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German Pages 385 [388] Year 2007
Philip Ajouri Erzählen nach Darwin
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
43 ( 277 )
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
Erzählen nach Darwin Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus: Friedrich Theodor Vischer und Gottfried Keller
von
Philip Ajouri
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019143-1 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin
Meinen Eltern
Danksagung Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner neugermanistischen Dissertation. Sie entstand bei Prof. Dr. Karl Eibl und wurde im März 2005 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München eingereicht. Später erschienene Forschungsliteratur konnte nur noch in Ausnahmefällen berücksichtigt werden. Mein Dank gilt in besonderer Weise meinem Doktorvater Karl Eibl, der die Arbeit mit Weitblick förderte und dessen Ratschläge stets in Schwarze trafen. Durch die Gespräche mit ihm und die Projektvorstellungen im Oberseminar gewann die Arbeit ihre Konturen. Auch die Besprechungen mit Prof. Dr. Christoph König und Prof. Dr. Horst Thomé in Marbach und Stuttgart waren mir eine Quelle der Einsicht. PD Dr. Paul Ziche danke ich vielmals für das große Interesse, das er der Arbeit entgegenbrachte. Seine sachkundigen Hinweise sind an vielen Stellen in die Arbeit eingeflossen. Bei Prof. Dr. Hans-Edwin Friedrich und Prof. Dr. Friedrich Vollhardt möchte ich mich herzlich für die Erstellung der Gutachten bedanken. Ein herzlicher Dank gilt auch meinen Freunden, die sich als geduldige Gesprächspartner erwiesen haben und viel Zeit mit dem Korrekturlesen oder dem Layout verbrachten. Stellvertretend möchte ich Udo Andraschke, Stefan Dicker, Dr. Philip Laubach-Kiani, Christoph Rauen und Thomas Weißbrich nennen. Ihre freundschaftliche Anteilnahme hat die Arbeit über alle Produktionsstufen hinweg geprägt und begleitet. Für das zeitintensive und mitdenkende Lektorat der Druckfassung möchte ich mich sehr herzlich bei Angela Baier bedanken. Ermöglicht wurde die Arbeit durch die großzügige finanzielle und ideelle Förderung der Studienstiftung des deutschen Volkes. Ein ganz besonderer Dank gilt meinen Eltern, denen die Arbeit gewidmet ist und ohne deren Ermunterung und Unterstützung sie nicht entstanden wäre.
Inhalt Einleitung .......................................................................................................... 1 I Begriffliche Klärungen .............................................................................. 11 1 Realteleologie ....................................................................................... 11 1.1 Der Begriff ‚Teleologie‘................................................................. 11 1.2 Intrinsische Teleologie: Ziele......................................................... 12 1.3 Extrinsische Teleologie: Funktionen.............................................. 16 1.4 Der Begriff ‚Realteleologie‘........................................................... 18 1.5 Die Orientierungsleistung der Realteleologie ................................ 18 1.6 Kritik an der Realteleologie ........................................................... 22 2 Erzählteleologie .................................................................................... 24 2.1 Lugowskis „Motivation von hinten“ .............................................. 24 2.2 Kompositorische und finale Motivierung....................................... 27 2.3 Basisfunktionalität des Erzählens und Erzählteleologie................. 29 2.3.1 Basisfunktionalität ............................................................... 29 2.3.2 Erzählteleologie ................................................................... 32 3 Erzählte Teleologie ............................................................................... 38 4 Zusammenfassung................................................................................. 42 II Die Kongruenz von Real- und Erzählteleologie in Blanckenburgs Versuch ......................................................................... 44 1 Perfektibilität als erzählte Teleologie.................................................... 45 1.1 Die Vervollkommnung des Protagonisten...................................... 45 1.2 Kausalität: Ursache und Wirkung .................................................. 48 2 Erzählteleologie: Die „Nothwendigkeit des Dichters“.......................... 49 3 Legitimierung der Erzählteleologie durch die Realteleologie............... 52 4 Die Vervollkommnung von Figur und Leser als Ziel des Romans ....... 58 5 Drei alternative Romanabschlüsse ........................................................ 59 5.1 Offenes Ende? ................................................................................ 59 5.2 Bildungstragödie? .......................................................................... 61 5.3 Tod des Protagonisten? .................................................................. 61 6 Zusammenfassung................................................................................. 62 III Die Krise der Realteleologie im 19. Jahrhundert....................................... 64 1 Der realteleologische Hintergrund der Krise ........................................ 64 1.1 Vorsehung als realteleologisches Konzept..................................... 65 1.2 Idealismus ...................................................................................... 68 1.2.1 Kant: Zweckmäßigkeit als notwendige Arbeitshypothese ... 70 1.2.2 Schelling: Die „absolute Zweckmäßigkeit des Ganzen der Natur“ ......................................................... 71
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Inhalt
1.2.3 Hegel: „Die Zweckbeziehung […] als die Wahrheit des Mechanismus“................................................ 73 2 Ludwig Feuerbachs Ablehnung des technomorphen Weltbildes .......... 76 2.1 Feuerbachs Begriff der Natur ......................................................... 78 2.2 Realteleologie als egoistische Projektion des Menschen ............... 81 3 Ludwig Büchners Kraft und Stoff: Leugnung der Zweckmäßigkeit ..... 86 4 Die Popularisierung des Darwinismus unter dem Aspekt der Realteleologie ....................................................................................... 90 4.1 Idealistisch und realistisch gefilterter Darwin ................................ 90 4.2 Die Popularisierung des Darwinismus im Ausland ........................ 94 4.2.1 Bekanntmachungs-Phase...................................................... 94 4.2.2 Durchbruchs-Phase .............................................................. 99 4.2.3 Verweltanschaulichungs-Phase.......................................... 104 4.3 David Friedrich Strauß: Der alte und der neue Glaube ............... 109 4.3.1 Straußens Vorarbeiten........................................................ 109 4.3.2 Natürliche Zweckmäßigkeit ............................................... 113 4.3.3 Die Begründung der Moral durch Teleologie .................... 117 4.4 Der Streit um die Realteleologie in der Allgemeinen Zeitung ...... 121 4.4.1 Entwicklung oder Veränderung (Huber/Ziegler)?.............. 121 4.4.2 Zweckmäßigkeit als Resultat oder als Prinzip (v. Hartmann)?....................................................... 125 4.4.3 Ablehnung des philosophischen Entwicklungsbegriffs (Semper)............................................................................. 128 4.4.4 Die Alternative „Teleologie oder Zufall“ (v. Baer)............ 130 4.5 Die weitere Diskussion über Zweckmäßigkeit............................. 134 5 Zusammenfassung............................................................................... 138 IV Realteleologie und Kontingenz bei Friedrich Theodor Vischer .............. 143 1 Kontingenz als Folgeproblem ............................................................. 143 2 Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen............................................. 149 2.1 Aufhebung der Kontingenz durch Realteleologie ........................ 149 2.1.1 Die Stufenfolge der bestimmten Ideen............................... 150 2.1.2 Das zufällige Individuum................................................... 152 2.1.3 Die Begründung der Naturschönheit durch die innere Zweckmäßigkeit................................................................. 155 2.1.4 Erneuter Zufall, „Widerstreit“ und schlußendliche „Versöhnung“..................................................................... 157 2.2 Das Naturschöne und seine Auflösung ........................................ 161 2.3 Die Erkenntnisfunktion der Dichtung .......................................... 165 2.3.1 Phantasie und Kunst........................................................... 165 2.3.2 Direkte und indirekte Idealisierung.................................... 170 2.3.3 Idealisierung als Erkenntnisleistung................................... 172 3 Die Subjektivierung der Ästhetik (Kritik meiner Ästhetik I )............... 175 4 Kontingenzschub: „Darwin“ oder „e t w a s Darwin“? ........................ 180
Inhalt
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5 Vischers neue Metaphysik des Schönen: Kampf, Übergangsformen und offenes Ende...................................... 190 6 Auch Einer .......................................................................................... 195 6.1 Rezeption und Forschung............................................................. 195 6.2 Inhalt ............................................................................................ 198 6.3 Fehlende Erzählteleologie und die Basisfunktionalität des Textes..................................................................................... 200 6.3.1 Dominante interne Fokalisierung ....................................... 200 6.3.2 Anachronien ....................................................................... 202 6.3.3 Wechsel von Fokalisierung und Stimme............................ 205 6.3.4 Die Basisfunktionalität des Textes ..................................... 207 6.4 Albert und die „Tücke des Objekts“: fehlende erzählte Teleologie ........................................................ 212 6.4.1 Die Grundkonzeption ......................................................... 212 6.4.2 Leihung als Beseelung der tückischen Objekte: Albert ..... 215 6.4.3 Leihung als Beseelung der Natur: der Erzähler.................. 221 6.4.4 Zufall, Entwicklung, Vorsehung und Weltgeist ................. 224 6.4.5 Alberts Naturmythologie und die philosophischen Reflexionen seines Tagebuchs ........................................... 230 6.5 Versuche der Kontingenzbeherrschung: Philosophie und Dichtung ............................................................ 237 6.5.1 Die Naturreligion des Schnupfens...................................... 240 6.5.2 Starke Erzählteleologie und Übersichtlichkeit ................... 241 6.5.3 Funktionale Zufälle ............................................................ 243 6.6 Kunst und Wirklichkeit ................................................................ 247 7 Dichtung: Vom Erkenntnismedium zur „Kinderei“............................ 250 8 Zusammenfassung............................................................................... 253 V Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (1854/55 und 1879/80): von der erzählten Krise zur Krise des Erzählens .................................... 257 1 Keller und das Problem der Realteleologie......................................... 257 2 Der grüne Heinrich (1. Fassung, 1854/55) ......................................... 261 2.1 Erzählteleologische Schemata und ihre antiteleologische Durchführung ................................................... 262 2.1.1 Bildungsroman ................................................................... 263 2.1.2 Lebensreise ........................................................................ 269 2.1.3 Typologie ........................................................................... 271 2.1.4 Heinrichs Tod und dessen Vorausdeutung......................... 273 2.2 Natur als Wertsphäre und Handlungsmaßstab ............................. 275 2.3 Erzählte Teleologie als Projektion: Heinrichs Glaube an die Vorsehung............................................. 279 2.3.1 Vorsehung und Bestimmung.............................................. 279 2.3.2 Heinrichs Interpretation des Zufalls als Schickung Gottes ............................................................... 282 2.3.3 Heinrichs technomorphes Weltbild.................................... 287
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Inhalt
2.4 Realteleologische Konzepte Heinrichs und des Erzählers ........... 289 2.4.1 Pantheismus ....................................................................... 289 2.4.2 Fortschritt ........................................................................... 291 3 Der grüne Heinrich (2. Fassung, 1879/80) ......................................... 296 3.1 Abbau der Erzählteleologie .......................................................... 300 3.1.1 Fragmentarische Offenheit des Textes und der Prozeßcharakter des Schreibens ......................................... 300 3.1.2 Die neuen Enden der Romanhandlung............................... 306 3.1.3 Heinrichs Odyssee: Vom Handlungsschema zur intradiegetischen Reflexionsfigur ...................................... 309 3.1.4 Der Abbau von Zielvorstellungen der Lebensreise ............ 310 3.1.5 Simulation von Kontingenz durch Parallelfiguren und Allegorien .......................................................................... 312 3.2 Änderungen in der Naturauffassung des Erzählers ...................... 318 3.3 Zufälle in der Spätfassung: Zwischen Fiktionssignal und Realitätseffekt .............................................................................. 323 3.3.1 Entblößung von Fiktionalität (Die Fechtszene).................. 323 3.3.2 Allegorien des Dichtens (Dortchens Loskörbchen) ........... 326 3.3.3 Realteleologie und Kausalität (Das Flötenwunder)............ 328 3.3.4 Ateleologische Wirklichkeitsauffassung („Der Lauf der Welt“) ........................................................ 331 4 Zusammenfassung............................................................................... 334 VI Kellers Spätwerk und ein Ausblick in die Moderne ................................ 337 Literaturverzeichnis ...................................................................................... 345 Verzeichnis der Siglen............................................................................. 345 Hilfsmittel................................................................................................ 347 Quellen .................................................................................................... 348 Werkeditionen, Briefwechsel.............................................................. 348 Sonstige Quellen ................................................................................. 349 Forschung ................................................................................................ 354 Personenregister ............................................................................................ 369
Einleitung Diese ideengeschichtlich orientierte Arbeit erforscht die Krise der Teleologie im 19. Jahrhundert und analysiert ihre Auswirkungen und Folgeprobleme für die Ästhetik und die Erzählliteratur des Realismus. Damit hat die Untersuchung zwei ähnlich stark gewichtete Schwerpunkte. Einerseits die problembezogene Aufarbeitung der Krise teleologischer Wirklichkeitswahrnehmung in Philosophie und Wissenschaft, wobei insbesondere der Wissenschaftspopularisierung des Darwinismus durch Zeitschriften und Zeitungen Aufmerksamkeit geschenkt wird. Andererseits stellt sich die Frage, wie sich die Krise der Teleologie in der Erzählliteratur niederschlägt. Teleologie, also die Erklärung der Wirklichkeit unter Bezugnahme auf Ziele oder Funktionen, ist ein umfassendes Strukturmuster für Wirklichkeit, ein „universeller Sinngenerator“.1 Das liegt daran, daß die teleologische Wirklichkeitserklärung verschiedene Aufgaben erfüllt. Teleologische Weltbilder sind „plurifunktionale Führungssysteme“2, das heißt zunächst: Auf ihrer Grundlage wird Wirklichkeit geordnet, beschrieben und erklärt. Zusätzlich aber sind mit dieser Art der Weltauffassung emotionale Reaktionen und schließlich Handlungsanweisungen verbunden. Eben dies macht die Orientierungsleistung von Teleologie aus. Meeresströmungen wie der Golfstrom wurden beispielsweise bis ins 19. Jahrhundert dafür gepriesen, eine sinnvolle Einrichtung zu sein.3 Die positive Auswirkung des Golfstroms auf Nordeuropa lag auf der Hand: eisfreie Häfen und mildes Klima; noch dazu ließ er sich für die Schiffahrt nutzen. Doch so komplizierte Zusammenhänge mußte irgend jemand geplant und umgesetzt haben, um dem Menschen das Leben auf der Erde zu ermöglichen oder zumindest zu vereinfachen. Schreibt man die Einrichtung der Mee______________________
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Karl Eibl: Darwin, Haeckel, Nietzsche. Der idealistisch gefilterte Darwin in der deutschen Dichtung und Poetologie des 19. Jahrhunderts. Mit einer Hypothese zum biologischen Ursprung der Kunst. In: Helmut Henne, Christine Kaiser (Hg.): Fritz Mauthner – Sprache, Literatur, Kritik. Festakt und Symposion zu seinem 150. Geburtstag. Tübingen 2000, S. 87–108. Hier S. 89. Ernst Topitsch: Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung. Hamburg 1979, S. 9. Alle Hervorhebungen innerhalb der Zitate (Kursivierungen, gesperrte Schrift) sind, wenn nicht anders angegeben, auch im Original enthalten. Vgl. z.B. Adolf Mühry: Die neuere Naturwissenschaft und die Teleologie. Ein Beitrag zur exacten Naturphilosophie. In: Das Ausland 48 (1875), Nr. 17, S. 325–329; Nr. 18, S. 352–356.
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Einleitung
resströmungen Gott oder einem Geist in der Natur zu, dann kann man diesem Wesen für die sinnvolle Einrichtung danken. Die Natur erscheint für den Menschen gemacht und deshalb notwendig; man kann sich in ihr orientieren. Teleologie ist eine elementare ‚Denkform‘, eine ‚Idee‘, wie sie die Ideengeschichte im Entwurf von Arthur Lovejoy behandelt.4 Sie tritt in der europäischen Geistesgeschichte – und nicht nur in dieser – in vielen Gestalten und Formen auf und liegt den verschiedensten Philosophien und Weltanschauungen zugrunde. Das Konzept der Entelechie nach Aristoteles, die verschiedenen Arten der christlichen Vorsehungslehre, aufklärerische Bildungskonzeptionen oder die idealistische Geschichtsphilosophie: Sie alle enthalten mehr oder weniger deutlich eine teleologische Komponente. Denkformen, wie sie die Ideengeschichte untersucht, bewegen sich aber nicht im luftleeren Raum. Sie müssen jeweils in ihren spezifischen historischen Kontexten gesehen werden.5 Was die Teleologie betrifft, so stand sie seit langem in Konkurrenz zu alternativen, naturwissenschaftlichen Erklärungen. Ist ein Objekt oder ein Vorgang kausal erklärt, kennt man also die Wirkursache eines Dings, dann geraten teleologische Erklärungen unter großen Plausibilitätsdruck. Dies liegt daran, daß sie nicht ohne Zusatzannahmen auskommen, die sich ihrerseits der Überprüfbarkeit entziehen. Die teleologische Wirklichkeitsauffassung setzt Geist oder eine funktionsäquivalente Größe (Gott, ‚unendlichen Verstand‘) voraus. Das Verständnis von Finalität, so schreibt Eve-Marie Engels, war bis weit ins 19. Jahrhundert stets am „Paradigma einer wie immer auch zu bestimmenden Intentionalität orientiert […].“6 Wenn Teleologie aber an Geist geknüpft ist, dann muß der 1857 geäußerte Ausspruch des Philosophen Rudolf Haym aufhorchen lassen, man befände sich „i n e i n e m al l g e m e i n e n S c h i f f br u ch d e s G e i s t e s ______________________
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Vgl. Arthur Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Übersetzt von Dieter Turck. Frankfurt am Main 1993 (ED 1936), S. 13. Die Abkürzung ‚ED‘ mit nachgestellter Jahreszahl gibt, wo nötig, den Erstdruck einer Publikation in der Originalsprache an. Bei Aufsätzen bezieht sie sich stets auf diesen selbst, nicht auf das Sammelwerk. Vgl. hierzu Karl Eibl: „Wenn man ideengeschichtliche Untersuchungen nicht […] strikt an die Problemsituation bindet, sondern nur der Quasikausalität einer reinen Ideen-Kette unterstellt, dann werden doch nur Ideen-Genealogien nach Art der biblischen Geschlechtsregister daraus: … und Plato zeugte Aristoteles … und Ferguson zeugte Herder … Die Rückkehr zur immanenten Ideengeschichte, auf welchem Niveau und mit welchem Raffinement auch immer, mißachtet das geschichtliche Bedingungs- und Referenzgefüge, in dem die Ideen stehen.“ [Karl Eibl: Literaturgeschichte, Ideengeschichte, Gesellschaftsgeschichte – und „Das Warum der Entwicklung“. In: IASL 21 (1996), 2. Heft, S. 1–26. Hier S. 5.] Eve-Marie Engels: Die Teleologie des Lebendigen. Kritische Überlegungen zur Neuformulierung des Teleologieproblems in der angloamerikanischen Wissenschaftstheorie. Eine historisch-systematische Untersuchung. Berlin 1982, S. 131.
Einleitung
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u n d d e s G l a u b e ns a n d e n G e i s t ü b e r h a u p t . “7 Die aufstrebenden und erfolgreichen Naturwissenschaften und der aufkommende Materialismus spielen bei dieser Entwicklung, wie sie in dieser Arbeit thematisiert wird, eine entscheidende Rolle. In dem Maße, wie die an Geist geknüpften teleologischen Vorstellungen durch die Naturwissenschaften unglaubhaft oder überflüssig werden, nimmt die erfahrene Kontingenz zu. Erkennt man in der Wirklichkeit und der Geschichte Ziele und Funktionen, so erscheinen sie notwendig; leugnet man dagegen die Teleologie, dann wird die Welt sehr unübersichtlich, ja zufällig. Sie kann wohl vollständig kausal erklärt werden, doch dies ist ein Forschungsprogramm, dessen Erfüllung spezialisierten Einzelwissenschaften in unabsehbarer Zukunft überlassen bleibt. Es führt nicht mehr zur Orientierungsleistung eines einheitlichen Weltbildes. Kontingenz ist also das Referenzproblem der teleologischen Wirklichkeitsauffassung. Nochmals der Golfstrom: Wie man heute weiß, wird er durch die Passatwinde, aber auch durch die Dichteunterschiede im Salzwasser verursacht. Die so entstehende Meeresströmung wird dann vom Labradorstrom sowie von der Corioliskraft, die ihrerseits durch die Erdumdrehung bewirkt wird, abgelenkt. Sind diese Wirkursachen erkannt, dann verliert das Golfstromsystem jene höhere Art der Notwendigkeit, die es in der teleologischen Erklärung hatte. Der Strom wird nicht mehr durch seine Funktion, die ‚Warmwasserheizung‘ Europas zu sein, erklärt, sondern auf seine kontingenten Wirkursachen zurückgeführt. Erst jetzt kann beispielsweise diskutiert werden, welche Auswirkungen die Klimaerwärmung auf die Meeresströmungen hat. Die Ursachen für den Golfstrom sind ihrerseits veränderlich, womit der Meeresstrom als ganzes ebenfalls zufällig wird. Diese Arbeit beschränkt sich auf einen kleinen Ausschnitt der Teleologiekrise, im wesentlichen auf die 40er bis 70er Jahre des 19. Jahrhunderts. Auf zwei Kulminationspunkte dieser Krise werden wir besonders eingehen: auf den Linkshegelianer Ludwig Feuerbach (1804–1872) und auf die Darwin-Rezeption in Deutschland. Feuerbach trieb die Entprovidenzialisierung der Welt durch seine schlagkräftige Teleologie-Kritik voran. Teleologie brandmarkte er als egozentrische Projektion des menschlichen Zielhandelns auf die Natur, womit er die naive Hypostasierung der menschlichen Zwecktätigkeit offenlegte und zugleich in Frage stellte. Charles Darwin (1809–1882) fand eine neue Erklärung der natürlichen Zweckmäßigkeit des Organischen.8 Die Natur konnte nicht mehr als ______________________
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Zitiert nach Karl Löwith: L. Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: Erich Thies (Hg.): Ludwig Feuerbach. Darmstadt 1976 (ED 1928), S. 33–61. Hier S. 35. Ernst Mayr gibt einen guten Überblick über teleologische Konzepte vor Darwin, Darwins eigene Überwindung des teleologischen Denkens und die Rezeption seiner Theorie unter
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Einleitung
planmäßig sich entfaltende und zielgerichtete Einheit gedeutet werden, sondern der Motor der Evolution besteht seiner Theorie zufolge aus dem zielblinden Wechselspiel von (zufälliger) Variation und (statistisch notwendiger) Selektion. Zuvor hatte man – oft implizit – einen teleologischen Übergang von der Möglichkeit des organisch Seienden zu dessen geplanter oder sinnvoller Wirklichkeit angenommen. Nach Darwin aber sind alle Varianten Wirklichkeit, nur hier kann die Selektion, der Kampf ums Dasein, greifen, was zur zweckmäßigen Anpassung der Organismen im Verlauf der Zeit führt. Da dieser Vorgang ständig abläuft, bedeutet dies, daß sehr viele bereits existierende Lebewesen zu weniger erfolgreichen Varianten gehören, die im Kampf ums Dasein mit statistischer Wahrscheinlichkeit unterliegen werden. Da in Darwins Theorie Veränderungen der Lebewesen zufällig stattfinden, brachte dieser neue Blick auf die Natur und den Menschen „den zweiten großen neuzeitlichen Kontingenzschub“9 mit sich: Nachdem im 18. Jahrhundert erkannt wurde, daß gesellschaftliche Ordnungen sich verändern und mithin ganz anders sein könnten, sah man sich nun zunächst angesichts der Natur vor die Frage „Teleologie oder Zufall?“10 gestellt. Ab den 1880er Jahren wird schließlich auch das Verhältnis von Verstand und Außenwelt kontingent, indem erkannt wird, daß Logik und Ästhetik als im Kantschen Sinn ‚reine‘ Bedingungen der Erkenntnis ‚nur‘ evolutionär bewährte Überlebensinstrumente sind, entstanden durch die seit Jahrmillionen einwirkenden Sinnesreize unserer „Zufallssinne“ (Fritz Mauthner).11 Feuerbach und Darwin griffen jeweils eine Wurzel teleologischer Wirklichkeitsauffassung an, woraus sich die Schlagkräftigkeit ihrer Kritik erklärt.12 Die teleologische Weltsicht stammt zum einen daher, daß Menschen zielgerichtet handeln können und Dinge herstellen. Die menschliche Zwecktätigkeit und die Entstehungsweise zweckmäßiger Artefakte wurden in der Folge auf die natürlichen Dinge projiziert. Zum anderen regte die Selbstorganisation und unerklärbar scheinende Funktio______________________
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dem Aspekt der Teleologie. Vgl. Ernst Mayr: The Concept of Finality in Darwin and after Darwin. In: Scientia 118 (1983), S. 97–117. Eibl (2000): Darwin, Haeckel, Nietzsche, S. 89. Albert Wigand: Die Alternative Teleologie oder Zufall. Vor der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Kassel 1877. Die Zufälligkeit der Evolution hat im 20. Jahrhundert besonders der französische Molekularbiologe Jacques Monod vertreten. Vgl. Jacques Monod: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. Aus dem Französischen von Friedrich Griese. München 1996 (ED 1970). Davon wird knapp das Schlußkapitel handeln. Vgl. hierzu Ernst Oldemeyer: Die beiden Wurzeln des teleologischen Denkens. In: Jürgen-Eckardt Pleines (Hg.): Teleologie. Ein philosophisches Problem in Geschichte und Gegenwart. Würzburg 1994, S. 132–146.
Einleitung
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nalität der Organismen die Phantasie an. Organisierte sich die Natur als Ganzes nicht auch selbst und erhielt sich somit selbständig, ganz wie ein Organismus? Feuerbach nun legte die Übertragung des menschlichen Zielhandelns auf die Natur offen; Darwin schlug eine natürliche Erklärung der Zweckmäßigkeit des Organischen vor, womit das „Urphänomen des organischen Lebens“13 ein gutes Stück seiner metaphysischen Würde verlor. Die Teleologie steckte spätestens seit den 1870er Jahren in einer sehr schweren Krise. Über die Ideengeschichte wird in dieser Arbeit Literatur- und Wissenschaftsgeschichte zueinander in Beziehung gesetzt. Das allgemeine Verhältnis von Literatur und Wissenschaft beziehungsweise von Literaturgeschichte und Wissenschaftsgeschichte wurde in der Literaturwissenschaft in letzter Zeit verstärkt diskutiert.14 Neben älteren Arbeiten, die einseitig den Einfluß der Naturwissenschaften auf die Literatur untersuchten, spüren neuere Arbeiten umgekehrt literarische Strategien in naturwissenschaftlichen Werken auf, so daß von einem komplexen Wechselverhältnis auszugehen ist.15 Indem man allerdings die Ideengeschichte als Vermittlerin zwischen Literatur- und Wissenschaftsgeschichte begreift, bekommt die Relation eine neue wichtige Dimension. Warum sollte sich schließlich ein Dichter dafür interessieren, ob der Golfstrom in der scientific community teleologisch oder kausal erklärt wird? Warum ist es für seine literarischen Werke wichtig, ob ein taubenzüchtender Forschungsreisender eine neue Theorie zur Entwicklung der Organismen vorlegt? Die Antwort lautet: Es wäre für ihn vollkommen unwichtig, wenn nicht viel umfassendere Orientierungsmuster auf dem Spiel stünden. Teleologie als ‚plurifunktionales Führungssystem‘ ist ein solches Orientierungsmuster. Erst indem das neue Wissen auf die Denkform der Teleologie bezogen und diese selbst in Frage gestellt wird, haben auch Nicht-Biologen ein Problem. Doch die Lage wird noch komplizierter, wenn man berücksichtigt, daß Wissenschaft dem Laien meist in popularisierter Form zur Verfügung ______________________
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Oldemeyer (1994): Die beiden Wurzeln des teleologischen Denkens, S. 134. Vgl. Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht. In: IASL 28 (2003), 1. Heft, S. 181–231. Ein systematischer, diskursgeschichtlicher Problemaufriß mit feingliedrigen Terminologievorschlägen bei Karl Richter, Jörg Schönert, Michael Titzmann: Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation. In: Karl Richter, Jörg Schönert, Michael Titzmann (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Stuttgart 1997, S. 9–36. Z.B. Kai Kauffmann: Naturwissenschaft und Weltanschauung um 1900. Essayistische Diskursformen in den populärwissenschaftlichen Schriften Ernst Haeckels. In: Zeitschrift für Germanistik N.F.15 (2005), S. 61–75. Natürlich wurden auch Darwins Schriften selbst unter literarischer Perspektive untersucht. Vgl. z.B. Gillian Beer: Darwin’s Plots. Evolutionary narrative in Darwin, George Eliot and 19th-century-fiction. London 1983.
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Einleitung
steht. Dies gilt insbesondere für Darwins Theorien.16 Gerade Darwins dickleibiges Buch über Die Entstehung der Arten (1859) wurde wohl nur von Fachgelehrten selbst gelesen, gleichwohl aber erlangte es durch zahllose Vermittlerschriften Popularität. Schon in diesen Vermittlerschriften wurde das zunächst lebensweltlich ferne und abstrakte neue Wissen auf die großen Fragen nach Sinn und Ziel der Welt bezogen. Damit wurde bereits in der Popularisierung des Darwinismus die Frage nach den entscheidenden ‚Denkformen‘, die Frage nach der Teleologie virulent. Auch wenn die komplexe Wechselbeziehung von Naturwissenschaft und Literatur im 19. Jahrhundert in der jüngeren Vergangenheit verstärkt erforscht wurde,17 so hat die Germanistik die Krise der Teleologie als Problem bisher nur am Rande wahrgenommen; auch Darwins zentrale Rolle für dieses Thema wurde kaum erkannt.18 Neuere Arbeiten, die sich mit dem Darwinismus im 19. Jahrhundert beschäftigen, blenden das Teleologie-Problem entweder ganz aus19 oder untersuchen die „heimliche ______________________
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Der Plural ist der Tatsache geschuldet, daß Darwins Lehre unterschiedliche Theorien in sich vereinigt, so den Lamarckismus, die Selektionstheorie oder die Deszendenztheorie. Der Darwinismus war ein heterogenes Theoriengebäude und wurde von den Zeitgenossen auch in dieser Vielschichtigkeit rezipiert. Engels kommt zu dem Ergebnis, „daß Darwins Idee von Evolution von seinen Zeitgenossen als ein äußerst komplexes theoretisches Gebilde mit Theorieelementen unterschiedlichen Alters betrachtet wurde und daß auch der Begriff ‚Darwinismus‘ in bezug auf Darwins naturwissenschaftliche Theorie in verschiedenen Bedeutungen verwendet wurde, einmal in engerem Sinne der Darwinschen Selektionstheorie, zum anderen im weiten Sinne zur Bezeichnung der gesamten Darwinschen Theorie einschließlich der historisch älteren Theorieelemente seiner Vorgänger. Und hierzu gehörte auch Lamarcks Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften, deren sich Darwin in seinem Werk vielfach bediente.“ [Engels (1995): Die Rezeption von Evolutionstheorien, S. 38.] Vgl. Danneberg, Vollhardt (2002): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Ferner Wolfgang Rohe: Literatur und Naturwissenschaft. In: Edward McInnes, Gerhard Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart Bd. 6). München 1996, S. 211–241. Für den englischen Realismus wurden die Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Darwinismus stärker erhellt. George Levine geht es nicht primär um den ‚Einfluß‘ von Wissenschaft auf Literatur, sondern er untersucht den viktorianischen Ideenvorrat, der sich sowohl bei Darwin als auch in der Literatur finde. Vgl. George Levine: Darwin and the Novelists. Patterns of Science in Victorian Fiction. Cambridge (MA), London 1988, S. 3. Neben den schon von Charles Lyell angewandten Prinzipien des Gradualismus und Aktualismus nennt Levine auch das Bestreiten von „design“ und Teleologie sowie die neue Rolle des Zufalls (vgl. ebd. S. 14–20). So vor allem Werner Michlers Studie: Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich 1859–1914. Wien, Köln, Weimar 1999. Sie ist nationalphilologisch auf Österreich beschränkt und vernachlässigt die Teleologiekrise des 19. Jahrhunderts. Als anderes Beispiel sei ein Sammelband genannt, der den biologischen Grundlagen der Anthropologie des 19. Jahrhunderts nachgeht: Achim Barsch, Peter M. Hejl (Hg.): Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850–1914). Frankfurt am Main 2000.
Einleitung
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Teleologie“20, das heißt die nachdarwinsche Wiedereinführung der Teleologie durch Autoren wie Ernst Haeckel (1834–1919) oder Wilhelm Bölsche (1861–1939).21 Hier sind die Studien von Antoon Berentsen,22 Monika Fick,23 Wolfram Hamacher24 und Jutta Kolkenbrock-Netz25 zu nennen. Sie alle stellen fest, daß in den Texten Bölsches und Haeckels wissenschaftliche und literarische Diskurse harmonisiert werden, was über eine Anthropomorphisierung der Natur und eine heimliche Teleologie funktioniere. So entsteht bei der jetzigen Forschungslage das verzerrte Bild, als ob der Darwinismus ausschließlich durch den idealistischen „Filter“26 einer restaurierten Teleologie wahrgenommen wurde. Gerade das Innovative an Darwins Theorie, nämlich die Verbannung der Teleologie, wäre demnach in Deutschland kaum beachtet worden. Ohne daß die vorliegende Untersuchung den maßgeblichen Einfluß eines Ernst Haeckel oder Wilhelm Bölsche leugnen will, soll dieses Bild korrigiert werden. Doch selbst wenn Darwins Selektionstheorie maßgeblich zum Glaubwürdigkeitsverlust der teleologischen Wirklichkeitsauffassung beigetragen hat, bleibt die Frage, wie sich das Erzählen durch diesen neuen wissenschafts- und ideengeschichtlichen Kontext verändern kann.27 ______________________
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Peter Sprengel: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg 1998. Bes. S. 21–31. Vgl. auch die Rezension von Katharina Brundieck, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 31 (1999), 2. Heft, S. 197–201. Der Darwinismus-Rezeption im Epos geht ein Aufsatz von Hans-Edwin Friedrich nach. Vgl. Hans-Edwin Friedrich: „Aufzählen wird uns bald nach Darwins Lehre / Ein Jeder seine ganze Vorfahr-Reihe“. Darwinismusrezeption im Epos des 19. Jahrhunderts (Adolf Friedrich von Schack, Heinrich Hart). In: Uta Klein, Katja Mellmann, Steffanie Metzger (Hg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur. Paderborn 2006, S. 451–471. Vgl. Antoon Berentsen: „Vom Urnebel zum Zukunftsstaat“. Zum Problem der Popularisierung der Naturwissenschaften in der deutschen Literatur (1880–1910). Berlin 1986. Vgl. Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen 1993. Vgl. Wolfram Hamacher: Wissenschaft, Literatur und Sinnfindung im 19. Jahrhundert. Studien zu Wilhelm Bölsche. Würzburg 1993. Vgl. Jutta Kolkenbrock-Netz: Fabrikation, Experiment, Schöpfung: Strategien ästhetischer Legitimation im Naturalismus. Heidelberg 1981. Ferner Jutta Kolkenbrock-Netz: Poesie des Darwinismus – Verfahren der Mythisierung und Mythentransformation in populärwissenschaftlichen Texten von Wilhelm Bölsche. In: Lendemains 30 (1983), S. 28–35. Eibl (2000): Darwin, Haeckel, Nietzsche, S. 87. Zwei große Arbeiten untersuchen die Auswirkungen der schwelenden Providenz-Krise insbesondere des 18. Jahrhunderts auf die Literatur, allerdings vorwiegend unter inhaltlichen Aspekten. Vgl. Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 1988. Ferner Rudolf Behrens: Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz. Die Krise teleologischer Weltdeutung und der französische Roman (1670–1770). Tübingen 1994. Näher an der in vorliegender Arbeit entwickelten Problematik, auch im Hinblick auf Gottfried Keller: Klaus-Detlef Müller: Der
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Einleitung
Um eine Antwort auf diese Frage zu ermöglichen, ist die Feststellung wichtig, daß Erzählen selbst ein teleologischer Vorgang und die erzählte Welt deshalb durch Funktionalität geprägt ist. Das Erzählziel determiniert die geschilderten Ereignisse, weshalb sie eine Funktion für das Ende der Geschichte bekommen, Mittel zum Zweck sind. So kommt kein Text im hier behandelten Zeitraum umhin, einen Anfang, eine Mitte und ein Ende zu haben, wie es Aristoteles in seiner Poetik formulierte,28 und damit ein funktionales Ganzes zu sein. Die Frage ist nun, was passiert, wenn erkannt wird, daß die Wirklichkeit ‚an sich‘ gar keine abgeschlossene und funktionale Einheit ist, daß Teleologie ihr nicht objektiv zukommt, sondern nur ein fragwürdiges Wahrnehmungsraster des Menschen ist. Die Wirklichkeit wird für den Menschen kontingent und verliert jene Struktur, aufgrund derer sie sich problemlos in eine Geschichte verwandeln ließ. Selbst wenn sich teleologische Vorstellungen, die sich auf die Welt als Ganzes oder die Natur beziehen, zunehmend als falsch oder überflüssig erweisen, so ist doch das Erzählen weiterhin durch Teleologie geprägt. Frank Kermode, der in den 1960er Jahren Vorlesungen über den „Sinn des Endes“ (The Sense of an Ending) in der Literatur hielt, sieht besonders im 20. Jahrhunderts, nämlich bei Robert Musil, Jean-Paul Sartre und Iris Murdoch das Problem, wie sich eine kontingente Wirklichkeit in die Form einer Erzählung bringen läßt. So sei Sartres La Nausée ein Beispiel für die „crisis in the relation between fiction and reality, the tension or dissonance between paradigmatic form and contingent reality.“29 Und über Musil schreibt Kermode ganz ähnlich: „he was prepared to spend most of his life struggling with the problems created by the divergence of comfortable story and the non-narrative contingencies of modern reality.“30 Da der Begriff der ‚Teleologie‘ bislang nur in der englischsprachigen Literaturwissenschaft – und auch dort eher beiläufig – auf das Erzählen angewendet wurde,31 betritt diese Arbeit mit dem Konzept einer ‚Erzählteleologie‘ weitgehend Neuland. Der heuristische Wert dieses Konzepts zeigt sich sofort, wenn man den Blick in eine Zeit richtet, in der teleologische Wirklichkeitsannahmen noch weitgehend Gültigkeit hatten und zur ______________________
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Zufall im Roman. Anmerkungen zur erzähltechnischen Bedeutung der Kontingenz. In: GermanischRomanische Monatsschrift N.F.28 (1978), S. 265–290. Aristoteles: Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 25 (Kap.7). Frank Kermode: The Sense of an Ending. Studies in the Theory of Fiction with a New Epilogue. Oxford 2000 (ED 1966), S. 133. Kermode (2000): Ending, S. 127f. In der englischen Literaturwissenschaft gab es im Anschluß an die Arbeit von Frank Kermode The Sense of an Ending einige Versuche, mit dem Begriff „narrative teleology“ zu arbeiten, ohne diesen aber selbst zu explizieren, z.B. Thomas M. Leitch: Closure and Teleology in Dickens. In: Studies in the Novel 18 (1986), 1. Heft, S. 143–156.
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Legitimierung einer für den Helden funktionalen erzählten Welt verwendet wurden. Deshalb beginnt die vorliegende Arbeit nach begrifflichen Klärungen mit einem Blick in das 18. Jahrhundert. So kann gezeigt werden, wie im Fall eines intakten teleologischen Weltbildes über Romane nachgedacht wurde. Blanckenburgs Versuch über den Roman von 1774 bietet sich daher als Kontrastfolie für die Problementfaltung besonders an. Zugleich fungiert diese romantheoretische Schrift als fiktiver Ausgangspunkt einer historischen Entwicklung. Sie führt von einer strukturellen Kongruenz von textexterner Wirklichkeit und Romanwelt, von ‚Realteleologie‘ und ‚Erzählteleologie‘, zu ihrer Differenz. Blanckenburg legitimierte seine Konzeption des Entwicklungsromans durch eine umfassende Realteleologie, nämlich durch den Glauben, daß die Welt von Gott in funktionale und für den Menschen sinnvolle Zusammenhänge gebracht wurde. Ein guter Roman müsse die durch Gott eingerichtete Welt wahrheitsgemäß abbilden. Dies sei ihm möglich, weil die ‚wirkliche‘ Welt genauso strukturiert und durch Teleologie geprägt sei wie die erzählte Welt. Dieses Grundmodell ist erstaunlich stabil. Selbst in der vom Idealismus abhängigen Theorie des poetischen Realismus gilt es, auch wenn es zu manchen Komplikationen und Modifikationen gekommen ist. An sein Ende gelangt es erst in dem Moment, in dem Natur auch im ‚Kern‘ oder in der ‚Tiefe‘ als kontingent aufgefaßt wird. Denn die erzählte Welt ist weiterhin durch die dem Erzählen eigene Zielstrebigkeit geprägt, so daß es zu einer Differenz von Erzählteleologie und der nun kontingent wahrgenommenen Wirklichkeit kommt. Dieser Vorgang, nämlich der Verlust der Realteleologie als umfassendes Strukturmuster für Wirklichkeit, ist das Ausgangsproblem dieser Arbeit. Wie wurde diese Krise in Poetologie und Ästhetik, besonders aber im Medium des teleologischen Erzählens selbst, reflektiert? Anhand der Schriften des Ästhetikers und Romanciers Friedrich Theodor Vischer (1807–1887) wird in dieser Arbeit versucht, eine Antwort auf die eben gestellte Frage zu geben. In seinen Texten lassen sich die Folgeprobleme der Realteleologiekrise besonders gut und exemplarisch analysieren. Vischers Ästhetik wird gemeinhin als mehr oder weniger origineller, auf jeden Fall aber höchst umständlicher Aufguß der Ästhetik Hegels gesehen. Und auch sein Roman Auch Einer gilt bestenfalls als kompliziertes, letztlich aber gescheitertes Formexperiment. In dieser Arbeit wird aus der Perspektive der Teleologiekrise ein neuer Blick auf Vischer geworfen. Es zeigt sich, daß er sich an den Folgeproblemen der Teleologiekrise abarbeitet. Zunächst sucht er sein Heil noch im idealistischen Systemdenken und versucht, durch realteleologische Konzepte die Schönheit der Welt metaphysisch zu begründen. Doch weicht er später
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Einleitung
auf eine Ästhetik aus, die das Schöne allein aus dem Subjekt – also psychologisch – begründet, womit realteleologische Annahmen weniger wichtig werden. In diese fortschreitende Krise der Teleologie fällt die Beschäftigung Vischers mit dem Darwinismus. Sie löst eine langfristige Irritation in seinem Denken aus; alte teleologische Konzepte werden verteidigt und verlieren doch weiter an Plausibilität. Dies zeigt sich nicht nur an späteren Ästhetikentwürfen, sondern in ganz besonderer Weise an Vischers Auch Einer. Vischer versucht nicht nur, einen Menschen in einer kontingenten Welt zu zeigen, sondern er paßt auch die Erzähltechnik dem neuen Thema an: Er baut Erzählteleologie in einer Weise ab, daß der Roman schon von Zeitgenossen als außergewöhnlich empfunden und später von der Forschung als ‚modern‘ klassifiziert wurde. Nicht nur der heute beinahe vergessene Vischer hat auf die Krise der Realteleologie reagiert. Auch die Romane des als Klassiker kanonisierten Gottfried Keller tragen Spuren einer Krise teleologischer Wirklichkeitswahrnehmung. Und auch hier läßt sich eine Verschärfung der Krise beobachten. Wendet sich die erste Fassung des Grünen Heinrich von 1854/55 gegen das teleologische Konzept der Vorsehung – Keller hatte den Roman sogar als „Protestation“ gegen die Vorsehung bezeichnet –, so versucht die Altersfassung von 1879/80, nicht eine anti-, sondern eine ateleologische Beschreibung eines Lebenswegs erzählerisch umzusetzen, was in letzter Konsequenz mit der Vorstellung eines Werks als eines abgeschlossenen Ganzen inkompatibel ist. Bei ähnlichen Problemen kommen beide Schriftsteller zu unterschiedlichen Lösungen, die ihre gemeinsame Problemwurzel, nämlich erhöhte Kontingenz aufgrund der Krise teleologischer Wirklichkeitsvorstellungen, erst auf den zweiten Blick enthüllen. Über ein Einzelwerk hinaus zeichnet sich so am Horizont der Untersuchung die epochale Bedeutung des Teleologieproblems für die Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts ab. Wissenschaftsgeschichte – dafür möchte diese Arbeit im besten Fall ein Beispiel sein – ist durch Ideengeschichte in vorzüglicher und besonders erfolgversprechender Weise auf Literaturgeschichte beziehbar. Allgemeine Denkformen sind der Katalysator, durch die wissenschaftliche Erkenntnisse hindurch müssen, um Relevanz für Literatur zu bekommen. Das gilt in ganz besonderer Weise für das „schwierige neunzehnte Jahrhundert“.32 ______________________
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So der Titel einer Festschrift, die sich dem 19. Jahrhundert widmet und dabei auch die Korrelation von Wissenschaft und Literatur thematisiert, ohne allerdings auf den Darwinismus einzugehen. Vgl. Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr, Roger Paulin (Hg.): Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998. Tübingen 2000.
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Begriffliche Klärungen 1 Realteleologie 1.1 Der Begriff ‚Teleologie‘
Mit dem Begriff ‚Teleologie‘ werden hier die Auffassungen bezeichnet, die organische oder unorganische Dinge oder Prozesse der Realität teleologisch erklären, beurteilen oder beschreiben. Das wichtigste Merkmal einer teleologischen Sicht auf etwas ist die Beschreibung unter Bezugnahme auf ein Ziel oder einen Zweck, um dessen willen etwas existiert oder ein Prozeß stattfindet.1 Teleologie wird nicht zuletzt dadurch zu einem komplexen Gebiet, daß sie im Laufe der Geschichte auf alle Bereiche der (jeweilig angenommenen) Realität als Beschreibung oder Erklärung angewendet wurde: auf Menschen (und ihre Handlungen und Artefakte), auf Tiere (und ihr Verhalten und ihre Werke), auf die Seinsweise von Organismen, auf Unorganisches, auf die Welt als Ganzes oder auf Gott und seine Schöpfung. Zudem existieren unterschiedliche Zielbegriffe, so daß unter dem Begriff ‚Teleologie‘ sehr viel Unterschiedliches gefaßt wird. Deshalb ist eine kurze Klärung notwendig. Sie geschieht hier nicht historisch, da die Geschichte der Teleologie von Aristoteles über Leibniz und Kant zur Handhabbarkeit des Begriffs wenig beiträgt.2 Dazu basieren die unterschiedlichen Konzeptionen auf zu vielen Voraussetzungen, die sich zum großen Teil heute nicht mehr halten lassen. Vielmehr ist es nötig zu bestimmen, was es bedeutet, wenn man etwas von seinem Ziel her erklärt oder beschreibt und auf welche Gegenstandsbereiche eine solche Erklärung angewendet werden darf. Wir gehen also davon aus, daß eine teleologische Beschreibung oder Erklärung nicht falsch sein muß, sondern auf eine gewisse Klasse von Dingen angewendet werden darf und folglich Erklärungswert hat. Ohne vollständigen Aufschluß über alle teleologischen Problemfälle geben zu können, kommen wir so zu einer praktikablen Einteilung der Teleologie. ______________________
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Vgl. Engels (1982): Teleologie, S. 15. Eine im wesentlichen historische Aufarbeitung des Teleologie-Problems liefern Robert Spaemann, Reinhard Löw: Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens. München 1985.
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Begriffliche Klärungen
Hierzu unterscheiden wir nach Andrew Woodfield, der in der Tradition der angelsächsischen analytischen Philosophie steht, zwischen intrinsischer und extrinsischer Teleologie oder Zweckmäßigkeit.3 Intrinsische Zweckmäßigkeit meint das zielintendierte Verhalten von etwas. Extrinsische Zweckmäßigkeit bedeutet, daß etwas eine Funktion für etwas anderes erfüllt und so erklärt werden kann. Die teleologische Erklärung von etwas kann also zweifach konstruiert werden: Als Frage nach dem Ziel, nach dem etwas strebt, oder als Frage nach der Funktion, die etwas für etwas anderes erfüllt. So kann man von einem Mann sagen, daß er rennt, um einen Zug zu erreichen oder von einem Messer, daß es eine Klinge hat, um zu schneiden.4 Im ersten Fall handelt es sich um ein Ziel, im zweiten um eine Funktion. 1.2 Intrinsische Teleologie: Ziele Intrinsische Teleologie, also das Streben nach Zielen, führt man auf das Bewußtsein des Strebenden zurück. Das Ziel ist geradezu dadurch definiert, daß es ein mentaler Zustand ist. Deshalb sprechen wir genauer von zielintendiertem Verhalten. Unter die Kategorie ‚zielintendiertes Verhalten‘ zählt man in aller Regel heute nur menschliche Handlungen und das Verhalten höherer Tiere.5 Eine Handlung wird dann nicht ursächlich durch das erreichte reale Ziel erklärt.6 Man führt dieses Ziel vielmehr auf einen mentalen Zustand zurück, der dann selbst als Ursache der Handlung zugrunde gelegt wird. Die Auflösung des Problems liegt also in der Interpretation der Teleologie als Sonderfall von Kausalität: Das Ziel als mentaler Inhalt wird zur Ursache (zum Motiv) der Handlung; jetzt geht es auch zeitlich der ausgeführten Handlung voran. Genau gesprochen ist das Ziel also ein mentaler Zustand, der einer Handlung vorausgeht. Ein ______________________
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Vgl. Andrew Woodfield: Teleology. Cambridge 1976, S. 27f. Vgl. ebenfalls: Teleology. In: Routledge Encyclopedia of Philosophy. 10 Bde. Hg. von Edward Craig. London, New York 1998. Hier Bd. 9., S. 295–297 (Andrew Woodfield). Die Begriffe ‚Teleologie‘, ‚Zweckmäßigkeit‘ und ‚Finalität‘ werden im folgenden gleichbedeutend verwendet. Wie schon erwähnt, werden teleologische Sätze mit Um-zu- oder Um-willen-Operatoren gebildet. Vgl. Woodfield (1998): Teleology, S. 296. Dies ist vor allem aus dem Grund nicht möglich, weil es dann eine Kausalität geben müßte, die der Zeit entgegenwirkt, so daß ein Ereignis zum Zeitpunkt t1 zur Erklärung eines Ereignisses zum Zeitpunkt t0 herangezogen werden könnte. Eine solche Verursachung entgegen der Zeit ist aber in einer kausal funktionierenden Welt nicht möglich. Vgl. Woodfield: „Some would say that backward causation ist logically impossible, while others would say that it could happen, though as a matter of fact it never does.“ [Woodfield (1976): Teleology, S. 34.]
Realteleologie
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mentaler Zustand kann aber niemals ein reales Objekt werden. Das, was erreicht wird, entspricht diesem vorher vorgestellten Zustand, ist es aber nicht selbst.7 Das Vorwegnehmen des Ziels im Bewußtsein macht deutlich, daß ein bestimmter mentaler Zustand des zielintendierenden Objektes eine unerläßliche Voraussetzung für intrinsische Teleologie ist.8 Zugleich ist es nun möglich, eine teleologische Beschreibung als Kausalprozeß zu analysieren, bei dem das Motiv (der mentale Zustand) die Ursache des zielintendierenden Verhaltens ist. Andrew Woodfield stellt deshalb fest: „TDs [Teleological Descriptions; P.A.] which rely on their subject’s having an attitude are straight-forward causal explanations in terms of mental antecedents.“9 Wolfgang Stegmüller kommt in seiner Analyse der Teleologie zu dem gleichen Ergebnis und findet dafür den prägnanten Begriff der „Motivkausalität“.10 Besonders vor dem Hintergrund, daß Teleologie und Kausalität häufig als sich gegenseitig ausschließende Ursachenarten behandelt werden, ist es wichtig zu betonen, daß sich Teleologie und Kausalität nicht ausschließen, ja daß Kausalität vielmehr der intrinsischen Teleologie zugrunde liegt: „jeder Fall von echter Teleologie ist zugleich ein Fall von echter Kausalität.“11 Ebensowenig geht Nicolai Hartmann in seinem Teleologie-Entwurf von einer Entgegensetzung von Kausalität und Teleologie aus. So unterscheidet er drei Akte im Prozeß des zielintendierten Verhaltens: Zielsetzung, Selektion der Mittel und Umsetzung als kausaler Realprozeß.12 Nach Woodfield läßt sich die teleologische Beschreibung des zielintendierenden Verhaltens („purposive behavior“) „S tut B, um G zu erreichen“ wie folgt analysieren: „S tut B, weil S annimmt, daß B zu G beiträgt und annimmt, daß G gut ist.“ Den oben angeführten Satz, daß ein Mann rennt, um einen Zug zu erreichen, können wir nun wie folgt analysieren: Ein Mann rennt, weil er annimmt, daß Rennen dazu beiträgt, den Zug zu erreichen und annimmt, daß es gut wäre, ihn zu erreichen. Diese Erklärung gilt auch, wenn der rennende Mann den Zug verpassen sollte. In diesem Fall wäre die An______________________
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Vgl. Woodfield (1976): Teleology, S. 211f. Vgl. auch Nicolai Hartmann: Teleologisches Denken. Berlin 1951, S. 67. Woodfield (1976): Teleology, S. 211. Obwohl eine teleologische Beschreibung auf Kausalität basiert, ist sie nach Woodfield nicht auf sie zu reduzieren, da es sich bei der teleologischen Beschreibung um eine spezielle mentale Ursache handelt [vgl. Woodfield (1976): Teleology, S. 106]. Wolfgang Stegmüller: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung. Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. 1. Berlin, Heidelberg, New York 1969, S. 531. Stegmüller (1969): Erklärung, S. 521. Vgl. Hartmann (1951): Teleologisches Denken, S. 69f.
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Begriffliche Klärungen
nahme des Mannes, daß der Zug noch solange hält, bis er ihn erreicht hat, falsch gewesen. Hieraus wird ersichtlich, daß zielintendiertes Verhalten durch einen intentionalen Kausalsatz und eine wertende Annahme erklärt wird. S muß der Überzeugung sein, daß seine Aktivität B zu G beiträgt und zugleich glauben, daß G in irgendeiner Weise wünschenswert, passend oder vorteilhaft ist. Nach Woodfield ist auch die Funktionalität von künstlich hergestellten Gegenständen (Artefakten) nur in bezug auf Ziele zu erklären. Die einfache Frage, wozu ein Messer eine Klinge hat, erklärt Woodfield folgendermaßen: Ein Messer hat eine Klinge, weil der Hersteller annimmt, daß die Klinge zum Ziel des Schneidens beiträgt und zugleich annimmt, daß Schneiden eine gute Sache ist. Wieder ist es entscheidend zu sehen, daß eine funktionale Eigenschaft des Artefakts mit Rückgriff auf die Ziele des Herstellers erklärt wird. Deshalb ist Schneiden ein wünschenswertes Ziel, natürlich nicht des Messers, das selbst keine Ziele verfolgen kann, sondern des Herstellers.13 So wird also letztlich die Funktionalität von Artefakten auf das zielintendierte Verhalten des Herstellers zurückgeführt. Deshalb kann dieser Fall von Funktionalität in der Kategorie ‚Intrinsische Teleologie: Ziele‘ behandelt werden. Das zielintendierte Verhalten, wie es hier vorgestellt wurde, gilt allgemein als der Kernfall echter Teleologie. Damit ist gesagt, daß bei Lebewesen, die in ihrem Bewußtsein Ziele setzen können und die Fähigkeit haben, sie zu verfolgen, eine teleologische (oder funktionale) Beschreibung ihrer Handlungen (oder Produkte) wörtlich zutrifft. Da die zugrundeliegende grammatikalische Struktur von Zielen und Funktionen sehr ähnlich ist, werden funktionale und teleologische Beschreibungen häufig gemeinsam unter dem Namen der ‚Teleologie‘ behandelt.14 Die Beschreibung von artifiziellen Funktionen unter Bezugnahme auf die Ziele des Herstellers ist für diese Arbeit zentral: Wir werden sie auf die Literatur als Artefakt anwenden und so die funktionalen Beziehungen von Elementen der erzählten Welt unter Bezugnahme auf das Ziel des Autors beschreiben. Dann sprechen wir von Basisfunktionalität des Erzählens. Am Horizont dieser Untersuchung und zugleich außerhalb ihres Interesses liegt die Neubestimmung der intrinsischen Teleologie als objektive Systemeigenschaft im 20. Jahrhundert.15 Unbelebte Systeme mit Rückkopplungs-Effekt, wie im einfachen Fall eine Heizung mit Thermostat______________________
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Woodfield (1976): Teleology, S. 210f. Vgl. Woodfield (1976): Teleology, S. 206. Vgl. auch Engels (1982): Teleologie, S. 14. Vgl. Woodfield (1976): Teleology, S. 183–199.
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Regler, zeigen ein solches „zielstrebendes“16 Verhalten. Vor allem aber wird die Entstehung der organischen Welt durch Variation und Selektion, wie sie Darwin vorschlug, erst durch den Systemgedanken voll verständlich. Ohne die positive Rückkopplung derjenigen Merkmale, die fortpflanzungsförderlich sind, ist die graduelle Akkumulation von Merkmalen und mithin die Evolution nicht zu erklären. Durch die Neubestimmung der ‚Zielstrebigkeit‘ seitens der Kybernetik wurde sie zu einem formalen Merkmal von Systemen, ohne daß Intentionalität zur Erklärung benötigt wurde.17 Wie Eve-Marie Engels feststellt, ändert sich damit der Begriff des Zieles grundlegend, weil es nicht mehr als mental antizipiertes gedacht wird.18 Woodfield zählt unbelebte Systeme mit Rückkopplungs-Effekt trotzdem unter die Kategorie der ‚zielintendierten‘ Gerichtetheit, die eigentlich mentale Zustände impliziert. Hier sei der mentale Aspekt der teleologischen Beschreibung nur metaphorisch zu verstehen.19
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Der Begriff ‚Zielstrebigkeit‘ stammt von dem Entwicklungsbiologen Karl Ernst von Baer (1792–1876), der ihn spätestens 1873 in die Teleologie-Diskussion einführte, um auf die vielfältigen zielorientierten Vorgänge in der Natur hinzuweisen, die offensichtlich ohne Bewußtsein ablaufen. Allerdings akzeptierte er die darwinistische Erklärung der Teleologie nicht, sondern nahm auch im Fall der ‚Zielstrebigkeit‘ eines Organismus an, daß zumindest Materie und Kräfte von einem göttlichen Geist aufeinander abgestimmt werden mußten, um den zweckmäßigen Organismus entstehen zu lassen. Von Baer verstand also seinen Begriff gerade nicht im Sinne der erst später konzipierten Kybernetik, sondern verwendete ihn, um in einem Wissenschaftsbetrieb, der inzwischen vorwiegend „teleophob“ war, weiter von Zielen bewußtseinsloser Dinge sprechen zu können. Von Baers Begriff der ‚Zielstrebigkeit‘ enthält also einen Restbestand an Metaphysik. Damit nähert sich dieser Begriff Neologismen aus dem 20. Jahrhundert wie ‚Teleonomie‘ (Pittendrigh), die ebenfalls teleologisches Gedankengut transportieren. Die Unterscheidung von zielgerichtetem und zielintendiertem Verhalten geht auf Richard Braithwaite zurück. „Mit dem letzterem haben wir es zu tun, wenn wir eine Erklärung für bewußtes menschliches Handeln zu geben versuchen.“ [Stegmüller (1969): Erklärung, S. 520f.] Dann spricht Stegmüller von „echter materialer Teleologie“ (ebd. S. 521). Die Vorgeschichte der Kybernetik, von der Patentierung des ersten Reglers über die Gedanken zur Steuerung von Maschinen und Organismen im 19. Jahrhundert bis zu Norbert Wiener, hat Volker Henn dargestellt. Vgl. Volker Henn: Materialien zur Vorgeschichte der Kybernetik. In: Studium Generale 22 (1969); S. 164–190. Engels vertritt in ihrer Arbeit die These, daß die Rehabilitierung der Teleologie auf kybernetischem Fundament scheitern muß, weil die Zielbegriffe unterschiedlich sind Vgl. Engels (1982): Teleologie, S. 51. Vgl. Woodfield (1976): Teleology, S. 207.
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Begriffliche Klärungen
1.3 Extrinsische Teleologie: Funktionen Woodfield besteht darauf, daß auch die teleologische Beschreibung natürlicher Dinge und Vorgänge einen Erklärungswert hat. Organe oder innere Prozesse von Lebewesen werden in der Alltagssprache ja häufig mit Um-Zu- oder Um-Willen-Operatoren erklärt. Woodfield vermutet, daß teleologische Beschreibungen natürlicher Dinge dadurch zustande kamen, daß teleologische Beschreibungen von Artefakten auf die Natur übertragen wurden. Gleichwohl sei die Beschreibung natürlicher Funktionalität inzwischen logisch unabhängig von ihrem Herkunftsbereich geworden. Sie ist also nicht anthropomorph, sondern hat einen echten Erklärungswert. Das Charakteristikum teleologischer Beschreibungen natürlicher (=biologischer) Funktionen ist, daß sie sich nicht auf Annahmen oder wertende Überzeugungen eines Bewußtseins zurückführen lassen. Der Satz: ‚Das Herz schlägt, um das Blut durch den Körper zu pumpen‘ kann (ohne theologische Zusatzannahmen wie einen Schöpfergott) wie folgt analysiert werden: Das Herz schlägt, weil das Schlagen normalerweise zum Pumpen des Blutes beiträgt und das Pumpen des Blutes eine gute Sache (für das Lebewesen) ist. Diese Beschreibung gilt normalerweise für Typen von Organen, also z.B. das Organ Herz. Der positive Effekt für das Lebewesen ist entweder ein Beitrag zum Überleben oder zur Fortpflanzung des Individuums. In diesen Fällen kann die teleologische Beschreibung objektiv etwas erklären, obwohl die Beschreibung ein wertendes Element erhält (‚gute Sache für…‘).20 Woodfield rechnet auch diejenigen Fälle von Verhalten, bei denen man keinen Grund hat, sie auf mentale Zustände (Überzeugungen, Annahmen) zurückzuführen, zu den Funktionen. Funktionales Verhalten ist häufig angeboren und kann ohne Rekurs auf eine Intention beschrieben werden. Da das Verhalten in bestimmten Fällen immer wiederkehrt, ist das Explanandum ein anderes als bei zielintendiertem Verhalten, das in der Regel auf einzelne Handlungen angewendet wird. Fragt man, wozu sich eine Henne üblicherweise auf das Ei setzt, so kann man antworten: Die Henne setzt sich üblicherweise auf das Ei, um zu brüten. Die Antwort kann wie folgt analysiert werden: Die Henne setzt sich üblicherweise auf das Ei, weil das Daraufsetzen normalerweise zum Brüten beiträgt und ______________________
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Nach Woodfield ist also auch bei der Erklärung natürlicher Funktionalität stets ein WertBegriff („evaluative element“) im Spiel. Dieser könne zwar rückwärts bis zur Arterhaltung verschoben werden, doch könne man Zweifel, ob Arterhaltung ein Gut sei, nicht vollständig widerlegen. Woodfield schlägt deshalb vor, das Überleben der Art einfach als Gut zu definieren. Auch dies werde aber Kritiker nicht überzeugen. Vgl. Woodfield (1976): Teleology, S. 130ff.
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Brüten eine gute Sache (für das Überleben der Art) ist. Die Erklärung ist also dieselbe wie für eine biologische Funktion. Der Unterschied ist nur, daß nun dem ganzen Organismus eine Funktion zugeschrieben wird und nicht nur einem Teil des Organismus.21 Es ist leicht zu sehen, daß die Analyse eines teleologischen Satzes, der sich auf Organe oder nichtmenschliche Organismen bezieht, anders erfolgt als im Fall der intrinsischen Teleologie. Kann man sich im letzteren Fall darauf berufen, daß das Beitragen des Vorgangs / des Artefakts zum Ziel und das Gutsein dieses Ziels Bewußtseinsinhalte sind, so ist dies bei der Analyse der natürlichen Funktionen und des funktionalen Verhaltens nicht möglich. Eine weitere Erklärung dieser Erscheinungen muß auf die Theorie der natürlichen Auslese von Charles Darwin zurückgreifen. Diese Theorie kann nach Woodfield ohne jede Verwendung des Begriffs ‚Funktion‘ oder von teleologischen Ausdrücken formuliert werden. Es sei allerdings zu bedenken, daß Bewußtseinsinhalte ebenfalls Produkte des Selektionsdrucks sein könnten. In diesem Fall könnte man scheinbar zielintendiertes Verhalten auch als funktionales Verhalten beschreiben, also ohne Bezug auf das Bewußtsein des Objekts.22 Im folgenden werden wir für den Bereich der biologischen Funktionen auch den Begriff der natürlichen oder mechanischen Zweckmäßigkeit oder Funktionalität verwenden. Damit können wir festhalten, daß es teleologische Beschreibungen mit oder ohne Bezugnahme auf mentale Inhalte gibt. Richtig angewendet, beziehen sich teleologische Beschreibungen mit Bezugnahme auf Bewußtseinszustände auf zielintendiertes Verhalten oder artifizielle Produkte, während der andere Fall für die natürliche Zweckmäßigkeit gilt, also für biologische Funktionen und funktionales Verhalten.
