halten und wird zum Opfer des von ihm selbst initiierten Sinnestäuschungszaubers. Den Fokus von Faust ablösend verdeutlicht der Erzähler diese Wahrnehmungstäuschung mit einem einzigen Satz am Schluss des Kapitels: Als er aber hernach vmb sein Leben kame / verschwanden zugleich mit jm Mutter vnd Kindt.115 Neben der affektiven wird damit der Beziehung auch ihre soziale Verbindlichkeit genommen: Helena wie auch der Sohn, den sie Faust gebiert, sind lediglich vom Teufel dargestellte Schimären, die konsequenterweise mit Fausts Tod wieder verschwinden und so die Hoffnung auf eine genealogische Kontinuität, welche die eigene Lebenszeit sinnstiftend überschreiten könnte, zunichte machen. Mit dem Scheitern dieses Versuches tritt Zeit umso deutlicher als Fausts Zeiterfahrung im letzten Teil hervor, wo mit einer engen Fokalisierung auf Faust die Reihe der Weheklagen eröffnet wird.116 Die Erfahrung einer rasend schnell ablaufenden Zeit, die der Delinquent als umso kürzer erfährt, je mehr er sich wünscht, sie aufhalten zu können, wird verschärft durch die Erwartung einer ewigen Strafe. Die Relation zwischen Zeit und Ewigkeit ist ohnehin asymmetrisch, wird aber durch die Begrenzung der Zeit auf einen bestimmten Zeitraum noch dramatisiert, was auf der Ebene des discours durch die Überschriften zum 62. und 63. Kapitel zusätzlich markiert ist: Wie sich Doctor Faustus zu der zeit / da er nur einen Monat noch vor sich hatte / so vbel gehub / staͤ tigs jaͤ mmerte vnd seufftzete vber sein Teuffelisch Wesen. […] Doctor Fausti Weheklag / daß er noch in gutem Leben vnd jungen Tagen sterben muͤ ste.117
Von hier aus betrachtet erscheint die paradigmatische Reihe der Ereignisse des ›Schwankteils‹ als ein Verlust von Fausts Zeiterfahrung innerhalb eines Zeitraums, in dem mit dem Bekehrungsversuch des Nachbarn die Möglichkeit der Umkehr und damit des Aufhaltens der Zeit auf der Ebene der histoire installiert wird: wolan mein Herr / es ist noch nichts versaumpt / wenn jr allein wider vmbkehret / bey Gott vmb Gnad vnd verzeihung ansuchet.118 Dieser Verlust der Zeiterfahrung wird durch die weitgehende Nullfokalisierung der einzelnen Kapitel dieses Teils erzeugt, welche eine Zeiterfahrung auf der Ebene der histoire nicht kenntlich macht.119 Auf der Ebene des 114 115 116 117 118 119
Faustbuch 1990, S. 963.19–27; Historia 2006, S. 110.16–22. Faustbuch 1990, S. 963.29f.; Historia 2006, S. 110.24ff. Vgl. oben S. 103. Faustbuch 1990, S. 966.20ff. und 967.6f.; Historia 2006, S. 113.5–8 und 113.21f. Faustbuch 1990, S. 953.23f.; Historia 2006, S. 102.10ff. Zum Begriff der Nullfokalisierung (›Übersicht‹, ohne dass der Erzähler die Perspektive einer Figur übernimmt) vgl. Genette 1998, S. 134.
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discours aber – als der Ebene der Kommunikation zwischen Erzähler und Leser über den Kopf der Figur hinweg – markiert der Erzähler den Ablauf der Zeit durch den Verweis auf die Realzeit der histoire: Nach der zweiten Verschreibung, die auf das siebzehnte Jahr datiert ist, sind alle Kapitelüberschriften des dritten Teils mit Zeitangaben versehen.120 Der ganze letzte Teil steht dann unter der ebenfalls zeitmarkierten Überschrift Folget nu was Doctor Faustus in seiner letzten Jarsfrist mit seinem Geist vnd andern gehandelt / welches das 24. vnnd letzte Jahr seiner Versprechung war.121 Trotz des unerbittlichen Verrinnens der Zeit aber lässt sich auch in der Historia die doppelte Zeitperspektive des Erzählens122 als Differenz zwischen der immer schon vorausgesetzten Abgeschlossenheit des Erzählvorgangs und der zukunftsoffenen Perspektive der zentralen Figur beobachten. Aus Fausts Perspektive ist sein Leben trotz der eindeutigen Bestimmungen des Teufelspakts mit dessen Abschluss keineswegs unausweichlich final determiniert. Vielmehr schwankt er zwischen der Hoffnung, dem Teufel doch noch entkommen zu können, und der bald resignierten, bald verzweifelten Überzeugung, dass es für ihn kein Entrinnen gebe. Was die Erzählung durch die analytische Perspektive des Erzählvorgangs als dem Erzählen von einem zurückliegenden und abgeschlossenen Geschehen bereits zur Gewissheit macht und was der Erzähler nicht müde wird zu betonen, nämlich dass Faustus rettungslos verloren ist und seine Zeit auf ihr Telos zuläuft, ist aus Fausts Perspektive bis zur letzten Minute ungewiss. Die Fokalisierungen auf Faustus zeigen vielmehr dessen verzweifeltes und darin zugleich auf seine Misserfolgsbedingung festgelegtes Ringen um einen Ausweg, der den Lauf der Zeit anzuhalten vermöge.
Bibliographie Quellen Faustbuch, in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker 54; Bibliothek der Frühen Neuzeit, erste Abteilung 1), S. 829–986. Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587. Kritische Ausgabe. Mit den Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke. Hrsg. von Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer. Ergänzte und bibliographisch aktualisierte Ausgabe. Stuttgart: Reclam 2006 (Reclams Universal-Bibliothek 1516).
120
121 122
Faustbuch 1990, S. 957.17f., 959.10f., 960.3f., 962.1f., 962.17f., 963.8; Historia 2006, S. 105.14, 106.29, 107.18, 109.2f., 109.17, 110.6. Faustbuch 1990, S. 964.1–4; Historia 2006, S. 111.1–4. Vgl. Martinez/Scheffel 2002, S. 119–122.
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Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515 mit 87 Holzschnitten. Hrsg. von Wolfgang Lindow. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart: Reclam 2001 (Reclams Universal-Bibliothek 1687).
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Semantische Kohärenz, narrative Inkohärenz?
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Marina Münkler
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Semantische Kohärenz, narrative Inkohärenz?
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Strauss, Gerald: »How to read a ›Volksbuch‹: the ›Faust book‹ of 1587«, in: Peter Boerner/Sidney Johnson (Hrsg.): Faust through Four Centuries. Retrospect and Analysis. Vierhundert Jahre Faust. Rückblick und Analyse. Tübingen: Niemeyer 1989, S. 27–39. Strohschneider, Peter: Art. »Schwank«, in: Walther Killy (Hrsg.): Literaturlexikon. Bd. 14: Begriffe, Realien, Methoden. Gütersloh/München: Bertelsmann 1993, S. 354–355. Szamatólski, Siegfried u. a.: »Zu den Quellen des ältesten Faustbuchs«, in: Vierteljahrschrift für Literaturgeschichte 1 (1888), S. 161–195. Tambiah, Stanley J.: »Eine performative Theorie des Rituals«, in: Uwe Wirth (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1575), S. 210–242. Walch-Paul, Doris: »Trugbilder – Gegenbilder. Zur Deutung der Historia von D. Johann Fausten (1587)«, in: Trude Ehlert (Hrsg.): Chevaliers errants, demoiselles et l’Autre. Höfische und nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. Festschrift für Xenia von Ertzdorff zum 65. Geburtstag. Göppingen: Kümmerle 1998 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 644), S. 83–99. Waltenberger, Michael: »›Diß ist ein red als hundert‹. Diskursive Konventionalität und imaginative Intensität in der Minnerede ›Der rote Mund‹«, in: Horst Wenzel/C. Stephen Jaeger (Hrsg.): Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Berlin: Erich Schmidt 2006 (Philologische Studien und Quellen 195), S. 248–274. Werber, Niels: »Vor dem Vertrag. Probleme des Performanzbegriffs aus systemtheoretischer Sicht«, in: Uwe Wirth (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1575), S. 366–382. Yates, Frances A.: Die okkulte Philosophie im Elisabethanischen Zeitalter. Aus dem Englischen von Adelheid Falbe. Amsterdam: Weber 1991 [engl. Original: 1979]. Ziegeler, Hans-Joachim: Art. »Schwank2«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin/New York: de Gruyter 2003, S. 407–410.
Udo Friedrich
Providenz – Kontingenz – Erfahrung Der Fortunatus im Spannungsfeld von Episteme und Schicksal in der Frühen Neuzeit Das schöne Gefühl, Geld zu haben, ist nicht so intensiv wie das Scheißgefühl, kein Geld zu haben. Herbert Achternbusch
1. Ebenen der Sinnbildung Die Frage nach der kulturellen Signifikanz frühneuzeitlicher Erzählliteratur zielt auf die Beziehung, die das Erzählen zu seinen möglichen Horizonten besitzt, auf die Relationen der Inhalte, Formen und Strategien des Erzählens zu übergeordneten Kontexten. Die Kohärenzbildungsverfahren des Erzählens sind nicht nur von narratologischen Kriterien abhängig, nicht allein von Gattungsmustern oder von literarischen Traditionen, sondern auch von textübergreifenden Instanzen.1 Solche Kontexte sind immer wieder als homogene Einheiten entworfen worden, vor deren Hintergrund die Texte gelesen wurden: als Weltbild oder Epochengeist, als Sozial- oder Wissensstruktur (Episteme), als Diskurs oder Dispositiv. Sie lassen sich letztlich auf drei elementare Begriffe reduzieren, die ihren theoretischen Ort und seine jeweilige Sinnbildungsfunktion fixieren: auf das Bild, die Struktur und die Strategie. Signifikant ist die Verschiebung der Blickrichtung, die wissenschaftsgeschichtlich mit der Zeit eingetreten ist. Weltbilder entwerfen Einheitsoder Totalitätskonzepte aus einer subjekttheoretischen Perspektive. Gedacht wird vom Wahrnehmungsapparat eines Subjekts aus, das auf Homogenisierung komplexer Erfahrungsgehalte ausgerichtet ist, anders gesagt: auf Orientierung und Sinn. Im Rahmen von struktur- und systembasierten Konzepten dagegen wird der Gegenstand aus einer relationalen Perspektive wahrgenommen. Das Subjekt fungiert hier nurmehr als Funktionselement übergeordneter Strukturen, in die der Sinn nunmehr gewandert ist, sei es die Sozial-, die Sprach- oder die Symbolstruktur und deren Funktion.2 Der Foucaultsche Begriff des Diskurses dagegen versucht mit der Einbeziehung der pragmatischen Perspektive eine neue Dimension (Macht) einzubringen, die überdies kritisch ausgerichtet ist. Der Sinn ist nicht mehr hermeneutisch
1 2
Vgl. Stierle 1979. Vgl. Dosse 1999, Bd. 1.
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im Inhalt lokalisiert, auch nicht mehr in der Struktur, sondern in der Strategie.3 In diesem Koordinatensystem hermeneutischer, strukturaler und pragmatischer Theorien und Methoden hat sich die Analyse der frühneuzeitlichen Literatur zu verorten, will sie nicht nur Texte, Autoren und die immanenten Funktionsmechanismen des literarischen Systems, etwa Poetologien, untersuchen, sondern auch die kulturelle Signifikanz ihres Gegenstandes im Blick halten. Unterstützt wird diese Ausweitung des Blicks auf Kontexte durch die nicht gerade hohe ästhetische Elaboriertheit des literarischen Systems im 15. und 16. Jahrhundert. Der Prosaroman der Frühen Neuzeit etwa hat weniger als literar- denn als sozialhistorisches Phänomen gewirkt; sein Gehalt erscheint stark von pragmatischen Rahmenbedingungen determiniert.4 Eine kulturwissenschaftliche Perspektive bemüht sich, die verschiedenen Ansätze aufgreifend, den literarischen Text im Schnittpunkt sowohl von Strukturen zu betrachten, die nicht nur soziologische sind, als auch von diskursiven Praktiken, die Strategien der Normierung verfolgen. Es gilt dabei den funktionalen Status des Textes zu bestimmen, seine Spielräume der Reaktion und Aktion: Normierung, Kritik, Reflexion, Subversion und anderes. Die kulturelle Signifikanz des Textes ergäbe sich mithin aus dessen Status in unterschiedlichen Funktionszusammenhängen, in den komplexen inhaltlichen, strukturellen und pragmatischen Sinnhorizonten seiner Zeit.
2. Ordnung und Kontingenz Die Frühe Neuzeit gilt als Übergangsepoche, die sich durch tief greifende Veränderungsprozesse in Sozialstruktur, Politik, Ökonomie, Wissenschaft und Technik, selbst innerhalb der religiösen Orientierung auszeichnet. Vertraute Verhaltensformen und Denkweisen werden durch eine Fülle neuer Erfahrungen herausgefordert. Aus hermeneutischer Perspektive ist der Schwund metaphysischer Sicherheit und der Verlust eines homogenen Welt- und Menschenbildes zu konstatieren. Unabhängig davon, ob diese Einheit jemals existiert hat, wird die Notwendigkeit unabweisbar, den aktuellen Erfahrungsdruck mit den tradierten Gewissheiten zu harmonisieren und sinnhaft zu bewältigen.5 Die Geistesgeschichte hat diesen Prozess emphatisch als Überwindung des mittelalterlichen Traditionalismus beschrieben, als Aufbruch in eine neue Zeit, die das Individuum allererst hervor 3 4
5
6
Vgl. ebd., Bd. 2. »Ohne einen im weitesten Sinne praktischen Orientierungsanspruch scheint Erzählen undenkbar« (Müller 1985, S. 78). Vgl. zu solchen Prozessen bes. die Publikationen des SFB 573 »Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit«; zum Erfahrungsdruck vgl. Lepenies 1978, S. 16–20. Vgl. Burckhardt 1976, Kap. 2 und 4, S. 121–157 und 261–331; Cassirer 2002 (Individuum), S. 1–7.
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bringt.6 Aus strukturalistischer Sicht bedeutet der Wandel vor allem Auflösung und Neuformierung sozialer Hierarchien, die Entstehung von institutionellen Ordnungen sowie den Wandel von Wissensstrukturen, in denen das Subjekt verortet wird. Soziologie und Sozialgeschichte haben diesen Prozess nüchtern als Umstellung von einem stratifikatorisch organisierten Gesellschaftstyp auf einen der funktionalen Differenzierung beschrieben. Während dabei lange das soziale, ökonomische und politische Feld im Zentrum des Interesses stand, wird mittlerweile auch der Raum kulturellen Wissens einbezogen.7 Die Diskursanalyse untersucht in diesem Zusammenhang kritisch die verschiedenen Prozesse der Regulierung. Institutionen und Disziplinen etwa gelten ihr als Regulatoren offiziellen Sprechens, als Grenzen ziehende Normierungsinstanzen gegen das Eindringen von widerständigen Kräften, aber auch von inkriminierten Wissensformen. So entsteht im Rahmen des frühneuzeitlichen Verschriftungsprozesses an den Höfen nicht nur ein neues Ordnungsschrifttum; auch in den Städten kommen zunehmend Polizeyordnungen auf, die das öffentliche Leben zu kontrollieren und zu normieren versuchen.8 Die pragmatische Ordnung des Wissens ist also eine regulierende. Zu den unerlässlichen Bemühungen des Diskurses, unbeherrschbare Einflüsse auszuschalten, gehören auch die Auseinandersetzungen um das Problem der Kontingenz: Nicht nur Wahnsinn (Rausch), Gewalt und Sexualität unterminieren die Ordnung der Gesellschaft, sondern auch der Zufall. In der Frühen Neuzeit tritt er sowohl in Folge eines Schwunds metaphysischer Ordnung als auch durch ihre Potenzierung9 zunehmend ins Bewusstsein. Als Schicksal und Verhängnis ist der Zufall jedoch nicht direkt mit einer Personengruppe identifizierbar wie die sozialen Störungen, seine Effekte sind nicht durch offizielle Regulierungen kanalisierbar, er wird nicht über Mechanismen der Kontrolle, sondern über solche der Adressierung bewältigt: konventionell an paradoxe Konzepte wie das von der doppelten Providenz, nach der jedwedes Unglück nicht nur vorgesehen, sondern auch verdient ist; dann aber auch über Metaphern wie die vom Theatrum Mundi und Allegorien des Todes, vor allem aber der Fortuna, mit denen Kontingenzerfahrung in Sinnbilder überführt wird. Die Frühe Neuzeit bringt geradezu einen eigenen Diskurs über Fortuna hervor. Er findet primär abseits der Universität seine Wirkung, das heißt: die Theoretiker der Fortuna kommen weniger aus der Sphäre des akademischen Diskurses als aus der des Handelns,10 und es ist der publi 7
8
9 10
Vgl. Luhmann 1980–1995. Die Wissensgeschichte erkennt einen Epistemewechsel, der das Wissen von der Sprache, der Natur und der Ökonomie tief greifend verändert; vgl. Foucault 1974, S. 46–77, und Berger/Luckmann 2004. Etwa Hof-, Münz-, Forst- oder Hochzeitsordnungen. Zur Polizeyordnung vgl. Berns 1982, S. 106f., und Dietz 2003. Etwa in Gestalt des scholastischen Willkürgottes; vgl. Blumenberg 1996, S. 159–204. Vgl. Cassirer 2002 (Individuum), S. 89.
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zistische Markt, der diesen Erfolg befördert. Monographien mit mehr oder minder ausgedehnter Fortuna-Thematik erscheinen im Druck, etwa die Übersetzung der Trostschrift des Boethius (1500), Poggios lateinischer Traktat über das Elend der conditio humana (1513), Petrarcas Glücksbuch (1532) oder Giovanni Pontanos De Fortuna (1538). Druckgraphik und Malerei verbreiten das Thema visuell,11 in zahlreiche Felder wie Politik und Moralphilosophie dringt es zunehmend ein. In den Fabel- und Sprichwortsammlungen der Frühen Neuzeit ist Glück ein breit belegter Topos.12 Neben den theologisch-philosophischen Diskursen über Providenz und Weisheit, ja selbst in Konkurrenz zu ihnen formiert sich die Erfahrung der Kontingenz als eigenständiger Macht. Das frühneuzeitliche Verständnis von Fortuna hat sich gegenüber dem Mittelalter gewandelt. Eine Schnittstelle bildet bekanntlich Boethius’ Schrift De consolatione philosophiae, in der die antike Fortuna-Vorstellung auf die Philosophia trifft und sich behauptet.13 Die klassische Thematik von Zufall und Notwendigkeit entfaltet sich in der Frühen Neuzeit nun als dreigliedrige Relation im Spannungsfeld von Providenz, Kontingenz und freiem Willen, der Klugheit oder Tatkraft erfordert. Hatte das Mittelalter die Fortuna gewissermaßen moralisiert und domestiziert, indem es sie bei aller scheinbar waltenden Willkür der göttlichen Ordnung unterstellte, scheint die Frühe Neuzeit diese Bindung wieder aufzulösen.14 Ein solcher Prozess ist nicht als lineare Ablösung zu beschreiben, sondern als Tradierung alter und Aufkommen neuer Motive sowie deren Vermischung.15 Attribut der Fortuna ist nun weniger das Rad als wieder das Segel und die Kugel.16 Fortuna wird mit spezifischen Feldern sozialer Praxis assoziiert: traditionell mit der Seefahrt, nun auch mit Ökonomie und Politik. Es sind bevorzugt jene Felder, in denen die zeitgenössische Kontingenzerfahrung dramatisch wird. Traditionell ist noch die religiös motivierte Vereinnahmung der Fortuna. Sebastian Franck bezeichnet die Welt als bewegliche welt, als wanckele, hinfaͤ llige welt.17 Franck greift nicht nur auf die Theatrum Mundi-Metaphorik zurück, wenn er die Welt als Gottes faßnacht spil bezeichnet,18 er rekurriert auch auf das Glücksmotiv: hab acht wie dz alles mit dem glück / nach Gottes ordnung hin vnd her far / vnˉ in keim wesen bleibt.19 Theatrum 11 12
13 14 15 16 17 18 19
Vgl. Holländer 1996. Vgl. z. B. Alberus 1997, S. 48, 55, 135, 137f.; Franck 1993, S. 33.25–35.6, S. 36.6– 37.11, S. 52.9–53.25, S. 96.1–7, S. 102.25–28, S. 113.4–11 u. ö. Vgl. Doren 1922/1923, S. 83f.; Meyer-Landrut 1997, S. 30–36; Müller 2005, S. 146f. Doren 1922/1923, S. 83f., Cassirer 2002 (Individuum), S. 85–114. Ebd., S. 87ff. Ebd., S. 89; Holländer 1996; Müller 2005, S. 161. Franck 1534, Bl. a iijv. Ders. 1969, Bl. a viv. Ebd., Bl. a vir.
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Mundi, Vanitas und Glück werden zusammengedacht, die Bildfelder der Kontingenz verbinden sich in Zeiten religionspolitischer Kontroversen zu einem resignierenden Befund über die Welt. Dem Schwärmer bleibt als Haltung allein, sich nur bedingt auf die Welt einzulassen beziehungsweise der Rückzug auf sich selbst. Und doch: Mit dem Entzug von Vermittlungsformen zwischen Gott und Mensch, mit der nunmehr auch theologisch fundierten ›Unberechenbarkeit‹ Gottes, fallen Kontingenz und Providenz zusammen. Selbst der Wissenschaftler entkommt dem Paradox nicht: Wenn Sebastian Münster sich in seiner Cosmographia von 1544 den historischen Wandel in der Topographie der Länder und die Veränderung ihres Klimas vor Augen führt, einen Wandel, der über Jahrhunderte sich einstellt und die Fruchtbarkeit der Landschaften verändert, rekurriert er zwar auf die Ansicht der Menschen, die den ›Klimawandel‹ an Fortuna und Zufall delegieren – ex fortuna vel casu, daz ist / von Gluͤ ck oder Vngluͤ ck –, doch vertraut auch er weiter auf die Macht einer höheren Gerechtigkeit: auf die ordnungen Gottes.20 Kontingenzerfahrung und metaphysische Ordnung werden auseinandergehalten, um sie wieder zusammenzuführen. Der vermeintliche Zufall erweist sich auch hier als Bestandteil der Vorsehung. Selbst die Kontingenz der Pestepidemien, die ganze Länder heimsuchen, wird so noch in eine Regel überführbar, für die traditionelle Metaphern eintreten. Englands üppige und rühmenswerte Natur etwa wird durch periodische Pestepidemien in Schranken gehalten.21 Die beigefügte Allegorie des Todes stellt den regelhaften Umschlag schon in die Spannung zwischen theologischem und natürlichem Prinzip (Abb. 1). Auch im Feld der Geschichtsschreibung stellt sich das gleiche Paradox ein: Wenn François Baudouin 1561 nach einer Regel im Gang der Geschichte, einem ordo temporum, forscht, versucht er, sie zwischen dem ewigen Kreislauf der Planeten und den Kontingenzen der sublunaren Sphäre zu verorten. Kreis und Theater stehen einmal für die ideale kosmische Ordnung – theatrum naturae, orbis coelestis –, das andere Mal für den planlosen, zufälligen Wechsel der Ereignisse – mundi amphitheatrum, fortuna –, der die menschlichen Angelegenheiten zu beherrschen scheint: cæco & fortuito casu omnia ferri voluíque videri.22 Der römische Zirkus wird Baudouin zum Paradigma für das Spiel der Fortuna: für das fortunæ ludibri[um].23 Kreis- und Theatermetaphorik implizieren sowohl den Inbegriff von Ordnung als auch das Spiel der Kontingenz. Nicht die Kontingenz wird 20 21
22 23
Münster 1628, Widmungsvorrede, Bl. ):( ijv (vgl. in der Ausgabe 1544: Bl. a ijv). Münster 1628, S. 80: Also weißt Gott der Allmaͤ chtige nach seinem allweisen Raht das suͤ sse mit dem bitteren zu temperieren / vnd die Voͤ lcker so sonsten etwan durch den vberfluß vnd voͤ lle aller Luͤ fte vnd Guͤ tern diser Welt sich versteigen moͤ chten / fein artig in dem Zaum zu halten. Baudouin 1561, S. 7. Ebd.
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hier durch Providenz eingefangen, sondern der Hiat zwischen ihnen wird selbst zum Thema, und es wird eine relative Ordnung zwischen ewigem Kreislauf und kontingentem Wechsel etabliert. Sichtbar wird zum einen die zunehmende Sensibilität für Kontingenz, zum andern das Bemühen, diese in symbolische Sinnfiguren zu bannen.24 Klassisches Element der Fortuna aber ist das Meer.25 In der Seefahrt der Frühen Neuzeit werden exemplarisch Grenzen ins Unbekannte überschritten. Dass Fortuna aus der Perspektive der Praxis schon deutlicher als Gegeninstanz zur Providenz aufgefasst wird, bestätigen die Berichte über die Gefahren frühneuzeitlicher Entdeckungsfahrten, etwa der Bericht des Amerigo Vespucci: Nach einer Reise von 67 Tagen, jn welchen das vnfruͤ ntlich vnd halsstarrig gluͤ ck wider vns wuͤ tet, werden die Seefahrer nur durch die Gnade Gottes gerettet, treffen die Verzweifelten, die […] yetzt erloͤ st waren von dem rachen des widerwertigen gluͤ cks, endlich auf Land.26 Eine solche Vorstellung ist eng verbunden mit der Fortuna der Ökonomie: Die prosperierende Geldwirtschaft wird im zeitgenössischen Diskurs über das blindwütige Walten des Zufalls definiert.27 So heißt es in Clemens Senders Bericht über den Bankrott des Augsburger Handelshauses Hochstetter: und aber berierte Hochsteter und Baumgartner aus widerwertigem glick und zuogestandem unfall in […] so grose arenmuot komen.28 In der ökonomischen Praxis fungiert Fortuna aber auch schon als Chance, die sich bei günstiger Gelegenheit ergibt:29 Tatkraft, Entscheidungsfreude und Skrupellosigkeit sind hier entscheidend. In Seefahrt und Handel beginnt sich Fortuna als autonome Instanz zu etablieren. Gegenüber solch weit verbreiteten Vorstellungen ist die Propagierung der Fortuna im Feld der Politik, wie Machiavelli sie vertritt, diskursgeschichtlich eine Randerscheinung. Die politische Rezeption Machiavellis erfolgt in der Frühen Neuzeit noch weitgehend unter moralischer Perspektive. Während die Geistesgeschichte die Ablösung der Politik aus den Vorgaben der Theologie, Ethik und selbst der aristotelischen Naturvorstellung als ein wesentliches Resultat der Frühen Neuzeit ausmacht und dafür exemplarisch Machiavelli anführt,30 kann die Diskursgeschichte zeigen, dass jener aristotelische Bezugsrahmen noch lange Zeit die politische Theorie beziehungs-
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Es muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben, die stabilisierenden Diskurse der Wissenschaften auf solche Bildbrüche im Umgang mit der Kontingenz zu untersuchen. Vgl. Müller 1995, S. 234f. Zitiert nach der deutschen Version des Berichts in Grynaeus 1534, Bl. 38v–41v, hier Bl. 39r CD. Vgl. Müller 1995, S. 234; Kellner 2005, S. 318. Zitiert nach Raitz 1984, S. 101. Vgl. Müller 1995, S. 234f. Vgl. Blumenberg 1968/69, bes. S. 124f.
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weise deren Diskurs bestimmt.31 Als epochenspezifischer Typus wird der »durch eigene Tüchtigkeit (virtù) oder durch Gunst des Zufalls […] zum Herrscher aufgestiegene Privatmann«, dem »alles Vorgegebene […] zur bloßen Materie [wird], der er die Form seiner Entschlüsse aufprägt«,32 weniger auf dem Feld der Politik als auf dem der Ökonomie sichtbar. Der Fortuna-Diskurs profiliert sich schließlich anthropologisch gegen den fest etablierten Weisheitsdiskurs. Hans Rudolf Velten hat an Poggios Schrift De miseria humanae conditionis, die 1513 und 1538 gedruckt vorlag, herausgearbeitet, dass die humanistische Diskussion selbst den Stellenwert der Weisheit als remedium gegen die Schläge der Fortuna nur noch eingeschränkt akzeptiert.33 Damit gewinnt Fortuna selbst dort an Boden, wo sie traditionell über das Konzept der Weisheit in Schach gehalten wurde: in der Kunst der Lebensführung. In allen beschriebenen Feldern jenseits der Theologie, in Geographie und Geschichtstheorie, in Seefahrt, Ökonomie und Philosophie scheint sich ein ähnlicher Erfahrungstyp zu artikulieren: Fortuna kann anders als Providenz nicht mehr auf eine Absicht, auf einen übergeordneten Sinn zurückgeführt werden. Die irritierende Wirkung, die der Erfahrungsdruck akkumulierter Datenmassen und die Pluralisierung der Wissensformen, die frühkapitalistische Geldzirkulation und ihre sozialen Folgen, die Machtverschiebungen im politischen Feld, schließlich die Dynamisierung der Vorstellungen von Gott, Welt, Natur und Geschichte zeitigten, lässt sich auch an der Konjunktur des Weisheitsdiskurses festmachen. Sein institutioneller Ort ist die Moralphilosophie. In ihrem Rahmen spielen gemäß aristotelischer Tradition aber nicht nur Fragen der individuellen Ethik eine Rolle, sondern nicht weniger der Ökonomik und der Politik. Der Diskurs über die Weisheit ist auf das Individuum als Einzelnes – bona corporis, bona animi, bona fortunae – und auf das Gemeinwesen hin ausgerichtet. Die Diskussion wird auch nicht nur akademisch und politisch, also institutionell geführt, sondern dringt im Gefolge des Buchdrucks schon in den Markt ein, wird publizistisch wirksam. Eine Fülle von didaktisch ausgerichteter Weisheitsliteratur findet den Weg noch in volkssprachige Druckausgaben und dient der Orientierung in lebensweltlich, politisch und ökonomisch unsicheren Zeiten: Weisheit wird in Relation nicht nur zum Laster, etwa zu Reichtum und Dummheit, sondern auch zur politischen Macht, zum Wissen, zum Leben und zur Fortuna gesetzt.34 31
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Ebd., S. 125: »Materialisierung dessen, was zuvor noch wie Natur ausgesehen hatte und damit die Sanktion aller Selbstverständlichkeiten beanspruchen konnte, zum Substrat demiurgischer Prozesse ist ein Grundzug der Neuzeit, der sich hier abzuzeichnen beginnt.« Ebd. Velten 2004, S. 727–738; Worstbrock 2006, S. 39–57. Gegen die neu aufkommende Ökonomie formiert sich der Weisheitsdiskurs, sichtbar in polemischen Werken gegen das Geld; vgl. Bachorski 1983, S. 191–251.
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Zahlreiche Drucke distribuieren die Weisheitsthematik in den entstehenden öffentlichen Diskurs, etwa auch Kompilationen antiker Tugendlehren wie das Buch von den Vier Angel tugent (1515), das unter anderem Positionen von Aristoteles, Sokrates, Platon, Seneca und Boethius zusammenfasst und christlich rahmt: Wie sehr Weisheitskonzepte sich von rein ethischen Fragen entfernen, wird etwa darin sichtbar, dass zu ihren konstitutiven Bestandteilen gedaͤ chtnüß, verstentnüß, fürsichtigkeit, behendigkeit und lerhafftigkeit, mithin allgemeine Strategien der Orientierung zählen.35 Aber auch konservativ als Fortsetzung religiöser Weisheitstradition, etwa in Dye Sprüch Salomon (1529), wirkt der Weisheitsdiskurs, sodann als Medium humanistisch motivierter Gesellschaftskritik in Sebastian Brants Narrenschiff (1494),36 als Rezeption antiker Fabeln in Sebastian Münsters Spiegel der wyßheit (1520) und in Erasmus Alberus’ Fabelsammlung (1534), die in erweiterter Form als buch von der Tugent und der Weißheit (1550) erscheint, aber auch schon früh als Medium der Selbsterkenntnis in Carolus Bovillus’ Schrift De sapiente (1510), die den Stellenwert der Weisheit nicht mehr moralisch, sondern schon anthropologisch behandelt.37 Weisheit ist auch nicht mehr vom Wissen getrennt, wie an der Konjunktur der Reiseund Wissensliteratur sichtbar wird, die sich gegen allen Curiositasvorbehalt an den Weisheitsdiskurs anzubinden vermag: Dann der weyßheit suͤ sse ist also hoch […] daß alle meˉ schen auß nateürlicher begird darnoch stellen – so rekurriert Cardanus in seinem naturkundlichen Werk auf den ersten Satz der aristotelischen Metaphysik.38 In der politischen Theorie nicht erst des 16. Jahrhunderts fungiert Weisheit ohnehin als topische Herrschertugend.39 Weisheit gilt als stabilisierender Faktor gegen beinah alle Widrigkeiten des Schicksals: gegen Verbrechen, Armut, Krankheit, Tod und politische Gewalt. Ein Diskurs über das Verhältnis von Weisheit und Macht wird überdies noch in der volkssprachigen Erzählliteratur geführt. Im Redewettstreit der Sieben weisen Meister gegen Diocletian (Erstdruck 1470), im Briefwechsel zwischen Alexander und Dindymus in Hartliebs Alexander (gedruckt 1503/ 1514),40 im Disput zwischen Salomon und Markolf (Erstdruck 1473), im Wettstreit zwischen Esopus und seinem Herrn Xanthus bei Erasmus Alberus (1550), schließlich in der Utopia-Übersetzung (1524) und am Ende des 35 36 37 38
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Vier Angel tugent 1515, Bl. A vjv. Brant 2004, Kap. 22, S. 57f.; Kap. 107, S. 286–289; Kap. 112, S. 314ff. Bovelles 1982. Zu Bovillus vgl. Cassirer 2002 (Individuum), S. 103–108. Cardanus 1559, Bl. + iiijr: Dann der weyßheit suͤ sse ist also hoch / jre besitzung also ehrlich / jr uͤ bung also nutzlich / jr frucht also ein Goͤ ttliche liebe / vnˉ jr contemplation vnd betrachtnus also ein sichere ruͦ w / daß alle meˉ schen auß nateürlicher begird darnoch stellen. Vgl. Krüger 2002. Vgl. Hartlieb 1991, Z. 13ff., S. 96: Darumb sol ain fuerst nichtt allain die coronicken lesen, sunder auch alles, daz zu weyshaitt sich czewchet vnd vbett. Ebd., Z. 4514–5350, S. 238–265.
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16. Jahrhunderts im Lalebuch (1597) wird Weisheit als rhetorisches Instrument der Selbstbehauptung gegenüber allzu selbstgewisser Macht vorgeführt.41 Geradezu Symptomwert für das Wirkungsfeld des Weisheitsdiskurses kann Sebastian Brants Narrenschiff reklamieren, welches das ganze Spektrum zeitgenössischer Irritationen im kulturellen Feld auf die Inversionsfigur des Narren bezieht: Gelehrsamkeit, Weltneugierde, Geldgeschäfte, Druckgewerbe und so weiter. Ganz unterschiedliche Strategien zur Restitution der Ordnung, christliche, humanistische, wissenschaftliche und politische Positionen, konvergieren im Begriff der Weisheit. Die zahlreichen Schriften über die Weisheit, all die Traktate, Lehrgespräche, Dialoge, Lieder und Erzählungen, finden ihren pragmatischen Ort im Dispositiv öffentlicher Ordnung. Institutionell gesehen sind sie Bestandteil der Moralphilosophie, denn wie Weisheit traditionell unter den Kardinaltugenden rangiert, so ist Politik noch fest an Ethik gebunden. Es geht um Fragen nach dem guten und schlechten Herrscher, nicht grundsätzlich um die Legitimität des Systems, schon gar nicht um die Realität des Politischen, die Machiavelli thematisiert hat.42 Wie die politische Theorie versucht der Weisheitsdiskurs das Allgemeingültige zu fassen, nicht das relativ Allgemeine, das der Erfahrung zuzuordnen wäre. Von daher wird die Bedeutung der Weisheit meist hierarchisch deduktiv abgeleitet: von Gott oder vom idealen Herrscher. Die frühneuzeitliche Literatur steht auf der Grenze zwischen offiziellem Diskurs und Erfahrungswissen, sichtbar etwa in der Spannung zwischen exemplarischem Anspruch der Literatur einerseits und ihren reflektierenden, kritisierenden oder ironisierenden Erscheinungsformen andererseits. Im Zusammenhang des Wissens über das Schicksal oder den Lauf der Dinge fungiert Literatur je nach vorausgesetztem Ordnungsrahmen als Reflexionsraum. Hier werden nicht nur zentrifugale Energien in eine praktische Ordnung gespannt, sondern Kontingenzerfahrung in Ordnungsmuster überführt und reflektiert, wird eher die Not zur Tugend gemacht. Welche Strategien stehen zur Verfügung, um die immer sichtbarer werdenden Formen der Kontingenz zu bewältigen? Weisheit bietet traditionell der gelehrte religiöse Diskurs an, Klugheit der praktische. Welche Lösungen hat die Literatur?
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Noch die Historiographie partizipiert an dieser Selbstbehauptung, etwa im Gespräch Solons mit Krösus, wie es in der volkssprachigen Übersetzung von Herodots Historien tradiert wird (Herodotus 1535, Bl. VIIr–VIIIv). Zum Politischen als neu entdeckter Realität vgl. Blumenberg 1968/69, S. 124f., und Luhmann 1980–1995, Bd. 3, S. 65.
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3. Fortuna und Erzählung Bei jeglichem Dinge muß man auf das Ende sehen, wie es hinausgeht; denn vielen hat die Gottheit das Glück vor Augen gehalten und sie dann gänzlich zu Grunde gerichtet. Herodot I 32.
Erzählen als eine spezifische Form von Sinnbildung steht selbst schon aufgrund der damit verbundenen Anforderungen an Kohärenz in Spannung zur Kontingenz: »Es bestimmt den Charakter der Narration und ihren Erfahrungsgehalt wesentlich mit, wie diese Spannung des narrativen Textes zwischen narrativer Ordnung und Kontingenz aufgelöst wird.«43 Während die Erzähltheorie die Erzählung als Ordnungs- und Sinngefüge, das heißt: als Funktionszusammenhang definiert, in welchem Sinnlosigkeit per definitionem keinen Ort hat, steht die Erzählung doch immer auch in übergeordneten Bezugshorizonten, in Kontexten, die das Problem der Kontingenz virulent machen.44 Ideal, aber unwahrscheinlich ist die Konvergenz von textuellen und kontextuellen Sinngefügen. Clemens Lugowski hatte diese homologe Relation am Beispiel von Weltbild und Erzählform beschrieben und als »mythisches Analogon« bezeichnet.45 Beiden liegt als mythischer Indikator eine vorausgesetzte »Absicht« zugrunde. Lugowski greift auf den »Fundamentalsatz der mythischen Weltansicht« zurück, nach dem »nichts in der Welt durch Zufall, sondern alles durch bewußte Absicht geschieht«.46 Weltgeschehen und Textorganisation fallen hier unter dem Begriff der Funktionalität in idealer Weise zusammen. So wie der Welt des Mythos (Christentum) eine Absicht unterlegt wird, so auch der Erzählung. In Zeiten sich auflösender Weltbilder und zunehmender Kontingenzerfahrung muss diese Einheit fragil werden. Die Konjunktur der Fortuna-Thematik ist unter anderem ein Indiz dafür. Der Diskurs über die Wirkkräfte des Schicksals, der sich auf verschiedenen Feldern artikuliert, dringt auch in den Prosaroman der Frühen Neuzeit ein. Verschiedene Instanzen der Determination wie Sterne, Vererbung oder Fortuna treten neben die Providenz, sie werden unabhängig von den zugrunde liegenden Gattungsmustern zur Anschauung gebracht und können in Konkurrenz zueinander treten. Astrologie und Genealogie bilden sogar 43 44
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Stierle 1979, S. 96. Der Strukturalismus hatte die Erzählung als Funktionsgefüge aufgefasst: Demnach existiert eine Erzählung als Strukturzusammenhang aus nichts als Funktionen: »›Alles‹ bedeutet darin in unterschiedlichen Graden. […] In der Ordnung des Diskurses ist alles Erwähnte per definitionem erwähnenswert: […] entweder ist alles sinnvoll oder nichts. Anders ausgedrückt könnte man sagen, daß es in der Kunst kein Rauschen (im informationstheoretischen Sinn) gibt« (Barthes 1988, S. 109f.). Lugowski 1994, S. 21–51. Vgl. dazu die Beiträge in Martinez 1996. Cassirer 2002 (Philosophie), S. 59.
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wirkungsmächtige Diskurse aus.47 Eine Gattung mit erhöhtem Kontingenzpotential wie der höfische Aventiureroman scheint sich aber aufgrund ihrer Erzählstruktur eher zu sperren. So wird im Wigalois-Druck von 1493, einer Prosaauflösung mit indizierter Glücksmotivik, die »Sinnerfüllung im Zufall«48 noch deutlich providenziell gesteuert, so dass mythisches Analogon und Mythos weiterhin konvergieren. In Liebesromane wie den Prosatristrant oder die Magelone dringt die Glücksthematik dagegen schon deutlicher ein. Was man gemeinhin mit narrativer Exposition von Kontingenz bezeichnet, scheint der Prosatristrant ansatzweise umzusetzen.49 Anders als Eilhart koppelt der Verfasser signifikante Situationen an die Instanz der Kontingenz: Durch vngefert verbleibt das Schiff mit der schwangeren Blancheflur zu lange auf See,50 so dass sie bei der Geburt stirbt. Das eintretende Leid bezieht der Erzähler nicht auf Providenz, sondern auf einen Erfahrungssatz: wenn es geet ye nach suͤ ß saur das sicht man gemeinklich in allen dingen.51 Als es den todwunden Tristrant später auf die See treibt, ist die Motivation zwar ähnlich wie bei Eilhart, sie wird aber in einen anderen Wissenshorizont gestellt: er wolt auf den see faren ob in gelück ettwa braͤ cht da jm geholffen wurde.52 Das ist das Meer sowohl als Element des Risikos als auch der Chance. Zwischen der textinternen Erzählfinalität – der Held muss ankommen – und der textexternen Providenz – Gott rettet ihn – eröffnet sich ein Spielraum für Alternativen.53 Die Konkurrenz der Schicksalsinstanzen tritt signifikant in Thürings von Ringoltingen Melusine hervor, in der neben die klassische Providenz die Sterne, das Glück, die Genealogie und die menschliche Willensschwäche treten, der Mensch also in die Spannung rivalisierender Determinationen gestellt wird. Zum einen wird Fortuna aus der göttlichen Providenz herausgelöst und als Instanz etabliert, die jenseits von Moral als »abstraktes Gücks-Prinzip« waltet:54 Obgleich Fee und Christin, macht Melusine gelückes zuoualle verantwortlich für die ›notwendigen‹ Folgen des Tabubruchs.55 47 48 49
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Vgl. zu ersterer Müller-Jahnke 1985, S. 33–134; zu letzterer Heck/Jahn 2000. Jauß 1972, S. 116. Schon der Tristanstoff selbst kann bekanntlich unter einer Fortuna-Perspektive gelesen werden; vgl. Worstbrock 1995. Tristrant 1966, Z. 32, S. 2. Ebd., Z. 45f., S. 3. Oder die Konfrontation des Helden mit exorbitanter Gewalt: Die Entscheidung wird im Zweikampf mit Morolt noch an das Gottesurteil delegiert, obwohl hier kausal reine Kontingenz waltet; im Fall des Drachenkampfes aber wird schon an das Glück appelliert: ob jm gelück fuͤ get. das er in toͤ ten moͤ chte (ebd., Z. 682, S. 27). Ebd., Z. 440ff., S. 18. Die Fortuna-Thematik ist ein Beispiel, das zeigt, dass der lineare und der finale Verlauf der Handlung immer durch Alternativen unterbrochen werden kann – mit Barthes: dass sich »Kardinalfunktionen« anschließen (Barthes 1988, S. 112f.). Quast 2004, S. 86. Vgl. ebd., S. 83 und S. 94f.; außerdem Wehrli 1969, S. 26; Müller 1985, S. 95f.
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Demgegenüber bleibt der Umschlag des Glücks aber auch weiterhin an die Providenz rückgekoppelt: In dieser Zeit schlägt notwendig Glück in Jammer um, so kommentiert der Erzähler das eingeführte Augustinexempel: ob das nit beschicht so ist es doch ein gewißheit der ewigen verdamnuß.56 Anders als im Prosatristrant und eher wie in Münsters Fortuna-Auffassung wird Glückswechsel hier weniger als Erfahrungsbefund denn als providenziell sinnvolle Regel etabliert. So wie das Erzählgeschehen zunehmend an externe Systeme wie Moral, Recht und Ökonomie rückgebunden und damit pragmatisiert wird, so vervielfältigen sich auch die nicht greifbaren Instanzen der Determination.57 Die allmähliche Herauslösung der Fortuna aus dem Geltungsraum der Theologie und der Moral ist das entscheidende Moment, das das literarische Feld mit dem politischen Fortuna-Entwurf teilt, hier nur bezogen auf politische Durchsetzbarkeit, dort auf das Leben allgemein.58 Die Entwicklung läuft aber nicht homogen. In Georg Wickrams Erziehungsromanen etwa zeigen sich überall dort, wo dem Protagonisten Außerordentliches widerfährt, zwar verstärkt Spuren der Fortuna-Thematik, doch wird das Motiv des Glücks erneut mit einer providenziell gelenkten Ordnung versöhnt.59
4. Fortunatus: Fortuna und Erfahrung Der 1509 in der oberdeutschen Handelsmetropole Augsburg erschienene Fortunatus ist ein Text mit ausgemachter Kontingenzthematik. Unter den Prosaromanen der Frühen Neuzeit wird sein sozialhistorischer Rang als Schwellentext im Übergang von adeliger zu bürgerlicher Lebensform dadurch markiert, dass er erstmals die ökonomischen Bedingungen frühneuzeitlicher Existenz reflektiert: Geld unterminiert hier alle sozialen Beziehun 56
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Thüring 1990, S. 95.7f. Sichtbar wird solche Vergänglichkeit an den Ruinen, die zu Erinnerungszeichen nicht nur der Wahrheit der Geschichte, sondern auch der Hinfälligkeit alles Irdischen werden: Die Ruinen von Lusignan stehen zu Thürings Zeiten ebenso noch wie die des Wirtshauses, aus dem Augustinus geflohen ist: man sicht noch heẅt zuͦ tagen die gruͦ ben desselbigen hawß (ebd., S. 95.26f.). Vgl. Müller 1985, S. 92–98. Aus geistesgeschichtlicher Perspektive markiert eine solche Darstellung die Herauslösung des Subjekts aus metaphysischen Ordnungen und die Andeutungen einer anthropologischen Einsicht. Aus strukturalistischer Sicht würde das Koordinatensystem zwischen Gott, Welt und Mensch neu konfiguriert. In Wickrams Goldtfaden wird die Handlung durch ein Aventiure-, Märchen- und Legendenschema strukturiert: Der Held ist providenziell gezeichnet, die Glücksklagen der Figuren sind immer schon providenziell eingefangen (vgl. zum Goldtfaden auch den Beitrag von Julia Richter in diesem Band, S. 157–175). Zugleich aber wird das Geschehen sowohl vom Erzähler als auch von den Figuren auf die Wirkung der Fortuna bezogen; vgl. Wickram 1968, S. 2.9f., 8.7, 19.16f., 22.7, 42.4, 42.14f., 55.4, 103.2f., 104.21f., 110.17–22, 131.3–132.24, 166.34f. u. ö.
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gen und Systeme.60 Aus hermeneutischer Perspektive werden die Auswirkungen der neuen Ökonomie als Umkehrung tradierter Wertvorstellungen in Szene gesetzt, wird ein Weltbildwandel als Gefährdung althergebrachter Formen sozialer Orientierung ausgemacht: Reichtum statt Weisheit. Diskurstheoretisch gesehen bleiben auf der Oberfläche zwar die Positionen des offiziellen, auf Stabilisierung der sozialen Ordnung ausgerichteten Weisheitsdiskurses in Geltung, doch unterminiert der Fortunatus bereits den Diskurs, da Kalkül und Erfahrung zu probaten Mitteln sozialer Interaktion werden und da Moral erfolgreich durch Politik, das heißt durch Strategie, abgelöst wird. Gegenüber dem traditionellen Weisheitsdiskurs, wie er etwa im Buch von den vier Angel tugent oder in Brants Narrenschiff vorliegt, verfügt der Fortunatus nicht mehr über einen homogenen Bewertungshorizont. Literaturgeschichtlich gehört der Fortunatus zu den wenigen eigenständigen Erzählungen der Frühen Neuzeit und bezeichnet durch die enge Verbindung von Realismus und Literarizität in der Geschichte des Romans den Übergang zu einer neuzeitlichen Ästhetik.61 Zwar orientiert sich der Verfasser noch an tradierten Erzählmustern, doch passt er seinen Gegenstand schon nicht mehr in eine feste Gattungskonvention ein, verlässt also die institutionalisierten Formen sprachlichen Handelns zugunsten eines neuen Erzählentwurfs, der ein aktuelles Problem aufgreift. Als Klassiker unter den Prosaromanen kann der Fortunatus sowohl aufgrund der Modernität seiner Thematik (Geld) und Erzählform (Kasus) gelten als auch aufgrund der zeitgemäßen Reformulierung des zeitlosen Themas von der Glückswahl, das den Kern menschlicher Wunschökonomie betrifft. Egal, was gewählt wird – Weisheit, Liebe, Geld, Macht oder anderes –, es bleibt immer ein Mangel: nach Weisheit (Salomon) und Liebe (Paris) nun also Reichtum. Der sozialhistorischen Brückenfunktion und dem narratologischen Experiment korrespondiert eine innovative geistesgeschichtliche Perspektive. Der Fortunatus, das ist wiederholt beschrieben worden, ist voller FortunaSymbolik, angefangen beim Namen des Protagonisten über die Personifikation der Glücksjungfrau und das Glückssäckel, über die zahlreichen kreisförmigen Handlungsmuster, die Peripetien der Figuren, ihre Auf- und Abstiege, bis hin zu dem Titelblatt der späteren Ausgabe, das die FortunaIkonographie explizit aufnimmt.62 Die Fortuna des Fortunatus scheint aber nicht mehr die christlich imprägnierte Schicksalsinstanz zu sein, ihr mangelt gerade jene moralische Qualität, die Glück und Providenz verbunden und in die Ordnung einer geometrischen Figur überführt hatte.63 Der Fortunatus 60
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Zur systemtheoretischen Interpretation vgl. Kremer/Wegmann 1985; Braun 2001, S. 52–113. Vgl. Raitz 1984, S. 84–92; Haug 1987, S. 32. Fortunatus 1990, Abb. 8; vgl. Kästner 1990, S. 39–48; Müller 1995. Müller 1995, S. 218–222.
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exponiert Kontingenz im positiven wie im negativen Sinn. Er rekurriert aber nicht nur inhaltlich auf Elemente des Fortuna-Diskurses, er beutet ihn auch für die Erzählstruktur aus.64 Der Dominanz der Fortuna-Motivik entspricht, dass sich die Erzählung offensichtlich einer exemplarischen Aussage versagt. Eine ganze Serie von Einzelbiographien, zum Teil nur in Umrissen angedeutet, wird vorgeführt und bricht dramatisch ab. Zwar sind als Grundriss der Erzählung die Handlungsmuster des mittelalterlichen Aventiureromans aufgedeckt worden, doch teilt er mit dessen Märchenschema nicht mehr die »Sinnerfüllung im Zufall«, die den Aventiureritter so sicher durch alle Gefahren gelenkt hatte.65 Wenn »Ziellosigkeit und Kontingenz«66 als diejenigen Faktoren ausgemacht werden, die den Lebensentwurf des Fortunatus bedrohen, verweist das gegenüber mittelalterlichen Sinnordnungen auf ein weiteres Moment von Modernität. In diesem Sinn stirbt der Protagonist, anders als seine Söhne, einen Tod, der sich nicht mehr auf eine exemplarische Formel bringen lässt. Der Erzähler entwirft seine Handlung im Horizont eines bekannten genealogischen Musters, das die Biographie des Helden über die Geschichte der Eltern und der Söhne mit einer Vor- und einer Nachgeschichte versieht. Nachdem der Bürger Theodorus das Erbe seiner Eltern in ritterlichem Statuskonsum vertan hat, fehlen ihm die nötigen Mittel, seinen Sohn adäquat auszustatten. Wie ein Märchenheld zieht Fortunatus in die Welt, um sein Glück zu machen: es ist noch vil glüks in diser welt / ich hoffen zu got mir werd sein auch ain tail.67 In die Obhut Gottes aber entlässt ihn der Erzähler nicht. So holt ihn denn auch sogleich die Realität ein, indem ökonomische Not ihn zu Dienstleistungen verpflichtet. Diese ermöglichen Fortunatus zwar wiederholt bedingte Aufstiege, doch führen die Dienstverhältnisse aufgrund von Intrigen jeweils in die Katastrophe und treiben ihn in die Isolation. Gefahren begegnen ihm weniger in sichtbarer Gestalt als in unsichtbaren Strategien. In seiner tiefsten Krise trifft Fortunatus in einem Wald auf die Jungfrau des Glücks, die ihm eine Reihe von Glücksgütern offeriert: Schönheit, Gesundheit, Stärke, langes Leben, Weisheit und eben Reichtum.68 Fortunatus zögert nicht lang und entscheidet sich für Geld und damit für den wohl wirkungsmächtigsten Kontingenzfaktor seiner Zeit. Der Text selbst lässt auf der Erzähloberfläche, im Pro- und Epilog sowie in wiederholten Figurenkommentaren keinen Zweifel daran, dass diese Wahl falsch war: Rekurriert wird dafür immer wieder auf die klassische 64 65
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Vgl. Müller 1985, S. 96, und ders. 1995. Schausten 2006, S. 215: Die mit ihren »impliziten Formen der Sinngebung« aufgerufenen Intertexte werden von der Erzählung »in ihrer Funktion für die Identitätskonstruktion« des Fortunatus verworfen. Ebd. Fortunatus 1990, S. 391.6ff. Ebd., S. 430.12f.
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Opposition von Weisheit und Reichtum.69 Nun herrscht jedoch breiter Konsens in der Forschung, dass die Erzählung von Fortunatus und seinen Söhnen nicht in dieser schlichten Lehre aufgeht.70 Am eindeutigsten vielleicht stehen Theodorus und Andolosia für sie ein, besitzen sie doch Reichtum ohne Weisheit und gehen zugrunde. Kaum aber gilt sie für Fortunatus selbst, der nicht nur als Alternative zu Vater und Sohn, sondern auch zu dem im Epilog aufgeführten Salomon bezeichnet werden kann.71 Hatte dieser Weisheit gewählt und als Konsequenz auch Reichtum geerntet, so wählt Fortunatus Reichtum und erlangt im klugen Umgang mit ihm Weisheit: Aus Erfahrung wird Fortunatus klug, so dass die Alternative von falscher und rechter Wahl eine zusätzliche Option erhält.72 Die ehemals feste Opposition von Weisheit und Reichtum gerät ebenso in Bewegung wie die Möglichkeiten ihrer Exemplifizierung an ihre Grenzen geraten. Neben deutlich exemplarische Handlungen treten solche, deren explizite Moralisierung schon nicht mehr die Komplexität des Geschehens trifft. Die einzelnen Handlungstypen erhalten über das Kalkül Spielräume der Reaktion. Die Erosion des Moral- und Sozialsystems spiegelt sich im Aufbrechen der exemplarischen Erzählform selbst, durch das zugleich eine traditionelle mittelalterliche Denkform in Frage gestellt wird. Ein derartiger Befund, der sich bereits an der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Novellistik beobachten ließ, bestätigt sich auch in den Exempelreihen des Fortunatus. Die pragmatische Sprachhandlung des Exempels wird über ihre narrative Inszenierung problematisiert und damit reflektierbar.73 Impliziert die Sprachhandlung des Exempels den Appell zur Nachahmung oder Unterlassung, so der Kasus die Aufforderung zur Bewertung des Falls.74 Der Fortunatus erzählt nicht mehr exemplarisch vom Erwerb einer Herrschaft, nicht von idealen Erziehungsprogrammen, auch nicht von unauflösbaren Liebesoder Freundschaftsbindungen oder von Opferbereitschaft im Dienst der Gemeinschaft. Pragmatisch tritt an die Stelle der imitatio die Reflexion der angebotenen Maximen. Die ethische Maxime von Weisheit statt Reichtum dient nur noch als Hintergrund für eine Zeit, die deren Umkehrung schon selbstverständlich praktiziert. Nur ein Märchenheld, ein Fortunatus, kann schadlos durch eine solche Welt wandern. Der Fortunatus betreibt die Verabschiedung des Märchens mit den Mitteln des Märchens. Wie der Abenteuerwelt die »Sinnerfüllung im Zufall« verloren geht, so wird die Finalität des Geschehens durch komplexe, aber berechenbare Kausalitäten, durch Strategien, abgelöst. 69 70 71 72 73 74
Vgl. Kartschoke 1975. Geulen 1975, S. 23; Müller 1985, S. 76f. Huschenbett 2004. Vgl. Kartschoke 1975, S. 221f.; Haug 1987, S. 23; Huschenbett 2004, S. 226–233. Stierle 1973, S. 362f. Vgl. Neuschäfer 1969. Stierle 1973, S. 363.
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Die ethische Maxime von Weisheit statt Reichtum, die für den hermeneutischen Gehalt einsteht, wird denn auch, wie Kremer und Wegmann herausgearbeitet haben, durch eine mächtige soziale Relation ersetzt, die auf die Korrespondenz von Ehre und Geld zielt, eine Konstellation, die geradezu symptomatisch für den Epochenwechsel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit steht.75 Sie zeigt die Auswirkungen der neuen prosperierenden Geldwirtschaft auf die Strukturen und Verhaltensformen einer feudalständischen Gesellschaft, von Mechanismen des Tauschs und der Kalkulation, die alle Lebensbereiche zu durchdringen scheinen. Die Serie von Lebensläufen, die der Fortunatus einspielt, wird weniger über den Protagonisten als über das Funktionselement des Geldes zusammengehalten. Das Geld und seine Auswirkungen auf die Menschen werden dabei unmittelbar auf die Idee der Fortuna bezogen. Fortuna wird geradezu durch das Geld substituiert, sie kann daher problemlos aus der Erzählung verschwinden, weil das Geld auf analoge Art die Gedanken und Handlungen der Menschen bestimmt.76 Nicht das Glück als unkalkulierbare Macht spielt mit den Menschen, sondern das Geld. Gerade die Koppelung der Personifikationen von Märchenfee und Schicksalsgöttin macht die Ambivalenz des Geldes zwischen Glück und Fluch durchsichtig: Beide gewähren Glück traditionell unter Vorbehalt. Die Allegorie wird in das generalisierte Kommunikationsmedium Geld transformiert, das die Menschen selbst in die Verantwortung setzt. Indem Fortuna durch das Geld ersetzt wird, wird sie sowohl entmythisiert und säkularisiert als auch materialisiert. Es sind fürderhin die Menschen selbst, die Glückswechsel bewirken. Fortuna als Schicksal erweist sich als beobachtbarer Effekt sozialer Rivalität und ihrer perfiden Strategien, so dass sich anders als in antiker und mittelalterlicher Tradition die Ursachen für ihr Wirken rekonstruieren lassen. Die Sinnstruktur der meisten Lebensläufe wird nicht durch eine anonyme Fortuna, sondern durch die gewandelte Struktur sozialer Interaktion und durch die Geldgier ihrer Teilnehmer determiniert. Das Wirken der Fortuna als letztlich christlich fundierte »Sinnerfüllung im Zufall« wird in komplexe Strategien der Menschen transformiert. Die Forschung hat wiederholt gezeigt, wie der beschriebene Rationalisierungsprozess auch an der Depotenzierung der traditionellen Schicksalsinstanzen vorgeführt wird.77 Eine Hierarchie ist hier nicht mehr auszumachen: Gott, die Sterne und das Glück sind in ihrem Verhältnis zueinander nicht mehr eindeutig bestimmbar.78 Zwar wird Gott von Seiten der Figuren 75 76
77 78
Kremer/Wegmann 1985. Vgl. dazu auch die Beiträge in Grubmüller/Stock 2005. Die Konkurrenz der Werte, die mit der Wahl notwendig entsteht, ist auch nur eine scheinbare, da das Geld in alle anderen Werte (mit Ausnahme der Weisheit?) konvertierbar ist. Fortunatus’ Wahl erweist sich als zeitgemäß. Müller 1995, S. 223–227. Ebd.
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immer wieder als maßgebliche Instanz angerufen, doch wirken real schon andere Kräfte.79 Einerseits wird das Glück providenziell kontrolliert, indem Gott und das Glück zusammengebunden werden, andererseits treten sie in Konkurrenz zueinander: Während Fortunatus in Konstantinopel die Tochter eines armen Mannes mit den Worten haiß sy kommen es ist ir gelück herbeirufen lässt,80 delegieren die Eltern das Glück an die Providenz: got hat den man von hymel gesant.81 Konkurrierende Instanzen treten neben die Providenz;82 Empirie tritt an die Stelle des Wunders.83 Die religiöse Motivierung des Geschehens, wie sie vor allem aus der Sicht der Figuren geboten wird, wird in ihrer Ambivalenz durchsichtig gemacht.84 Für die Frage nach der Episteme bedeutet dies, dass die religiöse Wissensordnung durch andere Ordnungen unterwandert wird: durch Ökonomie, durch Technik, durch Natur oder Erfahrung. Während aber die Figuren blind dafür sind, legt das Erzählverfahren die Ablösung offen. Der Fortunatus zeichnet sich überdies durch die Erosion der sozialen Systeme aus, die ihre naturale Grundlage zugunsten künstlicher Strategien einzubüßen beginnen. Das trifft noch nicht für den Bereich der Politik zu: Herrschaft gründet noch in der Natur des Menschen.85 Der englische König sieht seine Herrschaft noch selbstverständlich metaphysisch durch Gott und das Glück legitimiert,86 und auch der Waldgraf empört sich darüber, von jemandem finanziell überboten zu werden, der kein geborner edelman ist.87 Und doch ist die Bindung von Herrscher und Untertan schon von finanziellem Kalkül durchwirkt, wenn Dienstleitungen finanziell kalkuliert werden 79
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St. Patricius gelangt mit Gottes Hilfe wieder aus der Höhle (Fortunatus 1990, S. 444.18f.), und die Entfernung der Hörner von Agrippina wird von Nonnen als Wunder Gottes bestaunt (ebd., S. 561.20–29). Die Ironisierung der Klosterlegenden ist jedoch offensichtlich, denn die Patriciushöhle ist zu Fortunatus’ Zeiten anders als in ihrem Gründungsmythos längst ausgemessen (ebd., S. 446.30ff.), das heißt: Ihre mythische Qualität ist mittlerweile rationalisiert, und Agrippinas Hörner verschwinden aufgrund von Naturwirkung (ebd., S. 560.28ff und S. 561.16–20). Ebd., S. 455.16f. Ebd., S. 457.1f. Z. B. ebd., S. 447.10 f.: Mit der hylff gots vnd des alten mans / kamen sy wider zu den leüten […]; S. 459.24 f.: […] so wolten wir mit der hilff gots vnd mit parem gelt / vnser leben fristen. Müller 1984, S. 256f. Ebd. Die aristotelische Politik leitet den Staat aus der menschlichen Natur ab, indem sie einen Hylemorphismus unterstellt, nach dem die Geschichte der »alten, historisch oder geistlich legitimierten Staatsgebilde […] wie Wachstum aussieht« und diese »so etwas wie Natur angenommen« haben (Blumenberg 1968/69, S. 125). Ähnlich kann Erasmus Alberus noch 1534 die Fabel vom Magen und den Gliedern erzählen und in organologischer Tradition mit folgender Moral versehen: So wenig als wir koͤ nden sein / | on brot / on wasser / vnd on wein. | So wenig koͤ nden wir empern / | der Koͤ nig / Fürsten / vnd der Herrn (Alberus 1997, U 16, V. 87–90, S. 251). Fortunatus 1990, S. 550.17ff. Ebd., S. 434.8.
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und der Adelstitel käuflich erworben werden kann. Die natürliche Basis der sozialen Systeme beginnt sich aufzulösen. Vor allem die Ökonomie beruht nicht mehr nur auf naturaler Subsistenzwirtschaft, sondern zunehmend auf der Zirkulation von Gütern, auf finanziellem Mehrwert. Dass Macht und soziale Geltung von Besitz, von der Verfügung über Land und Leute abhängen, sieht Fortunatus früh ein,88 und selbst als er beides nach seiner Rückkehr in Famagusta käuflich erwirbt, äußert der Adel Zweifel an der Solidität seines Reichtums.89 Alle Vorbehalte aber werden mit Geld aus dem Weg geräumt. Als naturale Basis der Vergesellschaftung erodiert in besonderem Maß die Familie. Die Erzählung entfaltet sich zwar vor dem Hintergrund eines alten genealogischen Erzählschemas, die Genealogie spielt aber keine zentrale Rolle mehr.90 Unter den Bedingungen des Geldes – und der Kontingenz als Chance – kommt es auf einen generationenübergreifenden Zusammenhang nicht mehr an. Wie wenig der Status von Eltern noch gilt, wird schon am Anfang klar, als Fortunatus ohne Probleme und Abschied in die Welt zieht. Lüpoldus beruft sich zwar auf natürliche liebe, die ihn nach langer Wanderschaft wieder nach Hause zieht.91 Was ihn aber bewegt, diesen Plan zu verschieben, ist das Geld des Fortunatus, und ebenso nimmt seine Familie aufgrund der Geldgeschenke seinen erneuten Abschied bereitwillig hin. Wenn unter den Bedingungen der Geldwirtschaft jeder seinen ›Schnitt‹ machen kann, agieren nicht mehr natürlich fundierte Stände oder Familien, sondern Berufsgruppen, also ausdifferenzierte soziale Funktionseinheiten: Kaufleute, Juristen, Hofräte, Wirte, Zuhälter und Prostituierte, Kriminelle, nicht aber Söhne. Die Erosion familialer Beziehungen spiegelt sich in besonderer Weise im gestörten Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen: Theodorus und Fortunatus, Andrean und sein Vater und auch die portugiesischen Kaufmannssöhne in London – sie alle bestätigen die Störung des Generationenverhältnisses. Die Genealogie als natürliche Ordnungsform der Geschlechter ist nicht mehr auf Kontinuität angelegt, sondern auf Abbruch, weniger um das Walten der Fortuna als das des Geldes zu dokumentieren. Selbst die Gräfin lässt sich die emotionale Bindung an ihre Tochter abkaufen. Traditioneller Werthorizont und ökonomisches Kalkül der Figuren dissoziieren nicht nur, sie werden in ihrer Widersprüchlichkeit vorgeführt, kommentiert und dem Leser zur Bewertung anheim gestellt. Erzähltechnisch zeigt sich auch daran der Wandel traditioneller Erzählformen: Indem 88 89 90
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Ebd., S. 437.1–6. Ebd., S. 467.7–15. Vgl. Müller 1995, S. 220 und 230; Kellner 2005, S. 320ff. Genauso wenig kommt es auf Nachkommen an: Fortunatus zeugt Kinder weniger um der Genealogie willen als um die Kraft des Glückssäckels zu verstetigen. Fortunatus 1990, S. 440.18.
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der Text nicht nur die Umbesetzung der Wertesysteme vor Augen führt und sie mit kritischen Kommentaren begleitet, sondern die Figuren in der Spannung alter und neuer Wertesysteme vorführt, verschiebt sich die Darstellungsform vom Exempel hin zum Kasus.
5.1 Inklusion: Philosophia moralis Wie aber reagiert die Erzählform, die per se auf Sinnhaftigkeit ausgerichtet ist, auf den permanenten Einbruch von Kontingenz? Welche Orientierungen stehen überhaupt noch zur Verfügung? Will man zeitgenössische Wissensformationen benennen, die das Leben des Fortunatus in wesentlichen Zügen steuern, so sind es zum einen die klassischen Felder der Moralphilosophie, zum andern die Erfahrung – mit anderen Worten: das Diskurswissen der Zeit und die unmittelbare Konfrontation mit der Realität. Das Verhalten des Fortunatus verortet sich im weiteren Horizont von Ethik, Ökonomik und Politik. Die Philosophia moralis zielt traditionell auf die Fähigkeit, sich selbst und sein Haus (familia) zu regieren und zur Gesellschaft in ein spannungsfreies Verhältnis zu treten. Am Ende seines Lebens reüssiert Fortunatus auf allen Feldern der Moralphilosophie. Er hält nach ersten negativen Erfahrungen seine eigenen Bedürfnisse im Maß und lässt sie nicht über die gesellschaftlich akzeptierten Grenzen hinauswachsen. Das könnte man als die implizit stabilisierende und regulierende Diskurswirkung innerhalb der Erzählung bezeichnen, die einer Wucherung der Wünsche (wie bei Faustus) angesichts der doch unbegrenzten Möglichkeiten vorbeugt. Es ist erstaunlich, dass Fortunatus angesichts seines Reichtums kaum Wünsche entwickelt, schon gar keine riskanten.92 Nach den abschreckenden Erfahrungen in London und beim Waldgrafen bewegt er sich ganz in den Bahnen der vorgegebenen Handlungsmuster und Werte seiner Zeit: Er lernt sich zu disziplinieren, er gründet eine Familie, wird zum verantwortungsvollen Hausvater und erwirbt in seiner Heimatstadt Ansehen durch Feste, karitative und mäzenatische Aktionen. Die Lehren, die Fortunatus aus seinen Abenteuern zieht, münden in eine vorbildliche soziale Integration. Voraussetzung für all das ist – das sollte nicht vergessen werden – das nicht verdiente, sondern geschenkte Geld oder Glück. Was die Erzählung Schritt für Schritt unterminiert, die stabilisierende Funktion von sozialen Systemen – Religion, Politik, Recht, Moral, Familie –, das wird in Fortunatus’ Hausgründung restituiert.
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Darin unterscheidet er sich von seinem Sohn Andolosia.
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5.2 Exklusion: Erfahrung und Reisen Gegen die normativen Instanzen der Moralphilosophie tritt zunehmend der Anspruch der Erfahrung. Der Stellenwert der Erfahrung schlägt sich zunächst in einer konventionellen Instanz sozialer Orientierung nieder: im Rat. Rat einholen ist topische Forderung der Tugendlehre und der politischen Theorie.93 In traditionalen Gesellschaften gewährleistet die Instanz des Rates überdies die Kontinuität von Wissen und Werten im Verhältnis der Generationen. So ist es Aufgabe der Jüngeren, noch zuͦ uolgen der alten weysen raͤ th / die jr langwirig alter weiser vnd erfarner gemacht hett.94 Bis in die Psyche des Subjekts hinein wird Rat zum Paradigma der Orientierung: Also ist dʒ reych der selen besetzt / so die edel vernunfft recht vnnd nach wyßheit ratet. So der will gebeütet / dʒ ist nach rat der vernunfft.95 Der Staat, die familia und das Subjekt selbst sind also auf eine Instanz der Erfahrung angewiesen, die jenseits abstrakter Norm sich etabliert. Das Einholen des Rates insbesondere von erfahrenen Personen wird denn auch für Fortunatus zum sicheren Halt in den stürmischen Gewässern der Fortuna: So kauft er sich den Erfahrungsschatz des Lüpoldus, der ihm zum Führer und Ratgeber auf seinen Reisen wird. Seine Erfahrungen verdankt er hier Lüpoldus hilff vnd radt / der die land vor alle durchfaren was.96 Dass Fortunatus überhaupt auf fremden Rat setzt, das rettet ihn zum Beispiel auch aus der Lebensgefahr in Konstantinopel: Nach dem Tod des diebischen Wirts entwirft Fortunatus imaginär alternative Szenarien, ehe er sich resigniert an Lüpoldus wendet: wißte er ettwas guͦ ts zuradten das er das thaͤ te.97 Und auch den Modus seiner Heirat überlässt er seinem Herrn, dem König von Zypern: Fortunate du bist mein hindersaͤ ß vnd vermain / was ich dir radt.98 Die Integration in die Gesellschaft mittels Ehe vollzieht sich unter Anleitung der Herrschaft. Und noch anläßlich der Brautwerbung, bei der Entscheidung über die drei Kandidatinnen, zieht er erneut den Rat des Lüpoldus heran.99 Erfahrung und Rat erweisen sich als die bewährten 93
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Vgl. z. B. Vier Angel tugent 1515, Bl. A iijr: Salomon: Harumb so von den raͤ ten recht geraten würt / vnnd von dem der do gebietten sol / recht gebotten würt / vnd die do da vnderthaͤ nig sollen sein gehorsam seind / dann heißt das reych wyßlich vnd wol geordnet. Ebd., Bl. A ijjr: Also ist dʒ rych der selen besetzt / so die edel vernunfft recht vnnd nach wyßheit ratet. So der will gebeütet / dʒ ist nach rat der vernunfft. Vnd do die sinnlichen lyplichen kreffte vnderthaͤ nig seind / das würckend die tugent in dem rych der selen. Herodotus 1535, Bl. ijr. Vgl. Vier Angel tugent 1515, Bl. A viijr: Wer do verschmahet den rat seines naͤ chsten / der kommet selten zuͦ eren / wann es vallen vil sachen dem menschen zuͦ / das er notturfftig ist des rats. Ebd., Bl. A iijr. Fortunatus 1990, S. 464.2f. Ebd., S. 460.26f. Ebd., S. 469.1f. Ebd., S. 473.6f.
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Mittel, den Eventualitäten der Kontingenz vorzubeugen. Dass auch diese Instanz der gemeinschaftlich kontrollierten Lebensplanung ihre Grenzen besitzt, zeigt ironisch die eingeschobene Erzählung von den wieder gefundenen Kleinodien: Die Erzählung endet zwar mit der topischen Formel darumb so ist es guͦ t wer weiser leüt radt volget,100 doch der Rat der Gevatterin über die Bewältigung der Trauer und der Rat des Freundes über den Umgang mit den aufgetauchten Kleinodien geht in dieser klassischen Wahrheit nicht mehr vollständig auf. Zumindest könnte dies einen Leser irritieren, und er mag sich aufgefordert sehen, beide Ratsszenen auf die Logik der Moral hin zu befragen und damit das Exempel zum Kasus zu machen.101 Andolosia wird später scheitern, weil er sich vom Rat des Vaters, des Bruders, des spanischen Königs und von der Instanz des Rates überhaupt verabschiedet. Rat als exemplarische Erfahrung artikuliert auch auf übergeordneter Ebene der Erzähler selbst, wenn er bei gegebenem Anlass das Geschehen auf einzelne soziale Gruppen hin ausmünzt: auf Söhne, die ihre Väter ruinieren,102 auf verschwenderische Bürger, die sich durch Festivitäten finanziell übernehmen,103 auf Gäste, die ihre Rechnung nicht bezahlen,104 auf Adelige, die ihre Untertanen auspressen,105 oder auf Juristen, die aus Streitigkeiten Nutzen ziehen.106 Der jeweilige Einzelfall wird ganz nebenbei zum Exempel einer übergeordneten Wahrheit: Als noch maniger sun tuͦ t […];107 als man ir noch vil findet […].108 Solche Erfahrungen demonstrieren in ihrer Summe zum einen die Wirkung des Geldes als eine Macht, die herkömmliche Verhältnisse auf den Kopf stellt: Vasallität, Generationenverhältnis, Dienstverhältnis, Ehe, Freundschaft und Liebschaften – sie alle unterliegen der Infiltration des Geldes und finden dort als Wert ihre Grenze; alles ist in Geld konvertierbar. Als Wissensform aber stellen die Erfahrungen zum andern der ethischen Norm – wie beispielsweise der Dankbarkeit gegenüber den Eltern – einen induktiven Befund gegenüber. Indem der Erzähler den Rezipienten auf einen gemeinsamen Erfahrungshorizont verweist, bindet er das fiktive Geschehen an den Status von historia, an Eigenerfahrung an. Nicht als Fabel kommt hier die moralische Wahrheit daher, sondern als Erfahrungsbefund. Die Pragmatik solch exemplarischer Verweise rekurriert auf Erfahrung, zielt auf Rat und setzt auf den Wiedererkennungseffekt, auf Geschichte als Wiederholung.109 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109
Ebd., S. 426. Vgl. Mühlherr 1993, S. 115; Müller 1995, S. 221f.; Hasebrink 2004. Fortunatus 1990, S. 409.16–19. Ebd., S. 437.17–21. Ebd., S. 438.5ff. Ebd., S. 436.21f. Ebd., S. 513.25ff. Ebd., S. 409.17f. Ebd., S. 436.21. Vgl. Stierle 1973, S. 357f.
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Dem Verweis auf die Eigenerfahrung korrespondiert, dass der Erzähler das Erzählgeschehen immer wieder mit Hilfe von Sprichwörtern veranschaulicht, die ebenfalls weitgehend auf das Thema Geld fokussiert sind: Wer das Geld verliert, verliert den Verstand;110 wem ward der hett;111 wenn es an das Geld geht, ist die Freundschaft aus;112 wer bringt, wird eingelassen; wer haben will, muss warten.113 Auch solche Sprichworte kondensieren Erfahrungswissen, fassen es in eine prägnante, memorierfähige Formel. Sprichwörter realisieren anders als Normen keine absolute Wahrheit, keine Allgemeingültigkeit, sondern Allgemeinheit, das heißt: situationsspezifische Erfahrungsgehalte. Deshalb kann es Sprichworte mit entgegengesetzten Lehren geben, ohne dass diese ihre – relative – Gültigkeit verlieren.114 Sie basieren auf einem wahr/scheinlichen rhetorischen Syllogismus (Enthymem), nicht auf einem logischen.115 Im Rahmen des Weisheitsdiskurses aber bilden sie ein eigenes Stratum an Orientierungswissen, das sich als nicht offizielles empirisches Wissen formiert. Ihr Wissen über die Mechanismen des Glücks ist nicht weniger treffend als das der gelehrten Traktate, und die aufkommenden Sprichwortsammlungen zeugen von ihrer Popularität.116 Die Ausmünzung des Geschehens auf Sprichworte hin lässt sich als Rat begreifen, durch den der Erzähler den Leser lenkt. Je weniger die Gesamterzählung von Fortunatus und seinen Söhnen noch durch eine übergeordnete Moral orientiert wird, desto mehr nisten sich Rat und Lehre als okkasionelle Erfahrungswahrheiten in die Erzählung ein. Es ist aber primär der Erzähler, der gegenüber seinen Figuren die Handlungen als typische offenlegt. Ein zentrales Moment, durch das sich Fortunatus signifikant von seiner Umgebung unterscheidet, bilden seine Reisen. Erfahrung wird hier generell zum Parameter erhoben. Bis in die Binnenstruktur der Erzählung hinein tritt die Erfahrung an die Stelle von Metaphysik und moralischer Norm. Eine neue induktive Wissensform, die sich gegen die abstrakte Norm – Weisheit statt Reichtum – Geltung verschafft, beginnt sich zu etablieren. Wiederholt rekurriert Fortunatus auf Erfahrungswissen: Er wägt seine Schicksalsschläge – Flandern, London – gegeneinander ab,117 aus der Waldgrafenepisode zieht er einen Schluss für zukünftiges Verhalten: jm lag an wie ym der waldgraff gethon […] het,118 und auch seine Bautätigkeit stützt sich auf 110 111 112 113
114 115 116 117 118
Fortunatus 1990, S. 453.24 und 530.14f. Ebd., S. 422.12. Ebd., S. 417.12ff. Ebd., S. 486.7ff. Vgl. auch: sy wolten den fuchß nit beyssen (S. 498.3); Als man gemainklich spricht. Gleich vnd gleich gesellet sich gern […] (S. 568.21f.); todter man macht kainen krieg (S. 576.19f.). Hahn 1991, S. 49. Barthes 1988, S. 60–66. Vgl. z. B. Franck 1993. Fortunatus 1990, S. 421.23–26 und S. 459.18–21. Ebd., S. 437.8ff.
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Erfahrung: Wann er gar vil kostlicher gepew gesehen het.119 Fast im aristotelischen Sinn bildet sich so über Erinnerung die Erfahrung aus.120 Im unmittelbaren Sinn tritt Erfahrung in Fortunatus’ Reisen zutage: Er kommt mit seinem Gefolge überein, wie sy die laͤ nder vnd küngreich durchfaren vnd wolten das roͤ misch reich tzu dem ersten besehen.121 Die Länder zu erfahren aber nimmt Zeit in Anspruch, so dass sie für eine Wegstrecke von acht Tagen ein Vierteljahr benötigen: da mügend ir wol mercken das es lange weil brauchte / der all stoͤ tt durchsuͦ chen woͤ lt / doch die namhafftigsten vnd wo bistumb warend da korten sy zu / vnd besahen alle ding / das schrib fortunatus alles gar eben an.122
Nach seiner Familiengründung langweilt er sich mit der Zeit und bittet seine Frau um eine ›Weltreise‹: ich hab das halb tayl der welt gesehen. so will ich das ander tayl auch besehen Vnnd soltte ich mein leben darumb verlieren.123 Gegenüber den symbolischen Raumtopiken des Aventiureromans öffnet sich im Fortunatus ein geometrischer Raum mit realen Orten und Entfernungsangaben.124 Dieser Raum wird weniger Gegenstand der Bewährung als der Erfahrung, er wird ausgeschritten und vermessen, und der Ertrag wird schriftlich fixiert. Und doch besitzen Neugierde und Erfahrung eines Fortunatus ihre epochenspezifische Signatur. In Fortunatus reist zwar nicht mehr das mittelalterliche Subjekt der curiositas, das der concupiscentia oculorum verfällt,125 aber auch noch nicht das Renaissancesubjekt, in dessen gesteigerter Aufmerksamkeit sich die neuen Erfahrungsmöglichkeiten spiegeln.126 Fortunatus’ Erfahrung steht in seiner mechanischen Form der Registrierung eher den humanistischen Apodemiken nahe, die nach der Mitte des 16. Jahrhunderts aufkommen und den Erfahrungsraum und seine Sehenswürdigkeiten topisch verzetteln.127 Mehr noch aber speist sich sein Verfahren aus den Itineraren von Kaufleuten und Pilgern, die eher kartographischen Verzeichnissen ähneln und eine pragmatische Orientierung im Raum geben wollen.128 Nicht die Figur ist Bezugspunkt der Erfahrung, sondern der Leser. Der Fortunatus partizipiert mit seinem geographi119 120
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Ebd., S. 465.22. Aristoteles 1984, 980b, S. 17: »Es entsteht aber den Menschen aus der Erinnerung die Erfahrung; denn viele Erinnerungen an ein und denselben Sachverhalt bewirken das Vermögen einer Erfahrung.« Fortunatus 1990, S. 441.22f. Ebd., S. 441.27–442.1. Ebd., S. 482.28ff. Vgl. Müller 1984, S. 254 und 256; Kiening 2007, S. 221f.; vgl. Krüger 2002. Zum Verbot der curiositas vgl. Kästner 1990, S. 93–107. Auch liegen zur Entstehungszeit des Fortunatus, also vor 1509, offenbar noch kaum gedruckte Nachrichten aus der Neuen Welt vor, wie sie dann seit den 30er Jahren in volkssprachigen Sammeldrucken auf den Markt drängen. Vgl. Stagl 1989, S. 140–177. Vgl. Wis 1962.
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schen Grundriss der Welt am Diskurs der aufkommenden Reiseliteratur und mit seinen Registrierungsformen – Erfahrung, Vermessung, Verschriftung – an den sich wandelnden Wahrnehmungsformen seiner Zeit. Dass Reisen auch bildet – nämlich einen Reflex auf die Erfahrung des Subjekts selbst zeitigt –, deutet der Text erzählerisch immerhin rudimentär an: Auf die Zweifel des zyprischen Adels an der Solidität von Fortunatus’ Bonität äußert der König sich folgendermaßen: so hoͤ r ich souil von jm sagen wie er souil land vnd künigreich durchfaren hat. halt yn darfür / wißte er nit sein sachen tzu ainem guͦ tten end zubringen Er hette nit so ainen kostlichen palast gebawen […].129
Der Weitgereiste als Prototyp der Erfahrung, der auch seinen Ort im Rat der Herrschenden besitzt, ist eine Figur, auf die sich Sebastian Münster in seiner Cosmographia (1544) berufen wird.130 Erfahrung impliziert schließlich eine anthropologische Dimension. Thüring von Ringoltingen hatte ein Exempel in seine Melusinenbearbeitung inseriert, mit dem er den Umschlag des Glücks als providenziellen und vorhersehbaren Akt ausweisen wollte: Der Kirchenvater Augustinus flieht in dem Augenblick aus einem Wirtshaus, als der Wirt sich und sein Haus glücklich preist.131 Allein das schon gilt ihm als Zeichen der Verdammnis, die auch kurz darauf das glückliche Haus trifft. Im Fortunatus dagegen setzt die negative Macht der Fortuna nicht erst mit dem Schicksal der Söhne ein. Sie ist den vielen kleinen Episoden mit ihren kontingenten Umschlägen eingeschrieben, ohne indes finale Auswirkungen zu zeitigen. Jede einzelne Krise motiviert erneut die Sinnfrage und hält sie weiter in der Schwebe. Sinn wird zum Problem, vor allem im Angesicht der Gefahr. Erst am Ende seines Lebens kommt es für Fortunatus zu einem finalen Umschlag. Dabei wird, anders als in der Melusine, nicht auf die mittelalterliche Fortuna, auch nicht auf die Fortuna velox, sondern auf eine avancierte frühneuzeitliche Vorstellung zurückgegriffen: In Fortunatus’ Leben tritt der Umschlag ins Unglück nicht an der Stelle höchsten sozialen Glücks ein, sondern eher natürlich am Ende des Lebens.132 Der Umschlag wird langsam vorbereitet: Erst Lüpoldus, dann Cassandra und schließlich Fortunatus selbst erkranken unvermittelt, und die Krankheiten lassen sich trotz allen finanziellen Aufwands nicht kurieren. An die Stelle der Moral tritt hier mit dem Tod die elementarste Erfahrung von Kontingenz, an der die Macht des Geldes ihre letzte Grenze findet.133 Fortu129 130 131 132 133
Fortunatus 1990, S. 467.18–21. Münster 1628, Vorrede, Bl. ):( iijv (vgl. in der Ausgabe 1544: Bl. a iijr). Thüring 1990, S. 95.17–22. Vgl. Kästner 1990, S. 107–114. Schon Petrarca hatte sein Buch von der Artzney bayder Glück (Erstdruck der deutschen Übersetzung 1532) mit einem Kapitel über die Endlichkeit des Menschen eingeleitet.
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natus klagt hier auch nicht Gott oder das Glück an, seine Apostrophen wenden sich vielmehr ganz existentiell an sich selbst und an den Tod: Oh fortunate […]. Oh du grymer tod […].134 Fortunatus reflektiert auf den Stellenwert von Zeit: vnnd lag allso zu betrachten die gewißhait des tods / vnd die vngewißhayt sines kommens.135 Das ist wohl noch keine intensive Reflexion über die Endlichkeit des Menschen, wie sie etwa bereits im Ackermann aus Böhmen vorliegt, schon gar kein modernes Bewusstsein von Zeitlichkeit, eher die Einspielung der christlichen Memento mori-Tradition:136 Der Wert alles Irdischen relativiert sich im Angesicht des Todes. Und doch wird das Leben des Protagonisten bis an das Ende verfolgt, stellt sich an diesem Ende stärker denn je die Sinnfrage. Der Tod ist hier keine abstrakte Größe, über die wie in den Memento mori-Traktaten reflektiert wird, er wird gerade in seiner Wiederholung – Lüpoldus, Cassandra, Fortunatus – als eine konkrete Erfahrung inszeniert. Fortuna wirkt hier weniger als Providenz denn als natürliche Kontingenz – Krankheit – in das Leben ein und setzt Erfahrung von Zeitlichkeit frei, die in säkularisierter Form dann zu den Konstitutionsbedingungen des modernen Romans werden wird.137 Kontingenzerfahrung ist hier am Ende des Lebens kein Effekt des Geldes mehr, sie erhält eine anthropologische Grundierung.
6. Weltbild – Struktur – Strategie Der Fortunatus löst hermeneutisch die Verbindung von kulturellem Sinnhorizont und Erzählzusammenhang, von Mythos und mythischem Analogon von beiden Seiten her auf. Weder dem Weltbild noch der Erzählform liegt eine homogene Absicht, ein gerichteter Sinn zugrunde. Christliche Providenz wird symbolisch durch Fortuna, real aber durch das Geld ersetzt, so dass Gemeinschaftssinn zwischen traditionellen Wertordnungen und Tauschwert changiert. Wie die soziale Ordnung nicht mehr fest metaphysisch oder moralisch fundiert ist, so gehen auch der Erzählzusammenhang insgesamt und die einzelnen Binnenerzählungen nicht mehr im Exemplarischen auf. Zwar beschwören die Figuren in Notlagen immer wieder hilflos die traditionellen Instanzen (Gott) und Werte (Weisheit), der Erzähler selbst aber lässt durch Kommentare und Sprichworte ihren Geltungsverlust aufscheinen. Der Text erhält seinen Sinn nicht mehr über eine ihn steuernde Idee. Gerade das macht den Realismus des Fortunatus aus und rückt ihn in 134 135 136 137
Fortunatus 1990, S. 504.27f. und S. 504.33. Ebd., S. 505. Vgl. Kartschoke 1975. Vgl. Lukács 2000 und Benjamin 1980.
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die Nähe moderner Texte. Nur dort, wo sich der Einzelne der Vergesellschaftung entzieht, im Eremitentum, ist noch Raum für christliche Predigt, schon nicht einmal mehr im Kloster. Der Gemeinschaftssinn erodiert selbst innerhalb der Sozialstruktur mit ihren Interaktionsregeln. Die einzelnen Figuren mit ihren Lebensläufen werden in den Horizont von Ständen, Berufsgruppen und Familien gestellt: Schnittstellen und Reibungsflächen zwischen Bürgertum und Adel, Ausdifferenzierung und Konkurrenz von Berufsgruppen, Erosion traditioneller Familienstrukturen. Unterhalb der alten Sinnstrukturen mit ihrem transzendenten oder natürlichen Fundament – Herrschaft, Gemeinschaft (Kloster), Freundschaft, Familie – wird die harte Funktionalität sozialer Systeme sichtbar: Politik, Recht, vor allem aber Ökonomie, die zum neuen Leitsystem geworden zu sein scheint und die Menschen zu ihren Funktionselementen macht. Während die noch geltende ständische Differenzierung die Menschen unterscheidet, befördert der Faktor Geld ihre Gleichheit und Interaktion. Dadurch kollidieren aber alte und neue Ökonomie, altes und neues, ökonomisch funktionalisiertes Recht, alte Stände und neue Berufsgruppen. Die Figuren handeln hier nicht als eigenständige Subjekte, sondern als Funktionselemente, sie können aber schon in verschiedenen symbolischen Ordnungen agieren wie Fortunatus, der erfolgreich das feudale wie das bürgerliche Register beherrscht, oder wie Andolosia, der mehrfach seine Rollen wechselt. Das neue Kommunikationsmedium ermöglicht märchenhafte Aufstiege, aber auch dramatische Abstürze. Geld als Katalysator sozialer Interaktion etabliert eine Fortuna-Struktur, die sich auch in der Erzählstruktur abbildet: ein kontingentes Auf und Ab innerhalb einer Biographie und Genealogie, die serielle Anordnung von riskanten und fragmentarischen Lebensläufen, die Biographie als Spielball sozialer Konkurrenz und ihrer Strategien. Erzählt wird aber nicht, um, wie beispielsweise bei Sebastian Franck, die Sinnlosigkeit des Weltlaufs zu demonstrieren oder sich – wie der Eremit oder Ampedo – in die Isolation zurückzuziehen. Der Schwund stabiler Sinnhorizonte und die Auflösung traditionaler Sozialstrukturen wird durch pragmatische Strategien aufgefangen. Das illustriert nicht nur Fortunatus durch sein Handeln, das macht vor allem der Erzähler deutlich, der die Ereignisse immer wieder auf Erfahrungsbefunde rückbezieht und soziale Risikofelder absteckt: erpresserische Adelige, verschwenderische Bürger, gierige Juristen, Gauner, selbst unzuverlässige Kinder und dubiose Freunde. Der Text führt auf verschiedenen Ebenen Strategien der Orientierung in einer von Kontingenz bedrohten Welt vor: naive (Ampedo), verschlagene (Ruppert, Andrean), raffinierte (Andolosia) und kluge (Fortunatus). Erfolgreich sein können die Figuren nur noch über Strategie, so dass Verstellung im negativen wie im positiven Sinn zum elementaren Instrument sozialer Interaktion wird: um zu betrügen, um Erfolg zu haben und um zu überle-
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ben.138 Die Mittel der Orientierung zielen aber nicht mehr auf die Anwendung abstrakter Maximen, sondern auf situationsgerechtes Verhalten. Gerade weil der Text sich nicht ernsthaft als Lehre anbietet, bezieht er eine andere Position als der offizielle Weisheitsdiskurs, in dem Weisheit gegen alle anderen Werte profiliert wird: etwa gegen Reichtum und Neugierde. Fortunatus richtet sich nicht an den Lehren der Theologie oder der Philosophie aus, sondern an der Erfahrung: traditionell am Rat, aber auch schon an der Erinnerung. Fortunatus erfährt das Gefühl, kein Geld zu haben, so intensiv, dass er sich mit Hilfe des Glückssäckels eine gesicherte, risikoarme, aber zeitgemäße Existenz aufbaut. Die daraus resultierende Langeweile kompensiert er durch eine aktuelle Form der Erfahrungsbildung: durch Reisen. Durch Erfahrung wird Fortunatus weise in einem pragmatischen Sinn. Er agiert sowohl im Horizont traditioneller symbolischer Ordnungen wie Moralphilosophie (Ethik, Ökonomik, Politik) und Ständeordnung (Turnier, Dienst, Repräsentation, Rat, Gabe und anderes) als auch neuer Ordnungen (Welterfahrung und Ökonomie). Der Weise, so lautet eine Standardlehre der Moralphilosophie, hört nicht nur auf den Rat seiner Vertrauten, er ist nicht nur bedächtig im Reden, sondern bedenkt auch sorgfältig zukünftige Handlungen: Du weyser solt auch vorbetrachten künfftige ynfelle die dir begegnen […]. Wann sollich fürsichtigkeit ist ein muͦ tter der rychtumb […]. Darumb wer nit künfftige sachenn betrachtet / der ist vnsicher vnd mag nit wol vermyden kümmernüß. Wann es ist ein selige weyßheit / die do ist ein sorgsam fürsichterin der zuͦ künfftigen zufaͤ lle.139
Erst in der Kombination traditioneller Weisheitslehren und neuer Erfahrungen stellt sich eine stabile Situation ein. So erweist sich Weisheit nicht als natürliche Qualität der Person, sondern als Resultat eines Erfahrungsprozesses, womit sich der Text einer Konfiguration von Weisheit nähert, die Carolus Bovillus 1510 in seinem Liber de sapiente entwirft.140 Die Kategorie der Weisheit verschmilzt mit der der Erfahrung und nimmt eine zeitliche Dimension in sich auf. So lehrt die Erzählung von Fortunatus auch, dass 138
139 140
Als Fortunatus dem Waldgrafen entkommen ist, geht er für zwei Tage betteln, um keinen Verdacht mehr mit seinem Geld zu erwecken (Fortunatus 1990, S. 436.24– 27); als Lüpoldus den Wirt in Konstantinopel getötet hat, reflektiert Fortunatus alternative Handlungsmöglichkeiten (ebd., S. 460.1–18), und es ist die Kaltblütigkeit des Lüpoldus, die ihn rettet. Kalkulation und Verstellung sind zu notwendigen Handlungsformen geworden, wo Geld das zentrale Ziel des Handelns wird und jeder auf seine finanziellen Ressourcen abgeschätzt wird. Ständig werden Geschichten fingiert, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Kontingenz wird also auch narrativ im Durchspielen alternativer Handlungsmöglichkeiten rational bewältigt. Vier Angel tugent 1515, Bl. A viiijrf. Vgl. Cassirer 2002 (Individuum), S. 105: »Denn Freiheit bedeutet für ihn [= Bovillus] nichts anderes, als daß der Mensch sein Sein nicht, gleich dem der übrigen Wesen, fertig von der Natur erhält und es gleichsam von ihr dauernd zu Lehen trägt, sondern daß er es sich erwerben, daß er es durch virtus und ars gestalten muß.«
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man unter realen Bedingungen Weisheit nicht wählen, sondern nur in einem langen Prozess erwerben kann.
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Genealogie und sozialer Aufstieg in Georg Wickrams Goldtfaden 1. Jenseits von biologischen Überlegungen stellen Verwandtschaftsbeziehungen seit jeher wirkungsmächtige kulturelle Imaginationen dar, die nicht nur der Stabilisierung archaischer Gemeinschaften dienen,1 sondern auch in Gesellschaftsformen wie den vormodernen Kulturen des europäischen Mittelalters und der Frühen Neuzeit als Form der Vergemeinschaftung Stabilität und Kontinuität sozialer Strukturen suggerieren sollen.2 Die je spezifischen Regeln von Konsanguinität und Allianz, auf deren Grundlage gerade auch im Mittelalter weit in die Vergangenheit reichende Genealogien entworfen werden, segmentieren dabei nicht nur die Gesellschaft, sondern bieten außerdem eine Möglichkeit, Macht- und Herrschaftsansprüche über den Zusammenschluss von leiblichen Nachkommen und Nachfolgern im Amt innerhalb der Familie weiterzureichen und damit den Erhalt von Herrschaft zu garantieren. Durch eben jene Ausrichtung auf Verstetigung erfüllen Genealogien spezifische Funktionen des Institutionellen.3 Dies lässt sich insbesondere dort zeigen, wo über eine Kette von Ahnen die Dauer eines Geschlechts behauptet wird: Solche Verkettungen von Vorfahren und Nachfahren zeichnen sich vor allem durch die Behauptung einer Bruchlosigkeit der Abstammungslinie und die Legitimation des familialen Machtanspruchs über die Inszenierung eines mythischen Ursprungs aus. Dazu kommt die Vorstellung, das durch den mythischen Ursprung an die Transzendenz gebundene Heil werde in den Blutslinien der Geschlechter lückenlos von Generation zu Generation weitergegeben.4 Indem derart die Exklusivität des eigenen Blutes behauptet wird, kann der Nachkomme mit dem Vorfahren identifiziert und vor anderen herausgehoben werden.5 Auf diese Weise vermag das Genealogische im Mittelalter wie in der Frühen Neuzeit eine zentrale Rolle in den verschiedenen Ordnungen des 1 2 3
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Vgl. Lévi-Strauss 1993. Vgl. dazu Kellner 2004 (Ursprung), S. 15–127. Die Deutung von Genealogien als institutionellen Gefügen orientiert sich an den im Dresdner SFB 537 entwickelten Verfahren zur Analyse der Geschichtlichkeit des Institutionellen. Grundlegend dazu: Melville 2001; vgl. auch Rehberg 1990 und 1994. Zur Institutionalität von Genealogien vgl. insbesondere Melville 1987, vor allem S. 220f. und 249ff. Vgl. ebd., S. 216f.; Kellner 2004 (Ursprung), S. 111f. Siehe hierzu bes. Kantorowicz 1994, S. 279–443.
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Wissens wie auch den Diskursen der Macht zu spielen. Es ist darüber hinaus aber gerade eine Eigenart des Genealogischen, dass es sich als epistemische Grundlage menschlichen Denkens, als »mental structure«6 anbietet, durch die bis ins 19. Jahrhundert Wissen und Macht transportiert werden konnte. Als genealogisch strukturiert erweisen sich nicht nur die vielen Darstellungen des ›Herkommens‹ von Königs- und Adelsgeschlechtern, oft sind auch Völker und Städte genealogisch von einem ›Spitzenahn‹ abgeleitet, und in ähnlicher Weise konnte die Geschichte der Orden trotz ihres dezidiert nicht verwandtschaftlichen Zusammenhangs in genealogischer Metaphorik beschrieben werden. Ganz basal wurde die Herkunft der Wissensformen selbst vielfach nach dem Muster genealogischer Verzweigungen autorisiert, und ebenso ließ sich der Zusammenhang der Einzelsprachen sowie der Wörter über die Etymologie nach dem genealogischen Modell beschreiben, um nur einige genealogisch strukturierte Felder zu nennen. Dies vermag auf der einen Seite zwar zu zeigen, inwieweit das Genealogische sich als außerordentlich flexibles und damit beständiges Ordnungsmuster bewährt – auf der anderen Seite stellt sich jedoch die Frage, ob und auf welche Weise es sich in Zeiten kultureller Umbrüche als formbar erweist. Eine solche Phase ist zweifellos die Frühe Neuzeit. Stellt man die Frage nach dem genealogischen Denken in dieser Epoche, so muss man allerdings nicht nur dessen gesellschaftliche Funktion, sondern auch seine symbolischen Ausprägungen in den Blick nehmen: Hierzu erscheint die Literatur als spezifische Diskursform7 besonders geeignet, da sie Prozesse des kulturellen Wandels auf ihre Weise reflektiert und inszeniert.8 Genealogische Denkmuster sind, wie angedeutet, als Form des Institutionellen in erster Linie darauf ausgerichtet, eine Verstetigungsleistung zu erbringen, in diesem Fall also die segmentär-familiale Ordnung der Gesellschaft auf Dauer zu stellen, und sie zielen vielfach darauf, über Exklusivitätsansprüche die Herrschaft von (adligen) Familien zu legitimieren. Ein solches Modell gesellschaftlicher Ordnung ist in sich stabil. Da über eine Verknüpfung von Vorfahr und Vorgänger im Amt nicht nur Herrschaftsund Machtansprüche von Generation zu Generation weitergereicht werden, sondern auch der jeweilige soziale Status des Einzelnen, seine ›Identität‹, in der vormodernen Gesellschaft durch seine Abstammung vorbestimmt ist,9 6 7
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Vgl. Bloch 1983 und 1986. Zur Literatur als ›Konter-Diskurs‹ vgl. Warning 1999 und ders. im vorliegenden Band, S. 21–39. Zu neueren Untersuchungen von Genealogie im Rahmen literaturwissenschaftlicher Forschungsansätze vgl. Kellner 2000, 2001, 2004 (Konstruktion) und 2004 (Schwanenkinder). Als grundlegend können gelten Peters 1994 und 1999 sowie jetzt auch Kellner 2004 (Ursprung) mit ausführlicher Diskussion älterer und verwandter Ansätze. Dies spitzt sich im Hinblick auf die Frage nach dem Ursprung als ›Crux‹ einer genealogischen Ordnung noch zu. Gerade mittelalterliche genealogische Entwürfe haben mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass laut der biblischen Schöpfungsgeschichte ein jeder
Genealogie und sozialer Aufstieg in Georg Wickrams Goldtfaden
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erscheint die Möglichkeit sozialen Aufstiegs von vornherein als sehr begrenzt,10 wodurch auch die stabilitas der Gesellschaft als Ordnungsgefüge erhöht wird. Mittelalterliche genealogische Denkmuster und sozialer Aufstieg stehen demnach in Spannung zueinander: Sozialer Aufstieg konterkariert die Modelle einer durch genealogische Ketten von Vorfahren und Vorgängern inszenierten langen und gesicherten Kontinuität. In der Frühen Neuzeit nun wird die Problematik sozialen Aufstiegs durch mannigfaltige Prozesse kulturellen Wandels besonders bedeutsam und in verschiedenen Diskursen wie beispielsweise in Adelstraktaten thematisiert.11 Ich möchte mein Augenmerk im Folgenden auf das Spannungsverhältnis von Genealogie und sozialem Aufstieg richten, auf die Frage, wie im Rahmen genealogischen Denkens mit der Problematik des sozialen Aufstiegs verfahren wird. Dabei konzentriere ich mich auf einen literarischen Entwurf, den Goldtfaden Georg Wickrams,12 in dem sozialer Aufstieg thematisiert13 und mit Formen genealogischen Denkens abgeglichen wird.14 Hier dürfte sich daher en détail zeigen lassen, wie überkommene genealogische Formen des Wissens und der gesellschaftlichen Ordnung mit sozialem Aufstieg konfrontiert werden. Dabei entsteht ein Spannungsfeld, in dem, so die These, altes und neues Denken ineinander greifen und sich verschränken.
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Mensch von Adam und Eva abstammen muss, mithin alle Menschen unter diesem Aspekt ›gleich‹ sind. Um eine Abstammungslinie entwerfen zu können, welche die jeweilige Familie vor anderen hervorhebt, erscheint es demnach häufig notwendig, einen sogenannten ›Spitzenahn‹ vorzuweisen, der seinerseits an die Transzendenz angebunden ist, um auf diese Weise einen mythischen Ursprung der Familie zu setzen. Vgl. hierzu ausführlich Kellner 2004 (Ursprung), S. 108–119. Siehe hierzu z. B. die Beiträge in Schulze 1988. Dies wird vor allem in denjenigen zeitgenössischen Adelstraktaten greifbar, in denen nicht nur die Opposition von Tugend- und Geburtsadel diskursiv verhandelt wird, sondern auch adlige Ursprungsdiskurse zunehmend problematisiert werden; vgl. dazu Bleeck/Garber 1982. Ich erinnere in diesem Zusammenhang etwa an den rasanten Aufstieg der großen Handelshäuser, insbesondere an die Fugger. Bedingt durch ökonomische Veränderungen konnten diese in Augsburg durch den Aufbau eines riesigen Handelsnetzes eine herausragende soziale Position erreichen; vgl. jetzt bes. Rohmann 2004. Wickram 1968 (Goldtfaden); vgl. dazu bes. Knopf 1978, Müller 1980 und 1991, Wåghäll 1996, Frei 1997, Braun 2001, Eming/Koch 2002, Mertens 2003, Zeisberg 2007. Die ältere Forschung dokumentiert Wåghäll 1995. Vgl. bes. Maché 1983; auch Pastenaci 1995 nimmt diesen Aspekt in den Blick, wobei er im Goldtfaden vor allem eine Variante der Novelle IV 1 des Decameron sieht und vor diesem Hintergrund auch den Aufstieg Leufrieds deutet. Einen anderen Standpunkt vertritt Manuel Braun, der im Goldtfaden und im Knabenspiegel eine Verabschiedung genealogischer Denkmuster erkennt (vgl. Braun 2006, S. 301–306). Dagegen spricht, dass solche Muster in beiden Romanen als Hintergrundund Negativfolie immer präsent bleiben und etwa im Knabenspiegel die Verkopplung von Amts- und Geblütsnachfolge zwar prekär erscheint, aber letztlich im Falle der Figur Willibalds gewahrt bleibt.