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Vgl. Woodfield (1976): Teleology, S. 209. Vgl. Woodfield (1976): Teleology, S. 215. Ein beobachtetes Verhalten kann also zielintendiert oder funktional erklärt werden, je nachdem, ob man eine bewußte Zielsetzung oder ein instinktives Verhalten annimmt. Beim zielintendierten Verhalten ist das Ziel ein mentaler Zustand. Dieser selbst wird nicht erreicht, sondern nur eine Handlung oder eine Situation, die diesem mentalen Zustand entspricht. Das Ziel wird vom Handelnden als gut oder wünschenswert empfunden. Beim funktionalen Verhalten ist die Zweckmäßigkeit des Verhaltens objektiv gut, d.h. überlebensfördernd oder fortpflanzungsrelevant. Das ‚Ziel‘ wird real erreicht.
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Begriffliche Klärungen
1.4 Der Begriff ‚Realteleologie‘ Die Analyse der teleologischen Erklärung und ihre Differenzierung nach verschiedenen Kategorien und Zielbegriffen ist im wesentlichen eine Leistung der analytisch orientierten Philosophie des 20. Jahrhunderts. Mit ihrer Hilfe können wir nun den Begriff der ‚Realteleologie‘ einführen. Realteleologie ist falsch angewendete Teleologie in dem Sinn, daß sie Realität, also Objekte, Abstrakta oder Prozesse unter Bezug auf wie auch immer geartete mentale Zustände einer schöpferischen Kraft beschreibt, obwohl diese nach heutiger Auffassung über keine Intentionen (mentale Prozesse wie Annahmen, Wünsche) verfügen und nicht als Artefakte betrachtet werden dürfen. Realteleologie ist also im dargelegten analytischen Sinn kein echter Fall von Teleologie, sondern die Übertragung der intrinsischen Teleologie auf Bereiche außerhalb des menschlichen Zweckhandelns. Beispielsweise wurden Lebewesen bis weit ins 19. Jahrhundert so beschrieben, als ob sie hergestellt worden seien. Der Hersteller war in diesem Fall der omnipotente Schöpfergott. Die Frage, warum der Mensch Augen habe, wurde so beantwortet: Der Mensch hat Augen, um zu sehen. Damit meinte man dann: Der Mensch hat Augen, weil der Schöpfer annimmt, daß Augen zum Ziel des Sehens beitragen und Sehen für den Menschen eine gute Sache ist. Damit wurde die Erklärung der Funktionalität von Organen auf das zielintendierte Verhalten Gottes, die Funktionalität der Natur auf die intrinsische Teleologie (das Zielhandeln) des Schöpfergottes zurückgeführt: Ein Fall von Realteleologie. Damit meint der Begriff ‚Realteleologie‘ dasselbe wie ‚Teleologie‘ im herkömmlichen Sprachgebrauch. Er gestattet aber, weiterhin auch von ‚echter‘ Teleologie zu sprechen, die Erklärungswert beanspruchen kann. 1.5 Die Orientierungsleistung der Realteleologie Realteleologische Vorstellungen von der Welt sind sehr alt und gehören vielleicht zum Grundbestand der menschlichen Weltwahrnehmung und Weltdeutung. Zwei Wurzeln realteleologischer Vorstellungen lassen sich nach Ernst Oldemeyer rekonstruieren, die schon seit Platon miteinander verwachsen sind.23 Die eine Wurzel scheint vom „Urphänomen des organischen Lebens“24 auszugehen. Angesichts der spezifischen Selbstorganisation des ______________________
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Vgl. hierzu Ernst Oldemeyer: Die beiden Wurzeln des teleologischen Denkens. In: Jürgen-Eckardt Pleines (Hg.): Teleologie. Ein philosophisches Problem in Geschichte und Gegenwart. Würzburg 1994, S. 132–146. Zu Platons Timaios bes. S. 137. Oldemeyer (1994): Die beiden Wurzeln des teleologischen Denkens, S. 134.
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Lebens und seiner Funktionalität wurden dann umfassende Weltdeutungsmodelle entworfen. Ernst Topitsch nannte diese Art von Weltdeutungsmodellen „biomorph“, man kann aber auch mit Max Scheler von „organologischen“25 Denkweisen sprechen. Die zweite Wurzel realteleologischer Denkweisen läßt sich im zielintendierenden Handeln des Menschen ausmachen. Der Mensch macht Pläne, will Ziele erreichen, wählt dazu entsprechende Mittel oder verfertigt Werkzeuge, um diese Ziele zu erreichen. Überträgt man diese Begrifflichkeit auf die Natur und sieht sie als etwas Hergestelltes an, so entstehen „technomorphe“ (Ernst Topitsch) Weltdeutungsmodelle. Biomorphe und technomorphe Weltbilder basieren beide auf Realteleologie, sie stellen nur jeweils verschiedene Aspekte in den Vordergrund: Einmal den lebenden Organismus, den Kant später durch die ‚innere Zweckmäßigkeit‘, die wechselseitige Abhängigkeit von Teil und Ganzem, bestimmen sollte. Zum anderen wird die organische und anorganische Natur betrachtet, als ob sie wie ein Artefakt durch Kunstfertigkeit (gr. techne; lat. ars) hergestellt sei. Verschiedene Dinge werden dann so angesehen, also ob sie in sinnvollen Beziehungen zueinander stehen und füreinander Funktionen erfüllen: Der Regen ist dazu da, um den Boden zu bewässern, die Aushöhlungen in der Erdoberfläche sind dazu da, um die Ozeane aufzunehmen, die Pflanzen, um die Tiere zu ernähren, die Tiere wiederum dienen den Menschen als Nahrung usw. Kant prägte für diese Art der Zweckbeziehungen im Unterschied zu der inneren Zweckmäßigkeit des Organismus den Begriff der „äußeren Zweckmäßigkeit“.26 Aber schon indem man die physikotheologischen Argumente des 18. Jahrhunderts nachvollzieht, wird man finden, daß beide Wurzeln verwachsen sind: Dort wird ja gerade das Lebendige, seine perfekte Funktionalität, auf das zielintendierte Produzieren eines Schöpfers zurückgeführt. Diese Erklärung war wohl so erfolgreich, weil sie die damals unerklärbare Funktionalität der Lebewesen durch eine ganz vertraute Analogie erklärte, nämlich durch das eigene Verfertigen eines zweckmäßigen Produktes. Teleologische Wirklichkeitsauffassung ist allerdings mehr als nur ein Versuch, die Welt zu beschreiben oder zu erklären. Sie hat vielmehr grundlegende Orientierungsfunktion für den Menschen. Topitsch spricht deshalb von bio- oder technomorphen Weltbildern als „plurifunktionale[n] Führungssysteme[n]“, in denen „Informationsvermittlung, Verhaltenssteuerung und ______________________
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Max Scheler: Probleme einer Soziologie des Wissens. In: Max Scheler: Gesammelte Werke. Bd. 6: Die Wissensformen und die Gesellschaft. Bern 21960 (ED 1924), S. 15–190. Hier S. 35. Auch Scheler verwendet bereits den Terminus „biomorph“. Vgl. ebd. S. 59. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main 31997 (ED 1790), § 63.
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Begriffliche Klärungen
emotionale Reaktion miteinander verbunden sind.“27 Im Gegensatz zu Tieren seien diese Orientierungsleistungen beim Menschen weitgehend kulturell geregelt, wobei die verschiedenen Orientierungsfunktionen in der Regel ungeschieden in den bio- oder technomorphen Weltdeutungsmodellen vorhanden seien. Die Koppelung von Welterkenntnis, normativer Bewertung und emotionaler Reaktion sei eine Form der „Weltverklärung“, die „Geborgenheit“ und ein „hohes Maß an emotionaler Befriedigung“28 gewährleiste. Die Orientierungsfunktion in technomorphen Wirklichkeitsauffassungen resultiert daraus, daß die Welt und ihre Erscheinungen notwendig wird, wenn man sie realteleologisch auffaßt. Irgend jemand oder etwas muß die Dinge so gewollt haben, wie sie sind. Eine unerklärbare Erscheinung kann man so den Zwecken einer numinosen Macht zurechnen, deren Ziele man eben mit menschlicher Auffassungsgabe nicht, oder noch nicht, ergründen kann. Selbst widrige Umstände können dann als Strafhandlungen eines Gottes interpretiert werden und bekommen ‚Sinn‘. Die Widrigkeiten werden damit aber auch zugänglich für Versuche, sie durch Beschwörungen, Gebete oder Opfergaben zu beeinflussen, was zumindest nicht schadet. Realteleologische Vorstellungen laufen also darauf hinaus, daß die nichtmenschliche Natur mit dem Menschen in einer Beziehung steht, indem die Dinge der Welt zu Mitteln für den Endzweck, den Menschen, werden. So bekommen sie Bedeutung für ihn und beeinflussen sein Handeln. Doch wir können noch eine Stufe tiefer ansetzen. Für den homo sapiens in seiner Entwicklung war es sicher von Überlebens- und Fortpflanzungsvorteil, bei allen Erscheinungen zu fragen, wozu sie gut sind oder wozu sie nützlich werden könnten.29 Nach Funktionen und ihrem Nutzen zu fragen, ist also vermutlich ein flexibles Programm des menschlichen Intellekts, das auf alle wahrnehmbare Wirklichkeit gerichtet ist. Nicht die Wirklichkeit ‚an sich‘ ist funktional für den Menschen (außer in dem Sinn, daß er an sie adaptiert ist), sondern er ist es, der nach Funktionen sucht und zufrieden ist, wenn er sie findet. Diese evolutionsbiologische Auffassung ist grundlegend von der im 18. und 19. Jahrhundert populären Denkweise verschieden, die die Funktionalität nicht als Such-Funktion des Menschen begreift, sondern der anorganischen und organischen Natur ‚an sich‘ Funktionen für den Menschen zuschreibt.30 ______________________
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Topitsch (1979): Erkenntnis und Illusion, S. 9. Topitsch (1979): Erkenntnis und Illusion, S. 10. Dieser Gedanke bei Eibl (2000): Darwin, Haeckel, Nietzsche, S. 89. Kants Auffassung der Teleologie ist hier die große Ausnahme, aber sie wurde wohl eben deshalb auch nie wirklich populär.
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Läßt sich der Welt keine realteleologische Notwendigkeit zuschreiben, dann wird sie zufällig, kontingent. Das bedeutet, daß die natürlichen Dinge in keiner Beziehung zu den Handlungen des Menschen stehen und mit ihnen daher „handlungssinnunabhängig interferieren.“31 Die so zustande gekommenen Begebenheiten erfahren Menschen dann als zufällig, auch wenn es möglich ist, für diese Ereignisse eigene kausale Ursachen anzugeben. Aber bloße ungerichtete Kausalität läßt sich immer weiter zurückführen und beruht so zuletzt auf einem „Unerforschlichen, […] einer qualitas occulta“.32 Nur wenn man die Antezendenzbedingungen und Gesetze hinreichend kennt, um einen Vorgang zu erklären, dann entsteht trotz der prinzipiellen Unabschließbarkeit des Fragens in einem pragmatischen Kontext „Sicherheit“. Während Sicherheit aber aufgrund der Komplexität der Welt nur sehr schwer zu erlangen ist, beendet eine nachvollziehbare teleologische Erklärung oder Beschreibung eines Vorgangs das Fragen sofort. Ist das Ziel eines Vorgangs erkannt und kann es glaubhaft einer Intention zugeschrieben werden, dann stellt sich „Vertrautheit“ ein.33 Wenn wir in dieser Arbeit von Zufall oder Kontingenz sprechen, ist damit also keine ontologische Zufälligkeit gemeint, so als ob etwas keine Ursache hätte, sondern die Kreuzung zweier kausaler (oder motivkausaler) Vorgänge, die nicht aufeinander abgestimmt wurden.34 Begebenheiten, die als zufällig erfahren werden, hängen mit den Ursachen für die Handlung, also mit ihrem Handlungssinn, nicht zusammen und sind deshalb in bezug darauf zufällig. Die „Regelpraxis der Kontingenzbewältigung“ sei deshalb die „Transformation des Zufalls in Handlungssinn“.35 Realteleologie in diesem hier entwickelten weltanschaulichen Sinn meint also selten nur die Möglichkeit, ein einzelnes Lebewesen als etwas intentional Hergestelltes zu betrachten, sondern häufiger die umfassende Deutung der nichtmenschlichen oder gar unorganischen Natur nach den Begriffen ‚Ziel‘ und ‚Funktion‘ oder nach der Analogie des Organismus. ______________________
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Hermann Lübbe: Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung. In: Gerhart von Graevenitz, Odo Marquard (Hg.): Kontingenz. München 1998, S. 35–47. Hier S. 35. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. 2, 1. Teilband. Zürich 1977 (ED 1819), S. 391. Die Entgegensetzung von „Sicherheit“ und „Vertrautheit“ als emotionale Reaktionen auf kausale und teleologische Erklärungen ist von Spaemann und Löw übernommen. Vgl. Spaemann, Löw (1981): Die Frage Wozu?, S. 13–25. Diese Definition des Zufalls geht auf Aristoteles zurück. Vgl. Franz Joseph Wetz: Die Begriffe „Zufall“ und „Kontingenz“. In: Gerhart von Graevenitz, Odo Marquard (Hg.): Kontingenz. München 1998, S. 27–34. Hier S. 29. Vgl. auch den Artikel Zufall. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. 12 Bde. Hg. von Joachim Ritter. Darmstadt 1971–2004. Hier Bd. 12, Sp. 1408–1424 (Margarita Kranz, Sven K. Knebel u.a.). Lübbe (1998): Kontingenzerfahrung, S. 35.
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Begriffliche Klärungen
Mit inbegriffen ist auch umgekehrt das „Verstehen auch menschlichen Zielhandelns von einem universalen Zweck- oder Sinngeschehen her.“36 Wohl wegen ihrer umfassenden Orientierungsfunktion, der Leistung der Kontingenzminderung und der daraus resultierenden Vertrautheit mit der Welt ist Realteleologie weitgehend aufklärungsresistent. Dies wird schon an der Tatsache ihrer mehrhundertjährigen Kritik deutlich. Alltagssprachliche Wendung wie „Wer weiß, wozu es gut ist?“ bis hin zu modernen Vorstellungen eines intelligent design weisen in dieselbe Richtung. Nicolai Hartmann hat deshalb den Kantschen Begriff des „transzendentalen Scheins“ auf die Realteleologie angewandt. Selbst wenn der Schein durchschaut ist, das heißt die fälschliche Anwendung einer realteleologischen Erklärung erwiesen ist, bleibt er bestehen: Man widerlegt ihn, und er bleibt bestehen, in der Art, wie Sinnestäuschungen bestehen bleiben, auch wenn man sie durchschaut. Nur daß es sich hier nicht um die Sinne handelt, sondern um sehr allgemeine Denk- und Vorstellungsformen, also recht eigentlich um Kategorien unseres Welt- und Gegenstandsbewußtseins. Man kann also gegen das teleologische Denken nicht einfach so vorgehen wie gegen einen Irrtum, den man eines Tages einsieht und abtut. Dafür sitzt er zu tief in unserer Sehweise fest.37
1.6 Kritik an der Realteleologie Allgemein läßt sich in der Geschichte der philosophischen Reflexion eine Einschränkung des Geltungsbereichs teleologischer Erklärungen feststellen:38 Aristoteles wandte seine Erklärungen nach Maßgabe der causa finalis auf alle Bereiche der Wirklichkeit an. Die causa finalis erklärt ein Objekt von seinem Endzustand her, der stets als der beste Zustand eines Dinges verstanden wird.39 Die Erklärung durch die Endursache ist bei Aristoteles ein universelles Prinzip, das ganz allgemein auf das Hervorgehen der gestalteten Wirklichkeit aus der ungeformten Substanz (ousia) angewendet wird. Die teleologische Kraft, die diese Bewegung von der Möglichkeit der Substanz zur Wirklichkeit des Seienden antreibt, ist die Entelechie, die den Dingen immanent ist. Das gilt für die belebte und unbelebte Natur wie auch für menschliche Artefakte.40 ______________________
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Teleologie, teleologisch. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. 12 Bde. Hg. von Joachim Ritter. Darmstadt 1971–2004. Hier Bd. 10, Sp. 970 (Hubertus Busche). Hartmann (1951): Teleologisches Denken, S. 10. Diese These vertritt z.B. Eve-Marie Engels. Vgl. Engels (1982): Teleologie, S. 54. Vgl. Spaemann, Löw (1981): Die Frage Wozu?, S. 60ff. Vgl. Woodfield (1976): Teleology, S. 4ff.
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Die Kritik der Renaissance an der aristotelischen Teleologie richtete sich besonders gegen die teleologische Erklärung unbelebter Dinge.41 Der Grund für die Einschränkung des Geltungsbereichs von zielintendierter Teleologie ist die Teleologie-Kritik von den Vertretern der kausal argumentierenden Naturwissenschaften. Francis Bacon (1561–1626) und David Hume (1711–1776) stehen für eine radikale Ablehnung der teleologischen Erklärungen. Bacons Verdikt über die Teleologie von 1623 ist berühmt geworden: „nam causarum finalium inquisitio sterilis est, et, tanquam virgo Deo consecrata, nihil parit“.42 Vereinfacht gesagt, geraten teleologische Naturerklärungen durch die Erfolge der Naturwissenschaften unter verstärkten Plausibilitätsdruck. Die am Experiment orientierten Naturwissenschaften versuchen durch Angabe der kausalen Wirkursache zu erklären, nicht in bezug auf die Funktion oder das Ziel des Objekts oder Prozesses. Durch die erfolgreiche Erklärung einer Tatsache durch die Wirkursache wird aber die Erklärung vom Ziel oder Zweck her zunächst einfach überflüssig. So wurden teleologische Erklärungen in vielen Bereichen marginalisiert. Ist beispielsweise Regen als natürlicher Prozeß erklärt, bei dem sich abgekühlter Wasserdampf gesetzmäßig zu Tröpfchen verdichtet und dann als flüssiger Niederschlag in Erscheinung tritt, dann kann man auf eine Realteleologie verzichten, die das Auftreten des Regens aus dem Ziel erklärt, dem trockenen Boden Feuchtigkeit zuzuführen. Der eigentliche Begriff „Teleologia“ wurde erstmals 1728 von Christian Wolff verwendet und als wichtigster und nützlichster Teil der Naturforschung definiert, der die Zwecke der Naturdinge erklärt: „philosophiae naturalis pars, quae fines rerum explicat, nomine adhuc destituta, etsi amplissima sit et utilissima. Dici posset Teleologia.“43
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Vgl. Woodfield (1976): Teleology, S. 7. Francis Bacon zitiert nach: Woodfield (1976): Teleology, S. 3. Übersetzung: „Die Untersuchung der Finalursachen ist unfruchtbar und gebiert nichts, wie eine Jungfrau, die sich Gott gewidmet hat.“ Christian Wolff zitiert nach: Teleologie, teleologisch. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Sp. 970 (Hubertus Busche). Übersetzung: „Der Teil der Naturphilosophie, der die Ziele der Dinge erklärt, hat bis jetzt keinen Namen, obwohl er der wichtigste und nützlichste ist. Man kann ihn Teleologie nennen.“
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Begriffliche Klärungen
2 Erzählteleologie 2.1 Lugowskis „Motivation von hinten“ Während über teleologische Auffassungen der belebten und unbelebten Natur viel geforscht wurde, sind Versuche, den Begriff der Teleologie für die Erzähltheorie fruchtbar zu machen, selten.44 Dies mag zunächst verwundern, da allgemein akzeptiert sein dürfte, daß sich beispielsweise die Entwicklung des Protagonisten im klassischen Bildungsroman als zielgerichteter, also teleologischer Prozeß beschreiben oder doch zumindest gegen dieses Schema konturieren läßt. Ein teleologischer Bildungsprozeß des Helden wird aber nicht ohne Auswirkungen auf die Komposition eines Romans bleiben; vielmehr wird er bestimmte Darstellungsweisen der erzählten Welt begünstigen und andere ausschließen. Schon von daher läge es also nahe, den Begriff der ‚Teleologie‘ auch auf das Erzählen zu beziehen. Schließlich gilt es zu berücksichtigen, daß teleologische Prozesse in der erzählten Welt nur dann glaubhaft erzählt werden können, wenn bestimmte realteleologische Vorstellungen existieren, auf die sich sowohl Autor als auch Leser stützen können. Um dieses Problemfeld wird es in diesem Kapitel gehen. Um Anschluß an die Erzähltheorie zu finden, nehmen wir Clemens Lugowskis 1932 erschienene Dissertation Die Form der Individualität im Roman zum Ausgangspunkt, die sich mit frühneuhochdeutscher Prosa, besonders mit den Romanen Jörg Wickrams, beschäftigt.45 Die eigene Terminologie dieser Arbeit soll aus Lugowskis Konzept entwickelt werden, da er seine Aufmerksamkeit auf Phänomene richtete, die auch hier zur Diskussion stehen. Lugowskis Ausgangspunkt ist ein gewisser „Totalitätscharakter“46 von Dichtung. Dieser sei dafür verantwortlich, daß sich der Leser durch einen „intuitiven Sprung“ in die erzählte Welt „versenkt“. Lugowskis Bemühungen gehen nun dahin, die spezielle Eigenart des Dichterischen, die sich im „Totalitätscharakter“ äußert, zu beschreiben. Was ist damit gemeint, wie zeigt er sich in Dichtungen und wie kommt er zustande? Üblicherweise, so Lugowski, interpretiere der Leser nach dem „intuitiven Sprung“ nur noch den Inhalt des Werks und wolle die Meinung des ______________________
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Vgl. z.B. Leitch (1986): Closure and Teleology in Dickens. Lugowskis Arbeit wurde bis Heinz Schlaffers Neuausgabe im Jahr 1976 wenig beachtet. Vgl. Lugowski (1976): Individualität. Schlaffers eigene Theorie von mythischen Sinnstrukturen, die sich aufgrund ihrer empirischen Unhaltbarkeit in die Literatur zurückgezogen haben, setzt ein spezielles Verständnis von Lugowskis Dissertation voraus. Lugowski (1976): Individualität, S. 3.
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Dichters herausfinden.47 Doch der Interpret verstehe den Dichter nicht vollständig, „wenn er die Begebenheiten und Zusammenhänge des Dramas oder Romans so interpretiert, wie auch Begebenheiten und Zusammenhänge des erfahrenen Lebens interpretiert werden können.“48 In diesem Fall versäume der Interpret, theoretisch die „besondere Seinsart des Dichterischen“49 zu erfassen, die doch gerade die Voraussetzung für das Versenken in die Dichtung gewesen sei. Was meint Lugowski mit der „Seinsart des Dichterischen“, die sich offensichtlich durch ihren „Totalitätscharakter“ von der wirklichen Realität unterscheidet? Lugowski versucht mit folgender Bestimmung Dichtung genauer durch die Differenz zur Wirklichkeit zu erfassen: „Die Welt, die sich in einer Dichtung auftut, ‚ist‘ nicht im schlichten Sinne, sondern sie ist gemacht. Damit stellt sie sich dem schlicht Seienden als etwas Künstliches gegenüber.“50 Ein dichterisches Werk ist ein Kunstwerk und damit ein artifizielles Produkt, das einen Hersteller hat. Die Wirklichkeit dagegen ist nicht im Sinne eines Hergestellten „gemacht “; sie ist ein „schlicht“ Seiendes.51 Dieser Unterschied ist allerdings so einfach und grundlegend, daß er oft theoretisch unreflektiert bleibt. Der Künstlichkeitscharakter der Dichtung hat nun formale Konsequenzen. Lugowski spricht davon, daß die Künstlichkeit eine „gemeinsamkeitbegründende Kraft“52 sei. Er vergleicht diese integrierende Kraft mit dem Mythos der attischen Tragödie und kommt so zum Begriff des ‚mythischen Analogons‘: Die künstlich „gemachte“ Welt einer Dichtung, in der sich nun ein mythisches Analogon ausprägt, ist eine Ganzheit. Es ist damit zunächst nichts anderes gemeint, als daß alles „Einzelne“, das in der Dichtung erscheinen mag, sich in einer eigentümlichen Gebundenheit an einen übergreifenden Zusammenhang, also nicht ohne weiteres als autonomes „es selbst“ findet.53 ______________________
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Lugowski (1976): Individualität, S. 4. Lugowski (1976): Individualität, S. 4. Lugowski (1976): Individualität, S. 4. Lugowski (1976): Individualität, S. 10. Wie wir noch sehen werden, ist diese Wirklichkeitsauffassung und ihre Konsequenzen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nicht selbstverständlich. Lugowski (1976): Individualität, S. 12. Der Begriff bezieht sich offensichtlich hier schon auf die erzählte Welt, d.h. die Gemeinsamkeit entsteht zwischen den Figuren, Dingen und Begebenheiten der Romanhandlung. Deshalb heißt es wenig später, dem Roman entspreche „von vornherein ein Minimum an Gemeinsamkeit“ (ebd. S. 13). Anders versteht den Begriff Dieter Lamping, der ihn auf das Verhältnis des Rezipienten zur Dichtung bezieht. Vgl. Dieter Lamping: Formaler Mythos. Probleme einer genetischen Theorie der Literatur. In: Matias Martinez (Hg.): Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Paderborn, München u.a. 1996, S. 37–47. Hier S. 38f. Lugowski (1976): Individualität, S. 13.
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Begriffliche Klärungen
In einer erzählten Welt steht alles zueinander in Beziehung, weil es eine hergestellte Welt ist, deren Elemente in diese Beziehungen gebracht wurden. Das Einzelne sei in einen „übergreifenden Zusammenhang“ eingebunden, so daß man vom Einzelnen streng genommen nicht reden dürfe: „Denn je fester ein Einzelnes in einer übergreifenden Ganzheit gebunden ist, desto weniger ist es eigentlich ein Einzelnes.“54 Das mache die „Ganzheit“ der Dichtung aus, also ihren „Totalitätscharakter“, der wiederum dafür verantwortlich ist, daß sich der Leser in die Welt versenken kann, wie es am Anfang hieß. Das mythische Analogon eines Textes wird nun dadurch herausgearbeitet, daß man die „Formbedingtheit alles Einzelnen, das in der erzählerischen Ganzheit gebunden ist“, aufweist. Das dichterische Mittel, das diese kompositorische Geschlossenheit erreicht, nennt Lugowski die „Motivation von hinten“. Dieses sei ein „technische[s] Mittel zur Schaffung einer eigenen dichterisch-künstlichen Wirklichkeit […].“55 Zur Veranschaulichung des Gemeinten grenzt Lugowski von der „Motivation von hinten“ eine „vorbereitende Motivation“ ab. Eine psychologische Motivierung sei eine „vorbereitende Motivation“, zum Beispiel die Trauer einer Romanfigur um die verstorbene Geliebte. Hier geht der Tod der Geliebten als das motivierende Ereignis der Trauer der Romanfigur (dem Motivierten) voraus. Nun, aus der Perspektive der „Motivation von hinten“, verdreht Lugowski auf zunächst befremdliche Weise die zeitliche Reihenfolge, indem er davon ausgeht, daß dem Dichter zuerst in den Sinn kam, den Protagonisten auf irgendeine Weise Schmerzen erleiden zu lassen. So könne man sagen, daß der Tod der Geliebten nur dazu da sei, um den Schmerz im Helden auszulösen: Technisch gesehen, ist der Tod der Geliebten doch um des Schmerzes willen da. Wenn die Intention eines Dichters etwa dahin geht, die Entfaltung von Reinheit und Größe eines Menschen darzustellen und er solche Entfaltung am reifsten und erschöpfendsten im Schmerz findet, so gehört der Schmerz zum Leibe der Dichtung und muß, vom Anfang der technischen Arbeit her gesehen, erst einmal irgendwie motiviert, das heißt: in einen Zusammenhang gestellt werden.56
Beschreibt man die „Motivation von hinten“, dann betrachtet man also die Gegenstände der Dichtung so, als ob sie nur um ihres Ergebnisses willen da seien. Das in der Romanhandlung zeitlich spätere, nämlich der Schmerz des Protagonisten, ist der Grund für den Dichter, die Geliebte sterben zu lassen. Sie erfüllt durch ihren Tod in der erzählten Welt einen gewissen Zweck. Hier ist der Blick auf die Erfordernisse des planenden Dichters gerichtet, der seine Dichtung organisiert, das heißt, Personen und Dinge um bestimmter Resultate oder Ziele willen in Kontakt kommen ______________________
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Lugowski (1976): Individualität, S. 13. Lugowski (1976): Individualität, S. 67. Lugowski (1976): Individualität, S. 67.
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läßt. Deshalb hebt Lugowski die Bedeutung des „Ergebnismoments“57 hervor. Die „Motivation von hinten“ sei das strukturelle Glied, das alle einzelnen Erscheinungsformen des „Ergebnismoments“ zur Einheit zusammenfasse. Ein weiteres Beispiel sei angeführt, um die Bedeutung der „Motivation von hinten“ zu veranschaulichen. Eine Besonderheit, die Lugowski an den Romanen Wickrams feststellt, sind die Hindernisse, auf die der Held in der erzählten Welt trifft. Sie seien keine ganz echten Hindernisse, sondern sie sind geradezu dazu da, überwunden zu werden. In dieser Bestimmung begrenzt sich ihr Charakter als Hindernis. Denn ein Hindernis, das seine eigene Überwindung bereits in sich trägt, ist nicht mehr ganz Hindernis. Alle Hindernisse, die nicht die Bestimmung in sich tragen, überwunden zu werden, also alle unvorhergesehenen Hindernisse, bleiben ausgeschaltet. Undenkbar wäre zum Beispiel, daß Galmy im Kampf mit dem Marschall sich den Fuß verrenkt und infolge dessen unterliegt.58
Einem Helden können demnach Hindernisse in den Weg gestellt werden, damit er seine Stärke oder Tapferkeit daran beweisen kann. Das daraus resultierende Gefühl kennen wir heute vor allem von Action-Filmen oder Western, wo es oft undenkbar erscheint, daß der Held unterliegt. Die eigentliche Ursache für die Existenz der Hindernisse liegt zeitlich nicht vor dem Auftauchen des Hindernisses. Vielmehr ist die Ursache ihres Daseins darin zu suchen, daß sich der Held an ihnen bewähren kann. Wieder zeigt sich die scheinbare Umkehrung der Zeitstruktur: Die Ursache für das Hindernis scheint zeitlich auf das Auftreten des Hindernisses zu folgen, denn die Überwindung ist ja dem Auftreten des Hindernisses in der erzählten Zeit nachgeordnet. 2.2 Kompositorische und finale Motivierung An dieser Stelle muß darauf hingewiesen werden, daß der Begriff der „Motivation von hinten“ in erzähltheoretischer Weise weiter differenziert wurde, weil Lugowski ihn mehrdeutig verwendete.59 In der hier beschriebenen Bedeutung ist die „Motivation von hinten“ ein formales Komposi______________________
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Lugowski (1976): Individualität, S. 66 u.ö. Lugowski (1976): Individualität, S. 82. Diese Differenzierung nimmt Matias Martinez vor in: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. (Diss. Göttingen 1993) Göttingen 1996. Zudem weisen Dieter Lamping und Heinrich Detering in ihren Beiträgen zum Band Formaler Mythos auf die gleiche Doppeldeutigkeit hin: Vgl. Heinrich Detering: Zum Verhältnis von „Mythos“, „mythischem Analogon“ und „Providenz“ bei Clemens Lugowski. In: Matias Martinez (Hg.): Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Paderborn, München u.a. 1996, S. 63–79. Bes. S. 65f. Ferner Lamping (1996): Formaler Mythos. Bes. S. 40f.
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Begriffliche Klärungen
tionsmerkmal von Dichtung, das sich in funktionalen Beziehungen des scheinbar Einzelnen äußert und so den speziellen „Totalitätscharakter“ der Dichtung hervorruft, der Literatur von Realität unterscheidet. Ganz in diesem Sinn hatte Boris Tomaševskij 1931 den Terminus „kompositorische Motivierung“60 eingeführt. Er wurde von Matias Martinez aufgegriffen.61 Diese Motivierungsart ist eine Ursache für den Ganzheitscharakter von Dichtung und damit ein wichtiges Moment des „mythischen Analogons“. In diesem Sinne, so äußert sich auch Dieter Lamping, wäre das mythische Analogon in der Künstlichkeit der Dichtung zu sehen – im „Gemacht-“ oder „Komponiertsein“ der dargestellten Welt (die sich dann etwa bei Erzählungen in der Finalität der Handlung und der Funktionalität der Handlungsmomente und Figuren ausdrücken würde). In diesem Sinn würde der Begriff nur ein technisches oder formales Merkmal literarischer Werke (und keineswegs nur erzählender) bezeichnen, das seinen letzten (eher trivialen) Grund darin hätte, daß sie von einem Autor planend geschaffen sind.62
In einer zweiten Bedeutung, bezieht Lugowski die „Motivation von hinten“ aber auch auf Vorgänge innerhalb der erzählten Welt. Dort kann es beispielsweise eine göttliche Vorsehung geben. Dann leitet Gott das Geschehen, das heißt, dem göttlichen Bewußtsein ist es in dieser erzählten Welt möglich, Ziele zu antizipieren und Ereignisse und Figuren so zu lenken, daß sie die ihnen vorbestimmten Zwecke erfüllen. Gott kann demnach innerhalb der erzählten Welt so souverän über die Begebenheiten verfügen wie auf einer anderen Ebene der Dichter. Existiert ein handelnder Gott oder eine ähnliche Macht in der erzählten Welt, dann spricht Martinez von ‚finaler Motivation‘63. Sie wird von Martinez von der ‚kausalen Motivation‘64 in der erzählten Welt abgegrenzt und ihr gegenübergestellt. Diese trägt bei modernen Lesern entscheidend zu einer „Realitätsillusion“65 bei, also zu dem Gefühl des Lesers, daß die erzählte ______________________
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Vgl. Boris Tomaševskij: Theorie der Literatur. Poetik. Nach dem Text der 6. Auflage (MoskauLeningrad 1931). Hg. von Klaus-Dieter Seemann. Wiesbaden 1985, S. 227–229. Ein Werk zerfalle ästhetisch, wenn die Motive ohne einen künstlerischen Grund eingeführt werden: „Deshalb muß die Einführung jedes einzelnen Motivs bzw. jedes Motivkomplexes gerechtfertigt (motiviert) sein. Das Auftauchen dieses oder jenes Motivs muß dem Leser an der jeweiligen Stelle als notwendig erscheinen. Das System der Verfahren, die die Einführung einzelner Motive und Motivkomplexe rechtfertigen, heißt Motivierung.“ [Tomaševskij (1985): Poetik, S. 227]. „Ihr [der kompositorischen Motivierung; P.A.] Prinzip ist die Ökonomie und Zweckmäßigkeit der Motive.“ (ebd.) Vgl. Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 20. Lamping (1996): Formaler Mythos, S. 40f. Vgl. Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 20. Vgl. Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 20. Rosmarie Zeller: Realismusprobleme in semiotischer Sicht. In: Richard Brinkmann (Hg.): Begriffsbestimmung des literarischen Realismus. Darmstadt 31987 (ED 1980), S. 561–587. Hier S. 582.
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Welt auch in der Wirklichkeit möglich wäre. Rosmarie Zeller nennt sie deshalb auch nach Boris Tomaševskij die „realistische Motivation“: „Die realistische Motivation ist jener Versuch der Künstler, die Regeln der Kunst als Regeln der Realität auszugeben.“66 Ein Beispiel einer kausalen Motivierung innerhalb der erzählten Welt wäre der Tod der Geliebten als Ursache für den Schmerz: Weil die Geliebte gestorben ist, trauert der Protagonist. Das gleiche Ereignis ist aber zugleich auch kompositorisch motiviert. In dieser Betrachtungsweise, die eine „ganz andere Dimension narrativer Texte“67 betrifft, stirbt die Geliebte, um den Schmerz im Helden zu motivieren. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Martinez auf der Grundlage der Dissertation von Lugowski drei verschiedene Arten der Motivierung unterscheidet: Finale und kausale Motivierung sind Elemente in der erzählten Welt. Die kompositorische Motivierung dagegen betrifft den besonderen Charakter von Dichtung als Artefakt. Während die finale Motivation in der erzählten Welt fehlen kann, nämlich wenn es keine organisierende göttliche Instanz gibt, ist die kompositorische Motivierung in jeder artifiziellen Dichtung vorhanden. 2.3 Basisfunktionalität des Erzählens und Erzählteleologie Der Begriff der ‚kompositorischen Motivierung‘ wird in der vorliegenden Arbeit durch den der ‚Basisfunktionalität des Erzählens‘ ersetzt. Im folgenden wird gezeigt, daß die Basisfunktionalität des Erzählens auf Teleologie, genauer: auf der intrinsischen Teleologie des Autors beruht. In der Basisfunktionalität des Erzählens geht es also um Ziele, die sich in den Elementen eines Erzähltextes als artifizielle Funktionalität niederschlagen, da letztere selbst keine Ziele verfolgen können. Diese Elemente gehören dem Zeichensystem der Sprache an und verweisen auf Dinge, die eine erzählte Welt konstituieren. 2.3.1 Basisfunktionalität Um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, wenden wir uns den Beobachtungen Lugowskis zu, daß Hindernisse in einem Roman „geradezu dazu da [seien], überwunden zu werden“ oder seiner Feststellung, daß der Tod der Geliebten dazu da sei, um den Schmerz beim Protagonisten auszulö______________________
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Zeller (1987): Realismusprobleme, S. 576. Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 32002, S. 114.
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sen. Lugowskis Sätze antworten auf die Frage, warum etwas in der erzählten Welt vorhanden ist, mit Um-zu-, Damit- oder Um-willenFormulierungen. Wie wir bereits sahen, sind dies alltagssprachliche teleologische Erklärungen.68 Auch die scheinbare Umkehrung der Kausalität, die wir an Lugowskis Aussagen feststellen konnten, ist ein sicheres Indiz dafür, daß hier teleologische Erklärungen gegeben wurden:69 Der in der erzählten Zeit vorangehende Tod der Frau (to) soll scheinbar durch den späteren Schmerz des Protagonisten (t1) erklärt werden. Die Lösung des Problems liegt in der Interpretation der Teleologie als Motivkausalität. Sollen Lugowskis Beobachtungen einen gewissen Erkenntniswert haben, so müssen sie wörtlich (nicht metaphorisch) zutreffen und als teleologische Aussagen analysierbar sein. Was bedeutet es also, daß in einer erzählten Welt ein Hindernis dazu da ist, um überwunden zu werden? Nach Woodfield ist dies ein Fall von extrinsischer Teleologie, also ein Fall von Funktionalität. Hier unterscheidet Woodfield, wie gesehen, zwischen biologischer und artifizieller Funktionalität. Ein Roman ist kein natürlicher Gegenstand, also im weitesten Sinne ein Artefakt. Nach Woodfield können wir nun formulieren: Eine erzählte Welt hat ein Hindernis, damit der Held es überwindet. Dieser Satz bedeutet: Eine erzählte Welt hat ein Hindernis, weil der Hersteller glaubt, daß ein Hindernis zum Ziel beiträgt und das Ziel gut ist. Wichtig ist hier zunächst die Art der Erklärung, die die Funktion des Hindernisses auf die Ziele des Herstellers zurückführt. Dies ist nur bei artifiziellen Produkten möglich; dort aber ist es völlig legitim. Wie schon bemerkt, wird hier eine Funktion auf das zielintendierte Verhalten des Herstellers, also die extrinsische Teleologie des Produkts auf die intrinsische des Herstellers, zurückgeführt. Damit wird das ‚Zum-Ziel-beitragen‘ und das ‚Gutsein des Zieles‘ zu mentalen Inhalten des Herstellers. Da der Hersteller eines Romans der empirische Autor ist, liegt dem hier entwikkelten Konzept ein autorintentionaler Standpunkt zugrunde. Teleologische Beschreibungen, wie die eben analysierte, lassen sich auf alles in der erzählten Welt anwenden, auf Handlungen und Eigenschaften von Figuren, Institutionen, Reflexionen und Argumente, Träume, Werkzeuge, Wetterverhältnisse und vieles andere mehr. Entscheidend ist nicht die Kategorie von Objekten, um ihnen eine Funktion für das Erzählen ______________________
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Vgl. Eve-Marie Engels: „Worauf es bei teleologischen Erklärungen immer ankommt, ist der Anspruch, daß etwas existiert oder geschieht, um eines bestimmten Resultates willen.“ [Engels (1982): Teleologie, S. 14f.]. Ferner Wolfgang Stegmüller: „Teleologische Erklärungsversuche sind […] dadurch ausgezeichnet, daß als Antwort auf eine Warum-Frage nicht ein Weil-Satz, sondern ein Um-zu-Satz geliefert wird.“ [Stegmüller (1969): Erklärung, S. 530.] Schon Hartmann beschreibt in einer ersten Annäherung den Finalnexus als einen Zusammenhang, „welche[r] der Richtung des Zeitflusses und der Prozeßabläufe entgegen läuft.“ [Hartmann (1951): Teleologisches Denken, S. 3.]
Erzählteleologie
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zuzuschreiben. Allein die Tatsache, daß sie in einer artifiziellen Welt auftauchen, verleiht ihnen eine Erzählfunktion. Diese kann auch in ihrer vollkommenen Sinnlosigkeit oder Sinnwidrigkeit innerhalb der erzählten Welt bestehen, etwa wenn ein erzählter Zufall Handlungen von Figuren stört. Auch in diesem Fall lassen sich teleologische Beschreibungen geben, etwa: Das zufällige Ereignis X ist dazu da, um eine Handlung des Protagonisten zu stören. Das Ziel, die Handlung des Protagonisten zu stören, muß auch jetzt als wünschenswert für den Autor verstanden werden. Deutlicher als in anderen Fällen ist dann das Ziel des Autors ein kommunikatives: Läßt sich auch innerhalb der erzählten Welt nur die Sinnlosigkeit eines Ereignisses feststellen, so kann diese doch eine bestimmte Wirkung auf den Leser haben, ihm soll vielleicht gerade die Sinnlosigkeit oder Kontingenz der dargestellten Welt verdeutlicht werden, er soll verunsichert oder nachdenklich gemacht werden. Neben sinnwidrigen Ereignissen kann es auch Dinge geben, die scheinbar gar keine Relevanz für den Fortgang der Erzählung haben, also auch keine Ziele von Figuren stören. So verstandene überschüssige Details („ ‚détails inutiles‘ “) nannte Roland Barthes ‚Realitätseffekte‘ („effet[s] de réel “70). Das Überflüssige (Gesten, redundante Worte, unbedeutende Dinge) sei „justifiée par aucune finalité d’action ou de communication.“71 Die Funktion dieser auf den ersten Blick funktionslosen Textelemente liege darin, die Widerständigkeit des Realen nachzuahmen. Barthes erkennt also noch in scheinbar funktionslosen Dingen der erzählten Welt eine narrative Funktion.72 Doch genauso kann ein Objekt in der erzählten Welt schon jede andere Art von Funktion erfüllen oder zielintendiertes Verhalten zeigen: So sind beispielsweise im Grünen Heinrich die Fahnenstangen, die Heinrich bemalt, dazu da, um die Straßen für eine Hochzeit zu schmücken. Doch zugleich haben sie auch eine Funktion für das Erzählen. Dort sind sie vielleicht dazu da, um den Lebensweg Heinrichs zu veranschaulichen, den Tiefpunkt seines Lebensweges zu markieren oder ähnliches. Soweit das Konzept der Basisfunktionalität des Erzählens hier entwikkelt wurde, führt es jede Art der Funktionalität von Ereignissen und Dingen der erzählten Welt auf die Ziele des Autors zurück. Hier gibt es keine Dysfunktionalität, außer der Text ist ein echtes Zufallsprodukt, das heißt, seine Wörter, Sätze oder Erzählabschnitte wurden zufällig aneinan______________________
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Roland Barthes: L’Effet de Réel. In: Communications 11 (1968), S. 84–89. Hier S. 88. Barthes (1968): L’Effet de Réel, S. 85. „Die semantische Funktion solcher Details entspringt gerade ihrer narrativen Funktionslosigkeit. Die Schwierigkeit, die ihre Funktionalisierung macht, imitiert die alltagsweltliche Erfahrung der Widerständigkeit des Faktischen.“ [Martinez, Scheffel (2002): Erzähltheorie, S. 117.]
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Begriffliche Klärungen
dergereiht. Damit würde die Basisfunktionalität des Erzählens unterlaufen werden, allerdings wäre ein Erzählen im Sinne des Alltagsverständnisses auch gar nicht mehr möglich. Dichten dagegen, so Stephane Mallarmé, ist „le hasard vaincu mot par mot.“73 Die Basisfunktionalität des Erzählens liegt jedem der hier behandelten Texte zugrunde und kennzeichnet zudem die Mehrzahl aller literarischen Texte. 2.3.2 Erzählteleologie Von ‚Erzählteleologie‘ werden wir sprechen, wenn man die einzelnen durch funktionale Beschreibungen erkannten Ziele als Zwischenziele für das Endziel des Romans, nämlich das chronologische Ende der Geschichte, begreift und es dem Leser möglich ist, innerhalb des chronologischen Verlaufs der Geschichte die Notwendigkeit und Funktion der einzelnen Handlungselemente für das Ende der Geschichte einzusehen. Dabei ist der Begriff des telos, auf das Erzählen bezogen, streng genommen nur metaphorisch zu verstehen. Hiermit können nur Ziele des Erzählers gemeint sein. Wenn sich eine Übereinstimmung der Zwischenziele in vielen Fällen erkennen läßt, kann man von einer stark ausgeprägten Erzählteleologie sprechen. Hier ist im Idealfall jedes einzelne Detail rigide und ökonomisch auf das Ziel, oft das Romanende, ausgerichtet und dadurch gebunden; es wird zum Mittel für den Endzweck des Romans. Sinnwidrige oder sinnlose Ereignisse in der Weise, daß sie andere Vorgänge der erzählten Welt stören oder keine Wirkung entfalten, schwächen die Erzählteleologie. Spielten bei der Basisfunktionalität des Textes Erzählzeit und erzählte Zeit keine Rolle, so sind sie für die Erzählteleologie entscheidend. Hier rückt der Prozeß des Lesens in Koordination mit dem Fortschreiten der Romanhandlung in den Vordergrund. Im Idealfall schreitet die erzählte Zeit linear voran, so daß der Leser die chronologische Reihenfolge der Ereignisse klar übersehen kann. Dies ist wichtig, da doch die Ereignisse primär wegen der Konsequenzen, die sie auf den Fortgang der Handlung und schließlich das Romanende haben, geschildert werden. Das Ende ist für zielgerichtete Vorgänge schlichtweg entscheidend. Laufen Ereignisketten einfach ‚ins Leere‘ und haben keine weitere Wirkung auf die Handlung, so erscheinen sie ohne Ziel und irritieren den Leser. Der Leser sucht Funktionen und Ziele und erkennt beim Lesen, daß etwas zunächst funktionslos Scheinendes, das vielleicht zuerst Spannung ______________________
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Stéphane Mallarmé: Variations sur un sujet. In: Stephane Mallarmé: Oeuvres complètes. Hg. von Henri Mondor und G. Jean-Aubry. Paris 1945, S. 353–420. Hier S. 387.
Erzählteleologie
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oder Überraschung oder Unsicherheit erzeugte, eine Funktion für etwas anderes bekommt.74 Wie im Fall von technomorphen Weltbildern ist dies emotional befriedigend, weil die erzählte Welt durchschaubar und geplant wirkt. Die Ereignisse der Geschichte stehen nicht für sich einzeln da, sondern in einem übergreifenden sinnvollen Zusammenhang und bilden ein Ganzes. Der Mensch als Wesen, das überall Nutzen und Funktionalität sucht, findet seine eigene Zweck-Such-Funktion in der symbolischen Welt der Sprache befriedigt. Er kann sich aufgrund ihres Ganzheitscharakters in die erzählte Welt versenken, wie Lugowski formuliert. Das vor langer Zeit adaptierte Funktionen-Such-Programm ist unter Kulturbedingungen offenbar von der primären Umwelt, für die es selektiert wurde, ablösbar. Nicht mehr wird nur organische und anorganische Natur auf ihre Funktion für das Überleben hin befragt, sondern augenscheinlich kann sich die Funktionen-Suche auf ein symbolisches System, auf einen Text, beziehen. Denn sicher löst es im Leser ein positives Gefühl aus, wenn er erkennt, daß sich Ereignisse auf einen Vollendungszustand richten, unterschiedliche, scheinbar unzusammenhängende Elemente sich plötzlich zu einem Ganzen fügen, der Anfang eines Werks schon auf das Ende hindeutet, möglichst alle Ereignisse für den Protagonisten relevant werden usw. Mit anderen Worten: Wenn einerseits im Werk alles ‚natürlich‘ zugeht und andererseits die Welt trotzdem ‚Sinn macht‘, das heißt so funktional ist wie ein Artefakt. Natürlich ist diese Vollform der Erzählteleologie ein bestimmter historischer Typus der Basisfunktionalität, der prototypisch in der Gestalt des Bildungsromans auftritt, aber auch die Autobiographie dominiert. Wir werden anhand von Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774) die aufklärerische Konzeption einer Real- und Erzählteleologie prototypisch entwerfen. Doch spielt Funktionalität nicht nur bei der Rezeption von Texten eine Rolle. Natürlich wird auch bei der Textproduktion darauf geachtet, daß möglichst viele Elemente Funktionen für andere Elemente haben und daß die Geschichte ein Ende hat, das selbst durch diese Elemente, im Idealfall schon durch den Anfang, vorbereitet wird:75 Der Autor bedient ______________________
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Kommunikative Ziele stehen im Konzept von Meir Sternberg ganz im Vordergrund, der von einer „narrative teleology“ spricht, die Spannung, Überraschung und Neugier zum Ziel habe. Vgl. Meir Sternberg: Telling in Time (II): Chronology, Teleology, Narrativity. In: Poetics Today 13 (1992), 3. Heft, S. 463–541. Bes. S. 525. Hier sei auf zwei neuere Theorieansätze verwiesen, die den Vorgang beschreiben, durch den ein Autor Wirklichkeit in die Form einer Fabel bringt: Paul Ricoeur beschreibt unter dem Begriff ‚Mimesis II‘ die Fabelkomposition als „Synthesis des Heterogenen“, mit der man die Vielfalt von Ereignissen zu einer Totalität zusammenschließe [Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung. München 1988 (ED 1983), S. 104–113]. Wolfgang Iser nennt diese Konfigurationsleistung des Dichters „Akte des Fingierens“. Durch
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Begriffliche Klärungen
diese Funktions-Erwartung auf der Leserseite. Wo sie erfüllt wird, befriedigt sie den Leser. Freilich wußten dies die Dichter schon immer, was ein Zitat von Jean Paul belegen mag: „Zwei Kapitel müssen füreinander und zuerst gemacht werden, erstlich das letzte und dann das erste.“76 Doch die Funktionalisierung der geschilderten Ereignisse im Hinblick auf Späteres gilt ansatzweise schon für spontane Alltagserzählungen, wie die Erzählforschung zeigen konnte. Werner Kallmeyer kam zu dem Ergebnis, daß es unwillkürliche und praktisch immer wirksame Zugzwänge gebe, nach denen wir anderen Menschen von Erlebnissen spontan erzählen: Wir führen alles für das Verständnis nötige hinreichend breit und in der richtigen chronologischen Reihenfolge aus (Detaillierungszwang), wir lassen alles weg, was für die Gesamtaussage der Geschichte oder den Ereignisknoten keine Bedeutung hat (Kondensierungszwang) und wir schließen angefangene inhaltliche Elemente wieder ab, was sowohl für eingelagerte Komponenten als auch für die Gesamtgeschichte gilt (Gestaltschließungszwang).77 Auf diesen offenbar für die Informationsverschnürung nützlichen Zugzwängen können dann reine Unterhaltungserzählungen und schließlich elaborierte Formen der Literatur aufbauen, wobei sich die Umgestaltungen, die sich für die Zugzwänge dann ergeben, noch genauer beschreiben lassen.78 Wenn wir aber zwangsläufig zugleich ökonomisch, hinreichend detailliert und in abgeschlossenen ‚Gestalten‘ erzählen, so rückt unser eigenes Erzählen in die Nähe des funktionalen (instinktiven) Verhaltens. Ohne uns jedesmal bewußt für diese Erzählweise zu entscheiden, strukturieren wir unsere Erlebnisse ‚automatisch‘ in dieser Weise. Dies ist ein Hinweis, daß die Disposition zum funktionalen Erzählen angeboren ist. Bei einer besonders wichtigen Art der Erzählung scheinen wir eine sehr ausgeprägte Neigung zu haben, alle aufgenommenen Elemente rigide auf den (vorläufigen) Zielpunkt auszurichten: bei der Autobiographie, der ______________________
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Operationsmodi (Selektion, Kombination) werde das Imaginäre in eine bestimmte Gestalt überführt. Vgl. Wolfgang Iser: Akte des Fingierens oder Was ist das Fiktive im fiktionalen Text? In: Dieter Henrich, Wolfgang Iser (Hg.): Funktionen des Fiktiven. München 1983, S. 121–151. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Jean Paul: Werke. 10 Bde. Hg. von Norbert Miller. München 51987. Bd. 5, S. 7–456. Hier S. 263 (§ 74). Vgl. Werner Kallmeyer, Fritz Schütze: Zur Konstitution von Kommunikationsschemata der Sachverhaltsdarstellung. In: Dirk Wegner (Hg.): Gesprächsanalysen. Vorträge gehalten anläßlich des 5. Kolloquiums des Instituts für Kommunikationsforschung und Phonetik, Bonn, 14.-16. Oktober 1976. Hamburg 1977, S. 159–274. Werner Kallmeyer: Gestaltungsorientiertheit in Alltagserzählungen. In: Rolf Kloepfer, Gisela Janetzke-Dillner (Hg.): Erzählung und Erzählforschung im 20. Jahrhundert. Tagungsbeiträge eines Symposions der Alexander von Humboldt-Stiftung Bonn-Bad Godesberg veranstaltet vom 9. bis 14. September 1980 in Ludwigsburg. Stuttgart u.a. 1981, S. 409–429. Bes. S. 411f. Vgl. Elisabeth Gülich: Konventionelle Muster und kommunikative Funktion von Alltagserzählungen. In: Konrad Ehlich (Hg.): Erzählen im Alltag. Frankfurt am Main 1980, S. 335–384.
Erzählteleologie
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Erzählung des eigenen Lebens. Im Prozeß der Narration, so Jens Brockmeier, entstünde überhaupt erst ein kohärenter Bedeutungs- und Sinnzusammenhang des eigenen Lebens. Dabei wird die Lebensgeschichte immer von einem bestimmten Lebens-Zeitpunkt her erzählt, der dann als Ziel der eigenen Biographie erscheint. Da das (vorläufige) Ende der Geschichte bereits gegeben ist, wenn ihr Anfang erzählt wird, stellt es sich im autobiographischen Rückblick nur allzu leicht als Resultat einer von eben jenem Anfang aus- und auf das gegenwärtige Ende zugehenden Entwicklung dar.79
Die Selektion von Ereignissen, deren Glättung, Plausibilisierung und Einbindung in die Erzählung ist also vom (vorläufigen) Ende des eigenen Lebens her bestimmt. Die Lebenszeit erscheint als notwendige „Entwicklung“ des Selbst hin zum Jetzt-Zustand, wobei Brockmeier im Konzept der Entwicklung „odd metaphysics“, nämlich Teleologie, ausmacht. Diese Verschmelzung des zeitlichen Entwicklungskonzepts mit der Narration nennt Brockmeier „retrospektive Teleologie“80, die er aus narrativen, aber auch aus psychologischen Gründen für unvermeidlich hält.81 Auch macht er im Konzept der Teleologie auf die zunächst befremdliche Umkehrung des Zeitflusses aufmerksam. Die Konstruktion erfolge vom Ende zum Anfang, erzählt werde aber vom Anfang zum Ende hin.82 Die Narration und die ihr zugrunde liegende „retrospektive Teleologie“ spiele eine entscheidende Rolle in der Konstruktion von Identität.83 Die Konsequenz der teleologischen Ordnung des Lebens in der Naration ist die Ausblendung der Kontingenz, eine „teleological linearization of contingency“.84 Sie steht einer stabilen Identität offenbar im Wege. Häufig scheinen übergreifende Strukturmuster, wie das bekannte Dreierschema von Anfang, Mitte und Ende oder Ausgangszustand, Störung ______________________
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Jens Brockmeier: Erinnerung, Identität und autobiographischer Prozeß. In: Journal für Psychologie 7 (1999), 1. Heft, S. 22–42. Hier S. 36. Brockmeier (1999): Erinnerung, Identität und autobiographischer Prozeß, S. 35. Die Gedächtnisforschung kann ihrerseits Argumente zur Bestätigung von Brockmeiers Konzept beibringen. Anders als es das alte Zettelkasten-Modell des Gedächtnisses suggeriert, ist für Erinnerungen die Gegenwart des Erinnernden fundamental. Auf diesen Zeitpunkt hin wird solange erinnert, bis Kohärenz, Wahrscheinlichkeit und Schlüssigkeit der Gedächtnisinhalte erreicht sind. Vgl. Gebhard Rusch: Erinnerungen aus der Gegenwart. In: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Frankfurt am Main 21992, S. 267–292. Ferner Daniel L. Schacter: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Übers. von Heiner Kober. Reinbek bei Hamburg 2001 (ED 1996). Zur Autobiographie bes. S. 123–161. Vgl. Jens Brockmeier: From the end to the beginning. Retrospective teleology in autobiography. In: Jens Brockmeier, Donald Carbaugh: Narrative and Identity. Studies in Autobiography, Self and Culture. Amsterdam, Philadelphia 2001, S. 247–280. Bes. S. 251. Vgl. Brockmeier (2001): From the end to the beginning. Bes. S. 248. Brockmeier (2001): From the end to the beginning, S. 253.
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Begriffliche Klärungen
(Krise) und neuer Gleichgewichtszustand, diese autobiographischen Geschichten zu strukturieren und Identität zu verbürgen, wenn der Erzähler seine Lebensgeschichte in diese Schemata fassen kann. Dies läßt sich bei den recovery-stories der Anonymen Alkoholiker in den Vereinigten Staaten genauso nachvollziehen wie bei Kindern, die schwere Erlebnisse verarbeiten müssen. Beide Gruppen erholen sich offenbar, indem sie ihre Erlebnisse im Erzählen auf ein Ziel beziehen und ihre Geschichte durch Schemata gliedern.85 Bei einem Kind, so ein Fallbeispiel, konnte man beobachten, daß eine psychische Genesung eintritt, wenn der Therapeut im Rahmen einer Gestalttherapie dem Kind hilft, seine Geschichte zu einem positiven Ende zu bringen und damit die Gestalt, bestehend aus Anfang, Mitte und Ende, zu schließen.86 Es gibt also gute Gründe, dem teleologischen Erzählen autobiographischer Ereignisse eine wichtige Funktion bei der Konstitution einer stabilen Identität zuzusprechen. Brockmeier deutet an, daß die „retrospektive Teleologie“ der Autobiographie nur ein Sonderfall und Teleologie ein „pattern of coherence“87 sei, die auch in der Geschichtsschreibung, in Mythen und im kulturellen Gedächtnis eine Rolle spiele.88 Demnach legt ebenso Brockmeier nahe, in der Teleologie ein allgemeineres Merkmal des Erzählens zu sehen, zunächst unabhängig davon, ob man, wie in der Geschichtsschreibung, Wirklichkeit nacherzählt, einen fiktionalen Roman entwirft oder aber das eigene Leben aufschreibt. In all diesen Fällen bekommen die erzählten Elemente eine besondere Art der Notwendigkeit, einen Zusammenhang, der fast zwangsläufig entsteht, sobald rückblickend erzählt wird.89 ______________________
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Vgl. Robyn R. Warhol, Helena Michie: Twelve-Step Teleology: Narratives of Recovery / Recovery as Narrative. In: Sidonie Smith, Julia Watson (Hg.): Getting a Life. Everyday Uses of Autobiography. Minneapolis, London 1996, S. 327–350. Die Alkoholiker würden ihre eigene Lebensgeschichte nach einem 12-Stufen-Programm erzählen, dessen Teleologie, eine „powerful master narrative“, die erzählten Ereignisse selektiere und forme (vgl. ebd. S. 328). Auch das Dreierschema, „what it was like, what happened, and what it’s like today“ (ebd. S. 329), läßt sich hier nachweisen. Vgl. Peter Mortola: Narrative Formation and Gestalt Closure: Helping Clients Make Sense of „Disequilibrium“ Through Stories in the Therapeutic Setting. In: Gestalt Review 3 (1999), 4. Heft, S. 308–320. Brockmeier (2001): From the end to the beginning, S. 253. Vgl. Brockmeier (2001): From the end to the beginning, S. 253. Arthur C. Danto stellt für die Geschichtsschreibung die Verwendung von „narrativen Sätzen“ fest, also von Sätzen, die Ereignisse im Hinblick auf später eintretende Ereignisse beschreiben und diese Ereignisse damit zugleich in einen Erklärungszusammenhang rükken. Was Danto für den einzelnen Satz einer geschichtlichen Darstellung ausmacht, nämlich eine narrative Struktur, stellt Hayden White für die Geschichtsschreibung im Ganzen fest. Sie komponiere ihren Ereigniszusammenhang nach narrativen Mustern und gehöre deshalb in dieselbe Gattung wie die fiktionale Erzählung. Vgl. zu diesem Themenkomplex: Ricoeur (1988): Zeit und Erzählung Bd. 1. Bes. S. 214–262.
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Erzählteleologie und Basisfunktionalität beruhen beide auf der intrinsischen Teleologie des Autors oder doch auf seinem instinktiven Verhalten. Darüber hinaus ist die Erzählteleologie nur ein besonderer Fall der Basisfunktionalität, der sich im Einzelfall auch noch schwer von dieser unterscheiden läßt. Wozu also diese Unterscheidung? Sie ist nötig, weil sich die Erzählteleologie durch bestimme Weisen des Erzählens auflösen läßt, nicht aber die Basisfunktionalität. Sie ist das, was übrig bleibt, nachdem die Erzählteleologie aufgelöst wurde. Wenn auch James Joyce im Ulysses „sought to escape from the imaginative constraints of teleology“90, so liegt diesem klassischen Werk der Moderne doch die Basisfunktionalität des Erzählens zugrunde. Die Erzählteleologie läßt sich durch alle Mittel schwächen, die den Eindruck verringern, die Handlung bewege sich zielgerichtet auf ein sinnvolles Ende zu.91 Dies ist schon im einfachsten Fall durch locker eingefügte Episoden möglich, aber auch repetitive Erzählungen, die den Eindruck einer Wiederholung des Immergleichen erzeugen, schwächen den teleologischen Prozeß. Da die Erzählteleologie ein Vorgang ist, der nur in der Erzählzeit nachvollzogen werden kann, kann sie durch Anachronien oder Achronologien empfindlich gestört werden.92 Weiß der Leser nicht, in welche chronologische Reihenfolge er Ereignisse bringen soll, so kann er das Ziel dieser Ereignisketten nicht sehen. Da das Ende eines teleologischen Prozesses entscheidend ist, wird die Erzählteleologie durch ein unbefriedigendes oder offenes Ende abgebaut. Doch es kann schon genügen, Alternativen für die erzählte Romanhandlung zu verdeutlichen, so daß das Ende als eins unter vielen möglichen erscheint. In all diesen Fällen bleibt aber die Basisfunktionalität erhalten, wenn wir davon ausgehen, daß der Autor das Kunstwerk nach seinen Vorstellungen produziert hat.
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Eugene Goodheart: The Fate of Realism or the Teleology of Narrative. In: Salmagundi 42 (1978), S. 74–83. Hier S. 81. Der einzige mir bekannte Versuch einer Systematisierung derjenigen Strategien, die Erzählteleologie reduzieren, bei Mihály Szegedy-Maszák: Nonteleological Narration. In: Hans Bertens, Douwe Fokkema (Hg.): International Postmodernism. Theory and Literary Practice. Amsterdam, Philadelphia 1997, S. 273–282. Szegedy-Maszák nennt „Circularity“, „Aleatory arrangement“ und „Open ending“ als Mittel, mit der postmoderne Erzähltexte „Nonteleological Narration“ verwirklichen wollen. Allerdings kann eine Prolepse auf ein gutes Ende am Romananfang die Erzählteleologie sogar steigern, weil dann die Gewißheit über das gute Ende das weitere Lesen bestimmt und die später geschilderten Ereignisse in diesen Horizont einrückt.
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Begriffliche Klärungen
3 Erzählte Teleologie Finale Motivierungen in der erzählten Welt fassen wir unter den Begriff der ‚erzählten Teleologie‘.93 Dieser Sammelbegriff bezeichnet eine Vielzahl von teleologischen Konzepten, die in erzählten Welten vorkommen können, aber nicht müssen. Wenn das Erzählen, insbesondere das Erzählen von Biographien, ein teleologischer Vorgang ist, der sich fast unausweichlich in der Funktionalität der erzählen Welt niederschlägt, so ist es dagegen sehr leicht möglich, eine erzählte Welt ohne erzählte Teleologie zu schaffen. Es gibt viele erzählte Welten ohne erzählte Teleologie, aber kaum eine ohne eine zumindest rudimentäre Erzählteleologie. Das heißt: Eine Welt, die dem Protagonisten sinnlos oder sinnwidrig erscheint, kann trotzdem für den Leser funktional sein. Im folgenden beziehen wir die Begriffe funktional / dysfunktional auf die Autor-LeserEbene, die Begriffe sinnvoll / sinnwidrig werden wir für die erzählte Welt reservieren. Die erste Unterscheidung betrifft die Erzählteleologie, die zweite die erzählte Teleologie. Erzählte Teleologien spiegeln bestimmte teleologische Wirklichkeitskonzeptionen wider, also die jeweiligen Realteleologien. Die verschiedenen Arten des Vorsehungsdenkens, andere lenkende Mächte, teleologische Bildungs- und Vervollkommnungskonzeptionen und vieles mehr kommen in erzählten Welten vor und motivieren dort das Geschehen. Damit beruhen erzählte Teleologien auf historisch bedingten realteleologischen Beschreibungen oder implizit-teleologischen Voraussetzungen, die heute doch zumindest hinterfragt werden. Die Erzählteleologie dagegen basiert auf echter materialer Teleologie, nämlich der intrinsischen Teleologie des Autors, auf die wir die Funktionalität des Textes zurückführen.94 ______________________
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Die Begriffsbildung orientiert sich an Günther Müllers Unterscheidung von Erzählzeit und erzählter Zeit. Vgl. Günther Müller: Erzählzeit und erzählte Zeit. In: Festschrift für Paul Kluckhohn und Herman Schneider. Tübingen 1948, S. 195–212. Schon Lugowski hatte in seiner Dissertation erwogen, die Motivation von hinten „ ‚teleologische Motivation‘ “ [Lugowski (1976): Individualität, S. 80] zu nennen und damit den Begriff der ‚Teleologie‘ einzuführen. Doch er entscheidet sich schließlich gegen diesen Begriff. Zu seinen Gründen vgl. Lugowski (1976): Individualität, S. 79f. Martinez pflichtet Lugowski bei und unterstützt ihn durch Argumente aus der praktischen Teleologie. Eine Handlung könne fehlschlagen, so daß das Ziel nicht erreicht würde. Erst im nachhinein könne man wissen, ob eine Handlung erfolgreich gewesen sei. Deshalb spiele die Zeit für eine teleologische Erklärung eine entscheidende Rolle, während sie für die „Motivation von hinten“ unwesentlich sei [vgl. Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 19]. Der Verweis auf die praktische Teleologie erscheint irreführend. Entsprechend der vorgenommenen erzähltheoretischen Differenzierung beruht die „Motivation von hinten“ auf echter intrinsischer Teleologie des Autors, der seine Intentionen in der erzählten Welt aber jederzeit umsetzen kann. Eine finale Motivierung innerhalb der erzählten Welt, etwa eine göttliche Vorsehung, läßt sich ebenfalls nicht am Maßstab der praktischen Teleologie messen, da Gott nicht irrt.
Erzählte Teleologie
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Die Erzählteleologie kommt der Konzeption einer „Motivation von hinten“ sehr nahe, insbesondere was ihre Zwitterstellung zwischen erzählter Welt und kompositorischer Ebene betrifft. Schreibt ein Autor auf der Grundlage einer Realteleologie eine Geschichte in der es eine erzählte Teleologie gibt, so wird nicht nur in der erzählten Welt schließlich alles Sinn machen, sondern auch der Leser das Gefühl einer funktionalen Totalität bekommen. Je strenger beispielsweise die göttliche Vorsehung das Geschehen bestimmt oder je stärker die Annahme einer teleologischen Vervollkommnung des Menschen die Grundlage eines Bildungsprozesses ist, desto klarer wird der Leser die Funktionalisierung der Ereignisse auf das Ende der Geschichte hin überblicken. Für den „erzählerischen Zufall“95 ist hier nur insofern Platz, als er schließlich die Handlung im positiven Sinn und zu einem guten Ende vorantreibt, sinnwidrige Ereignisse, die der Leser als dysfunktional erfährt, darf es idealtypisch nicht geben. So kommt es, daß im Fall einer klaren erzählten Teleologie auch die Erzählteleologie besonders stark ausgeprägt ist. Gerät nun die Realteleologie in eine Krise, so wird dies auch Konsequenzen für die erzählte Teleologie haben. Diese funktioniert ja in der modernen Literatur selten ganz problemlos. Bildungswege können nur auf Umwegen zum Ziel gelangen oder scheitern sogar, der Vorsehungsglaube des Helden kann sich als Trug erweisen etc. Mit anderen Worten: Die erzählte Teleologie kann auf vielfältige Weise gebrochen oder in der erzählten Welt widerlegt werden. Dies sei besonders hervorgehoben, da sich die Erzählteleologie nicht vollständig auflösen, sondern nur auf die Basisfunktionalität reduzieren läßt. Dies kann durch bestimmte gestalterische Maßnahmen geschehen, die oben bereits angedeutet wurden. Aber die Basisfunktionalität des Erzählens wird stets erhalten bleiben. Selbst im sinnlosesten Zufall und im beiläufigsten Detail der erzählten Welt ist der concursus auctoris noch vorhanden. Wenn auch der erzählerische Zufall die erfahrene Kontingenz der Welt abbilden kann, so gerät Dichtung durch die ihr eigene Funktionalität in immer offensichtlicheren Kontrast zur Wirklichkeit, je mehr diese selbst als ateleologisch empfunden wird. So dürfte es schließlich auch kein Zufall sein, daß Lugowski das Phänomen, welches er das „mythische Analogon“ nannte, vor dem Hintergrund einer ihm selbst als chaotisch und kontingent erscheinenden Welt konzipierte. Die Welt des „Fürsichseienden“ sei das noch ungedeutete, noch sinnfreie und chaotische Zickzack einer unbewältigten Wirklichkeit […]. Es ist die Welt, die der Mensch nicht mehr als Ganzes sinnge______________________
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Zufall ist „eine Koinzidenz von Begebenheiten, die zum Fortgang der Handlung beiträgt und weder direkt durch den Erzähler noch unmittelbar in der Handlung hergeleitet wird. Wir bezeichnen diesen Zufall im Folgenden […] als erzählerischen Zufall.“ (Ernst Nef: Der Zufall in der Erzählkunst. Bern 1970, S. 7.)
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Begriffliche Klärungen
bend formt, indem er sie als Sinntotalität auffaßt, sondern die stumm durchlebt, schweigend ertragen wird. In dieser Weise wird das Wirkliche nicht mehr durch eine prinzipielle und umfassende Deutung überwunden; der Mensch bleibt der Wirklichkeit gegenüber sieglos, indem er sie auf keine andere Weise „bearbeitet“, als daß er sie konstatiert, ihr Dasein als Wirklichkeit anerkennt.96
Lugowski selbst ist ein Beispiel dafür, daß die Teleologie des Erzählens dann zu Bewußtsein kommt, wenn die Wirklichkeit im Kern als kontingent angesehen wird. Dadurch, daß alle Ereignisse der erzählten Welt idealtypisch als narrativ funktional betrachtet werden können, ist noch nichts über die intradiegetische Motivierung der Ereignisse gesagt. Sie können hier nur kausal, nur final, kausal und final oder auch gar nicht motiviert sein. Es muß betont werden, daß sich auch kausale und finale Motivierung innerhalb der erzählten Welt nicht ausschließen. Martinez’ Feststellung, daß kausale und finale Motivierung in der erzählten Welt „unvereinbar“97 oder „paradox[ ]“98 seien, ist problematisch, weil sie historisch differenziert werden muß. Definiert man Kausalität und Finalität als unvereinbare Gegensätze, so wird man beispielsweise dem aufklärerischen Denken von Leibniz und Wolff nicht gerecht. Aber auch die Identitätsphilosophie des deutschen Idealismus geht von einer Vereinbarkeit, ja Identität von Kausalität und Teleologie aus. Vor dem Hintergrund dieses Wirklichkeitsverständnisses kann es nicht verwundern, wenn auch in erzählten Welten Vorgänge der göttlichen Vorsehung oder Ähnliches immer auch eigene kausale Wirkursachen, causae secundae, haben. In diesen erzählten Welten, aber auch in der zeitgenössischen Wirklichkeitsbeschreibung, ist Realteleologie und Kausalität nicht „unvereinbar“, sondern Kausalität hat ihrerseits eine teleologische erste Ursache. Das hier angesprochene Problem läßt sich an einer Kurzinterpretation verdeutlichen, die Martinez im erzähltheoretischen Teil seiner Arbeit Doppelte Welten von einer Stelle aus dem Tod in Venedig gibt. Ein Versuch Aschenbachs, aus Venedig abzureisen, scheitert daran, daß seine vorher aufgegebenen Koffer in eine falsche Richtung geschickt werden. Martinez kommentiert die Stelle wie folgt: Es ist charakteristisch für die zwiespältige erzählte Welt der Novelle, daß der Leser nicht entscheiden kann, ob die Verschickung der Koffer an einen falschen Ort als zufälliges Mißgeschick oder als beabsichtigte Fügung zu verstehen ist. Die beiden Erklärungen sind alternativ, denn kausale und finale Motivationen des Geschehens sind miteinander unvereinbar.99 ______________________
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Lugowski (1976): Individualität, S. 183. Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 28 u. S. 33. Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 9 u. S. 33. Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 33.
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Der erste Satz beschreibt prägnant den Leseeindruck und führt die Verunsicherung des Lesers auf den Gegensatz von „zufällige[m] Mißgeschick“ und „beabsichtigte[r] Fügung“ zurück. Tatsächlich schließen sich diese beiden Erklärungen aus. Zufällig meint hier: nicht den Intentionen Aschenbachs oder desjenigen entsprechend, der den Koffer in die falsche Richtung geschickt hat. Es liegt folglich ein Irrtum vor, der aber durchaus den Naturgesetzen unterworfen ist. Zufällig kann man das Ereignis nennen, weil es dem Handlungssinn der Beteiligten widerspricht. Die Möglichkeit einer kausalen Rekonstruktion des Ereignisses wird zugrunde gelegt. Der Gegensatz hierzu ist die „beabsichtigte Fügung“, also die Motivation des Geschehens durch eine numinose Ursache, die den Koffer absichtlich in die falsche Richtung geschickt hat. Hierzu ist eine Intention vorausgesetzt, die das Ziel (den Zweck der Handlung) im Bewußtsein antizipiert und dann die Ereignisse zielgerichtet gegen die Intention Aschenbachs lenkt. Der Unterschied zu einer menschlichen Handlung ist einmal, daß die wahre Ursache kein Mensch, sondern eine metaphysische Macht ist, die sich in unserer christlich-abendländischen Tradition nicht irrt und also ihre Handlung in aller Regel erfolgreich zu Ende führen kann. Trotzdem muß man aber wohl davon ausgehen, daß ein Mensch den Koffer auf den falschen Gepäckwagen legt, also diese numinose Macht durch eine Person hindurch handelt. In Anlehnung an das Modell vom concursus divinus könnte man vom concursus dionysicus, dem dionysischen Mitwirken sprechen. Diese Finalität steht hier im Gegensatz zum zufälligen Mißgeschick. Beide Interpretationen beruhen aber auf Kausalität. Auch im zweiten Fall geschieht ja kein Wunder, das gegen die Naturgesetze verstößt. Doch der Folgesatz von Martinez stellt nun kausale und finale Motivierung gegenüber, nicht mehr zufällige und finale. Dabei wird jedoch unterschlagen, daß die Finalität als Überformung der Kausalität in Erscheinung treten kann. In diesem Sinn argumentiert Nicolai Hartmann: Einer fraglichen Ursachenreihe kann man es nicht direkt ansehen, ob es eine Reihe von „Mitteln“ ist, die für einen Zweck seligiert sind, oder nicht; sie könnten sich auch bloß „zufällig“, d.h. kausalnotwendig im Realzusammenhange zusammengefunden haben. Also kann man es ihr auch nicht ansehen, ob eine Zwecksetzung und finale Leitung des Prozesses dahintersteht, und das besagt weiter, ob ein zwecktätiges Bewußtsein dahintersteht.100
Genau auf diese Tatsache geht die Beunruhigung des Lesers zurück. Hartmann nennt die äußere Ununterscheidbarkeit von kausalem und finalem Prozeß das „verwirrendste Phänomen im ganzen Problembereich ______________________
100 Vgl. Hartmann (1951): Teleologisches Denken, S. 74.
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Begriffliche Klärungen
der Teleologie“.101 Der Erzähler des Tod in Venedig macht sich das „verwirrendste Phänomen“ zunutze, um den Leser über die wahre Motivierung des Geschehens im Unsicheren zu lassen. Es wäre also jeweils zu prüfen, wie das Verhältnis von Kausalität und Teleologie im Wissen einer bestimmten Zeit konzipiert wird und inwiefern sich der Autor darauf bezieht. Jedenfalls wurde die letzten Jahrhunderte (und bis unsere Zeit hinein) Teleologie als die höhere Ursachenart verstanden, die Kausalität impliziert und nicht etwa ausschließt.102
4 Zusammenfassung Andrew Woodfields Analyse teleologischer Erklärungen war der Ausgangspunkt für unsere Überlegungen. Woodfield geht davon aus, daß teleologische Erklärungen nicht falsch sein müssen, sondern Erklärungswert haben, wenn sie richtig expliziert werden. Mit Woodfield unterschieden wir zwischen Zielen und Funktionen. Beide können einerseits auf mentale Inhalte eines Handelnden zurückgeführt werden. Diesen Fall bezeichnete Woodfield als ‚intrinsische Teleologie‘, der auf zielintendierendem Verhalten beruht. Funktionalität, die sich auf die Ziele eines Herstellers zurückführen läßt, ist artifizielle Funktionalität. Andererseits läßt Woodfield auch teleologische Erklärungen natürlicher Dinge gelten, wenn sie ohne Rekurs auf mentale Inhalte expliziert werden. Für uns wurden aber genau jene Wirklichkeitsbeschreibungen interessant, die intrinsische Teleologie, und mithin Geist, auch in der Natur ausmachen. Die Übertragung der intrinsischen Teleologie auf Bereiche außerhalb menschlichen Zielhandelns bezeichneten wir als ‚Realteleologie‘. In „plurifunktionalen Führungssystemen“ (Ernst Topitsch) erfüllt Realteleologie eine wichtige Orientierungsfunktion für den Menschen. Von der ‚Realteleologie‘ unterschieden wir die ‚Erzählteleologie‘, die wir im Anschluß an Clemens Lugowskis „Motivation von hinten“ entwikkelten. Sie beruht auf der intrinsischen Teleologie des Autors und bezeichnet die zielgerichtete Funktionalisierung von Ereignissen, Dingen und Personen auf das Ende der Geschichte. Die Erzählteleologie ist ein sinnstiftendes Kohärenzmuster, das einen Text zu strukturieren vermag. ______________________
101 Vgl. Hartmann (1951): Teleologisches Denken, S. 73. 102 Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 35. Martinez kennt offensichtlich das hier diskutierte Problem, zieht aber keine Konsequenzen für die Begriffsbildung oder für die Relation finaler und kausaler Motivierung. Er stellt nämlich fest: „Die finale Erklärung setzt die Existenz einer kausalen voraus, aber nicht umgekehrt.“ (ebd. S. 33) Wenige Zeilen vorher bezeichnet er aber beide Erklärungen als „unvereinbar“ (ebd.).
Zusammenfassung
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Sie kann durch bestimmte erzählerische Maßnahmen geschwächt und zur ‚Basisfunktionalität‘ des Erzählens abgebaut werden. Während man sich mit der ‚Erzählteleologie‘ auf der Ebene der kompositorischen Motivierung von Ereignissen befindet, nannten wir das System der intradiegetischen finalen Motivierungen eines Textes ‚erzählte Teleologie‘. Die Begriffe ‚Realteleologie‘, ‚Erzählteleologie‘ und ‚erzählte Teleologie‘ müssen unterschieden werden; gleichwohl hängen die Phänomene, die sie bezeichnen, eng zusammen: Ist die Wirklichkeitswahrnehmung eines Autors durch Realteleologie geprägt, so kann sie sich in der erzählten Welt als erzählte Teleologie niederschlagen und kompositorische Konsequenzen für den Text, also für die Erzählteleologie haben. Deshalb hat eine Krise teleologischer Wirklichkeitsvorstellung eines Autors Konsequenzen nicht nur für den Inhalt einer erzählten Welt, sondern auch für ihre formale Gestaltung. Die nun folgende Analyse von Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774) soll eine idealtypische Folie liefern, vor der sich die Probleme des Realismus hinsichtlich der Realteleologie-Krise konturieren. In Blanckenburgs Charakteristik des vorbildlichen Romans finden wir den Bildungsgang des Helden als teleologischen Prozeß, der eine bestimmte Form der Realteleologie abbildet. Besonders gut ist das Konzept einer Erzählteleologie ausgearbeitet, wobei die Wirkung auf den Leser stets mitreflektiert wird. Die Erzählteleologie wird vor dem Hintergrund einer glaubwürdigen Realteleologie entfaltet und von ihr her legitimiert. Auf diese intakte Kongruenz von Erzähl- und Realteleologie wird bei dieser Darstellung der Schwerpunkt gelegt. Blanckenburgs Anthropologie und ihr theologisches Fundament sind die Voraussetzung für die erstaunliche Geschlossenheit des Versuchs.103
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103 Die inneren Widersprüche des Versuchs müssen hier nicht besonders betont werden, da das Konzept als Idealmodell vorgestellt werden soll. Zu diesen Widersprüchen vgl. Kurt Wölfel: Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman. In: Reinhold Grimm (Hg.): Deutsche Romantheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Romans in Deutschland. Frankfurt am Main, Bonn 1968, S. 29–60. Bes. S. 58ff. und Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. München 21983, S. 64–69. Bes. S. 67ff.
II Die Kongruenz von Real- und Erzählteleologie in Blanckenburgs Versuch Friedrich von Blanckenburg (1744–1796) verfolgt mit seiner Schrift Versuch über den Roman von 1774 ein ganz praktisches Ziel: Er möchte die vielen, in seinen Augen mittelmäßigen Romanschreiber dazu bewegen, bessere Romane zu schreiben. Blanckenburg ist als Hauptmann des preußischen Militärs dichterischer Laie, seine Kenntnisse über damals vieldiskutierte Romanpoetiken sind begrenzt und seine Hinweise beispielsweise auf die Entstehung der Romanform bleiben weit hinter dem damaligen Wissensstand zurück.1 Der Rang des Versuchs wird deshalb nicht durch ausführliche und gelehrte Kompilierung anderer Poetiken oder durch die Diskussion spezieller poetologischer Probleme bestimmt, sondern durch eine genaue Auseinandersetzung mit wenigen vorbildlichen Romanen vor dem Hintergrund einer fortschrittlichen, aufgeklärten und zugleich theologisch geprägten Anthropologie. Blanckenburgs deutschsprachiges Vorbild ist dabei Wielands Agathon. Die für 1773 angekündigte Neuausgabe ist vielleicht sogar der Anlaß, diese Schrift abzufassen.2 Die Regeln, die er von diesem Roman und einigen weiteren Dichtungen ableitet, zeugen von genauer Lektüre und intensiver Auseinandersetzung mit den Gestaltungsproblemen eines Romans. Den jungen und mittelmäßigen Dichtern empfiehlt er, dem Vorbild des Agathon nachzueifern und so einen guten Roman zu schreiben. Angesichts neuerer Interpretationen zum Agathon hat die Forschung wiederholt auf die blinden Flecken in Blanckenburgs Lektüre dieses Romans hingewiesen.3 Wie zu zeigen sein wird, können sie zum Teil auf sein technomorphes Weltbild zurückgeführt werden, von dem er seine ______________________
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Vgl. Eberhard Lämmert: Nachwort. In: Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965, S. 543–583. Hier S. 543. Vgl. Lämmert (1965): Nachwort, S. 548. Wölfel und Lämmert stimmen dem Urteil Sengles zu, daß ohne den Agathon als Vorbild der Versuch wohl nicht denkbar sei. Vgl. Wölfel (1968): Versuch, S. 32. Ferner Lämmert (1965): Nachwort, S. 548. Zu Blanckenburgs Interpretation des Agathon vgl. besonders: Jürgen Jacobs: Die Theorie und ihr Exempel. Zur Deutung von Wielands „Agathon“ in Blanckenburgs „Versuch über den Roman“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 31 (1981), 1. Heft, S. 32–42.
Perfektibilität als erzählte Teleologie
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Begriffe zur Beschreibung von Literatur und entsprechende Analogien bezieht. Blanckenburgs romantheoretische Überlegungen, insbesondere deren normative Geltung, werden in allen entscheidenden Punkten durch seinen Glauben an eine Realteleologie gestützt und legitimiert. Wir wenden uns zunächst der erzählten Welt und damit der erzählten Teleologie zu.
1 Perfektibilität als erzählte Teleologie 1.1 Die Vervollkommnung des Protagonisten Blanckenburg unterscheidet in einem Roman allgemein zwischen „Begebenheiten“ und „Personen“.4 Während viele ältere Romane Begebenheiten in den Vordergrund stellten, sei es vorzuziehen, die Personen in den Mittelpunkt zu rücken.5 Dann seien, wie in Wielands Agathon, „die Begebenheiten bloß der Personen wegen da. –“ (VR, S. 256). Die umfassende Ausrichtung der Ereignisse („Begebenheiten“) auf die ganz in den Vordergrund gerückte Figur („Person“) ist das erste wichtige Kennzeichen des Blanckenburgschen Idealromans. Der Protagonist soll nach Blanckenburg kein vollkommen tugendhafter Held sein. Vielmehr soll die Romanhandlung dem Leser gerade den Weg der Reifung des Protagonisten vor Augen führen. Diesen Weg bezeichnet Blanckenburg als „die Ausbildung, die Formung des Charakters auf eine gewisse Art.“ (VR, S. 321) Der Schwerpunkt liegt also nicht auf dem vollendeten Helden, sondern auf dem Prozeß dieser Ausbildung: Der Dichter müsse versuchen, „dies Werdende seines Helden zu zeichnen“ (VR, S. 68), wie Blanckenburg formuliert, um das Prozeßhafte hervorzuheben.6 Mit dieser Ausbildung ist wiederum eine Charakterbildung gemeint: „Die Ausbildung, oder vielmehr die Geschichte ihrer [der Figuren; P.A.] Denkungs- und Empfindungskräfte ist sein [des Dichters; P.A.] Zweck.“ (VR, S. 395) ______________________
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Vgl. Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965, S. 254. Im folgenden wird der Versuch im Text durch die Sigle ‚VR‘ abgekürzt. Der größere Schrifttyp des Originals zur Hervorhebung von Wörtern wird in den Zitaten durch Fettdruck wiedergegeben. Die Entscheidung dieser Alternative zugunsten der Personen (vgl. VR, S. 254f) findet sich erst auf S. 337. Stünden die Begebenheiten im Vordergrund, dann seien die Charaktere auswechselbar und damit nicht notwendig (VR, S. 337). Lämmert weist darauf hin, daß Blanckenburg noch organologische Begriffe und Vorstellungen wie ‚Entwicklung‘ oder ‚Reife‘ fehlen, um den Bildungsprozeß zu charakterisieren. Vgl. Lämmert (1965): Nachwort, S. 554f.
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Die Kongruenz von Real- und Erzählteleologie
Hier wird ein weiterer innovativer Zug von Blanckenburgs Theorie sichtbar: Er legt den Schwerpunkt ganz auf die innere Entwicklung des Helden. Damit greift Blanckenburg eine wichtige Neuerung von Wielands Agathon auf, nämlich eine starke Berücksichtigung seelischer Vorgänge. Seine Begründung hierfür ist einfach, daß das Innerste eben das Wichtigste am Menschen sei: „Und ist etwan dies Innre nicht das Wichtigste bey unserm ganzen Seyn?“ (VR, S. 355) Ja, es sei sogar eine „Beleidigung“ oder doch eine „strafbare Geringschätzung“ (beides VR, S. 355) für den Menschen, wenn man das Äußere des Menschen oder die Ereignisse, in denen er geschildert werde, als wichtiger erachte. Soweit hier Blanckenburgs Theorie in Umrissen entwickelt wurde, beschreibt sie denjenigen neuen Romantyp als vorbildlich, der heute Entwicklungs- oder Bildungsroman genannt wird.7 Wie läßt sich nun dieser Entwicklungsprozeß weiter charakterisieren? Das Ziel dieses Prozesses liegt für Blanckenburg auf der Hand. Das Ende der Geschichte könne „die Vollendung einer Begebenheit, so daß wir uns dabey beruhigen können, oder die Vollendung eines Charakters seyn“ (VR, S. 254). Das Ende des Romans wird – mit einiger normativer Kraft, wie wir noch sehen werden – als Bestzustand von etwas gedacht. Die Tragweite dieses Sachverhalts wird dann deutlich, wenn man berücksichtigt, daß für Blanckenburg die Vervollkommnung (Perfektibilität) des Menschen durch Ausbildung seine von Gott gegebene „Bestimmung“ ist. Hier erweist sich also die geforderte erzählte Teleologie als Wiederholung einer bestimmten Konzeption teleologischer Wirklichkeit. Die Realteleologie stützt und legitimiert die erzählte Teleologie. Denn Vervollkommnung als Ziel des Menschen gilt keineswegs nur für die Romanfiguren, sondern für den Menschen ganz allgemein. Bei Blanckenburg antwortet der (Aus)bildungsbegriff auf die für die Aufklärung zentrale Frage nach der „Bestimmung des Menschen“.8 Die Form der Realteleologie, die die Bestimmung des Menschen als Vervollkommnung deutet, geht auf Johann Joachim Spalding (1714–1804) zurück. Blanckenburg erwähnt ihn explizit und empfiehlt, dessen Schriften auswendig zu lernen.9 Seine knappe und äußerst erfolgreiche Abhandlung Die Bestimmung des Menschen erschien seit 1748 in vielen Auflagen und ______________________
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Für Jürgen Jacobs ist es das Charakteristikum des Bildungsromans, daß sich das Individuum durch die Widerstände der Welt bildet. Deshalb habe Blanckenburg mit seinem Harmoniemodell den Schritt zur Beschreibung des Bildungsromans noch nicht getan. Vgl. Jacobs (1983): Wilhelm Meister, S. 68. Für Goethes Bildungsbegriff kam Fotis Jannidis eben zu diesem Ergebnis. Vgl. Fotis Jannidis: ‚Bildung‘ als ‚Bestimmung des Menschen‘. Zum teleologischen Aspekt in Goethes Bildungsbegriff. In: Pädagogische Rundschau 53 (1999), 4. Heft, S. 441–455. Vgl. VR, S. 42f. und Anm. S. 43.
Perfektibilität als erzählte Teleologie
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wurde sehr populär.10 In seiner Schrift stellt er fünf Bereiche des Lebens in aufsteigender Reihenfolge vor, die er jeweils auf die „Bestimmung“ des Menschen hin befragt: Sinnlichkeit, Vergnügen des Geistes, Tugend, Religion und Unsterblichkeit. Die Bestimmung des Menschen erschließt Spalding aus der Einrichtung der menschlichen Natur durch Gott.11 Was dem Menschen als Gattungswesen gemäß ist, erkennt er durch Introspektion, durch „Blicke auf mein Inwendiges“.12 Die genaue Aufmerksamkeit auf die eigenen Empfindungen führt Spalding zum Gefühl, daß die eigenen Fähigkeiten unendlich vervollkommenbar sind: „Ich spüre Fähigkeiten in mir, die eines Wachsthums ins Unendliche fähig sind“.13 Da die Einrichtung des Menschen mit derjenigen der Natur kompatibel sein muß, muß es auch eine unendliche Zeitspanne geben, die dem Menschen zur Vervollkommnung zur Verfügung steht: Er ist also unsterblich, seine Perfektibilität ist ins Jenseits verlängert.14 Nur so ist auch gewährleistet, daß nicht das Ende des irdischen Lebens über Glück oder Unglück einer Person entscheidet. Dieses Vervollkommnungs-Modell enthält eine teleologische Komponente, da Gott die Natur des Menschen und mithin sein Ziel geschaffen hat. Das Entscheidende ist also nicht, daß der Mensch bewußt Ziele verfolgt, sondern daß sein Leben als Ganzes auf Vervollkommnung ausgerichtet ist und selbst die ihm widerfahrenden Ereignisse die Funktion haben, ihm auf dem Weg der Vervollkommnung als Mittel zu dienen. Blanckenburg fand also bei Spalding den Gedanken der zielgerichteten Perfektibilität als Bestimmung des Menschen ausformuliert.15 Damit erhält ______________________
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Johann Joachim Spalding: Die Bestimmung des Menschen. 10(?)1768. Abgedruckt von Karl Eibl in: Norbert Hinske (Hg.): Die Bestimmung des Menschen [zugleich Aufklärung 11 (1999), 1. Heft], S. 69–95. Vgl. hierzu Hans Adler: Die Bestimmung des Menschen. Spaldings Schrift als Ausgangspunkt einer offenen Anthropologie. In: Das achtzehnte Jahrhundert 18 (1994), 1. Heft, S. 125–137. Das beeindruckende Verzeichnis aller Schriften zwischen 1740 und 1850, die die „Bestimmung des Menschen“ im Titel tragen, bei Fotis Jannidis: Die „Bestimmung des Menschen“. Kultursemiotische Beschreibung einer sprachlichen Formel. In: Aufklärung 14 (2002), S. 75–95. Vgl. Spalding (1999): Bestimmung, S. 82. Spalding (1999): Bestimmung, S. 80. Spalding (1999): Bestimmung, S. 85. Vgl. Jannidis (1999): Bildung, S. 445. Während es Spalding ganz um den Menschen als Gattungswesen geht, macht sich bei Blanckenburg schon ein stärkeres Bewußtsein für Individualität bemerkbar: Die Bestimmung des Menschen unterliegt individuellen oder historischen Veränderungen, zeigt also „einige Verschiedenheit“ (VR, S. 43), die allerdings nach Blanckenburg „nicht groß seyn [kann]“ (ebd.). Blanckenburg weist beispielsweise auf historische Unterschiede hin (vgl. VR, S. 69f.) oder geht auf nationale Differenzen im Begriff der Vollkommenheit ein (VR, S. 73f.). Man kann sogar davon sprechen, daß die Romanfiguren lediglich in ihren persönlichen, von jeweiligen Variablen abhängigen Bestzustand gebracht werden sollen, also nicht in eine überindividuelle und überzeitliche Vollkommenheit: „wenn er [der Dichter; P.A.] nur
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Die Kongruenz von Real- und Erzählteleologie
die moderne Gattung Roman ihre Bestimmtheit über einen besonderen Nachahmungsinhalt: Der Roman stellt die (relative) Vervollkommnung des Inneren eines Protagonisten durch Ausbildung dar, er ist dem Inhalt nach also ein Entwicklungsroman.16 1.2 Kausalität: Ursache und Wirkung „Ursache“ und „Wirkung“ sind sicher zwei der wichtigsten und erzähltechnisch innovativsten Leitwörter des Versuchs. Sie kehren immer wieder, wenn die Verknüpfung von Ereignissen untereinander oder die Verbindung des Inneren des Protagonisten mit anderen äußeren Ereignissen erläutert werden soll. Die Ursache-Wirkungs-Kette organisiert also die Beziehung der Ereignisse untereinander und das Verhältnis von Innen und Außen des Protagonisten.17 Grundsätzlich gilt für Blanckenburg, daß alle geschilderten Ereignisse eine Wirkung in der erzählten Welt hinterlassen müssen: „Jede Begebenheit in einem Werke, ist da, um Wirkungen hervorzubringen.“ (VR, S. 316) Genauer: Jede Begebenheit müsse auch auf das Innere des Protagonisten wirken und ihn im Sinn der Vervollkommnung verändern. Blanckenburg fordert häufig, daß das Verhältnis von Ursache und Wirkung „anschauend“, also anschaulich18, dargestellt werden soll. Dabei wird die Wirkung um so anschaulicher, je mehr sie zu einem Teilziel auf dem Weg des Protagonisten zur Vollendung wird: „je mehr sie [die Begebenheiten; P.A.], als Mittel zu dem vorgesetzten Entzweck [sic!] sich passen: je größer wird ihr Werth für das Werk seyn.“ (VR, S. 317) Der Grad der Übereinstimmung von der Wirkung einer Begebenheit mit ihrer Funktion, Mittel zum Endzweck des Dichters zu sein, wird zum „Maaßstab für den Werth der Begebenheiten“ (VR, S. 317). Ganz selbstverständlich kontaminiert Blanckenburg hier die Begrifflichkeit der Kausalität (Ursache, Wirkung) mit derjenigen der Teleologie (Mittel, Zweck). Zwischen beiden Arten der Verursachung existiert für ihn offenbar keine Diskrepanz. ______________________
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seine Personen in einen Zustand setzt, der, nach den, in seiner kleinen Welt befindlichen Umständen, und den Eigenschaften der Personen, der beste für sie ist.“ (VR, S. 400) Vgl. Wölfel (1968): Versuch, S. 52. Mit der schlüssigen Motivierung von Ereignissen in der erzählten Welt ist sicher eine „zentrale Erzählintention“ [Jacobs (1981): Theorie, S. 33] von Blanckenburgs Vorbild Agathon getroffen. Mit „anschauend“ (z.B. S. 296) meint Blanckenburg wohl „anschaulich“ im Sinne von erkennbar. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 32 Bde. Leipzig 1854–1960. Hier Bd. 1, Sp. 435f.
Erzählteleologie: Die „Nothwendigkeit des Dichters“
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Mit der strengen Bindung aller Begebenheiten und der Veränderungen innerer Zustände an das Ursache-Wirkungs-Schema ist eine durchgehende kausale Motivierung des Romangeschehens erreicht.19 Hierdurch wird jeder Vorgang in der erzählten Welt gerechtfertigt, da er Folgen für das Romangeschehen hat oder selbst eine Folge desselben ist. Diese Tatsache verleiht den Ereignissen eine Art der Notwendigkeit: In moderner Terminologie fordert Blanckenburg, nur „verknüpfte Ereignisse“ zu schildern, also solche, die „unmittelbar kausal notwendig“20 für den Fortgang der Handlung sind. Für jedes Ereignis muß der Dichter auch innerhalb dieses erzählten Kausalgefüges „Rechenschaft“ (VR, S. 394) ablegen können, das heißt zeigen können, wie ein Ereignis oder ein innerer Zustand durch Ursache und Wirkung mit anderen Ereignissen verknüpft ist. Nun wird ein scheinbares Problem sichtbar: Wie kann eine durchgehend und scheinbar ausschließlich kausal motivierte Welt noch zusätzlich teleologisch im Sinne von Spaldings Vervollkommnungs-Konzept sein? Was gewährleistet, daß die Kausalketten auch immer zweckdienlich, also funktional für die Ausbildung des Protagonisten sind? Mit anderen Worten: Wer sorgt dafür, daß die kausal verknüpften Begebenheiten stets „als Mittel zu dem vorgesetzten Entzweck sich passen“?
2 Erzählteleologie: Die „Nothwendigkeit des Dichters“ Für Blanckenburg ist zunächst der Dichter die Instanz, die die Begebenheiten auf das Ziel der Vervollkommnung des Protagonisten ausrichtet. Derjenige Dichter, der andere Ziele verfolgt, handelt nicht verantwortungsvoll, wie aus den rhetorischen Fragen Blanckenburgs deutlich wird: „Ist es verantwortlich, wenn er sich zu ganz widersprechenden Arbeiten herabläßt? oder ohne Entwurf, Endzweck dichtet, um zu dichten?“ (VR, S. 432) Der Dichter muß sich also einen Schreibplan entwerfen und Figuren, Ereignisse und ihre Beziehungen zueinander unter dem Aspekt von Ursache und Wirkung so abstimmen, daß daraus die Vervollkommnung des Protagonisten resultiert. Anders ist das Zustandekommen eines guten Entwicklungsromans nicht denkbar: ______________________
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Diese sorgfältige kausale Motivierung ist für Blanckenburg kein Selbstzweck, sondern hat eine kommunikative Funktion. An einer Stelle deutet Blanckenburg sogar an, daß das Verständnis des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung das eigentliche Lernziel der Romanlektüre sei. Ziel des Dichters sei es, die Fertigkeit zu lehren, „Wirkungen und Ursachen gegen einander abmessen zu lernen“ (VR, S. 293). Martinez, Scheffel (2002): Erzähltheorie, S. 109.
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Die Kongruenz von Real- und Erzählteleologie
Freylich erfodert eine solche Anordnung eines Werks eine vorher überdachte Wahl und Anordnung der Charaktere und Begebenheiten. Der Entwurf muß gemacht, Wirkung und Ursach gegen einander abgemessen, und das Resultat des Werks festgesetzt seyn, ehe der Dichter die Arbeit anfängt, wenn er solch ein Werk, oder eine Musarion, einen Agathon liefern will. (VR, S. 333)
Blanckenburg bestimmt seinen Idealroman deshalb nicht nur inhaltlich, er analysiert seine vorbildlichen Romane auch hinsichtlich formaler Kompositionsprinzipien.21 Wie können Figuren und Ereignisse so verbunden werden, daß der Dichter sein Erzählziel, also die Vervollkommnung des Protagonisten und die damit verbundene Wirkung erreicht. Für diese kompositorische Ebene hat Blanckenburg einen eigenen Terminus, die „Nothwendigkeit des Dichters“: „Ich verstehe unter der Nothwendigkeit des Dichters eine Begebenheit, die er nöthig hat, damit er den Endzweck erreiche, den er mit seinem Werke sich vorgesetzt hat.“ (VR, S. 343). Mit der „Nothwendigkeit des Dichters“ befinden wir uns nun auf der Ebene der formalen Gestaltung des Werks, im Bereich der Erzählteleologie. Hier steuert der Dichter seine Figuren, ordnet Ereignisse zweckmäßig an und richtet sie auf den „Endzweck“ aus, den er erreichen will. Durch die Finalisierung der Ereignisse auf einen „Endzweck“ bekommen diese eine neue Art der Notwendigkeit, die sich von ihrer Verbindung durch Ursache und Wirkung in der erzählten Welt unterscheidet. In unserer Terminologie: Sie erfüllen eine Funktion für etwas, sie sind da, um den „Endzweck“ zu erreichen. Die Ereignisse und Figuren bilden also ein artifiziell funktionales Gefüge, das durch den „Endzweck“, die innere Vervollkommnung des Protagonisten, eine einheitliche Ausrichtung bekommt. Aus diesem funktionalen Gefüge resultiert für das Romanganze ein hohes Maß an Kohärenz und Notwendigkeit. Begebenheiten, die sich nicht funktionalisieren lassen, sind in Beziehung auf das Ziel des Dichters kontingent und sollten daher erst gar nicht in den Roman aufgenommen werden. So erklärt sich auch Blanckenburgs Ablehnung von Episoden, die ihm zufolge nur zur Unterhaltung des Lesers dienen, aber nicht notwendig für das Romanganze sind.22 ______________________
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Blanckenburg beschäftigt sich hiermit im zweiten Teil seines Versuchs unter dem Titel Von der Verbindung und dem Ganzen eines Romans. Dies nannte die antike Rhetorik die dispositio. Zum Aufbau des Versuchs vor dem Hintergrund der Rhetorik siehe Wölfel (1968): Versuch. Bes. S. 39 und S. 44. VR, S. 325–327. Für die Stelle in der Ilias, in der Thersites auftritt (Il. II, 212ff.), lehnt Blanckenburg die Bezeichnung ‚Episode‘ ab, weil die Passage in Beziehung auf den Endzweck Homers notwendig sei: „wenn ihn Homer brauchte, den Endzweck seines Werks zu erreichen: so weis ich nicht, wie man den ganzen Auftritt Episode nennen könne?“ (VR, S. 327)
Erzählteleologie: Die „Nothwendigkeit des Dichters“
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Die „Nothwendigkeit des Dichters“ ist aber nur scheinbar ein deskriptiver Terminus. Bei genauerem Hinsehen erweist er sich als normativ, weil der Dichter den Endzweck nicht beliebig wählen kann, wenn der Roman gut und nachahmenswert werden soll. Der Endzweck muß eben die „Vervollkommnung“ des Protagonisten sein. Nun folgt aus dem Gesagten, daß Ereignisse doppelt motiviert sind, das heißt: Der Dichter muß auf zwei verschiedenen Ebenen Rechenschaft für sie ablegen. Die kausale Motivierung findet in der erzählten Welt statt. Rechenschaft ablegen heißt hier zu zeigen, wie ein Ereignis durch Ursache und Wirkung mit anderen Ereignissen (oder Zustandsveränderungen des Inneren) in Verbindung steht und deshalb „unmittelbar kausal notwendig“ ist. Dasselbe Ereignis unterliegt aber auch der Erzählteleologie und ist deshalb teleologisch im Sinn der artifiziellen Funktionalität motiviert und notwendig. Hier zeigt der Dichter, in welchen funktionalen Zusammenhängen es steht und warum es als Mittel zum Endzweck nötig war. Die Frage, wozu ein Ereignis in der erzählten Welt stattfindet, kann entsprechend den beiden Aspekten der Erzählteleologie zweifach beantwortet werden: Die Funktionalität kann auf das Romanende bezogen sein. Die Frage, wozu ein Ereignis stattfindet, wird dann mit der Vervollkommnung des Protagonisten beantwortet. Die Frage ‚Wozu?‘ kann aber auch auf die kommunikative Funktion eines Werkteils oder des ganzen Werks bezogen werden. Hierfür bietet Blanckenburg die klassische Formel an, durch Vergnügen zu unterrichten oder aber allgemeine Einsichten in das Verhältnis von Ursache und Wirkung zu vermitteln. Diesem Wirkungsaspekt wenden wir uns später zu. Erzählte Teleologie und Erzählteleologie lassen sich unterscheiden, aber nicht voneinander trennen. Denn natürlich hat schon die Forderung, daß jedes Ereignis in der erzählten Welt eine Wirkung auf die Vervollkommnung des Protagonisten haben soll, Konsequenzen für die Komposition: Daraus resultiert ja gerade die umfassende und ökonomische Funktionalität, mithin die Erzählteleologie. Diese darf in einem guten Roman an keiner Stelle für den Leser spürbar werden. Praktisch wird dies erreicht, indem in der erzählten Welt umfassend kausal motiviert wird, so daß es keine Sprünge oder übertriebene Wirkungen gibt.23 Es soll also eine Realitätsillusion durch kausale Motivierung erzeugt werden. Diese kann im Zeitalter eines rationalistischen Weltbildes nur aufrecht erhalten werden, wenn es keine offensichtlichen Eingriffe des Dichters in die Romanhandlung gibt. So lehnt Blanckenburg eine plötzliche Veränderung des Gemütszustands einer ______________________
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Entsprechend stellte Lugowski bei Sprüngen oder dem Fehlen kausaler Motivierung immer eine besonders stark ausgeprägte „Motivation von hinten“ fest.
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Die Kongruenz von Real- und Erzählteleologie
Figur ab, die nicht kausal-psychologisch motiviert ist. Ebenso bemängelt Blanckenburg Romane, in denen „die Personen das Ansehn von Sklaven, von Maschienen haben, die nach der Willkühr des Dichters sich bewegen.“24 (VR, S. 352) Hier würde sich dann in den Figuren nur die „Nothwendigkeit des Dichters“ zeigen und der Leser könne daraus nichts lernen. Im Gegenzug lobt er an Wielands Agathon: „Ist es möglich, nur zu vermuthen, daß der Dichter in diese Sachen sich gemischt habe? Es geht so zu, wie es, nach allen Gesetzen der Natur zugehen mußte.“ (VR, S. 344) Die äußerst unwahrscheinliche Tatsache, daß die Ereignisse der erzählten Welt nur den Zweck haben sollen, die Vervollkommnung des Protagonisten zu fördern, legitimiert Blanckenburg durch den Glauben an eine Realteleologie: Auch die Wirklichkeit ist in dieser Weise eingerichtet; sie ist technomorph und weist die gleiche Doppelläufigkeit beider Motivationsarten auf, wie sie im Roman beschrieben wurden. Durch diese Auffassung werden Kunstwelt und Realwelt strukturell kongruent; die Romanhandlung muß dann funktional für die Vervollkommnung des Protagonisten sein, wenn der Dichter Wahrheit für sich beanspruchen will.
3 Legitimierung der Erzählteleologie durch die Realteleologie Für die Beschreibung der von Gott geschaffenen Wirklichkeit verwendet Blanckenburg dieselben Begriffe und Metaphern wie in seiner literaturkritischen Terminologie: Ursache, Wirkung, Begebenheit, Faden und Vervollkommnung. Aufbau und Zusammenhang der wirklichen Welt sind identisch mit der Struktur der Romanwelt. Der Dichter wird zum „Schöpfer“, der sich analog zum großen Schöpfer eine Welt erschafft: Dichter heißen so gerne Schöpfer. Ich glaube, daß sie nur dann diesen Namen verdienen, wann sie ihren Werken so viel Ähnlichkeit, als es möglich ist, mit den Werken des Uneingeschränkten zu geben wissen. Wenn wir eingeschränkten Geschöpfe unsre Kraft anstrengen, um das All, so viel wir vermögen, zu übersehen: so entdecken wir, daß in diesem Ganzen nichts um sein selbst willen da; – daß eins mit allem, und alles mit einem verbunden ist; – daß, so wie jede Begebenheit ihre wirkende Ursache hat, diese Begebenheit selbst wieder die wirkende Ursach einer folgenden Begebenheit wird. Wir sehn eine, bis ins Unendliche fortgehende Reihe verbundener Ursachen und Wirkungen: ein, in einander geschlungenes Gewebe, das, wenn es aus einander zu wickeln wäre, ganz ununterbrochen einen Faden enthielte; oder vielmehr dessen verschiedene Fäden sich alle in einen Anfang – die Weisheit des Schöpfers vereinen, und dessen Ende vielleicht in unsrer höhern Vervollkommnung… doch wer kann dies, wer kann das Ganze ______________________
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Ähnlich z.B. VR, S. 282 und S. 345.
Legitimierung der Erzählteleologie durch die Realteleologie
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übersehen? Aber Vernunft, Natur, Erfahrung bestätigen alle das wirkliche Daseyn dieser Verknüpfung. – Wenn der so gepriesene Grundsatz der Nachahmung irgend einen Sinn hat: so ists wohl kein andrer, als der: verfahret in der Verbindung, der Anordnung eurer Werke so, wie die Natur in der Hervorbringung der ihrigen verfährt. (VR, S. 312f.)
In der wirklichen Welt ist „nichts um sein selbst willen da“, alles ist miteinander „verbunden“. Diese Bezugnahme der Dinge auf etwas anderes besteht oberflächlich betrachtet aus „Ursachen und Wirkungen“. Doch diese Kausalität darf nicht kontingent oder richtungslos gedacht werden. Hierfür bürgt die Erschaffung der geordneten Welt durch Gott und als anschauliche Metapher die Fäden, die in den Ursache-WirkungsKetten enthalten sind und einen gemeinsamen Anfang und ein Ende haben: Eingerichtet vom allmächtigen Gott, der Ausgangs- und Verknüpfungspunkt der Fäden ist, laufen sie, so vermutet Blanckenburg, in Richtung unserer „höhern Vervollkommnung“.25 Unschwer ist hierin eine rationalistische Version der anthropozentrischen Heilsgeschichte zu erkennen: Der Mittelpunkt des weltlichen Geschehens ist der Mensch und seine Bestimmung. Die Dichter sollen sich nun zu Schöpfern im Kleinen machen: Sie sollen die Wirkungsweise der Natur nachahmen, also die erzählte Welt funktional auf die Vervollkommnung des Protagonisten ausrichten und diese Verbindungen, die als teleologische Beziehungen die Spur des Absichtlichen tragen würden, zusätzlich kausal motivieren und so ihre Funktionalität überdecken. Auch wenn Blanckenburg ins Detail geht, zeigt sich seine durchaus zeittypische teleologische Argumentation und die strukturelle Kongruenz mit der erzählten Romanwelt sehr deutlich: Eben so wie die Werke der Natur geordnet sind, die, indem sie uns Vergnügen gewähren, zu gleicher Zeit Keime zum Denken enthalten: eben so wird der Dichter sein Werk ordnen. Das sanfte Grün, so gebildet, weil es nach Maaßgabe unsers Auges so gebildet seyn muß, wenn es uns vergnügen soll, kleidet den größten Theil der Schöpfung ein, der unsre denkende Kraft auf die angenehmste Art beschäftigt. – (VR, S. 252f.) ______________________
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Ausdrücklich weist Blanckenburg darauf hin, daß es nur ein Erkenntnisproblem ist, wenn uns die Welt so erscheint, als ob sie kein sinnvolles Ganzes bilde. Es ist kein Problem in der Sache selbst: „unsre Schwachheit, nicht der Mangel ihres [der teleologischen Verbindung; P.A.] Daseyns“ (VR, S. 314f.) verhindert, daß wir die Ziele immer erkennen. Auch Frick bezeichnet Blanckenburgs Problem als ein „Problem der finiten Erkenntnis“ [Frick (1988): Providenz, S. 359]. Deshalb kann nach Blanckenburg nur der Dichter ein Ganzes schaffen, nicht aber der Biograph. Letzterer übersieht nämlich nicht das Leben als Ganzes, während der Dichter seine Figuren erfindet und so ein funktionales Ganzes schaffen kann. Der Dichter sei „Schöpfer und Geschichtschreiber seiner Personen zugleich. Er steht so hoch, daß er sieht, wohin alles abzweckt.“ (VR, S. 379f.)
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Die Kongruenz von Real- und Erzählteleologie
Das Grün der Natur ist von Gott für den Menschen geschaffen, um ihn zu „vergnügen“ und ihn zum Denken anzuregen. Wohlgemerkt: Nicht weil das Grün da ist, beschäftigt es den Menschen, sondern weil den Menschen etwas Grünes vergnügt, hat Gott die pflanzliche Natur vorwiegend grün geschaffen. Eben diese Argumentation verleiht der sonst auch anders denkbaren Pflanzenfarbe Notwendigkeit. Pflanzen sind auf die gleiche Weise grün, um den Menschen zu vergnügen, wie der Dichter ein Ereignis in der erzählten Welt stattfinden läßt, um den Romanleser zu vergnügen. Für Blanckenburg sind wirkliche und erzählte Welt werkhaft (gemacht) und deshalb durch artifizielle Funktionalität richtig zu beschreiben.26 Sie sind deckungsgleich (kongruent), befinden sich aber auf anderen Ebenen. Vor dem Hintergrund moderner Lektüren von Wielands Agathon spricht Werner Frick deshalb geradezu von einer „Re-Theonomisierung des Weltbildes bei Blanckenburg“.27 Trotz dieser theologischen Argumentation dürfen die durchaus zeitgenössischen aufklärerischen Grundüberzeugungen Blanckenburgs nicht übersehen werden. In einem naturwissenschaftlich geprägten Weltbild wirkt Gott keine Wunder mehr gegen die Naturgesetze, sondern er wirkt mit seiner Vorsehung durch sie hindurch. Reinhold Bernhardt führt aus: Die Identität von Natur, Gott und Vorsehung wurde zum theologischen „Grundgedanken der Aufklärung“. Als selbstverständliche Vernunftwahrheit bildete die Überzeugung vom Walten der Vorsehung in Natur und Geschichte eine der allgemeinen Basisplausibilitäten der aufklärerischen Geisteskultur […].28
Die Vorsehungslehre wurde im 17. Jahrhundert vor dem Hintergrund des zunehmend kausalen Weltbildes vom aktualen Modell, das das jeweilige spontane Handeln Gottes heraushob, auf das sapiential-ordinative umgestellt, das die perfekte Struktur oder Konstruktion der Welt betonte.29 Blanckenburg steht hierbei deutlich in der aufklärerischen Tradition der Leibniz-Wolffschen Metaphysik. Bei Verschiedenheit in Details besteht deren metaphysische Grundposition in der Einheit von Teleologie und Kausalität in der besten aller Welten: „Im Prinzip des Besten verbin______________________
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Werner Frick bezeichnet diesen Sachverhalt prägnant als das „doppelt triadische Schema von Blanckenburgs romantheoretischer Argumentation.“ [Frick (1988): Providenz, S. 361.] Damit meint er auf der einen Seite den Romanautor, der alle kausal verknüpften Ereignisse auf eine Romanfigur hin finalisiert. Diese Struktur wiederhole mimetisch die ontologische Trias eines Schöpfers, der die kausale und vernünftige Naturordnung auf die Perfektibilität des Menschen ausrichte. Frick (1988): Providenz, S. 360. Reinhold Bernhardt: Was heißt „Handeln Gottes“? Eine Rekonstruktion der Lehre von der Vorsehung. (Habil. Heidelberg 1997) Gütersloh 1999, S. 188. Vgl. Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 159ff.
Legitimierung der Erzählteleologie durch die Realteleologie
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den sich göttliche Absichten und kausale Wirkung, alles Kausalgeschehen hat zugleich einen finalen Grund.“30 Leibniz akzeptiert im Reich der Natur nur die Kausalität, erst um die Kausalgesetze zu begründen, muß auf die Finalität Gottes zurückgegriffen werden. Damit wird der Zweck Gottes zur Ursache: „Die causa finalis ist die Ursache für die Wirksamkeit der causa efficiens.“31 Hier sieht man also anhand einer einflußreichen philosophischen Position, daß Kausalität und Teleologie nicht unvereinbar gedacht werden müssen, wie Martinez annimmt. Nach diesem Modell wurde vielmehr Jahrhunderte lang die Wirklichkeit aufgefaßt. Entsprechend wurden natürlich auch erzählte Welten nach ihr konzipiert. Und selbst heute gibt es eine anhaltende Diskussion, ob im Ursache-Wirkungsschema nicht auch immer ein Ziel gedacht werden muß.32 Blanckenburg geht wohl implizit von eben diesem Verhältnis von Kausalität und Teleologie aus. In der wirklichen wie in der erzählten Welt finden sich nur Ursache-Wirkungs-Beziehungen, die aber wiederum ihre Ursache, ihren Anfang in den Zielen Gottes oder des Dichters haben. Dies soll das Bild verdeutlichen, nach dem die Ursache-Wirkungs-Ketten in der Hand Gottes sich zu einem Punkt vereinen. Kausalität und Finalität unterscheidet Blanckenburg also, aber er vermag sie nicht zu trennen. Wie sollte es auch eine richtungslose und kontingente Kausalität geben, da die Wirklichkeit ja ein intentional hergestelltes Artefakt ist? Blanckenburg führt weiter aus: Der Dichter hat in seinem Werke Charaktere und Begebenheiten unter einander zu ordnen und zu verknüpfen. Diese müssen nun, nach den obigen Voraussetzungen, so unter einander verbunden seyn, daß sie gegenseitig Ursach und Wirkung sind, woraus ein Ganzes entsteht, in dem alle einzelne Theile unter sich, und mit diesem Ganzen in Verbindung stehen, so daß das Ende, das Resultat des Werks eine nothwendige Wirkung alles des vorhergehenden ist. Das Werk des Dichters muß eine kleine Welt ausmachen, die der großen so ähnlich ist, als sie es seyn kann. (VR, S. 313f.)
Schon aus der Tatsache, daß Ereignisse und Figuren „gegenseitig Ursach und Wirkung sind“ (VR, S. 314), entsteht ein „Ganzes“. Die intrinsische Teleologie des Schöpfers ist hier schon immer mitgedacht: Natürlich verfolgen Dichter und Gott Ziele mit den Kausalketten. So entstehen in Dichtung und Wirklichkeit „Ganzheiten“, die sich bis auf ihren Realitäts______________________
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Hans Poser: Die Einheit von Teleologie und Erfahrung bei Leibniz und Wolff. In: Hans Poser (Hg.): Formen teleologischen Denkens. Philosophische und wissenschaftshistorische Analysen. Kolloquium an der Technischen Universität Berlin, WS 1980/81. Berlin 1981, S. 99–117, hier S. 109. Poser (1981): Einheit, S. 106f. Robert Spaemann und Reinhard Löw neigen zu dieser Ansicht. Vgl. Spaemann, Löw (1985): Die Frage Wozu? Bes. S. 245ff.
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Die Kongruenz von Real- und Erzählteleologie
gehalt strukturell gleichen. Blanckenburg kann so seine Forderungen an die Erzählteleologie durch die Realteleologie legitimieren. Die Leitmetapher für das neue Vorsehungsverständnis ist seit Leibniz die der machina mundi. Besonders die Spielart des Uhrengleichnisses, das auf Nikolaus von Oresme (um 1320–1382) zurückgeht, wurde überaus populär.33 Die Welt wird dabei dem Räderwerk einer Uhr verglichen, wie sie beispielsweise im Straßburger Münster seit 1547 zu sehen ist. Gott wird zum Uhrmacher. Der Vergleich kann mehrere Aspekte des neuen Vorsehungsverständnisses ausdrücken. Die einzelnen Teile der Welt, die alle notwendig sind, funktionieren rein mechanisch, also nach Ursache und Wirkung. Sie sind perfekt aufeinander abgestimmt und wirken harmonisch zusammen. Zugleich muß es einen göttlichen Uhrmacher geben, der die Uhr konstruiert und gebaut hat. Nachdem sie aber von ihm aufgezogen wurde, braucht er nicht mehr eingreifen, damit die Uhr richtig geht. Gott steht wie ein Uhrmacher außerhalb der Welt, hat sich zurückgezogen, und läßt das perfekte Werk der Schöpfung ablaufen. Damit wendet sich das Modell gegen spinozistische Vorstellungen der Identität von Gott und Schöpfung ebenso, wie gegen das ältere Modell eines aktiv eingreifenden Gottes.34 Auch Blanckenburg verwendet das Uhrenmodell, jetzt signifikanterweise für das Ganze eines Romans. Er hebt den hier schon behandelten Aspekt heraus, daß der Dichter in die Romanhandlung nicht eingreifen dürfe und außerhalb seines Werkes stehen müsse: Wenn mein Begriff, meine Voraussetzung vom Ganzen richtig ist: so versteht es sich von selbst, daß der Romanendichter seine eigne Absichten, die er mit seinem Werk gehabt hat, so genau mit den, in seinem Werk gebrauchten Mitteln verbunden haben müsse, daß sie aus diesen erfolgen, ohne, daß wir seine Hand weiter im Spiele sehen. Er muß vorher die Materialien, das heißt, seine handelnden Personen und ihre verschiedenen Eigenschaften, aussuchen, zurechtputzen, nach Maaßgabe ihrer entworfenen Einrichtung zusammen setzen, – das Werk aufziehen, – und nun es seinen Weg gehen lassen. Der Dichter selbst gehört gar nicht mit ins Ganze seines Werks; er wäre was außerordentliches, das gleichsam in den Gang desselben hineingriffe. Der Künstler, der all’ Augenblicke über seiner Uhr stellen muß, hat wahrlich keine gute Uhr gemacht. (VR, S. 339f.)
Das Uhrenmodell kann einfach zur Beschreibung des neuen Gegenstandsbereichs eingesetzt werden: Wirklichkeit und erzählte Welt lassen sich mit dem gleichen Modell beschreiben. Seine primäre Leistung ist die wechselseitige Präzisierung von werkhafter Wirklichkeit und erzählter Welt. Die widerspruchslose Doppelläufigkeit von Kausalität und Teleologie wird aus der Realteleologie entlehnt, auf die Erzählteleologie übertragen und erhellt von dort aus wiederum die Realteleologie. Dabei ist aus ______________________
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Vgl. Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 176. Vgl. Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 176.
Legitimierung der Erzählteleologie durch die Realteleologie
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heutiger Sicht eine Realteleologie, also eine artifizielle Funktionalität der Natur, nicht zu halten. Überträgt man nun diese angenommene artifizielle Funktionalität der Natur auf einen gemachten Gegenstand, wie eine erzählte Welt, dann trifft sie wörtlich zu und ist wahr. Merkwürdigerweise legitimiert Blanckenburg eine in diesem Punkt korrekte Beschreibung von Literatur durch eine – aus heutiger Sicht – falsch aufgefaßte Wirklichkeit. Doch das Modell hat auch blinde Flecken; es beschränkt nämlich Blanckenburgs Erkenntnisse hinsichtlich des Romans: Daß Blanckenburg den Erzähler im Romanwerk nicht berücksichtigt, wurde immer wieder bemerkt. Dies liegt nach Wölfel an der Orientierung am Drama oder am Vorbild des Epos.35 Voßkamp wies später darauf hin, daß Blanckenburg einen Erzähler als Instanz zur Schaffung einer ästhetischen Einheit nicht nötig habe, weil „die Romanerfindung unter teleologischem Aspekt immer schon eine Einheit darstellt, die unmittelbar mit der Ordnung des Universums korrespondiert.“36 Wir können dies durch die Auffassung der Welt als machina präzisieren: Wo die erzählte Welt und die Wirklichkeit nach dem Uhrenmodell gesehen werden, hat der Erzähler keinen Platz. Die deistische Analogie legt nahe, daß es in der erzählten Welt keine Instanz gibt, die, etwa wie ein auktorialer Erzähler, das ganze Geschehen übersehen oder gar erschaffen würde. Alle Instanzen, die das „Ganze“ übersehen und ordnen können, fallen bei Blanckenburg zusammen: Der Erzähler, der christliche Gott innerhalb der erzählten Welt und schließlich der empirische Dichter. Und sie alle haben in der Romanhandlung keinen Platz, weil ein Uhrmacher nicht in seiner Uhr aufzufinden ist. Darauf basiert ja gerade die Realitätsillusion und damit die Wirkungsmöglichkeit des Romans. So zeigt sich an dieser Stelle, daß Blanckenburgs postulierte Kongruenz von Real- und Erzählteleologie die genaue Lektüre des Agathon einerseits förderte, andererseits aber auch steuerte und begrenzte.37
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Vgl. Wölfel (1968): Versuch, S. 49. Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich Blanckenburg. Stuttgart 1973, S. 196. Dies gilt besonders für das Romanende der ersten Fassung des Agathon. Vgl. hierzu Jacobs (1981): Theorie, S. 39. Die blinden Flecken von Blanckenburgs Agathon-Lektüre erscheinen jetzt weniger „erstaunlich“ (ebd. S. 41), wie Jacobs urteilte. Vor dem Hintergrund von Blanckenburgs Metaphorik erscheinen sie geradezu zwingend.