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2. Exemplarisch gezeigt werden kann dieses Spannungsfeld zunächst einmal an den Familien, denen der Protagonist des Romans, Leufried, im Verlauf seines sozialen Aufstiegs eingegliedert wird. Hier setze ich bei meiner Analyse des Textes an. Leufried wird als Sohn des Hirtenehepaares Erich und Felicitas geboren, ein Paar, das sich nicht zuletzt durch seine immense Fruchtbarkeit auszeichnet: Erich ist von Gott mit vil kinden / Soͤ n und Toͤ chtern15 beschenkt worden, die, sobald sie ein angemessenes Alter erreicht haben, allesamt von Kaufleuten aufgezogen werden und sich danach nicht weiter um ihre leiblichen Eltern kümmern.16 Doch schon vor der Geburt des letzten Sohnes wird deutlich, dass es sich bei diesem nicht um ein gewöhnliches Kind handeln wird: Erich entdeckt eines Tages in seiner Herde einen Löwen, der friedlich unter den Schafen umhergeht. Der Löwe weist eine besondere Vorliebe für das Hirtenpaar auf, insbesondere für die schwangere Felicitas. Erich und der Kaufmann Hermann, welcher sich, angezogen von den sich schnell ausbreitenden Neuigkeiten über das Wunder des friedlichen Löwen, mit eigenen Augen davon überzeugen will, beobachten das Raubtier, wie es mit dem Kopf im Schoße der schwangeren Felicitas ruht. In dieser Szene, in der deutliche Anklänge an christlich geprägte Vorstellungen vom Paradies mitschwingen, verschmelzen biblische, literarische und mythische Motive. Der friedlich unter den Schafen umhergehende Löwe17 lässt sowohl an das messianische Reich18 als auch an die Hirtenutopie in Vergils Bucolica denken. Zugleich klingt im Bild des Raubtiers, das seinen Kopf in den Schoß der schwangeren Frau legt, die mythische Zeu 15 16
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Wickram 1968 (Goldtfaden), S. 1.7. Vgl. ebd., S. 2.2–7: So bald auch seine kinder etwas erwuͦ chsen / begerten sie von im die reichen Kauffleut / die wurden dann gar fleißig und wol bei ihn aufferzogen / und so sie dann zuͦ mannbaren tagen erwachsen / wurden sie gar ehrlich von den selbigen versorgt und außgesteurt / niemant aber wolt dem guͦ ten Erich zuͦ hilff und statten kommen […]. Diese Stelle ist noch insofern relevant, als hier zum ersten Mal im Roman soziale Mobilität in den Blick genommen wird, aber sofort wieder aus dem Fokus verschwindet. Ein möglicher Deutungsansatz wäre, dass die Aufnahme auch der anderen Kinder Erichs in reiche Kaufmannsfamilien das Außergewöhnliche in der Aufstiegsgeschichte Leufrieds abmildern soll, dass Wickram soziale Mobilität also nicht als Einzelfall darstellen will. Zum Motiv des Löwen vgl. bes. Müller 1992 und Meyer 1994. Meyers These, über den Löwen und die mit ihm verbundene Einkehr in den Tiergarten werde im Goldtfaden ein Drei-Wege-Schema entworfen, welches an das Doppelweg-Schema des Artusromans angelehnt ist (vgl. ebd., S. 550–554), kann nicht überzeugen. So beginnt beispielsweise der Aufstieg Leufrieds zum Grafen nicht, als dieser im Tiergarten wieder auf den Löwen Lotzmann trifft, sondern er wird mit der Übergabe des mütterlichen Ringes durch Angliana und dem damit verbundenen Aufstiegsversprechen in Gang gesetzt (vgl. unten, S. 165). Zu weiteren Argumenten gegen eine mögliche Rezeption des arthurischen Doppelwegmodells im Goldtfaden siehe Neudeck 1997, S. 268. Vgl. Jes 11,6f.
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gung eines Heros durch ein Tier an, die nicht nur in den Metamorphosen Ovids eine wichtige Rolle spielt.19 Auch in der mittelalterlichen Literatur bildet die herausragende mythische Geburt des Helden ein wichtiges Erzählmuster. Im Goldtfaden jedoch zeugt der Löwe das Kind nicht selbst, sondern das mythische Element klingt lediglich durch das sexuell konnotierte Bild des im weiblichen Schoß ruhenden Löwenkopfes an und erscheint so als Versatzstück. Des ursprünglichen Kontextes beraubt, transportiert es dennoch seine Funktion in den Text hinein, nämlich über das Motiv der wunderbaren Geburt eine Bestimmung des ungeborenen Kindes zur Herrschaft zu begründen. Ähnliches gilt für die paradiesisch anmutende Szene zu Beginn des Textes: Der biblische Bezug ist eindeutig, jedoch geht es nicht darum, die Utopie des messianischen Reiches literarisch umzusetzen. Lediglich das Moment des christlich konnotierten Wunderbaren spielt hier eine Rolle.20 Pointiert könnte man jedenfalls sagen, dass dem Löwen in gewisser Hinsicht durch die beschriebenen Inszenierungen eine Vaterfunktion zukommt. Und auch nach der Geburt wird die Funktion des Löwen als mythischer Vater des Kindes noch einmal bekräftigt: Die Eltern entdecken auf der Brust des Säuglings ein Mal, das einer Löwentatze gleicht. Dieses Mal deutet die besondere, gleichwie genealogische Relation zum Löwen an und kann zudem als heraldisches Zeichen verstanden werden.21 Der Beginn des Romans zeigt insofern recht komplexe Formen der Symbolisierung. Gerade aufgrund der Vielzahl der Anklänge erscheint die Anfangsepisode überdeterminiert: Christliche, literarische und mythische Motive werden zitathaft aufgerufen und überlagern sich, ohne dass die offensichtlichen Spannungen – etwa zwischen der biblischen Utopie des messianischen Reiches, die als Utopie der Gleichheit gelesen werden kann, einerseits und dem über die Symbolisierung des Löwen nahegelegten Herrschaftsanspruch andererseits – aufgelöst werden. Die mythische Bestimmung zur Herrschaft wird hier christlich eingefärbt. Die semantische Verdichtung von Konnotationen des Herausgehobenen, Wunderbaren, von Gott Gesegneten motiviert im Text den ersten Schritt zum sozialen Aufstieg des Hirtenkindes:22 Zutiefst beeindruckt von der Szenerie bittet der anwesende Kaufmann Hermann, der an dieser Stelle 19
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Nämlich ebenfalls präsentiert im Rahmen eines Mythos: Es ist Arachne, welche die zahlreichen Verwandlungen der Götter in Tier- und andere Gestalten zum Zwecke der Verführung nichtsahnender Jungfrauen auf ihrem Teppich anlässlich eines Wettstreites mit der Göttin Athene einstickt (Ovid, Metamorphosen, VI 103–128). Müller spricht mit Bezug auf diese Stelle vom »Signal einer utopischen Friedensordnung« (Müller 1992, S. 272). Zu heraldischen Symbolen als Körperzeichen vgl. Müller 1977, S. 66f., und Kellner 2004 (Ursprung), S. 443f. Vgl. dazu auch Maché 1983, S. 193.
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vor allem als Angehöriger eines gesellschaftlich höheren Standes fungiert, das Ungeborene als Ziehkind annehmen und als sein eygen fleysch und bluͦ t erziehen zu dürfen,23 zumal seine Ehefrau aufgrund von Komplikationen während der Geburt ihres einzigen Kindes keine weiteren Nachkommen mehr haben kann. Der nach den kennzeichnenden Begleiterscheinungen seiner Geburt als Leufried (also ›Löwenfriede‹) benannte Sohn des Hirten24 wird in die Kaufmannsfamilie aufgenommen, sobald er die muͤ terlich milch gnuͦ gsam genossen hat.25 Genealogie und Etymologie gehen bei Leufrieds Namensgebung eine Verbindung ein – ihre Semantiken verdichten sich im Namen des Protagonisten, der wiederum als eine Bestätigung für die quasimythische Vaterrolle des Löwen gelesen werden kann. Bezieht man diesen neben dem Kaufmann Hermann und dem leiblichen Vater Erich mit ein, steht Leufried in Relation zu drei Vaterfiguren. Leufrieds Verbindung zu seinen leiblichen Eltern bleibt nach seiner Aufnahme in die Familie des Kaufmanns weiterhin bestehen, zumal Hermann ausdrücklich Wert darauf legt, dass der Kontakt zwischen den Mitgliedern der natürlichen Familie erhalten bleibt. Durch die Aufnahme des Ziehsohns entsteht auch eine Verbindung der beiden Kernfamilien, wobei der unterschiedliche soziale Status der Familien unangetastet bleibt. Die Herauslösung Leufrieds aus seiner leiblichen Herkunftsfamilie und die Aufnahme in die Kaufmannsfamilie vollziehen sich ohne jeden Konflikt, was bereits an dieser Stelle auf ein harmonisches Miteinander der Stände deutet. Augenfällig ist indes die unterschiedliche Zahl der Familienmitglieder: Während die Hirtenfamilie über ausreichenden Nachwuchs verfügt, der ihr genealogisches Fortbestehen zwar sichert, aber keinerlei soziale Privilegien verschafft, ist die Kaufmannsfamilie darauf angewiesen, Kinder aus sozial niederen Ständen aufzunehmen, da sie selbst nicht in der Lage ist, eine genügende Anzahl an Nachkommen hervorzubringen. Welche Bedeutung der Kinderlosigkeit höherer Stände im Roman zukommt, tritt klarer hervor, wenn man bedenkt, dass dies ebenfalls in Wickrams Knabenspiegel thematisiert wird. Auch hier nimmt der Ritter Gottlieb den Sohn eines Hirten auf, da seine Frau zunächst keine Kinder gebiert.26 Die Fortführung der Genealogie erscheint gefährdet, es muss also auf Nachkommen zurückgegriffen werden, die nicht leiblich sind. Interessant ist, dass Wickram damit die Problematik eines möglichen Endes von Genealogien andeutet, die in mittelalterlichen Texten kaum je in den Blick kommt. Und so zehren die höher gestellten Familien von der Nachkommenschaft, ja man könnte pointieren: von der natürlichen Fruchtbarkeit niederer Stände. 23 24 25 26
Wickram 1968 (Goldtfaden), S. 5.7f. Zu den ›sprechenden‹ Namen vgl. Martin-ten Wolthuis 1968, S. 78–82. Wickram 1968 (Goldtfaden), S. 8.19f. Ders. 1968 (Knaben Spiegel), S. 11.7–34.
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Eben dies aber eröffnet, so meine These, die Möglichkeit sozialen Aufstiegs.27 Im Roman lässt sich eine Multiplizierung von Kernfamilien und insbesondere von Vaterfiguren28 beobachten. Man könnte folgern: Die Genealogie wird gerade nicht über eine lange Reihe von Vorfahren in die Diachronie ausgedehnt, vielmehr wird sie hier synchron über eine Vervielfältigung von Kernfamilien und Vaterfiguren aufgefächert. Dies hat eine Aufweichung ständischer Grenzen zur Folge, die eine nicht unerhebliche Rolle für den weiteren Verlauf des Romans spielt.29
3. Kommen wir nun auf Leufrieds weiteren Werdegang zurück: Als er in die Schule kommt, wird schnell deutlich, dass seine Befähigungen und Talente außergewöhnlich hoch sind. Er besitzt einen so gantz hohen sinnreichen verstand […] / als wann er zwentzig Jar elter gewesen wer.30 Aufgrund dieser Eigenschaften erheben ihn seine Mitschüler zu ihrem König, was die Verachtung adliger Abkömmlinge hervorruft. Diese erwählen sich ebenfalls einen König, und es kommt zu einer spielerischen Schlacht, die Leufried gewinnen kann. Als er aber einen adligen Verräter seiner eigenen Partei züchtigen lässt, will ihn dessen Vater durch den Schulmeister abstrafen. Aus Scham beschließt Leufried, das Haus seiner Zieheltern zu verlas 27
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Vgl. dagegen Maché 1983, bes. S. 186f. Maché sieht in den Wickram’schen Romanen den Entwurf einer ›humaneren‹ Welt jenseits aller Standesgrenzen. Das einfache Gegeneinanderhalten von ›altem‹ Standesdenken und ›neuem‹ Aufstiegsdenken greift für Wickrams Gesellschaftsentwürfe allerdings zu kurz, ebenso wie Machés unvermittelter Abgleich der literarischen Darstellung mit sozialhistorischen Verhältnissen (vgl. ebd., S. 189ff.). Charakteristisch für das Erzählen im Goldtfaden ist gerade nicht das Ausspielen verschiedener Ordnungsmodelle gegeneinander, sondern deren komplexe Verquickung samt der damit einhergehenden Prozesse semantischer Um- und Überformung. Zur Vervielfältigung von Vaterfiguren vgl. Müller 1980. Müller führt dort aus, dass die Aufspaltung der Vaterrolle mit einer Auslagerung von Erziehungsaufgaben in den Verantwortungsbereich der Gesellschaft zusammenhängt: Inner- und außerfamiliäre Autoritäten können auf diese Weise hierarchisiert werden, um Prozesse der Machtetablierung im frühneuzeitlichen Staat abzubilden. Im Zusammenhang mit den bereits beschriebenen Strukturen steht, wie ich meine, eine durchaus auffällige Ausweitung verwandtschaftlicher Bezeichnungen. So wird Leufried als Hermanns angenommener pfetter und son bezeichnet, und auch jener nennt den Ziehvater [p]fetter (Wickram 1968 [Goldtfaden], S. 8.19 und 13.22). Der später auftretende Graf schließt Leufried bald so sehr in sein Herz, als wann er sein leiblicher son gewesen wer (ebd., S. 98.23). Besonders signifikant ist auch, dass Leufried und sein Ziehbruder Walter sich gegenseitig durchgängig als bruͦ der bezeichnen (ebd., S. 73.26, 74.10, 79.15, 84.7 u. ö.). Je enger die emotionale Verbundenheit – so scheint es anhand dieser Beispiele –, desto öfter werden verwandtschaftliche Bezeichnungen für Nicht-Blutsverwandte benutzt. Ebd., S. 10.16f.
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sen. An dieser Stelle, so scheint es, wird ein bis dahin durchgespieltes Modell des Aufstiegs, das sich zwar auch auf Befähigungen und Talente, aber primär auf Gewalt als Mittel zur Durchsetzung beruft, wieder verworfen. Leufried zieht von dannen, gepeinigt von dem Gedanken, seinen beiden Familien Schmerz bereiten zu müssen. Er erlangt durch einen Zufall die Stelle des Küchenjungen am Hofe eines Grafen, der im Verlauf des Romans weiterhin unbenannt bleibt und so exemplarisch die Position des Adels zu vertreten scheint. Bald gewinnt der Junge aufgrund seines Fleißes, seiner Fähigkeiten und vor allem aufgrund seiner außergewöhnlichen Sangeskünste das Wohlwollen des Hofgesindes, schließlich – wiederum durch einen Zufall – auch das des Grafen, der ihn als Kammerjungen seiner einzigen Tochter Angliana einsetzt und später zu seinem wichtigsten Diener erhebt. Leufried ist hocherfreut, zumal er sich in Angliana verliebt hat, und erfüllt seine neuen Aufgaben sam were er all sein tag in Frawen zimmern und an Fürstenhoͤ fen gewesen.31 Seine Talente und Tugenden, so scheint es, sind neben den notwendigen Zufällen des Lebens Voraussetzung für die Verbesserung des sozialen Standes, dennoch wird hier der eigentliche Aufstieg zunächst lediglich vorbereitet. Tatsächlich korrespondieren dem schrittweisen Aufstieg Leufrieds in der höfischen Hierarchie ›Leerstellen‹ in der Familie des Grafen: Die adlige Sippe ist auf einen Teil der Kernfamilie, nämlich Vater und Tochter, beschränkt. Die Frau des Grafen ist tot und mögliche weitere verwandtschaftliche Verbindungen werden ausgeblendet. Von der Idealvorstellung einer weitverzweigten, mächtigen Genealogie ist lediglich je ein Vertreter der Eltern- und ein Vertreter der Nachfahrengeneration übrig geblieben, wobei in diesem Fall die Gefahr eines Bruchs in der Herrschaftssicherung beim Generationenübergang besonders groß ist: Angliana ist weiblich und die kognatische Linienführung aufgrund mangelnder körperlicher Durchsetzungskraft und Herrschaftsfähigkeit der Frauen immer prekär. Notwendig erscheint hier aus genealogischer Perspektive eine Auffrischung und Stärkung der Blutlinie von außen, damit deren Weiterführung und auch die Herrschaft gesichert bleiben. Zunehmend erscheint Verwandtschaft im Goldtfaden also in den höheren Ständen reduziert auf die jeweiligen Kernfamilien (man erinnere sich an die Kaufmannsfamilie). Je exklusiver das Blut, so könnte man nun weiter folgern, desto gefährdeter und prekärer wird die Weiterführung der Genealogie. Dies evoziert eine Erweiterung der Modi, verwandtschaftliche Beziehungen knüpfen zu können, und führt über die wiederholte Ansippung Leufrieds an die verschiedenen Kernfamilien zu einer Relativierung der Bedeu-
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Ebd., S. 23.30f.
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tung von Blutsordnung.32 Damit korrespondiert eine Logik des Aufstiegs, die durch die überdeterminierten Anfangspassagen des Goldtfaden vorbereitet wird. Zudem stellen Leufrieds Begabungen und Fähigkeiten ideale Voraussetzungen dafür dar, sich in den Wechselfällen des Glücks zu bewähren.33 Unter diesen Voraussetzungen entfaltet sich die Dynamik sozialer Mobilität. Doch erst, als die Liebe ins Spiel kommt, kann sich der Aufstieg auch tatsächlich vollziehen: Leufried, in ständiger Trauer über seine Vernachlässigung bei der Verteilung der Neujahrsgaben durch Angliana, dichtet ein Lied, in dem er beklagt, übergangen worden zu sein. Die Grafentochter ist verwundert, als Leufried ihr das Lied vorträgt und bezieht den Inhalt auf sich. Erneut übergeht sie Leufried bei der Verteilung der Neujahrsgaben und schenkt ihm schließlich aus Spott einen Goldfaden, um den guͦ ten jungen dazu zu bringen, über sie zuͦ klagen / damit er aber etwan ein liedlin davon machet.34 Dieser näht sich den Goldfaden in die Brust ein, dichtet ein Lied darüber und singt es im Beisein der Grafentochter. Vor ihren Augen öffnet er sich die Brust und holt den Faden unversehrt wieder heraus. Angliana verliebt sich daraufhin in den Kammerjungen und reflektiert in einem Brief an ihn die Möglichkeiten, der Liebe eine Zukunft zu geben: Zwar würde sie um der Liebe zu Leufried willen jederzeit auf das väterliche Erbe verzichten, aber es wäre auch möglich, dass jener sich den Vater durch Verstand und Tugendhaftigkeit gewogen mache, solange er die Liebe zu Angliana verheimlichen könne. Als Liebespfand schickt die Grafentochter Leufried einen Ring mit, den ihr die Mutter auf dem Totenbett gegeben hat. Durch die Übergabe dieses mütterlichen Rings wird die Aufnahme Leufrieds in die gräfliche Genealogie bereits symbolisch antizipiert und die Dynamik sozialer Mobilität in Gang gesetzt. Auffällig ist, dass der Aufstieg nicht als Konsequenz des beschriebenen Spannungsfeldes aus Bestimmung, persönlicher Leistung und Glück gedacht wird, sondern als notwendiges Substrat der unstandesgemäßen Liebe und damit als Substitut genealogischer Blutsordnung erscheint.35 Der mögliche soziale Abstieg der Grafentochter wird zwar von dieser als Option bedacht; forciert wird jedoch der soziale Aufstieg Leufrieds als letztlich einzige Möglichkeit, die Liebe auf 32
33
34 35
Vgl. Müller 1980, S. 251. Braun sieht in der Zuschreibung Leufrieds zu gleich drei Familien »eine wahrhaft monströse Identitätskonstruktion« und damit die Auflösung von festen Identitätszuschreibungen durch familiale Verbindungen (Braun 2006, S. 303). Zum Moment des Zufalls als poetologisches Prinzip im Goldtfaden: Neudeck 1997; vgl. auch Frei 1997. Wickram 1968 (Goldtfaden), S. 29.20ff. Armin Schulz dagegen ist der Ansicht, die Liebesgeschichte im Goldtfaden diene dazu, den gesellschaftlichen Aufstieg zu erzählen (vgl. Schulz 2001, S. 53). Volker Mertens weist der Liebe im Goldtfaden eine »vornehmlich symbolische Rolle« zu (Mertens 1994, S. 128) und führt weiter aus, dass der Aufstieg von der Liebe eher begleitet als durch sie motiviert werde (ebd., S. 131).
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Dauer zu stellen. Die Innerlichkeit36 des Affekts erscheint dabei verbunden mit der Notwendigkeit, diesen Affekt durch die Ehe als gesellschaftliche Institution zu bekräftigen.37 Entscheidend ist hier, dass es die Liebe im Goldtfaden ist, die als Katalysator des sozialen Aufstiegs dient.
4. Im Folgenden möchte ich noch einmal auf die zum Teil schon angesprochenen Aspekte des Wunderbaren, und, damit unmittelbar verknüpft, auf die Rolle der literarischen Versatzstücke im Text eingehen. Hier wären Löwe und Bracke, aber auch der Goldfaden, das Löwentatzenmal als heraldisches Zeichen und die Anklänge an den Orpheus-Mythos zu erläutern, die sich in Wickrams Roman finden lassen. Um der Kürze willen sei jedoch allein die Figur des Löwen exemplarisch betrachtet: Zu Beginn des Textes sind die Funktionen des Löwen als Symbol der mythischen Geburt Leufrieds und der damit verbundenen mannigfaltigen Anspielungen auf biblische, mythische und literarische Traditionen offensichtlich; jedoch scheint sich seine semantische Komplexität im weiteren Verlauf der Erzählung deutlich zu reduzieren. Der literarische ›Mehrwert‹ des Löwen geht, so scheint es, zunehmend verloren. Der König der Tiere spielt – nach den Szenen am Beginn des Romans – erst in dem Moment wieder eine Rolle, als Leufried nach seiner Wiedervereinigung mit dem Nenn-Bruder Walter gemeinsam mit diesem nach Lissabon reist, wo die beiden dem Löwen Lotzmann im königlichen Tiergarten wiederbegegnen und dieser Leufried sogleich erkennt. Als sich der Löwe weigert, Leufried zu verlassen, macht der König von Portugal ihn dem jungen Mann zum Geschenk. Das Tier wird fortan Leufrieds Begleiter. Das mythische Element erfährt in diesen Episoden eine doppelte ›Domestizierung‹: Einerseits wird der mythische Löwe in einen Tiergarten gesteckt, wodurch ihm sein Status als Symbolträger für den Protagonisten Leufried zum Teil abhanden kommt, da ihm so eine eigene, vom Protagonisten separate Geschichte zugestanden wird.38 Zum anderen ist damit sichtbar, dass das mythische Potential des Löwen lediglich der Legitimierung des Aufstiegs dient. Während er zu Beginn des Romans quasi als Leufrieds mythischer Vater inszeniert wird, wird er zunächst zum ›Zootier‹ 36 37
38
Zur Innerlichkeit vgl. Frei 1998, Haug 1991 und Eming/Koch 2002, S. 213. Vgl. dazu Müller 1991, S. 29. Auch Pastenaci weist darauf hin, dass die Art und Weise des Umgangs mit dem Affekt im Goldtfaden letztlich für den Erfolg der Liebesgemeinschaft verantwortlich ist (vgl. Pastenaci 1995, S. 54f.). Müller führt dies auf den Umstand zurück, dass im Falle des Wickram’schen Löwen ein ›vertikal‹ deutendes und ein ›horizontal‹ verknüpfendes Erzählverfahren beobachtet werden könne (vgl. Müller 1992, S. 272 und 274).
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und erscheint später als Leufrieds Begleiter nur noch wie ein Haustier.39 Bezeichnenderweise wird der Löwe in seinem Auftreten zunehmend verniedlicht: Wie ein Schoßhund gibt er Leufried die Pfote. Von der hohen Symbolik ist wenig geblieben. Die zahlreichen traditionell mit dem Löwen verknüpften literarischen und mythischen Implikationen werden vom Text in auffällig geringem Maße umgesetzt.40 Dass die Wiedervereinigung Leufrieds mit seinem Ziehbruder Walter an jene mit dem Löwen Lotzmann gekoppelt ist, dem nunmehr verniedlichten Symbolträger einer Paradiesutopie und der Herrschaftslegitimierung, kann dennoch nicht als Zufall betrachtet werden. Genealogie und mythische Versatzstücke werden nach wie vor verklammert, und auf diese Weise werden noch einmal die idealen Voraussetzungen Leufrieds für seinen Aufstieg betont. Der Löwe und die Geschichte von der wunderbaren Geburt gewinnen über ihre mehrfache Deutung durch Figuren der Erzählung einen zunehmend legendenhaften Status. So betont Angliana unter Berufung auf die wunderbare Geburt Leufrieds, das diser Jüngling einer Koͤ nigin wol werdt wer41 und sie sich dementsprechend über eine Eheschließung mit ihm glücklich schätzen könne. Nachdem die heimliche Liebe dem Grafen schließlich entdeckt worden ist und er beschlossen hat, Leufried ermorden zu lassen, befürchtet er dennoch, sein Plan könne misslingen: Ist auch zuͦ sorgen / das der Jüngling zuͦ grossem glück erboren / dieweil es sich so wunderbarlich mit seiner geburt und seinem gantzen leben zuͦ getragen hat.42 Lediglich zweimal wird der Löwe noch seiner traditionellen Funktion als Begleiter des Ritters gerecht: Er errettet Leufried vor dem Mordanschlag des Grafen und vor einem wilden Hirschen. Wichtig ist, dass es eben literarische Versatzstücke wie der Löwe sind, die, aller semantischen Reduktion zum Trotz, aufgrund ihrer Bindung an das Wunderbare dennoch als Legitimationsmuster für den Aufstieg Leufrieds dienen. Wickram verzichtet darauf nicht, auch wenn sie beinahe zum bloßen Zitat reduziert scheinen. Auch die Vorstellung sozialer Mobilität kommt also ohne eine Legitimation durch das Wunderbare nicht aus.
5. Nachdem die verschiedenen Legitimierungsstrategien erläutert und auch problematisiert worden sind, sollen nun die entscheidenden Schnittstellen 39 40
41 42
Vgl. Müller 1985, S. 89, Anm. 290, und Müller 1992, S. 273. Intertextuelle Verbindungen lassen sich in dieser Hinsicht z. B. zum Iwein aufmachen. Zu weiteren Bezügen vgl. Martin-ten Wolthuis 1968, S. 51–54, und Jacobi 1970, S. 166ff. Wickram 1968 (Goldtfaden), S. 93.5. Ebd., S. 110.18–21.
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zwischen Genealogie und sozialer Mobilität genauer beleuchtet werden. Dabei werde ich vor allem auf die Figur des Grafen eingehen, denn er ist es, der die überkommene Denkform des Genealogischen im Roman am deutlichsten ›verkörpert‹. So stellt er sich trotz aller Zuneigung und Wertschätzung, die er Leufried als seinem bevorzugten Diener entgegenbringt, vehement dessen Aufstieg in seinem Hause entgegen. Zwar ist er der Überzeugung, dass diser jung ein fürnemer mann werden / und wol hinan kummen wird,43 doch nach der Entdeckung der Liebesbeziehung zu seiner Tochter beschließt er gleichwohl, ihn ermorden zu lassen. Genau hier ist die entscheidende Bruchstelle zwischen Genealogie und sozialer Mobilität zu sehen. Es sind vor allem genealogische Argumente und gesellschaftliche Überlegungen, die den Grafen zu seinem Mordkomplott gegen Leufried bewegen. [N]un aber hastu mir meinen stammen und nammen verkleinet,44 hält er seiner Tochter Angliana entgegen, um den Anschlag auf Leufried rechtfertigen zu können. In den Augen des Grafen scheint besonders gewichtig zu sein, dass er in aller welt zuͦ grossem spot und yedermans theding45 werden könnte, akzeptierte er einen unstandesgemäßen Schwiegersohn. Es ist also die Angst vor dem Verlust gesellschaftlicher Anerkennung, dem Verlust des Status quo, die den Grafen umtreibt, zumal sein sozialer Status an eine Wahrung der Exklusivität der Familienbande geknüpft ist. Nur Mitglieder eines bestimmten Standes, oder genauer, bestimmter Familien, dürfen in die Grafenfamilie einheiraten, damit eben der Status quo gewahrt bleiben kann. Doch andererseits quälen den Grafen zugleich Zweifel, ob seine Handlungsweise überhaupt gerechtfertigt werden könne: Ein kühner Held sei Leufried, und daher sei es doch unrecht, ihn umbringen zu lassen. Wenn er tatsächlich schicksalhaft zum glück bestimmt sei, könne er, der Graf, nichts daran ändern.46 Und schließlich, gleichsam als ob der Diskurs über die Exklusivität des Blutes und mit ihm der genealogische Diskurs lediglich anzitiert würde, um beide aus dem Munde eines ihrer Verfechter entkräften zu lassen, bedenkt der Graf, dass ja auch der biblische David von schlechtem stammen geboren gewesen47 und dass ihn König Saul dennoch zum Ehemann seiner Tochter gemacht habe. Und weiter kommt ihm in den Sinn, dass mir all gemeinglich von einem vatter und muͦ ter kommen.48 Aber, und hier liegt die Emphase der gräflichen Reflexion: Das […] wil die welt jetzunder nit mehr bedencken.49 Genealogisches Wissen und biblisches 43 44 45 46 47 48 49
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 84.27f. S. 125.9f. S. 110.25f. S. 110.21f. S. 110.27. S. 110.30. S. 110.29.
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Wissen werden gegeneinander ausgespielt mit dem Argument, das biblische Wissen werde nicht ausreichend berücksichtigt. Gegen den Strich gelesen wird freilich dennoch deutlich, dass das Recht der Letztbegründung dem biblischen Wissen zugestanden wird, denn die genealogische Argumentation erscheint ausgehöhlt, also als entleerte Episteme, die lediglich in der sozialen Dimension noch funktionalen Wert besitzt, ihre ideologische Substanz aber bereits verloren hat. Ein solches Wissen hat seine begründende Kraft verloren, und so reflektiert der Graf zwar noch kurz darüber, dass letztlich jedweder Adel von der Tugend komme und Leufried davon nicht wenig vorzuweisen habe, wischt dann aber die dem Genealogischen entgegenstehenden Argumente mit einem knappen dem allein sey wie im woͤ ll vom Tisch.50 Gerade in den Reflexionen und im Handeln des Grafen selbst wird damit deutlich, dass es der genealogischen Ordnung an Legitimation mangelt und sie als eine Denkform entwertet wird. Zur Begründung gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen eignet sie sich offensichtlich nur noch bedingt. Bezeichnenderweise beharrt der Graf jedoch auf der Ordnung des Blutes und will sie mit Gewalt durchsetzen, obgleich die Argumente gegen die Verheiratung seiner Tochter mit dem niedriger gestellten Leufried nicht ziehen. Er hat allerdings keinen Erfolg mit seinem Plan, denn Leufried kann dem Mordkomplott entfliehen, und schließlich ist der Adlige doch bereit, den jungen Mann als Schwiegersohn zu akzeptieren. Es ist nunmehr vor allem das Argument der Tugend Leufrieds, das in den Auseinandersetzungen zwischen Angliana und ihrem Vater eine wichtige Rolle spielt, aber im Hintergrund stehen auch hier wieder Affekte – nämlich die Liebe des Grafen zu seiner Tochter und die Angst um ihr Leben51 –, welche den Sinneswandel vorbereiten. Wie die geschlechtliche Liebe als Auslöser des Aufstiegs gewirkt hat, so ist es nunmehr die familiäre Liebe, aufgrund derer die letzten Hindernisse beseitigt werden. Das Motiv der affektiven Verbundenheit in der Familie spielt eine entscheidende Rolle in Wickrams Goldtfaden.52 Nachdem das Mordkomplott des Grafen gegen Leufried verhindert werden konnte, flieht dieser mit Walter in die Heimat, wo er mit seinen beiden Familien in einer Herberge zusammentrifft. Zwar wird er zunächst nicht erkannt, da er seine Identität verheimlicht; Leufrieds leibliche Mutter, Felicitas, gibt aber ihrem Schmerz über die Abwesenheit des Sohnes Ausdruck. Das bewegt diesen so sehr, 50 51
52
Ebd., S. 110.33. Angliana zieht sich nach dem gescheiterten Mordkomplott in ihre Gemächer zurück und verweigert aus Protest die Nahrung, bis ihre Gespielin Cordula den Grafen warnt, seine Tochter könne sterben. Aus Angst um sie gibt er schließlich nach (ebd., S. 127.13–130.21). Auf eine »Intimisierung der Beziehungen innerhalb […] der Kernfamilie« verweist Müller 1980, S. 249.
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dass er den Löwen Lotzmann in den Saal führt, an dem ihn sein Ziehvater Hermann erkennt. Lysetta, die Frau des Kaufmanns, macht Leufried Vorwürfe ob seiner langen Abwesenheit und betont, dass er nicht weniger von ihrem Manne und ihr selbst geliebt würde als von seinen hiezuͦ gegen natürlichen vatter und muͦ ter.53 Gerade bei der Wiedervereinigung der beiden Familien mit dem Sohn wird deutlich die Relativierung einer verwandtschaftlichen Verbindung über das Blut ausgestellt.54 Im Vordergrund steht die affektive Bindung, die Liebe zwischen den einzelnen Familienmitgliedern, welche die leibliche Verwandtschaft als eher irrelevanten Faktor erscheinen lässt. So wird die Vorstellung einer ›natürlichen‹ Familie ersetzt durch jene einer Familienstruktur, deren Bindungen auf Neigung, zugespitzt: auf Agape, also christlicher Nächstenliebe, beruhen. Familie ist das, was affektiv gebunden, sich also in Liebe zugetan ist. Hier zeigt sich ein Begriff von Familie, der die emotionale Verbundenheit, die Liebe zwischen den Menschen gegenüber der Blutsverwandtschaft privilegiert. Zugespitzt könnte man formulieren, dass es nunmehr die Liebe, und nicht das Blut ist, durch welche sich der genealogische Diskurs konstituiert.
6. Da es die Liebe zwischen den Menschen ist, über die die Zugehörigkeit zu einer Familie definiert wird, ist es nur konsequent, wenn der Aufstieg Leufrieds in ein Modell familiärer Einheit mündet: Der Goldtfaden endet bezeichnenderweise damit, dass die verschiedenen Mitglieder dieser durch affektive Bande konstituierten Familie nach der Verheiratung Leufrieds und Anglianas in einem Haus zusammenleben. Bevor jedoch Leufried Angliana ehelichen und als Schwiegersohn des Grafen dessen Erbe antreten kann, wird es im Roman doch noch notwendig, den jungen Mann immerhin im Nachhinein zu adeln, damit er seinen Stand als zukünftiger Herrscher gegen potentielle Konkurrenten behaupten kann. Zwar erscheint Leufrieds Aufstieg den Figuren des Romans durch das Spannungsfeld von Bestimmung, Tugend und Glück ebenso wie durch das Wunderbare ausreichend begründet, aber nach außen kann dies nur in Form einer Adelung zum Ritter symbolisiert werden, einer Handlung also, die eher der überkommenen und im Text als im Wandel begriffenen mittelalterlich-genealogischen Denkform zugeordnet werden kann. Nachdem der Protagonist schließlich seine neu errungene Position in der Gesellschaft auf diese Weise hat konsolidieren können, kommt der Graf zu 53 54
Wickram 1968 (Goldtfaden), S. 123.10f. Mertens sieht in der Planung dieser Wiedervereinigung durch den Sohn einen Beweis für Leufrieds »verkümmerte[] soziale[] Kompetenz im Primärbereich der Eltern-KindBeziehung« (Mertens 2003, S. 301).
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Tode. Noch einmal, so scheint es, werden die Repräsentanten der alten Ordnung und des neuen Aufstiegsmusters gegeneinander ausgespielt: Leufried wird bei einer Jagd, einem genuin adligen Zeitvertreib, von einem Hirsch schwer verletzt und verliert das Bewusstsein. Als der Graf dies erfährt, fällt er vor Schreck eine Treppe hinunter und verstirbt. Nicht eine Konfrontation der beiden entscheidet letztlich darüber, welches Prinzip sich durchsetzen kann, sondern vielmehr wird der Graf, nachdem er den sozialen Aufstieg akzeptiert hat, als Schwellenfigur, als Figur des Übergangs also, durch den Text ›entsorgt‹.55 Die Tatsache, dass sich damit ein neues Gemeinschaftsprinzip durchsetzen kann, welches auf Liebe und affektiver Bindung an die anderen beruht, wird evident durch die Neuordnung des gräflichen Haushaltes nach dem Tod des alten Hausherrn. Leufried holt sowohl seine leiblichen Eltern, das Hirtenehepaar, als auch seine Zieheltern, das Kaufmannspaar, zu sich an den Hof. Er verheiratet Walter mit einer verarmten Adligen, macht ihn zu seinem Hofmeister und belehnt ihn mit einem Schloss. Das Schlusstableau des Romans ruft das Bild einer Gemeinschaft auf, die, ungeachtet aller ständischen Unterschiede, unter einem Dach vereint ist, und mündet damit in eine Utopievorstellung von der Gleichheit aller, die durch Tugendhaftigkeit und universelle Nächstenliebe – also Agape – miteinander verbunden sind. Dazu passt, dass der Roman mit einer Warnung vor schlechten Ratgebern endet, die das Prinzip der christlichen Nächstenliebe nicht beachten und sich auf Kosten des Volkes bereichern. Nur ein Herrscher wie eben Leufried, der sonder weisen und guͦ ten rhat gar nichts handelt,56 kann seine Regierungsgeschäfte erfolgreich bestreiten. Ganz deutlich wird hier das Herrschaftsprinzip im Sinne einer christlichen Utopie entfaltet. Auf diese Weise korrespondiert das Schlussbild des Romans wiederum mit seinem Anfang, der Paradiesutopie. Am Ende des Romans steht also die Vorstellung einer friedlichen, christlich geprägten Herrschaft, die sich auf eine Gleichheitsutopie hin zuspitzen lässt. Sie wird in der Eröffnungsszene des Romans gleichsam symbolisch angekündigt und über den Aufstieg eines Hirtensohnes in den Rang eines Grafen realisiert. Um dies literarisch umsetzen zu können, wird sozialer Aufstieg auf der einen Seite als Substrat affektiver Bindungen dargestellt und durch verschiedene Legitimierungsstrategien gestützt; auf der anderen 55
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Zurückgeführt werden kann diese Notwendigkeit auf das Faktum, dass der Graf zwar dem sozialen Aufstieg nicht länger entgegensteht, aber dennoch ein Prinzip repräsentiert, das in letzter Konsequenz der durch affektive Nähe verbundenen Gemeinschaft, der von Nächstenliebe geprägten christlichen Familie entgegensteht: das Prinzip der hierarchisch geordneten Gesellschaft. Nach Peter Frei steht der Tod des Grafen im Mittelpunkt einer »[…] Spannung zwischen einem straffen, ganz unter dem Telos des Endes stehenden Erzählbauplans, dem gemäß der Graf nun notgedrungen hinscheiden muß, und einer Wirklichkeit, die in solchen Sinngefügen nicht aufgeht und derzufolge der Graf nur ganz zufällig rechtzeitig das Feld räumt« (Frei 1997, S. 75). Wickram 1968 (Goldtfaden), S. 215.8f.
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Seite werden genealogisch geprägte Vorstellungen von Blutsordnung relativiert. Insbesondere in der Figur des Grafen wird die Brüchigkeit der mittelalterlich-genealogischen Denkform vorgeführt, von der zwar noch gezehrt werden kann, deren Geltung jedoch zugleich nicht mehr außer Frage steht. Erst nach dem Tod des alten Adligen wird eine Zusammenführung aller Stände unter einem Dach, die Herausbildung einer Gemeinschaft, die sich gegenseitig in Liebe verbunden ist, möglich. Das Schlussbild löst ein, was am Anfang des Romans angekündigt wurde: die Utopie christlich bestimmter Herrschaft.
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Armin Schulz
Negative Kohärenz Narrative Inversionen im Fincken Ritter
1. Der Text Um 1560 erschien in Straßburg anonym ein schmales Buch, der Fincken Ritter, die History vnd Legend von dem treffenlichen vnnd weiterfarnen Ritter / Herrn Policarpen von Kirrlarissa / genant der Fincken Ritter / wie der drithalb hundert Jar / ehe er geboren ward / viel land durchwandert / vnˉ seltzame ding gesehen / vnd zuͦ letst von seiner Muͦ ter fuͤ r todt ligen gefunden / auffgehaben / vnd erst von newem geboren worden.1
Der Held dieses Buches berichtet in einer absurden Ich-Erzählung davon, wie er, der Landpfleger des Fürsten Morotathorum im griechischen Cathalaunia, sich zu Zeiten des Chans von Cathay, des Priesterkönigs Johannes und des Jean de Mandeville auf Reisen begeben habe. Der Versuch, als Kaufmann mit destilliertem Vernunftwasser zu reüssieren, wird durch einen Piratenüberfall auf trockenem Land zunichte gemacht, weshalb der Erzähler beschließt, Ritter zu werden, wobei er sich allerdings auf die Suche nach Würsten und Heringen begibt. Unterwegs reist er durch ein ›gutes Land‹, in dem die Ordnung der Natur auf den Kopf gestellt ist, weil etwa Bäche brennen und Hunde von Hasen gejagt werden. Dann begegnet er drei merkwürdigen Gesellen, einem Blinden, einem Lahmen und einem Nackten, die einen Hasen jagen, wobei der Blinde das Tier sieht, der Lahme es einfängt und der Nackte es in seine Tasche schiebt. Der Finkenritter kauft ihnen die Beute ab, trifft dann einen zugleich alten und jungen, an einer Krücke tanzenden Mann, den er nach dem Weg fragen will, mit dem er sich aber nicht verständigen kann. Er verirrt sich in einem Wald, in dem es keine Bäume gibt, und trifft auf einen schneeweißen Köhler, der aus Tannenzapfen Leberwürste brennt. Die gewünschte Auskunft nach dem richtigen Weg bleibt auch hier aus, weil man aneinander vorbeiredet. Nun kommt der Finkenritter zu einer Kirche, die aus grobem Stoff gemacht ist, die Glocken sind aus Joppentuch, die Klöppel aus Pelzärmeln, der Kaplan selbst ist aus Hafer und singt eine gerstene Mette. Sein Amen 1
Ich zitiere den Text nach der Edition von Knape (Finckenritter 1991), hier den Titel ebd., S. 134. Vgl. auch den Faksimiledruck von Bolte (Finkenritter 1913).
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missversteht der Finkenritter als fahen mir den (›Fang mir den‹),2 er erschrickt und flieht, bis ihm die Eingeweide aus dem Körper dringen, er wäscht sie in einem trockenen Bach und stopft sie wieder in seinen Bauch. Nun trifft er auf eine zugleich alte und junge Frau, die einen alten Sack wäscht, wieder redet man aneinander vorbei. Mit einem Schiff, das es nicht gibt, überquert der Finkenritter einen Bach, der kein Wasser führt, und kommt zu einer hohlen Eiche, in die er eine Biene fliegen sieht. Weil er Honig haben möchte, kriecht er in das Astloch, bleibt darin stecken, ihm werden die Augen derart zerstochen, dass ihm, wie es heißt, sein hinder gesicht so gar krumb […] als ein sichel wird.3 Zornig läuft er nach Hause, um sich aus der misslichen Lage zu befreien, holt eine Axt und schlägt damit den Baum um. Er verliert das Beil in einer Hecke, holt aus der Küche seiner Mutter Feuer und brennt die Hecke nieder, danach ist der Stiel ganz, das Eisen aber verbrannt. Er verkauft den Stiel für neun Ellen warmes Wasser, aus denen er sich einen Wintermantel machen lässt, verziert mit gebratenen Eiszapfen. Nun will er eine Wiese abmähen, um damit die Kuh seiner Mutter zu füttern. Er tauscht ein gebrülltes juheyaho gegen eine Sense,4 erschrickt vor einem aufgeschreckten Esel, der seinen Ruf für ein I-Ah gehalten hat, und glaubt, der Esel sei die Mutter aller Hasen. Versehentlich schlägt er sich dann mit der Sense den eigenen Kopf ab, der die Wiese herabrollt, und läuft ihm nach, wobei er sich die Stirn an einem Ast blutig stößt. Er erhascht den Kopf, setzt ihn sich verkehrt herum auf, um im Wald nach vorne und nach hinten sehen zu können. Ein Windstoß bläst ihm dann den Kopf erneut herab, aber er findet ihn wieder und wäscht ihn. Bald wächst der Kopf an, so dass der Finkenritter wieder sehen kann. Auf dem Heimweg kommt er in ein Dorf, dessen Häuser aus Fleisch und Wurst gemacht sind. Er trifft einen Lautenspieler, dem er dabei hilft, sein Instrument zuzurichten, doch fällt er in den Lautenstern und muss mit einer Leiter wieder befreit werden. Die Laute tönt noch bis zum nächsten Tag nach, man hört sie in neun Dörfern, aber in jedem mit einer anderen Melodie. Auch der Lautenspieler kann deshalb zum Tanz gehen, an dem ansonsten nur die Alten und die Kinder teilnehmen, nicht aber die jungen Leute; schließlich geht er wieder heim in seine Laute. Der Finkenritter zieht weiter und kommt zu einem neuen Tanz, doch nun rennen spießbewehrte Hunde aus den Häusern heraus und jagen ihn bis zum Roten Meer, das beim Fincken laͤ ger zwischen Ermattingen und dem Schwaderloch liegt.5 Der Held wehrt sich hier so tapfer mit den Fersen, dass er mit einer alten Kastanienpfanne zum Ritter geschlagen und fortan der streng Fincken Ritter genannt wird.6 2 3 4 5 6
Finckenritter 1991, S. 137.90f. Ebd., S. 137.110. Ebd., S. 138.132f. Ebd., S. 139.192f. Ebd., S. 139.195.
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Nach diesen Abenteuern besteigt er ein Windschiff und fällt von oben durch den Kamin in das Haus seiner Eltern. Beim Sturz brechen ihm Leber und Blase, seine Mutter bringt ihn hinter den Ofen, hat sich aber so erschrocken, dass bei ihr die Wehen einsetzen und sie nach zweieinhalb Tagen den Finkenritter zur Welt bringt. Dieser entflieht zweimal vor der Hebamme und verkriecht sich schließlich an der Mutterbrust. Im Alter von drei Speckkuchen tritt er sein Amt als Landpfleger an.
2. Lügendichtung und Episteme Diesem Stück Unsinnsdichtung war durchaus ein gewisser Erfolg beschieden, wovon mehrere Erwähnungen bei Johann Fischart, eine kontinuierliche Druckgeschichte bis ins 19. Jahrhundert sowie frühneuzeitliche Übersetzungen ins Dänische und Schwedische zeugen.7 In der literaturwissenschaftlichen Forschung, die den Text nach dem 19. Jahrhundert weitgehend ignoriert hat,8 firmiert der Fincken Ritter zumeist unter dem Rubrum der ›Lügendichtung‹, deren Gestaltungsprinzipien sich schon 1881 bei Carl Müller-Fraureuth beschrieben finden: »In diesen Lügendichtungen […] werden beseelten und unbeseelten Wesen Handlungen und Eigenschaften zugeschrieben, die ihnen ihrer Natur nach nicht zukommen können«.9 Kennzeichnend seien dabei »Aneinanderreihung und Häufung von Unmöglichkeiten, Verkehrtheiten und Widersprüchen, Aufhebung und Verleugnung der Wirklichkeit und natürlichen Ordnung der Dinge«,10 wobei besonders die Tendenz zur »contradictio in adjecto« auffalle.11 In der Tat ist der Fincken Ritter, um dies im Blick auf das Interesse unserer Tagung zuzuspitzen, geprägt von einer durchgängigen Inversion und Demontage von Weltwissen, und dabei besonders von dessen sprachlicher Repräsentation. Dieses in Frage gestellte Wissen lässt sich unschwer aus den Verkehrungsstrategien des Fincken Ritter ermitteln, aus seinen kalkulierten Widersprüchlichkeiten: hinsichtlich der Linearität und Irreversibilität der Zeit;12 hinsichtlich der Ordnung des Raums nach Nähe und Ferne, 7 8
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Vgl. Bolte in Finkenritter 1913, S. 9–22, und Knape 1991, S. 144f. Aus neuerer Zeit gibt es – soweit ich sehe – nur die entlegen erschienene Edition Knapes (1991) mit erschließenden Bemerkungen und einem Abriss der älteren Forschung (ebd., S. 97–100), einen Lexikoneintrag und mehrere Beiträge von Röcke (1989, 1994, 2003 und 2004) sowie den Aufsatz von Cramer (1999). Müller-Fraureuth 1881, S. 11. Ebd. Ebd., S. 18. In der Geschichte der ›Lügendichtung‹ kommt dem Fincken Ritter eine besonders prominente Position zu, wie Köhler (2000, S. 497) hervorhebt: »Mit dem ›Fincken Ritter‹ von 1560 ist die technische Entwicklung der Lügendichtungen insofern vollendet, als hier nicht nur das empirisch Unmögliche, sondern auch das Denkunmögliche als radikalisierte Möglichkeit von Literatur gleichermaßen vertreten ist.« Vgl. hierzu besonders Röcke 2004.
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Innen und Außen, Oben und Unten, Hinten und Vorn, Klein und Groß, Bekannt und Unbekannt; hinsichtlich der Einheit des wahrnehmenden Subjekts mit seinem Raum und Zeit unterworfenen und darin agierenden Körper. Verkehrt wird außer einem solch kategorial bestimmten Weltwissen auch das ganz konkrete, allgemein bekannte Wissen über bestimmte Eigenschaften von Lebewesen oder Gegenständen und über ihre Relationen zueinander. Auffälligerweise geht es dabei im Fincken Ritter nur selten um die hierarchisch bestimmte Ordnung der sozialen Welt, wie sie ein zentrales Thema der zeitgenössischen Narrenliteratur von Sebastian Brants Narrenschiff bis hin zum Lalebuch bildet. Die Regeln des menschlichen Zusammenlebens zwischen Mann und Frau oder zwischen verschiedenen Ständen sind kein Gegenstand des Textes, womöglich auch, weil der Finkenritter ein völlig vereinzelter, mit anderen Menschen nur im Modus des Scheiterns kommunizierender Held ist. Verkehrt ist die Welt des Fincken Ritter nicht unter sozialem Aspekt, sondern gewissermaßen unter epistemischem. Deshalb geht es immer wieder um gestörte Wahrnehmung. Der ganze Text ist von entsprechenden Themen und Motiven durchzogen: Blindheit, Sich-Verhören, Fehlverstehen, gipfelnd im Bild der Kopflosigkeit. Damit klinkt sich der Text in eine zeitgenössische Tradition der Unsinnsdichtung ein, die in besonderer Nähe zur Motivik des Schlaraffenlandes steht. Ich komme darauf zurück.
3. Verkehrung von kategorialem und konkretem Wissen Die Verkehrungsstrategien des Fincken Ritter zielen zum einen auf kategoriales Weltwissen, zum anderen auf konkrete Wissenselemente. Die kategoriale Inversion von Raum, Zeit und Körper entwertet so auch das Konkrete, sprachlich repräsentiertes Weltwissen also. Die Vorrede zitiert Texte aus der Reiseliteratur an, die wenige Generationen vor dem Fincken Ritter noch mit dem Anspruch im Druck erschienen sind, zumindest nebenher ein gültiges Wissen über die Wunder der Welt zu vermitteln.13 Doch indem diese fernen Wunder und die Figuren, die für sie einstehen, mit unmittelbar vertrauten süddeutschen Orten zusammengeballt werden, wird nicht allein der räumliche Gegensatz von Nähe und Ferne zerstört, sondern auch der Geltungsanspruch dieser Texte selbst unterlaufen: ICH HERr Policarpus / vonn Kyrrlarissa / genant der Fincken Ritter / Landtpfleger / des Großmechtigen Fuͤ rsten / Morotathorum / in Griechischen Cathalaunia gelegen / bin vngefehrlich auff drithalb hundert jar / ehe vnnd ich geboren ward / manich Koͤ nigreich vnnd landschafften weit vnnd breyt durchzogen / vnd sie besehen. 13
Vgl. den Überblick bei Röcke 1997.
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Eben zuͦ denselben zeiten / als der groß Chan vonn Cathay / zuͦ Straßburg inn der Ruͦ prechts Auwe regiert / vnnd Herr Johann von Monteuilla / Ritter auß Engelland / die gantze Welt / so weit der Hymmel blaw / vmbzogen ist. Da Priester Johann von Jndia / auff der Haller Wisen zuͦ Nuͤ renberg / bey den Kemmetfegern / neben dem Kettenbrunnen zuͦ Heidelberg / gegen des Babylonischen seyffenwebers hauß vber / ein Probst des Paradeyses war. Dazumal fieng ich ein groß kostlich essen schoͤ ner Jllkrebs / auff dem kelber Meer / jenseit dem Rennfeld / hinder dem Saltzhauß zuͦ Muͤ nchen / nicht weit von dem Pallast / Sanct Patricius Fegfeür / inn Hybernia / da der arm Judas sein suͤ nd mit dem gestolenen Schleyer / auff dem Meer buͤ sset / das ist in Arabia / da die schaaff auff den baumen wachsen (von dannen her die selbig woll / Baumwoll genennet wirt) in der gegne Armenien / des Koͤ nigreichs / als die Pappagey vnd Sytticus des selben Lands / guͦ te Arabische spraach reden / auch Lautensternen schneiden / vnd Lieder dichten koͤ nnen.14
Die Anspielungen sind deutlich markiert, vor allem jene auf die Reisen des Jean de Mandeville, in denen das spätantike und mittelalterliche Wissen über den Orient in Form eines angeblich authentischen Reiseberichts zusammengefasst wird.15 Aus diesem Text sind auch der Duktus der Vorrede, die vorgeblich authentifizierende Ich-Rede und einzelne geographische Namen entlehnt, wie ein Blick auf die Übersetzung des Michel Velser zeigt, die im Druck zuerst 1480 bei Anton Sorg in Augsburg erschienen ist: ICh Johanns von monte villa ritter geboren in Engellannt in einer statt heÿßt sannt Alban. Fuͦ r auß über moͤ r da maˉ czalt von cristi gepurt tausent dreẅ hundert vnd zweÿ vnd zweinczig jar an sant Michels abent Vnd darnach bin ich gewesen über moͤ r manig jar vnd czeÿt vnd bin umbgefaren vnd hab gesehen manig wunderlich inselen vnd menig wunderlich stat vnˉ künigreich vnnd bin gefaren durch türggen durch armenia das groß vnd das klein16
– und durch viele weitere Länder. Mandeville behauptet, selbst im Land des Chan vonn Cathay und im Reich des Priesterkönigs Johannes gewesen zu sein. Der Prätext weiß über den König von Armenien die aus dem Melusinenroman bekannte Sperberburg-Geschichte zu erzählen;17 im Fincken Ritter werden dann die Papageien und Sittiche Armeniens besonders erwähnt. Auch bei Mandeville wachsen die Schafe auf den Bäumen, und zwar im Land Caßdilbe:18 Wenn die frücht zeitig werden das man sy von einannder pricht so vindet man darinn ein tier das hat flaisch vnˉ pluͦ t vnˉ ist eineˉ laͤ mlin gleich an der woll.19 Im Fincken Ritter dient dies als Grundlage eines pseudoetymologischen Scherzes. Die Vorrede profiliert bereits das zentrale Verfahren des Textes: das Zusammenballen dessen, was nicht zusammengehört 14 15 16
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Finckenritter 1991, S. 135.11–28. Vgl. hierzu und für das Folgende auch Röcke 2004, S. 322f. Mandeville 1991, S. [4]; vgl. auch die kritische Ausgabe der deutschen Übersetzung nach einer Handschrift von 1472 (Mandeville 1974). Mandeville 1991, S. [98]f.; vgl. Thüring 1990, S. 158–165. In der Handschrift von 1472: Casdisle (Mandeville 1974, S. 151.12). Mandeville 1991, S. [154]. Wenn im Fincken Ritter die Baumwolle so heißt, weil die Schafe auf den Bäumen wachsen, sehe ich hierin daher nicht – wie Knape 1991, S. 107, und Röcke 2004, S. 323 – eine verquere Volksetymologie.
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(das zeigt sich bereits in ihrer auffallend unklaren Syntax). Der propositionale Gehalt der Prätexte, das in ihnen vermittelte Wissen, erscheint so der Lächerlichkeit preisgegeben. Dazu bedient sich der Fincken Ritter bekannter Elemente aus dem zeitgenössischen Reisediskurs, die unterschiedslos zusammengeworfen werden: Sanct Patricius Fegfeür / inn Hybernia findet sich etwa im anonymen Fortunatus (1509) als lichtlose Höhle, in die der Held sich aus touristischer Neugier einschließen lässt.20 Das cleber moͤ r, aus dem im Fincken Ritter ein kelber Meer wird, findet sich auch in Sankt Brandans Meerfahrt,21 ebenso wie die Judas-Gestalt, die von Samstagabend bis Sonntagfrüh auf zwei Felsen im Meer, der eine eiskalt, der andere glühendheiß, sitzen muss und sich nur durch ein Tuch vor der sengenden Sonne schützen kann.22 Die Verkehrungsstrategie des Fincken Ritter setzt mit Allusionen auf Prätexte ein, die selbst von partiell verkehrten Welten handeln: Mandevilles Reisen und Die wundersame Meerfahrt des Sankt Brandan erzählen von den Wundern der Welt, wie sie zu Gottes Schöpfung gehören, und damit zugleich von Weltausschnitten, die sich den zeitgenössisch alltäglichen Vorstellungen vom Lauf der Welt, von der Ordnung der Natur, der Dinge und des menschlichen Zusammenlebens widersetzen, in denen die gewohnten Kategorien keine Geltung mehr haben, in denen die gewohnte Ordnung der Natur und des menschlichen Zusammenlebens auf den Kopf gestellt erscheint. Der Fortunatus greift solches Weltwissen innerhalb seines fiktionalen Entwurfs auf, aber nur, um nicht mehr von der göttlich gewollten Ordnung der Dinge, sondern um radikal von – vor allem sozialer – Kontingenz zu erzählen. Der spätere Text scheint solche Verunsicherungen ins Epistemische zu wenden. Im Fincken Ritter residiert der Chan vonn Cathay in Straßburg, der Priesterkönig Johannes in Nürnberg und Heidelberg, zugleich ist er Vorsteher des Paradieses und lebt bei deutschen Kaminkehrern und babylonischen Seifensiedern. Der Bußfelsen des Judas und das Fegefeuer des Heiligen Patrick sind keine heilsgeschichtlich bedeutsamen Orte mehr, sondern gehören in die gleiche Kategorie wie die Ill, die durch Straßburg fließt, das Klebermeer, Irland, München, Arabien, Armenien – und überhaupt geht es im übergeordneten Satz ganz profan lediglich darum, dass der Held sich etwas zum Essen gefischt hat. Die Vorrede des Fincken Ritter lässt die Unterschiede zwischen den Texten verschwimmen, zerstört damit ihren Geltungsanspruch, und macht so das Erzählen von gestörten Ordnungen frei für ein literarisches Spiel, wel-
20 21 22
Vgl. Fortunatus 1990, S. 440.26–449.11. Brandan 1994, Bl. a vv. Vgl. ebd., Bl. c iiiv–c vv.
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ches das Einebnen von Unterschieden ebenso wie Störungen und Verkehrungen der gewohnten Ordnungen zum poetischen Prinzip selbst erhebt.
4. Metaphorische Inversion Dies betrifft letztlich die Sprache in ihrer Funktion als Repräsentation von konkretem Weltwissen selbst, denn die logischen Inversionen setzen mit Vorliebe bei Sprichwörtern, Sentenzen und feststehenden Redewendungen an.23 Deren Pragmatik ist per se durch den exemplarischen Anspruch bestimmt, zutreffende Aussagen über den Lauf der Welt und die Ordnung der Dinge zu machen, auch wenn diese Aussagen nicht immer und nicht überall Geltung haben und sich nicht übergreifend systematisieren lassen. Ich erinnere an die Bemühungen vieler Humanisten, begonnen bei Erasmus, solche geflügelten Worte nicht allein bei den klassischen Autoren, sondern auch in den Volkssprachen zu sammeln, weil man in ihnen eine alltagspraktische Weisheitslehre der Völker formuliert sah. So zitiert schon das Titelblatt von Sebastian Francks Sprichwortsammlung Jesus Sirach: Richt dich nach den Sprichwoͤ rtern der Weisen. Die vernünfftigen geben sich auff die Sprichwoͤ rter.24 Nach Francks Vorwort sind sie ›Klugreden‹: BEy den alten ist vnnd heyßt Sprichwort / Ein kurtze / weise kluͦ gred / die summ eines gantzen handels / gesatz odder langen sententz / als der kern / in ein engs sprüchlin vnnd verborgen griflin / gefaßt / da mehr / etwa anders verstanden dann geredt wirt. […] Vnd ist bei allen Nationen vnnd zungen die groͤ ßt weyßheyt aller weisen in solich hoffred vnnd abgekürtzte Sprichwoͤ rter […].25
Solches Sprachmaterial wird im Fincken Ritter beim Wort genommen und – teilweise äußerst verdreht – in erzählte Handlungen, in Geschehnisse umgesetzt. Andreas Bässler hat dieses Verfahren, das offenbar in der Tradition allegorischer Dichtung und Exegese steht, als »metaphorische Inversion« bezeichnet und seine Bedeutung besonders für die Illustrationspraxis und die Textorganisation der Narrenliteratur des 15. und 16. Jahrhunderts hervorgehoben. »Metaphorische Inversion« meint, »daß die im Sprichwort bereits klischierte oder automatisierte Metapher wieder reaktiviert und neu ins Bewußtsein gerufen wird. Es ist ein Spiel mit den Sinngewichten der übertragenen und literalen Bedeutung«, wobei die »Gewichte der Sinnebenen von der Priorität der übertragenen Bedeutung zugunsten der literalen um[gekehrt]« werden.26 Folgt man Bässler weiter, handelt es sich dabei um ein – 23
24 25 26
Zu weiteren rhetorischen Verfahren des Textes und zu seiner Bildlichkeit vgl. Knape 1991, S. 105–108. Franck 1993, S. 3. Ebd., S. 9.4–12. Bässler 2003, S. 1. Den Hinweis auf diese Arbeit verdanke ich Hartmut Bleumer.
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fälschlich als volkstümlich verstandenes – Epochenspezifikum der frühneuzeitlichen Literatur, das bevorzugt an der Schnittstelle zwischen humanistischer Gelehrsamkeit und volkssprachiger Literatur begegnet. Bässlers Kronzeugen sind die Illustrationen zu Brants Narrenschiff, das Schwankbuch von Dyl Ulenspigel sowie Fischarts Eulenspiegel reimensweis und das Lalebuch.27 Der Einfluss dieses Verfahrens zeigt sich schon äußerlich in den Holzschnitten, die den Fincken Ritter illustrieren. Auf der Titelseite ist hier ein Reiter auf einer Gans zu sehen, der spiegelverkehrt aus Wickrams Losbuch übernommen worden ist;28 weiter hinten findet sich ein ebenfalls spiegelverkehrt aus dem Losbuch übernommener Reiter auf einem Krebs.29 Solche Bilder gehören in die zeitgenössische Narrenikonographie; die Attribute der Tiere – Dummheit und Rückwärtsgang – werden so auch auf ihre Reiter übertragen. Brants Narrenschiff zeigt im 34. Kapitel – Narr hur als vern – einen Narren, der von Gänsen umringt ist, eine zwischen seinen Beinen, eine auf seinem Arm, eine fliegt von ihm weg. Das Motto lautet hier: Manchen dunckt / er wer witzig gern | Und ist eyn ganß doch / hür als vern | Dann er keyn zuͦ cht / vernunfft will lern.30 Der zugehörige Text handelt unter anderem von denjenigen Narren, die viele Länder durchreisen, dort aber nichts lernen und so dumm wie eine Gans, die ausgeflogen ist, wieder zurückkehren.31 Bild und Text illustrieren sprichwörtliches Wissen über die Natur des Narren, der auch auf Reisen nichts dazulernt.32 Und der Finkenritter ist ein solcher Narr, der auf seinen Reisen auf die radikalste Weise unverändert bleibt, so dass er zuletzt wieder ein Säugling ist; er zieht aus, um gewissermaßen im Krebsgang in den Mutterleib zurückzukehren. Der Text setzt weitere sprichwörtliche Attribute des Narren in Narration um: beständigen Hunger, Jähzornigkeit, Gefährlichkeit für sich selbst und schließlich das Fehlverstehen dessen, was er gehört hat.33 27
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Im Anschluss an Bässler fasse ich den Sprichwortbegriff in Anlehnung an die zeitgenössische Praxis sehr weit: »Wie weit die Schere zwischen einem modernen Sprichwortverständnis und einem des 16. Jahrhunderts auseinanderklafft, läßt sich allein schon daran messen, was damals alles unter der Rubrik Sprichwort Bürgerrecht genoß: metaphorische Einwortformen, Zwillingsformeln, sprichwörtliche Redensarten und bloße Redewendungen, Wellerismen (insofern berechtigt, da stets ein Sprichwort integriert ist), Sentenzen, die pythagoreischen Symbola, bei Johann Agricola serienweise Fluch- und wohl als beschwichtigendes Gegengewicht Grußformeln usw.« (ebd., S. 26). Wickram 2003, S. 45. Abgebildet auch bei Knape 1991, Abb. 3. Wickram 2003, S. 85; Knape 1991, Abb. 8. Brant 2004, S. 85. Ebd., S. 86, V. 11–14. Vgl. das Lemma »Narr« in Thesaurus, Bd. 8, S. 348–411, hier S. 358, Nr. 2.3.: »Wer als Narr weggeht, kommt als Narr zurück (ist auch anderswo ein Narr)«. Vgl. ebd., S. 374f., Nr. 8.1.: »Narren essen und trinken gern«, und ebd., S. 378, Nr. 8.5.4.: »Narren verstehen alles falsch«; der einzige Beleg unter dieser Rubrik – Was der narr hoͤ rt, versteht er letz [= falsch] – ist aus Franck 1993, S. 299.32, und
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Das Verfahren der »metaphorischen Inversion«, dessen Einfluss sich bei den Illustrationen zeigt, wird – auf unterschiedlichen Ebenen – im Text selbst aufgegriffen, um damit eine verkehrte Welt zu entwerfen. Wo Sprichwörter ›Klugreden‹ sind und Lebensweisheit prägnant fassen, zeigt sich Narrheit dort, wo ihr Sinn ins Gegenteil verkehrt wird. In einer verkehrten Welt gilt das sprichwörtlich Übliche nicht mehr: Nur in der gewöhnlichen Welt sind viele Hunde des Hasen Tod,34 doch im Fincken Ritter ist es genau umgekehrt: da wurden die Hunde von den Hasen gefangen / die Schaaff henckten die Waͤ lff / Huͤ ner vnnd Gaͤ nß stelten vnnd richteten den Füchsen vnnd Mardern / mit fallen vnnd garnen nach / fiengend die / vnd frassend sie / da was ein guͦ t land.35
Auf der anderen Seite spekuliert der Text Redensarten und Sprichwörter aus, mit denen sonst Unmöglichkeiten und Unsinnigkeiten markiert werden: Etwa gehört es laut Sebastian Francks Sammlung zu den ABSVRDA beziehungsweise PRAEPOSTERA , also zu den vnfuͤ glichen vngereimpten verkerten dingen,36 wenn ein alter […] tantzt37 und wenn der waldt […] kein baum [hat],38 oder laut derjenigen Christian Egenolffs, wenn man versucht, sich mit koln weiß zu machen.39 Der Finkenritter aber bewegt sich in einer Welt, in der genau solche Unmöglichkeiten zur Regel werden: In den schlaraffischen Dörfern, die aus Fleisch und Wurst gebaut sind, dantzten die kinder / vnnd die alten schwachen. Die knaben vnd doͤ chter sahen zuͦ .40 Der Finkenritter verlor den weg / vnnd gieng die bane / vnnd kam in einen grossen vngeheuren dicken Wald / da was kein Baum / da fand ich einen schoͤ nen schneeweissen Koler / der brandt Thanzapffen / darauß wurden Leberwuͤ rst […].41
Neben das Spiel mit der sprichwörtlichen Topik tritt hier dasjenige mit der literarischen: In der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzählliteratur symbolisieren Köhler, die im Wald leben, mitunter den letzten Außenposten der Zivilisation, etwa in Schondochs Königin von Frankreich; bei ihnen kann man in Zeiten der Krise zwischenzeitlich Zuflucht suchen, um zuletzt den Weg in die Gesellschaft zurückzufinden. Eine solche Orientierung aber vermag der schneeweiße Köhler des Fincken Ritter nicht zu ge-
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einer späteren Ausgabe (1565) der von Egenolff 1548 kompilierten Sammlung nachgewiesen. Vgl. auch Thesaurus, Bd. 8, S. 381f., Nr. 8.8.2.: »Der Narr schädigt sich selbst«, und ebd., S. 383, Nr. 8.9.2.: »Narren sind jähzornig und aufbrausend«. Vgl. Sprichwörter 1972, Bl. 40v: Vil hund seind der hasen tod. Finckenritter 1991, S. 136.51–54. Franck 1993, S. 18.19f. Ebd., S. 19.33. Ebd., S. 20.13. Sprichwörter 1972, Bl. 8r. Finckenritter 1991, S. 139.179f. Ebd., S. 136.79ff.
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ben, weil man einander nicht versteht und aneinander vorbeiredet. Der Text demontiert so zugleich mit dem elementaren Wissen, das in Sprache gefasst ist, auch komplexere literarische Sinnbildungsmuster. Auch die Religion wird von diesem Inversionsmechanismus erfasst – sie bietet keine Sicherheit, sondern ist nur noch zum Fürchten. Der Finkenritter missversteht die Worte des Pfarrers und ergreift panisch die Flucht. Der Held selbst agiert völlig kopflos, bald nicht mehr im uneigentlichen, sondern auch im eigentlichen Sinne. Wenn man sich nicht mehr wehren kann, sondern besser flieht, nennt man das sprichwörtlich: Mit fersen gelt bezalen.42 Die siebte Tagreyse des Finkenritters lautet nun wie folgt: VNd wie ich nun weitter fuͤ rt zohe / vnnd nahend zuͦ einem dantz kame / da bullen die Bauren / vnnd lieffen die hund mit spiessen herauß / grinnen die hanen / vnd kraͤ ieten die Sew / vnnd plerten die huͤ ner / vnnd stoͤ berten die Schaaff. Mit diesem grausamen leben / kam ich inn angst vnnd noth / muͦ st mich meins leibs vnnd wehrs erleben / Sie trieben mich biß an das Roth Meer / inn der jüppen / hert an dem Fincken laͤ ger / zwischen Ermettingen / vnnd dem Schwaderloch / da wehret ich mich so Ritterlichen mit den fersen / das ich mit einer ruͦ ßigen loͤ cherechten kestenpfannen zuͦ Ritter geschlagen / vnd der streng Fincken Ritter genant warde.43
Die Sprichwörter werden also nicht bloß – eins zu eins oder in einfacher Inversion ihres propositionalen Gehalts – in Narration umgesetzt, sondern weiter fortgesponnen, im Kleinen wie im Großen, hier auch in Syntax und Wortbildung hinein: Der Finkenritter muͦ st [s]ich [s]eins leibs vnnd wehrs erleben, statt sich seines Leibs und seines Lebens erwehren. Die Überschrift zum 41. Kapitel von Sebastian Brants Narrenschiff lautet: Eyn glock on klüpfel / gibt nit thon | Ob dar jnn hangt eyn fuchßschwantz schon | Dar vmb loß red für oren gon.44 Daraus werden in der dritten Tagreyse des Finkenritters die Attribute eines närrischen Kirchenbaus. Der Held kommt zuͦ einer zwilchenen Kircheˉ / die Glocken warend von Juͤ ppenthuͦ ch gegossen / die kluͤ pffel darinn von Beltz ermlen gemachet.45 Das Muster des narrativen Ausspekulierens von sprichwörtlichem Material zeigt sich hier nur im Detail; aber das Verfahren liegt auch größeren Sequenzen zugrunde. Besonders eindrucksvoll ist dabei die Lautenschläger-Erzählung der sechsten Tagreyse, in der Ludwig Uhland das einzige originelle Motiv, »die eigenthümlichste Fabel« des Fincken Ritter sehen wollte, »ein Spielmannsstück, das großartigste von allen«.46 Allerdings: Ein frühneuzeitliches Sprichwort, das in Murners Narrenbeschwörung begegnet und in Egenolffs Sammlung aufgeführt wird, umschreibt inneres Wohlbehagen mit der Wendung, einen Lautenspieler im Herzen oder im 42 43 44 45 46
Sprichwörter 1972, Bl. 145v. Finckenritter 1991, S. 139.188–195. Brant 2004, S. 101. Finckenritter 1991, S. 137.87ff. Uhland 1866, S. 232.
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Busen zu haben.47 Das Bild basiert auf der Inversion von Innen und Außen, und genau hier setzt die Phantasterei des Fincken Ritter an, wenn der Held durch den Lautenstern in das Instrument fällt – und mit eben dieser Inversion hört die Sequenz auch auf, wenn der Lautenspieler, der das selbstständige Tönen seines Instruments ausgenutzt hat, um selbst zum Tanz zu gehen, zuletzt in sein Instrument heimkehrt, als wäre es sein Haus. Die ältere Forschung, für die ich stellvertretend ihren ersten Vertreter Uhland genannt habe, hat dem Fincken Ritter zumeist mangelnden Einfallsreichtum und mangelnde Poetizität vorgehalten; die spärliche neuere48 hat sich bemüht, diesem Eindruck zu widersprechen: Knape im Blick auf die rhetorische Faktur, Cramer und Röcke im Blick auf die inhaltliche Radikalität, vor allem den religiösen Indifferentismus. Der Text ist, so lässt sich als Zwischenergebnis festhalten, poetisch äußerst elaboriert, freilich nach den handwerklichen Mustern älterer Regelpoetik. Es geht ihm nicht darum, originelle Bilder für das Absurde zu finden, sondern das Absurde aus den Sprichwörtern, Redewendungen und Topoi heraus zu entwickeln, mit denen gewöhnlich Weltwissen in Sprache gefasst wird. Damit gehört der Fincken Ritter in eine breitere Tradition frühneuzeitlicher Unsinnsdichtung.49
5. ›Schlaraffische‹ Poetik? Ein Badestübchen auf der Nase zu tragen, bedeutet sprichwörtlich schlicht: dort eine Warze zu haben.50 Das Verfahren der »metaphorischen Inversion« nimmt dieses Bild beim Wort: Auf einem Einblattdruck des 16. Jahrhun 47
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Vgl. Thesaurus, Bd. 7, S. 294, »Laute«, Nr. 1, und Sprichwörter 1972, Bl. 25v: Einˉ Lautenschlaher im buͦ sem haben | In sinu gaudere. | Es ist im heymlich wol. | Er schlegt oder hofiert jhm allein selbs. Vgl. oben Anm. 8. Knape zeichnet Fischarts Referenzen auf den Fincken Ritter nach, erläutert Bezüge zur Lukian-Tradition und zum Verhältnis von Verkehrter Welt und Groteske in der Literatur des 16. Jahrhunderts (Knape 1991, S. 121–130). Cramer versucht nachzuweisen, dass der Autor des Fincken Ritter Rabelais’ Gargantua gekannt habe (Cramer 1999, S. 287f.). »Die poetische Struktur des Werks« könne jedoch »bei aller Verwandtschaft nicht […] aus Mustern komischen, satirischen oder grotesken Schreibens im 16. Jahrhundert« abgeleitet werden, und zwar aufgrund der »leitmotivischen Verwendung religiös-biblisch konnotierter Bilder und Aussagen und der konsequent durchgehaltenen Ich-Perspektive« (ebd., S. 289): »Die Abenteuer des Finckenritters lassen sich […] als Travestie und Persiflage der christlichen Lehre von der Wiedergeburt aus Wasser und Geist lesen, in deren Verlauf der Held immer wieder mit deutlichen Teufels-, Dämonen- und Hexerkonnotationen versehen wird« (ebd., S. 292), so dass »der ›Finckenritter‹ eine komische Variante des Faustus« aus fiktionaler Ich-Perspektive sei (ebd., S. 297). Ich würde weder die Tragfähigkeit der Textstellen, die Cramer für seine Gesamtinterpretation bemüht, noch die Originalität des Werks derart hoch ansetzen und stattdessen die Tradition volkssprachlich-gelehrter Unsinnsdichtung stärker betonen. Die Beiträge zu diesem Band geben hierfür vielfältige Beispiele und Referenzpunkte. Vgl. den Eintrag »Badstüblein« in Grimm/Grimm 1984, Sp. 1075.
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derts51 ist die Figur des Hans Lützel zu sehen, einer grotesken, riesenhaften Gestalt, deren Bart mit Schindeln gedeckt ist und auf deren Nase ein kleines Häuschen prangt, das durch einen davorstehenden Nackten mit Badequaste als Badestübchen ausgewiesen ist. Diese Figur stammt dem dazugehörigen Gedicht zufolge auß dem Schlauraffen landt, wo es viele ihresgleichen gebe, und wer das nicht selbst in Erfahrung bringen wolle, der solle auf Lützels Nase sehen. Dem Finkenritter begegnet in der dritten Tagreyse ein huͤ bscher / schwacher feiner / grauwer / junger / bloͤ der alter schoͤ ner / hurtiger Mann / der dantzet an einer Krucken / der hat ein Baͤ rtlin mit schindlen gedeckt / ein Badstuͤ blin auff der Nasen / vnd ein waͤ rtzlin an einem zan / hincket an einem ohr / vnnd stamlet an einem ellenbogen.52
Später wird der Finkenritter in ein Dorf kommen, wo die heuser mit kottfleisch gemacht [waren] / die daͤ cher mit den sewmaͤ gen / lungen vnnd lebern gedeckt,53 auffälligerweise zur selbigen zeit / als man gern vnder der nasen schwitzen thuͦ t.54 Die oberflächentextuelle Rekurrenz legt nahe, dass beides dem gleichen Sinn- bzw. Unsinnsbereich zugeschrieben wird. Im 16. Jahrhundert ist das Schlaraffenland ein topischer Ort von Narrheit. Der Entwurf eines Landes, wo menschliche Faulheit belohnt wird, weil in den Bächen Milch und Honig fließen und einem gebratene Tauben ins Maul fliegen, eines Landes, wo die Häuser aus Fleisch und Wurst bestehen, steht in einer älteren Tradition der Unsinnsdichtung. Nachlesen lässt sich das in Boltes und Polívkas Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, und zwar in jenen zu Knoist un sine dre Sühne, Das Dietmarsische Lügenmärchen sowie Das Märchen vom Schlauraffenland, wo zentrale Motive und Verkehrungsverfahren des Fincken Ritter wiederbegegnen.55 Quellen und Motive dieser Märchen lassen sich bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen. Von Anfang an geht es darin nicht um die Pervertierung der sozialen Ordnung, sondern um den Entwurf einer Welt, der von logischen Absurditäten geprägt ist. Die Unnötigkeit, sein Brot mit Arbeit zu verdienen, ist nur eine spezifische Ausprägung davon. Ich neige deshalb dazu, die Erzählweise des Fincken Ritter nicht ›karnevalesk‹ im Sinne Bachtins, sondern vielmehr ›schlaraffisch‹ zu nennen. Ebenso würde ich vorschlagen, die in diesem Text entworfene Welt weniger als eine karnevaleske oder gar groteske zu bezeichnen, sondern eben als eine ›schlaraffische‹. Die allgemeineren Tendenzen der Karnevalisierung, die Narrentopik, der Zug ins Groteske – all dies scheint hier durch das Grund-
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Knape 1991, Abb. 13. Finckenritter 1991, S. 136.70–74. Ebd., S. 138.158ff. Ebd., S. 139.163f. Bolte/Polívka 1918, S. 115–119 und S. 244–258; vgl. auch Uhland 1866, S. 231–239.
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prinzip logischer Inversion auf eine besondere vormoderne Form absurder Literatur hin spezifiziert und fokussiert.
6. Widersinn und Textkohärenz Freilich, die umfassende Tendenz zur logischen Verkehrung hat ihre Grenzen:56 Das absurde Erzählen über eine unmögliche Person in einer verkehrten Welt ist immer noch ein Erzählen; es ist im klassischen Sinne Narration mit Anfang, Mitte und Schluss, mit einer Veränderung zwischen dem Ausgangs- und dem Endzustand, auch wenn Ziel- und Ausgangszustand ausgetauscht werden. Es handelt sich dabei durchaus um sujethaltiges Erzählen, auf der Ebene des Gesamttextes wie auf derjenigen einzelner Episoden. Denn was könnte sujethaltiger sein als das narrative Durchbrechen gewohnter Ordnungen und gewohnter Kategorisierungen der einen kulturell vorausgesetzten Wirklichkeit, mit einem Helden, dessen Pläne und Vorsätze immer wieder von kontingenten Ereignissen durchkreuzt werden? Allerdings: Das kulturell und epistemisch Abweichende ist im Text selbst völlig selbstverständlich. Es gibt in ihm keine Trennung, keinen Übergang zwischen einer ›gewöhnlichen‹ und der ›verkehrten‹ Welt; es gibt darin auch keine Markierungen, weder durch den Ich-Erzähler noch durch andere Figuren, die das Geschehen als abweichend klassifizieren würden: Niemand wundert sich über das, was hier möglich ist, über das, was geschieht, und über das, was man wahrnehmen kann.57 In diesem Sinn erzählt der Fincken Ritter von einer radikal kontingenten Welt, einer Welt, in der alles möglich ist, weil hier jede Regel, jede Ordnung ihre Geltung verliert. Insofern wird die Sujethaltigkeit des Geschehens dann doch negiert, weil es in einer ›schlaraffischen‹ Welt, wo es keine Ordnung gibt, auch keine ereignishaften Übertretungen dieser Ordnung geben kann. Auch die radikale Kontingenz, der der Finkenritter immer wieder ausgesetzt ist, wird von Anfang an eingeklammert, indem schon der Titel klarstellt, dass der Held zuletzt sicher bei seiner Mutter ankommt und von ihr neu geboren wird. Die Radikalität des Fincken Ritter wird gewissermaßen in ihrem ›schlaraffischen‹ Reservat, ihrem ›schlaraffischen‹ Chronotopos eingehegt. Der Text spielt mit der durchgängigen Verunsicherung der gewohnten Weltorientierungen, und doch widersetzt sich sein narrativer Entwurf der vollständigen Auflösung. Obwohl hier eine – wenigstens körperlich – inkonsistente Person von einer inkonsistenten und inkohärenten Welt erzählt, ist der Fincken Ritter als Text wie als Modell einer möglichen Welt in sich 56 57
Daran möchte ich gegen Cramer 1999, S. 284f., durchaus festhalten. Entsprechend fehlt auch jeder Kommentar, der die ›verkehrte‹ Ordnung in eine Relation zur ›richtigen‹ stellen würde; vgl. Knape 1991, S. 128f.
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durchaus konsistent und kohärent. Auch radikale Unsinnsliteratur kann trotz aller Absurditäten nicht auf Verständlichkeit verzichten, sie kann das Übliche hinterfragen, aber sie kann die kulturellen Codes, auf denen sie aufsitzt und derer sie sich notwendig bedienen muss, nicht völlig hintergehen. Inversion setzt voraus, dass es etwas gibt, was man verkehren kann. Dies ist im Fincken Ritter die kategoriale und die epistemische Ordnung der Welt sowie die körperliche Einheit des Subjekts, wie sie mit den Mitteln der Sprache repräsentiert werden können. Der Text funktioniert nur, solange ein letzter Rest epistemischer Grundannahmen nicht in Frage gestellt wird: Das ist zum einen die Prämisse, dass die Welt, in der der Finkenritter sich bewegt, konkret, dinglich, material, greifbar ist und dass ihre Objekte bestimmte Eigenschaften haben und zueinander in wahrnehmbaren Relationen stehen – sonst erübrigten sich alle Scherze der Art, dass man in ein Schiff steigt, das nicht da ist, dass man in einen Wald geht, in dem es keinen Baum gibt, oder dass Häuser aus Fleisch gebaut sind. Zum anderen ist die Prämisse nötig, dass die Einheit des Subjekts konkret körperlich fundiert ist58 – sonst könnte man auch die Psyche des Finkenritters spalten, und nicht bloß seinen realen Körper von einem ebenso realen Phantomkörper trennen, in dem das Bewusstsein situiert ist. Und zum dritten setzt der Text voraus, dass Zeitlichkeit Veränderung bedeutet – sonst wäre es witzlos, den Protagonisten zu seiner Geburt zurückzuführen. Es werden gewissermaßen die basalen Koordinaten der Weltorientierung demontiert, nicht aber ihre Kategorien. Diese werden lediglich invertiert. Und der Text funktioniert schließlich nur deshalb, weil seine narrativen Verfahren, seine Organisationsmuster und Präsentationsformen sich an dem orientieren, was zeitgenössisch verfügbar ist. Dies betrifft die paratextuelle Rahmung durch einen ausführlichen Titel und durch gliedernde Kapitelüberschriften, die das Geschehen vorwegnehmen; dies betrifft die an der zeitgenössischen Reiseliteratur orientierte Gliederung in acht ›Tagreisen‹; und dies betrifft auch die textuelle Kohärenz selbst, die weniger syntagmatisch durch kausale Motivation und durch die Folgerichtigkeit des Geschehens hergestellt wird, als vielmehr paradigmatisch durch ein dichtes Netz von Rekurrenzen, Parallelen, Steigerungen und Oppositionen, begonnen beim Wortmaterial selbst über thematisch-motivische Wiederholungsfiguren bis hin zu den durchgängig wiederkehrenden Operationen sprachlicher und logischer Inversion.59 Immer wieder geht es um Blindheit: wenn die drei schadhaften Leute den Hasen jagen, wenn die Augen des Finkenritters von Bienen zerstochen 58 59
Vgl. hierzu die Beiträge in von Moos 2004. Anhand solcher Rekurrenzen ließe sich die Faktur des Textes genau beschreiben. An dieser Stelle soll der Hinweis auf solche Kohärenzbildungsmuster genügen. Eine Funktion über das Stiften von Kohärenz und das Erzeugen von Komik hinaus vermag ich nicht zu erkennen.
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werden, wenn er seinen Kopf verliert. Immer wieder scheitert verbale Kommunikation:60 mit dem schlaraffischen Alten, mit dem weißen Köhler, mit dem hafernen Pfarrer, mit der alt-jungen Frau, die einen alten Sack wäscht. Mehrfach überquert der Finkenritter Bäche und Flüsse, in denen kein Wasser ist. Mehrfach kommt er an Orte, in denen die Ordnung der Tierwelt aufgehoben erscheint, etwa wenn die Hasen die Hunde jagen (wie überhaupt im Text relativ häufig Hasen, ein zeitgenössisch gängiges Symbol der Narrheit,61 thematisiert werden). Schlaraffische Dörfer, die aus Nahrungsmitteln gebaut sind, begegnen zweimal; auch die entsprechenden Nahrungsmittel wie Würste, Lebern, Leberwürste erscheinen einige Male. Immer wieder spielt der Hunger des Helden eine Rolle, wenn er ihn zu einer Handlung veranlasst; mehrfach gerät der Finkenritter in Zorn, oder er erschrickt, weil er etwas nicht richtig verstanden hat. Die Mutter des Helden wird mehrmals erwähnt, bis er in ihren Schoß heimkehrt. Zweimal brechen dem Helden die Eingeweide. Ein Windstoß bläst den Kopf des Helden herab; in einem Windschiff kehrt er zur Mutter zurück. Hinzu treten komplexere literarische Spiele: Der Priesterkönig Johannes wohnt, wie eingangs gesagt wird, bei den Kaminkehrern in Nürnberg; zuletzt fällt der Held durch den Kamin seines Elternhauses. Der Schlaraffenmann trägt ein Badehaus auf der Nase; in der Lautenschläger-Episode schwitzen dann die Menschen unter der Nase. Es entstehen gewissermaßen Kohärenzen in puncto Unsinnigkeit: Von den arabischen Papageien und Sittichen heißt es in der Vorrede, dass sie Lautensterne schneiden könnten, was hier noch ohne Sinn bleibt, im Gesamtzusammenhang jedoch durchaus einen Sinn enthält, weil der Held später selbst bei einem Lautenschläger durch den Lautenstern seines Instruments fällt. Im Blick auf solche Rekurrenzen und im Blick auf paradigmatische Variation ist der Text als Text trotz allen logischen Widersinns extrem kohärent. Das zeigt sich vor allem in der dritten Tagreyse, wo der Finkenritter zunächst den drei schadhaften Gesellen begegnet, dann dem Schlaraffenmann, dem schwarzweißen Köhler, dem hafernen Kaplan und der alt-jungen Frau. Hier massieren sich die Begegnungen mit Paradoxgestalten, denen völlig konträre Attribute zukommen und mit denen die Kommunikation scheitert. Neben die paradigmatische Variation tritt hier ein enger motivischer Nexus: Der Lahme geht auf einer Stelze, der Schlaraffenmann tanzt auf einer Krücke. Der Köhler brennt Tannenzapfen zu Leberwürsten; um Leberwürste aber ist der Finkenritter in der zweiten Tagreyse ausgefahren. Nachdem ihm die Eingeweide aus dem Leib gebrochen sind, wäscht er sie in einem trockenen Bach, und die alt-junge Frau, auf die er trifft, wäscht einen alten Sack. Die Beispiele ließen sich seitenlang fortsetzen. Die textuelle Kohärenz im Fincken Ritter ist auffällig hoch, höher 60 61
Vgl. Röcke 2004, S. 324f. Vgl. Thesaurus, Bd. 5, S. 418f., »Hase«, Nr. 6.
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jedenfalls als in den allermeisten Erzähltexten des 16. Jahrhunderts; erreicht wird dies jedoch mit den gleichen Verfahren, die für narrative Texte seit dem hohen Mittelalter verfügbar sind.
7. Ein logischer Irrläufer in den Fängen des mythischen Analogons Clemens Lugowski hat 1932 in seinem Buch über die Form der Individualität im Roman an den Beispielen der Romane Jörg Wickrams und der frühen Autobiographik die frühneuzeitliche Tendenz einer »Zersetzung des mythischen Analogons« beschrieben,62 also des Entwurfs einer Welt, in der die Identität des Einzelnen sich nicht im Gegensatz zu dieser profiliert, sondern sich in ihrer Teilhabe am Ganzen (durch Handeln, Erleiden und Augenzeugenschaft) erschöpft. In dieser Welt haben die Kategorien des Zufalls und der Entwicklung gar keine oder nur eine punktuelle Bedeutung. Weitere Merkmale des »mythischen Analogons« sind: die vorrangig bloß temporal-sukzessive Verkettung einzelner, je für sich stehender und nicht auf einen übergeordneten logischen Zusammenhang bezogener Handlungselemente, anders gesagt: ein immer auf das Ergebnis bezogenes, gewissermaßen sprunghaftes, nicht aus einer ›Entwicklung‹ herzuleitendes Verknüpfen von Handlungselementen; die Überdetermination von Handlungselementen durch andere als die situativ gegebenen Funktionen; die ›Isolierung‹ von Figureninteraktion aus der raum-zeitlichen Ordnung;63 eine »›Wie‹Spannung« statt einer »›Ob-überhaupt‹-Spannung«;64 der Vorrang der finalen »Motivation von hinten« gegenüber der kausal-psychologischen Motivation »von vorne«;65 die beständige Gewissheit eines nie in Frage stehenden Endes; die Fremdbestimmung der Figuren durch Affekte, welche unmittelbare Reaktionen auf äußere Eindrücke sind; rollenhafte Identitätsentwürfe, die nur dann komplex gebrochen erscheinen, wenn in einer Figur konkurrierende Handlungsrollen aufeinandertreffen; Wiederholung als konstitutives Kohärenzprinzip auf allen Ebenen eines Textes und auch der dargestellten Welt. Bezieht man dies auf den Fincken Ritter, dann kann dort von einer »Zersetzung des mythischen Analogons« nicht die Rede sein. Der Held selbst, der in Ich-Rede erzählt, wird auch nicht ansatzweise als Individuum mit einem psychischen Eigenleben in Abgrenzung vom ›Außen‹ der ihn umgebenden absurden Welt konturiert, sondern allein durch dasjenige, was ihm zugestoßen ist und was er beobachtet hat. Seine Antriebe sind nicht komplex, sondern er folgt allein, in seiner Rolle der literarischen Narrentopik 62 63 64 65
Lugowski 1994, etwa S. 52–141. Ebd., S. 22ff. Ebd., S. 40–44 u. ö. Ebd., bes. S. 60–81.
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entsprechend, basalen menschlichen Bedürfnissen, vor allem denjenigen nach Essen und Kleidung. Auf äußeres Geschehen reagiert er unmittelbar affektiv, meist durch Zorn oder durch Erschrecken. Weil es nicht um individuelle Subjektivität geht, wird mitunter die Einheitlichkeit der Perspektive durchbrochen, wenn der Finkenritter, dessen Wissen sonst ausschließlich durch seine situative Wahrnehmung begrenzt ist, dann doch erzählt, dass das ›Fang mir den‹ des Kaplans, vor dem er erschrocken wegläuft, eigentlich ein ›Amen‹ ist. Die Figur entwickelt sich nicht, sondern sie beschreitet einen Weg, der allerdings nicht auf Initiation, sondern auf Regression zielt. Die Ereignisse dieses Wegs sind bloß aneinandergereiht, nur durch punktuelle Kausalitäten miteinander verknüpft. Dabei wird zwar massiv Kontingenz exponiert, doch wird alle Zufälligkeit durch den vorab mitgeteilten Gesamtentwurf der Handlung wieder aufgehoben. Interessant ist nicht, was überhaupt, sondern wie das Angekündigte geschieht, und die Erzählung wendet alle Mittel auf, diese ›Wie‹-Spannung kunstvoll absurd zu bedienen. Brüche in der Einheit des Subjekts entstehen gewissermaßen rein mechanisch, indem sich der Körper als Bezugspunkt der Weltorientierung und das Bewusstsein des handelnden Subjekts gegeneinander verselbstständigen, so dass das Bewusstsein einen recht handfesten Phantomkörper erhält. Alles Geschehen ist, wie Lugowski sagen würde, »thematisch überfremdet«,66 und zwar durch das Programm einer verkehrten, ›schlaraffischen‹ Welt. Entsprechend sind hier logische und vor allem auch raumzeitliche Beschränkungen aufgehoben, denen die Interaktion der Figuren mit der sie umgebenden Welt unterworfen sein könnte. Das heißt: Es geht auch hier nicht um die Folgerichtigkeit von Handlungen, sondern um die konsequente Durchgestaltung der dargestellten Welt. Und diese ist allein von ihrem Thema der Verkehrung bestimmt, nicht von irgendwelchen Wahrscheinlichkeiten. Hinzu tritt die extrem hohe Kohärenz auf der Ebene der motivischen und oberflächentextuellen Verknüpfung. Die Faktur des Fincken Ritter gründet gewissermaßen auf einem paradigmatischen Prinzip negativer Kohärenz, das als solches wiederum massiv Kohärenz erzeugt. An ›erkenntnistheoretischem‹ Problembewusstsein mag man im Text – zumal auch durch die Irrelevanz religiöser Orientierungen in ihm67 – schon den Vorschein späterer, radikalerer Entwürfe wahrzunehmen vermeinen. In seiner Motivik, seiner Faktur und seiner Struktur jedoch sitzt er, wie das Gros der zeitgenössischen Erzählliteratur auch, immer noch und durchgängig auf mittelalterlichen Entwürfen auf. Die »Zersetzung des mythischen Analogons« zeigt sich allein epistemisch, nicht aber narrativ. Die Welt ist in Unordnung, nicht aber das Erzählen von dieser Welt.
66 67
Vgl. z. B. Lugowski 1994, S. 24. Darauf weist besonders Röcke 2004 hin.
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Morus und Moros – Utopia und Lalebuch Episteme auf dem Prüfstand lalischer Logik Da die menschliche Kapazität begrenzt ist, steht das Wissen nie komplett zur Verfügung. Und der Ideenhimmel ist nicht konstruierbar. Die Konstruktion des Ideenhimmels wäre von der begrenzten Kapazität der Vernunft abhängig – es wäre nicht der beglückende alte Himmel, sondern die beängstigende neue Ersatzkonstruktion. Aus dem Himmel der unbegrenzten Ideen würde die Hölle der endgültigen Beschlüsse, der selbstgemachten Utopien.1
1. Als vormals weise Fürstenratgeber haben sich die Lalen der Narrheit angenommen, um sich für den auswärtigen Dienst zu disqualifizieren und sich künftig nur noch dem Gemeinwohl ihres Heimatorts Laleburg widmen zu können. Der nämlich war während ihrer Ratgebermissionen an den Höfen der Mächtigen von den auf sich gestellten Frauen der Lalen an den Rand des Ruins gewirtschaftet worden. Daher wird nun der Kaiser von Utopien bei seinem Besuch in der einstigen Weisheitsmetropole seines Reiches mit vielerlei naͤ rrschen Bossen konfrontiert, weiß aber nicht, wie ers verstehn vnnd außlegen solt.2 In ganz ähnlicher Lage befindet sich die jüngere Lalebuch-Forschung in Sonderheit dort, wo sie den genaueren Skopus anzugeben versucht, zu dem sich der irritierend vielschichtige Text in ein kaum weniger irritierend komplexes Verhältnis zur Utopia des Thomas Morus setzt. 1985 bilanzierte Jan-Dirk Müller den Forschungsstand und markierte eben dies als sein Hauptdefizit: Das Lalebuch verlangte eine Untersuchung, die endlich die Beziehung zu Thomas Morus herausarbeitet, insbesondere ist aber das intrikate Verhältnis von Gesellschaftssatire, Anti-Utopie und Gesellschaftsentwurf darzustellen.3
Zwischenzeitlich ist dazu manches unternommen worden,4 doch ohne dass sich der dabei zu einer Kernfrage der Lalebuch-Deutung erhobene »Sinn 1 2 3 4
Schmidt-Biggemann 1992, S. 41. Lalebuch 1998, S. 101.16f. Müller 1985, S. 112, Anm. 369; vgl. auch Wunderlich 1982, bes. S. 674 und S. 678ff. Zwar hatte schon Bausinger 1961, S. 26f., auf die markantesten Utopia-Bezüge hingewiesen, doch blieben sie in der langjährigen Diskussion um die mögliche Lalebuchbeziehungsweise Schiltbürgerbuch-Autorschaft Johann Fischarts (vgl. Wunderlich 1982, S. 664ff.) als durch dessen Geschichtklitterung vermittelte und eher akzessorische, jedenfalls nicht weiter deutungsrelevante Momente verkannt; vgl. etwa Trümpy 1967, S. 765, Anm. 50: »Utopien im Lalebuch geht vor allem auf Fischart, also nur
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und Fug« der Utopia-Allusionen5 auf einen gemeinsamen Nenner hätte bringen lassen. Den aktuellen Erkenntnisstand hat 2004 Hans Rudolf Velten wie folgt umrissen: Das Lalebuch ist […] mehr als ein zynischer Kommentar auf das Scheitern frühhumanistischer Tugend- und Erziehungskonzepte: zu einfach und einsträngig erscheint seine Deutung als klare Absage an das humanistische Vertrauen in die Vernunft […]. Vielmehr ähnelt das Lalebuch einem gigantischen Metabolismus der ethischen und utopischen Konzepte seiner Epoche: diese werden zerkaut, verdaut, zersetzt, miteinander vermischt und in neuer Form wieder rekombiniert. Denn Pessimismus, Kritik, Satire und Appellfunktion werden im polyphonen und ständig changierenden Text kaum greifbar, da sich alle Codes und Zeichen im Moment ihrer Entschlüsselung sofort verkehren können und wieder anders gelesen werden wollen.6
Veltens treffende Stoffwechsel-Metapher ist Ausdruck der allgemeinen Verlegenheit, etwa die Inversions- und Negationsverhältnisse zu kategorisieren und terminologisch zu fassen, die den Verdauungsprozess der vom Lalebuch einverleibten Konzepte bestimmen, und zumal was im Fall der Utopia dabei ›herauskommt‹, ist schwer auf Begriffe zu bringen. Parodie und Travestie, Utopiesatire und Anti-Utopie7 mit eher diffuser kritischer Stoßrichtung bezeichnen Faktur und Problemansatz des Lalebuchs jedenfalls eher im Sinn eines Sowohl-als-auch denn eines Entweder-oder. Die von Laura Auteri betonte »außerordentliche[] Polysemie des Lalebuchs«8 ist unstreitig und die »evidente[] Vielschichtigkeit« und »textuelle[] Komplexität« der Utopia seit je bekannt.9 Dass aber Wissen und seine Organisations- und Verfügbarkeitsformen – also die Wissensordnungen – sowie der zeittypische Umgang damit ein Hauptthema beider Texte darstellt, ist mitsamt seinen Deutungsimplikationen erst ansatzweise im Blick der Forschung. So ist
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mittelbar auf Thomas Morus zurück« (im Widerspruch dazu aber ebd., S. 777, Anm. 129). Die bis dahin einlässlichste Studie – Ertz’ Dissertation über »Aufbau und Sinn des ›Lalebuchs‹« (1965) – tat Morus’ indirekter Beteiligung an eben dieser Sinnkonstitution keinerlei Erwähnung. Erst die jüngere Forschung hat die in ihrer Fülle nicht aus zweiter Hand (Fischart) beziehbaren, sondern nur aus intimer Textkenntnis und intendierter sinnfunktionaler Bezugnahme erklärlichen intertextuellen Referenzsignale zur Utopia herausgearbeitet; vgl. v. a. Bachorski 1991, S. 30–34; ders. 1995 und 2006, S. 318–337; Berns 1995; Kuper 1993, S. 120–126; Röcke 1999, S. 185ff.; ders. 2003; Samuel-Scheyder 1994; Velten 2004 (Utopien), S. 566–571; ders. 2004 (Die Weisen). So Berns 1995, S. 157. Velten 2004 (Die Weisen), S. 742f. So etwa die Rubrizierungen von Berns 1995, S. 159; Kuper 1993, S. 123; Velten 2004 (Utopien), S. 570, und Samuel-Scheyder 1994. Auteri 1992, S. 247. Vgl. dazu etwa Kuon 1986, bes. S. 60–76, hier S. 58f. Die Utopia wird zitiert nach der Edition von Surtz und Hexter (More 1974), die auf der Ausgabe letzter Hand basiert (Basel: Johann Froben 1518; digitales Vollfaksimile: http://www.ub.uni-bielefeld.de/ diglib/more/utopia). Außerdem wird auf die deutsche Übersetzung Gerhard Ritters verwiesen (Morus 2003), die jedoch die Empfehlungsschreiben, welche der Utopia im Basler Druck vorangehen und nachfolgen, unberücksichtigt lässt.
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denn auch Veltens Eindruck beizupflichten, »dass die Möglichkeiten diskursanalytischer und intertextueller Analyse des Lalebuches noch nicht ausgeschöpft sind.«10 Bevor in der Folge ein Versuch in diese Richtung unternommen wird, soll in Erinnerung gerufen sein, wie vielfältig die Bezugsformen und Allusionsarten sich darbieten, durch die der anonyme Lalebuch-Autor den Utopia-Prätext als Deutungsfolie unterlegt. Neben der Rahmenkonstellation mit ähnlichen Handlungselementen, dem Ausgeben fremder Rede als Erzählerstandpunkt und einer »multiple[n] Perspektivierung« des Erzählten,11 die das Lalebuch zu nicht selten paradoxen Vermittlungsstrategien nutzt,12 markieren vor allem sprechende griechische Namen den intertextuellen Bezug. In beiden Texten negieren sie ironischerweise vielfach die Existenz ihrer Träger, von denen manche ›Niemand‹, ›Keiner‹ oder ähnlich heißen, oder sie belegen sie mit ironischen Selbstwidersprüchen.13 So wird etwa Raphael Hythlodäus, der weise Berichterstatter und Gewährsmann für Utopien bei Morus, zum Namensvetter des zunächst als ebenfalls weise ausgegebenen Kollektivhelden des Lalebuchs, haben die Worte Hythlodaeus und Lale in der Bedeutung ›Schwätzer‹ doch einen gemeinsamen semantischen Nenner.14 Eine Leitfrage der Utopia – die nach der Ratgeberrolle des Weisen im politischen Regiment – liefert den Ansatz für den Konflikt des Lalebuchs, und die Opposition von Gemein- und Eigennutz hat für das beiden Texten gemeinsame Sujet gedeihlichen Zusammenlebens und Kollektivhandelns leitthematischen Status.15 Die kleinteiligeren und weniger evidenten Referenzen sind bislang jedoch kaum annähernd erfasst, und auf welch verschiedenen Ebenen sie liegen, kann hier exemplarisch anhand einiger vorderhand eher unscheinbarer Parallelen nur angedeutet werden. Zusammen genommen belegen sie die intertextuelle Bezugnahme gleichwohl auch in Details. So finden sich im Lalebuch bestimmte, bei Morus mitunter eher beiläufig mitgeteilte Erwägungen und Maßnahmen der Utopier in parodistischer Ab 10 11 12
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Velten 2004 (Die Weisen), S. 712. Vgl. zur Utopia v. a. Kuon 1986, S. 77–80, das Zitat S. 78. Vgl. dazu Bachorski 1991; Kalkofen 1995, S. 595–601; Van Cleve 1998; Velten 2004 (Die Weisen), S. 743f.; Bässler 2003, S. 293–301; Bachorski 2006, S. 261–274. Vgl. zum Namenssignalement der Utopia etwa Kuon 1986, S. 121–125, zu den Lalebuch-Namen Berns 1995, S. 151f. und S. 163–166. Vgl. zur Namensetymologie von Hythlodaeus die Kommentare in More 1974, S. 301f., Anm., und Morus 2003, Namensregister, S. 181: »Jedenfalls dem Sinne nach […] ›Schwätzer‹, ›Aufschneider‹«. Da seinem Vornamen Raphael jedoch die Bedeutung ›Gottes Heiler‹, ›Arzt des Heils‹ zukommt, ist die Ambivalenz und Selbstwidersprüchlichkeit der Figur in ihrem Namen abgebildet. Zu Herkunft und Bedeutung des Namens der Lalen (vom griechischen λαλεῖν ›schwätzen‹, ›lallen‹, beziehungsweise λάλος ›geschwätzig‹) führt der Erzähler selbst aus, dass er Griechisch ist / vnd einen Schwetzer […] heisset (Lalebuch 1998, S. 12.1f.). Vgl. dazu zuletzt Bachorski 1995, S. 293–306, und ders. 2006, S. 275–295.
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sicht episodisch ausgebaut. Wenn für die Utopier zum Beispiel die »Transportverhältnisse maßgebend« für die Standortwahl ihrer Wälder sind (»man wünscht das Holz in größerer Nähe des Meeres oder der Flüsse oder der Städte selbst zu haben, weil man auf den Landwegen mit geringerer Mühe Getreide als Holz von weither verfrachten kann«),16 so realisieren die Lalen, die ihr Bauholz jenseit des Berges in einem Thal schlagen müssen, eher zufällig, dass Baumstämme selbständig den Hang herunterrollen, und schleppen sie den Berg dann wieder hinauf, um sich der rationellen Transportmethode durch das erneute Hinabrollen der Stämme zu versichern (Kap. 8).17 Ganz knapp nur teilt Morus des Weiteren von den Utopiern mit: »die Häuser tauschen sie alle zehn Jahre um, und zwar nach dem Lose«.18 Auch in Laleburg praktiziert man den Häusertausch, wenn auch auf spezifisch lalische Weise: Als nun jeder dem andern sein Hauß eynraumen solt / nam der eine / der wohnet zu oberst im Dorff / sein Hauß […] fuͤ hrt dasselbige stuckweiß in das Dorff hinab: der ander aber / welcher zu vnterst im Dorff gewohnet / das seine dargegen hinauff / hatten also einandern den tausch gehalten vnd geliffert.19
Zudem müssen die Lalen erleben, wie nachteilig eine einheitliche gleichfarbige Kleidung wie in Utopia20 sein kann: Als sie aber alle einer Farb hosen angehabt / vnd im zechen die Beyn durcheinander geschrenckt hatten / wie dann pflegt zugeschehen / vnd jetzund an dem war / daß sie heimgehn woͤ llen / schaw zu / da konte keiner seine Fuͤ sse oder Beyne kennen / weil sie alle gleich geferbt waren […]: waren derowegen in grosser angst.21
Erst mit kräftigen Stockhieben auf das Beinknäuel gelingt es einem Vorbeikommenden, den lalischen Gesamtkörper wieder aufzulösen. Zum episodischen Ausbau ›utopischer‹ Motive gesellen sich allusorische Utopia-Bezugnahmen des Lalebuchs, die nicht allein auf das Namenssignalement beschränkt bleiben. Wenn der deutsche Erzähler zum Beispiel vom sehr gu gu gute[n] Gedaͤ chtnuß der Lalen spricht und sich für seine stockende Rede mit einem Hu hu husten entschuldigt,22 mag Morus’ Utopia auch darin ansteckend auf ihn gewirkt haben. Denn dort bricht der Husten eines Zuhörers just in dem Moment los, in dem Hythlodäus die geographische Position Utopias angibt, weshalb niemand sie hören und ins SchriftGedächtnis überführen konnte.23 16 17 18 19 20 21 22 23
Morus 2003, S. 101f.; vgl. More 1974, S. 178.28ff. Lalebuch 1998, Kap. 8, S. 35.15–39.8, das Zitat S. 35.26. Morus 2003, S. 63; vgl. More 1974, S. 120.12f. Lalebuch 1998, S. 109.25–110.1. More 1974, S. 126.2–6; Morus 2003, S. 66f. und S. 71f. Lalebuch 1998, S. 108.6–13. Ebd., S. 77.15 und 19. More 1974, S. 22.25–29.