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Die Kongruenz von Real- und Erzählteleologie
4 Die Vervollkommnung von Figur und Leser als Ziel des Romans Blanckenburgs Romantheorie hat ihren Ausgangs- und Zielpunkt in einem bestimmten Verständnis von den Aufgaben von Romanen und den erzieherischen Wirkungen, die sie beim Leser hervorbringen sollen.38 Der „Endzweck“ des Romans und die „Absicht“ des Dichters sind die Begriffe, mit denen Blanckenburg auf den Wirkungsaspekt des Romans hinweist. Der „Endzweck“ ist der Maßstab und das Korrektiv für die Anlage des Romans. Die Funktion des Werks ist für Blanckenburg die Unterrichtung des Lesers, was durch Unterhaltung erreicht werde: „Alle Dichter haben den allgemeinen Endzweck, durch das Vergnügen zu unterrichten.“ (VR, S. 249) Unterrichtung heißt für Blanckenburg „Vervollkommnung“ des Lesers. Hier wird also systematisch an einer anderen Stelle, aber in strenger Parallelität, wiederum Spaldings Konzept der Perfektibilität wichtig. Nicht nur der Protagonist des Romans soll sich vervollkommnen, auch der Romanleser soll durch die Erregung von Leidenschaften dem göttlich bestimmten Ziel der Vervollkommnung näher gebracht werden:39 Der Dichter soll in seinen Lesern, auf die Art, wie er es durch seine Mittel vorzüglich kann, Vorstellungen und Empfindungen erzeugen, die die Vervollkommung des Menschen, und seine Bestimmung befördern können. (VR, S. 252)
Wölfel faßt die Tatsache der doppelten Vervollkommnung von Protagonist und Leser prägnant zusammen: „Der Roman ist als innere Geschichte Entwicklungsroman, als Entwicklungsroman die Geschichte des sich vervollkommnenden Menschen, zum Zweck der Vervollkommnung des Romanlesers erzählt.“40 Da das Ende der Geschichte für die Erzählteleologie schlichtweg entscheidend ist, muß jeder gute Roman nach Blanckenburg an dieser Stelle eine spezielle Wirkung beim Leser erzielen. Das Ende des Romans soll so beschaffen sein, „daß wir uns dabey beruhigen können“ (VR, S. 254). Dies ist nur möglich, wenn das Ende der Geschichte auch für den Protagonisten ein „Beruhigungspunkt[ ]“ (VR, S. 401) ist. Am Ende des Romans, so ______________________
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Auch nach Robert Dye sind trotz der fragwürdigen Systematik von Blanckenburgs Versuch alle wichtigen Ziele, die er einem Roman zuschreibt, auf das Wirkziel bezogen. Vgl. Robert E. Dye: Friedrich von Blanckenburg’s theory of the novel. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 60 (1968), 1. Heft, S. 115–140. Hier S. 115. Nach Blanckenburg trägt dasjenige Gefühl, das die stärksten Empfindungen erregt, auch am meisten zur Vervollkommnung des Menschen bei. Diesen Zusammenhang habe die „weise Vorsicht“ eingerichtet. Vgl. VR, S. 30f. Wölfel (1968): Versuch, S. 53.
Drei alternative Romanabschlüsse
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können wir den Wirkungs-Aspekt verdeutlichen, soll nach den scheinbaren Wirrnissen der Romanhandlung ein Punkt erreicht werden, der dem Leser einen vollen Überblick über die sinnvolle Romanhandlung erlaubt und ihm ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Er soll beruhigt das Buch zuschlagen können, ohne ungeklärte Fragen oder ungewisse Aussichten für den Romanhelden.41 In der erzählten Welt wird der Weg zum „Beruhigungspunkt“ über Ursache-Wirkungs-Beziehungen realisiert. Die zusätzliche Bestimmung, daß der Dichter „nicht Umwege nimmt“ (VR, S. 401) um an das Ziel zu gelangen, verschärft den teleologischen Zug der Romanhandlung. Der Weg soll also geradlinig verlaufen, was Blanckenburg mehrfach präzisiert (vgl. VR, S. 401f.): 1. Die Bildung einer Figur (als Wirkung) muß durch diejenigen Ereignisse hervorgebracht werden, die als Ursache „nöthig“ (VR, S. 401) sind. Die Figur muß diese Bildungsangebote auch annehmen, darf also nicht unter der möglichen Bildungsstufe zurückbleiben. 2. Es dürfen nicht mehr Ereignisse dargestellt werden, als zur Bildung nötig sind. 3. Es dürfen keine sich widersprechenden Ereignisse geschildert werden, die entsprechend unverträgliche Charaktereigenschaften im Protagonisten hervorbringen könnten: „Mit einem Wort, es muß Übereinstimmung, es muß Einheit im Charakter seyn.“ (VR, S. 402) Blanckenburg zieht aber auch andere Romanabschlüsse in Betracht. Er spricht ein offenes Ende, eine „Bildungstragödie“42 und den Tod des Protagonisten an. Alle drei Romanschlüsse werden mit Begründungen abgewiesen, die sich auf die Realteleologie stützen.
5 Drei alternative Romanabschlüsse 5.1 Offenes Ende? Blanckenburg diskutiert zunächst die Frage, ob der Dichter das Recht habe, „mitten im Lauf der Begebenheiten, aufzuhören“ (VR, S. 393). Seine Antwort: „Man nennt so was täuschen“ (VR, S. 393). Denn der Mensch sei so beschaffen, daß ihn der Zweck einer Sache mehr interessiere als ihre Wirkursache. Diese anthropologische Einsicht belegt er mit einem Zitat ______________________
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Blanckenburg nennt in diesem Zusammenhang die Erfindung, den Roman mit der Hochzeit der Helden zu schließen, „so ganz übel nicht“ (VR, S. 395). Dieser Begriff ist einem Brief Hermann Hettners an Gottfried Keller entlehnt und zielt auf die erste Fassung des Grünen Heinrich. Vgl. das Kapitel „Bildungsroman“ im GottfriedKeller-Teil dieser Arbeit.
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Die Kongruenz von Real- und Erzählteleologie
des schottischen Juristen und Philosophen Lord Henry Home (1696– 1782), seinem „Hauptgewährsmann“43 in schwierigen ästhetischen Fragen: „jedes Werk, das Kunst und Erfindung zeigt, erregt unsre Neugierde nach zwey Umständen; zuerst, wie es gemacht ist, und hernach, zu welcher Absicht es gemacht ist. Unter diesen beyden Untersuchungen ist die letzte die wichtigste, weil allemal die Mittel der Absicht entsprechen müssen; und in der That wird unsre Neugierde von der Endursache weit mehr gereizt, als von der wirkenden Ursache. Dieser Vorzug, den jene vor dieser hat, fällt nirgends mehr in die Augen, als wenn wir die Werke der Natur betrachten. Wenn wir in der wirkenden Ursache Macht und Weisheit entdecken, so zeigt die Weisheit nicht weniger in der Endursache; und in dieser allein werden wir die Güte gewahr, die unter allen göttlichen Eigenschaften die wichtigste für den Menschen ist.“ (VR, S. 393)
Homes anthropologische Erkenntnis bezieht sich auf alle Werke, die „Kunst und Erfindung“ zeigen, also gleichermaßen auf natürliche und künstliche Gegenstände. „Macht und Weisheit“ kann man nach Home bei der Naturbetrachtung auch in den kausalen Ursachen finden, doch offenbare sich die „Güte“ Gottes erst in der Endursache. Ganz deutlich ist hier die emotionale Komponente des ‚plurifunktionalen Führungssystems‘ eines technomorphen Weltbildes zu sehen.44 Diese Güte Gottes soll ein kunstvolles Romanende spiegeln und somit zur Beruhigung des Lesers beitragen. Auch für das künstlerische Romanganze ist es grundlegend wichtig, daß sich am Romanschluß alle Ursache-Wirkungsketten in der Ausbildung des Protagonisten vereinen. Laufen diese Fäden auseinander oder werden abgeschnitten, kann der Dichter keine „Rechenschaft“ mehr ablegen, warum „die Begebenheiten sich vielmehr so, als anders zugetragen haben“ (VR, S. 394). Die einzelnen Ereignisse werden ohne Ziel also kontingent, sie verlieren ihre Notwendigkeit. Damit geht der Charakter des Kunstwerks als etwas „Ganzes“ verloren: „Ohne Vereinigung der verschiedenen einzeln Fäden eines Werks in ein Ende, ohne Verknüpfung ihrer in einen Knoten, läßt sich kein wahrhaftes Ganzes denken.“ (VR, S. 395) Die Wirklichkeit ist aber ein „Ganzes“ und der Roman muß diese Ganzheit wiedergeben, wenn er eine hohe künstlerische Qualität erreichen will.
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Lämmert (1965): Nachwort, S. 546. Vgl. Topitsch (1979): Erkenntnis und Illusion, S. 9.
Drei alternative Romanabschlüsse
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5.2 Bildungstragödie? Nun ließe sich aber auch eine lückenlose Funktionalisierung der Begebenheiten mit dem Ziel konzipieren, den Protagonisten scheitern zu lassen oder ihn zu einer „höchst elenden Denkungs- und Empfindungsart“ (VR, S. 399) zu führen. Dadurch würde der Roman, gleichsam eine geschlossene Bildungstragödie, nach den bis jetzt vorgetragenen Kriterien nicht notwendig in ästhetischer Hinsicht verlieren. Blanckenburgs Entschärfung dieser Gefahr ist charakteristisch: Sie stützt sich auf eine optimistische Anthropologie und auf die Realteleologie. Zunächst geht Blanckenburg davon aus, daß jeder Mensch andere Menschen, fiktive oder echte, glücklich sehen will (vgl. VR, S. 399). Warum sollte also jemand freiwillig einen Roman mit schlechtem Ende schreiben? Für den Fall, daß dies jemand vorhabe, weist Blanckenburg auf die perfekte teleologische Struktur der wirklichen Welt hin. Denn wer wolle „gern dem großen Werkmeister der Natur so unähnlich“ (VR, S. 399) werden? In der wirklichen Welt werden wir, durch alle Begebenheiten unsers Lebens, auf diese oder jene, aber immer auf die, für uns, für unser Seyn, für unsern ganzen Zustand aufs Beste passende Art ausgebildet. Wir, unser Charakter, unser eignes Selbst, ist am Ende, so schlimm wir selbst es auch oft angelegt haben, nach Maaßgabe aller Umstände, immer das Beste, das aus uns werden konnte. – (VR, S. 400)45
Der Verweis auf die von Gott eingerichtete Wirklichkeit hat hier wieder legitimatorische Funktion. Wer einen Roman mit ungewissem oder schlechtem Ausgang schreibt, entfernt sich von Gott und der Natur, mithin von der Wahrheit. Unglück im Lebenslauf wird aus dieser Perspektive zur persönlichen Schuld, die nicht repräsentativ für die Einrichtung der Welt ist. 5.3 Tod des Protagonisten? Auch den Tod des Protagonisten wehrt Blanckenburg mit dem Blick auf die Wirklichkeit ab. Den Helden sterben zu lassen hätte das Ansehn, als ob dies umsonst Dichten heißen könne, weil dies Etwas machen hieße, das wieder aufhörte zu seyn. Warum hätte der Dichter erst geschaffen, wenn er wieder untergehen lassen wollte? Warum hätte er sein Werk erst ins Seyn gerufen, wenn er es zum Nichtseyn wieder zurück führen wollte? (VR, S. 396) ______________________
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Schon vorher heißt es ähnlich: „Der Urheber der Natur hat uns gewiß nichts versagt, das, auf irgend eine Art, unsrer Bestimmung uns näher bringen kann.“ (VR, S. 31f.)
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Die Kongruenz von Real- und Erzählteleologie
In der Natur dagegen herrsche ein anderes Prinzip: „In der Natur dauert alles fort“ (VR, S. 396): Daß „aus dem Staube des Helden in der Natur etwas anders wird – und wäre es auch nur eine Staude, ein Blume – das sehen wir, davon sind wir überzeugt, und wissen, daß es nicht anders seyn kann.“ (VR, S. 397) Auch wenn in der Natur ein Lebensfaden scheinbar abgerissen werde, „der eigentliche, wahre Faden dauert ununterbrochen fort.“ (VR, S. 397) Auf die Tatsache einer (wie auch immer vorgestellten) Unsterblichkeit kann aber der Romandichter nicht zurückgreifen. Eine vage, kaum anschaulich zu schildernde Aussicht, daß ein gestorbener Protagonist im Jenseits oder auf Erden weiter lebe, reicht hier nicht aus. Schließlich kommt der Gedanke, daß sich etwas in Nichts verwandelt, vollends nicht in Frage: „Die gütige Vorsicht hat ihn uns unbegreiflich gemacht. –“ (VR, S. 397) Zudem ist der Tod etwas Körperliches und kann deshalb vom Dichter nicht anschaulich dargestellt werden (vgl. VR, S. 397). So soll der Dichter also seinen Helden am Ende des Romans leben lassen, was letztlich den Leser in der Weise beruhige wie die Gewißheit auf Unsterblichkeit in der Realität.
6 Zusammenfassung In Blanckenburgs Versuch über den Roman sahen wir idealtypisch die Folgen einer umfassenden Realteleologie für die Romantheorie. Blanckenburg ging von der Vorstellung eines technomorphen Weltbildes aus, dem Leibnizens Doppelläufigkeit von Teleologie und Kausalität zugrunde liegt. Das machina-mundi-Modell wurde durch eine Spalding geschuldete Vervollkommnungs-Lehre weiter spezifiziert. Das Ergebnis war die Annahme, daß alle Ereignisse und Gegebenheiten der Welt zweckdienlich für die Vervollkommnung des Menschen sind. Dieser Glaube wurde die Argumentationsbasis für die Romantheorie. In der erzählten Welt gibt es dieselbe durch Kausalketten vermittelte Teleologie wie in der Wirklichkeit. In beiden Welten ist die Instanz, auf die diese Teleologie zurückgeht, nicht sichtbar. Alle ihre Wirkungen sind durch Kausalketten vermittelt. War der Grund für diese Möglichkeit im Fall der Realteleologie Gott, so ermöglicht im Roman der Dichter die Doppelläufigkeit von Teleologie und Kausalität. Real- und Erzählteleologie erwiesen sich als kongruent und konnten sich so wechselseitig erhellen, stützen und legitimieren; Wirklichkeit und Roman waren deshalb nach dem gleichen Gegenstand, nämlich dem einer Uhr, modellierbar.
Zusammenfassung
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In der Vervollkommnung des lesenden Menschen trafen sich die Ziele des Dichters mit denjenigen Gottes. Das Ende des Romans wurde ebenfalls mit dem Blick auf eine realteleologische Wirklichkeit festgelegt und alternative Romanschlüsse abgewiesen. Damit bekam die Realteleologie normative Kraft für die Gestaltung der Erzählteleologie: Ein Roman, der Wahrheit für sich reklamieren will, muß die Funktionalität der Welt strukturell nachahmen. Damit würde ein Roman, der Blanckenburgs Anweisungen genügen würde, dem funktionssuchenden Menschen in besonderer Weise entgegenkommen. Das nächste Kapitel wird die Krise der Realteleologie im 19. Jahrhundert behandeln. Antiteleologische Bestrebungen im 19. Jahrhundert richten sich besonders gegen zwei realteleologische Konzeptionen: Gegen die Vorsehungslehre in ihrer modernen, rationalistischen Version, wie wir sie schon bei Blanckenburg beobachten konnten, und gegen den deutschen Idealismus, besonders gegen sein Organismus-Verständnis. Anhand von zwei Kondensationspunkten werden wir die Realteleologiekrise vorstellen: Ludwig Feuerbach bricht mit dem deutschen Idealismus und richtet sich allgemeiner gegen das technomorphe Weltbild, wie es aus der Vorsehungslehre entsteht. Charles Darwin aber gibt der Teleologie-Debatte eine entscheidende Wende, indem er die Zweckmäßigkeit der Organismen durch Prinzipien erklärte, die damals als mechanisch und deshalb als zufällig aufgefaßt wurden. Diese Erklärung konkurrierte mit der Erklärung der Zweckmäßigkeit durch die idealistische Philosophie, die ein geistiges und schöpferisches Prinzip im zweckmäßigen Organismus verortete. Ob die organische Entwicklung von Natur und Mensch zielgerichtet oder zufällig ist, hängt von dieser Frage ab.
III Die Krise der Realteleologie im 19. Jahrhundert 1 Der realteleologische Hintergrund der Krise In diesem Kapitel soll die Krise realteleologischer Vorstellungen im 19. Jahrhundert anhand von prominenten Beispielen, besonders anhand von Feuerbach und der Darwin-Rezeption, nachvollzogen werden. Beide, Feuerbach und Darwin, legen willentlich oder unwillkürlich ihre Hand an eine der Wurzeln realteleologischer Vorstellungen:1 Feuerbach entlarvte die Vorsehungslehre als egoistische Projektion des menschlichen Zielhandelns auf die Natur und griff somit das technomorphe Weltbild an. Darwins Theorie richtete sich implizit gegen idealistische OrganismusKonzeptionen und brachte damit organologische Denkweisen unter verstärkten Legitimationsdruck. Die Zielsetzung dieses Kapitels ist es, zu zeigen, daß wissenschaftliche Theorien Irritationen erzeugen, die andere Versuche der Welterklärung vor bestimmte Probleme stellen: Die zunehmende Abkehr von teleologischen Erklärungsarten oder gar die Neukonzeption der biologischen Zweckmäßigkeit stellte philosophische und weltanschauliche Entwürfe vor Probleme, die nicht einfach ignoriert werden konnten. Sie verbanden nämlich mit diesen Konzepten eine emotionale Komponente und schließlich Handlungsanweisungen. Ist die Welt zweckmäßig für die Entwicklung eines Individuums? Gibt es überhaupt eine große aufsteigende Entwicklungslinie in Natur und Geschichte? Oder vollzieht sich das Leben in ungerichteten und deshalb kontingenten Veränderungen? Fragen wie diese werden im Anschluß an die hier präsentierten Diskussionen über Teleologie gestellt. Die Popularisierung von wissenschaftlichen Theorien und Erkenntnissen erweist sich als Schnittstelle, die die Anschlüsse für Philosophie, Weltanschauungsliteratur und schließlich auch Dichtung bereitstellt. Um die Krise teleologischer Wirklichkeitsvorstellungen sichtbar zu machen, müssen zunächst die für das 19. Jahrhundert maßgeblichen realteleologischen Ordnungsschemata vorgestellt werden. Die christliche Vorsehungslehre ist sicher die wirkungsreichste Realteleologie des Abendlandes. Sie hat während ihrer Anpassungen an veränderte Wirklichkeitskonzepte viele Umgestaltungen erfahren, ihr teleologi______________________
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Vgl. hierzu Oldemeyer (1994): Die beiden Wurzeln des teleologischen Denkens.
Der realteleologische Hintergrund der Krise
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scher Kern blieb dabei aber unberührt. Die aufklärerische Vorsehungslehre, die einen transzendenten Gott final durch die Kausalketten der Natur wirken ließ, blieb auch im „Jahrhundert der Naturwissenschaften“ (Werner von Siemens) äußerst einflußreich. Dies wird schon daran deutlich, daß Denker wie Ludwig Feuerbach, Ludwig Büchner oder David Friedrich Strauß sich immer noch genötigt sahen, gegen die Vorsehungslehre argumentativ oder polemisch vorzugehen. Auch Dichter wie Gottfried Keller konnten sich von ihrer Orientierungsfunktion nur schwer lösen. In einem ersten Schritt werden wir deshalb die Vorsehungslehre hinsichtlich der Teleologie-Frage umreißen. 1.1 Vorsehung als realteleologisches Konzept Die weitgehende Aufklärungsresistenz realteleologischer Konzepte, die Nicolai Hartmann feststellte,2 gilt selbstverständlich auch für ihre historischen Erscheinungsformen und Derivate wie den Vorsehungsglauben. So ist nach Reinhold Bernhardt zwar die theologische Vorsehungslehre im 20. Jahrhundert kaum noch vertreten worden, den Vorsehungsglauben gebe es dagegen nach wie vor.3 Gerade wegen dieser Hartnäckigkeit des Vorsehungsglaubens stellten sich Theologen die Frage, ob es sich hierbei überhaupt um genuin christliches Gedankengut handele oder ob dieses teleologische Konzept nicht vielmehr ein „Stück semi-paganer ‚Jedermanns-Theologie‘ “ sei.4 Trotz, oder vielmehr wegen dieses berechtigten Verdachts, bildete die Vorsehungslehre für die christliche Welt über viele Jahrhunderte wie selbstverständlich einen wichtigen Orientierungsrahmen des Lebens. Vorsehungsmodelle richten sich ganz allgemein gegen zwei gegensätzliche Tendenzen der Weltdeutung: Gegen die Unterstellung, alles in der Welt sei kontingent, also auch anders möglich, und gegen den Glauben, alles sei blind wirkenden Notwendigkeiten unterworfen.5 Sie setzen die sinnvolle und zielgerichtete Schöpfung, Erhaltung und Regierung der Welt durch eine allwirksame göttliche Macht dagegen. Ohne hier eine Geschichte der Vorsehungslehre geben zu können, sei doch zumindest eine wichtige Unterscheidung innerhalb des Vorsehungsdenkens festgehalten: Bernhardt setzt ein ‚aktualistisches Modell‘ der Vorsehungslehre von einem ‚sapiential-ordinativen‘ Typus ab. Dabei sei ______________________
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Vgl. S. 22 dieser Arbeit. Vgl. Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 18. Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 22. Vgl. Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 121.
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Die Krise der Realteleologie im 19. Jahrhundert
gleich betont, daß das eine Modell das andere oft zu integrieren und unterzuordnen versucht. Das ‚aktualistische Modell‘ wird in Grundzügen von Martin Luther entwickelt und von Johannes Calvin ausgearbeitet und systematisiert. Es ist damit das Grundmodell der protestantischen und calvinistischen Vorsehungslehren und wird hier mit dem Schwerpunkt vorgestellt, den Calvin der Lehre aufprägte. Es betont das jeweils aktuelle allwirksame Handeln Gottes nach dem Topos der Weltregierung. Gott greift in den Lauf der Welt ein, um sie zu erhalten oder sich, nach dem Modell des gütigen Vaters, fürsorgend um seine Geschöpfe zu kümmern. Das letzte Moment betonte Calvin besonders. Die Fürsorge bestimmt alle drei Ebenen der Vorsehung, nämlich die providentia generalis, specialis und specialissima. Die providentia generalis ist die Vorsehung Gottes für die gesamte Schöpfung und den Kosmos, die providentia specialis kümmert sich um die Menschen und die providentia specialissima schließlich um die Gläubigen der Kirche.6 In allen drei Arten der Vorsehung wird die Fürsorge für den Einzelnen betont. Dies führt zu einer durchgehenden Finalisierung der anderen Ebenen der Vorsehung auf das Heil des Gläubigen hin. Damit kommt es zu einem teleologischen Weltbild, in dem der Gläubige sicher sein kann, im Zentrum der Schöpfung und der Fürsorge Gottes zu stehen. Eve-Marie Engels hat hierfür den Begriff der „Fürsorgeteleologie“7 geprägt. Von diesem aktiv-voluntativen Vorsehungsmodell läßt sich ein zweites unterscheiden, das Bernhardt als ‚sapiential-ordinativ‘ charakterisiert. Es hebt weniger einzelne Akte Gottes hervor, als die „universale und kontinuierliche Allwirksamkeit.“8 Die sinnvoll geordnete Welt als das Ergebnis der Schöpfung und Bewahrung der Welt durch Gott steht hierbei im Vordergrund und wird im „Metaphernfeld der kreativen und bewahrenden, aber auch teleologisch-führenden Weltvernunft- und kraft “9 beschrieben. Hier wäre an Leibniz ebenso zu denken wie an Hegels „Weltvernunft“.10 Dieses Modell kann man in seiner ausgearbeiteten Form bereits als Reaktion auf die naturwissenschaftliche Deutung der Welt ansehen, die von feststehenden Naturgesetzen ausgeht. Der durchgehende Kausalzusammenhang läßt keinen Platz mehr für ein aktualistisch-voluntatives Gottesmodell, in dem Gott durch einzelne Handlungen in den Lauf der Welt eingreift. In welchem Verhältnis sollten dann die Naturgesetze zu ______________________
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Vgl. Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 95f. Engels (1982): Teleologie, S. 86. Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 43. Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 44. Vgl. die schematische Darstellung bei Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 48.
Der realteleologische Hintergrund der Krise
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Gottes spontanem Handeln stehen? Aufgrund dieser Schwierigkeit verlegte man das Wirken Gottes in die Naturgesetze: „Gottes Wirken wurde dabei ganz in den Modus der Generalität verlagert und als perfekte Einrichtung mathematischer Gesetze von unübertrefflicher Einfachheit und Schönheit bestimmt“11, wodurch der „gesamte Weltprozeß teleologisch ausgerichtet wird und göttlichen Zwecksetzungen dient.“12 Dieses flexible Modell ist sehr aufklärungsresistent und wirkt deshalb bis weit ins 19. Jahrhundert. Schon Spinoza identifizierte die Vorsehung mit der Ordnung der Natur und vertrat deshalb, trotz seiner äußerlichen Ablehnung der Teleologie, eine teleologische Naturordnung.13 Auch das machina-mundi-Modell von Leibniz und Wolff gehört in den Kontext der sapiential-ordinativen Vorsehung. Hier ist die Welt eine von Gott kunstvoll und vollkommen eingerichtete Maschine.14 Dieses Modell richtet sich nicht gegen einen Weltschöpfer und -ordner, sondern nur gegen die nun willkürlich erscheinenden Eingriffe Gottes in das Weltgeschehen nach dem aktual-voluntativen Modell, und natürlich gegen die Möglichkeit göttlicher Eingriffe, die den Naturgesetzen widersprechen, also gegen Wunder. Die neue Leitmetapher ist nun das Räderwerk der mechanischen Uhr, das, einmal konstruiert und aufgezogen, mit großer Präzision ohne weitere Eingriffe des Mechanikers abläuft.15 Der Schwerpunkt des Vorsehungsdenkens wird nun also von der Weltregierung Gottes auf die ständige Erhaltung der Welt gelegt. Die Physikotheologie des 18. Jahrhunderts popularisierte schließlich das „machina-mundi-Modell, verschob dabei aber den Akzent der Betrachtung von der Konstruktion, bzw. Struktur der Weltmaschine auf ihre Funktion.“16 Aus diesen funktionalen Beziehungen zwischen einzelnen Naturobjekten oder einzelnen Organen konnte man dann auf die weise Einrichtung der Welt durch den Schöpfer schließen. Dieser Glaube zieht sich weit ins 19. Jahrhundert. Wir werden später sehen, daß sich Feuer______________________
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Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 164. Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 164. Vgl. Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 168. Im gleichen Sinne urteilt auch Hartmann: „Für die Gottheit als vorsehend planende und Ziele verfolgende Macht ist es ganz gleichgültig, ob sie in der Welt oder neben ihr stehend waltet, ob sie mit ihr identisch oder nicht identisch ist.“ [Hartmann (1951): Teleologisches Denken, S. 38]. Deshalb ist nach Hartmann auch der Pantheismus eine Philosophie, die auf teleologischen Prinzipien aufbaut. Ganz im Gegensatz zu den Maschinenmodellen der Welt, wie sie die Materialisten des 19. Jahrhunderts entwerfen. Hier steht die Maschine für ein notwendiges und ohne Rücksicht auf Menschen ablaufendes unbeseeltes Räderwerk. Vgl. Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 176. Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 187.
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bach intensiv mit dieser Gottesauffassung, die er die „rationalistische“ nannte, auseinandersetzte. Zusammenfassend sei hier noch einmal Bernhardt zitiert, der das Wirken Gottes in einem naturwissenschaftlichen Weltbild beschreibt, wie es als Identität von Natur, Gott und Vorsehung der theologische Konsens der Aufklärung war: Gott übt seine ‚Herrschaft‘ nicht unvermittelt (providentia immediata), nicht kontingent durch ‚Schickungen‘ aufgrund unberechenbarer Willensentscheidungen (providentia extraordinata) und nicht durch die spontane Hervorbringung einzelner Ereignisse (providentia individualis) aus, sondern mittelbar (providentia mediata) durch die von ihm verfügte Ordnung eines in sich geschlossenen Kausalnexus und damit in allgemeiner Regelhaftigkeit (providentia ordinata) und als gleichmäßige Einwirkung auf das gesamte Weltgeschehen (providentia universalis) […]. Gott wirkt sapiential-ordinativ.17
Doch wie kann Gott durch einen „geschlossenen Kausalnexus“ wirken? Reicht die Kausalität nicht alleine aus, um ein Ereignis zu erklären? Wozu dann die Annahme einer zweiten Erklärung durch Gottes Wirken? Hier ist wieder an Hartmanns „teleologischen Schein“ zu erinnern. Einem Vorgang ist nicht anzusehen, ob er nur kausal, oder kausal und zusätzlich noch zielintentional verursacht ist. Theologen fanden hierfür den Begriff des ‚concursus divinus‘, des göttlichen Mitwirkens. Die erste Ursache aller Dinge ist Gott, die Kausalität wird zwar nicht geleugnet, aber zur causa secunda eines Vorgangs. Auch Leibniz bestimmte das Verhältnis der teleologischen und der kausalen Ursache in dieser Weise. Wie wir sahen, bezieht Blanckenburgs Versuch über den Roman seine Argumentationsbasis noch ganz aus diesem Modell der Vorsehung. Wo dieser Gedanke zunehmend unplausibel wird, nämlich erst im 19. Jahrhundert, liegt der Schritt zum radikalen Atheismus nahe.18 1.2 Idealismus Im Bereich der gepflegten Semantik hatten sich jedoch Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts bedeutsame Umstellungen vollzogen. So gravierend sie auch philosophiehistorisch sein mögen, sie änderten nichts, mit Ausnahme der kritischen Schriften Kants, an einer wie auch immer gedachten Unterordnung der Kausalität unter die stets höher bewertete Teleologie. Ja, realteleologische Vorstellungen erreichten in der Philosophie des deutschen Idealismus, bei Schelling und Hegel, einen neuen Höhepunkt. Ausgangspunkt für diese Entwicklung, die große Teile des ______________________
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Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 187. Vgl. Bernhardt (1999): Handeln Gottes, S. 189f.
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naturphilosophischen Denkens im 19. Jahrhundert prägte, ist Kants Kritik der Urteilskraft (1790), genauer gesagt die darin enthaltenen Ausführungen zur Zweckmäßigkeit des Organismus.19 Bis zu Darwins Buch On the Origin of Species by Means of Natural Selection (1859) war die Entstehung und Entwicklung von Organismen ein großes ungelöstes Problem der sich entwickelnden Lebenswissenschaften. Seit Leibniz war weithin akzeptiert, daß man Lebewesen nicht nur nach Gesetzen der Mechanik, also rein kausal, erklären könne.20 Ihr Wachstum, ihre Fähigkeit zur Reproduktion und die Wechselbeziehung ihrer Organe schienen eine andere Erklärung zu erfordern. Die in der Aufklärung so beliebte Physikotheologie machte nichts anderes, als die natürliche Funktionalität als Beweis für die Schöpferkraft Gottes zu nehmen: Die göttliche Vorsehung hatte die Pläne für die komplizierten Lebewesen entworfen.21 Die Lebenskraftlehren des 18. Jahrhunderts und der Vitalismus des 19. Jahrhunderts versuchten, die Erklärungslücke durch die Annahme von spezifischen Lebenskräften zu füllen.22 Auch Kant, Schelling und Hegel stehen mit ihrer Annahme, daß Organismen nicht kausalmechanisch erklärt werden können, in dieser Tradition. Um historisch möglichst genau zu verfahren, wird im folgenden nicht die Stellung dieser Philosophen zur Frage der Zweckmäßigkeit erörtert, sondern danach gefragt, welche Ansichten ihnen von der Philosophiegeschichtsschreibung der 1870er Jahre zugesprochen wurden. Exemplarisch greife ich die dritte Auflage von Friedrich Ueberwegs weit verbreitetem Grundriss der Geschichte der Philosophie der Neuzeit (1872) heraus, den auch Vischer benutzte.
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„Kants KU stößt dann in den Systemen des deutschen Idealismus eine Renaissance der Teleologie und des Naturzweckgedankens an, die in der Sache teilweise weit über das von Kant selbst Beanspruchte hinausgeht.“ [Zweck; Ziel. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. 12 Bde. Hg. von Joachim Ritter. Darmstadt 1971–2004, Bd. 12, Sp. 1486–1510. Hier Sp. 1503 (Th. S. Hoffmann).] Vgl. Klaus Düsing: Teleologie der Natur. Eine Kant-Interpretation mit Ausblicken auf Schelling. In: Reinhard Heckmann, Hermann Krings, Rudolf W. Meyer (Hg.): Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling. Referate, Voten und Protokolle der 2. Internationalen Schelling-Tagung Zürich 1983. Tübingen 1985, S. 187–210. Bes. S. 187. Eve-Marie Engels verweist darauf, daß man diese Art der Maschinentheorien „kryptoteleologisch“ nennt, weil Lebewesen hier als Maschinen aufgefaßt werden, die konstruiert wurden, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Vgl. Engels (1982): Teleologie, S. 60. Vgl. Engels (1982): Teleologie, S. 102. Engels bezeichnet deshalb die Lebenskraftlehre als „Lückenparadigma“ (ebd.).
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1.2.1 Kant: Zweckmäßigkeit als notwendige Arbeitshypothese Die Kritik der Urteilskraft wird in Ueberwegs Grundriss als „Verbindungsmittel“23 der praktischen und der theoretischen Philosophie Kants vorgestellt. Die reflektierende Urteilskraft sei nach Kant das Vermögen, zum Besonderen das Allgemeinere zu finden. Die Vielzahl der einzelnen Naturgesetze sei empirisch und somit zufällig. Um die Einheit dieser Gesetze zu erkennen, benötige die reflektierende Urteilskraft ein besonderes Prinzip. Dieses Prinzip eben sei die Zweckmäßigkeit der Natur, „welche jedoch nicht den Naturproducten selbst beigelegt werden darf, sondern ein Begriff a priori ist, der lediglich in der reflectierenden Urteilskraft seinen Ursprung hat.“24 Diese Zweckmäßigkeit in der Gesetzmäßigkeit der Natur passe zu den in ihr zu bewirkenden sittlichen Zwecken; die Kluft zwischen theoretischer und praktischer Philosophie könne geschlossen werden: Vermöge der Zweckmässigkeit der Natur stimmt die Gesetzmässigkeit ihrer Form auch zur Möglichkeit der in ihr nach Freiheitsgesetzen zu bewirkenden Zwecke. Der Begriff der Einheit des Uebersinnlichen, das der Natur zum Grunde liegt, mit dem, das der Freiheitsbegriff praktisch enthält, macht den Uebergang von der reinen theoretischen zur reinen praktischen Philosophie möglich.25
Die reflektierende Urteilskraft teile sich in die ästhetische und die teleologische, wobei die letztere ausführlicher dargestellt wird: Die teleologische Urteilskraft sehe die Natur nach der ihr innewohnenden Zweckmäßigkeit, wobei Ueberweg abermals die Parallelität von organischem Zweck und dem „Gesetz der Sittlichkeit“ betont. Die mechanische Naturerklärung betrachte die Natur als Objekt der Sinne, die teleologische sehe Naturobjekte als „Gegenstände der Vernunft“.26 Eine Vereinbarkeit beider Ursachen möge ein „intuitiver Verstand“27 erkennen, den aber der Mensch nicht besitze. Auch fehlt der Hinweis nicht, daß Kants Teleologie auf Hegel und Schelling „wesentlichen Einfluss“28 gehabt habe. Für Schelling sei insbesondere die Vorstellung des intuitiven Verstandes wichtig geworden.29 Im Kleingedruckten führt Ueberweg weiter aus, daß Organismen „Naturzwecke“ seien. Sie hätten eine „sich fortpflanzende bildende ______________________
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Ueberweg, Friedrich: Grundriss der Geschichte der Philosophie der Neuzeit, von dem Aufblühen der Alterthumsstudien bis auf die Gegenwart. Berlin 31872, S. 213. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 214. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 214. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 214f. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 215. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 215. Vgl. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 221 (Fußnote).
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Kraft“30, die sich durch den Mechanismus nicht erklären lasse. Ausführlich geht Ueberweg nochmals auf den intuitiven Verstand ein und grenzt ihn vom diskursiven ab. Ueberweg stellt also weniger die Verabschiedung der Teleologie als Mittel zur Naturerklärung in den Vordergrund als vielmehr die Möglichkeit, daß sich Wirkursachen und Endursachen vielleicht im „übersinnlichen Substrat der Natur“31 vereinigen lassen. Dies ist schon deshalb naheliegend, weil nur so, durch den Begriff des Naturzwecks, die Kluft zwischen den beiden anderen Kritiken geschlossen werden kann: „durch den Begriff der Naturzweckmässigkeit vermittelt die Urtheilskraft den Übergang vom Gebiete der Naturbegriffe zum Gebiete des Freiheitsbegriffs.“32 Die Orientierungsleistung der Teleologie für den Menschen bleibt so weitgehend erhalten. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch die moderne Rekonstruktion von Kants Gedankengang durch Klaus Düsing. Kant stehe in der Tradition der natürlichen Theologie, die von der Zweckmäßigkeit der Dinge und der Stufenleiter der Natur auf den Schöpfer schloß.33 1.2.2 Schelling: Die „absolute Zweckmäßigkeit des Ganzen der Natur“ Ueberweg sieht Schellings Leistung von „bleibendem Werthe“34 in seiner Naturphilosophie, besonders wie sie im System des transzendentalen Idealismus (1800) ausformuliert wurde. Er habe Kants erkenntnistheoretisches Problem nicht gelöst, ja „nicht einmal verstanden“.35 Statt dessen sei, ihm selbst unbewußt, das Problem des „realen Verhältnisses zwischen Natur und Geist“36 an die Stelle der Erkenntnistheorie getreten. Ueberweg zitiert Schelling: Die unendliche Welt ist ja nichts anderes, als unser schaffender Geist selbst in unendlichen Productionen und Reproductionen. Nicht also Kant’s Schüler! Ihnen ist die Welt und die ganze Wirklichkeit etwas, das unserm Geiste ursprüng______________________
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Ueberweg (1872): Grundriss, S. 220. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 221. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 215. So Düsing (1985): Teleologie. Bes. S. 189. Gegen Ende der Kritik der Urteilskraft weitet Kant tatsächlich sein erst so rigide auf den Organismus begrenztes Prinzip der Teleologie auf das Weltganze aus. Vgl. hierzu Klaus Düsing: Die Teleologie in Kants Weltbegriff. Bonn 21986. Bes. S. 121–142. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 245. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 244 (Fußnote). Ueberweg (1872): Grundriss, S. 244 (Fußnote).
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lich fremd, mit ihm keine Verwandtschaft hat, als die zufällige, dass sie auf ihn wirkt.37
Die zufällige Natur wird nicht durch Teleologie tentativ geordnet, wie wir dies heute Kant zuschreiben, sondern ist für Schelling letztlich selbst eine Erscheinungsform des Geistes und durch ihn bedingt. Dadurch zieht die Teleologie wieder in die Naturbetrachtung ein, was Ueberweg ausdrücklich begrüßt: „Dass die Natur teleologisch durch den Geist, der aus ihr hervorgehen soll, bedingt sei, wie dieser genetisch durch sie bedingt ist, ist allerdings ein Gedanke von tiefer und bleibender Wahrheit“.38 Schelling nehme eine „Weltseele“ an, um zu erklären, daß die Natur vom Niedrigsten zum Höchsten fortschreite. Den Grundgedanken der Naturphilosophie fasse Schelling wie folgt zusammen: Die nothwendige Tendenz aller N a t u r w i s s e n s c h a f t ist, von der Natur auf’s Intelligente zu kommen. Dies und nichts Anderes liegt dem Bestreben zu Grunde, in die Naturerscheinungen T h e o r i e zu bringen. – Die vollendete Theorie der Natur würde diejenige sein, kraft welcher die ganze Natur sich in eine Intelligenz auflöste.39
Das Verhältnis des Menschen zur Natur bringe ein Gedicht Schellings treffend zum Ausdruck, das sich in der Zeitschrift für speculative Physik finde. Es handele von der „fortschreitenden Entwicklung des in der Natur gleichsam versteinerten Riesengeistes zum Bewusstsein, welches er im Menschen gewinnt […].“40 Der Mensch könne angesichts der Natur zu sich sagen: Ich bin der Gott, den sie im Busen hegt, der Geist, der sich in Allem bewegt. Vom ersten Ringen dunkler Kräfte bis zum Erguss der ersten Lebenssäfte, wo Kraft in Kraft und Stoff in Stoff verquillt, die erste Blüth’, die erste Knospe schwillt, zum ersten Strahl von neugebornem Licht, das durch die Nacht wie zweite Schöpfung bricht und aus den tausend Augen der Welt den Himmel so Tag wie Nacht erhellt, ist Eine Kraft, Ein Wechselspiel und Weben, Ein Trieb und Drang nach immer höherm Leben.41
Besonders da Schellings Spätphilosophie als „immer trüber und doch zugleich prätensionsvoller“42 abgewertet wird, dürfte dem Leser so eine an Goethe gemahnende Naturphilosophie in Erinnerung bleiben, in der, um Schelling einmal direkt zu zitieren, alles notwendig zur „absolute[n] Zweckmäßigkeit des Ganzen der Natur“43 strebt. ______________________
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Schelling zitiert nach Ueberweg (1872): Grundriss, S. 244. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 244 (Fußnote). Schelling zitiert nach Ueberweg (1872): Grundriss, S. 245. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 248. Schelling zitiert nach Ueberweg (1872): Grundriss, S. 248. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 251. Friedrich Wilhelm Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur. In: Friedrich Wilhelm Schelling: Historisch-Kritische Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akade-
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1.2.3 Hegel: „Die Zweckbeziehung […] als die Wahrheit des Mechanismus“ Hegels Philosophie ist in Ueberwegs Darstellung eine „kritische Umgestaltung und Fortbildung des Schelling’schen Identitätssystems.“44 Hegel billige an Schellings System das Bestreben, im Konkreten die Einheit des Subjektiven und Objektiven zu erkennen, anders als Kant, der die Unerkennbarkeit der Dinge an sich gelehrt habe.45 Im Gegensatz zu Schelling wolle Hegel aber das Prinzip des Systems, nämlich die absolute Identität, als notwendig erweisen und das Absolute nicht nur als allem zugrunde liegende Substanz deuten, sondern als sich selbst setzendes und sich durch sein Anderssein wiederherstellendes Subjekt auffassen. Die Idee, verstanden als seiende Einheit des Subjektiven und Objektiven, des Begriffs mit seiner Realität, entäußere sich in die Natur. In der Natur durchlaufe die Idee „von ihrem abstracten Aussersichsein in Raum und Zeit bis zum Insichsein der Individualität im animalischen Organismus eine Reihe von Stufen, deren Folge auf der fortschreitenden Realisirung der Tendenz zum Fürsichsein oder zur Subjectivität beruht.“46 Doch habe in der Natur auch „die Zufälligkeit und Bestimmbarkeit von aussen ihr Recht“.47 Hierin liege eine „Ohnmacht der Natur“48, die der Philosophie Grenzen setze, da sich das Partikularste nicht begrifflich erfassen lasse. Ueberweg weist ausdrücklich darauf hin, daß die Entwicklung der Idee in der Natur nicht als zeitliche verstanden werden dürfe. In der Natur sei alles gleichzeitig vorhanden, „nur der Geist habe Geschichte“49: Die Natur, sagt Hegel, ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der andern nothwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultirt, aber nicht so, dass die eine aus der andern natürlich erzeugt würde, sondern in der inneren, den Grund der Natur ausmachenden Idee.50
Die Realdeszendenz erkläre Hegel dagegen zu einer unklaren Vorstellung.51 In der Wissenschaft der Logik (1812) findet sich eine aufschlußreiche Behandlung der unterschiedlichen Ursachenarten, die Ueberweg selbst ______________________
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mie der Wissenschaften. Hg. von Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs und Hermann Krings. Stuttgart 1976ff. (ED 1797). Hier Reihe I, Bd. 5, S. 106. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 266. Vgl. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 266. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 271. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 271. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 271. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 271. Ueberweg (1872): Grundriss, S. 271. Vgl. hierzu als neuere Arbeit insbesondere: Dieter Wandschneider: Hegel und die Evolution. In: Olaf Breidbach, Dietrich von Engelhardt (Hg.): Hegel und die Lebenswissenschaften. Berlin 2000, S. 225–240. Bes. S. 226f.
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zwar kurz erwähnt, aber nicht ausführlicher darstellt. Hier unterscheidet Hegel zwischen Wirkursachen, zu denen er Mechanismus und Chemismus zählt, und Endursachen. Während die ersten beiden unter „Naturnotwendigkeit“ gefaßt werden können, führen die Endursachen stets Freiheit mit sich, weil für den Zweck ein Verstand als Urheber und mithin die „freie Existenz des Begriffes gefordert“52 wird. Hegel fragt nun nicht nach der Erklärungskraft dieser Prinzipien, sondern ergründet die Wahrheit jedes Prinzips ‚an sich‘. Sein Ergebnis führt zur Aufwertung der Teleologie auf Kosten des Mechanismus, zu dem er hier auch den Chemismus zählt: „Die Zweckbeziehung hat sich aber als die Wahrheit des Mechanismus erwiesen.“53 Geht man davon aus, daß der Zufall in Hegels System etwas ist, das durch die Philosophie nicht begriffen werden kann,54 dann ist mit Hegels notwendigem Stufenbau der Natur eine neue Maximalposition der Realteleologie erreicht, die sich im Rückgriff auf den Urvater der Teleologie, Aristoteles, formiert.55 Die vorsichtige Lösung Kants, Teleologie nur als subjektive Maxime der reflektierenden Urteilskraft gelten zu lassen, wird bei Hegel folglich dadurch überspielt, daß er ihr subjektunabhängige Realität zugesteht; zugleich wird sie auf alles Wirkliche und den Prozeß des Wirklichen als sich vollziehende Idee, also auf die Geschichte, ausgeweitet. Hatte Kant noch eingestanden, daß alle bekannten Arten der Kausalität, und besonders die Kausalität, die nach Begriffen wirkt, nur als Annäherung an die Wirkungsweise des Organischen betrachtet werden dürften, so wird für Hegel Teleologie zum umfassenden Strukturmuster für Wirklichkeit. Spaemann und Löw halten deshalb zu Recht fest, daß „in Hegels Philosophie das teleologische Denken des Abendlandes eine Kulmination“56 erreichte. ______________________
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik II. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. 20 Bde. Frankfurt am Main 1986. Hier Bd. 6, S. 436. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik II. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. 20 Bde. Frankfurt am Main 1986. Hier Bd. 6, S. 437f. Vgl. ähnlich Dieter Henrichs These, daß Hegel eine „Theorie über den Zufall“ habe, sie aber nicht ins Zentrum des Erkenntnisinteresse rücke: „Nicht im unendlichen Drang, das Kontingente in Begriffe aufzulösen, sondern gerade im Verzicht auf solches Begreifen liegt die richtige Haltung des Subjekts dem Zufall gegenüber, der als die frei entlassene Natürlichkeit durch die Idee schon überwunden und damit gleichgültig gesetzt ist.“ (Dieter Henrich: Hegels Theorie über den Zufall. In: Dieter Henrich: Hegel im Kontext. Frankfurt am Main 1971 (ED 1958/59), S. 157–186. Hier S. 169. Vgl. Klaus Düsing: Naturteleologie und Metaphysik bei Kant und Hegel. In: Hans-Friedrich Fulda, Rolf-Peter Horstmann (Hg.): Hegel und die Kritik der Urteilskraft. Stuttgart 1990, S. 139–157. Bes. S. 149f. Spaemann, Löw (1985): Die Frage Wozu?, S. 187.
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Diese Hinweise reichen aus, um ein grobes Bild davon zu zeichnen, wie man um 1870 die Stellung der idealistischen Philosophie zur Teleologiefrage beurteilte. Vor dem Hintergrund weitgehender Annahmen einer vernünftigen Zweckmäßigkeit der ganzen Wirklichkeit, deren Ausgangspunkt Überlegungen zum Wesen des Organischen sind, muß die Krise begriffen werden, in die die teleologischen Wirklichkeitsvorstellungen im 19. Jahrhundert geraten. Den Auftakt der Krise markiert dabei Arthur Schopenhauer mit seiner Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1813).57 Mit seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) nimmt er eine interessante Position ein, da er zwar an Kants heuristischer Teleologie festhält, dem Willen aber dezidiert jede Zweckmäßigkeit abspricht. Zwar sei Teleologie ein „vollkommen sicherer Leitfaden bei der Betrachtung der gesammten organischen Natur“58; doch sei dies eben nur Erscheinung unter den Bedingungen von Raum, Zeit und Kausalität. Die Welt als Wille dagegen sei an sich blind und sinnlos.59 Auch lehnt Schopenhauer schon in seiner Dissertation den Begriff der „Wechselwirkung“ ab, der für Kant und die idealistische Philosophie des Organismus zentral ist.60 Schopenhauer zerbricht so erstmals die „Allianz von Zweckdenken ______________________
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Auch Friedrich Nietzsche wollte zunächst über das Teleologie-Problem seit Kant promovieren, wurde dann aber schon vor der Promotion auf seine Basler Professur berufen. Seine Lektüreliste vom Frühjahr 1868 enthält keine Hinweise auf Darwin. Aber dort ist neben einem Titel des Biologen Matthias Jakob Schleiden (1804–1881) verzeichnet: „(bei Schleiden mechan. Erklärbark. der Organismen)“ (Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Aufzeichnungen Herbst 1864–Frühjahr 1868. In: Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin, New York 1968ff. Hier 1. Abteilung, 4. Bd. , S. 576. Beim erwähnten Buch handelt es sich um Matthias Jakob Schleiden: Über den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaft, sein Wesen und seine Geschichte. Zur Verständigung für die Gebildeten. Leipzig 1863. Schleidens Bestreben, alle Vorgänge in der Pflanze durch Veränderungen auf der Zellebene zu erklären, führte tatsächlich zu einer mechanischen Auffassung in der Biologie [vgl. Ilse Jahn (Hg.): Geschichte der Biologie. Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiographien. Berlin 32000, S. 312f.]. Schleiden war auch ein Anhänger Darwins. Vgl. Matthias Jakob Schleiden: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Drei Vorträge für gebildete Laien. Leipzig 1863. Darwins Theorie wird auf den Seiten 39–42 zustimmend vorgestellt. Nietzsches Aufzeichnungen aus dem Frühjahr 1868 lassen jedenfalls nicht den Schluß zu, daß er sich zu dieser Zeit mit Darwins Theorie auseinandergesetzt und die Konsequenzen für die Teleologie-Diskussion gezogen hätte. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. 2, 1. Teilband. In: Arthur Schopenhauer: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Hg. von Arthur Hübscher. Zürich 1977. Hier Bd. 3, S. 385. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. 1, 1. Teilband. In: Arthur Schopenhauer: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Hg. von Arthur Hübscher. Zürich 1977. Hier Bd. 1, S. 210. „Und eben so wie die Logik den circulus vitiosus verwirft, ist auch aus der Metaphysik der Begriff der Wechselwirkung zu verbannen. Denn ich bin ganz ernstlich gesonnen jetzt darzuthun, daß es gar keine Wechselwirkung im eigentlichen Sinne giebt, und dieser Be-
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und Sinngebung.“61 Damit scheint aber auch die Nützlichkeit teleologischer Vorstellungen, jenseits aller postulierter Realteleologie, deutlich zu werden: Zu den Vorzügen der Endursachen gehört auch, daß jede w i r k e n d e Ursache zuletzt immer auf einem Unerforschlichen, nämlich einer Naturkraft, d.i. einer qualitas occulta, beruht, daher sie nur eine r e l a t i v e Erklärung geben kann; während die Endursache, in ihrem Bereich, eine genügende und vollständige Erklärung liefert.62
2 Ludwig Feuerbachs Ablehnung des technomorphen Weltbildes Ludwig Feuerbach, mit dem nach Karl Löwith die Epoche eines „traditionslosen Philosophierens“63 beginnt, wird hier als Philosoph vorgestellt, der realteleologische Konzepte bekämpfte, genauer gesagt, die Vorstellung, daß die Welt durch einen Geist oder Gott in zweckmäßige Beziehungen gebracht worden sei. Feuerbach ist ein wichtiger Popularisator teleologiekritischer Gedanken. An Texten Gottfried Kellers werden wir später die Folgeprobleme offenlegen, die aus der Ablehnung realteleologischer Vorstellungen entstehen. Feuerbachs Verhältnis zur philosophischen Tradition läßt sich nach Joachim Kahl wie folgt beschreiben: 1. Er hat den Bruch mit Hegels spekulativem Idealismus vollzogen. 2. Er hat den Abschluß der deutschen Spinoza-Debatte herbeigeführt.64
Der junge Feuerbach studierte zwei Jahre bei Hegel in Berlin Philosophie und war zunächst ganz Hegelianer. Den Bruch mit Hegel vollzog er in der Schrift Zur Kritik der Hegelschen Philosophie (1839). Ihr Hauptgedanke ist die Selbsttäuschung der Idealisten, die in dem Glauben bestünde, der Geist könne sich aus sich selbst heraus begründen, während die Natur nur etwas ______________________
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griff, so höchst beliebt auch, eben wegen der Unbestimmtheit des Gedankens, sein Gebrauch ist, doch, näher betrachtet, sich als leer, falsch und nichtig zeigt.“ (Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. 1, 2. Teilband. In: Arthur Schopenhauer: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Hg. von Arthur Hübscher. Hier Bd. 2, S. 563. Teleologie, teleologisch. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Sp. 970 (Hubertus Busche). Hier Sp. 973. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. 2, 1. Teilband. In: Arthur Schopenhauer: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Hg. von Arthur Hübscher. Hier Bd. 3, S. 391. Löwith (1976): Feuerbach, S. 37. Joachim Kahl: Ludwig Feuerbachs Beitrag zu einer Philosophie des Naturalismus. In: Aufklärung und Kritik. Sonderheft 3 (1999), S. 15–22. Hier S. 15.
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sekundäres, abgeleitetes sei.65 Der Idealist begreife das Selbstbewußtsein als etwas absolutes (unbedingtes), glaube, daß es aus sich heraus verständlich sei und konstruiere von hier aus die Natur. Feuerbach dagegen nimmt den gleichermaßen körperlichen wie geistigen Menschen zum Ausgangspunkt des Nachdenkens. Der Geist ist nicht absolut, sondern wird selbst vom Materiellen bestimmt.66 Damit wird der Mensch mit seinem Geist in die Natur eingegliedert. Hierbei nimmt Feuerbach eine entwicklungsgeschichtliche Position ein: Weder ist der Geist chronologisch das erste in der Geschichte der Natur, noch ist er mit der Materie gleichursprünglich oder gar identisch, sondern er tritt in der Naturgeschichte sehr spät, nämlich erst im Menschen, auf.67 In den Vorlesungen über das Wesen der Religion heißt es: Der Geist ist allerdings das Höchste im Menschen; er ist der Adel des Menschengeschlechts, sein Unterscheidungsmerkmal vom Tiere; aber das menschlich erste ist deswegen noch nicht das natürlich oder von Natur erste. Im Gegenteil, das Höchste, Vollendetste ist das letzte, späteste. Den Geist zum Anfang, zum Ursprung machen ist daher eine Umkehrung der Naturordnung.68
Wertepriorität und chronologischer Vorrang werden so voneinander gelöst. Vor allem aber ist die spinozistische und später idealistische Gleichsetzung von Geist und Materie beendet.69 Feuerbach setzt dem deus sive natura sein aut deus aut natura entgegen. Die Probleme, die sich für die Realteleologie ergeben, liegen auf der Hand: ohne Geist keine Realteleologie. Schon in seiner Kritik der Hegelschen Philosophie greift Feuerbach dieses Problem auf der Ebene der verschiedenen Ursachenarten auf: Hegel hat – und zwar nicht zufällig, sondern infolge des Geistes der spekulativen Philosophie Deutschlands seit Kant und Fichte – die causae secundae, die aber nur zu oft die causae primae sind und nur da wahrhaft erfaßt werden, wo sie nicht nur empirisch, sondern auch metaphysisch gefaßt werden, Hegel hat die ______________________
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Vgl. Löwith (1976): Feuerbach, S. 43. Zu diesem kardinalen Gegensatz vgl. zusammenfassend Löwith (1976): Feuerbach, S. 60. Vgl. hierzu Alfred Schmidt: „Feuerbach leugnet also – im Gegensatz zu Hegel – nicht, daß die Natur sich zeitlich entfaltet, wirkliche Geschichte hat. Nur deshalb läßt sich ihm zufolge die schwierige Frage, wie Geist aus Natur abzuleiten sei, angemessen beantworten. Geht man von beiden als fixen Entitäten aus, […] so ist damit bereits die Unlösbarkeit des Problems gesetzt.“ (Alfred Schmidt: Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus. München 1973, S. 145f.) Ludwig Feuerbach: Vorlesungen über das Wesen der Religion. In: Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke. Hg. von Werner Schuffenhauer. Berlin 1967ff. (ED 1851) Hier Bd. 6, S. 175. Im folgenden wird für die Vorlesungen über das Wesen der Religion die Sigle ‚VWR‘ im laufenden Text verwendet. Die Gesammelten Werke von Feuerbach werden im folgenden mit ‚GW‘ unter Angabe der Band- und Seitenzahl abgekürzt. Vgl. Schmidt: „Feuerbachs Werk beschließt einen der ideologiegeschichtlich bedeutsamsten Vorgänge des achtzehnten Jahrhunderts: die ‚Spinoza-Debatte‘ in der deutschen Aufklärung.“ [Schmidt (1973): Sinnlichkeit, S. 148.]
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natürlichen Gründe und Ursachen, die Fundamente der genetisch-kritischen Philosophie, auf die Seite gesetzt.70
Feuerbach wird demnach versuchen, die kausale, „natürliche“ Wirkweise der Natur stark zu machen und alle teleologischen Erklärungen, die auf eine geistige causa prima zurückgeführt werden müssen, abzulehnen. Die Natur wird nicht wie bei Hegel als „Anderssein des Geistes“ bestimmt, sondern in ihrer Eigenmacht und Ursprünglichkeit akzeptiert. In diesem Punkt sieht Feuerbach seinen idealistischen Lehrer in der Tradition der christlichen Theologie: Der konkrete Begriff der Idee ist nach Hegel zunächst nur abstrakt, nur im Elemente des Denkens – der rationalisierte Gott der Theologie vor der Schöpfung der Welt. Aber wie Gott sich äußert, offenbart, verweltlicht, verwirklicht, so realisiert sich die Idee – Hegel ist die in einen logischen Prozeß verwandelte Geschichte der Theologie.71
Feuerbachs Auseinandersetzung mit der Theologie ist also auch immer ein Kampf gegen Hegel oder zumindest doch gegen die orthodoxe Interpretation der rechten Hegel-Schule, die an einem persönlichen Gott festhielt. Als Kernbestandteil dieser Auseinandersetzung erweisen sich realteleologische Vorstellungen. In seinem zweiten Hauptwerk Das Wesen der Religion (1846) sowie in den dazugehörigen Vorlesungen über das Wesen der Religion (ED 1851) ist die Erörterung des Teleologie-Problems zentral. Wir konzentrieren uns deshalb auf Feuerbachs Naturbegriff und die damit verbundene Auseinandersetzung mit der Teleologie. 2.1 Feuerbachs Begriff der Natur Wenn Feuerbach unter ‚Geist‘ nur den jeweiligen Geist des entwicklungsgeschichtlich spät auftretenden Menschen, seine „Kopfarbeit“ (VWR, S. 174), versteht, dann verlangt der Naturbegriff eine umfassende Revision. Natur wird die „Ursache oder der Grund des Menschen, […] welchem er seine Entstehung und Existenz verdankt“ (VWR, S. 29). Unter Natur versteht Feuerbach „den Inbegriff aller sinnlichen Kräfte, Dinge und Wesen, welche der Mensch als nicht menschliche von sich unterscheidet“ (VWR, S. 104). Er setzt hinzu: „Ich appelliere bei diesem Worte [Natur; P.A.] an die Sinne.“ (VWR, S. 105) Feuerbach hat also einen nüchternen Blick auf die Natur; ausdrücklich wendet er sich gegen ihre Vergötterung und spricht von ihrem „Mangel an Herz, Verstand und Bewußtsein“ (VWR, S. 46). Auch der Pantheismus ______________________
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Ludwig Feuerbach: Zur Kritik der Hegelschen Philosophie. In: GW 9, S. 60 (ED 1839). Vgl. hierzu auch Christine Weckwerth: Ludwig Feuerbach zur Einführung. Hamburg 2002, S. 62. Ludwig Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft. In: GW 9, S. 314 (§ 31). (ED 1843)
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wird in diesem Zusammenhang zurückgewiesen (vgl. VWR, S. 46). In seinen Vorlesungen kann man darüber hinaus eine semantische Annäherung der Begriffe ‚Natur‘ und ‚Notwendigkeit‘ beobachten.72 Natur wird so zu einer dem Menschen gegenüberstehenden Ansammlung von Dingen, die in notwendigen Beziehungen stehen. Den Geist dagegen, den man immer wieder in der Natur erkennen wollte, interpretiert Feuerbach als den Geist des Menschen, der „sich unwillkürlich in die Natur hineinlegt, die Natur zu einem Symbol und Spiegel seines Wesens macht.“73 Damit wendet er seine Projektionsthese – Gott ist nur eine Vergegenständlichung der Wünsche des Menschen – auf die Natur an. Ist dieser Mechanismus aber einmal durchschaut, so ist eine weitere Selbsttäuschung nur noch schwer möglich. Feuerbach schreibt die Aufgabe, die Natur zu einem für den Menschen verständlichen und verehrenswerten Wesen zu verwandeln, der Religion zu: Die Religion hat – wenigstens ursprünglich und in Beziehung auf die Natur – keine andere Aufgabe und Tendenz, als das unpopuläre und unheimliche Wesen der Natur in ein bekanntes, heimliches Wesen zu verwandeln, die für sich selbst unbeugsame, eisenharte Natur in der Glut des Herzens zum Behufe menschlicher Zwecke zu erweichen […]. (W, S. 40)
Doch dies sei nicht die richtige Weise, die Natur aufzufassen. Sie sei vielmehr überhaupt nur durch sich selbst zu fassen; sie ist das Wesen, dessen „Begriff von keinem andern Wesen abhängt“; sie ist es allein, bei der der Unterschied zwischen dem, was ein Ding an sich, und dem, was es für uns ist, gültig ist, sie allein, an die kein „menschlicher Maßstab“ angelegt werden darf und kann, ob wir gleich ihre Erscheinungen mit analogen menschlichen Erscheinungen vergleichen und bezeichnen, um sie uns verständlich zu machen, überhaupt menschliche Ausdrücke und Begriffe wie Ordnung, Zweck, Gesetz auf sie anwenden und in Gemäßheit der Natur unserer Sprache, die nur auf den subjektiven Schein der Dinge gegründet ist, auf sie anwenden müssen. (W, S. 61)
Die Anspielung auf Kants Terminologie ist hier nicht nur äußerlich zu verstehen; vielmehr lehnt sich Feuerbach an die Kritik der Urteilskraft an, indem er Zweckmäßigkeit als heuristisches Prinzip begreift, mit der sich der Mensch die Natur „verständlich“ macht.74 Allerdings, im Unterschied zu Kant, „darf und kann“ er die Natur nicht in dieser Weise verstehen. Sie wird zu einer nur aus sich selbst heraus zu verstehenden Letztkategorie. ______________________
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So spricht Feuerbach beispielsweise von „Natur oder Naturnotwendigkeit“ (VWR, S. 302) und verwendet damit beide Begriffe synonym. Ludwig Feuerbach: Das Wesen der Religion. In: GW 10, S. 10. (ED 1846) Im folgenden im laufenden Text mit der Sigle ‚W‘ abgekürzt. So auch Heinz Hüsser: Natur ohne Gott. Aspekte und Probleme von Ludwig Feuerbachs Naturverständnis. Würzburg 1993, S. 99.
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Der Mensch steht den unbegreiflichen natürlichen Gegenständen aufgrund seiner Abhängigkeit von ihnen emotionslos oder doch ambivalent gegenüber. Schon Feuerbachs intensive Rezeption von naturwissenschaftlichen Artikeln, auf die wir noch kurz zu sprechen kommen, weist in diese Richtung.75 Er ist dabei, Natur als „plurifunktionales Führungssystem“ (Ernst Topitsch) aufzulösen, indem er Naturerkennen, emotionale Reaktion und Handlungsanweisung zunehmend voneinander löst. Denn eine Natur, „an die kein ‚menschlicher Maßstab‘ angelegt werden darf und kann“ und die als Projektionsfläche für die Wünsche und Vorstellungen des Menschen erkannt ist, kann ihrerseits dem Menschen keine Orientierung mehr bieten. Feuerbachs Botschaft ist also durchaus ambivalent. Zwar richtet er die Aufmerksamkeit auf die Sinne und damit auf die Natur; zugleich aber trennt er letztere vom Menschen und macht sie zum prinzipiell Anderen und Unbedingten, von dem der Mensch abhängig ist. Daß sie so auch bedrohliche Züge erhält, wurde schon aus den Zitaten deutlich. Die Abhängigkeit des Menschen von der Natur ist das Grundthema des Wesens der Religion und der entsprechenden Vorlesungen. Denn aus der Perspektive seines Körpers gehört der Mensch zur Natur und bedarf ihrer in vielfacher Weise. Feuerbachs berüchtigter Satz aus seiner Rezension von Jacob Moleschotts Lehre der Nahrungsmittel „Der Mensch ist, was er ißt“, bringt diese Position drastisch auf den Punkt.76 Seine Provokation im spät-idealistischen Deutschland läßt sich heute nur noch schwer nachvollziehen. So berechtigt der Hinweis erscheinen mag, daß der Mensch und sein Denken von Nahrung abhängen, so erklärungsbedürftig war um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine Beschäftigung mit diesem Thema. Wenn Feuerbach zu dem Ergebnis kommt, daß eine Beschäftigung mit der Lehre der Nahrungsmittel von der „höchsten philosophischen Bedeutung und Wichtigkeit“77 sei, so muß die Spitze gegen den Idealismus in Rechnung gestellt werden. Was wir für die Wahrnehmung der Natur im Ganzen feststellen konnten, gilt im wesentlichen auch für die Realteleologie. Auch sie wird als ______________________
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Vgl. Feuerbachs Lektüre des Auslands, wie sie Tomasoni aufarbeitet: Francesco Tomasoni: Ludwig Feuerbach und die nicht-menschliche Natur. Das Wesen der Religion: Die Entstehungsgeschichte des Werks, rekonstruiert auf der Grundlage unveröffentlichter Manuskripte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990. Bes. S. 127–176. Vgl. Ludwig Feuerbach: Die Naturwissenschaft und die Revolution. In: GW 10, S. 367 (ED 1850). Wolfgang Lefèvre bezeichnet diesen Text als „die erste Kampfschrift der materialistischen Bewegung der 1850er Jahre“ [Lefèvre, Wolfgang: Wissenschaft und Philosophie bei Feuerbach. In: Walter Jaeschke (Hg.): Sinnlichkeit und Rationalität. Der Umbruch in der Philosophie des 19. Jahrhunderts: Ludwig Feuerbach. Berlin 1992, S. 81–100. Hier S. 94]. Ludwig Feuerbach: Die Naturwissenschaft und die Revolution. In: GW 10, S. 357.