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Das ist schade, denn bekanntlich liegt auch Laleburg in Utopien, oder besser gesagt – lag, denn es war ja schon Jahre, bevor der Erzähler von den Geschicken dieses Gemeinwesens erfuhr, komplett abgebrannt und wurde nie wieder aufgebaut. Deshalb irritiert es auch, auf dem Titelblatt (Abb. 1) zu lesen, das Lalebuch sei in Laleburg erschienen. Genau besehen ist dieses Titelblatt allerdings insgesamt eine Ankündigung, dass Widersprüche und Gegensätze – stärker noch als in Morus’ inkohärenter Titelgebung des De optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia libellus24 – wesentliche Konstituenten des Buchs sein werden. [B]ißher vnbeschrieben[ ] sollen die Geschichten vnd Thaten der Lalen sein, aber doch auch auß vnbekanten Authoren zusammen getragen und dazu auß Rohtwelscher in Deutsche Sprach gesetzt. Das heißt wohl: Der seinen Namen auf dem Titelblatt und im Eyngang in diese Histori hinter dem Buchstabenrätsel Aabcdefghiklmnopqrstuwxyz verbergende Übersetzer,25 der sich im Eyngang dann jedoch als Redaktor eines mündlichen Berichts einführt, übersetzt das nie Geschriebene, aber dennoch auch aus Büchern Kompilierte aus der mündlichen Geheimsprache der Gauner, die gleichwohl ein Buch hervorgebracht hat. Im Eyngang bedauert der Gewährsmann des Erzählers zwar, daß nit etwan ein gelehrter sich vorlengst daruͤ ber gemacht / der Laleburger Thaten beschrieben / vnnd ans Liecht gegeben hat,26 und wenig später klagt der Erzähler, es seien keine Schreybenten mehr vorhanden / die darvon geschrieben hetten, da sie inn der vngehewren Brunst / da Laleburg sampt allem was darinnen […] gewesen / verbrunnen,27 doch wird desungeachtet in Kapitel 17 erneut auf das Rhotwelsche[ ] Exemplar des Titelblatts Bezug genommen28 und bald darauf sogar auf ein wurmzerfressenes Original.29 In der Folge finden etliche Exemplaria mit abweichenden Lesarten Erwähnung30 und sind plötzlich doch etliche Scribenten über Laleburg überliefert,31 obschon zu Ende dann nochmals in Erinnerung gerufen ist, dass im abgebrannten Laleburg von den Geschichten seiner Einwohner nichts ordenliches mehr verzeichnet zufinden.32 Aber zurück zum – so schon Kalkofen – »ostentativ widersprüchlich[en]« Titelblatt,33 das im Widerspruch zu der ihm in der Inkunabelzeit übertrage 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33
Vgl. dazu Seeber 1970, S. 47f.; Kuon 1986, S. 55f. Vgl. Lalebuch 1998, S. 5.16. Ebd., S. 8.8ff. Ebd., S. 11.17–21. Ebd., S. 72.11. Ebd., S. 73.15f. Ebd., S. 76.2. Ebd., S. 119.17f. Ebd., S. 137.23f. Kalkofen 1995, S. 600. Bässler 2003, S. 294, spricht von einer auf dem Titelbaltt präludierten und dem Text dann insgesamt »inhärente[n] Struktur des Selbstdementis«, mit der sich das Lalebuch – wie auch mit der prosimetrischen Form einiger seiner Kapitel – an der Tradition der menippeischen Satire ausrichte. Ausführlich zu den
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nen Aufgabe eine geradezu programmatische Desorientierung des Lesers betreibt. Denn am üblichen Ort geordneter Informierung erfährt der Leser zum einen Nicht-Zusammenpassendes und zum anderen – siehe das Namensanagramm – eine von ihm selbst erst in die rechte Ordnung zu bringende und doch abecedarisch korrekt geordnete Buchstabenfolge, die zu unzähligen Namen zusammenpassen könnte. Alles für den Leser Wissenswerte findet sich auf dem Titelblatt in typographischer Wohlordnung am rechten Platz, nur stellt sich an diesem kein Wissen ein. So ist der Leser eingestimmt auf eine lalische Logik, die das Ziel aller Logik, die Mehrung von Wissen durch widerspruchsfreie Erkenntnis, gehörig hintertreibt.
2. Im abendländischen Denken hat vor allem die auf der Logik basierte dialektische Argumentationstechnik der Topik den Anspruch erhoben, im Rückgriff auf konsensfähige Meinungen zu widerspruchsfreier Erkenntnis zu gelangen. Schon Aristoteles vermittelte im Einleitungssatz seiner Topik die Zuversicht, es gebe ein Verfahren [μέθοδον], aufgrund dessen wir in der Lage sein werden, über jedes vorgelegte Problem aus anerkannten Meinungen zu deduzieren und, wenn wir selbst ein Argument vertreten, nichts Widersprüchliches zu sagen.34
Unter dem Einfluss von Ciceros Umprägung der aristotelischen Dialektik in eine rhetorische ars entwickelte sich topisch geschultes Disputieren in der mittelalterlichen Scholastik zu einem von Lothar Bornscheuer treffend so genannten »Bildungshabitus«, dessen historischer Aufschlusswert zumal darin liegt, »die durch diese Topik selbst bedingten Strukturen menschlichen Wissens und gesellschaftlichen Meinens aufzuklären«.35 Das Jahrhundert, in dem Utopia und Lalebuch entstanden, hatte die mit dem Instrumentarium der rhetorischen Topik und terministischen Logik ausgetragene Querelle zwischen antiqui und moderni noch klar vor Augen.36 Die mit dem Universalienstreit einhergehende Pluralisierung der Lehrmeinungen, die Inflationierung der Autoritätenverbindlichkeiten, die Unversöhnlichkeit der Standpunkte, auch das methodische Selbstbehagen der Scholastiker, die Pro- wie die Kontraposition jeder Problemstellung disputativ beweiskräftig vertreten zu können, brachten die erkenntnisfördernden Qualitäten scho-
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Quellenfiktionen und den »durchaus widersprüchlichen Strategien« der Ausprägung einer »ironische[n] Erzählerrolle« Bachorski 2006, S. 261–274, hier S. 271. Aristoteles 2004, S. 45, I, 1 100a 18–21. Bornscheuer 1976, S. 52. Zum Status von Logik und Topik im Nominalismusstreit vgl. De Rijk 1962, S. 14–20; Pinborg 1972, S. 11–15; Green-Pedersen 1984.
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lastischer Topik und Dialektik bei den Humanisten in grundsätzlichen Misskredit und stimulierten sowohl die Satirisierung sophistisch-rabulistischer Disputationskunst als auch die Bemühungen etwa eines Agricola, Erasmus oder Melanchthon, die Argumentationsrhetorik an den antiken Grundlagen neu auszurichten und ihr neben logischer Schlüssigkeit nun auch ethische, empirische und rationale Gültigkeit abzuverlangen.37 Auch in Morus’ ›U-Topik‹ und – mit Bezug darauf – im Lalebuch wird das Verfahren zu einem zentralen Thema, aus anerkannten Meinungen (den ἔνδοξα) argumentativ verwertbare Schlüsse zu ziehen, die zur Urteilsbildung in Problemlagen zwischen Wissen und Nichtwissen vermitteln können. Morus setzt sich in ein ambivalentes Verhältnis zur scholastischen Praxis topisch fundierten Problemdenkens: Während er es in der zur »feierlich-pedantischen Methode der Schuldisputanten« degenerierten Form burlesk karikiert,38 lässt er die »satirische Person« und den »gewandte[n] Dialektiker« Hythlodäus39 als Fürsprecher Utopiens im argumentativen Austausch von Lehrmeinungen zu Schlüssen gelangen, über die sein Disputationskontrahent, die literarische Figur Morus, am Ende trotz »abweichende[r] Ansichten« doch »tiefer nachzudenken« verspricht.40 Dagegen baut das Lalebuch die satirischen Tendenzen des Prätexts weiter aus und spitzt sie zu, indem es die floskelhaft ritualisierte, mechanisch-schematische Applizierung der Topik in die abstrusesten Konsequenzen und die topische Wissensordnung schließlich in einer Klimax von Fehlschlüssen in den Zusammenbruch treibt. Verkürzt: Die Lalen – und nota bene: auch sie sind Utopier – gehen an der Depravierung einer Topik und Logik zugrunde, denen die Utopier des Morus ihre fiktive Existenz verdankten. Unter den umrissenen epistemologischen Bedingungen gehen Utopia und Lalebuch primär der Frage nach, wie das Gemeinwesen durch Weisheit und Wissen seiner Mitglieder zu verbessern sei. Morus fragt, welches Wissen und welche Haltungen den Utopiern zur laut Werktitel ja immerhin besten aller Staatsformen verhalfen und was vom alten Wissen in der Neuen Welt keine Geltung besitzt, sei es, dass es dort nicht verfügbar war oder dass man es als der optimalen Verfassung abträglich erkannte. Im ersten Buch werden die gesellschaftlichen Missstände in England nicht nur einer Fundamentalkritik unterzogen, die den primären Skopus der Utopia ausmacht, sie geben auch Anlass zu einer Inventur alteuropäischer Denkmuster, die diese Lage mitzuverantworten haben. Und dieses Revirement wird, denn anders geht es nicht, anhand etablierter Wissensordnungen der Zeit vorgenommen, zuvorderst mit denen der Topik, die den »nach dem 37 38 39
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Dazu Joachimsen 1926; O’Rourke Boyle 1985. Morus 2003, S. 31; vgl. More 1974, S. 70.14. Zu ihm v. a. Seeber 1970, S. 46–73, die Zitate S. 47 und S. 58, Anm. 25, sowie Wooden 1977. Morus 2003, S. 147; vgl. More 1974, S. 244.23 und 244.28f.
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Vorbild der schulrhetorischen Argumentations- und Disputationskunst aufgebaute[n]« Dialog41 zwischen Morus und Hythlodäus organisiert. Vor allem im dabei vorherrschenden syllogistischen Argumentationsstil hat man »ein scholastisches Erbe«42 des englischen Humanisten erkannt, und im Hinblick auf ihre epistemologischen Grundlagen überhaupt ist die Utopia als »the most medieval of More’s works«43 bezeichnet worden. Doch steht in der jüngeren Forschung in Frage, ob sich ihre ›scholastische‹ Faktur nicht vielmehr einem parodistisch-satirischen »criticism of scholasticism«44 verdankt als der Fortschreibung des scholastischen Erbes. Die Disputanten gründen ihre konträren Positionen auf anerkannte, häufig durch das Probationsmaterial von Sprichwörtern und Exempla gestützte Meinungen, die die Prämissen zu ihren Schlussfolgerungen und deren Beweiszielen abgeben. Dabei hat nun Hythlodäus ein ums andere Mal den Trumpf in der Hand, für die auf den alteuropäischen Denkörtern strittig bleibenden Positionen nach Utopien ausweichen zu können. Ist die Topik zur Findung seiner Argumente ausgereizt, bemüht er die U-Topik, findet in ›U-topia‹ die Widersprüche und Gegensätze überwunden, in denen die althergebrachten Denkstrukturen befangen waren, und entdeckt so im ›Nirgendwo‹ die Möglichkeiten, das in eingeschliffener Logik vorderhand Unvereinbare als doch vereinbar zu denken. Ein markantes Beispiel dafür bietet das für den initialen Konflikt des Lalebuchs konstitutive philosophische Dilemma der Ratgeberfrage. Der seit der Antike geführte philosophisch-humanistische Diskurs über die deliberative Beteiligung des Weisen an Staatsgeschäften kann hier nicht rekapituliert werden45 und seine für Morus biographisch existenzielle Relevanz nur in Stichworten angedeutet sein. Morus hatte die Utopia unter der Feder, als ihm Heinrich VIII. im Oktober 1515 anbot, dem englischen Kronrat beizutreten: »To serve or not to serve was the question«.46 Im ersten Buch der Utopia sucht die Figur Morus mit Hythlodäus die von der Tradition bebauten loci zum Für und Wider des Philosophen im Staatsdienst auf. Morus rät Hythlodäus, seine Weisheit als Ratgeber in den Dienst der Fürsten zu stellen, und führt dazu Platons Diktum ins Feld, die Staaten 41
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So, mit instruktiver rhetorischer Analyse des Dialogablaufs, Seeber 1970, S. 57–67, das Zitat S. 65. Ebd., S. 67. So Duhamel 1955, S. 99; vgl. auch das Kapitel »›Utopia‹ and the Medieval« in Hexter 1974, S. XLV–L, sowie ebd., S. LXIV–LXVII zur Frage des »scholastic character of Utopia«. Dazu Surtz 1957, S. 102–118, auch Wooden 1977, der die Utopia als »anti-scholastic satire« interpretiert. Vgl. zu ihrer satirischen Lesart auch den Überblick bei Kuon 1986, S. 63–76. Vgl. zur Tradition und zum Reflex der Problematik im Lalebuch v. a. Velten 2004 (Die Weisen), S. 713–723. Vgl. zu den Entstehungsumständen der Utopia etwa Hexter 1974, S. XXVII–XLI, hier S. XXXIIIf.
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würden erst glücklich, wenn die Philosophen Könige oder die Könige Philosophen wären.47 Hythlodäus – in dessen Argumentation sich Morus’ persönliches Ringen mit der Ratgeberfrage und die Haltung seines Freundes Erasmus von Rotterdam spiegeln mag48 – kontert mit Exempla, die zeigen, dass der Rat der Philosophen bei Fürsten nichts fruchte. Dagegen argumentiert Morus mit einem Gleichnis, es käme auf die Art der Philosophie an: auf eine den jeweiligen Umständen gerecht werdende philosophia civilior nämlich, die im Unterschied zur hier unübersehbar kritisch anvisierten philosophia scholastica eben nicht von der ubiquitären Gültigkeit bestimmter Sätze und Prinzipien ausgehe. Hythlodäus weiß jedoch mit einem Gegengleichnis Platons aufzuwarten, demzufolge als weise nur gelten könne, wer sich von Staatsgeschäften fernhalte.49 Nachdem beide Kontrahenten die im alteuropäischen Diskurs der Frage topischen Argumentationsgesichtspunkte absolviert haben, erbringt Hythlodäus’ Schwenk in die ›U-Topik‹, ins imaginäre Experiment sozusagen, dass die gegensätzlichen Positionen in Utopia zum Wohle des Staatswesens überwunden sind. Fürst kann dort nämlich nur werden, wer es sich durch philosophische und literarische Bildung verdient hat, und Gleiches gilt für die Nächst-Oberen, die mit dem Regenten mindestens jeden dritten Tag zu Rate sitzen.50 Es sei sein Tagtraum, schrieb Morus übrigens im Dezember 1516 in einem Brief an Erasmus, zu solchen Konditionen Fürst sein zu können.51 Mag man für die Gültigkeit der in der Diskurstradition topischen Gegensätze wenigstens hoffen, die utopischen Politphilosophen seien als intellektuelle Führungsschicht der ständische Gegenpol zum bäuerlichen Nährstand, so wird man enttäuscht, denn Fürst und Räte haben wie alle Utopier eine landwirtschaftliche Grundausbildung erhalten und müssen sich nach dem Rotationsprinzip von Stadt- und Landarbeit für mindestens zwei Jahre im Landbau betätigt haben.52 Und weil sich das aus bäurisch geerdeten und zugleich philosophisch geschulten Staatslenkern rekrutierte utopische Regiment so großartig bewährt, ist es auch ein Exportschlager, denn die Nachbarvölker der Utopier – wiewohl sie frei und souverän sind – engagieren ihre eigenen Magistrate aus Utopia.53 Deutlich zeigt sich: Auch ›U-topia‹ ist auf Topik begründet und wurde in satirischer Gegenbildtechnik imaginär vom locus e contrario aus besiedelt.54 Die vorgeblichen utopischen virtues bespiegeln die europäischen 47 48 49 50 51 52 53 54
More 1974, S. 86.10–13; Morus 2003, S. 41. Vgl. dazu Hexter 1974, S. XXXIV–XLI. More 1974, S. 84–104; Morus 2003, S. 41–53. More 1974, S. 132.2–5 und 122.23ff.; Morus 2003, S. 70f. und 65. Vgl. die Briefzitate in Hexter 1974, S. LXXVIIIf. More 1974, S. 124.20–25. und 114.7–10; Morus 2003, S. 66 und 60. More 1974, S. 194.33–196.2; Morus 2003, S. 112f. Vgl. zur für Utopien gattungstypischen Gegenbildlichkeit Seeber 1970, S. 8–11 u. ö., sowie Voßkamp 1982, S. 186f.; zur Faktur der Gattung nach topisch-logischen Mustern Gustafsson 1982 und Nitschke 1995, S. 78f.
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vices, um diese sichtbar zu machen. Was in Europa der herrschende Zustand, die geltende Meinung oder auch die Gegenmeinung dazu ist, erhält in Utopia als Oppositum oder als Vereinbarkeit des vorderhand Gegensätzlichen imaginäre Realität, um ungeachtet aller faktischen Realisierbarkeit oder auch nur Wünschbarkeit Alternativen zum eigenen defizienten Selbst aufzuzeigen. Um dieses gegenbildliche Konstruktionsprinzip auch im Namen des Konstrukts abzubilden, heißt es nach dem Gegenteil von Topos ›U-topia‹, ›Nicht-Ort‹. In diesem paradoxen Nirgendwo wird verortet, was in Europa nicht konsensfähig genug war, um Handlungsmächtigkeit zu erlangen, oder was auch dort als vielleicht wünschbar, aber nicht als machbar galt. Regiert vom Gegenteil dessen, was in Europa das Regiment hat, gibt es in Utopia daher nur Gemein- und keinen Privatbesitz,55 akkumuliert man Reichtum nur in den literarischen Studien,56 individuiert man sich durch diese statt durch Kleidung und Gepränge,57 tragen allein Sklaven und Sträflinge Gold, aus dem man ansonsten Nachttöpfe fertigt.58 Gleichwohl haben die in Utopia grassierende Weisheit und Vernunft für abschreckende Beispiele auch ihre Gegensätze nötig. Als Gipfel der Torheit gelten daher etwa übertriebene Askese59 und Vergnügen an Glücksspiel, Jagd60 und Preziosen.61 Hochangesehen sind dagegen die in Europa dem niederen Volk zugerechneten Possenreißer, weil sie Erheiterung stiften; wer nicht mitlacht, macht sich suspekt.62 In der Philosophie, ihrem Hauptvergnügen, sind die Utopier auf dem Stand der veteres nostri, aber nicht auf demjenigen der abendländischen scholastischen Logik und ihrer scharfsinnigen Regeln über Amplifikationen, Suppositionen und dergleichen, die in der Alten Welt schon die Schulkinder pauken müssen,63 so wie man in Utopia überhaupt auf nominalistische Errungenschaften verzichten kann und es mit der natürlichen Vernunft hält. Wieviel Ironie bei diesen Ausführungen im Spiel ist, betont eine beigedruckte Randglosse in der Basler Morus-Ausgabe letzter Hand (Apparet hoc loco subesse nasum – »Diese Passage ist offensichtlich satirisch«)64, mag solche Ausdrücklichkeit angesichts der mehrfach eingestreuten ironischen Spitzen gerade ge 55 56 57 58 59 60 61 62 63
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More 1974, S. 104.6–10 und 238.3–6; Morus 2003, S. 53 und 142. More 1974, S. 158.2–5 und 178.30–180.6; Morus 2003, S. 87 und 102. More 1974, S. 166.23ff.; Morus 2003, S. 93. More 1974, S. 152.3–8; Morus 2003, S. 83. More 1974, S. 162.10–15; Morus 2003, S. 89. More 1974, S. 170.5–8; Morus 2003, S. 95. More 1974, S. 168.12–17; Morus 2003, S. 94. More 1974, S. 192.7–14; Morus 2003, S. 110. More 1974, S. 158.20–25: Caeterum ut antiquos omnibus prope rebus exaequant, ita nuperorum inuentis dialecticorum longe sunt impares. Nam ne ullam quidam regulam inuenerunt earum, quas de restrictionibus, amplificationibus, ac suppositionibus acutissime excogitatis in paruis logicalibus passim hic ediscunt pueri. Vgl. Morus 2003, S. 87f. Dazu einlässlich Surtz 1957, S. 90–97. More 1974, S. 158.20; vgl. zu den anonymen Randglossen Kuon 1986, S. 114ff.
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gen die via moderna65 auch verzichtbar erscheinen. Dass die Utopier über das nutzlose Wissen terministischer Logik nicht verfügen, wird geradezu als Voraussetzung ihrer societas perfecta eingeschärft – spitzfindig argumentierende Advokaten haben nach dem Willen des Autors und Juristen Morus in Utopia jedenfalls Landesverbot.66 Obwohl selbst scholastisch disputierend und dabei durchaus auch Widersprüchen und Zirkelschlüssen erlegen, ist Raphael Hythlodäus, der den Selbstwiderspruch im Namen trägt,67 gegen einen Disputationsstil allergisch, der fehlende Substanzhaltigkeit topisch-dialektischer Argumentation durch formale Schulmäßigkeit wettzumachen sucht. In seiner Schilderung eines Disputs vor dem Erzbischof von Canterbury und englischen Lordkanzler John Morton kündigt ein Jurist an, Hythlodäus’ Argumente erstens der Reihe nach durchzugehen, dann seine Irrtümer aufzulisten und am Ende all seine Thesen zu zerpflücken,68 worauf ihm der humanistisch gebildete Bischof sogleich das Wort entzieht. Der gesamte Dialog karikiert das rhetorisch dürftige und von lateinischen Sprachschnitzern getrübte, in Verfahrensfloskeln aber sehr kundige Disputationsgebaren scheinweiser Hofräte, die die Diffikultäten mit Serien von Autoritätendikta umstellen, sich rasch jedoch auch die Gegenmeinung zu eigen machen, wo sie ihnen beifallträchtiger erscheint. Als ein Theologe in seinem Adam von St. Viktor-Zitat zelus mit scelus, also ›Eifer‹ mit ›Verbrechen‹ verwechselt, und der Kardinal den Streit abbrechen will, wirft der Disputant seinem Kontrahenten noch einen lateinisch holprigen Salomo und ein Sprichwort des Psalmisten an den Kopf: ›Nam Solomon ipse sapientissimus dicit: Responde stulto secundum stultitiam eius, sicut ego nunc facio, & demonstro ei foueam in quam cadet, nisi bene praecaueat‹.69 Wer sich dann aber nicht vorsieht und weitere Proben eigener Dummheit gibt, indem er in der Folge erneut gegen ›Verbrechen‹ statt ›Eifer‹ anargumentiert,70 ist der nicht eben bibelfeste Theologe selbst, der so in die eigene Grube fällt. 65
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Vgl. dazu neben den Kommentaren Hexters (More 1974, S. 436ff., Anm.) und Ritters (Morus 2003, S. 154, Anm. 30f.) auch Duhamel 1955. More 1974, S. 194.12ff.; Morus 2003, S. 111. Siehe zum Namen oben Anm. 14, zu »self-contradiction«, »inconsistency« und »circularity of argument« in Hythlodäus’ Argumentationen Wooden 1977, S. 39–43, ähnlich Kinney 1976, S. 428f. More 1974, S. 70.12–21: iuris ille consultus […] statuerat secum modo illo solenni disputantium uti, qui diligentius repetunt quam respondent: […] Nam primum ordine recensebo quae tu dixisti. Deinde ostendam quibus in rebus imposuit tibi nostrarum rerum ignoratio, postremo rationes tuas omnes diluam atque dissoluam. Vgl. Morus 2003, S. 31. More 1974, S. 84.11ff.; Morus 2003, S. 40: »›Antworte dem Narren nach seiner Narrheit‹; das tue ich eben und zeige ihm die Grube, in die er fallen wird, wenn er sich nicht wohl vorsieht.« Vgl. Spr 26,5: Responde stulto iuxta stultitiam suam ne sibi sapiens esse videatur. More 1974, S. 84.4ff. und 84.11ff.; Morus 2003, S. 40; vgl. die Kommentare von Hexter in More 1974, S. 347f., Anm., und Ritter in Morus 2003, S. 150, Anm. 29 und 31.
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Mit solcher, sich an weisetuerischem Disputationsgehabe entlarvenden Dummheit ist man nun den Laleburgern nicht mehr fern; nur soll vorab noch erwähnt sein, dass Hythlodäus die besagte Ratgeber-Species Morosophi nennt, »törichte[] Staatsweisen«, wie Gerhard Ritter übersetzt, aber anmerkt, es sei eigentlich »unübersetzbar[]«.71 Das Wortspiel aus μῶρος (›dumm‹, ›närrisch‹) und σοφός (›weise‹) stammt aus Erasmus’ Laus stultitiae, wo es auf den Weisetuer vereindeutigt wird und Disputanten meint, die ihre vorgebliche Erudiertheit durch Einmischung griechischer Vokabeln zur Schau stellen: Proinde istos cum sint μωρότατοι re, caeterum sophi ac Thaletes videri velint, nonne iure optimo μωροσόφους illos appellabimus?72 Nun liegt μῶρος lautlich freilich sehr dicht bei Morus, dem das Moriae Encomion gewidmet war, und der aus ihm für seine Utopia nahezu sämtliche Torheiten der Alten Welt bezog. Erasmus konnte es sich in seinem Widmungsbrief daher auch nicht verkneifen, mit μῶρος und dem Namen Morus zu spielen, wobei er sich für den so aufgerufenen und rasch für unzutreffend erklärten nomen est omen-Topos mit der Vorliebe des Londoner Freundes für dergleichen witzige Wortspiele – die englischen puns – rechtfertigte.73
3. Wohl kaum zufällig greift das Lalebuch Erasmus’ Wortspiel mit dem Namen des Utopia-Autors auf, indem es die utopischen Lalen zum ersten Schultheißen ihrer närrischen Ära einen Mitbürger namens M. O. R. O. S. wählen lässt. Und wohl, um gerade dieses nomen Erasmus zum Trotz eben doch als omen zu erweisen, macht sich der Schultheiß bald so gar zum Narrn, dass er zu solchem Ampt vntaugelich worden war.74 Da jedenfalls keiner M. O. R. O. S. zutraut, auf den Gruß des zu Besuch in Laleburg angekündigten Keysers in Vtopien75 mit einem Reim zu antworten, wie der 71 72
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More 1974, S. 64.2 und S. 322, Anm.; Morus 2003, S. 26 und S. 149, Anm. 12. »Da sie nun faktisch Idioten sind, sich aber als Philosophen aufspielen, dürften wir sie nicht Idiotosophen taufen?« (Erasmus 1975, S. 14f.). Ebd., S. 2f.: Primum admonuit me Mori cognomen tibi gentile, quod tam ad Moriae vocabulum accedit quam es ipse a re alienus; es autem vel omnium suffragiis alienissimus. Deinde suspicabar hunc ingenii nostri lusum tibi precipue probatum iri, propterea quod soleas huius generis iocis, hoc est nec indoctis, ni fallor, nec vsquequaque insulsis, impendio delectari […]. (»Nun, vor allem danke ich die Idee deinem Namen Morus, der dem Namen der Moria geradeso ähnlich ist, wie du selbst ihrem Wesen unähnlich bist; man kann aber – darüber ist alles sich einig – unähnlicher gar nicht sein. Und dann glaubte ich, ein solches Spiel der Phantasie werde besonders dir gefallen; denn ein Scherz wie dieser – er ist, will ich hoffen, weder vulgär noch überall witzlos – machte dir stets großen Spaß […]«). Dazu auch O’Rourke Boyle 1989. Lalebuch 1998, S. 69.9–12. Ebd., S. 66.21.
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es sich ausbedungen hatte,76 veranstaltet man einen Reimwettkampf um das Schultheißenamt. Es siegt der Schweinehirte, der für einen utopischen Oberen auch insofern die beste Berufsvoraussetzung mitbringt, als man für die Syphogranten in Morus’ Utopia die Übersetzung »Älteste des Schweinestalls« erwogen hat.77 Wenngleich viele der im Erzählfortgang immer groteskeren lalischen Fehlleistungen solch flüchtige Kontakte zum Prätext halten, ist das Verweisungsnetz zur Utopia in den Lalebuch-Kapiteln vor dem Narrheitsbeschluss doch ungleich dichter. Man wird die Leitfrage nach »Sinn und Fug« dieser Bezüge daher vor allem von der prä-närrischen Phase der Lalen her angehen müssen, für die allerdings in Frage steht, ob man sie die Ära der noch weisen Lalen wird nennen können.78 Mit Rücksicht auf die vom Titelblatt angestimmte Art der Sinnbildung hat es nämlich eher den Anschein, der Text stehe in puncto der lalischen Weisheit ganz im Widerspruch zu seinem überdies höchst »ironischen Erzähler«,79 der diese Weisheit zwar penetrant behauptet, im Erzählten aber doch auch beständig widerlegt. Wie also steht es um die Äußerungsformen der vom Erzähler so dick aufgetragenen sapientia Lalium? Er schickt voraus, wie er von den Lalen Kenntnis bekam: durch einen Schiffer, der ihm auf dem See vor den Ruinen Laleburgs die Historien vnd Geschichten des einst blühenden Gemeinwesens nach dem Hörensagen erzählte, doch ohn alle Ordnung / nur wie sie jhm zugeflogen, weshalb erst der Erzähler selbst sie etlicher massen in ein Ordnung gebracht hat.80 Die Ordnung des ersten Kapitels Von dem Vrsprung / herkommen vnd Namen der Lalen […]81 präsentiert sich folgendermaßen: Den Eingang bestreitet eine von den Alten vor viel hundert jaren geprägte Exordialsentenz: Eltern wie die geartet sind / | Also sind gmeinlich jhre Kind.82 Im Anschluss folgt die Variation dieser traducianistischen Erkenntnis in sechs weiteren Sprüchen gleicher Aussage: Kein guter Baum gibt boͤ se Frucht: | Der Mutter nach schlegt gern die Zucht. | Ein gutes Kalb / ein gute Kuh und so weiter.83 Laut anschließender narratio haben die Lalen in Utopien viel Ruhm und 76 77 78
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Ebd., S. 67.24f. Vgl. Morus 2003, Namensregister, S. 181. So indes – soweit ich sehe – die gesamte Forschung; vgl. stellvertretend Ertz 1965, S. 42, 45, 59 u. ö. sowie unten S. 94. Dazu einlässlich Bässler 2003, S. 293–301 (Zitat S. 321), der die Ausgestaltung der Erzählerrolle als »typisch menippeisch« analysiert (ebd.). Lalebuch 1998, S. 9.2–5. Deutlich ist auch hier die inverse Bezugnahme auf den Prätext, hatte doch Morus betont, die Wohlgeordnetheit der Erzählung seines mündlichen Gewährsmanns Hythlodäus habe ihn von der eigenen »Anordnung des Ganzen« entbunden, sodass ihm »nichts weiter zu tun blieb, als das Gehörte ganz einfach niederzuschreiben« (Morus 2003, S. 9; vgl. More 1974, S. 38.16ff.). Lalebuch 1998, S. 10.3f. Ebd., S. 10.5 und 10.9f. Ebd., S. 9.13ff.
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Lob erworben und sind in die sprichwörtlichen Fußstapfen ihrer Eltern getreten. Dem Nachweis der Weisheit der Lalen gilt die argumentatio, in der zuerst der locus a coniugatis bezogen und über die lalischen Voraͤ ltern gehandelt wird.84 Sie stammten nach dem Hörensagen – ganz wie die der Utopier bei Morus85 – aus Griechenland; ihr Stammvater dürfte ein von dort vertriebener Weiser gewesen sein. Zur probatio seiner mutmaßlichen Herkunft wird der locus a notatione aufgesucht und der Namen LALE als Griechisch identifiziert.86 Zur weiteren probatio der griechischen Abstammung sowie der Weisheit der Lalen geht es auf den locus ab exemplo: Die Griechen haben ihre Weisen oft ins Ellend verwiesen vnd auß dem Land gejagt, siehe etwa Lykurg, Solon und andere.87 Abgesichert wird diese argumentatio schließlich noch über den locus ab effectu: Das Wercke selberst zeuget von der Weisheit der Lalen, siehe die Nachfahren des griechischen Urahnen.88 Die aus alldem gezogene conclusio bekräftigt sich anhand abschließender Sprichwörter: An denselbigen kindern ist war worden / was droben gemeldet / vnd sonst inn einem anderen Sprichwort vermeldet wirdt / welchs also lautet: Der Apffel felt nicht weit vom Stammen: Das Kind behelt deß Vatters Nammen.89
Topische Logik geht nicht von als wahr bewiesenen Prämissen aus, sondern hält sich an allgemein verbreitete Meinungen, hier in Form von Sprichwörtern, von denen das erste Lalebuch-Kapitel nach dem Muster der materialen enzyklopädischen Topik der loci communes-, Proverbien- und Dikta-Sammlungen90 fast ein Dutzend aufbietet. Ihre Anerkennungsfähigkeit und Applizierbarkeit im konkreten Problemfall zu prüfen, wäre nach der zweischrittigen aristotelischen Methodik Aufgabe der Dialektik, die hier freilich nicht greifen kann, weil sich die monologischen Deduktionen des Erzählers nicht im Dialog bewähren müssen. Im ersten Kapitel will er dem Gerücht glauben geben, wie es zweimal heißt,91 der Urahn sei weise gewesen. Das ist nach der in sieben Sprichwörtern variierten petitio principii der Fall, wenn auch die Kinder weise geraten sind. Dass die Kinder weise waren, wird aber wiederum mit der ja erst zu plausibilisierenden Weisheit des Stammvaters begründet und dann mit der im achten Sprichwort scheinlogisch gefolgerten petitio principii als wahr und bewiesen behauptet. Die vom Erzähler gestiftete Ordnung der Geschichte produziert so einen hübschen Zirkelschluss, 84 85 86 87 88 89 90 91
Ebd., S. 11.25f. More 1974, S. 180.22f.; Morus 2003, S. 30ff. Lalebuch 1998, S. 11.29–12.1. Ebd., S. 12.12ff. Ebd., S. 12.18ff. Ebd., S. 12.22–26. Vgl. dazu etwa Joachimsen 1926 und Verweyen 1970, bes. S. 72–78. Lalebuch 1998, S. 11.16 und 11.25.
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tarnt sich durch reichlich gebrauchte ἔνδοξα und Argumentationsfloskeln aber ganz schulmäßig topisch: wir […] woͤ llen glauben geben […]; in betrachtung […]; laut obgesetzten Spruchs […]; auß bißher gesetzten Gruͤ nden […] und so weiter.92 Topik steuert Denkstrukturen nach dem Erfordernis argumentativer Plausibilität und Widerspruchsfreiheit. Und die ist hier, auf der Erzählebene, äußerst brüchig und soll es fraglos auch sein, denn es geht um eine ähnliche Parodierung spätscholastischen Topik-Gebrauchs, wie sie Morus auf der Handlungsebene mit den Schuldisputanten vor Bischof Morton betrieb. Nur stammten diese aus der Alten Welt, die Lalen aber aus Utopien. Um den Ursprung abzuschließen: Die Kinder des Urlalen wurden aus dem Schaden seiner Verbannung klug, wechselten in den Bauernstand und beschlossen, frembder Geschefften sich gar nit / oder ja so wenig als jmmer muͤ glich anzunemmen vnd zubeladen.93 Wie weise das war, wird sich weisen. All dessen ungeachtet hat die Forschung einmütig beschlossen, die Lalen bis zu ihrem Narrheitsbeschluss für weise zu halten. Verwiesen sei stellvertretend auf das häufig zitierte Votum Werner Röckes: Die Lalen sind die Weisen par excellence. Sie verkörpern die Weisheit oder ›sapientia‹ in dem umfassenden Sinn, wie er im Alten Testament und der politischen Theorie des Mittelalters vorgebildet und erst in der Neuzeit durch den engeren Vernunftbegriff ersetzt worden ist. […] ›Sapientia‹ ist die Einheit von Tugend und Weisheit, ›ordo‹ und gemeinem Nutz, welche die Lalen selbst praktizieren und die sie bei anderen Herren so begehrt macht.94
Gewiss, der Erzähler überhäuft die Lalen – gerade so wie Hythlodäus die Utopier95 – mit allen Epitheta, die die materiale Topik der Wiedergebrauchsrede zum Weisheitslob bereitstellte, aber am lalischen Handeln wird die Ironie des überbordenden Lobs doch unverkennbar. Dass die Lalen noch keine Völlerei betreiben, auch als weise vnd gerechte Leut / […] nicht eines so langen Bedancks [bedorfften] / wie jetzunder gemeinlich die Richter thun,96 ihre Entscheidungen aber auch nicht überstürzen, bleiben indes die einzigen Manifestationen ihrer Weisheit. In jedem Fall wird man es wenig weise nennen können, dass die Laleburger aus dem Schaden ihres Ahnherrn à la longue nicht klug wurden und sich doch wieder als Fürstenräte abberufen ließen, und zwar allesamt und so lange, dass sie in der Fremde ihr 92 93 94
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Ebd., S. 11.14ff., 11.16f., 11.27f.; 12.7f. Ebd., 13.9ff. Röcke 1985, S. 305, zitiert auch bei Bachorski 1995, S. 291, und dems. 2006, S. 275, sowie bei Dröse 2004, S. 691. Vgl. dazu Kinney 1976, S. 427ff., der Hythlodäus’ Utopia-Bericht – wenn auch zu einsinnig – als ein an Erasmus’ Moriae encomion orientiertes »mock-encomium« interpretiert (ebd., S. 429). Lalebuch 1998, S. 28.5ff.
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Leben zubringen vnd beschliessen mussten,97 während übrigens Morus’ Utopier die von den Nachbarvölkern von ihnen erbetenen und für das Regiment in Utopia entbehrlichen Magistrate nur zeitlich befristet außer Landes ziehen lassen.98 Und wie wenig weise Voraussicht bei den Lalen waltet, zeigt sich auch an den im Brief der Lalen-Frauen beklagten fatalen Folgen der auswärtigen Ratsdienste für das eigene Gemeinwesen. Vor allem aber versagt die vermeintliche lalische Sapienz in ihrer prekärsten Bewährungssituation und eigentlichen Nagelprobe: in der Krisensitzung nach der Heimberufung der Männer durch die Lalinnen. Dort argumentiert ein alter, sehr beredter Lale folgendermaßen: Sintemal jhr aller hohe Weyßheit vnnd grosser verstand die einige vrsach were / vmb welcher willen sie von Hause abgefordert / vnnd hin vnd her beschickt wurden / damit man sich jhres Rhates gebrauchen koͤ nne: vnd aber in dem sie abwesend jhr Nutz nicht gefuͤ rdert wurde / jhnen auch kein speck (wie man sagt) darvon inn der Kuchen wachsen thete: So beduncke jhn (nach vermoͤ g vnd eygenschafft widerwertiger dingen) dz aller beste zusein: demnach die einige Weyßheit allein vrsach were jres abwesens / so wurde im gegentheil die Thorheit oder Narrey sie beschirmen / wider die so sie biß dahin von Hause abgefordert hetten. Wie man nun sie zuvor jrer Weyßheit halben abgefordert / vnd in frembde Land beruͤ fft hette: also wurde man sie von wegen der Aberwitz vnd Thorheit daheymen lassen. Contrariorum sind ja contraria consequentia.99
Der alte Lale stützt seine höchst redundante Argumentation auf vermoͤ g vnd eygenschafft widerwertiger dingen, was neuhochdeutsche Lalebuch-Übersetzungen wiedergeben mit: »nach Lage der widerwärtigen Dinge« oder »nach der widerwärtigen Lage der Dinge«.100 Im philosophischen Diskurs kennzeichnet ›widerwärtig‹ von Notker bis Kant jedoch »jeweils zwei dinge oder begriffe als gegensätze« und steht je nach Gegensatzverhältnis für lateinisch contrarius, oppositus oder adversus.101 Der Redner begibt sich also auf den locus e contrario und beruft sich auf eine lateinische Sentenz über die von ihm beanspruchte Eigenart der Gegensätze: Contrariorum sind ja contraria consequentia – »aus Gegensätzlichem folgt Gegensätzliches«. Darauf ist gleich zurückzukommen, doch soll erst belegt sein, woran sich schon die antike Topik den locus e contrario exemplifizierte: Deinceps locus est, qui e contrario dicitur. Contrariorum autem genera plura; unum eorum quae in eodem genere plurimum differunt, ut sapientia stultitia. […] Ex quibus contrariis argumenta talia existunt: Si stultitiam fugimus, sapientiam sequamur […].102
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Ebd., S. 22.6. More 1974, S. 194.33–196.3; Morus 2003, S. 112 Lalebuch 1998, S. 29.24–30.4. Lalebuch 1982, S. 38, und Lalebuch 1986, S. 34. Art. »widerwärtig« in Grimm/Grimm 1984, Sp. 1365–1373, hier Sp. 1369. Cicero 1983, XI 47, S. 32.2–9; vgl. ebd., S. 33.5–15: »Es schließt sich an der sogenannte Gesichtspunkt ›vom Gegenteil aus‹. Von Gegenteiligem gibt es nun eine Mehr-
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In der auf Cicero begründeten rhetorischen Topik-Tradition wurde der Gegensatz von sapientia und stultitia insbesondere durch Isidors Etymologiae als Musterbeispiel für den locus e contrario an das Mittelalter weitergegeben.103 Der zu den Gründungstexten scholastischer Topik-Lehre zählende Kommentar des Boethius zu Ciceros Topica104 differenzierte die contraria gleichwohl weiter aus. Er korrigierte Cicero insofern, als er sapientia und stultitia doch verschiedenen Genera zuwies und das durch sie exemplifizierte Gegensatzverhältnis dem Subtyp der adversa beziehungsweise privativa zurechnete: [I]lla [= contraria] quoque dicuntur aduersa, quæ, in diversis generibus sita, plurimum a se discrepare intelliguntur, ut sapientiæ stultitia. Illa enim sub genere boni est, hæc vero sub mali, quamquam hujusmodi exemplum privationem potius spectare videatur; nam stultitia privatio est sapientiæ, nec quidquam est aliud stultitia nisi sapientiæ et rationis absentia […].105
Zurück zum Lalebuch: Wenn dies also laut topischer Lehrmeinung vermoͤ g vnd eygenschafft widerwertiger dingen in Sachen Weisheit und Torheit sind, dann ist der für alle Lalen konsensfähige Rat, sich dem malum der Torheit zuzuwenden, um alles wieder zum Guten zu richten, der überhaupt dümmste, den man geben kann. Und wenn dieser Rat, was er fraglos soll, von der Art Weisheit zeugt, mit der die Lalen aus Utopien die Mächtigen beraten und sich so einen grossen Namen durch die gantze Welt erworben haben,106 dann sieht es um diese Welt und die Qualitäten ihrer Potentaten nicht gut aus, soll sich doch etwa laut Machiavelli »[d]as erste Urteil, das man sich über die Intelligenz eines Fürsten bildet, […] nach den Männern seiner Umgebung« richten.107 Als Topiker im Sinne der logica vetus sind die
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zahl an Formen. Eine bezeichnet das Gegensatzpaar, welches innerhalb ein und derselben Gattung am weitesten auseinanderliegt, z. B. Weisheit – Torheit. […] Aus dem so bestimmten Gegenteil ergeben sich Argumente folgender Art: Wenn wir die Torheit meiden, so sollten wir der Weisheit folgen […]«. Vgl. Isidorus 1911, Bd. 1, lib. II, cap. xxxi, §1: Primum genus [ergänze: oppositorum] est contrariorum, quod iuxta Ciceronem diversum vocatur, pro eo quod tantum contrarie sibi opponuntur, ut non eorum sint quibus opponuntur, ut sapientia stultitia. (»Die erste Art [der Entgegenstellungen] ist die der Gegenteile, die bei Cicero diversum genannt wird, weil sie sich nur antithetisch gegenüberstehen, sodass sie nicht Teil der Begriffe sind, denen sie gegenübergestellt werden, wie Weisheit – Torheit«; Übersetzung G. D.) Vgl. Green-Pedersen 1984, S. 39f. Boetius 1891, Sp. 1121A–B (»Auch jene Dinge heißen ›gegenüberstehende‹, die verschiedenen genera angehören und am weitesten auseinanderstehen wie Weisheit und Torheit, denn Weisheit gehört dem Genus des Guten an, Torheit jedoch dem des Schlechten, obwohl das Beispiel dieser Art eher zum privativen Gegensatz zu rechnen ist, denn Torheit ist, der Weisheit beraubt zu sein, ist sie ja nichts anderes als Abwesenheit von Weisheit und Vernunft«; Übersetzung G. D.). Lalebuch 1998, S. 15.15f. Machiavelli 1995, S. 181.15ff.; vgl. ebd. S. 180.13f.: E la prima coniettura che si fa del cervello di uno signore, è vedere gli uomini che lui ha d’intorno.
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Lalen im Fürstenrat somit eher eine Fehlbesetzung, aber in terministischer Logik sind sie dennoch gut zu Fuß. Denn die Argumentation: »Werden wir unserer Weisheit wegen abberufen, müssen wir die Torheit annehmen, um nicht mehr abberufen zu werden«, ist formallogisch so optimal schlüssig, dass man sie in einen der vierundzwanzig Syllogismen, den Syllogismus CELARENT überführen könnte.108 Er würde freilich auch mit ›dick‹ und ›dünn‹ und mit überhaupt allen in die Gleichung hineingegebenen Gegensatzvariablen schlüssig funktionieren, denn formale Logik bildet ihre Wahrheiten ja allein aus der Form der Argumentation. Danach kann die Konsequenz aus den Antezedenzien widerspruchsfrei und formallogisch gültig sein; stimmen aber die Begriffsinhalte nicht zur Sache, so resultiert daraus jene Scheinlogik, die die Syllogistik zumal bei den Humanisten in den Verruf brachte, auch nur Scheinwahrheiten zu produzieren.109 Die Lalen für die personifizierte Weisheit auszugeben und sie sich auf ihrem Areopag dann in einer klassischen Begriffsopposition der Topiken – sapientia vs. stultitia – verheddern und als syllogistische Toren entlarven zu lassen, dürfte dem scholastisch gebildeten Leser der Zeit einiges zu lachen gegeben haben. Um ihm noch mehr Freude des Wiedererkennens zu bereiten, bleibt (wie übrigens auch in den heutigen Lalebuch-Kommentaren)110 die Autorität unbenannt, bei der der lalische Morosoph mit seinem Contrariorum sind ja contraria consequentia Anleihe nahm. Zudem gehört es zum hier karikierten Disputationsstil, ein argumentum ex auctoritate ungeachtet drohender Sinnentstellung aus Kontexten zu reißen, die seine Unumstößlichkeit trüben könnten, oder aber seinen Urheber und den Zusammenhang erst gar nicht zu kennen und sich auf die Autorität der sprachlichen Form zu verlassen. Der fragliche Satz stammt aus Ciceros Tusculanen; er steht dort zur Begründung der Folgerung: »Wenn die Laster unglücklich machen können, so machen die Tugenden glücklich«.111 Ein Blick auf den weiteren Kontext klärt dann auch, warum ihn der Lale nicht mitbeanspruchen wollte. Bei Cicero nämlich geht es um den Weg zum Glück, der über die Philoso-
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Kein Weiser ist ein Tor M e Q generell negierend Alle Abberufenen sind Weise P a M generell affirmativ Kein Abberufener ist ein Tor PeQ generell negierend Vgl. zum Syllogismus CELARENT sowie zur Notationsweise Buth 1996, S. 24 und S. 30f. Dazu Lawn 1993, S. 107–126, auch O’Rourke Boyle 1985, bes. S. 174–178. Vgl. neben Lalebuch 1998, S. 30, Anm. 6, etwa auch Lalebuch 1914, S. 27, und Lalebuch 1979, S. 356, Anm. zu S. 251. Vgl. Cicero 1997, V 50, S. 422.7–10: cum fatentur satis magnam vim esse in vitiis ad miseram vitam, nonne fatendum est eandem vim ›in‹ virtute esse ad beatam vitam? contrariorum enim contraria sunt consequentia (vgl. ebd., S. 423.10–14: »Wenn man zugesteht, in den Lastern liege genügend Kraft, um das Leben unglücklich zu machen, muß man dann nicht auch zugeben, daß dieselbe Kraft in der Tugend liege, um das Leben glücklich zu machen? Denn aus Gegensätzlichem folgt Gegensätzliches«).
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phie zur Weisheit führt: semper […] sapiens beatus est,112 denn mit sapientia meistert man jede Lebenslage. Wer das Glück in anderem als der Weisheit sucht, ist laut Cicero an die stultitia verloren. Das besagte Diktum über die Konsequenz des Gegensätzlichen scheint immer nur im skizzierten eudämonistischen Diskurszusammenhang Verwendung gefunden zu haben, so etwa in den Kommentaren zu Boethius’ Consolatio philosophiae.113 Indem der alte Lale es nun für die Folgerung hernimmt, das im Zustand der Weisheit abhanden gekommene Glück sei durch Torheit zurückzuerlangen, zeigt er, dass er die höchste Wundergabe in scholastischer Disputierkunst erlangt hat: »changing the wine into water«.114 Vorwegzunehmen ist der naheliegende Einwand, der Lale rate ja aber auch, sich nur dumm zu stellen, die Narrenmaske also nur zur Tarnung lalischer Weisheit aufzusetzen. Doch hier ist nicht viel zu tarnen, denn dumm kann ja nur tun, wer es de facto nicht ist, was auf die Lalen – in der Diktion des Erzählers – auß bißher gesetzten Gruͤ nden nicht zutrifft.115 Und weitere Gründe wären leicht beizubringen, etwa mit Boethius: contraria simul esse non possunt.116 Weise und töricht zugleich: Das ist topischer Logik zuwider. Will man die contradictio in adiecto dennoch zu leben versuchen, droht eine Gefahr, die der alte Lale zwar kennt, unter Missachtung ihrer Unausweichlichkeit aber in Kauf nimmt. Wer den Narren spielt, warnt er mit viel Sprichwort-Bekräftigung, riskiert, dz er gar zum Thoren wirt / vnd ein Narr bleibt sein lebenlang.117 Zwar wird diese Gefahr später noch zweimal mit Ciceros consuetudo est altera natura118 eingeschärft,119 aber da ist es nach den ersten Narreteien schon zu spät, hat die Erfahrungsregel keine Ausnahme zugelassen, ist die Narrenmaske angewachsen. Denn dass Gewohnheiten in succum et sanguinem, in Fleisch und Blut übergehen, hatte – wie Heinz-Günter Schmitz breit belegt – für die Anthropologie und Physiologie der Zeit »geradezu den Rang einer wissenschaftlichen Wahrheit, eines ›Naturgesetzes‹«.120 Felix Platter d. Ä. fand es in seinen Observationes in hominis affectibus von 1614 denn auch an diversen Hofnarren bestätigt.121 112 113
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Ebd., V 43, S. 416.12 und S. 417.16. Vgl. Boetius 1882, Sp. 798D, Anm. 4, und Murmellius / Agricola 1882, Sp. 1045B; vgl. zur eudämonistischen Thematik im Lalebuch Velten 2004 (Die Weisen). So Duhamel 1955, S. 104, zum Vermögen der »scholastics of the thirteenth and fourteenth centuries«. Lalebuch 1998, S. 12.7f. Boetius 1891, Sp. 1127C. Lalebuch 1998, S. 30.20f. Cicero 1989, V 74, S. 470.21: deinde consuetudine quasi alteram quandam naturam effici (vgl. ebd., S. 471.31f.: »dann bilde sich durch die Gewöhnung gleichsam eine Art zweiter Natur«). Lalebuch 1998, S. 52.4 und 109.11. Schmitz 1983, S. 125. Vgl. ebd., S. 130f.
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Sich mit anerkanntem Wissen selbst zu widersprechen, die Autoritäten nur in ihren Formulierungen, aber nicht deren Sinn parat zu haben und ihre Interpretationsbedürftigkeit zu verkennen, auch der Logik unter Ausschaltung jeglicher Vernunft und Erfahrung nurmehr formal die Ehre zu geben, all dies zeigt die topische Wissensordnung in ihrem Telos missverstanden. Statt als Fixpunkte der Problemreflexion werden die Denkörter aufgesucht, um sich vom eigenen Denken zu dispensieren, und statt zur Gewinnung neuer Argumente allein zur Auffindung von wiederverwertbaren. Unter der Lawine der ἔνδοξα geht die rechte τέχνη des topischen Problemdenkens und -lösens verschütt, und auf den Findörtern und Gemeinplätzen verliert man die Orientierung auf das Ziel widerspruchsfreier Urteilsfindung. Und so kraus die Lalen es auch handhaben, beständig wird das Verfahren der Problemlösung mit der Lösung des Problems verwechselt, in allem werden die dialektischen Prozeduralien des Unterscheidens, des Ab- und Unterteilens,122 des Rekurrierens und Analogisierens von den gute[n] Lechmici123 für wichtiger genommen als der an der Vernunft abgeglichene Sinn der conclusio, denn ganz gleich, wie diese ausfällt, ihre Gültigkeit und Wahrheit hat bei den Lalen die Legitimation durch Verfahren. Die ersten Opfer des beim Narrheitsbeschluss abhanden gekommenen Differenzierungsvermögens sind die Kategorien und Begriffe. Das Rathaus baut man dreieckig und fensterlos. Wie das Licht hineinzubringen ist, dazu fehlt das Erfahrungswissen, aber man hat vom Erkenntniswert der Experimente gehört und schließt in verwegener ›Analogie‹, dass, wenn schon das Backen von Pfannkuchen in Wasser nicht funktioniere, doch der Transport von Licht in Eimern mal probiert werden müsse.124 Nach ähnlicher Analogielogik legt man den Salzacker an, denn wenn Zucker wächst, dann wohl auch Salz, das ja auch Koͤ rnlin habe,125 und schlägt der Anbau auch diesmal noch fehl, wird man ihn einander mal besser thun und Hobsewasioneß darüber anstellen.126 Mit der Verballhornung der Begriffe geht die der Verfahren einher, überlieferte und selbst gemachte Erfahrungen in Wissen zu überführen: Ist ihnen auch bekannt, daß man durch Exempel vnd Beyspiel vil lehren / lehrnen vnd ergreiffen koͤ nne,127 so bleibt den auf autoritativ vorformuliertes Wissen fixierten Lalen doch unergründlich, wofür die beigezogenen Fälle exemplarisch sein und worin sie sich als Fall von einer Regel erweisen könnten. Finden sie eine Regel per Zufall aber doch einmal induktiv heraus, wird sie per analogiam oder e contrario deduktiv für den 122 123
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Vgl. Lalebuch 1998, S. 86.1–4. Ebd., S. 119.28. Mit Ertz gewiss eine Verballhornung von »logici, d. h. logische Denker« (ebd., S. 119, Anm. 3). Lalebuch 1998, Kap. 10, S. 42.21–47.11; vgl. dazu bes. Berns 1995, S. 165f., und Dröse 2004, S. 697f. Lalebuch 1998, S. 57.15. Ebd., S. 65.13f. Ebd., S. 43.14f.
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nächsten Fehlschluss genutzt. Durch viel widerwertige meinungen128 verlieren selbst trivialste Allerweltserfahrungen ihre Unbezweifelbarkeit. Jede noch so simple Problemstellung geht man zu disputativer Urteilsfindung topisch an; da aber Begriff, Gattung, spezifische Differenz, ja überhaupt keine logische Kategorie mehr am rechten Platze ist, wird der Selbstwiderspruch zum lalischen Seinsgesetz. Zwar bescheinigt man sich ein sehr […] gute[s] Gedaͤ chtnuß, nennt es aber Marmorium.129 Schließlich sind alle Fundamente der topisch-logischen Wissensordnung zersetzt, stellen selbst basale Distinktionen den Dienst ein, machen sich die Prädikationen selbständig, verweigert die Sprache die Auskunft. Am Ende und in letzter Konsequenz des initialen Fehlschlusses zur Narrheit schlussfolgern sich die Lalen buchstäblich um Kopf und Kragen. Als man auf einem Berg einen Mühlstein gehauen und mühsam hinabgeschleppt hat (Kap. 35), erinnert man sich, dass das Bauholz selbst zu Tal gerollt war. Also tragen die Lalen den Stein wieder hinauf, wollen ihn aber, um zu sehen, wohin er rollt, nicht unbeaufsichtigt laufen lassen. Daher steckt auf gemeinsamen Beschluss ein Lale seinen Kopf in das Mahlloch, wird auf der Talfahrt eins mit dem Stein und ist, unten angekommen, denn auch für immer so leblos wie dieser.130 Ihn vor dieser fatalen Konsequenz zu bewahren, war freilich auch die auf logische Konsequenzen spezialisierte terministische Logik überfordert, selbst wenn die scholastischen Argumentationslehren die spezifische Differenz von Mensch und Stein anhand des Beispielsatzes nullus homo est lapis immer wieder in ihren logischen Weiterungen durchdeklinierten und Syllogismen und Topik-Regeln an ihm einschärften. So zum Beispiel die Introductiones Parisienses des frühen 13. Jahrhunderts: De sillogismo: […] Reducere per impossibile est quando contradictoria conclusionis assumitur in sillogismo, in quo tamen fit conversio, et quando contradictoria assumptionis fit conclusio. Verbi gratia: ›omnis homo est animal quidam lapis non est animal ergo quidam lapis non est homo‹; sumpta contradictoria conclusionis, hac scilicet: ›omnis lapis est homo omnis homo est animal ergo omnis lapis est animal‹. […] De locis: […] Locus a diffinitione quatuor complectitur regulis sic: […] ›lapis non est animal rationale mortale; ergo non est homo‹. Regula: a quocumque removetur diffinitio, et diffinitum.131 128
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Ebd., S. 43.5. Zur humanistischen Abwertung autoritativer, am Erfahrungswissen abzugleichender Meinungen vgl. Joachimsen 1926, bes. S. 62f. Lalebuch 1998, S. 77.15ff. Ebd., Kap. 35, S. 120.9–122.6. Zitiert nach De Rijk 1967, Teilbd. 2, S. 364f.; vgl. für weitere Belege das Lemma lapis im dortigen Index sophismatum et exemplorum, S. 880.
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Mochte der arme Lale – wie alle Lalen – im scholastischen Disputieren auch gut bewandert sein, die logischen Folgen seines Handelns vorherzusehen, half es ihm wenig, sodass er noch heut deß tages todt ist / vnnd todt bleiben wirdt / soll / vnnd muß.132 Ganz ähnlich bleibt den Lalen das in den Schuldialektiken häufig traktierte Enthymem Si nullum animal est lignum, nullus homo est lignum133 in seinem lebenspraktischen Erkenntnisgewinn verschlossen, denn im Folgekapitel134 ziehen sie aus einem ins Wasser geneigten Ast nach Austausch von mancherley meynungen135 den Schluss, der Baum wolle trinken. Beim Versuch, ihm dabei Hilfe zu leisten und die gesamte Baumkrone ins Wasser zu ziehen, schlägt der zurückschnellende Ast einem Bauern den Kopf ab. Da der ins Wasser fällt und man nur den kopflosen Körper findet, bleibt nun disputativ strittig, ob der Lale seinen Kopf denn überhaupt dabeihatte, als er den Baum bestieg. In welcher Art parodistisch zugespitzter ›Logik‹ diese Frage sich hier auftun und zum Streitfall geraten kann, zeigt abermals der Blick in die terministischen Lehrbücher. Zumal in den Traktaten über die fallaciae, die Fehlschlüsse, bleibt der Besitz eines Kopfes nämlich durchaus nicht frei von logischen Schwierigkeiten, wie sie sich in einer Vielzahl von Sophismen und Paralogismen bekunden, beispielsweise: nullum capud habens est aliquod capud habens; homines istius ville habent unum capud; omnis homo habet caput quod ab uno solo homine habetur.136 Das Lalebuch karikiert einen in scholastischer Topik- und DialektikTradition ausgebildeten Denk- und Argumentationsstil samt der darauf gegründeten Wissensordnung, die zu Erkenntnisgewinn und Lebensbewältigung nurmehr deren künstliche logische Verkomplizierung beitragen. Durch sie wird den Lalen die Welt unverfügbar und schließlich zuschanden. Indem sie sich der korrektiven Wissens- und Erkenntnisquellen der Vernunft und Erfahrung begeben, machen sie sich zu Narren und bringen sich um ihren zu eigenständigem Denken verzichtbar gewordenen Kopf.
4. Warum, so stellt sich abschließend die Frage, sind die Lalen in Utopien ansässig gemacht und warum heißen sie wie der Utopia-Gewährsmann Hythlodäus ›Schwätzer‹? Hythlodäus sagt, an den europäischen Höfen 132 133
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Lalebuch 1998, S. 122.5f. So die Abbreviatio montana, zitiert nach De Rijk 1967, Teilbd. 1, S. 86f.; weitere Belege im Index, ebd., Teilbd. 2, S. 881, unter dem Lemma lignum. Lalebuch 1998, Kap. 36, S. 122.7–124.19. Ebd., S. 123.8. De Rijk 1967, Teilbd. 1, S. 67, Nr. 166; Teilbd. 2, S. 678.16 und S. 757.9; weitere Nachweise im Index, ebd., S. 859, unter dem Lemma caput.
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praktiziere man in allem das Gegenteil (in contrariam partem) dessen,137 was den Utopiern zur besten Staatsverfassung verhelfe, und wo er die hiesigen den dortigen Verhältnissen gegenüberstellt, ist es allermeist ein contra, das den Vergleich einleitet.138 Damit ist der locus e contrario als der gedankliche Ort und argumentative Fluchtpunkt bezeichnet, von dem aus die Utopia-Beschreibung des zweiten Buches konstruiert ist. Duhamel markiert das zugrundeliegende Konstruktionsprinzip als topisches, indem er es auf den Begriff des »inventing« bringt und insgesamt zu dem Schluss kommt: »The Utopia is thoroughly Scholastic in its method of construction and largely medieval in its style and content.«139 Nur steht diese Machart nicht für Morus’ Annahme des scholastischen Erbes und die Verhaftung in seinen Denktraditionen, sondern stehen diese für den Ziel- und Angriffspunkt seiner humanistischen Kritik an der von Hythlodäus repräsentierten philosophia scholastica, ihren starren Normen, doktrinären Wahrheiten und dialektischen Argumentationsschlichen. Das ironisierende Namensspiel, die Skepsis der Textfigur Morus gegenüber der behaupteten Idealität der utopischen Welt (mihi […] absurde uidebantur instituta),140 auch ihre Abneigung gegen die apodiktischen Schlüsse und Urteile ihres Lobredners sowie nicht zuletzt die humanistisch grundierte zeitgenössische Rezeption der Utopia als Satire haben der jüngeren Forschung141 ihre parodistisch-satirischen Valenzen aufgezeigt und sie das Werk eher als »humanistische[n] Scherz« und »elitäres Spiel«142 in zeitkritischer Absicht denn als ernstgemeinten eutopischen Idealstaatsentwurf verstehen lassen. Mit dem eingangs überschwänglichen Lob der Weisheit der lalischen Utopier teilt der Erzähler des Lalebuchs Hythlodäus’ emphatische Haltung gegenüber seinen utopischen Helden. Und wie diese stellen sich auch die Lalen dem Regiment anderer Völker zur Verfügung, nur dass ihr eigenes Gemeinwesen darüber verkommt. Um ihre leidige Lage zu bessern, flüchten die Lalen gedanklich auf den locus e contrario und erhoffen sich vom Gegenteil ihrer bisherigen Handlungspraxis das Gegenteil ihrer bisherigen fatalen Konsequenzen. Es ist die für die Utopia konstitutive und gattungsbegründende Suche des Heils im Gegenteil zum Bestehenden, die das Lalebuch als scheinlogisches Denk- und Argumentationsmuster karikiert und ad absurdum führt. Satirisch zugespitzt und in groteske Konsequenzen übersteigert wird die von Hythlodäus vermittelte und schon von seinem Wider137 138
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More 1974, S. 96.30; Morus 2003, S. 49. More 1974, S. 188.5f.: illi contra caeterarum omnium gentium demirari; S. 198.25: At illi contra censent; S. 200.1: contraque morem gentium […] ducunt; S. 238.6f.: Contra hic […] nemo dubitat. Vgl. Morus 2003, S. 107, 115 und 142. Duhamel 1955, S. 100 und 126. More 1974, S. 244.13ff.; Morus 2003, S. 147. Vgl. den Überblick bei Kuon 1986, S. 68–76; zur zeitgenössischen Rezeption Honke 1982. Kuon 1986, S. 68.
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part Morus kaum geteilte Zuversicht, dass sich die in ihrem Menschenwerk unzulängliche Welt dem argumentum e contrario gefügig machen und nach gegenbildlicher Logik in eine bessere umkehren ließe. Die Utopier des Lalebuchs machen sich die simple binäre Logik zur Handlungsmaxime, der die Utopier bei Morus ihre fiktive Existenz und vermeintliche Vorbildhaftigkeit verdanken: Wie diese die Narrheit annehmen und der Weisheit abschwören, weil sie sie als die Wurzel ihrer üblen Lage erkannt zu haben glauben, so praktizieren jene zum Beispiel den Gemeinbesitz, dessen Gegenteil Hythlodäus für die Missstände in England verantwortlich glaubt. Epistemologisch bezeugt sich in beiden Texten die humanistische Abneigung gegen ein nicht mit Vernunft und Erfahrung abgeglichenes Problemdenken, das für Lösungen allein auf starre logische Prinzipien wie etwa das des tertium non datur, des zu vermeidenden Widerspruchs oder das der Unvereinbarkeit von Affirmation und Negation baut. Aus ähnlich gelagerter Skepsis brachte Nikolaus von Kues die Denkfigur der conincidentia oppositorum in die theologische Epistemologie ein und erwuchs im sozialphilosophischen Diskurs noch im 16. Jahrhundert und lange vor Adam Smith die Einsicht, dass Eigennutz und Gemeinwohl durchaus keinen Gegensatz bilden, sondern sich wechselseitig befördern.143 Das Lalebuch ist kein Gegenbild zur Utopia.144 Es ist eher ihre in menippeischer Gattungstradition145 satirisch überspitzte Fortsetzung, die den von Morus bereits im Werktitel ironisierten topischen Denkhabitus ins Lächerliche verzerrt und in einer »Klimax des Absurden«146 letztlich in die Dystopie münden lässt. Gegenbilder zu Utopia und Laleburg finden im Lalebuch aber immerhin en passant Erwähnung: die feste Stat Wien, die namhaffte Statt Straßburg, auch die wolbestelte[] Statt Nuͤ rmberg.147 Die löblichen Epitheta geben zu verstehen, dass man sich für vorbildliche Gemeinwesen nicht an fiktive Nicht-Örter begeben muss.148
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Vgl. zu Nikolaus von Kues Mojsisch 1995, S. 164–169, zum zeitgenössischen Diskurs über Gemein- und Eigennutz Bachorski 1995. Anders Bachorski 1995 und ders. 2006, S. 343. Vgl. dazu Bässler 2003, bes. sein »Fazit« S. 320ff. So Dröse 2004, S. 699; ähnlich Berns 1995, S. 167, der die »Ironie der ›Utopia‹« im Lalebuch »radikalisiert« sieht. Lalebuch 1998, S. 18.9, 18.11f. und 20.5f. Denkanstöße zum vorliegenden Beitrag verdanke ich einem in Göttingen gemeinsam mit Hans Jürgen Scheuer veranstalteten Seminar (»Erzählen vom Ursprung«) im Wintersemester 1998/1999 und über die Jahre fortgeführten Diskussionen, für die ich Hans Jürgen Scheuer reichlich verspätet sehr herzlich danke.
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Caroline Emmelius
History, Narration, Lalespil Erzählen von Weisheit und Narrheit im Lalebuch
1. Narrendiskurs und Narrenerzählung Das Lalebuch gehört zu den Narrensatiren des 16. Jahrhunderts:1 1597 anonym in Straßburg erschienen, stellt es rund einhundert Jahre nach dem Erstdruck des Brant’schen Narrenschiffs noch einmal das Verhältnis von Weisheit und Narrheit in den Mittelpunkt seiner Geschichte(n) und ist damit Bestandteil einer das Jahrhundert kennzeichnenden diskursiven Formation.2 Die Einbindung des Lalebuchs in den Narrheitsdiskurs hat die Forschung umfassend charakterisiert. Vor allem Hans-Jürgen Bachorski hat gezeigt, auf welch differenzierte Weise das Lalebuch an den sozial-, geschlechterund ordnungspolitischen Aussageformationen der Zeit teilhat, wie es diese fortschreibt und parodiert.3 In den Bezügen auf Morus’ Utopia erscheint die diskursive Position des Lalebuchs punktuell zum markierten Gegenentwurf verdichtet: Auch das Gemeinwesen der Lalen ist raum-zeitlich entrückt, hier herrschen statt der Philosophen Weise mit Narrenmasken, die wie die Utopier das Ziel verfolgen, das Gemeinwohl zu mehren, auch wenn sie dieses Ziel schließlich in grotesker Weise verfehlen.4 Darüber hinaus partizipiert das Lalebuch am anthropologischen Wissen seiner Zeit: HeinzGünter Schmitz fasst es als »konsequente Exemplifizierung ganz bestimmter allgemein geläufiger anthropologischer Anschauungen« auf, vor allem
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Vgl. Arntzen 1989, S. 194ff.; Könneker 1991, S. 205–222. Foucault 1981, S. 48–60. Zu den Konzeptionen des ›Gemeinen Hauses‹, des ›Gemeinen Nutzes‹, den Geschlechterkonstellationen und dem Verhältnis von kommunaler und Landesherrschaft vgl. Bachorski 1995 und ders. 2006, S. 275–295, sowie resümierend Röcke 1985, S. 315; zum (humanistischen) Erziehungsdiskurs vgl. Auteri 1992; zu philosophischen Diskursen Becker 2000 und Velten 2004. Vgl. für die These, das Lalebuch sei eine Parodie auf die Utopia, Berns 1995; für die Zuspitzung, das Lalebuch sei eine Antiutopie, Bachorski 1995 und ders. 2006, S. 318– 337, sowie Kuper 1993, S. 122–127, und Velten 2004, S. 713–723; für die gegenteilige Argumentation, dass sowohl die Utopia als auch das Lalebuch »[e]pistemologisch[] […] die humanistische Abneigung gegen ein nicht mit Vernunft und Erfahrung abgeglichenes Problemdenken« bezeugen und das Lalebuch somit nicht als Gegenbild, sondern vielmehr als »satirisch überspitzte Fortsetzung« der Utopia anzusehen sei, vgl. den Beitrag von Dicke im vorliegenden Band, S. 197–224, hier S. 220.
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der Annahme, dass bestimmte Verhaltensweisen durch consuetudo habitualisiert werden können.5 Auch hat es – vereinzelte – Versuche gegeben, das Verhältnis des Lalebuchs zur Episteme zu bestimmen, also zu jenen ungewussten regelhaften Strukturen, die sowohl die Diskurse als auch die empirische Praxis determinieren.6 So ist beobachtet worden, dass die Reduktion des lalischen Denkens auf die »Herstellung formaler Analogien, die den bestehenden Kausalnexus nicht beachtet«,7 auf die von Foucault beschriebene vorklassische Episteme beziehbar ist, die Erkenntnis über das Prinzip der Ähnlichkeit organisiert.8 Die Schwierigkeiten des Foucault’schen Periodisierungsmodells treten im Fall des Lalebuchs allerdings deutlich hervor, denn die Forschung kommt in der Adaptation des Episteme-Begriffs nicht nur zu unterschiedlichen, sondern zu exakt entgegengesetzten Ergebnissen: Röcke sieht im Analogiezwang der Lalen eine Parodie auf die alte Episteme, die die Zäsur markiere, »an der die traditionelle Vernunft durch die siegreiche Ratio zur Unvernunft gestempelt, als Torheit und Narrheit, bald auch als Wahnsinn verurteilt« werde.9 Indem das Lalebuch die Defizite des alten Denkens aufdecke und karikiere, indem es solchermaßen den epistemologischen Bruch bearbeite, werde es zu einem fortschrittlichen Text.10 Auch Bachorski sieht im Lalebuch einen »unentschiedenen Diskurs über die Erkennbarkeit und über die Aneignung der Welt« am Werk.11 Die im Analogiedenken gründende theoretische Beharrlichkeit der Lalen in Bezug auf den Erfolg praktischer Experimente wertet er jedoch als Hinweis auf eine Haltung, deren »modern-rationaler Charakter« nicht zu übersehen sei, insofern sie die Voraussetzung für die Beherrschung der Natur darstelle.12 Erst über die Figur des Erzählers werde das Lalebuch zu einem dieser neuen Episteme misstrauenden, konservativen Text: Die Inszenierung dieser Haltung im Roman jedoch und vor allem ihre abwertende Kommentierung durch den Erzähler folgen einer mindestens skeptischen, wenn nicht gänzlich abfälligen Einstellung, die derartige gedankliche und praktische Experimente nur verhöhnen kann.13
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Schmitz 1983, S. 130. Foucault 1974, S. 22–25. Die von Foucault skizzierte Periodisierung in eine vorklassische, eine klassische und eine moderne Episteme ist als zu schematisch kritisiert worden, vgl. Marti 1999, S. 35f. Jung 1985, S. 201; ausführlich hierzu Dicke im vorliegenden Band, S. 197–224. Foucault 1974, S. 46–77. Röcke 1985, S. 308; im Anschluss an Röcke auch Könneker 1991, S. 213f. Foucault führt für den Bruch zwischen vorklassischer und klassischer Episteme ebenfalls ein literarisches Beispiel an: Cervantes’ Don Quixote; vgl. Foucault 1974, S. 78– 82. Bachorski 2006, S. 305–317, hier S. 309. Ebd., S. 308. Ebd., S. 309.
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Die beiden Beispiele zeigen: Die Diskursanalysen zum Lalebuch vermögen es zwar, eine Position des Textes im Wissensarchiv des 16. Jahrhunderts auszumachen, der Sinn der erzählten Geschichte ist damit aber noch keineswegs erfasst.14 Vor dem Hintergrund des Foucault’schen Denkens ist das nur folgerichtig, denn in dem Moment, in welchem Foucault das Projekt einer Archäologie des Wissens entwirft, beginnt er, den Begriff der Geschichte als einer sinnerzeugenden Struktur abzuweisen.15 In der Anwendung auf Erzähltexte ergibt sich damit ein zentrales Problem: Die Diskursanalyse kann zwar die in einen Text eingeschriebenen Wissensbestände sichtbar machen und jene epistemischen Regeln zu beschreiben suchen, die ihrerseits die Diskurse organisieren. Sie verfehlt damit aber jene uneingesehene Instanz, die Diskurse in Erzähltexten vorrangig organisiert: die narrative Struktur der Geschichte.16 Der Zusammenhang von Erzählen und Episteme wäre im Bereich der erzählenden Literatur also allererst im epistemischen Potential narrativer Strukturen zu suchen.17 14
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In explizit diskursanalytischen Arbeiten gerät die Tatsache, dass es sich beim Gegenstand der Betrachtung um einen Erzähltext handelt, vielfach ganz aus dem Blick, so zum Beispiel in der These von Velten, die Lalen seien »humanistische[] Spielfiguren der Macht auf dem diskursiven Feld der antiken eudaimonia-Problematik« (Velten 2004, S. 722). Sie wird schließlich durch das Eingeständnis relativiert, der Text gehe in diesem diskursiven Feld nicht auf (ebd., S. 740). Vgl. zur Absetzung der Diskursanalyse von der Ideengeschichte u. a. Foucault 1981, S. 59; hierzu Werle 2007, S. 28–31. Auch wenn sich Foucault als Historiograph verstanden hat (vgl. die Titel Histoire de la folie à l’âge classique [1961], La volonté de savoir. Histoire de la sexualité I [1976]), folgen die von ihm beschriebenen Veränderungen jedoch eher der Logik von Ersetzungen als jener von geschichtlicher Dynamik. Das hat ihm den Vorwurf des ›Strukturalismus‹ eingebracht, gegen den er sich programmatisch verwahrt hat; vgl. etwa Foucault 1974, S. 12f. Dennoch bleibt die Spannung zwischen Diskursbeschreibung und Geschichtsschreibung in Foucaults Werk unaufgelöst, insbesondere weil er die Möglichkeit eines »in der Geschichte vorhandenen ›Sinns‹« verwirft; vgl. Gehring 2004, S. 145–156 (das Zitat S. 146), White 1990 (Foucault), S. 136, und zum problematischen Verhältnis von Diskursanalyse und Narratologie Müller-Funk 2002, S. 38f. und S. 71, Anm. 136. Der Begriff der Geschichte folgt dem terminologischen Vorschlag zur Differenzierung der vier narrativen Ebenen (Geschehen, Geschichte, Erzählung und Präsentation der Erzählung) von Wolf Schmid 2008, S. 251–284, hier bes. S. 251–259, wobei die Unterscheidung von Geschehen und Geschichte an Stierle 1975, S. 49–55, anschließt. Im Unterschied zum amorphen Geschehen besitzt die Geschichte eine begrenzte zeitliche Struktur aus Anfang, Mitte und Schluss. Sie bietet eine Auswahl aus der Fülle der Geschehensmomente und der ihnen zuschreibbaren Eigenschaften, die im ordo naturalis angeordnet sind (Schmid 2008, S. 252f.). Entscheidend ist, dass Auswahl und linearer Anordnung der Geschehensmomente bereits eine Sinnlinie implizit ist (ebd., S. 257), denn das Geschehen fundiert die Geschichte nicht nur und wird durch sie allererst wahrnehmbar, es wird auch durch sie interpretiert (Stierle 1975, S. 50). Vgl. White 1990 (Bedeutung), S. 11f.; Foucaults Schwierigkeiten mit dem Begriff der Geschichte wiederholen sich im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der Literatur. Grundsätzlich sieht er in literarischen Texten die Grenze zwischen Wahnsinn und Vernunft repräsentiert; vgl. die Rede vom Wahnsinn als abwesendem Werk (Foucault 1973, S. 11 u. ö., hier in unglücklicher Übersetzung des frz. »l’absence d’œuvre« als
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Die Versuche, den Sinn des Lalebuchs allein über die Referenzen auf spezifische Wissensdiskurse und -formationen zu rekonstruieren, müssen also unvollständig bleiben, wenn sie sowohl die Struktur der Geschichte als auch den Prozess des Erzählens ausblenden. Zum einen ist Narrheit im Lalebuch nicht von vornherein gegeben, sondern allererst Produkt der Geschichte: Der allmählichen Einübung in närrisches Verhalten und damit dem Verlust von Vernunft steht die narrative Sinnkonstitution auf der Ebene der Geschichte kontrapunktisch entgegen. Der narrative Prozess läuft somit Gefahr, von seinem eigenen Gegenstand unterminiert zu werden. Zum anderen wird Narrheit der Figurenebene zugerechnet, die ihrerseits der Kommentarfunktion eines nicht immer zuverlässigen Erzählers unterliegt. Damit wird die Bewertung der närrischen Erzählung durch die Rezipienten distanziert und erschwert.18 Möglicherweise führt das Lalebuch genau dies vor: Wie das Erzählen vom Narren das Erzählen selbst an seine Grenze führt. Die folgenden Ausführungen möchten die Gegenläufigkeit erzählten Narrentums und närrischen, sinnreduzierenden Erzählens in den Blick nehmen. Hierfür ist von der heterogenen Struktur des Textes auszugehen:19 Eingebettet in die chronikalische Fiktion des Erzählers folgt auf den Narrheitsbeschluss der Lalen (Kapitel 1 bis 6) eine kapitelübergreifende narrative Passage mit den Episoden des Rathausbaus, des Salzanbaus, der Schultheißenwahl und des Kaiserbesuchs (Kapitel 7 bis 28), die mit dem Narrenprivileg des Kaisers endet (Kapitel 29). Es schließt sich eine lose Folge von
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»Fehlen einer Arbeit«; vgl. ders. 2001 [Wahnsinn]). Literarische Texte werden zunächst als Ausnahme angesehen, weil in ihnen der Wahn ohne die diskursive Prädominanz der Vernunft zu Wort kommen könne (ebd., S. 548f.; die Nachbarschaft von Literatur und Wahn nimmt die Arbeit von Felman 2003 zum Ausgangspunkt). Dieser Freiraum der Literatur wird in späteren Arbeiten wieder zurückgenommen: Auch das literarische Werk konstituiere sich allererst über eine Sinnunterstellung des Rezipienten, für die Foucault zum einen die Instanz des Autors, zum anderen den künstlerischen Status des jeweiligen Textes verantwortlich macht (Foucault 2001 [Autor], bes. S. 1015–1021; vgl. auch Gehring 2004, S. 23–26). Indem die Instanzen der Sinnbildung aus dem literarischen Text ausgelagert werden, ignoriert Foucault – wie im Bereich der Geschichtsschreibung – die für erzählende Texte konstitutive Funktion narrativer Sinnbildung. Vgl. zum Verhältnis von Literatur und Diskursanalyse die kritischen Argumente bei Matejovski 1996, S. 270–283, der die Rolle des Narrativen freilich nur am Rand in den Blick nimmt (ebd., S. 281f.). Das hat bereits Bachorski gesehen (2006, S. 261–274, bes. S. 273f. und S. 308). Entsprechend hat das Lalebuch höchst unterschiedliche gattungsgeschichtliche Einordnungen erfahren; vgl. den älteren Überblick bei Wunderlich 1982, S. 647ff. Es gilt je nach literaturgeschichtlicher Perspektive als Schwankbuch (Bausinger 1961), als Schwank- bzw. Prosaroman (Bahder 1914, S. IL; Müller 1985, S. 61–75; Bachorski 2006, S. 341f.), als Satire (Könneker 1991, S. 205ff., und Bässler 2003, S. 293–324, der mit guten Argumenten dafür votiert, das Lalebuch als Roman in der Tradition der menippeischen Satire zu verorten). Ertz verwendet in seiner Analyse lediglich den Begriff des Spiels, ohne diesen in Relation zu erzählenden Texten zu setzen: Die Kapitel 7 bis 27 werden als »Narrenspiel« bezeichnet (Ertz 1965, S. 54f.), die Kapitel 29 bis 45 als »Nachspiel« (ders. 1998, S. 147).
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Schwänken an (Kapitel 30 bis 43), die zum Teil aus vorgängigen Schwanksammlungen kompiliert sind und erzähltechnisch stark von den vorausgehenden Episoden abweichen. Die History der Lalen endet mit dem durch den Kauf einer Katze (Maußhund)20 verursachten Untergang Laleburgs und der Zerstreuung der Lalen in alle Welt (Kapitel 44 und 45). Im Anhang des Textes werden bereits im Titel genannte newe Zeitungen, das sind gereimte Lügennachrichten, beigegeben, deren Status bislang ungeklärt ist.21 Vor diesem Hintergrund – insbesondere des Umschlags der syntagmatisch erzählenden Kapitel 7 bis 29 in die paradigmatisch organisierte Schwankreihe der Kapitel 30 bis 45 – wird zu fragen sein, welche sinnkonstitutiven Leistungen der narrativen Konstruktion des Lalebuchs überhaupt noch zugetraut werden können.22
2. Der Narr und die Logik des Gegensatzes Was ist ein Narr? Eine Antwort, die man auf diese Frage in der Geschichte des Narrentums finden kann, wäre: Der Narr ist immer der andere.23 Damit 20 21
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Lalebuch 1998, S. 135.28. Vgl. hierfür die Ausgabe von Wunderlich: Lalebuch 1982, Anhang S. 1–50. In der Forschung sind die Newen Zeitungen kaum berücksichtigt worden. Neuerdings plädiert Bässler 2003, S. 322f., dafür, sie für die Gattungsfrage des Lalebuchs einzubeziehen. Das Kompositionsproblem des Lalebuchs ist von der älteren Forschung zwar bemerkt, aber kaum zentral verhandelt worden; vgl. Bahder 1914, S. LIVf. Die Zweiteiligkeit des Textes wurde vor allem als Problem literarischer Qualität aufgefasst; vgl. die Andeutung bei Wunderlich 1982, S. 677. Noch Ertz konzediert einen »Qualitätsabfall« (Ertz 1998, S. 147), obgleich er bereits Jahrzehnte zuvor grundsätzlich für eine inhaltliche und formale Einheit des Textes argumentiert hatte (ders. 1965, S. 239–250). Bachorski 2006, S. 341, sieht in dem »geschickten Ausbalancieren von narrativer Geschlossenheit […] und offener paradigmatischer Anlage, wie sie durch die Episodenreihung entsteht,« ein frühes Experimentieren mit Formen des modernen Romans, allerdings ohne die generische Konstruktion des Textes genauer in den Blick zu nehmen (ebd., S. 341f.); vgl. auch Auteri 1992, S. 246. Beobachtungen zu den Interferenzen von Spiel und Erzählung finden sich bei Röcke 1999, S. 183ff.; grundlegend zur paradoxen Spannung von syntagmatischen und paradigmatischen Erzählstrukturen im Schwankroman Strohschneider 2007. Grundgelegt ist dieser Gedanke bei Foucault 1973: Die Identität des ›Normalen‹ wird gesichert durch Ausschluss des ›Wahnsinnigen‹ (S. 13, 25–29, 31f. u. ö.). Historisch setzt Foucault allerdings eine Erfahrung der Einheit von Wahnsinn und Vernunft an (S. 7f.), die sich erst in der frühen Neuzeit ausdifferenziere und als dialektische Relation zu denken sei (S. 51–58). Für die Beschreibung närrischer, satirischer Gegenwelten wird in der literaturwissenschaftlichen Forschung häufig mit Bachtins Theorie des Karnevalismus operiert, die hierfür jedoch in bezeichnender Weise begrenzt wird. Während sich die Gegenwelt des Karnevals bei Bachtin dadurch auszeichnet, dass sie geltende Ordnungen außer Kraft setzt und so unhierarchische Interaktions- und Kommunikationsformen ermöglicht (Bachtin 1995, z. B. S. 58f.), wird sie etwa bei Kuper 1993, bes. S. 19–32, als Ergebnis einer einfachen Inversionsfigur aufgefasst. Diese binäre Logik findet sich auch bei Gumbrecht 1980, der versucht, ein antithetisch
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aber ist er immer auch ein anderer: Für die christliche Theologie ist er ein Gottesleugner, sein Mangel an Vernunftbegabung stellt seine Gottebenbildlichkeit und damit sein Menschsein an sich in Frage.24 Gegenüber der Norm mentaler Gesundheit ist der Narr der pathologisch Stigmatisierte, der Melancholiker oder der Wahnsinnige;25 vor dem Hintergrund schulgelehrter Bildung ist er der Dumme, gegenüber der Norm adliger höveschkeit und zuht ist er der baur.26 Diese binären Modelle implizieren zugleich, dass der Narr auch zum Träger kultureller Werte werden kann, wenn die Norm entsprechend verfällt:27 Wenn das menschliche Wissen zur Hybris führt, dann kommen nur die geistig Armen zu Gott (Mt 5,3),28 und wenn die Ordnung am Hof nur mehr von simulatio und dissimulatio geprägt ist, dann können nur noch Narren die Wahrheit aussprechen.29 Auch im Lalebuch wird Narrheit aus der Logik des Gegensatzes entwickelt: Die Lalen sind von alters her mit Weisheit begabt, denn sie stammen von den Griechen ab.30 Diese Weisheit ist eine angeborene Gabe, sie überträgt sich von den Eltern auf die Kinder. Der Erzähler belegt dies mit einem Sprichwort und wählt so die dem Inhalt entsprechende sprachliche Form für die generationenübergreifende Weitergabe von Wissen: Eltern wie die geartet sind / Also sind gmeinlich jhre Kind: Sind sie mit Tugenden begabt / An Kindern jhr deßgleichen habt.31
oder: Der Apffel felt nicht weit vom Stammen: Das Kind behelt deß Vatters Nammen.32
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gedachtes Verhältnis von offizieller Kultur und Gegenkultur systemtheoretisch zu konzeptualisieren (bes. S. 95–103). Mezger 1991, S. 75–101; Matejovski 1996, S. 77–95; Röcke 2003, S. 52. Vgl. Matejovski 1996, S. 33–77; Differenzierungen des Pathologischen bei Foucault 1973, S. 255–307; zur Nähe von Melancholie und Wahn bes. Klibansky/Panofsky/Saxl 1992, S. 125–199. Zum Narrendiskurs im 16. Jahrhundert vgl. Foucault 1973, S. 19–67. Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Literaturgeschichte des Narren ist vorwiegend nach Gattungen organisiert; vgl. Könneker 1966, Deufert 1975, Jørgensen 1988, mit begriffsgeschichtlichen Überlegungen Puchta-Mähl 1986, S. 56–121 und S. 182–192. Ein Vergleich der Narrenfigur in erzählender Literatur und Spiel findet sich bei Melters 2004, S. 223–270. Vgl. Foucault 1973, S. 32, sowie Deufert 1975, S. 151ff. Zu den Narrenkonzeptionen des Alten und Neuen Testaments Nigg 1956, S. 9–26, sowie Puchta-Mähl 1986, S. 44–55. Zur Narrenfreiheit vgl. Mezger 1981, bes. S. 45–51. Lalebuch 1998, S. 11.25ff.; vgl. hierzu auch Dicke im vorliegenden Band, S. 197–224, der die Weisheit der Lalen allerdings durch den Erzähler in Frage gestellt sieht, dessen Argumentation einen »hübschen Zirkelschluss« produziere (S. 210). Lalebuch 1998, S. 10.9–12. Ebd., S. 12.25f.
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Ererbte Anlagen allein aber genügen nicht, man muss auch aktive Sorge für ihre Ausbildung und ihren Erhalt tragen:33 Deshalb habe schon der Urahn der Lalen über die Erziehung seiner Kinder gewacht vnd sie zu allem guten angewiesen / gelehret vnd gefuͤ hret.34 Die Kombination aus Anlagen und Erziehung verschafft den Lalen so unvergleichlich hohen Verstand vnd vortreffliche[] Weyßheit,35 dass ihr Rat von den Herrschenden in aller Welt eingeholt wird und sie schließlich als feste Berater an die Höfe beordert werden.36 In der Doppelformel hohe[r] Verstand vnd vortreffliche[] Weyßheit deuten sich die Dimensionen des lalischen Weisheitsbegriffs an: ›Verstand‹ bezeichnet eine rationale, politische Klugheit, die Urteile in zweiffeligen vnd spaͤ nnigen sachen zu fällen imstande ist.37 Sie sorgt dafür, dass die Ratschläge der Lalen niemals ohne sonderbaren nutz vnd frucht bleiben.38 ›Weisheit‹ bezeichnet dagegen das umfassende philosophische Vermögen der Erkenntnis menschlicher und göttlicher Dinge, sie befähigt zugleich zur Erkenntnis des Guten und verbindet auf diese Weise Erkenntnistheorie und Ethik.39 Das Gute ist somit der eigentliche Zweck vernünftigen Handelns. So finden die Herrschenden bei den Lalen allzeit gute[n] Raht, der sich als richtig und nützlich erweist und damit – so man begeret etwas gutes außzurichten – einen Mehrwert politischen Handelns generiert.40 Auch in der Hoffnung der Herrschenden, dass derjenige, so sich zu Guten vnd Weysen gesellet ebenfalls Gut vnnd Weyse werde,41 findet die wertbesetzte Vorstellung lalischer Weisheit Ausdruck.42 Gleichzeitig ist in der begrifflichen Spaltung von Verstand und Weisheit bereits das Dilemma der Lalen vorgezeichnet. Schon in der Einheit von Vernünftigem und Gutem ist die lalische Weisheit janusköpfig, denn so nützlich und gut sie auch für die einzelnen Herr 33
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So ist der Schluss der gereimten Vererbungslehre zu verstehen, in dem sich andeutet, dass es neben der ersten Natur der Anlage auch die zweite Natur der Gewohnheit gibt: Doch merck mich recht / merck mich mit fleyß / | Was man nicht wescht wirdt selten weiß (ebd., S. 10.19f.). Die Homophonie von ›weiß‹ und ›weise‹ deutet die Übertragbarkeit auf die Lalen bereits an; vgl. auch Bässler 2003, S. 303. Ertz’ Ansicht, hier werde bereits auf den inadäquaten bäuerlichen Stand der Lalen angespielt (Ertz 1965, S. 16ff.), teile ich nicht. Lalebuch 1998, S. 13.27f. Weisheit als Ergebnis väterlicher Erziehung betont Auteri 1992, S. 260. Lalebuch 1998, S. 14.28f. Ebd., S. 16.8–16. Ebd., S. 15.5f. Für Dröse geht der lalische Weisheitsbegriff vollständig in einer pragmatischen politischen Klugheit auf (Dröse 2004, S. 693). Lalebuch 1998, S. 15.10. Zur Überlagerung von Wissens- und ethischen Aspekten im Weisheitsbegriff des Mittelalters und der Renaissance vgl. Speer 2004, bes. S. 388f. Lalebuch 1998, S. 15.7 und 15.13f. Ebd., S. 17.3f. So auch Röcke 1985, S. 305.
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schaften ist, so schädlich und schlecht ist sie für das heimische Gemeinwesen in Laleburg:43 Die Abwesenheit der Männer zwingt die Frauen, Feldund Viehwirtschaft zu versehen. Das aber ist eine Umkehr der natürlichen Geschlechterordnung und muss daher misslingen. Auch die soziale Ordnung können die Frauen allein nicht garantieren.44 Indem die Lalen sich bemühen, im Namen der guten Ordnung, der gemeinen wolfahrt vnd wolstandes, alles richtig zu machen, was vnrichtig war,45 machen sie alles falsch: Sie produzieren durch ihre Abwesenheit einen ideellen und materiellen Verlust, der weder durch ihr hohes Ansehen noch durch reiche Entlohnung kompensierbar ist. Diese Rechnung ist einfach und traditionell: Familialer Mikrokosmos und herrschaftlicher Makrokosmos müssen sich entsprechen. Wo die Ordnungsstrukturen der kleine[n] Haußhaltung[] in Laleburg zerstört sind, kann auch die grosse[] Haußhaltung, die politische Ordnung in der Welt, nicht gut sein.46 Die Lalefrauen ziehen hieraus die Konsequenz und fordern die Männer in einem Schreiben auf, ihre Beratertätigkeit aufzugeben und an ihren angestammten Platz, zu ihrem Beruff[] vnd Ampt[] im heimischen Gemeinwesen zurückzukehren.47 Ihr Ziel ist es, die richtige – und damit gute – soziale Ordnung wiederherzustellen.48 Um die Männer hiervon zu überzeugen, bemühen sie in ihrer Argumentation die kulturelle Basisdifferenz von Mensch und Tier: Ist es billich / vnd durch die Natur selberst eyngepflantzet / daß auch vnvernuͤ nfftige Thiere jhre Zuchte vnd Gesellschaffte nit vbergeben noch verlassen / […] wie viel mehr gebuͤ rt sichs einer vernuͤ nfftigen Creatur / einem Menschen / so mit Weißheit vnd Verstand begabet / seiner Gesellin anzuhangen / vnd derselben getrewe hilff vnd beystand zuleisten.49
Der Besitz der rationalen Urteilskraft macht die Identität des Menschen im Unterschied zum Tier aus. Aber darauf scheint es gar nicht anzukommen. Zwar lässt sich aus dem Vergleich folgern, dass insbesondere der vernunftbegabte Mensch zum richtigen Handeln befähigt sein sollte, genauso scheint jedoch zu gelten, dass die gute Ordnung, die auf das basale Prinzip der Arterhaltung ausgerichtet ist, auch ganz ohne Vernunfthandeln möglich ist. Das richtige Handeln, das den Fortbestand und damit das Wohl des Kollektivs im Blick hat, ist nicht notwendig auf die Instanz der Ratio angewiesen, im Gegenteil: Es scheint – als kreatürliches Wissen – gerade dort 43 44 45 46
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Könneker 1991, S. 207–210. Lalebuch 1998, S. 17.25–19.4; vgl. Bachorski 2006, S. 275–279. Lalebuch 1998, S. 19.6–9. Ebd., S. 20.9f.; vgl. mit weiterführender Literatur Röcke 1999, S. 189, sowie Bachorski 2006, S. 275–282. Lalebuch 1998, S. 22.22. So auch Velten 2004, S. 714f. und S. 722, der in diesem Ziel eine Referenz auf die philosophische Frage sieht, ob es dem Weisen möglich ist, Glückseligkeit zu erlangen. Lalebuch 1998, S. 23.2–9.
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unkorrumpierbar bestehen zu können, wo es nicht durch Verstandestätigkeit eingeschränkt wird. Möglicherweise also haben die Lalen das kreatürliche Prinzip des Guten aus den Augen verloren, weil sie so klug sind. Die semantische Differenz, die sich für den lalischen Begriff der Weisheit bereits angedeutet hatte, wird im Schreiben der Lalefrauen dadurch explizit gemacht, dass hier gutes und vernünftiges Handeln vollständig auseinandertreten. Das hat für das semantische Profil des Narrheitsbegriffs erhebliche Konsequenzen: Es zeigt sich, dass Narrheit als Gegenbegriff zur Vernunft im engeren Sinne rationaler Urteilskraft, nicht als Gegenbegriff zum weiteren, axiologisch konnotierten Weisheitsbegriff gesetzt wird. Auch die Umstände seiner Entfaltung arbeiten dieser rationalistischen Auffassung des Begriffs zu: Alarmiert vom Bericht über die heimischen Missstände kehren die Männer heim und überzeugen sich selbst von der vnrichtigkeit vnd vnordnung in allen sachen.50 Um eine Lösung für ihr Dilemma zu finden, beschließen sie, gründlich Rat zu halten, was nicht nur die angemessene Form der Entscheidungsfindung im Gemeinwesen ist, sondern der Profession der Lalen auch am besten entspricht. Bei der Zusammenkunft unter der Dorflinde steht allerdings zunächst ein Gerichtstag an, denn in der Abwesenheit der Lale-Männer haben sich vil streittige vnd spennige sachen angehäuft,51 die beurteilt und entschieden werden müssen. Das ist zwar schnell erledigt, aber mit der Tätigkeit des Gerichts ist ein Verhandlungsmodus aufgerufen, der auch die anschließende Ratsversammlung prägt.52 Es geht hier weder um die Geschicke der Landesherrschaften noch darum, was für Laleburg das Beste sei. Schon gar nicht geht es um die prekäre Frage, ob moderne Funktionselite und traditionelle Haushaltung vereinbar sein können. Vielmehr verschwindet im Vollzug der juristischen Betrachtung die ethische Dimension des Problems. Stattdessen wird ein Fall verhandelt: Der Fall der Gemeinde Laleburg, deren Schaden einzig als materieller aufgefasst wird, denn ein materieller Schaden ist objektiv messbar und damit rational beurteilbar. Insofern ergibt sich eine reine Kosten-Nutzen-Bilanz: Da sie dann erstlich den mercklichen grossen schaden vnd vngelegenheit aller sachen / so jnen / in dem sie gehoͤ rter massen von Hauß abwesend / entstehe vnd erwachse / ernstlich erwegen thaten: verglichen vnd hielten nachmaln den gefundenen Schaden gegen dem Nutz / den sie von den außlaͤ ndischen Herrn / welchen sie dieneten / empfiengen: vnd befunden / daß der Nutz den Schaden bey weitem nicht koͤ nte verbesseren vnd ersetzen.53 50 51 52
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Ebd., S. 25.24f. Ebd., S. 28.7f. Anders Dröse 2004, S. 694, der politische und forensische Beratung als benachbarte »Darstellungsmodi des Deliberativen« auffasst. Lalebuch 1998, S. 28.17–29.5.
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Diese Bilanz trägt das Urteil schon in sich: Der auf Seiten Laleburgs entstandene materielle Schaden muss kompensiert werden und das können die Lalen nur, wenn sie den Herrschern künftig die Beratertätigkeit verweigern. Der mit dem Gerichtstag aufgerufene Diskurs reduziert nicht nur die Komplexität des lalischen Dilemmas zu einer rational handhabbaren causa,54 er gibt auch die Strukturen für die folgende Verhandlung der Frage vor, wie man sich den Herrschenden künftig entziehen könne. Gefragt sind hier nicht die weisen Lalen, sondern solche, die klug und vernuͤ nfftiglich,55 also rational nachvollziehbar, zu argumentieren wissen. Dieser vernünftige Diskurs zeitigt allerdings kein Ergebnis, bis ein alter Lale vortritt und ein schlichtes Gegensatzpaar aufmacht: Da die Abwesenheit von Laleburg einzig und allein an Weisheit und Verstand der Lalen gekoppelt sei, könne das Gegenteil der Abwesenheit, also die dauerhafte Anwesenheit in Laleburg, nur durch das Gegenteil der Weißheyt, nämlich Thorheit oder Narrey,56 erreicht werden. Diese Denkfigur belegt er mit einer Cicero-Sentenz (Contrariorum sind ja contraria consequentia)57 und behauptet so ein rationales Argumentationsverfahren.58 Die Rhetorik des Alten lässt die lalische Weisheit endgültig zu einer kalkulierbaren Kategorie praktischer Vernunft werden. Für den aus der Logik des Gegensatzes abgeleiteten Narrheitsbegriff ist das entscheidend: Als Toren und Narren haben die Lalen die Grundsätze vernünftigen Handelns zu ignorieren oder bewusst zu verkehren. Das wiederum setzt voraus, dass die Regeln der Vernunft bekannt sind. Der alte Lale spielt auf dieses Wissen an, wenn er den Lalen aufträgt, Possen zu reißen, so jmmer muͤ glich zuersinnen vnd zuerdencken,59 was ihnen angesichts ihrer Weißheyt kaum schwer fallen werde. Um die Dialektik zu veranschaulichen, in der die zur Klugheit umkodierte Weißheyt und ihr Gegenstück, die Narrheit, aufeinander bezogen sind, wählt er das Bild des Narren im Spiel: Dann man spreche ja gemeinlich / wann es darumb zuthun / daß man einen Narren haben muͤ sse / als etwan in Comedien vnd sonst geschiehet / so seyen keine taugelicher / solche persone zuverwalten / als eben die weysesten vnd geschicktesten. Es ist ja nicht ein geringe Kunst / einen Narren recht verwesen koͤ nnen vnd vertretten.60
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Entsprechend verengt sich die Frage nach dem Gemeinwohl auf die nach dem ›gemeinen Nutz‹, der fortan zu einem Leitbegriff lalischen Handelns wird, das ihn freilich nur allzu oft in sein Gegenteil verkehrt; vgl. Bachorski 2006, S. 282–295. Lalebuch 1998, S. 29.9. Ebd., S. 29.32ff. Ebd., S. 30.3f. Vgl. Cicero 1997, V 50, S. 422.9f.: contrariorum enim contraria sunt consequentia. Becker 2000, S. 103f., sieht hierin ein Beispiel für »antischolastische Tendenzen im Denken des Lalebuch-Verfassers« (S. 103); in diesem Sinne auch die aufschlussreichen Nachweise bei Dicke im vorliegenden Band, S. 197–224. Lalebuch 1998, S. 30.8f. Ebd., S. 30.12–18.
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Die simulierte Narrheit, die der Alte seinen Landsleuten vorschlägt, zielt nicht auf die Abwesenheit von Vernunft, sondern auf die Kunst ihrer Verdeckung. Sie erfordert neben theoretischem Verstand auch praktisches Geschick,61 denn den Narren geben kann nur der, der um die Regeln weiß, die den Narren ausmachen. Überdies ist nur derjenige, der über sich und sein Verhalten reflektieren kann, in der Lage, die Distanz zu seiner Rolle aufrecht zu erhalten.62 Wer hingegen die rechte griff nicht weißt,63 dem droht die Gefahr irreversibel bleibender Narrheit: Geschiehet wol offt / daß es einem / so sichs vnterstehet / aber die rechte griff nicht weißt / also mißlinget / dz er gar zum Thoren wirt / vnd ein Narr bleibt sein lebenlang / weil der Guckug behelt sein Gesang / die Glock jren klang / vnd der Krebs seinen gang.64
Mit diesem Ausblick auf eine misslingende simulatio stultitiae, in dem das Problem habitualisierter Narrheit bereits angedeutet wird, löst sich die begriffliche Klarheit des Narrheitsbegriffs umgehend wieder auf und lässt ein Spektrum von Narrenkonzeptionen sichtbar werden: Neben dem kunstvollen gibt es schlechtes Rollenspiel, neben der temporär angenommenen Narrenrolle gibt es die habituelle Narrheit. Diese Formen des Närrischen bestehen überdies so dicht nebeneinander, dass sie ineinander übergehen können. Der logische Gegensatz, in den die vernünftige Argumentation des alten Lalen die Relation von Weisheit und Narrheit für die weitere Geschichte der Lalen bringen möchte, wird durch die Unfestigkeit der Begriffe unmittelbar in Frage gestellt: Die lalische Weisheit ist in der Reduktion als rationale Vernunft lediglich das Produkt eines spezifischen Figurendiskurses, die ethischen Dimensionen des Begriffs werden darin nicht realisiert.65 Entspre 61
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Die Doppelformel ›weise‹ und ›geschickt‹ macht die semantische Verengung, die der Begriff der lalischen Weisheit erfährt, noch einmal besonders deutlich, zielt sie doch auf eine der List eng benachbarte Klugheitsvorstellung. Dem echten Narren wird die Fähigkeit zur Selbstreflexion hingegen abgesprochen; vgl. Puchta-Mähl 1986, S. 49ff. Lalebuch 1998, S. 30.19. Ebd., S. 30.18–22. Zur Wiederaufnahme der hier verwendeten Bilder in den Schwankepisoden vgl. Bässler 2003, S. 311f. Für die erzählte Geschichte ist damit indes noch nichts gesagt: Schließlich entspricht das in der causa Laleburg gefällte Urteil, dass die Männer fortan zuhause bleiben sollen, der Forderung der Frauen nach der Wiederherstellung der richtigen, das heißt: der guten Ordnung. Entsprechende Hinweise werden allerdings auf die Ebene der Erzählerrede delegiert, wo die Nuancierung zwischen dem Guten und dem Vernünftigen zu einer Frage der Perspektive wird. Wenn der Erzähler etwa bemerkt, die Lalen hätten lange über den Vorschlag des Alten nachgedacht, schließlich habe jr aller heyl vnd wolfart daran gelegen (Lalebuch 1998, S. 30.31f.), so spricht er über die Lalen; wenn er hingegen auf den ›gemeinen Nutz‹ verweist, den sie mit der simulierten Narrheit zu erreichen hoffen, so handelt es sich um die indirekte Wiedergabe von Gedanken der Figuren (ebd., S. 31.21–27).