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Projektion des menschlichen Zielstrebens auf die Natur enttarnt und abgelehnt. 2.2 Realteleologie als egoistische Projektion des Menschen Auf die Realteleologie kommt Feuerbach ausführlich ab der 14. Stunde seiner Vorlesungen über das Wesen der Religion zu sprechen. Er weiß, daß der teleologische Gottesbeweis sehr populär ist, weshalb er der „einzige, wenigstens theoretische, Grund und Stützpunkt des Theismus im Volke“ sei (VWR, S. 143).78 So kann es nicht verwundern, daß er teleologische Vorstellungen ausführlich bekämpft, und zwar besonders traditionelle Vorstellungen einer Einrichtung der Natur durch Gott nach dem Handwerker-Modell. Damit wendet er sich gegen das technomorphe Weltbild des Christentums.79 Dies macht er um so entschiedener, als er weiß, daß sich sein Auditorium auch aus Nicht-Akademikern zusammensetzte, also aus Menschen, die vermutlich mit den Feinheiten der idealistischen Philosophie nicht vertraut waren, dafür aber mit der allgemein bekannten Vorsehungslehre. Diese Tatsache sowie die politische Situation im revolutionären Heidelberg der Jahre 1848/49 prägen die Vorlesungen nicht unerheblich. Sie vermeiden die Auseinandersetzung mit schwierigen Philosophen wie Kant oder Hegel und zielen vielmehr auf den immer noch verbreiteten und im Rechtshegelianismus wieder auflebenden Theismus. Zudem werden sie von einer politischen Metaphorik durchzogen, deren Wirksamkeit man sich nur vergegenwärtigen kann, wenn man Zeit und Ort der Vorlesungen berücksichtigt. Feuerbach hielt seine Vorlesungen über das Wesen der Religion in Heidelberg vom 1. Dezember 1848 bis zum 3. Februar 1849 vor etwa 200–350 Hörern, wie er seiner Frau mitteilte.80 Er las im Rathaus, weil die Universi______________________
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Als anderen Grund für die Vorstellung, daß die Welt von einem geistigen Wesen hervorgebracht worden sei, nennt Feuerbach den Glauben an die Existenz von allgemeinen Begriffen (Gattungsbegriffen). Feuerbach dagegen hält nur die Einzeldinge für seiend, ist also Nominalist. Vgl. VWR, S. 137–141. Hermann Dörpinghaus konnte anhand der Auswertung von katholischen Zeitschriften zwischen 1854 und 1914 zeigen, daß Natur dort weiterhin als zweckmäßiges und geplantes Ganzes aufgefaßt wurde: „Wie ein breiter Strom durchzieht die katholischen Zeitschriften während des ganzen Untersuchungszeitraumes die Überzeugung, daß es sich bei der Natur um ein ganzes von erstaunlich zweckmäßiger Einrichtung handle, das in seiner planvollen Ordnung […] auf einen intelligenten Urheber hinweise.“ [Hermann Josef Dörpinghaus: Darwins Theorie und der deutsche Vulgärmaterialismus im Urteil deutscher katholischer Zeitschriften zwischen 1854 und 1914. (Diss.) Freiburg 1969, S. 188.] Vgl. Ludwig Feuerbach an Bertha Feuerbach am 10.12.1848. In: GW 19, S. 197. Zum Vergleich: Die Universität Heidelberg hatte, ebenfalls nach den Angaben Feuerbachs, damals ca. 400 Studenten.
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tät Heidelberg keinen Vorlesungssaal für den Atheisten genehmigt hatte.81 Die 30 Vorlesungsstunden wurden vor einem Publikum gehalten, das sich aus allen Volksschichten zusammensetzte. Auch zahlreiche Handwerker und Mitglieder des Heidelberger Arbeiterbildungsvereins82 nahmen an den Vorlesungen teil. Feuerbach gestattete ihnen freien Eintritt in die sonst zahlungspflichtigen Vorlesungen. Der Philosoph freute sich, daß sich auf diese Weise „meine Gedanken hier in alle Stände und Winkel“83 verbreiteten. Feuerbachs Kampf gegen die Realteleologie wird dadurch sehr eindrucksvoll und wirkungsmächtig, daß er klar polarisiert: Auf der einen Seite steht die Teleologie als Wirkungsweise, die Absicht und Zwecke, folglich Geist, erfordert. Diesen Geist bestimmt Feuerbach ganz traditionell als Gott. Dem Theismus entspricht als politisches System die Monarchie. Das tertium comparationis der Analogie ist die hierarchische Struktur: Gott und König stehen jeweils an der Spitze ihres Ordnungssystems, das sie vollständig beherrschen. Dagegen erklärt eine natürliche, atheistische Betrachtungsweise alles kausal aus der Natur, die dann als Republik aufgefaßt wird.84 Die politischen Implikationen waren im Heidelberg der 1848er Revolution sicher nicht weit hergeholt. Dieser Zusammenhang von Gesellschaftsstruktur und religiöser Semantik entfaltete vermutlich eine intuitive Plausibilität. Feuerbach selbst war schließlich Republikaner und sprach im Bürgersaal vor einem demokratisch gesinnten Publikum. Noch dazu macht Feuerbach die Grundlage der teleologischen Betrachtungsweise der Natur im menschlichen Egoismus aus: Der Mensch verwandelt aus Unwissenheit einerseits, andererseits aus dem egoistischen Hang, alles aus sich zu erklären, alles nach sich zu denken, das Unwill______________________
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Das Protokoll der Ratssitzung Nr. 1615 vom 13. November 1848 bestimmte den „großen Ausschußsaal“ für die Vorlesungen. Für Holz und Licht habe Feuerbach demnach selbst aufkommen müssen. Vgl. Erich Thies: Ludwig Feuerbach zwischen Universität und Rathaus oder die Heidelberger Philosophen und die 48er Revolution. Heidelberg 1990, S. 62. Strittig ist allerdings, ob der Philosoph die Vorlesungen wirklich bis zum Ende im Rathaus hielt, oder vielmehr wegen nachlassenden Interesses in die Siedlung Hausacker übersiedeln mußte. Vgl. hierzu ebd. S. 64. Vgl. den Dankesbrief des Arbeiterbildungsvereins vom 16. März 1849 an Feuerbach. In: GW 19, S. 208. Ludwig Feuerbach an Bertha Feuerbach am 12.2.1849. In: GW 19, S. 205. „Die Natur hat keinen Anfang und kein Ende. Alles in ihr steht in Wechselwirkung; alles ist relativ, alles zugleich Wirkung und Ursache; alles in ihr ist allseitig und gegenseitig; sie läuft in keine monarchische Spitze aus; sie ist eine Republik. Wer nur an das fürstliche Regiment gewöhnt ist, der kann sich freilich keinen Staat, kein gemeinschaftliches Zusammenleben der Menschen ohne Fürsten denken; ebenso der keine Natur ohne Gott, der einmal von Kindesbeinen an diese Vorstellung gewöhnt ist.“ (VWR, S. 115)
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kürliche in ein Willkürliches, das Natürliche in ein Absichtliches, das Notwendige in ein Freies. (VWR, S. 152)
Darin ist aber bereits enthalten, daß Teleologie nur die Projektion des menschlichen Zielhandelns auf die Natur ist: Kurz, der Mensch bringt, wenn auch nicht aus, doch mit seinem Geiste, wenn auch nicht aus, doch mit und nach Gedanken Werke hervor, die ebendeswegen schon äußerlich den Stempel der Absichtlichkeit, Plan- und Zweckmäßigkeit an sich tragen. Der Mensch denkt aber alles nach sich; er trägt daher die Anschauung von seinen eigenen Werken auf die Werke oder Wirkungen der Natur über; er betrachtet die Welt wie ein Wohnhaus, eine Werkstatt, eine Uhr, kurz, wie ein menschliches Kunstprodukt. (VWR, S. 142)
Diese Erklärung gilt auch heute noch als eine der „Wurzeln des teleologischen Denkens“.85 Indem der Mechanismus der Übertragung deutlich gemacht wird und als „Egoismus“ oder gar als „Dummheit“ (VWR, S. 247) erscheint, steht jede weitere teleologische Erklärung a priori unter dem Verdacht, der Unkenntnis oder Ich-Bezogenheit zu entspringen. Also akzeptiert Feuerbach selbst nur kausale (Weil-)Begründungen. Hatte selbst der Chemiker Justus Liebig (1803–1873) noch zu teleologischen Naturerklärungen Zuflucht genommen, so antwortet Feuerbach auf die Frage, warum es Sauerstoff gebe: Er ist, weil er eben ist; er gehört eben zum Wesen der Natur; er ist nicht deswegen, damit er das Feuer und das Atmen der Tiere unterhalte, sondern weil er ist, deswegen existiert Feuer und Leben. (VWR, S. 148).
Im bewußten Umformulieren von teleologischen Damit- in Weil-Sätze zeigt sich allerdings auch eine Schwierigkeit. Einer befriedigenden Erklärung kann Feuerbach nur eine Tautologie entgegensetzen.86 Da Leben nun abhängig von der Existenz von Sauerstoff ist, wird deutlich: Sauerstoff könnte auch fehlen, so daß kein Leben möglich wäre. Natur und Mensch werden von der Stellung der Erde im Universum abhängig: Allerdings würde das Leben auf der Erde erlöschen, wenigstens dieses Leben, das jetzt auf ihr ist, wenn die Erde an die Stelle des Merkurs träte, aber dann wäre auch nicht mehr die Erde die Erde […] (VWR, S. 146)
Die Welt wird deshalb in ihrer Entstehung noch nicht zufällig, aber es wird denkbar, daß unter anderen Bedingungen auch andere Folgen zu erwarten sind. Und diese Denkmöglichkeit ist ausreichend, um Kontingenz zu steigern. ______________________
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Vgl. Oldemeyer (1994): Die beiden Wurzeln des teleologischen Denkens. Hier zeigt sich im Detail, was Hüsser für die ganze Natur feststellt: „Natur ist einfach nichts als die Natur, eine Unbekannte, eine ohne Anfang und Ende automatisch und notwendig Wirkende – für den Menschen eine ewige Tautologie.“ [Hüsser (1993): Natur ohne Gott, S. 102.]
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Ausnahmen in dem Bestreben, alles kausal zu erklären, macht Feuerbach nur für hoch komplexe Organe wie das Auge. Hier gesteht er den Teleologen zu, daß man Zwecke annehmen müsse, leugnet aber, daß daraus ein Wesen folgt, auf welches der Name Gott paßt, […], daß wir damit über die Natur hinauskommen. Die Zwecke und Mittel in der Natur sind immer nur natürliche, wie sollten sie also auf ein über- und außernatürliches Wesen uns verweisen? (VWR, S. 153).
Schließlich stellt Feuerbach seine Zuhörer vor die Alternative, entweder an Gott zu glauben und die natürlichen Ursachen zu leugnen, oder aber sich der Natur zu verschreiben. Der „Rationalismus“ glaube an Gott und die Natur, also an „zwei Wesen, zwei Ursachen und Wirkungsweisen“ (VWR, S. 180). Das sei ein „System der Halbheit, des Widerspruchs, der Unentschiedenheit, der Charakterlosigkeit“ (VWR, S. 180). Diese Entscheidung nun ist mit politischer Semantik verknüpft: Die konstitutionelle Monarchie wird als Rationalismus abgelehnt, weil es hier zwei Ursachen gebe: Der Monarch wirke nur durch die Gesetze, so wie Gott nur durch die Naturgesetze wirke. Damit kehrt in populärer Form der Vorwurf an Hegel aus der Kritik der Hegelschen Philosophie wieder: Hegel habe die natürlichen Ursachen vernachlässigt und Teleologie als höhere Ursachenart eingeschätzt. Gegen die Vereinbarkeit von kausalen und teleologischen Ursachen als die raffinierteste Form der Realteleologie richtet sich nun Feuerbach. Er erzwingt, sich entweder zur Natur oder zu Gott zu bekennen. Auf der politischen Ebene bedeutet das: Keine Monarchie oder absolute Monarchie! Keinen Gott oder einen absoluten Gott, einen Gott, wie der Gott des alten Glaubens es war! Ein den Gesetzen der Natur gehorchender, ein sich dem Weltlauf akkommodierender Gott, wie es der Gott unserer Konstitutionalisten und Rationalisten ist, ein solcher Gott ist ein Unding. (VWR, S. 169)
Damit ist aber nichts Geringeres geleistet, als die prinzipielle Vereinbarkeit von Kausalität und Teleologie in der Naturerklärung und die Höherbewertung der letzteren, wie sie in der einen oder anderen Form stets gegolten hatte, zu leugnen und diese Entscheidung an die Befürwortung einer bestimmten Staatsform zu knüpfen. Gerade durch diese suggerierte praktische Relevanz einer philosophischen Frage entfaltete die Alternative offenbar ihre Wirkung bei den Zuhörern.87 Den Hörern beides, Gott und den Monarchen, auszutreiben, ist das Ziel von Feuerbachs Vorlesungen. Eng verbindet Feuerbach religiöse und politische Semantik: Der Zweck meiner Schriften, so auch meiner Vorlesungen, ist: die Menschen aus Theologen zu Anthropologen, aus Theophilen zu Philanthropen, aus Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits, aus religiösen und politischen Kammer______________________
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Bei Gottfried Keller, einem Zuhörer dieser Vorlesungen, werden wir wieder auf die Verbindung von Theologie und Monarchie stoßen.
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dienern der himmlischen und irdischen Monarchie und Aristokratie zu freien, selbstbewußten Bürgern der Erde zu machen. (VWR, S. 30f.)
Daß Feuerbach selbst eifrig das Diesseits studierte, zeigen seine Exzerpte naturwissenschaftlicher und ethnologischer Aufsätze, die nach Francesco Tomasoni eine wichtige Quelle für das Wesen der Religion und die weiteren Schriften gewesen sind.88 Bezeichnete Tomasoni die Teleologie als „zweifellos eines der dominierenden Themen im Wesen der Religion“89, so gilt dies auch für die wissenschaftlichen Exzerpte: „Die Kritik an der Teleologie ist der gemeinsame Nenner nicht nur der Lektüre ethnologischer Themen, sondern auch solcher aus dem Bereich der Geographie und Geologie.“90 So bemängelt Feuerbach beispielsweise an einem Artikel, der die sinnvolle Einrichtung des Golfstromes preist, die „willkürliche Beimengung der teleologischen Sichtweise“.91 Zweifelsohne wurde Feuerbachs Ablehnung der Teleologie durch die Fortschritte der Naturwissenschaften gestärkt. Argumentierte ein Wissenschaftler selbst teleologisch, so stieß dies bei ihm auf scharfe Kritik, wie man im Fall Justus Liebigs sehen kann.92 Inwiefern Feuerbach aufgrund seiner Natur-Auffassung zu den Materialisten gerechnet werden kann, hängt von der jeweiligen MaterialismusDefinition ab und muß uns hier nicht beschäftigen.93 Bei Feuerbach findet sich allerdings der populärste Einwand gegen die Teleologie, nämlich die offensichtlichen Zweckwidrigkeiten in der Natur, besonders was die äußere Zweckmäßigkeit betrifft. Hier berührt sich Feuerbach im Kampf gegen die Theologie mit den Materialisten wie Ludwig Büchner (1824– 1899) oder Jacob Moleschott (1822–1893), die im übrigen bei der Popularisierung des Darwinismus eine wichtige Rolle spielten.94 ______________________
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Vgl. Tomasoni (1990): Feuerbach, S. 128. Tomasoni findet im Nachlaß Feuerbachs in der Münchener Universitätsbibliothek etwa 60 Blätter mit Abschriften aus der Tageszeitung Das Ausland. Benutzt wurden die Jahrgänge 1843–1853, hauptsächlich aber 1843–1845. Vgl. Tomasoni (1990): Feuerbach, S. 127ff. Tomasoni (1990): Feuerbach, S. 162. Tomasoni (1990): Feuerbach, S. 164. Tomasoni (1990): Feuerbach, S. 165. Vgl. die Auseinandersetzung mit Liebig in den Vorlesungen (VWR, S. 149f.). Faßt man unter Materialismus auch eine Sichtweise, die das Geistige als Produkt des Materiellen bestimmt, so fällt Feuerbach unter die Materialisten, da er den Geist als Produkt des Gehirns denkt (vgl. hierzu die Definition von „Materialismus“. In: Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Berlin 21904, S. 625). Legt man zugrunde, ob ein Denker einen qualitativen Unterschied zwischen Geist und Materie anerkennt oder die neue Qualität des Geistes nur auf Quantität zurückführt, so ist Feuerbach kein Materialist. Vgl. hierzu Schmidt (1973): Sinnlichkeit, S. 136. Vgl. hierzu Frederick Gregory: Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany. Dordrecht, Boston 1977, S. 180–188.
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3 Ludwig Büchners Kraft und Stoff: Leugnung der Zweckmäßigkeit Um die Haltung der Materialisten zur Zweckmäßigkeit zu dokumentieren, sei hier Ludwig Büchners Erfolgsbuch Kraft und Stoff unter dem Aspekt der Realteleologie kurz vorgestellt.95 Das einflußreiche Werk erschien zuerst 1855, erreichte 1904 die 21. Auflage und wurde in 15 Sprachen übersetzt. Durch die Kontroversen, die es auslöste, verlor der Materialist seine venia legendi.96 Wir verwenden zunächst eine Auflage, die vor der Veröffentlichung von Darwins Hauptwerk (1859) erschienen ist, um das vordarwinistische Teleologie-Verständnis der Materialisten darzustellen.97 In der vierten Auflage von 1856 stellt Bücher seinem TeleologieKapitel ein Kant-Zitat voran:98 Die Richtung der Argumentation ist damit zunächst vorgegeben. Die Zweckmäßigkeit darf nur als Analogie zur Naturbeschreibung herangezogen werden. Freilich versucht der Materialist Büchner anschließend dennoch, objektive Zweckmäßigkeit zu erklären. Seine Erklärung muß aber unbefriedigend bleiben. Er beschwört, daß die Formen der Natur sich notwendig und naturgemäß entwickelt hätten. Aber es seien auch viele Organismen wieder von der Erde verschwunden und möglicherweise könnten, so zitiert er den englischen Geologen Charles Lyell, auch unter unseren Augen neue entstehen. Wieder werden ______________________
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Im Gegensatz zu Ludwig Büchner war Heinrich Czolbe ein Materialist, der in seiner Neuen Darstellung des Sensualismus von 1855 die Zweckmäßigkeit in der Natur anerkannte. Er sah in ihr keinen Widerspruch zur mechanistischen Naturbetrachtung. Er glaubte allerdings ein ewiges Universum annehmen zu müssen, damit auch die zweckmäßigen Organismen ewig sein könnten. So überrascht es nicht, daß er einer der wenigen Materialisten war, die Darwins Theorie ablehnten. Vgl. hierzu Gregory (1977): Materialism, S. 136, S. 180. Vgl. den Artikel zu Ludwig Büchner. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. 15 Bde. Hg. von Walter Killy. Gütersloh, München 1988–1993. Hier Bd. 2, S. 291 (Gernot Böhme). Vgl. Ludwig Büchner: Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien. In allgemeinverständlicher Darstellung. Vierte vermehrte und mit einem dritten Vorwort versehene Auflage. Frankfurt am Main 1856. Bes. S. 90–106. Der Erfolg von Büchners Schrift geht nach Susanne Speckenbach nicht zuletzt auf eine Sprache zurück, die durch die klare Gegenüberstellung der Begriffsfelder ‚Glauben – Wissen‘ bestimmt wird. Der Begriff der ‚Thatsache‘, um den Begriffe wie ‚Wahrheit‘, ‚Wirklichkeit‘, ‚Sicherheit‘ angeordnet sind, spielt hierbei eine große Rolle. Auch falle eine große Leserbezogenheit und der metaphorische Sprachstil auf, der der Lesermanipulation diene. Der Sprachgebrauch sei so für die Etablierung einer ‚Weltanschauung‘ maßgeblich. Vgl. hierzu Susanne Speckenbach: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert – eine linguistische Untersuchung von Ludwig Büchners „Kraft und Stoff“. (Diss. Freiburg 1997) Bremen 1999. „Die Zweckmäßigkeit ist erst vom reflectirenden Verstand in die Welt gebracht, der demnach ein Wunder anstaunt, das er selbst erst geschaffen hat.“ [Kant zitiert nach: Büchner (1856): Kraft und Stoff, S. 90.] Das Zitat konnte in Kants Werken nicht nachgewiesen werden.
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wie bei Feuerbach teleologische Um-Zu-Formulierungen zurückgewiesen und durch Weil-Sätze ersetzt. Der Hirsch habe keine langen Beine, um schnell laufen zu können, sondern er laufe so schnell, weil er lange Beine habe.99 Büchner kann aber die vielen offensichtlichen Zweckmäßigkeiten in der Natur nicht erklären, außer durch die Versicherung, daß die Dinge nicht durch einen Schöpfer eingerichtet wurden, sondern ganz natürlich sind: „Die Dinge sind einmal wie sie sind; wären sie anders geworden […], wir würden sie nicht minder zweckmäßig gefunden haben.“100 Hier zeigt sich dieselbe Erklärungsnot, die wir schon bei Feuerbach feststellen konnten. Beide scheuen die Tautologie nicht, um teleologische Erklärungen zu umgehen. Anschließend verwendet er große Mühe und viel Platz darauf, alle möglichen Zweckwidrigkeiten, wie Mißgeburten und rudimentäre Organe aufzuzählen, also Zweckmäßigkeit recht eigentlich zu leugnen.101 Hier spielt er seine Stärke aus und bringt sein naturkundliches Wissen ein. Doch auch er weiß auf die Frage, wie zweckmäßige Organismen entstehen, keine Antwort. Es bleibt bei der Einsicht, daß alles ‚natürlich‘, also ohne Gott oder Geist zugegangen sei. Erst Charles Darwin und dessen epochemachende Theorie über die Entstehung der Arten beseitigte die Erklärungsnot der Materialisten, indem er der Tautologie einen neuen Sinn gab: Die existierenden Organismen waren diejenigen, die existieren konnten; die unzweckmäßigeren Lebewesen waren inzwischen ausgestorben.102 Hatte Feuerbach die Realteleologie in der Gestalt des technomorphen Weltbilds als unberechtigte und egoistische Projektion des menschlichen Zielhandelns auf die Natur gebrandmarkt, so wurde durch Darwin besonders die zweite Wurzel der Realteleologie angegriffen. Ist die Funktionalität von Organismen ‚mechanisch‘ erklärbar, dann kann man auch hier auf realteleologische Annahmen verzichten. Darwin gilt mit seiner Theorie der zielblind verlaufenden Evolution als derjenige, der die Teleologie „kaput gemacht [sic!]“ (Friedrich Engels) hat.103 ______________________
99 Vgl. Büchner (1856): Kraft und Stoff, S. 92. 100 Büchner (1856): Kraft und Stoff, S. 92. 101 Vgl. Bücher (1856): Kraft und Stoff, S. 94ff. Im einzelnen geschieht dies durch schädliche Tiere und Krankheiten (S. 94), rudimentäre Organe (S. 97f.), Mißgeburten (S. 98ff. und S. 102), und die Extrauterinalschwangerschaft (S. 100f.). 102 Dieter Wandschneider bezeichnet die Tautologie als die „Pointe“ der Selektionstheorie. Vgl. Wandschneider (2000): Hegel und die Evolution, S. 233. 103 Friedrich Engels an Karl Marx am 12.12.1859. Das ganze Zitat lautet: „Übrigens ist der Darwin den ich jetzt grade lese, ganz famos. Die Teleologie war nach einer Seite hin noch nicht kaput gemacht, das ist jetzt geschehn. Dazu ist bis jetzt noch nie ein so großartiger Versuch gemacht worden, historische Entwicklung in der Natur nachzuweisen, & am we-
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Später stimmten die Materialisten Ludwig Büchner, Carl Vogt und Jacob Moleschott der großen Bedeutung von Darwins Büchern zwar zu, doch zugleich tendierten sie dazu, die Neuerungen Darwins vor dem Hintergrund seiner ‚Vorgänger‘, wie Jean-Baptiste Lamarck, zu vernachlässigen. Frederick Gregory kommt zu dem Ergebnis, daß die Rezeption des Darwinismus gerade den Optimismus und latenten Idealismus der Materialisten zum Vorschein bringe. Einerseits priesen die drei Materialisten zwar Darwin dafür, daß er die Teleologie aus der Natur verbannt habe. Damit meinten sie aber nicht, daß die Welt zufällig und zwecklos sei, sondern lediglich, daß man die Natur ohne Zuhilfenahme von außerweltlichen Geist erklären könne. Am Fortschritt in der Natur hielt insbesondere Ludwig Büchner fest, und bei Jacob Moleschott finden wir auch die aus Schellings Philosophie bekannte Identifizierung von Kausalität und Teleologie.104 Insgesamt schenkten sie den Hilfsprinzipien große Aufmerksamkeit, die Darwin zur Unterstützung der These von der Selektion eingeführt hatte, also der Vererbung erworbener Eigenschaften und den Umwelteinflüssen. Ein kurzer Blick auf eine spätere Auflage von Ludwig Büchners Erfolgsbuch Kraft und Stoff aus dem Jahr 1888 zeigt, daß Büchner von der Erklärung der natürlichen Zweckmäßigkeit durch Darwin durchaus Gebrauch machte und sein Teleologie-Kapitel dahingehend überarbeitete.105 Dieses wichtige Argument gegen die Realteleologen wollte er nicht ungenutzt lassen. Das Kant-Zitat aus den früheren Auflagen, nachdem der Mensch die Natur betrachte, ‚als ob‘ sie zweckmäßig sei, ergänzt er durch ein Motto von Heraklit („Der Streit ist der Vater der Dinge“) und vor allem durch ein Zitat von Friedrich Albert Lange, in dem dieser den Unterschied der natürlichen und der menschlichen Zweckmäßigkeit festhält.106 ______________________
nigsten mit solchem Glück. Die plumpe englische Methode muß man allerdings in den Kauf nehmen.“ [Karl Marx Friedrich Engels Gesamtausgabe (MEGA). Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus. Fortgeführt von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung Amsterdam. Berlin 1975ff. Hier 3. Abteilung, 10. Bd. , S. 127.] 104 Vgl. Gregory (1977): Materialism, S. 187. 105 Hier berücksichtigt: Ludwig Büchner: Kraft und Stoff oder Grundzüge der natürlichen Weltordnung. Nebst einer darauf gebauten Moral oder Sittenlehre. Leipzig 161888. 106 „Es ist nun aber gar nicht mehr zu bezweifeln, daß die Natur in einer Weise fortschreitet, welche mit menschlicher Zweckmäßigkeit keine Ähnlichkeit hat; ja, daß ihr wesentlichstes Mittel ein solches ist, welches, mit dem Maßstab menschlichen Verstandes gemessen, nur dem blindesten Zufall gleichgestellt werden kann. – – Die ‚naturgemäße‘ Entwicklung ist ein Spezialfall unter tausenden. Es ist die Ausnahme, und die Ausnahme schafft jene Natur, deren zweckmäßige Selbsterhaltung der Teleologe kurzsichtig bewundert.“ [Lange zitiert nach: Büchner (1888): Kraft und Stoff, S. 214.] Das Zitat stammt aus: Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Iserlohn 1866, S. 402.
Ludwig Büchners Kraft und Stoff
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Allerdings folgt er der Darwin-Interpretation von Ernst Haeckel, wenn er die Alternative Teleologie oder Zufall zurückweist. Alles in der Natur sei gesetzmäßig und notwendig.107 Der Grund, warum Büchner die Alternative also nicht akzeptiert, ist, daß er ein anderes Verständnis von Zufall besitzt, indem dieser für ihn etwas ohne Ursache ist und nicht soviel bedeutet wie ‚nicht planmäßig hervorgebracht‘. Die allmähliche Entstehung der natürlichen Zweckmäßigkeit durch Variation und Selektion bezeichnet er als etwas „Drittes“.108 Dies habe mit dem berühmten Beispiel von Cicero, nach dem man durch Zufall aus einem Wörterhaufen niemals eine Ilias oder Odyssee zustande bringe, nichts zu tun. Für Büchner wird der Prozeß der Evolution, wie auch für Haeckel, tendenziell wieder etwas Notwendiges.109 Zudem hält auch er an der Idee fest, daß die Natur fortschreite und sich vervollkommne, so daß hier die Realteleologie wieder Einzug hält. Insgesamt wirft er Darwin vor, daß dieser den Selektions-Gedanken zu stark betone und die Rolle der Umweltbedingungen der Lebewesen vernachlässige.110 Büchner bereichert auch seine Aufzählung angeblicher Unzweckmäßigkeiten der Natur, beispielsweise durch die Nennung von Bandwürmern.111 Im Fall der Materialisten kann man sehen, daß sie mit dem Argument Darwins gegen die Kreationisten und Teleologen kämpften, aber die radikale Konsequenz einer kontingenten Natur nicht zogen. Vielmehr hielten sie wie Ernst Haeckel am Fortschrittsgedanken fest oder neigten zu einer quasi-romantischen Identifizierung von Teleologie und Kausalität. Trotz Büchners Kritik an der Naturphilosophie des deutschen Idealismus spricht denn auch Gregory von einer „unconscious sympathy for the best of German Romanticism.“112 Um die Frage zu beantworten, ob Darwins Theorie überhaupt unter dem Aspekt des Teleologie-Problems wahrgenommen wurde, ist einige Vorarbeit nötig. Das Problem ist weniger, daß Darwin selbst in The Origin of Species immer wieder Formulierungen verwendete, die eine Realteleolo______________________
107 Vgl. Büchner (1888): Kraft und Stoff, S. 222f. „Die Alternative ‚Gott oder Zufall‘, welche uns von den Teleologen immer entgegengehalten wird, existirt daher gar nicht.“ (ebd. S. 223) 108 Büchner (1888): Kraft und Stoff, S. 223. 109 Vgl. Büchner (1888): Kraft und Stoff, S. 223. 110 Büchner hatte ein kompliziertes Verhältnis zur Darwinschen Theorie, da er in seiner Schrift Natur und Geist von 1857 eine eigene Entwicklungstheorie der Organismen aufgestellt hatte, an der er Zeit seines Lebens festhielt. Diese war zwar nicht inkonsistent mit dem Gedanken der Selektion, betonte aber die Bedeutung der Umweltbedingungen. Da es keinen Fortschritt in der Natur gibt, wenn man nur den Selektionsmechanismus akzeptiert, integrierte er diesen Gedanken in sein eigenes Fortschritts-Konzept. Vgl. hierzu Gregory (1977): Materialism, S. 180–188. 111 Vgl. Büchner (1888): Kraft und Stoff, S. 226. 112 Gregory (1977): Materialism, S. 188.
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gie nahe legten.113 Seine Theorie von zielblinder Variation und anschließender Selektion kam ja ohne realteleologische Zusatzannahmen aus. Doch bleibt die Frage, wie Darwins Theorie hinsichtlich des Teleologieproblems in einem Deutschland, das immer noch tief in der idealistischen Tradition steckte, verstanden wurde.
4 Die Popularisierung des Darwinismus unter dem Aspekt der Realteleologie 4.1 Idealistisch und realistisch gefilterter Darwin Die Popularisierung des Darwinismus in Deutschland ist, trotz vermehrter Anstrengungen in den letzten Jahren, immer noch ungenügend untersucht.114 Zwar ist die wichtige Rolle von Ernst Haeckel gut dokumentiert. Seine Vorlesungen über den Darwinismus und andere Entwicklungstheorien wurden im Wintersemester 1867/68 vor einem Publikum aus Laien und Hörern aller Fakultäten in Jena gehalten und von zwei Studenten mitstenographiert. Diese Stenogramme wurden von Haeckel bearbeitet und erschienen 1868 unter dem Titel Natürliche Schöpfungsgeschichte.115 Auch durch den enormen Erfolg dieses Buches setzte in den späten 60er Jahren die Rezeption von Darwins Theorien in einer breiteren Gesellschaftsschicht ein. Doch der Fokus dieses Kapitels auf die Krise der Realteleologie bringt es mit sich, daß nicht Ernst Haeckel und seine Mitstreiter im Vordergrund ______________________
113 Vgl. hierzu Gertrude Himmelfarb: Darwin and the Darwinian Revolution. London 1959, S. 277–289. 114 Die wichtigsten neueren Titel: Alfred Kelly: The Descent of Darwin. The Popularisation of Darwinism in Germany 1860–1914. Chapel Hill 1981. Eve-Marie Engels (Hg.): Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1995. Achim Barsch, Peter M. Hejl (Hg.): Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellungen von der menschlichen Natur (1850–1914). Frankfurt am Main 2000. Rainer Brömer, Uwe Hoßfeld, Nicolaas A. Rupke (Hg.): Evolutionsbiologie von Darwin bis heute. Berlin 2000. Allgemein zur Wissenschaftspopularisierung: Andreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914. München 22002. Spezialstudien: Werner Beyl: Arnold Dodel (1843–1908) und die Popularisierung des Darwinismus. Frankfurt am Main, Bern u.a. 1984. Hermann Josef Dörpinghaus: Darwins Theorie und der deutsche Vulgärmaterialismus im Urteil deutscher katholischer Zeitschriften zwischen 1854 und 1914. (Diss.) Freiburg 1969. 115 Ernst Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche Vorträge über die Entwicklungslehre im Allgemeinen und die von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft. Mit Tafeln, Holzschnitten, systematischen und genealogischen Tabellen. Berlin 1868.
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stehen. Das Problem der Teleologie war für sie nicht essentiell. Sie verbannten zwar die Teleologie oberflächlich aus der Naturwissenschaft; so wies Ernst Haeckel in materialistischer Tradition auf die Unzweckmäßigkeiten der Natur hin.116 Aber schon in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte lassen sich Hinweise finden, daß Haeckel Darwins Theorien zur Veränderung der Organismen zur Weltanschauung ausweitete und das Buch damit ein Stück „Weltanschauungsliteratur“ (Horst Thomé) wurde, auch wenn es noch nicht alle Merkmale derselben aufweist.117 Unter „Weltanschauung“ versteht man mehr als eine lediglich zusammenfassende Verarbeitung naturwissenschaftlicher Ergebnisse: weltanschauung überschreitet dagegen wesentlich die grenzen der einzelwissenschaften, sie ist eine wertende stellungnahme zum ganzen der welt und schließt damit eine antwort auf die letzten fragen nach ursprung, sinn und ziel der welt ein […].118
Indem Haeckel beispielsweise mit Darwins Theorie die ganze, also organische und anorganische Natur einheitlich erklären möchte und so den Unterschied zwischen belebter und unbelebter Materie vernachlässigt, erweitert er den Gegenstandsbereich, auf den sich Darwins Theorie ursprünglich bezieht. Dies ist durch Haeckels Auffassung der Materie als Einheit von Geist und Stoff möglich, deren metaphysische Voraussetzungen auf die Tradition des deutschen Idealismus zurückverweisen. Alle Naturkörper, so Haeckel, seien „g l e i c h m ä ß i g b e l e b t “.119 Damit kontaminiert Haeckel – typisch für eine Weltanschauung – auf Empirie gestützte Naturwissenschaft mit Metaphysik Doch vor allem wird die Ausweitung des Darwinismus zur emotional befriedigenden Weltanschauung durch die „heimliche Teleologie“120 (Peter Sprengel) ermöglicht, die Haeckel121, aber auch Wilhelm Bölsche122, ______________________
116 So nannte er die Lehre von den rudimentären Organen eine „Unzweckmäßigkeitslehre“ (vgl. das Inhaltsverzeichnis der Natürlichen Schöpfungsgeschichte, S. VII). 117 Vgl. die Begriffsbestimmung von Horst Thomé: „Unter ‚Weltanschauungsliteratur‘ verstehe ich ein Korpus von Texten, die den expliziten Anspruch erheben, die ‚Weltanschauung‘ des Verfassers argumentativ darzustellen. In der Regel verbinden sich damit breite Darlegungen wissenschaftlicher Ergebnisse mit waghalsigen Hypothesen, metaphysischen Theoriefragmenten, autobiographischen Mitteilungen, persönlichen Glaubensbekenntnissen, ethischen Handlungsanweisungen, zeitpolitischen Diagnosen und gesellschaftlichen Ordnungsmodellen.“ [Thomé (2002): Weltanschauungsliteratur, S. 338.] 118 Vgl. Weltanschauung. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 32 Bde. Leipzig 1854–1960, Bd. 28, Sp. 1530–1538. Hier Sp. 1532. 119 Haeckel (1868): Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 19. 120 Sprengel (1998): Darwin in der Poesie, S. 21. 121 Vgl. zu Haeckels expliziter Ablehnung der Realteleologie und ihrer heimlichen Wiedereinführung durch den Rückgriff auf Goethe und Spinoza: Kelly (1981): The Descent of Darwin, S. 26–28.
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wieder einführte. Der Rückbezug von Einzelerkenntnissen auf „ursprung, sinn und ziel der welt“ ist schließlich nur möglich, wenn man zugibt, daß die Welt überhaupt ein Ziel hat. Erst durch die teleologische Komponente wird der Darwinismus funktionsäquivalent mit der Geistphilosophie des deutschen Idealismus. So behält der Darwinismus in der Prägung Haeckels einen philosophischen Entwicklungsbegriff bei. Berühmt geworden ist das Diktum des Vorworts: „‚E n t w i c k e l u n g ‘ heißt von jetzt an das Zauberwort, durch das wir alle uns umgebenden Räthsel lösen, oder wenigstens auf den Weg ihrer Lösung gelangen können.“123 Dieser Entwicklungsbegriff wurde nicht gegen den philosophischen Entwicklungsbegriff des Idealismus abgesetzt. Im Gegenteil, dadurch daß Goethe als der deutsche Vorgänger von Darwin angepriesen wurde, gingen die Unterschiede zu Darwins zielblinder Umwandlungstheorie weitgehend verloren. „F o r t s c h r i t t [ ] oder […] V e r vo l l k o m m n un g “ und „D i f f e r e n z i r un g “ sind für Haeckel die Grundgesetze des Darwinismus.124 Hierdurch wird dieser mit idealistischen Theorien bis in die Terminologie hinein kompatibel. Schließlich leugnet Haeckel den Zufall in der Evolution, da für ihn alles eine Ursache hat und damit notwendig ist.125 So stellt sich also für Haeckel die „Alternative Teleologie oder Zufall“ nicht. Karl Eibl nennt diese Spielart des Darwinismus, der auf einer Wiedereinführung der Teleologie beruht, den „idealistisch gefilterte[n] Darwin“.126 Daneben, so die hier vertretene These, gibt es auch einen weitgehend unbekannten realistisch gefilterten Darwin, der nun nicht einfach auf die Grausamkeit oder Unzweckmäßigkeit der Natur verweist, sondern die neuartige Erklärung der natürlichen Zweckmäßigkeit betont. Die hieraus entstehende Kontingenz wird dann häufig als Problem für die Stellung des Menschen und für seine geistigen und sittlichen Ideale gesehen. Diese Spielart des Darwinismus eignet sich nicht für eine Ausweitung zur einheitlichen und emotional befriedigenden Weltanschauung, da es nicht möglich ist, die nun zufällige und sich in alle möglichen Richtungen adaptierende Natur als Sinnganzes zu empfinden und dieses Sinnganze auf den – ja ebenfalls kontingenten – Menschen zurückzubeziehen. Dieser ______________________
122 Schon Kelly urteilte: „The anthropomorphism of sexual selection, which Bölsche eagerly seized upon, was part of a larger teleology that he read into Darwinism.“ [Kelly (1981): The Descent of Darwin, S. 44.] Bölsche sieht nach Kelly ‚hinter‘ der natürlichen Selektion noch ein geistiges Prinzip am Werk (vgl. ebd. S. 45f.). 123 Haeckel (1868): Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. IV. 124 Haeckel (1868): Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 217. 125 Für die Variabilität der Lebewesen, deren Ursachen Darwin weitgehend im Dunkeln ließ, nahm Haeckel die unterschiedliche Ernährung der Lebewesen an. Vgl. Haeckel (1868): Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 122f. 126 Eibl (2000): Darwin, Haeckel, Nietzsche, S. 87.
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Diskussionszusammenhang soll hier im Mittelpunkt stehen. Nach dem ersten Kulminationspunkt der Teleologiekrise in den 40er Jahren, hier bei Ludwig Feuerbach aufgewiesen, soll also einer zweiten Stufe der Teleologiekrise in den 70er Jahren nachgegangen werden. Doch wurde Darwin überhaupt unter dem Gesichtspunkt der Realteleologie rezipiert? Um dieser Frage nachzugehen, müssen wir die Popularisierung des Darwinismus untersuchen. Zeitschriften und Zeitungen haben hierbei eine Schlüsselfunktion, da Darwins Werke selbst offenbar nur von Fachwissenschaftlern gelesen wurden.127 Allerdings ist die Verbreitung des Darwinismus durch Periodika noch unzureichend erforscht.128 Um diesem Forschungsdesiderat entgegenzutreten, wird im folgenden die renommierte Zeitschrift Das Ausland aus dem Cotta-Verlag soweit untersucht, bis die Anschlüsse an eine eigene Zweckmäßigkeitsdebatte deutlich werden. Diese Wochenschrift brachte die erste deutsche Besprechung von Darwins epochemachendem Werk und war auch in der Folgezeit stets ‚am Puls der Zeit‘. Dem Ausland als wichtigem Medium aus einem bekannten Verlagshaus kann sicher eine gewisse repräsentative Rolle zugesprochen werden. Hier schrieben entweder Fachgelehrte oder doch zumindest ausgebildete Naturwissenschaftler über den Darwinismus. Aber auch bekannte Laien wie der Forschungsreisende und Redakteur Moritz Wagner (1813–1887) kamen zu Wort. Die Zeitschrift wurde beispielsweise von Ludwig Feuerbach, David Friedrich Strauß oder auch Friedrich Nietzsche129 gelesen. Möchte man deren naturwissenschaftliches Wissen rekonstruieren, so ist es unerläßlich, auf dieses popularisierende Medium zurückzugreifen. Das Ausland wurde 1828 mit dem Untertitel Ein Tagblatt für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker zusammen mit dem als Gegenstück geplanten Inland gegründet.130 Schon bald zeichnete sich unter dem Redakteur Eduard Widenmann ein Schwerpunkt in der Erd- und Völker______________________
127 „To be sure, the direct influence of Darwin himself, whose works were translated but scarcely read, was small.“ [Kelly (1981): The Descent of Darwin, S. 5.] 128 Der erste neuere Ansatz hierzu: Eve-Marie Engels: Charles Darwin in der deutschen Zeitschriftenliteratur des 19. Jahrhunderts – Ein Forschungsbericht. In: Rainer Brömer, Uwe Hoßfeld, Nicolaas Rupke (Hg.): Evolutionsbiologie von Darwin bis heute. Berlin 2000, S. 19–57. Spezieller: Dörpinghaus (1969): Darwin. 129 Zu Nietzsches Ausland-Lektüre vgl. Hubert Treiber: „Das Ausland“. Die „reichste und gediegenste Registratur“ naturwissenschaftlich-philosophischer Titel in Nietzsches „idealer Bibliothek“. In: Nietzsche-Studien 25 (1996), S. 394–412. Treiber geht besonders auf den Diskurs zur Entwicklung des Farbensinns und auf die Debatte über das sogenannte „kosmologische Problem“ ein. Bei letzterer spielt auch ein Artikel von Otto Caspari über Zielstrebigkeit eine Rolle, der in den hier behandelten Zusammenhang gehört. Vgl. ebd. S. 404–406. 130 Vgl. Alfred Estermann: Die deutschen Literatur-Zeitschriften 1850–1880. Bibliographien. Programme. 5 Bde. München u.a. 1988f. Hier Bd. 1, S. 199–215.
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kunde ab. Damit war Das Ausland das einzige Blatt im deutschsprachigen Raum mit dem Schwerpunkt Geographie.131 4.2 Die Popularisierung des Darwinismus im Ausland Dem promovierten Juristen und Historiker Oscar Ferdinand Peschel (1826–1875) kam es zu, bei der Bekanntmachung Darwins in Deutschland eine Vorreiterrolle zu spielen. Er übernahm ab 1854 (Nr. 48) die redaktionelle Verantwortung des Ausland.132 Ab diesem Zeitpunkt beschäftigte er sich intensiv mit der Geographie, aber auch mit anderen Naturwissenschaften. Der naturwissenschaftliche und völkerkundliche Schwerpunkt kam ab 1865 auch durch den neuen Untertitel Überschau über die neuesten Forschungen auf dem Gebiete der Natur-, Erd- und Völkerkunde zum Ausdruck.133 Was nun die Popularisierung des Darwinismus im Ausland betrifft, so wird in dieser Arbeit zwischen einer Bekanntmachungs-, Durchbruchs- und Verweltanschaulichungs-Phase unterschieden. 4.2.1 Bekanntmachungs-Phase Die Bekanntmachungs-Phase beginnt mit der ersten Besprechung von Darwins Buch On the Origin of Species 1860 und reicht bis etwa 1867. Sie ist durch eine erste Vermittlung Darwins gekennzeichnet. Die neue Theorie wurde durch relativ wenige Artikel kritisch und gründlich vorstellt. Weltanschauliche Fragen, insbesondere ethische Folgeprobleme, wurden weitgehend ausgespart. Sechs Artikel oder Fortsetzungen von Artikeln ______________________
131 Vgl. den Artikel zu Oscar Ferdinand Peschel in: Neue Deutsche Biographie. Hg. von der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1953ff., Bd. 20, S. 209f. Hier S. 210 (Rainer W. Gärtner). Im folgenden wird die Neue Deutsche Biographie mit der Sigle ‚NDB‘ abgekürzt. 132 Er war bis 1871 (Nr. 14) der verantwortliche Redakteur des Auslands. Zu Peschel vgl. Allgemeine Deutsche Biographie. 56 Bde. Hg. von der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften. Neudruck der 1. Auflage von 1875. Berlin 1967, Bd. 25, S. 416–430 (Friedrich Ratzel). Die Allgemeine Deutsche Biographie wird im folgenden durch die Sigle ‚ADB‘ abgekürzt. Ferner Oscar Ferdinand Peschel. In: NDB, Bd. 20, S. 209– 210 (Rainer W. Gärtner). 133 Zu Beginn des Jahres 1865 richtet sich Peschel an seine Leser und erläutert die Notwendigkeit des neuen naturwissenschaftlichen Schwerpunkts: „Die Naturwissenschaften sind in unserer Zeit so mächtig geworden und lassen dem Einzelnen sowohl wie dem größeren Gemeinwesen ihre Herrschaft so fühlbar werden, daß man sich mit ihnen beschäftigen, ihre Sprache, ihre Gesetze, ihr Wirken verstehen lernen muß, man mag wollen oder nicht.“ [Oscar Ferdinand Peschel: An unsre Leser. In: Das Ausland 38 (1865), Nr. 1, S. 1–2. Hier S. 1.
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erscheinen in diesen Jahren; alle wurden von Oscar Peschel verfaßt. Die Übertragung der Evolutionstheorie auf andere Gebiete findet hier noch nicht statt, oder ist, mit einer Ausnahme, der Redaktion keine eigenen Artikel wert.134 Friedrich Hellwald (1842–1892) charakterisierte anläßlich des 50-jährigen Bestehens des Auslands die Stellung des Blattes zu Darwins Theorie unter dem Redakteur Peschel wie folgt: Aufmerksam verfolgte unsere Wochenschrift die immer höher gehenden Wogen des Streites, bedächtig den Werth der vorgebrachten Argumente abwägend, stets willig zu verfechten, was die Forschung als erwiesene Thatsache dargethan, niemals aber von der Skepsis lassend; so war das Peschelsche „Ausland“ weder darwinisch noch antidarwinisch; es schwebte so zu sagen ü b e r beiden Parteien, was damals noch möglich; die Lage erheischte eben noch nicht selbst eine bestimmte Stellung zu nehmen in dem Streite.135
Während also unter Peschel noch eine differenzierte Stellungnahme zu Darwin möglich war, verschärfte sich später die Diskussion und erzwang eine eindeutige Positionierung. Werfen wir zuerst einen Blick auf wichtige Artikel aus der ersten Phase: Hellwald zufolge erscheint von Peschel die erste gründliche deutsche Besprechung von Darwins Origin of Species, und zwar am 29. Januar 1860 unter dem Titel Eine neue Lehre über die Schöpfungsgeschichte der organischen Welt.136 Die Besprechung erschien damit vor der ersten mangelhaften deutschen Übersetzung von Heinrich Georg Bronn (1800–1862) aus ______________________
134 Die Ausnahme ist eine Besprechung des Buches von August Schleicher: Die Darwin’sche Theorie und die Sprachwissenschaft. Weimar 1863. [Vgl. Das Ausland 37 (1864), Nr. 17, S. 397– 399.] Schleicher habe staunend erkannt, „daß dasselbe Gesetz, welches Darwin bei den Organismen nachzuweisen sich bemüht, auch auf den Entwicklungsgang der Sprachen sich anwenden lasse.“ (ebd. S. 397). Schleichers Ergebnisse flossen unter anderem in Ernst Haeckels Natürliche Schöpfungsgeschichte ein, die wiederum Darwin las. Entsprechend fanden Schleichers Thesen in The Descent of Man Eingang. Da die Sprache bislang als Differenzkriterium zwischen Mensch und Tier betrachtet wurde, war die Möglichkeit einer natürlichen Evolution der Sprache von großem Interesse. Vgl. hierzu Robert J. Richards: Darwin on mind, morals and emotions. In: Jonathan Hodge, Gregory Radick (Hg.): The Cambridge Companion to Darwin. Cambridge 2003, S. 92–115. Hier S. 106f. 135 Friedrich Hellwald: Das fünfzigjährige Bestehen des „Ausland.“ Ein Rückblick. In: Das Ausland 50 (1877), Nr. 53, S. 1061–1068. Hier S. 1067. 136 Oscar Ferdinand Peschel: Eine neue Lehre über die Schöpfungsgeschichte der organischen Welt. In: Das Ausland 33 (1860), Nr. 5, S. 97–101; Nr. 6, S. 135–140. Friedrich Hellwalds Urteil über diese Besprechung findet sich in einem Rückblick auf 50 Jahre Ausland: „Sein [Peschels; P.A.] Scharfblick sollte aber eine neue Probe bestehen, als Charles Darwin mit seinem epochemachenden Werke über die ‚Entstehung der Arten‘ auftrat. Unter den deutschen Denkern war Peschel der erste, welcher die Tragweite und Bedeutung der neuen Lehre erkannte und in leicht faßlicher Weise darzustellen suchte. Früher denn irgend eine Übersetzung erschienen, schon Anfangs 1860, brachte das ‚Ausland‘ eine eingehende Besprechung des Darwin’schen Buches, und es darf unsere Zeitschrift sich somit immerhin rühmen, die erste in Deutschland gewesen zu sein, welche die Aufmerksamkeit auf Darwin’s Lehre lenkte.“ [Hellwald (1877): Das fünfzigjährige Bestehen des „Ausland.“, S. 1067.]
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demselben Jahr. In der ersten Folge wird die Theorie Darwins vorgestellt, in der zweiten Folge werden gewissenhaft die Einwände gegen die neue Theorie aufgeführt. Darwin gehe im Unterschied zu vielen anderen davon aus, daß bei der Entstehung der Arten keine getrennten Schöpfungsakte notwendig waren, sondern daß nach bestimmten Gesetzen Arten aussterben und neue „unter unsern Augen entstehen.“137 Die Arten würden also wandelbar gedacht, ja Darwin verwerfe den Unterschied zwischen Varietäten und Arten. In der Natur gebe es nur Übergänge: „Dieß ist die Essenz von Darwins neuester Lehre […].“138 Als gesetzmäßigen Mechanismus der Umwandlung erkennt Peschel die in Analogie zur menschlichen Zuchtwahl gedachte „natural selection“. Niemand bestreite, daß der Mensch Tiere züchten könne: Kann aber die Natur ohne solche sichtliche Hülfe verfahren wie der Mensch? Sie thut es allerdings, nur daß sie langsamer, aber um so sicherer verfährt. Die organische Welt ist beständig in einem Kampf um Leben und Tod begriffen. […] Bei diesem Kampf auf Tod und Leben wird jedes Abarten eines Einzelwesens, w e n n e s d e r E r h a l t u n g d e r A r t i m g e r i n g s t e n g ü n s t i g i s t , zur Aufsparung dieses begünstigten Einzelwesens beitragen und dieses wieder seine Vorzüge vererben. Diese Erscheinung nennt Darwin die natürliche Zuchtwahl (natural selection).139
Die Gesetze, nach denen sich Varietäten bilden, bezeichnet Peschel als „uns völlig unbekannt“.140 Nur einen geringen Einfluß dürfe man der Nahrung und dem Klima zuschreiben. Zur Umbildung der Organismen könnten aber nach Darwin auch die Übung der Organe oder deren Vernachlässigung beitragen. Auch das lamarckistische Element Darwins findet sich also in der ersten wichtigen deutschen Besprechung wieder. Und auch Darwins Vorbehalte gegen die Vorstellung einer fortschreitenden scala naturae werden wiedergegeben, ja seine Theorie wird als „unerwartete Lösung“ des Problems vorgestellt:141 Der große Streit ob in der organischen Welt ein Entwicklungsgang von sogenannten niedern zu sogenannten höheren Organismen wahrzunehmen sey, erhält hier freilich eine unerwartete Lösung. Auch Darwin gesteht daß er eigentlich ______________________
137 138 139 140 141
Peschel (1860): Lehre, S. 97. Peschel (1860): Lehre, S. 98. Peschel (1860): Lehre, S. 99. Der Ausdruck „natural selection“ steht im Original in Antiqua. Peschel (1860): Lehre, S. 100. Darwin selbst steht der Frage, ob Organismen im Laufe der Evolution in ihrer Entwicklung fortschreiten, zwiespältig gegenüber. Tatsächlich sieht er deutlich, wie Peschel referiert, daß es eine absolute Meßlatte zur Feststellung eines Fortschritts nicht gibt, doch andererseits kann er sich von Fortschritts-Vorstellungen im Sinn einer Höherentwicklung noch nicht ganz losmachen. Zu dieser Frage vgl. Michael Ruse: Monad to man. The Concept of Progress in Evolutionary Biology. Cambridge (MA), London 1996. Bes. S. 145–177.
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nicht wisse, was man unter „niedern“ oder „höheren“ Organismen verstehen solle, da sich Qualitätsrang nicht recht feststellen läßt. Nach seiner Lehre aber folgten beständig stärkere den schwächeren Formen.142
Peschels Besprechung war eingangs Darwins Theorie gegenüber relativ kritisch. Die „Hypothese“ könne vielleicht nach 10 Jahren schon als „völlig aufgegeben“143 gelten. Doch im Zuge der Besprechung, besonders im zweiten Teil, scheint Peschel, der eine kritische Distanz zu Darwins Theorien nie aufgab, zunehmend begeistert von Darwins Idee zu sein. Dies lag wohl an positiven englischen Rezensionen, die Peschel inzwischen bekannt geworden waren. Abschließend prognostiziert er, daß man bald von einem „D a r w i n ’s c h e n N a t ur g e s e t z “ reden werde, wie von Newtons oder Keplers Lehrsätzen. In Zukunft werde man „nicht mehr einem sogenannten ‚Schöpfungsplan‘ nachjagen, sondern nur mit der Ermittlung von Genealogien in der Welt der organischen Formen sich beschäftigen.“144 Nach dieser gründlichen und ausgewogenen Besprechung, die Darwins Argumentation nachvollzieht, war im Ausland über zwei Jahre nichts über Darwins neue Idee zu lesen, bis der Geologe Peschel Charles Lyells Buchs The Geological Evidences of the Antiquity of Man, with remarks on theories of the origin of Species by Variation dazu nutzte, um Darwin wieder ins Spiel zu bringen.145 Nach Lyell sei Darwins Lehre eine „Transmutationslehre“, dessen Hauptverdienst es sei, die Ansicht von einem kontinuierlichen Fortschritt in der Natur entbehrlich zu machen.146 Hier ist also schon deutlich die kritische Spitze gegen die Teleologie erkannt und von Peschel wiedergegeben, der ja auch schon in der ersten Besprechung darauf hingewiesen hatte, daß es schwierig sei, von niederen oder höheren Organismen zu sprechen. Allerdings sei damit die Theorie Darwins nicht gegen die Religion gerichtet, weil man über „den geheimnißvollen Proceß des Abartens“147 nichts wisse. Überhaupt stehe das Naturwissen dem geistigen und sittlichen Selbstverständnis des Menschen „völlig neutral“148 gegenüber. Peschels Ansichten scheinen hier mit denjenigen von Lyell zu verschmelzen. Es zeigt sich erneut, daß Peschel die Darwinsche Theorie als naturwissenschaftliche Hypothese ansah, auf deren Grundlage geforscht werden konnte, ohne Religion oder Sittlichkeit zu unterminieren. ______________________
142 143 144 145
Peschel (1860): Lehre, S. 139. Vgl. Peschel (1860): Lehre, S. 97. Peschel (1860): Lehre, S. 140. Oscar Ferdinand Peschel: Sir Charles Lyell über das Alter des Menschengeschlechtes. 3. Die Darwinsche Lehre von der Artenentwicklung. In: Das Ausland 36 (1863), Nr. 14, S. 325–331. 146 Vgl. Peschel (1863): Lyell, S. 328. 147 Peschel (1863): Lyell, S. 331. 148 Peschel (1863): Lyell, S. 331.
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1867 erscheint die vierte englische Auflage von Darwins Origin of species. Sie enthält wichtige Zusätze, die Peschel zum Anlaß nimmt, erneut über Darwins These zu berichten.149 Ein halbes Jahr nach der ersten Besprechung 1860 habe Peschel sich mit einem berühmten Physiologen darüber unterhalten, warum in Deutschland „die Verkündigung jener neuen Lehre so klanglos vorübergegangen sey“150, während sie in England eine heftige Kontroverse ausgelöst habe. Der befreundete Physiologe habe erwidert, daß in Deutschland „schon früher ähnliche Ansichten ausgesprochen“151 worden seien, so von dem Botaniker Matthias Jakob Schleiden, so daß diese Theorie „kaum eine Neuerung gewesen sey.“152 Doch diese Erklärung habe auf einem Irrtum beruht, denn jetzt, nachdem die deutsche Übersetzung erschienen sei, sei der Streit ebenso heftig wie bei den Engländern. Also sei nur das englische Original mangelhaft zur Kenntnis genommen worden. Inzwischen sei die dritte deutsche Auflage in Vorbereitung. Die ersten beiden von Heinrich Georg Bronn besorgten Auflagen, so ist hinzuzufügen, waren sicher aufgrund der unklar übersetzten Terminologie ein Rezeptionshindernis für Darwins Theorie in Deutschland.153 Schon die dritte Auflage wurde vom Zoologen Julius Victor Carus (1823–1903) betreut, der die Terminologie verbesserte und so das Verständnis förderte. Inzwischen nennt Peschel auch Anhänger Darwins in Deutschland, darunter allerdings noch nicht Ernst Haeckel, sondern Carl Vogt154 (1817– 1895), Gustav Jäger155 (1832–1917), Bernhard von Cotta156 (1808–1879), Ferdinand von Hochstetter und Carl Ernst von Baer.
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149 Oscar Ferdinand Peschel: Neue Zusätze zu Charles Darwins Schöpfungsgeschichte der organischen Welt. In: Das Ausland 40 (1867), Nr. 4, S. 73–80. 150 Peschel (1867): Zusätze, S. 73. 151 Peschel (1867): Zusätze, S. 73. 152 Peschel (1867): Zusätze, S. 73. 153 Bronn übersetze „selection“ mit „Züchtung“. 154 Zu Vogt vgl. die Kurzbiographie bei Daum (2002): Wissenschaftspopularisierung, S. 514f. 155 Jäger zählt sicher zu den frühesten Darwin-Anhängern im deutschsprachigen Raum. Bereits im Dezember 1860 hatte er Vorträge über die Entstehung der Arten gehalten, was die „erste öffentliche Stellungnahme für Darwin vor Laienpublikum in Wien“ gewesen sei. Vgl. hierzu Werner Michler: Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaftliche und Literarische Intelligenz in Österreich, 1859–1914. Wien, Köln, Weimar 1999. Hier S. 32f. Vgl. auch die Kurzbiographie bei Daum (2002): Wissenschaftspopularisierung, S. 494f. 156 Zu Cotta vgl. die Kurzbiographie bei Daum (2002): Wissenschaftspopularisierung, S. 481.
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4.2.2 Durchbruchs-Phase In den späten 1860er und frühen 1870er Jahren läßt sich eine vermehrte Popularisierung des Darwinismus ausmachen. 1868 erschienen acht Artikel zu Darwins Theorie, 1871 waren es bereits 21. Nun gibt es auch im Jahresregister ein eigenes Schlagwort „Darwinistisches“. Im naturwissenschaftlichen Diskurs sind nun Darwin und die Diskussion um seine Theorie eine feste Größe. Aber auch die Konsequenzen für den theologischen Schöpfungsbegriff und den Menschen als sittliches Wesen treten zunehmend in den Vordergrund und werden schärfer diskutiert.157 In dieser Durchbruchs-Phase wird Das Ausland zu einem Diskussionsforum für den Darwinismus, an dem verschiedene Wissenschaftler wie Oscar Schmidt (1823–86), Gustav Jäger (1832–1917), Wilhelm Preyer158 (1841–1897) oder Moritz Wagner (1813–1887) teilnehmen.159 Zugleich erschien mit Haeckels Natürlicher Schöpfungsgeschichte (1868) die erste breitenwirksame Publikumsdarstellung von Darwins Theorie. Haeckels Buch wird zusammen mit Darwins neuester Publikation Das Variieren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication und Moritz Wagners Migrationstheorie in einer vierteiligen Sammelbesprechung von Oscar Peschel vorgestellt.160 Um die Auseinandersetzung der Theologie mit Darwins Theorie zu dokumentieren, sei hier der wohl von Johannes Huber aus dem Englischen übersetzte Artikel Schöpfung und Schöpferplan genannt.161 Selbst wenn man den teleologischen Gesichtspunkt ablehne, so wird hier argumentiert, könne doch der Darwinismus mit einem Schöpferplan zusammengedacht werden: Abstammung mit Abweichung, der Kampf um das Dasein, und das „Überleben des Geeignetsten,“ können insgesammt Theile eines in der Absicht bestimmten und in der Ausführung sichern großen Plans sein, obgleich sie nicht mit anthropomorphischen Auffassungen eines göttlichen Plans zusammentreffen.162 ______________________
157 So z.B. in dem Artikel: Oscar Ferdinand Peschel: Theologen und Naturforscher im Streite über die Schöpfung. In: Das Ausland 42 (1869), Nr. 32, S. 745–751. 158 Zu Preyer vgl. die Kurzbiographie bei Daum (2002): Wissenschaftspopularisierung, S. 506. 159 Kelly nimmt an, daß sich bis 1875 ein Großteil der scientific community für Darwin entschieden habe. Vgl. Kelly (1981): The Descent of Darwin, S. 21. Ob alle diese Wissenschaftler Variation und Selektion als grundlegende Prinzipien anerkannten und damit der Teleologie abschworen, ist damit freilich noch nicht gesagt. 160 Oscar Ferdinand Peschel, Friedrich Hildebrand: Neue Literatur über Darwins Lehre von der Umbildung (Transmutation) der Arten. In: Das Ausland 41 (1868), Nr. 29, S. 673–682. 161 Anonym: Schöpfung und Schöpferplan. (Aus einer längern Abhandlung Darwinism and Design, im „Student.“). Übersetzung von Huber. In: Das Ausland 42 (1869), Nr. 26, S. 621–622. 162 Anonym (1869): Schöpfung, S. 621.