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chend vorläufig bleibt der Entwurf der Narrheit, denn dass die punktuelle Dissimulation von Vernunft eine eigene Dynamik entfalten kann, deutet sich schon im Moment ihrer begrifflichen Fixierung an.66
3. Vexordium und Narration: Zur Ordnung des Erzählten Aus der Sicht des Erzählers folgt aus dem von den Figuren herbeigeführten Ratschluss eine Zäsur in der Erzählung: Hat also hiemit der Laleburgern Weyßheit / als ein Vexordium dieser History / ein ende / vnnd folget die Narration.67 Die Wortschöpfung Vexordium gilt als spielerische Zusammenziehung aus lat. vexare (›spotten‹) und exordium (›Redeeinleitung‹). Narration ist zu lat. narratio – in der klassischen Rhetorik der Berichtsteil der Rede – gebildet und spielt zugleich auf das Wort Narr an.68 In beiden Fällen überträgt der Erzähler also Begriffe aus dem Bereich rhetorischer Disposition in den Bereich narrativer Komposition. Ertz sieht in dem Erzählerkommentar ein »hübsches Wortspiel«, das »zum Hauptteil […], zur Erzählung der Narrheit« überleite.69 Die Notwendigkeit der Unterscheidung an sich scheint damit aber keineswegs hinreichend aufgeklärt, zumal der Erzähler eine durchaus profilierte Vorstellung von seiner eigenen Tätigkeit besitzt. Das lässt sich über den Begriff der History zeigen, der an den Anfang des Lalebuchs, auf die Vorrede des Erzählers, zurückverweist. Die Entdeckung von Siedlungsresten während einer Bootsfahrt auf dem Uthener See veranlasst den Erzähler zu Nachfragen an seinen Bootsführer, der ihm erläutert, dort, in Laleburg, hätten sich die abenthewrlichste vnd wunderbarlichste Geschichten mit den Eynwohnern […] zugetragen70 und es sei jmmer Schad / daß nit etwan ein gelehrter sich vorlengst daruͤ ber gemacht / der Laleburger Thaten beschrieben / vnnd ans Liecht gegeben hat / maͤ nniglichen zu ehrlicher Kurtzweil vnd Zeitvertreibung / an statt der groben Zotten im Rollwagen / Gartengesellschafft / Cento Nouella, Katzipori, vnd andern vnreinen Scribenten / welche wol außschneidens bedoͤ rfften.71
Um die Aufarbeitung von Geschichte also geht es, um die historiographische Nachzeichnung der gesta der Laleburger. Deren Geschichte ist aber vorerst nicht mehr als ein Konglomerat einzelner Geschichten, die – das 66
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Die Dynamik der Begriffe bleibt auf der Ebene des Figurenhandelns unaufgedeckt. Hier gilt die einfache Figur der Umkehr vernünftigen Verhaltens in närrisches. Lalebuch 1998, S. 31.27ff. Vgl. ebd., S. 31, Anm. 15 und 16. Vgl. Ertz 1965, S. 53. Zu einer programmatischen Verwendung der beiden Begriffe gibt es bislang, soweit ich sehe, keine Vorschläge. Lalebuch 1998, S. 8.2ff. Ebd., S. 8.7–14.
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legt der Vergleich mit den großen Erzählsammlungen des 16. Jahrhunderts nahe – den Charakter der Sammlung selbst dann behalten haben würden, wenn ein gelehrter sie zusammengestellt hätte. Einzelne Historien vnd Geschichten sind es dann auch, die der Bootsführer dem Erzähler ohn alle Ordnung / nur wie sie jhm zugeflogen / erzehlet und die dieser in Eyl auffgezwackt / etlicher massen in ein Ordnung gebracht / vnd folgender Massen verzeichnet habe.72 Dieser Erzählerbericht legt die narratologische Unterscheidung von histoire und discours offen, die Wolf Schmid durch die Begriffe »Geschehen« und »Geschichte« (auf Seiten der histoire) sowie »Erzählung« und »Präsentation der Erzählung« (auf Seiten des discours) weiter differenziert hat.73 Die Historien vnd Geschichten würden demnach der Ebene des Geschehens angehören, denn sie bezeichnen eine Fülle von zunächst unkoordinierten Ereignissen, die zwar für sich genommen erzählt werden können (hier durch den Schiffsmann), aber in der bloßen Summe noch keine Geschichte ergeben.74 Die Transformation dieser Geschehensmomente in die begrenzte, sinnhafte Gestalt einer Geschichte obliegt dem Erzähler. Zwar liegt deren Teleologie, die sich in den baulichen Überresten der vormaligen Stadt Laleburg vorerst nur andeutet, seiner Tätigkeit bereits voraus;75 ihre Ordnung stellt er aber durch Auswahl und Chronologisierung der Geschehensmomente allererst her. Hierfür braucht es den gelehrten Erzähler, der durch die Kenntnis der Historiographie über entsprechende Ordnungsmuster verfügt. Auf der Ebene der Geschichte liegen die Taten der Laleburger im ordo naturalis vor,76 der sich für eine History ohnedies anbietet und der bei der Transformation der Geschichte zur Erzählung weitgehend beibehalten ist. Der für die Erzählung kennzeichnende ordo artificialis77 ist somit weniger dominant.78 Entscheidender ist für die Ebene der Erzählung die Frage nach der Darstellung des Erzählten, vor allem nach Modus und Stimme.79 Diese Zuständigkeit des Erzählers betont der Boots 72 73 74
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Ebd., S. 9.2ff. Schmid 2008, S. 251–284. Indem jene Geschehensmomente, die der Erzähler für seine Geschichte der Lalen auswählt und anordnet, als Historien vnd Geschichten ihrerseits verbalisierte Erzählungen mit geschlossenen narrativen Strukturen darstellen, erweist sich der in der narratologischen Forschung festgehaltene grundsätzlich narrative Charakter von Ereignissen; vgl. Schmid 2003. Indem das sichtbare Ende der Laleburger Geschichte die Frage nach ihrem Anfang induziert (Solcher Antwort verwundert ich mich nicht wenig / fragt derwegen nachmals / was doch wol moͤ chte die gruͤ ndliche Vrsach seyn; Lalebuch 1998, S. 7.29ff.), bildet sich die hermeneutische Bewegung ab, aus der jede Geschichtsstruktur erst hervorgeht. Schmid 2008, S. 253. Ebd. Vgl. u. a. die Analepsen in Kap. 16 (Lalebuch 1998, S. 63.10–13) sowie zu Beginn von Kap. 17 (ebd., S. 66.5–20). Vgl. zu den Begriffen Genette 1998.
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führer, wenn er entschuldigend anmerkt, er könne die Laleburger Geschichten nicht so zierlich vnnd artlich fuͤ rbringen […] / als sichs wol gezimmete.80 Der professionelle Erzähler hingegen, der mit Schreibfedern umzugehen weiß,81 kennt mit Rhetorik und Stilistik die sprachlichen Ordnungen, denen die Erzählung folgt. Schließlich ist mit dem Hinweis auf das Verzeichnen der Laleburger Geschichte auch ihre schriftsprachliche Präsentationsform angesprochen, die allererst den Kontakt zwischen Erzähler und Rezipient ermöglicht und die hier mit dem Anspruch auftritt, die wurmstichigen und verbrannten Chroniken Laleburgs zu ersetzen.82 In der Vorrede profiliert sich also ein Erzähler, der nicht nur über einen präzisen Begriff von histoire und discours verfügt, sondern sich in dezidierter Weise als zeitliche und sprachliche Ordnungsinstanz begreift. Deshalb sind auch die Ordnungsbegriffe Vexordium und Narration mehr als nur ein Spiel mit rhetorischen Etiketten. Sie sind ein Hinweis auf die narrative Programmatik des Lalebuchs. Das gilt umso mehr, als dem Begriff der Narration im unmittelbaren Anschluss an den Erzählerkommentar ein weiterer textlicher Ordnungsbegriff gegenübergestellt wird. In Konkurrenz zur Erzählerfigur tritt eine Sprechinstanz auf, die wie ein Praecursor ein Spiel ansagt:83 Nun kommet her jhr liebe Knaben / Die jhr begeret platz zu haben / Zusehen folgends Lalespil: […].84
Schon der alte Lale hatte für seinen Vorschlag einer simulatio stultitiae den Vergleich des Spiels gewählt und in der Tat scheint die von den Lalen beschlossene Verstellung der temporären Übernahme einer Rolle vergleichbar. Sie müsste bestehen aus wiederholten, stets punktuellen, situationsbezogenen Entwürfen von Narrheit. Allerdings ergibt sich aus der Reihung solcher Entwürfe nicht die narrative Struktur einer Geschichte, sondern allenfalls ein dramatisches (Reihen-)Spiel.85 Insofern ist es nur folgerichtig, dass das Lalespil im Folgenden wieder hinter die Narration des Erzählers zurücktritt. Dennoch markiert die punktuell eingeführte Bezeichnung des 80 81 82
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Lalebuch 1998, S. 8.20f. Ebd., S. 8.23. Ebd., S. 9.6–11 und 11.16–21. Vgl. zur Quellenfiktion der Vorrede auch Bässler 2003, S. 294–297, sowie Bachorski 2006, S. 266, mit dem schönen Hinweis, die »schriftliche Tradierung [sei] noch defekter als die mündliche«. Anders Kalkofen 1995, S. 598ff., der argumentiert, der »Position des Spielleiters« korrespondiere die »Souveränität des Erzählers« und die Ankündigung des Lalespils liefere insofern eine »Rechfertigung oder Plausibilisierung der Präsenzillusion« des Erzählers (S. 599). Ertz bezeichnet den anschließenden Teil des Lalebuchs (Kap. 7– 27) wie selbstverständlich als Lalespil. Die Überlagerung mit der vorausgehenden Bezeichnung Narration spricht er nicht an (Ertz 1965, S. 60–165). Lalebuch 1998, S. 32.1ff. Das beobachtet auch Röcke 1985, S. 306.
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Spiels eine Spannung, die zwischen Vexordium und Narration besteht. Zu fragen ist deshalb, inwiefern im Rahmen einer History konzeptionell zwischen Vexordium und Narration unterschieden werden kann. Eine mögliche Antwort hat noch einmal von den Begriffen selbst und ihrem konnotativen Potential auszugehen. Im klassischen Latein bezeichnet vexare eine starke Bewegung, ein Hinund Herschütteln oder ein Erschüttern.86 Nimmt man die etymologische Verwandtschaft von exordium und ordo hinzu, so ergibt sich eine Anspielung auf jene erschütterte, verkehrte Ordnung, die in den ersten Kapiteln skizziert wird und die die Lalen mit einer weiteren Ordnungsverkehrung, der Inversion klugen Verhaltens, zu kompensieren suchen.87 Allein: Inversionsfiguren sind statisch, sie können zwar Handlungen nach sich ziehen, aber sie stellen selbst keine Handlung dar.88 Die Realisierung dieser Möglichkeit ist im Begriff des Spiels angedeutet. Zugleich aber schafft der im Vexordium beschriebene Mangelzustand jenes axiologische Ungleichgewicht, das den notwendigen Ausgangspunkt einer jeden Narration bildet.89 Die Narration des Lalebuchs gewinnt ihre Dynamik somit gleich in doppelter Hinsicht aus der statischen Inversionsfigur des Vexordium: zum einen in axiologischer Hinsicht, zum anderen auf Grund der zeitlichen Dimension, die der simulatio stultitiae inhärent ist. Denn anders als es das Vexordium mit seinem Narrheitsbeschluss suggeriert, lässt sich die Verkehrung kluger Planung in närrische Handlung nicht statisch, sondern nur prozessual umsetzen. Einen Grund nennen die Lalen selbst: Die unvermittelte und vollständige Umkehr aller vorheriger Verhaltensweisen wäre kaum glaubhaft und würde sofort den Argwohn ihrer bisherigen Auftraggeber wecken.90 Plausibler scheint es dagegen zu sein, das närrische Verhalten über eine gewisse Zeit hinweg einzuüben. Die Kapitel 7 bis 29 zeichnen diesen Prozess nach. Die Narrheit der Lalen ist dabei zum Teil als Verstellung kenntlich. Gleichzeitig aber greift bereits eine ganz andere Form von Thorheit Raum, die der alte Lale bereits zu Beginn mahnend entworfen hatte. Die Maskerade der angenommenen Narrheit gerät den Lalen durch konsequente wiederholende Einübung zu einer irreversiblen habituellen Dummheit. Da 86 87
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Vgl. Georges 1998, Bd. 2, Sp. 3464. Vgl. ebd., Bd. 1, Sp. 2568f. (exordior und exordium), sowie ebd., Bd. 2, Sp. 1394f. (ordior) und Sp. 1395f. (ordo). Klanglich könnte mit Vexordium auch auf das Substantiv vecordia (Unsinnigkeit, Wahnsinn) angespielt sein (ebd., Bd. 2, Sp. 3378). Entsprechend dominieren im Vexordium diskursive Darstellungsmodi; vgl. den Brief der Lalefrauen mit seiner Zustandsbeschreibung (Lalebuch 1998, S. 21.16–24.30) sowie die indirekte Rede im Rat der Lalen (ebd., S. 27.18–31.29). Vgl. grundlegend Greimas 1987 sowie die an Greimas anknüpfenden und zugleich präzisierenden Ausführungen zum Zusammenhang von Wert und Handlung sowie Axiologie und Perspektive bei Bleumer 2002, S. 146–159. Für hilfreiche Diskussionen und die Möglichkeit, in seine Arbeit Einblick zu nehmen, danke ich Hartmut Bleumer herzlich. Lalebuch 1998, S. 33.1–11.
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mit liefern sie sich selbst91 und auch dem Erzähler ein Beispiel für die anthropologische Maxime: Consuetudo est altera Natura (dz ist: Was gwohnet ward / Schlegt in die Art).92 Damit ist die Narration mehr als nur eine Um- und Fortsetzung der im Vexordium skizzierten Inversion, sie ist Narration in einem konzeptionellen narratologischen Sinn, den sie – nomen est omen – buchstäblich bezeichnet: Sie lässt die Narren die ratio verlieren, ohne dabei ihre sinnstiftende, durch die Axiologie der Geschichte determinierte Funktion aufgeben zu können. Das Dilemma des Erzählens vom Narren kommt in der vermeintlich harmlosen Ankündigung der Narration somit regelrecht auf den Begriff: Eine Erzählung kann einen Narren zu einem Klugen und einen Klugen zu einem Narren werden lassen. Aber wer so klug ist, sich als Narr auszugeben, wird beides im Verlauf der Erzählung kaum bleiben können. Die axiologisch begründete Dynamik der Geschichte wird auch ihn verwandeln.
4. Vexierspiele der Vernunft Die Erzählung von der simulierten Narrheit der Lalen präsentiert sich im Folgenden als gekonntes Vexierspiel klugen, närrischen und dummen Verhaltens. Zwar gibt es einen tendenziell linearen Verlauf von der Ausgangsposition der Klugheit zu einer irreversiblen Dummheit, aber im Detail sind die Übergänge zwischen den Verhaltensvarianten kaum zu fixieren. Die Selbstbewertungen der Figuren konfligieren mit denen des Erzählers, so dass sich ein komplexes Geflecht von Positionen ergibt, die nicht eindeutig als klug, närrisch oder dumm bestimmt werden können. Das zeigt sich gleich in den ersten Episoden um den Rathausbau der Lalen. Die erste Maßnahme der Lalen zielt darauf, ihrem neuen Status als Narren einen bezeichnenden Anfang zu setzen und ihm Sichtbarkeit zu verschaffen. Sie beschließen ein Rathaus zu bauen so jhr Narrey ertragen vnd leiden koͤ nte, wobei der Erzähler ergänzt: dann sie im sinne schon damaln nit geringe Narrn gwesen.93 Der Rathausbau soll also beides sein: bewusste – von der Position der Vernunft aus getroffene – Entscheidung, die simulierte Narrheit öffentlich zu machen, und zugleich ein Zeichen für die schon zum damaligen Zeitpunkt gegebene närrische Affizierung des lalischen Verstandes. Beides zugleich kann nur der Fall sein, wenn der Narrheitsbeschluss der Lalen seinerseits schon als vernunftwidrig gelten muss.94 Dafür wiederum hat es von Seiten des Erzählers bislang keine Hin 91 92 93 94
Vgl. ebd., S. 51.26–52.11. Ebd., S. 109.11f. Ebd., S. 32.23ff. Dafür plädiert Dicke im vorliegenden Band, S. 197–224. Seine pointierte These, die Lalen seien zu keinem Zeitpunkt weise bzw. vernünftig gewesen, ist wiederum mit den
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weise gegeben. Der Erzählerkommentar stiftet also gezielt Verwirrung und kann nur als Warnung verstanden werden, das erzählte Geschehen nicht vorschnell zu bewerten. Unübersichtlich wird die Situation im Weiteren auch auf der Ebene der Figuren: Die Lalen haben ihre vormalige Klugheit noch nicht ganz aufgegeben. Daher ist ihnen deutlich, dass sie es mit ihren Plänen nicht überstürzen dürfen, denn es sei ungeschickt, daß sie mit jrer Narrey hauffen weise herfuͤ r brechen / eins mals vnd auff einen stutz: dann jhr angelegte vnnd angenommene Thorheit dardurch leichtlich were verrathen worden.95
Die Lalen streben also nicht nur eine prozessual-dynamische Umsetzung ihres Beschlusses an, sie fordern sogar die zeitweilige dissimulatio der simulierten Narrheit: Darumb wolten sie den Narren gantz weyßlich hindern Ohren (geht hinder mir weg) verbergen eine zeitlang / biß sie nach vnd nach gelegenheit hetten / jn allgemach herauß zulassen.96
Indem der Erzähler die Lalen in direkter Rede als Narren anspricht, wird die vernünftig erscheinende Überlegung der Figuren wiederum in Zweifel gezogen. Dadurch jedoch, dass der Erzähler die eingangs eingenommene heterodiegetische Position, die ihm als Historiograph notwendigerweise zukommt, aufgibt, und sich punktuell zu einer Figur seiner eigenen Geschichte macht, wird auch seine Stellung zum Erzählten uneindeutig.97 Für seine Glaubwürdigkeit kann das nicht folgenlos bleiben. Die Botschaft an den Rezipienten kann demnach nur sein, zur Narration als solcher auf Distanz zu gehen, denn weder Geschichte noch Erzählung scheinen beurteilbar zu sein. Und in der Tat erweist sich nichts als das, was es zu sein scheint. So treten die Lalen zwar klug argumentierend auf. Sie scheinen in der Lage zu sein, ihren Plan in Bezug auf seine Wirkung zu reflektieren und daraus Konsequenzen zu ziehen. Zu erwarten wäre also ein Verhalten, das auf gemäßigt simulierendes oder sogar dissimulierendes Narrentum schließen lässt. Diese Erwartung wird allerdings umgehend enttäuscht, denn das Han-
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dargestellten Varianten simulierter und habitueller Narrheit nur schwer zu vereinbaren (ebd., S. 211f.). Lalebuch 1998, S. 33.5–8. Ebd., S. 33.8–11. Diesen punktuellen Umschlag einer heterodiegetischen in eine homodiegetische Erzählung beschreibt Röcke 1999, S. 182–185, als Einbruch der Kommunikationssituation des Spiels in die Welt der Erzählung mit dem Effekt »befremdlicher Nähe«; zur Annäherung von Erzähler- und Figurenrede Bachorski 2006, S. 317, zum unzuverlässigen Erzähler ebd., S. 261–274, bes. S. 272ff. Bässler 2003, S. 293–301, bringt die – narrativ unlogische und eigentlich unmögliche – Berührung von Geschichte und Erzählung im Begriff der Metalepse auf den Punkt. Die widersprüchliche Stellung der Erzählerfigur zwischen konzeptionell mündlicher Erzählsituation und konzeptionell schriftlicher Geschichte hat Kalkofen 1995, S. 595–601, überzeugend herausgearbeitet.
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deln der Lalen desavouiert ihre Beschlüsse: Nachdem sie alle Absprachen getroffen und alle Beschlüsse gefällt haben, die ihnen im Vorfeld des Rathausbaus notwendig erscheinen, konstatieren sie das Fehlen eines pfeyffer[s] oder Geyger[s] / der mit seinem lieblichen Gesang vnd klang dem Holtz vnd Steynen gelocket hette / daß sie selberst herzu gelauffen weren / vnd sich hetten feyn ordenlich / wie zu einem solchen Baw notwendig / auff einandern gelegt.98
Der Erzähler erläutert diese Vorstellung und gibt dabei ein dezidiertes Literarizitätssignal. Er führt aus alten Schreybenten Orpheus und Amphion als Gewährsmänner an, deren lieblichen Harfenklängen sich weder Tiere, Bäume noch Steine hätten widersetzen können.99 Solch ein Geiger, heißt es wieder über die Lalen, habe ihnen gefehlt, denn sie hätten sich so viel Mühe und Arbeit ersparen können, aber es sei nirgends einer zu finden gewesen, weshalb sie vereinbart hätten, den Bau gemeinsam anzugehen.100 Da jeder Hinweis auf eine mögliche Doppelbödigkeit der Situation fehlt, lässt sich das Verhalten der Lalen hier weder als gemäßigte Simulation noch als Dissimulation von Narrheit werten. Die Suche nach dem Baumaterial beschaffenden Pfeifer führt vielmehr ein Verhalten vor, das literarische Narren auch andernorts auszeichnet und das als »metaphorische Inversion« beschrieben worden ist.101 Die Lalen haben eine zum Bild gewordene Handlungssequenz im Kopf, die eine übertragene Bedeutung hat: Sie imaginieren eine Metapher, die auf die anziehende Macht des Klangs verweist. Als rhetorische Figuren aber gehören Metaphern in den Bereich des Diskurses. In diesem Fall gehören sie dem Verfügungsbereich des Erzählers und seiner Rede an, was sich daran zeigt, dass dieser die Bedeutung der Metapher umgehend aufklärt.102 Die Lalen aber ignorieren den diskursiven Ort der Metapher und damit die metaphorische Qualität des Bildes und setzen das Bild stattdessen unmittelbar in Handlung um. Sie versuchen, eine Metapher auf der Ebene der Geschichte zu realisieren.103 Dadurch kommt es zu einem weiteren Fall der 98 99 100
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Lalebuch 1998, S. 34.16–20. Ebd., 34.20–35.5. Ebd., S. 35.6–14. Bachorski 1995, S. 307f., liest die Episode unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung von Arbeit. Bässler 2003, S. 12–24: »Metaphorische Inversion« wird hier als Oberbegriff für Transformationen zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung in diskursiven und narrativen Sprach- wie Bildmedien aufgefasst. Die Zuständigkeit des Erzählers für die auf der Figurenebene realisierten Metaphern bestätigen die ebd., S. 301–315, verhandelten Beispiele. Auch die Umsetzung des kaiserlichen Auftrags, die Lalen möchten ihm halb geritten vnd halb gegangen entgegen kommen (Lalebuch 1998, S. 67.27), der sich auf ein Sprichwort zurückführen lässt, ist kein Gegenbeispiel, da die metaphorische Bedeutung des Sprichworts auf der Ebene der Geschichte nicht präsent ist; vgl. Bässler 2003, S. 315–320. In der Terminologie von Ruberg 1976, S. 206, sowie Bässler 2003, S. 14f., liegt hier eine realisierte Metapher vor, die dadurch gekennzeichnet ist, »daß die Inversion sowie der Ausgangspunkt der Metapher ausgeblendet sind« (ebd., S. 16). Auch der gelehrte Kommentar des Erzählers gibt über die Imaginationspraxis seiner Figuren keinerlei
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Verschränkung der narrativen Ebenen: Die Metapher des Erzählerdiskurses wird zu einem Handlungselement der Geschichte, und damit dringt die Sprache der Erzählung in die Geschichte ein. Sprachhandeln wird zu praktizierter Sprache. Dieses Verfahren zeigt Analogien zur wörtlichen Auffassung und Umsetzung von Sprichworten, wie sie in den Eulenspiegelschwänken vorgeführt werden.104 Zwar bleibt in der zitierten Episode die Umsetzung der Metapher in Handlung im Stadium des Plans stecken und damit folgenlos, sie lässt sich aber als Vorausdeutung auf ein Verfahren werten, das die Lalen noch häufiger anwenden werden.105 Die fehlende Fähigkeit der Lalen, zwischen dem in der Metapher enthaltenen Bild und der Metapher als rhetorischer Figur, zwischen Praxis und Diskurs zu unterscheiden, verweist auf eine fortgeschrittene Narrheit, der die rationale Reflexion schon weitgehend abhanden gekommen ist. Das sowohl auf der Ebene der Geschichte als auch auf der Ebene der Erzählung begonnene Verwirrspiel mit der Narrheit der Lalen wird in der nächsten Episode noch einmal gesteigert: Die Lalen waren gleichwol noch so weitsichtig (dann jhr Weißheit algemach als ein Liecht abnemmen vnd außgehn sollen) daß sie wusten / daß man zuvor Bawholtz vnd andre sachen mehr haben muͤ ste / eh man den Baw anfangen koͤ ndte: dann die rechte Narrn wurden one Holtz / Steyn / Kalch vnd Sand / zubawen sichs vnterstanden haben.106
Wieder wird die Klugheit der Lalen betont, wieder tritt der Erzähler mit einem Kommentar aus der Geschichte hervor, um durch den Vergleich mit dem langsam verlöschenden Licht plausibel zu machen, dass sich ihre Klugheit nur ganz allmählich abnutzt. Damit greift er den Ereignissen diesmal vor, denn der Leser kann von einem endgültigen Verlust der lalischen Vernunft noch gar nichts wissen, kennt er doch lediglich den Plan der Lalen, närrisches Verhalten dauerhaft von einer Position der Klugheit aus zu simulieren. Die Vorausschau des Erzählers deutet also bereits an, dass sich dieser Plan als Denkfehler erweisen wird. Damit relativiert sich auch seine eigentliche Aussage: Denn man wird sich fragen müssen, ob die sehr basale Erkenntnis, dass man zum Bauen Bauholz benötigt, noch geeignet sein kann, die alte Klugheit der Lalen zu belegen. Der umgehend nachgelieferte Kommentar zeigt die Brüchigkeit dieser Behauptung auf. Er unternimmt zwar den Versuch, mit dem Verweis auf das Handeln rechter Narrn eine
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Aufschluss, sondern macht nur deutlich, dass er selbst diejenige Instanz ist, die über die Metaphern verfügt. Hierzu Bässler 2003, S. 228–269. Vgl. auch die Ausführungen zum umgekehrten Verfahren in Sprichwortbildern (ebd., S. 58–165). Vgl. etwa Lalebuch 1998, Kap. 36, S. 122.7–124.19: Die Lalen interpretieren einen zum Wasser geneigten Baum als durstig und wollen ihn tränken; Kap. 41, S. 129.8– 131.14: Die Lalen sehen einen Krebs und halten ihn wegen seiner Scheren für einen Schneider. Ebd., S. 35.19–24.
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Differenz zum Zustand der Lalen zu markieren. Aber diese haben sich mit ihrer Suche nach dem Bauholz-Pfeifer längst selbst zu Narren gemacht. Mag der Plan, Bauholz zu beschaffen, dennoch eine basale praktische Vernunft suggerieren, so gerät doch seine Umsetzung vollends zur Farce: Die Lalen schlagen Holz und tragen dieses, weil es sich mit einer Armbrust nicht schießen lässt, über einen Berg hinweg hinunter nach Laleburg.107 Der letzte Baumstamm entgleitet ihnen beim Hinuntertragen auf halbem Weg und rollt zu Tal: Solchem Verstand dieses groben Holtzes sahen die Lalen biß zum ende zu / vnd verwunderten sich hoͤ chstlich daruͤ ber.108 Der Erzähler schreibt das Gesetz der Erdanziehungskraft, das sich am rollenden Baumstamm dokumentiert, dem Stamm selbst als Verstand zu und spricht ihn den Lalen zugleich ab. Die überraschten Lalen selbst teilen seine Einschätzung: Nun sind wir alle (sprach ein Lale) ja grosse Narrn vnd doppelte Zwelffesel / daß wir so grosse muͤ he vnnd arbeit gehabt / ehe wir die Baͤ ume den Berg hinab gebracht: vnd ist vnser keiner so witzig gewesen / daß er gedacht hette / dise Baͤ ume koͤ nten selberst besser hinab gehn / dann wir sie hinab schleiffen / ketschen vnnd tragen. Aber mit vnserm selbst eygnen schaden muͤ ssen wir Narren klug werden.109
Die punktuelle Reflexion ihres eigenen Handelns zeigt, dass die Lalen noch in der Lage sind, sich von ihrer übernommenen Narrenrolle zu distanzieren. Gleichwohl ist diese Reflexion nur im Nachhinein und durch Anstoß von außen, aber bereits nicht mehr im Vollzug der Handlung möglich. Festzuhalten bleibt also: Ohne es zu beabsichtigen, haben sich die Lalen wie Narren verhalten. Statt nun dieses Verhalten zur simulatio stultitiae zu erklären und damit den beunruhigenden Befund habitueller Narrheit zu kaschieren, bezeichnen sie sich selbst als Narren, die von ihrer Narrheit nicht anders als durch Schaden zu heilen seien.110 Das zitierte Sprichwort – ›Durch Schaden wird man klug‹ – ist insofern ein auf ihre Situation richtig angewendeter Kommentar, denn der Schaden hat den Lalen punktuell die Augen geöffnet. Aber dabei lassen es die Lalen nicht bewenden. Obgleich der entstandene Schaden durch den Zugewinn an Erkenntnis bereits ideell kompensiert worden ist, beschließen sie, ihn noch einmal zu kompensieren: Die Stämme sollen wieder hinaufgetragen werden, um sie dann nacheinander den Berg wieder hinunterzurollen. Damit strafen sie nicht nur die punktuell gewonnene Selbsterkenntnis, sondern auch das Sprichwort Lügen. Die gewonnene Klugheit wird in neue Narrheit umgemünzt, die nun als gelungene Simulation ausgegeben wird: 107
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Verwirrung stiftet einmal mehr der Kommentar des Erzählers, der in der harten körperlichen Arbeit eine gerechte Strafe für Willignarrn, also für simuliertes Narrentum, sieht (ebd., S. 36.13ff.). Ebd., S. 37.22ff. Ebd., S. 37.25–31. Das greift die Vorstellung der Strafe wieder auf, die der Erzähler schon zuvor artikuliert (ebd. S. 36.13ff.).
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Solcher rhat gefiel jhnen allen vber die massen sehr wol / machten alle Esels Ohren / vnd schaͤ met sich je einer fuͤ r dem andern / daß er nicht so witzig gewesen. Doch freweten sie sich gemeinlich alle / daß sie jhrer angelegten Thorheit vnd angenommener Narrey / eine anfengliche Proben solten thun.111
Mit der markierten Narrengestik und der Selbstreflexion voraussetzenden Scham scheint es wiederum Signale für eine Distanz der Lalen zu ihrer angenommenen Narrenrolle zu geben. Aber die Signale trügen bereits: Im Gefühl der Scham manifestiert sich grundsätzlich das Bewusstsein einer Differenz zwischen der Norm des Kollektivs und der Abweichung des Individuums. Hier aber sind es die Mitglieder des lalischen Kollektivs, die sich voreinander – wohlgemerkt nicht einmal vor dem Vorschlagenden – schämen, keinen so verständigen (witzig[en]) Vorschlag gemacht zu haben. Wenn aber alle gleichermaßen unverständig sind, gibt es keine Instanz mehr, gegenüber der sich die Abweichung dokumentieren lässt. Die Scham der Lalen voreinander ist somit nicht länger Zeugnis rationaler Selbstreflexion, sondern vielmehr Indiz für die irrationale Diffusion aller Maßstäbe. Das mit der Ohrengeste noch einmal sichtbar gemachte Spiel der Lalen verliert seinen Spielcharakter, weil es nur noch Mitspieler gibt, aber kein Publikum, das diesen zuschaut.112 Die Distanz zur übernommenen Rolle lässt sich nicht länger aufrechterhalten und damit schwindet auch die rationale Fähigkeit der Figuren, zwischen Klugheit und Narrheit zu differenzieren. Vernunft markiert nicht länger die Position, von der aus Narrheit entworfen wird, sondern sie wird zu einer technischen Funktion im Kosmos der Narrheit, die die fortschreitende Narrheit der Lalen nicht mehr aufhalten, sondern lediglich ins Irrwitzige steigern kann. In den folgenden Episoden zum Rathausbau, zum Salzanbau und zum Besuch des Kaisers setzt sich dieses Vexierspiel fort. Auf der Ebene der Figuren treten neben unreflektierte, habituelle Narrheiten punktuelle Reflexionen, die nicht länger auf die Fähigkeit zum Spiel verweisen, sondern die Steigerung des Närrischen anzeigen.113 Die Bewertung des Erzählten wird weiterhin dadurch erschwert, dass der Erzähler willkürlich in seine Geschichte hinein- und wieder aus ihr herausspringt und dadurch die narrativen Ebenen kurzschließt. Sich und sein Publikum macht er fallweise zu Teilhabern, fallweise zu Beobachtern des lalischen Narrentums.114 In den ersten Episoden der Narration verliert die Leitopposition, wie sie das Vex111 112
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Ebd., S. 38.9–13. Das ändert sich erst mit dem Besuch des Kaisers, der freilich kein Spiel mehr sieht, sondern lediglich die neue lalische Realität. Vgl. Lalebuch 1998, bes. S. 46.9ff., S. 51.26–52.27; S. 54.7ff. Außer ebd., S. 33.8–11 (vgl. oben S. 241 und Anm. 97), meldet sich der homodiegetische Erzähler S. 56.1–4, S. 65.15–24 und S. 119.17–20 zu Wort. Formulierungen wie mein Herr der Schultheiß (S. 79.22) übernehmen innerhalb der heterodiegetischen Erzählung ebenfalls die Funktion, die Distanz zwischen Erzähler und Figuren zu reduzieren (anders Bässler 2003, S. 297, der hierin ein ironisches Distanzsignal sieht).
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ordium zwischen Weisheit und Narrheit postuliert hatte, somit an Differenzierungskraft. Die Begriffe der Klugheit, der simulierten und der echten, bleibenden Narrheit werden auf Seiten der erzählten Geschichte zunehmend aufgelöst. Entsprechend vielfältig sind die Konzeptionen dessen, was mit dem Begriff der Narrheit belegt werden kann: Die Fähigkeit, die Differenz zwischen Figur und Maske explizit zu reflektieren, steht neben einer Narrheit, deren Mechanismen nur punktuell und von außen durchschaubar bleiben. Daneben gibt es sowohl pathologische Narrheit115 als auch jene irreversible Dummheit, der die Lalen durch consuetudo zunehmend verfallen und für deren Vertreter im Text die Bezeichnung bawr verwendet wird.116 Auch die Verhaltensweisen, durch die sich Narrheit auszeichnet, sind denkbar vielfältig: mangelnde Fähigkeit zur Selbstreflexion, Selbstüberschätzung,117 die Dominanz eines Denkens in Analogien, das die Ignoranz von Erfahrungswissen bedingt und zugleich die Verabsolutierung des praktischen Experiments ermöglicht.118 Zum einen also löst die Narration den Begriff des Narren zusehends auf. Zum anderen verunsichert sie in der Interaktion zwischen den Ebenen der Geschichte und der Erzählung die Urteilskraft des Rezipienten.119 Damit stellt sich die Frage, zu was für einem Ende eine solche Narrenerzählung sinnvollerweise noch kommen kann.
5. Das zweifache Ende der Geschichte: Erzählordnung, Werte und Wissen im Lalebuch Die Geschichte der Lalen findet ein doppeltes Ende, in dem die anfängliche Spaltung des Guten und des Vernünftigen gespiegelt ist. Zunächst führt die Narration die Umsetzung des im Vexordium getroffenen Narrheitsbeschlusses vor, der das Ziel hatte, die gute Ordnung der kleinen Haushaltung und
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Direkte und indirekte Leseranreden finden sich S. 31.17ff., S. 65.20–24, S. 66.13–17, S. 68.26–30, S. 69.9f., S. 77.18f., S. 101.10f., S. 110.1–5, S. 139.3–7. So lautet z. B. die Mutmaßung im Fall des gedankenversunkenen Schultheißen in der Badestube (vgl. ebd., Kap. 18, bes. S. 75.21–28; weitere Beispiele bei Schmitz 1999, S. 86–90). Zum Bauern als Narren vgl. Puchta-Mähl 1986, S. 182–192. Die zunehmende Narrheit der Lalen lässt sich mit der zunehmenden Häufigkeit des Wortes bawr korrelieren (als Bezeichnung des Erzählers für die Lalen erstmalig verwendet in Kap. 16, S. 62.31); vgl. hierzu Ertz 1965, S. 158–163. Wenig differenziert sind die Überlegungen zur Narrenrolle im Lalebuch bei Behr 1999, S. 70–78. Das Moment der sozialen Standesanmaßung der vormals weisen Bauern steht im Mittelpunkt der Interpretation von Ertz 1965, bes. S. 11–59, 114–117, 158–165 und 188ff. Zum spezifischen Verhältnis zwischen lalischem Denken und Handeln vgl. Jung 1985, S. 200f.; Arntzen 1989, S. 196; Könneker 1991, S. 210–216; Kuper 1993, S. 114f.; Becker 2000, S. 103–108; Bachorski 2006, S. 305–317, bes. S. 307ff. Die Gefahr, dass auch das Publikum närrisch werden könnte, ist bereits in der Spielankündigung, die der Narration vorausgeht, warnend angedeutet: Wer sich nit schicket recht zun sachen / | Den woͤ lln wir auch zum Lale machen (Lalebuch 1998, S. 32.9f.).
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respektive die des Gemeinwesens Laleburg zu restituieren und politische Unabhängigkeit zu gewinnen.120 Die Episoden, die zwischen dem Beschluss und dem Besuch des Kaisers liegen, zeigen ebendies. Die Handlungen der Lalen zielen auf die Restitution einer guten, sinnvollen und Unabhängigkeit ermöglichenden Ordnung. So agieren sie konsequent als Kollektiv mit einem gemeinsamen politischen und ökonomischen Interesse; sie erheben den ›gemeinen Nutz‹ zur handlungsleitenden Maxime; sie halten so oft als möglich Rat und bauen ein Rathaus;121 sie wählen einen Schultheißen; sie vergemeinschaften sich rituell beim Mahl und im Wirtshaus; sie versuchen Salz anzubauen, um die ökonomische Autonomie Laleburgs zu stärken.122 Zugleich dokumentieren sie gemäß ihrem Beschluss – und späterhin unfreiwillig – närrisches Verhalten. Das lalische Handeln verfolgt somit das Paradox, auf unvernünftige Weise das Gute zu erreichen.123 Und es ist damit erfolgreich, manifestieren sich die Bemühungen der Lalen doch in der Ausfertigung des kaiserlichen Privilegs. Der Beschluss der Lalen, vmb besserung jhres Nutzes willen / ein newes Leben fuͤ rohin anzufangen, wird anerkannt,124 und es wird verbrieft, dass bei Strafe niemand ihre Lebensweise stören noch über diese lachen dürfe. Das axiologische Ungleichgewicht, das aus dem Dilemma der lalischen Weisheit resultiert, wird durch das Privileg ausgeglichen, die Narration von den Lalen kann somit ein gutes Ende finden. Das Problem ist nur: Damit ist die History der Laleburger noch nicht zu Ende, denn es sind noch nicht alle Historien vnd Geschichten der Lalen präsentiert. Um aber die Fortsetzung der History in Gang zu bringen, würde wiederum ein axiologisches Ungleichgewicht benötigt. Nun ließe sich argumentieren, dass dieses im Preis besteht, den die Lalen für die gute Ordnung zahlen: ihre Vernunft. Sie büßen sie ein, weil sie nicht beachtet haben, dass eine simulatio stultitiae nicht verstetigt werden kann, sondern jenem anthropologischen Prinzip unterliegt, wonach oft geübtes Verhalten zur zweiten Natur wird.125 Sofern der Rückgewinnung der guten Ordnung und dem Gewinn der Unabhängigkeit ein Verlust der Vernunft immanent ist, entsteht ein neuer Mangelzustand, den die Dynamik der weiteren Ge120
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Im Bemühen der ›weisen‹ Lalen, ein glückliches Leben zu führen, sieht auch Velten den Ausgang der Handlung, den er aus humanistischen Diskursen ableitet. Das Dilemma, die Dynamik der Handlung zu begründen, löst er mit einem wenig überzeugenden Hinweis auf das Wirken Fortunas (Velten 2004, S. 738–742). Zu den Funktionen der »närrischen deliberatio« vgl. Dröse 2004, S. 695–700, das Zitat S. 695. Vgl. Bausinger 1961, S. 26. Das ist vereinzelt von der Forschung beobachtet, aber nicht der Axiologie der Geschichte zugerechnet worden; vgl. etwa Könneker 1991, S. 212, die den Sinn für das kollektive Gemeinwohl ausgerechnet der ›Vernunft‹ der Lalen zuschreibt. Lalebuch 1998, S. 105.8f. Dass diese Annahme auch für simuliertes Narrentum gilt, zeigt Schmitz 1983.
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schichte auszugleichen bemüht sein könnte. Doch so kann die Geschichte der Lalen nicht verlaufen, denn es gibt keine Akteure mehr, deren Begehren sich auf Vernunft als Wert der Geschichte richten könnte. Im Gegenteil: Mit dem vollständigen Verlust der Vernunft geht den Lalen eben jene Instanz verloren, die eine Reflexion über die zu begehrenden Werte ermöglichte. Während sie sich als simulierende Narren in einem dialektischen Verhältnis zur Vernunft bewegt hatten, sind sie als habituelle Narren kategorisch von ihr ausgeschlossen. Daraus ergibt sich die von Foucault beobachtete Figur: Der Ausschluss der Narrheit aus dem Bereich der Vernunft unterstellt sie gänzlich ihrer Verfügungsmacht.126 Übertragen auf die narrative Konstruktion des Lalebuchs heißt dies, dass die Axiologie aus der Ebene der Geschichte ausgeklammert und auf die Ebene der Erzählung verschoben wird. Zum einen wird damit ausgerechnet der unzuverlässige Erzähler zum Garanten der Werte. Zum anderen aber – und darauf kommt es hier an – führt die fehlende Axiologie dazu, dass sich keine Geschichte mehr konstituieren kann, die noch erzählbar wäre.127 Insofern sind zwar die Geschichten der Lalen noch nicht an ein Ende gekommen, aber sie haben die Voraussetzung verloren, zur Geschichte zu werden, die sich als History erzählen ließe.128 Das Narrativ129 macht nun der Gattung des Spiels erneut und diesmal endgültig Platz: Das, was noch über die Lalen zu sagen ist, lässt sich in je separierten Demonstrationen lalischer Dummheit als Episoden- oder Schwankreihe fortsetzen. Dass diese im Untergang Laleburgs ein böses Ende findet, ist allein den moralischen Wertungen des Erzählers zuzuschreiben, denen zufolge vernunftloses Handeln in den Abgrund führt.130 Das pragmatische Ende der Erzählung ist aber damit gerade kein Ende einer Geschichte, weil eine solche gar nicht mehr
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Foucault 1973, S. 68–98. Vgl. die Beobachtung bei Bässler 2003, S. 315: »Mit dem endgültigen Verlust der Weisheit geht der Verlust der narrativen Kohärenz einher.« Das Fehlen einer die Geschichte der Lalen tragenden axiologischen Basis spiegelt sich darin, dass in den Kapiteln 31 bis 43 zusehends das Kollektiv aus dem Blick gerät. Die Geschichte der Lalen spaltet sich auf in kontingente Geschichten einzelner Lalen, die vorwiegend den eigenen Nutzen vor Augen haben; vgl. Bachorski 2006, S. 292–295. Das Problem, eine zur Irrationalität entfesselte Rationalität narrativ zu bändigen und zu einem Ende zu bringen, zeigt sich auch im Ring Heinrich Wittenwilers. Möglicherweise ist es ein Spezifikum spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur; vgl. Bleumer/Emmelius 2008. Die Bezeichnung wird in Analogie zum englischen narrative für ›erzählte Geschichte‹ verwendet und stellt den Versuch dar, eine Alternative zu den narratologisch besetzten Begriffen ›Erzählung‹ oder ›Geschichte‹ zu gewinnen, bei der nicht primär die Frage nach den narrativen Ebenen im Vordergrund steht, sondern die besondere strukturelle Qualität narrativer Texte. In diesem Sinne wird die Bezeichnung etwa bei Müller-Funk 2002 verwendet. Vgl. u. a. Lalebuch 1998, S. 138.21–27. Zur Moral des Erzählers Bachorski 2006, S. 305–317.
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existiert.131 Der Erzählerdiskurs reagiert auf dieses Paradox. Er lässt das begonnene Lalespil über die Grenzen des von ihm verantworteten Textes hinaus ad infinitum fortlaufen, indem der Untergang Laleburgs die Lalen sich in alle Welt verstreuen lässt und für das Fortleben des Narrentums bis in die unmittelbare Gegenwart sorgt.132 Wie lässt sich sinnstiftend von Narren erzählen, denen die Vernunft abhanden kommt? So lautete die Ausgangsfrage. Das Lalebuch versucht hierauf eine Antwort zu geben, die in ein generisches Experiment einmündet. Es führt die Verschränkung von chronikalischer Ordnung (History), axiologisch basierter Erzählung (Narration) und einer Episodenreihe vor, für deren inkohärenten, dezidiert nicht-narrativen Charakter die Erzählinstanz den Begriff des Lalespils vorsieht. In der generischen Struktur des Lalebuchs spiegelt sich zugleich das Problem der für den Text zentralen Werte: Das Vexordium führt mit der Weisheit der Lalen einen axiologisch konnotierten Begriff ein, verkürzt ihn aber im Diskurs der Figuren umgehend zu einer technischen Handlungsnorm. Die Narration reagiert auf das axiologische Desiderat der Ausgangssituation, verwandelt dabei jedoch den dialektisch auf Vernunft angewiesenen Narrheitsbegriff in eine jenseits der Vernunft angesiedelte Dummheit, die keine Wertkategorien zu generieren mehr imstande ist. Entsprechend verläuft sich die Geschichte der Lalen in der Darstellung unendlicher Demonstrationen eines beliebigen Narrentums. In den Begriffen simulatio und consuetudo verdichten sich die zeitliche und die axiologische Dimension des Textes in komplementärer Weise: Die Narrenmaske der simulatio braucht die Figur der Vernunft, aber sie kennt den zeitlichen Verlauf nicht; in der zeitlichen Erstreckung der consuetudo hingegen verliert sich die axiologische Doppelbödigkeit der Maske. Die aus der Anthropologie übertragenen Begriffe sind daher nicht nur ein diskursiver Schlüssel zum Lalebuch,133 sie führen auch auf seine formale Konstruktion.134 Damit führt die Korrelation der narrativen Ordnung und der sie basierenden Werte zurück zur Frage nach dem im Lalebuch verhandelten Wissen.
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Nicht zufällig dürfte in diesem Zusammenhang der erneute Verweis des Erzählers auf die Kanzlei der Lalen sein, die dem Brand Laleburgs zum Opfer gefallen sei: also daß von jhren Geschichten nichts ordenliches mehr verzeichnet zufinden (Lalebuch 1998, S. 137.23f.). Ebd., S. 137.26–139.7. So Schmitz 1983. Es wäre zu prüfen, ob damit für das Lalebuch gilt, was Schröder als »charakteristisch für die Texte des 16. Jahrhunderts« festhält, dass nämlich »die textuellen (narrativen) Strukturen fast ganz mit den diskursiven Strategien konvergieren, die sich in der Kritik der tradierten Diskurse entwickeln«. Schröder führt dies auf den Einbruch des »Faktors Zeit« in die Künste und Wissenschaften zurück (Schröder 1991, S. 508–511, die Zitate S. 509).
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Dazu lässt sich abschließend folgende Beobachtung anfügen: Die Frage, ob sich Weise ihren Fürsten für Politikberatung zur Verfügung stellen sollten, verbindet das Lalebuch – darauf ist mehrfach hingewiesen worden – mit dem ersten Teil von Morus’ Utopia.135 Beide Texte kommen zu einer negativen Antwort, das hierfür verantwortliche Wissen könnte aber unterschiedlicher nicht sein. In der Utopia geht es um das Verhältnis von Philosoph und Hof und darum, ob eine ganz auf Zweckrationalitäten ausgerichtete Herrschaft an den unbequemen Wahrheiten des Philosophen überhaupt interessiert sein kann.136 Dieses Problem kommt im Lalebuch gar nicht in den Blick. Das Eintreten der Figuren für die intakte kleine Haushaltung idealisiert ein um 1600 längst anachronistisches Ordomodell, dem mit seiner Skepsis gegenüber funktionsdifferenzierter Arbeitsteilung auch in den mittelalterlichen Jahrhunderten kaum eine realpolitische Relevanz zuzuschreiben ist. Daher sind die Aussagen der beiden Texte kaum demselben Diskurs über den gesellschaftlichen Nutzen von politischen Ratgebern zuzurechnen.137 Gleichwohl laborieren sie mit Blick auf die Figur des weisen Beraters an einem durchaus vergleichbaren Problem, das vielleicht sogar etwas wie eine epistemische Struktur aufscheinen lässt: an der Frage nämlich, ob das Gute und das Vernünftige zu vereinbaren sind. Während jedoch die Utopia mit dem Gelehrtengespräch des ersten und der systemischen Beschreibung des zweiten Teils zu einer textuellen Gestalt findet, die der Rationalität der in ihr verhandelten Diskurse einseitig zuarbeitet, findet das Lalebuch im Medium der Volkssprache zu einer Form, die sich die Frage nach dem Sinn der Diskurse zu eigen macht.
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Vgl. Berns 1995; Bachorski 1995; Velten 2004, S. 713–723. Morus 2003, Buch I, S. 15–57, bes. S. 20–23. Anders Velten 2004, S. 722f., der die Aussagen im Lalebuch als direkte intertextuelle Referenzen auf die Utopia wertet.
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Caroline Emmelius
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Caroline Emmelius
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Klaus Grubmüller
Das Böse ohne Balance? Boccaccio-Rezeption in den Schwankbüchern
»Wie soll die Präsentation eines anscheinend eindimensionalen, weitgehend traditionalen Normengefüges, das in der Erzählung mutmaßlich lediglich affirmativ entfaltet oder – allenfalls – negiert wird, zur Beschreibung frühneuzeitlicher Pluralisierungsprozesse dienen?« Ihre Hoffnung, eine solche Bescheibung könne dennoch für frühneuzeitliches Schwankerzählen triftig sein, setzen die Veranstalter der Tagung, die diese Passage ihrem Einladungsexposé vorausgestellt haben, auf »Strukturmuster der Peripetie, der überraschenden rhetorischen und semantischen Wendung oder des Umschlagens von Wertungen, welche bei näherer Betrachtung die exponierten Spannungen und Konflikte oft nicht nur nicht vollständig abbauen, sondern irritierende Uneindeutigkeiten und Unabgestimmtheiten mitunter erst hervortreiben.«1 Für meine »nähere Betrachtung« habe ich solche Geschichten gewählt, die aus einem Meisterwerk der Pluralisierung, Boccaccios Decameron, in die Schwankbücher übernommen wurden, in der Regel in der Übersetzung Arigos.2 Das ist ganz sicher ein anspruchsvoller Bezugspunkt, vielleicht ein zu anspruchsvoller, denn es gibt ja auch in der italienischen und französischen Literatur über lange Zeit keine adäquate Boccaccio-Rezeption,3 aber eine anspruchsvolle These – die von der Pluralisierung ist eine solche – verdient auch angemessene Prüfsteine. Ein Zweites noch vorweg: Nach einem Unterlaufen der Strukturmuster schwankhaften Erzählens im Sinne einer Umgestaltung der DecameronPlots sucht man in meinen Geschichten vergebens. Sehr wohl finden sich neue Akzente aber in den Wertungen und im Setting. Darauf richten sich meine Beobachtungen.
1
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3
Aus dem Exposé der vom Teilprojekt B 6 des SFB 573 veranstalteten Tagung »Pointierungen – Wissenspluralisierungen und Schwankerzählen in der Frühen Neuzeit« (München, 27. und 28.10.2005; vgl. die Einleitung zu diesem Band, S. 1–19). Die einzige greifbare Ausgabe schreibt die Übersetzung ohne zureichende Begründung Heinrich Steinhöwel zu. Die Arigo-Zitate müssen deshalb aus dieser Pseudo-Steinhöwel-Ausgabe nachgewiesen werden, zitiert als Arigo 1860. Vgl. dazu Grubmüller 2006, S. 291–333.
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Klaus Grubmüller
1. Montanus: Dekontextualisierung und die scheinbare Freigabe des Sinnes in der Gartengesellschaft Im dritten Buch des Decameron erzählt Filostrato die Geschichte von Masetto da Lamporecchio, der sich stumm stellt, um Gärtner in einem Nonnenkloster zu werden, dessen Insassinnen dann um die Wette mit ihm schlafen. Arigo kündigt das in seiner Übersetzung des italienischen Argumentums so an: Wie Masetto von Lampolechio sich zu einem stummen machet vnd in einem nunnenkloster zu einem gartner warde[.] Dieselben nunnen mit sampt der ebtissin er beschlieffe alle mit im die süssikeit der welte versuchten.4
Filostrato erzählt seine Geschichte auf Verlangen der Königin des dritten Tages, Neifiles, die als Thema festgesetzt hatte, von denen zu sprechen, die »durch Scharfsinn etwas Heißersehntes erlangten oder Verlorenes wiedergewannen« (di chi alcuna cosa molto disiderata con industria acquistasse o la perduta recuperasse).5 Begründet hatte sie das mit der anzustrebenden Erzählökonomie: Nach der großen Freiheit, die das Thema des zweiten Tages gewährt habe, möge man sich diesmal enger beschränken. Die Geschichte, die Filostrato zu erzählen hat, ist also vielfach gebunden: an das von der Königin festgelegte Thema und den vorgegebenen guten Ausgang, an die unmittelbar zuvor evozierte Atmosphäre von bukolischem Luxus und heiterer Gelöstheit in einer Umgebung von paradiesischer Unschuld, in der nichts Böses zu erwarten ist oder jedenfalls das Schlechte, das sich in Masettos Betrug ja doch Ausdruck verschafft, atmosphärisch domestiziert ist; an den furchtbaren Hintergrund der Pest, in dem das Böse sich als Katastrophe von kosmischen Ausmaßen verdichtet und so zugleich aus der Welt der Binnenerzählung nach außen verlagert wird; schließlich ist sie auch gebunden an das sich allmählich herausbildende Profil dessen, der sie erzählt: Die Frivolitäten der Geschichte sind die des Filostrato und sie charakterisieren zuvörderst ihn, nicht die brigata, nicht den Berichterstatter, nicht Boccaccio. Wer die Decameron-Novelle III 1 – altmodisch genug – ›verstehen‹ will, braucht also sehr viel mehr als ihren Wortlaut: Er muss sie einbetten in das Spiel der Erzählinstanzen und Erzählfunktionen, die das Decameron ausmachen, in einen Kontext also, der nicht vorgegeben ist, sondern den der Autor mit Bedacht und Raffinesse selbst geschaffen hat. Er hat eine Erzählwelt geschaffen, die vorzeigt, wie Menschen ein Gegenmodell gegen die bösartige Wirklichkeit leben könnten, für einen Moment und als Utopie. Die bedrohliche Wirklichkeit, die tödliche Pest, ist aber die Wirklichkeit der Schöpfung, die Wirklichkeit Gottes. Die Anstößigkeit des Decameron 4 5
Arigo 1860, S. 165.4–7. Boccaccio 1979, S. 201, bzw. ders. 1998, S. 219.9.
Das Böse ohne Balance?
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liegt darin, dass dem unabänderlich gegebenen Kontext der göttlichen Schöpfung der erfundene Kontext einer Erzählung programmatisch entgegengestellt wird: Ein literarisches Konstrukt will die Prüfungen Gottes bändigen.6 Im 96. Kapitel seiner Gartengesellschaft erzählt Montanus (ausgehend von Arigos Übersetzung) die gleiche Geschichte: Wie ein junger baurenknecht, Lawel genant, sich zuͦ einem stummen macht und in einem closter ein gartner ward, die nunnen sampt der eptissen beschlieff, auch etlich darunder schwanger macht.7 Die Geschichten in der Gartengesellschaft folgen – jedenfalls nach dem bisherigen Kenntnisstand – ohne interpretierbare Ordnung aufeinander, deuten sich nicht gegenseitig, sind nicht als die Sicht eines identifizierbaren Erzählers ausgewiesen und sie verzichten sogar auf die Deutungsanweisungen, die – wie perspektivisch gebunden auch immer – Boccaccios Erzähler Filostrato überdeutlich gibt. So fehlt bei Montanus der Abschnitt, mit dem Filostrato seine Geschichte als Beleg dafür vorstellt, dass die menschliche Natur sich nicht unterdrücken lasse: Weder werde eine Frau durch die Einkleidung als Nonne zu Stein, noch kämen etwa die Bauern durch harte Arbeit von ihren fleischlichen Lüsten (concupiscibili appetiti)8 frei. Ebenso lässt sich Montanus die Möglichkeit entgehen, die frivole Schlussbemerkung des Filostrato aufzunehmen, mit der dann doch alles wieder in das Zwielicht eines dubiosen Spaßes gerückt wird. Denn dass Masetto, am Ende seines erfolgreichen Klosterlebens als vielfacher Vater kleiner Mönche und Nonnen nach Hause zurückgekehrt, ein alter reicher vater seiner kinde, im on alle müe erczogen (wie es Arigo zusammenfasst),9 bei Boccaccio nur Spott für den lieben Gott übrig hat, richtet ja eigentlich die Weltordnung wieder ein: Der Freibeuter entlarvt sich als Gotteslästerer. [C]osì trattava Cristo chi gli poneva le corna sopra ’l cappello: Das ist bei Boccaccio10 und Arigo (got allen den sölchen lon gebe die im also dienen vnd die hörner auf seczen)11 das letzte Wort dieser Novelle; bei Montanus fällt dagegen kein Schatten auf den Helden, der sein muͤ he und arbeit wol angelegt hette, und mit einer axst über die achseln, als er in das closter kummen was, widerumb heim zohe.12 Montanus gibt eine von wem auch immer erzählte vergnügliche Geschichte wieder, ohne dass er sich darum zu kümmern scheint, wie sie ver-
6 7 8 9 10 11 12
Ausführlicher zu diesen Zusammenhängen Grubmüller 2006, S. 249–289. Montanus 1899, S. 381.1–387.12, hier S. 381.1–4. Boccaccio 1998, S. 227.4. Arigo 1860, S. 171.7f. Boccaccio 1998, S. 234.43. Arigo 1860, S. 171.10f. Montanus 1899, S. 387.10ff.
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Klaus Grubmüller
standen werden soll. Es liegt nahe, dies als die konsequente Umsetzung des Programms zu verstehen, das er in seiner Vorrede benennt: All die, so kurtzweil woͤ llen haben, Es seyen frawen oder knaben, Inn gaͤ rtten oder auff dem veldt Oder auch inn krieges gezelt, Die kauffen diss buͤ chlin, welches schon Und lustig ist, gantz wolgethon. Es sagt von abenthürlichen sachen, Das gewisslich einer muͦ s lachen; Wann schon einer wer halb dodt Oder sunst steckt inn grosser not, Das er nicht koͤ nte froͤ lich sein, Und einer less dis buͤ chlin mein, So vergisst er als bald den unmuͦ t Und würt erfült mit freuden guͦ t.13
Die »Autorität des Nichtigen«14 wäre also begründet in dessen therapeutischer Funktion: im Vertreiben von Unmut und Langeweile, in der Beförderung eines heiteren Gemüts, und – scheinbar unabhängig von bestimmten Inhalten – in der Prophylaxe gegen allerlei Laster: Wer liest, sündigt nicht (meint Montanus). Lesen ist als Beschäftigungstherapie den üblen Gewohnheiten – Spielen, Fressen, Saufen und Hurerei – entgegengestellt: Vil besser ist, man lese mich, Dann das man inn bossheit uͤ be sich, Die man zuͦ vil nuͦ r treiben thuͦ t Inn buͤ berey unnd argem muͦ t.15
Mit der Geschichte vom Bauernknecht Lawel, der sich zuͦ einem stummen macht, und genauso in derjenigen von Andreuccio aus Perugia (Decameron II 5),16 der nach Neapel zum Pferdehandel zieht, dort von einer Kalamität in die andere stolpert, am Ende sein Geld verloren, aber den viel kostbareren Ring des toten Bischofs erhalten hat, erfüllt Montanus dieses Programm des heiteren, um Wertungen und Verhaltensdispositionen wenig bekümmerten, auf die Performanz reduzierten Erzählens scheinbar mühelos. Die Frivolitäten der Geschichte bleiben allesamt unkommentiert. Wer amüsiert sein will, darf es sein; wer sich entrüsten möchte, kann das auch. Die Sinnkonstitution, das heißt hier: die Einbindung des Leseerlebnisses in das Weltverständnis, ist nicht mehr wie bei Boccaccio in einem textinternen Diskussionsprozess vorstrukturiert, sie ist an den Leser delegiert und so – scheinbar – völlig freigegeben. 13 14 15 16
Ebd., S. 255.1–14. So die Titelformulierung des Teilprojekts B 6 im Münchener SFB 573. Montanus 1899, S. 256.19–22. Ebd., Kap. 93, S. 359.28–367.9.
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Ihre Grenzen findet diese Freigabe freilich schon im Programm selbst. Denn da man in diesem Büchlein ja doch auch gottes ermant werden soll [u]nd auch gestrafft umb grosse schand,17 so muss es, auch in seinen Deutungsmöglichkeiten, in den Grenzen des Schicklichen bleiben, sich also vor Provokationen hüten. In der Geschichte von Masetto alias Lawel ist dieses Bemühen um Konformität gerade noch in der Eliminierung der gotteslästerlichen Schlussbemerkung des Masetto zu erkennen (so – nämlich durch Gewährung von Glück – verfahre Gott mit denen, die ihm Hörner aufsetzten). Ähnlich minimal ist die Tendenz zur Blasphemie in Montanus’ Version der Geschichte vom ›Mönch als Liebesboten‹ (nach Decameron III 3)18 entschärft. Die raffinierte Machination der frustrierten Ehefrau, die Schritt für Schritt – nämlich Beichte für Beichte – ihren nichts ahnenden Beichtvater dazu benützt, einem jungen gesellen ihre Liebe zu gestehen und dann den Weg in ihre Kammer zu beschreiben, kommt gleich beim ersten Versuch ans Ziel, und damit ist die Geschichte erledigt: Darnach den münch solcher sachen halb unbekümbert liessen; dann sie sein zuͦ solcher sachen nit mehr von noͤ ten waren.19 Mit diesem abrupten Schluss entfällt aber auch die in die Erzählsituation überleitende Schlussbemerkung der Filomena (in Arigos Formulierung): Darumb ir lieben frawen wir auch got vnd sein parmherczikeit piten süllen daz er vns verleiche das wir komen mügen dohin wir begeren sein […].20 Gottes Barmherzigkeit zur Bewerkstelligung des Ehebruchs in Anspruch nehmen zu wollen, das mag der Protestant Montanus seinen Lesern offensichtlich nicht zumuten. Was da an weltanschaulicher Biederkeit sichtbar wird, muss uns nicht interessieren; erzähltechnisch bedeutet es, dass ein Anstoß beseitigt wird, dass die Entrüstung und zugleich ihre Entlarvung als Humorlosigkeit nicht mehr als stimulus für die Sinnentnahme wirksam werden. Montanus vermeidet solche übermäßigen Reize; er steuert eine emotionale Nulllage an, die die Rezeptionshaltung neutral und die Sinnbildung offen hält. Wird also der Verlust der Erzählbalance des Decameron zur Öffnung der Sinnmöglichkeiten genutzt und im Gegenzug zur Eliminierung aller Anzüglichkeiten und aller gefährlichen Abwege?
17 18 19 20
Ebd., S. 256.29f. Ebd., Kap. 99, S. 391.3–394.14. Ebd., S. 394.12ff. Arigo 1860, S. 184.20f.
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2. Montanus: Dekontextualisierung und die scheinbare Deutungswillkür im Wegkürzer Auffällig anders verhält Montanus sich im drei Jahre vor der Gartengesellschaft erschienenen Wegkürzer (1557). Die Geschichten im Wegkürzer enthalten gerade diejenigen Sinndeutungen und Rezeptionsanweisungen, die in der Gartengesellschaft vermieden sind. Vielleicht hängt das zusammen mit der anderen Rezeptionssituation, die Montanus – jedenfalls explizit – vorsieht. Die Gartengesellschaft will er ausdrücklich für Leser bestimmt haben,21 den Wegkürzer hingegen zum Wiedererzählen. Erzählen ist Ausweis geselliger Kultiviertheit und schützt überdies – in alter Tradition22 – vor Melancholie, wie Montanus in der Widmungsvorrede ausführt: dieweyl aber auch mancher ist, der sich des studierens gar zuͦ vil übernimpt, also das er darvon etwan inn kranckheyt falt und sich toll studieret (inn ansehung das er nichts hat, damit er die weyl kürtzet, unnd ob schon einer mit guͦ ten gesellen spatzieren geht und nichts kurtzweiligs weißt herfür ziehen, ist ime die weyl lang, unnd nicht anders dann wie ein junges kindlein daher zeücht) […].23
Der so entworfene persönliche Erzähler untersteht gewissermaßen öffentlicher Kontrolle; er kann von seinen Partnern gefragt werden nach dem Sinn des Erzählten; er muss deshalb vielleicht auch im Sinn unterwiesen werden. Es könnte also die Differenz zwischen der personalen Verantwortlichkeit des mündlichen Erzählers und der ›Verantwortungslosigkeit‹ des apersonalen Buches ausgespielt werden. Wie immer man das sehen mag, die Art der Sinnerläuterung würde es nicht erklären. Zwei Beispiele: Auch im Wegkürzer ist die Decameron-Geschichte vom stummen Klostergärtner Masetto aus Lamporecchio erzählt.24 Anders als in der Gartengesellschaft lässt Montanus hier die blasphemische Schlussbemerkung des Masetto stehen, wörtlich übernommen aus Arigos Decameron: Gott allen den solchen lohn geb, die ihm also dienen und die hoͤ rner auffsetzen,25 aber er macht sie durch einen abschließenden Kommentar zum Gegenstand der Kritik und integriert sie so in ein protestantisch konformes Weltbild: Es seind vil mann unnd auch frawen, die thoͤ rlich glauben, wann einer jungkfrawen oder jungen frawen ein schwartz tuͦ ch, das man ein weyl nennet, auff das haupt leget 21
22
23 24 25
Vgl. die Vorrede Ann den leser (Montanus 1899, S. 255.1–257.11) und dort auch S. 255.12 u. ö. Vgl. dazu Wachinger 2001; dort auch die ältere Literatur, bes. Anm. 4 und 34. Von den Schwankbuchautoren beruft sich auch Michael Lindener im Rastbüchlein auf die Melancholieprophylaxe, zitiert bei Wachinger 2001, S. 16. Montanus 1899, S. 4.1–8. Ebd., Kap. 29, S. 55.15–63.5. Ebd., S. 62.28f.
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und ein schoͤ pper an den halß hencket, das sie nicht mehr frawen seind noch fürbaß mehr froͤ lichs lust empfinden sollen, gleicher weiß als ob sie auß steinen zu nunnen gemacht weren unnd nicht froͤ lich sein dorfften. Es solt wol also sein, es faͤ lt aber zu zeyten leyden weyt. Dann man etwan inn den kloͤ stern hauß helt, das gott darein sehen moͤ cht, welches aber ich yetzt will bleiben lassen.26
Dieser Kommentar ist in seinem ersten Teil zwar nichts weiter als die Übernahme der Einleitungsbemerkung des Erzählers Filostrato im Decameron, aber durch seine Weiterführung nimmt Montanus sie aus der Perspektive einer erzählten Figur heraus und macht sie zur autoritativen Botschaft des Herausgebers an sein Publikum: zu einer in der Weisheit Gottes abgesicherten Verstehensanweisung. Ähnlich selbstherrlich spielt sich der Herausgeber als Deuter und Sinnvermittler in den Vordergrund der rührenden Geschichte von Lisabetta mit dem Basilikumtopf (Decameron IV 5),27 die schon Hans Sachs immer wieder bearbeitet hat (Der ermört Lorenz). Dort hatte die Heldin den halbverwesten Kopf ihres von ihren Brüdern umgebrachten Liebhabers in eben jenem Basilikumtopf versteckt und hingebungsvoll gepflegt und gegossen: […] all tag eyn stund darob weynet vnd ir leyd klaget vnnd mit iren herten zähern neczet vnnd begoß, des iren brüder warnamen vnd ir den scherben stalen des sy von leyd auch starb, wie Arigo das zusammenfasst.28 Boccaccio fängt die Sentimentalität der Story mit einer ziemlich kaltschnäuzigen Schlusspointe auf: Sie sei der Ursprung des bekannten Liedes: »Wer war der arge Bösewicht, / der meinen Blumentopf genommen« (Qual esso fu lo malo cristiano, / che mi furò la grasta).29 Montanus übernimmt diese Pointe in der von Arigo abgewandelten Form (Chi guasta laltrui cose fa villania),30 fügt dann aber noch einen merkwürdig ausführlichen Kommentar hinzu: Ein erbaͤ rmliche unnd klaͤ gliche hystori ist das. Darumb hab ich sie hieher gesetzt, das sich die jungen meydlin darinn gleich als in einem spiegel ersehen sollen und die lieb, so sie zu den jungen gesellen tragen, recht in das hertz fassen unnd nicht allein lieb haben, dieweyl er gelt im seckel hat.31
Derzeit gehe es aber ganz anders zu in der Welt, und da schon Lieder zitiert werden, fasst Montanus auch seine Diagnose in Verse: Hast du gelt, so hab ich lieb; Wo nicht, dich in winckel schmieg! Daselb du narr solt bleiben stohn, Biß ich dich wird heissen fürher gohn.32 26 27 28 29 30 31 32
Ebd., S. 62.30–63.5. Ebd., Kap. 37, S. 90.25–95.25. Arigo 1860, S. 277.17–20. Boccaccio 1979, S. 350, bzw. ders. 1998, S. 378.24. Arigo 1860, S. 281.4f. Vgl. Montanus 1899, S. 95.3: Tu guasta latrui cose fa villana. Ebd., S. 95.4–9. Ebd., S. 95.13–16.
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Und dann spitzt er sie noch weiter zu: Wo man aber ein vollen seckel weißt, da kommen meine guͦ ten toͤ chterlein, bieten sich selbs fayl wie das fleysch in der metzig. Gsell, wilt du buͦ lschafft treyben Bey junckfrawen und bey weyben, Den seckel voll gelt thuͦ fassen, Außgeben nicht underwegen lassen!33
Dass diese Zuspitzung den ›Sinn‹ der Geschichte nicht ausschöpft, ja dass sie nicht einmal einen brauchbaren Anhaltspunkt in ihr findet, bedarf wohl keiner Diskussion. Ein Beleg für die »irritierende[n] Uneindeutigkeiten und Unabgestimmtheiten«, auf deren Spur uns die Veranstalter der Tagung gesetzt haben? Ich glaube nicht. Denn das Verfahren ist bekannt. Es ist das gleiche, mit dem mittelalterliche Kurzerzählungen der verschiedensten Typen, Fabeln (z. B. bei Boner), Mären (z. B. beim Stricker), Bispel (z. B. beim Teichner) dem gewünschten Verständnis gefügig gemacht werden. Es ist ein de-konstruktives Verfahren, das – längst bevor das durch die Illusionen des Rationalismus notwendig geworden ist – demonstrativ auf den einen Sinn verzichtet und das zum Sinn macht, was der Ausleger darunter verstanden haben will. Legitimiert ist das freilich nicht durch die Vielfalt der Sinnmöglichkeiten oder die Grenzen der Vernunft, sondern durch das Selbstverständnis der Deuter, die ja immer nur Partikel des unendlichen Sinnes der Schöpfung zu erfassen vermögen. Die Kontingenz weltlicher Ereignisse, auch die Möglichkeit des Bösen, spiegelt sich so in einer Kontingenz der Deutungen, die sich freilich als scheinbar entlarvt, sobald sie bezogen ist und bezogen wird auf den unendlichen Sinnzusammenhang der göttlichen Schöpfung. Je deutlicher das – wie im Wegkürzer – expliziert wird, um so unangreifbarer die Deutung. So sehr die Deutungsverfahren in der Gartengesellschaft und im Wegkürzer sich unterscheiden, möglich sind sie beide nur durch den Bezug auf den einen unbezweifelten Verstehenshorizont: die christlich verstandene Schöpfungsordnung. Sie erst macht zum einen die Freigabe der Sinnkonstitution an den Leser in der Gartengesellschaft möglich (es genügt, die Spuren zu beseitigen, die in die Irre führen könnten); sie ist zum andern die Basis für die Detaildeutungen im Wegkürzer, denen sie den legitimierenden Hintergrund gibt.
33
Ebd., S. 95.19–25.
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3. Kirchhof: Dekontextualisierung und Konfessionssatire Zum Verständnis von Hans-Wilhelm Kirchhofs Boccaccio-Bearbeitungen reicht dieser allgemein-christliche Verständnishorizont nicht mehr aus: Er zieht den Sinnhorizont enger als Montanus, er engt die Wahrheit der Welt ein auf die Wahrheit der Konfession und gewinnt daraus die Möglichkeit zur Satire. Im ersten Buch des Wendunmuth aus dem Jahre 1563 erzählt Kirchhof eine Geschichte, die – bei allen Veränderungen – doch wohl auf die Novelle IV 2 des Decameron zurückgeht (sowohl Arigos Übersetzung wie die Bearbeitung dieser Novelle bei Montanus dürfte Kirchhof gekannt haben).34 Im Decameron ist das Böse gewissermaßen in seiner konventionellen Form integriert: Der Bösewicht nutzt den Schein und wird am Ende bestraft. Berto della Massa aus Imola lässt sich nur deshalb zum Mönch weihen, weil er den schlechten Ruf los werden will, der ihm bei seinen Gaunereien im Wege steht. Er stellt sich zum Scheine so, »als habe sich eine unsägliche Demut seiner bemächtigt«,35 und treibt als Bruder Alberto von Imola sein böses Spiel weiter: tenuto buono e male adoperando, non essendo creduto36 – für gut gehalten und böse handelnd, und keiner glaubte es. Als die Verkörperung des Bösen steht er in der Kritik, nicht als Mönch, und die Leichtgläubigkeit der Welt, insbesondere die eitle Dummheit der Madonna Lisetta, und die Neigung der Venezianer zu Schurkereien jeder Art lassen das Böse gedeihen – bis am Ende doch die Strafe steht, von der man gar nicht so recht weiß, ob sie den Rechten trifft. Dies auch deshalb, weil die Geschichte an einem Tag erzählt wird, an dem es um die gehen soll, deren Liebe ein unglückliches Ende nahm: Wer soll das hier sein? Der durchtriebene Freibeuter Alberto, der der eitlen Venezianerin einzureden versteht, der Erzengel Gabriel wünsche mit ihr zu schlafen? Die dumme Gans Lisetta, die partout bestätigt haben will, dass sie die Schönste von allen ist, und deshalb den Erzengel als ihren adäquaten Liebhaber begrüßt? Oder vielleicht doch der Erzengel selbst? Kein Wunder, dass Filostrato, der König des vierten Tages, irritiert ist von dieser Geschichte und Lauretta auffordert, jetzt eine bessere zu erzählen. Der Reiz der Geschichte im Decameron liegt (anders als das seit Neuschäfer gelten soll)37 nicht in der Öffnung der Sinnhorizonte in der Erzählung selbst, sondern in ihrer Positionierung, im Spiel der Erzählinstanzen, in ihrem Beitrag zur Balance der Instanzen und Werte im Decameron.
34 35 36 37
Kirchhof 1869, Buch I, Teil 2, Kap. 56, S. 518ff. Boccaccio 1979, S. 323. Boccaccio 1998, S. 359.58. Zur Auseinandersetzung mit Neuschäfer 1969 vgl. Grubmüller 2006, S. 258–271. Dort (Anm. 32) auch die kritischen Stimmen der Forschung.
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Dass das in der deutschen Rezeption (und weitgehend auch in der italienischen) verloren geht, ist vielfach beobachtet worden. Erhalten bleibt der Plot: Arigo gibt Boccaccios Version ohne große Veränderungen wieder. Er hebt den Beweischarakter der Novelle heraus und zielt nicht mehr allgemein auf die geistlichen Heuchler, sondern konkret auf Priester und Mönche: das ich beweisen möchte wie groß die vntugent der ipocrasia vnd dunckel guͦ t bei den münchen vnd geystlichen ist,38 statt: a dimostrare quanta e quale sia la ipocresia de’ religiosi.39 Er stellt seinen Bruder Albrecht am Ende als reuigen Sünder dar, der seine Untaten beweint (bei Boccaccio tut er das ausdrücklich ohne Erfolg: senza pro),40 aber sonst erlaubt er sich kaum Veränderungen. Montanus hatte (im Wegkürzer)41 die Eitelkeit der Lisetta noch über die älteren Fassungen hinaus betont, er hatte ihre Dummheit unterstrichen, die dem Verführer freie Bahn schafft; er deutete durch zotige Bemerkungen die sexuellen Qualitäten des Erzengels Gabriel an, er überging die Reue des Sünders und malte das böse Ende des Mönchs Albrecht (der so gehertzt was und sich zum engel machet, zu nacht die schoͤ nen fraͤ wlin troͤ stet; und aber im letstlich übel gelohnet warde)42 noch ein wenig drastischer aus, und er engte die ›Moral‹ am Ende noch weiter ein, so dass es nur noch um die schlechten Mönche geht: Gott woͤ ll, das allen solchen münchen also geschehe.43 Ganz anders Kirchhof. Bei ihm kommt der Mönch, von dessen übler Vergangenheit nicht die Rede ist und der den Mönchshabit auch nicht als Tarnung angelegt hat, in ein Nonnenkloster und wird dort des Nachts von Versuchungen gequält: In der nacht aber, da sie alle still waren, begundte die closter- und mönchskeuschheit bruder Loddenquast zuͦ kützeln und stupffen, gedachte: Niergend ist doch besser fischen, denn im wasser.44 Er gibt den Anfechtungen nicht gleich nach, sondern sucht nach einer Möglichkeit, die Gefahr der Entdeckung zu vermeiden (verstehe, kommentiert der Erzähler sarkastisch, auß trieb deß clostergeists).45 Zu diesem Zweck teilt er den Nonnen – unter lauten Rufen der Verzweiflung und der Abwehr (Erlaß michs, erlaß michs!)46 – mit, eine Stimme aus dem Himmel habe ihm aufgetragen, sich zur jüngsten der Nonnen zu legen und mit ihr (natürlich in jungkfrauwschafft)47 einen Sohn zu zeugen, aus dem einmal ein 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47
Arigo 1860, S. 257.13ff. Boccaccio 1998, S. 350.5. Ebd., S. 359.58. Montanus 1899, Kap. 30, S. 63.6–72.33. Ebd., S. 72.30ff. Ebd., S. 72.32f. Kirchhof 1869, S. 519. Ebd. Ebd. Ebd.
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heiliger Bischof werde. Die Nonnen schenken dem wirkungsvoll widerstrebenden Mönch [a]uß gethaner predig und schein seiner heiligkeit48 Glauben und überreden ihn, dem Auftrag nachzukommen. Und auch die erwählte Partnerin überwindet ihre Scham, freilich erst nach einigem Zögern. Das nun hätte sie sich nicht leisten dürfen, denn als sie schließlich statt des künftigen Bischofs eine Tochter zur Welt bringt, kann der Mönch alle Kritik zurückweisen und dem Zögern der Nonne die Schuld geben: daß seine wort nicht erfüllet, were nicht im, sondern der jungen nonnen zu verweisen, daß sie nicht dem göttlichen erfordern bald gewillfahret und gehorsam gewesen were, darumb sie an statt eines sons, und zur straff, ein tochter zur welt bracht hette.49
So zugeschnitten wird die Geschichte (oder das, was von ihr übriggeblieben ist) zum polemischen Beweisstück im Rahmen der Konfessionssatire. Sie kann durch einen Schmähvers auf Mönche, Nonnen und ähnliches Gesindel abgeschlossen und folgendermaßen eingeleitet werden: Wo man gottes wort auß den augen thuͦ t, sich selber und andere leut mit menschentandt und lehren verfüret, gereht man letstlich (wie sanct Paulus sagt) in einen verkerten sinn, daß alles, was nur der teuffel gauckelt und geiffert, wie eitel gottes befelch, gebott und willen, ja auch höcher denn dasselbig, wird geachtet. Wer köndte allhie in einer kürtzen überlauffen die sodomitische büberey, so die abgöttischen papisten getriben, inen selber, gleich daß sie, die allein heiligen, nit sündigen möchten, das Placebo gesungen, und mit dispensieren im ein teufelsnaß gedrehet haben, noch hat es alles heilig und wolgethan heissen müssen.50
Die Verworfenheit der Papisten, ihren Teufelsdienst und ihre Selbstgefälligkeit soll Kirchhofs Fassung illustrieren. Auf dieses Ziel hin hat er die Geschichte kräftig verändert und auch mit einem neuen Deutungsrahmen versehen. Denn der Hinweis auf die Gefahren, die mit dem Absehen von Gottes Wort verbunden sind, geht ja auf einen zentralen Gedanken der neuen Lehre zurück: Die Überformung oder gar der Ersatz des Evangeliums, also der Schrift, durch menschentandt und lehren, also durch die kirchliche Autorität, öffnet erst dem Wirken des Teufels Tür und Tor. Kirchhofs Christlichkeit ist dezidiert protestantisch. Das versteht sich im Zeitalter der Glaubensspaltung nicht mehr von selbst. Es muss angezeigt werden: durch theologische Stichworte, durch die unbezweifelbare, also zur Karikatur neigende Kennzeichnung des Gegners, durch explizite Darlegung des Sinnes. So wird der Sinnhorizont fixiert. In der Tat dienen damit Kirchhofs Geschichten dazu, [i]n reden und schreiben einem exempelsweiß etwas zuͦ erklären.51
48 49 50 51
Ebd. Ebd., S. 520. Ebd., S. 518. Ebd., S. 5.
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4. Schlussbemerkung Ich versuche kurz zusammenzufassen: Die Emanzipation des Erzählens, mehr noch: die Emanzipation der Literatur im Decameron nehmen – das ist ja keine Überraschung – die Autoren der Schwankbücher nicht auf. Das Angebot zur Pluralisierung des Sinnes, das dort zu finden wäre, geht ins Leere. Das Widerständige: List und Betrug, das Böse, wird erneut eingebunden in feste Deutungshorizonte. Die Offenheit der literarischen Konstruktion wird zurückgeführt in die Autorität des verbindlichen christlichen Weltbildes, sei es als stillschweigende Voraussetzung für eine nicht ausdrücklich angeleitete, aber dezent geführte scheinbar freie Lektüre, sei es durch scheinbare Deutungswillkür, die nur der vorausgesetzte Rahmen ermöglicht, sei es durch einen ausdrücklich definierten Kontext, der den Verständnisrahmen neu festlegt. Allein die letzte, aus der Glaubensspaltung erwachsene Möglichkeit führt das Schwankerzählen im 16. Jahrhundert über seine mittelalterlichen Bedingungen hinaus.
Bibliographie Quellen [Arigo:] Decameron von Heinrich Steinhöwel. Hrsg. von Adelbert von Keller. Tübingen: Fues 1860 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 51). Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. Vollständige Ausgabe in der Übertragung von Karl Witte, durchgesehen von Helmut Bode. München: Winkler 1979. – Decameron. Hrsg. von Vittore Branca. 5. Aufl. Mailand: Mondadori 1998 (I Meridiani). Kirchhof, Hans Wilhelm: Wendunmuth. Bd. 1. Hrsg. von Hermann Österley. Tübingen: Laupp 1869 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 95). Montanus, Martin: Schwankbücher (1557–1566). Hrsg. von Johannes Bolte. Tübingen: Laupp 1899 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 217).
Forschungsliteratur Grubmüller, Klaus: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle. Tübingen: Niemeyer 2006. Neuschäfer, Hans-Jörg: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit. München: Fink 1969 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste 8). Wachinger, Burghart: Erzählen für die Gesundheit. Diätetik und Literatur im Mittelalter. Heidelberg: Winter 2001 (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 23).
Alexander Lasch
Überlegungen zur ›Logik‹ der Sammlung und zur Relationierung von Einzeltexten in Jakob Freys Gartengesellschaft (1557)
1. Die Gartengesellschaft wird in der germanistischen Forschung traditionell als Schwanksammlung oder Schwankbuch bezeichnet:1 Sie wird damit ebenso wie das Rollwagenbüchlein Jörg Wickrams, der Wegkürzer des Martin Montanus oder Michael Lindeners Katzipori als ein Buch verstanden, in dem vorwiegend schwankhafte Einzeltexte zusammengestellt sind – und zwar ohne dass der Kompilator sie einem der verfügbaren Ordnungsmodelle unterwerfen würde. Ob es sich dabei lediglich um eine medial-materielle Einheit des ›Erzählvorrats‹ handelt, oder ob und inwiefern dieser Zusammenstellung eine ›Logik‹ der Sammlung mit bestimmten semantischen Konsequenzen innewohnt, ist oft diskutiert worden. Mein Beitrag möchte dieser Frage, angeregt von Überlegungen zur »Hermeneutik des Sammlers«,2 noch einmal am Beispiel der Gartengesellschaft nachgehen. Der Buchdruck vervielfältigt nicht unmittelbar den Wissensbestand, sondern dessen Trägermaterial; die Einführung des Drucks mit beweglichen Lettern ist in erster Linie eine Medienrevolution. Der mediale Umbruch setzt nicht sogleich ›neues‹ Wissen frei, sondern zunächst wird das vorhandene Wissen in neuen Formen präsentiert und technisch verfügbar gemacht. Er begünstigt jedoch eine Verschiebung von rhetorischen zu topologischen Ordnungsmustern des Wissens.3 Tendenziell werden dabei »lebensweltliche« ebenso wie »gelehrte« Speicher, die durch die »mehr oder minder elaborierten Register der Rhetorik strukturiert« sind,4 unter funktionalen Gesichtspunkten umgebaut. Mit dem Buchdruck, der tradiertes Wissen 1
2 3 4
Dieckow 1996, S. 79f. Beide Termini verschweigen, dass nicht allein ›Schwänke‹ in den Sammlungen aufgenommen sind, sondern auch andere kurzepische und sogar nicht-narrative Texttypen. Um diesem Charakeristikum der Sammlungen Rechnung zu tragen und das »Begriffschaos« (Straßner 1978, S. 3) um den Begriff ›Schwank‹ zu vermeiden, bietet sich der Terminus Prosaerzählsammlung an (vgl. Dieckow 1996, S. 85, und Ziegeler 2003, S. 409). Cahn 1991. Vgl. Friedrich 2004. Und zwar durch »Topiken mit ihren Orten« und »Memorialtechniken mit ihren Erinnerungsräumen« (ebd., S. 10). Vgl. zu ersteren Schmidt-Biggemann 1983, zu letzteren Carruthers 1990.
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technisch reproduzierbar macht und breit zur Verfügung stellt, wird die Durchsetzung funktionaler Ordnungsmodelle und Erschließungsmodalitäten befördert. Imperativ des Ordnens und Erschließens ist damit ›Finde!‹ und nicht ›Wisse!‹.5 Besonders deutlich zeigt sich dieser Wandel im Übergang vom Codex zum gedruckten Buch gerade auch an den Veränderungen der Ordnungsmodelle und Erschließungsmodalitäten von Sammlungen und Kompilationen. Durch die Möglichkeiten der neuen Träger freilich werden sekundär auch qualitative Veränderungen des Wissens verstärkt und verursacht. Zwar wird das tradierte, nach rhetorischen Mustern geordnete Wissen nicht erst durch Humanisten und Reformatoren umgeschrieben, aber erst dann treten auch immer deutlicher Geltungskonkurrenzen »unterschiedlicher Relevanzkriterien in Bezug auf die Ordnung des Wissens« hervor.6 Der Buchdruck ermöglicht es, solche heterogenen Wissensbestände in rascher Folge und großer Menge zu verbreiten. Ein Indiz hierfür kann die Erfolgsgeschichte der kleineren Erzählformen in der Frühen Neuzeit sein, die nun nicht mehr selbstverständlich als Teil und Repräsentation einer universalen Ordnung gelten, sondern zunehmend die Singularität und Kontingenz des Erzählten ausstellen. Dabei kann ein andersartiges Wissen präsentiert werden, das zumindest potenziell geeignet ist, traditionelle universale Geltungsansprüche zu unterminieren. Das in der Frühen Neuzeit zu beobachtende Nebeneinander von verschiedenen Präsentationsformen unterschiedlich zu bewertender Wissensbestände führt, befördert durch die Interessen des sich etablierenden Buchmarktes, zum Relevanzverlust tradierter Ordnungsmodelle, während gleichzeitig alternative Formen der Wissenspräsentation aufgewertet werden. Ein Relevanzverlust tradierten Wissens und tradierter Wissensordnungsmodelle kann sich im Zuge dieser Transformationen auch als eine Konsequenz der Praxis des Zusammentragens selbst einstellen, denn es liegt in der ›Logik‹ der Sammlung, dass ihr stets noch Fehlendes hinzugefügt werden könnte.7 Die Expansion der Sammlung führt aber nicht unbedingt zu einem Wissensgewinn; sie kann auch lediglich zu einer Vermehrung des Materials führen: Keineswegs gilt, daß je mehr man sammelt, desto größer auch das Wissen ist. Einen stetigen Wissenszugewinn gibt es nicht. […] Ist nicht wahrscheinlicher, daß die stets weiter wachsenden Sammlungen umgekehrt anerkanntes Wissen unterminieren, bis in
5
6 7
Zedelmaier 2004, S. 192, weist im Zusammenhang der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Enzyklopädien entschieden auf die »pragmatische Funktion der Wissensaufbereitung« hin: Enzyklopädien müssen »überschaubar sein« und »schnelle Orientierung« ermöglichen. Friedrich 2004, S. 11. Cahn 1991, S. 679.
Überlegungen zur ›Logik‹ der Sammlung
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der Fülle des immer neu und anders Beigebrachten am Ende jede auf ein Allgemeines zielende These sich auflöst?8
Über die Ordnungsprinzipien frühneuzeitlicher Prosaerzählsammlungen wie etwa der Gartengesellschaft ist damit freilich noch wenig gesagt. Freys Sammlung orientiert sich jedenfalls nicht an den tradierten Formen der Wissensorganisation. Die in ihr kompilierten ›kleineren Erzählungen‹ sind aus ihrem angestammten kommunikativen Kontext, für den man zunächst eine mündliche Gebrauchssituation annehmen wird, herausgelöst. In der Sammlung erscheint der einzelne Schwank als Teiltext unter vielen anderen Teiltexten,9 von denen er sich etwa graphisch durch hervorgehobene Kapitelüberschriften abhebt. Allerdings werden damit nur Grenzen markiert, die den einen Text vom anderen trennen. Damit ist ein Erzählfluss graphisch segmentiert, doch lässt sich aus dieser Segmentierung noch kein Hinweis auf ein Ordnungsprinzip der Sammlung ableiten. Die gesammelten Erzählungen sind nicht in einer einzig richtigen Art und Weise aufeinander zu beziehen, sondern es scheinen viele Wege zu verschiedenen Lesarten und Interpretationsmöglichkeiten auf, die offenbar nicht durch den Urheber der Sammlung hierarchisiert werden.
2. Diesen ersten Bemerkungen zu den allgemeinen Sammlungsprinzipien kleinerer Erzählformen in der Gartengesellschaft folgt nun zunächst ein Blick auf die Paratexte von Jakob Freys Prosaerzählsammlung. In den Vorreden etwa könnte man Hinweise auf den Status des Buchs als einer Textsammlung und auf die dabei vorausgesetzten Relevanzkriterien erwarten. Frey veröffentlicht eine Sammlung von Texten, die auf dem Titelblatt als ein New hübsches und schimpflichs buͤ chlin bezeichnet wird. Historien vnd Fabulen könnten darin gefunden werden, vil froͤ lichs gesprechs und Schimpff reden, die Frey an vilen vnd mancherley orten, zuͦ samen gesuͦ cht vnd colligiert (›zusammengebunden, zusammengelesen, aufgelesen, aufgesammelt‹) habe. Nicht nur Kompilator und Inhalt der Sammlung werden benannt; dem Leser wird auch ein Gebrauch der gesammelten Erzählungen unter anderem inn den schoͤ nen Gaͤ rten, bey den kuͤ len Brunnen, auff den gruͤ nen Wysen und bey der Edlen Music – in Zwischenräumen und -zeiten 8
9
Wegmann 1999, S. 264; dort bezogen auf die Sammeltätigkeit des modernen Philologen. Zu hinterfragen ist grundsätzlich, ob ein ›Schwank‹ primär als Einzeltext betrachtet und analysiert werden sollte, oder ob er nicht »wie andere kleine Erzähltexte« jedenfalls literarhistorisch als »ein Pluraletantum« gelten müsste (Strohschneider 2007 [Kippfiguren], S. 167).
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also – empfohlen.10 Bereits auf dem Titelblatt ist so dem Erzählten und dem Erzählen gerade in seiner ›Beiläufigkeit‹ ein Ort gegeben. Dennoch könnte man erwarten, dass in der Vorrede ein »Aufwertungsmotiv« zu entdecken ist, das aus einleuchtendem Grund den Vorworten von Sammlungen […] vorbehalten ist, [es] besteht darin, die formale – oder häufiger thematische – Einheit dessen aufzuzeigen, was a priori als künstliches oder zufälliges Sammelsurium erscheinen könnte und sich vor allem daraus ergibt, daß man […] eine Schublade geleert hat.11
In der ersten, an den Amtmann Reinbolt von Kageneck gerichteten Vorrede der Gartengesellschaft12 tritt eine solche Aufwertung unter anderem dadurch hervor, dass Frey sich selbst in die Nachfolge jener alten scribenten stellt, welche neben aller ernsthaften Beschäftigung auch sunst lustige schimpff unnd fatzwerckische bossen in schrifften und büchlin verfasst hätten.13 [E]rnsthafftige sachen beiseite legend habe er die mucken auß dem kensterlin gelassen und ein gartengespräch zusammengestellt, das den gesellschafften zuͦ kurtzweil dienen solle.14 Nicht nur die vorgestellten Rezeptionssituationen, auch die Explikation der Produktionsbedingungen in der Vorrede akzentuiert also den ›beiläufigen‹ Status der in der Sammlung zusammengetragenen Erzählungen. Ein einheitliches Sammlungsprinzip nennt die Vorrede dagegen nicht. Jakob Frey ordnet sich zwar selbst dem Typus der genannten alten scribenten zu; die damit angespielte Tradition tritt jedoch in den Texten der Sammlung selbst nicht erkennbar hervor; sie werden ohnehin größtenteils nicht als Bearbeitungen älterer Vorlagen ausgewiesen. Die einzige Quelle, die in der Vorrede genannt wird, ist Johannes Paulis Schimpf und Ernst: Daraus habe er, Frey, ungefähr zehn Texte entnommen und diese so bearbeitet, dass sie dadurch mer historischer gesehen werden.15 Der Bezug auf die bekannte und äußerst erfolgreiche Sammlung des Johannes Pauli kann auf der einen Seite sicherlich als Aufruf einer ›Autorität‹ verstanden werden; zugleich aber nimmt Frey eine signifikante Distanzierung vor und akzentuiert darin einen eigenständigen, in der Kategorie des ›Historischen‹ gründenden Anspruch. Da nur eine einzige Quelle für einen geringen Teil der gesammelten Texte auf diese Weise explizit genannt wird, kann umso stärker ein anderer 10
11 12 13 14 15
Frey 1896, S. 1. Vgl. dazu Röcke 1993, S. 110–113. Röcke hebt die »üblichen Beschreibungsmuster des locus amoenus« hervor (ebd., S. 113), dessen Topoi in der Gartengesellschaft »das erste Mal […] für eine Schwanksammlung aufgerufen werden« (ebd., S. 110). Darüber hinaus – und das möchte ich hier zeigen – ist es vor allem die ›Beiläufigkeit‹ des Erzählens, für das die Topoi des locus amoenus in Anspruch genommen werden. Genette 2001, S. 195. Frey 1896, S. 3.1–5.11. Ebd., S. 3.7–10. Ebd., S. 3.16–19. Ebd., S. 4.26.
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Aspekt ›historischer‹ Authentizität in den Vordergrund rücken: Viele der erzählten sachen nämlich seien ihm, so fährt Frey fort, selbs begegnet, viele habe er bey andern unnd allenthalben gesehen, gehört unnd erfaren.16 Schenkt man der Vorrede Glauben, dann hat Jakob Frey nur wenige der gesammelten Geschichten schriftlich aufgezeichnet vorgefunden. Tatsächlich aber besteht die Kompilation vorwiegend aus Bearbeitungen älterer Vorlagen. So beruht beispielsweise die erste Erzählung der Gartengesellschaft auf einem Text aus Heinrich Bebels Facetiae, der zweite Schwank ist die Bearbeitung eines Textes von Poggio Bracciolini, der dritte Schwank wurde wieder aus Bebels Facetiae übernommen und für die nächsten beiden Texte stand Johannes Adelphus Mulings Margarita facetiarum Pate.17 Indem Frey die literarischen Vorlagen, die sich für den größten Teil der Texte nachweisen lassen, verschweigt, übernimmt er offenbar dezidiert selbst die Verantwortung für das Erzählte. Die zweite Vorrede [a]n den guͤ tigen leser18 verstärkt diesen Eindruck noch: Jakob Frey reiht sich hier unter jene gelerte[n] männer ein,19 die [v]or zeyten und noch […] vil kurtzweiliger büchly geschrieben haben.20 Nach Paulis Schimpf und Ernst wird mit Jörg Wickrams Rollwagenbüchlein nun eine zweite Sammlung namhaft gemacht, allerdings nicht als Quelle für Texte der eigenen Sammlung, sondern allein zu deren Legitimation durch ein bekanntes Vorbild. Zwischen die beiden Vorreden ist im ältesten erhaltenen Druck der Gartengesellschaft ein Register diser fabulen und historien der Gartengeselschafft, kurtz zuͦ finden,21 eingeschaltet. Es handelt sich um ein mit Angabe der Folia versehenes Inhaltsverzeichnis, welches also keine inhaltliche Strukturierung des gesammelten Materials leistet und einen thematisch motivierten, willkürlichen Zugriff auf den einzelnen Text nur bedingt anhand der Auflistung der Kapitelüberschriften ermöglicht.22 Brauchbar mag es immerhin sein im Hinblick auf kolloquiale Kommunikation, wie sie in 16 17
18 19 20 21 22
Frey 1896, S. 4.27ff. Vgl. Bolte 1896, S. XXV–XXIX. Frey übernimmt oder übersetzt seine Prätexte nicht lediglich, sondern erweitert und verändert sie erheblich. Vgl. Waltenberger 2006 und schon Bolte 1896, S. XXVI: »Wer jedoch nach dem eben bemerkten meinen sollte, Frey begnüge sich im wesentlichen mit der verdeutschung ausgewählter erzählungen […], der würde seine litterarische leistung erheblich unterschätzen. Man braucht nur einen beliebigen schwank mit der lateinischen quelle zu vergleichen, um zu erkennen, dass er nicht übersetzt, sondern frei bearbeitet«. Wichtig für das Verständnis einer solchen Bearbeitungspraxis ist vor allem das Konzept des »Wiedererzählens« (Worstbrock 1999). Mit modernen Vorstellungen von literarischer Autorschaft hingegen lässt sie sich kaum angemessen beschreiben (vgl. zu vormodernen Autorschaftskonzepten bes. Müller 1993, 1995 und 1999). Frey 1869, S. 5.12–7.15. Ebd., S. 5.16. Ebd., S. 5.13f. Ebd., S. 153. Zur Tradition der facilitas inveniendi vgl. Zedelmaier 2004.
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den Vorreden des Buchs aufgerufen wird: Schwankerzählen kann zum Gespräch anregen und es aufrechterhalten, denn in solcherart angeregter Unterhaltung locket ye ein argument das ander herfür23 und ein Schwank den nächsten. Die Erschließung der Texte durch das Register erlaubt spontane assoziative Arrangements der Texte durch den Rezipienten: Er kann die Texte nach eigenen Interessen jeweils neu aufeinander beziehen und ist dabei kaum an eine vom Kompilator etwa intendierte Ordnung gebunden.
3.1 Das Buchregister erleichtert es also dem Rezipienten, Relationen zwischen den Einzeltexten herzustellen, die sich nicht aus der linearen Leserichtung ergeben. Auch die Vorreden beschränken ihn dabei kaum, denn sie enthalten, wie gesehen, kaum Hinweise auf Ordnungskriterien der Sammlung. Da aber allein aus der pragmatischen ›Logik‹ der Sammlung gerade nicht auf eine ihr inhärente ›Grammatik‹ geschlossen werden kann, soll nun in Lektüreexperimenten geprüft werden, auf welche Weise sich innerhalb der Sammlung übergreifende Kohärenzen bilden können. Exemplarisch möchte ich zunächst die Abfolge der ersten Texte der Gartengesellschaft betrachten. Erhält der Rezipient in ihnen bei einer sukzessiven Lektüre Anreize für übergreifende Kohärenzbildungen? Man könnte nach solchen Anreizen zunächst in den Kapiteltiteln suchen, wie sie ohne nennenswerte Abweichungen vom Haupttext auch im Register nacheinander angeführt sind: 1. Von eim groben närrischen bauren, der wolt junge gänß außbrütlen 2. Von den bauren, die ein lebendigen hergott haben wolten 3. Ein jüdin hielt vil mehr vonn dem tauff dann von der beschneidung 4. Von eim schuͦ macher, der eim bauren die füß beschneiden wolt 5. Von eim Türcken, der in der christen kirchen zuͦ opffer gieng […]24
Wörtliche Rekurrenzen (bauren in Kap. 1 und 2; beschneidung und beschneiden in Kap. 3 und 4) und semantische Anklänge (hergott in Kap. 2, tauff und beschneidung in Kap. 3, christen kirchen in Kap. 5) könnten hier als Hinweise auf übergreifende Kohärenzen verstanden werden. Die Lektüre der Texte selbst zeigt jedoch, dass sich aufgrund dieser Hinweise nur sehr allgemeine und vage Gemeinsamkeiten (konventioneller Protagonistentypus des dummen Bauern; Thematisierung christlicher Rituale) konstruieren lassen. Insbesondere die Wiederaufnahme des Nomens beschneidung durch das entsprechende Verb dient nicht eigentlich als Indiz für einen Zusammenhang zwischen den Texten, sondern lenkt die Aufmerksamkeit geradezu auf ihre semantische und thematische Disparität: 23 24
Frey 1896, S. 6.22f. Ebd., S. 153.
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Kap. 3:25 Ein alter Bürger rät einer schönen Jüdin zur Taufe, als Lohn stellt er ihr die Heirat mit seinem Sohn in Aussicht. Als sie fragt, worauf der christliche Glaube denn beruhe, antwortet er: auf der Taufe. Nur wer getauft sei, könne in den Himmel kommen. Ironisch gesteht die Jüdin nun den Vorrang des Christentums zu, da man den Christen in der Taufe gar nicht so viel abwaschen könne, wie den Juden bei der Beschneidung abgeschnitten werde. Ginge es nach den Frauen, so sollte den jüdischen Männern eher noch etwas angesetzt als abgeschnitten werden. Die Frauen hätten unter diesem Mangel schwer zu leiden. Der Alte merkt, dass er verspottet wird, schweigt und geht weg. Kap. 4:26 Ein Bauer lässt sich von einem Schuhmacher ein paar neue Schuhe anfertigen. Allerdings haben diese einen Fehler: Sie sind ihm zu klein. Als der Bauer dies feststellt, wird er zornig auf den Schuhmacher und will ihm die Schuhe nicht abnehmen. Der Schuhmacher aber behauptet, der Mangel liege nicht an den Schuhen, sondern an den Füßen. Er greift sich eine Zange, packt den Bauern bei den Füßen und will sie passend beschneiden.27 Der Bauer schreit auf, bezahlt die Schuhe nun und geht nach Hause.
Die Lexemrekurrenz, noch akzentuiert durch die Wiederholungen des Wortes innerhalb der Erzählung selbst, verknüpft zwei Texte, die thematisch kaum miteinander vereinbar sind. Wer sich dennoch zur Konstruktion eines semantischen Zusammenhangs anreizen lässt, muss dies jedenfalls auf einer relativ abgehobenen Abstraktionsebene versuchen – oder er mag der Textfolge immerhin eine metasprachliche Pointe zur Ambiguität des wiederkehrenden Titelworts abgewinnen. Wenn man jedoch der Lexemrekurrenz überhaupt eine verknüpfende Funktion zurechnen will, dann ist vielleicht gar nicht in erster Linie an eine semantische Relation zu denken, sondern eventuell primär an eine ›Vertextung‹ der von Frey in den Vorreden skizzierten Pragmatik mündlicher Unterhaltung. Das Wort beschneidung indiziert unter diesem Aspekt keinen ›tieferen‹ Sinnzusammenhang, sondern signalisiert gerade das Aussetzen eines solchen Anspruchs. In seiner Wiederkehr bildet sich analog zur kolloquialen Kommunikationssituation die Funktion ab, assoziativ ein weiteres argument zu provozieren und auf diese Weise die ›Unterhaltung‹ (im doppelten Sinne) zu stabilisieren. Die schriftliche Sammlung würde damit, wenn man so will, bereits in ihren ersten Texten dezidiert die mit dem Medium des gedruckten Buchs verbundenen Ordnungs- und Einheitserwartungen enttäuschen und stattdessen für die Sinnkonstitution der in ihr kompilierten schwankhaften Kurzerzählungen auf die Bedingungen mündlicher Kommunikation zurückverweisen.28 Ähnliche Relationen zwischen aufeinander folgenden Texten lassen sich in der Sammlung sehr häufig beobachten. Immer wieder ergeben sich bei sukzessiver Lektüre assoziative Verbindungen, die sich jedoch in den meisten Fällen nicht zu einer weiter reichenden Kohärenz ausbauen lassen. 25 26 27
28
Ebd., S. 12.14–13.5. Ebd., S. 13.6–32. Ebd., S. 13.25; weitere Rekurrenzen in S. 13.27 (bschneidens) und 13.32 (unbeschnitten). Vgl. Bachorski 2001, S. 332f.
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Während in der mündlichen Kommunikation allerdings die sukzessiv eröffneten Freiräume assoziativer Verknüpfung durch die strenge Temporalität der Rede stets wieder verknappt werden, bietet das Medium des Buchs die Möglichkeit, die Sukzessivität zu überschreiten und textuelle Beziehungen im Vor- und Zurückblättern sowie im gezielten Nachschlagen herzustellen und abzusichern. Die lockere Assoziativität der Einzeltexte kann unter den medialen Bedingungen des Buchs als Beziehungs-Potential wahrgenommen werden, das der Rezipient – auch mithilfe des Registers – in eigenen und je neuen Arrangements aktualisieren kann. Inhaltliche oder thematische Relevanzen können in solchen retikulären Relationierungen interessenspezifisch (etwa nach Profession oder sozialem Stand der Akteure, nach bestimmten Motiven, Handlungsmustern oder Konfliktkonstellationen) gesetzt werden.
3.2 In einem weiteren Lektüreexperiment möchte ich eine solche Relationierung beispielhalber nachvollziehen. Ich bleibe dazu bei dem Stichwort der beschneidung, das sich mittels des Registers nicht nur in den Kapiteln 3 und 4, sondern auch in Kapitel 113 wiederfinden lässt: Von einem bauren, der unser lieben frawen geburt für die beschneidung verstund. Kap. 113:29 Ein Bauer, der nie zur Kirche geht, wird von einem anderen Bauern gemahnt, doch wenigstens ein- oder zweimal im Jahr die Kirche zu besuchen. Gleich heute, am feyrtag unser lieben frawen geburt30 solle er damit beginnen und ein Gebet an die Mutter Gottes richten: durch dein geburt so sey mir gnedig bey deinem lieben kind!31 Der Bauer vergisst die Worte halb und schickt seine Leute zur Kirche, denn es sei unser lieben frawen tag der beschneidung und sie sollten zu Maria beten: durch dein beschneidung so sey mir genedig bey deinem lieben großvatter!32 Daraufhin weist ihn der Pfarrer zurecht: Christus selbst sei beschnitten worden, und nicht seine Mutter. Ungerührt entgegnet der Bauer, dies sei schon viel zu lange her, als dass man wissen könne, was tatsächlich geschehen sei. Ob Geburt oder Beschneidung – es liege jedenfalls weit vor seiner eigenen Lebenszeit. Und in summa, was ich nicht sihe, das glaub ich auch nit, das werden, herr pfarrher, ir mich nit überreden.33 Damit beendet er das Gespräch und lässt den Pfarrherrn stehen.