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Die Natur dürfe man nicht auffassen als „Reihe von ‚Versuchen und Experimenten,‘ durch welche, nach vielfachem Mißlingen, Erfolg erzielt werde“.163 Das sei anthropomorphistisch gedacht. Dagegen würden die Zufälle in der Natur einen Schöpferplan nicht ausschließen. An diesem Beispiel sieht man, daß die zufällige Variation, deren Gründe für die Zeitgenossen Darwins im Dunkeln lagen, ein Einfallstor für metaphysische Spekulationen war.164 Hierdurch konnten Schöpferglaube und Evolutionstheorie synthetisiert werden. Zu dieser Lösung schien schließlich auch Peschel zu tendieren. Allerdings wandte er sich mit Hohn und Spott gegen Theologen, die den Darwinismus als Theorie der Affenabstammung abtaten und offenbar Darwins Bücher selbst nicht gelesen hatten.165 Als 1870 eine neue Auflage von Haeckels Schöpfungsgeschichte gedruckt wird, widmet ihr Peschel auf Bitten Haeckels eine eingehende Einzelbesprechung auf der Titelseite des Auslands.166 Hier zeigt sich Peschels kritische Haltung zur deutschen Spielart des Darwinismus. Es sei mit Recht von Haeckel gesagt worden, er sei „Darwinischer als Darwin selbst“.167 Haeckel sehe Darwins Theorie nicht als eine Hypothese, sondern als „bewiesene Wahrheit“168, aus der man schnell die äußersten Konsequenzen ziehen müsse. Peschel hält dagegen am Prinzip Charles Lyells fest, daß Darwins Theorie eine „äußerst förderliche (useful working) Hypothese“169 sei, die solange gelte, bis sie durch eine bessere ersetzt werde. Peschel wendet sich auch gegen die Verbindung der Frage nach der Urzeugung mit Darwins Theorie und beurteilt dementsprechend auch Haeckels Hypothesen zum Übergang vom Anorganischen zum Organi______________________
163 Anonym (1869): Schöpfung, S. 621. 164 Zu den „Christian Darwinians“ in England, die entweder in der Selektion oder der Variation einen teleologischen Vorgang sahen, vgl. Ernst Mayr: The Concept of Finality in Darwin and after Darwin. In: Scientia 118 (1983), S. 97–117. Hier S. 107f. Dort auch weitere Literatur zu diesem Thema. 165 Vgl. Peschel (1869): Theologen und Naturforscher im Streite über die Schöpfung. Peschel bespricht eine theologische Schrift gegen Darwins Theorie sehr kritisch und möchte statt der Affenabstammung eher den Artbegriff diskutiert sehen. Darwins Theorie sei für einen Gläubigen mit der Vorstellung einer göttlichen Schöpfung durchaus vereinbar, besser als die Vorstellung Cuviers von verschiedenen Schöpfungsperioden. 166 Vgl. Oscar Ferdinand Peschel: Ernst Haeckels natürliche Schöpfungsgeschichte. In: Das Ausland 43 (1870), Nr. 29, S. 673–679; Nr. 30, S. 710–715. 167 Peschel (1870): Haeckels natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 673. 168 Peschel (1870): Haeckels natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 673. 169 Peschel (1870): Haeckels natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 673. Im Original ist der englische Terminus in Antiqua gedruckt.
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schen kritisch.170 Hieraus zieht Haeckel aber die Konsequenz, daß es keinen Wesensunterschied zwischen Anorganischem und Organischem gebe, weshalb alles gleichmäßig beseelt sei. Für Peschel schmeckt diese Form des Monismus nach „Pantheismus“.171 Die Auseinandersetzung mit dem weltanschaulich geprägten Darwinismus Haeckelscher Prägung wurde also schon sehr früh geführt. Entschieden plädiert Peschel für eine Beschränkung von Darwins Theorie auf das Gebiet der Evolution von Organismen, ohne die Ausweitung auf Themen wie „Urzeugung“ gelten zu lassen oder sich an metaphysischen Spekulationen über das Wesen der Materie zu beteiligen. Auch wenn Peschel zum Schluß noch die dem Buch beigegebenen Stammbäume Haeckels kritisch beurteilt, so erkennt er doch im Ganzen das Verdienst des Buches an. 1870 erscheint eine große biographische Skizze Darwins mit einem halbseitigen Portrait von ihm auf dem Titelblatt des Ausland, was schon allein ein Beleg der gestiegenen Popularität des Engländers ist. Der Artikel von Wilhelm Preyer beginnt mit den Worten: Im neunzehnten Jahrhundert hat kein wissenschaftliches Werk ein so gewaltiges Aufsehen erregt, eine so nachhaltige Wirkung ausgeübt, und eine so gründliche Umwälzung althergebrachter Anschauungen bei Fachleuten wie bei Laien hervorgerufen, wie Darwins Buch über die Genesis der organisirten Formen.172
Inzwischen ist also die große Bedeutung des Werks unter Wissenschaftlern anerkannt und auch von einer signifikanten Popularisierung kann nun ausgegangen werden: Eine „wahre Fluth von Schriften“ sei inzwischen entstanden, die Lehre werde auch an Universitäten, Preyer nennt Jena, Bonn und Kiel, den Studenten aller Fakultäten in „überfüllten Auditorien“ vorgetragen.173 Der Artikel schließt mit einem Ausblick, der bereits die Entstehung der Arten im engeren Sinn verläßt und sich der kulturellen und geistigen Sphäre zuwendet. Auch auf diesem Gebiet werde der Darwinismus eine wichtige Rolle spielen: Aber das große Problem, wie die jetzt herrschenden Religionen und Sittengesetze auf n a t ü r l i c h e Weise entstanden sind, und im Laufe von Aeonen sich auf natürliche Weise allmählich entwickelt haben, dieses von den vergangenen Jahrtau______________________
170 „Also erschafft ein Moner!“, ruft er Haeckel zu und fordert so die experimentelle Einlösung von Haeckels Modell [Peschel (1870): Haeckels natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 677]. 171 Peschel (1870): Haeckels natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 673. 172 Wilhelm Preyer: Charles Darwin. Eine biographische Skizze. (Mit Portrait). In: Das Ausland 43 (1870), Nr. 14, S. 313–320. Hier S. 314. In dieser Studie findet sich auch bereits das Urteil über die verschiedenen deutschen Auflagen von Darwins Origin of species: Die dritte deutsche Ausgabe der Entstehung der Arten von Julius Victor Carus sei eine „viel bessere“ als die ersten beiden von Bronn besorgten (vgl. ebd. S. 319). 173 Vgl. Preyer (1870): Darwin, S. 320.
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senden u n s e r e r Zeit überlieferte Räthsel kann nicht entsiegelt werden ohne den – Darwinismus.174
Der Gedanke einer Evolution geistiger und kultureller Einheiten war für die an Hegels Entwicklungsdenken geschulten Zeitgenossen naheliegend, auch wenn Hegels Realdialektik letztlich inkompatibel mit Darwins Evolutionsdenken ist. Auf keinen Fall aber überträgt Preyer den „Kampf ums Dasein“ durch einen naturalistischen Fehlschluß als Forderung auf das menschliche Verhalten. Ebenso wenig wird allerdings ein organologisches Weltbild für nötig befunden, um der praktischen Philosophie eine Grundlage zu geben, wie dies noch Trendelenburg glaubte.175 1871 war Das Ausland vom Thema des Darwinismus über längere Zeiträume dominiert, was unter anderem an Moritz Wagners Artikelreihe Neue Beiträge zu den Streitfragen des Darwinismus lag, die sich über viele Monate erstreckte.176 Peschel war noch bis zur Nummer 14 des Jahres verantwortlicher Redakteur. Sein letzter Artikel zur Theorie Darwins, in dem er die Hypothese des Engländers von vielen Belegen gestützt sieht, nennt neben dem genealogischen Zusammenhang der rezenten Arten mit den ausgestorbenen („Descendenztheorie“) die Variation („Abartung“) und die Selektion („Kampf ums Dasein“ oder „struggle for existence“) als die entscheidenden Bestandteile der Theorie.177 Allerdings spricht Peschel von einer „Neigung“ zur Abartung, legt also ein intentionales Moment hinein. Zudem hält er Darwins Mechanismen nicht für ausreichend, um auch den Fortbestand der selektierten Merkmale zu gewährleisten, da beispielsweise die Nachkommen gezüchteter Tauben ihre speziellen Merkmale bei einer „wahllosen Begattung“ mit einem wilden Exemplar verlören.178 Deshalb glaubt er, daß die „Trachtenwechsel der Schöpfung nach einem noch geheimen Gesetze sich vollziehen müssen, das mit der ersten organischen ______________________
174 Preyer (1870): Darwin, S. 320. 175 Vgl. Gerald Hartung: F.A. Trendelenburgs Kritik der praktischen Philosophie Herbarts und eine Anmerkung zur Lehre Darwins. In: Andreas Hoeschen, Lothar Schneider (Hg.): Herbarts Kultursystem. Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert. Würzburg 2001, S. 83–105. 176 Ins Jahr 1871 fällt auch der Abdruck von Alfred Doves Schrift Was macht Darwin populär? [in: Das Ausland 44 (1871), Nr. 34, S. 813–815], die zuerst in der Zeitschrift Im neuen Reich erschienen war. Seine Frage beantwortet Dove mit der breiten geschichtlichen Strömung, die auch die Philosophie Hegels dominiere und in die Darwins Theorie gehöre. Dove weist damit zu Recht auf die Verzeitlichung hin, die die Naturwissenschaften gegenüber der hauptsächlich klassifizierend verfahrenden Wissenschaft des 18. Jahrhunderts auszeichnet. Die prinzipielle Vergleichbarkeit von Hegels und Darwins Entwicklungsdenken läßt freilich den Aspekt der Teleologie unberücksichtigt. 177 Oscar Ferdinand Peschel: Charles Darwin und seine Gegner. In: Das Ausland 44 (1871), Nr. 4, S. 88–91. 178 Vgl. Peschel (1871): Darwin und seine Gegner, S. 90.
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Regung auf unserer Erde bereits gegeben war.“179 Da Peschel zuvor die Vereinbarkeit der Theologie und idealistischen Philosophie mit Darwins Theorie betont hatte, kann man schließen, daß auch er an eine geistige Kraft glaubt, die die Evolutionsmechanismen leitet.180 Ähnlich wie schon Preyer andeutete, hält auch Peschel die Erklärung von Moral aus dem Kampf ums Dasein für möglich: eine menschliche Gesellschaft innerhalb deren Sinn für Recht und Trieb zur Bekenntniß der Wahrheit herrscht, deren Mitglieder in Treu und Glauben verkehren, ist viel stärker, viel besser gerüstet im Kampf um das Dasein, als eine Gesellschaft in welcher jeder den andern belügt. Deßhalb müssen Völker bei denen solche edle Triebe nicht erwachen mit der Zeit untergehen, während dagegen nur solche Gesellschaften die andern überleben, bei denen die Befriedigung sittlicher Forderungen früher erwacht und bälder zur andern Natur wird.181
Die menschliche Moral steht hier nicht wie so häufig im späteren 19. Jahrhundert im Gegensatz zum ‚Kampf ums Dasein‘ und muß sich diesem „Naturgesetz“ unterordnen, sondern kann auch als SelektionsResultat beschrieben werden, wenn man von menschlichen Gemeinschaften ausgeht. Es scheint aber so zu sein, daß der Versuch, Moral als Evolutionsprodukt zu betrachten, in der Folgezeit der Darwin-Rezeption zugunsten eines Sozialdarwinismus aufgegeben wurde. Die Übertragung von Darwins Theorien auf das Zusammenleben von Menschen und Völkern lag, wie bereits deutlich wurde, den Zeitgenossen nahe. Zusätzlich wurde der ‚Kampf ums Dasein‘ natürlich in einer Zeit zum Schlagwort, in der Deutschland soeben den Krieg gegen Frankreich gewonnen hatte. Hier mag das Schlagwort legitimatorische Funktion gehabt haben, indem man die Expansionsbestrebungen zu Naturphänomenen machte. Peschel will dagegen weniger legitimieren, als den Sieg der Deutschen durch nationale Stereotypen erklären, wenn er schreibt, daß die Unaufrichtigkeit der Franzosen eine „dauernde Schwächung“182 für ihr Volk bedeute, während die ehrlichen Deutschen stärker zusammenhielten und so den Krieg gewinnen konnten. Für die Popularität Darwins im Jahr 1871 läßt sich aber noch ein anderer Grund angeben: Darwins neues Werk über die Abstammung des Menschen war auf dem Markt und wurde noch vor Erscheinen der deutschen Übersetzung 1871 im Ausland besprochen.183 Die Rezension wurde ______________________
179 Peschel (1871): Darwin und seine Gegner, S. 90. 180 Peschel schließt sich an dieser Stelle an Johannes Huber an, der später Straußens Buch Der alte und der neue Glaube rezensierte und der Darwins Theorie letztlich mit einer teleologischen Komponente verknüpfte. Vgl. S. 121 dieser Arbeit. 181 Peschel (1871): Darwin und seine Gegner, S. 91. 182 Peschel (1871): Darwin und seine Gegner, S. 91. 183 Vgl. Adolf Lucas Bacmeister: Darwin über die Abstammung des Menschen. In: Das Ausland 44 (1871), Nr. 16, S. 361–365; Nr. 17, S. 388–394; Nr. 19, S. 437–442; Nr. 20, S. 462–464.
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vom neuen Chefredakteur, dem Philologen Adolf Lucas Bacmeister (1827–1873), verfaßt.184 Das neue Buch Darwins, so Bacmeister, sei keine Überraschung, da die Konsequenzen seiner Theorie für den Menschen schon vorher bekannt gewesen seien.185 Darwin versuche aber auch, die „g e i s t i g e n K r ä f t e von Mensch und Thier zu vergleichen“ und käme zu dem Ergebnis, daß der Unterschied nur „quantitativ, nicht qualitativ“186 sei. Das Buch wird im wesentlichen sehr positiv besprochen, nur moniert der Philologe, daß Darwin die höheren geistigen Eigenschaften wie Selbstbewußtsein, Abstraktion und allgemeine Ideen „in 36 Zeilen“187 abtue. Ebenfalls unter Bacmeister erscheint auch eine Folge von Moritz Wagners Streitfragen, in der er als Grundlage von Darwins Theorie das Naturgesetz des Fortschritts oder die Vervollkommnungstheorie herausstellt.188 Ob Peschel den Abdruck dieses Artikels unverändert genehmigt hätte, ist natürlich nicht zu beantworten, auf jeden Fall aber drohen hier die wichtigen Einsichten von Peschel bezüglich einer Höherentwicklung wieder verloren zu gehen. 4.2.3 Verweltanschaulichungs-Phase Nach dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich, also in den Gründerjahren, verschärfen sich die Auseinandersetzungen um den Darwinismus erneut. Das gestiegene Selbstbewußtsein der Deutschen mag als allgemeiner Hintergrund hierfür verantwortlich sein. In der VerweltanschaulichungsPhase verliert der Darwinismus viele seiner Nuancen; seine Vertreter sehen Darwins Theorie, vor allem den Baustein des ‚Kampfes ums Dasein‘, als erwiesen an und erklären ihn zu einem „Naturgesetz“. Die biologische Theorie wurde über ihre eigentliche Reichweite hinaus ausgedehnt, auf die Rolle des Menschen in der Welt zurückbezogen und sollte darüber hinaus noch Handlungsanweisungen bieten. Die Fronten im Streit über den Darwinismus verhärten sich, wohl nicht zuletzt auch durch das radikale antiklerikale Auftreten Haeckels. ______________________
184 Zu Adolf Lucas Bacmeister vgl. NDB, Bd. 1, S. 507–508. 185 Vgl. Bacmeister (1871): Darwin, S. 361. In der Tat hatte ja bereits Haeckel in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte den Menschen in den genealogischen Stammbaum der Organismen einbezogen. 186 Bacmeister (1871): Darwin, S. 388. 187 Bacmeister (1871): Darwin, S. 393. 188 Vgl. Moritz Wagner: Neuere Beiträge zu den Streitfragen des Darwinismus. V. Das Naturgesetz des Fortschritts oder die Vervollkommnungstheorie. In: Das Ausland 44 (1871), Nr. 39, S. 913. Eine Kernstelle aus diesem Artikel wird David Friedrich Strauß in seinem Buch Der alte und der neue Glaube zitieren. Vgl. hierzu S. 118 dieser Arbeit.
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Mit dem neuen, erst 29-jährigen Chefredakteur Friedrich Hellwald (1842–1892), der auf den bereits Ende 1871 ausgeschiedenen Bacmeister folgte, übernimmt eine neue Generation die Leitung der renommierten wissenschaftlichen Wochenschrift.189 Der Kriegsveteran Hellwald vertritt mit „Feuereifer“190 den Darwinismus als Weltanschauung, wobei besonders sozialdarwinistische Züge deutlich werden. Später wird er auch für David Friedrich Straußens Buch Der alte und der neue Glaube und für Haeckels Monismus eintreten. Ein Umstand, der dem Ausland zwar viele neue Leser zugeführt, aber auch „nicht wenige alte Freunde“ gekostet habe.191 Hellwald schreibt 1877 in seinem Rückblick Das fünfzigjährige Bestehen des „Ausland“, daß die Wochenschrift wegen der Beweisflut zugunsten der Darwinschen Theorie zu einer „entschiedenen Stellungsnahme“192 gedrängt worden sei. Das Ausland sei stolz darauf, als „einer der muthigsten Träger der neuen wissenschaftlichen Ideen betrachtet zu werden.“193 Hellwald fährt fort: Als offener Vertreter des Darwinismus, d.h. der Entwicklungs- oder Evolutionstheorie auf a l l e n Gebieten, zieht es auch die Philosophie als Bundesgenossin zur Begründung der durch die in den Naturwissenschaften erfolgte Revolution nothwendig gewordenen monistischen Weltanschauung heran.194
Aus dem einst kritisch abwägenden Organ ist also eine Kampfpartei geworden, die entschieden Stellung bezieht und befürwortet, daß eine naturwissenschaftliche Theorie im Bund mit der Philosophie zur monistischen Weltanschauung wird. Gleich sein erster Artikel setzt sich nicht mit Problemen von Darwins Theorie auseinander, sondern weist mit dem Titel Der Kampf ums Dasein im Menschen- und Völkerleben in die neue Richtung.195 Nach Hellwald haben die „Gesetze“196, die die ganze Tierwelt beherrschen, auch für den Menschen Gültigkeit, auch wenn sie bei diesem „mannichfach modificirt“197 seien. ______________________
189 Zu Friedrich Hellwald vgl. den Artikel von Victor Hantzsch in: ADB, Bd. 50, S. 173–181. Hellwald diente ab 1858 im österreichischen Militärdienst, erbat aber 1864 seine Entlassung, um seinen wissenschaftlichen Studien nachzugehen. 1866 wurde er erneut eingezogen und nahm am Krieg gegen Preußen teil. Kurz darauf erschienen seine ersten kulturgeschichtlichen und anthropologischen Schriften. 190 ADB, Bd. 50, S. 174. 191 Vgl. ADB, Bd. 50, S. 174. 192 Hellwald (1877): Das fünfzigjährige Bestehen des „Ausland.“, S. 1068. 193 Hellwald (1877): Das fünfzigjährige Bestehen des „Ausland.“, S. 1068. 194 Hellwald (1877): Das fünfzigjährige Bestehen des „Ausland.“, S. 1068. 195 Vgl. Friedrich Hellwald: Der Kampf ums Dasein im Menschen- und Völkerleben. In: Das Ausland 45 (1872), Nr. 5, S. 103–106; Nr. 6, S. 140–144. 196 Hellwald (1872): Kampf, S. 103. 197 Hellwald (1872): Kampf, S. 103.
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Der „Kampf ums Dasein“ werde beim Menschen nicht nur um Brot, sondern auch um Meinungen und Ansichten geführt. Jede gesellschaftliche Position habe eine Berechtigung, unabhängig von ihrer Richtigkeit. Es komme nur darauf an, wer sich durchsetze: „Wer davor zaudernd zurückschreckt, bringt sich selbst um die Chancen der Existenz.“198 Während Hellwald hier noch insistiert, daß dies keine Vorschrift sei, sondern „schon Factum […] seit jeher“, zeigt sich kurz darauf die normative Kraft dieser Fakten. Denn der Kampf sei „Motor der Weiterentwicklung, ohne ihn stockt und stirbt alles“.199 Also sei dieser Kampf auch „Aufgabe“.200 Die Naturteleologie, die hier durch den Fortschrittsgedanken ins Spiel kommt, ist für diese Argumentation essentiell, da nur die „Weiterentwicklung“ den grausamen Kampf zu rechtfertigen vermag. Nun erwachsen also aus der weltanschaulich erweiterten Darwinschen Theorie auch Handlungsanweisungen. Mit einem Seitenhieb auf den Idealismus stellt Hellwald fest, daß der Kampf unendlich sei und ein „sogenannter versöhnender Abschluß […] bei solchem Grundgesetz freilich eine Unmöglichkeit“201 sei. In der Fortsetzung wendet Hellwald den ‚Kampf ums Dasein‘ auch auf die Vernichtung von Völkern durch den Kolonialismus an: Wie immer wir es auch beklagen mögen, es ist ein Naturgesetz, das sich mit unerbittlicher eiserner Strenge vollzieht. Die höher stehende Race besiegt und verdrängt im Kampf ums Dasein die niedriger stehende.202
Gegen Ende pervertiert Hellwald die idealistische Vorstellung vom Ewigen Frieden, weil Friede den Fortschritt aufhalte: „Der ewige Friede wäre der Völkertod.“203 In einem weiteren Artikel, Darwin und die praktische Philosophie, plädiert Hellwald für die Eugenik, indem er zwar nicht eine Tötung der schwächeren Mitglieder einer Gesellschaft verlangt, aber ein Eheverbot für eine geeignete Maßnahme hält.204 Die Argumentationsstrategie geht dahin, die menschlichen Moralvorstellungen als bloß subjektive gegen die ewigen gültigen und streng „logischen“ Naturgesetze zu stellen und so erstere zu entwerten. Hierzu muß Hellwald natürlich alle Formen von Geselligkeit, gegenseitiger Hilfe oder Gruppenbildung in der Natur leugnen. In der Natur gebe es keinen gegenseitigen Schutz von Lebewesen oder Verbün______________________
198 199 200 201 202 203 204
Hellwald (1872): Kampf, S. 105. Hellwald (1872): Kampf, S. 105. Hellwald (1872): Kampf, S. 105. Hellwald (1872): Kampf, S. 105. Hellwald (1872): Kampf, S. 141. Hellwald (1872): Kampf, S. 143. Vgl. Friedrich Hellwald: Darwin und die praktische Philosophie. In: Das Ausland 45 (1872), Nr. 15, S. 352–357. Hier. S. 353.
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deten: „Das Princip der Association und Protection ist in der Natur nirgends vorhanden; wo wir eine solche beobachten ist es eine sehr seltene Ausnahme des allgemeinen Naturzustandes.“205 Dieser Zähne- und Klauendarwinismus mit seiner einfachen Opposition von Natur und Kultur unterscheidet sich also grundlegend von Peschels vorsichtigen Versuchen, Zusammenhalt und höhere Werte durch Variation und Selektion zu erklären. Bei Hellwald stehen sich der ‚Kampf ums Dasein‘ und die Ethik nicht nur unversöhnlich gegenüber, letztere wird sogar durch einen naturalistischen Fehlschluß als hinderlich für die „Gesetze“ der Natur erklärt.206 Seine Überzeugungskraft schöpft Hellwald in nicht unbeträchtlichem Maße aus seiner suggestiven Sprache. Lyells (und Peschels) Ansicht, daß Darwins Theorie eine Arbeitshypothese sei, ist dem Glauben an den Darwinismus als logischem „Naturgesetz“, als „Factum“ gewichen. Zudem ist der Darwinismus dieser Ausprägung mit dem Fortschritt ins Unendliche, ohne versöhnenden Endzustand, amalgamiert. Die Auswertung des Auslands ließ verschiedene Tendenzen in der Darwin-Rezeption deutlich werden. Die frühe Darwin-Vermittlung durch Peschel vollzog sich hauptsächlich durch Buchbesprechungen. Peschel sah Darwins Theorie im wesentlichen als „äußerst förderliche (useful working) Hypothese“ zur Erforschung des Tier- und Pflanzenreichs an. Darwins Lehre wurde in dieser Bekanntmachungsphase vorgestellt und kritisch ergänzt. Die Theorie, so zitiert Peschel zustimmend Charles Lyell, habe zwar Auswirkungen auf die Vorstellungen eines Schöpfergottes, im wesentlichen verhalte sie sich dem Geistesleben gegenüber aber „völlig neutral“. Peschel weist auch wiederholt auf Konsequenzen der Evolutionstheorie auf die Naturteleologie hin, macht sie jedoch nicht selbst zum Thema. Eine Erklärung der Moral aus der Theorie Darwins wird von Peschel und Preyer als Projekt der Zukunft für möglich gehalten. Die Jahre kurz vor und nach 1870 bezeichneten wir als Durchbruchsphase, weil die Zahl der Artikel nun erheblich ansteigt und verschiedene Wissenschaftler wie Moritz Wagner, Wilhelm Preyer, Gustav Jäger und Oscar Schmidt im Ausland mit biologischen Fachbeiträgen zu Wort kommen. Die Frage einer möglichen Vereinbarkeit von Glauben und ______________________
205 Hellwald (1872): Darwin und die praktische Philosophie, S. 354. 206 Hellwald wurde später vorgeworfen, daß verbreitete problematische DarwinInterpretationen auf seine Schriften zurückgingen. Die Bücher, die ihm diesen Tadel eingetragen haben, sind: Der vorgeschichtliche Mensch. Ursprung und Entwicklung des Menschengeschlechts für Gebildete aller Stände (Leipzig 1873–74) und die Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. (2 Bde., Augsburg 1874). Vgl. hierzu ADB, Bd. 50, S. 175.
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Wissen kommt ebenso zur Sprache wie Haeckels monistischer Ansatz, der von Peschel kritisch besprochen wird. Diese undogmatische Pluralität mit kritischer Distanz zu Weltanschauungsfragen kennzeichnet Das Ausland unter dem Redakteur Oscar Ferdinand Peschel. Einen erheblichen Wandel konnten wir beobachten, als Friedrich Hellwald die Redaktion übernahm. Das lag zum einen sicher am komplexer gewordenen Diskurs des Darwinismus, der eine eindeutige Positionierung verlangte. Zum anderen ergreift mit Hellwald eine neue Generation das Wort, für die die Einigungskriege prägende Bedeutung hatte. Hier bot sich der Anschluß an die Haeckelsche Position an, die begeistert und kritiklos vertreten wurde. Aus der nützlichen Arbeitshypothese für Biologen wurden feste Gesetze, die auch den Menschen beherrschen und beherrschen sollen. Durch den allzu wörtlich verstandenen ‚Kampf ums Dasein‘ kontaminierte Hellwald die biologische Theorie mit Handlungsanweisungen. Seine Auffassung eines Sozialdarwinismus wurde nun über Das Ausland und seine anderen Schriften verbreitet. Schließlich und besonders wichtig für unser Thema läßt sich beobachten, daß die anfangs durchaus vorhandene Aufmerksamkeit auf das Teleologie-Problem hinter einem unbedingten Fortschrittsglauben in der Natur, durch den allein man den ‚Kampf ums Dasein‘ rechtfertigen zu können glaubte, zurücktrat. Für diese Nuancen war im Kampf der Meinungen zunächst einmal kein Platz mehr. So können wir festhalten, daß aus einer differenziert betrachteten biologischen Theorie auf teleologischer Basis eine Weltanschauung mit dem Anspruch wurde, das ‚Ganze‘ zu erklären (Haeckel) oder aber Handlungsanweisung zu bieten (Hellwald). Einen neuen Grad der Popularisierung und ‚Verweltanschaulichung‘ erreicht der Darwinismus durch das aufsehenerregende Buch Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß des protestantischen Theologen David Friedrich Strauß (1808–1874).207 Es erschien im Herbst 1872 und hatte 1881 die 11. Auflage erreicht.208 Es spiegelt in mancher Hinsicht die Artikel des Auslands wieder, weil Strauß sich dort in naturwissenschaftlichen Fragen, die sein neues Buch betrafen, Rat holte. Insbesondere werden wir die Unsicherheiten in der Teleologie-Frage in seinem Buch ______________________
207 David Friedrich Strauß: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß. In: David Friedrich Strauß: Gesammelte Schriften. 11 Bde. Hg. von Eduard Zeller. Bonn 1876–1878, Bd. 6. Im folgenden wird das Buch mit der Sigle ‚ANG‘ abgekürzt. 208 1923 erschien Straußens Buch als Band 25 in „Kröners Taschenausgabe“ mit einer Auflage von 10.000 Stück. Strauß war auch der bekannteste deutsche Theologe des 19. Jahrhunderts im europäischen Ausland und wurde u.a. von der Schriftstellerin George Eliot ins Englische übersetzt. Vgl. hierzu Friedrich Wilhelm Graf: Kritik und Pseudo-Spekulation. David Friedrich Strauß als Dogmatiker im Kontext der positionellen Theologie seiner Zeit. (Diss. München 1978) München 1982, S. 21f.
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wiederfinden. Von hier ausgehend wird sich die Teleologie-Diskussion der 1870er und 1880er Jahre entfalten. 4.3 David Friedrich Strauß: Der alte und der neue Glaube 4.3.1 Straußens Vorarbeiten Das „Bekenntniß“ des Linkshegelianers Strauß209 ist mit dem Ziel geschrieben, dem Christentum eine positive und zeitgemäße Alternative entgegenzustellen. Ausdrücklich möchte Strauß kein Weltbild entwerfen, das nur auf den Ergebnissen der Wissenschaften beruht. Er sucht vielmehr diese Ergebnisse durch philosophische Spekulationen zur „Weltanschauung“ zu erweitern, will also Weltanschauungsliteratur schreiben. Es geht ihm nicht nur um eine Weltbeschreibung, sondern um die Darstellung der Welt als Sinnganzes und den Rückbezug auf den Menschen. Aus der Deutung der Welt sollen sich Maßstäbe für das sittliche Handeln des Menschen ergeben. Strauß trug sich schon seit 1849 mit dem Gedanken, nach seiner groß angelegten Kritik des Christentums im Leben Jesu ein konstruktives Buch zu schreiben. Hier sollte eine neue, nicht auf dem Christentum fußende Weltsicht und Moral ausgebreitet werden.210 Grundlage für den Entwurf einer neuen Weltanschauung sollten die Naturwissenschaften sein, von denen sich Strauß schon lange eine Auflösung der Religion versprach.211 Im Herbst 1865 begann Strauß mit den Vorbereitungen zu seinem neuen Buch. Im Herbst 1868 hatte er die wohl inzwischen vernachlässigten Studien wieder aufgenommen. Nun las er die 1866 erschienene Geschichte des Materialismus von Friedrich Albert Lange,212 „die ihm viel Interesse und Achtung abgewann“.213 Spätestens durch dieses Werk wurde Strauß also zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Darwinismus angeregt. Lange behandelt in seiner viel gelesenen Geschichte des Materialismus auch die neueren Naturwissenschaften und kommt im Zuge dessen auf ______________________
209 Vgl. den Artikel über David Friedrich Strauß. In: Routledge Encyclopedia of Philosophy. Hg. von Edward Craig. London, New York 1998. Hier Bd. 9, S. 164–166 (Horton Harris). Ferner William J. Brazill: The Young Hegelians. New Haven, London 1970, S. 95–133. Bes. S. 128– 131. 210 Vgl. Jean-Marie Paul: D.F. Strauss (1808–1874) et son époque. Paris 1982, S. 355. 211 Vgl. Paul (1982): Strauss, S. 354. 212 Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Iserlohn 1866. 213 Eduard Zeller: Vorwort des Herausgebers. In: David Friedrich Strauß: Gesammelte Schriften. 11 Bde. Hg. von Eduard Zeller. Bonn 1876–1878. Hier Bd. 6, S. VI.
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Darwins Theorie zu sprechen, die er unter dem Blickwinkel der Zweckmäßigkeit betrachtet. Hier werden wohl das erste Mal die neue darwinsche Erklärung der Zweckmäßigkeit in aller Deutlichkeit herausgestellt und die Folgen für die Naturbetrachtung reflektiert. Für Lange erfolgt die Veränderung der Arten zufällig, das heißt, daß sie „im Gegensatz zu den Folgen einer m e n s c h e n ä h n l i c h b e r e c h n e n d e n I nt e l l i g e n z “214 steht: „Es ist nun aber gar nicht mehr zu bezweifeln, dass die Natur in einer Weise fortschreitet, welche mit menschlicher Zweckmässigkeit keine Ähnlichkeit hat“.215 Der Übergang von einer früher ideal gedachten Gattung zum wirklichen Lebewesen dürfe nicht als ein Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit gedacht werden. Vielmehr seien tausende verschiedener Varietäten Wirklichkeit; vollkommen wahl- und rücksichtslos würden die günstigsten Varietäten überleben und damit der zufällige Ausgangspunkt für weitere Entwicklung werden. Beeindruckend hebt Lange die Wahllosigkeit und Zufälligkeit der natürlichen Entstehung von Zweckmäßigkeit im Unterschied zum menschlichen Zweckhandeln hervor: Wenn ein Mensch, um einen Hasen zu schiessen, Millionen Gewehrläufe auf einer grossen Haide nach allen beliebigen Richtungen abfeuerte; wenn er, um in ein verschlossenes Zimmer zu kommen, sich zehntausend beliebige Schlüssel kaufte und alle versuchte; wenn er, um ein Haus zu haben, eine Stadt baute, und die überflüssigen Häuser dem Wind und Wetter überliesse: so würde wohl Niemand dergleichen zweckmässig nennen und noch viel weniger würde man irgend eine höhere Weisheit, verborgene Gründe und überlegene Klugheit hinter diesem Verfahren vermuthen.216
Neben der Beschäftigung mit Lange ist ab Anfang 1869 bei Strauß auch eine gründliche Auseinandersetzung mit Darwin und den Darwinistischen Schriften nachzuweisen. An Käferle schreibt er am 16. Januar 1869, daß er zur Zeit naturwissenschaftliche Lektüre, hauptsächlich zum Darwinismus, lese: „insbesondere ist mir die Darwin’sche Theorie und was sich auf sie bezieht, wichtig und anziehend.“ Und auch was sich der Nicht-Biologe von Darwin erwartet, wird aus dem Brief ersichtlich. Strauß fährt fort: „Erst Darwin befreit uns vom Schöpfungsbegriff; wir Philosophen wollten wohl immer hinaus, aber erst Darwin hat uns gezeigt, wo der Zimmermann das Loch hinaus gemacht hat. – – “217 ______________________
214 215 216 217
Lange (1866): Materialismus, S. 404. Lange (1866): Materialismus, S. 402. Lange (1866): Materialismus, S. 403. Strauß an Christian Käferle am 16.1.1869. In: Ausgewählte Briefe von David Friedrich Strauß. Hg. von Eduard Zeller. Bonn 1895, S. 506.
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Darwin ist für Strauß vor allem ein gewichtiges Argument gegen den theologischen Schöpfungsbegriff. Die Argumentation läuft wesentlich über die natürliche Erklärung der Zweckmäßigkeit, wie er sie bei Lange nachlesen konnte. Strauß las insbesondere auch den wichtigsten deutschen Vertreter des Darwinismus, nämlich Ernst Haeckel. Er schaffte sich kurz nach Erscheinen die erste Auflage der Natürlichen Schöpfungsgeschichte an, später auch die dritte Auflage, um beide miteinander zu vergleichen. Nachdem Haeckel sich im Vorwort der vierten Auflage zugunsten des inzwischen erschienenen Straußschen Buches ausgesprochen hatte, schickte Haeckel ihm die vierte Auflage seines Werkes zu, wofür sich Strauß bedankte.218 Nach einer Unterbrechung kehrte Strauß im Frühjahr 1871 zu den Arbeiten zurück und las nun die erfolgreiche Philosophie des Unbewußten von Eduard von Hartmann. Mit dem Brief an Eduard Zeller vom 14. Juli 1871 schickte er das ausgeliehene Buch an den Adressaten zurück. Der Brief enthält eine kurze, aber prägnante Kritik des Hartmannschen Buches, wiederum fokussiert auf die Teleologie-Problematik. Der Erfolg des Buches erschien ihm als „ein Zeichen der Zeit […], in Betreff der Philosophie aber als ein trauriges.“219 Strauß sieht Hartmann ganz in der Tradition Schopenhauers; er habe lediglich den Begriff des Willens durch das Prinzip des Unbewußten ersetzt. Strauß wirft dem Buch „Cruditäten“ vor, was wohl auch an Hartmanns unzusammenhängenden und ungeordneten naturwissenschaftlichen Kenntnissen liege: „– er hat sich offenbar viele Bären aufbinden lassen –“220, urteilt der inzwischen zum HobbyBiologen avancierte Strauß. Die Hauptkritik richtet sich gegen die dem Werk zugrundeliegende Realteleologie. Aus dem nun unbewußten Willen werde die Einrichtung der Welt, insbesondere der organischen, […] ganz ebenso, wie von Reimarus, aus den bewußten Zwecken des Schöpfers, erklärt. Das Unbewußte wird zu einem deus ex machina, der, so lange er kann, sich so wenig mühe wie möglich macht, wenn es aber seine Zwecke erfordern, sich zusammennimmt und sich die größten Anstrengungen nicht dauern läßt, um seine Zwecke in der Natur durchzusetzen.221
Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) war einer der populärsten Vertreter der natürlichen Theologie im 18. Jahrhundert. Mit seiner ______________________
218 Vgl. den Dankesbrief an Ernst Haeckel am 24.8.1873. In: Zeller (1895): Ausgewählte Briefe von David Friedrich Strauß, S. 554–555. 219 Strauß an Eduard Zeller am 14.7.1871. In: Zeller (1895): Ausgewählte Briefe von David Friedrich Strauß, S. 528. 220 Strauß an Eduard Zeller am 14.7.1871. In: Zeller (1895): Ausgewählte Briefe von David Friedrich Strauß, S. 528. 221 Strauß an Eduard Zeller am 14.7.1871. In: Zeller (1895): Ausgewählte Briefe von David Friedrich Strauß, S. 528f.
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physiko-theologischen Argumentation erklärte er beispielsweise die Instinkte der Tiere aus den Zwecken des Schöpfers. Strauß, der ein Buch über Reimarus’ Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes geschrieben hatte, sieht in der teleologischen Argumentation Hartmanns keinen Unterschied zu Reimarus, außer daß letzterer die Zwecke dem Bewußtsein eines Schöpfers zuschrieb, während es sich bei Hartmann um ein unbewußtes zwecksetzendes Prinzip handelt. Aus Straußens Kritik wird das Hauptinteresse deutlich, das ihn in den Jahren um 1870 umtreibt. Es geht ihm um die Erklärung der natürlichen Zweckmäßigkeit. In Darwins Theorie sah er die Möglichkeit, diese mechanisch zu erklären und so den Wunderglauben an die bewußten oder unbewußten Zwecke eines schöpferischen Prinzips überflüssig zu machen.222 Mechanische Zweckmäßigkeit sollte das Loch sein, durch das er mit seiner Philosophie schlüpfen wollte. Mit Spannung sah er deshalb den neuen Publikationen Darwins entgegen. Dessen neues Buch über die Abstammung des Menschen las er schon im Mai 1871, ohne allerdings ganz zufrieden mit dem Werk zu sein: „– – Gelesen habe ich gleich nach seinem Erscheinen den 1. Band des neuen Werks von Darwin in der Übersetzung von Carus, doch mit mehr Begierde als Befriedigung.“223 An dem Buch vermißte er die „Klammern und Schließen einer wissenschaftlichen Beweisführung“.224 Mit diesem naturwissenschaftlichen Vorwissen verfaßte Strauß sein Bekenntniß. Es ist durch und durch darwinistisch, schwankt aber zwischen einem engen Darwin-Verständnis mit Akzent auf Selektion und Kontingenz und einer heimlichen Wiedereinführung der Realteleologie im Gefolge eines „idealistisch gefilterte[n] Darwin“. ______________________
222 So urteilte schon Jean-Marie Paul. Vgl. Paul (1982): Strauss, S. 436. 223 Strauß an Eduard Zeller am 16.5.1871. In: Zeller (1895): Ausgewählte Briefe von David Friedrich Strauß, S. 527. 224 Strauß an Eduard Zeller am 16.5.1871. In: Zeller (1895): Ausgewählte Briefe von David Friedrich Strauß, S. 527. Vgl. auch Eduard Zeller: Vorwort des Herausgebers. In: David Friedrich Strauß: Gesammelte Schriften. 11 Bde. Hg. von Eduard Zeller. Bonn 1876–1878. Hier Bd. 6, S. 7. Nur kurz zuvor war die mehrteilige Besprechung der Abstammung des Menschen im Ausland erschienen. Der Rezensent Bacmeister hatte am 17. April 1871 darauf hingewiesen, daß er für seine Besprechung die Korrekturbögen der noch nicht erschienenen deutschen Übersetzung zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Mit der Besprechung hatte man es in der Ausland-Redaktion also eilig. Dies zeigt besonders, wie zeitnah Darwin inzwischen rezipiert wurde. Überhaupt ist davon auszugehen, daß Strauß ein fleißiger Leser des Auslands war und deshalb gut informiert über den Stand der Darwinismus-Diskussion. Er war zwar Dilettant, aber ein Dilettant mit profunden Kenntnissen. So urteilt auch William Coleman, der Strauß einen „uncommonly well informed amateur“ nennt, was die Naturwissenschaften betrifft. Vgl. William Coleman: The Utopian Subject: David Friedrich Strauß’ New Faith. In: Klaus Berghahn, Reinhold Grimm (Hg.): Utopian Vision. Technological Innovation and Poetic Imagination. Heidelberg 1990, S. 75–90. Hier S. 77.
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4.3.2 Natürliche Zweckmäßigkeit Strauß gliedert sein Buch in vier Kapitel, die jeweils mit Fragen überschrieben sind: „Sind wir noch Christen?“, „Haben wir noch Religion?“, „Wie begreifen wir die Welt?“ und „Wie ordnen wir unser Leben?“. Während Strauß die erste Frage mit ‚Nein‘ beantwortet, endet das zweite Kapitel mit einem ‚Vielleicht‘: Der Mensch fühle sich vom Universum als „Werkstätte des Vernünftigen und Guten“ (ANG, S. 94) abhängig. Nun argumentiert Strauß teleologisch: „Da müssen wir freilich, was in der Wirkung liegt, auch in die Ursache legen; was herauskommt, muß auch drinnen gewesen sein.“ (ANG, S. 94) Auch wenn Strauß diese Argumentation unter dem Hinweis auf diese bloß menschliche Vorstellung der Zweckmäßigkeit und ihre Projektion auf die Natur zurückzieht, so bleibt doch das Resultat, daß das Universum die „Urquelle alles Vernünftigen und Guten“ (ANG, S. 94) sei, bestehen. Vor diesem realteleologischen Hintergrund legt Strauß im dritten Kapitel „Wie begreifen wir die Welt?“ sein modernes entwicklungsgeschichtliches Weltbild, seine „pop cosmology“225 dar. Nach einem schnellen Durchgang durch die Erdentstehung kommt Strauß zum organischen Leben und beeilt sich, dieses auf kausale Vorgänge zurückzuführen:226 „das Leben ist nur eine besondre, und zwar die complicirteste Art der Mechanik“ (ANG, S. 115). Nun kann er den Darwinismus anschließen: Dieser könne die Wunder aus der Natur vertreiben und damit zur „reinsten erhabensten Geistesfreude“ (ANG, S. 119) beitragen. Ganz deutlich ist es also Straußens Ziel, den Darwinismus nicht im Pessimismus münden zu lassen, sondern positive Gefühle aus ihm zu gewinnen. Wohl um zunächst den Leser an den Darwinismus geschickt heranzuführen, werden, ähnlich wie bei Haeckel, Goethe und Kant als Vorläufer Darwins zitiert. Zu eingehend hat sich Strauß allerdings mit den verschiedenen Theorien befaßt, um nicht den Unterschied zu sehen. Goethe nehme wohl eher eine ideale Verwandtschaft der Lebewesen untereinan______________________
225 Coleman (1990): The Utopian Subject, S. 82. 226 Die Entstehung des Organischen aus dem Unorganischen, damals ein vieldiskutierter Vorgang, hält Strauß für möglich, wobei er annimmt, daß die Zelle als organischer Grundbaustein zuerst entstanden sei. Vgl. z.B. die Strauß wohl bekannte Forschungsübersicht von Oscar Peschel: Neuere Forschungen über die Urzeugung (Generatio aequivoca s. spontanea). In: Das Ausland 42 (1869), Nr. 13, S. 310–312. Mit der Übernahme der Urzeugung in seine Kosmologie geht Strauß, wie Haeckel, über Darwin hinaus, der sich zu diesem Thema zurückhaltend äußerte. Die Kluft zwischen Anorganischem und Organischem, so Strauß, könne man durch den Bathybius (Huxley) oder die Moneren (Haeckel) ausfüllen (vgl. ANG, S. 115).
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der an, keine reelle Entwicklung der Tiere auseinander in erdgeschichtlichen Zeiträumen (vgl. ANG, S. 119–122). Obwohl Strauß auch von der „Lamarck-Darwin’schen Theorie“ spricht, sieht er deutlich den Unterschied zwischen diesen beiden Erklärungsansätzen: Lamarck mache individuelle Bedürfnisse und die dann vererbten Gewohnheiten zum Motor der Umbildung, während Darwin diese Erklärung ungenügend gefunden habe (vgl. ANG, S. 124). Strauß beginnt mit der Erklärung der künstlichen Zuchtwahl, genauer: der Züchtung von Tauben. Dann fragt er sich, ob es ein Prinzip gebe, das unabhängig vom Menschen diese Züchtung leisten könne und kommt auf das Prinzip der „Concurrenz“ zu sprechen: [E]r [Darwin; P.A.] brauchte es nur von der Menschenwelt auf den Haushalt der Natur zu übertragen: die Concurrenz. Darwin’s „Kampf um das Dasein“ ist nichts andres, als dasjenige zum Naturprincip erweitert, was wir als sociales, industrielles Princip schon lange kennen. (ANG, S. 125)
Es folgen Hinweise auf Überpopulation, Ressourcenmangel und häufigere Fortpflanzung der „stärkeren, tüchtigeren, geschickteren“ Lebewesen. Auch die Bemerkung, daß dieser Prozeß ein Vorgang mit „Wahrscheinlichkeit“ (ANG, S. 126) sei, fehlt nicht. Dieser Vorgang würde also zunächst die „Vervollkommnung“ der Lebewesen erklären; aber wie das Beispiel der arbeitsteiligen Gesellschaft zeige, führe Konkurrenz auch zur Differenzierung. Das sei in der Natur ebenso.227 In den Abschnitten über die Abstammung des Menschen fällt besonders die geschickte Rhetorik auf, mit der Strauß das für seine Zeitgenossen heikle Thema anpreist: Er stellt es dem alttestamentarischen Sündenfall gegenüber: […] wir wissen, es gibt Leute genug, denen ein durch Liederlichkeit heruntergekommener Graf oder Baron immer noch schätzbarer ist als ein Bürgerlicher, der sich durch Talent und Thätigkeit emporgebracht hat. Unser Geschmack ist der umgekehrte, und so sind wir auch der Meinung, daß die Menschheit weit mehr ______________________
227 Vgl. ANG, S. 126f. Strauß berücksichtigt auch Einwände gegen die Darwinsche Theorie. So kommt er auf die Tatsache zu sprechen, daß eine wahllose Paarung die gerade neu ausgeprägten Merkmale wieder aufheben würde. Dies war der Einwand, der Moritz Wagner zur Formulierung seines „Migrationsgesetzes“ veranlaßte. Er sah in der räumlichen Separierung von Populationen den Auslöser für die Artbildung. Wagner selbst sah sein Migrationsgesetz allerdings zunehmend als Ersatz für den Darwinismus. Peschel stellte Wagners Theorie erstmals 1868 im Ausland als Ergänzung der Theorie Darwins vor [Oscar Ferdinand Peschel: Neue Literatur über Darwins Lehre von der Umbildung (Transmutation) der Arten. 3. Teil: Über Umwandlung der Arten durch Wanderung. In: Das Ausland 41 (1868), Nr. 29, S. 673– 682. Hier S. 679–681]. Strauß und Wagner waren auch persönlich befreundet. So fand das „Migrationsgesetz“, als Ergänzung zu Darwins Theorien verstanden, auch Eingang in Straußens Buch. Zu Wagner vgl. die Kurzbiographie bei Daum (2002): Wissenschaftspopularisierung, S. 515.
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Ursache habe, sich zu fühlen, wenn sie sich von elenden thierischen Anfängen durch die fortgesetzte Arbeit einer unzählbaren Geschlechterreihe allmählig zu ihrem jetzigen Standpunkt emporgearbeitet hat, als wenn sie von einem Paare abstammt, das, nach Gottes Ebenbild geschaffen, später aus dem Paradiese geworfen, und immer noch lange nicht wieder auf der Stufe angekommen ist, von der es am Anfang herabgesunken war. (ANG, S. 131f.)
Ohne Zweifel ist sich Strauß bewußt, daß er hier einen mechanischen Vorgang, der auf zufälliger Variation228 und wahrscheinlicher Selektion beruht, dem Menschen als Verdienst zuschreibt, so als ob es die Leistung der Menschen ist, sich „emporgearbeitet“ zu haben. Aber dies können wir hier als rhetorische Strategie werten, um den Leser von der Deszendenztheorie zu überzeugen. Auch sie kann an das Gefühl appellieren und gestattet dem Menschen eine befriedigende Selbstwahrnehmung. Gegen die Konzeption von Zweckmäßigkeit bei Reimarus und Trendelenburg229 zitiert Strauß Hermann von Helmholtz (1821–1894), um das darwinistische Verständnis der Zweckmäßigkeit zu verdeutlichen: „ ‚Darwin’s Theorie zeigt, wie Zweckmäßigkeit der Bildung in den Organismen auch ohne alle Einmischung von Intelligenz, durch das blinde Walten eines Naturgesetzes entstehen kann. ‘ “230 Das Zitat stammt aus dem Vortrag Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft, den Helmholtz 1869 auf der Grundlage von Stichworten gehalten hatte und 1870 für seine Populären wissenschaftlichen Vorträge niederschrieb.231 Dort nennt er die neue Erklärung der Zweckmäßigkeit ______________________
228 Strauß verwendet auch die Begriffe „Abweichungen“ oder „Spielarten“ (vgl. ANG, S. 124f.) für Varianten einer Art. Er spricht aber auch einmal von „zufälliger Variation“ (ANG, S. 145), den Aspekt des Zufalls betonend. 229 Zu Trendelenburgs eigener Auseinandersetzung mit Darwins Theorien und dem deutschen Darwinismus Haeckelscher Prägung vgl. Adolf Trendelenburg: Logische Untersuchungen. 2 Bde. Leipzig 31870. Hier Bd. 2, S. 79–94. Trendelenburg referiert die Theorie Darwins unter Berücksichtigung der künstlichen Zuchtwahl u.a. auf Grundlage seiner Kenntnisse der Natürlichen Schöpfungsgeschichte von Ernst Haeckel. Trotz weitgehender Zustimmung und der Aufmerksamkeit auf die Teleologiefrage kommt es zur Wiedereinführung der Realteleologie. Dies findet bei Trendelenburg zunächst über den Begriff der Anpassung statt, der nach seiner Ansicht auf den Begriff des Zwecks führt (vgl. ebd. S. 88). Darüber hinaus macht er die Selbsterhaltung der Organismen zum Zweck (vgl. ebd. S. 90ff.). Noch 1925 gab es eine Neuausgabe eines Abschnitts aus den Logischen Untersuchungen, der auch die Kritik am Darwinismus enthält. Diese Kritik sei „für die Folgezeit in vieler Beziehung vorbildlich“ gewesen, so der Herausgeber Georg Wunderle. Vgl. Adolf Trendelenburg: Der Zweck. Hg. von Georg Wunderle. Paderborn 1925. Hier S. 104. 230 Hermann von Helmholtz zitiert nach: ANG, S. 142. 231 Hermann von Helmholtz: Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft. Eröffnungsrede für die Naturforscherversammlung zu Innsbruck, 1869. In: Hermann von Helmholtz: Vorträge und Reden. 2 Bde. Braunschweig 1884, Bd. 1, S. 333–363. Das von Strauß benutzte Zitat auf S. 353f. Zur nachträglichen Niederschrift des Vortrags vgl. die Vorrede, S. 11.
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den „wesentlich neuen schöpferischen Gedanken“232 von Darwins Theorie.233 In diesem Sinn fährt Strauß fort, wenn er schreibt, daß Darwin den „Zweckbegriff“ aus der Natur verbannt habe, wobei Strauß hier offensichtlich an jenen Zweckbegriff denkt, der auf Intentionalität beruht. Das sei das gleiche, als ob er das Wunder aus der Natur vertrieben habe, denn der Zweck ist ja der Wundermann in der Natur, er ist es, der die Welt auf den Kopf stellt, der, mit Spinoza zu reden, das Hinterste zum Vordersten, die Wirkung zur Ursache macht, und dadurch den Naturbegriff geradezu zerstört. (ANG, S. 142f.)
Aber auch zeitgenössische teleologische Naturentwürfe, wie etwa derjenige der Philosophie des Unbewußten von Hartmann, werden kritisiert, weil sie die Zweckmäßigkeit im Grund genauso erklären, wie die alten Physikotheologen. Das wirkende Subjekt sei dort lediglich ein naturimmanentes Unbewußtes und kein persönlicher Schöpfergott mehr. Straußens Kritik an Hartmann kennen wir bereits aus dem Brief an Zeller. Strauß hat sich demnach durch seine Helmholtz- und Lange-Lektüre ein angemessenes Verständnis der neuen Erklärung von Zweckmäßigkeit erarbeitet, wie sie aus dem Darwinismus folgt: Blinde Naturkräfte bringen ohne Bewußtsein etwas zustande, das den Produkten der menschlichen, intentionalen Zweckmäßigkeit gleicht. In diesen teleologiekritischen Passagen, die gegen Reimarus, Hartmann und Trendelenburg gerichtet sind, hat sich Strauß somit weitestgehend von der idealistischen Realteleologie verabschiedet, die die Einheit von Geist und Materie voraussetzte.234 Im zweiten Kapitel seines Buchs hatte Strauß den Glauben an das Absolute durch den Glauben an das vernünftige und gute Universum, von dem wir uns abhängig fühlen, ersetzt. Wie verträgt sich nun die Vorstellung des guten Universums mit dem ‚Kampf ums Dasein‘? Hier greift der Gedanke des Fortschritts. Nur der ‚Kampf ums Dasein‘ bringe „Bewegung und Fortschritt in die Welt“ (ANG, S. 147). Das Leiden, das durch den ‚Kampf ums Dasein‘ entsteht, ist also durch den allgemeinen Fortschritt gerechtfertigt. Diese wichtige Argumentationsfigur ist uns bereits ______________________
232 von Helmholtz (1884): Ziel, S. 353. 233 Von Helmholtz fährt fort, indem er das Prinzip der Erblichkeit vorstellt, das Züchtern ermögliche, bestimmte Eigenschaften der Tiere über Generationen zu verstärken. In der Wildnis aber hätten die Tiere mit „vorteilhaften Eigenschaften“ [Helmholtz (1884): Ziel, S. 354] am meisten Wahrscheinlichkeit, sich im Kampf ums Dasein zu bewähren und ihre Eigenschaften weiter zu vererben. So gelinge eine „vervollkommnende Anpassung“ (ebd.) an die Umstände. Von Helmholtz konzentriert sich also ganz wie Friedrich Albert Lange auf das wesentliche innovative Moment der Darwinschen Theorien. 234 Vgl. dagegen Brazill, der diese Stellen nicht berücksichtigt: „The disciple of Hegel accepted the fusion of nature and spirit in a progressive development.“ [Brazill (1970): Young Hegelians, S. 131.]
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im Ausland bei Friedrich Hellwald begegnet und wird auch bei Vischer wiederkehren. Das Kapitel beschließt Strauß, indem er auf die Kontingenz der organischen Schöpfung auf der Erde hinweist: Wird auch die Lebensmannigfaltigkeit, das Ringen der Kräfte und die aufsteigende Richtung auf einem Planeten wie auf dem andern, in einem Sonnensystem wie in dem andern vorhanden sein, so werden sie doch in jedem andre Regeln ihres Wirkens, andre Formen ihres Erscheinens haben.235
Was beim Menschen „herauskommen soll und herauskommt“ (ANG, S. 151), werde man im nächsten Kapitel behandeln. Die problematische Verbindung einer moralischen mit einer empirisch-feststellenden Komponente ist charakteristisch für Straußens Ausführungen über Ethik. 4.3.3 Die Begründung der Moral durch Teleologie Die ersten beiden Abschnitte des Kapitels „Wie ordnen wir unser Leben?“ halten sich noch dicht an darwinistische oder zumindest entwicklungsgeschichtliche Prinzipien. Die Geselligkeit der Menschen wird schon bei den höheren Tieren aufgewiesen. Auch bei diesen gebe es Varianten: Die einen seien stärker oder klüger und könnten deshalb mehr für die Verteidigung der Horde nach außen oder für ihre interne Verständigung tun. Die Kardinaltugenden Tapferkeit und Gerechtigkeit könnten sich so entwickeln. Damit ist für Strauß die Entwicklung von Moral an die Tatsache gebunden, daß Menschen soziale Tiere sind: „Zugleich erkennen wir aber auch, wie nur in der Gesellschaft sich moralische Eigenschaften entwickeln können.“ (ANG, S. 154) Abweichendes Verhalten sei dann bestraft worden, weil es dem Zusammenhalt der Gemeinschaft abträglich gewesen sei. So hätten sich unter vielen Kämpfen nach und nach Gebräuche, und dann Gesetze und eine Tugendlehre gebildet (vgl. ANG, S. 154f.). Ganz deutlich ist hier das Bestreben von Strauß zu erkennen, Moral auf der Grundlage der Darwinschen Theorie zu begründen. Damit unterscheidet er sich signifikant von Hellwalds zeitgleichen Versuchen, aus dem ‚Kampf ums Dasein‘ Handlungsmaximen zu gewinnen. Doch Strauß scheint es nicht auszureichen, der Moral „Nützlichkeit“ und „äußere Nothwendigkeit“ (ANG, S. 156) zuzuschreiben. Die heiligen Moralvorschriften der Kirche könnten nur dann ersetzt werden, wenn ______________________
235 ANG, S. 151. Bis heute hat das Gedankenexperiment einer zweiten Evolution auf einem anderen Planenten nicht an Faszination eingebüßt. Es wird in der Regel angestellt, um die Zufälligkeit der Evolution zu betonen. Vgl. hierzu den ebenfalls populären Beitrag von Patrick Illinger: Alles nur Zufall? Worauf Charles Darwin keine Antwort gab: ob der Mensch ein zwangsläufiges Produkt der Evolution ist. In: Süddeutsche Zeitung vom 24./25./26.12.2003, S. 11.
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man der neu begründeten Moral „innere Nothwendigkeit“ (ANG, S. 156) nachweisen könnte. Es geht ihm also darum, nicht nur einen blinden Mechanismus für die Entwicklung menschlicher Werte verantwortlich zu machen, sondern ihnen, in direkter Konkurrenz zur Autorität der christlichen Moral, eine höhere Notwendigkeit zu geben. Diese Art der Sicherheit kann aber eine Herleitung der Moral aus der Evolutionsgeschichte nicht bieten. Die „innere Nothwendigkeit“ der Moral gewinnt Strauß nun interessanterweise nicht mehr auf der Schiene der Langeschen Interpretation des Darwinismus, der das Zufällige der Entwicklung in den Vordergrund stellte, sondern durch Moritz Wagner und letztlich durch Hegels und Schellings teleologisches Entwicklungsdenken. Durch dieses ist die Darwinsche Theorie zur Weltanschauung erweiterbar, die auch sichere Handlungsanweisungen zu geben vermag. Der Naturforscher Moritz Wagner hatte im Ausland Neue Beiträge zu den Streitfragen des Darwinismus veröffentlicht.236 In einem Abschnitt vertritt er den Darwinismus als eine Vervollkommnungstheorie. Das „Naturgesetz der Vervollkommnung“ und des Fortschritts wird dort als das „wichtigste allgemeine Resultat“ der neueren Naturwissenschaft bezeichnet. Dieser Prozeß könne durchaus als etwas Göttliches verehrt werden: In diesem der Natur innewohnenden Streben nach einer rastlos fortschreitenden Verbesserung und Veredlung ihrer organischen Formen mag auch der echte Beweis ihrer Göttlichkeit liegen – ein großes und schönes Wort, dem freilich der Naturforscher einen wesentlich andern Sinn gibt als der Priester einer sogenannten Offenbarungsreligion.237
Diesen Passus zitiert Strauß zu Beginn des 75. Abschnittes seines Buches und leitet damit zu einer Betrachtung der Natur als Stufenleiter über. Die Entwicklung denkt er nun im Sinn Hegels, auf den auch namentlich verwiesen wird, das heißt als stufenweise Selbstoffenbarung des Geistes. Der Natur wird nun wieder ein Wille und ein Ziel unterstellt: Die Natur habe sich schon im Tier empfunden und wolle sich selbst im Menschen erkennen: „Im Menschen hat die Natur nicht blos überhaupt aufwärts, sie hat über sich selbst hinaus gewollt.“ (ANG, S. 162) Auch andere teleologische Formulierungen tauchen wieder auf: Der Mensch sei nicht wegen der sinnlichen Genüsse auf der Welt, sondern wegen dem, was ihn vor den anderen Tieren auszeichne: „wie überhaupt kein Wesen um desjenigen ______________________
236 Moritz Wagner: Neuere Beiträge zu den Streitfragen des Darwinismus. In: Das Ausland 44 (1871), Nr. 13, S. 289–293; Nr. 14, S. 322–327; Nr. 15, S. 343–347; Nr. 23, S. 535–540; Nr. 24, S. 558–564; Nr. 37, S. 865–870; Nr. 38, S. 891–894; Nr. 39, S. 913–918; Nr. 40, S. 946–948; Nr. 45, S. 1057–1061; Nr. 46, S. 1081–1085. 237 Moritz Wagner: Neuere Beiträge zu den Streitfragen des Darwinismus. V. Das Naturgesetz des Fortschritts oder die Vervollkommnungstheorie. In: Das Ausland 44 (1871), Nr. 39, S. 913.