Ähnlich wie in der Erzählung von der Jüdin und dem Christen wird auch hier ein Diskurs über religiöse Rituale auf die Ebene profaner Körperlichkeit herabgezogen. Dies geschieht jedoch nicht wie dort durch eine ironische Ersetzung des rituellen Signifikats von beschneidung, sondern durch seine referenziell paradoxe Attribution. Schon diese Paradoxie wäre an sich 29 30 31 32 33
Frey 1896, S. 129.23–130.23. Ebd., S. 129.30f. Ebd., S. 130.1f. Ebd., S. 130.6–9. Ebd., S. 130.21f.
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hinreichend für einen komischen Effekt der Erzählung – und tatsächlich zielt Freys Prätext, eine Fazetie Heinrich Bebels, auf sie als abschließende Pointe.34 Während die Hauptfigur bei Bebel jedoch ein nobilis scholasticus ist,35 der es eigentlich besser wissen müsste und dessen Lapsus ohne weitere Konsequenzen unmittelbar als ridendi materia[] wirksam wird,36 scheint die Paradoxie bei Frey zunächst lediglich das schwankhafte Stereotyp des dummen Bauern zu bekräftigen. Die Pointe des Prätextes ist allerdings nicht mehr das Ziel des Erzählens: Sie wird auf charakteristische Weise narrativ ›überspielt‹ und selbst zum Ausgangspunkt für die Entfaltung einer tiefer greifenden diskursiven Konfliktkonstellation:37 So steht hier einerseits dem Bauern der Pfarrherr gegenüber, der über die ›Beschneidung Mariä‹ nicht wegen deren physischer Unmöglichkeit lacht, sondern sie als veritablen Glaubensirrtum verurteilt.38 Und andererseits rechtfertigt der Bauer seine Rede ausführlich – und zwar ebenfalls nicht hinsichtlich der konkret-referenziellen Paradoxie selbst, sondern indem er bestreitet, dass über historisch derart weit entfernte Sachverhalte überhaupt gültige und relevante Aussagen gemacht werden könnten. Wenn die Erzählung ihm damit auch noch das letzte Wort lässt, auf das der Pfarrherr in keiner Weise mehr zu reagieren vermag, dann steht hier offenbar mehr zur Debatte als lediglich ein witziger Lapsus: Die Schwankerzählung konfrontiert die Wahrheitsansprüche des Glaubens mit historischen und empirischen Wahrheitskriterien, die sich im 16. Jahrhundert nicht mehr ohne weiteres ersteren unterordnen lassen. Die Replik des Bauern, mit der diese Gegenposition in den Text eingespielt wird, mag zwar im Rahmen des religiösen Diskurses – immer noch – als Bestätigung seiner Verstocktheit genommen werden; dass dieser Rahmen allerdings hier angelegt werden müsste, ist keineswegs mehr selbstverständlich. Weder die Kritik des Pfarrherrn noch die Argumente des Bauern treffen offenbar den Kern der Sache. Dass letzterer sich aber überhaupt rechtfertigen kann und damit jedenfalls situativ auch noch die Oberhand behält, wird durch die unverhältnismäßige Behandlung seines Irrtums durch den Pfarrherrn erst möglich: Dieser kann eine nach empirischen Kriterien leicht zu widerlegende Aussage lediglich auf der Ebene dogmatischer Lehre behandeln, deren Grundvoraussetzungen wiederum durch den Bauern in Frage gestellt werden. Abgesehen vom gemeinsamen Stichwort der beschneidung und der daran hängenden religiösen Thematik weist das 113. Kapitel im Verhältnis zur Erzählung von der Jüdin und dem alten Bürger eine erstaunlich ähnliche 34 35 36 37
38
Bebel 1931, Buch I, S. 26, Kap. 58. Ebd., Kap. 58.1. Ebd., Kap. 58.6f. Vgl. ähnliche Beobachtungen zur Bearbeitung fazeter Prätexte in der Gartengesellschaft bei Waltenberger 2006 und Strohschneider 2007 (Heilswunder). Frey 1896, S. 130.13: Der Bauer irre sich gar weit im christenlichen glauben.
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Handlungs- beziehungsweise Dialogstruktur auf:39 In beiden Texten initiieren Vertreter des christlichen Glaubens durch die Mahnung zur (Re-)Integration in die Kirche einen Dialog, an dessen Ende sie jedoch verstummen müssen und eine rhetorische Niederlage erleiden. Die Rolle des Antagonisten ist dabei ganz unterschiedlich besetzt, im einen Fall durch einen kirchenfernen, eher redundant argumentierenden Bauern, im andern mit einer rhetorisch geschickten Nicht-Christin. In beiden Erzählungen aber wird ein diskursiver Konflikt exponiert, der durch die beiderseits ambivalente Figurenzeichnung und den Abbruch des Dialogs unaufgelöst bleibt. So wird im dritten Kapitel der Alte zwar als frum und als guͦ tte[r] vatter bezeichnet,40 aber daneben auch abfällig als alt Chremes tituliert.41 Auktorial wird auf diese Weise ein Grund angedeutet, durch welchen der Rat zur Konversion – und damit zugleich das Glaubensverständnis des Christen – entwertet wird: Nicht durch Glaubensargumente oder spirituelle Glücksversprechen versucht ja der Alte die Jüdin zunächst zu überzeugen, sondern durch das Versprechen einer ganz diesseitigen Belohnung, nämlich der Verheiratung mit seinem eigenen Sohn. Darin unterstellt er nicht nur seinem Gegenüber eine Prävalenz profaner Interessen vor religiösem Ethos; die knappe Charakterisierung der Jüdin als schön[] und jung[]42 legt den Verdacht nahe, dass sein Rat durch familiären Eigennutz motiviert sein könnte.43 Was allerdings zu Beginn der Rede des Alten nur implizit angedeutet ist, wird durch die Jüdin offen gelegt: Sie entlarvt die Koppelung des religiösen Diskurses an materielle Interessen, indem sie ironisch eine ähnliche Koppelung selbst in ihrer Antwort vollzieht. Diese responsive Struktur tritt wiederum deutlich im Vergleich zum fazeten Prätext hervor: In ihm fehlt nämlich auf der einen Seite das Motiv des Verheiratungsversprechens; auf der anderen fügt Frey der lediglich erotisch anzüglichen (und von den Umstehenden mit größtem Gelächter quittierten) Pointe der Fazetie44 Aspekte sozialen Handelns sowie einer (jedenfalls metaphorisch) ökonomisierten Sexualität hinzu und legt auf diese Weise den Rückbezug auf das Heiratsmotiv nahe: Es müssends leider unser vil, so die Jüdin, mit gedult leiden; wir sehen aber nit dester bass zum handel, das uns unsere nechste fründ und günner unsere besten und liebsten leybs narung berauben, deren wir 39 40 41
42 43
44
Prätext ist auch hier eine Bebel’sche Fazetie (Bebel 1931, Buch I, Kap. 2, S. 5). Frey 1896, S. 13.4 und 12.20. Ebd., S. 12.22. Chremes ist, insbesondere bei Terenz, der Name einer Komödienfigur: eben derjenigen eines alten geizigen Bürgers. Frey 1896, S. 12.17. Bereits in der ersten Geschichte der Gartengesellschaft (Frey 1896, S. 8.1–11.22) geht es um den vergeblichen Versuch einer reichen Witwe, ihren tölpelhaften Sohn mit einer schönen Jungfrau zu verheiraten. Quoniam mallemus addi virorum nostrorum virilibus portionem quam adimi (Bebel 1931, Buch I, Kap. 2.10f., S. 5).
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darnach mit der zeit schwerlich manglen müssen.45 Erst über die ironisch entlarvende Funktion wird überhaupt erklärbar, weshalb die profanisierende Rede der Jüdin, die für sich genommen ihre eigene Position desavouieren müsste und dabei lediglich das Klischee jüdischer Uneinsichtigkeit bestätigen würde, als Verspottung des Christen so wirksam sein kann, dass dieser verstummen und abziehen muss. Innerhalb der Gartengesellschaft könnten dieser Beispielreihe vielfältige weitere schwankhafte Inszenierungen diskursiver Konflikte zwischen religiösen Geltungsansprüchen und ökonomischen Interessen hinzugefügt werden. Eine relativ große Zahl der versammelten Texte könnte auf diese Weise in einem thematischen Zusammenhang gesehen werden – allerdings ohne dass sie sich dabei in den Rahmen einer übergeordneten diskursiven Hierarchie fügen ließen und ohne dass eine einheitliche satirische oder polemische Tendenz deutlicher erkennbar würde. Am ehesten ist auf den ersten Blick eine solche Tendenz hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Religion und Ökonomie noch dann erkennbar, wenn die Perspektivierung christlicher Riten – wie im folgenden Beispiel – über die marginale kulturelle Position der Jüdin hinaus auf die Außensicht eines Heiden verschoben wird. Kap. 5:46 Der türkische keiser Amurates beauftragt einen Kundschafter, in Italien der christen glauben unnd ceremonien zuͦ erkundigen.47 An Allerheiligen kommt dieser in Pisa an, besucht mit seinem Gefolge die Kirche und beobachtet zunächst aus der Distanz, wie der mönchische Priester die Messe zelebriert. Als die Gläubigen sich zum Opfergang vor dem Altar versammeln, treten auch die Türken hinzu, um die warheit über die Vorgänge dort zu erfaren.48 Nach seiner Rückkehr schildert der Kundschafter dem keiser seine Beobachtungen: In der Kirche zu Pisa habe er einen beschornen narren vor einem mit Tüchern bedeckten Steinhaufen stehen sehen. Der habe vor sich hin gemurmelt und ein langs gfecht mit ime selbs ausgetragen.49 Nach einiger Zeit habe er sich umgedreht und das Volk zusammengerufen, das eilends zu ihm gelaufen sei50 und ihm Geld dargebracht habe. Nach der Gabe habe jeder zuͦ lon einen lumpen küssen dürfen,51 der um den Arm des weiterhin mürrisch grummelnden Narren gewickelt gewesen sei. Auch er selbst habe ihm einen Dukaten gegeben und den lumpen geküsst, um seine narrheit ausreichend in Augenschein nehmen zu können.52 Schließlich habe der Geschorene einen Stecken aus dem Wasser gezogen und damit um sich geschlagen, so dass alle aus der Kirche geflohen seien. Christ zu werden, so resümiert der Kundschafter, könne er sich nicht leisten, denn er habe nicht genug Geld für den geschorenen Narren. Der türkische keiser korrigiert die Einschätzung seines Kundschafters: Der Geschorene sei keineswegs ein Narr, sondern vielmehr der aller witzigst gewesen.53 Ein Narr hingegen sei er selbst, der Kundschafter, 45 46 47 48 49 50 51 52 53
Frey 1896, S. 12.32–13.3. Vgl. hierzu auch Röcke im vorliegenden Band, S. 290–296. Frey 1896, S. 14.1–15.18. Ebd., S. 14.5f. Ebd., S. 14.14. Ebd., S. 14.23. Ebd., S. 14.26. Ebd., S. 14.27 und S. 14.30. Ebd., S. 14.31. Ebd., S. 15.10.
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denn er habe sich um sein Geld betrügen lassen, ohne die Bedeutung der Vorgänge verstanden zu haben.
Im Sinne einer retikulären Relationierung durch den Rezipienten könnte diese Erzählung als strukturelle Steigerungsform einer diskursiven Konstellation aufgefasst werden, die auch im dritten und im 113. Kapitel ausgespielt wird – nun allerdings nicht diachron im Wechsel der Handlungsphasen, also durch Um- und Abbruch eines aktional-dialogischen Agon, sondern vielmehr synchron in der Überlagerung (dreier) konkurrierender Beschreibungen ein und derselben Handlung: Auf eine kurze auktoriale Situationsskizze folgt die ausführliche Schilderung dessen, was der türkische Kundschafter, der nach der religiösen Bedeutung der christlichen Riten (beziehungsweise nach der Differenz zwischen den Religionen) forscht, als närrisch-sinnloses Treiben wahrnimmt; und schließlich wird die solcherart geschilderte Narrheit als eine raffinierte und effiziente Art des Gelderwerbs durchschaut, die zwischen weißheit und Betrug schillert. Sowohl die Kapitelüberschrift (Von einem Türcken, der in der christen kirchen zuͦ opffer gieng)54 als auch Amurates’ Schlusspointe akzentuieren diese ökonomische Effizienz der religiösen Praxis: Selbst ein Heide, der mit dem Geschehen in der christlichen Kirche nichts anzufangen weiß, wird doch mit hineingezogen und verliert dort sein Geld. In der triadischen Struktur des Textes wird die prekäre Koppelung zwischen religiöser und ökonomischer Praxis nicht, wie in einschlägigen Schwankgeschichten, als eine unmittelbare inszeniert, mithin durch den Umschlag von einer Perspektive in die konträre und vom täuschenden Schein zur Wahrheit. Die basale Differenz zwischen eigener und fremder Kultur wird nicht einfach eingesetzt, um durch sie eine solche Kippfigur noch zu schärfen, sondern um ›auf der Schwelle‹ zwischen den gegensätzlichen diskursiven Seiten Bedingungen ihrer prekären Koppelung sichtbar machen zu können: Die extrakulturelle Position des türkischen Kundschafters erlaubt es ihm nicht unmittelbar, vorgeblich religiös sinnhaftes Handeln als listig instrumentalisiertes zu entlarven, sondern die kulturell ›externe‹, gleichwohl auf die Erkundung religiösen Sinns gerichtete Beobachtung macht zunächst lediglich das Fehlen eines solchen Sinns vorstellbar: eine kollektive narrheit im Hinblick auf die Religion. Diese Beobachtung aber wird auch mit der Aufdeckung des ökonomischen Zwecks durch den türkischen keiser nicht irrelevant: Er entlarvt keine betrügerische Vortäuschung religiösen Sinns, keine schwankgemäß individuell ins Werk gesetzte Perversion des Religiösen durch das Geld, sondern ein viel subtileres Verhältnis. Aus seiner Sicht besteht die weißheit des Priestermönchs nicht eigentlich darin, dass er bestimmte religiöse Sinnvorgaben okkasionell zu seinen Gunsten manipulieren könnte, sondern darin, dass er lediglich eine kollektiv 54
Ebd., S. 14.1f.
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akzeptierte Handlungsrolle annimmt, die als eine närrisch-sinnlose jedenfalls ›von außen‹, potenziell aber auch von ihm selbst wahrgenommen werden kann: Ich sag dir, es ist ein weißheit, das sich underweilen einer zum narren machen laßt, uff das er von andern das gelt mit geschicklichkeit, got geb, sie leiden mangel oder nit, bringe.55 Was in der extrakulturellen Beobachtung zutage tritt, so könnte man folgern, ist nicht die individuelle Manipulation religiöser Praxis und religiösen Sinns zugunsten eines anderweitigen Zwecks, sondern religiöse Praxis als ein institutionalisiertes Handeln, dessen fundierende ökonomische Effizienz lediglich von der sozialen Zuschreibung als religiöses abhängt, aber nicht zugleich von der individuellen Einsicht in seinen Sinn. Selbstverständlich bleibt eine solche Lesart der Geschichte schon deshalb in der Schwebe, weil ihre Geltung davon abhängt, ob man den heidnischen Standpunkt als Voraussetzung einer ›objektivierenden‹ Außensicht akzeptiert oder den Geltungsanspruch der fremden Sicht auf das Eigene bestreitet. Andererseits lässt sich aber die heidnische Außenperspektive nicht als bloße Transposition einer konfessionellen Innenperspektive auflösen: Sie bietet wenig Anhalt für die Bestätigung eines protestantischen Standpunkts als Voraussetzung satirischer Polemik gegen katholische Riten. In einer für die Sammlung insgesamt charakteristischen Weise zielt die Geschichte auf tiefer sitzende epistemische Schichten ab und legt dabei diskursive Unabgestimmtheiten offen, die sich nicht einfach durch konfessionelle Orientierungen beheben lassen.
3.3 Einen Sonderfall stellt im Hinblick auf die Frage nach der Sinnkonstitution im Sammlungszusammenhang gewiss jene Gruppe von Texten dar, in denen das Dorf Beit ein Weil vorkommt: ein weder der Hölle noch dem Himmel angehörender jenseitiger Zwischenort. Kap. 44:56 Nach der Schlacht bei Mailand und Marignano (1515) wollen die toten Landsknechte nicht mit den Schweizern auf der walstat liegen bleiben,57 sondern sammeln sich unter einer weißen Fahne mit rotem Kreuz und ziehen geordnet der Hölle zu. Die Teufel aber erschrecken vor dem Kreuzzeichen, verwehren der Truppe den Zugang zur Hölle und drängen sie dazu, den Weg zum Himmel zu nehmen. Als die guͦ ten frumen landsknecht dort Einlass begehren,58 verweigert Petrus ihnen die Aufnahme, denn da sie in ihrem Leben den Frieden gehasst hätten, verdienten sie die ewige ruͦ he nicht.59 Daraufhin erinnert der Hauptmann der Truppe Petrus an die dreimalige Verleugnung seines Herrn: eine Treulosigkeit, derer sich die Landsknechte 55 56 57 58 59
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 15.12–15. S. 59.1–60.28. S. 59.5. S. 59.20. S. 59.28.
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nie schuldig gemacht hätten. Als er droht, dies vor allen himmlischen Heerscharen zu verkünden, lenkt Petrus aus Furcht, seine Schande könnte im Himmel bekannt werden, ein und überlässt den Landsknechten ein nahe gelegenes Dorf namens Beyt ein weil, wo sie spielen, mumschantzen, zechen und frölich seyn können.60 Fortan werden alle Landsknechte nach ihrem Tod dorthin verwiesen. Kap. 45:61 Nit lang hernach stirbt – ebenfalls in der Nähe von Mailand – ein frummer guͦ ter mann, der zwar sein Leben lang viel gegessen, aber nichts getrunken hat: Er erstickt an dem Schimmel, der von dem trockenen Brot in seinem Bauch bis in seine lufftrör und kele hinauf gewachsen ist.62 Als er an der Himmelspforte erscheint, erinnert sich Petrus noch an seine Begegnung mit den Landsknechten, will den Ankömmling deshalb ohne weiteres einlassen und stellt ihm einen Platz neben seiner bereits in den Himmel aufgenommenen Ehefrau in Aussicht. Dies behagt dem Mann jedoch ganz und gar nicht: Ist mein fraw, der böß teuffel, dainnen, so kumb oder will ich bey got nit hinein.63 Lieber wolle er nach Beit ein weil gehen und sich den Landsknechten zugesellen. Mit ihnen zecht er noch heute und begehrt nicht, in den Himmel zu kommen, denn der teufel würde in sunst mit dem bösen weib und kifechten wurm ewiglich beschissen haben.64 Kap. 109:65 Ein hinkender Schneider steht nach seinem Tod vor Petrus, der ihn nicht in den Himmel lassen will, weil er in seinem Leben den Leuten Tuch gestohlen habe. Nachdem der Schneider lang gebettelt hat, erbarmt sich Petrus schließlich doch. Zur selben Zeit will der Herrgott mit den himmlischen Heerscharen für den himmel heraus in einen garten spacieren gehn und sich erlustigen.66 Währenddessen soll der Schneider im Himmel aufpassen, dass nichts entwendet werde. Der Schneider steigt auf den vorübergehend vakanten göttlichen Thron und beobachtet von dort, wie auf Erden eine alte wüste vettel einer anderen Frau zwei Schleier stehlen will.67 Da er selbst Diebstahl nun verabscheut, weil ihn dies vor Petrus in solche Bedrängnis gebracht hat, ergreift er zornig Gottes Fußschemel und schleudert ihn auf die Übeltäterin, die sofort wegläuft und die Schleier liegen lässt. Als der Herrgott ihn später seiner Anmaßung wegen zur Rede stellt und zur Strafe aus dem Himmel weist, zieht auch der Schneider nach Beit ein Weil: Da ist er noch, zecht, ist guͦ ter ding.68
Beit ein Weil ist also in diesen Geschichten ähnlich wie das Fegefeuer ein Zwischenort, der den strikten Dualismus von Himmel und Hölle, Heil und Verdammnis abmildert. Im Fegefeuer jedoch wird durch abgestufte Strafen und durch Läuterung das Urteil lediglich vorbereitet; dessen letzt- und ewiggültige Gerechtigkeit wird auf diese Weise besser nachvollziehbar. Nach Beit ein Weil hingegen gelangen diejenigen, die sich dem Dualismus aus unterschiedlichen Gründen nicht einpassen lassen. Es handelt sich nicht um ein höllennahes Purgatorium vor dem Jüngsten Gericht, sondern um ein paradiesnahes und irdisch-kurzweiliges Refugium, das den Betroffenen nach den ablehnenden Entscheidungen der zuständigen Instanzen (Teufel, 60 61 62 63 64 65 66 67 68
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 60.20 und S. 60.22f. S. 60.29–62.2. S. 61.9. S. 61.19f. S. 62.1f. S. 124.19–126.11. S. 125.5f. S. 125.14. S. 126.10ff.
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Petrus, Gott) noch übrig bleibt.69 Seine nurmehr dem Namen nach vorläufige Existenz70 kompensiert nicht die Ambivalenzen des irdischen Lebens, sondern perpetuiert sie und hintergeht damit den unbedingten Dualismus göttlicher Gerechtigkeit. Beit ein Weil ist ein autonomer, diesem Dualismus entzogener Ort: Die Landsknechte selbst halten hier ir regiment.71 Liest man jeden der drei referierten Texte für sich, so stellt das Ausweichen auf den Zwischenort Beit ein Weil jeweils eine isolierte Pointierung ganz unterschiedlicher Herausforderungen für die Vorstellung eines Dualismus von Heil und Verdammnis dar: Bleibt auf diese Weise im einen Fall die Ambivalenz des Kriegshandwerks noch im Jenseits virulent, so wird im andern Fall die unauflösliche Bindung durch das (katholische) Ehesakrament durch seine Fortdauer noch im Himmel problematisch. Die dritte Geschichte schließlich spielt Paradoxien aus, die durch die legendenhaft konkretisierte Personalität eines allmächtigen einzigen Gottes aufgeworfen werden: Gott lässt die Menschen für eine Weile unbeaufsichtigt, um spazieren zu gehen. Der Schneider verhindert in der Zwischenzeit von Gottes Thron aus eben jene Sünde, die ihn selbst fast den Zutritt zum Himmel gekostet hätte. Gott wiederum verstößt den Schneider für die Anmaßung einer Strafgewalt, vor deren unerfüllbar universalem Anspruch er selbst längst resigniert hat, aus dem Himmel. Endgültig verdammen kann er ihn für eine Tat, die auf Erden wohl als gute zu gelten hätte, allerdings nicht. So wird der problematische Konnex von Schuld, Reue und Strafe im Horizont göttlicher Providenz durch die Einkehr des Schneiders in Beit ein Weil lediglich sistiert. Auch wenn die Texte also als je abgeschlossene rezipiert werden können, sind zumindest die ersten beiden auf eine Weise korreliert, die innerhalb der Sammlung nur ausnahmsweise begegnet: Bereits die ersten Worte des Kapitels 45 (Nit lang hernach […]) signalisieren einen zeitlichen Anschluss an die voranstehende Geschichte. Und wenn sich Petrus gegenüber dem um Einlass bittenden Ehemann an seine Begegnung mit den Landsknechten erinnert und durch diese Erinnerung sein gegenwärtiges Handeln motiviert wird, dann bestätigt sich darin nicht nur die Kontinuität einer Erzählwelt, sondern die zweite Geschichte zeigt sich darüber hinaus als Fortsetzung der ersten. Diese explizite und diegetische Korrelation regt die Suche nach übergreifendem Sinn an. Da die Schicksale der Landsknechte und des am Brot erstickten Mannes allerdings kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind, muss jedenfalls das durch den Ort Beit ein Weil dokumentierte Versagen des jenseitigen Dualismus stärker in den Vordergrund rücken. 69
70 71
Über die Aufnahme der Verstorbenen in Himmel oder Hölle wird hier – wie in vergleichbaren volkstümlichen Erzählmustern üblich – bereits unmittelbar nach deren Tod entschieden. Beit ist Imperativ von beiten: ›(er)warten‹. Frey 1896, S. 60.25.
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Signifikant ist diese Akzentuierung auch gegenüber den Prätexten in Bebels Sammlung: Bereits hier wird die zweite Geschichte zeitlich (non longo tempore post) und durch die motivierende Funktion der Erinnerung (praeteritorum memor) an die erste angeschlossen.72 Beit ein Weil existiert dort allerdings noch nicht: Petrus gewährt den Landsknechten schließlich doch Einlass in den Himmel, und der Mann, der nicht zu seiner Frau in den Himmel will, entfernt sich mit unbekanntem Ziel (nescio quorsum).73 Die weiteren beiden Texte der Gartengesellschaft, in denen das ›Sonderparadies‹ der Landsknechte genannt wird, folgen erst viele Seiten später (Kap. 6174 und 109). In ihnen wird weder explizit auf die narrative Etablierung des Ortes in Kapitel 44 zurückverwiesen, noch stehen sie untereinander und mit den ersten beiden Geschichten in einem engeren diegetischen Verhältnis. Nur ein Rezipient, der diese ersten Geschichten bereits gelesen hat, könnte alle vier Beit ein Weil-Texte retikulär korrelieren und den übergreifenden Sinnzusammenhang weiter entwickeln. Das Register unterstützt diese Relationierung nur sehr bedingt: Der Name Beit ein Weil kommt dort nicht vor; eine Gemeinsamkeit der Texte ließe sich allenfalls über das den Titelformulierungen implizite semantische Konzept ›Ort im Jenseits‹ erkennen,75 welches dann aber noch weitere Geschichten mit einschlösse.76
4. Die Lektüreexperimente haben zunächst den Eindruck bestätigt, dass in der Gartengesellschaft die akkumulierende und expansive ›Logik‹ des Sammelns kaum eingeschränkt erkennbar bleibt: Der Kompilator verzichtet offenbar auf die Einführung einer durchgängigen rhetorischen oder topologischen Ordnung; stattdessen betont er den Gestus des Sammelns im Sinne Cahns. Dabei werden die Einzeltexte prinzipiell als singuläre präsentiert, und es bleibt weitgehend dem Rezipienten überlassen, sie entsprechend punktuell zu rezipieren oder auch individuell neu zu arrangieren. Diesen Ordnungsverzicht stellen die ersten Texte der Sammlung geradezu demons 72 73 74
75
76
Bebel 1931, Buch I, Kap. 84f., S. 35f. Ebd., Kap. 85.7. Im Gegensatz zu den übrigen drei Texten bleibt in Kapitel 61 (Frey 1896, S. 75.14– 76.14) die intradiegetische Existenz des Ortes unentschieden: Die abschließende auktoriale Vermutung, der listige Protagonist der Geschichte könnte nach Beit ein Weil gelangt sein, steigert hier ironisch die Naivität der vom Protagonisten überlisteten Witwe, die glaubt, er könne ohne weiteres ins Paradies reisen und von dort auch wieder zurückkehren. Ebd., S. 154ff.: der landsknecht wonung […], wann sie gesterben (Kap. 44), himmel (Kap. 45), Paradis (Kap. 61), himmel (Kap. 109). Z. B. Kap. 10, 37, 39 und 129.
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trativ aus: Die Rekurrenz des Stichworts der Beschneidung in den Kapitelüberschriften indiziert gerade keinen semantischen Zusammenhang der Texte, sondern scheint eher die Pragmatik eines locker assoziativen mündlichen Erzählens im Buchmedium abzubilden. Der Verzicht auf eine konsequente syntagmatische Ordnung bedeutet jedoch nicht, dass die Sinnkonstitution und die Verteilung diskursiver Relevanzen gänzlich auf den Rezipienten verschoben wäre. So kann man am Beispiel der Beit ein Weil-Geschichten einerseits sehen, dass die sukzessive Abfolge der Texte durchaus fallweise semantisch funktionalisiert sein kann; und andererseits lässt sich an dieser Textgruppe besonders gut nachvollziehen, wie der Kompilator über das Sammlungssyntagma hinweg paradigmatische Akzente setzt, die die Aufmerksamkeit des Rezipienten lenken und ihn zu retikulären Relationierungen zwischen den Texten anregen können: Das Motiv des jenseitigen Zwischenortes wird von Frey nicht nur in den beiden ersten Geschichten (Kap. 44 und 45) neu gegenüber den Prätexten ergänzt, sondern auch in den beiden anderen (Kap. 61 und 109).77 Aus der Vernetzung dieser recht unterschiedlichen Geschichten ergibt sich schwerlich eine semantische Einheit; sie können aber durchaus als ein narrativer Zusammenhang rezipiert werden, der einen bestimmten Problemkomplex von verschiedenen Seiten aus in den Blick nehmen lässt, ohne dass diese Ansichten systematisiert werden müssten. Solche retikulären Relationierungen kann der Kompilator mehr oder minder deutlich anreizen und damit fallweise ein spezifisch in der ›Logik‹ der Sammlung angelegtes diskursives Potential nutzen.
Bibliographie Quellen Bebel, Heinrich: Facetien. Drei Bücher. Historisch-kritische Ausgabe von Gustav Bebermeyer. Leipzig: Hiersemann 1931 (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 276). Frey, Jakob: Gartengesellschaft (1556). Hrsg. von Johannes Bolte. Tübingen: Laupp Jr. 1896 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 209).
Forschungsliteratur Bachorski, Hans-Jürgen: »Poggios Facetien und das Problem der Performativität des toten Witzes«, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 11 (2001), S. 318–335. Bolte, Johannes: »Einleitung«, in: Jakob Frey: Gartengesellschaft (1556). Hrsg. von Johannes Bolte. Tübingen: Laupp Jr. 1896 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 209), S. VII–XXXIV. 77
Bei Bebel (1931, Buch I, Kap. 19, S. 11) wird der Schneider weder gerügt noch bestraft, und er bleibt im Himmel. Der Text endet mit Gottes resignativer Klage und einem passenden Ovid-Zitat.
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Cahn, Michael: »Das Schwanken zwischen Abfall und Wert. Zur kulturellen Hermeneutik des Sammlers«, in: Merkur 45 (1991), S. 674–690. Carruthers, Mary: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture. Cambridge: Cambridge University Press 1990 (Cambridge Studies in Medieval Literature 10). Dieckow, Peter C. M.: »Um jetzt der ›Katzenborischen art Rollwagenbücher‹ zu gedenken – Zur Erforschung deutschsprachiger Prosaerzählsammlungen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts«, in: Euphorion 90 (1996), S. 76–133. Friedrich, Udo: »Von der rhetorischen zur topologischen Ordnung. Der Wandel der Wissensordnungen im Übergang zur Frühen Neuzeit«, in: Medienheft Dossier 22 (5.10.2004), S. 9–14. Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1510). Müller, Jan-Dirk: »Zur Einführung. Sebastian Franck: Der Schreiber als Kompilator«, in: ders. (Hrsg.): Sebastian Franck (1499–1542). Wiesbaden: Harrassowitz 1993 (Wolfenbütteler Forschungen 56), S. 13–38. – »Auctor – Actor – Author. Einige Anmerkungen zum Verständnis vom Autor in lateinischen Schriften des frühen und hohen Mittelalters«, in: Felix P. Ingold/Werner Wunderlich (Hrsg.): Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft. St. Gallen: UVK 1995, S. 17–31. – »Aufführung – Autor – Werk. Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion«, in: Nigel F. Palmer / Hans-Jochen Schiewer (Hrsg.): Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung 9.– 11. Oktober 1997. Tübingen: Niemeyer 1999, S. 149–161. Röcke, Werner: »Aggression und Disziplin. Gebrauchsformen des Schwanks in deutschen Erzählsammlungen des 16. Jahrhunderts«, in: Walter Haug / Burghart Wachinger (Hrsg.): Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1993 (Fortuna Vitrea 8), S. 106–129. Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg: Meiner 1983 (Paradeigmata 1). Straßner, Erich: Schwank. 2., überarbeitete und ergänzte Aufl. Stuttgart: Metzler 1978 (Sammlung Metzler, Abt. E: Poetik 77). Strohschneider, Peter: Art. »Schwank«, in: Walther Killy (Hrsg.): Literaturlexikon. Bd. 14: Begriffe, Realien, Methoden. Gütersloh/München: Bertelsmann 1993, S. 354f. – »Kippfiguren. Erzählmuster des Schwankromans und ökonomische Kulturmuster in Strickers ›Amis‹«, in: Jan-Dirk Müller (Hrsg.): Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik. München: Oldenbourg 2007 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 64), S. 163–190. – »Heilswunder und fauler Zauber. Repräsentationen religiöser Praxis in frühmodernen Schwankerzählungen«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 129 (2007), S. 438–468. Waltenberger, Michael: »›Einfachheit‹ und Partikularität. Zur textuellen und diskursiven Konstitution schwankhaften Erzählens«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 56 (2006), S. 265–287. Wegmann, Nikolaus: »Im Reich der Philologie. Vom Sammeln und Urteilen«, in: Christoph König/Eberhard Lämmert (Hrsg.): Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900. Frankfurt a. M.: Fischer 1999 (Forum Wissenschaft: Figuren des Wissens), S. 260–272. Worstbrock, Franz Josef: »Wiedererzählen und Übersetzen«, in: Walter Haug (Hrsg.): Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Tübingen: Niemeyer 1999 (Fortuna Vitrea 16), S. 128–142.
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Die Zerdehnung der Pointe Inszenierte Mündlichkeit und sozialer common sense in Jakob Freys Gartengesellschaft Mit Pointen verhält es sich ähnlich wie mit Witzen: Sie leben von ihrer ›Aufführung‹ oder Inszenierung, lassen sich aber schwer – zumal im Nachhinein – erklären. Natürlich kann man das bei etwas begriffsstutzigen Zeitgenossen versuchen. Wir wissen aber auch, dass damit der ›Witz‹ der Pointe oder des Witzes verspielt ist und dieser – wie wir ja auch gern sagen – einen langen ›Bart‹ bekommt.1 Länge aber, so scheint es, steht der Pointe ebenso entgegen wie ihre nachträgliche Erläuterung. Georg Christoph Lichtenberg zum Beispiel ist ein Meister dieser Kürze. Und es ist wohl auch kein Zufall, dass er die in seinen Sudelbüchern gesammelten witzigen Bemerkungen, Aphorismen und kleinen Anekdoten in aller Regel unkommentiert gelassen hat. Gleichwohl wird an ihnen sofort deutlich, worin Technik und Logik der Pointe bestehen. Wenn Lichtenberg beispielsweise in einer der kürzesten seiner Bemerkungen eher beiläufig fragt, wer denn »in jedem Fall Tugend von Halseisen-Furcht unterscheiden« könne,2 oder wenn er einfach feststellt, dass der Umstand, »[d]aß in den Kirchen gepredigt wird […] die Blitzableiter auf ihnen nicht unnötig« mache,3 oder dass »[s]ich in einen Ochsen [zu] verwandeln […] noch kein Selbst-Mord« sei,4 so wird der Effekt der Pointe schlagartig klar. Pointen setzen auf die plötzliche Wende, auf die überraschend neue Perspektive der Bewertung von Tugend oder kirchlichem Heilsversprechen; auf die nicht erwartete Verschränkung gänzlich inkongruenter Sachverhalte: Wer würde normalerweise schon, wenn er klaren Verstandes ist, eine Predigt mit einem Blitzableiter oder die Blödheit eines Menschen mit seinem Selbstmord in Verbindung bringen? Pointen hingegen setzen sich über derlei Normalität hinweg. Sie bieten nicht das Gewohnte und ohnehin Bekannte, sondern zwingen dazu, das Ungewohnte, ja Unzulässige zu denken. Dazu bedürfen sie keiner Erläuterungen oder sonstiger Abfederungen des Ungewohnten; sie beschränken sich auf die unverhoffte Spitze, den plötzlichen Stich, der durch nichts vorbereitet wird, 1
2 3 4
Zu dieser Redensart Röhrich 2003, Bd. 1, S. 155. Vgl. auch den französischen Ausruf »la barbe!«, mit dem man seine Ungeduld über einen langweiligen Witz oder eine langweilige Erzählung ausdrückt (ebd.). Lichtenberg 1973, Heft D, Nr. 14, S. 229. Ebd., Heft L, Nr. 67, S. 860. Ebd., Heft D, Nr. 169, S. 255.
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sondern seinen Effekt – das Gelächter – ausschließlich aus dieser knappen überraschenden Wende erfährt. Pointen also machen nicht viele Worte. Sie setzen – ebenso wie die militärische Semantik des lateinischen puncta, von dem die französische »pointe« abgeleitet ist – auf die Gewalt der Überrumpelung und der erzwungenen Einsicht in die Überlegenheit ihrer Wendung. Wenn Kant in seiner bekannten Formulierung aus der Kritik der Urteilskraft das Lachen als einen »Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts« definiert,5 so ist damit der Effekt der Pointe sehr präzise umschrieben: Pointen entziehen uns den Boden der gewohnten Deutungen und Wertungen von Welt. Ihre Aktionsform ist die Überraschung, ihre Zeitform die Plötzlichkeit der Einsicht, dass die Welt auch ganz anders sein kann.6 Die Kunst der Pointe kann bekanntlich in ganz verschiedenen Gattungen Verwendung finden. Von Witzen und Aphorismen war schon die Rede. Zu nennen wären auch Epigramme, Anekdoten, Sketche und so weiter. Im Mittelalter ist die wichtigste pointierte Form wohl die Fazetie.7 Fazetien sind Spielformen einer höfisch-urbanen Gesprächskultur, die in der Exklusivität gebildeter Kleriker, Sekretäre und anderer Intellektueller am päpstlichen Hof in Rom beziehungsweise im Umfeld der Academia der Medici im Florenz des 15. Jahrhunderts begann und für die Ausbildung und Weiterentwicklung der Schwankdichtung des Spätmittelalters – so auch für die deutschen Schwanksammlungen des 16. Jahrhunderts – außerordentlich wichtig wurde.8 Fraglich ist nur, wie dieser Zusammenhang von Fazetie und Prosaschwank zu denken ist.9 Noch Erich Straßner hat in seinem zuerst 1968 erschienenen Schwank-Büchlein den »Übergang von der auf sprachlichen Effekt zielenden italienischen Facetie zum deutschen Prosaschwank«10 als »Schwergewichtsverschiebung […] von der ironischen Wirkung der Rede zur komischen Wirkung der Tat«11 beschrieben und da 5 6 7 8
9 10 11
Kant 2006, S. 276. Vgl. Köhler/Müller 2003, S. 115f. Vgl. Barner 1997 und den wichtigen Aufsatz von Barner 1993. Zu den Anfängen der Fazetiendichtung und zur Witzlogik in den Fazetien Poggio Bracciolinis und Polizianos vgl. Röcke 1998, bes. S. 82–87. Poggio, der als päpstlicher Sekretär eine Zeitlang zum Freundeskreis der Medici in Florenz gehörte, darf als einer der produktivsten lateinischen Autoren des italienischen Humanismus gelten. Angelo Ambrogini, genannt Poliziano, war persönlicher Sekretär Lorenzos de Medici und Lehrer seiner Söhne Piero und Giovanni. In den Detti piacevoli fasste Poliziano eine Reihe von geistreichen Bemerkungen und Reaktionen, witzigen Einfällen und komischen Anekdoten aus dem Umfeld Lorenzos de Medici zu einer Fazetiensammlung zusammen. Wesselski 1929, S. XVI–XIX, nimmt an, dass eine Art Tagebuch Polizianos aus der Zeit seiner Tätigkeit als Sekretär Lorenzos de Medici die Grundlage der Detti piacevoli bildet. Vgl. dazu auch schon Stroszeck 1970. Straßner 1978, S. 61. Ebd.; Straßner zitiert hier zustimmend ein Diktum von Kindermann 1929, S. 15.
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mit die Kunst der Pointe für die Prosaschwänke des 16. Jahrhunderts weitgehend ausgeschlossen. Nun ist es zweifellos richtig, dass in den Schwanksammlungen des 16. Jahrhunderts, so auch in Jakob Freys Gartengesellschaft,12 die ich im Folgenden zugrunde lege, die radikal verknappte Erzählweise und Ausrichtung ausschließlich auf die Pointe verändert wird: Frey ergänzt seine Vorlagen durch Orts- und Personennamen, fügt neue Erzählsequenzen hinzu, motiviert und kommentiert das Geschehen. Das heißt aber nicht, dass in seinen Schwänken die Rede durch die Tat ersetzt, die Kunst der Pointe fehlen oder gar durch die von Straßner so gern beanspruchte ›Behaglichkeit‹13 des Erzählens ersetzt würde – im Gegenteil: In Freys Gartengesellschaft – so meine These – wird nicht weniger gesprochen, verspottet und das Arsenal vertrauter Deutungen und Wertungen durch die Kunst der Pointe auf den Kopf gestellt. Nur geschieht das auf andere Weise als in Poggios Liber facetiarum (Erstdruck 1470), Heinrich Bebels Facetiae (drei Bücher, 1508–1512) oder Johann Adelphus Mulings Margarita Facetiarum (1508), um nur die wichtigsten Fazetien-Vorlagen seiner Schwänke zu nennen. Den Unterschied sehe ich vor allem darin, dass Frey sich zwar der Pointe bedient, sie aber in ihrem Kern verändert. Während beispielsweise Poggio Bracciolini – darin Lichtenberg sehr nahe – die Kürze der Pointe kultiviert, die überraschende Wende und Plötzlichkeit neuer Erfahrungen und Einsichten ermöglicht und auf diese Weise Kants Begründung des Gelächters »aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts« weitgehend entspricht, ist bei Frey diese Konzentration der Pointe auf den einen Punkt aufgehoben. Zwar geht es auch Frey um erstaunliche Rede- und Handlungsweisen, um Brüche mit dem Vertrauten und um neue Perspektiven auf das bislang Selbstverständliche. Und häufig genug geht er dabei – jedenfalls wenn seine Vorlage Poggios, Bebels oder Mulings Fazetiensammlungen entstammt – auch von einer Pointe aus. Er nimmt aber – und darin sehe ich einen gattungs- und mentalitätsgeschichtlich höchst relevanten Vorgang – Erweiterungen an ihr vor: Er reduziert das Überraschungsmoment, indem er die Pointe variiert und von verschiedenen Seiten beleuchtet, weitere Beispiele für sie anführt und sie verschiedentlich auch kommentiert und weiterdenkt. Das alles geschieht redend und nicht handelnd. Von einer »Schwergewichtsverschiebung […] von der ironischen Wirkung der Rede zur komischen Wirkung der Tat«14 kann also keine Rede sein. Die Modifikation der Pointe ist in Freys Gartengesellschaft – und auf je unterschiedliche Weise auch in weiteren Schwanksammlungen des 16. Jahrhunderts – unter anderen Aspekten bemerkenswert. Ich habe 12 13
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Frey 1896. Zu Leben und Werk vgl. Bachorski 1989. Straßner 1978, S. 68: Freys »Stil ist leicht, dem schlichten Volkston angepaßt. Er plaudert behaglich, pikant und frivol.« Ebd., S. 58.
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die Paradoxie, dass die Pointe in ihrer besonderen Technik – also hinsichtlich ihrer Kürze sowie ihrer Konzentration auf die überraschende Wende und eine plötzliche Erkenntnis – verändert und trotzdem fortgeschrieben wird, mit der Formel von der Zerdehnung der Pointe begrifflich zu fassen versucht. Damit ist gemeint, dass (1.) die Kürze der Fazetie durch Zusätze unterschiedlichster Art erweitert wird, (2.) die Überraschung der Pointe in dem Maße zurückgenommen wird, in dem die Pointe verlängert und vervielfacht wird, und dass (3.) die Plötzlichkeit der Pointe auf Dauer gestellt wird. Das aber bedeutet, dass die Erkenntnis bislang nicht denkbarer Zusammenhänge und Handlungsperspektiven ebenfalls auf Dauer gestellt wird, also gerade nicht – oder jedenfalls nicht ausschließlich – aus dem überraschend Neuen, sondern aus der Verlängerung und Variation der Pointe erwächst. Diese Erweiterung des Gesichtskreises durch die zerdehnte Pointe betrifft in Freys Schwankerzählungen unterschiedliche Bereiche, so beispielsweise (1.) die Reflexion und Transgression bislang selbstverständlich gültiger religiöser Erfahrungen, Glaubensüberzeugungen und ritueller Praktiken, die in den Schwankerzählungen unterlaufen oder sogar in Frage gestellt werden, wobei sich zugleich die Umrisse eines neuen religiösen Habitus zeigen; (2.) die Reflexion sozialer Erfahrungen und Deutungsmuster, an der vor allem interessiert, welche sozialen Stereotypen hier in Frage gestellt oder aber neu generiert werden; (3.) eine narrative Lust am Unsinn, die sich – so meine zweite These – aus der zunehmenden Reglementierung des Alltags, aber auch aus den evasiven Möglichkeiten der Gesprächssituation einer ›Gartengesellschaft‹ ergeben könnte, in der ein Wort das andere gibt und die Kunst der Erfindung sich gerade in einer Lust am Unsinn unter Beweis stellen mag.15
1. Transgressionen16 des Heiligen und des Profanen Transgressionen von Normen sind – so Alois Hahn in seinem wichtigen Aufsatz über »Transgression und Innovation« – nicht nur unvermeidlich, sondern auch funktional notwendig für die Erhaltung von Normen. Das gilt insbesondere für religiöse und soziale Normen. In beiden Fällen sei besonders der Umstand von Interesse, dass die Transgression der Norm Empörung (»Efferveszenz«) hervorrufe, gerade diese Empörung aber dazu führe, dass die Norm erneut legitimiert und befestigt werde.17 Allerdings 15
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Zur Dynamik des Erzählens in der Kommunikationssituation einer Erzählrunde, eines gemeinsamen Essens bei Tisch und Ähnlichem siehe auch schon Wachinger 1993. Zu unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten und Gebrauchsformen des Transgressionsbegriffs vgl. Audehm/Velten 2007, S. 24–30. Hahn 2002, S. 454. Andreas Kablitz hat die normenstabilisierende Funktion von Transgressionen noch auf weitere kulturelle und religiöse Bereiche ausgedehnt und sogar
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muss diese normaffirmative Wirkung keineswegs stets jene der Infragestellung, ja Verhöhnung oder gar Zerstörung von Normen relativieren oder gar aufheben. Wenn bei Poggio – und damit komme ich zu meinem ersten Textbeispiel – zwei Bauern zu einem Bildschnitzer kommen, um ein neues Kruzifix zu kaufen, und dieser sie – aus Spaß, wie Poggio eigens betont – fragt, »ob sie das Kruzifix lebendig oder tot haben wollten«,18 so ist damit der selbstverständliche Geltungsbereich des Kerns des christlichen Glaubens: die Akzeptanz des Todes Christi als einziger Voraussetzung menschlicher Erlösung, schon grundsätzlich in Frage gestellt. Die Pointe der Erzählung aber folgt erst aus dieser Transgression christlichen Selbstverständnisses. Denn nach einer kurzen Beratung gelangen die beiden Bauern »endlich zu dem Schlusse, daß sie es lieber lebendig haben wollten; denn wenn es ihren Mitbürgern nicht gefiele, würden sie es ja sofort töten können.«19 Was ist die Technik und was ist die Funktion dieser Pointe? Jesu Tod am Kreuz ist ein in mehrfacher Hinsicht einmaliges Ereignis: Es ist zeitlich einmalig, da es zwar in jeder Messe und jedem Abendmahl erneut vollzogen wird und insofern gegenwärtig, zugleich aber historisch und immer schon geschehen ist. Es ist in personaler Hinsicht einmalig, da dieses Opfer nur durch den historischen Jesus, den Sohn Gottes, an sich selbst vollzogen werden konnte, nicht durch eine andere Person und auch nicht durch sein Bild. Schließlich ist es hinsichtlich der Täter ein einmaliges Ereignis, da nur die Juden als Gottesmörder in Frage kommen und nicht etwa beliebige italienische Bauern; der christliche Antijudaismus in seiner ganzen Schärfe kann dafür als Beleg genannt werden. Theologisch gesprochen markiert der Tod Jesu am Kreuz den καιρός der Heilsgeschichte. Es ist dieser einmalige Akt des Opfers des Menschensohns, der die Erlösung des Menschen ermöglicht. Er ist nicht beliebig, sondern an den einen historischen Moment gebunden.20
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19 20
das »zutiefst ordnungsstützende Moment alles Karnevalesken« behauptet (Kablitz 2003, S. 39f.). Zwar könne es auf einen ersten und flüchtigen Blick scheinen, dass Transgressionen alle Kultur gefährden und als »Ordnungsstörungen« die Leistungen der Kultur in Frage zu stellen drohen (ebd., S. 39). Kablitz zufolge ist jedoch das Gegenteil der Fall: »Noch die Manifestation dessen, was die Kultur ausgrenzt, […] gibt – etwa im Lachen – die Kultur selbst zu erkennen« (ebd., S. 40). Poggio 1967, Nr. 12, S. 44. Ich zitiere hier und im Folgenden Poggios Fazetien nach Floerkes Übersetzung. Ebd. Zum Begriff καιρός, der im Unterschied zu χρόνος nach der Qualität einer Zeit, nach ihrem Nutzen und ihrer Bedeutung für ein bestimmtes Ziel fragt, vgl. Englert 2001, Sp. 739: »Die Qualität einer Zeit läßt sich nicht wie die Uhrzeit messen, sondern kann nur durch Erfahrung und Intuition, die ›Zeichen der Zeit‹ deutend, erschlossen werden: als der Augenblick, in dem etwas an der Zeit ist, seine rechte Zeit bzw. seinen fruchtbaren Augenblick hat.« Im Neuen Testament ist dieser καιρός auf die Menschwerdung des Gottessohnes und seinen Entscheidungsruf (Mk 1,15) konzentriert und erfährt dadurch seine Dramatik: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!« Das Bemühen christlicher Lehrer und Prediger, die ›Zeichen der Zeit‹ zu sehen und zu denken, erhält so seinen Sinn.
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Der Skandal in Poggios Erzählung besteht darin, dass die Bauern eben diese Beliebigkeit unterstellen. Sie scheren sich nicht um den καιρός, sondern erörtern die Möglichkeit der Wahl zwischen einem toten oder einem lebendigen Christus, die Möglichkeit, dass sie selbst als Gottesmörder agieren könnten und dass sie selbst – und nicht Gott – über das Gottesopfer entscheiden könnten. Damit aber stellt die Pointe die zentrale Botschaft christlicher Verkündigung selbst auf den Kopf. Sie eröffnet die Denkmöglichkeit, dass die Heilsgeschichte auch ganz anders buchstabiert, dass das Heiligste in die Profanität und Alltäglichkeit des dörflichen Lebens überführt werden könnte. Insofern liegt die Transgression vom Heiligen ins Profane hier in der Pointe selbst. Zwar hat der Bildschnitzer das mit seiner Frage an die Bauern vorbereitet. Sie aber vollziehen den Normbruch, indem sie die Einmaligkeit des καιρός auflösen und stattdessen durch die Möglichkeit ersetzen, den Gottesmord selbst und jeweils neu zu vollziehen. Freys entsprechende Erzählung – das zweite Kapitel seiner Gartengesellschaft21 – folgt Poggios Fazetie in Aufbau und Struktur genau, doch deren Pointe – die Verschiebung der Einmaligkeit des Gottesmordes in weitgehende zeitliche Beliebigkeit – wird motiviert und plausibilisiert und auf diese Weise erheblich verlängert. Dies geschieht auf unterschiedliche Weise. Einerseits führt Frey ein ökonomisches Kalkül ein: Auf die Frage der Bauern, ob denn der tote oder der lebendige hergot teurer sei, antwortet der Bildschnitzer, der todt neme mehr arbeit und were kostlicher dann der lebendig, darumb so wer der lebendig an gelt dester geringer.22 Andererseits wird die Pointe, dass man den lebendigen hergott ja totschlagen könne, wenn er der Gemeinde nicht gefalle, höchst pragmatisch begründet: es were one das ebenn die marter woch, das er sich leiden müste und man seltzam [›wie sonst nie‹, ›anders als sonst‹] mit ime umbgienge.23 Dabei haben die Bauern aus ihrer Sicht wohl durchaus Recht: Die Gemeinde muss rechnen, und zeitlich ›passen‹ muss ihr Gottesmord auch. Gleichwohl liegt gerade in diesem Pragmatismus das Problem. Denn die Einmaligkeit des Selbstopfers Jesu ist weder finanziell berechenbar noch mit der ganz praktischen Überlegung vermittelbar, dass gerade die rituellen Übungen der Karwoche auch noch um diesen erneuten Gottesmord erweitert werden könnten. Es ist die Vernunft des Arguments, die das Heilsgeschehen nicht nur konterkariert und nivelliert, sondern auch überlagert und hinsichtlich seines Status erheblich verändert. Oder anders gesagt: Ökonomische Vernunft und Alltagspragmatik erweisen sich als die Orientierungen, die in der Zerdehnung der Pointe die einmalige Dramatik des Opfertodes Christi entdramatisieren. Das bedeutet weder eine Säkularisierung noch eine Infragestellung der christli 21 22 23
Frey 1896, S. 11.23–12.13. Ebd., S. 12.5ff. Ebd., S. 12.11ff.
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chen Verkündigung, wohl aber einen neuen, pragmatischen Umgang mit ihr, der die Exzeptionalität des καιρός in die Notwendigkeiten des Alltags und in den common sense darüber, was in dieser Situation vernünftig und richtig ist, zurückbiegt. Wo allerdings alles gleich gilt, da wird es leicht auch gleichgültig – ich verweise auf Nietzsches bekanntes Aperçu über den Historiker, dem die Historie gleichgültig werde, wenn er meine, dass sie ihn »gar nichts angehe«.24 In Freys Gartengesellschaft stellt diese Entdramatisierung und Entauratisierung des Heilsgeschehens zugunsten des common sense der Gemeinde eine Möglichkeit dar, die Transgression des Heiligen zum Profanen literarisch zu organisieren. Sie ruft keine Empörung hervor, die – nach Alois Hahn – die religiöse Norm stabilisieren würde, sondern schafft ein Einverständnis über einen vernünftigen und finanziell vorteilhaften Umgang mit dem Heiligen. In meinem nächsten Textbeispiel betrifft die Entauratisierung des Heilsgeschehens nicht das Opfer Jesu selbst, sondern seine rituell-liturgische Wiederholung in der Messfeier: Freys fünftes Kapitel Von einem Türcken, der in der christen kirchen zuͦ opffer gieng25 basiert auf einer Facetia Turci de Christianis aus Johann Adelphus Mulings Margarita facetiarum. Adelphus’ Facetiensammlung ist in der Forschung bislang nicht besonders geschätzt worden.26 Während Straßner bei ihm schon den »Verfall« der Gattung sieht, der dann im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts – bei Ottmar Luscinius Nachtigall oder Johann Gast – unübersehbar geworden sei,27 attestiert ihm Hans Rupprich in seiner Literaturgeschichte »wenig Humor, aber desto schärfere […] Satire gegen die sittliche Verwahrlosung und mangelhafte Bildung der Geistlichkeit«.28 Nun ist Adelphus’ antiklerikale Schärfe zwar unüberhörbar, doch scheint sie mir – im Gegensatz zu Rupprich – außerordentlich komisch. Dabei gewinnt Adelphus den komischen Effekt allerdings nicht durch die traditionelle Pointe der knappen und überraschenden Wende des Geschehens, wie Rupprich und Straßner dies wohl erwarten würden, sondern durch einen befremdenden Blick auf das Vertraute, der zudem narrativ, also auf Länge, nicht auf Kürze angelegt ist. Auch in der langen Dauer des fremden Blicks aber vollzieht sich – ähnlich wie in 24
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Nietzsche 1999, S. 293.6f.; vgl. auch die Formulierung: »[…] und so ist es gleichgültig was ihr treibt, wenn nur die Geschichte selbst schön ›objectiv‹ bewahrt bleibt« (ebd., S. 284.4ff.). Vgl. zu dieser Erzählung auch im vorliegenden Band Lasch, S. 277–279. Zu Leben und Werk vgl. den Überblicksartikel von Holeczek 1990. Die Margarita facetiarum ist in der Ausgabe Adelphus 1974–1980 nicht enthalten; ein Digitalisat des Erstdrucks durch die Bayerische Staatsbibliothek ist im Internet verfügbar (http:// mdz10.bib-bvb.de/~db/bsb00006355/images/index.html). Ein Abdruck der Facetia Turci de Christianis nach dem Straßburger Druck von 1508 findet sich im Anhang zu Frey 1896, S. 169.9–28. Vgl. Straßner 1978, S. 62. Geschichte der deutschen Literatur 1994, S. 595.
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meinem ersten Textbeispiel – eine Transgression vom Heiligen ins Profane, die zweifellos komisch gewirkt hat. Jakob Frey hat diese Technik in seiner Bearbeitung fortgesetzt und die zerdehnte Pointe durch weitere Details ergänzt, damit aber den komischen Effekt noch verstärkt: Der türkische Kaiser hat einen seiner Beamten ausgeschickt, um der christen glauben und ceremonien zuͦ erkundigen. Als dieser von seiner Reise nach Italien zurückkehrt, erzählt er dem Kaiser, wie er in einer Kirche zu Pisa die christliche Messe wahrgenommen hat. Ich gieng zuͦ Pisa in ire kirchen und sahe ein beschornen narren, in seiden und samet bekleydet, vor einem stain hauffen stehn, […] der het – wie Jakob Frey über die Vorlage hinaus hinzufügt – ein groß gemürmels und langs gfecht mit ime selbs, und thet im niemand nichts.29 Dann habe der Narr sich umgedreht und die Leute gerufen, woraufhin alle Christen in der Kirche zu ihm gelaufen seien, ihm Geld gegeben sowie einen lumpen an seinem Arm geküsst hätten.30 Dies habe auch er – der türkische Beobachter – getan, daz ich der narrheit möchte gnuͦ g zuͦ sehen.31 Schließlich – und auch dieses Detail ergänzt Jakob Frey – zeucht der Narr ein stecken aus dem wasser und schlecht umb sich, da laufft yederman auß der kirchen, unnd lassend in allein darinnen.32 Wieso lachen wir über diese Erzählung? Johann Adelphus und ebenso Jakob Frey erzählen den Vollzug der heiligen Messe ganz neu. Sie bieten eine Verkehrung des Vertrauten und Erwartbaren, realisieren diese Verkehrung aber nicht mittels einer »plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts«, sondern mit einer ganzen Reihe höchst befremdlicher Beobachtungen, die allerdings an vertraute Bilder und Figuren angeschlossen werden. Denn Frey lässt den Priester nicht nur als narren bezeichnen, er macht ihn auch dazu. Es ist dieser performative Aspekt der Erzählung – den Jakob Frey im Übrigen gegenüber Johann Adelphus verstärkt hat –, der uns lachen macht; so zumindest gemäß Odo Marquards inzwischen schon klassischer These, dass »[k]omisch ist und zum Lachen bringt, was im offiziell Geltenden das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden läßt«.33 Zwar hat die Narrheit in Gestalt des ›Narren in Christo‹ seit der paulinischen Theologie im christlichen Selbstverständnis ihren festen Platz.34 In Freys Erzählung jedoch wird das Ritualhandeln des Priesters zum Ausbruch närrischer Gewalt, die Messe zur Narrenmesse. Darauf ver 29 30 31 32 33 34
Frey 1896, S. 14.20–24. Ebd., S. 14.25–28. Ebd., S. 14.31. Ebd., S. 14.32ff. Marquard 1976, S. 141. Vgl. dazu 1 Kor 4,10: »Wir stehen als Toren da um Christi Willen, ihr dagegen seid kluge Leute in Christus. Wir sind schwach, ihr seid stark; ihr seid angesehen, wir sind verachtet.« Zu den heiligen Narren siehe Hauptmann 2003, zur entsprechenden Praxis in der Ostkirche Hauptmann 1959.
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weist nicht nur sein kahler Schädel – ein typisches Attribut des Narren, das im Übrigen schon als Kontrafraktur der Tonsur angesehen worden ist35 –, sondern auch der Umstand, dass er Selbstgespräche führt und schließlich mit einem stecken – eine offensichtliche Anspielung auf die Marotte des Narren36 – um sich schlägt, so dass alle Leute ihn verlassen. Gewaltdrohung, Isolation und körperliche Attribute wie der kahle Schädel sind die einzelnen Elemente, mittels derer Frey die Transgression vom Heiligen zum Niederen, vom Priester zum Narren vollzieht. Ein Vollzug aber meint eine lange Dauer, nicht den Augenblick der Pointe. Gleichwohl eröffnet auch er die Möglichkeit der Überraschung, nur erwächst sie aus der narrativen Zerdehnung, nicht aus einer pointierten Kürze. Das gilt auch für den Abschluss der Erzählung, der auf eine Pointe hinzusteuern scheint, dann aber wiederum nur deren Zerdehnung bietet. Auch in diesem Fall steht ein ökonomisches Kalkül am Schluss. Denn auch der türkische Beobachter hatte dem Priester Geld gegeben, um mehr von der christlichen Narrheit zu erfahren. Der türkische Kaiser indessen wirft ihm vor, nicht der Priester, sondern er selbst sei der Narr gewesen, da der Priester ihn um sein Geld gebracht habe. Schließlich sei es ein Zeichen von Weisheit, das sich underweilen einer zum narren machen laßt, uff das er von andern das gelt mit geschicklicheit […] bringe. Deshalben bistu ein grösserer narr dann er, das es dir nit gefallen und du auch nit waist, warumb sie es thuͦ n, dich nit dester weniger umb dein golt hast bescheyssen und betriegen lassen.37
Adelphus bietet an dieser Stelle nur eine moralische conclusio. Frey hingegen formuliert die neue, allgemein anerkannte Logik des Gewinns, die auf Gerissenheit und Betrug setzt. Nach dieser Logik kann es weise sein, den Narren zu spielen, weil man gerade damit seine Überlegenheit ausspielen kann. Insofern sehe ich die Besonderheit von Freys Erzählung darin, dass nicht nur die Karnevalisierung der heiligen Messe,38 sondern zugleich auch die Artikulation einer ›Wirtschaftsgesinnung‹ der Übervorteilung und des Gewinns auf Kosten anderer39 nicht in der Kürze der Pointe, sondern in der langen Dauer einer Erzählung realisiert wird. Diese Zerdehnung der Pointe ist – so meine These – für Freys Transgressionen vom Heiligen zum Profanen, Alltäglichen und Lächerlichen konstitutiv.40 Dass sie auch 35
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Zum kahlen Schädel des Narren und seiner möglichen Deutung als Kontrafraktur der Mönchstonsur vgl. Mezger 1993, Sp. 1024. Vgl. ebd. sowie Velten 2005. Frey 1896, S. 15.12–18. Zu Begriff und Konzept der Karnevalisierung im Anschluss an Bachtins RabelaisBuch sowie zu den daran anschließenden Arbeiten Kristevas und Todorovs vgl. Bachorski 2000. Vgl. Salin 1930, S. 421–427, und Tawney 1946. Vgl. auch Frey 1896, Kap. 85, S. 100.29–101.24: Ein bischoff aß repphüner an eim freytag für visch. Die Erzählung handelt von dem Bischof, der am Freitag gegen das
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im Hinblick auf die Reflexion sozialer Erfahrungen in Freys Erzählungen strukturell konstitutiv ist, will ich im folgenden Abschnitt zeigen.
2. Soziale Erfahrungen und die lange Dauer des Erzählens Heinrich Bebel wird, anders als Johann Adelphus Muling, in der Literaturwissenschaft seit jeher hoch geschätzt. Er gilt als eine Art deutscher Poggio Bracciolini, der die »scharf pointierte Prägnanz« von dessen Facetien mit einer Vorliebe für Alltag und Milieu seiner schwäbischen Heimat verbunden habe.41 Nun ist diese Rückbindung der lateinisch-italienischen Facetienkunst an seinen schwäbischen Erfahrungsraum in Bebels Facetiae deutlich genug. Weniger klar ist hingegen, ob und inwieweit von ihm auch soziale Verschiebungen oder Veränderungen des sozialen Selbstverständnisses reflektiert werden, die für das frühe 16. Jahrhundert kennzeichnend sind. Ein Vergleich mit Jakob Freys Gartengesellschaft, in der zahlreiche Fazetien Bebels aufgegriffen und weitergeschrieben werden, ist hier meines Erachtens aufschlussreich. So ist beispielsweise die Erzählung zu der Frage, warum adlige Kinder hässlicher seien als die Kinder der Bürger und Kaufleute, im 15. und 16. Jahrhundert außerordentlich beliebt. Bebel hat sie in seiner Facetie De mercatore et nobili auf die bekannte Pointe hin erzählt, dass bei Abwesenheit der Bürger die schoͤ nsten Gesellen zu ihren Frauen kämen und mit ihnen schöne Kinder zeugten, in Abwesenheit der Adligen hingegen zu deren Frauen nur Köche und Stallburschen kämen, davon danach solch Ungestalt herkommt.42 Natürlich ist diese Verkehrung des adligen Privilegs, abgesondert von den Leuten43 auf Schlössern zu wohnen, in den Nachteil,
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Verbot von Fleischgenuss Rebhühner verspeist und zu seiner Rechtfertigung darauf verweist, dass er sie in Fische verwandelt habe (ebd., S. 101.12ff.): Ir narren, wissend ir nit, das ich ein priester binn? Welches ist mehr, auß brot den leichnam Christi zuͦ verwandlen oder auß repphünern fisch zuͦ machen? Für die Frage nach der Zerdehnung der Pointe ist der Umstand sehr interessant, dass der Bischof sich mit dieser komischpointierten Inversion der Eucharistie nicht begnügt, sondern sie ausführlich erläutert (ebd., S. 101.16–19): Also starck sind meine wort, das dise repphüner jetzunder guͦ te fisch sind. Wiewol mans aber nit sicht, so muͦ ß mans glauben; dann der glauben macht uns selig und behalt auch die welt. Die Pointe begegnet auch in der Geschichte des Pfarrers vom Kalenberg (1906, S. 39, V. 785–803), ist dort aber noch nicht zerdehnt. Dasselbe gilt für Freys mutmaßliche Quelle, Poggios Facetia 216 (Poggio 1983, S. 346): De Episcopo Hispano qui comedit perdices pro piscibus. Straßner 1978, S. 61, im Anschluss an Bebermeyer 1958, S. 443. Zu Poetik und Funktion von Bebels Facetien vgl. aber vor allem Hess 1971, S. 259–271; zu Bebels humanistischen Ambitionen Barner 1982. Bebel 1931, Buch I, Kap. 71, S. 80. Ich zitiere die Übersetzung von Albert Wesselski, der wiederum weitgehend der ersten frühneuhochdeutschen Ausgabe von 1558 folgt (Bebel 1907, Bd. 1, S. 34). Ebd.
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bei den Möglichkeiten des Ehebruchs doch eher eingeschränkt zu sein, für adlige Ohren eine Unverschämtheit. Dennoch wird die soziale Dimension dieses Vergleichs zwischen adliger Hässlichkeit und Schönheit der Kaufleute hier nicht weiter thematisiert: Bebel geht es um die witzige Pointe seiner Fazetie, nicht um deren soziale Indikatoren. Die allerdings werden von Jakob Frey herausgearbeitet.44 Er folgt Bebel in Aufbau und Pointierung recht genau, erweitert die Pointe allerdings durch soziale Präzisierungen. Vor allem betont er, dass die Bürgersfrauen bei Abwesenheit ihrer Männer von junckhern45 geschwängert würden, so dass die Kinder zwar in Bürgerhäusern erzogen würden, aber adelich, […] züchtig und gelernig seien.46 Dieser Umstand allerdings – und das scheint mir besonders interessant – sei nit ein kleine ursach, das die edelleuth der kaufleuth gelt so gern haben; dann sie meinen, es sey billich, das die kinder ihren vättern yeder zeit behilflich sein unnd zuͦ stewr kommen sollend. So sie dann so unverstanden sind und inen nichts geben wöllen, so schütlen sie inen die täschen und schlagend inen die bälg vol, welches ich gänztlich widerrath.47
Frey also positioniert Bebels Fazetie im Konfliktfeld von Adligen und Kaufleuten, von bürgerlichem Reichtum und adliger Gewalt. Er rekurriert auf die Durchlässigkeit ständischer Grenzen sowie darauf, dass Adel und Bürgertum sich stärker miteinander verbinden, bietet zugleich aber auch ein witziges Räsonnement über die Willkür adliger Gewalt und somit über die Differenz zwischen politischer und ökonomischer Macht, wie sie im frühen 16. Jahrhundert ja auch in anderen literarischen Texten reflektiert wird. Ich erinnere nur an die Waldgrafenepisode im Fortunatus (1509), in der der Titelheld die Wirkungsmöglichkeiten seines Geldreichtums überschätzt und den Waldgrafen provoziert, indem er beim Pferdekauf dessen finanzielle Möglichkeiten schamlos überbietet und dabei nur knapp mit dem Leben davon kommt.48 Frey spielt in seiner Erzählung gewissermaßen die Interessenslage des Adels durch und bietet auf diese Weise einen höchst ironischen Blick auf Herrschaftsansprüche und Gewaltformen des Adels, die längst nicht mehr zeitgemäß sind. Denn der Versuch, adlige Willkür und Gewaltbereitschaft gegen Kaufleute und Bürger aus einer Verantwortung der Bastarde von Adligen für deren eigenes Wohlergehen zu legitimieren, ist so grotesk und so ›verkehrt‹, dass er das Gelächter der Zuhörer und Leser hervorrufen muss. Dabei handelt es sich um ein exklusives Gelächter, das die Legitimationsversuche adliger Willkür und Gewalt deutlichem Hohn 44 45 46 47 48
Frey 1896, Kap. 41, S. 55.12–56.34. Ebd., S. 56.11. Ebd., S. 56.15f. Ebd., S. 56.23–29. Fortunatus 1990, S. 434.4–437.29.
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und Spott aussetzt, die Lachenden aber auch ihrer gemeinsamen Interessen versichert. Exklusion und Inklusion erweisen sich somit als zwei Seiten einer Medaille. Sie sind die Konsequenz aus der gemeinsamen Überzeugung, dass das Gewaltmonopol des Adels nach wie vor ungebrochen ist, da er sich mit Gewalt nimmt, was er an Geld und Reichtum für sich beansprucht, auch wenn er dafür über keinerlei Rechtstitel verfügt, und dass man eben dies aber auch verlachen kann. Gerade mit der sozial codierten Zerdehnung der Pointe ermöglicht Frey ein Gelächter, das sich des bürgerlichen common sense versichert, zugleich aber auch die Machtverteilung zwischen politischer und ökonomischer Macht als problematisch erkennen lässt und diese vielleicht sogar zur Disposition stellt. Ich bin mir nicht sicher, ob das schon ein subversives Gelächter ist. In jedem Fall aber unterscheidet sich Freys Erzählung von Bebels Version gerade durch ihre soziale Schärfe. Auch Bebel bietet die Möglichkeit des Gelächters über adlige Selbstüberschätzung. Zugleich aber fehlt seiner Erzählung jede soziale Schärfe, und es ist der Versuch erkennbar, den möglichen Konflikt zwischen Adel und Bürgertum im gemeinsamen Gelächter über einen guten Witz aufzuheben, ihre Interessen zu versöhnen, anstatt sie gegeneinander zu treiben. Jakob Frey hingegen geht von einem common sense bürgerlichen Selbstverständnisses aus, das die Exklusion, nicht die Inklusion des Adels betont. Das aber gelingt ihm, indem er sich gerade nicht auf eine knappe Pointe verlässt, sondern sie erheblich anreichert und auf diese Weise zerdehnt. Ähnliches gilt für die zweite von mir ausgewählte Erzählung Freys, die ebenfalls auf einer Fazetie Heinrich Bebels basiert, nämlich derjenigen [v] on einem Fuͤ rsten, der gegen sein Gebot schwor (De principe contra sua decreta deierante).49 Sie folgt einem einfachen Prinzip: Als die Amtleute eines Fürsten gegen die grassierende Unart des Fluchens und Schwörens in allen nur denkbaren Alltagssituationen vorgehen und dies unter Strafe stellen wollen, reagiert der Fürst darauf paradoxerweise mit einem zustimmenden Schwur: Botz Fleisch – gemeint ist wohl der geschundene Leib Christi in der Passion – das gefaͤ llt mir wohl. Und als seine Amtleute den Gegensatz zwischen ihrer Absicht und der Art seiner Zustimmung belächeln, setzt der Fürst noch einen drauf und beteuert […] beim Herz und Leib Gottes, er wollt den ohn alle Gnad strafen, der ergriffen wuͤ rd, daß er schwuͤ r. Die Pointe von Bebels Erzählung liegt in dieser paradoxen Zustimmung des Fürsten selbst, der Strafen androht gegen eine Redeweise, die er im gleichen Atemzug selbst praktiziert. Frey haben die beiden Schwurformeln des Fürsten offensichtlich nicht genügt, denn er hat sie erheblich erweitert und variiert. So antwortet der Fürst bei ihm auf den Vorschlag der Amtleute: Ja warlich, es gfalt mir 49
Bebel 1931, Buch II, Kap. 2, S. 47; ders. 1907, Bd. 1, S. 51.
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bey gots sacrament die ordnung wol. Bey dem leiden gots, wann eyner dise articul übertrit, so muͦ s er, samer gots herrgot, dapffer gestrafft werden.50 Dieser Variation der Pointe folgt dann aber auch noch eine Erweiterung der Strafandrohung, die weit über die witzige Differenz zwischen Anspruch und Realität des Schwurverbots hinausgeht und an ein zentrales Prinzip mittelalterlicher Rechtspraxis rührt: Die Amtleute sollten, so fordert er abschließend, gerade wenn er nicht anwesend sei, über diser ordnung steiff halten […] und keim nichts übersehe[n]. Denn – und diese Begründung scheint mir auffällig genug – [e]r sey hoch oder niders stands, reich oder arm, sie müssen, samer gots tausent sacrament, des gotslästerens abstehn oder nit leibs und guͦ ts genuͦ g haben.51 Auch hier also kommt die Pointe, dass die Ächtung der Gotteslästerung durch Gotteslästerungen bekräftigt wird, noch einmal zum Zuge. Zugleich aber zielt diese Bedrohung auf hohe und niedere Stände, Reiche und Arme gleichermaßen, unterstellt also eine Nivellierung des Rechts, die im Zuge der Zentralisierung, ja Monopolisierung fürstlicher Macht im 16. Jahrhundert zwar versucht wurde, aber keineswegs schon durchgesetzt war.52 Zwar gelang es in dieser Zeit, die politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Privilegien vor allem des Adels immer mehr zugunsten einer zentralisierten Verwaltung und Rechtsprechung zurückzudrängen. Doch kann von einer gemeinsamen Unterwerfung der hohen und niederen Stände unter die fürstliche Zentralgewalt – samer gots tausent sacrament – noch keine Rede sein. Es ist die besondere Leistung Freys, dass er die Möglichkeit der Gleichbehandlung von hohen und niederen Ständen vor Gericht zumindest imaginiert und auf diese Weise in der Zerdehnung der Pointe eine grundlegende Tendenz der Rechts- und Sozialgeschichte des 16. Jahrhunderts, vielleicht auch eine Hoffnung seines Publikums sichtbar macht. Wir wissen nicht, ob und inwieweit Frey von der Möglichkeit einer solchen rechtlichen Gleichstellung hoher und niederer Stände überzeugt war. Bemerkenswert aber scheint mir die Leichtigkeit, mit der er Bebels etwas läppische Geschichte und Pointe mit einem der zentralen Problemfelder frühmoderner Staatsbildung verbindet. Zwar wird dieser Zusammenhang nicht weiter ausgeführt, doch ist er für die Frage relevant, welche Modifikationen sozialer Selbstverständigung durch Freys Zerdehnungen der Pointe sichtbar werden. Ich fasse zusammen: Freys Gartengesellschaft steht in der Tradition der Fazetien- und Pointenkunst Poggios, Adelphus’ und Bebels, verändert sie aber auch. Er imaginiert eine Gesprächssituation im Rahmen einer ›Gartengesellschaft‹, bei der man einander Geschichten erzählt, wo ein Wort das andere gibt und man sich des wechselseitigen Einverständnisses versichert. 50 51 52
Frey 1896, S. 65.19–22. Ebd., S. 65.24–28. Vgl. Dülmen 1982, S. 350–359: »Monopolisierung der Macht und die frühmoderne Staatssouveränität«.
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Während beispielsweise Poggio die Gesprächssituation seiner Fazetien im Bugiale oder ›Lästerstübchen‹ lokalisiert hat, in welchem allein die Schärfe der Pointe und die Kunst des rhetorisch zugespitzten Witzes zählt, der mit einer wahren Lust an aggressivem Spott gegen die gerade nicht anwesenden Sekretäre und geistlichen Funktionsträger des Vatikans gewendet wird, betont Frey nicht die Kürze der Pointe, sondern die Kunst ihrer Variation und Verlängerung. Dann – so schreibt er in seiner Vorrede an den guͤ tigen leser – es ist wol zuͦ vermuͦ ten, wo kurtzweilige leut […] zuͦ samen komen, da locket ye ein argument das ander herfür, damit die gselschaft dester mehr lustig und leichtsinnig ist, ja das ihnen ein halber tag kaum zweyer stunden lang gesehen wirt.53
In seinen Erzählungen zeigt Frey exemplarisch, wie dieser performative Aspekt des Erzählens realisiert wird. Er verlängert, variiert, zerdehnt die Pointe und schafft gerade damit einen common sense der Erzählrunde, der aus dem Einverständnis über gemeinsame Formen sozialer Selbstverständigung und der Exklusion bislang selbstverständlicher Glaubensüberzeugungen und sozialer Habitus folgt. Frey will kurtzweylige […] reden, schimpfliche[s] gesprech unnd bossen vorlegen, mit denen Melancholie und Schwermut vertrieben werden können.54 Paradoxerweise gelingt ihm das, indem er die Kürze der Pointe in die lange Dauer des Erzählens überführt. Vielleicht zeichnet es ja sogar die ernsthaften Denker uff den hohen schuͦ len55 aus, dass sie der Länge eher als der Kürze des Gedankens gewachsen sind.
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Frey 1896, S. 6.20–25. Ebd., S. 6.4f. Zur Absicht Freys und anderer zeitgenössischer Schwankdichter, unlustige gemüter (ebd., S. 6.9) zu erheitern und die Melancholie zu vertreiben vgl. Röcke 1987, S. 22–28. Ebd., S. 3.13.
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Werner Röcke
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Michael Waltenberger
Geltendes im Nichtigen Beobachtungen zur Autorisierung ›niederen‹ Erzählens in der Gartengesellschaft (1557), in Maͤ ynhincklers Sack (1612) und im Roldmarsch Kasten (1608) 1. Die sogenannten Schwanksammlungen seit der Mitte des 16. Jahrhunderts wollen ihren Benutzern einen Textvorrat für zeitverkürzende Konversationen auf der Reise, in Wirtsstuben und auf Gartenfesten oder auch zur Entspannung von anstrengender geistiger Arbeit und zur Aufhellung melancholischer Stimmungen bieten – Gebrauchssituationen also, für die es weniger auf Sinnstiftung und Wissensvermittlung als auf die Effekte ›unterhaltsamer‹ Komik und Pointierung anzukommen scheint. Man kann die Akzentuierung der Gebrauchsfunktion aber zugleich als Teil einer diskursiven Strategie verstehen, die den Buchtyp der Schwanksammlung in der Abgrenzung von gelehrtem Wissen, ›ernsten‹ und ›wichtigen‹ Themen sowie ›hoher‹ poetischer Qualität ausdifferenziert und im literarischen System der frühen Neuzeit etabliert. Diese Ausdifferenzierung geschieht allerdings nicht lediglich durch Distanznahme von sozialen Zentren und diskursiven Höhen oder durch das prononcierte Besetzen alltagsweltlicher Ränder und Niederungen. Vielmehr werden die konstitutiven Differenzen zwischen Nichtigem und Wichtigem, Kurzweil und Ernst, Anstößigem und Anständigem in den Paratexten der Sammlungen selbst verhandelt,1 in manchen der gesammelten Erzählungen inszeniert und nicht zuletzt auch durch die Auswahl und Zusammenstellung der Texte profiliert.2 Auf vielfältige, oft auch widersprüchliche Weise wird dabei der Erzählvorrat, dem die prätendierte Anspruchslosigkeit Raum schafft, zugleich an etablierte Geltungsfonds angeschlossen. Dies geschieht, indem die exemplarische Erzähltradition aufgegriffen, Bibelbezüge hergestellt werden und gelehrtes Wissen hereinzitiert wird, aber etwa auch durch die Integration novellistischer und romanhafter Formen. In den beiden Vorreden meines ersten Beispiels, der zuerst 1557 gedruckten Gartengesellschaft,3 rechtfertigt der Autor Jakob Frey, Stadt 1 2
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Vgl. zu den Vorreden der Schwanksammlungen Schwitzgebel 1996, S. 118–141. Vgl. hierzu am Beispiel von Montanus’ Wegkürzer Waltenberger 2006 (Kontingenzerfahrung). Frey 1896, S. 3.1–7.15. Vgl. zu den Vorreden der Gartengesellschaft bes. Röcke 1993, Waltenberger 2006 (›Einfachheit‹) und Lasch im vorliegenden Band, S. 267–286.
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schreiber des kleinen Ortes Maursmünster (Marmoutier) bei Straßburg, seinen kurtzweilig[en] Erzählvorrat4 zunächst dadurch, dass es sich um ein Gelegenheitsprodukt herbstlicher Mußestunden handele, in denen er ernsthafftige sachen oder händel uff ein ort gelegt habe.5 Ohne näher auf den Inhalt der Texte einzugehen oder ihren didaktischen Wert hervorzuheben6 betont er lediglich die Gebrauchsfunktion für eine gesittete Konversation und den therapeutischen Effekt zur Aufheiterung melancholischer Gemüter. Das schimpff büchlin erscheint zwar als minderwertiges Substitut für etwas dapffers, ernstlichs, wie es dem adligen Widmungsträger eigentlich angemessen wäre,7 aber es ist nicht allein durch den Ausnahmezustand der Fastnacht zu entschuldigen,8 sondern zuvor noch durch die akademische Tradition der Quodlibeta und das ehrwürdige Vorbild einiger alte[r] scribenten legitimiert, welche neben andern irem ernstlichen schreiben zuͦ zeiten auch sunst lustige schimpff unnd fatzwerckische bossen in schrifften und büchlin gemacht unnd außgehn lassen.9 Der Abstand zum ›Hohen‹ und Wichtigen wird weniger durch inhaltsbezogene Figuren des (karnevalistischen) Kontrasts und der Ordnungsverkehrung markiert, sondern vielmehr durch das pragmatische Argument einer institutionalisierten und integrativen zeitweiligen Lockerung moralischer und sozialer Verpflichtungen zu nützlichem Verhalten und ernsthaften Gedanken. Auch die rhetorischen Gebote der verisimilitas und des decorum werden dabei gelockert: Dass sie im Schwankerzählen übertreten werden könnten, wird eingeräumt, der Verstoß aber zugleich heruntergespielt, denn er ist letztlich durch den kommunikativen Erfolg einer lustig[en] und leichtsinnig[en] Unterhaltung kompensiert.10 Für einen großen Teil der in der Gartengesellschaft versammelten Texte kann man sich einen unproblematisch erheiternden und entspannenden Konsum durchaus vorstellen – auch wenn bei näherem Hinsehen immer wieder einigermaßen problematische Konfliktkonstellationen insbesondere zwischen konkurrierenden Geltungsansprüchen der Religion und der Ökonomie auffällig werden – häufig Konstellationen, die gegenüber den jewei 4
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Das Prädikat kurtzweilig erscheint bereits zweimal auf der Titelseite (Frey 1896, S. 1) und mehrmals in den beiden Vorreden. Ebd., S. 3.16f. Ein solcher Wert wird gleichwohl beiläufig behauptet, wenn etwa Schwänke über unzüchtiges weibliches Verhalten damit gerechtfertigt werden, sie seien allein zuͦ guter warnung gedacht (ebd., S. 6.32). Ebd., S. 4.8 und 4.14. Diesen höheren Anforderungen würde Freys einige Jahre später publizierte Kompilation von 43 kurzen Heldenbiographien zumindest inhaltlich wohl genügt haben. Deren zehntes und elftes Kapitel handeln von Sokrates und Zenon (Frey 1562, S. xxiiii–xxix), deren ernsthafftig angesicht bereits in der Vorrede der Gartengesellschaft als Gegenbild ›schimpflicher‹ Abwechslung aufgerufen wird (Frey 1896, S. 4.19f.). Ebd., S. 4.2–7. Die Widmungsvorrede ist auf den Martinstag datiert (S. 5.6). Ebd., S. 3.7–10. Ebd., S. 6.13–7.10; das Zitat: S. 6.23f.
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ligen Prätexten verschärft oder überhaupt erst neu eingeführt worden sind.11 Im vorletzten Kapitel der Sammlung12 allerdings sind solche Belange sämtlich ausgesetzt: Zwei Freunde sitzen gerade müßig vor dem Haus, um zu schwetzen, als zufällig eine junckfraw vorbeikommt, die einer der beiden nach andere[n] gruͦ ßbaren reden durch die euphemistisch verhüllende Frage, warum sie hinten so wol […] gebrüst sei, zu provozieren gedenkt. Die junckfraw versteht den Hintersinn sofort, lässt sich diesen von ihrem Gegenüber bestätigen, indem sie selbst die Frage unverblümt wiederholt (Wie gemeinen ihrs, warumb ich also ein grossen ars hab?), und revanchiert sich dafür mit der Antwort, wenn er so vil darein geblasen hätte, wie sie herausser geblasen habe, dann wäre ihr Hintern jetzt doppelt so dick. Der Mann reagiert zwar noch mit dem nun gleichfalls recht indezenten Wunsch Ey, nuͦ n blaß dir götzen Jeckel drein,13 muss aber doch klein beigeben, denn er hat, wie auktorial konstatiert wird, die Antwort erhalten, die er verdient. Im Sammlungskotext scheint damit – einmal mehr – ein Tiefpunkt des ›niederen‹ Erzählens erreicht. Das Geschehen rangiert am unteren Ende der Skalen narrativer Sujethaftigkeit14 und historischer Signifikanz: ein banales, mäßig amüsantes und so spontanes wie folgenloses Vorkommnis an einem ungenannten alltäglichen Ort. Und die Nichtigkeit des Geschehens wird ersichtlich auch nicht durch eine besonders raffinierte Pointe des Dialogs wettgemacht; vielmehr wird die schiere Mechanik einer kommunikativ erfolgreichen Schlagfertigkeit vorgeführt. Wer sich als Leser an die Versicherung der Vorrede erinnert, der Kompilator habe mit Rücksicht auf das ehrbare weibliche Publikum nichts ungeschicklichs oder ungebürlichs in die Sammlung aufgenommen,15 der könnte dieser konversationellen Mechanik allerdings eine metakommunikative Pointe abgewinnen: Ein Verstoß gegen das Gebot des decorum wird hier nicht zugunsten eines Lacherfolgs eben noch toleriert, sondern erweist sich selbst als wirksames und angemessenes Mittel ausgerechnet einer junckfraw, um eine unter manierlicher Rede versteckte verbale Aggression zu parieren und den (männlichen) Dialogpartner zum Schweigen zu bringen.16 So jedenfalls wäre wohl eine exemplarische Funktion des Erzählten, die durch das epimythisch angehängte Sprichwort 11
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Vgl. die Analysen einzelner Schwänke bei Waltenberger 2006 (›Einfachheit‹) und Strohschneider 2007. Frey 1896, Kap. 128, S. 145.6–25. Erst mit diesem Ausruf sind die Normen höflicher Konversation nicht nur inhaltlich, sondern auch formal gebrochen, denn während die junckfraw ihr Gegenüber zuvor stets ihrzt, fällt der Stadtschreiber damit aufs Duzen zurück. Götzen Jeckel ist hier wohl als Narrenname gemeint; einige Seiten zuvor begegnet dieser Ausdruck auch mit der Bedeutung ›Penis‹ (ebd., S. 100.10). Vgl. Lotman 1993, S. 329–340. Frey 1896, S. 6.26f. Der Text entspricht damit im Grunde einer spezifisch fazeten Grundstruktur: Die pointierte Replik zielt auf die Negation der Kommunikationsoptionen des Dialogpartners; vgl. Strohschneider 2007, S. 452f., und ders. 2010, bes. S. 102–106.
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suggeriert wird, zu präzisieren. Sollte der Leser sich dennoch fragen, weshalb Frey die wenig belangvolle Geschichte für wert befunden hat, mit in die Gartengesellschaft aufgenommen zu werden, so mag er sich umso mehr darüber wundern, dass ausgerechnet sie auf eine innerhalb der Sammlung einmalige Weise durch auktoriale Beglaubigung ausgezeichnet ist: Der männliche Protagonist nämlich wird von Frey als Stadtschreiber eingeführt, als ein Amtskollege mithin, den er persönlich gekannt habe.17 Führt das vorletzte Kapitel der Sammlung also hinab auf eine alltagsweltliche, höchstens halb-öffentliche, aber bewusst in vertraute Nähe gerückte Normalität, so signalisiert schon die Überschrift der nachfolgenden letzten, siebenmal umfangreicheren Erzählung18 einen ebenso extremen Ausschlag in die oberen Bereiche der Skalen von Sujethaftigkeit und historischer Signifikanz: Von den jungen rathsherren zuͦ Rom, die ihre vätter alle todt schluͦ gen, das sie allein regieren wolten. Die le[t]st histori. Auch diese Geschichte ist in manchen Punkten innerhalb der Sammlung einmalig: Während die meisten anderen Texte in einer nur selten genauer datierten, mehr oder weniger gegenwärtigen bäuerlichen oder stadtbürgerlichen Alltagswelt angesiedelt sind (einige auch, ihren fazeten Prätexten gemäß, am Hof eines neueren Herrschers oder Papstes), greift erst die letzte Erzählung in die Vergangenheit der römischen Antike zurück. Ihre Besonderheit wird durch die ebenfalls nur hier in einer Kapitel-Überschrift vergebene Bezeichnung histori deutlich markiert,19 und dass ihr damit eine Rahmenfunktion für die Gartengesellschaft insgesamt zukommt, wird durch die ausdrückliche Ankündigung des Endes der Sammlung unterstrichen. Erzählt wird weder eine fazete oder anekdotische Szene noch eine auf einen engeren sozialen Radius begrenzte Schwankgeschichte, sondern ein – wenn auch fiktionales – geschichtliches Großereignis von einiger Tragweite: Nachdem die Römer mit weißheit und zwange20 ihr Reich vergrößert und gefestigt haben, wollen die jungen rathsherren21 die strengen Gesetze der Vätergeneration loswerden und beschließen deshalb, jeder von ihnen solle seinen eigenen Vater töten. Nur einer widersetzt sich heimlich diesem 17
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Frey 1896, S. 145.9f. Da Frey in der Leservorrede Jörg Wickram, den stattschreiber zuͦ Burckheim, als seinen günstigen lieben herren und literarischen Anreger vorstellt (ebd., S. 5.18–23), könnte man versucht sein, die Anspielung in Kapitel 128 auf Wickram zu beziehen und den Schwank als spöttisch-ironische Reverenz zu verstehen. Ebd., Kap. 129, S. 145.26–149.13. Auf dem Titelblatt sind die Historien Teil des üblichen, eher entdifferenzierenden Gattungsnamenkatalogs. In den Vorreden wird das Substantiv Historie nicht verwendet, Frey führt jedoch an einer Stelle aus, er habe einige fablen aus Schimpf und Ernst so bearbeitet, dass sie mer historischer verstanden werden können (ebd., S. 4.22–26); vgl. zu dieser Stelle Röcke 1993, S. 112f., und Waltenberger 2006 (›Einfachheit‹), S. 285ff. Zur Verwendung des Begriffs in den Erzählsammlungen des 16. Jahrhunderts vgl. Knape 1984, S. 307–317. Frey 1896, S. 145.30. Ebd., S. 146.3.
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Beschluss und hält seinen Vater versteckt. Einige Jahre später zieht ein fremder König gegen Rom, weil er gehört hat, die Weisheit des Volkes sei mit den Vätern untergegangen. Er droht den Römern mit Krieg, wenn sie ihm nicht zwey ding […] außlegen und darinn raht geben könnten.22 Über die erste Frage des Königs, wie er die Würmer vertreiben könne, die seine Salzvorräte befallen haben, rätseln die jungen Ratsherren acht Tage lang, bis der versteckte Vater seinen Sohn schließlich darüber aufklärt, dass sich im Salz überhaupt keine Würmer befinden können. Man solle dem König deshalb antworten, er müsse Mauleselmilch auf das Salz sprengen. Der Sohn unterbreitet den Vorschlag den anderen Ratsherren als seinen eigenen; er findet Zustimmung und wird ausgeführt. Verwundert erkennt der fremde König grosse[] weißheit in der Antwort23 und stellt eine weitere Aufgabe. Erneut wären die jungen Römer daran gescheitert, wenn ihnen der Sohn des versteckten Alten nicht wiederum den Rat mitgeteilt hätte, den sein Vater ihm gegeben hat: Die kryptische, nur aus den vier Buchstaben Q. M. R. N. bestehende Botschaft des Königs,24 die von den Ratsherren nicht entschlüsselt werden kann, deutet der Alte als Abkürzung der provokanten Frage Quis maior rege nostro?25 und rät, man solle darauf mit der ebenso abgekürzten Botschaft S. P. Q. R. – also Senatus populusque Romanus – reagieren.26 So wird es gemacht. Als der fremde König die Antwort gelesen hat, zieht er sich sofort zurück, überzeugt davon, dass die Römer ihre Weisheit nicht nur nicht verloren haben, sondern in ihrem Besitz sogar stärker sind als er selbst mit allen seinen Heerscharen. Der alte Vater kann nun unbehelligt sein Versteck verlassen, und die jungen Ratsherren müssen bekennen, dass sie falsch gehandelt haben: Ohne seine Hilfe hätte Rom die Freiheit verloren. Das Epimythion empfiehlt zunächst, die Weitergabe des Wissens von den Alten auf die Jungen sicherzustellen, damit diese in der regierung und administration des gemeinen nutz […] heilsamlich nachvolgen mögen;27 dann folgt ein entsprechendes Gebet für alle regenten, das sich zum Wunsch nach ruͦ h und einigung für die ganze Christenheit erweitert.28 Mit dem Gebet und dessen letztem Wort Amen wird dann ganz offensichtlich nicht nur die histori selbst, sondern das Buch insgesamt abgeschlossen. Selbst wenn man die Geschichte hinsichtlich des Rätselschemas eher unter ›Schimpf‹ als unter ›Ernst‹ rubrizieren mag,29 so erlaubt doch ihr 22 23 24 25 26 27 28 29
Ebd., S. 146.32f. Ebd., S. 147.22. Ebd., S. 147.26. Ebd., S. 148.13. Ebd., S. 148.15ff. Ebd., S. 149.6–9. Ebd., S. 149.9–13. Kapitel 442 aus Schimpf und Ernst, auf das die Grundzüge der Geschichte und ihre erste Episode offenbar zurückgehen, ist dem Schimpff zugerechnet (Pauli 1924, Bd. 1, S. 260f.; vgl. auch die Nachweise weiterer Paralleltexte in Frey 1896, S. 262f., sowie
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Epimythion keinen Zweifel daran, dass sie mit Blick auf den gemeinen nutz ernst genommen werden will.30 Der schwankhafte Erzählvorrat erhält mit ihr einen Rahmen, der durch den schroffen Kontrast zwischen dem banalen Alltags-Vorfall und der Staatskrise des Römischen Weltreichs auf den ersten Blick eine Differenz zwischen anspruchslos-›niederem‹ und einem Erzählen mit ›höherem‹ Anspruch wahrnehmbar macht.31 Die stofflichen und motivischen Diskrepanzen lenken allerdings einen (zweiten) Blick auf das, was den Texten gleichwohl gemeinsam ist: Fokussiert wird jeweils die Fähigkeit, einen verhüllt aggressiven Sprechakt richtig zu deuten und durch eine angemessene Antwort so zu parieren, dass der Aggressor sich allein schon durch die Schlagkraft der Replik jeder weiteren (verbalen wie nonverbalen) Reaktionsmöglichkeit enthoben und zum Rückzug gezwungen sieht. In beiden Geschichten – und ebenso in vielen anderen Texten der Sammlung – bewährt sich solchermaßen eine praktische dialogische Kompetenz:32 Der alte Römer ist ebenso wie die junckfraw offensichtlich bald gerüst […], antwort zuͦ geben,33 während die jungen Ratsherren nit wüßten zuͦ antworten, was als Folge des durch die Tötung der Väter verursachten Verlusts an weißheit zu verstehen ist.34 Vom Ende her wird also, wie es scheint, die konstitutive Distanz zum ›Hohen‹ und Wichtigen, mittels derer sich das Buch eingangs selbst legitimiert hat, doch wieder relativiert: Schwankerzählen dient nicht einfach der Entlastung von ›ernsthaften‹ praktischen und epistemischen Anforderungen, sondern es vermittelt selbst ein eigenwertiges, nicht aus übergeordneten Diskursen abzuleitendes, aber offenbar durchaus in historisch-politische Dimensionen übersetzbares Praxiswissen.
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Pauli 1924, Bd. 2, S. 361). Erst Frey versetzt das bei Pauli raumzeitlich unbestimmte Geschehen ins ›alte‹ Rom. Unter diesem Aspekt befindet sie sich auf gleicher Höhe mit den Geschichten in Jakob Freys zweiter Erzählsammlung, die er aus den alten Roͤ mischen vnd Griechischen historien zuͦ samen gesuͦ cht / vnˉ gesetzt hat (Frey 1562, Bl. Ar; vgl. oben Anm. 7): Den darin vorgestellten Helden gebühre, so heißt es auf dem Titelblatt, ewigs lob und gedächtnuss, weil sie leib / leben / guͦ t vnˉ bluͦ t dem gemeinen nutz geopfert hätten (ebd.). Vgl. zu dieser zentralen Kategorie nicht nur der frühmodernen Politiktheorie, sondern auch der kommunalen Praxis bes. Schulze 1986 und die einschlägigen Beiträge in Münkler / Bluhm 2001. Dieser ›höhere‹ Anspruch kommt unter anderem noch darin zum Ausdruck, dass (inhaltlich redundante) lateinische Sätze auch dort eingefügt sind, wo sie nicht für die Rätselaufgaben notwendig sind (Frey 1896, S. 146.28: quia surrexit rex post regem; S. 147.18: quia mulus sterilis est et non habens lac). Latein wird in der Sammlung ansonsten nur verwendet, soweit es – meist aufgrund eines lateinischen fazeten Prätextes – für die Pointe notwendig ist (z. B. ebd., Kap. 8, S. 17.1–19; Kap. 30, S. 45.11– 46.2; Kap. 114, S. 130.24–131.27). Sie beendet in beiden Fällen den Konflikt, bevor er eskalieren könnte, aber nicht weil der Dialog als Mittel vernünftiger Verständigung genutzt würde, sondern weil er selbst schon eine agonale Form darstellt, in welcher der Konflikt bis zur Überwältigung des Gegenübers ausgetragen werden kann; vgl. Strohschneider 2010. Frey 1896, S. 145.18. Ebd., S. 147.8ff.
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Kotextuelle Kontrasteffekte wie der eben beschriebene sind insgesamt charakteristisch für die erste Gruppe der sogenannten Schwanksammlungen. Sie können oft schlicht als Symptom des – lediglich materielle Einheit stiftenden – Buchtyps der Sammlung genommen werden und insofern semantisch ›unauffällig‹ bleiben. Das schließt aber nicht aus, dass in ihnen fallweise die Konfrontation disparater Geltungsansprüche inszeniert wird, überraschende Analogien im vermeintlich Unvereinbaren suggeriert werden können oder Kippfiguren auftreten, die das Geltende als nichtig und das Nichtige als eigentlich Geltendes erweisen. Signifikanz gewinnen solche Kontraste insbesondere an den textuell privilegierten Positionen des Anfangs und des Endes der Sammlungen, aber etwa auch, indem sie die Grenzen von Sammlungsabschnitten konturieren. Im Verhältnis zur topischen oder enzyklopädischen Ordnungsrepräsentation von Exempelsammlungen mag dies als Symptom eines Ordnungsdefizits erscheinen, das durch die Prätention des anspruchslosen Erzählvorrats lizenziert wird. Die Schwanksammlungen grenzen sich auf diese Weise allerdings nicht lediglich von ›höheren‹ literarischen Formen ab, sondern bilden darüber eine eigene Tradition, mit der sie sich auf längere Sicht im literarischen System etablieren. Schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts schält sich ja eine relativ stabile Textgruppe heraus, die im Kern aus Wickrams Rollwagenbüchlein, Freys Gartengesellschaft und Montanus’ Wegkürzer besteht; oft sind außerdem noch Montanus’ Fortsetzung der Gartengesellschaft oder die Sammlungen von Schumann und Lindener angelagert. Innerhalb der Gruppe selbst wird dies in expliziten paratextuellen Bezugnahmen manifest, in einer Angleichung der Titel oder auch in der Zusammenfassung zur Trilogie.35 Engere Nachbarschaften im zeitgenössischen literarischen System bestehen vor allem zu den Neuauflagen und Bearbeitungen von Paulis Schimpf und Ernst einerseits, zum Decameron andererseits.36 Außerhalb der Sammlungen selbst dient die Erwähnung der einschlägigen Titelreihe intertextueller, oft auch polemischer Bezugnahme – was jedenfalls impliziert, dass mit ihr eine relativ einheitliche literarische Position verbunden werden kann.37 35
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So wird die Gartengesellschaft in einigen Ausgaben als Fortsetzung des Rollwagenbüchleins annonciert, und Montanus bringt wiederum einen Andern theyl der Garten gesellschafft zum Druck (Montanus 1899, S. 253). Sein Wegkürzer hingegen komplettiert als dritter Teil des Rollwagens die Sammlungen Wickrams und Freys zu einer erstmals 1565 von Feyerabend und Hüter verlegten Schwankbuch-Trilogie. Vgl. z. B. Kurtzweilige Geschicht 1583: Der erste Teil dieser von Feyerabend verlegten Kompilation geht auf Paulis Schimpf und Ernst zurück (S. 1–198), der zweite besteht aus einem vollständigen Abdruck der Cento Nouella (S. 199–526), und der dritte enthält eine Auswahl aus Wickrams, Freys und Montanus’ Sammlungen (S. 527–551). Vgl. z. B. Lalebuch 1998, S. 8.11–14, oder auch die in Montanus 1899, S. 457–475, abgedruckte Schmähschrift auf den Wegkürzer, die ihn einerseits in die Nachfolge von Schimpf und Ernst (ebd., S. 462), andererseits in die Wickrams stellt (S. 469). Fischart (1963, S. 10.9–16 und 19.22ff.) bezieht die einschlägigen Titel in den von ihm entworfenen ›Gegenkanon‹ komischer Epik ein; vgl. hierzu Müller 2007.
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Im Verlauf dieses Etablierungsprozesses tritt allerdings der vormals konstitutive ›vertikale‹ Rangunterschied hinter ›horizontale‹ Relationierungen innerhalb eines immer breiter sich auffächernden Feldes kleinepischer Erzählliteratur zurück. Nachdrucke einzelner Schwankbücher der ersten Gruppe werden seltener; ihre Teiltexte werden nun eher außerhalb des primären Sammlungsverbunds weitertradiert und -bearbeitet. Auch erscheinen weiterhin neue Sammlungen mit überwiegend schwankhaftem Inhalt, deren Paratexte allerdings nicht oder nurmehr indirekt an die ersten Titel anknüpfen. Das Argument der konversationellen oder rekreativen Gebrauchsfunktion wird zwar immer noch bemüht, aber ohne dass darin die spannungsvolle Strategie einer Autorisierung des Nichtigen noch konstitutiv wirksam wäre. In ihren Titeln und Vorreden profilieren sich diese Sammlungen nun stärker als Variante anderer literarischer Muster – insbesondere solcher der Satire und der Polemik – sowie über eine Spezialisierung hinsichtlich der Gegenstände, der pragmatischen Funktionen oder des sozialen und lokalen Bezugs.
2. Das gilt beispielsweise für den auf 1612 datierten Maͤ ynhincklers Sack / Voller listiger MArckschiffrischer / Wiszbadischer / Saurbornischer / laͤ cherlichen Bossen vnd Schwaͤ ncken: Von allerley Venusrasenden / Minnsichtigen / Geistverlogenen Pfaffen / willigmuͤ tigen durchtriebenen Muͤ nchsfuͤ tterichten Nonnen / wolgevbten / auff der hohen Staudiums Stuben / auff der Stauden Enten Badstuben / wohlgebornen / vnnd tiefferfahrnen Juckfrawen / auch andern dergleichen durchgetriebenen / wolberittenen Personen / Kammer Maͤ gdten vnnd Stallfuttern. Alles zur Ergetzlichkeit den tieffbetruͤ bten Cornelisanten / Maulhenckelischen spintisirenden sauwersehenden / Senffaußbruͤ tern / an Tag gegeben / Durch den Ohrenvesten / Aerhafften / wolgevexierten Hasen / Herrn Agricolam Tabeum / von Weinstein / in Lappenland.38
Die von Fischart inspirierte, wortspielerische und kaskadierende Titelformulierung dieses auf die Gegend zwischen Frankfurt, Wiesbaden und Mainz lokalisierten ›Schwanksacks‹39 nimmt den Topos der Melancholietherapie zunächst parodierend auf: Dem Anschein nach ist damit keine 38
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Agricola Tabeus 1612, Bl. (:). Vgl. zu dieser Sammlung Moser-Rath 1984, S. 11f. u. ö. Es handelt sich bei ihr um die im Textbestand veränderte und vermehrte Neuausgabe der bereits 1607 unter gleichem Autorpseudonym mit teilweise gleichlautendem Titel erschienenen Sammlung Hundtstags Grillen (Agricola Tabeus 1607; vgl. unten Anm. 45). Die Fischartsche Manier der Titelformulierung und das Melancholiemotiv erinnern an Johann Sommers unter dem Pseudonym Huldrichus Therander veröffentlichtes Emplastrum Cornelianum. Heilpflaster auff die Melancholische wunden vnd Cornelius stich […] (o. O. 1605; VD 17: 1:623119V). Außerdem könnte der Titel in seinem Lokalbezug auch auf Lundorffs Erzählsammlung Wissbadisch Wisenbrünnlein anspielen (Frankfurt a. M. 1610 und 1611; VD 17: 23:290036F), vielleicht auch auf Marx Mangolds (d. i. Konrad Lautenbachs) Marckschiff (o. O. 1596; VD 16: ZV 10336) und
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Legitimierung kurzweiligen Erzählens beabsichtigt, sondern dessen karnevalisierende Steigerung versprochen. Die Vorrede allerdings wirkt stark ernüchternd: Hier gibt sich der Autor nicht als ›läppischer‹ Scherzbold, der zu den Maulhenckelischen […] Senffaußbruͤ tern spricht, sondern bemüht sich mit völlig ungebrochenem Ernst darum, kurzweiliges Erzählen durch den Hinweis auf antike Vorbilder zu rechtfertigen, um sodann dem guͤ nstigen Leser auß einem treuwhertzigen wohlmeinenden Gemuͤ ht zu empfehlen, das Dargebotene zu Ehrlicher Erquickunge zu gebrauchen.40 In der Vermutung, dass dies nun trotz der karnevalesken Ausfertigung der Vorrede vff vnserm Schloß Niergendheim / zu Nichelburg / am Eylff- vnnd zwantzigsten Sontag nach der Runtzel Fantastnacht41 ganz und gar unironisch gemeint sei, kann sich der Leser auch deshalb bestärkt sehen, weil dem Argument des rekreativen Nutzens unvermittelt ein zweites an die Seite gestellt wird, das keinen Zweifel am Geltungsanspruch der auktorialen Rede zulässt: Das Buch soll nämlich nicht nur unterhaltsam sein, sondern daneben noch der nuͤ tzlichen Betrachtung des papistischen Schwindels und der Warnung vor solchen naͤ rrischen / goͤ tzischen / vnd Fantastischen Bossen dienen, und zwar anhand einschlägiger Geschichten, welche auß den warhafftigsten / glaͤ ubwirdigsten Baͤ pstischen Scribenden gezogen seien.42 Bei den ersten siebzig Texten der Sammlung handelt es sich großenteils um schwank- und fazetienhafte Erzählungen, aber auch nicht-narrative schertzreden43 sind aufgenommen. Sie sind insgesamt auf den Reiz obszöner und skatologischer Motive und Sprachpointen angelegt, bleiben allerdings hinter der Erwartung sprachspielerischer Kreativität zurück, welche der kaskadierende Titel wecken könnte. Konfessionalistische Zuspitzungen begegnen nur an wenigen Stellen, und explizite auktoriale Warnungen ergehen nicht nur angesichts religiöser, sondern auch mit Blick auf profane Betrügereien. Auf diesen ersten Sammlungsabschnitt folgt jedoch ein weiterer unter dem neuen Titel Pfaffen Sack / Voller Luͤ genhafftigen Bossen,44 und erst hier wird die Ankündigung der Vorrede eigentlich eingelöst. Dieser zweite ›Sack‹ enthält zwölf teils schwankhaft-komische, teils mirakulöse Texte, alles Übersetzungen von Exempelerzählungen aus den Werken des Johannes Herolt, die jeweils durch einen noch vor die Überschrift gesetzten Quellennachweis authentifiziert werden. Jeder Erzählung folgt eine kleine
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dessen Fortsetzung (Frankfurt a. M. 1597; VD 16: M 570). Das Marckschiff enthält jedoch keine schwankhaften Erzählungen, sondern einen Versdialog über die Frankfurter Messe. Agricola Tabeus 1612, Bl. (:) ivr. Ebd., Bl. (:) ivv; vgl. Fischart 1963, S. 5.12f. und 18.10f. Die Angaben der Titelseite zu Druckort und -datum werden damit wiederholt; die Vorrede soll lediglich auf den Tag genau ein Jahr früher (1611) entstanden sein. Agricola Tabeus 1612, Bl. (:) iiiv f. Ebd., Bl. (:) iiir. Ebd., Bl. H iiir.
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gedruckte Erjnnerung, welche die narrativ präsentierten Täuschungsabsichten und Irrtümer lakonisch knapp (denn im Grunde sind sie ja evident) kommentiert.45 Schlägt man den Beginn des Pfaffen Sack auf, dann tritt die Heterogenität der Sammlungsteile unvermittelt vor Augen: Auf Blatt H iiv befindet sich der kurze letzte Text des ersten Abschnitts, dessen Überschrift Der Mutter vnd Tochter Fut / einer wie der ander die obszöne Pointe, welche auf einer dialektal bedingten Homonymie beruht (›Fut‹ und ›Fuß‹), bereits vorwegnimmt. Auf der gegenüberliegenden Seite hingegen (Blatt H iiir) wird der zweite Abschnitt mit einer Exempelgeschichte über das Hochwirdige Sacrament deß Leibs CHristi eingeleitet.46 Der kotextuelle Kontrasteffekt zwischen der ›niederen‹ Zote und der Rede über das sakral ›Hohe‹ könnte den Leser irritieren – wenn er nicht schon durch die Vorrede darauf vorbereitet wäre, dass die unter dem neuen Abschnittstitel versammelten Texte nur hereinzitiert sind, damit ihr Geltungsanspruch bestritten werden kann. Die nachfolgende Erjnnerung zum ersten Kapitel des Pfaffen Sack macht dann jedenfalls unmissverständlich klar, dass es sich vom konfessionellen Standpunkt des Kompilators aus eben nur um eine betrügerisch erdichtete Fabel handelt, mithin um einen mindestens ebenso nichtigen Bossen wie derjenige auf der Seite zuvor. Der Gegensatz zwischen dem ›Niederen‹ und dem ›Hohen‹ spielt allerdings bereits in dem hereinzitierten Text selbst eine wichtige Rolle. Das Wunder der göttlichen Gnade nämlich, von dem die Exempelerzählung berichtet, erstrahlt in ihr deshalb besonders hell, weil es die Selbsterniedrigung Gottes voraussetzt: Ein Pfarrer begibt sich mit der Hostienkapsel in einem Beutel zu einem Kranken und kommt dabei an einem Frauwen
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Bereits in den Hundtstags Grillen folgt auf den ersten Abschnitt mit fünfzig Possen vnd Schwäncke[n], die bis auf drei Ausnahmen dann den Grundstock für Maͤ ynhincklers Sack bilden, ein zweiter Sammlungsabschnitt mit andersartigen Texten. Wie im Pfaffen Sack handelt es sich auch hier um allerhand vnerhoͤ rte / vnglaubliche / Landluͤ gen und Kundschafften (Agricola Tabeus 1607, Titelseite), jedoch nicht auf dem Gebiet der Religion, sondern auf jenen der Naturkunde und Geographie. In der Vorrede werden diese Texte dem Leser – ebenso wie später die des Pfaffen Sack – zur nuͤ tzlichen Betrachtung anempfohlen (Bl. )( 3r) und durch die Autorschaft vortreffliche[r] beruͤ hmte[r] vnd glaubhaffte[r] Scribenten authentifiziert (ebd., Bl. )( 3v). Im Unterschied zur Entlarvung des glatten Schwindels papistischer Autoren allerdings erfordert die Betrachtung der naturkundlichen und geographischen Wunderberichte, die nicht nur von Aristoteles, Plinius oder Albertus Magnus stammen, sondern etwa auch von Marco Polo oder Johannes Nauclerus, durchaus noch ein unvoreingenommenes Abwägen des Wahrheitsgehalts: Denn nicht alles das jenig / welches allhie dem Leser vnglaublich / vnd erdicht zusein bescheinet / darvmb alßbald erlogen zusein / solle geachtet werden, umso mehr, als das überlieferte Wissen eventuell auch noch zu heutigem Tag in der new erfundenen Insuln menniglichen vor Augen kommen mag (Bl. )( 3v). Agricola Tabeus 1612, Bl. H iiir–H ivr. Vorlage ist der Schluss von Herolts Sermo 79 in Festo Corporis Christi; vgl. in der Ausgabe Herolt 1612, Teilbd. 1, S. 452.
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Hauß vorbei.47 Eine Hure erkennt, dass der Priester der Welt Heiland […] im Buͤ chsel tregt,48 kniet vor ihm nieder und bittet um Vergebung ihrer Sünden. Aus der Kapsel heraus beginnt der in der Hostie anwesende Heiland zu reden und absolviert die Frau von ihren Sünden – zunächst mit lateinischen Worten, dann, da sie diese nicht versteht, auch noch auf Deutsch. Obgleich die Exempelerzählung dem Status eines Zitats entsprechend nicht wesentlich verändert wird, bewirkt die paratextuell induzierte konfessionelle Perspektivierung doch, dass die motivische Komik der Geschichte, die durch den ›Ernst‹ der zentralen christlichen Denkfigur einer paradoxen Selbsterniedrigung Gottes verdrängt wird, bereits durch Formulierungsnuancen wieder hervortritt. Die Spannung zwischen dem Geltungsanspruch der zitierten Exempelrede über ein Gnadenwunder und ihrer Komisierung kann aus konfessionell ›richtiger‹ Perspektive schon an der Überschrift wahrgenommen werden: Wie der HErr GOtt Lateinisch auß der Buͤ chsen mit einem gemeinen Weib redet.49 Nicht der Akt der Vergebung wird hier thematisiert, sondern verkürzend die Paradoxie des Wunders akzentuiert, indem nur von der ›Büchse‹ und nicht von der in ihr aufbewahrten Hostie selbst die Rede ist. Die Frage, ob und wie sich das Lachen über die bloß kurzweiligen, oft obszönen Bossen mit dem Verlachen papistischer Laster und Irrtümer vertragen könne, ist jedoch weniger triftig, als dies vielleicht scheinen mag: So lässt sich insbesondere die im ersten Abschnitt ausgespielte Schwankmotivik der unbeherrschbaren Begierde, welche ja bereits auf dem Titelblatt zuvorderst den Pfaffen und Nonnen zugesprochen wird, durchaus mit konfessionalistischer Polemik gegen Zölibat und monastische Lebensform vereinbaren. Entsprechend begegnen auch im Pfaffen Sack einerseits schwankhafte Geschichten wie jene von dem jungen Mönch, der in naiver Unerfahrenheit danach verlangt, jene Gänse zu essen, als die ihm sein Abt die Frauen vorgestellt hat,50 andererseits legendarische Berichte über die erstaunlichen asketischen Leistungen von Mönchen und Einsiedlern, die in der Erjnnerung dann als betrügerische Propaganda entlarvt werden.51 Um 47 48 49
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Agricola Tabeus 1612, Bl. H iiir. Ebd., Bl. H iiiv. Die Überschrift zieht einen Satz aus der narratio des Prätexts nach vorne: […] & respondit Iesus de pixide in lingua latina (Herolt 1612, Teilbd. 1, S. 452). Ohne wesentliche Veränderung der Formulierung wird die kontrastive Komik schon dadurch freigesetzt, dass der Leser mit dieser Aussage konfrontiert wird, ohne bereits die näheren Umstände zu kennen. Agricola Tabeus 1612, Kap. VI, Bl. J ivv–K iv. Die Erjnnerung (ebd., Bl. K iv) entlarvt die vermeintliche Naivität des jungen Mönchs als bloße Verstellung und konstatiert, man finde dergleichen Wiltbret oft in Klöstern. Dies folge notwendigerweise aus dem Gelöbnis einer Keuschheit, die man nicht halten kan. Ebd., Kap. IV, Bl. J iir–J iiir (vgl. in Herolts Promptuarium das 50. Exemplum unter dem Buchstaben »I«; Herolt 1612, Teilbd. 2, S. 388f.); Kap. V, Bl. J iiiv–J ivv (vgl. den Schluss des Sermo 90 de Dominica IV. Post Festum Trinitatis; ebd., Teilbd. 1, S. 520f.);
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gekehrt kommt, wie angedeutet, die konfessionelle Orientierung stellenweise bereits im ersten Sammlungsabschnitt zum Ausdruck, etwa durch das eingefügte Zitat aus einer angeblich zu Köln gehaltenen Ablasspredigt.52 Die beiden ›Säcke‹ sind also durchaus diskursiv kompatibel zueinander. Die Unterhaltungsfunktion des ›niederen‹ Erzählens ist hier einem festen konfessionellen Standpunkt, wie er in den Schwanksammlungen der ersten Generation noch weitgehend vermieden wird, ohne größere Reibungen untergeordnet. Schloß Niergendheim / zu Nichelburg ist keineswegs ein NichtOrt, von dem eine ambivalente Autorisierung des Nichtigen oder gar eine karnevalistische Leugnung aller Geltungen ausgehen könnte, sondern lediglich ein literarisches Versatzstück, hinter dem sich eine diskursiv recht eindeutige und autoritative Position verbirgt.
3. Wenige Jahre zuvor rückt ein anderer Autor, den Buchtyp der Schwanksammlung aufgreifend, ebenfalls dezidiert die Tradition des ›niederen‹ Erzählens vor den Horizont konfessioneller Konflikte – allerdings mit einer geradezu konträren Intention. Als Dokument literarischer Produktivität des Buchtyps kann dieses Werk freilich kaum gelten; in mehr als einer Hinsicht handelt es sich eher um ein spätes Zeugnis zur Rezeption der Schwankbuchtradition des 16. Jahrhunderts. Als solches aber lässt sich an ihm eine erstaunlich konsequente Adaptation jenes charakteristischen diskursiven Profils ›niederen‹ Erzählens beobachten, wie es oben am Beispiel der Gartengesellschaft skizziert worden ist. Der Titel dieser knapp 470 Blätter umfassenden, handschriftlichen und ungedruckten Erzählsammlung – Schmahl Vnndt Kahl ROLDMARSCH KASTEN (Abb. 1) – enthält wie der des Maͤ ynhincklers Sack eine wortspielerisch verbrämte konkrete Lokalisierung (Schmalkalden), darüber hinaus jedoch auch anagrammatisch den Familiennamen des Verfassers und Schreibers (Marold).53 Ein uneingeweihter Leser würde diese versteckte Signatur allerdings kaum entdecken können, sondern den Autornamen erst am Ende des ersten Trichterabsatzes erwarten, der auf den Titel folgt. Dort läuft die Ankündigung des konventionsgerecht Lustige[n] Vnndt Zu Schwerer Zeit kurtzweilige[n] Inhalts auf eine Nennung des Autors zu, doch stattdessen wird der Satzzusammenhang durch einen Leerraum unterbrochen54 und im nächsten Textabsatz dann das auktoriale Versteckspiel durch eine
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Kap. VII, Bl. K iv–K iiv (im Promptuarium das 28. Exemplum unter »L«; ebd., Teilbd. 2, S. 398f.). Agricola Tabeus 1612, Kap. XLIII (eigentlich: XLIV), Bl. F ir. Marold 1608, Bl. Ir. Der Eintrag des Autornamens in diesen Leerraum ist von späterer Hand ergänzt.
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ridikülisierende Selbstbeschreibung fortgesetzt: Die Sammlung sei also Zusammen geraßpelt durch Einen besondtern Liebhaber Langer Vnndt schwehrer Zeit Verkürtzung, Vnndt geraden, hurdtigen Vnndt klaper durren Genßhirdten, Vff der Schmahlen Vndt kahlen Wiesen beÿ Aßpach […]. An die präzisierende Wiederholung der bereits im Titel enthaltenen Ortsangabe schließt sich nun eine periphrastische Datierung an, deren mehrdeutige Anspielung auf historische Ereignisse nur in eben diesem Ortsbezug sinnvoll aufzulösen ist: Das Jahr, do gleich die Öhlgötzen ihres feißten Öhls beraubt, Vnndt aus der großen Kisten gemustert wardten, lässt sich durch das anschließende Chronogramm bestimmen: Daßt MeIn ProVeten ahn Io nICht – also 1608.55 Damit aber wird das konventionelle Argument der Entlastung durch kurzweiliges Erzählen bewusst durch den aufgerufenen Kontext einer wahrlich schwehre[n] Zeit in Schmalkalden spezifiziert. Gerade in diesem Jahr nämlich erreichen die konfessionellen Spannungen, welche durch das Reformprogramm des calvinistisch gesinnten hessischen Landgrafen Moritz evoziert werden, einen krisenhaften Höhepunkt, und der Konflikt zwischen den (obrigkeitlichen) Sachwaltern der Reform und der größtenteils traditionell lutherisch eingestellten Bevölkerung Schmalkaldens, die Moritz’ ›Verbesserungspunkten‹ ablehnend gegenübersteht, nimmt zum Teil gewaltsame Formen an.56 Mit der Ausmusterung der Öhlgötzen57 ist in diesem Zusammenhang vermutlich auf die spektakuläre Durchsetzung des wichtigsten dieser ›Verbesserungspunkte‹ angespielt: Im Dezember 1608 werden unter militärischem Schutz alle Bildwerke aus Schmalkaldens Stadtkirche entfernt, in mehreren Wagen zum Schloss Wilhelmsburg verbracht und dort zerstört.58 Der Verfasser des Roldmarsch Kasten, Dietrich Marold, dürfte von diesen Ereignissen und den Auseinandersetzungen zwischen den konfessionellen Parteien direkt betroffen gewesen sein: Es handelt sich bei ihm wahrscheinlich um einen Sohn des angesehenen Arztes Ortolph Marold.59 Ein 55 56
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Auch hier wurde von späterer Hand die Auflösung neben die Verse notiert. Zu Moritz’ Konfessionspolitik vgl. bes. Menk 1993 und 2000 sowie Troßbach 2000. Zu den Vorgängen in Schmalkalden, wo »die Widerstände gegen die ›zweite Reformation‹ am stärksten aus[fielen]« (Menk 2000, S. 116), vgl. Troßbach 2000, S. 139–143; detaillierter die älteren Darstellungen von Heppe 1849, S. 113–154, Wagner 1849, S. 226–237, und Geisthirt 1881–1889, bes. Suppl. II, S. 26–35. Als Ölgötzen können polemisch katholische Heiligenbilder, deren Anbeter und – besonders auch bei Luther selbst – die mit Öl gesalbten katholischen Priester bezeichnet werden; vgl. Art. »Götze« in Grimm/Grimm 1984, Bd. 8, Sp. 1430–1449, und Art. »Ölgötze«, ebd., Bd. 13, Sp. 1278ff. Zu Moritz’ Ikonoklasmus allgemein vgl. Menk/Kümmel 1997, zum ›Schmalkaldener Bildersturm‹ vgl. Heppe 1849, S. 137ff.; Geisthirt 1881–1889, Suppl. II, S. 30ff. Ortolph Marold war Leibarzt der Henneberger Grafen, ab 1583 auch des Landgrafen Wilhelm von Hessen. Während sein Lebensweg relativ gut dokumentiert ist, liegt die Biographie des Dietrich (auch: Diederich, Theodor) Ma(h)rold abgesehen von den kargen Hinweisen, die seinen vier handschriftlich überlieferten Werken zu entnehmen
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weiterer Sohn Ortolphs, Vinzenz, residierte in einem der besten Häuser der Stadt, das er von seinem Vater geerbt hatte, und bekleidete seit 1607 das Amt des Schultheißen. In dieser Funktion hat er das Reformanliegen des Landgrafen offenbar mit solchem Übereifer vorangetrieben, dass er später bei diesem sogar in Ungnade gefallen sein soll.60 Dietrich Marold selbst muss wohl nicht nur als Mitglied einer stadtpolitisch wichtigen Familie, sondern auch als Genßhirt – als Lehrer der Mädchenschule nämlich61 – ebenfalls der Seite der Reformpartei zugerechnet werden. Nun markiert die verächtliche Rede von den Öhlgötzen zwar recht deutlich eine entsprechende konfessionelle Perspektive; das darauf folgende Chronogramm allerdings ist für sich genommen nicht eindeutig auf eine bestimmte Position zu beziehen: Der leicht verkürzt zitierte Psalmvers (105,15) Tastet meine Gesalbeten nicht an / Vnd thut meinen Propheten kein leid62 wird von katholischer Seite gern als Argument für die Unzuständigkeit der weltlichen Macht gegenüber altgläubigen Priestern verwendet, während dagegen Luther – etwa im Traktat Vom mißbrauch der messen (1521) – eine solche Deutung selbstverständlich ablehnt: Nicht die äußerliche Salbung an den Fingerspitzen durch den Papst oder die Bischöfe sei hier gemeint, sondern die ›innere‹ Salbung durch Gott selbst, also die Begabung mit dem Heiligen Geist.63 Und ebenso wie das Psalmzitat könnte
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sind, weitgehend im Dunkeln. Von den geläufigen biographischen Lexika wird er nicht erfasst, in Geisthirt 1881–1889 wird er nur am Rande erwähnt und in Geisthirt 1894 bleibt er unberücksichtigt. Der 11. Februar 1624 als sein Todesdatum ist durch das Kirchenbuch der Lutherischen Pfarrei in Schmalkalden bezeugt. Ihm lässt sich auch entnehmen, dass er verheiratet war und mindestens sieben Kinder gehabt haben muss. (Für freundliche Auskünfte danke ich Frau Birgit Werner, Schmalkalden.) – Ein Anhang zum Eintrag über Ortolph Marold in Strieder 1788, S. 237f., bietet immerhin eine Liste der handschriftlich überlieferten Werke Dietrich Marolds (Marold 1594, 1595, 1622; vgl. auch unten Anm. 103) – allerdings ohne den Roldmarsch Kasten; diese Liste ist in die Ergänzungen zu Jöchers Gelehrten-Lexikon übernommen worden (Adelung/Rotermund 1813, Sp. 761). Literarhistorische Beachtung hat der Roldmarsch Kasten neben und nach den stoffgeschichtlichen Rekonstruktionen von Bolte (im Anhang zu Frey 1896, S. 265–275), Stiefel 1898, S. 181–185, und Hartmann 1912, S. 109–116, kaum gefunden. Völlig unbemerkt ist außerdem bisher geblieben, dass dem Autor neben den vier Manuskripten auch ein Druck zugerechnet werden kann (Marold 1597). Geisthirt 1881–1889, Suppl. II, S. 49. Am Tag des ›Bildersturms‹ werden aufgrund seines Hinweises im »Kirchen Gewölbe« verwahrte Bildwerke entdeckt und auf zusätzlichen Wagen weggeschafft (ebd., S. 32). Eine (lutherische) Mädchenschule besteht in Schmalkalden seit der Mitte des 16. Jahrhunderts. 1610 wird außerdem eine reformierte Mädchenschule gegründet, als deren erster Lehrer Dietrich Marold bezeugt ist (vgl. ebd., Suppl. II, S. 141). Auf der Titelseite seines letzten handschriftlich überlieferten Werks von 1622 bezeichnet er sich selbst als domahls der Teutschen Schul, Vndt proh dolor Dreÿßig Jährigen Creutzhirdten zu Schmalkaldten (Marold 1622, Bl. Ar); die Widmungsvorrede unterzeichnet er dort als Dietrich Maroldt, Jetzo ahn der Jungfern Schul daselbst (Bl. Cv). Ebenso 1 Chronik 16,22; zit. nach Luthers Übersetzung 1545. Luther 1889, S. 496.
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auch die dem Chronogramm angefügte Warnung vor der Wundermacht der Heiligen64 zunächst wie ein katholisches Argument klingen – es bleibt dem Leser überlassen, darin den ironischen Wechsel auf einen Gegenstandpunkt zu erkennen, der mit Blick auf die Schmalkaldener Ereignisse eigentlich ein traditionell lutherischer sein müsste und mithin durch die Angleichung an die altgläubige Position diskreditiert würde. Paratextuell wird auf diese Weise jedenfalls der Bezug der Sammlung auf eine ganz bestimmte historische Konfliktsituation sichergestellt, eine explizite Parteinahme jedoch zugleich vermieden. Ähnliches zeigt sich auf der Titelseite noch an einer anderen, historisch weiter zurückgreifenden Allusion: Indem Marold die Schmahle[] Vndt Kahle[] Wiese[] nicht nur bei dem nahe gelegenen Ort Asbach, sondern auch im Artickels Thal lokalisiert, erinnert er an die sogenannten Schmalkaldischen Artikel Luthers, auf die sich in den Auseinandersetzungen von 1608 wiederum gerade die Reformgegner berufen.65 Im unteren Drittel der Titelseite schließlich sind zwei Motti platziert: Beim ersten handelt es sich um die zweite Hälfte eines Epigramms in tristes Convivas von Euricius Cordus, das Marold vermutlich einer Ausgabe von Otho Melanders Joca atque seria entnommen hat: Desipere est semper sapere, et non tempora nosse, | Nec qui læta uelit quique seuera locus.66 Das zweite Motto besteht aus einem griechisch zitierten Bibelvers67 und seiner lateinischen und deutschen Übersetzung. Nicht nur das Distichon, welches bereits bei Melander in einer einleitenden Blütenlese zur Rechtfertigung der joca begegnet, lässt sich als Formulierung des aus den Schwanksammlungen hinlänglich bekannten apologetischen Postulats der notwendigen Abwechslung von ernsterer Beschäftigung verstehen; auch der Bibelvers kann zunächst als eine Variation traditioneller Argumentationsmuster zur Verteidigung der problematischen Sammlungspluralität aufgefasst werden und präludiert in dieser Hinsicht entsprechenden Passagen der Vorrede. Beide Motti allerdings können vor dem Hintergrund des dezidiert aufgerufenen zeitgenössischen Kontextes auch noch anders gelesen werden. Die im Cordus-Epigramm erwähnten seuera verweisen den Leser nach zweimaligem Rekurs auf die schwehre[] Zeit nun zum dritten Mal auf den dunklen Gegengrund heiterer Kurzweil. Wenn er Marolds Anspielungen verstanden hat, wird er nicht umhin können, den Rat zur Auflockerung des Strengen und Ernsten und die Relativierung einer uneingeschränkten Weisheitsbehauptung auch auf die Verhärtung der Fronten in den zeitgenös 64
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Die Heilgen mögten zeichnen dich, nämlich (durch ein Wunder) strafen; vgl. Thesaurus 1998, Art. »Heilig«, Nr. 2 und 5, S. 2f. Vgl. Heppe 1849, S. 133; Geisthirt 1881–1889, Suppl. II, S. 29f.; Troßbach 2000, S. 139f. Vgl. Melander 1604, S. [10]. Das erste Distichon lautet dort: Quid juvat usque adeo tristes simulare Catones? / Vos modo convivas, non decet esse sophos. 1 Thess 5,21.
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sischen konfessionellen Auseinandersetzungen zu beziehen – oder jedenfalls: die kurzweilige Erzählsammlung (auch) als Zeichen einer bewussten Distanznahme ihres Autors zu lesen. Ähnliches gilt für das Bibelzitat: Das paulinische Gebot, erst alles zu prüfen und dann das Gute zu behalten, welches im theologischen Diskurs häufig im Zusammenhang mit der Frage nach der Begründung dogmatischer Geltungsansprüche (und geknüpft an je unterschiedliche Instanzen ihrer Entscheidung) verwendet wird,68 lässt sich unschwer auf die Konkurrenz der konfessionellen Glaubenslehren beziehen und könnte dabei als Mahnung zu einer rational begründeten Reflexion aller (und nicht nur der eigenen) Argumente verstanden werden. Die mehrfach deutbaren dreisprachigen Motti signalisieren jedenfalls einen Anschluss an autoritative gelehrte Diskurse und stehen damit in einem gewissen Gegensatz zur Selbststilisierung der Sammlung als ›niedere‹ Literatur: Bereits die ersten Worte der Titelseite – Schmahl Vnndt Kahl – enthalten neben ihrer Lokalreferenz ein solches Signal. Dem Titel selbst – Roldmarsch Kasten – ist nicht nur der Autorname eingeschrieben; er alludiert zugleich den Wickram’schen Rollwagen69 und macht zusammen mit der darauf folgenden Reihe der Gattungsnamen und dem Stichwort der Kurzweil den literarischen Traditionsbezug deutlich. Selbst die Abkehr von der Prosa der Schwanksammlungen impliziert nicht unbedingt eine Aufwertung, denn Marold schreibt Achtsillabige Verslin Vnndt eÿnfeltige Reumen, strenge Knittelverse also, die sich tatsächlich häufig als wenig kunstvoll erweisen. In der ebenfalls bereits geknittelten VorRed, ahn Gunstigen Leser70 setzt sich diese Adaptation des diskursiven Profils der Schwanksammlungen fort. Marold hat sie allerdings nicht eigenständig verfasst, sondern die Vorred Johannis Boccatij aus dem Cammerlander-Druck von Arigos DecameronÜbersetzung71 etwas gekürzt, versifiziert und an einigen Stellen signifikant seinen Intentionen angepasst: Er präsentiert die großenteils wörtlich aus der Vorlage übernommenen, allgemein apologetischen Argumente für ein ambivalentes und stilistisch wie inhaltlich ›niederes‹ Erzählen so, als ob sie spezifisch durch die auf der Titelseite des Roldmarsch Kasten angedeutete Situation und durch seine eigenen Bedürfnisse bedingt seien. Schon der zu 68
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So sieht zum Beispiel Luther in der Disputation mit Eck auch die dogmatische Macht des Papstes und der Konzilien nicht von der Geltung dieser regula apostolica ausgenommen (Luther 1884, S. 288f.). Dass Kasten hier (auch) als Wagen verstanden werden soll, wird in der Vorrede deutlich gemacht (vgl. Marold 1608, Bl. IIr). Mit Rücksicht auf die damals stark entwickelte Eisenförderung und -verarbeitung in Schmalkalden könnte daneben auch der Anklang an den »Rollkasten« relevant gewesen sein: eine Vorrichtung in Pochwerken, in der das Erz nach und nach unter den Pochstempel rollt (Grimm/Grimm 1984, Bd. 14, Sp. 1149). Marold 1608, Bl. IIr–IIIv. Abgedruckt bei Bolsinger 1998, S. 21f.
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Beginn angestellte Vergleich des Dichters mit dem Schuster, der Gar seltzam Werckzeug bräuchte, wenn er allen Ansprüchen seiner Kunden gerecht werden wollte, wird von Marold als eigene und auf die Gegenwart bezogene Rede akzentuiert.72 Diese Aneignung der Vorlage erreicht einen bemerkenswerten Höhepunkt in der Umformulierung einer programmatischen Forderung: Beansprucht ›Boccaccio‹ in der Cammerlander-Vorrede, er wolle wie ein Maler [d]eß gleichen […] auch als eyn Poet in [s]einen fabeln frei sein,73 so erhöht Marold einerseits die Bedeutsamkeit der Aussage, indem er den expliziten Bezug auf die poetische Tätigkeit tilgt,74 und deutet andererseits die Beschränktheit der Freiheit an, die er sich erschreibt: Alßo wihl Ich auch Freÿ nun seÿn | Inn diesem Schmahln, Kahln Wagen mein.75 Dieser Wagen aber ist nicht mit Geistlich, Sondtern nuhr welttlich Mähr beladen, und sein Inhalt ist ausdrücklich nicht für den Gebrauch Inn der Kirch gedacht.76 Er erscheint hier als metaphorische Imagination eines offenbar eng begrenzten Rückzugsraums, der eventuell von einem Leser genutzt werden kann, zunächst aber offensichtlich dem Autor selbst zugute kommen soll, der sich ja schon auf der Titelseite nicht sowohl als Ermöglicher, denn als besondtern Liebhaber Langer Vnndt schwehrer Zeit Verkürtzung vorstellt. Vor dem Hintergrund der konfessionellen Konfliktsituation, auf die Marold sich mit der Rede von der schwehre[n] Zeit bezieht,77 gewinnt nicht nur der auktoriale Freiheitswunsch eine besondere Signifikanz, sondern auch der zu Beginn angesprochene Aspekt einer Entlastung von unvereinbaren Ansprüchen und jener der Distanz zum (Diskurs-)Raum der Kirche. Die Texte, welche unter diesen Vorgaben versammelt werden, entstammen meistenteils eben jenem Korpus schwankhaften Erzählens, das beispielsweise auch den von Feyerabend verlegten Kurtzweiligen vnd Laͤ cherlichen Geschicht Vnd Historien zugrunde liegt,78 also (Arigos) Decameron, Paulis Schimpf und Ernst79 sowie Wickram, Frey und Montanus. Und ähn 72
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Marold 1608, Bl. IIr: Es must ein Schuster, sag ich rundt, | Gar seltzam Werckzeug habn ietzundt (Bolsinger 1998, S. 21: Es muest aber ein schuomacher vil wercks ha- be[n]). Vgl. Horaz, Ars poetica, V. 9f. Marold erhöht den generellen Anspruch der Aussage auch dadurch, dass er die sie begründenden Beispiele bildkünstlerischer Willkür in der Gestaltung unwesentlicher Details streicht. Marold 1608, Bl. IIr. Ebd., Bl. IIr. Auch in der VorRed: […] Sondtern die schwere Zeit allein | Mitt diesen Zu Vertreiben fein (ebd., Bl. IIr; vgl. Bolsinger 1998, S. 21: […] sunder nur die zeit darin[n] zuouertreiben); außerdem am Schluss der VorRed (Bl. IIIv): Der Wagen solle nur zur kurtzung Schwerer Zeit gebraucht werden. Vgl. oben Anm. 36. Marold benutzt auch die unter dem Titel Schertz mit der Warheyt firmierende Bearbeitung von Paulis Sammlung (vgl. Stiefel 1898, S. 181–185).
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lich wie in der Vorrede beschränkt sich Marold meist auf die Versifizierung des Prätextes, auf Kürzungen, unwesentliche Amplifikationen und drastische Akzentuierungen erotischer Motive. Religiöses und Konfessionelles wird – von einigen signifikanten Ausnahmen abgesehen – nicht in besonderer Dichte thematisiert oder gar problematisiert. Wie in vielen früheren Schwanksammlungen haben allerdings die ersten und die letzten Texte ganz offenkundig einen herausgehobenen Status und eine rahmende Funktion: Im Roldmarsch Kasten machen drei DecameronAdaptationen den Anfang (X 8, I 3, I 4), von denen die zweite den konfessionellen Konflikt dezidiert zur Sprache bringt. Es handelt sich um eine Bearbeitung jener Novelle, in welcher der Jude Melchisedech die hinterlistige Frage Saladins nach der einzig wahren Religion mit der berühmten Geschichte von den drei Ringen beantwortet. Marold versifiziert die Novelle nach Arigos Übersetzung,80 und auch hier nimmt er wieder wenige, aber folgenschwere Eingriffe vor: Die Handlung bleibt im Wesentlichen dieselbe, wird jedoch vom exotisch fernen Sultanshof in Babylon an den eines zeitgenössischen, aber unbenannten christlichen Herrschers herangeholt. Und vor allem: Die Frage, mit der dieser Herrscher den (bei Marold: konvertierten81) jüdischen Wucherer in die Enge treiben und zu einem Kredit zwingen will, betrifft hier nicht die Wahl zwischen jüdischer, heidnischer und christlicher, sondern diejenige zwischen Luthrisch[er], Bäpstisch[er] und Caluinisch[er] Religion.82 Diese Aktualisierung der Ringparabel schließt nicht nur thematisch an den paratextuell aufgerufenen Konfessionskonflikt an. Ihre ›Rahmenhandlung‹ – das geschickte Ausweichen vor dem mit herrscherlicher Macht erzeugten Entscheidungsdruck durch das Erzählen einer Geschichte83 – kann man außerdem auch als narratives Gegen 80
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Marold 1608, Bl. 26r–28v (Blatt 26 ist versehentlich doppelt gezählt; im Folgenden als 26a und b unterschieden). Arigos Text (Arigo 1860, S. 32.30–35.17) lag ihm eventuell in einer nur unwesentlich abweichenden Wiedergabe innerhalb der Kurzweiligen Geschicht (1583, S. 212f.) vor. Daneben gibt es (gegen Hartmann 1912, S. 111) lediglich punktuelle Indizien für die sekundäre Benutzung einer gekürzten Version der Novelle in Schertz mit der Warheyt (1550, Bl. VIIr–VIIIr, abgedruckt bei Bolsinger 1998, S. 199; nachgeprüft auch an der Auflage von 1563). Zu Arigos Übersetzung der Novelle vgl. Theisen 1996, S. 407–410, zur Identität des Übersetzers jetzt Böninger 2006, S. 325–348, zur deutschen Rezeption im 16. Jahrhundert Zöller 1997 und 2007 sowie Bolsinger 1998, S. 69–72. Marold 1608, Bl. 26av: ein gtaufft Juede; ebenso Bl. 28v. Ebd., Bl. 26br. Einen mit den Schmalkaldener Ereignissen des Jahres 1608 vertrauten Leser müsste dies an die vom Landgrafen angeordnete und in seiner Anwesenheit Ende November auf dem Schloss durchgeführte Gewissensbefragung der Räte, vornehmen Bürger, Geistlichen und Lehrer der Stadt erinnert haben: Die Einzelverhöre zogen sich auch deshalb über mehrere Tage hin, weil einige bibelfeste Bürger den Visitatoren »tapfer antworten« konnten (Geisthirt 1881–1889, Suppl. II, S. 27f.) bzw. sich »entweder mit zweideutigen Redensarten oder dadurch zu salviren [suchten], daß sie sich zur Beurteilung der vorgelegten Punkte für unfähig erklärte[n]« (Heppe 1849, S. 128) – also in
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stück jener Distanznahme lesen, die der Autor für sich selbst auf der Titelseite und in der Vorrede beansprucht.84 Eine solche Lesart wird einerseits dadurch noch unterstrichen, dass Marold aus der Einführung der Novelle durch Neifile die Ankündigung eines Beispiels für die guͦ ten vernünfftigen sinne eines weisen man[nes] übernimmt und als auktoriales Promythion präsentiert.85 Andererseits jedoch steigert er noch über den Prätext hinaus die Ambivalenz, die der Binnenerzählung aufgrund ihrer Handlungsfunktion im Gefüge von List und Gegenlist zukommt, indem er negative Aspekte beider Protagonisten akzentuiert: Statt durch grossen weistum wie der Sultan86 wird der christliche Herrscher hier nur durch seine Macht charakterisiert, und zudem will er den Juden nicht nur wie im Prätext listig zu einem Darlehen zwingen, sondern ihn dabei ausdrücklich auch noch übervorteilen.87 Doch auch dem Juden enthält Marold das positive Attribut der Weisheit vor und spricht lediglich von dessen Wietz vndt Listigkeit.88 Er betont seinen Geiz89 und ironisiert den am Schluss durch das offene Eingeständnis des Herrschers ausgelösten Umschlag vom Geiz zur Freigiebigkeit mit bizarrer antijüdischer Bildlichkeit.90 Weder kann also der intradiegetische Erzähler in sein Wortt | Gefangen werdten […] vom Herrn,91 noch lässt sich die Diegese selbst auf eine klare Aussage festlegen: Die diskursive Festlegung einer Geschichte über das geschickte Ausweichen vor dem Ent-
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vergleichbarer Situation durch guth Geschwetz, | Vndt ein Vernunfftig Listig Sin (Marold 1608, Bl. 26ar) dem Entscheidungszwang ausweichen wollten. Moritz setzte diese radikale Form der Visitation auch andernorts zur Durchsetzung seiner Reform ein, und dies »bedeutete unzweifelhaft eine entschiedene Intensivierung des landesherrlichen Drucks auf die Untertanenschaft« (Menk 2000, S. 115). Zöller 2007 erkennt eine Aktualisierung der Ringparabel vor dem Hintergrund konfessioneller Konflikte bereits in ihrer Adaptation durch Hans Sachs. Ihre Einschätzung hingegen, Marolds Bearbeitung zeige, »[w]ie beliebig diese Parabel […] im Zeitalter des etablierten Konfessionalismus eingesetzt werden konnte« (Zöller 1997, S. 333), kann nur dann plausibel erscheinen, wenn man den Kontext nicht beachtet, in den Marold sie bewusst einrückt. Arigo 1860, 33.5f.; ebenso Kurtzweilige Geschicht 1583, S. 211. Arigo 1860, 33.12; Kurtzweilige Geschicht 1583, S. 211: grosse[] weißheit vnd vorsichtigkeit. Er hofft, Die Summa Geltts zu vberkomn, | Doch mitt des Juden kleinen Fromn (Marold 1608, Bl. 26av). Vgl. Arigo 1860, S. 33.27 und 33.30: ein weise[r] iude[]; on zweifel ein fürsichtig man (Marold 1608, Bl. 26br: Der Listig Jud); Arigo 1860, S. 33.36: er spitzt sein weise sinne (Marold 1608, Bl. 26bv: sein listig Wietz); Arigo 1860, S. 35.7f.: des Iuden weißheit (Marold 1608, Bl. 28r: Des Juden Wietz vndt Listigkeit). Während der Sultan bei Arigo den Juden außerdem als einen in götlichen gescheften […] weise vnd wissen man anspricht (Arigo 1860, S. 33), bzeichnet ihn der Herrscher bei Marold als einen in Heilger Schriefft […] klug erfahrne[n] Mann (Marold 1608, Bl. 26av). Während das Attribut des Geizes in der Vorlage lediglich bei der Einführung der Figur genannt wird, wiederholt Marold es im Textverlauf noch zwei weitere Male. Sein Judisch Goschn ihm So zerflos, | Daß er daraus auch Nadel gos, | Wie Zwirnsfaden […] und dem Herrscher sofort das Geld bereitstellt (Marold 1608, Bl. 28v). Ebd., Bl. 26br.
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scheidungszwang wird – noch stärker als schon im Prätext – selbst wiederum vermieden: Vndt stat sub Iudice der Lis.92 Ähnliche Tendenzen einer gesteigerten narrativen Perspektivik und Ambivalenz kann man auch an einigen anderen Texten des Roldmarsch Kasten beobachten, gerade auch dort, wo konfessionelle Differenzen explizit angesprochen werden.93 Sie bekräftigen den Eindruck, dass Marold – anders als der Kompilator von Maͤ ynhincklers Sack – den Buchtyp der Erzählsammlung und die Lizenzen des ›niederen‹ Erzählens nicht dazu nutzt, ein scheinbar selbstverständliches Wissen um die Wahrheit der eigenen konfessionellen Position zu präsentieren. Vielmehr sieht er im Rückgriff auf diese Tradition offenbar die Möglichkeit, durch Erzählen solchen Geltungsansprüchen gerade zu entkommen und weder zu einer Position noch zur Negation gezwungen zu sein. Bedroht wird dieser ›schmale‹ Freiraum zuletzt jedoch, wie man dem 99. und abschließenden Kapitel der Sammlung entnehmen kann, gar nicht so sehr durch diskursive Zwänge, denen man nicht mehr ausweichen könnte, sondern durch die individuelle menschliche Leiderfahrung und den Tod, der unweigerlich alle Unterschiede aufhebt. Das letzte Kapitel vor dem Endte des Schmahlen Vnndt Kahlen Roldtmarsch Kastens94 besteht aus einem vierzehn Seiten langen Textkonglomerat. Es wird im Kontrast zur voranstehenden Reihe überwiegend ›schimpflicher‹ Decameron-Novellen durch eine düstere Geschichte über das schwere Creutz eröffnet, das einem hoffnungslos im Zirkel von Schuld und Rache gefangenen Kaufmann auferlegt ist.95 Marold amplifiziert die moralisatio im Vergleich zur Vorlage96 und setzt sie übergangslos mit einer mehrseitigen, mit passenden lateinischen Sentenzen angereicherten auktorialen Betrachtung über Unglück, Leid und Tod fort: Jeder Mensch hat sein Kreuz zu tragen, und erst mit dem Tod endet das Leid; der Christ soll geduldig sein, sich auf den Tod vorbereiten und seine Hoffnung auf Gott richten. Der Rahmen der Erzählsammlung verändert sich also: Am Ende bildet nicht mehr die schwehre Zeit eines historisch spezifizierten sozialen und diskursiven Konflikts den dunklen Gegengrund heiterer Kurzweil, sondern 92 93
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Ebd., Bl. 28r; vgl. Horaz, Ars poetica, V. 78. Genauere Betrachtung würden in dieser Hinsicht das vierte (Marold 1608, Bl. 35r–36v) und das fünfte Kapitel (Bl. 36v–44r) verdienen. Letzteres ist eine Adaptation der Decameron-Novelle II 1, die ebenfalls in die Gegenwart des Autors geholt wird. Marold mahnt im Epimythion, man solle sich vor der Verhöhnung anderer religiöser Überzeugungen hüten, erst vor der eigenen Tür kehren und nicht Ein andtern reformirn, | Mitt wietz ihm Weib Vndt Kindt regirn (Bl. 44r). Ebd., Bl. 448r–455r. Nach dem hier zitierten Explicit ist der Rest der Seite mit einer nachgetragenen Ergänzung zum 91. Kapitel gefüllt, bevor auf Blatt 456r das Register beginnt. Ebd., Bl. 448r. Pauli 1924, Kap. 223, Bd. 1, S. 143f.
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das existenzielle, erst im Tod aufgehobene Creutz körperlicher und seelischer Leiderfahrung. Die Intention einer erzählenden Distanznahme zum Diskursraum der Kirche scheint aufgehoben in einer Affirmation des Gebots der patientia, die mit dem theologischen Diskurs konvergiert. Ungefähr zur Mitte dieses Textabschnitts allerdings verstummen die hierzu herbeizitierten auctoritates, und die um das memento mori kreisenden Reflexionen werden nun durch die individuelle Leiderfahrung des Autors beglaubigt. Mit dem ersten Vers eines neuen Absatzes nämlich tritt das auktoriale Ich in den Vordergrund – DEn Rath, haltt ich auch Ehren werth – und entwirft zunächst ein noch pessimistischeres Bild des menschlichen Lebens: Gott selbst habe es so eingerichtet, dass auf ein Glück doppeltes Unglück, auf einen Nutz doppelter Schad und auf eine Gnad doppelte Straff komme.97 Nur ein Narr begehre gegen das ihm zugedachte Creutz auf, denn dadurch werde es ihm noch schwehrer sehr; der Weise hingegen füge sich ins Unabänderliche, verberge seinen Schad und lache über das Elendt Sein.98 Eingefasst ist diese ganze Passage von einem graphisch deutlich hervorgehobenen Akrostichon, welches sie nicht nur mit dem Namen des Autors verknüpft, sondern auch einen Teil des Kreuzes zu erkennen gibt, das ihm selbst auferlegt ist: DIDRIG MHAROLD VON SMALKALDEN PARALISAND.99 Und der letzte Vers des Akrostichons bekräftigt noch einmal die damit implizierte Autorisierung: Dietz lallt dir der Lahm Marold her. Welche physisch-konkrete Referenz dieser Aussage auch immer zukommen mag – signifikant ist sie zunächst und vor allem für die poetologische Selbststilisierung der Sammlung als ›niedere‹ Literatur: Schon auf dem Titelblatt korrespondiert damit ja eine komisierend herabsetzende Selbstbeschreibung des Autors. Dort allerdings fungiert die Komik unzulänglicher Körperlichkeit als Teil einer Strategie, diskursive – und konfessionell differente – Geltungsansprüche durch das Beharren auf dem Nichtigen zu distanzieren; hier hingegen wird die physische Defizienz im direkten Anschluss an den theologischen Diskurs selbst zu einem Zeichen mit exemplarischem Geltungsanspruch: Die körperliche Hinfälligkeit verweist als irdische Nichtigkeit notwendig und unmittelbar auf das jenseitig – und jenseits konfessioneller Differenzen – Wichtige. Lachen mag unter diesen Umständen als bloße Spielart der patientia erscheinen, doch der affirmativexemplarische Ernst der Leiderfahrung verdrängt die poetologische Funk 97 98 99
Marold 1608, Bl. 453v. Ebd., Bl. 454r. Ebd., Bl. 453v–454v. Bereits im Titel seiner frühesten Handschrift nennt Marold sich selbst einen Paralysanten, und das diesem Werk vorgeschaltete lateinische Geleitgedicht spielt ebenfalls auf Marolds Krankheit an (Marold 1594, Bl. VIv). Das Creutz, unter dem der Autor zu leiden hat, wird außerdem nicht nur am Schluss des Roldmarsch Kasten, sondern auch in den Widmungsvorreden der drei anderen Handschriften und des Drucks angesprochen (ebd., Bl. IIIr; vgl. ders. 1595, S. 2f.; ders. 1597, Bl. A ijr; ders. 1622, Bl. Br).
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tion des Lächerlichen nicht völlig: Mit dem Motiv des Lallens nämlich nähert Marold sein auktoriales Selbstbild einer Autorfigur an, welche prototypisch ›niederes‹ Erzählen verkörpert – derjenigen des hässlichen, aber weisen Äsop.100 Der Roldmarsch Kasten enthält nicht von ungefähr dessen schwankhaft-episodische Lebensbeschreibung.101 Sie wird durch eine descriptio eingeleitet, deren erster Teil Äsops Hässlichkeit ausmalt und mit der Benennung seines größten Fehl[s] abschließt – dass nämlich Seine Red | Gar seltzam Lälln Vndt ließpeln thet –, bevor im zweiten Teil seine höchsten Tugenten und sein unvergleichlicher Verstandt gelobt werden.102 Welches Publikum der äsopisch lallende Autor im Auge gehabt haben könnte und ob ein Druck der Sammlung geplant war, ist bisher nicht bekannt. Auffällig ist jedenfalls, dass er sie paratextuell auf eine ganz spezifische (lokal-)historische Konfliktsituation bezieht, dabei aber im Gegensatz zu seinen anderen erhaltenen Werken – allesamt geistliche Dichtungen in deutschen Versen – nicht nur seinen eigenen Namen verrätselt, sondern auch auf eine Widmung verzichtet.103 Indem er den Buchtyp der Schwanksammlung aufgreift, macht sich Marold offenbar dessen konstitutives Versprechen einer Distanznahme zum ›Hohen‹ und Wichtigen zu eigen – allerdings nicht im Sinne einer letztlich integrativen pauschalen Lockerung moralischer und sozialer Verpflichtungen, sondern als Möglichkeit des Ausweichens vor einem ganz bestimmten (und lebensweltlich akuten) Entscheidungsdruck.
4. Die hier diskutierten Beispiele sind nicht repräsentativ für die Etablierung und die Transformationen insgesamt, denen der Buchtyp der Schwanksammlung vom 16. ins 17. Jahrhundert unterliegt. An ihnen lassen sich aber Aspekte der Autorisierung und Selbstlegitimierung ›niederen‹ Erzählens aufzeigen, die bei der Rekonstruktion dieser Prozesse wenig Beachtung gefunden haben. So kann man an Freys Gartengesellschaft beobachten, dass die prätendierte Anspruchslosigkeit des kurzweiligen Erzählvorrats 100
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Zu den in der Charakterisierung dieser Figur ambivalent reflektierten, für das ›niedere‹ Erzählen zentral relevanten Differenzen zwischen Narrheit und Weisheit, äußerem Schein und innerem Wert sowie zwischen Komik und Lehre vgl. bes. Vögel 2003, S. 207–215. Marold 1608, Kap. 79, Bl. 338v–343v; Vorlage ist Franck 1969, Teil I, Bl. 123rff. Marold 1608, Bl. 339rf.; vgl. Franck 1969, Teil I, Bl. 123r: Äsop war langsamer / wißbletter vnuerstaͤ ndiger red. Die deutsche Übertragung der Psalmenparaphrase des Landgrafen Moritz von 1594 ist diesem selbst gewidmet, die Übertragung des Ecclesiasticus von 1595 den beiden damaligen Kasseler Bürgermeistern, der Druck von 1597 den Bergbau-Gewercken von Schmalkalden und Suhl (Marold 1597, Bl. A ijr) und die auf 1622 datierte Versifizierung der Bücher Salomonis nach Luther (mit angehängter Bearbeitung von Boccaccios Griselda-Novelle) der Prinzessin Agnes von Hessen und zugleich den Schmalkaldischen Schul Junpffern (Marold 1622, Bl. Br).
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nicht lediglich einem narren platz schafft,104 der für die notwendige Abwechslung im Rahmen der sozialen und moralischen Ordnung sorgen soll und dabei eventuell das Geltende inversiv und subversiv als nichtig und das Nichtige als eigentlich Geltendes erweisen mag. Vielmehr kann aus der Distanz zum ›Hohen‹ und Wichtigen heraus für das schwankhaft-›niedere‹ Erzählen auch ein genuiner Geltungsanspruch erhoben werden: als Form eines Wissens nämlich, das am gemeinen nutz ausgerichtet, aber nicht einfach aus den Normen übergeordneter Diskurse abgeleitet wird, sondern vor allem in der Alltagserfahrung begründet sein soll. Eine solche Verbindung von konstitutiver Distanznahme zum ›Hohen‹ und Wichtigen einerseits und diskursivem Eigenwert des ›niederen‹ Erzählens andererseits ist in je unterschiedlichen Ausprägungen für die Schwanksammlungen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts durchaus charakteristisch. Sie wird in späteren Sammlungen, die an diese Tradition anknüpfen, von anderen Weisen der Autorisierung abgelöst: Was narrativ geltend gemacht werden kann, erscheint nun durch einen übergreifenden, oft konfessionalistischen Ordnungsbezug in viel stärkerem Maße immer schon entschieden.105 Schwankhafte Komik und Pointierung stellen hier die Ordnung kaum auf die Probe oder machen gar Geltungskonflikte deutlich, sondern setzen geklärte Grunddifferenzen zwischen Wahrheit und Lüge, Gut und Böse voraus. Am Beispiel von Maͤ ynhincklers Sack lässt sich sehen, dass diese selbstverständlich vorausgesetzte normative Orientiertheit einerseits eine satirische Schärfung der Grunddifferenzen erlaubt, andererseits – und in bruchlosem Nebeneinander – das Anstößige und Obszöne im ›niederen‹ Erzählen entbindet und zugleich als ›Unterhaltung‹ lizenziert. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungstendenz stellt der Roldmarsch Kasten einen bemerkenswerten Sonderfall dar: Während die epistemischen Verunsicherungen durch konfessionelle Differenzierung Kompilationen wie Maͤ ynhincklers Sack allenfalls indirekt abgelesen werden können, bilden sich die Spannungen eines konfessionellen Konflikts im Roldmarsch Kasten als unaufgelöste direkt ab. Marold adaptiert das diskursive Profil der ersten Schwanksammlungen, vereindeutigt die Distanznahme gegenüber dem ›Hohen‹ und Wichtigen auf einen Abstand zu religiösen Diskursen und präsentiert die Sammlung insgesamt als einen – durch die eigene Erfahrung sowohl motivierten wie autorisierten – textuellen Rückzugsraum gegen konfessionellen Entscheidungsdruck. Dass dies vor allem in paratextuellen Rahmungen geschieht, kaum aber im Erzählen selbst verhandelt wird, mag ex post jedenfalls als Indiz für das besondere diskursive Potential dienen, das im Buchtyp der Schwanksammlung angelegt ist und von seinen Rezipienten wahrgenommen werden konnte. 104 105
Frey 1896, S. 4.17. Vgl. auch Strohschneider 2007, S. 453–458, zu Kirchhofs Wendunmuth.
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Laura Auteri
Wissensvermittlung und Erkenntnisleistung in Georg Rollenhagens Froschmeuseler (1595)
1. Die dichotomische Struktur des Wissens und die Verwirrung des Lesers In der deutschen Literatur des späten 16. Jahrhunderts sind Exkurse verschiedener Art – etwa fachkundige Einschübe, Fabeln, Bibelzitate, Hinweise auf Mythen oder Sprichwörter –, die tradiertes wie neues Wissen vermitteln, keine Seltenheit. In Georg Rollenhagens Froschmeuseler, den der Autor ursprünglich als eine Bearbeitung der alten griechischen Batrachomyomachia konzipiert hatte,1 findet man diese Einschübe jedoch so häufig, dass sich Literaturwissenschaftler immer wieder mit diesem auffälligen Merkmal des Textes beschäftigt haben. So spricht Peter Rusterholz beispielsweise vom Froschmeuseler als einem »seltsamen Stopfkuchen«,2 während Dietmar Peil den Textsinn »vor allem in der additiven Reihung der punktuellen Lehren« sieht.3 Wenn wir die einzelnen Lehren kontextualisieren, so gewinnen wir allerdings den Eindruck, dass Rollenhagen dem Leser sein Wissen sehr differenziert darbietet und dass nicht jede Lehre den gleichen Wert hat. Es kommt nicht so sehr auf das Vorhandensein von verschiedenen Wissenstypologien oder auf das Ineinandergreifen der Typologien an, sondern eher auf die Zweideutigkeit, ja beabsichtigte Widersprüchlichkeit mancher Lehren. Denn Rollenhagen baut bewusst Kontraste auf. Teilweise geschieht das durch jene Überführung der »epische[n] Erzählung in eine antinomische Disputation«, von der Wilhelm Kühlmann spricht.4 Die ständige Erweiterung des Textes dient nicht nur einer kunstvollen thematischen Gliederung nach rhetorischen Prinzipien, wie Roland Richter behauptet;5 sie entspricht vor allem auch einer Strategie der Wissensvermittlung, die auf Dichotomien basiert.6 Die Relevanz dieser dem Kosmos und dem Menschen innewoh 1 2 3 4 5 6
Weiteres hierzu bei Peil 1989, S. 725f. Rusterholz 1978, S. 148. Peil 1989, S. 738. Kühlmann 1994, S. 126. Richter 1975, S. 36ff. Eine andere Meinung vertritt Peil 1989, S. 730. Eine dichotomische Weltwahrnehmung lässt sich bei vielen Autoren des 16. Jahrhunderts beobachten; vgl. dazu immer noch Peuckert 1956 und z. B. Scholz Williams
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nenden Dichotomien in Rollenhagens Epos wird auch von jenen verwundert zugestanden, die den Froschmeuseler ansonsten als Produkt »hausbackener Moral der Bürgerlichkeit« auffassen.7 Rollenhagens Leser hat andere Gründe, sich zu wundern: Die Dichotomien und verfremdenden Kontextualisierungen8 sollen nämlich einerseits die Dichotomien der sublunarischen Welt widerspiegeln, zielen aber andererseits auf Überraschung, ja sogar auf Verwirrung als Voraussetzung des menschlichen Erkenntnisvermögens.9 Nur wer ›sich wundert‹, mag Aufmerksamkeit genug aufbringen, um richtig hinzuschauen. Der Leser, der geduldig durch Zeilen und Seiten voranschreitet, wird dabei genötigt, die Tauglichkeit jeder Lehre jedes Mal neu zu überprüfen und sich einen eigenen Weg durch die Menge der Informationen zu erarbeiten. Daraus folgt, dass der Autor wahrscheinlich zwei verschiedene Gruppen innerhalb des Publikums vor Augen hatte: primär eine größere Gruppe, die auch junge Leute einschließen mag10 und an die einzelne moralische Lehren und manche Elemente popularisierten Wissens adressiert sind,11 sowie eine kleine Elite, der hermetische Gedanken nicht fremd sind12 und von der erwartet wird, dass sie zwar ebenfalls Rollenhagens Lebensanweisungen und Lehren wahrnimmt und sich zu eigen macht, aber vor allem, dass sie in der Lage ist, eine tiefere Einsicht in das vermittelte Wissen zu gewinnen.13
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1986. Die dichotomischen Textstrukturen in Rollenhagens Werk lassen allerdings nicht auf eine individuelle dichotomische Wahrnehmung des empirischen Autors schließen und deuten auch nicht auf ein »Schwanken« Rollenhagens zwischen dem Pessimismus der Reformation und dem freudigen Selbstbewusstsein der Renaissance hin, wie Richter 1975, S. 110, meint. Bernleithner 1954, S. 231. Rusterholz 1978, S. 130, spricht von »Verfremdungseffekte[n]«, die sowohl dem Zweck des prodesse wie dem des delectare dienen sollen. Viele Intellektuelle vertraten um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert die Auffassung, dass eine Verbesserung der Künste ohne den »Hintergedanken einer heilsamen Irreführung der gelehrten Zeitgenossen« nicht denkbar sei (Cornemann 1985, S. 734). Zur Erziehung der Jugend des gebildeten ›Mittelstands‹ im Froschmeuseler vgl. Brunken 1982. Diese Lehren sind vor jedem Buch des Froschmeuseler deutlich zusammengefasst, so zum Beispiel wie die beste Regierungsform aussieht, wie es mit der Religion steht usw. Unter popularisiertem Wissen verstehe ich vereinfachte Informationen zu Themen jeder Art. Für eine Bestimmung des Begriffs Hermetismus vgl. z. B. Trepp/Lehmann 2001 und Stuckrad 2004. Hermetismus ist kaum von ›Paracelsismus‹ zu trennen: Zur Rolle paracelsischen Wissens in der Literatur der Zeit vgl. Friedrich 1995 und Ehrenfeuchter 1996. Zur aktiven Rolle des Lesers der komischen Literatur der Zeit vgl. auch Rusterholz 1978, S. 131.
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2. Kohelet als Vorbild für eine skeptische Einschätzung der Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis und Wissensvermittlung? Eine grundlegende Dichotomie bestimmt den Plot des Froschmeuseler: Das ausdrückliche Bedürfnis nach Ordnung und Stabilität steht im Gegensatz zum chaotischen Ablauf der Ereignisse. Es lohnt sich, kurz darauf einzugehen. Der unerwartet ausgebrochene Krieg zwischen Mäusen und Fröschen nimmt immer größere Dimensionen an. Ganze Kapitel zeigen die Brutalität und Sinnlosigkeit des Krieges,14 Fehlverhalten wird als Ursache jeden Übels angeprangert, alternative Modelle werden dargestellt und gepriesen. Doch letztere bleiben erfolglos: Der Krieg wütet weiter. Auch wenn die Winzigkeit der Tiere den Konflikt ins Harmlose und Lächerliche zieht,15 erweckt das Geschehen – durch Darstellungen monströser und verstümmelter Körperlichkeit, durch die Allgegenwart des Krieges und der aufständischen ›Massen‹16 – doch den Eindruck, dass die Ordnung nicht mehr herzustellen ist und dass das Schlimmste sogar noch bevorsteht. Rusterholz spricht von einer totalen Vernichtung des Menschlichen, deren Funktion die »Betrachtung des Ewigen« sei.17 Zitate aus der Bibel, insbesondere aus dem Buch Kohelet, scheinen dies zu belegen; das Epos endet mit den berühmten Versen aus Kohelet: Vanitas Vanitatum et Omnia Vanitas. Der Eindruck hält jedoch einer genaueren Überprüfung nicht stand, er trägt nur einer Seite der dichotomischen Textstruktur Rechnung. Kohelet selbst wurde übrigens nicht immer als Ausdruck einer negativen Anthropologie gesehen. Das dichotomisch aufgebaute Buch der Bibel wird noch heute sehr kontrovers betrachtet, und dies gilt erst recht für das 16. Jahrhundert.18 Während es seit der Auslegung von Thomas a Kempis als Text der Verzweiflung am Irdischen verstanden wurde, wird es seit Luther anders gedeutet (man denke auch an Sebastian Franck). Aus der Sicht des Reformators predigt der anonyme Autor nicht Weltabsage, sondern es geht ihm darum, Gottes Allmacht zu preisen und gleichzeitig auch den Menschen aufzufordern, Schmerz und Trauer des Lebens durch innere Freude und Fleiß zu bewältigen.19 Es ist undenkbar, dass Rollenhagen als eifriger Befürworter der reformatorischen Position Luthers Ansichten nicht kannte und teilte. Außerdem vertraten nicht nur Lutheraner damals eine solche Auffassung: Den Vers Vanitas Vanitatum et Omnia Vanitas finden wir als Motto zum Beispiel auch bei Giordano Bruno, dem berühmten Ver 14
15 16 17 18 19
Besonders aufschlussreich z. B. Rollenhagen 1989, Buch 3, Teil 1, Kap. 11, S. 558– 565: Friedlieb wiederreth den gantzen Krieg. So Haas 1970, S. 191. Dazu Auteri 1990; anders Jahn 2004. Rusterholz 1978, S. 152. Vgl. Lohfink 1993, S. 7, und Michel 1990. Vgl. dazu auch Schellenberg 2002.
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treter des italienischen Hermetismus, und auch er fasst ihn im Sinne Luthers auf.20 Über das Zitat hinaus sind einige Parallelen zwischen den Texten einer näheren Betrachtung wert, besonders wenn es um Sinn und Leistung menschlichen Erkennens geht.21 Kohelet fragt nämlich nach dem Wert herkömmlicher Bildung und den Orientierungschancen durch neues Wissen und hegt Zweifel sowohl an der Fähigkeit des Gebildeten, durch induktive Erkenntnis voranzuschreiten (Koh 7,19–22), als auch an der Möglichkeit, sich mit dem eigenen Wissen gegenüber den Machthabern zu behaupten (Koh 8,1–4) bzw. sein Wissen in die Tat umzusetzen (Koh 8,5–12). Im Froschmeuseler geht Rollenhagen ähnlichen Fragen nach und zitiert dabei an manchen Stellen Kohelet fast wörtlich. Auch in der Art, wie beide Texte Sprichwörter zitieren, sind Parallelen festzustellen. Ähnlich wie im Froschmeuseler wird auch im Kohelet gern auf Sprichwörter als Ausdruck der tradierten Volksweisheit zurückgegriffen. Indem Erfahrung und Beobachtung dem traditionellen Wissenserwerb durch das in den jüdischen Schulen damals übliche Lernen aus dem biblischen Buch der Sprichwörter vorgezogen werden (Koh 7,23ff.), werden Verfahren der Wissensvermittlung aus der hellenistischen Kultur aufgenommen. Sprichwörter bieten im Kohelet keine Hilfe zur Lebensführung; Spruchverkettungsmuster und dialektisches Spiel verdeutlichen vielmehr ihre Sinnlosigkeit.22
3. Lebensorientierung durch sprichwörtliche Weisheit? Rollenhagen zitiert so oft Sprichwörter, dass der Text früher oft als Fundgrube älterer Sprichwörter und der Autor selbst als Befürworter der kurzen Lehren galt.23 Die Textanalyse macht aber eine weit nuanciertere Position deutlich, die ganz im Sinne des späten 16. Jahrhunderts ist. Die ersten Humanisten und die Lutheraner hatten Anfang des Jahrhunderts die Sprichwörter und deren Fähigkeit geschätzt, dem abstrakten Denken Konturen zu verleihen und klare Lebensnormen zu vermitteln.24 In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ändert sich aber diese Einstellung. Das Gefühl verbreitet sich, dass das Sprichwort nicht immer akzeptable tradierte Verhaltensmuster überliefert, sondern Symptom einer Verfremdung zwischen tradierter Weis 20 21
22 23
24
Vgl. dazu Mancini 2000, S. 275ff. Nach Lohfink 1993, S. 8ff., spiegelt Kohelet den Versuch kultivierter jüdischer Schichten im Laufe des 2. Jahrhunderts v. Chr. wider, aus der herrschenden hellenistischen Weltanschauung soviel wie möglich zu entnehmen, ohne auf das israelitische Wissen, dessen Mängel nun offensichtlich geworden waren, verzichten zu müssen. Ebd., S. 50ff., die Kommentare zu 7.1–4 und zu 7.5–7. So z. B. Richter 1975, S. 110, der Rollenhagens eifriges Zitieren von Sprichwörtern als ein Zeichen aufklärerischer Gesinnung wertet. Röhrich/Mieder 1977, S. 33.
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heit und alltäglicher menschlicher Realität ist. Die potentielle Ambiguität zwischen buchstäblichem und metaphorischem Sinn des Sprichwortes wird stärker wahrgenommen. Man denke an das berühmte Gemälde Die niederländischen Sprichwörter von Bruegel d. Ä. (1559), auf dem viele Menschen sinnlosen Aktivitäten nachgehen, indem sie dem buchstäblichen Sinn der Sprichwörter folgen. Im Froschmeuseler werden Sprichwörter nicht wörtlich interpretiert, aber mehrmals unpassend kontextualisiert,25 so dass jedes Sprichwort zwar an und für sich Richtiges mitteilt, im Kontext jedoch nicht viel Sinn ergibt. Wie auch im Buch Kohelet wirken Sprichwörter oft wie bloßes Gerede. Die Unangemessenheit sprichwörtlicher Weisheit im Froschmeuseler26 zeigt sich etwa schon zu Beginn, als der Prinz der Mäuse, Bröseldieb, am Seeufer den Frosch Grünrock trifft und sich herzlich dafür bedankt, dass er dort trinken darf, um sich dann selbst zu loben, indem er mit einem Sprichwort die Tugend der Dankbarkeit preist.27 Nach Lieb ist die Applikation der sprichwörtlichen Lehre auf die spezifische Kontextsituation hier falsch, denn jeder darf am See trinken, es sei denn, den Fröschen wird unterstellt, dass sie es nicht erlauben würden.28 Tatsächlich stammt Bröseldiebs Wissen immer nur vom Hörensagen und vom Lesen und nicht aus eigenen Erfahrungen. Ein Sprichwort aber – das zeigt sich im Froschmeuseler – kann nur dann erfolgreich appliziert werden, wenn mit ihm »die Erinnerung an eine konkrete Erfahrungssituation verbunden« werden kann.29 Auch die Frösche wundern sich übrigens über Bröseldiebs Dankrede.30 Die Kritik trifft aber nicht den Inhalt der Sprichwörter, sondern eher die unzulässige Generalisierung ihrer Geltung. Rollenhagens Verfahren zwingt den Leser nämlich, stets weitere Stellen in Betracht zu ziehen, ehe er sich eine Meinung bilden kann. So wird auch das Thema der Dankbarkeit in wechselnden Kontexten immer wieder angesprochen. Reinick der Fuchs erzählt zum Beispiel im Kapitel 19 von einem gerechtigkeitssuchenden Bauern, der sich beklagt, weil er einer Schlange das Leben gerettet hat und diese sich undankbar zeigt.31 Die Geschichte, mit der ein alter Mär 25
26 27 28 29 30
31
So auch in Fischarts Flöh Hatz, Weiber Tratz. Ganz am Anfang beispielsweise bedient sich die Mücke mehrerer Sprichwörter, um den Floh zum Gespräch zu bewegen; sie sagt unter anderem, dass man das eigene Herz und die eigenen Schmerzen dem Freund mitteilen soll. Doch die Mücke hat die Bekanntschaft des Flohs eben erst gemacht. Es sieht deshalb so aus, als ob sie einfach neugierig ist (Fischart 1967, S. 19–24, V. 439– 586). Vgl. auch Schilling im vorliegenden Band, S. 71–78. Zu Sprichwörtern in der Literatur des späten 16. Jahrhunderts vgl. auch Bonfatti 1997 und Auteri 2000. So auch Lieb 2004. Rollenhagen 1989, Buch 1, Teil 1, S. 51, V. 249–252. Lieb 2004, S. 259. Ebd., S. 260. Als der König der Frösche selbst spricht, ist sein Sprichwortgebrauch allerdings auch nicht überzeugend. Mehr dazu ebd., S. 258f. Rollenhagen 1989, Buch 1, Teil 2, Kap. 19, S. 212–222.
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chenstoff variiert wird,32 demonstriert, wie alle – Menschen und Tiere – Undankbarkeit an den Tag legen. Rollenhagen lässt jeden zur Sprache kommen, und der Leser ist verunsichert, ob irgendjemand jemals dankbar sein wird. Auch mag er bezweifeln, ob es sich überhaupt lohnt, dankbar zu sein: legt doch der Bauer seinen Fall einem wenig vertrauenswürdigen Richter vor, nämlich Reinick. Allerdings erfährt der Leser am Ende, dass es immerhin zwei Kreaturen in der Welt gibt, die Dankbarkeit gezeigt haben sollen: den Löwen und den Drachen. Dabei handelt es sich aber nicht um Tiere der fiktionalen Realität des Textes, sondern um solche aus überlieferten Geschichten, die mit Varianten innerhalb der fiktionalen Welt erzählt werden.33 Man wird sich die Frage stellen müssen, wie es kommt, dass gerade wilde Tiere Dankbarkeit zeigen. Geht es hier nur um eine witzige Pointe oder soll man schließen, dass Dankbarkeit den zivilisierten Menschen fremd ist? Ein Rückgriff auf andere Stellen im Text kann weiterhelfen: Rollenhagen spricht in den sogenannten Alchimiekapiteln von der materia prima, also der ersten sich immer weiterbildenden materia.34 Für sie sind seit eh und je Löwe und Drache verbreitete Symbole,35 was im 16. Jahrhundert allen gebildeten Leuten und bestimmt auch Rollenhagen als Kenner der Alchimie bekannt war. Wenn aber einerseits Löwe und Drache Sinnbilder der materia prima sind und andererseits dankbare Tiere, dann dürfen wir auch materia prima und Dankbarkeit verbinden. Und das könnte heißen, dass die Dankbarkeit in unsere Welt gehört, die ja aus der materia prima besteht. Allerdings könnte diese Verknüpfung auch andeuten, dass echte Dankbarkeit nur aus einem Läuterungsprozess entstehen kann: Wie die materia prima von den Alchimisten ständig veredelt wird, so soll auch der Mensch seine Gefühle und Gedanken veredeln. Tradiertes Wissen, das durch Sprichwörter vermittelt wird, ist also an und für sich nicht zu verwerfen, kann aber nicht unmittelbar der Lebensorientierung dienen. Im Froschmeuseler wird der Leser dazu angehalten, Lehren und Informationen nicht isoliert zu betrachten, sondern immer auch mit weiteren Kontexten abzugleichen.
4. Humanistisches Wissen, oder: Wissen und Macht Auch die beste humanistische Ausbildung scheitert im Froschmeuseler an der Realität. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Rollenhagen selbst zuerst Rektor in Halberstadt, ab 1567 Lehrer und später Rektor des unter seiner Leitung aufblühenden altstädtischen Gymnasiums in Magde 32 33 34 35
Dazu Peil 1989, S. 844. Vgl. ebd., S. 845. Rollenhagen 1989, Buch 1, Teil 2, S. 186, V. 4365. Vgl. Pernety 1980, S. 99f. und S. 195ff.
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burg war. Sein Text bezieht durchgehend humanistisches Wissen ein, stellt aber zugleich infrage, ob man mit solchem Wissen tatsächlich etwas bewirken kann und ob die Herrschenden das überhaupt dulden würden. Dass dies selten der Fall ist, geht aus der Geschichte eines jungen kultivierten Hasen hervor, der lange studiert hat. Sein Bildungsprogramm ist am Humanismus orientiert. Er hat die Welt, die Natur, den Menschen kennen gelernt, Reisen unternommen, Erfahrungen gesammelt und ist davon überzeugt, den Willen Gottes zu kennen.36 Man kann ihm also keine Lebensfremdheit vorwerfen wie der Maus Bröseldieb – und vielleicht auch vielen Humanisten Ende des 16. Jahrhunderts. Sein Vater klagt zwar über die hohen Kosten einer Ausbildung, in der er keinen praktischen Sinn sieht – und einen anderen kennt er nicht. Auf dieses Unverständnis reagiert der Sohn jedoch geduldig, indem er auf die Notwendigkeit eines in Gottes Namen ausgeübten Dienstes für die Menschheit hinweist.37 Er will trotz aller Schwierigkeiten nicht auf Engagement und Lehre verzichten: Soll man darumb zu Schiff nicht fahren / | Das der etlich versuncken waren?,38 fragt er guten Willens. Doch die Geschichte hat keinen positiven Ausgang. Von den anderen Hasen bedrängt, nun also Taten zu verrichten, geht der kultivierte Hase zum König, dem Löwen, um ihn zu mehr Gerechtigkeit zu bewegen. Nachdem der König ihm eine Weile Gehör geschenkt hat, bringt er ihn, von der Kritik pikiert, mit einem Prankenhieb einfach um, wobei er bemerkt: Was seid jhr Hasn / vnd ewr Geschlecht / | Ohn arme Leut / vnd vnser Knecht?39 Gegenüber einer Macht, die ein solches Verständnis von sich und der Welt hat, gibt es kaum eine Chance für Weltverbesserer.
5. Hermetisches Wissen: die ›alt-neuen‹ Lehren Es gilt neue Wege einzuschlagen, will man nicht resignieren, und Rollenhagen will das auf keinen Fall, denn gerade als überzeugter Humanist darf man nicht aufgeben, wie die Geschichte des Hasen beweist.40 Er lehrt weiter am Gymnasium, vermittelt humanistisches Wissen, predigt und schreibt Theaterstücke.41 Er öffnet sich aber auch ›neuen‹ Lehren, nämlich den so 36 37 38 39 40
41
Rollenhagen 1989, Buch 2, Teil 2, Kap. 2f., S. 299–322. Ebd., Kap. 2, S. 307, V. 1429–1432. Ebd., S. 312, V. 1591f. Ebd., Kap. 3, S. 320, V. 1867f. Brunken 1982, S. 68, versteht Rollenhagens Betonung der Vernunft, des freien Willens und der geistigen Fertigkeiten des Menschen als Absage an die resignativen Strömungen seiner Zeit und somit als einen Vorschein aufklärerischer Gesinnungen. Doch in den Jahrzehnten um die Wende zwischen dem 16. und dem 17. Jahrhundert kann man zwar eine Reihe Probleme feststellen, der Wissenshunger aber lässt kaum nach, und von Resignation kann man ebenfalls kaum sprechen. Dazu Peil 1989, S. 721ff.
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genannten hermetischen Disziplinen, darunter Astronomie-Astrologie, Alchimie und auch die ›neue‹ Medizin. All diese Lehren wurzeln in der Antike, werden aber in der frühen Neuzeit und vor allem im 16. Jahrhundert »kulturell neu positioniert«.42 So hält Rollenhagen auch Kontakt zu bekannten Astronomen seiner Zeit, darunter zu Nikolaus Reymers (Nicolaus Raimarus Ursus), der ihn 1586 auf seinem Weg nach Prag besucht, wo er 1591 eine Professur antritt. Während seines Aufenthalts zeigt der Gast Rollenhagen sein neues, allerdings immer noch geozentrisches Kosmos-Modell, wovon der Schriftsteller so begeistert ist, dass er es nachbauen lässt. Der berühmte Astronom Tycho Brahe (mit dem Rollenhagen ab 1580 in Briefwechsel steht) beschuldigt Reymers im Jahr 1596, ihm die Idee zu seinem kosmologischen System gestohlen zu haben. Daraufhin wird Reymers aus dem rudolfinischen, mit den hermetischen Lehren vertrauten Prag verwiesen. Rollenhagen steht also dem ›Neuen‹ sehr nahe. So verwundert es nicht, wenn er im Froschmeuseler zu verstehen gibt, dass man mit den neuen Lehren besonders vorsichtig umzugehen habe, weil man ständig Gefahr laufe, sich zu exponieren und somit das Los des Hasen zu teilen. Hinweise auf Rollenhagens Interesse für die ›neuen‹ Lehren finden sich an einigen Stellen des Werks. So werden beispielsweise in einem Kapitel des zweiten Buchs astronomische Fragen verhandelt und entsprechende – zuweilen widersprüchliche – Informationen vermittelt.43 Obwohl Rollenhagen bei einem geozentrischen System bleibt, lesen wir auch, dass die sieben damals entdeckten Planeten der schoͤ ne[n] Sonne untertan sind.44 Dietmar Peil sieht darin lediglich eine Art Tribut an die Sonne als wichtigsten Planeten und keine Anspielung auf Kopernikus’ heliozentrisches System.45 Dies mag zutreffen, doch könnte dieser Tribut jedenfalls auch als Hinweis auf die hermetische Philosophie interpretiert werden, denn sie war es in erster Linie, die der Sonne einen Ehrenplatz zuteilte. So tief verwurzelt war dieses Bewusstsein im 16. Jahrhundert, dass selbst Kopernikus sich dem Hermetismus verpflichtet fühlte, als er sein heliozentrisches System vorstellte.46 Rollenhagen bleibt jedoch auf Distanz und schließt seine Ausführungen zum Lauf der Planeten mit der Bemerkung: So weit das vnser Augen sehen / | Viel mehr ist / das wir nicht verstehen.47 Diese Verse können wir als weise Meinungsenthaltung im Hinblick auf damals noch sehr kontroverse Fragen werten; sie mögen aber auch Ausdruck der Vorsicht gegenüber einem von den kirchlichen Institutionen und der politischen Macht 42 43 44 45 46 47
Stuckrad 2006, §7. Rollenhagen 1989, Buch 2, Teil 3, Kap. 2, S. 397–401. Ebd., S. 399, V. 4329f. Peil 1989, S. 882, insbesondere zu V. 4343f. Vgl. Yates 1964, S. 151–156. Rollenhagen, 1989, Buch 2, Teil 3, Kap. 2, S. 400, V. 4365f.
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tabuisierten Wissen sein. Wenn das Werk einen elitären Adressatenkreis hatte, dann mag dieser versucht haben, zwischen den Zeilen zu lesen, und könnte zu dem Schluss gekommen sein, dass Rollenhagen doch Kopernikus’ Lehre folgte oder Sympathien für den Hermetismus hegte. Rollenhagen widmet drei ganze Kapitel der Alchimie48 und beweist darin eine außerordentlich genaue Kenntnis dieses Gebietes sowie der hermetischen Philosophie. Das Thema Alchimie kehrt immer wieder, manchmal nur durch kleine Hinweise, denen oft jedoch ebensoviel Gewicht zukommt wie den ausführlicheren Erörterungen in den Alchimiekapiteln. Dabei treten einige Widersprüche zutage, was dazu geführt hat, dass Rollenhagen mal als eifriger Anhänger der Alchimie, mal als deren erbitterter Feind gesehen wurde.49 Wenn Alchimisten an manchen Stellen Betrug vorgeworfen wird, dann ist dies allerdings durchaus mit anderen Passagen zu vereinbaren, in denen eine »wahre[], seriöse[]« Alchimie gepriesen wird, die nach Naturerkenntnis strebt.50 Tatsächlich interessierten sich ja sowohl Scharlatane als auch Wissenschaftler für die Alchimie. Rollenhagen selbst versuchte vergeblich, mit dem im Froschmeuseler zitierten Leonhard Thurneysser, dessen Schriften er für Schwindel hielt, Kontakt aufzunehmen, um mit ihm zu disputieren.51 In der sogenannten Circe-Episode hingegen geht es um die mit den hermetischen Lehren eng verbundene ›neue‹ Medizin.52 Hier erzählt die Maus Bröseldieb von einigen Gesprächen des Odysseus mit seinen Leuten, die von Circe in Tiere verwandelt worden sind und von denen keiner wieder zum Menschen werden will. Unter diesen Gesprächen heben sich besonders diejenigen mit dem Koch und mit dem Arzt ab. Der in ein Schwein verwandelte Koch will Schwein bleiben, weil er sich mit der Befriedigung instinktiver, körperlicher Triebe begnügt: Es lohnt sich kaum, sich im Leben zu bemühen, denn, so der Koch, im Tod sind wir alle gleich / | Groß / klein / klug / nerrisch / arm vnd reich.53 Wissen ist für ihn nur ein Hindernis: WEr viel versteht / sagt er / vnd kan / | Der ist ein hochbeschwerter Mann.54 Der in eine Schlange verwandelte Arzt bekennt hingegen, dass er als Mensch unter eitel trawrigkeit litt,55 weil er Angst davor hatte, dass der Tod kommen könnte, um ihm weißheit vnd leben zu rauben.56 Doch jetzt erkenne er, 48 49 50 51 52
53 54
55 56
Ebd., Buch 1, Teil 2, Kap. 15ff., S. 176–204. Vgl. dazu Telle 1976. Brey 1989, S. 15. Vgl. Peil 1989, S. 830. Zu Thurneysser vgl. z. B. Peuckert 1956, S. 322–325. Rollenhagen 1989, Buch 1, Teil 1, Kap. 5–8, S. 64–89; vgl. zu dieser Episode vor allem Krausse 1980. Rollenhagen 1989, Buch 1, Teil 1, Kap. 6, S. 72, V. 891f. Ebd., S. 71, V. 865f. Vgl. Koh 1,18: »Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämens, und wer viel lernt, der muß viel leiden.« Rollenhagen 1989, Buch 1, Teil 1, Kap. 6, S. 80, V. 1155. Ebd., V. 1152.
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dass der Hochmut des Wissenden völlig unbegründet ist, da er mit seinem vormaligen Wissen kaum einen Kranken heilen konnte. Nun habe er eine Alternative gefunden: Naturnähe und direkte Erfahrung, die ihm unentbehrliche Kenntnisse vermittelten; er kenne jetzt die Eigentümlichkeit jedes Krautes und könne gegebenenfalls sich selbst heilen.57 Kühlmann spricht an dieser Stelle von der Sehnsucht nach »Erfüllung des prinzipiell erfolglosen, dem Naturablauf stets unterlegenen menschlichen Wissensstrebens«.58 Erfolglosigkeit muss aber nicht prinzipiell eintreten, sie kann auch durch den jeweiligen Wissensstand bedingt sein und vor allem mit der individuellen Einstellung zu tun haben. Denn Odysseus’ Arzt war als Mensch ein Mediziner der alten Schule, sein Leben als Schlange hingegen weist auf Paracelsus hin,59 der sein Wissen auf die Kenntnis der Natur gründete und dem die Legende den Besitz einer weisen Schlange nachsagt, der jedes Kraut bekannt war.60 Das ›neue‹ medizinische Wissen scheint in dieser Episode also nicht nur an das Prinzip ›Erfahrung statt Studium‹ gekoppelt zu sein, sondern auch einen deutlichen Vorrang zu erhalten.61 Im zweiten Teil des ersten Buchs wird dieser Vorrang allerdings im achten Kapitel (Reinick betreugt Hippocras den Raben vmb den Keß) wieder relativiert.62 Hier spottet Rollenhagen über den Aberglauben einfacher Leute, die sich mit Kräutern kurieren wollen, und demonstriert das unvermeidliche Scheitern des Arztes und Wissenschaftlers (hier der Vorwurf an Thurneysser), der nicht gründlich und demütig genug mit dem ›alten‹ wie mit dem ›neuen‹ Wissen umgeht. Wenn wir dies mit der Circe-Episode in Bezug zueinander bringen, haben wir ein konkretes Beispiel aus dem Bereich der Medizin für die ambivalente Perspektivierung jeder Art von Wissen im Froschmeuseler. Abschließend soll zu Rollenhagens Anspielungen auf hermetische Lehren noch ein letztes Beispiel angeführt werden, das einen weiteren Hinweis darauf liefert, wie der Autor das Problem der Wissensvermittlung behandelt. Im ersten Kapitel des dritten und letzten Teils des dritten Buchs (Rathschlag der Berg / vnd Wasser Geister vber diesen Krieg),63 treffen jene Ele 57 58 59
60 61
62 63
Ebd., V. 1163f. Kühlmann 1994, S. 122. Für Krausse 1980, S. 250, handelt es sich nicht um einen bewussten Hinweis Rollenhagens auf Paracelsus. Vgl. Peil 1989, S. 801, zu V. 1164. Dass das ›Neue‹ sich allgemein behauptet, geht auch aus der Behandlung anderer Lehren hervor: So vertritt Rollenhagen etwa zu den vier Elementen oder zur Ordnung der vier Temperamente eine andere Position als die offiziell anerkannte aristotelische (Rollenhagen 1989, Buch 2, Teil 2, Kap. 16, S. 392f., und weiter im Teil 3, Kap. 2, S. 397f.); vgl. dazu Peil 1989, S. 880f. Rollenhagen 1989, Buch 1, Teil 2, Kap. 8, S. 139–143. Ebd., Buch 3, Teil 3, Kap. 1, S. 628–633.
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mentargeister zusammen, für deren Existenz Paracelsus gebürgt hatte.64 Diese Geister, unter denen die Wassergeister die Frösche und die Berggeister die Mäuse beschützen, erwägen anfangs die Möglichkeit, sich infolge der nicht enden wollenden Kämpfe in den Krieg einzumischen, entscheiden sich dann aber, nicht Partei zu ergreifen. Während der heutige Leser in der Episode wohl vor allem ein literarisches ›Spiel‹ sieht, konnte ein zeitgenössischer Leser sie vielleicht anders interpretieren, vor allem wenn er ein Kenner der paracelsischen Lehre von den Elementargeistern war – also etwa von Nymphen, Sylphen, Zwergen oder Salamandern,65 welche die vier Elemente Wasser, Luft, Erde, Feuer bewohnen. Dies wird im drittletzten Kapitel des Buchs wieder aufgegriffen, als den Fröschen die totale Ausrottung durch das Heer der Mäuse bevorsteht. In diesem Kapitel kommt Gott selbst zu Wort. In seiner unendlichen Güte nimmt er sich des Schicksals seiner Kreaturen an und verkündet: Denn ich bin Gott vnd keiner mehr / Alles ich schaff, schuͤ tz vnd ernehr. Darumb wil ichs nicht lenger leyden / Das die Gespenst jhr Augen weiden / An meiner Creaturen tod / Jch wil sie erretten auß noth.66
Beim Lesen dieser Zeilen taucht die Frage auf, wen Gott mit den Gespenst meint. Meint er Paracelsus’ Elementargeister? Wird ihre Existenz jetzt durch Gott selbst bezeugt? Das ›Spiel‹ geht auf alle Fälle gleich weiter. Der Herr wendet sich an die Engel: Sagt nur / wen brauch ich zu den sachen / | Wer kan schleunig den Frieden machen.67 Die Engel reagieren zunächst – ebenso wie die Leser – überrascht, bekräftigen aber sofort, Gott brauche ihnen nur zu befehlen, sie würden ihm gehorchen, und erinnern dann an die berühmtesten biblischen Katastrophen von der Sintflut bis zum Untergang von Sodom und Gomorra, von den Plagen Ägyptens bis zum Zusammenbruch der Mauer von Jericho.68 Diese Passage könnte als indirekte Bestätigung von Paracelsus’ Behauptung verstanden werden, dass die vielen wunderbarlich Geschichteˉ im alten Testament die Wunder der Welt und darunter auch die Existenz der Elementargeister beglaubigen.69 Jedenfalls wird der Leser auf die Beschreibung weiterer Wunder der Natur vorbereitet. Es wird nämlich erzählt, dass Gott massiv eingreift, nachdem erste Maßnahmen nichts bewirkt haben. Er schickt eine neue Plage: monsterhafte Tiere, die im vorletzten Kapitel des Werks sechsundfünfzig 64 65 66 67 68 69
Vgl. Paracelsus 1960. Vgl. den Titel ebd. Rollenhagen 1989, Buch 3, Teil 3, Kap. 10, S. 679, V. 5409–5414. Ebd., V. 5415f. Ebd., V. 5417–5438. Paracelsus 1960, z. B. S. 12, Z. 34.
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Verse lang gründlich beschrieben werden. Die Beschreibung der Tiere, die unter anderem Ähnlichkeiten zum hoͤ rnin Siegfried70 und zum Drachen aus Lerna in Hercules Geschichten71 aufweisen sollen, ist allerdings recht fabulös. Hier einige Details: Die hatten gantze Beinern heut / Zusam gesetzt von schalen hart / Nach Muscheln vnd Schildkroͤ ten arth. Wie ein Rhinoceroth gestalt / […] Die Augen vorn an der Brust sitzen / Vnd auff steblein erhoben stehen / Das sie weit koͤ nnen vmb sich sehen. Zu jederseit ein scharffer Zahn / Wie sonst die Elephanten han / […]72
6. Mancher verwirrte Leser findet seinen Weg Wenn wir versuchen, eine Bilanz zum Thema der Wissensvermittlung im Froschmeuseler zu ziehen, dann wird deutlich, dass der Text verschiedenartige Lehren präsentiert: einerseits altbewährte Lehren, die sich allerdings nicht immer als tauglich erweisen, andererseits faszinierende, sehr gut brauchbare ›neue‹ oder ›alt-neue‹ Lehren, die aber oft auch als Schwindel entlarvt werden können. Der Text gleicht also zunächst einem Geflecht von unterschiedlichen Wegen durch neues und altes Wissen, einem Sammelbecken der Wissensbegierde des 16. Jahrhunderts, in dem man auf ganz verschiedenartige Weisen – durch Buchwissen und Weisheitswissen, autoritative Überlieferung und empirische Forschung, Mechanik und Magie73 – die Geheimnisse der Natur zu enträtseln suchte. Dabei tritt deutlich eine Pluralisierung der Wissensquellen und eine Umverteilung des Autoritätsprinzips hervor. Der durchschnittliche Leser des 16. Jahrhunderts brauchte allerdings das solcherart akkumulierte Wissen nicht detailliert aufzunehmen und zu prüfen; er konnte sich mit den wichtigsten Lehren und Informationen begnügen und sich dabei unterhalten lassen. Einem elitären Leserkreis hingegen wird es vorbehalten gewesen sein, Strategie und Konzept der Wissensvermittlung im Froschmeuseler genauer aufzudecken. Solche Leser konnten den fiktionalen Kosmos des Froschmeuseler als »Spiegeltheater, in dem alles Hinweise auf anderes enthalten kann«,74 begreifen, und sie konn 70 71 72 73 74
Rollenhagen 1989, Buch 3, Teil 3, Kap. 11, S. 681, V. 5480. Ebd., S. 682, V. 5513f. Ebd., S. 681, V. 5476–5490. Vgl. zur magia naturalis Hadot 2004, Kap. 10.4, S. 122–127. Stuckrad 2006, §8.
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ten diesen Hinweisen folgen wie der Naturforscher den Zeichen der Natur, um den Leitfaden zu finden, der aus dem Labyrinth heraus führt. Ähnliches findet sich öfter in der Literatur der Zeit – z. B. bei Fischart. Man könnte aber auch an außerliterarische Beispiele denken, etwa an die Kunst- und Wunderkammer von Rudolf II., Theatrum mundi und sapientiae, im Prager Schloss. Es heißt, dass dort andauernd umgestellt wurde, weil immer neue Objekte hinzukamen, so dass der Eindruck entstehen konnte, alles sei ohne Konzept aneinandergereiht.75 Dies stimmte zwar zum Teil, doch die Unordnung der Wunderkammer sollte auch ganz bewusst das scheinbare Chaos des Universums nachahmen: Wie im Universum war dann aber dort ein Ordnungsprinzip vorhanden, das der normale Besucher meistens nicht erkannte, sondern das nur Eingeweihte verstehen konnten, zumal Rudolf die Objekte für seine Kunst- und Wunderkammer, Raritäten und mirabilia, in einem Katalog aufzeichnen ließ.76 Zahlreiche Auflagen im frühen 17. Jahrhundert bezeugen den Erfolg, den Rollenhagens Tierepos hatte. Aber kann man aus heutiger Sicht tatsächlich die Differenz zwischen zwei verschiedenen Rezipientengruppen genauer rekonstruieren? Während wir uns problemlos viele durchschnittliche Leser des Froschmeuselers aus dem gebildeten ›Mittelstand‹ vorstellen können, ist es schwieriger, sich Rollenhagens elitären Adressatenkreis vor Augen zu führen. Immerhin gibt es Indizien, die helfen könnten, wenigstens einigen dieser Leser eine konkretere Gestalt zu verleihen. Rollenhagen hatte, wie wir gesehen haben, Kontakte zu den niederländischen Astronomen Nikolaus Reymers und Tycho Brahe, Vertretern eines Wissens, das damals elitären Charakter aufwies und zu den ›geheimen‹ Künsten gehörte. Die Niederlande waren Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts die protestantische Hochburg einer europäischen, auch in katholischen Ländern vertretenen Bewegung, die als das Ergebnis einer Synthese zwischen einem an Erasmus orientierten Humanismus, dem Christentum und der im christlichen Sinn interpretierten hermetischen Tradition gewertet wurde. Frances Yates sprach vor Jahren vom »religiösen Hermetismus«,77 dessen Anliegen nicht nur im Streben nach Erkenntnis und Wissen bestand, sondern auch angesichts der wachsenden Härte der religiösen Konfrontation in der Befürwortung von Toleranz und Vermeidung von Gewalt lag. 75 76
77
Béhar 1996, S. 311f., Anm. 25. Vgl. ebd., S. 170f.; dort auch weitere Forschungshinweise. Zum Thema der Systematisierung des Wissens in literarischen Texten vgl. z. B. Seitz 1974, S. 33 und S. 112, in Bezug auf Johann Fischarts Geschichtklitterung (1575) und Schilling 1993, S. XXVI und S. XXVIIf., zu Fischarts Catalogus Catalogorum perpetuo durabilis (1590). Yates 1964, Kap. X: »Religious Hermetism in the Sixteenth Century«), S. 169–189. Spätere Kritik an Yates betrifft nicht diesen Punkt; vgl. dazu auch Königsberger/Mosse 1968, Kap. 12, S. 235–256. Auch Georg Rollenhagens Sohn Gabriel, selbst Schriftsteller, pflegte Kontakte zu den Niederlanden, etwa zu Hugo Grotius, dem berühmten Vertreter des Naturrechts und wichtigen Vertreter der niederländischen ›Bewegung‹.
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Es kann hier nicht darum gehen, auf diese elitäre Gruppe näher einzugehen.78 Mit Blick auf zentrale Themen des Werks – den Schrecken des Krieges und den Wert des Friedens – könnte man aber auch in diesen Kreisen ein mögliches deutsches beziehungsweise Deutsch lesendes Publikum für den Froschmeuseler vermuten. Diesen Lesern dürften Rollenhagens Gedankenwelt und Gedankengänge in puncto Wissensvermittlung und Erkenntnisleistung alles andere als fremd vorgekommen sein, so dass es ihnen auch nicht schwergefallen wäre, die richtigen Verknüpfungen herzustellen und in der vermeintlichen Unordnung eine sinnvolle Ordnung zu erkennen. Was sie dabei herausfanden, können wir kaum im Einzelnen nachvollziehen; wir dürfen aber annehmen, dass ihnen die Lektüre einerseits einen Zugang zu zeitgenössischem Wissen bot und andererseits vor allem aber bestätigte, dass es nur auf das persönliche Verständnis des Ganzen und nicht bloß auf das Lernen einzelner Lehren ankommt. Wissen gründet auf einem Verständnis des Ganzen, das die Polaritäten und Dichotomien überwindet. Wer – das könnte Rollenhagens Intention gewesen sein – das begreift, dem gelingen Wahrnehmung und Kontrolle des Lebens: Wer das weiß / heimlich Schaͤ tz verstehet / Mit heimlichen sachen vmbgehet.79
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78 79
Zu ihrem politischen und sozialen Hintergrund vgl. ebd. Rollenhagen 1989, Buch 1, Teil 2, Kap. 18, S. 207, V. 5008ff.
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Heraldische Fiktion als genealogisches Argument Anmerkungen zur Wiener Neustädter Wappenwand Friedrichs III. und zu ihrer Nachwirkung bei Maximilian 1. Einer der Holzschnitte am rechten Seitenturm der 1517/1518 vollendeten Ehrenpforte für Maximilian I. zeigt den Kaiser vor einer neunteiligen Wappenwand, die ihm von einem knienden Gelehrten und einem Herold erläutert wird (Abb. 1). Der Szene ist die folgende Inschrift beigegeben: Die hewser Burgund Osterreich Hat er gmacht tzierte künigreich Darin erhebt sein hohenn stam Die wappen zogen schon tzusam Sein erben als tzu nutz vnd eer […].1
Die Verse begleiten einen eher konventionell wirkenden Holzschnitt Albrecht Altdorfers von überschaubarem künstlerischen Reiz. Dass er dennoch schon vor Jahrzehnten erhöhte Aufmerksamkeit erregt hat, ist der bemerkenswerten Tatsache geschuldet, dass sich fast alle der jeweils kaum zwei Zentimeter hohen Wappenbilder relativ genau bestimmen lassen. Gegenstand der Szene ist eine Standeserhebung von insgesamt neun Herrschaften,2 der ersten sechs zu Königreichen, der drei letzten zu Fürstentümern. Die Namen der anderen neuen Herrschaften lassen sich zumindest näherungsweise bestimmen.3 Nur mittelbar kann man außerdem an der Ehrenpforte ersehen, welches dynastisch-territoriale Potential einem derart manipulativen Umgang mit Herrschaften und ihren Wappen von Seiten der Historiographie zukommen konnte; einen entsprechenden Hintergrund bietet das 1507 entstandene Wappen Puech aus dem maximilianischen Umkreis, das im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv aufbewahrt wird.4 Mit diesem Rüstzeug sei der Blick exemplarisch auf das erste und wichtigste 1 2
3 4
Zit. nach Schauerte 2001, S. 332, vgl. die Abb. S. 395. Also sieben mehr, als der Verstitel, der ja nur von Burgund und Österreich spricht, erwarten lässt. Vgl. Coreth 1950. Wie bei so vielen anderen Projekten Maximilians ist auch für das Wappen Puech zu vermuten, dass es entweder unvollendet blieb oder nur die Vorstufe zu einem gedruckten Werk darstellt.
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der Wappen gerichtet, welches das neue Königreich Osterreich zeigen soll: Im gevierten Wappen mit habsburgischem Herzschild stehen sich der österreichische Bindenschild und das Wappen der Landgrafschaft Elsass gegenüber. Die Angaben nun, die das Wappen Puech zu beiden Herrschaften macht, lassen die genealogisch-historiographischen Gründe der geplanten Erhöhung des Hauses Österreich erkennen. Sie machen deutlich, dass auf diesem Schild an der Ehrenpforte die beiden höchsten genealogischen Potenzen des ganzen Buches zusammengefasst sind: Österreich nämlich wird als das erste Königreich der Welt von Gnaden Julius Caesars und Neros und zugleich als angestammtes Glied des römischen Imperiums bezeichnet, das dann über die deutsche Nachkommenschaft des ausgewanderten römischen Fürsten Fabj Albrecht und die nachmals Schweizer Stammsitze der Habsburger – nicht zuletzt auch noch unter Beteiligung burgundischer und schwäbischer Fürsten – auf Maximilian gekommen sei: Das ist ein Wappen wolgeziert / von dreyen stucken / vnd ist durch Julius Cesar vnd den Nero gefreyt worden / Zu dem ersten künig Reich der wellt / vnd ist doch allzeit anhenngig gewest von Natur / dem Ro. Reich / Wiewol Attila / das mit dem Swert erobert hat / durch lanng Zeit hunngern gewesen ist / doch bey haydenischen Zeitten / biß an die Stat / genannt Larch [Lorch in Oberösterreich; Anm. d. Verf.] / vnd dass Wasser genannt die Enns / Vnd darnach durch den Cristlichen glauben / den Sig angenommen Vnd dem Reich anhenngig gemacht / Vnd am Ersten ain marggrafen erwelt / vom Furstenthumb Swaben / auch von Fabj Albrecht / abkomen / nachdem Fabj Albrecht von Rom komen ist / hat drey deutsche Weyber vberkomen / die Erbtochter gewesen sein / Vnd da er in Vchtlannd das Sloss Allthabspurg gepawt hat / das nun verganngen ist / darnach ein news Sloss worden gepawt / hat gehayssen die lenntzburg die er ererbt hat / Vnd auf heutigen tag / haist man dasselb Fürstenthumb / Turgaw Vnd Argaw / mit der anndern tochter / wann die gestorben ist / zu Lenntzpurg / aber ein Tochter angenomen / hat gehebt das Furstenthumb Swaben / Vnd bey bayden Kynndern mändliche Kynnd / Darnach ist dieselb Fürstin auch gestorben / Vnd hat gehebt ein Grofen von Freyburg / Vnd das ganntz Breysgaw / mendlich Stammen / von den drey frawen mendliche kynnd ist Besetzt worden / mit Fursten des Künigreiches Burgundj / des hertzogthums Swaben Vnd das Furstenthumb Osterreich das Zu Cristen worden ist / durch wal Vnd darnach widrumb durch wal. Durch absterben desselben geslechts / mandlich Vnd weyplich Stammes / auf künig Albrecht / künig Rudolffs Son / hertzogen Zu Zerynngen Vnd Grafen Zu habspurg / Darumb furt kunig Max / disen Schild gar.5
Die sechs Kronen im Wappen des Elsass sollten hingegen an die Teilkönigreiche des einstigen Königreichs Burgund erinnern: neben Burgund selbst die Lombardei, das Piemont, die Provence, das Arelat und eben das Elsass. Infolge des Krieges mit der heydenschafft sei dieses Reich geteilt und in Grafschaften und Herzogtümer zerschlagen worden,6 und durch die mannigfachen Verzweigungen seines Stammbaums konnte Maximilian dann jeweils Ansprüche auf diese anmelden – wie er es an der Ehrenpforte in Gestalt zahlreicher derartiger ›Anspruchswappen‹ auch tut. So zeigt allein 5 6
Zit. nach Schauerte 2001, S. 218. Ebd., S. 219, Nr. 13.
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dieses erste Wappen, wie die Hausgeschichte und der kaiserliche Stammbaum Ansprüche auf zahlreiche, einst angeblich besessene Königsthrone legitimieren konnten. Die Wappen begründen mithin also weniger eine Erhebung im eigentlichen Sinne als vielmehr die Restitution geraubter oder sonstwie abhanden gekommener Rechte und Titel. Zugleich versuchte Maximilian damit, die – gleichermaßen erfolglosen – Bemühungen seines Vaters Friedrichs III. um die rangmäßige Erhöhung Österreichs zum Königtum fortzusetzen. Und die denkbar knappsten Ausdrucksformen für eine solche Manipulation lagen naturgemäß in der heraldischen Sprache der Wappen, die solche – oft nicht unproblematischen – Anliegen umso diskreter vortragen konnten, je komplizierter sie gestaltet waren. Aufgabe des knienden Gelehrten (beziehungsweise all der kaiserlichen Historiographen und Genealogen, die er verkörpert) war es also vor allem, ein möglichst dichtes Geflecht aus genealogischen und historischen Bezügen zu schaffen, mit dem sich Beziehungen zu möglichst jeder europäischen Herrschaft für den Moment des Erb- oder Lehensheimfalls, aber auch im Zuge von kriegerischen Eroberungen herstellen ließen – also bildlich gesprochen ein so engmaschiges Netz zu knüpfen, dass darin idealiter jeder nur denkbare Rechtstitel – vom baufälligsten Pflegschloss bis hinauf zu den Thronen Europas – hängenbleiben konnte. Eine prinzipiell ähnliche, doch strukturell etwas anders gelagerte Beobachtung erlaubt der Stammbaum über dem Mittelportal der Ehrenpforte (Abb. 2), der den Quellen zufolge wegen der besonderen Anteilnahme Maximilians eine ebenso lange wie kontroverse Vorgeschichte aufweist.7 Ausgehend von den – damals allgemeinverständlichen – genealogischen Abbreviaturen Troia, Sycambria und Francia für die antik-vorzeitliche, ungarische und fränkische Abkunft der Habsburger windet sich der Stammbaum empor bis zu den Enkeln Maximilians und folgt dabei in der dreiteiligen Darstellungsform von Wappen, Inschrift und halbfigurigem Bildnis bewährten Beispielen in der maximilianischen Miniatur- und Monumentalmalerei.8 Festzuhalten ist dabei, dass die Deszendenz des Kaisers in der männlichen Linie nicht allein bildlich und inschriftlich wiedergegeben wird, sondern dass versucht wird, dies auch im sich wandelnden Wappenbild zu veranschaulichen. Auch hier genügt für ein tieferes Verständnis nicht der Blick auf die Ehrenpforte selbst, sondern es sind wiederum zeitgenössische Dokumente heranzuziehen. In diesem Falle scheint der Codex 3073 der Österreichischen Nationalbibliothek geeignet, der einen genealogischen Text des diesbezüglich führenden unter den kaiserlichen Sekretären, Jakob Mennels,
7 8
Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 125ff. Die einschlägigen Beispiele sind noch immer am besten zusammengestellt in der schwer erreichbaren Arbeit von Bruck 1948.
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enthält. Hier stimmt eine bruchlose Sequenz von 26 Ahnen genau mit denen der Ehrenpforte überein.9 Daneben bildet für das erste der Wappen die Kaiserchronik De Caesaribus von Maximilians Wiener Sekretär und vertrautem Ratgeber Johannes Cuspinian eine wichtige Referenz. Das Manuskript, das im Wesentlichen vermutlich im April 1512 abgeschlossen wurde, bietet eine historisch belangreiche Erklärung des sogenannten Krötenwappens, welches der erste Fürst des Stammbaums, Clodoueus-Chlodwig, führt: Die Marckgraffen hätten dieses Bild vom ersten König des Frankenreiches verliehen bekommen zur Erinnerung an die römische Legion, die einst den Angriff der Heruler, Quaden und Markomannen abgewehrt und ebendiese Lörchen als Legionszeichen geführt hätte. Die Kröten galten also als antik-römisches Feldzeichen, dessen hervorragend tapfere Inhaber damit auf die besondere ›Reichstreue‹ der habsburgischen Marckgraffen in – nach heutigen Begriffen – Spätantike und Frühmittelalter vorauswiesen. Da Chlodwig hier, wie seine Krone deutlich macht, bereits den Königstitel führt, ist das Wappen zugleich Zeichen seiner Rangerhöhung. Die drei Kröten erinnern noch an den Status der fränkischen Marckgraffen, während die drei Lilien (heraldisch) rechts in der Wappensprache wiedergeben, was wiederum Mennel im erwähnten Codex 3073 berichtet: Chlodwig sei von Kaiser Anastasius I. der königliche Rock samt der Krone in Verbindung mit dem Titel eines kaiserlichen Rates verliehen worden. Damit wird zugleich auch die angestammte Zugehörigkeit des ›Frankenreiches‹, das hier nun durchaus – die wohlvertrauten Lilien bekunden es – mit dem Frankreich der Gegenwart gleichgesetzt werden konnte, zum Imperium Romanum ausgedrückt. Dessen europäische Suprematie nahm Maximilian für sich ebenso in Anspruch wie seine kaiserlichen Vorgänger und Nachfolger.10 Als eine neuralgische Stelle ist dabei die Person des Theodobertus anzusehen, der zwar weiterhin die fränkisch-französischen Lilien führt, jedoch anstatt der Königskrone nurmehr einen Kranz auf dem Haupt trägt. Hinter diesem unscheinbaren Detail verbirgt sich eine der größten Schwachstellen der maximilianischen Genealogie, denn hier galt es zu erklären – oder vielmehr zu verschleiern –, warum die Habsburger einst Könige gewesen sein sollten, wenn sie die historische Bühne real dann als bloße Grafen betraten. Weitere Verwirrung brachte die Tatsache, dass die historische Unterscheidung zwischen Theodobertus und dem an der Ehrenpforte nachfolgenden Ottpertus umstritten war und zu Verwechslungen geführt hatte. Dies zeigt deutlicher als alle Erläuterungen der betreffende Holzschnitt jener maximilianischen Genealogie des Augsburger Malers Hans Burgkmair, die nach
9 10
Vgl. Laschitzer 1888, Nr. 51ff., 56–65 und 68–76; ferner Schauerte 2001, S. 233–239. Ebd., S. 233f.