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willen da ist, was schon auf frühern Lebensstufen gegeben war, sondern um dessen willen, was in ihm neu errungen worden ist.“ (ANG, S. 162f.) Die Vervollkommnungstheorie paßt natürlich gut zu Straußens Vorstellung des Universums als „Urquelle alles Vernünftigen und Guten” (ANG, S. 94). William Coleman betont diese utopistische Perspektive in Straußens Buch und bescheinigt ihm einen „near-pantheistic belief“.238 In den vorherigen Kapiteln konnten anthropomorphistische und teleologische Formulierungen von Strauß noch zum Teil dadurch erklärt werden, daß er besonders anschaulich und ansprechend schreiben wollte. Nun muß davon ausgegangen werden, daß durch den Vervollkommnungsgedanken, der teleologische Implikationen mit sich bringt, der Stellung des Menschen und seiner Moral eine neue Notwendigkeit, eben „innere Nothwendigkeit“ (ANG, S. 156) verliehen werden soll. Gegen den Willen von Strauß zeigt sich hier, daß für die Begründung einer Ethik auf Teleologie nicht verzichtet werden konnte. Strauß vollzieht lediglich das in versteckter Weise, was Trendelenburg ganz offen postulierte.239 Gerade weil das dritte Kapitel sich mehr an dem Darwin-Verständnis von Lange und Helmholtz orientiert, entsteht ein unklares und brüchiges Naturbild: Einerseits wird durch den ‚Kampf ums Dasein‘ die Selektion und die zufällige Variation betont. Kausaler Mechanismus könne die Natur vollständig erklären, natürliche Zweckmäßigkeit entstehe nur durch zufällige (‚blinde‘) Naturkräfte. Hierdurch wird die organische Schöpfung und die Stellung des Menschen aber als Ganzes zufällig. Dann wiederum wird der Entwicklungsgedanke hegelscher Prägung betont, der schon aufgrund seiner immanenten Teleologie unvereinbar mit der vorher vorgetragenen Theorie Darwins ist und den Gedanken nahelegt, daß Geist auch vom Menschen unabhängig im Universum existiert.240 Auf diesem Weg kann die Stellung des Menschen und seine Moral durch eine innere Notwendigkeit begründet werden. Die Zufälle der Variation und die Grausamkeiten des Kampfes ums Dasein können dann durch den Fortschritts-Gedanken gerechtfertigt werden. Die grausame Natur, sagt Strauß, sei für Schopenhauer ein Beleg für die Nichtigkeit der Welt, der er mit Pessimismus und Resignation bege______________________
238 Coleman (1990): The Utopian Subject, S. 82. 239 Trendelenburg hält Ethik nur dann für begründbar, wenn der Wirklichkeit eine Realteleologie zugrunde liegt. Zu diesem Ergebnis kommt Gerald Hartung: „Nur wenn der Zweckbegriff in der Naturbetrachtung eine konstitutive Rolle spielt, nur dann taugt er auch für die Begründung der praktischen Philosophie. Und umgekehrt: Wird der Zweckbegriff in der Naturbetrachtung geleugnet, dann lässt sich nicht mehr die Vorstellung einer ethischen Distanz des Menschen gegenüber der bloß physischen Welt aufrechterhalten.“ [Hartung (2001): F.A. Trendelenburgs Kritik der praktischen Philosophie Herbarts, S. 99.] 240 Jean-Marie Paul formuliert, daß Strauß die Teleologie im Detail aufgebe, sie aber im Ganzen wieder einführe. Vgl. Paul (1982): Strauss, S. 437.
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gne. Doch nun habe Darwin gerade im grausamen Kampf ums Dasein „das Ferment erkannt, das allein Bewegung und Fortschritt in die Welt bringt“ (ANG, S. 147). Der Darwinismus gekoppelt mit der Fortschrittsidee verhilft Strauß in dieser Weise zu einer befriedigenden, modernen und naturwissenschaftlich fundierten Weltanschauung. So fragt Strauß mit Lessing: „soll lieber kein Tod sein und keine Bewegung? oder lieber Tod und Bewegung?“ (ANG, S. 148) Diese Theodizee aus dem Geist des teleologischen Darwinismus ist Strauß vom Grundgedanken her wohl von Hegel vertraut, denn dieser hatte das Übel durch die Entfaltung des Geistes in der Geschichte gerechtfertigt.241 Ähnliches konnte er aber auch bei Hellwald nachlesen, der den „Ewigen Frieden“ als „Völkertod“ bezeichnet hatte. Straußens widersprüchliche Naturkonzeption wird die Rezensenten des Buches beschäftigen und eine regelrechte Teleologie-Diskussion entfachen, die vor allem in der Allgemeinen Zeitung geführte wurde und so ein breites Publikum erreichte. Aber weit darüber hinaus wurde das Erscheinen von Straußens Buch und die – zustimmende oder ablehnende – Reaktionen hierauf als „wirkliches culturgeschichtliches Ereigniß“242 empfunden. So erschien es wohl nicht nur Friedrich Nippold, der 1873 ein Buch über Die literarischen Ergebnisse der neuen Straußischen Controverse schrieb. Im Frühjahr 1873 sah sich schließlich auch Friedrich Hellwald veranlaßt, im Ausland auf die Debatte der Allgemeinen Zeitung einzugehen. Er leitet seinen Artikel mit den Worten ein: „Wenige Bücher der Gegenwart haben die Gemüther in höhere Aufregung versetzt als jenes von David Strauß: ‚Der alte und der neue Glaube. ‘ “243 Diese Diskussion über Straußens Bekenntniß wurde zu einem wichtigen Teil in der Allgemeinen Zeitung geführt. Wir werden dieser Debatte nachgehen, nicht nur weil Friedrich Theodor Vischer diese Diskussion aufmerksam verfolgte, sondern auch, weil so die Anschlüsse zu einer eigenständigen Teleologie-Debatte deutlich werden.244 Die Horizonte der DarwinInterpretation in den frühen 1870er Jahren werden dabei augenscheinlich. ______________________
241 Vgl. Topitsch (1979): Erkenntnis und Illusion, S. 171. 242 Friedrich Nippold: Die literarischen Ergebnisse der neuen Straußischen Controverse. Kritische Studie. In: Lodewijk Willem Ernst Rauwenhoff, Friedrich Nippold: D. Fr. Strauß’ alter und neuer Glaube und seine literarischen Ergebnisse. Zwei kritische Abhandlungen. Leipzig, Leiden 1873, S. 129–246. Hier S. 136. 243 Friedrich Hellwald: Die Geschichtsphilosophie und die Naturwissenschaften. In: Das Ausland 46 (1873) Nr. 9, S. 168–173. Hier S. 168. 244 Eine moderne wissenschaftliche Aufarbeitung der Kontroverse um Straußens Buch, die aber nur knapp auf die naturwissenschaftliche Diskussion in der Allgemeinen Zeitung eingeht und zudem den Teleologie-Aspekt vernachlässigt, bietet Peter Schrembs: David Friedrich
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4.4 Der Streit um die Realteleologie in der Allgemeinen Zeitung 4.4.1 Entwicklung oder Veränderung (Huber/Ziegler)? Die 1798 gegründete Allgemeine Zeitung aus dem Cotta-Verlag war besonders in ihren Anfängen eine hoch geachtete Zeitung; in ihr publizierten unter anderem Heinrich Heine, Ludwig Börne und Karl Gutzkow.245 Noch 1898 konnte Eduard Heyck über das Blatt schreiben, daß die Zeit noch nicht vorüber sei, „wo auf die A.Z. abboniert zu sein oder sie neben anderen Blättern zu halten das Kennzeichen des vornehmen und gebildeten Hauses war“.246 Nach den in ihr geschalteten Anzeigen zu urteilen, wurde sie wohl vorwiegend in Süddeutschland, aber auch in der Schweiz gelesen. Das täglich erscheinende Blatt enthielt eine wissenschaftliche Beilage, in der sich der Streit über Straußens Buch vorwiegend abspielte. Straußens Bekenntniß wurde von November bis Dezember 1872 in fünf langen Abschnitten von Johannes Huber (1830–1879), einem katholischen Philosophieprofessor aus München, besprochen.247 Huber eignete sich als Rezensent besonders, da er kurz zuvor ein (kritisches) Buch über den Darwinismus geschrieben hatte.248 Schon im ersten Teil der Rezension macht Huber deutlich, daß er die Schrift von Strauß ablehnt. Als besonders folgenreich erwies sich aber seine Kritik des dritten Teiles von Straußens Buch, in dem dieser auf die Ergebnisse der Naturwissenschaften, und besonders auf die Theorie Darwins zurückgreift, um sein modernes und entwicklungsgeschichtliches Weltbild darzulegen. Hier wirft Huber Strauß „naive Genügsamkeit mit dem äußerlichsten Empirismus“249 vor. Besonders kritisiert Huber ein falsches DarwinVerständnis hinsichtlich der Teleologie-Frage: Der Schüler Hegels [Strauß; P.A.] kann sich aber darüber nicht täuschen daß Darwins Lehre keine Entwicklungstheorie ist, daß die Entwicklung ohne den ______________________
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Strauß. Der „Alte und der neue Glaube“ in der zeitgenössischen Kritik. (Diss. Zürich) Locarno 1987. Bes. S. 179–189. Vgl. Meyers Großes Konversationslexikon. 20 Bde. Leipzig, Wien 61902–1908. Hier Bd. 1, S. 347. Eduard Heyck: Die Allgemeine Zeitung 1798–1898. Beiträge zur Geschichte der deutschen Presse. München 1898, S. 337. Johannes Huber: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntnis von David Friedrich Strauß. In: Allgemeine Zeitung vom 17.11.1872, Nr. 322 (B), S. 4909–4911; 21.11.1872, Nr. 326 (B), S. 4965–4967; 25.11.1872, Nr. 330, S. 5021–5023; 1.12.1872, Nr. 336, S. 5121–5122; 2.12.1872, Nr. 337, S. 5134–5136. Huber war mit Strauß auch persönlich bekannt. Als Strauß 1858 in München war, hatte der junge Privatdozent Huber bei Strauß vorgesprochen. Strauß äußerte im Verlauf des Gesprächs zu deutlich seine Meinung zum „jetzigen Stand der Theologie“, worauf Huber etwas düpiert gegangen sei. Vgl. Strauß an Adolf Rapp am 4.7.1858. In: Zeller (1895): Ausgewählte Briefe von David Friedrich Strauß, S. 392. Vgl. Johannes Huber: Die Lehre Darwins kritisch betrachtet. München 1871. Huber (1872): Der alte und der neue Glaube, S. 5021.
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Zweck und ohne eine innere Nothwendigkeit des Fortschritts nicht gedacht werden kann. Darwin aber läugnet alle Teleologie, ausdrücklich verwirft er ein Gesetz nothwendiger Höherbildung und Vervollkommnung der Organisationen. Strauß selbst verhält sich offenbar im Problem der Teleologie unsicher.250
Huber unterscheidet hier das Hegelsche Entwicklungsdenken mit seiner immanenten Teleologie von der Hypothese Darwins, die ein Ziel der Evolution und die fortschreitende Annäherung an dieses leugnet. Die Begriffe „Entwicklung“, „Zweck“ und die daraus resultierende „innere Nothwendigkeit“ reserviert Huber für die Hegelsche Realteleologie. Höherentwicklung in diesem Sinn ist nun für Huber in der Natur evident, so daß Darwins Theorie einer mechanischen Zweckmäßigkeit zur Naturerklärung seiner Meinung nach nicht ausreicht.251 Denn indem man die Teleologie verbannt, ist der Entwicklungsgedanke hinfällig.252 Dieses wichtige Problem wird uns weiterhin beschäftigen. Es wird in den Diskussionen der Allgemeinen Zeitung noch eine Rolle spielen, besonders aber auch Friedrich Theodor Vischer bewegen. Und auch an Gottfried Kellers Texten werden wir die Folgen dieses Problemzusammenhangs beobachten können. Was Huber betrifft, so benötigt er die Vorstellung einer aufsteigenden Entwicklung in der Natur, um von dort aus „auf einen idealen Weltplan“253 hinzuweisen. Der katholische Theologe erkennt also genau, daß sich Strauß in der Frage der Realteleologie „unsicher“ verhält. Auf der einen Seite lobe Strauß Darwin dafür, daß dieser die Teleologie aus der Natur verbannt habe, auf der anderen Seite spreche er von Höherentwicklung und Vervollkommnung. Auch die Begründung der Ethik auf der Grundlage des wie auch immer verstandenen Darwinismus kann Huber nicht überzeugen. Er hält das Buch von Strauß nicht nur für „wissenschaftlich unhaltbar“254, sondern auch für „praktisch bedenklich“.255 ______________________
250 Huber (1872): Der alte und der neue Glaube, S. 5022. 251 Neben der Selektionstheorie greift Huber auch die Deszendenztheorie an: Der Mensch könne nicht aus der natürlichen Zuchtwahl erklärt werden, weil er im Kampf ums Dasein weniger Waffen habe als ein Affe, von dem er doch angeblich abstamme. Für Huber hat „die Natur […] in der Production des Menschen einen Sprung gemacht“ [Huber (1872): Der alte und der neue Glaube, S. 5121]. 252 Das ist auch das Ergebnis seines im übrigen gründlichen Buches über Darwins Theorie. Nach einer genauen Darstellung der Grundprinzipien der zufälligen Variation und Selektion durch den Kampf ums Dasein (S. 69) verwirft er sie schließlich und votiert für eine durch Geist geleitete Evolution der Lebewesen [vgl. Huber (1871): Darwin, S. 289]. Auch seine wertende Übersicht über die bis dahin erschienene Darwin-Literatur ist hilfreich. Haeckels Beitrag zum Darwinismus und besonders sein Stammbaum der Organismen wird, bei aller Anerkennung, ein „kühnes und höchst eilfertiges Unternehmen“ genannt. Vgl. Huber (1871): Darwin, S. 93–181. Bes. S. 110. 253 Huber, Johannes. In: ADB, Bd. 13, S. 235–236 (Moritz Carriere), hier S. 236. 254 Huber (1872): Der alte und der neue Glaube, S. 5136.
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Dagegen setzt Huber den Glauben an den kategorischen Imperativ, an die sittliche Weltordnung Fichtes und allgemein an den deutschen Idealismus.256 Auf diese kritische Rezension antwortet der spätere Strauß-Biograph Theobald Ziegler (1846–1918), um Strauß zu verteidigen.257 Er lobt, daß Strauß als ehemaliger Hegelianer Darwins Theorie anerkenne. Er selbst sieht keinen unversöhnlichen Gegensatz zwischen Hegel und Darwin. Jahrzehntelang habe man den Hegelianern, zu denen sich auch Ziegler rechnet, vorgeworfen, daß die „unbewußte immanente Teleologie Hegels ein unklarer Gedanke sei.“258 Nun werfe man die kritisierte Teleologie über Bord und solle plötzlich kein Hegelianer mehr sein? Was nun folgt, ist eine Angleichung von Darwinismus und Hegelianismus über den Zweck- bzw. Selektionsgedanken: […] wer die von Darwin behauptete Entwicklung als nothwendige bestreitet, weil ihr kein Zweck der Höherbildung zu Grund liege, vergißt daß Darwin an die Stelle des Zwecks den Kampf ums Dasein gesetzt hat, welcher der Hebel aller Fortentwicklung ist, und dieselbe somit nicht als zufällige und willkürliche, sondern als nothwendige und gesetzmäßige erscheinen läßt. Dieser Gedanke, der die Annahme eines Zweckes überflüssig macht, ist eben in der empirischen Welt das was Hegel in der Idee als das Triebrad alles Weiterschreitens aufgezeigt hat – die Negation. Und so ist der Schüler Hegels allerdings im Stande nun jene immanente Negation als eine immer noch zu äußerliche, der Welt aufgedrängte und fremde fallen zu lassen, und an ihre Stelle den Kampf ums Dasein zu setzen.259
Die Hegelsche Negation wird also als metaphysisches Postulat abgelehnt und durch den Selektionsgedanken ersetzt, der die Teleologie einfach „überflüssig“ mache. Weder die überlebensunfähigen noch die angepaßten Organismen würden eine Zukunft antizipieren. Im großen und ganzen gibt Ziegler eine treffende Deutung des Darwinismus, wenn er sagt: „im zwecklosen Zusammenspiel der Kräfte sind sie [die organischen Formen; P.A.] entstanden und haben sich mit Nothwendigkeit im Kampf ums Dasein erhalten.“260 Präzisierend könnte man allenfalls hinzufügen, daß ______________________
255 Huber (1872): Der alte und der neue Glaube, S. 5136. 256 Vgl. Huber (1872): Der alte und der neue Glaube, S. 5136. 257 Theobald Ziegler: Kritik gegen Kritik. In: Allgemeine Zeitung vom 29.12.1872, Nr. 364 (B), S. 5571–5572; 30.12.1872, Nr. 365, S. 5579–5581; 31.12.1872, Nr. 366 (B), S. 5597–5599. 258 Ziegler (1872): Kritik gegen Kritik, S. 5580. 259 Ziegler (1872): Kritik gegen Kritik, S. 5580. 260 Ziegler (1872): Kritik gegen Kritik, S. 5580. Ernst Mayr betont ebenfalls die beiden Momente der Evolutionstheorie. Die zufällige Mutation (Ziegler: das „zwecklose[n] Zusammenspiel der Kräfte“) findet auf mikroskopischer Ebene statt, die Selektion (Ziegler: „Kampf ums Dasein“) greift dann mit statistischer Notwendigkeit auf der makroskopischen Ebene der Organismen. Vgl. Ernst Mayr: The Concept of Finality in Darwin and after Darwin. In: Scientia 118 (1983), S. 97–117. Bes. S. 105ff. Mayr wendet sich dabei gegen Jacques Monod, der freilich auch diese beiden Komponenten der Evolutionstheorie kenne, aber durch seinen
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die Notwendigkeit des Überlebens keine logische Notwendigkeit ist, die für jeden Einzelfall gilt, sondern lediglich eine statistische. Die Entstehung der Organismen ist allerdings durch die Mutation zufällig, also ein „zwecklose[s] Zusammenspiel der Kräfte“. Die charakteristische Mischung aus Zufälligkeit und Notwendigkeit, die den Darwinismus auszeichnet, hat Ziegler treffend erfaßt. Allerdings äußert er sich nicht zu der Frage, ob dann die organische Welt im Sinn einer sich vervollkommnenden Höherentwicklung gedeutet werden kann. Der ‚Motor‘ der Vervollkommnung wäre dann nicht mehr die Hegelsche Negation, sondern eben der darwinistische Kampf ums Dasein. Hierzu scheint Ziegler zu tendieren, da er Darwinismus und Hegels Entwicklungsgedanken für kompatibel hält. Für diese Deutung könnte er sich schließlich auch auf einige Stellen in Straußens Buch berufen. So müßte man nach Ziegler in Hegels Theorie eigentlich nur das antreibende Moment ersetzen (Selektion statt Negation), um den Philosophen naturwissenschaftlich zu aktualisieren. Dabei wird die Entfaltung der Natur, anders als ursprünglich von Hegel intendiert, als reale Entwicklung in der Zeit verstanden; sie erscheint „als nothwendige und gesetzmäßige“. Das Ergebnis ist eine quasi-hegelianische Vorstellung von notwendiger Entwicklung („Weiterschreiten[s]“) auf der Grundlage von zufällig entstandenen Organismen. Strauß dagegen betont die Kontingenz der Entwicklung stärker. Nur „äußere“ mechanische Notwendigkeit ersetzt ihm keine „innere“. Die weitere Diskussion der ‚Affen-Abstammung‘ des Menschen soll hier im einzelnen nicht weiter interessieren.261 Indessen ist wichtig festzuhalten, daß Straußens Darwin-Rezeption eine prominente Stellung eingeräumt wird und daß sich hier die Kontroverse, neben dem tierischen Ursprung des Menschen, vor allem um die Teleologie-Frage dreht. Genauer geht Ziegler noch auf Hubers Einwand ein, die Entstehung des Menschen könne durch natürliche Zuchtwahl nicht erklärt werden, weil der Mensch weniger „Waffen“ im Kampf ums Dasein habe als die anderen Primaten. Huber hatte beispielsweise auf die fehlende Behaarung des Menschen hingewiesen, die ihn für Kälte empfindlicher mache, oder auch auf das vergleichsweise schwache Gebiß.262 Die Natur müsse also mit dem Menschen einen Sprung gemacht haben. Ziegler widerlegt Huber aus der Perspektive eines Monisten, wie er selbst schreibt. Zur organischen Ausstattung des Menschen gehöre schließlich auch sein Gehirn. ______________________
Reduktionismus nur den Zufall der Mutation für die Evolution in Rechnung stelle. Vgl. hierzu Jacques Monod: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. Aus dem Französischen von Friedrich Griese. München 1996 (ED 1970). Bes. S. 110–123. 261 Es geht hierbei um die Frage, ob sich die Sprache des Menschen aus den tierischen Lauten herleiten läßt. Vgl. Ziegler (1872): Kritik gegen Kritik, S. 5580. 262 Vgl. Huber (1872): Der alte und der neue Glaube, S. 5121.
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Dieses habe sich auch im Kampf ums Dasein entwickelt. Mit der Vernunft habe der Mensch eine leistungsfähige Waffe im Überlebenskampf: […] der Mensch, in manchen Beziehungen schlechter organisirt als z.B. der Affe, hat dafür – physisch – ein um so besser organisirtes Gehirn, so daß er im ganzen genommen, eben physisch betrachtet, besser organisirt erscheint als jedes andere Thier, stärker, lebensfähiger dasteht im Kampf ums Dasein. Deßhalb ist es auch unbegreiflich wie man sagen kann: Strauß wisse mit der Vernunft nichts anzufangen; diese, eine Folge der Gestaltung seines Gehirns, ist’s ja eben welche den Menschen so besonders begünstigt im Kampf ums Dasein.263
Beinahe zeitgleich oder doch nur wenig später finden wir ganz ähnliche Gedanken bei Friedrich Nietzsche, beispielsweise in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873). Auch für ihn ist der Intellekt ein „Mittel zur Erhaltung des Individuums“, freilich eines, das den schwächeren Individuen, die in einem Kampf mit Klauen oder anderen natürlichen Waffen unterliegen würden, List und Verstellung und damit den Sieg ermöglicht.264 Die Diskussion um Teleologie in der Evolution wird durch eine Buchbesprechung einen entscheidenden Schritt voran gebracht, denn am 1. Januar 1873 erscheint in der Allgemeinen Zeitung eine auch aus heutiger Sicht noch mustergültige Klärung des Problems der Zweckmäßigkeit. 4.4.2 Zweckmäßigkeit als Resultat oder als Prinzip (v. Hartmann)? Der fragliche Artikel ist eine Rezension des im Herbst 1872 anonym erschienenen Buches Das Unbewußte vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie.265 Diese Schrift wiederum, eine fundamentale Kritik an Hartmanns Philosophie des Unbewußten, sei „unstreitig das bedeutendste und gründlichste“266, was zum philosophischen Verständnis des Darwinismus veröffentlicht worden sei. Als Autor des Buches gab sich in der zweiten Auflage 1877 überraschend Eduard von Hartmann zu erkennen. Hartmann habe die „Maske des Naturforschers“ angenommen, um zu zeigen, ______________________
263 Ziegler (1872): Kritik gegen Kritik, S. 5598. 264 Vgl. Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin, New York 1968ff. Hier 3. Abteilung, 2. Bd. , S. 370. Vgl. hierzu Eibl (2000): Darwin, Haeckel, Nietzsche, S. 102–104. 265 Georg Seidlitz: (Rez.:) Das Unbewußte vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie. In: Allgemeine Zeitung vom 1.1.1873, Nr. 1 (B), S. 10–11. Das Manuskript wurde schon am 23.12.1873, also noch vor der Antikritik Zieglers, abgeschlossen. Das rezensierte Buch: Anonym (Eduard von Hartmann): Das Unbewußte vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie. Eine kritische Beleuchtung des naturphilosophischen Theils der Philosophie des Unbewußten aus naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten. Berlin 1872. Vgl. besonders die Kapitel II und III. 266 Seidlitz (1873): (Rez.:) Das Unbewußte, S. 10.
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daß er die Argumentation der Naturwissenschaftler vollkommen beherrsche und folglich von ihnen nichts mehr zu lernen habe, wohl aber umgekehrt.267 Die Kritik gibt also nicht Hartmanns Standpunkt wieder; vielmehr will er die Schriften als „z e i t g e m ä ß u m g ew a n d e l t e F o r m d e s P l a t o n is c h e n D i al o g s “268 sehen. Damit wird sein anonym erschienenes Buch zur Selbstprüfung, also zum starken, selbst wieder zu hinterfragenden Einwand gegen die eigene Philosophie. Die Rezension wurde von Georg Seidlitz (1840–1917), einem Privatdozenten der Zoologie an der Kaiserlichen Universität Dorpat, verfaßt.269 Sie handelt fast ausschließlich vom richtigen Verständnis der Teleologie und zitiert eine lange Passage aus dem rezensierten Buch. Die Philosophie des Unbewußten zerfalle in zwei Teile, von denen der eine (Abschnitt A) vor Kenntnis der Darwinschen Theorie geschrieben sein müsse. In diesem Teil gebe es ein „beständiges teleologisches Eingreifen des metaphysischen Unbewußten“270, im anderen Teil (Abschnitt C) werde die Darwinsche Theorie vollständig akzeptiert.271 Nun referiert Seidlitz zustimmend, daß die Darwinsche Theorie das teleologische Prinzip „ganz direct“272 beseitige. Weiter zitiert er den Anonymus: „Denn die natürliche Auslese im Kampf ums Dasein, das Zugrundegehen des minder Zweckmäßigen und das Überleben und sich weiter Vererben des Passendsten und Zweckmäßigsten ist ein Vorgang von mechanischer Causalität, in dessen gleichmäßige Gesetzlichkeit nirgends ein teleologisch bestimmendes metaphysisches Princip eingreift, und doch geht aus ihm ein Resultat hervor das wesentlich der Zweckmäßigkeit entspricht, d.h. diejenige Beschaffenheit besitzt welche den Organismen unter den gegebenen Umständen die höchste Lebensfähigkeit verleiht. Die natürliche Zuchtwahl löst das scheinbar unlösliche Problem die Zweckmäßigkeit als Resultat zu erklären, ohne sie dabei als Princip zu Hülfe zu nehmen.“273
Dagegen habe man sich vor Darwin entscheiden müssen, ob man die Zweckmäßigkeit in der Natur weitgehend leugne, was aller Empirie zuwiderlaufe. Für diese Alternative hätten sich gerade die Materialisten ______________________
267 Vgl. Hartmanns Vorwort zur zweiten Auflage: Eduard von Hartmann: Das Unbewußte vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie. Eine kritische Beleuchtung des naturphilosophischen Theils der Philosophie des Unbewußten aus naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten. Berlin 21877, S. 7. 268 Hartmann (1877): Das Unbewußte, S. 11. 269 Seidlitz hatte kurz zuvor seine Elf Vorlesungen über die Entstehung der Thiere und Pflanzen durch Naturzüchtung veröffentlicht. Vgl. Georg Seidlitz: Die Darwin’sche Theorie. Elf Vorlesungen über die Entstehung der Thiere und Pflanzen durch Naturzüchtung. Dorpat 1871. 270 Seidlitz (1873): (Rez.:) Das Unbewußte, S. 10. 271 In der zweiten Auflage sei dieser Widerspruch noch deutlicher, indem hier auch im Abschnitt A auf den Darwinismus verwiesen werde. 272 Seidlitz (1873): (Rez.:) Das Unbewußte, S. 11. 273 Seidlitz (1873): (Rez.:) Das Unbewußte, S. 11. Vgl. auch die erste Auflage: Anonym (1872): Das Unbewußte vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie, S. 28f.
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entschieden, da eine Anerkennung der natürlichen Zweckmäßigkeit sofort zum Metaphysikverdacht geführt hätte. Inzwischen habe der naturwissenschaftliche Materialismus der 40er und 50er Jahre einen „totalen Umschwung“274 erfahren, weil nun gerade in der Anerkennung der Zweckmäßigkeit und ihrer mechanischen Erklärung die Spitze gegen Theologie und Metaphysik liege.275 In einer Fußnote weist Seidlitz noch einmal darauf hin, daß es zwei Arten der Zweckmäßigkeit gebe. Man müsse zwischen der „naturhistorischen ‚Zweckmäßigkeit‘ (als Resultat) und der teleologischen ‚Zweckmäßigkeit‘ (als Princip)“276 unterscheiden lernen. Geleistet sei also die endgültige „Widerlegung der Teleologie“, die mit Hartmanns Werk „zum letztenmal ihre Kräfte zusammenraffte um zu zeigen was sie leisten könne – und was nicht“.277 In einer weiteren Anmerkung bezieht sich Seidlitz auf Hubers Rezension von Straußens Buch. Er wirft ihm vor, das Buch des Anonymus nicht gelesen zu haben und an einer veralteten Vorstellung von Entwicklung und deren Verbindung mit Zweckmäßigkeit festzuhalten.278 Daß sich Hartmann hinter dem Anonymus verbirgt, ist vor allem deshalb überraschend, weil er die wichtige Unterscheidung der verschiedenen Arten der Zweckmäßigkeit mit einer seltenen Deutlichkeit trifft und sich gegen die überflüssig gewordene Realteleologie wendet. Gleichwohl hält er aber wenige Jahre später die Erklärung der natürlichen Zweckmäßigkeit aus mechanischen Prinzipien für unmöglich, plädiert entschieden für eine quasi-idealistische Vereinbarkeit von Teleologie und Mechanismus und verteidigt sein Buch Die Philosophie des Unbewußten. Die Kritik des anonym erschienenen Buches hält er dagegen für haltlos; sie basiere auf einer „principiell unrichtigen Ansicht“ über die Selektionstheorie.279 Somit ist seine anonyme Selbstkritik ein mechanistisches Intermezzo zwischen zwei realteleologischen Positionen.280 Nicolai Hartmanns Beobachtung, daß ______________________
274 Seidlitz (1873): (Rez.:) Das Unbewußte, S. 11. 275 Vgl. hierzu Anonym (1872): Das Unbewußte vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie, S. 29f. 276 Seidlitz (1873): (Rez.:) Das Unbewußte, S. 11. 277 Seidlitz (1873): (Rez.:) Das Unbewußte, S. 11. Seidlitz schreibt weiter, daß der Anonymus auch Vernunft, Raumvorstellung und andere „Denkformen“ auf der Grundlage der Selektionstheorie herleite (ebd. S. 11). 278 Vgl. Allgemeine Zeitung vom 1.1.1873, Nr. 1 (B), S. 10. 279 Vgl. Eduard von Hartmann: Wahrheit und Irrthum im Darwinismus. Eine kritische Darstellung der organischen Entwicklungstheorie. Berlin 1875, S. 148–177. Hier S. 163. 280 Zu von Hartmanns „synthetische[m] Monismus“ vgl. Walter Gebhard: „Der Zusammenhang der Dinge“. Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1984, S. 262–298. Zur Zuschreibungsfrage bes. S. 264 (Fußnote 4). Später habe von Hartmann seine dem Neo-Vitalismus nahestehende Philosophie als die Alternative zum Darwinismus bezeichnet [vgl. Fick (1993): Sinnenwelt und Weltseele, S. 83].
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Teleologie als Strukturmuster für Wirklichkeit selbst dann bestehen bleibe, wenn ihr Schein durchschaut ist, bestätigt sich so auf eindrucksvolle Weise. Huber freilich konnte die von Ziegler und Seidlitz vorgebrachten Einwände nicht auf sich beruhen lassen. In seiner Replik unterscheidet er zwischen Entwicklung und Veränderung: Ziegler imputirt281 mir: die von Darwin behauptete Entwicklung als nothwendige bestritten zu haben; ich habe aber nur gesagt daß Darwins Lehre keine Entwicklungslehre ist, indem die Entwicklung eine gesetzmäßig fortschreitende Höherbildung der Organisation involvirt. Nun aber erklärt Darwin ausdrücklich selbst daß er an kein Gesetz nothwendiger Vervollkommnung glaube. Daß aber bloße Veränderung sich noch nicht mit dem Begriff der Entwicklung decke, sollte wenigstens ein Mann einsehen welcher von sich selbst behauptet Hegelianer zu sein.282
Das Problem, ob die Evolution im Darwinschen Sinn notwendig verläuft, wird also offen gelassen, allerdings wird die von Ziegler verwischte Differenz zwischen Hegel und Darwin über das Begriffspaar „Vervollkommnung“ / „Veränderung“ wiederhergestellt. Der scharf zurechtgewiesene Ziegler erwiderte den Angriff in der Allgemeinen Zeitung zwar nicht mehr, schrieb aber später eine Streitschrift gegen Huber.283 Auf Hartmanns neuartige Differenzierung der beiden Arten von Zweckmäßigkeit, die Seidlitz vorstellte, weiß Huber wenig zu erwidern.284 Er hält an seiner Vorstellung fest, daß sich die Natur „entwickelt“ und dies nur erklärbar ist, wenn man die Zwecksetzung eines Geistes annehme. 4.4.3 Ablehnung des philosophischen Entwicklungsbegriffs (Semper) Mitte Januar 1873 schaltet sich ein ausgewiesener Naturforscher in die Debatte ein.285 Der Zoologe Karl Semper (1832–1893), ein Vertreter des Darwinismus, ist seit 1868 Professor für Anatomie und Zoologie in Würzburg.286 In Sempers Stellungnahmen wird der fortgeschrittene Ausdifferenzierungsprozeß von Naturwissenschaft und Philosophie ______________________
281 „imputiert mir“ bedeutet: „beschuldigt mich“. 282 Johannes Huber: In Sachen des Strauß’schen Buches. In: Allgemeine Zeitung vom 9.1.1873, Nr. 9 (B), S. 133–134. Hier S. 133. Der Artikel wurde bereits am 4.1.1873 geschrieben. 283 Vgl. Theobald Ziegler: In Sachen des Strauß’schen Buches (Der alte und der neue Glaube). Eine Streitschrift gegen Herrn Professor Dr. Huber in München. Schaffhausen 1874. 284 Vgl. Huber (1873): In Sachen des Strauß’schen Buches, S. 134. 285 Vgl. Karl Semper: Kurze naturwissenschaftliche Bemerkungen zu Herrn Hubers Kritik von Strauß’ neuestem Buche. In: Allgemeine Zeitung vom 16.1.1873, Nr. 16 (B), S. 238–239. 286 Zu Semper vgl. ADB, Bd. 54, S. 315–316.
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schlaglichtartig deutlich.287 Da sich der Philosoph Huber auf das Gebiet der Naturwissenschaften gewagt habe, fühle Semper sich nun berechtigt, dasjenige der Philosophie zu betreten. Er gibt Huber mit seiner Unterscheidung von Entwicklung und Veränderung grundsätzlich recht: Den Begriff „Entwicklung“ nämlich im Sinne der Philosophen existirt eben für uns Naturforscher nicht. Was wir Zoologen „Entwicklung“ nennen, ist in der That nichts anderes als die gesetzmäßige Veränderung des allmählich wachsenden und nach der Geschlechtsreife dem Tode zueilenden Organismus. Dabei aber ist es vollständig gleichgültig ob diese gesetzmäßige Veränderung hier von Geschlechtsreife in aufsteigender Linie zu immer größerer Vervollkommnung führe, oder ob nicht das Ende des Wachsthums durch eine Organisationstufe bezeichnet sei welche weit unter derjenigen steht wie sie vorher dem jungen Thier oder der Larve zukomme. Dergleichen Fälle rückschreitender Entwicklung (Veränderung) sind dem Zoologen wohlbekannt. […] Ebenso weist – um gleich zu einem allgemeinsten Beispiel überzugehen – die Thierwelt unserer jetzigen Periode nicht durchweg die am vollkommensten ausgebildeten Thierformen in allen Kreisen (Typen), wie es doch nach dem Gesetz einer immer fortschreitenden Höherbildung der Organisation zu erwarten wäre, sondern auch gar manche welche entschieden tief unter denen älterer Erdperioden stehen.288
Semper kann sich auf die empirischen Erfahrungen eines Zoologen stützen, um eine Vervollkommnung in der Natur zu widerlegen.289 Huber wirft er vor, daß dieser verlange, die Naturwissenschaften sollten sich seinen philosophischen Entwicklungsbegriff zur Grundlage machen. Wenn dies geschehe, verfolge man aber „keine naturwissenschaftliche Methode mehr.“290 Über diese Klarstellung hinaus hat Semper aber auch ein genaueres Verständnis des ‚Kampfes ums Dasein‘ als die meisten naturwissenschaftlich nicht gebildeten Zeitgenossen. Den ______________________
287 In einem weiteren Artikel [Karl Semper: Ein letztes Wort. In: Allgemeine Zeitung vom 5.2.1873, Nr. 36 (B), S. 538–539] tritt Semper für eine strikte Trennung von Naturwissenschaften und Philosophie ein. Huber habe mit seinen letztlich metaphysischen Spekulationen keine Grundlage für eine Kritik des Darwinismus. Umgekehrt wolle er sich nicht zu bloßen Vermutungen hinreißen lassen, sei aber zuversichtlich, daß die ausstehenden Probleme wie die Entstehung des Lebens naturwissenschaftlich erforscht werden könnten. Haeckels Zusammenführung von Naturwissenschaft und Philosophie bezeichnet er als dessen persönlichen Glauben, der „unter keinen Umständen ein Dogma für die Wissenschaft werden sollte.“ (ebd. S. 539) 288 Semper (1873): Kurze naturwissenschaftliche Bemerkungen, S. 238. 289 Johannes Huber hält in einem späteren Artikel über die Deszendenzlehre an seinem Begriff von „Entwicklung im Sinne der Vervollkommnung“ des ganzen Kosmos einschließlich der organischen und kulturgeschichtlichen Entwicklung des Menschen fest. Sempers Einwände einer teilweisen Rückbildung seien gegen diese Tatsache kleinlich. Vgl. Johannes Huber: Zur Orientierung über die Descendenzlehre. In: Allgemeine Zeitung vom 20. 2. 1873, Nr. 51 (B), S. 765–766; 21. 2.1873, Nr. 52 (B), S. 782–784. Hier S. 765f. Geschrieben am 10.2.1872. 290 Semper (1873): Kurze naturwissenschaftliche Bemerkungen, S. 238.
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Darwin’schen Kampf ums Dasein denkt sich die Menge gewiß, vielleicht auch Hr. Huber, ungefähr wie einen Kampf im Styl des Jahres 1870, während es sich doch nur in den allerseltensten Fällen um einen solchen handelt, wohl aber meistens um die richtigste oder rein mechanische (instinctive) Benutzung der kleinen Vortheile wie sie die unendlich mannichfaltigen Lebensbeziehungen der Thiere und der Pflanzen darbieten.291
Damit erkennt Semper, daß es sich beim ‚Kampf ums Dasein‘ lediglich um eine Metapher handelt. Nur in den seltensten Fällen komme es zu einem wirklichen Kampf.292 4.4.4 Die Alternative „Teleologie oder Zufall“ (v. Baer) Mit dem wichtigen Beitrag des Entwicklungsbiologen Karl Ernst von Baer (1792–1876) soll hier die Diskussion in der Allgemeinen Zeitung abgeschlossen werden.293 Obwohl seine bedeutendsten Beobachtungen und Schriften beinahe ein halbes Jahrhundert zurückliegen, zeigt sich von Baer gut informiert über den Darwinismus und seine im weitesten Sinn philosophischen Probleme. Offenbar kennt er auch die Rezension von Seidlitz über Hartmanns Abhandlung Das Unbewußte vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie. Der Artikel, der das Buch von Strauß mit keinem Wort erwähnt, ist zum „Schutz“ der Teleologie geschrieben, die derzeit von den meisten Naturforschern geleugnet werde. Der Gedanke der Zweckmäßigkeit als Resultat mechanischer Prozesse, die von Baer als zufällige versteht, überzeugt ihn nicht. Aus Zufälligem könne nie Zweckmäßiges entstehen, wie das Beispiel von zufällig aneinandergereihten Wörtern zeige.294 Als ______________________
291 Semper (1873): Kurze naturwissenschaftliche Bemerkungen, S. 239. 292 Erwähnenswert ist ferner ein Artikel von Moritz Wagner, weil er einen Forschungsüberblick über die Literatur zum Darwinismus gibt, aus der die Akzeptanz der Selektionstheorie unter damaligen Forschern deutlich wird: Moritz Wagner: Neueste Beiträge zu den Streitfragen der Entwicklungslehre. In: Allgemeine Zeitung vom 2.4.1873, Nr. 92 (B), S. 1389–1391; 3.4.1873, Nr. 93 (B), S. 1406–1408; 4.4.1873, Nr. 94 (B), S. 1427–1428. Der Artikel unterrichtet über die neueste französische, englische und deutsche Literatur zum Darwinismus. Nach dem Überblick über die Forschungslage kommt Wagner zu dem Ergebnis, daß die Deszendenztheorie bedeutend an Anhängerschaft gewonnen habe, während sich die Bedenken gegen die Selektionstheorie eher verstärkt hätten: „Dieselbe wird nach der festen Überzeugung des Referenten in der von ihrem Begründer gegebenen Form sich gewiß nicht erhalten.“ (ebd. S. 1428) Philosophen würden versuchen, die Lamarck-Darwinsche Deszendenztheorie mit teleologischen Auffassungen in Einklang zu bringen und diese der Zweckmäßigkeitsidee anzupassen, was zu begrüßen sei. Offensichtlich hat sich die neue Unterscheidung von Zweckmäßigkeit als Resultat bzw. als Prinzip noch nicht durchgesetzt, stößt auf Verständnisprobleme oder wird abgelehnt. 293 Vgl. Karl Ernst von Baer: Zum Streit über den Darwinismus. In: Allgemeine Zeitung vom 10.5.1873, Nr. 130 (B), S. 1986–1988. Zu von Baer vgl. NDB, Bd. 1, S. 524. 294 Vgl. von Baer (1873): Zum Streit über den Darwinismus, S. 1987.
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Zufall definiert von Baer das „Zusammentreffen zweier oder mehrerer Vorgänge deren wirkende Ursachen verschiedene sind.“295 Anschließend eröffnet von Baer die Alternative ‚Teleologie oder Zufall‘: Wenn nun […] die höheren Thierformen aus den niedern geworden sind, so sind die bedingenden Gründe für die Umformungen entweder mit diesen Lebensformen selbst in causalem Zusammenhange […] oder aber sie sind es nicht. Im letzteren Falle sind die späteren Entwicklungen zufällige, und da dieser Fall für das ganze in Rede stehende System gilt, so basirt es die Entwicklung der organischen Welt auf Zufälle in allgemeinen Änderungen, oder schlechtweg – auf d e n Zufall. […] Stehen aber die höheren Formen der Thierwelt in causalem Zusammenhange mit den niederen, sind sie also Entwicklungen derselben, was hat man dann für ein Recht die Zwecke und Ziele in der Natur zu läugnen?296
Für von Baer ist es demnach fraglich, ob die Ursachen der Variabilität mit den Organismen in einem notwendigen Zusammenhang stehen, indem sie beispielsweise in ihnen angelegt sind, oder ob diese Ursachen ganz getrennt von den Organismen sind. Im letzteren Fall sind die Umformungen für die Organismen zufällig. Obwohl damals, so können wir ergänzen, die Ursache der Variabilität unbekannt war, hängt sie jedoch gemäß Darwins Theorie nicht mit einer inneren Leistung der Organismen zusammen.297 Zwischen Tieren, die einen gemeinsamen Stammbaum haben, steht also das zielblinde, weil auf unterschiedlichen Ursachen beruhende Wechselspiel von Variation und Selektion. So verstanden, stehen sie in keinem „causalem Zusammenhange“. Den Erfolg des Darwinismus erklärt von Baer gerade durch seine Stoßrichtung gegen die Teleologie: Der Darwinismus freilich hat offenbar seine Triumphe gerade durch die Verneinung der Zwecke in der Natur und durch die Behauptung errungen: daß ziellose Naturkräfte eine Menge Lebensformen ins Dasein gerufen haben, von denen die natürliche Zuchtwahl die weniger passenden vernichtet habe, wodurch jetzt der Schein der Zweckmäßigkeit entstanden sei. Wir sehen ja daß selbst die Philosophie sich diesem Ergebnisse beugt.298
Obwohl von Baer die darwinistische Erklärung der Zweckmäßigkeit nicht übernimmt, grenzt er sich doch deutlich von der Physikotheologie des 18. Jahrhunderts ab und möchte die teleologischen Prozesse in der Natur auf kausale Kräfte und Stoffe zurückführen, die jedoch von einer geistigen Einheit koordiniert werden mußten, um sich zweckmäßig zu entwickeln: ______________________
295 von Baer (1873): Zum Streit über den Darwinismus, S. 1987. 296 von Baer (1873): Zum Streit über den Darwinismus, S. 1987. 297 Allerdings ist hier der Lamarckismus, den auch Darwin stellenweise vertrat, die Ausnahme. In der Deutung Haeckels hängt die Variabilität von äußeren Ursachen wie Ernährung oder Klima ab, auf keinen Fall aber von einer inneren Umbildungskraft. 298 von Baer (1873): Zum Streit über den Darwinismus, S. 1987.
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Auch ich bin überzeugt daß alles was in der Natur ist, und vorgeht, durch Naturkräfte und Stoffe geworden ist und wird. Aber diese Naturkräfte müssen gegen einander abgezielt oder abgewogen sein. Kräfte die nicht abgezielt sind, blinde Kräfte, wie man sich auszudrücken pflegt, können, wie mir scheint, nie etwas geordnetes erzeugen.299
Den „Teleophoben“ wirft von Baer vor, „das große Publicum, das vor allen Dingen nach den Zielen fragt, nur stutzig und irre“300 zu machen. Schließlich stünde auch der Naturforscher immer wieder vor Naturprozessen, die zielgerichtet seien. Hier nennt von Baer die Vererbung als „Bestimmung eines Zukünftigen“301, das Ei der Henne oder auch einen Stein, der zu Boden falle. Für diese Fälle schlägt von Baer nun vor, auf die Wörter ‚Zweck‘ und ‚zweckmäßig‘ zu verzichten, „weil zum ‚Zweck‘ ein wollendes Bewußtsein gehört.“302 Die geistige Antizipation eines Zweckes spricht von Baer aber nur dem Menschen zu. Statt dessen solle man das Wort „Ziel“ oder „Zielstrebigkeit“ verwenden, weil es kein bewußtes Wollen impliziere.303 Hier nimmt von Baer praktisch den modernen Begriff der Teleonomie vorweg, den Colin Pittendrigh Mitte des 20. Jahrhunderts einführte. Auch von Baer will ja zielstrebige Prozesse zunächst ohne die Annahme eines Bewußtseins erklären. Doch letztlich nimmt er, wie schon angedeutet, zu einer geistigen Einheit Zuflucht: Die welche diese ursprüngliche geistige Einheit nicht anerkennen wollen, müssen annehmen daß die Welt aus einer unendlichen Zahl von Zufällen geworden sei. Zu dieser Überzeugung mich zu bekennen ist mir unmöglich.304
Von Baers Beitrag beruht also auf einem genauen Verständnis der verschiedenen Arten von Zweckmäßigkeit und betont besonders, daß die Zweckmäßigkeit ex post den Zufall zur Grundlage hat, während eine intrinsische Teleologie, auch wenn sie durch mechanisches Wirken vermittelt ist, zur Notwendigkeit führt. So stehen sich also die Alternativen zufällige Zweckmäßigkeit ex post und notwendige Zweckmäßigkeit
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299 von Baer (1873): Zum Streit über den Darwinismus, S. 1987. Weniger vorsichtig hatte sich von Baer noch 1860 geäußert, als er die Instinkte der Tiere „[…] nicht aus Wirkungen der Stoffe erklären […]“, sondern sie als etwas „Unmittelbares“, von der Schöpfung Gegebenes, betrachten wollte [Karl Ernst von Baer: Welche Auffassung der lebendigen Natur ist die richtige? und Wie ist diese Auffassung auf die Entomologie anzuwenden? Zur Eröffnung der Russischen entomologischen Gesellschaft im Mai 1860. Berlin 1862, S. 48f.]. 300 von Baer (1873): Zum Streit über den Darwinismus, S. 1988. 301 von Baer (1873): Zum Streit über den Darwinismus, S. 1988. 302 von Baer (1873): Zum Streit über den Darwinismus, S. 1988. 303 Vgl. von Baer (1873): Zum Streit über den Darwinismus, S. 1988. 304 von Baer (1873): Zum Streit über den Darwinismus, S. 1988.
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als Prinzip (eines Gottes) gegenüber.305 Stets sollte man bei von Baers Argumentation berücksichtigen, daß die Selbstverstärkung der zufälligen fortpflanzungsrelevanten Merkmale durch Rückkopplung ein für das 19. Jahrhundert sehr ungewöhnlicher Gedanke war, der in aller Klarheit erst im 20. Jahrhundert im Rahmen der Kybernetik formuliert wurde. Von Baer hatte sich lange vor dem Artikel in der Allgemeinen Zeitung mit dem Problem der Teleologie beschäftigt. Bereits 1866 hatte er Gedanken über Teleologie niedergeschrieben, die jedoch erst 1876, also nach dem Beitrag für die Allgemeine Zeitung, veröffentlich wurden.306 Schon hier findet sich der terminologische Vorschlag „Zielstrebigkeit“. Von Baer wurde zu dieser frühen Schrift gegen die „Teleophobie“ nach eigenen Angaben durch zwei Bücher angeregt, die Teleologie aus der Naturerklärung verbannen wollten: Das eine war die Geschichte des Materialismus von Friedrich Albert Lange, das andere die Allgemeine Morphologie der Organismen von Ernst Haeckel. Demnach zeigt sich hier erneut, daß der Darwinismus und besonders Langes Geschichte des Materialismus ein entscheidender Markstein der Teleologie-Debatte ist und zur Formulierung des Problems erheblich beigetragen hat.307 ______________________
305 Timothy Lenoir charakterisiert von Baers Position als „teleomechanistisch“. Für von Baers weitere Beschäftigung mit Darwins Theorien in Über Darwins Lehre vgl. Timothy Lenoir: The strategy of Life. Teleology and Mechanics in Nineteenth Century German Biology. Dordrecht, Boston, London 1982, S. 246–275; zum Thema „Zufall und Notwendigkeit“ vgl. besonders S. 270–275. 306 Karl Ernst von Baer: Über den Zweck in den Vorgängen der Natur. Über Zweckmäßigkeit oder Zielstrebigkeit überhaupt. In: Karl Ernst von Baer: Entwicklung und Zielstrebigkeit in der Natur. Schriften. Hg. von Karl Boegner. Stuttgart 1983, S. 97–147 (entstanden 1866, ED 1876). 307 von Baer wendet sich in dieser Schrift gegen Haeckel: Dieser verwerfe nämlich die Begriffe Zufall, Zweck und darüber hinaus den freien Willen und wolle nur die „absolute Notwendigkeit“ gelten lassen. Von Baer entgegnet hierauf zweierlei: Erstens könne ein Naturvorgang notwendig ablaufen und doch einen Zweck haben. Beides, Zweck und Notwendigkeit, schließe sich nicht aus [vgl. von Baer (1876): Zweck, S. 113f.]. Zweitens gebe es, richtig verstanden, auch den Zufall in der Natur. Schon hier definiert er den Zufall als das Zusammentreffen zweier Vorgänge, deren Ursachen verschieden sind. Daß aus diesem Zufall etwas Zweckmäßiges entstehen kann, wie es Langes Interpretation der Darwinschen Theorie vorsieht, verneint von Baer auch hier. Dies aber sei eben der „Kern unsrer Diskussion“ (ebd. S. 115). Dagegen entwickelt er ausführlicher als in der A.Z. seine offenbar an Schelling orientierten Vorstellungen einer „natura naturans“ und deren unerkennbaren göttlichen Urgrund, der ohne Bewußtsein für die Harmonie der Naturkräfte verantwortlich sei (vgl. ebd. S. 121 und 123ff.). Nur so sei Entwicklung denkbar. Gegen Ende des Vortrags überträgt von Baer seine Zielstrebigkeits-Vorstellungen von der Ontogenese einzelner Tiere (Schmetterling, Huhn) auch auf die Phylogenese einzelner Organe (z.B. soll das Ohr die Schwingungen der Luft empfinden) und auch auf anorganische Vorgänge (ebd. S. 134ff). Von der Alternative Teleologie oder Zufall geht schließlich von Baers später Vortrag Über Zielstrebigkeit in den organischen Körpern insbesondere aus [in: Karl Ernst von Baer: Entwicklung und Zielstrebigkeit in der Natur. Schriften. Hg. von Karl Boegner. Stuttgart 1983, S. 148–205. (ED 1876)]. Auch hier entscheidet sich von Baer gegen den Zufall und für eine Zielstrebigkeit der Natur, deren erste Ursache ein göttlicher Urgrund ist.
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4.5 Die weitere Diskussion über Zweckmäßigkeit Wie schon erwähnt, wurde die Diskussion in der A.Z. von mehreren Seiten aufmerksam verfolgt. Friedrich Hellwald stellte in seinem AuslandArtikel zum Straußschen Buch fest, daß viele Philosophen zwischen Darwin und den Theologen vermitteln wollten und deshalb an realteleologischen Elementen festhielten. Diesem Irrglauben habe Karl Semper einen Riegel vorgeschoben, indem er ihnen den Unterschied von Entwicklung als Fortschritt und biologischer Entwicklung als Veränderung ins Stammbuch geschrieben habe: Zu diesem Behufe sehen wir fast alle Philosophen das Banner der Zweckmäßigkeitslehre (Teleologie) schwingen, welche gerade durch Darwins Forschungen den Todesstoß erlitten hat. Mit der Zweckmäßigkeitslehre aufs innigste verknüpft ist jene vom Fortschritt, denn es ließe sich auch nicht absehen, wozu eine Zweckmäßigkeit wenn kein Fortschritt. Diesen letzteren nun hat man selbst aus Darwins sonst so wenig beliebter Theorie herauslesen und dergestalt die Widerspenstigen mit ihren eigenen Waffen schlagen zu können vermeint. Dem uns befreundeten Würzburger Naturforscher [Karl Semper; P.A.] sind wir nun dafür zu besonderem Danke verpflichtet, daß er, was in Fachkreisen freilich eine längst schon anerkannte Wahrheit, auch als solche in der für die weitesten gebildeten Kreise bestimmten „Allgemeinen Zeitung“ ausgesprochen hat, daß nämlich die Gesetze der Veränderung unter den organischen Wesen, die Entwicklungsgesetze, keine solchen sind, welche die Naturforscher als u n b e d i n g t e i n e V e r v o l l k o m m n u n g in sich einschließend ansehen müßten. Mit anderen Worten, die Natur kennt ein G e s e t z – unter Gesetz in der Natur verstehen wir eine unbedingt ausnahmslose Regel – der Vervollkommnung, oder, was dasselbe ist, des Fortschrittes n i c h t . Entwicklung und Fortschritt sind n i c h t identisch. Diesen Punkt wollen wir festhalten.308
Allerdings hatte Das Ausland noch wenige Monate zuvor einen auch von Strauß zitierten Artikel von Moritz Wagner abgedruckt, nach dem es ein Fortschritts- und Vervollkommnungsgesetz in der Natur gebe.309 Ja, Hellwald selbst insistiert noch 1872 ganz wie Haeckel darauf, daß in der „fortschreitenden Differentiirung der Formen“ das Gesetz „eines unaufhaltsamen Fortschrittes in der Vollkommenheit der Organisation“310 walte. Gerade durch den Fortschritts-Gedanken rechtfertigte er den ‚Kampf ums Dasein‘ als Handlungsmaxime. Die Klärung Sempers war also wohl weniger eine „längst schon anerkannte Wahrheit“, als vielmehr eine wichtige und neue Unterscheidung. Der nun leitende Redakteur Hellwald hält diesen Unterschied für sich selbst fest, ja er ist wohl auch als ______________________
308 Friedrich Hellwald: Die Geschichtsphilosophie und die Naturwissenschaften. In: Das Ausland 46 (1873), Nr. 9, S. 168–173. Hier S. 169. 309 Vgl. S. 118 dieser Arbeit. 310 Friedrich Hellwald: Neue Consequenzen der Darwin’schen Lehre. In: Das Ausland 45 (1872), Nr. 48, S. 1131–1137. Hier S. 1132.
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Richtungsentscheidung für die anderen Redakteure des Blattes zu verstehen. Zwar nimmt Das Ausland auch später noch einen Artikel auf, der in Fragen der Realteleologie von der Auffassung der Redaktion abweicht. Doch dann wird in einer Fußnote auf die gegnerische Haltung der Redaktion hingewiesen. So im Fall eines Artikels des Privatgelehrten Adolf Mühry (1810–1888), der für die Realteleologie eintritt, die seit Lyell und Darwin „zum Gespött geworden“311 sei. Mühry argumentiert über die Proportionalität (quantitative und auch qualitative) der Theile eines Ganzen, […] welche immer den Beweis enthält, daß in dem Gegenstande auch logische Gesetze wirksam sind. In der That, wo sich Proportionalität vorfindet, da ist auch gedacht worden; dieß ist so sicher wie ein Beweis irgend sein kann.312
An der Existenz der Realteleologie hängt für Mühry wieder die Frage, ob Geist in der Natur ist: „Demnach enthält die Anerkennung der Teleologie auch zugleich die Anerkennung des Denkens oder des objectiven Geistes in der Natur, und hat diese sehr weittragende allgemeine Bedeutung.“313 Als „Beweise“ dienen Mühry auch Objekte der anorganischen Natur, wie die Erdvertiefung, in die der Ozean eingelassen ist und die man als „angemessene“314 bezeichnen könne. Während Mühry also entschiedener Realteleologe im Sinne der Rückführung der natürlichen Funktionalität, ja jeder Art von Verhältnismäßigkeit, auf die Ziele eines Geistes ist, so ist Otto Caspari315 (1841–1917) im selben Blatt 1876 vorsichtiger. Zunächst stellt er die Alternative Teleologie oder Zufall vor: An keiner Antinomie haben sich nun wohl Empiriker und Philosophen in neuerer Zeit hinsichtlich einer Lösung mehr abgearbeitet, wie an derjenigen, welche gleichsam wie ein schwarzes Gespenst im Hintergrunde aller philosophischen Betrachtung der empirischen Forschung auftaucht: nämlich an dem Grundwiderstreit zwischen Zufallslehre und Teleologie. Blinder Mechanismus oder Zwecklehre, diese Begriffe sind Schlagworte geworden […].316
Trotz dieser Alternative spielt aber die Konzeption einer mechanischen, also zufällig entstandenen Zweckmäßigkeit, keine Rolle. Auch für Caspari bleibt Zweckmäßigkeit mit einem planenden Geist verbunden. Entweder ______________________
311 Adolf Mühry: Die neuere Naturwissenschaft und die Teleologie. Ein Beitrag zur exacten Naturphilosophie. In: Das Ausland 48 (1875), Nr. 17, S. 325–329; Nr18, S. 352–356. 312 Mühry (1875): Die neuere Naturwissenschaft und die Teleologie, S. 327. 313 Mühry (1875): Die neuere Naturwissenschaft und die Teleologie, S. 327. 314 Mühry (1875): Die neuere Naturwissenschaft und die Teleologie, S. 329. 315 Zu Caspari vgl. die Kurzbiographie bei Daum (2002): Wissenschaftspopularisierung, S. 480. 316 Otto Caspari: Der Begriff der „Zielstrebigkeit“ unter dem Gesichtspunkte der Darwin’schen Lehre. In: Das Ausland 49 (1876), Nr. 27, S. 521–525; Nr. 28, S. 545–548; Nr. 29, S. 567–571. Hier S. 521f.
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sei die Zufallslehre versteckt teleologisch, oder sie könne durch die Empirie widerlegt werden. Also ist die Alternative für Caspari nur eine scheinbare; er ist auf der Suche nach einem Kompromiß zwischen beiden Wegen. Den Begriff der ‚Zielstrebigkeit‘ übernimmt er dabei von Karl Ernst von Baer. Im gleichen Jahr spricht auch der Strauß-Schüler Eduard Zeller über das Thema Teleologie.317 Ähnlich wie sein Lehrer zieht er im Einzelfall die mechanische Naturerklärung heran, möchte aber für das Ganze eine teleologische Erklärung fordern, womit er sich der Position von Leibniz annähert.318 Im übrigen stellt er deutlich heraus, daß triviale teleologische Naturerklärungen nur Projektionen des zielintendierten Verhaltens der Menschen auf die Natur seien.319 Hier wirkt wohl Feuerbachs Projektionsthese nach. Während Zeller und Mühry einer – wie auch immer gearteten – teleologischen Erklärung der Welt zugeneigt sind, ergreift Emil DuboisReymond320 (1818–1896) mit seiner Rede Darwin versus Galiani entschieden Partei für ein Naturerkennen, das alle erfaßbaren Erscheinungen auf Mechanik, also auf Bewegung von Atomen im Raum, zurückführt.321 Anders als viele seiner Zeitgenossen, hält Dubois-Reymond nicht die Abstammungslehre, sondern die natürliche Zuchtwahl für das Entscheidende in Darwins Theoriegebäude.322 Dubois-Reymond reflektiert den epistemologischen Status der natürlichen Zuchtwahl,323 trägt Einwände ______________________
317 Eduard Zeller: Über mechanische und teleologische Naturerklärung in ihrer Anwendung auf das Weltganze. In: Philologisch und historische Abhandlungen der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin aus dem Jahre 1876. Berlin 1877 (gelesen 1876), S. 19–39. 318 Vgl. Zeller (1876): Über mechanische und teleologische Naturerklärung, S. 31. 319 Vgl. Zeller (1876): Über mechanische und teleologische Naturerklärung, S. 19. 320 Zu Dubois-Reymond vgl. die Kurzbiographie bei Daum (2002): Wissenschaftspopularisierung, S. 484. 321 „Es giebt für uns kein anderes Erkennen, als das mechanische […].“ (Emil DuboisReymond: Darwin versus Galiani. Rede in der öffentlichen Sitzung der Königl. Preuss. Akademie der Wissenschaften zur Feier des Leibnitzischen Jahrestages am 6.Juli 1876. Berlin 1876, S. 26.) Durch den auf eine Anekdote zurückgehenden Titel Darwin versus Galiani und das Motto „Les dés de la nature sont pipés“ wird die Frage der natürlichen Zuchtwahl in den Horizont des Zufalls und seiner Generalmetapher, des Würfelwurfs, eingerückt. Darwin habe die Naturforscher gelehrt, „warum auch mit nicht gefälschten Würfeln Natur meist (nicht immer) ihren Pasch wirft.“ [Dubois-Reymond (1876): Darwin versus Galiani, S. 23.] 322 „Die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl dagegen lässt man bestenfalls für einen sinnreichen, geschickt vorgetragenen Gedanken gelten, dem in der Wirklichkeit keine Bedeutung zukomme. Diese Auffassung stellt meines Erachtens gerade den besten Theil der neuen Errungenschaft in Frage.“ [Dubois-Reymond (1876): Darwin versus Galiani, S. 11.] 323 Die natürliche Zuchtwahl sei weder eine empirische Regel noch ein mathematischphysikalisches Gesetz. „Aber als ein durch eine Kette bündiger Schlüsse aus allgemein gültigen Thatsachen gefolgerter, mithin doch auch in sich nothwendiger Satz hält sie [die
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gegen sie vor,324 und räumt ein, daß sie nicht alles erklären könne und daß man deshalb auch auf die sexuelle Zuchtwahl und andere Hilfsprinzipien angewiesen sei. Doch der Naturforscher müsse diesen Weg beschreiten.325 Dann habe der „anthropomorphische Name der ‚Zweckmässigkeit‘ für uns nichts Unheimliches mehr“.326 Gleichwohl räumt der Physiologe ein, es bleibe schwierig zu denken, „dass durch die Kräfte der Materie aus einem chaotischen Nebelballe die heutige Natur, mit Inbegriff des menschlichen Gehirns, wurde.“327 Diese dezidierte Stellungnahme des namhaften Physiologen für die natürliche Zuchtwahl konnte nicht unwidersprochen bleiben. Albert Wigands (1821–1886) Rede Die Alternative Teleologie oder Zufall ist größtenteils eine polemische Auseinandersetzung mit Dubois-Reymond. Dabei arbeitet Wigand, den Kelly zur „anti-Darwinian party“328 zählt, mit einem anderen Zufallsbegriff, da er ihm einen eigenen ontologischen Status einräumt und ihn so für unvereinbar mit der Kausalität und den Naturgesetzen hält.329 Seine Alternative Teleologie oder Zufall will er demnach so verstanden wissen: Entweder es herrschen notwendige Naturgesetze, wobei zugleich am Anfang eine „Praedisponierung“ als „Akt der f r e i e n Bestimmung“330 gedacht werden müsse, oder aber es gebe den Zufall als eigene Seinskategorie. Die natürliche Zuchtwahl, die für Dubois-Reymond natürliche Funktionalität ohne Annahme von mentalen Inhalten erklären könne, lehnt er ab. Dabei kommt er mit Dubois-Reymond darin überein, daß die natürliche Zuchtwahl als Prinzip der Evolution unter Biologen immer weniger Anhänger habe: eine Feststellung, die wir so auch bei ______________________
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natürliche Zuchtwahl; P.A.] die Mitte zwischen Regel und Gesetz, und steht diesem zunächst.“ [Dubois-Reymond (1876): Darwin versus Galiani, S. 21.] Vgl. Dubois-Reymond (1876): Darwin versus Galiani, S. 17–21. Vgl. Dubois-Reymond (1876): Darwin versus Galiani, S. 23. Dubois-Reymond (1876): Darwin versus Galiani, S. 23. Gleichzeitig wendet sich DuboisReymond gegen den Begriff der ‚Zielstrebigkeit‘, den von Baer einführte (ebd.). Auch hier spürt Dubois-Reymond – wohl nicht zu Unrecht – eine teleologische Komponente. Dubois-Reymond (1876): Darwin versus Galiani, S. 23. Ausdrücklich lehnt er aber alle Erklärungen ab, die Intelligenz als Voraussetzung für Zweckmäßigkeit heranziehen. Explizit wendet er sich gegen Platons Timaios und gegen Leibnizens prästabilierte Harmonie. Hier komme man ins „schrankenlose Nebelreich der Speculation.“ [Dubois-Reymond (1876): Darwin versus Galiani, S. 27.] Sicher nicht zufällig fällt an dieser Stelle der inzwischen entwertete Zentralbegriff der idealistischen Philosophie. Kelly (1981): The Descent of Darwin, S. 21. Vgl. Albert Wigand: Die Alternative Teleologie oder Zufall. Vor der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Kassel 1877, S. 3; S. 25. Damit unterscheidet sich Wigand auch hinsichtlich des Zufall-Begriffs von von Baer, mit dem er allerdings im Verständnis der Teleologie übereinstimmt. Wigand (1877): Teleologie oder Zufall, S. 29.