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Studien von Ladislaus Sunthaym und Jakob Mennel unter der Observanz Konrad Peutingers bis 1512 entstanden war (Abb. 3). Mit groben Buchstaben war dort aus dem gedruckten Odopertus ein TheOdopertus gemacht geworden. So gibt Mennel im Wiener Codex auch erst für Ottpertus an, was die Barhäuptigkeit des Theodopertus an der Ehrenpforte als äußeres Anzeichen für den Abstieg des Hauses zum bloßen Grafenstand zu erklären vermag: Zunächst König von Burgund, habe er aus Edelmut und Friedensliebe auf den Königsthron verzichtet.11 Infolge dieser Verwechslung reagiert denn auch erst das nachfolgende Wappen der Ehrenpforte auf diese Tatsache: Das Lilienwappen ist aufgegeben, stattdessen erscheinen im gevierten Schild nun der Löwe Habsburgs, dann die bekannten Kronen des Elsass, die hier natürlich zugleich die verlorenen Königreiche symbolisieren; es folgt schließlich die Herrschaft Burgund und der Bindenschild Österreichs. Für das maximilianische Wappenwesen können beide Beispiele verdeutlichen, dass dessen Bilder und Zusammensetzungen nicht nur als komprimierte Beschreibung eines rechtsverbindlichen Status quo fungierten, sondern dass sie als Anspruchstitel eine politische Eigendynamik entwickeln konnten, die dem heutigen Betrachter auf den ersten Blick nicht mehr ins Auge springt. Dabei bleibt für die Frühgeschichte des Hauses Habsburg eine unverkennbare Präsenz fränkisch-französischer Herrschaften sowohl in den Wappenbildern als auch in der begleitenden genealogischen Literatur festzuhalten. Sie sind zunächst wohl als direkter Ausfluss von Maximilians jahrzehntelangem Ringen mit Frankreich um die Teilherrschaften des 1477 zerschlagenen burgundischen Herzogtums zu verstehen. Die kaum noch entwirrbare Vermischung von realen und fiktiven Ahnen, Wappen und Versippungen hätte im Falle einer kapetingischen Thronvakanz oder des Heimfalls von französischen Kronlehen bedarfsweise auch habsburgische Anwartschaften begründen können. Als sich Franz I. 1519 um die Nachfolge Maximilians auf dem Kaiserthron bewirbt, scheint er diese Auffassung in der umgekehrten Denkrichtung nachzuvollziehen. Jedenfalls dürfte für deren Verbreitung die geplante lateinischsprachige Ehrenpforte als ambitiöses kaiserliches Geschenk an die europäischen Höfe und als genealogisch-heraldische ›Drohkulisse‹ ein geeignetes Medium gewesen sein – wenn sie denn zur Verteilung gekommen wäre.12 Einen ganz anderen Weg beschreitet in dieser Hinsicht die niemals vollendete und ebensowenig veröffentlichte Genealogie, die der Augsburger Maler Hans Burgkmair nach den damals neuesten genealogischen Erkennt 11 12
Mennel 1518, fol. 27v–29v. Dies war für die deutsche Fassung erst 1527 unter Erzherzog Ferdinand der Fall, während die lateinische noch nicht einmal zum Druck gelangte.
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nissen zwischen 1509 und 1512 für Maximilian schuf: Im Handexemplar des Kaisers aszendiert die Folge von Maximilian selbst über weitere 76 Glieder bis auf einen der universalen Stammväter adeliger Geschlechter: Hektor von Troja.13 Ursprünglich durchweg mit erläuternden Versen, prunkvollen Arkaturen und individuellen Bilddevisen geplant, fehlen oftmals jedoch sogar die Wappenschilde, die dem Ganzen auch eine größere historische Tiefenschärfe – und damit Glaubwürdigkeit – hätten verleihen können. Im Falle des [The]Odopertus antizipiert das vorgeblich trojanische Wappenbild natürlich den Habsburger Löwen (Abb. 3). Der Anschein von Authentizität wäre im vorliegenden Falle umso nötiger gewesen, als eine ganze Reihe der Namen angeblicher habsburgischer Grafen, Markgrafen und Herzöge schlicht erfunden sind, wie beispielsweise Syseboldus, Hupponix, Hilibrico, Glanthonas oder Margarithon, die in ähnlich historisierenden Grotesk-Harnischen dargestellt werden. Diese Phantastik lässt die beiden vorhergehenden Beispiele weit hinter sich, und so ist es wohl auch zu erklären, dass die Genealogie unvollendet blieb und dass auch der unmittelbar darauf fertiggestellte und deutlich offiziösere Stammbaum der Ehrenpforte auf die früheren Teile dieser Ahnenreihe gänzlich verzichtet und erst ab Chlodwig parallel läuft. Im gegebenen Zusammenhang könnten diese drei Beispiele etwa wie folgt eingeschätzt werden: 1. Im Falle der Erhebungs-Szene an der Ehrenpforte erlaubt die deutliche Realitätsnähe der Heraldik zumindest den partiellen Nachvollzug der ernsthaften politischen Ambitionen, die hinter der Bilderzählung stehen. 2. Beim Stammbaum der Ehrenpforte illustrieren apokryphe Wappen knapp die historischen oder für historisch gehaltenen genealogischen Gegebenheiten, flankiert von den beiden Suiten mit zusammen 107 Wappen, die weit überwiegend reale Herrschaften bezeichnen. 3. Diese apokryphen Wappen scheinen darüber hinaus auch offensichtlich phantastischen historischen Setzungen einen stärkeren authentischen Anstrich geben zu sollen, wie dies die unvollendete Burgkmair-Genealogie zeigt. Weiterhin bleibt festzuhalten, dass gerade in diesem Zusammenspiel von Heraldik, Genealogie und begleitendem Schrifttum eines der Prinzipien von Maximilians historiographischer Wissensspeicherung und -vermittlung zum Tragen kommt: Die Bildersprache der Wappen bedient sich des Verfahrens der Komprimierung und Dekomprimierung von Herrschafts- und Geheimwissen durch Eingeweihte.14 13
14
Vgl. Hispania 1992, Nr. 129. Der Katalog bietet insgesamt noch immer die beste Synopse der Ars Maximilianea. Womit sie nicht zuletzt in erstaunlich direkter Weise vorwegnimmt, was später zum Grundprinzip der Emblematik werden sollte.
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In der aufwendigen Art ihrer vielen Umsetzungen, in ihrer idealiter unendlichen Reproduzierbarkeit durch den Druck und in der Heranziehung so ausgezeichneter Köpfe wie Dürer, Altdorfer und Burgkmair, Pirckheimer, Peutinger und Stabius bei ihrer Realisierung erweist sich nicht zuletzt die Ernsthaftigkeit solcher Argumentationsweisen für Maximilian. Impulse dazu mochten zwar vergleichbare ältere Praktiken an den Höfen vor allem Frankreichs und Burgunds gegeben haben, aber für ihre Monumentalisierung wurde vor allem stets des Kaisers eigene Erfindungsgabe verantwortlich gemacht. Ohne Maximilians Ingenium und die vergleichende europäische Perspektive in Abrede stellen zu wollen, bietet aber auch der Blick auf die habsburgischen Haustraditionen erstaunliche Phänomene in Sachen Heraldik und Genealogie. Sie können dabei weiterhelfen, fiktionale Wappensuiten und Stammbäume ein wenig differenzierter zu bewerten und sie zugleich noch etwas weiter in die österreichische Geschichte hinabzuverfolgen. Dabei liefert gerade die Phantastik der zuletzt charakterisierten Burgkmair-Genealogie den entscheidenden Hinweis auf eine Art heraldisches-genealogisches ›Urphänomen‹, mit dem sich Maximilian im Wortsinne seit seinen ersten Kindheitstagen konfrontiert sah und von dem nun die Rede sein muss.
2. Zunächst ist zu erwähnen, dass für die kaiserliche Bibliothek neben dem erwähnten Wappenbuch von 1507 bereits im Jahre 1448 auf Weisung Friedrichs III. ein ähnliches Werk geschaffen worden war,15 das heute gleichfalls im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv aufbewahrt wird.16 Hier wie dort werden farbenprächtig illuminierte Wappen von Erläuterungen wechselnder Länge begleitet, doch liegt der entscheidende Unterschied darin, dass die Wappen im Buch Friedrichs zum allergrößten Teil frei erfunden sind. Und während im Falle des späteren maximilianischen Wappenbuches keine konkretere Abhängigkeit als eine eher allgemeine von dem friderizianischen Vorbild rekonstruierbar ist, kann für das ältere Werk eine Quelle benannt werden, deren Glaubwürdigkeit seit ihrer ersten Niederschrift am Ende des 14. Jahrhunderts stärksten Zweifeln der Gebildeten ausgesetzt war – aus heutiger Sicht mit jeder nur denkbaren Berechtigung. Es handelt sich um die sogenannte Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften des Leopold Stainreuther,17 und es war kein Geringerer als der kaiserliche Sekretär Enea Silvio Piccolomini, der nachmalige Humanistenpapst Pius II., der die 15 16 17
Vgl. Seemüller 1909, S. CCIX und CCXCV. Signatur: Weiss 84. Vgl. dazu Strnad 1993; zur Person Stainreuthers Heilig 1933, S. 225–289.
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se Fälschung als solche in seiner Historia Austrialis scharf gegeißelt hatte: Zwar habe er eine österreichische Geschichte in die Finger bekommen, doch sei diese »unsinnig und voller Lügen und von einem Menschen verfasst, bei dem schwer zu entscheiden ist, ob bei ihm die Bosheit oder die Dummheit überwiegt«. Die Österreicher jedoch würden »das Werk wie eine heilige Geschichte verehren, in der sie von ihrem ältesten Ursprung lesen. So glauben sie nämlich, sie seien berühmt und vortrefflich«.18 Es folgt in indirekter Rede eine Zusammenfassung des abstrusen Inhalts nebst zahlreichen, fast wutentbrannten Widerlegungen besonders abwegiger Erfindungen. So mutet es zunächst seltsam an, dass diese Bedenken seinen Dienstherrn und Förderer Friedrich III. offenbar in keiner Weise anfochten. Dies ist umso verwunderlicher, als sich Enea während der Niederschrift der ersten Fassung zwischen 1452 und 1454 längere Zeit am Wiener Neustädter Hoflager des Kaisers aufgehalten hatte.19 Die Ursache für diesen Widerspruch dürfte unter anderem in der Tatsache zu suchen sein, dass neben dem Kaiser auch dessen Rat Thomas Ebendorfer (1388–1464) die Chronik keineswegs als Fabelei abtat, sondern Teile daraus für seine eigene Österreichische Chronik als historische Tatsachen herangezogen hat – allerdings mit einem unverkennbar kritischen Unterton und meist unter Fortlassung der Wappenblasonierungen.20 Letztlich sind Friedrichs direkter Anregung mindestens eine Textredaktion dieser Chronik und eben auch das genannte Wappenbuch zu verdanken.21 Die lange und komplizierte Entstehungsgeschichte von Stainreuthers Chronik hatte während der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine von diversen inneren Brüchen durchzogene, mit der Kaiser-, Papst- und Welthistorie verschränkte Darstellung der österreichischen Geschichte hervorgebracht, die im Laufe des 15. Jahrhunderts immer wieder bis in die jeweilige Gegenwart ergänzt worden war. Ihr berühmtester Bestandteil sind jene Passagen, die in 95 Kapiteln von wechselnder Länge die Abfolge und Geschichte zum Teil vorzeitlicher österreichischer Besitzungen wiedergeben. Ohne große chronologische Stimmigkeit wird hier die Reihe zunächst jüdischer, dann heidnischer und erneut jüdischer Herrscher Österreichs seit dem Jahre 810 nach der Sintflut geschildert,22 bis nach diesem quasi alttestamentlichen Vorspiel mit der 66. Herrschaft historisch verbürgte Habsburger auf den Plan treten. Verwegen klingen schon zu Beginn der Chronik die Namen der fingierten Herrscher, die vor Christi gepürd sein gewesen:23 18 19 20 21 22
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Piccolomini 2005, Kap. I 4, §4, S. 29ff. Strnad 1993, S. 470. Seemüller 1909, S. CCXCIIf.; Lhotsky 1967, S. XLIIIf. Seemüller 1909, S. CCXCIVf. Dies entspräche in der Einteilung der Weltzeitalter nach Isidor von Sevilla dem Jahr 2147 v. Chr. Österreichische Chronik 1909, S. 24.18.
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In dem land enhalb meres, daz da haisset Terra Ammiracionis, was gesessen graf Sattan von Aligemorum, under dem wart geboren ain rittermezziger man, hies Abraham von Temonaria. Der wart nach der sintflut geboren acht hundert und zehen jare. Der nam ain weib aus dem reich Samamorum, die was ain tochter herren Terromant und frawn Sanyet und hies Susanna. […] Abraham von Temonaria underwand sich mit krieg seins herren gut, graf Sattans von Aligemorum, und kriegten mit ainander alz lang, üncz das graff Sattan Abraham von Temonaria vertraib, daz er vor rechter armuͦ t allain muͦ st geen auz dem lande Terra Ammiracionis. Abrahams wappen von erb waren die: er furt auf dem helm ain rüssein haubt, halbes swarcz und halbes weis, und ainen gestukchten schilt, durchlanges ab vierczehen stukch, siben weis und siben swarcz.24
Doch ungeachtet aller bunten Fabelei und Eneas beißender Kritik daran entwickelte diese merkwürdige Fiktion ein erstaunliches Eigenleben, das über das Wappenbuch von 1448 weit hinausging und im Zentrum dieser Überlegungen stehen soll: Die knapp 16 Meter hohe Wappensuite an der Ostwand der Wiener Neustädter Burgkapelle ist das größte, faszinierendste und auch künstlerisch anspruchsvollste heraldische Monument, das die nordeuropäische Kunstgeschichte des Mittelalters kennt,25 zugleich aber auch das merkwürdigste in der sich sonst eher durch Eindeutigkeit und bildliche Präzision definierenden Heraldik (Abb. 4).26 Es handelt sich dabei um eine 1453 datierte Bildhauerarbeit, vermutlich von der Hand des aus Polen stammenden Peter von Pusika, gefertigt aus einem besonders hochwertigen marmorähnlichen Sandstein. Dabei bildete die Wappenwand neben der noblen Architekur selbst, den Glasmalereien und Fresken, den Skulpturen und Altären im Inneren das vornehmste Decorum eines bedeutenden und umfangreichen Bauvorhabens: Es betraf nichts Geringeres als die repräsentative Ausgestaltung des zeitweilig bevorzugten habsburgischen Residenzschlosses, das seit der Romfahrt und Kaiserkrönung Friedrichs III. 1452 auch imperialen Ansprüchen zu genügen hatte.27 An dieser Stelle ist anzumerken, dass der ursprüngliche Gesamtein 24 25
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Ebd., S. 25.8–21. Generell wäre nach vergleichbaren Kunstwerken wohl am ehesten auf der iberischen Halbinsel zu suchen; wegen Friedrichs Ehe mit Eleonore wären dabei vielleicht auch Anregungen aus Portugal zu überprüfen. Die photographische Dokumentation ist veraltet und ungenügend; die hier reproduzierte Aufnahme zeigt die Wappenreihen an den Innenseiten der Strebepfeiler nicht. Da neben den Gegenständen der ursprünglichen Glasgemälde auch die goldgrundigen Fresken des Innenhofes nicht überliefert sind, erschöpfen sich alle Mutmaßungen über eine – wie auch immer geartete – Programmatik in Spekulationen. Wenn die in Resten erhaltenen, späteren Glasfenster aus der Mitte des 16. Jahrhunderts die früheren aus der Zeit Friedrichs wiederholen oder doch wenigstens paraphrasieren, so darf von einer Ergänzung der gemeißelten Wappenfolge durch weitere Schilde im Medium der Glasmalerei ausgegangen werden. Auch der Innenraum weist eine ganze Reihe weiterer Wappen auf, und Ähnliches ist vom ursprünglichen Zustand der Westseite zu sagen, von der aus man die Burg bis heute betritt. Letztlich ist mit Dutzenden weiterer Wappen im baulichen Zusammenhang mit der Wappenwand zu rechnen. Deren Zusammenstellung oder Rekonstruktion wäre sicher aufschlussreich. Vgl. die beschreibende Aufnahme in Kohn 1998, Nr. 119. S. 79–82; zuletzt Frodl-Kraft 2003.
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druck der Wappenwand aufgrund der farbigen Tingierung der Schilde und sicher üppiger Teilvergoldungen um einiges prächtiger gewesen sein dürfte, als die nivellierende Steinsichtigkeit heute ahnen lässt.28 Umso seltsamer muss also der Umstand anmuten, dass dieser enorme Aufwand einer höchst zweifelhaften heraldisch-genealogischen Fiktion galt. Denn Tatsache ist, dass von den 107 kunstvoll gemeißelten Wappen nur jene 14, die sich unmittelbar um die fast lebensgroße Standfigur Friedrichs gruppieren, reale habsburgische Herrschaften bezeichnen, die auch ohne die inzwischen verlorene Tingierung eindeutig zu erkennen sind.29 Die weit überwiegende Mehrzahl von 93 Wappen jedoch zeigt Schilde und Helmzierate, die lediglich einem kleinen Kreis hofnaher Eingeweihter bekannt sein konnten, da sie in der Realität nicht existierten, sondern weitgehend dem erwähnten Wappenbuch folgen, wie Boeheim bereits 1834 en détail feststellte.30 Doch rührt diese Aura einer gewissen Rätselhaftigkeit wohl auch zu einem guten Teil daher, dass die Wappenwand zwar in anderen historischen oder kunsthistorischen Zusammenhängen häufig erwähnt und gewürdigt wird, jedoch noch nie Gegenstand einer Einzelstudie gewesen ist.31 Dass eine intensivere Auseinandersetzung lohnend wäre, lässt sich daran ermessen, wie ernst es Friedrich mit dieser monumentalisierten Fiktion der Frühgeschichte seines Hauses meinte. Dies ist nicht allein der Wappenwand selbst zu entnehmen, sondern auch einem Vorgang von höchstem dynastischen und staatsrechtlichen Belang: Am beziehungsreichen Dreikönigstag, dem 6. Januar des Jahres 1453, auf das die Wappenwand ausdrücklich datiert ist, hatte Friedrich in Wiener Neustadt Bestätigungen für die unter 28
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Dabei ließe sich die einstige Farbgebung der Wappen anhand der genauen Beschreibungen in Stainreuthers Chronik ziemlich weitgehend rekonstruieren, da die eigentlichen Wappenbilder ja im Relief noch vorhanden sind. Es sind dies von (heraldisch) rechts oben nach links unten: Steiermark – Unterösterreich – Altösterreich – Kärnten; Burgau – Portenau – Tirol – Krain – Windische Mark – Oberösterreich; (AEIOV) – Kyburg – Habsburg – Elsass – Pfirt – (1453), vgl. Boeheim 1834, S. 42f. Dabei ist zu ergänzen, dass sich auch bei der wandfesten Ausstattung des Innenraumes an der Decke und den Emporen insgesamt noch einmal 55 Wappen – diesmal mit konkreter heraldischer Bedeutung – finden. Hinzu kommt eine inzwischen unbekannte Zahl an Wappen in den Glasgemälden aus friderizianischer und maximilianischer Zeit, wie die erhaltenen Reste deutlich erkennen lassen. Nicht zuletzt trug auch die Westfassade der Burgkapelle nach älteren Ansichten zwei Wappenreihen. Dies bedürfte ebenfalls eingehenderer Untersuchung. Vgl. Jobst 1908, S. 131–149; zuletzt Schauerte 2001, S. 46ff. Die Ursachen könnten einerseits in der – bisher zumindest – mangelnden Attraktivität der Heraldik bei den Kunsthistorikern liegen; zum anderen gründen sie vielleicht auch in der Tatsache, dass die Burg bis heute Militärakademie des Österreichischen Bundesheeres ist, was schon eine brauchbare photographische Dokumentation zu erschweren scheint. Immerhin hat Boeheim 1834, S. 46–52, eine Zuordnung der Wappenschilde zu den 95 Herrschaften nach dem Wappenbuch unternommen. Dabei stand ihm allerdings die Edition der Chronik von Seemüller noch nicht zur Verfügung.
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Herzog Rudolf IV. (1358–1365) gefälschten und mit fingierten Briefen Julius Caesars und Neros angereicherten, berühmten Österreichischen Freiheitsbriefe – in der älteren Literatur das sogenannte Privilegium maius – ausgestellt.32 Bei diesem offenbar sorgsam inszenierten Vorgang scheint es sich angesichts der illustren Anwesenden um einen richtiggehenden Staatsakt gehandelt zu haben:33 Neben Enea Silvio Piccolomini (der sich seinen Teil denken mochte)34 waren etwa auch der damals noch berühmtere Kardinal und Gelehrte Nikolaus von Kues, der Bischof von Eichstätt, Friedrichs Bruder Erzherzog Albrecht, die Pfalzgrafen und bayerischen Herzöge Ludwig und Otto, Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg und zahlreiche weitere Grafen und Herren, Prälaten, Räte und Hofbedienstete als Zeugen zugegen. Unverkennbar hatte Friedrich seine Kaiserkrönung abgewartet, um das – ungeachtet seines Fälschungscharakters – wichtigste Dokument der Vorrangstellung seiner österreichischen Stammlande innerhalb des Reichsverbandes zu erweitern und in Gesetzesrang zu erheben. Diese Begleitumstände lassen zwangsläufig auch die Wappenwand in einem anderen Licht erscheinen35 – angefangen mit dem Standbild des Erzherzogs, das von den Wappen jener österreichischen Herrschaften umgeben ist, welche Friedrich aufgrund einiger für ihn glücklicher dynastischer Fügungen erstmals in einer Hand vereinigen konnte (Abb. 5). In diesen Zusammenhang nun fügen sich auch die 93 fiktiven Wappen recht gut ein, denn in den Freiheitsbriefen wurde mittels der inserierten gefälschten Privilegien-Briefe Julius Caesars und Neros, auf die Friedrich ausdrücklich hinweist,36 indirekt behauptet, dass das Herzogtum Österreich bis in die Antike zurückreichte. Offenbar um diesem Anspruch Ausdruck zu verleihen, verfiel Friedrich darauf, die fabulose Vorgeschichte der 95 Herrschaften in Gestalt der Wappenwand zu monumentalisieren, ohne dabei allerdings – etwa in Form von Inschriften oder eindeutig ›redenden‹ Wappenbildern – allzu konkret zu werden. Ob nun der feierliche Staatsakt im Januar 1453 tatsächlich bereits im Angesicht der Wappenwand stattfand oder ob diese durch ihre unmissverständliche Datierung das für Friedrich so bedeutsame Ereignis nur denkmalhaft memoriert, kann in Ermangelung präziser Bauakten nicht mehr entschieden werden. Zumindest aber scheint die Jahreszahl nicht das Datum der Vollendung im Sinne frühneuzeitlicher Künstlersignaturen wiederzugeben, sondern auf den unmittelbaren histori-
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Vgl. dazu grundlegend und mit den Texten Lhotsky 1957, ferner Hödl 1988. Die Behauptung Hödls, der Akt habe »in aller Stille« stattgefunden (ebd., S. 227), wäre im gegebenen Zusammenhang wohl zu überprüfen. In seiner Österreichischen Geschichte wird der Vorgang denn auch mit keiner Silbe erwähnt. Darauf wies bereits Boeheim 1834, S. 52f., hin. Lhotsky 1957, S. 34.
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schen Kontext der Entstehung zu verweisen.37 Hierauf wird noch einzugehen sein. Was also die Wappenwand so bemerkenswert macht, ist zunächst ihr fiktiver Inhalt als solcher, der die Sonderstellung der habsburgischen Länder als der ältesten im Reich bildlich und gleichsam rechtsetzend untermauert; sodann die Tatsache, dass eine gefälschte Genealogie die vergleichsweise diskrete Sphäre der handschriftlichen Überlieferung verlässt, auf geradezu spektakuläre Weise monumentalisiert und als in Stein gemeißelte Wappensuite auch in das Licht scheinbarer Objektivität gerückt wird; schließlich auch, dass durch Bildnis und Inschrift der Urheber all dessen überdeutlich festgehalten wird. So erklärt sich womöglich auch das Standbild Friedrichs, das für sich betrachtet gleichfalls Besonderheiten aufweist: Ohne Rücksicht auf Friedrichs Kaiserkrönung 1452 zeigt es ihn im Jahr darauf noch immer als Erzherzog mit der vielzackigen Hutkrone, was also wohl – wie die Wappenwand insgesamt – auf den endgültig konfirmierten Sonderstatus seines Hausbesitzes durch die Österreichischen Freiheitsbriefe bezogen werden darf.38 Diese Vermutung erhärtet sich angesichts der Tatsache, dass das Recht auf eine besondere, königsgleiche Kronenform unter Punkt 13 der Privilegien Kaiser Friedrichs I. Barbarossa eigens erwähnt wird.39 Doch eignet dem Standbild noch eine weitere Besonderheit, denn ganzfigurige Plastiken lebender Herrscher hatte es anscheinend bis dahin im Reich – ex negativo gefolgert – faktisch nicht gegeben. Diese Darstellungsform war offenbar ausschließlich der Grabplastik vorbehalten, wobei sich allerdings durch die verbreitete fürstliche Übung, sein Grabmal bei Lebzeiten errichten zu lassen, gewissermaßen eine Grauzone auftat. Wenn also die Wiener Neustädter Skulptur nicht lediglich als Ausdruck eines übersteigerten Selbstwertgefühls Friedrichs anzusprechen ist, dann müssten hierfür weniger prätenziöse Gründe denkbar sein. Ein Vergleich mag hier weiterhelfen: Eine weitaus bekanntere und kunsthistorisch herausragende ganzfigurige Darstellung des Kaisers zeigt die Deckplatte eines der bedeutendsten Fürstengrabmäler des ausgehenden Mittelalters, das sich seit 1513 im Südchor des Wiener Stephansdoms befindet (Abb. 6). Niclas Gerhaert van Leyden, führender Bildhauer der nordeuropäischen Spätgotik, schuf das Kunstwerk zwischen 1467 und seinem Tod 37 38
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Diese Vermutung hegte bereits Feuchtmüller 1966, S. 204. Eine interessante Hypothese Hödls würde weitere Nachprüfung verdienen: Sie besagt, dass angesichts der erwähnten Caesar- und Nero-Tradition schon die herzogliche Hutkrone Rudolfs IV. ein bewusster Rückgriff auf jene Strahlenkrone gewesen sei, die das Bildnis des römischen Kaisers Antoninus Pius auf den besonders in Österreich häufigen Münzfunden aus dessen Regierungszeit individualisierte; vgl. Hödl 1988, S. 229. Dies ließe sich auch mit der weit deutlicher antikisierenden Strahlenkrone des [The]Odopertus (Abb. 3) untermauern. Lhotsky 1957, S. 22; der Wortlaut der Passage findet sich ebd., S. 85.
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1473 aus Salzburger Rotmarmor. Vergleicht man beide Standbilder miteinander, so erweist sich das Wiener Bildnis zum einen als eine Wiederholung des früheren Werks, die den Porträtierten lediglich leicht gealtert darstellt. Die Gesamtform jedoch legt nahe, dass das Wiener Grabmal das Neustädter Ensemble aus der Fläche in die Dreidimensionalität überführt: Die dort noch wandfüllend ausgebreiteten Wappen sind auf 36 reduziert und schmücken hier nun Deckplatte und Seitenwände des oberen Tumbenabschnitts in St. Stephan, wobei aber auf apokryphe Wappen verzichtet wurde.40 Hingegen verweisen sechs der insgesamt acht Reliefs an den Tumbenseiten auf seine kirchliche Stiftertätigkeit in Wiener Neustadt, auf Abb. 7 von links nach rechts: die Überführung des St.-Georgs-Ordens, gefolgt von der Stiftung des Kollegiatkapitels am Dom St. Marien und des regulierten Chorherrenstifts an St. Ulrich. Der repräsentative Anspruch der beiden aufwendigen Großplastiken lässt einen inneren Zusammenhang der Bildkonzeptionen zumindest nicht ausgeschlossen erscheinen: Zum Bildnis des jungen Erzherzogs in der Wappenwand scheint komplementär das des verstorbenen Kaisers zu treten, womit auch die solitäre und letztlich beispiellose Sonderstellung des Standbilds des jugendlichen Friedrich relativiert würde. Von dieser Warte aus wäre eine alte Hypothese erneut zu prüfen, derzufolge Friedrich – entgegen neueren Forschungsmeinungen41 – die Georgskapelle möglicherweise doch zu seiner ursprünglichen Grablege bestimmt hatte.42 Immerhin hatte die Deckplatte der Friedrichs-Tumba bis zum 1493 erfolgten Abtransport in den Stephansdom durch Maximilian fast 14 Jahre in Wiener Neustadt gelegen. Vor allem aber haben sich die Verfechter einer ursprünglichen Wiener Beisetzung mit der merkwürdigen Tatsache auseinanderzusetzen, dass Friedrich selbst 1479 die beschwerliche Überführung der etwa acht Tonnen schweren Rotmarmor-Platte von Passau, wo vermutlich der Rohblock zugehauen wurde, nach Wiener Neustadt befohlen hatte.43 Im gleichen Jahr erfolgte auch die Verlegung des St.-Georgs-Ordens von Millstatt an die Wiener Neustädter Burgkapelle St. Marien, die erst bei diesem Anlass das Georgspatrozinium erhielt. So sind zumindest vorübergehende Planungen der Kaisergrablege für seine Lieblingsresidenz, in der Friedrich fast seine gesamte Jugend zugebracht hatte, keineswegs von der 40 41
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Vgl. Saliger 1993, S. 144. Vgl. Saliger 1995, S. 15 und 24f. Hertlein, der vermutlich beste Kenner der Materie, argumentiert gegen Wiener Neustadt mit der militärischen Bedrohung durch Matthias Corvinus ab 1477. Demnach sei die Verbringung der Grabplatte nach Wiener Neustadt lediglich als Flüchtung zu deuten (Hertlein 1997, S. 144ff.). Meyer 2000, S. 186–195, zieht die Möglichkeit einer geplanten Beisetzung in Wiener Neustadt nicht ausdrücklich in Erwägung, doch habe sich des Kaisers Entscheidung für Wien erst in den letzten Lebenswochen ergeben, was indes nicht näher begründet wird (ebd., S. 191). Oettinger 1935, S. 61f. Vgl. die Quelle bei Wimmer/Klebl 1924, S. 34.
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Hand zu weisen.44 Der Zeitpunkt eines möglichen Sinneswandels zugunsten Wiens wäre ab dem Tod des Ladislaus Postumus als letztem Vertreter der albertinischen Linie der Habsburger 1458 gegeben, womit Friedrich zunächst nominell, 1464 dann auch de facto zum Herrn der Stadt Wien wurde.45 Allerdings gibt es eine – wenn auch vereinzelte – zeitgenössische Quelle, die noch 1467 vom Grab Friedrichs und seinem Bestimmungsort als dem monasterium novum spricht, womit entweder das Neukloster, vielleicht aber auch die Georgskapelle, in jedem Falle aber Wiener Neustadt gemeint ist.46 All dies würde auch durch die konsequente Aufwertung gestützt, welche Wiener Neustadt durch Kaiser Friedrich zeitlebens erfahren hatte: 1459, im Geburtsjahr Maximilians, war an der Stadtpfarrkirche ein Kollegiatkapitel errichtet worden, und 1469 hatte Friedrich mit seinen Bemühungen Erfolg gehabt, die Stadt zum Sitz eines neuen Bistums zu erheben.47 Seinen heraldischen Ausdruck erfuhr dies 1452 nicht zuletzt in Gestalt einer Wappenbesserung, die es den Neustädtern erlaubte, in Gold den schwarzen kaiserlichen Doppeladler zu führen.48 Aber auch in der Ausstattung der Gewölbezone der nunmehrigen Kathedrale mit einer umfangreichen Wappensuite Friedrichs III. schlug sich dies nieder. Dort findet sich im Gewölbeschluss des Chorhauptes neben dem Wappen der Herzogtümer Kärnten und Krain das portugiesische Königswappen der Kaiserin Eleonore und der Doppeladler, begleitet von der berühmten und omnipräsenten Rätseldevise Friedrichs, dem AEIOV, und der Jahreszahl 1467. Hinzu kommt, dass im gleichen Jahr auch die Kaiserin Eleonore ihre letzte Ruhe im Neukloster zu Wiener Neustadt gefunden hatte, wo 1456 bereits Maximilians verstorbener Bruder Christoph und 1462 seine Schwester Helena beigesetzt worden waren, welch letztere man sogar eigens von ihrem Sterbeort Wien dorthin überführt hatte. 1467 kam noch der ebenfalls als Kleinkind verstorbene Bruder Johannes hinzu. Weiterhin stiftete der Kaiser zwei Jahre später im Chor der Kathedrale ein Hochgrab über der Kindergruft seiner Geschwister Alexandra, Anna, Friedrich, Leopold und Rudolf.49 All diese Grabsteine sind aus dem gleichen Adneter Rotmarmor wie dasjenige des Kaisers selbst. Diese insgesamt neun Beisetzungen aus Friedrichs engstem Familienkreis an so unterschiedlichen Orten in ein und derselben Stadt wirken zunächst konzeptlos, wären jedoch durch eine spätere Zusammenführung in St. Georg verhältnismäßig leicht zu revidieren gewesen. Dies wiederum 44
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Gerhartl, eine der besten Kennerinnen der Wiener Neustädter Geschichte, geht hiervon – allerdings ohne quellenmäßige Begründung – ganz selbstverständlich aus (Gerhartl 1966, S. 127 und 129). Meyer 2000, S. 189f. Herrn Leo’s Pilger-Reise 1844, S. 134; vgl. dazu Gerhartl 1966, S. 124f. Es wurde zeitgleich mit dem neuen Bistum Wien aus dem Bistum Passau ausgegliedert. 1772 wurde Wiener Neustadt Suffraganat der Diözese Wien. Gerhartl 1966, S. 113f. Zu den Kindergräbern vgl. Gerhartl 1966, S. 105f. und 121f.
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würde die Möglichkeit eröffnen, auch die Wappenwand mit dem Standbild Friedrichs nicht nur im weiteren Sinn als Bestandteil fürstlicher Memoria und politisch-dynastisches Monument zu sehen, sondern dafür auch einen konkreten sepulkralen Hintergrund geltend machen zu können. Dabei ist festzuhalten, dass die Burg bereits früher eine Fürstengruft in ihren Mauern hätte aufnehmen sollen: Gegenüber der Wappenwand liegt auf gleicher Achse die sogenannte Gottesleichnams-Kapelle im Ostflügel der Burg, in der ihr Bauherr Herzog Leopold III. beigesetzt werden wollte, der dann allerdings 1386 bei der traumatischen habsburgischen Niederlage bei Sempach fiel und der heute – nach erneuten Umbettungen – in St. Gallen ruht.50 Ohne einen durchschlagenden Quellenfund wird sich die Frage nach Friedrichs Planungen für den Ort seiner Beisetzung nicht befriedigend klären lassen – ein Problem, das nachmals in ähnlicher Weise die Forschung nach Maximilians Beisetzungsort betreffen sollte. Fest steht lediglich, dass in beiden Fällen mehrere und bisweilen widerstreitende Konzepte vorgelegen zu haben scheinen. So ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass die Entstehung der Wappenwand in Zusammenhang mit einer zeitweilig geplanten Beisetzung Friedrichs in der Georgskirche zu sehen ist.
3. All dies konnte hier – nicht zuletzt aufgrund des unbefriedigenden Forschungsstandes zur Wappenwand und zur Baugeschichte der Burg51 – nur angedeutet werden, doch mag die abschließende Rückkehr zur Memoria Maximilians noch einmal verdeutlichen, welche Perspektiven sich durch weitere Forschungen eröffnen könnten. Denn auch in der künstlerischen Hinterlassenschaft von Friedrichs Sohn und Nachfolger gab es mit dem verlorenen Innsbrucker Wappenturm ein heraldisches Monument, das den Zugang zum Kernbereich eines habsburgischen Residenzschlosses zum Innenhof hin überragte.52 Doch ist hier eher unwahrscheinlich, dass ein engerer memorialer Bezug gegeben war, da Maximilian zwar Jahrzehnte hindurch seine Grablege für Innsbruck geplant, dafür aber ein völlig neues Kirchengebäude vorgesehen hatte. Tatsächlich entschloss er sich am Ende seines Lebens in Ermangelung eines eigenen Grabkirchenbaus, eines Grab 50
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Zwar bestanden in der Georgskapelle aufgrund der dreischiffigen Portalanlage nur eingeschränkte Möglichkeiten für die Anlage einer regelrechten Gruft, sodass alle Beisetzungen in Tumbengräbern hätten erfolgen müssen. Dem allerdings widersprächen Friedrichs Hochgrab im Wiener Stephansdom und das Kindergrab in der Wiener Neustädter Kathedrale nicht prinzipiell. Zudem nimmt der Zugang nur die Breite des Mittelschiffs ein, während seine Abseiten geschlossene Räume böten. Vgl. hierzu noch immer Jobst 1908. Vgl. Schauerte 2001, S. 42–46.
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steins oder einer Tumba zu einer Beisetzung in der Wiener Neustädter Georgskapelle – entweder um hier eine neue Tradition zu stiften oder um an eine bestehende anzuknüpfen.53 Unter diesem Blickwinkel nimmt einmal mehr die Ehrenpforte Maximilians eine besondere Stellung zur Wiener Neustädter Wappenwand ein, da sie gleichfalls eine – wenn auch andersartig monumentalisierte – Portalwand vorstellt: Wie die Wappenwand für die Steinbildhauerkunst ist sie in der Technik des Holzschnitts eine superlativische Vertreterin der Gattung. Im Zentrum steht bei ihr gleichfalls die Darstellung eines Standbilds, das von einem Stammbaum umgeben und seitlich von einer Wappensuite eingefasst ist: Hier ist es die Figur des 1517 längst verstorbenen Erzherzogs und spanischen Thronerben Philipps des Schönen (Abb. 8). Maximilian wollte mit der Ehrenpforte neben seiner eigenen gedechtnus und der des Hauses Habsburg auch diejenige Philipps und seiner dynastischen Ansprüche sichern.54 Darüber hinaus besteht andererseits mit der dynastischen und heraldischen Programmatik seiner eigenen Grabmalspläne eine so enge Beziehung, dass die Ehrenpforte nach dem Tod des Kaisers auch als Kompensation des unvollendeten Grabmals und mithin als eine Art ›papierenes Epitaph‹ verstanden werden kann. Damit würde sich die Wiener Neustädter Konstellation von Standbild, Wappenwand und Memoria in einem anderen Bildmedium wiederholen. Wäre dies plausibel, dann könnte man rückblickend auch für die Wappenwand von Anfang an jenen sepulkralen Zusammenhang annehmen, den sie durch die Beisetzung Maximilians dann ja wirklich bekam. Diese Annahme wird durch eine direkte Gemeinsamkeit der Wappenwand mit der Ehrenpforte noch unterstützt, denn jene ist nicht auf 1518, das Jahr ihrer endgültigen Drucklegung, sondern auf 1515 datiert, was letztlich nur auf das späteste der dargestellten historischen Ereignisse, den Wiener Fürstentag, bezogen werden kann; und hier ist nachweisbar, dass das papierene Monument in einer ersten Reinzeichnung den in Wien anwesenden Fürsten gezeigt werden sollte.55 In gleicher Weise nun scheint die Wappenwand mit der Jahreszahl 1453 weniger auf ein Baudatum als vielmehr auf die bedeutsame und für Friedrich wie Maximilian gleichermaßen wichtige und verbindliche Bestätigung der Österreichischen Freiheitsbriefe in diesem Jahr zu verweisen.56 Doch knüpfte Maximilian nicht nur in vielerlei Hinsicht gezielt an die Bestrebungen seines Vaters an, wie dies vor allem an der Vollendung von 53 54 55 56
Vgl. zu dieser Problematik Oettinger 1965. Dazu ausführlich Schauerte 2001, S. 66–70. Ebd., S. 98. Der Sachverhalt des antiken Ursprungs Österreichs etwa war ja – wie oben erwähnt – auch für Maximilians Einschätzung seines Hausbesitzes als erstem Königreich der Welt, das durch Julius Cesar vnd den Nero gefreyt worden war, noch verbindlich.
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dessen Grabmal und an der Übersteigerung dieser Pläne im Innsbrucker Kenotaph ablesbar wird; vielmehr muss hier mit einer viel direkteren, nachgerade suggestiven Art der Beeinflussung gerechnet werden, denn der junge Erzherzog war 1459 auf der Wiener Neustädter Burg geboren und in der Georgskapelle in einem neuen Taufstein aus Adneter Rotmarmor getauft worden. Vor allem aber hatte er viele Jahre seiner Kindheit und Jugend – im buchstäblichen Sinne – im Schatten der monumentalen Wappenwand zugebracht.57 Auch ohne gezielte Erläuterungen eines Erziehers oder Herolds mochte der Knabe diesem Bildwerk drei wesentliche Prämissen für seine eigene Memoria schon früh entnommen haben: Erstens konnten uralte Abkunft und Ehre des Hauses Habsburg nur in der größtmöglichen Monumentalität und unübersehbaren Fülle dieser gemeißelten ›Ahnenprobe‹ einen adäquaten Ausdruck finden; zweitens war es beim Blick aufs Detail offenbar relativ nachrangig, wie es um die Wahrhaftigkeit dieses überwältigenden Prunks bestellt war; und drittens waren Wappen offenbar nicht nur als statische Festschreibung von besessenen oder beanspruchten Territorien im herkömmlichen Sinne aufzufassen, sondern erwiesen sich als ein Medium historischer Narration. So setzte die große Form der heraldischen Prachtentfaltung, welche die Wappenwand Friedrichs III. an der Wiener Neustädter Georgskirche vorführt, durch schiere Größe und materielle Kostbarkeit Maßstäbe, die von seinem Sohn Maximilian zwar nicht in diesem Medium, aber durch die Heranziehung der größten Künstler des Reiches für seine Memoria insgesamt erreicht und schließlich weit übertroffen wurden. Der Inhalt der Wappenwand allerdings dürfte für Maximilian weitgehend unbrauchbar gewesen sein, denn aufgrund des rein fiktiven Charakters der Wappen ließ sich auf diesem Wege keine Ansippung weiterer Geschlechter und Territorien bewerkstelligen.58 So übertraf er das väterliche Vorbild zwar nicht quantitativ, inhaltlich jedoch bei weitem, denn der Wahrhaftigkeitsanspruch im Holzschnitt mit der österreichischen Wappenbesserung, im Stammbaum und in der Wappensuite der Ehrenpforte gründet auf jahrzehntelangem gelehrten Sammeln und Forschen, wohingegen Friedrich in rein persuasiver Absicht eine historische Fabelei monumentalisierte. Maximilian konnte deshalb – trotz mancher historischer Beugungen – mit der Ehrenpforte erreichen, was seinem Vater nur auf dem Wege der Fiktion möglich war: die Verbildlichung realer Besitzungen und Ansprüche des Hauses Habsburg durch eine unübersehbare Folge von Wappen. So müssen hier auch die Vorwürfe vor allem der älteren Geschichtsschreibung, Maximilian sei 57 58
Vgl. zu diesem Themenkreis zuletzt Koppensteiner 2000. Der Genealoge Ladislaus Sunthaim hatte die Chronik der 95 Herrschaften bei seiner Arbeit am Babenberger-Stammbaum in Klosterneuburg als unbewert abgelehnt; vgl. Lhotsky 1963, S. 318.
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leichtgläubig auf jede Fabelei eingegangen, die man ihm zum Ruhme seines Hauses präsentiert habe, in einem anderen Licht erscheinen, denn Maximilian hat die durchaus zeittypische Praxis, erfundene Historiographie mit erfundenen Wappen zu veranschaulichen, niemals so weit wie sein Vater getrieben. Die Burgkmairsche Holzschnittfolge der Genealogie etwa blieb unpubliziert, und an der Ehrenpforte wurde der vorgeschichtliche Teil des Habsburger-Stammbaums weggelassen. Doch der Grundgedanke, die enge Verbindung zwischen Historiographie, Genealogie, Heraldik und den Bildenden Künsten für den Ruhm des Hauses Habsburg nutzbar zu machen, stammt in erster Linie von Maximilians Vater Friedrich III. Der Reiz der diskutierten Hypothesen liegt darin, dass hier womöglich die weitaus besser erforschten jüngeren Kunstwerke der Aetas Maximilianea in der Lage sein könnten, im Zuge einer Art ›Dekonstruktion‹ erhellende Rückverweise auf die Kunstbestrebungen Friedrichs III. zu liefern – so wie diese umgekehrt in vieler Hinsicht die Grundlage für Späteres zu bilden scheinen. Damit ließe sich über eine tiefergehende Erforschung der Wiener Neustädter Wappenwand und ihrer memorialen Hintergründe vielleicht ein vielversprechender Ansatz für die überfällige Aufarbeitung der friderizianischen gedechtnus in ihrer Gesamtheit finden.
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Die Pfauensymbolik in der Fürstlichen Chronik Jakob Mennels (1518) und ihre Bedeutung für die historisch-genealogischen Konstruktionen Maximilians I.1 1. An den Anfang meiner Überlegungen zur Bedeutung des Pfauen als Zeichen Österreichs in der Fürstlichen Chronik Jakob Mennels sei zunächst eine bildliche Darstellung gesetzt, die dem ersten Buch dieser Chronik entnommen ist und die in unmittelbarem Zusammenhang mit frühneuzeitlichen Überlegungen zur Genealogie der Habsburger im Umfeld Kaiser Maximilians I. steht (Abb. 1). Die Miniatur, auf die ich im Folgenden noch näher eingehen werde, zeigt drei parallel angelegte Ketten mit Namensringen. Die mittlere Kette gibt in ihrem ersten, von einem Pfauen mit aufgestellten Schwanzfedern gehaltenen Ring den Namen Hector an. Der hier beginnende, streng agnatisch strukturierte Katalog wird – 19 doppelseitig mit Kettendarstellungen versehene Folia später – mit den Namen Maximilianus, Philippus, Verdinandus und Carolus enden. Warum aber steht ein Pfau repräsentativ am Beginn einer genealogischen Linie des Habsburger Geschlechts, warum ausgerechnet ein Tier, das auch heute noch als Sinnbild der Eitelkeit herhalten muss: ein Hühnervogel, der – abgesehen von seinem imposanten Gefieder und seinen farbenprächtigen Schwanzfedern – von Aristoteles über Konrad von Megenberg bis hin zu Kurt Tucholsky vor allem dafür bekannt ist, dass er extrem hässliche Füße hat und sein markdurchdringendes Geschrei dem Zuhörer schier das Blut in den Adern gerinnen lässt? Die mediävistische Literaturwissenschaft assoziiert mit dem Pfauen vermutlich zunächst den Vers dô gienc ich slîchent als ein pfâwe, swar ich gie, mit dem Walther von der Vogelweide im ersten Philippston sein Lebensgefühl nach dem Tod des österreichischen Herzogs Friedrich I. beschreibt und dabei den fröhlichen Kranichschritt während der Zeit in der Gunst des Gönners dem schleppenden Gang des Pfauen während der Zeit der Niedergeschlagenheit entgegensetzt.2 In einem ganz ähnlichen Bedeutungszusam 1
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Der Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich am 13.10.2005 an der Universität Wien anlässlich des 60. Geburtstags von Alfred Ebenbauer halten durfte. Ihm sei dieser Beitrag gewidmet. Walther 1996, I 9, Strophe IV, V. 1–5 (= L. 19,29–33): Dô Friderich ûz Œsterrîch alsô gewarp, | daz er an der sêle genas und im der lîp erstarp, | dô fuort er mînen krenechen trit in die erde. | dô gienc ich slîchent als ein pfâwe, swar ich gie, | daz houbet hanht ich nider unz ûf mîniu knie.
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menhang dürfte auch eine Bemerkung Frauenlobs zu sehen sein, der im Rückgriff auf eine im Mittelalter weit verbreitete Fabel im Vergleich mit dem Kranich ironisch auf die mangelnde Flugtauglichkeit des Pfauen hinweist: des phawen ofte hat überstigen | des kraneches vluc.3 In der abendländischen Kultur eignet dem Pfauen und seinen Eigenschaften freilich eine weitaus variationsreichere Symbolik: Noch in der antiken Mythologie galt er aufgrund seines prachtvollen Radschweifes als Sonnensymbol, vor allem aber als heiliges Tier und Attribut der Göttin Juno.4 Bei Antiphanes heißt es etwa, der Pfau sei zuerst in den Tempelhöfen der Juno auf Samos gehalten worden, nachdem er von den Phöniziern aus seiner ursprünglichen Heimat Indien über Vorderasien nach Europa gebracht worden sei.5 Der Göttin sei der Vogel wegen des Sternenglanzes seines Gefieders würdig gewesen. In den Metamorphosen Ovids werden zudem die Augen auf den Pfauenfedern erklärt:6 Von Juno bei heimlicher Liebe ertappt, versuchte der für seine außerehelichen Aktivitäten berüchtigte Jupiter einen Fehltritt mit Io, einer Priesterin seiner Gemahlin, zu kaschieren, indem er die Geliebte in eine Färse verwandelte. Die eifersüchtige Juno bat sich aber das junge Rind aus und setzte den hundertäugigen Argos als Wächter ihrer Nebenbuhlerin ein. Um Io zu erlösen, schickte Jupiter seinen Sohn Merkur aus, der Argos erst mit dem Spiel seiner Rohrflöte in Schlaf versetzte und ihm dann den Kopf abhackte. Juno sammelte daraufhin die Augen des Wächters ein, setzte sie in das Gefieder ihres Lieblingsvogels und füllte so »den Pfauenschweif mit sternengleichen Juwelen«.7 In der christlichen Symbolik gilt der Pfau als Paradiesvogel sowie als Sinnbild der Auferstehung beziehungsweise des ewigen Lebens. Die bis ins späte Mittelalter fortlebende Paradiessymbolik ist vermutlich zurückzuführen auf die antiken Darstellungen des Pfauen als Attribut der Juno und die damit verbundene Gartenidyllik.8 Die prominent gewordene These Augustins, dass das Pfauenfleisch nicht verwese, dürfte daneben zu der Symbolbedeutung des Pfauen als Zeichen der Auferstehung und der Unsterblichkeit beigetragen haben.9 3 4
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Frauenlob 1981, V. 23, V. 17f. Siehe hierzu auch Röll 1989. Aus diesem Grund mag der Pfau wohl auch als Vogel der Apotheose der Kaiserinnen in Erscheinung getreten sein; vgl. hierzu u. a. Reimbold 1983, S. 19–36. Vgl. Hünemörder 2000. Ovid 1994, Buch I, V. 568–750. Ebd., V. 722f.: excipit hos volucrisque suae Saturnia pennis | conlocat et gemmis caudam stellantibus inplet. Zu den volkssprachigen Bearbeitungen der Sage sowie zur Bezeichnung der Flecken auf dem Pfauenschwanz als ›Augen‹ siehe auch Schleusener-Eichholz 1985, Bd. 1, S. 603–611. Eine islamische Sage berichtet in diesem Zusammenhang, dass der Pfau seine liebliche Stimme verloren habe, als er gemeinsam mit der Schlange und dem ersten Menschenpaar aus dem Paradies vertrieben wurde; siehe hierzu Schneeweis 1987, Sp. 1570. Vgl. Augustinus 1955, lib. XXI, cap. IV 13–23: Quis enim nisi Deus creator omnium dedit carni pauonis mortui ne putesceret? Quod cum auditu incredibile uideretur,
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In der mittelalterlichen Literatur begegnet das Gefieder des Pfauen vor allem als modisches Accessoire; so trägt im Parzival Wolframs von Eschenbach etwa die Figur der Cundrîe bei ihrem ersten Auftritt am Artushof von Lunders ein pfæwîn huot,10 und ein pfâwenhuot ist es auch, mit dem sich der an Aussatz erkrankte Dietrich im Engelhard Konrads von Würzburg während eines labenden Luftbades vor der sunnen blicke schützt.11 Offenbar als Schaugericht in vollem Federschmuck auf die Tafel gesetzt, wird der Pfau in der mittelhochdeutschen Literatur auch als Braten serviert. Die Überreichung des Pfauenbratens kommt dabei einer besonderen Ehrerweisung und Auszeichnung höchster ritterlicher Tugend gleich; so wird etwa dem Titelhelden in Wolframs Willehalm während seines Aufenthalts am Hof von Orleans feierlich ein gebraten pfawe aufgetischt,12 und auch im Hug Schapler lässt die französische Königin dem Helden ein Pfauenmahl überreichen, das ihn als besonders kühn qualifizieren soll.13 Den kulinarischen Wert des Pfauenfleisches beurteilt ein Arzneibuch des 13. Jahrhunderts freilich als gering, denn es gilt als zäh und unverdaulich: […] pfâwen sint herte unde deuent sich niht.14 Insbesondere im Rückgriff auf Aristoteles, Plinius und Isidor äußert sich im Mittelalter wohl am ausführlichsten Konrad von Megenberg im Buch der Natur über den Pfauen (vgl. Abb. 2), indem er dessen von Gott geschaffene Natur und seine proprietates in der Tradition des Physiologus allegorisch-heilsgeschichtlich deutet. Neben anderen Eigenheiten des Pfauen wird im Buch der Natur vor allem das prachtvolle Äußere dieses ›Freundes der Schönheit und der Reinheit‹15 auf die geistliche Würde und die heiligen Werke eines iegleichen hailigen prelâten bezogen.16 Mit seiner graussam stimm vertreibe der Pfau – so heißt es hier – alle giftigen Tiere,
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euenit ut apud Carthaginem nobis cocta apponeretur haec auis, de cuius pectore pulparum, quantum uisum est, decerptum seruari iussimus; quod post dierum tantum spatium, quanto alia caro quaecumque cocta putesceret, prolatum atque oblatum nihil nostrum offendit olfactum. Itemque repositum post dies amplius quam triginta idem quod erat inuentum est, idemque post annum, nisi quod aliquantum corpulentiae siccioris et contractioris fuit. Nach Schilderungen des Plinius verliert der Pfau alljährlich im Herbst sein Gefieder, das dann erst im Frühjahr wieder nachwächst (Plinius 1986, Kap. XXIIf., §43f., S. 40ff.). Auch dieses naturkundliche Wissen wurde von den Christen allegorisch als Zeichen der Auferstehung ausgelegt. Wolfram 1998, 313, V. 10. Konrad 1982, V. 5318f. Wolfram 1989, 134, V. 9ff.: der pfawe vor im gebraten stuont, | mit salsen diu dem wirte kunt | was, daz er bezzer nie gewan. Vgl. Hug Schapler 1990, S. 236.3ff.: […] vnd also schicket die künigin ein gebrotnen pfawen von irem tysch vnd hieß Hug schappel den für setzen / das dann grosse künheit vnd manheit bethüt. Mittelhochdeutsches Wörterbuch 1970, S. 485 (Art. »phâwe«). Vgl. Konrad 1994, S. 212.28f.: Pavo haizt ain pfâw. daz ist gar ain schœner vogel und ist ain freunt aller schônhait und rainikait […]. Ebd., S. 213.32ff.
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denn diese könnten sein Geschrei nicht ertragen. Ebenso würden die Ketzer, Wucherer sowie übeltætige laien und pfaffen durch das ›Geschrei‹ eines Bischofs – gemeint ist seine kirchliche und weltliche Strafgewalt – vertrieben werden.17 Die augustinische These von der Unverweslichkeit des Pfauenfleisches wird im Buch der Natur schließlich im traditionellen Sinn als Zeichen der Unsterblichkeit und Ewigkeit gedeutet: Augustînus spricht, daz des tôten pfâwen flaisch ain ganzez jâr frisch beleib und niht vaul, als er spricht in dem puoch von der stat gotes. er spricht auch, daz des pfâwen flaisch nümmer vaul werd. […] des pfâwen flaisch gefault nümmer, wan als diu geschrift spricht, wer gelêrt ist und die läut lêrt zuo der gerehtikait, der scheint an dem jungsten tag sam der schein des liehten himels und sam der lieht sunnen schein in der êwigen êwichait.18
Obwohl bereits Aristoteles den Pfauen in der Historia animalium als missgünstig und eitel bezeichnet,19 verschiebt sich dessen Bedeutung erst mit dem Spätmittelalter deutlicher ins Negative; er steht nun für Hochmut, Verstellung und Eitelkeit.20 Und so wird etwa – um nur ein literarisches Beispiel anzuführen – in einem Meisterlied des Hans Sachs der Pfau mit der Figur eines Buhlers verglichen, der sich, um zu gefallen, schön herausputzt. Die Stimme des Pfauen, eine Teufelsstimme, gleiche der des Buhlers, der sich durch List und Lüge die Schöne gefügig mache. Auch der Gang des Buhlers sei wie der des Pfauen, schleichend und horchend gehe er einher und sei stets in Sorge, entdeckt zu werden.21 17
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Vgl. ebd., S. 212.33–213.4: der vogel hât die art, daz er mit seim geschrai vertreibt alleu vergiftigeu tier, wan diu getürrent niht beleiben an den steten, dâ si sein stimm hœrent. er hât ain graussam stimm und ain ainfaltigen diepleichen ganch. Und die Auslegung ebd., S. 214.7–15: der pischof schol alleu vergiftigeu tier in seinem pistuom, daz sint ketzer, wuochrær und alle übeltætige laien und pfaffen, vertreiben mit seinem geschrai, daz ist mit gaistleichen strâfen und auch mit werltleichem swert, ob sein nôt geschiht. er schol auch siticleichen gên und sleichen sam ain diep, daz ist, er schol mæzicleichen und mit weisem vorbetrahten ervorschen übel und guot und dar nâch rihten. Ebd., S. 213.4–8 und 214.15–19. Weiterhin wird im Buch der Natur ausgeführt, dass der Pfau stolz sein Gefieder ausbreite und es in der Sonne glänzen lasse, wenn man ihn lobe und bewundernd betrachte; sehe der Ziervogel dann aber seine hässlichen Füße, so richte er schamerfüllt seine prachtvollen Schwanzfedern gen Erde (ebd., S. 213.8– 14). Ebenso richte der gute Bischof seine guten Werke wie einen Pfauenschwanz auf, wenn er das Haupt der Gerechtigkeit in seinen rehten lautern werken ansehe, um seine Untertanen ins ewige Leben zu führen; betrachte er aber seine hässlichen Füße (gemeint sind seine schlechten Ratgeber), so senke er sein Gefieder (das sind die guten Ratgeber) gen Boden (ebd., S. 214.19–27). Vgl. Hünemörder 2000. Siehe hierzu u. a. Kramer 1971, Sp. 411. Sachs 1896 (RSM: 2S/4629a): [1.] Drej- | erley art | So wanen bey | dem pfawen von Natur | Damit ist er wol ein figur | Einem bulen geleiche – | Von | Farben zart | Ist der pfaw schon | Als ein Engel gezirt | Gespigelt sam mit gold florirt | Vnd gekrönet Künstreiche – | Also ein Buler alezeit | Schmucket vnd buczt | In klaidren breyst | Sich Sauber
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Betrachtet man die hier nur ausschnitthaft und exemplarisch angeführten Bedeutungsmöglichkeiten des Pfauen in der Antike, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, so stellt sich die Frage, wie der Humanist Jakob Mennel im 16. Jahrhundert dieses heterogene Wissen in seiner Fürstlichen Chronik verarbeitet, um durch verschiedene, selbstverständlich ausschließlich positiv gewertete Deutungsansätze den Pfauen als ›Attribut‹ der Habsburger auszuweisen und dabei in Beziehung zu einem anders organisierten Wissen, nämlich jenem über die Genealogie Kaiser Maximilians zu setzen. Wie integriert Mennel zeitgenössisches mythologisches, geistliches oder heraldisches Wissen über die Symbolik des Pfauen in den genealogischen Rahmen, der die Anlage der Fürstlichen Chronik maßgeblich bestimmt, und wie setzt er negative Deutungsmöglichkeiten des Pfauen etwa als Zeichen der superbia außer Kraft?
2. In der Geschichte des Hauses Habsburg kommt den Jahrzehnten um 1500, der sogenannten Aetas Maximilianea, besondere Bedeutung zu, denn in dieser Zeit erfolgt der Aufstieg und die Positionierung des Hauses als eine europäischen Großmacht.22 Im Kontext von umfassenden Projekten zur Fundierung herrschaftlicher Repräsentation und gedechtnus haben vornehmlich die vielzähligen genealogischen Entwürfe und Arbeiten am kaiserlichen Hof eine Schlüsselfunktion inne: Sie dienen einerseits der Legitimierung und Ostentation von Macht und Herrschaftsansprüchen und zeugen andererseits auch von dem steten Bemühen um die monumentalisierende Überhöhung der Herkunft Maximilians, um die Archivierung und Inventarisierung seiner Ehre.23 Die genealogischen Arbeiten im Umkreis Maximilians stellen dabei meist multimedial angelegte Großunternehmungen dar, die sich nicht allein im Medium von Schrift und Bild, sondern unter anderem auch in der Festkultur, der Architektur, in Grabmonumenten oder der Heraldik manifestieren.
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muczt | Vnd sich befleist | Sitten vnd Höffligkeit | Auff das er darmit sol | Seinem Bulen gefalen wol | Darmit jr gunst erschleiche – 2. Zum | Andern hatt | Der pfawe Tum | Ein vngeheure Stim | Gleicht dem deufel forchtsam vnd grim | […] Der | Gleich auch gatt | Der vol buler | Nachts hofiren on ru | Vnd schreit auch ju ju ju ju | Geleich einer Nacht Eulen – | Braucht lügen list vnd heuchelej | Deuflischer art | Biss an der Stett | Die Schön vnd zart | Er vberrett | Das sy seins wilens sej | […] 3. Die | Dritte ard | hatt der pfaw hie | Das er hatt seinen drib | Ein leisen gang gleich wie ein dib | mit ducktem Kopff hin schleichen | Der | Gleich alfard | helt der Buler | Sein bulen gar heimlich | […] Hatt alzeit forcht | Man nem sein war | […]. Weitere volkssprachige Textbeispiele aus der Zeit von 1100 bis 1500 sind aufgeführt bei Schmidtke 1968, Teil I, S. 370–373. Vgl. hierzu auch Mertens 1988, S. 121f. Siehe hierzu insbesondere den Beitrag von Müller 1998, S. 115–126, sowie ders. 1982, S. 91.
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Der Mythos einer trojanischen Abstammung, sei es der europäischen Herrscherhäuser oder gar ganzer Völkerschaften, hatte während des gesamten Mittelalters Konjunktur und gehörte noch in der Frühen Neuzeit zum politischen Rüstzeug von Dynastien. Mit ihm wurden zum einen Erbansprüche begründet, und zum anderen diente er als ›historischer‹ Beleg für die Grundanschauung von der Größe und Mission des eigenen Hauses.24 An der Herleitung der Habsburger von den Römern wurde noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts ›offiziell‹ festgehalten. Seit der Ausweitung des habsburgischen Herrschaftsbereiches in den Westen Europas verlor die römische Herkunftslegende freilich erheblich an politischem Glanz und war insbesondere zur Legitimation in den angeheirateten burgundischen Landen propagandistisch kaum brauchbar.25 Die Hofhistoriographen Kaiser Maximilians suchten deshalb nach Möglichkeiten, mittels einer verwandtschaftlichen Zurückführung der Habsburger auf die Trojaner und durch die Konstruktion von genealogischen Verbindungen zu nahezu allen großen europäischen Dynastien sowohl den Gedanken der Kontinuität habsburgischen Geblüts als auch den Nachweis von habsburgischen Herrschaftsansprüchen über die österreichischen Erblande hinaus zu erbringen. Es ist zwar letztlich nicht mehr auszumachen, »von wem zum ersten Mal der Gedanke ausging, die Habsburger bis auf die Merowinger und noch weiter gar bis auf die Helden des Trojanischen Krieges zurückzuleiten«;26 die älteste erhaltene Darlegung jener trojanisch-merowingisch-fränkischen 24
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Bekannt ist in diesem Zusammenhang auch, dass dieselbe Legende durchaus von verschiedenen, zuweilen auch von miteinander um einen Herrschaftsbereich konkurrierenden Parteien für sich in Anspruch genommen werden konnte. Siehe hierzu u. a. Brückle 2000, der den ungebrochenen Erfolg der Trojasage zum Teil auf ihre literarische Kanonbildung zurückführt: »Es dürfte aber außerdem erstens der Tatsache geschuldet sein, daß die Sage offen für theoretische Zugänge und für Anverwandlungen des Stoffes an Positionen der mittelalterlichen Politologie war […]. Ein zweiter Grund könnte darin liegen, daß durch die literarische Überlieferung Möglichkeiten zur Visualisierung politischer Theoreme eröffnet wurden, die sich auf die Frage nach der Legitimität von Herrschaft bezogen und die propagandistisch nur auszuschlachten waren, indem sie in konkrete Bilder überführt werden konnten« (ebd., S. 41). Zur »Herkunft aus Troja« siehe auch Kellner 2004, S. 131–294. In Analogie zu den französischen und brabantischen Ursprungssagen erlaubte es die Entwicklung der Theorie einer trojanisch-merowingisch-fränkischen Abstammung der Habsburger, eine ursprüngliche Verbindung zwischen Austria und Austrasia/Burgund zu behaupten; vgl. hierzu Kugler 1960, S. 35. Lhotsky 1971, S. 294. Hinsichtlich der merowingischen Abstammung weist in diesem Kontext einiges auf den für seine gewagten genealogischen Konstruktionen berüchtigten Sponheimer Abt Johannes Trithemius hin (vgl. ebd.). Dass die Entwicklung und Ausarbeitung dieser Theorie keine originelle Leistung Mennels war, konnte Althoff nachweisen (Althoff 1979, bes. S. 87–90; vgl. hierzu auch Kathol 1999, S. 7). Die Hofgenealogen Maximilians waren grundsätzlich von der »traditionell feststehenden Abkunft der Habsburger aus dem Königsgeschlechte der Merowinger […] überzeugt. Dies galt für sie Alle ohne Unterschied […] als ein unanfechtbares Dogma« (Laschitzer 1888, S. 31).
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Abstammung findet sich jedoch in der Fürstlichen Chronik, genannt Kayser Maximilians Geburtsspiegel des ehemaligen Freiburger Stadtschreibers und Juristen Jakob Mennel.27 Mit der zu Beginn des Jahres 1518 fertiggestellten Fürstlichen Chronik gelangte das vermutlich erste genealogische Forschungsunternehmen der Frühen Neuzeit nach 13 Jahren eingehender Untersuchung zu einem vorläufigen Abschluss.28 Geradezu alles, was zu diser Chronick dienstlich zu befinden gewesen sei, so formuliert Mennel in seiner Vorrede zum ersten Buch der Fürstlichen Chronik, habe er eingesehen: Jn welchen enden was ich allenthalben, es sey in annalibus, martirilogys, seelbüchern, sarchen, grablichen vberschriften, stifft büchern, testament, zedel, Cronicken, matrickel, register, rodeln, vrbarbücher, kirchmuren, altdurn, statporten, wappen vnd figuren, müntzen, brieff vnd sigel vnnd ander schrifften zu diser Cronick dienstlich fuͦ nden, hab ich zusampt vorberuͦ rten gezügen in dis gegenwirtig Furstlich Cronick gesezt wie man dann sölichs in irem ynhalt vermercken mag.29
Heuristisch führt Mennel alle nur erdenklichen Zeugenaussagen aus unterschiedlichsten Quellen zusammen und knüpft ein dichtes, kaum durchschaubares Netz von zum Teil mehrfach verkoppelten Verbindungslinien, um eben jene Kontinuität und europaweite Ausbreitung habsburgischen Blutes zu belegen. Auf diese Weise präsentiert sich die Fürstliche Chronik nicht nur als durchaus beeindruckendes Zeugnis eines neuen politischen und herrschaftlichen Selbstverständnisses Maximilians, sie ist auch als Memorialwerk in ihrer Detailliertheit und Akribie ein herausragendes Zeugnis für die Archivierung, Verarbeitung und Organisation von Wissen sowie für die Komplexisierung, Authentisierung und Verwissenschaftlichung genealogischer Entwürfe im 16. Jahrhundert.30 Mennels genealogische Überlegungen bilden dabei die Basis für Maximilians Bemühungen, »sich das 27
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Zu Jakob Mennel siehe Burmeister/Schmidt 1987 sowie die eingehende Darstellung von Burmeister 1998: »Man ist heute sehr viel eher geneigt als früher, in dem Juristen Mennel auch einen historischen Forscher zu erblicken, der auf seiner Suche nach Beweisen wie kaum ein anderer zuvor die historischen Hilfswissenschaften entdeckte und konsequent heranzog (Diplomatik, Numismatik, Sphragistik, Heraldik, Epigraphik, Genealogie)« (ebd., S. 95). Mennel händigte Kaiser Maximilian die fünf Bücher in den von Gregor Reisch, dem Prior der Freiburger Kartause, beglaubigten und subskribierten Reinschriften noch im Januar 1518 aus. Noch im gleichen Jahr ergänzte Mennel seine Schrift um den sogenannten Zaiger, eine hauptsächlich aus Illustrationen bestehende Kurzdarstellung der Fürstlichen Chronik, sowie um das Buch von den erlauchtigen und verumbten weybern des loblichen husz Habsburg. Mennel 1518, Buch I, Bl. 12rf. Maximilians Interesse an dem Werk scheint, so Kathol 1999, S. 45, hauptsächlich darin zu bestehen, mit ihm der Nachwelt ein beredtes und vor allem gegen jegliche Kritik gewappnetes Zeugnis seiner Größe und seines Ruhmes vorzulegen, um nicht zuletzt auch sich selbst über die zahlreichen Fehlschläge auf politischem und militärischem Gebiet hinwegzutrösten.
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Ansehen und das Charisma aller vorangegangenen Dynastien und ihrer ruhmvollen Vertreter anzueignen.«31 Die Konstruktionen habsburgischer Familienzusammenhänge auf Basis flächendeckender genealogischer Recherchen weisen im Resultat freilich einen Universalanspruch auf, der geradezu einer Bürokratisierung von Charisma gleichkommt.32 Die enzyklopädische Quantifizierung des genealogischen Großentwurfs läuft durch die Vorstellung einer Verwandtschaft ›aller‹ darüber hinaus permanent Gefahr, ihren Exklusivitätsanspruch, auf den sie doch gerade ausgerichtet ist, zu verlieren.33 Mennels Methode, bei welcher der Zeit nach Getrenntes auf eine gemeinsame Ebene projiziert und Unterschiedliches zu einem Ganzen kompiliert wird, gibt sich – wie zu zeigen sein wird – in nuce auch in seinem Umgang mit der Frage nach der Bedeutung des Pfauen als einem osterreichischen zaichen34 zu erkennen, denn seine Bedeutungszuschreibungen sind stets funktional auf die genealogische Fragestellung hin ausgerichtet. Eine ausreichende Vorstellung von der Fürstlichen Chronik, von ihrer Struktur, ihrem Aufbau und ihrer Suggestionskraft zu vermitteln, ist nicht allein aufgrund des immensen Umfangs – ihre fünf Bücher sind auf sechs Prachtcodices mit insgesamt knapp 1350 beschriebenen Folia verteilt –, sondern auch aufgrund der bimedialen Anlage des Werkes kaum möglich:35 Die Chronik weist in großem Umfang aquarellierte Federzeichnungen in Gestalt von graphischen Schemata, fiktiven Personenbildnissen und heraldischen Darstellungen auf. Im visuellen Medium des Bildes werden die Anlage und die Struktur des Ganzen vor Augen geführt; der Text, der sich immer wieder auch hinlänglich vertrauter Erzähltraditionen und Erzählmuster (Fazetien, Legenden u. a.) bedient, füllt diese Struktur dann aus.36 Da der Bekanntheitsgrad des Mennel’schen Textes in der mediävistischen Literaturwissenschaft aufgrund fehlender Editionen als eher gering einzustufen ist, soll an dieser Stelle in der gebotenen Kürze zunächst auf ihren Aufbau unter besonderer Berücksichtigung des ersten und vierten Buches eingegangen werden.
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Moeglin 1993, S. 42. Müller schreibt Maximilian im Kontext seines gedechtnus-Werkes einen »Willen zur Bürokratie« zu (vgl. Müller 1998, S. 117f.). Dies ist eine der Leitthesen des germanistischen Teilprojektes »Genealogie im ausgehenden Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit. Institutionelle Mechanismen der Legitimierung und Verstetigung von Macht« im Dresdner SFB 537 »Institutionalität und Geschichtlichkeit«. Mennel 1518, Buch I, Bl. 65v. Vgl. hierzu und zum Folgenden v. a. die Arbeiten von Mertens 1988, Pollheimer 2005, bes. S. 48–69, und Kellner/Webers 2007. Vgl. Mertens 1988, S. 128.
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3. Das erste Buch der Fürstlichen Chronik ist zunächst als eine Einleitung und als Orientierungshilfe über das Gesamtwerk konzipiert. In seiner Vorrede äußert sich Mennel vorab zu der schwierigen Aufgabe, den Ursprung und das Herkommen der Habsburger zu ewiger gedechtnus aufzuschreiben,37 denn er habe die von ihm benutzten Quellen mit teils widersprüchlichen Aussagen und teils in schlechtem Erhaltungszustand vorgefunden. Aus diesem Grund bestehe die Notwendigkeit, die Abkunft Maximilians in der recht ordnung darzulegen, so dass etwaige Kritiker durch jr boshafftigkait nichts daran entferben mögen.38 Im Anschluss an die programmatische Vorrede erläutert Mennel den Titel, die Einteilung sowie den Inhalt der fünf Bücher39 und listet die zur Abfassung seines Werkes verwendeten Quellen auf.40 Nach einem kurzen Exkurs über die Erschaffung der Welt und ihre Besiedlung durch die Söhne Noahs41 befasst er sich daraufhin im Hauptteil des ersten Buches mit der Geschichte Trojas: In neun Titeln berichtet er vom Ursprung der Stadt bis zur ihrer Zerstörung zur Zeit des Priamus,42 erläutert dann die trojanische Abstammung der Römer von Aeneas sowie die Geschichte des römischen Reiches bis zu den Zeiten des Julius Caesar,43 um seine Überlegungen schließlich der Geschichte der Franken und damit dem trojanischen Ursprung von teutsch vnd wälsch Frankreich zu widmen:44 Während die Römer von Aeneas abstammen würden, sei der Urahn der Franken ein Sohn Hektors namens Francio beziehungsweise Francus gewesen, der mit großem Volk nach Pannonien gezogen sei. Hier habe Francio die nach seinem Sohn benannte Stadt Sicambria gegründet, die übrigens auch als die Etzelburg von kunig Attila bekannt sei.45 Dass Francio in einigen Geschichtsquellen nicht erwähnt wird, Hektors Linie hingegen mit dem Tod seines Sohnes Astyanax für beendet gehalten werden kann und damit die Glaubwürdigkeit eines von ihm ausgehenden Stammbaumes in Frage stehen könnte, wehrt Mennel mit dem
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Mennel 1518, Buch I, Bl. 1r. Ebd., Bl. 5r. Ebd., Bl. 5v–8v. Ebd., Bl. 8v–12v. Genannt werden hier Chroniken, Autoritäten, Geschichtswerke, Kataloge, Martyrilogien und Stifte. Ebd., 13r–14v. Ursprünglich – etwa noch in einem Entwurf von Stabius aus dem Jahr 1518 – war die genealogische Rückführung der Habsburger wohl bis auf Noah geplant. Vgl. dazu das Gutachten, das von der Wiener Theologischen Fakultät angefertigt worden war (Wien, Österreichische Nationalbibliothek: Cod. Vind. 10289). Vgl. hierzu auch Laschitzer 1888, S. 39, Lhotsky 1971, S. 308, und Kathol 1999, S. 2f. Mennel 1518, Buch I, Bl. 14v–16v. Ebd., Bl. 16v–31r. Ebd., Bl. 31r–34r. Ebd., Bl. 31v.
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Hinweis ab, Francio sei bei der Zerstörung Trojas noch ein sehr kleines Kind gewesen.46 Im Stil einer mit qui-genuit-Formeln versehenen genealogischen Aufzählung zieht Mennel daraufhin – Name um Name anführend – eine agnatische Linie durch 83 Generationen, angefangen bei Hektor, dem son Priami des grossen kunigs zu Troya,47 über den ersten Herzog der ›neuen‹ Franken Priamus III., die Merowingerkönige Chilpericus und Theobertus sowie über Ottpert, den umstrittenen ersten Grafen von Habsburg, und König Rudolf II. bis hin zu Kaiser Maximilian, Philipp dem Schönen und den Maximilian-Enkeln Karl und Ferdinand. Eine Bilddarstellung jenes von Mennel zum ersten Habsburger erklärten Ottpert findet sich auch in der von Hans Burgkmair im Jahr 1509 angefertigten Holzschnitt-Genealogie Kaiser Maximilians (Abb. 3),48 die ihrerseits im Kontext der genealogischen Forschungen Mennels steht. Bei Mennel ebenso wie bei Hans Burgkmair ist die Ottpert-Figur Verbindungsglied zwischen Merowingern und Habsburgern (im 7. Jahrhundert). Von den insgesamt 77 Figuren in der Genealogie ist Ottpert interessanterweise der einzige, der einen Pfauen als Attribut aufweist. Das Grundschema, nach dem die ersten beiden Bücher aufgebaut und dem auch die weiteren Bücher zugeordnet sind, kann man der bereits eingangs angesprochenen bildlichen Darstellung ablesen (Abb. 1). Das Bild zeigt drei vertikale Namenreihen, die als linea hebreorum, linea graecorum und linea latinorum ausgewiesen sind: Links ist die linea hebreorum als goldene Kette dargestellt; sie weist in ihrem ersten Glied unter der bildlichen Darstellung eines Juden den Namen des alttestamentlichen Boas vom Stamme Juda auf, der nach Mennel zur Zeit der Zerstörung Trojas gelebt haben soll. Diese linea hebreorum wird von Boas dann über König David und Christus in einen bis zu Papst Leo X. (1513–1521) reichenden Päpstekatalog weitergeführt. Die rechts als silberne Kette dargestellte und als vrsprung der römischen kayser vnd kunig ausgewiesene linea latinorum beginnt mit dem Namen Aeneas, über dem ein Herrscherbildnis wiedergegeben ist. Diese rechte Namenreihe führt über die römischen Könige, Kon 46
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Vgl. ebd., Bl. 37v: Das dann von Franco als kunig Hectors son nit von allen historicis meldung geschickt, ist kain wunder, dann als Lucius Tongrensis schreibt, so ist er zu den zeÿten als Troÿ zerstört ward noch vnnder seinen iaren gewesen vnnd also mit etlichen der seinen heraus kommen wie dann hieuor gemeldet ist. Darbey ichs las beleyben. Ohne die Kontinuität der Genealogie zu berücksichtigen, überspringt Mennel mit dem Hinweis darnach vber vil hundert iar (ebd., Bl. 31v) die Zeit von der Gründung Sicambrias bis zur Geschichte des Stammes der ›alten‹ Franken zur Zeit Gratians und Valentinians, um jene Geschichte der ›neuen‹ Franken – nicht ohne weitere Klitterungen genealogischer Schwachstellen – fortzuführen. Ebd., Bl. 38r. Vgl. zu dieser Darstellung auch im vorliegenden Band Schauerte, S. 348f. Zur Bedeutung Ottperts siehe Laschitzer 1888, S. 20–25, Mertens 1988, S. 136f., sowie insbesondere Pollheimer 2005, S. 70–86.
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suln und Volkstribunen zu Julius Caesar und wird nach einem zwischengeschalteten Doppeladlerwappen49 durch die römisch-fränkisch-deutsche Kaiserreihe von Oktavian über Karl den Großen bis zu Kaiser Maximilian fortgesetzt. Die mittlere Reihe stellt schließlich die im Text bereits zuvor beschriebene und nunmehr als eiserne Kette visualisierte linea graecorum dar, die durch 83 Generationen von Hektor zu Maximilian und seinen Enkeln führt. Der den Kettendarstellungen vorangestellte Kommentar Mennels lautet: Nota primo: Item beÿ der ersten kettin vrsprung der hailigen vater der bäpst durch die hebraischen linien. Nota secundo: Item beÿ der mittel kettin vrsprung der habspurgischen fursten von Osterreich durch die griechischen linien. Nota tercio: Item beÿ der ledtsten linien vrsprung der römischen kaÿser vnnd kunig durch die latinischen linÿen.50
Warum die eiserne Kette vor einem kahlen Baumstamm verläuft, erläutert Mennel mit dem Hinweis, die dargestellten Personen seien von anfang bis ausgang desselben ains stamens und ains geschlecht, während dies bei den Namen der goldenen und silbernen Kette nit also ist.51 Wie Dieter Mertens feststellt, handelt es sich folglich um zwei verschiedene Typen von Namenreihen: Die bloßen Ketten links und rechts stellen Sukzessionsreihen von Amtsträgern dar ohne Rücksicht auf genealogische Zusammenhänge. Diese Absicht wird auch durch die Tatsache nicht verändert, daß mehrfach Söhne den Vätern im Amt folgen wie in der Genealogie Christi […]. Dagegen ist die mittlere Namenkette vor dem kahlen Stamm ein strikt agnatischer Deszent, die Vater-Sohnesfolge […] ohne Rücksicht auf das jeweils innegehabte Herrscheramt.52
Die parallelisierende Zusammenschau der hebräischen, griechischen und lateinischen Linie hat nach Mennels eigener Aussage zunächst einen praktischen Grund: Die linke und rechte Namenreihe dienen als contemporales,53 die die chronologische Einordnung der in der mittleren Reihe dargestellten Generationenfolge ermöglichen sollen. Zugleich suggeriert diese symmetrisch um drei parallele Achsen gruppierte Verortung, Zuordnung und Zusammenschau von Dynastie und Weltgeschichte eine Vollständigkeit, die insbesondere die Mennel’sche Ansippung der Habsburger an die Merowinger gegen jegliche Kritik absichern soll.54 Die chronologische Hilfsfunktion der silbernen und goldenen Kette hat schließlich noch eine weiterreichende Bedeutung, stellt sie doch die Eignung der habsburgischen 49 50 51 52 53 54
Mennel 1518, Buch I, Bl. 47v. Ebd., Bl. 43v. Ebd., Bl. 65r. Mertens 1988, S. 130. Mennel 1518, Buch I, Bl. 6v. Vgl. auch Lhotsky 1971, S. 309.
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Dynastie für, wenn nicht gar ihren Anspruch auf das jeweils höchste weltliche und kirchliche Amt, auf Kaiser- und Papsttum, außer Frage.55 In dem der Kettendarstellung folgenden Text erklärt Mennel sodann eingehender, warum der Pfau ein Zeichen Österreichs und damit auch Symboltier der linea graecorum sei.56 Er bedient sich dabei zunächst eines mythologischen Deutungsansatzes: Nach Ausweis verschiedener Chroniken habe Priamus, Hektors Vater, die Abgötter und insbesondere Jupiter angebetet. Bei Tisch habe Priamus stets ein Bildnis dieses Abgottes vor Augen gehabt. Jupiter aber sei mit der von der Insel Samos stammenden Juno vermählt gewesen, die aufgrund ihrer Schönheit und Klugheit von den Heiden als Göttin verehrt wurde. Damals habe es auf Samos keinen schöneren Vogel gegeben als den Pfauen; dort sei auch der allererste Pfau geschlüpft. Als die Heiden die außerordentliche Zuneigung der Juno zu dem Hühnervogel bemerkten, hätten sie begonnen, Pfauenfedern zu opfern, um ihre Gunst zu gewinnen. Aus diesem Grund sei der Pfau dieser Göttin des Reichtums und Nothelferin der Schwangeren nach haidenischem sitten consecriert (geweiht) worden: Vnnd der pfawen als von des osterreichischen zaichen wegen hat es die gestalt: Nach dem wir in der troÿanischen vnnd annderen historien lesen wie der gros kunig Priamus, Hectors vatter, zu Troÿ als ain haid die abgött vnnd besonder den Jupiter, des bildnis er allweg beÿ seinem tisch gegen jm vnnder augen stan hat, anbettet,57 das der selb Jupiter ain weÿb gehebt mit namen Juno, die als Aulus Gellius sagt aus der Insel Samos vnweit von Tracia gelegen geborn ist. Vnnd als Varro schreibt hat die selbig jnsul vor zeÿten gehaÿssen Parthenia vnnd in latein Virginea, daraus auch Sibilla, die von Cristo weis sagt, komen ist etc. Dieselb Juno jr mercklich hüpsch vnnd schicklichait halb von den haiden als ain göttin auffgeworffen, gar in grossen wirden vnd eren gehalten vnnd zuledst dem gedachten Jupiter, der dann ain kunig Cretensium gewest, vermahelt ist. Nun was zu den selben zeÿtten in der jnnsel kain hüpschrer vogel dann der pfaw. Vnnd als etlich mainend, so ist der pfaw erstlich darjnn ausgeschloffen, wann nun die selbig gottin gar gros lieb vnnd naigung zu jm hat darumb. Als die haiden sollichs gewar wurden, welcher sÿ dann hoch erfrewen vnnd eren wolt vnnd vil gnad beÿ ir erlangen, der oppfert jr der selben federn, die sÿ dann gern vmb 55
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In diesem Sinne erläutert Mennel auch die einzelnen Metalle der drei Ketten: Vnnd geschickht sollichs alles vs nachuolgenden vrsachen, dann es ligt am tag, das die zweÿ metall als gold vnnd silber die aller obersten vnnd edelsten metalla oder geschmid sind, darumb sÿ gegen den sternen in den himeln, nemlich das gold der sonnen vnnd das silber dem mon vergleicht werden. So ist zwischen den selben himeln vff dem ertreich das gold dem höchsten statt der gaÿstlichen vnnd das silber dem hochsten stand der weltlichen vergleicht. So dann ist das eÿsin von natur starck vnnd mechtig mit gold vnnd silber zebezieren wie dann die personen in der eÿsin kettin auch mit höchsten gaÿstlichen vnnd weltlichen stännden offt gewirdiget bäpst vnnd kaÿser worden sind (Mennel 1518, Buch I, Bl. 64rf.). Siehe hierzu Mertens 1988, S. 130f. Mennel 1518, Buch I, Bl. 64r–67r. Vgl. auch ebd., Bl. 17v: Vnnd in dem saal nach haidnischer art waren auch die götter lauttrem silber gemacht vnnd mit gold erhaben. Vnnd sonderlich ist Jupiter gleich gegen dem kinig Priamo aller nechst so er zetisch sas vnnder augen gestanden wie dann solchs alles mit weytterm inhalt in den troÿanischen, kriechischen vnd andern hÿstorien gnugsamlich beschrÿben ist.
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sich vnnd beÿ ir hat. Dauon ward jr der pfaw als ainer göttin der reichtumb vnnd nothelfferin der swangern weiber nach haidenischem sitten consecriert.58
Weil nun die habsburgischen Fürsten trojanischer Abkunft seien und einst die heidnischen Abgötter verehrt hätten, so seien die als Opfergabe an die Göttin bestimmten Pfauenfedern als Glücksbringer von ihnen herbracht vnnd also bis in die cristenhait gefurt worden. Von den christlichen Habsburgern werde der Pfau freilich nicht in der Weise verehrt, wie es einst die Heiden taten, sondern er werde zu gedechtnus jrs alten herkomens, also zur Erinnerung an ihre uralte Abstammung aus Troja geschätzt. Zudem weise der Pfau, so ergänzt Mennel recht unvermittelt, herausragende natürliche Eigenschaften auf, die sich nach Aussagen des Plinius und vieler anderer durchaus mit dem loblichen haus Osterreich vergleichen ließen: Dieweil nun die habspurgischen fursten von Österreich aus solhem haidenischem stamen der Troÿar so die gemelten abgöt geert haben wie oblawt entsprungen vnnd herkomen sind, jst leichtlich dabeÿ abzenemen, das sÿ die pfawen federen als ain oppffer der gött, dauon sy dann gluck verhofften, mit jnen herbracht vnnd also bis in die cristenhait gefurt haben, aber in der cristenhait nit solher gestalt wie die haiden, sonder zu gedechtnus jrs alten herkomens vnnd von wegen des pfawen naturlich aigenschafften, die sich nach vßweÿsung Plinÿ vnnd anndrer nit wenig mit dem loblichen haus Osterreich vergleichen gehalten. Es hat och der weÿs kunig Salamon die pfawen gros geacht wie man dann sollichs jn der bibel besonnder am dritten buch der künig jm zehenden Capitul59 des gleichen jm anndern buch Paralippomenon jm ix capitul60 beschriben find. Darbeÿ grundtlich zevermerckhen, das sollich zaichen nit allain jm newen […] sonnder auch im alten testament jn hohem angesehen gewesen vnnd noch ist.61
Die durch den Verweis auf Plinius angedeutete allegorische Deutung des Pfauen bleibt an dieser Stelle freilich zunächst unausgeführt. Mit der abschließenden Bemerkung, der weise König Salomo habe die pfawen gros geacht und das Tier stünde in Altem wie Neuem Testament in hohem Ansehen, ergänzt Mennel seine Ausführungen schließlich noch um einen Hinweis auf die unumstößliche Autorität der Heiligen Schrift. Dieser erweist sich jedoch ebenso wie der Plinius-Verweis als lediglich aggregativ eingebrachter Wissenspartikel und hält überdies der genaueren Prüfung nicht stand: Zwar hat der Pfau sein Debüt in der christlichen Literatur tatsächlich in der Bibel, im Neuen Testament wird der Vogel allerdings überhaupt nicht erwähnt, im Alten spielt er lediglich eine marginale Rolle. Allein an den von Mennel angegebenen Stellen wird er in der Schilderung der Pracht und Herrlichkeit König Salomos beim Besuch der Königin von Saba in einem Atemzug mit Gold, Silber, Elfenbein und Affen als kostbares Frachtgut erwähnt. 58 59 60 61
Ebd., Bl. 65vf. Nach moderner Zählung: 1 Kön 10,22. 2 Chr 9,21. Mennel 1518, Buch I, Bl. 66rf.
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Mennels mithin maßgeblich auf das Lieblingstier der Jupiter-Gattin rekurrierende Begründung für das Pfauenbildnis am Anfang der eisernen Kette scheint zunächst recht weit hergeholt und kaum überzeugend (zumal das Attribut Jupiters, der Adler, für Maximilian zweifellos geeigneter gewesen wäre). Indem aber in der Deutung des Pfauen mythologisches Wissen in Gestalt der Sage vom Lieblingsvogel der Juno mit der genealogischen Essenz der Sage von der trojanischen Abkunft der Habsburger verknüpft und gleichsam in eine mythologische Szenerie – den Pfauengarten der Juno – überführt wird, kann der Pfau als aktuelles Memorialzeichen die geradezu auratisch anmutende Überhöhung habsburgischer Abstammung von den Trojanern präsent halten und Maximilians Herkunft in der Gegenwart verankern. Und dies geschieht nicht nur an dieser Stelle: Pfauendarstellungen und -erwähnungen erfüllen diese Funktion als optisch eingebrachte ebenso wie narrativ vermittelte ›Historizität‹ auch im weiteren Verlauf – und vor allem im vierten Buch – der Fürstlichen Chronik. Inwiefern die Pfauendarstellung und ihre eigentümlich anmutende vergangenheitsorientierte Deutung darüber hinaus einen ikonographischen Fingerzeig auf eine ›göttliche‹ Herkunft Maximilians impliziert, kann erwogen werden, ist es doch Mennel selbst, der den Weg zu dieser Auslegung an anderer Stelle vorgibt: In seinen Ausführungen zur ersten Zerstörung Trojas durch die Griechen ist Priamus durch seinen Urahn Dardanus, einen Sohn des Jupiter, als direkter Jupiter-Abkömmling in der sechsten Generation ausgewiesen.62 Dass der heidnische Gott damit in logischer Konsequenz auch Maximilians Urahn sein muss, wird in der Fürstlichen Chronik nicht thematisiert, was bei der politischen und vor allem theologischen Brisanz einer möglichen ›abgöttlichen‹ Herkunft des Habsburgergeschlechts freilich auch kaum verwundern dürfte. Mennel begnügt sich mit dem Trojaner Hektor, auf den auch der Pfau als Chiffre trojanischer Abstammung beziehungsweise als Symbol der habsburgischen Dynastie stets verweist.
4. Im zweiten und dritten Buch der Fürstlichen Chronik wird der Mannesstamm Maximilians um Äste und Zweige – also um Nebenlinien der natürlichen Sippschaft Maximilians und die angeheiratete Verwandtschaft – erweitert. Diese durch Verästelungen dargestellte Ausformung des habsburgischen Stammbaums präsentiert sich dabei als ein ideales Ganzes, das einen 62
Dardanus war laut Mennel der Gründer und Namensgeber der Stadt Dardania. Sein über den Sohn Erictonius gewonnener Enkelsohn Troes nannte Dardania dann in Troja um und zeugte den Ilios, dessen Sohn Laomedon wiederum Herkules und die Argonauten erschlug. Laomedons Sohn war schließlich Priamus, der die Stadt nach ihrer ersten Zerstörung durch die Griechen wieder aufbaute; vgl. ebd., Bl. 14v–16v.
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Ablösungsprozess als Wachstum ausweist und dadurch eine Kontinuität vermittelt, die – den politischen Wunschvorstellungen habsburgischer Herrschaft entsprechend – kumulativ zur Erhöhung des Gesamtwertes einer Blutsgemeinschaft beitragen soll.63 Die suggestive Kraft der »auf alten Überlieferungen fußenden Grundidee von der gottgewollten Ewigkeit«64 des Hauses Österreich musste nicht allein für die Zukunft tragfähig, sie musste ebenso für die Vergangenheit nachweisbar und glaubhaft gemacht werden. Und in diesem Sinne erscheint auch bei Jakob Mennel Genealogie als rückwärtsgewandte Prophetie. Während die ersten drei Bücher der Fürstlichen Chronik linear-chronologisch angelegt sind, weisen die Bücher IV und V eine systematische Anordnung auf.65 Das vierte Buch, genannt der Pfauenspiegel, erfasst nach Rängen differenziert und von jtem zu jtem registers weiß66 die Ehebindungen, die die Habsburger mit Angehörigen anderer europäischer Königs-, Herzogs- und Grafengeschlechter eingegangen sind und durch die sie ihr Geschlecht verbreitert und erhöht haben.67 Diese Verbindungen werden jeweils bildlich in heraldischen Figuren wiedergegeben, wobei den Darstellungen der Wappen und ihren Zuschreibungen referenzialisierbare Geltungsansprüche zukommen. Nach dem Vorbild der Quaternionen werden die Wappen der 14 mit Habsburg durch Heirat verbundenen Kaiser- und Königshäuser auf den ausgebreiteten Flügeln eines Pfauen dargestellt (Abb. 4), wodurch im Bild ebenso wie im erläuternden Text sämtliche Königreiche der lateinischen Christenheit mit Habsburg verbunden sind. Für die 22 Herzogswappen folgt nochmals ein doppelseitig gemalter Pfau.68 Die Wappen der Pfalz-, Mark-, Land- und Burggrafen, Freiherren und Herren stehen alsdann in Spiegeln, die mit Pfauenfedern unterlegt sind.69 Darüber hinaus zählt Mennel die Mitglieder der einzelnen Stände im Gebiet der Eidgenossen auf, erklärt den Namen Österreichs, liefert eine Neubestimmung der nunmehr im vormaligen Ober Osterreich/Lothringen gelegenen 63 64 65 66 67 68
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Vgl. Brückle 2000, S. 59. Lhotsky 1971, S. 307. Vgl. Mertens 1988, S. 129. Mennel 1518, Buch IV, Bl. 2r. Vgl. hierzu und zum Folgenden Mertens 1988, S. 147f. Die erste Pfauendarstellung zeigt auf den ausgebreiteten Flügeln die Wappen des Reichs, Spaniens, Böhmens, Ungarns, Kastiliens, Siziliens, Schottlands, Englands, Frankreichs, Aragons, Portugals, Polens, Krakaus und Dänemarks. Die Herzöge des zweiten Pfauen sind diejenigen von Sachsen, Braunschweig, Bayern, Burgund, Britania, Bergen, Lothringen, Savoyen, Kärnten, Kalabrien, Lüneburg, Schlesien, Pommern, Mailand, Württemberg, Cussin, Gulch, Stettin, Breslau, Mäß, Seul und Venedig. Mennel erklärt entsprechend in der Fürstlichen Chronik (Buch IV, Bl. 11v): Die wapen alle jn gemain bedeutten die geschlecht, so sich mit Habspurg vnd Habspurg sich mit jnen elich verfrundt haben, wie dann solchs jn den nachgebildten pfawen augenscheinlich gesehen vnnd durch die nechstuolgenden titul von yedem geschlecht jnsonders aigentlich erklärt vnd lutter an tag bracht wirt.
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Ur-Habsburg70 und äußert sich zur Herkunft der als widerständig charakterisierten Schweizer.71 Die im vierten Buch dargestellten europaweiten Verbindungen und Ansippungen fungieren bei Mennel ebenso wie die im zweiten und dritten Buch nachgezeichneten habsburgischen Nebenlinien gleichsam als Adern, über die das beste Blut des europäischen Hochadels im Herzen Habsburgs zusammenfließt und sich hier zur Begründung eines unantastbaren, gottgewollten und ewig gültigen Hegemonialanspruchs akkumuliert.72 Dieser Anspruch zeigt sich auch in der von Mennel erneut gebotenen Erklärung, warum die pfawen vß gmainer achtung der menschen vnnser land art bedeutten Osterreich:73 Er stellt hier der mythologischen Deutung des ersten Buches nicht allein die noch ausstehende allegorische, sondern auch eine heraldische und historisch-namensetymologische Begründung zur Seite.74 Das Verfahren der Tierallegorese funktioniert in der Fürstlichen Chronik ebenso wie schon im Physiologus, weil immer nur einzelne Eigenschaften eines Tieres ausgelegt werden.75 Diese Form der Auslegung positiver Eigenschaften von Tieren ist in der mittelalterlichen Heraldik durchaus 70
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Mit der Lokalisierung der Ur-Habsburg in Ober Osterreich stellt Mennel, so führt Mertens aus, »diese Burg in einen Zusammenhang, der die Habsburger ein weiteres Mal auf ihre westlichen Ursprünge verweist. Denn dieses Ober Osterreich meint nichts anderes, als die um Metz zentrierte südliche Hälfte des fränkischen Teilreichs Austria oder Austrasia; zum Beweis der Identität von Austria und Austrasia beruft sich Mennel auf die Chronik des Ado von Vienne. Lothringen heißt also Austr(as)ia superior oder Ober Osterreich, Brabant Austr(as)ia inferior oder Nider Osterreich. Das donauländische Österreich, das eigentlich Pannonia superior oder Ober Ungerland heiße, trage einen vom fränkischen Austr(as)ien her übertragenen Übernamen. […] In der Neubestimmung der Ur-Habsburg kommt eine Verlagerung des Selbstverständnisses der Habsburger von dem Focus ›Haus Österreich‹ als der Gesamtheit ihrer österreichischen Erbländer auf den Focus ›Dynastie‹ zum Ausdruck« (Mertens 1988, S. 140f.). Vorgestellt werden insgesamt vier Meinungen (Mennel 1518, Buch IV, Bl. 146r–155v): 1. Die Schweizer stammen zu einem Teil von den Römern, zum anderen Teil von den christenfeindlichen Goten ab, die sich nach ihrer Vertreibung – über den Gotthard kommend – in der Gegend von Uri niedergelassen haben (Namensgebung nach dem helden, volckhs fuerer und Hauptmann Schwit). 2. Aufgrund einer Hungersnot zogen einst 6000 Menschen unter Sigibert, dem König von Schweden, und 1200 Ostfriesen unter dem Grafen Christopherus gen Krachberg des hertzogthumbs Osterreich (Namensgebung nach dem hauptman Swicerus). 3. Unter Karl dem Großen zogen 6000 besiegte Sachsen zur Sicherung des Zugangs zur Lombardei in das thal Vri vnnd Engerdin und siedelten sich dort an (Namensgebung: Das sÿ auch willigklich angenomen vnnd der Säxeschen zungen nachgeredt: »hie wellent wer switten und damit das land behueten.« Vnd von solcher red wegen seyen sy vnser sprach nach Sweitzer genempt worden. 4. Aufgrund von großer Armut zogen Menschen aus Schwaben, Bayern, Sachsen, Böhmen, Ungarn sowie aus deutschen und welschen Landen in die Gegend und bearbeiteten das Land ›im Schweiße ihres Angesichts‹. Siehe hierzu auch Irtenkauf 1982, S. 58f., sowie Kathol 1999, S. 47. Mennel 1518, Buch IV, Bl. 4r. Siehe hierzu auch Mertens 1988, S. 148f. Jahn/Neudeck 2004, S. 8.
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vertraut. Sie verdankt sich neben einem didaktischen vermutlich auch einem mnemotechnisch zu begründenden Impuls, denn die durch Tiere bildlich gewordenen Eigenschaften lassen sich besser memorieren als abstrakte Lehrsätze.76 Und so erklärt Mennel mit Verweis auf Isidor und Plinius, der Pfau sei ›in seiner Natur‹ von Gott so geschaffen worden, dass die unreinen und giftigen Tiere den Anblick seiner Schönheit, erst recht aber seine grausige Stimme nicht ertragen könnten. Ebenso würden auch vil grober vngestiemer menschen die zahlreichen Ehrentitel Österreichs und die Pfauenspiegel, nämlich die zahllosen Verbindungen zu anderen europäischen Großmächten, nicht gerne sehen und hören. Aufgrund seiner von Gott geschaffenen, edlen Natur verwese das Fleisch des Pfauen nach seinem Tode auch nicht, sondern sei wie ein balsamierter leyb vor Fäulnis bewahrt. Ebenso sei Österreich, wenngleich auch manche seiner fürstlichen Herrscher verstorben seien oder an mengerlaÿ anfechtung, widerwertigkait vnnd abnagung gelitten hätten, aufgrund göttlicher Gnade dazu ausersehen, die hochsten stul der welt vorbildlich und ehrenvoll innezuhaben: Die pfawen vß gmainer achtung der menschen vnnser land art bedeutten Osterreich. […] Darzu mag solch bedeutung genomen werden vß etlichen aigenschafften, so die pfawen von natur an jn haben, dann Ysidorus, Plinius vnnd ander von der vogel art schreÿben, das die pfawen mit jrn schonen spiegeln von got also geschafen seÿen, das die vnrainen (als schlangen vnd ander gifftige thier) die pfawen nit gern sehen mogen, auch ir stym gern nit horn. Also auch vil grober vngestiemer menschen, die den eren titul Osterreich (durch den pfawen bedeut vnd die vffgerichten pfawenspiegel) weder gern sehen noch hören. Deßgleichen sind die pfawen mit jrer natur von got also edel vnnd rain geschaffen, wenn ainer stirbt, das er nit leichtlich verzert wirt, sonder wie ain balsamierter leÿb vor faulung behuet jn gutem wesen beleÿbet. Also auch Osterreich wie vil darvon gestorben ist, auch wie gar mengerlaÿ anfechtung, widerwertigkait vnnd abnagung dieselben fursten gelitten haben, sind sie doch von den göthlichen gnaden also furssehen, das sy dennocht nit allain hertzogen vnnd ertzhertzogen zu Österreich beliben sind, sonder auch, das sy darzu die hochsten stul der welt als kayserthumb, kinigreich77 vnd vil fursten- vnd herzogthumb erlangt haben. Auch die selben also loblich besessen, das sie nit vnbillich von aller mengklich fur ander gelopt vnnd geert werden. Will damit ains yeden weÿsenn weÿtter erklärung vnußgeslossen haben vnnd mich also vff den andern titul wenden.78
Diese Form der Auslegung auf Basis heilsgeschichtlicher Naturdeutung impliziert einen doppelten Interpretationsansatz, denn schon allein mit der Methode der Tierallegorese werden durch den Verweis auf die Schönheit, Stimme und Unverweslichkeit des Pfauen die traditionellen, aber nunmehr säkularisierten und auf das Reich bezogenen Deutungslinien evoziert: Tugendhaftigkeit im Inneren, Abwehr des Bösen nach Außen und Ewigkeit des Hauses Österreich. Insbesondere die im Bild der Unverweslichkeit des 76 77
78
Ebd. Hiernach in der Handschrift gestrichen: bapstumb, von anderer Hand dafür am linken Blattrand ergänzt: vnd vil fursten- vnd herzogthumb. Mennel 1518, Buch IV, Bl. 4r–5r.
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Pfauenfleisches suggerierte Ewigkeit vermittelt darüber hinaus eine Kontinuität, die über den individuellen Tod der Glieder der genealogischen Kette hinausgeht. Explizit beschränkt sich Mennel jedoch darauf, die natürlichen, gottgeschaffenen Eigenschaften des Pfauen mit dem natürlichen, ja gottgewollten Anspruch der Habsburger auf die hochsten stul der welt, die höchsten weltlichen Ämter im christlichen Europa, in Beziehung zu setzen. Und genau diese allegorische Deutung findet ihre Entsprechung in der Zusammenschau der europaweiten Versippung im Pfauenbild: Alle christlichen Königreiche und Herzogtümer stehen ›unter den Fittichen‹ des Pfauen, also der habsburgischen Dynastie. Der im Bild des Pfauen sich manifestierende natürliche Zusammenhang der Genealogie, die Kontinuität und Qualität des Geblüts, werden auf diese Weise verschränkt mit einem Herrschaftsanspruch, der nicht nur ein abstraktes Bild des Staates, sondern auch das politische Selbstverständnis Maximilians wahrt. Dass dieses Selbstverständnis nicht der politischen Realität entsprach, steht auf einem anderen – und sicherlich nicht Mennel’schen – Blatt der Geschichte. Das heraldische Argument entnimmt Mennel endlich der Helmzier des österreichischen Wappens – aus dem wappen, das dann die Habspurgischen fursten von Osterreich bißher gefuert haben mit namen ain ›pfawen swantz‹ vff dem rotten schilt mit der weyssen fätschen.79 Der rot-weiß-rote Balkenoder Bindenschild wird seit Babenbergerzeiten als Wappen Österreichs geführt, und erst im Jahr 1919 wurde die damit verbundene Helmzier, das Bündel Pfauenfedern, aufgegeben.80 Dieser ›Pfauenstoß‹, der seit etwa der Mitte des 13. Jahrhunderts als Helmzier von Österreich geführt wurde,81 galt ebenso wie das Bindenschildwappen als Symbol der Zugehörigkeit zum ›Hause Österreich‹ und fand auch als Sympathieabzeichen Verwendung (vgl. Abb. 5).82 In seiner heraldisch-historisch argumentierenden Deutung des Pfauen, der mit dem Pfauenstoß pars pro toto aufgerufen wird, verknüpft der His 79 80 81
82
Ebd., Bl. 4r. Vgl. Lhotsky 1970, S. 258. Siehe auch Harms 1984, S. 342. Eine genauere Datierung des erstmaligen Nachweises ist strittig. Grote (1988, S. 467) nennt hierfür das Jahr 1283. Bildlich nachweisbar ist der Pfauenstoß aber bereits auf dem Amtssiegel des Signifer Austriae Graf Otto von Plain-Hardegg vom Jahr 1254; siehe hierzu Siegenfeld 1900, S. 150f., und Lechner 1942, S. 12. Ulrich von Liechtenstein berichtet dagegen in seiner fiktiven Autobiographie, dem Frauendienst, dass der Domvogt von Regensburg, Otto V. von Lengenbach, bereits 1227 einen rusch von pfansverdern gut als Helmzier gebraucht haben soll (Ulrich 1987, 853). Im Verlauf der von Ulrich geschilderten Venusfahrt trifft der Held häufiger auf Herren, deren Helme mit Pfauenstößen versehen sind (ebd., 506 und 808; vgl. außerdem 998 und 1524). Weitere Vermutungen Lhotskys legen nahe, dass der österreichische Herzog Leopold VI. ein solches Zeichen, wenn auch nicht als Wappen, bereits um 1220 geführt haben könnte (Lhotsky 1970, S. 260f.). Vgl. auch die Pfauendarstellung in Abb. 4, die den Bindenschild mit Pfauenstoß in der rechten oberen Bildecke zeigt.
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toriograph Mennel im Hinblick auf die Frage, wie und warum der Schild mit dem Pfauenstoß an die habsburgischen Fürsten von Österreich gekommen sei, gleich drei inkongruente Erklärungsansätze: Zum ersten deutet er die Farben des Wappens als kriegerisches Zeichen, das einem Mann wie Salvius Brabon gut anstehen würde. Besagter Salvius Brabon, der hier im Text als heroisch anmutender Mann in Szene gesetzt ist, wird von Mennel an anderer Stelle der Chronik als Nachfahre Francios im ersten vorchristlichen Jahrhundert und Namensgeber von Brabant vorgestellt. Er habe den alten rot-weißen trojanischen Bindenschild, den sein Vater von Sicambria nach Arkadien mitgenommen hatte, von dort nach Brabant, in das ehemalige Nider Osterreich, weitergeführt. Die alten habsburgischen Fürsten des donauländischen Österreichs (Pannonia superior) hätten den Schild dann zu gedachtnus ihrer uralten Herkunft (von Troja) angenommen: Jn betrachtung der roten vnd weyssen farben mag vermut werden, das es ain kriegsch wappen seÿ jn bedeutung ains manns, der seinen leyb mit blutvergiessen zewiderstand, der feind nie gespart, wie man dann solchs […] von dem gedachten Saluio Brabone, der disen schilt jn Deutschland bracht, mit weÿtterm jnhalt aigentlich findet. […] dieweyl der offtgemelt Saluius Brabon, der sampt seinem bruder Eneas Brabon solchen schilt wieuor stet vß Troÿa, daruß dann die Habspurgischen fursten von Osterreich lut dess ersten buochs von Hector auch abkhomen, gefuert hat, mag leichtlich vermut werden, das die alten Habspurgischen fursten solchen schilt zu gedachtnus jrs altten herkommens zehanden genomen haben.83
Zum zweiten, so setzt Mennel in einer sonderbar prognostisch anmutenden Erklärung fort, sei der Pfauenstoß ein Siegeszeichen, denn auch heutzutage pflege man den alten Brauch, als Ausdruck des Triumphes einen mit aufgerichteten Schwanzfedern dekorierten Pfauen als Braten zu verspeisen: So dann der pfawen schwantz, daruff ain siglich frölich zaichen angesehen, das man noch heut bÿtag an vil enden vß altem loblichen brauch zu bedeutung frölicher triumph vnnd sig den pfawen pfligt zuessen vnnd den pfawen schwantz pfligt vffzerichten.84
Mit der dritten, der namensetymologischen Deutung droht Mennels Konstruktionsfreude gänzlich aus dem Ruder zu geraten, wenn er behauptet, dass der einst aus Griechenland übertragene Schild nach Angaben der Belgischen Chronik auch in die Provinz Gallia Belgica gelangt sei, deren erster Fürst den Namen Bavo getragen habe. Da nun der Buchstabe b des Öfteren in ein p verwandelt werde, ergebe der Name des Fürsten das lateinische pavo, also ›Pfau‹: Jch find auch vß anzaigung der belgischen Cronikh, das der pfawenswantz seinen vrsprung jn der art genant ›Gallia Belgica‹, dahin dann anfengklich och der obberuert rotschilt vß Grecia kommen, empfangen hab, dann der erst furst desselben lannds 83 84
Mennel 1518, Buch IV, Bl. 7v–8v. Ebd., Bl. 8r.
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Bauo vnnd nach jm ander meer also gehaissen sind. So man nun den buchstaben b jn p verwandelt (als offt geschicht) haist es ›pauo‹, ist souil geredt als ›pfaw‹. Wie dann solchs die maister freÿer kunsten wol vermerkhen.85
Die von Mennel zusammengestellten Herkunftsentwürfe für den Schild – der kriegerische Held Salvius Brabon als vorchristlicher Schildimporteur für Brabant, der Pfauenbraten im zeitgenössischen Österreich und schließlich der lautverschobene Fürst Bavo in Gallia Belgica – laufen in ihrer vermittlungslos aggregativen Zusammenschau augenscheinlich Gefahr, einer gewissen Beliebigkeit anheimzufallen – einer Beliebigkeit, die der Exklusivität des österreichischen Schildes in habsburgischer Hand im Grunde zuwiderlaufen müsste. Was hier aber als ein (Verwirr-)Spiel mit dem Wissen vom Gebrauch des Schildes erscheint, das einzig darauf zielt, nach dem Pfauen als dem Symbol habsburgischer Dynastie nunmehr auch das Reichswappen zum Memorialzeichen alter trojanischer Herkunft zu erklären, birgt in Wahrheit noch eine weitere politisch-legitimatorische Intention. Das österreichische Wappen wird von Mennel nicht nur erheblich – bis in vorchristliche Zeit – zurückdatiert, sein Gebrauch in der Hand habsburgischer Urahnen erstreckt sich zu diesem Zeitpunkt auch vom Südosten bis zum Nordwesten Europas. Das von Mennel als Stammland der westlichen Ur-Habsburger in Szene gesetzte Brabant war zur Zeit der Aufteilung Galliens durch Kaiser Augustus im ersten vorchristlichen Jahrhundert nichts anderes als ein Teil der römischen Provinz Gallia Belgica; als Teil von Burgund allerdings fiel Brabant erst im Jahr 1477 durch die Vermählung Marias von Burgund mit Maximilian an das Haus Österreich! Durch die Kompilation von zeitlich Getrenntem suggeriert Mennel folglich eine uralte Verbindung zwischen Österreich und Burgund, die zwar historisch bedenklich sein mag, aber als Legitimation erneut auf die Verlagerung des Selbstverständnisses der Habsburger von dem Focus ›Reich‹ als der Gesamtheit österreichischer Erbländer auf den Focus ›Dynastie‹ verweist.86 Und diese Dynastie beanspruchte seit 1477 neben den österreichischen Landen eben auch Burgund.
5. Aus Gründen der Vollständigkeit sei abschließend das mit fast 650 Folia umfangreichste fünfte Buch der Fürstlichen Chronik vorgestellt. Dieses ist in seinem ersten Teil den Legenden von nicht-kanonisierten Seligen und Heiligen und im zweiten Teil solchen von kanonisierten Heiligen gewidmet; knapp einem Drittel der aufgeführten Seligen und Heiligen wird von Mennel eine verwandtschaftliche Bindung zum habsburgischen Geschlecht zu 85 86
Ebd., Bl. 8rf.. Vgl. oben Anm. 70.
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geschrieben.87 Das fünfte Buch präsentiert sich auf diese Weise als habsburgisches Legendar, das zweifelsfrei den Gedanken der Geblütsheiligkeit des Geschlechts dokumentieren soll. Nach den chronologisch-linear angelegten Büchern I bis III, deren Rückgrat die agnatische Linie aus der Vergangenheit vom Trojaner Hektor bis in die Zukunft zu Maximilian und seinen Enkeln bildet, und nach der Darstellung der systematisch-räumlichen Ausweitung des habsburgischen Blutes über Gesamteuropa im vierten Buch schließt die Fürstliche Chronik im fünften Buch mit dieser Form transzendenter Anbindung in einer eigentümlichen räumlichen ebenso wie zeitlichen ›Dreidimensionalität‹. Sie zeigt an, dass die Familie Maximilians auch einen Großteil der himmlischen Sphäre und Ewigkeit für sich beanspruchen kann. Anders als in den vorhergehenden Büchern ist es hier nicht mehr ein Ahn, sondern es sind geradezu alle nur erdenklichen Repräsentanten der Sphäre von Seligkeit und Heiligkeit, die dem Geschlecht sakrale Weihe verleihen88 und die zur Quantifizierung habsburgischen Heils beitragen. Nach der Tendenz zur Bürokratisierung von Charisma in den Büchern I bis IV liegt im Hinblick auf das fünfte Buch so auch der Gedanke einer Bürokratisierung von Heil durch Mennel respektive Maximilian nahe. Die politische Zielrichtung, die sich in den fünf Büchern der Fürstlichen Chronik manifestiert, zeigt deutlich, wie durch verschiedene Manipulationen nicht ausschließlich im Organisationsmuster genealogischen Wissens der Nachweis konstruiert wird, die Habsburger seien die natürlichen Fürsten ihrer österreichischen Erblande und nahezu aller abendländischer Territorien und Königreiche.89 Auch durch anders organisierte Wissensformen wird die Wahrnehmung des Rezipienten in ähnlicher Weise perspektiviert. Heterogenes Wissen wird – wie etwa das über den Pfauen – enzyklopädisch, ja geradezu kaleidoskopartig ausgebreitet, und verschiedenste Erklärungsmodelle werden aufgegriffen, in die genealogische Argumentation transponiert und funktionalisiert. Dabei bleibt die Ausrichtung auf eine Bürokratisierung von Charisma sowie auf die Verstetigung von Macht und Legitimation von Herrschaft in den habsburgischen ›Reichen des Pfauen‹ stets deutlich zu erkennen.
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88 89
Im ersten Teilband folgt die Auflistung der Seligenlegenden erneut dem genealogischen Prinzip, 45 Selige werden den Habsburgern zugezählt. Der zweite Teilband ist nach dem kalendarischen Prinzip angeordnet, hier ist es mit 123 Heiligen fast ein Drittel, denen eine verwandtschaftliche Bindung zum Haus Habsburg zugeschrieben wird. Vgl. hierzu auch Pollheimer 2005, S. 57f. Vgl. hierzu auch Müller 1982, S. 88. Vgl. Moeglin 1993, S. 42. Mennel argumentiert dabei aristotelisch auf naturrechtlicher Grundlage. Zur aristotelischen Staatstheorie im Spätmittelalter siehe Brückle 2000, S. 56–60; vgl. ferner Melville 1987, der unter anderem die Unterschiede zwischen deutscher und französischer Staatstheorie darstellt.
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Jürgen Müller
Ein anderer Laokoon Die Geburt ästhetischer Subversion aus dem Geist der Reformation Für David A. Levine
1. Dürers Bauerndarstellungen als Neuanfang Im Jahre 1514 entstehen zwei Kupferstiche Albrecht Dürers, die zumindest inhaltlich als Gegenstücke gedacht werden müssen. Denn während der eine einen musizierenden Dudelsackpfeifer (Abb. 1) zeigt, stellt der andere das dazu passende tanzende Bauernpaar (Abb. 2) dar. Beide Stiche sind in ihrer formalen Anlage insofern vergleichbar, als sie die Figuren auf schmalem, dunklem Vordergrundstreifen platzieren. Der Hintergrund hingegen bleibt von der Gestaltung ausgespart. So gewinnen die Figuren eine skulpturale Qualität. Markant heben sich die Dürer-Monogramme vor weißem Hintergrund ab. Der Dudelsackpfeifer spielt auf. Entspannt hat er einen Fuß über den anderen gestellt und den Kopf konzentriert nach rechts geneigt. Im Gegensatz zum wild tanzenden Paar wirkt er fast ein wenig melancholisch. Auch in der formalen Gestaltung verhalten sich die beiden Blätter komplementär zueinander. Während die Komposition des tanzenden Paares aus lauter auseinander strebenden Diagonalen besteht, besticht die Komposition des Dudelsackpfeifers durch die vertikale Grundausrichtung. Bei den Stichen handelt es sich keinesfalls um die ersten Bauerndarstellungen im Werk des Nürnbergers, aber nie zuvor erscheinen Bauern derart monumental. Dies ist die Folge des klugen formalen Arrangements. Denn indem Dürer darauf verzichtet, den Umraum zu gestalten, fallen der Bildraum und der Raum der Figuren in eins. Darüber hinaus fällt auf, mit welcher Akribie der Künstler Details beobachtet hat. Man achte auf die Füße des Dudelsackpfeifers, die in Schuhen aus weichem Leder stecken, sodass sich die Zehen des rechten Fußes deutlich abzeichnen. Dies gilt in ähnlicher Weise für den aufgesetzten Fuß der Tänzerin. Oder man achte auf die fließende Bewegung der Falten auf der Schürze der Frau, die wie ein Echo auf die vielfältigen Bewegungsrichtungen erscheinen. Ebenso aufmerksam sei das hochstiebende wilde Haar des männlichen Tänzers wie auch sein ins Profil gestelltes Gesicht beobachtet, scheint er doch vor lauter Gaudi aufzuschreien. Es ließen sich viele Beobachtungen anschließen, aber es reicht festzustellen, dass alles mit äußerster Präzision dargestellt ist, was uns auf die Ambition des Künstlers verweist,
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der im selben Jahr mit der Darstellung der Melencholia I sein rätselhaftestes Werk abliefern wird. In marxistischer Kunstgeschichtsschreibung wollte man hier eine gewisse Sympathie, wenn nicht gar Respekt des Künstlers für den bäuerlichen Stand entdecken, was angesichts des statuarischen Eindrucks ja auch eine gewisse Berechtigung hat.1 Hans-Joachim Raupp verdanken wir eine umfassende Darstellung des Bauerngenres, die solche ideologischen Verbiegungen zurechtgerückt hat.2 Ihm gelingt es überzeugend, Bedingungen der Gattung zu umreißen, dabei wird aber nur ausnahmsweise die Leistung des einzelnen Kunstwerks gewürdigt. Im Folgenden strebe ich eine kunsttheoretische Lesart der Kupferstiche an. Kunsttheoretisch insofern, als die beiden Kompositionen meines Erachtens im Nachhinein Dürers zweiten Italienaufenthalt der Jahre 1505 und 1506 reflektieren und einen kritischen Kommentar enthalten.3 Doch was haben diese zwar charakteristischen, aber tumben Gestalten mit Italien zu tun? Wir sind es seit langem gewohnt, Albrecht Dürer als den ersten nordeuropäischen Künstler zu erachten, der sich intensiv mit italienischen und antiken Vorbildern auseinandergesetzt hat.4 Die Reisen nach Venedig sind oft beschrieben, ihre Konsequenzen präzise analysiert worden.5 So lässt sich zweifelsohne behaupten, dass mit den Italienaufenthalten ein Innovationsschub für den Nürnberger einherging. Aber wir stellen uns den Umgang mit solchen Einflüssen immer noch zu undifferenziert vor. Ganz so, als wäre der Künstler eine Art Gefäß, das leer anreist und gefüllt Italien verlässt. Gerade wenn man die Briefe jener Zeit liest, wird man eines Besseren belehrt. So schreibt Dürer im Brief an Willibald Pirckheimer vom 7. Februar 1506 aus Venedig, dass ihm diejenigen Werke, die ihm bei seinem ersten Italienaufenthalt gefallen hätten, nun nicht mehr gefielen. Vor allem erlebt der Künstler zum ersten Mal die Ablehnung der italienischen Kollegen, von denen er sich geradezu verfolgt fühlt. Es sei an jenen Passus des genannten Briefes erinnert, der die neidischen Kollegen des Diebstahls bezichtigt und die Angst ausspricht, vergiftet zu werden:
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Vgl. hierzu Mittig 1984, bes. S. 32–47. Raupp 1986. Vgl. Rohlmann 2000/2001, der zuletzt den mit Dürers Gestaltung des Rosenkranzfestes einhergehenden Akt der Emanzipation gegenüber italienischer Kunst betont hat. Zum beginnenden deutschen Nationalismus Silver 1998. Mit Bezug auf Konrad Celtis vgl. zuletzt Robert 2003, S. 345–349. Nachgerade klassisch: Panofsky 1996. Vgl. auch zur Einführung in die Venedig-Reisen Dürers: Grote 1998. Vgl. Białostocki 1986, S. 91–143 (»The artist’s divinity«).
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Awch sind mir jr [= der italienischen Maler] vill feind vnd machen mein ding in kirchen ab vnd wo sy es mügen bekumen. Noch schelten sy̋ es vnd sagen, es sey nit antigisch art, dorum sey es nit gut.6
Der Brief zeigt, welche Entwicklung der Künstler seit seinem ersten Italienaufenthalt 1495 genommen hat, wovon auch die vielen Ehrbezeugungen des zweiten Aufenthaltes berichten. Wenn die italienischen Maler behaupten, Dürers Bilder seien nicht antigisch art, meinen sie eigentlich: nicht ›italienisch‹, was dem Nürnberger nur zu bewusst ist. Ihm werden einige Kollegen auch deshalb mit Neid begegnet sein, weil er zum überlegenen Konkurrenten aufgestiegen war. Die Herabsetzung, die sie ihm seiner nationalen Herkunft wegen widerfahren ließen, war in gewisser Hinsicht eine der letzten Möglichkeiten, sich als überlegen zu erweisen. Welchem Druck sich Dürer von Seiten seiner italienischen Kritiker ausgesetzt sah, macht ein weiterer Brief an Pirckheimer vom 8. September 1506 deutlich. Triumphierend schreibt er dem befreundeten Humanisten nach Vollendung seines Rosenkranzfestes: […] jch hab awch dy moler all geschtilt, dy do sagten, jm stechen wer jch gut, aber jm molen west jch nit mit farben vm zw gen. Jtz spricht jder man, sy haben schoner farben nie gesehen.7
Der deutsche Künstler macht für sich geltend, die ›Italiener‹ nicht nur im Kupferstechen, sondern auch im Malen überwunden zu haben. Die Genugtuung Dürers über diesen Erfolg kann man schon an den wenigen Sätzen nachempfinden. Nun ist Konkurrenz, wie sie sich in den Briefen immer wieder äußert, nicht zwingend etwas Negatives. Leonardo berichtet, dass man diejenigen Künstler beneide, die mehr Lob als man selbst erhielten, was den Künstler jedoch positiv anstachele, jene zu überbieten.8 Wettbewerb im Sinne der aemulatio stellt eine Haupttriebfeder künstlerischen Fortschritts dar. Allerdings will mir scheinen, dass Dürer mit seinen Bauerndarstellungen den Kreislauf der Künstlerkonkurrenz und des Wettstreits durchbricht. Statt einer Überbietungsgeste liefert er Understatement. Denn aus italienischer Perspektive kann es wohl kein weniger spektakuläres Thema als die Darstellung tumber Bauern geben, bar jeder Eleganz. Doch Dürer erlaubt sich mit seinen Kupferstichen einen ironischen Scherz. Schaut man den Dudelsackpfeifer ein wenig kritischer an, fällt auf, wie merkwürdig in anatomischer Hinsicht der aufgesetzte Fuß erscheint, unter dessen Sohle wir blicken können. Das rechte Bein insgesamt wirkt merkwürdig verdreht. Auch die Schrägstellung des Kopfes wirkt angesichts der Kraft raubenden Aufgabe des Dudelsackpfeifens merkwürdig 6 7 8
Dürer 1956, S. 43f. Ebd., S. 55. Leonardo 1925, S. 48f.
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geziert. Diese Posen erhalten dann eine Erklärung, wenn man entdeckt, auf welches Vorbild sich der Künstler bezieht, zitiert er doch kein geringeres Werk als den Flöte spielenden Faun des Praxiteles (Abb. 3), der in zahlreichen Kopien und Varianten überliefert ist. Zudem belegt eine um 1500 entstandene Skulptur Anticos, die den jungen lesenden Herkules darstellt (Abb. 4), dass das antike Bildwerk in jener Zeit geschätzt und rezipiert wurde.9 Der italienische Künstler gibt identisch das Standmotiv wieder, allerdings vertauscht er die Flöte mit einem Buch. Anders als sein italienischer Vorgänger hat sich Dürer sichtlich bemüht, das Vorbild zu verbergen, was uns seine ironische Absicht deutlich vor Augen führt.10 Mit dem antiken Kunstwerk jedenfalls liegt geradezu ein Sinnbild künstlerischer Grazie vor, das dem Dornauszieher in nichts nachsteht. Besonders auffällig ist das Motiv der übereinander gestellten Füße, aber auch die elegante Haltung des Jungen sticht ins Auge. Der Satyr hat sich vollkommen in seiner Musik verloren. Er scheint gleichermaßen zu musizieren wie auch seiner Musik entzückt zu folgen – ein anrührendes Bild der Selbstvergessenheit. Die bäurisch-satyrhafte Gestalt nutzt gleichsam eine sokratische Maske, um die zugrundeliegende Schönheit zu verhüllen.11 Denkt man noch einmal an die Kritik, die Dürer in Venedig ereilt hat, ist seine Absicht deutlich. Er wählt ein typisch deutsches, nämlich unelegantes Thema, das die an antik-italienischer Kunst geschulten Betrachter zur Kritik geradezu einlädt. Ein solcher Kritiker, der aus der Plumpheit oder Schlichtheit des Themas auf eine plumpe Ausführung schlösse, würde sich dann allerdings seiner eigenen Ignoranz überführen. Dabei erscheint es geradezu kokett, wie Dürer beim Detail des elegant übergeschlagenen Fußes absichtlich ›patzt‹. Ganz so, als würde er angesichts von soviel Grazie versagen, schauen wir doch dem musizierenden Bauern unter die Fußsohle. Dürer erfindet nichts weniger als ein neues ikonographisches Bildverfahren: das inverse Zitat. Es zielt zunächst einmal auf die Decouvrierung der ›ideologischen‹ Kritiker, die nationale über ästhetische Erwägungen stellen. Indem er dies tut, folgt er den Ratschlägen Quintilians in der Institutio 9 10 11
Vgl. Natur und Antike 1986, Nr. 97, S. 400f. Vgl. Kruse 2005. Zur silenisch-sokratischen Bildpoetik vgl. Müller 1999; schließlich mit Blick auf den Laokoon ders. 2005. In diesem Zusammenhang ist an die Forschungen von Irving Lavin zu Caravaggio zu denken, der sehr früh die ironischen Strukturen dieser ›realistischen‹ Bildkunst entdeckt hat; vgl. Lavin 1974. Außerdem sei an die Forschungen von David A. Levine zu den Bamboccianti erinnert, deren Antiakademismus geradezu sprichwörtlich war; vgl. bes. Levine 1984, außerdem ders. 1987 und 1988. Levine weist auf die wesentlichen Quellen und Traditionen hin. Ebenfalls wichtig – und näher am Bild – ist Falkenburg 1989. Doch wenn man es recht besieht, sind alle diese Forschungen durch Erich Auerbach fundiert, der auf die ironische Verfasstheit des sermo humilis verwiesen hat; vgl. Auerbach 1988, S. 147–166.
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oratoria. Dieser empfiehlt die dissimulatio im Sinne passiver Ironie, bei der man sich unwissend stellt, allerdings durch seine gespielte Naivität den Gegner dazu verführt, sich zu überheben.12 Dies geschieht im Kupferstich auch insofern, als das Thema des bäuerlichen Musikanten negativ konnotiert ist. Der zeitgenössische Betrachter könnte an das 54. Kapitel in Sebastian Brants Narrenschiff gedacht haben, das den Dudelsackpfeifer als Symbol der Torheit und Verstocktheit inszeniert. So erinnert das Instrument an das männliche Geschlecht und signalisiert die Triebhaftigkeit des Menschen, die dem Dudelsackpfeifer zum einzigen Maßstab geworden zu sein scheint. Demgegenüber stehen Laute und Harfe für die geistig-geistliche Dimension der Musik, wie uns Illustration und Knittelverse im Narrenschiff belehren (Abb. 5): Eyn sackpfiff ist des narren spil Der harppfen achtet er nit vil Keyn guͦ t dem narren jn der welt Baß dann syn kolb / vnd pfiff gefelt.13
Der geistigen Schönheit Apolls steht der satyrhafte Bauer gegenüber. Wie steht es nun mit Dürers Darstellung des Bauerntanzes? Wird auch sie durch eine ironische Bildstruktur bestimmt? Offensichtlich schildert der Nürnberger Künstler den tumben Charakter der Tänzer, die zwar bar jeder Anmut sind, aber immerhin guter Laune. Das gedrungene Äußere der Frau und das wilde Gehopse tun ein Übriges, den witzigen Eindruck zu steigern. Darüber hinaus nutzt Dürer die Darstellung sogar für eine optische Irritation, wenn Füße und Waden der Bauern so dargestellt sind, dass nicht sofort erkennbar ist, welches Bein zu welchem Tänzer gehört. Dürers Bildwitz besteht darin, dass er den Eindruck provoziert, die Bauersfrau habe kein linkes Bein. Naturgemäß würde sie dann unweigerlich hinfallen. Diesen Eindruck steigert der Künstler dadurch, dass die Bilderzählung mit einer aufwärts führenden Diagonale anhebt, die im Fuß der Bäuerin ihren Ausgangspunkt nimmt und in ihrem ausgestreckten linken Arm eine Fortsetzung findet. Diesmal ist es kein geringeres Kunstwerk als die Laokoongruppe, die zitiert wird14 – wiederum in ironischer Absicht. Die Verkehrung des Vorbildes ist sehr komisch und einmal mehr vor dem Hintergrund unterstellter Unkenntnis der Antike zu betrachten. Dabei hat der Künstler die Bäuerin in Bezug auf das Vorbild horizontal gespiegelt. Zudem lässt er aus dem muskulösen Priester eine gedrungen-dickliche Frau werden. Auf einer anderen Ansicht der Mittelfigur des berühmten Bildwerks beruht die Darstellung des 12 13 14
Vgl. hierzu Müller 1989. Brant 2004, S. 131f., Kap. 54, V. 7–10. Vgl. einführend zur Laokoon-Rezeption der Renaissance Winner 1974; vgl. zu Dürers zweiter Venedig- und möglicher Romreise die konzisen Darlegungen von Anzelewsky 1991, S. 37–41.
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männlichen Tänzers mit seinem wild-bewegten Lockenhaar und dem zum Schrei geöffneten Mund. Dass sich der Nürnberger Künstler nicht nur in einer solchen paraphrasierenden Form mit der Laokoongruppe auseinandergesetzt hat, sondern auch in konventioneller Weise, belegen seine Vorzeichnungen für die Fugger-Epitaphien aus dem Jahre 1510 (Abb. 6).15 Dürers Bauerndarstellungen bezeichnen den Beginn einer neuen ästhetischen Möglichkeit in den bildenden Künsten – der Möglichkeit zur Subversion. Und so erinnert uns dieses lateinische Lehnwort daran, dass ästhetische Ansprüche und ihre Durchsetzbarkeit nicht voneinander zu trennen sind. Seit jeher wird Kultur durch Fragen der Hegemonie bestimmt. Die tanzende Bauersfrau als Verballhornung des Vaters aus der Laokoongruppe zu erkennen, setzt freilich ein ebenso geschultes wie gebildetes Auge voraus. Dürer weiß sein Zitat geschickt zu verbergen und zugleich weist er uns klug darauf hin. Zeigen und Verbergen gehen im inversen Zitat ineinander über.16 Je verborgener sich ein Künstler eines Zitats bedient, desto stärker ist er gehalten, indirekte Hinweise zu geben, die den Rezipienten das Zitat erkennen lassen. Deshalb erfindet Dürer den schreienden Tänzer mit empor gerissenem Arm. In Dürers invers-ironischem Zitat findet eine Doppelbewegung statt: Das Zitierte wird zur Unkenntlichkeit verfremdet und muss deshalb durch ›wörtliche‹ Übernahmen oder signifikante Motive, die zentral mit der Figur des Priesters verbunden sind (Schrei und geöffneter Mund, bewegtes Haupthaar sowie erhobener Arm) signalisiert werden. Doch wie bei jeder ironischen Aussage, die den Namen verdient, ist sie einfacher zu übersehen als zu erkennen. Die Schwierigkeit eines solchen Verfahrens liegt auf der Hand: Verbirgt der Künstler das Vorbild zu stark, ist der Bezug nicht mehr erkennbar. Ist das Vorbild zu einfach zu erkennen, läuft die Bezugnahme Gefahr, für eine Parodie gehalten zu werden. Das Besondere von Dürers neuer Äußerungsform besteht, wie gesagt, darin, dass er sich einer sokratischen Maske bedient. Er verbirgt seine Bildung in einem bäurischen Silenkostüm, um an den Locus classicus aus Platons »Gastmahl« zu erinnern.17 Dadurch gelingt es dem Künstler, nicht nur seine noblen antiken Vorbilder zu dissimulieren, sondern auch seine parodistische Absicht. Wir lachen zwei Mal. Zunächst mit den italienischen Kritikartern über die tumben deutschen Bauerngestalten. Sodann über die Kritikarter, denen die Antikenzitate verborgen geblieben sind und die sich nun ihres Unwissens überführt sehen. Nun darf die Tatsache, dass Dürer dieses ironische Bildverfahren in Auseinandersetzung mit seinen italienischen Kritikern entwickelt hat, nicht 15 16 17
Vgl. zur klassischen Lehre der imitatio Pigman 1980, außerdem Irle 1997. Zur Praxis der dissimulatio entlehnter Motive vgl. Gombrich 1985, S. 161f. Vgl. Müller 1999, S. 94–97.
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dazu führen, hier lediglich gekränkte Eitelkeit zu sehen. Im Gegenteil gibt es einen ernsthaften kunsttheoretischen Kontext, den es zur Kenntnis zu nehmen gilt. Im Anschluss an antike Gattungslehre ist die italienische Kunsttheorie in Bezug auf die Malerei hierarchisch strukturiert. Ihr gilt die Darstellung christlicher oder mythologischer Historien als die vornehmste Aufgabe des Malers, dem nun allein durch die Wahl seines Themas ein gewisser Rang zuwächst. Mit der Hierarchie der Gattungen geht als zentraler kunsttheoretischer Begriff jener des decorum einher. Ihm kommt die Aufgabe zu, zwischen der Würde des Gegenstandes und seiner Darstellung zu vermitteln. Dies funktioniert im Sinne der Verhältnismäßigkeit: je nobler das Thema, desto anspruchsvoller die künstlerischen Mittel. Diesbezüglich hat sich Dürer kritisch geäußert und in seiner Proportionslehre geschrieben, dass der künstlerische Rang gerade in der Gestaltung eines simplen Themas offenbar werden könne: Aber dorbey̋ ist zw melden, das ein ferstendiger geübter künstner jn grober bewrischer gestalt sein grossen gwalt vnd kunst ertzeigen kan mer jn eim geringen ding dan mencher jn ein grossen werg.18
Künstlerische Qualität, so macht der Passus insgesamt deutlich, ist weder an Fleiß und Aufwand noch an Themen gebunden, sondern folgt rein ästhetischen Kriterien. Dies gilt ebenso für die verwendeten Techniken, die für Dürer als solche noch keinen künstlerischen Rang garantieren konnten. Wenn meine Beobachtungen zutreffen, so steht die Bildironie im Kontext der Frage künstlerischen Rangs. Garantiert allein das antike Stilidiom künstlerische Qualität? Müssen Maler ihr antiquarisches Wissen in ihrer Motivkenntnis vorzeigen? Und kann nur die Darstellung christlicher oder mythologischer Themen im Sinne der Historienmalerei den Aufweis künstlerischer Brillanz liefern? Alle diese Konventionen italienisch-antikischer Kunsttheorie hätte der Nürnberger verneint oder doch zumindest in Frage gestellt. Aber anders als wir das gewohnt sind, geschieht dies nicht in einem konventionellen ikonographischen Prozedere, sondern durch ironische Verkehrung. Herkömmliche Zitierverfahren wahren die ›Fallhöhe‹ der dargestellten Person. Normalerweise dient die Verwendung eines antiken Vorbildes der Inszenierung einer wichtigen Figur, die hervorgehoben und deren ›Noblesse‹ betont werden soll. Anders bei Dürer: Er hebt das Gesetz der Angemessenheit auf, um Bauernfiguren mittels prominenter Motive zu gestalten. Dies stellt ganz entschieden einen Neuanfang in den Bildenden Künsten dar. Mir ist kein Beispiel nordeuropäischer Kunst bekannt, das vor Dürers Bauerndarstellungen Inversionen einsetzt.
18
Dürer 1969, S. 284.
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2. Dürer, Vellert, Holbein Nun ist mit dem Spannungsverhältnis zur italienischen Kunst ein sehr präziser Entstehungskontext des ironischen Motivgebrauchs genannt worden, aber wie wird diese neue Möglichkeit einer ambivalenten Bildsprache in der Folge weiter verbreitet? Im Juli des Jahres 1520 tritt Dürer seine Reise in die Niederlande an, von der wir durch das Reisetagebuch eine genaue Vorstellung haben. So ist bekannt, dass Dürer mehrfach den Antwerpener Künstler Dirck Vellert trifft, der von ihm als Glasmaler bezeichnet wird und in jenen Jahren immer wieder Dekan der Antwerpener Gilde war.19 Im Herbst des Jahres 1520 findet ein erstes Treffen statt, bei dem ihm der Flame rote, aus Ziegelsteinen gewonnene Farbe zukommen lässt. Am 12. Mai des folgenden Jahres richtet Vellert für Dürer sogar ein Festmahl aus, an dem, wie Dürer knapp berichtet, eine Reihe von Kollegen und bedeutenden Personen teilgenommen hat. Immerhin erwähnt er ein köstliches Mahl, und dass man ihm groß ehr habe zuteil werden lassen.20 Diese Notiz ist deshalb von Bedeutung, weil vermutlich jener Vellert für die Verbreitung ironischer Verfahren in Antwerpen verantwortlich ist. Er bildet in dieser Hinsicht den Ausgangspunkt für die Antwerpener Maler. Kurz vor der niederländischen Reise ist der dritte Kupferstich Dürers entstanden, der sich einem Bauernthema widmet und die gleichen Bildmaße aufweist wie das tanzende Bauernpaar (Abb. 7). Der Stich aus dem Jahre 1519 scheint auf der Reise als Gastgeschenk gedient zu haben, jedenfalls ist mehrfach von einem neuen bauren die Rede.21 Diesmal steht das Paar jedoch nicht frei, sondern vor einer ruinösen Mauer. Der Künstler hat zwischen den Köpfen der beiden die Jahreszahl und zu ihren Füßen das Monogramm auf einem Stein angebracht. Der junge Mann hat seinen rechten Arm ausgestreckt. Mit seiner linken Hand hält er seine Börse, dabei ist er im Begriff, etwas auszusprechen. Der Inhalt des Blattes ist bis auf den heutigen Tag umstritten, aber mir scheint es um eine sexuelle Zote zu gehen. Die alte Frau, die zwei tote Hähne mit ihrer Linken hält, hat dem jungen Mann ein sexuelles Angebot gemacht, der nun ängstlich seinen 19 20
21
Vgl. Held 1931. Dürer 1956, S. 169: Am sontag nach unsers Herrn auffarth tag lud mich meister Dietrich, glaßmahler zu Antorff, und mir zu lieb viel anderer leuth, nehmlich darunter Alexander, goldschmiedt, ein statthafft reicher mann; und wir hetten ein köstlich mahl, und man thet mir groß ehr. Ebd., S. 156f.: Jtem mehr hab ich geschenckt herr Jacob Panisio ein gutes gemahltes Veronicae angsicht, ein Eustachius, Melancholej und ein siczenden Hierony̋ mum, S. Antonium, die 2 neuen Mariensbilder und den neuen bauren. So hab ich geschenckt sein schreiber, dem Erasmo, der mir die supplication gestellet hat, ein siczenden Hierony̋ mum, die Melancoley̋ , den Antonium, die 2 neuen Marienbildt, den bauern, vnd jch habe jhm auch 2 kleine Marienbildt geschickt, und das alles, das jch ihn geschenckt hab, ist werth 7 gulden.
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›Geldsack‹ hält. Für diese Deutung spricht die Tatsache, dass Dürer seiner Darstellung das Thema der ungleichen Liebhaber unterlegt.22 Darüber hinaus haben Krug und Eierkorb einen sexuellen Hintersinn. Die forsche Alte wird lüstern dem ängstlichen jungen Mann, der eine abwehrende Geste macht, gegenübergestellt. Dass eine solche erotische Motivik im Genre der Bauerngraphik üblich ist, belegt ein um 1480 entstandener Kupferstich des Monogrammisten bxg, der eine Alte zeigt, die ihrem Galan das Hemd öffnet, während er ihr an die Brust fasst (Abb. 8).23 Diesen erotischen Handlungen steht die finanzielle Transaktion zur Seite, wenn man auf die Übergabe der Börse durch die alte Frau achtet, die für die empfangenen Zärtlichkeiten zahlen muss. Nun stellt sich die Frage, ob es im dritten Kupferstich ebenfalls einen ironischen Hintersinn gibt – immerhin liegen fünf Jahre zwischen dem Marktbauernpaar und den beiden ersten Bauerndarstellungen. Doch auch hier wählt Dürer die Technik der dissimulatio, wenn er seinen Bauern in deutlicher Analogie zur Darstellung römischer Feldherren gestaltet, wie sie etwa auf Sarkophagen dargestellt werden (Abb. 9).24 Offensichtlich verstand Dürer seine Bauerndarstellungen im Sinne einer Werkgruppe, die nach den gleichen ironischen Gesetzen geschaffen wurde. Doch wer konnte so etwas verstehen? Zwar erlauben alle Kupferstiche dem Rezipienten auch ohne diesen Subtext eine ästhetisch befriedigende Deutung. Dürer wendet sich jedoch mit solchen Entwürfen in erster Linie an seine Künstlerkollegen. Wichtig dabei ist, dass die ernsthaften Antiken durch witzige genrehafte Szenen überformt werden, der Ernst also im Unernst verborgen wird. Künstler, besonders solche im Norden, denen Dünkel und Überlegenheitsgefühl ihrer italienischen Kollegen ein Dorn im Auge waren, werden solche Späße zu schätzen gewusst haben. Leider wissen wir nicht, was das Thema der Konversation während des Festessens in Antwerpen war, das Dirck Vellert für Dürer ausgerichtet hat. Aber vielleicht haben ihn die flämischen Künstler gebeten, über seine Italienreisen zu sprechen. Und vielleicht haben sie ihn sogar aufgefordert zu erzählen, welche bedeutenden Werke er jenseits der Alpen hat studieren können. Dass Dürers ironischer Umgang mit antiken Vorbildern jedenfalls nicht ohne Wirkung geblieben ist, wird durch Arbeiten Vellerts, der zwischen 1511 und 1544 in Antwerpen tätig war, nahegelegt.25 Auch bei dem Antwerpener Künstler lässt sich eine ironische Auseinandersetzung mit dem Laokoon beobachten, die in die frühen 20er Jahre zurückreicht, also unmittelbar nach der Anwesenheit Dürers in Antwerpen einsetzt. Ob Vellert über 22 23 24 25
Vgl. zu diesem Thema grundlegend Stewart 1977. Raupp 1986, S. 47; weitere Beispiele ebd., S. 48f. Vgl. zum so genannten Rinuccini-Sarkophag Zanker/Ewald 2004, S. 50ff. Zu Dirck Vellert existiert keine Studie, die sein Gesamtwerk sichtet, sondern lediglich mehrere Einzelstudien; vgl. zum Maler Baldass 1922, zum Graphiker Francis 1938.
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solche Verfahren von Dürer während dessen Aufenthalt in den südlichen Niederlanden erfahren hat oder die Bildwitze des Nürnbergers allein entdeckt hat, ist kaum zu entscheiden. In jedem Fall existieren zwei Radierungen, die den Laokoon höchst unterschiedlich aufnehmen: die auf 1522 datierte Darstellung des Bacchus (Abb. 10) und die eines grölenden Landsknechts von 1525 (Abb. 11). Einmal mehr verkehren die Radierungen das Hauptmotiv der antiken Skulpturengruppe ins Genrehafte. Der trunkene Bacchus muss sich aufstützen, will er nicht sein Gleichgewicht verlieren, während der Landsknecht seine Contenance längst verloren hat. Betrunken wie er ist, grölt er nach mehr Bier. Auf diese Weise wird der leidende Ausdruck des zum Schrei geöffneten Mundes ins Ordinäre verkehrt. Wie schon Dürer vor ihm gehört Vellert zu jenen Künstlern, die sich auch ernsthaft mit der Skulpturengruppe auseinandergesetzt haben. Dies belegt eine undatierte Zeichnung (Abb. 12), die Bileam und die Eselin zeigt. Links und rechts des stürzenden Propheten erkennt man zwei Diener, die auf Laokoons Söhne anspielen. Mit seinen Antikenadaptationen demonstriert der Antwerpener Künstler zweierlei. Zum einen weiß er das antike Vorbild im Rahmen der Bileam-Ikonographie mit korrekter ikonographischer Bedeutungszuweisung zu nutzen: Aus dem antiken Priester wird ein verblendeter Prophet. Zum andern kann er eine ironische Absicht verfolgen, wenn er das Tragische ins Komische wendet, um eine hohe Form mit einem niederen Inhalt zu füllen. Vellerts Auseinandersetzungen mit dem Laokoon belegen, dass das inverse Zitat eine Kunstübung bedeutet. Es scheint einen künstlerischen Souveränitätsbeweis darzustellen, sich einmal einer solchen Aufgabe der Verkehrung eines Vorbildes unterzogen zu haben.26 Einen ähnlichen Spaß leistet sich Hans Holbein in der graphischen Folge der Imagines mortis, in der immer wieder Motive aus der Laokoongruppe paraphrasiert werden.27 Lässt man alle interpretierten Beispiele Revue passieren, so fällt der grölende Landsknecht Vellerts heraus, denn er ist derart polemisch, dass er sich von den anderen Beispielen weit entfernt. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass es sich weniger um ein ironisches als um ein subversives Werk handelt, dem eine antikatholische Tendenz eigen ist. Damit eine solche Subversion in Bezug auf die Laokoongruppe aber überhaupt stattfinden kann, muss zuvor mit der italienischen Hochrenaissance und ihrem souveränen Rückgriff auf die Antike eine solche Norm aufgestellt worden sein.28 26
27 28
Eine solche Aufgabe gemahnt an die Tradition des paradoxen Enkomion. Anscheinend ohne Kenntnis der Forschungen von Levine hat auch Falkenburg 1989 in seiner Auseinandersetzung mit Pieter Aertsen auf diese Tradition verwiesen, für die viele Beispiele in der Antike zu finden sind und die in Erasmus’ Lob der Torheit ihre prominenteste Aktualisierung gefunden hat. Alle wichtigen Quellen bei Levine 1984, S. 147–166. Vgl. Müller 2005. Zur Laokoon-Rezeption in der italienischen Kunsttheorie vgl. Settis 1999.
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Zentral für eine solche ästhetische Normativität ist das Pontifikat Julius’ II., dem es im frühen 16. Jahrhundert gelingt, eine außergewöhnliche Sammlung antiker Kunstwerke zu begründen, den Bau des Petersdoms zu beginnen und schließlich mit Raffael und Michelangelo die beiden bedeutendsten Künstler jener Zeit in seine Dienste zu holen. Repräsentativer Ausdruck dieser gloriosen Kunstpolitik sind neben St. Peter natürlich die Gestaltung der Sixtinischen Kapelle durch Michelangelo, der Stanzen durch Raffael, aber auch die Wiederauffindung der Laokoongruppe und ihre Einverleibung in die päpstlichen Sammlungen. Mehr noch, der Laokoon wird eine Art päpstlicher Markenartikel, da Julius II. glaubt, in politischer Hinsicht seine Vorherbestimmung als Papst über die Wiederauffindung der hellenistischen Figurengruppe erweisen zu können.29 Dies geht den nordeuropäischen Theologen jener Zeit zu weit. Sie empfinden Julius’ II. Mäzenatentum für einen Papst als anmaßend und pagan, zumal ihn auch seine kriegerische Kirchenpolitik nicht gerade beliebter macht. Die Selbststilisierung des Papstes zum Nachfolger römischer Imperatoren, aber auch seine Antikenbegeisterung in Wort und Bild stellen erkennbare imperiale Gesten dar.30 Sprechend ist in diesem Zusammenhang Erasmus’ polemischer Dialog Julius vor verschlossener Himmelstür, der im Jahre 1515 zum ersten Mal in Leiden erschien und ein bösartiges Porträt des Oberhauptes der katholischen Kirche entwirft. In seinem Gespräch mit Petrus offenbart sich Julius als unchristlicher Gewaltherrscher, dem nicht zu helfen ist, weshalb ihm der Eintritt in den Himmel verwehrt bleibt. Man hat Ulrich von Hutten als Verfasser der Papst-Satire in Betracht gezogen, doch Stilvergleiche machen plausibel, dass es mit einiger Sicherheit Erasmus ist, der mit seinem Text einen großen Kübel ›Schiffsjauche‹ über Julius II. ausschüttet. Dies zeigt schon der Beginn des Dialogs: Als Petrus ans Himmelstor gerufen wird, verwechselt er den Einlass begehrenden Renaissancepapst mit Caesar und spricht ihn als »verruchte[n] heidnische[n] Julius« an, woraufhin dieser mit »Ma di si!« antwortet.31 Als der Apostel in der Folge nicht bereit ist, das Himmelstor zu öffnen, droht ihm Julius mit Exkommunikation. Eine Schnurre jagt die andere und man versteht gut, warum Luther den Text mochte, der dem Zeugnis des Bonifacius Amerbach zufolge noch 1528 aufmerksam rezipiert wurde.32 Doch die bösen Polemiken gegen Papst Julius II. ändern nichts daran, dass es diesem gelungen ist, zum ersten Mal in der Geschichte der Bilden 29 30
31 32
Brummer 1970, S. 118. Besonders Tommaso ›Fedra‹ Inghirami, poeta laureatus am päpstlichen Hofe, verfasste Predigten, die im Druck erschienen und für die er erkennbar auf das Latein eines Cicero zurückgriff, um den Papst zu einem christlichen Augustus zu stilisieren und sein Pontifikat als ›Goldenes Zeitalter‹ zu verklären. Vgl. d’Ascia 1991, S. 188–196. Erasmus 1990 (Iulius), S. 13. Christian 1990, S. XI.
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den Kunst einen Kanon zu etablieren, nämlich Kunstwerke in seinen Besitz zu bringen oder in Auftrag zu geben, die nicht nur die kulturelle Vormachtstellung des Papstes zum Ausdruck bringen sollen, sondern fortan auch als ästhetische Norm empfunden werden. Mit der Gestaltung der Decke der Sixtinischen Kapelle durch Michelangelo und der Stanzen durch Raffael sind darin Höhepunkte damaliger Gegenwartskunst einbegriffen, mit der Laokoongruppe und dem Apoll von Belvedere die größten Meisterwerke der Antike. Dabei verdankt die Laokoongruppe ihre immense Wertschätzung nicht nur der Tatsache, dass sie schon in der Antike hochgeschätzt wurde, sondern auch dem Umstand, dass Michelangelo seine Sixtinische Decke in Auseinandersetzung mit der antiken Gruppe schuf.33 In praktischer Hinsicht ging mit dem Anspruch auf kulturelle Vorherrschaft die druckgraphische Verbreitung der genannten Kunstwerke einher. Schnell wurde der Ruhm solcher capolavori im Norden verbreitet. Nicht weniger schnell wurden sie von den Künstlern aufgegriffen und verarbeitet. Wie bereits erwähnt, nutzt Albrecht Dürer schon 1510, also vier Jahre nach der Wiederauffindung des antiken Bildwerks, das zentrale Motiv der Laokoongruppe für seine Entwurfsskizzen der Fugger-Epitaphien, und Hans Holbein verwendet dieses Vorbild 1522 in kritischer Absicht für seine Darstellung von Luther als Hercules germanicus (Abb. 13).34 Hier findet sich die gleiche Polemik, wie wir sie bei Vellert beobachten konnten: Luther erschlägt die katholische Hydra, und der pygmäenhafte Papst hängt währenddessen an seiner Nase.
3. Inverse Zitate in der Kunst der Reformationszeit Für Dürer ging es schlicht um die Konkurrenz von Norden und Süden; für die nachfolgenden Generationen nordeuropäischer Künstler verschärft sich dieser Konflikt noch einmal durch die Reformation.35 Von nun an geht es um die Emanzipation deutscher Kunst, um ihre Gleichberechtigung gegenüber antiken und italienischen Vorbildern. Im Jahre 1520 publiziert Luther die Schrift An den Christlichen Adel deutscher Nation von des Christlichen standes Besserung. Mit diesem Text vollzieht er den definitiven Bruch mit der Katholischen Kirche, wird der Papst doch hier mit dem Antichristen identifiziert. Nach der Kritik an ablas, bullen, beichtbrieffen, butterbrieffen und ander Confessionalibus findet sich folgender Passus:
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Vgl. Andreae 1988, S. 38–44. Eine ausführliche Interpretation mit bibliographischen Angaben bei Müller 2005. Zur Wahrnehmbarkeit des stilistischen Unterschiedes zwischen ›welsch‹ und ›deutsch‹ vgl. Baxandall 2004, S. 144–151.
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Ich schweyg auch noch zur zeit, wo solchs ablas gelt hyn kummen ist: ein ander mal wil ich darnach fragen, den Campoflore und Bel videre und etlich mehr ortte wissen wol etwas drumb. 36
Die Nennung des Cortile del Belvedere stellt einen metonymischen Hinweis auf die dort aufgestellten Skulpturen dar. Die Botschaft ist klar: Das Geld der deutschen Christen finanziert die kostspielige Kunst- und Baupolitik des Papstes. Zieht man in diesem Zusammenhang einen der ersten Reproduktionstiche von Marco Dente da Ravenna (Abb. 14) hinzu, so fällt auf, dass der Quirinal als Ort der Auffindung verschwiegen und nur der Aufbewahrungsort angeben wird, so als wäre die Gruppe dort auch gefunden worden: Laochoon | Romae in palatio pont. in | loco qui vulgo dicitur | Belvidere. Der ruinöse Hintergrund tut ein Übriges, um die Anciennität des Stückes zu inszenieren, erzählt aber auch davon, wie sich in Rom Vergangenheit und Gegenwart überlagern. Von Anfang an wird der Laokoon politisch instrumentalisiert, um die kulturelle Überlegenheit des Papsttums zu zeigen.37 Dies bleibt im Norden nicht unbemerkt und reizt zum Widerspruch. Aus reformierter Sicht ist der Laokoon ein katholisches Vorzeigekunstwerk, das den Spott geradezu herausfordert. Dass der Dürerschüler Hans Sebald Beham zu solchen Techniken ironisch-spöttischer Darstellung fähig ist, belegt ein Holzschnitt aus dem Jahre 1522, der ein vom Tod überraschtes Liebespaar zeigt (Abb. 15).38 Mit dynamischer Bewegung schreitet der als verwesende Leiche dargestellte Tod auf die im Bett liegende Frau zu, um ihr die Sanduhr entgegenzuhalten. Erschrocken stöhnt die mit einer Goldkette geschmückte Frau auf und reißt ihren rechten Arm empor. Ihr Geliebter ist bereits tot zu Boden gesunken. In seiner linken Hand hält er noch den Katzbalger, doch gegen diesen Gegner war der Kampf aussichtslos. Der Innenraum, in dem sich die Szene ereignet, ist mit einer prächtigen Kassettendecke ausgestattet. Auch die mit reichem Schnitzwerk versehene Bettstatt und die feine Brokatdecke, die vom Tod zurückgezogen wird und nun die junge Frau entblößt, unterstreichen die gehobene Stellung des Paares. Die Moral des Bildes ist deutlich. Der Tod macht vor niemandem Halt. Er findet seinen Weg auch zu den vornehmen Menschen in reiche Stuben und Schlafzimmer. Doch ermöglicht das Blatt insofern eine präzisere Deutung, als der Tod selbst einem gehobenen Milieu zu entstammen scheint, trägt er doch einen vornehmen Hut und eine schwere Kette. Statt um den Tod könnte es sich bei dem verwesenden Leichnam also vielleicht um den verstorbenen Ehemann der jungen
36 37 38
Luther 1888, S. 427.5–12. Vgl. hierzu Müller 2005. Die letzte größere deutschsprachige Publikation zu Barthel Beham stammt von Löcher 1999. Die rezenteste Untersuchung zur Bauerndarstellung bei den Beham-Brüdern verdanken wir Alison G. Stewart (Stewart 2008).
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Frau handeln, die ihren Witwenstand entehrt hat oder ihren Gatten gar hat umbringen lassen. Beham hat hier gleich mehrfach auf die Figuren der antiken Laokoongruppe zurückgegriffen. Dem Tod selbst fällt dabei die prominente ›Rolle‹ des Priesters zu – doch statt der Schlange hält dieser nun eine Sanduhr empor. Das Haltungsmotiv der Frau mit erhobenem Arm erinnert an den sterbenden Sohn der hellenistischen Skulpturengruppe, während das bärtige Gesicht des toten Mannes wiederum entfernt an jenes des trojanischen Priesters erinnert. Das antike Kunstwerk wird in einzelne Motive auseinander geschnitten, bleibt aber trotz der neuen Anordnung anhand einzelner charakteristischer Segmente erkennbar. Wichtig ist, dass Beham die Gruppe nicht im Sinne eines positiven Exemplum nutzt, denn bei seinem Bild handelt es sich keineswegs um ein heroisches Martyrium wie das des trojanischen Priesters.39 Vielmehr ist die erzählte Geschichte negativ zu bewerten: Es handelt sich um Ehebruch; Frau und Liebhaber werden ihrer ›gerechten‹ Strafe zugeführt, ihre Buhlschaft ist entdeckt. Gesteht man jedoch den vorgestellten Arbeiten Vellerts, Holbeins und Behams zu, gezielt Motive der Laokoongruppe mit ironischer Absicht verwendet zu haben, ergeben sich folgende Aussagen: Indem die Künstler ihren Werken Laokoon-Zitate einfügen, stellen sie sich in den Dienst der Reformation. Dabei machen sie sich über den kulturellen Führungsanspruch des Papstes lustig und parodieren implizit eines seiner berühmtesten Kunstwerke. Außerdem mokieren sie sich über eine Ästhetik der Hochkunst und liefern stattdessen eine solche des niederen Genres und der Volkssprache, in der mit Wonne Hohes in Niederes verkehrt wird.40 Beham schließlich ermahnt das deutsche Volk implizit, sich nicht den dargestellten ›katholischen‹ Lastern hinzugeben. Die Laokoongruppe bietet sich aufgrund ihrer Bekanntheit besonders gut zum ironisch-inversen Zitieren an, doch ist sie nicht das einzige berühmte Kunstwerk, das eine solche Auseinandersetzung erfuhr. Geeignet ist jedes Kunstwerk, das Teil eines etablierten Kanons ist. Mag auch im Laufe des 15. Jahrhunderts die Vorbildfunktion der antiken Kunst eine immer größere Bedeutung gewonnen haben, so entsteht erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts mit der Kunstpolitik von Papst Julius II. ein Kanon, der auch für seine Gegner verbindlich wird. Dies hängt vor allem mit der Verbreitung der berühmten Kunstwerke seiner Sammlungen im Medium des Kupferstichs zusammen. Erst die Berühmtheit solcher Werke lässt die imitatio im Sinne anspielungsreichen Zitierens funktionieren. Ebenso nötig ist aber, dass der zu zitierende Kanon überschaubar bleibt. Nur wenn die Zahl der Vorbilder 39 40
Vgl. Ettlinger 1961. Zu einer Erklärung der Genremalerei im Sinne der Genuslehre und der Vergleichbarkeit von niederem Genre und Komödie vgl. Raupp 1983, S. 402–405.
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endlich ist, können Anspielungen funktionieren. Der Kanon garantiert also die Wiedererkennbarkeit, ohne welche die imitatio undenkbar wäre. So sind es immer dieselben Werke der Antike, Michelangelos und Raffaels, die zitiert werden. Als ein solches kanonisches Kunstwerk dürfen wir sicherlich auch Michelangelos Cascinaschlacht (Abb. 16) aus dem Jahr 1506 erachten, von der sich ein nicht überlieferter Karton in Florenz befunden hat. Dieser Karton war, wenn man Benvenuto Cellinis Autobiographie glauben darf, unter Künstlern ein wichtiges Studienobjekt.41 Cellini berichtet von der Vorbildlichkeit der Cascina-Motive, die immer wieder von den jungen Künstlern kopiert wurden. Das Bild erzählt eine Episode aus dem Krieg zwischen Pisa und Florenz:42 Es zeigt Florentiner Soldaten, die sich durch ein Bad erfrischt haben und nun durch das plötzliche Auftauchen der Feinde alarmiert werden. Dabei fällt auf, wie unterschiedlich die dargestellten Personen agieren, ja, wie wichtig es dem Künstler war, ein Maximum an variatio vorzuführen. Alte und Junge, aufgeregte und entspannte Personen, Angekleidete und Nackte zeigt sein Bild gleichermaßen. Die Episode erscheint gleichsam als Vorwand, Affektstudien in größtmöglicher Bandbreite präsentieren zu können. Man achte auch darauf, wie die Aktionen in alle Richtungen zugleich führen. Die Blicke des Betrachters werden immer weiter geführt und man glaubt, die Anspannung der Kämpfer förmlich mitzuerleben, wozu die Verdichtung vieler Personen auf engstem Raum beiträgt. Besonders eindringlich ist in diesem Zusammenhang der alte Kämpfer im Zentrum, der sich schreiend auf den Betrachter zu bewegt.43 Schon im frühen 16. Jahrhundert sind mehrere Figuren dieser Komposition als derart gelungen erachtet worden, dass sie Künstler zur Nachahmung animiert haben. Dies gilt auch für den jungen Mann unmittelbar links von der vertikalen Bildachse, der im Begriff ist, seine Hose an der Seite zu schließen. Dafür hat er einen Fuß auf einen Stein gestellt und nestelt nun an seiner Hose. Man kann ihn als Sinnbild der Grazie erachten. So ist die Schönheit seiner Pose nicht von der Selbstvergessenheit zu trennen, mit der er seine Handlung vollführt: Er ist vollkommen konzentriert, obwohl um ihn herum alles in Aufruhr begriffen ist. Michelangelo sind in der Cascinaschlacht eine ganze Reihe berühmter Erfindungen gelungen, aber die Figur des jungen Kriegers ist die am häufigsten zitierte Figur. Schon 1517 stellt Marcanton die Figur seitenverkehrt im Kupferstich (Abb. 17) dar. Dabei isoliert er sie aus der Gesamtkomposition und stellt sie neben eine Säule. Diesen Stich könnte man als Hommage an Michelangelos berühmtes Kunstwerk deuten, aber er hat sicherlich auch die Funk 41 42 43
Cellini 2001, S. 34. Vgl. Regoli 1994. Raffael übernimmt dieses Spiel mit der ästhetischen Grenze durch eine auf den Betrachter zulaufende Figur in seiner Darstellung des Bethlehemitischen Kindermords.
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tion, eines seiner berühmten Motive zu verbreiten und es für die Nachahmung bereitzustellen.
4. Ironie als Subversion Um den Unterschied zwischen nordeuropäisch-ironischer Motivrezeption und italienisch-klassischer an einem prägnanten Beispiel zu verdeutlichen, wollen wir einen Vergleich zweier Bilder anstellen, die sich gleichermaßen auf das Vorbild der Cascinaschlacht beziehen. Bei dem ersten handelt es sich um eine Mars-und-Venus-Darstellung, bei der Raimondi für seine Gestaltung der Göttin der Liebe auf das Motiv des selbstvergessenen Kriegers zurückgegriffen hat (Abb. 18). Jene nestelt aber nicht wie dieser an einem Kleidungsstück, sondern schiebt den aufdringlichen Amor zur Seite, der sie seinerseits in Richtung des Kriegsgottes drängen will. Venus ist im Begriff, dessen Hand zu lösen, die sich auf ihrem Oberschenkel befindet. Mars hingegen wartet und weist auf einen hochragenden Ast an einem ansonsten kahlen Baum, was meines Erachtens als Zeichen des gewünschten Geschlechtsaktes gedeutet werden kann. Dies ist jedoch nicht weiter von Belang, sondern vielmehr die Frage, wie mit dem Vorbild umgegangen wird. Denn offensichtlich hat es der Reproduktionsstecher einem neuen Kontext zugeführt, der es schwer lesbar macht. Auch Marcanton betreibt eine dissimulatio artis. Er leistet dies, indem er die Figur um 180 Grad dreht und den angezogenen Krieger in eine nackte Göttin verwandelt. Statt einer Rückenfigur sehen wir diese nun von vorn. Solche Veränderungen sind Teil einer Verbergungstechnik, die das Vorbild unkenntlich machen soll, aber zugleich den ästhetischen Effekt der Grazie übernehmen möchte. Denkbar ist, dass Marcanton für die Körperdrehung auf ein weibliches Modell zurückgegriffen hat, um die Pose zunächst nachzustellen und sie sodann drehen oder aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu können. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er schlicht eine Gliederpuppe genutzt hat, um diese Operation durchzuführen. Doch trotz aller dissimulierenden Technik stellt der Umgang Marcantons mit Michelangelos Vorbild keine Inversion dar. Für den italienischen Künstler ist wichtig, dass der junge Kriegsheld und die schöne Göttin den gleichen Rang aufweisen. Sie stellen noble Figuren der Historienmalerei dar. Entsprechend ist Marcantons Umsetzung auf keinen Fall als ironisch zu erachten. Er nutzt im Gegenteil das prominente Motiv als einen Topos, der dazu beiträgt, eine neue Variante des formalästhetischen Problems künstlerischer Grazie zu generieren. Wenn man hier von einem Zitat sprechen kann, dann in dem Sinne, dass die schönheitliche Formel zu dessen eigentlichem Inhalt wird. Dadurch erst kommt die eigentliche Leistung der klassischen imitatio-Lehre zum Tragen: Sie ist zugleich konservativ und
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›innovativ‹. Die Übertragbarkeit im Sinne der imitatio-Lehre jedoch erfordert Gleichartigkeit: Man könnte das Motiv in jede andere noble Figur verwandeln, aber nicht in eine plumpe Bäuerin oder eine ähnlich niedere Bildperson. Aber wer entscheidet über Gleichartigkeit? Wem obliegt es, einem Thema Schönheitlichkeit zuzuweisen? Diese Entscheidung liegt beim Künstler. Er muss abwägen, ob der Einsatz eines bestimmten Vorbildes sinnvoll ist. Wer auf Michelangelo oder Raffael zurückgreift, wird unter Umständen Kunstwerke zitieren, die sich im Besitz des Papstes befinden und damit einen gewissen kulturellen Führungsanspruch unterstützen. Das System der imitatio artis übt Konformitätsdruck aus. Ob man will oder nicht, Motivübernahmen verfestigen einen Kanon. Sie bestätigen eine ästhetische Vorauswahl, die immer schon getroffen ist. Wie eine subversive Antwort auf einen solchen impliziten kulturellen Hegemonialanspruch der imitatio-Lehre ausfallen kann, soll unsere nächste Interpretation zeigen. Denn obwohl es sich um dasselbe Vorbild handelt, das zitiert wird, verhält sich nun alles ein wenig anders, als es die imitatio artis vorsieht. Die kleine Tafel Jan van Amstels, die in die Zeit um 1535 datiert wird, zeigt eine auf den ersten Blick schwer zu identifizierende Genreszene (Abb. 19). Dargestellt ist ein Liebespaar, das sich während einer Wallfahrt absentiert hat. Die Kopfbedeckungen des Paares, denen sie dreieckige Wallfahrerfähnchen aufgesteckt haben, sind achtlos ins Gras geworfen. Der junge Mann ist im Begriff, sich auszuziehen. Er nestelt an seiner Hose, aus der schon das plissierte Hemd heraushängt. Begehrlich blickt er auf die junge Frau zu seinen Füßen, die ihre Arme weit geöffnet hat. Auf ihrer schwarzen Schürze liegen Rosenkranz und Kruzifix. Die junge Frau nutzt ihre Schaube wie eine Decke, auf der sie Platz genommen hat. Zudem hat sie ihr schwarzes Mieder geöffnet. Jochen Becker hat auf den topischen Charakter des Themas der Darstellung verwiesen und Quellen benannt, die die Gefahr sexueller Verführung während einer Wallfahrt zum Thema machen. Diese Schriften reichen von Augustinus bis ins 17. Jahrhundert, bleiben aber unspezifisch für die Zeit der Entstehung des Bildes.44 Der Künstler hat für seine Komposition einen klaren Aufbau gewählt. An den verborgenen Ort im Vordergrund unterhalb des Baumes schließt sich im Mittelgrund ein Kornfeld an. Im Hintergrund erkennt man ein Städtchen oder Dorf, dessen Häuser sich entlang einer Straße erstrecken. Hier bewegt sich der Zug der Pilger. Rechts von der vertikalen Bildachse sieht man einen Kirchturm, der alles überragt. Auffällig ist in diesem Zusammen 44
Vgl. Becker 1994. Ähnliches gilt für die Bildbeispiele, die Markus Müller zur MinneIkonographie und zur Deutung des Paares als Lasterbeispiel anführt (Müller 1997): Sie zeigen alle Liebespaare in freier Natur, aber kein einziges verweist auf den Kontext einer Wallfahrt.
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hang, dass sich die rechte Hand der Frau auf derselben Achse befindet wie der Kirchturm. Van Amstel hat sich offensichtlich an Marcantons Variation des Michelangelo-Motivs orientiert; er nimmt aber nicht mehr nur formelhaft die gelungene Grazie auf, sondern bezieht sich kommentierend auf die Liebesszene insgesamt. Allerdings wird bei ihm aus der Göttin der Liebe ein geiler Pilger. Und während sich Michelangelos junger ›Krieger‹ anzieht, ist Van Amstels frommer Galan im Begriff, sich zu entkleiden. Aus ehrenvollen Heldentaten werden verbotene Liebesabenteuer. Dies stellt meines Erachtens eine ironische Geste dar. Die ›hohe‹ Form wird erniedrigt und zugleich ihre Äußerlichkeit erwiesen. So ist es kein Zufall, dass van Amstel den von Raimondi inszenierten Kontext einer sexuellen Handlung übernimmt, ihn aber zugleich bloßstellt. Italienische Kunst und katholische Religion werden hier gleichermaßen durch den niederländischen Künstler kritisiert, indem sie als unmoralisch kenntlich gemacht werden. Aber die ironische Verkehrung wird erheblich weiter getrieben, denn Jan van Amstel spielt mit der Zeichenhaftigkeit religiöser Symbole. Dabei macht er sich über die Möglichkeit religiöser Metaphorik lustig und rückübersetzt alles in pure Wörtlichkeit. Die allegorische Bedeutsamkeit der sexuellen Vereinigung, wie sie etwa hinsichtlich der Verbindung von Braut (Kirche) und Bräutigam (Christus) besteht, wird dabei durchgestrichen und lächerlich gemacht. Einen ironischen Hintersinn könnte man auch im Weizenfeld als Anspielung auf die Eucharistie finden, und bei der jungen Frau könnte man an Magdalenendarstellungen unter dem Kreuz denken. Aber statt einer Prostituierten, die zur Heiligen wird, sieht man hier eine unkeusche Frau, die zuvor eine fromme Ehegattin war. Auch die Mohn- und Kornblumen, die effektvoll gegen die hellen Kornähren inszeniert werden, haben im Kontext christlicher Ikonographie Sinnoptionen, die sich wiederum in Nichts auflösen: Der Mohn etwa enthält im Innern der Blüte ein Kreuzeszeichen, das – wie auch seine rote Farbe – auf die Passion verweisen könnte. Während also all diese Motive im Rahmen katholischer Bildfrömmigkeit einen allegorischen Sinn haben können, werden sie hier bewusst auf ihre bloße Faktizität reduziert. Mir ist kein Bild bekannt, das Vergleichbares unternimmt. Erst wenn man die Pointe erkennt, durch die sich alles bedeutsam Heilige in Nichts auflöst, hat die Tafel einen ›tieferen‹ Sinn, der paradoxerweise in reiner Oberflächlichkeit besteht. Jan van Amstel hat also ein Bild der Scheinheiligkeit gemalt, und scheinheilig ist auch seine Verwendung des Michelangelo-Motivs: Es wird nicht wie bei Marcanton im Sinne eines etablierten Topos verwendet, sondern zur ironischen Belustigung der Kenner, deren Spaß im Nachvollzug der Verkehrung des Hohen ins Niedere besteht. Dabei sei nicht vergessen, dass sich die Beobachtungen zur Bildironie und zur Kritik konventioneller imitatio-Lehre mit der scharfen Kritik ver-
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einbaren lassen, welche die Idee der Antikennachahmung in der Reformationszeit bekanntlich gefunden hat. Erasmus etwa fordert in seinem Ciceronianus aus dem Jahre 1528 von Künstlern und Dichtern emphatisch Zeitgenossenschaft: Wie kann man die antike Kultur als Modell ausgeben, so fragt der Rotterdamer in seinem berühmten Dialog, wenn die erste und ursächliche Überwindung der Antike vom Christentum geleistet wurde? Ihm erscheint es widersinnig, einen antik-paganen Formenkanon auf christliche Inhalte zu applizieren. Einen der Gesprächsteilnehmer lässt er imaginieren, Apelles sei in die Gegenwart versetzt und »würde nun die Deutschen so malen, wie er seinerzeit die Griechen malte«. Die Angemessenheit einer solchen Darstellung wird selbst vom Cicero-Nachahmer bezweifelt, da sie nicht den »jetzigen Verhältnissen« entspreche.45 Schon für die Bilder zeitgenössischer Könige wären Apelles’ Alexander-Darstellungen unangemessen – um wie viel mehr erst für christliche Themen. So macht Erasmus darauf aufmerksam, dass es unmöglich sei, Christus als Apoll oder die heilige Thekla nach dem Vorbild der Lais von Korinth gestalten zu wollen. Ausdrücklich distanziert er sich vom decorum als rhetorischer Voraussetzung angemessener Darstellung und fordert Wahrheit statt Angemessenheit. Erasmus kritisiert denjenigen Redner, der seinen Gegenstand idealisiert, und fordert stattdessen eine realistische Darstellungsweise im Namen christlicher Überzeugung.46
5. Bruegels Laokoon Als Pieter Bruegel seine Tafel Das Schlaraffenland (Abb. 20) im Jahre 1567 malt, ist Julius II. schon mehr als fünfzig Jahre tot; doch hinterlassen seine Kunstpolitik und die damit zusammenhängenden Normen immer noch Spuren. Die vom Papst gesammelten Kunstwerke büßen im Laufe des 16. Jahrhunderts keineswegs ihre Vorbildfunktion ein. Im Gegenteil wird diese mit der Kunsttheorie der Gegenreformation immer wichtiger. Vor allem der Laokoongruppe wächst eine einzigartige Bedeutung zu. Gianpaolo Lomazzo ebenso wie Giovanni Andrea Gilio, um nur zwei einflussreiche Traktatautoren zu nennen, führen das antike Bildwerk immer wieder als Vorbild an und empfehlen es im Ganzen wie im Detail zur Nachahmung.47 In den meisten der bisher interpretierten Werke wird mittels prominenter Motive der Laokoongruppe eine ironische Gegenrede entwickelt. Dies geschieht mehr oder weniger kunstvoll: ambitioniert, wenn wir an die Stiche Dürers denken, eher ›holzschnittartig‹ bei Beham. Bruegel nun hebt die 45 46 47
Erasmus 1990 (Ciceronianus), S. 131. Ebd., S. 133. Maffei 1999, S. 191–199.
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Ironie auf ein neues Niveau: Er verkehrt nicht nur ein Motiv in sein Gegenteil, sondern er ironisiert sogar das damit einhergehende Stilidiom. Der Aufbau der Schlaraffenland-Komposition folgt einem strengen Prinzip: Die Fläche wird sternförmig aufgeteilt, sodass sich horizontale und vertikale Bildachsen erkennen lassen, wie auch die je gegenüberliegenden Bildecken durch Linien verspannt sind. In diesem Koordinatensystem zeigt das Bild eine kuriose Welt irdischer Genüsse. Die Menschen ergeben sich kulinarischen Freuden, die sie gleichsam als Geschenk ohne jede Arbeit genießen dürfen. Unter einem Baum im Bildzentrum liegen drei Männer auf der Erde, deren Köpfe fast den Stamm berühren. Entsprechend sind die liegenden Personen wie die Speichen eines Rades angeordnet. Die Figuren repräsentieren einen Querschnitt durch die ständische Gesellschaft: Links erkennt man einen Bauern mit Dreschflegel, rechts davon einen Bürger im pelzgefütterten Mantel, der Schreibzeug, Buch und ein beschriebenes Dokument bei sich hat. Hinter dem Bauern hat der Künstler einen Soldaten im Kettenhemd dargestellt, der seinen Kopf auf ein Polster gebettet hat und zu dessen Füßen eine Lanze und Eisenhandschuhe liegen. Der Künstler nutzt typische Motive, die den besonderen Charakter dieses Ortes deutlich machen. So trägt der Baum im Zentrum Trinkbecher statt Früchte an den Zweigen. Der Zaun im Hintergrund links ist aus Würsten geflochten. Rechts läuft ein gebratenes Schwein, in dessen Körper ein Messer steckt. Davor erkennt man ein kaktusartig gestaltetes Gewächs, das aus Brotfladen besteht. Witzig ist das laufende Ei im Vordergrund, in dem passenderweise ein Löffel steckt. Auf einem provisorischen Tisch, der rund um den Baumstamm angebracht ist, entdeckt man weitere Speisen: gebratene Hühner, Pasteten, Pfötchen, Becher und Krüge, Salz und ein Ei. Im Hintergrund erstreckt sich ein großer See, der der literarischen Überlieferung gemäß aus Milch besteht und den man überqueren muss, um ins Schlaraffenland zu gelangen. Auf dem kuriosen Gewässer befinden sich mehrere Kähne. Am Horizont ist eine Hafenstadt erkennbar, aus der die im Bild sichtbaren Menschen gekommen sein müssen. Am linken oberen Bildrand ist ein weiterer Soldat mit Helm und Eisenhandschuhen zu erkennen. Er liegt in einer Art Unterstand, hat die Arme bequem auf ein Kissen gelagert und blickt mit geöffnetem Mund auf das heruntergezogene Dach des Hauses, als warte er darauf, dass die Eierkuchen, die dort oben liegen, ins Rutschen kommen und ihm direkt in den Mund fallen. Auf der gegenüberliegenden Seite sieht man einen Mann, der sich durch einen Berg von Buchweizenbrei gegessen hat, um ins Land der Schlaraffen zu gelangen. Beherzt hat er den Ast eines kahlen Baumes ergriffen, an dem er sich aus dem Brei hinauszieht. Alle drei Männer im Zentrum liegen apathisch da, von einer gewaltigen Mahlzeit niedergestreckt. Der Soldat im roten Wams scheint zu schlafen; der Bauer hat seinen massigen Körper auf die Seite gerollt und dabei die
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Füße übereinander geschlagen. Lediglich der Bürger nimmt eine minimale Handlung vor: Er hat den Mund geöffnet, um einen Tropfen aufzufangen, der aus dem umgestürzten Krug über ihm herunterfällt. Starr blickt er nach oben und hat die Arme unter den Kopf gelegt, was nicht ohne eine gewisse Situationskomik ist. Die Faulheit der Figuren wird durch ihre unförmige, dicke Gestalt besonders hervorgehoben. Wir verdanken Ross H. Frank eine grundlegende Interpretation von Bruegels Tafel.48 Er kann zeigen, dass der Künstler mit seinem Bild einen höchst anspielungsreichen Kommentar zur politischen Situation in den Niederlanden um 1567 gibt und auf verborgene Weise seine Sympathie für den Freiheitskampf gegen die Habsburger zum Ausdruck bringt. Dafür bezieht sich Frank auf volkssprachliche Redensarten, die dem Publikum jener Zeit bekannt waren. Ausgangspunkt dieser ambitionierten Interpretation ist die Beobachtung, dass mit Blick auf die Ständepyramide die gesellschaftliche Gruppe des Adels fehlt. Dies erklärt Frank, indem er die Gans als ein Rebus des Wortes Geuze liest, als einen Hinweis also auf diejenige Gruppe des Hochadels, die im Rahmen der Niederländischen Befreiungskriege gegen die Habsburger opponierte und sich mit dem Schimpfwort Geuze identifizierte.49 In dissimulatorischer Absicht hat der Künstler die Schlemmereien des Schlaraffenlandes so gleichmäßig über das Bild verteilt, dass man der gebratenen Gans keine besondere Aufmerksamkeit schenken müsste, würde sie nicht zu den Figuren gehören, die zentral um den Baumstamm angeordnet sind. Gut sichtbar, liegt sie auf einem mit weißer Serviette versehenen Zinnteller. Betrachtet man sie als eine weitere Leckerei, besteht keine Notwendigkeit zur Interpretation. Versteht man sie allerdings als ein viertes Element, das die ständische Ordnung der um den Baum liegenden Männer komplettiert, dann wirft dies die Frage nach ihrer Bedeutung auf. Durch die kreisförmige Anordnung der Personen spielt Bruegel auf das Rad der Fortuna an. Damit wird die Vorstellung von der Torheit dieser Welt evoziert, die nicht durch Vernunft bestimmt wird, sondern sinnlos vom Schicksal getrieben in sich kreist. Diese Anlage der Komposition findet in der runden Tischplatte eine Entsprechung und Weiterführung. Der Fall eines Bechers neben dem Soldaten lässt auf eine Kreisbewegung des um den Baum befestigten Tisches schließen. Es ist eine böse Zeitlosigkeit, die diesen Ort auszeichnet. Der Genuss des Essens ist längst in sein Gegenteil verkehrt. Er stellt keine Belohnung für harte Arbeit dar, sondern ist zur Ursache der Apathie geworden. Und dennoch bleiben die Menschen in endlosem Hunger gefangen. Dies wird auch durch das Zitat der Laokoongruppe unterstrichen, auf welche die um den 48 49
Frank 1991. Vgl. ebd., S. 312–315.
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Baum angeordneten Figuren verweisen. Ihre tragischen Protagonisten sind hier in drei Schlaraffen verwandelt worden, die mit den Folgen übertriebener Völlerei zu kämpfen haben: Im Vordergrund liegt mit empor gestreckten Armen das Pendant zum Vater der antiken Gruppe, dessen Mund nicht zum Schrei, sondern zur bequemeren Nahrungsaufnahme geöffnet ist. Dem sterbenden jüngeren Sohn der Gruppe entspricht der hingestreckte Bauer, dessen Füße haltlos übereinander liegen. Den Sohn auf der rechten Seite schließlich, der über seine Schulter hinweg auf den Vater blickt und ein Bein angezogen hat, um sich der Fesselung durch die Schlange zu entziehen, erkennen wir in dem Soldaten, der uns den Kopf zuwendet und die Beine angewinkelt hat. Bruegel ist eine kunstvolle Anordnung der Figuren auch insofern gelungen, als sich diese nicht nur um den Baumstamm, sondern zugleich um ihre eigene Achse zu drehen scheinen. Er stellt eine Art grausames Karussell dar, auf dem die Figuren gemästet werden, wie man am dicken Hinterteil und dem ganz aus der Form gegangenen Körper des Bauern sehen kann. Damit wird das im Vater der Laokoongruppe verkörperte Figurenideal physischer Überpräsenz als Dicklichkeit karikiert. Aus dem kämpfend sterbenden Priester und seinen Söhnen werden im Schlaraffenland aufgeblähte Witzfiguren. Es ist so, als würde die pathetische Figur des Laokoon vom Künstler nur ein wenig mehr aufgeblasen, so dass ihr Pathos ins Lächerliche verpufft. Dieses ironische Spiel findet in einem nur ein Jahr später entstandenen Bild Der Bauer und der Vogeldieb mit einem formal ganz ähnlichen Figurentypus sogar noch eine Fortsetzung (Abb. 21). Ein analoges motivisches Zitat in diesem Bild kann den Bezug des Schlaraffenlandes auf Michelangelo stützen: Es betrifft einen Putto der Sixtinischen Kapelle, der mutig voranschreitet, obwohl er innerhalb des architektonischen Rahmens in die Tiefe stürzen müsste.50 Bruegel nimmt dies darin wieder auf, dass er seinen Bauern in vornüber gebeugter Haltung darstellt, was darauf schließen lässt, dass dieser schon im nächsten Moment in einen mit Entengrütze bedeckten Teich stürzen und so seiner vermeintlichen Überlegenheit beraubt wird. Wenn man auch dies als einen Hinweis auf die Kunst Michelangelos verstehen darf, der sich bei der Gestaltung der Sixtinischen Kapelle am hellenistischen Vorbild orientierte, dann wird damit Bruegels Verballhornung der von Michelangelo geschaffenen maniera grande unterstrichen. Wie wir gesehen haben, beginnt mit Dürers Bauerntanz ein subversiver Kunstdiskurs im Norden. Von nun an können Künstler immer dann, wenn sie sich von normativen Ansprüchen und Kunstkritikern umstellt sehen, auf die Möglichkeit ironischen Sprechens zurückgreifen. Im Laufe des 16. Jahr 50
Der Hinweis auf das Vorbild bei Michelangelo findet sich schon bei Stridbeck 1956, S. 285f. und Abb. 100.
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hunderts beginnt die Bildende Kunst, sich nach vorn hin zu öffnen: Modern ist nicht mehr nur der Gegensatz zu antik, sondern die Feststellung, dass jede Antike einmal Moderne war und jede Moderne einmal antik sein wird. Weder der Laokoon noch die Werke Raffaels oder Michelangelos können als zeitlose Vorbilder fungieren. Mit dieser Entwicklung gehen neue Formen von Vieldeutigkeit einher. Zum ersten Mal spielt das Problem impliziter Negativität für die Bildästhetik eine Rolle, enthalten die äußeren Formen in negativer Spiegelung eine innere Form. Die bildende Kunst wird im frühen 16. Jahrhundert in einem emphatischen Sinne vieldeutig. Alle hier betrachteten Beispiele bildlicher Ironie funktionieren ähnlich: Der Betrachter sieht eine amüsante figürliche Darstellung, sodann erkennt er unerwarteterweise die zitierten antiken Vorbilder, um durch den impliziten Kontrast zum Lachen gereizt zu werden. Die Umkehrung des zunächst für wahr Gehaltenen führt zur Komik. Darüber hinaus ermöglicht das inverse Zitat eine Kunstübung, wie wir sie bei Vellert gesehen haben, der den Laokoon zum Anlass nimmt, immer neue Figuren und Bilderzählungen zu erfinden. Im Sinne paradoxer Lobrede ist dies eine unter Humanisten gängige Form zu scherzen, um seinen Geist zu demonstrieren, der alles in sein Gegenteil verwandeln kann. Bei Beham wird die Inversion zur Erniedrigungsgeste, was nicht ohne eine gewisse Drastik geschieht. Schließlich kann das Inversionszitat dazu genutzt werden, den Papst anhand eines seiner berühmtesten Kunstwerke zu diffamieren, wie wir es bei Holbein kennen gelernt haben. Bruegel hebt die Figur ironischer Motivübernahme auf ein neues Niveau, indem er auch Stilcharakteristika zum Thema macht, wenn er die gewaltigen Körper der Laokoongruppe für den Kenner der Lächerlichkeit preisgibt. Alle diese Formen inversen Zitierens verbinden Komik und Ernst. Sie sind durch das Umschlagen vom einen zum anderen gekennzeichnet. Dabei besteht die Pointe meines Erachtens darin, dass die ironische Auseinandersetzung mit antiken Vorbildern nicht nur einen Scherz produziert, sondern die neu entstehende Genremalerei antiklassisch fundiert.51 Abschließend sei die Modernität des 16. Jahrhunderts hervorgehoben, die sich in der Möglichkeit einer nicht-äquivalenten Ästhetik bekundet. Ästhetische Erfahrung antik-paganer Provenienz findet im Sinne einer Übereinstimmung von Innen und Außen statt. Äußere Schönheit und innere Tugend verweisen aufeinander. Dies ändert sich im Rahmen christlich-reformatorischer Poetik. Wenn Innen und Außen auseinander treten, wenn ihr Verhältnis als Konflikt wahrgenommen wird, bestimmt die Nicht-Äquivalenz das ästhetische Erleben. Bei einer solchen Ästhetik wird das Sichtbare in gewisser Hinsicht denunziert, der eigentliche Erkenntnisschritt führt über das Sichtbare hinaus und muss gedanklich vollzogen werden. Die besonde 51
Dies hat Raupp 1986 meines Erachtens übersehen.
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re Leistung ironischer Kunst ist es, Gestalt und Gehalt auseinander treten zu lassen. Form wird nicht als Gefäß eines feststehenden Inhalts gedacht, sondern mit ihrer Erkenntnis vollzieht sich ein Umkehreffekt, der semantische Potenziale freisetzt.
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Ein anderer Laokoon
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Jürgen Müller
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Abbildungen (beziehen sich auf die Beiträge von Tobias Bulang, Udo Friedrich, Gerd Dicke, Michael Waltenberger, Thomas Schauerte, Julia Zimmermann und Jürgen Müller)
T. Bulang, Zur poetischen Funktionalisierung hermetischen Wissens
Abb. 1: Johann Fischart/Michael Toxites: Onomasticon II. 1574, S. 11
417
418
T. Bulang, Zur poetischen Funktionalisierung hermetischen Wissens
Abb. 2: Johann Fischart/Michael Toxites: Onomasticon II. 1574, S. 12
T. Bulang, Zur poetischen Funktionalisierung hermetischen Wissens
Abb. 3: Johann Fischart/Michael Toxites: Onomasticon II. 1574, S. 13
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420
T. Bulang, Zur poetischen Funktionalisierung hermetischen Wissens
Abb. 4: Matthias Holtzwart: Emblematum Tyrocinia. Beiband. 1581
T. Bulang, Zur poetischen Funktionalisierung hermetischen Wissens
Abb. 5: Johann Fischart: Geschichtklitterung. 1590, Titelblatt
421
T. Bulang, Zur poetischen Funktionalisierung hermetischen Wissens
Abb. 6: Sebastian Münster: Cosmographei. 1550, Karte von Böhmen
422
Abb. 1: Sebastian Münster: Cosmographia. 1628, S. 80
U. Friedrich, Providenz – Kontingenz – Erfahrung
423
424
Abb. 1: Lalebuch. 1597, Titelblatt
G. Dicke, Morus und Moros – Utopia und Lalebuch
M. Waltenberger, Geltendes im Nichtigen
Abb. 1: Dietrich Marold: Roldmarsch Kasten. 1608, Titelblatt
425
426
T. Schauerte, Heraldische Fiktion als genealogisches Argument
Abb. 1: Albrecht Altdorfer: Ehrenpforte für Maximilian I. Um 1517, Detail
Abb. 2: Albrecht Dürer und Werkstatt: Ehrenpforte für Maximilian I. Um 1512/1518, Detail
T. Schauerte, Heraldische Fiktion als genealogisches Argument
427
Abb. 3: Hans Burgkmair: Genealogie Kaiser Maximilians I. Um 1509/1512, Bl. 38v, Detail
428
T. Schauerte, Heraldische Fiktion als genealogisches Argument
Abb. 4: Peter von Pusika: Wappenwand Kaiser Friedrichs III. Um 1453
Abb. 5: Peter von Pusika: Wappenwand Kaiser Friedrichs III. Um 1453, Detail
Abb. 6: Niclaes Gerhaert van Leyden: Grabmal Kaiser Friedrichs III. Um 1470, Deckplatte
T. Schauerte, Heraldische Fiktion als genealogisches Argument
429
T. Schauerte, Heraldische Fiktion als genealogisches Argument
Abb. 7: Salomon Kleiner: Grabmal Kaiser Friedrichs III.
430
T. Schauerte, Heraldische Fiktion als genealogisches Argument
431
Abb. 8: Albrecht Dürer und Werkstatt: Ehrenpforte Kaiser Maximilians I. Um 1512/ 1518, Detail
432
J. Zimmermann, Die Pfauensymbolik in der Fürstlichen Chronik
Abb. 1: Jakob Mennel: Fürstliche Chronick. Buch I. 1518, Bl. 44r
Abb. 2: Konrad von Megenberg: Buch der Natur. Cpg 300. Ca. 1442–1448, Bl. 155v
Abb. 3: Hans Burgkmair: Genealogie Kaiser Maximilians I. Um 1509/1512, Bl. 37
J. Zimmermann, Die Pfauensymbolik in der Fürstlichen Chronik
433
Abb. 4: Jakob Mennel: Fürstliche Chronick. Buch IV. 1518, Bl. 12v f.
434 J. Zimmermann, Die Pfauensymbolik in der Fürstlichen Chronik
J. Zimmermann, Die Pfauensymbolik in der Fürstlichen Chronik
Abb. 5: Hans Burgkmair: Kaiser Maximilian. 1518, Detail
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436
Abb. 1: Albrecht Dürer: Der Dudelsackpfeifer. 1514
J. Müller, Ein anderer Laokoon
J. Müller, Ein anderer Laokoon
Abb. 2: Albrecht Dürer: Das tanzende Bauernpaar. 1514
437
438
Abb. 3: Praxiteles: Flötespielender Faun. 300 v. Chr.
J. Müller, Ein anderer Laokoon
Abb. 4: Pier Jacopo Alari-Bonacolsi: Jugendlicher Herkules. Um 1500
J. Müller, Ein anderer Laokoon
Abb. 5: Sebastian Brant: Narrenschiff. 1494, Bl. J 2v
439
440
J. Müller, Ein anderer Laokoon
Abb. 6: Albrecht Dürer: Samsons Kampf gegen die Philister. 1510
J. Müller, Ein anderer Laokoon
Abb. 7: Albrecht Dürer: Der Marktbauer und sein Weib. 1519
441
442
Abb. 8: Monogrammist bxg: Ungleiches Paar. 1480
J. Müller, Ein anderer Laokoon
Abb. 9: Sarkophag eines römischen Feldherrn. Um 200 n. Chr.
J. Müller, Ein anderer Laokoon
443
444
Abb. 10: Dirck Vellert: Bacchus. 1522
J. Müller, Ein anderer Laokoon
J. Müller, Ein anderer Laokoon
Abb. 11: Dirck Vellert: Grölender Landsknecht. 1525
445
446
J. Müller, Ein anderer Laokoon
Abb. 12: Dirck Vellert: Bileam und die Eselin. Um 1525
J. Müller, Ein anderer Laokoon
Abb. 13: Hans Holbein d. J.: Luther als Hercules Germanicus. 1522
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448
Abb. 14: Marco Dente da Ravenna: Laokoon. Um 1510
J. Müller, Ein anderer Laokoon
J. Müller, Ein anderer Laokoon
Abb. 15: Hans Sebald Beham: Der Tod und das Liebespaar. 1522
449
Abb. 16: Aristotele da Sangallo: Cascinaschlacht. 1542
450 J. Müller, Ein anderer Laokoon
J. Müller, Ein anderer Laokoon
Abb. 17: Marcantonio Raimondi: Junger Krieger. 1517
451
452
J. Müller, Ein anderer Laokoon
Abb. 18: Marcantonio Raimondi: Mars, Venus und Eros. 1517
Abb. 19: Jan van Amstel: Das Paar im Kornfeld. Um 1535
J. Müller, Ein anderer Laokoon
453
Abb. 20: Pieter Bruegel d. Ä.: Das Schlaraffenland. 1567
454 J. Müller, Ein anderer Laokoon
Abb. 21: Pieter Bruegel d. Ä.: Der Nesträuber. 1568
J. Müller, Ein anderer Laokoon
455
Abbildungsverzeichnis Tobias Bulang Abb. 1: Johann Fischart/Michael Toxites: Onomasticon II. Straßburg 1574, Eintrag »Quecksilber«, S. 11 (Dresden, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek: Chem. 122. fl., misc. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 2: Johann Fischart/Michael Toxites: Onomasticon II. Straßburg 1574, Eintrag »Quecksilber«, S. 12 (Dresden, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek: Chem. 122. fl., misc. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 3: Johann Fischart/Michael Toxites: Onomasticon II. Straßburg 1574, Eintrag »Quecksilber«, S. 13 (Dresden, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek: Chem. 122. fl., misc. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 4: Matthias Holtzwart: Emblematum Tyrocinia. Straßburg 1581, Beiband: Eikones cum brevissimis descriptionibus duodecim primorum primariorumque, quos scire licet, veteris Germaniæ Heroum, Darstellung der Germania (Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: T 355.8° Helmst. (2)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 5: Johann Fischart: Geschichtklitterung. Straßburg 1590, Titelblatt . . . . . . . . . Abb. 6: Sebastian Münster: Cosmographei. Basel 1550, Karte von Böhmen (Dresden, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek: Geogr. A. 124) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
417 418 419
420 421 422
Udo Friedrich Abb. 1: Sebastian Münster: Cosmographia, Das ist: Beschreibung der gantzen Welt. Basel 1628, S. 80 (München, Bayerische Staatsbibliothek: Hbks/E 10) . . . 423
Gerd Dicke Abb. 1: Lalebuch. Straßburg 1597, Titelblatt (Abdruck nach: Das Lalebuch. Hrsg. von Stefan Ertz. Stuttgart 1998, S. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424
Michael Waltenberger Abb. 1: Dietrich Marold: Schmahl Vnndt Kahl ROLDMARSCH KASTEN […]. Manuskript. Schmalkalden 1608, Titelblatt (Kassel, Universitätsbibliothek: 2° Ms. poet. et. roman. 21.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
Thomas Schauerte Abb. 1: Albrecht Altdorfer: Rechter Seitenturm der Ehrenpforte für Maximilian I.: Der Kaiser erhebt neun Herrschaften. Holzschnitt. Um 1517 (Bildarchiv Thomas Schauerte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
458
Abbildungsverzeichnis
Abb. 2: Albrecht Dürer und Werkstatt: Stammbaum aus der Ehrenpforte für Maximilian I. Holzschnitt. Um 1512/1518, Detail (Bildarchiv Thomas Schauerte) . . . . Abb. 3: Hans Burgkmair: Odopertus rex in der Genealogie Kaiser Maximilians I. Kolorierter Holzschnitt. Um 1509/1512, Bl. 38v, Detail (Wien, Österreichische Nationalbibliothek: Cod. Vind. Pal. 8048) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 4: Peter von Pusika: Wappenwand Kaiser Friedrichs III. Sandstein. Wiener Neustadt, Ostwand der Burgkapelle St. Georg. Um 1453 (Foto: Stadtmuseum Wiener Neustadt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 5: Peter von Pusika: Erzherzog Friedrich III. in der Wiener Neustädter Wappenwand. Sandstein. Wiener Neustadt, Ostwand der Burgkapelle St. Georg. Um 1453 (Reproduktion nach Theo Rossiwal: Die alte Burg zu Wiener Neustadt. St. Pölten 1976, Abb. 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 6: Niclaes Gerhaert van Leyden: Grabmal Kaiser Friedrichs III. Deckplatte. Rotmarmor. Wien, Dom St. Stephan, Südchor. Um 1470 (Foto: F. Simak) . . . . . . Abb. 7: Salomon Kleiner: Grabmal Kaiser Friedrichs III. Ansicht von Norden. Kupferstich, in: Marquart Herrgott: Monumenta Augustae Domus Austriae. Bd. 4. St. Blasien 1772, Tafel 27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 8: Albrecht Dürer und Werkstatt: Stammbaum der Ehrenpforte Kaiser Maximilians I. Philipp der Schöne. Holzschnitt. Um 1512/1518, Detail (Bildarchiv Thomas Schauerte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
426 427 428
429 429 430 431
Julia Zimmermann Abb. 1: Jakob Mennel: Fürstliche Chronick, genannt Kayser Maximilians Geburtsspiegel. Buch I. Manuskript. 1518, Bl. 44r (Wien, Österreichische Nationalbibliothek: Cod. Vind. Pal. 3072*) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 2: Konrad von Megenberg: Buch der Natur. Manuskript. Hagenau: Werkstatt Diebold Lauber ca. 1442–1448, Bl. 155v (Heidelberg, Universitätsbibliothek: Cod. Pal. Germ. 300) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 3: Hans Burgkmair: Genealogie Kaiser Maximilians I. Um 1509/1512, Bl. 37 (Wien, Österreichische Nationalbibliothek: Cod. Vind. Pal. 8048) . . . . . . . . . . . . . Abb. 4: Jakob Mennel: Fürstliche Chronick, genannt Kayser Maximilians Geburtsspiegel. Buch IV. Manuskript. 1518, Bl. 12vf. (Wien, Österreichische Nationalbibliothek: Cod. Vind. Pal. 3075) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 5: Hans Burgkmair: Kaiser Maximilian mit dem Pfauenstoß als Helmzier des Erzherzogtums Österreich. Holzschnitt. 1518, Detail . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
432 433 433 434 435
Jürgen Müller Abb. 1: Albrecht Dürer: Der Dudelsackpfeifer. Kupferstich. H 117×B 76 mm, monogrammiert, datiert. 1514 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 2: Albrecht Dürer: Das tanzende Bauernpaar. Kupferstich. H 118×B 76 mm, monogrammiert, datiert. 1514 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 3: Praxiteles: Flötespielender Faun. Marmor. H 125 cm. 300 v. Chr. (Paris, Musée du Louvre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 4: Pier Jacopo Alari-Bonacolsi, gen. Antico: Jugendlicher Herkules beim Lesen. Statuette, vollrund; Bronze, teilvergoldet. H 22,9 cm. Um 1500 (Mantua, Privatbesitz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 5: Sebastian Brant: Narrenschiff. Basel: Bergmann von Olpe 1494, Kap. 54, Bl. J 2v, Holzschnitt von Albrecht Dürer, H 116×B 84 mm . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 6: Albrecht Dürer: Samsons Kampf gegen die Philister. Bleistift und grauschwarze Tinte. H 253×B 205 mm (an allen Seiten beschnitten). 1510 (Mailand, Bibliotheca Ambrosiana: F 264 inf. 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abbildungsverzeichnis Abb. 7: Albrecht Dürer: Der Marktbauer und sein Weib. Kupferstich. H 114×B 72 mm, monogrammiert, datiert. 1519 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 8: Monogrammist bxg: Ungleiches Paar. Kupferstich. H 83×B 59 mm, monogrammiert. 1480 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 9: Sarkophag eines römischen Feldherrn (›Rinuccini-Sarkophag‹). Marmor, Länge 212 cm. Empoli: um 200 n. Chr. (Berlin, Antikensammlung der Stiftungen Preußischer Kulturbesitz: Inv.-Nr. 1987,2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 10: Dirck Vellert: Bacchus. Radierung und Kupferstich. H 72×B 51 mm, signiert und datiert. 1522 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 11: Dirck Vellert: Grölender Landsknecht. Radierung. H 92×B 58 mm, monogrammiert und datiert. 1525 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 12: Dirck Vellert: Bileam und die Eselin. Federzeichnung. 19,4×18,7 cm. Undatiert. Um 1525 (Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum) . . . . . . . . . Abb. 13: Hans Holbein d. J.: Luther als Hercules Germanicus. Kolorierter Holzschnitt mit Typendruck. H 345×B 226 mm. 1522 (Zürich, Zentralbibliothek: Ms A2, S. 150 [Faksimile]) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 14: Marco Dente da Ravenna: Laokoon. Kupferstich. H 476×B 328 mm. Um 1510 (Wien, Albertina: Inv. Nr. 11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 15: Hans Sebald Beham: Der Tod und das Liebespaar. Holzschnitt. H 388×B 283 mm, mit Adresse: Niclas Meldeman. 1522 (Pauli 1122/II) . . . . . . . . . . . . . . Abb. 16: Aristotele da Sangallo: Cascinaschlacht nach Michelangelo Buonarroti. Öl auf Holz. 78,7×129 cm. 1542 (Norfolk, Holkham Collection) . . . . . . . . . . . . Abb. 17: Marcantonio Raimondi: Junger Krieger aus der Cascinaschlacht. Kupferstich. H 161×B 121 mm. 1517 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 18: Marcantonio Raimondi: Mars, Venus und Eros. Kupferstich. H 297×B 211 mm. 1517 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 19: Jan van Amstel: Das Paar im Kornfeld. Öl auf Holz. 20,5×28 cm. Um 1535 (Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum: Inv. Nr. 164) . . . . . . . . . . . Abb. 20: Pieter Bruegel d. Ä.: Das Schlaraffenland. Öl auf Holz. H 52×B 78 cm. 1567 (München, Alte Pinakothek) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 21: Pieter Bruegel d. Ä.: Der Nesträuber (Der Bauer und der Vogeldieb). Öl auf Holz. H 59,3×B 68,3 cm. 1568 (Wien, Kunsthistorisches Museum) . . . . . . .
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Index Achternbusch, Herbert 125 Adam von St. Viktor 207 Adelphus, Johannes 271, 289, 293–296, 299 Agricola, Georgius 203 Agrippa von Nettesheim 23 Albertus Magnus 76, 109–110 Alberus, Erasmus 132 Albrecht Achilles von Brandenburg, Markgraf 355 Albrecht, Erzherzog 355 Altdorfer, Albrecht 345, 351 Amerbach, Bonifacius 399 Ammann, Jost 54 Ammonius Hermeae 43 Anastasius I. 348 Andreae, Jakob 81 Annius von Viterbo 53, 56 Antico 392 Antiphanes 366 Apelles 407 Arigo 255–264, 318–320 Aristoteles 38, 43, 132, 202, 365, 367–368 Äsop 324 Attila 346 Augustinus 109, 136, 148, 366, 368, 405 Augustus 384
Bruno, Giordano 331 Budé, Guillaume 36 Buonarroti, Michelangelo 399–400, 403– 406, 410–411 Burgkmair, Hans 348–351, 362, 374
Bacon, Francis 10 Baudouin, François 129 Bebel, Heinrich 271, 275, 282, 289, 296– 299 Beham, Hans Sebald 401–402, 407, 411 Boccaccio, Giovanni 14–15, 255–258, 261, 263–264 Boëthius 128, 132, 213, 215 Boner, Hieronymus 262 Bosch, Hieronymus 36 Bouts d. Ä., Dierick 36 Bovillus, Carolus 132, 151 Brahe, Tycho 336, 341 Brant, Sebastian 132–133, 137, 180, 184, 186, 225, 393 Bruegel, Pieter d. Ä. 17, 36, 333, 407, 409–411
Feyerabend, Sigmund 319 Fincel, Hiob 74 Fischart, Johann 8–10, 41, 44–89, 179, 184, 310, 341 Flötner, Peter 54 Franck, Sebastian 12, 128, 150, 183–185, 331 Franz I. 36, 349 Frauenlob / Heinrich von Meißen 366 Frey, Jakob 14–15, 267–303, 306, 309, 319, 324 Friedrich I. Barbarossa 53, 356 Friedrich III. 16–17, 345, 347, 351–359, 361–362
Caesar, Julius 346, 355, 373–375 Cardanus, Hieronymus 75–76, 132 Catull 36 Cellini, Benvenuto 403 Chlodwig 348, 350 Cicero 202, 213–215, 234, 407 Cordus, Euricius 317 Cuspinian, Johannes 348 Dee, John 60 Du Bellay, Joachim 21 Dürer, Albrecht 17, 37, 351, 389–401, 407, 410 Ebendorfer, Thomas 352 Egenolff, Christian 185–186 Eilhart von Oberg 135 Eleonore, Kaiserin 358 Erasmus von Rotterdam 12, 31, 35–37, 83, 183, 203, 205, 208, 341, 399, 407
Gast, Johann 293 Gellius, Aulus 376
462 Gesner, Conrad 46–47, 86 Gilio, Giovanni Andrea 407 Goltwurm, Kaspar 74 Hartlieb, Johannes 132 Heinrich der Teichner 262 Herodot 132 Herolt, Johannes 311 Holbein, Hans 396, 398, 400, 411 Holtzwart, Mathias 51–52 Homer 85 Horapollo 51 Isidor von Sevilla 213, 367, 381 Jan van Amstel 405–406 Jobin, Bernhard 44, 49, 51, 79 Julianus, Publius Salvius 36 Junius, Hadrianus 46–47, 49 Kant, Immanuel 212, 288, 289 Karl der Große 375 Kirchhof, Hans Wilhelm 263–265 Konrad von Megenberg 365, 367 Konrad von Würzburg 367 Kopernikus, Nikolaus 336–337 Ladislaus Postumus 358 Lazius, Wolfgang 54, 56 Leonardo da Vinci 391 Leopold III., Herzog 359 Leo X. 374 Lichtenberg, Georg Christoph 287, 289 Lindener, Michael 267, 309 Lomazzo, Gianpaolo 406 Lonicerus, Adam 46 Ludwig XII. 36 Ludwig, Pfalzgraf und bayerischer Herzog 355 Lukian 28, 71 Luther, Martin 107, 316, 317, 331, 332, 399–400 Lykosthenes, Konrad 74 Lykurg 211 Machiavelli, Niccolò 130, 133, 213 Mandeville, Jean de 177, 181–182 Maria von Burgund 384 Marold, Dietrich 314–325 Matthiolus, Petrus Andreas 46 Maximilian I. 16–17, 345–388 Melanchthon, Philipp 203 Melander, Otho 317 Mennel, Jakob 17, 347–349, 365–388 Montaigne, Michel de 10, 70
Index Montanus, Martin 14–15, 256–264, 267, 303, 309, 319 Moritz von Hessen-Kassel 315 Morton, John 207, 211 Morus, Thomas 12–13, 197–225, 250 Münster, Sebastian 58, 129, 132, 136, 148 Murner, Thomas 186 Nachtigall, Ottmar Luscinius 293 Nero 75, 76, 346, 355 Nietzsche, Friedrich 26, 293 Nikolaus von Kues 220, 355 Notker 212 Oktavian 375 Otfrid von Weißenburg 56 Otto, Pfalzgraf und bayerischer Herzog 355 Ottpertus 348 Ovid 85, 161, 366 Paracelsus 45–46, 338–339 Pauli, Johannes 270–271, 309, 319 Petrarca, Francesco 128 Peutinger, Konrad 349, 351 Philipp der Schöne 360, 374 Phlegon von Tralleis 82 Piccolomini, Enea Silvio 351, 355 Pirckheimer, Willibald 351, 390–391 Platon 25, 31–32, 36, 38, 42–44, 84, 132, 204 Platter, Felix d. Ä. 215 Plautus 36 Plinius d. Ä. 367, 377, 381 Poggio Bracciolini 14, 128, 131, 271, 289–292, 296, 299, 300 Pontano, Giovanni 128 Praxiteles 392 Pusika, Peter von 353 Quintilian 392 Rabelais, François 8–10, 21–39, 41, 54– 55, 57–58, 69, 80, 82–83, 85 Raffael 399–400, 403, 405, 411 Raimondi, Marcantonio 403–404, 406 Reymers, Nikolaus 336, 341 Rollenhagen, Georg 16, 329–344 Ronsard, Pierre de 32 Rudolf II. (Prag) 341, 374 Rudolf IV. 355 Ruellius, Johannes 46 Sachs, Hans 261, 368
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Index Salomon 207 Schedel, Hartmann 109 Schondoch 185 Schumann, Valentin 309 Sender, Clemens 130 Seneca 132 Shakespeare, William 28 Smith, Adam 220 Sokrates 43, 132 Solon 210 Sorg, Anton 181 Stabius, Johannes 351 Stainreuther, Leopold 17, 351–352 Stimmer, Tobias 54 Stricker 262
Thüring von Ringoltingen 135, 148 Thurneysser zum Thurn, Leonhard 337– 338 Titus Livius 36 Toxites, Michael 44–45
Tacitus 53 Theodobertus 348 Thomas a Kempis 331 Thomas von Aquin 109, 110
Walther von der Vogelweide 365 Wickram, Georg 10, 11, 136, 157–175, 184, 192, 267, 271, 309, 318–319 Wolfram von Eschenbach 367
Ulrich von Hutten 399 van Leyden, Niclaes Gerhaert 356 Varro 376 Vellert, Dirck 17, 396–398, 400, 402, 411 Velser, Michel 181 Vergil 36, 160 Vespucci, Amerigo 130 Vetter, Conrad 81