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Moritz Wagner finden konnten.331 So zeichnet sich also trotz der hier dargestellten Diskussion über Zweckmäßigkeit im Großen und Ganzen eine Bestätigung von Peter Bowlers These einer „non-Darwinian Revolution“ ab. Der Kernbestandteil der Darwinschen Theorie, nämlich die Selektionstheorie, wurde offenbar von den meisten Forschern falsch verstanden, abgelehnt oder doch für unzureichend befunden. Um so wichtiger sind die hier vorgestellten frühen Ansichten, die die Darwinsche Erklärung der Zweckmäßigkeit nachvollziehen und darüber hinaus für den Kernbestandteil der Evolutionstheorie halten.
5 Zusammenfassung Die Krise der Realteleologie im 19. Jahrhundert skizzierten wir vor zwei äußerst einflußreichen realteleologischen Konzeptionen: Vor dem technomorphen Vorsehungs-Verständnis einer aufgeklärten, natürlichen Theologie und vor den Organismus- und Fortschritts-Konzeptionen des deutschen Idealismus. Die aufgeklärte Vorsehungslehre ließ Gott teleologisch durch die Kausalität hindurch wirken. So wurde einerseits der Forderung der Wissenschaften Rechnung getragen, die Welt kausal zu beschreiben, andererseits griff man für die Begründung dieser Kausalität, die immer gerichtet verstanden wurde, auf Gott zurück. Das Uhrenmodell stand prototypisch für diese Art der technomorphen Weltwahrnehmung. Kant verwies alle teleologische Naturerklärung in die Relativität des ‚als ob‘, räumte aber ein, daß Organismen ‚Naturzwecke‘ seien, deren innere Zweckmäßigkeit der Mensch nicht auf Mechanik zurückführen könne. Dies kritische Zwischenspiel wurde durch Schellings und Hegels Organismus-Konzeptionen beendet. Dem Organismus wurde unbewußt wirkende Zweckmäßigkeit zugeschrieben, darüber hinaus wurde die ganze Natur (Schelling) zweckmäßig bzw. alles Wirkliche in seiner geschichtlichen Entfaltung als zweckmäßig konzipiert (Hegel). Beide Denker bewerteten Teleologie höher als Kausalität, indem sie die erstere als ‚Wahrheit‘ des letzteren bestimmten oder beides miteinander identifizierten. ______________________
331 Vgl. Wigand (1877): Teleologie oder Zufall, S. 7. Darüber hinaus wurde auch von Anhängern der natürlichen Zuchtwahl diskutiert, ob damit alle organischen Formen erklärt werden können und wie sich die natürliche Zuchtwahl zu den sogenannten Hilfsprinzipien wie geschlechtliche Zuchtwahl oder Anpassung durch Mimikry verhält. Vgl. Wigand (1877): Teleologie oder Zufall, S. 11.
Zusammenfassung
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Dagegen wandte sich Feuerbach in seiner Hegel-Kritik. Er stellte seine Leser und Zuhörer vor die Alternative, entweder an Kausalität als Wirkweise der Natur oder aber an die alleinige Wirksamkeit Gottes zu glauben. Die Teleologie kommt für Feuerbach erst durch den Geist in die Welt, und das heißt nun: durch den Menschen, der erst sehr spät in der Entwicklungsgeschichte der Natur auftritt. Damit ist die chronologische Priorität des Geistes zurückgewiesen und dem technomorphen Weltbild der Vorsehungslehre die Grundlage entzogen. Realteleologische Konzeptionen erkannte Feuerbach als Projektion des menschlichen Zweckhandelns auf die Natur und brandmarkte sie als egoistisch. Bis Darwin hatte es grundsätzlich zwei Möglichkeiten gegeben, einer teleologischen Erklärung der Natur auszuweichen: Die eine Möglichkeit war seit Feuerbach, den Projektions-Charakter der teleologischen Weltvorstellung offenzulegen. Die andere verfolgten die Materialisten, allen voran Ludwig Büchner. Sie bestand in der polemischen Leugnung der Zweckmäßigkeit der Natur, indem auf Zweckwidrigkeiten hingewiesen wurde. Beide Möglichkeiten sind geeignet, Kontingenz zu erhöhen, doch keine der beiden kann die kaum zu leugnende natürliche Funktionalität erklären, weil bis zu Darwin natürliche Funktionalität stets auf die intrinsische Teleologie eines Geistes oder eines schöpferischen Prinzips zurückgeführt werden mußte. Eine andere Erklärung der Funktionalität der Natur, dies schien seit Kant klar zu sein, war prinzipiell nicht denkbar. So führten die vordarwinschen Erklärungsversuche in die Tautologie. Erst Darwins Selektionstheorie bot hier einen Ausweg. Deshalb mußte der Frage nachgegangen werden, ob die neue Darwinsche Erklärung der natürlichen Zweckmäßigkeit im Deutschland der 1860er und 1870er Jahre überhaupt breitenwirksam rezipiert wurde. Mit dem Blick auf die renommierte Wochenschrift Das Ausland war das Ergebnis zunächst zwiespältig. Der Chefredakteur Peschel sorgte zwar für eine seriöse Popularisierung von Darwins Theorien und hatte auch bereits das Teleologie-Problem im Blick, doch in den 1870er Jahren gingen die Unterschiede zum Entwicklungsdenken Hegelscher Prägung weitgehend verloren. Die ateleologische Selektionstheorie wurde entweder explizit angegriffen oder aber zugunsten von teleologischen Fortschrittskonzepten marginalisiert. In den 1870er Jahren wurde mit diesem Fortschrittsmodell auch der ‚Kampf ums Dasein‘ als Handlungsmaxime gerechtfertigt. Eine neue Welle der Popularisierung Darwins, aber auch seiner Verweltanschaulichung, wurde durch das Buch Der alte und der neue Glaube von David Friedrich Strauß ausgelöst. Strauß erreicht das hohe Niveau seines Zweckmäßigkeitsverständnisses durch eine Orientierung an den Arbeiten von Friedrich Albert Lange und Hermann von Helmholtz.
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Darwins mechanische Erklärung der natürlichen Zweckmäßigkeit wollte er nutzen, um die Existenz eines wie auch immer gearteten göttlichschöpfenden Prinzips überflüssig zu machen. Doch um Darwins Theorien zur Weltanschauung auszuweiten, den grausamen ‚Kampf ums Dasein‘ zu rechtfertigen und verbindliche Handlungsmaximen zu gewinnen, griff er wieder auf idealistische Fortschritts- und Vervollkommnungskonzepte zurück. Strauß verhielt sich also in der Frage der Realteleologie tatsächlich „unsicher“ und traf damit den zentralen Nerv einer neuen, darwinistischen Weltanschauung. Straußens Buch führte zu einer neuen Welle der Popularisierung des Darwinismus unter dem Aspekt der Realteleologie. In der Debatte in der Allgemeinen Zeitung zeigten sich exemplarisch die Möglichkeiten und Horizonte der Darwin-Interpretation der frühen 1870er Jahre in Deutschland. Im Zuge dieser Debatte, die die fortgeschrittene Ausdifferenzierung von Naturwissenschaften und Philosophie ebenso demonstriert wie die Verflechtungen beider Felder, wurden wichtige begriffliche Unterscheidungen getroffen und einem breiten Publikum vorgestellt. So wurde das teleologische Entwicklungs- oder Vervollkommnungskonzept Hegelscher Prägung gegen den Veränderungsgedanken, wie er sich aus der Selektionstheorie ergibt, abgegrenzt (Johannes Huber). Huber sieht deutlich, daß mit der Teleologie auch der Entwicklungsgedanke hinfällig wird, versucht aber weiterhin, den Naturwissenschaften eben den philosophischen Entwicklungsbegriff als Paradigma zu oktroyieren. Diese Versuche wehrte der Biologe Karl Semper ab. Durch Seidlitz wurde die Unterscheidung Eduard von Hartmanns einer (menschlichen) Zweckmäßigkeit als Prinzip von einer natürlichen Zweckmäßigkeit als Resultat bekannt gemacht. Hiermit ist eine auch noch heute in der Wissenschaftstheorie geltende Unterscheidung getroffen.332 Karl Ernst von Baer spitzte die Teleologie-Debatte schließlich auf die Alternative Teleologie (mit Annahme eines geistigen Wesens) oder Zufall zu. Seine Definition des Zufalls als Kreuzung zweier Vorgänge, deren wirkende Ursachen verschieden und unzusammenhängend sind, unterscheidet sich dabei vom Zufalls-Verständnis von Haeckel oder Wigand, für die ein zufälliges Ereignis gar keine Ursache hat, weshalb sie den Zufall leugnen. Von Baer selbst entschied sich für die Teleologie, da es ihm unmöglich war zu glauben, daß durch den Zufall etwas Zweckmäßiges entstehen könne. Damit sind wesentliche Implikationen des Darwinismus herausgearbeitet und wichtige Unterscheidungen einer breiten Öffentlichkeit vorgeführt. ______________________
332 Vgl. den von Engels konstatierten „Wechsel vom Verständnis der Zweckmäßigkeit als antizipierter zu ihrer Deutung als ‚poststabilisierter Harmonie‘ “ [Vgl. Engels (1982): Teleologie, S. 125f.]
Zusammenfassung
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Strauß selbst konnte nur noch den Anfang dieser Debatte mitverfolgen und fügte der vierten Auflage seines kontrovers diskutierten Buches ein Nachwort als Vorwort an, das er in den letzten Tagen des Jahres 1872 schrieb.333 Hier setzt er sich vor allem mit der etwa zeitgleich mit seinem Buch erschienenen Rede Über die Grenzen des Naturerkennens von Emil Dubois-Reymond auseinander. Alfred Dove hatte einem Artikel in der Zeitschrift Im neuen Reich die Überschrift „Bekenntnis oder Bescheidung“ gegeben und damit beide Bücher einander gegenübergestellt (vgl. ANG, S. 266). Nun versucht Strauß zu zeigen, daß er in Grundsätzlichem mit Dubois-Reymond einer Meinung ist. Die beiden großen Schranken des Naturerkennens, die Dubois-Reymond anführt, hält Strauß aber prinzipiell für überwindbar.334 Strauß weist in seinem Nachwort auch ausdrücklich darauf hin, daß sein Buch dem alten Glauben kein neues Wissen, sondern einen neuen Glauben gegenüberstelle. Er führt aus: Zur Gestaltung einer umfassenden Weltanschauung, die an die Stelle des ebenso umfassenden Kirchenglaubens treten soll, können wir uns nicht mit demjenigen begnügen, was streng inductiv zu erweisen ist, sondern müssen noch mancherlei hinzufügen […]. (ANG, S. 271)
Diese spekulativ ergänzte Weltanschauung sei als Ersatz für Religion und Kirche gedacht und dürfe keinen faulen Kompromiß mit ihr suchen.335 Es wurde aber deutlich, daß die Ausweitung des Darwinismus zur emotional befriedigenden Weltanschauung zwangsläufig zu einer Wiedereinführung der Realteleologie führt, weil Weltanschauungen naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf das Ganze der Welt beziehen, um so die Fragen nach „ursprung, sinn und ziel der welt“ beantworten zu können und daraus Handlungsmaximen zu gewinnen. ______________________
333 Vgl. die letzte Seite des Nachworts, ANG, S. 278. 334 Dubois-Reymond hatte in der genannten Rede zwei Grenzen unseres Naturerkennens, also der Reduktion der Natur auf die Bewegung von Atomen, angeführt: 1) das Wesen der Materie und der Kraft, 2) das schon im niedrigsten Tier vorhandene Bewußtsein. Mit dem zweiten Punkt leugnet Dubois-Reymond nicht, daß jeder geistige Vorgang das Erzeugnis materieller Bedingungen ist, sondern vielmehr, daß mit diesem Zusammenhang etwas „erklärt“ sei. Den Darwinismus versteht Dubois-Reymond als Kombination der Deszendenzund Zuchtwahllehre und erkennt ihn ausdrücklich an. Vgl. Emil Dubois-Reymond: Über die Grenzen des Naturerkennens. In: Emil Dubois-Reymond: Reden von Emil Du Bois-Reymond. Mit einer Gedächtnisrede von Julius Rosenthal. Hg. von Estelle Du Bois-Reymond. 2 Bde. Leipzig 21912, Bd. 1, S. 441–473. Besonders S. 449f, S. 452f, S. 462. 335 Vgl. ANG, S. 276. Schließlich betont Strauß, daß die Moral, nachdem sie nichts überzeitlich Göttliches mehr sei, auf der Grundlage des Darwinismus begründet werden müßte. Dieses Ziel sieht er aber noch in weiter Ferne. Strauß möchte somit den naturalistischen Fehlschluß vom Sein auf das Sollen vermeiden. Er akzeptiert die Moral als etwas Gegebenes, das man nun durch die Evolutionstheorie erklären kann (Strauß: Ein Nachwort als Vorwort. In: ANG, S. 277). Straußens Ansatz sollte also, trotz einiger gegenteiliger Hinweise in seinem Bekenntniß, zu keiner sozialdarwinistischen Ethik führen.
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Friedrich Theodor Vischer, dessen Schriften im nächsten Kapitel behandelt werden, ist ein idealistischer Denker, der die hier skizzierten philosophischen und wissenschaftsgeschichtlichen Veränderungen miterlebt. Als Idealist benötigt er Realteleologie, als Empiriker scheint sie ihm unhaltbar zu sein. In dieser Spannung stehen seine ästhetischen Schriften, aber auch seine literarischen Werke.
IV Realteleologie und Kontingenz bei Friedrich Theodor Vischer 1 Kontingenz als Folgeproblem Am Beispiel des einflußreichen Ästhetikers und Romanciers Friedrich Theodor Vischer (1807–1887) werden in diesem Kapitel die Folgeprobleme behandelt, die sich aus der Krise der Realteleologie für die Ästhetik, Poetologie und Literatur ergeben. Vischer eignet sich hierfür besonders gut: Einerseits ist er dem Idealismus in der Prägung Schellings und Hegels, also einer umfassenden Realteleologie, verpflichtet. Andererseits schenkt er der Empirie und der genauen, wissenschaftlichen Beobachtung große Aufmerksamkeit. Vischer interessiert sich von Anfang an für diejenigen Bereiche der Wirklichkeit, die sich der Einordnung in ein idealistisches System widersetzen. Streben bei Schelling Geist und Wirklichkeit in ihrer Identität zur „absoluten Zweckmäßigkeit“ des Ganzen, so hat Vischer seinen Blick auf die Zweckwidrigkeiten und Zufälle der Welt gerichtet. Die Spannung zwischen einer Zweckmäßigkeit des Ganzen und dem Zufall, zwischen dem idealistischen Systemdenken und der Empirie, zwischen Realteleologie und Kontingenz prägen sein gesamtes Denken, allen voran seine große Ästhetik und seinen Roman Auch Einer. In Vischers eigenen Worten: „Alles Leben, alle Geschichte, alle Bewegung des Geistes in jeder Sphäre ist wesentlich diese Geschichte der Aufhebung des Zufalls.“1 Dieser Satz steht im ersten Band von Vischers ästhetischem Hauptwerk, der neunteiligen Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen (1846–1857), die ganz in Hegelscher und Schellingscher Tradition steht. Der Satz stellt einerseits den Zufall in das Zentrum der Aufmerksamkeit, hält aber gleichwohl daran fest, daß er keine Letztkategorie der Wirklichkeitsbeschreibung ist, sondern daß er sich ‚aufheben‘ läßt, das heißt, daß ein Philosoph begrifflich darlegen kann, wie sich der Zufall sowohl in syste______________________
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Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen. 6 Bde. München 21922f. (ED 1846–1857). Vischers Ästhetik wird im folgenden mit der Sigle ‚Ä‘ abgekürzt. Die Bandangabe steht in arabischer Ziffer, in Klammern wird die Paragraphennummer angegeben und durch ‚Anm.‘ vermerkt, wenn es sich um eine der zahlreichen und langen Anmerkungen zum Haupttext eines Paragraphen handelt. Hier Ä1, S. 121 (§ 41, Anm.).
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matischer als auch in historischer Hinsicht stets auf eine höhere Ebene heben und dadurch bewahren, tilgen oder ausgleichen läßt. So sehr Vischers Ästhetik dem deutschen Idealismus verpflichtet ist, so wenig läßt sich das Grundproblem des Zufalls aus dem philosophiegeschichtlichen Kontext des Idealismus erklären. Der Versuch einer „Aufhebung“ des Zufalls im idealistischen System ist bereits eine Reaktion auf einen Kontingenzschub, der durch die Kritik an der christlichen Religion, am persönlichen Schöpfergott und einer rationalistischen Vorstellung von der Vorsehung ausgelöst wurde. Daß für Vischer der sinnlose Zufall die „Grunderfahrung der modernen Welt und der Ausgangspunkt seines [Vischers; P.A.] Denkens“2 wurde, hat Gründe, die im Abbau von traditionellen realteleologischen Ordnungsvorstellungen zu suchen sind. Auch für Vischer ist Feuerbach einschlägig. Er steht, was seine Religionskritik betrifft, „der Sache nach auf dem Standpunkt von Feuerbach. Er ist wie seine Freunde G. Keller und K. Fischer und viele seiner Zeitgenossen ‚Feuerbachianer‘ “.3 Schon für den 23-jährigen Vischer jedenfalls bedeutete die Ablehnung des persönlichen Gottes und des technomorphen Weltbildes eine Lebenskrise, die die Suche nach alternativen Konzepten zur Kontingenzminderung nötig machte. Dies zeigt die 1830 entstandene und zu Lebzeiten unveröffentlichte Erzählung Ein Traum: Denn wenn er [der Denkende; P.A.] eingesehen, wenn er klar erkannt hat, daß kein von der Welt geschiedener Gott in den Wolken sitzt, wo will er ihn finden? Ist Geist in den Elementen der Natur? Oder ist Gott in seinem eignen Geiste? Dann ist aber kein Gott außer mir, keine Weltordnung; das Leben des Geistes und der Natur paßt nicht zu ewigen Zwecken ineinander. Mit dem Glauben an Unsterblichkeit kann er sich nicht vertrösten.4 ______________________
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Willi Oelmüller: Friedrich Theodor Vischer und das Problem der nachhegelschen Ästhetik. Stuttgart 1959, S. 36. Oelmüller (1959): Vischer, S. 63. Allerdings sieht Vischer Feuerbach nicht ausschließlich als Materialisten, sondern ihm zufolge akzeptiert auch Feuerbach „den Geist als allgemeine Substanz“ [Friedrich Theodor Vischer: Gervinus und die Deutsch-Katholiken. In: Kritische Gänge. 6 Bde. Hg. von Robert Vischer. München 21914–1922, Bd. 1, S. 188–216. Hier S. 206 (ED 1845)]. Die Kritischen Gänge werden im folgenden durch die Sigle ‚KG‘ mit der Bandangabe in arabischer Ziffer abgekürzt. Vgl. auch Oelmüller (1959): Vischer, S. 66. Was Vischers Verhältnis zur Theologie betrifft, so wäre zu ergänzen, daß Vischer im Tübinger Stift ausgebildet wurde und ein Schüler von Ferdinand Christian Baur war, der die Tübinger Schule maßgeblich prägte. Baur kritisierte die Auferstehungslehre des Neuen Testaments und reduzierte die Bibel auf ihren sittlichen Gehalt. Diese Kritik wurde von dem Baur-Schüler und Freund Vischers David Friedrich Strauß weitergetrieben, der in Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835) die Mythenkritik auf die Evangelien anwandte, damit der Erforschung Jesu als historischer Person den Weg ebnete und das Christentum lediglich als Humanitätsreligion verstand. Friedrich Theodor Vischer: Ein Traum. Mitgeteilt von Robert Scharff. In: Briefwechsel zwischen Eduard Mörike und Friedrich Theodor Vischer. Hg. von Robert Vischer. München 1926, S. 259–
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Die Zuwendung zur Philosophie des Idealismus, genauer gesagt, zur Natur- und Kunstphilosophie Schellings und zur hegelianischen Dialektik, kann bereits als Reaktion auf diesen Kontingenzschub betrachtet werden. Denn im absoluten Idealismus wird der Geist mit der Materie gleichgesetzt, was zur Folge hat, daß die Entfaltung der Welt teleologisch durch Geist gelenkt und damit notwendig ist. Der Geist, einst als transzendente Größe ‚hinter‘ der Welt liegend gedacht, wird als immanentes Prinzip aufgefaßt. Vischers Ästhetik ist ein Versuch, den Zufall in eine auf idealistischen Prämissen gebaute Realteleologie einzubinden. Sein Werk ist in beinahe 1000 Paragraphen mit oft langen Anmerkungen gegliedert und nach begrifflichen Gesichtspunkten geordnet, die dialektisch aufeinander Bezug nehmen. Schon früh wurde kritisiert, daß der stoffliche Reichtum zur Kunst und Kunstproduktion sowie zum Naturschönen unter einem „ganz überflüssigen und höchst schwerfälligen Apparat einer bis zur Unverständlichkeit gehenden philosophischen Sprachtechnik“5 verborgen sei. Doch soll die strenge und vielfach gewaltsame Systematik gewährleisten, daß der Zufall zwar einen wichtigen Raum einnimmt, wodurch sich die Ästhetik von Hegels Philosophie, wie Vischer sie verstand, unterscheidet,6 gleichwohl aber im System gebunden bleibt, und zwar sowohl in der Logik begrifflicher Konstruktion als auch im unendlichen Prozeß der Zeit. In Vischers System gewinnt der Zufall dadurch eminente Bedeutung, daß er der Störfaktor ist, der teilweise oder ganz verhindert, daß eine Idee in Erscheinung tritt. Die Frage, wie Idee und Erscheinung zur Einheit kommen, wird so zum zentralen Problem. Berthold Emrich schildert den Grundkonflikt Vischers wie folgt: da Vischer Hegels mystische Verbundenheit von Geist und Wirklichkeit löst, erhält er auf der einen Seite einen endlosen Prozeß der absoluten Idee, auf der anderen das Lebendige in seiner Selbständigkeit. Die zentrale Frage ist nun, wie sich wenigstens eine bestimmte Idee im Leben verwirklicht.7 ______________________
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303. Hier S. 276. Die Erzählung war eine Beigabe zu einem Brief an Eduard Mörike, der sie in Der Hochwächter drucken lassen sollte, dies aber unterließ, weil sie ihm zu „frech“ erschien. Vgl. hierzu ebd. S. VI-VIII und S. 328, Anm. 40. Die Erzählung wurde 1926 in dem Briefwechsel erstmals abgedruckt. Vgl. auch Oelmüller (1959): Vischer, S. 45ff. Max Schasler: Kritische Geschichte der Ästhetik. Grundlegung für die Ästhetik als Philosophie des Schönen und der Kunst. 2 Bde. Berlin 1872. Hier Bd. 2, S. 1043. Dieter Henrich hat darauf hingewiesen, daß auch Hegel den Zufall als eigene Kategorie anerkenne. Das Subjekt müsse aber auf das Begreifen des Zufalls verzichten. Dies sei Hegels „Einsicht in die Unmöglichkeit, alles Konkrete zu deduzieren“ [Henrich (1971): Hegels Theorie über den Zufall, S. 176.] Berthold Emrich: Friedrich Theodor Vischers Auseinandersetzung mit Jean Paul. In: Hans Werner Seiffert, Bernhard Zeller (Hg.): Festgabe für Eduard Berend zum 75. Geburtstag am 5. Dezember 1958. Weimar 1959, S. 136–159. Hier S. 144. Zur Nachwirkung Jean Pauls bei Vischer fer-
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Die „zentrale Frage“, wie sich eine bestimmte Idee im Leben verwirklicht, wird Vischer in der Metaphysik des Schönen durch das Schellingsche Konzept der inneren Zweckmäßigkeit beantworten. Die Bedeutung Schellings muß vor allem deshalb hervorgehoben werden, weil Vischer gemeinhin allein in die Tradition Hegels gestellt wird.8 Doch schon Oelmüller wies darauf hin, daß Vischer für die Begründung der Naturschönheit auf Schelling zurückgreift und erst die Entfaltung dieses Begriffs durch die Dialektik Hegels vollzieht.9 Dabei ist der wichtigste Unterschied zu Hegel aber, daß dieser Dialektik als in der Zeit sich vollziehende Realdialektik versteht, während Vischer gerade den historischen Ansatz kritisiert und „rein logisch verfahren“ will.10 Die Natur______________________
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ner Götz Müller: Zur Bedeutung Jean Pauls für die Ästhetik zwischen 1830 und 1848 (Weiße, Runge, Vischer). In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 12 (1977), S. 105–136. Bes. S. 126–136. Besonders die Studien von Hermann Glockner beziehen Vischer ganz auf Hegel. Vgl. beispielsweise Hermann Glockner: Friedrich Theodor Vischer und das neunzehnte Jahrhundert. Berlin 1931. Diese Tendenz schreibt sich bis in die Gegenwart fort. Vgl. z.B. Hegelianism. In: Routledge Encyclopedia of Philosophy. Hg. von Edward Craig. London, New York 1998. Hier Bd. 4, S. 280–302. Zu Vischer S. 285 (Robert Stern, Nicholas Walker). Ferner Hans Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt am Main 1992, S. 466. Ganz aus der Perspektive Hegels beschreibt William J. Brazill Vischers Philosophie, auch wenn er darauf hinweist, daß Vischer nach 1860 die Empirie verstärkt in den Vordergrund rückt und seine idealistischen Prämissen hinterfragt. Vgl. Brazill: Young Hegelians. Bes. S. 157f. Vischer lernte Schellings Schriften vor denjenigen Hegels bereits in Tübingen kennen, wo er ab 1825 das „obere Seminar“ besuchte. Gegen Ende der Studienzeit kam er dann mit Hegels Philosophie in Kontakt. In die Zeit seines Vikariats in Horrheim (1830) fällt dann das intensive Hegelstudium. Vgl. Friedrich Theodor Vischer: Mein Lebensgang. In: KG6, S. 450, S. 455, S. 457. Dem Einfluß Karl Wilhelm Ferdinand Solgers auf Vischer geht ein Aufsatz von Anne Baillot nach. Vischer habe Solgers Vorlesungen über Ästhetik etwa zwischen 1832 und 1836 gelesen und exzerpiert. Er orientiere sich daran, daß Solger das Erhabene auf das Komische beziehe, kritisiere aber seinen religiösen Standpunkt. Vgl. Anne Baillot: Friedrich Theodor Vischers Auseinandersetzung mit der Solgerschen Kunstphilosophie. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 46 (2002), S. 3–22. Schelling, so Oelmüller, sei für Vischer der „wahre Begründer der modernen Ästhetik“ gewesen. Hegels Bedeutung liege dagegen vor allem in der dialektischen Entfaltung der Idee des Schönen. Vgl. Oelmüller (1959): Vischer, S. 136. Vischers starke Bindung an Schelling kann vielleicht so erklärt werden, daß Vischers wie Schellings Denken ein latenter Dualismus zugrunde liegt. Es ist die Frage, wie und wo sich das absolute Subjekt-Objekt verwirklicht, wobei besonders die Natur eine wichtige Rolle spielt. Für Hegel dagegen ist die Einheit des Absoluten mit dem Wirklichen eine Selbstverständlichkeit, so daß er seine Aufmerksamkeit auf den realdialektischen Prozeß richtet. Vgl. Oelmüller (1959): Vischer, S. 137. Diese logische Verfahrensweise führt er allerdings nicht konsequent durch, so daß es zu einem beständigen Schwanken zwischen Historik und Systematik kommt. Max Schasler bemerkt schon 1872: „Was nun Vischer’s Anordnung betrifft, so geht aus seiner Darstellung nicht mit völliger Klarheit hervor, ob er diese Genesis [des Geistes; P.A.] als eine rein begriffliche oder zugleich als eine geschichtliche fasse. Fast scheint es, ob er Beides miteinander zu einer höheren Einheit verbinden wolle, was die Frage aber nur verdunkelt.“ [Schasler (1872): Kritische Geschichte der Ästhetik. Bd. 2, S. 1058.] Auch in Schellings Philosophie der Kunst läßt sich ein Schwanken zwischen historischen und systematisch-konstruierten Sichtweisen beobachten.
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schönheit ist für Vischer als Realisten besonders wichtig, ja er sieht sich vor die Aufgabe gestellt, „die klassische Ästhetik sicherzustellen, nun aber nicht mehr mit Hilfe eines theologisch-religiös begründeten Idealismus, sondern auf dem Boden des Naturschönen.“11 Durch die teleologische Begriffsdialektik wird die Ästhetik zum geschlossenen System, in das auch der Zufall eingebunden ist. Vischers Ästhetik wiederholt damit die teleologische Struktur der Wirklichkeit, in der der Zufall ebenfalls aufgehoben ist. Dieser gleicht sich in der Unendlichkeit von Zeit und Raum aus, aber ästhetisch nachvollziehbar wird er erst im Kunstwerk, besonders in der Dichtung. Sie ist die Wirklichkeit des Schönen und, anders als bei Hegel, auch in der Gegenwart potentiell der adäquate Ausdruck der Idee.12 Der Operationsmodus der Dichtung ist die indirekte Idealisierung, wodurch sie den Zufall aufnehmen kann, sich aber trotzdem zum Ganzen rundet, indem sie ihn innerhalb der ästhetischen Konstruktion ausgleicht. Entscheidend ist nun, daß Idealisierung Wahrheit beanspruchen kann, weil auch in der Wirklichkeit der Zufall ausgeglichen wird. Kunst bekommt so Erkenntnisfunktion, ihr Operationsmodus stimmt mit der Verfahrensweise der Wirklichkeit im Kern überein. Damit wird Erzählteleologie immer noch, wie bei Blanckenburg, durch eine Realteleologie legitimiert, ja mehr: Durch die idealistische Gleichsetzung von Subjekt und Objekt werden sogar beide identisch, das heißt, in der Natur sorgt derselbe Geist für eine zweckmäßige Rundung zum Ganzen, der auch im Menschen abgerundete Kunstwerke hervorbringt. Das subjektive schaffende Prinzip in der inneren Zweckmäßigkeit des Organismus weist schon auf seine höhere Verwirklichung, nämlich auf die subjektive Phantasie des Menschen, voraus. Die prekäre Konstruktion von Vischers Ästhetik wird nach deren Abschluß 1857 für Vischer selbst zunehmend fragwürdig. In diese Entwicklung fällt die Darwin-Rezeption Vischers, an deren Beginn das Buch Der alte und der neue Glaube (1872) seines alten Freundes David Friedrich Strauß steht. Wenn Darwin recht haben sollte, so sieht Vischer deutlich, dann wird die Annahme eines Geistes in der Natur überflüssig; das Postulat ______________________
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Helmuth Widhammer: Realismus und klassizistische Tradition. Zur Theorie der Literatur in Deutschland 1848–1860. Tübingen 1972, S. 174. Dies ist ein weiterer gewichtiger Unterschied zu Hegel, der annimmt, daß in der Moderne nur die Philosophie eine adäquate Darstellung des Absoluten leisten könne. Werner Busch nennt dies die „entscheidende Differenz zwischen Hegel und seinen Schülern“ (Werner Busch: Die Antrittsvorlesung Friedrich Theodor Vischers bei Übernahme des Lehrstuhls für Ästhetik und Literaturwissenschaften an der Universität Tübingen 1844. In: Andrea Berger-Fix (Hg.): „Auch Einer“. Friedrich Theodor Vischer zum 100. Todestag. Katalog zur Ausstellung des Städtischen Museums Ludwigsburg 14. September 1987 - 28. Februar 1988. Ludwigsburg 1987, S. 29–39. Hier S. 31.
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einer produktiven inneren Zweckmäßigkeit der Natur läßt sich nicht mehr halten und das Konzept einer teleologischen Stufenfolge der Natur ist überholt. Wenn die organische Natur und damit letztlich auch der Mensch und seine Ideen aus mechanisch-blinden Prozessen erklärt werden können, dann bedeutet dies, daß sie selbst zufällig werden. Damit gibt es aber keinen absoluten Punkt mehr außerhalb der Kontingenz, von der sich der Zufall beherrschen ließe. Das idealistische Systemdenken ist an seine Grenzen gestoßen. Es ist nicht mehr abzusehen, wie begrifflichsystematisch gezeigt werden kann, daß schon in der Wirklichkeit die Aufhebung des Zufalls stattfindet. Vischer gibt seine hegelianische Position auf und erkennt nun im Subjekt das einzige zwecksetzende Wesen.13 Es ist durch einen ‚Riß‘ von der kontingenten Umwelt getrennt, die seine Zwecke stört, ohne daß auf eine Ausgleichung oder Aufhebung dieser Zufälle in der Zeit gehofft werden kann. Dem neuen Kontingenzschub begegnet Vischer auf zwei Weisen: Er versucht, die Irritation des Darwinismus durch eine veränderte Semantik aufzufangen. Zeitgenössische Deutungen des Darwinismus wie von Eduard von Hartmann oder Karl Christian Planck kommen hier ebenso in Frage wie spontane Rückgriffe auf Platons Ideenlehre oder den Entelechie-Gedanken von Aristoteles. Doch vermögen diese Versuche den Glauben an eine Realteleologie nicht mehr zu restaurieren. Der inzwischen alte Vischer schreibt nun einen Roman, in dem er Möglichkeiten durchspielt, den Zufall in eine nun ästhetische Konstruktion einzubinden; er wechselt also das Medium bei gleicher Problemreferenz. Doch die fehlende Realteleologie hat natürlich Konsequenzen für die Dichtung, insbesondere für den Wahrheitsgehalt der Idealisierung, die schließlich durch die Realteleologie legitimiert wurde. Vischer versucht zunächst, Kontingenz möglichst lebensnah zu simulieren; er baut die Erzählteleologie in unerhört radikaler Weise ab und vermittelt so dem Leser den Eindruck, mit chaotischer Wirklichkeit, nicht mit einer geordneten Erzählung, konfrontiert zu sein. So ignoriert er zwar das Prinzip der Idealisierung, kann aber für die Dichtung Wahrheit beanspruchen. Letztlich aber hat auch eine Dichtung, die Kontingenz in dieser Weise darstellt, ein Glaubwürdigkeitsproblem, einfach weil auch sie noch ein bewußt konstruiertes und berechnetes Artefakt ist, in dem es den echten Zufall eigentlich nicht gibt. Dichtung insgesamt wird dem späten Vischer aufgrund ihrer Basisfunktionalität zur „Kinderei“14, während nur noch die ______________________
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Oelmüller bemerkt lakonisch: „Von 1830 bis 1857 war er [Vischer; P.A.] Hegelianer.“ [Oelmüller (1959): Vischer, S. 70.] Friedrich Theodor Vischer: Aphorismen. In: KG6, S. 567–573. Hier S. 567.
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Naturwissenschaft eine Darstellung der Wahrheit leisten kann. Die unhintergehbare Funktionalität der Dichtung korrespondiert nicht mehr mit der Natur oder ihrer Produktionsweise. Die Einsicht in die Differenz von Real- und Erzählteleologie führt beim späten Vischer zur Abwertung der Kunst, die noch in seiner idealistischen Ästhetik den Höhepunkt des Schönen ausmachte.15 Die Ursache für diese Entwicklung, so die These des Kapitels, ist in der fortschreitenden Krise realteleologischer Ordnungsvorstellungen zu suchen.
2 Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen 2.1 Aufhebung der Kontingenz durch Realteleologie Vischer unterscheidet in seiner Metaphysik des Schönen, dem ersten Teil seiner Ästhetik, Idee und Individuum. Den Begriff der absoluten Idee übernimmt Vischer als allgemein akzeptiertes Ergebnis von der Hegelschen Metaphysik und definiert sie als die „Einheit aller Gegensätze, welche sich in dem höchsten Gegensatze, dem des Subjekts und Objekts, sammeln“.16 Diese absolute Idee kann auf keinem einzelnen Punkte der Zeit und des Raumes als solche zur Erscheinung kommen, sondern sie verwirklicht sich bloß in allen Räumen und im endlosen Verlaufe der Zeit durch einen beständig sich erneuernden Prozeß der Bewegung.17
Auch was die Temporalisierung der absoluten Idee betrifft, folgt Vischer also Hegel. Die Annahme der absoluten Idee als Resultat der Metaphysik und Ausgangspunkt der Ästhetik ist für Vischer „reiner Pantheismus“.18 Dem Geist genügt aber diese unanschauliche Verwirklichung der Idee nicht. Er wird von einem Gesetz beherrscht, nach dem „jede Wahrheit zuerst in unmittelbarer Form objektiv vor ihm auftritt“.19 Deshalb soll er die Idee als etwas unmittelbar Wirkliches anschauen. Also erzeugt sich der ______________________
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Damit trifft auch für die Dichtung zu, was Oelmüller für die Philosophie feststellte: Sie werde in Vischers späten Schriften vom „Organon“, mit dem man die Welt erkennt, zum „Pharmakon“, mit dem man vor ihr auf der Flucht ist. Vgl. Oelmüller (1959): Vischer, S. 75. Ä1, S. 45 (§ 10). Ä1, S. 45 (§ 10). Auch im „zusammenfassenden Geiste des Denkenden“ [Ä1, S. 48 (§ 12)] kann diese Einheit wirklich werden. Ä1, S. 46 (§ 10, Anm.). Schon in seiner Antrittsvorlesung in Tübingen 1844 hatte Vischer ganz offen sein Bekenntnis zum Pantheismus ausgedrückt, was ihm zwei Jahre Lehrverbot einbrachte, seiner Karriere gleichwohl nicht dauerhaft schadete. Vgl. Busch (1987): Antrittsvorlesung. Bes. S. 29f. Friedrich Theodor Vischer: Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik. In: KG4, S. 159–197 (ED 1843/44). Hier S. 161.
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Schein, daß „ein einzelnes sinnlich Daseiendes seinem Begriffe absolut entspreche, daß also in ihm zunächst eine bestimmte Idee und dadurch mittelbar die absolute Idee vollkommen verwirklicht sei.“20 So kommt Vischer zu seiner Definition des einfach Schönen: Das einfach Schöne ist „die Idee in der Form begrenzter Erscheinung.“21 Damit fordert er als Grundlage des Schönen, daß in einem Einzelwesen die Einheit von Subjekt und Objekt, Geist und Natur, aufscheint. Diese Erscheinung hat freilich einen Kern an Wahrheit, ist „inhaltsvoller Schein“22, da Vischer die absolute Einheit von Subjekt und Objekt zumindest im Verlauf der Zeit wahrhaft realisiert sieht. Doch schon durch das Konzept der bestimmten Idee, durch die die absolute Idee Hegels immer nur „mittelbar“ anwesend ist, unterscheidet sich Vischer von Hegel.23 Der frühe Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik von 1843/44 läßt die Frage zunächst ausdrücklich unbeantwortet, wo es denn zu dieser Einheit von Subjekt und Objekt kommt, ob in der Natur oder in der Kunst.24 Hier kann bereits ergänzt werden, daß Vischer in der inneren Zweckmäßigkeit des Organismus diese Einheit zunächst verwirklicht sieht, auch wenn sie durch den Zufall gestört werden kann. Sie begründet primär die Naturschönheit. Auf höherer Stufe findet die Einheit von Subjekt und Objekt in der Kunst statt, indem sich die subjektive Phantasie und das objektive Naturschöne vereinigen. Zunächst führt Vischer aus, was unter bestimmten Ideen zu verstehen ist. 2.1.1 Die Stufenfolge der bestimmten Ideen Die bestimmten Ideen sind für Vischer „Gattungen“ des Seienden, worunter besonders auch Gruppen von Lebewesen fallen. Bei letzteren denkt Vischer an die Klassifikation nach Typen, die Georges Baron de Cuvier (1769–1832) in die Zoologie eingeführt hatte.25 Trotz vieler verschiedener Klassifikationssysteme26 ist es für Vischer eine Tatsache, daß sich die Gattungen in aufsteigender Linie anordnen lassen. Der ______________________
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KG4, S. 161 (Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik). KG4, S. 161 (Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik) und Ä1, S. 52 (§ 14). Ä1, S. 52 (§ 13). Vgl. hierzu Oelmüller (1959): Vischer, S. 151f. Vgl. KG4, S. 161f. (Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik). Vgl. Ä1, S. 67 (§ 17, Anm.). Die Vielzahl der verschiedenen Gattungsbegriffe „verwirrt den stoffartigen Empiriker“ [Ä1, S. 68 (§ 17, Anm.)].
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Grund dieser aufsteigenden Linie ist in der „inneren Einheit“27 der Gattungen, mithin in der Einheit der Welt zu suchen. Indem Vischer diese „Stufenfolge“ auf die Naturreiche und ihre Arten und Gattungen bezieht, orientiert er sich offensichtlich an der Naturphilosophie Schellings. Diese „Stufenfolge“ der Natur hat mehrere Implikationen: Zunächst ist mit dem Gedanken der Stufenleiter natürlich eine zunehmende Höhe der Bildung untrennbar verbunden. Ideen, die auf einer Stufenordnung angesiedelt sind, müssen also hierarchisierbar sein, was eine Wertung dieser Gattungen bedingt. Jede Stufe hat als ihr Ziel die nächst höhere, so daß die höhere Stufe die „Wahrheit“ der darunterliegenden ist. Alle Stufen sind aber nur um der höchsten Stufe willen da, also um die selbstbewußte Persönlichkeit des Menschen zu erreichen: Die Idee baut jene Stufenfolge nur, um auf der höchsten Stufe bei ihrer eigenen, in den vorhergehenden Stufen verborgenen Wahrheit anzukommen und in sich zurückzugehen, sie tritt als Selbstbewußtsein hervor und wird Persönlichkeit […]. Dieser höchste Gehalt der Idee ist zugleich der höchste Gehalt des Schönen. Das Schöne ist persönlich, und alle vorhergegangenen Stufen erhalten nun die Bedeutung, die Persönlichkeit als werdende anzukündigen.28
Aufgrund dieser zielorientierten Beziehungen ist es verständlich, daß für Vischer ohne diese Stufenfolge „die Betrachtung der Natur alles höhere Interesse verliert“.29 Denn die unteren Stufen erhalten ihre Bedeutung nur, um die höchste Stufe der Idee „anzukündigen“. Ferner werden die einzelnen Stufen als diskret und abgegrenzt von der jeweils höheren und niederen Stufe gedacht. Jede bestimmte Idee (also z.B. jede biologische Art) ist auf einer solchen Stufe angesiedelt. Die von Vischer nicht zu leugnenden „Übergangsformen“ seien gerade die „Bestätigung der Grenze“ zwischen den Typen, weil sie durch das „auffallend Verworrene ihrer Bildung“ mißfielen.30 Als Beispiele nennt Vischer schon in der frühen Schrift Über das Erhabene und Komische (1837) Tiere wie das Krokodil oder die Kröte. Sie seien häßlicher als die eigentlich niedriger einzustufenden Pflanzen, weil sich hier die Natur in Bildungen versuche, „die diesem Gattungsbegriffe noch nicht recht adäquat sind“.31 Diese Tiere würden noch an Unorganisches erinnern. Auch der Affe ist für Vischer häßlich, aber diesmal weil er auf den Menschen hindeutet, ohne ihn zu erreichen: Er ist ein „verunglückter vorläufiger Versuch der Natur, es vom Tiere zum Menschen zu bringen“.32 Hier zeigt sich deutlich ______________________
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Ä1, S. 66 (§ 17). Ä1, S. 72 (§ 19). Ä1, S. 69 (§ 17, Anm.). Ä1, S. 68 (§ 17, Anm.). KG4, S. 21 (Über das Erhabene und Komische). KG4, S. 21 (Über das Erhabene und Komische).
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Vischers teleologische Argumentation, die Lebewesen auf die nächst höhere ideale Gattung bezieht. Ein höherer Platz auf der scala naturae garantiert, wie an dem obigen Zitat deutlich wurde, in der Regel auch eine Zunahme an Schönheit.33 Jedes Tier, das seine Gattung vollkommen darstellt, also keine ‚verworrene‘ Übergangsform repräsentiert, ist schöner als ein Tier einer niederen Gattung. Allerdings muß herausgehoben werden, daß für Vischer die Arten konstant sind, so daß die Stufenfolge der Natur nicht evolutionär gedacht ist. Dies betont er ausdrücklich unter Verweis auf Hegel.34 Allenfalls kleine Veränderungen einer Art sind möglich, alle wesentlichen Formen sind jedoch konstant. Somit ergibt sich zunächst eine teleologisch-idealistische Konzeption von Vischers bestimmten Ideen: Er geht, wie Cuvier, von feststehenden Grundtypen von Lebewesen als bestimmten Ideen aus, die voneinander klar abgegrenzt und konstant sind. Die Übergangsformen des Organischen sind als Abarten vernachlässigbar. Die ganze Natur ist über das Stufenmodell teleologisch auf den Menschen bezogen, wo die Natur ihre volle Schönheit erreicht. 2.1.2 Das zufällige Individuum Der Gegenbegriff zur bestimmten Idee ist derjenige des Individuums. Das Individuum ist in mehrfacher Weise ganz wesentlich vom Zufall abhängig und dadurch von seiner idealen Gattung getrennt. Herrscht in der Stufenfolge der bestimmten Ideen ganz die Realteleologie, so zeigt sich hier dasjenige Moment Vischers, mit dem er das Kontingente und eigentlich Unsystematische in seine Ästhetik einführt. Trotzdem unterscheidet Vischer drei Arten des Zufalls: Zunächst (§ 31–32) treffen die Entstehungsbedingungen von individuellen Lebewesen unberechenbar zusammen, so daß alle Einzelwesen einer Gattung verschieden sind.35 Das führt zur „unendlichen Eigenheit des Individuums.“36 Individualität wird hier somit auf zufällige Entstehungsbedingungen wie Klima oder Geburtsjahr zurückgeführt; sie ist geradezu dadurch definiert. Die zweite Art von Zufälligkeit (§ 33–34) entsteht aus den „Wechselbeziehungen“ eines Lebewesens mit seiner natürlichen Umwelt und seinen ______________________
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Vgl. hierzu auch Ä1, S. 66 (§ 17). Vgl. Ä1, S. 68 (§ 17, Anm.). Vgl. Ä1, S. 95 (§ 32). Ä1, S. 95 (§ 32).
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Artgenossen. Vor allem die Haltung und den momentanen Zustand eines Tieres scheint Vischer hier betroffen zu sehen, also ob ein Tier liegt oder steht, wachsam oder müde ist. Obwohl nun diese Zufälligkeit Vischer zufolge der Idee widerspricht, ist sie doch „Gesetz im Schönen“.37 Kunst, die diese Art der Zufälligkeit nicht beachte, bringe nur einen sterilen, akademischen Idealismus, also „Totes“ hervor.38 Es gibt aber in der Ästhetik noch eine schwerwiegendere Form des Zufalls. Aus dem Beieinander von verschiedenen Gattungen an einem Ort und in einer Zeit entsteht nämlich noch eine Form der Zufälligkeit, die selbst die anderen beiden Arten der unentbehrlichen Zufälligkeit überlagere und störe (§ 40): Jede Gattung ist zwar, auf welcher Stufe des Ganzen sie stehen mag, vernünftig und in sich zweckmäßig, indem sie aber zugleich mit allen andern ihre Zwecke durchführt, so stößt sie mit den Zwecken anderer aus absoluter oder beziehungsweiser Bewußtlosigkeit ebenso leicht schlechtweg feindselig, d.h. so, daß daraus nicht ein Lebensreiz, sondern eine völlige Störung entsteht, zusammen, als sie mit ihnen unmittelbar oder mittelbar günstig zusammenwirkt.39
Die Ziele einer idealen vernünftigen Gattung müßten eigentlich koordiniert sein mit den Zielen anderer Gattungen auf der Stufenleiter. Indem die Individuen einer Gattung nun aber diese Ziele real verfolgen, kommt es zum zufälligen Zusammenstoß von Individuen. So entsteht die zufällige Beeinträchtigung oder gar Vernichtung des Lebewesens und damit das „sinnlose Übel als Gegensatz des Guten“.40 In der Anmerkung betont Vischer: Jede Gattung ist in sich und als Stufe des Ganzen vernünftig, aber dies ist ihr ewiges, außerzeitliches Sein als Idee. In ihrer Verwirklichung gerät sie in jenes Gedränge, worin neben diesem Stufensystem ein ganz anderes Verhältnis, ein Verhältnis a u ß e r d e r L i n i e und ein unvernünftiger Zusammenstoß entsteht.41
Vor dem Hintergrund des eben dargestellten Stufensystems der Natur ist diese Einsicht Vischers bemerkenswert. Die aufsteigende Linie ist also nicht das einzige Modell, nach dem Vischer die Natur konzipiert. Es gibt auch ein „Verhältnis a u ß e r d e r L i n i e “ , ja die Empirie zeigt eigentlich ausschließlich dieses Verhältnis, während die Stufenfolge in den Bereich des Nicht-Wirklichen verwiesen ist. Was wir beobachten, ist keine konsequente Verwirklichung des Stufenbaus, sondern nur ein unzweckmäßiges ______________________
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Ä1, S. 97 (§ 34). Vgl. Ä1, S. 97 (§ 34). Ä1, S. 116 (§ 40). Ä1, S. 116 (§ 40). Ä1, S. 117 (§ 40, Anm.).
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und unvernünftiges Verhältnis der Gattungen zueinander.42 Hier zeigt sich eine latent dualistische Naturkonzeption, die gerade das Ideale und Reale, Geist und Materie, nicht als Einheit begreift, sondern beide, durch die Kluft der Kontingenz getrennt, gegenüberstellt. So schenkt Vischer denn auch der Zweckwidrigkeit große Aufmerksamkeit und führt sie durch Beispiele vor Augen. Unzweckmäßigkeiten können zwischen Gattungen aller Stufen auftreten, aber das Wetter ist für Vischer „einer der schlimmsten Feinde des Schönen.“43 Ein Nachwinter zerstört im Frühling die gerade aufgekeimten Triebe der Pflanzen; ein tapferer Krieger stirbt, weil der Regen seine Waffen unbrauchbar gemacht hat: Dies sind Vischer zufolge Beispiele für das „sinnlose Übel“. 44 Vischers Zwiespalt zwischen idealer Stufenfolge und realer Zufälligkeit ist an der Konzeption von „zwei Linien“ ablesbar: Eine vernünftige, stufenförmige, die eben H e g e l s Logik begründet, und eine zweite, welche die erstere durchschneidet, die Linie des Zufalls nämlich, begründet im Zusammenstoßen der in Einen Raum und Eine Zeit fallenden tätigen Bewegung der verschiedenen Stufen.45
An Hegel kritisiert Vischer folglich, daß er den Zufall zu wenig berücksichtige.46 Man müsse die Notwendigkeit seines Daseins, aber auch die Notwendigkeit seiner Aufhebung begreifen. Der Zufall ist bei Vischer demnach alles, was die eigentlich vernünftige und zweckmäßige Welt stört. Dies kann ebenso ein harmloses und beiläufiges Ereignis sein wie ein schrecklicher Vorgang. Besonders im letzten Fall kann der Mensch die Frage, wozu dieses Ereignis stattgefunden hat, nicht beantworten. Es ist das „sinnlose Übel“, genauer: es ist nicht kompatibel mit seinem Anspruch an die Zweckmäßigkeit der Welt. Das Zweckwidrige in diesem alltagssprachlichen Sinn ist für Vischer der störende Zufall.
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Wie Vischer erklärt, daß die in sich und als Stufen des Systems zweckmäßigen bestimmten Ideen bei ihrer Verwirklichung plötzlich in Konflikt geraten, bleibt völlig offen. Wenn die Natur die sich selbst entfaltende Idee ist, müßte diese Verwirklichung eigentlich unproblematisch sein. Ä1, S. 118 (§ 40, Anm.). Vgl. Ä1, S. 118f. (§ 40, Anm.). Den eigentlichen Grund für diese Zusammenstöße sieht Vischer in der Bewußtlosigkeit der natürlichen Dinge [vgl. Ä1, S. 116 (§ 40)]. Das Anorganische (z.B. Wind, Regen) folge einfach den Naturgesetzen und wisse nicht, ob es mit Individuen einer anderen Gattung zusammenstoße. Aber auch der Mensch mache viele Dinge nur aus Versehen, ohne die Folgen zu wollen, also aus „beziehungsweiser Bewußtlosigkeit“. Ä1, S. 120 (§ 41, Anm.). Vgl. Ä1, S. 120f. (§ 41, Anm.).
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2.1.3 Die Begründung der Naturschönheit durch die innere Zweckmäßigkeit Damit die Möglichkeit gegeben ist, daß der Zufall im Schönen absorbiert wird, muß nach Vischer das wahre Verhältnis der Idee und ihrer konkreten Erscheinung in den Individuen erfaßt werden. Hierbei setzt sich Vischer zunächst von Friedrich Christian Wolffs Beschreibung der Natur nach dem Modell der artifiziellen Funktionalität ab. Vischers Zurückweisung von Wolffs Schönheits-Definition als sinnlich angeschauter Vollkommenheit läuft über die Ablehnung seines technomorphen Weltbildes, genauer: Er kritisiert die Trennung von göttlichem Begriff und konkreter Erscheinung, wie sie dem Handwerkermodell zugrunde liegt.47 Vischer kommt es ganz auf die Einheit von Begriff und Einzelwesen an, der Begriff soll dem Individuum immanent sein. Diese Einheit entwickelt Vischer aus der Schellingschen Konzeption der inneren Zweckmäßigkeit, greift aber zunächst auf Kant zurück, um die philosophiegeschichtlichen Zusammenhänge deutlich zu machen. Kant habe die Wolffsche Teleologie aus der Ästhetik verbannt, indem er zwischen begrifflosen ästhetischen Urteilen und Erkenntnisurteilen unterschieden habe.48 Er leiste aber noch mehr, weil er in der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ mit dem Konzept der inneren Zweckmäßigkeit die Einheit von Natur und Begriff gefunden habe. Lediglich die Schranken seines Systems hätten ihn daran gehindert, dies zu erkennen.49 Über Kant hinausgehend insistiert Vischer, daß es […] der im Objekt selbst tätige, bauende Verstand [ist; P.A.], der Demiurg, es ist „intuitiver Verstand, intellectus archetypus“, kurz es ist Geist in der Natur, Geist als Natur –: das Prinzip ist gefunden. Nun braucht das Subjekt, um d i e s e Einheit im Objekte zu empfinden, keinen Begriff jenes Zwecks, denn er ist ganz
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Vischer zufolge kann nur ein Werk vollkommen sein, das ein Hersteller mit Hilfe eines Begriffs planmäßig geschaffen hat. Genau so stelle sich Wolff auch das Verhältnis der Natur zu Gott vor. Hiermit seien die Naturdinge nicht „wahrhaft selbsttätig“, ja eigentlich sogar nur dem Begriff der Nützlichkeit untergeordnet: „W o l f f s Teleologie ist ganz äußerlich.“ [Ä1, S. 126 (§ 42).] Damit sei die Unterscheidung des Schönen vom bloß Zweckmäßigen nicht mehr möglich. Das Modell eines Handwerkers, der nach Begriffen durch zielstrebendes Verhalten artifizielle Produkte schafft, eignet sich nach Vischer also nicht, um die Natur zu beschreiben. Vgl. Ä1, S. 128 (§ 43). „Er selbst [Kant; P.A.] erkennt nicht, daß er in der inneren Zweckmäßigkeit […] die Idee erfaßt hat als die sich selbst hervorbringende Einheit des Allgemeinen und des sinnlichen Stoffes im Einzelnen, welche im organischen Leben als Wechselaufhebung des Mittels und Zwecks sich so durchführt, daß sie auf die Oberfläche des Ganzen heraus und ohne Begriff in die Anschauung tritt.“ [Ä1, S. 128 (§ 43).]
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Realteleologie und Kontingenz bei Friedrich Theodor Vischer
gegenwärtig in seinem Stoffe und braucht nicht von ihm gesondert zu werden, um in das Gefühl und die Anschauung zu treten.50
Bei Dingen mit innerer Zweckmäßigkeit liegt also eine Einheit aus Begriff und Natur vor. Kant allerdings gebe diese tiefe Erkenntnis gleich wieder Preis, indem er sie „nur für eine leitende subjektive Vorstellung erklärt“51, also für ein regulatives Prinzip, das immer unter dem Vorbehalt des ‚als ob‘ steht. Vischer wirft Kant deshalb vor, daß er sich ganz „auf die subjektive Seite“ wirft, weil er eine „objektive Bestimmung des Schönen gar nicht finden kann“.52 Kants Formel der ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘ liege „in Wahrheit die volle, aber sich selbst dunkle Ahnung der objektiven, inneren plastischen Zweckmäßigkeit“53 zugrunde. Schelling baue diese Ahnung zur Lehre aus. Er habe „zuerst in der absoluten Einheit des Idealen und Realen den Grund aller Möglichkeit des Schönen gefunden“.54 Er erkenne den Begriff nun als innere Zweckmäßigkeit. Vischer schließt sich hier Schellings Naturphilosophie ganz an, die als tätiges Prinzip in der Natur den Geist ausmacht. Also sei auch nach Schelling „S c h ö n h e i t […] n i c h t s A n d e r es a ls v o l l e s , m a n g e l l o s e s S e in .“55 Dieser Satz beweise den richtigen Aufbau der eigenen Ästhetik, wonach nicht die subjektive Phantasie am Anfang stehe, sondern „jene Einheit der Dinge […], durch welche die Phantasie selbst erst möglich ist.“56 Mit dem metaphysischen Prinzip einer Einheit des Idealen und Realen in der inneren Zweckmäßigkeit ist die „wahre Grundlage der Ableitung des Schönen“57 gefunden. Denn durch die Einheit der idealen Gattung (also einer bestimmten Idee) im Individuum ist auch die absolute Idee anwesend. Für Vischer liegt somit in der inneren Zweckmäßigkeit die Lösung eines wichtigen Problems. Hatte er doch schon in der Erzählung Ein Traum von 1830 gefragt: „Ist Geist in den Elementen der Natur?“58 Angesichts der inneren Zweckmäßigkeit gibt er nun die eben schon zitierte Antwort und stellt sich damit zunächst in die Tradition Schellings: ______________________
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Ä1, S. 129 (§ 43, Anm.). Ä1, S. 129 (§ 43). Ä1, S. 130 (§ 43, Anm.). Ä1, S. 130 (§ 43, Anm.). Ä1, S. 133 (§ 43, Anm.). Ä1, S. 134 (§ 43, Anm.). Ä1, S. 134 (§ 43, Anm.). Ä1, S. 132 (§ 44). Friedrich Theodor Vischer: Ein Traum. Mitgeteilt von Robert Scharff. In: Robert Vischer (Hg.): Briefwechsel zwischen Eduard Mörike und Friedrich Theodor Vischer. München 1926, S. 259–303. Hier S. 276.
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„kurz es ist Geist in der Natur, Geist als Natur –: das Prinzip ist gefunden.“ Willi Oelmüller kam dagegen zu dem Ergebnis, daß das Naturschöne in der Ästhetik nur psychologisch, also in der Phantasie des Subjekts, begründet werde.59 Hier übersah Oelmüller die Rolle der inneren Zweckmäßigkeit in Vischers Metaphysik, die als Begründung des organischen Naturschönen gedacht ist.60 Die Erklärung des Organischen läuft also bei Schelling und Vischer auf die Einheit von Geist und Natur, und damit auf die Einheit ihrer Wirkungsprinzipien, Zweckmäßigkeit und Kausalität, hinaus.61 Vischers Naturbild ist also zumindest seiner Intention nach teleologisch, das wirkende Prinzip wird als Geist gedacht, also als Instanz, die über unbewußte Intentionalität verfügt. Deshalb kann Vischer die Welt und ihre Einrichtung als ein „Werk der im Universum tätigen Vernunft“62 begreifen und diese mit der Materie identifizieren. Das Konzept der inneren Zweckmäßigkeit wurde hier aus zwei Gründen ausführlich behandelt: Es zeigt an einem entscheidenden Punkt die teleologische Konzeption von Vischers Naturästhetik und ist zugleich ein Beleg für seine Nähe zu Schelling. Vor allem aber wird Vischer später deutlich sehen, daß durch Darwins neuartige Erklärung der natürlichen Zweckmäßigkeit das eigene Naturbild ins Wanken gerät. 2.1.4 Erneuter Zufall, „Widerstreit“ und schlußendliche „Versöhnung“ Trotz des metaphysischen Postulats einer möglichen Einheit von Idee und Individuum stellt der Empiriker Vischer auch an Organismen den störenden Zufall fest. Seine Beispiele stammen aus dem Arsenal der Zweckwidrigkeiten, die gewöhnlich der Materialismus als Einwand gegen die Zweckmäßigkeit der Natur vorbrachte.63 ______________________
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Vgl. Oelmüller (1959): Vischer, S. 158f. Oelmüllers Aussage ist nur für die unorganische Natur uneingeschränkt zuzustimmen, weil hier das Subjekt der Natur alles „leihen“ muß. Zum Organismusbegriff im 19. Jahrhundert, der die verschiedenen identitätsphilosophischen Strömungen der Zeit unterstützt, zum Kampfbegriff gegen den Materialismus (z.B. bei Carl Gustav Carus) wird und schließlich zunehmend diffus wird und verflacht, vgl. Walter Gebhard: Die Erblast des 19. Jahrhunderts. Organismusdiskurs zwischen Goethes Morphologie und Nietzsches Lebensbegriff. In: Hartmut Eggert, Erhard Schütz, Peter Sprengel (Hg.): Faszination des Organischen. Konjunkturen einer Kategorie der Moderne. München 1995, S. 13–36. Ä1, S. 117 (§ 40, Anm.). Vgl. Ä1, S. 147 (§ 52). Ludwig Büchner führt beispielsweise „Mißgeburten“ als Argument gegen die Realteleologie an. Vgl. Büchner (1856): Kraft und Stoff, S. 98ff.
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Um das Paradoxon von empirisch feststellbaren Zweckwidrigkeiten in einer zweckmäßigen Welt aufzulösen, verzeitlicht Vischer das Problem: Der störende Zufall kann sich in der unendlichen Zeit und im unendlichen Raum ausgleichen und ergänzen.64 Vischers Beispiel stammt einmal mehr aus dem Bereich der Meteorologie: Hier tötet der Regen die Pflanzen, hundert Stunden entfernt ist er wohltätig und ersehnt: das tröstet über jenes Übel, aber es ist nicht ästhetisch, denn ein schönes Werk kann nicht so entfernte Landschaften zusammenfassen.65
Die Aufhebung des trübenden Zufalls ist real, aber nicht wahrnehmbar, also nicht ästhetisch. Nun muß Vischer zufolge das Schöne aber in einer begrenzten Gestalt erscheinen. Die Tatsache, daß es in der Unendlichkeit von Raum und Zeit existiert, reicht nicht aus. Es muß daher etwas geschehen, wodurch der „Schein einer Zusammenziehung dieses unendlichen Flusses auf einen Punkt erzeugt wird.“66 Wie wir später sehen werden, leistet die Phantasie diesen Akt der Zusammenziehung. Hinter dem Schein, den die Phantasie erzeugt, liegt für Vischer aber die Wahrheit der wirklichen Aufhebung des Zufalls, der „Harmonie der Idee mit der Wirklichkeit“.67 Dies betont Vischer ausdrücklich, ja, die Phantasie könne gar nicht verstanden werden, wenn nicht zuvor in der Metaphysik die Wahrheit hinter diesem Schein entwickelt worden sei. Doch der Zufall hebt sich nicht nur im Laufe der Zeit auf, er ist auch in der begrifflichen Systematik auszugleichen: Überwiegt das Zufällige an einem Individuum und droht das Gattungsgemäße zu negieren, dann kommt es zum Komischen. Ist dagegen die Idee übermächtig und dominiert das Individuum, so daß sie in ihm nicht vollständig erscheinen kann, dann entsteht das Erhabene. Das Komische und das Erhabene sind Erscheinungsformen der Diskrepanz von Idee und Wirklichkeit, also der Diskrepanz zwischen der Hegelschen Linie des teleologischen Stufenbaus und der zufälligen Wirklichkeit. Die beiden gegensätzlichen Arten des Schönen sind im „Widerstreit“ miteinander, gleichen sich aber schließlich wechselseitig aus, so daß sie am Ende zur ursprünglichen Einheit des einfach Schönen zurückkehren.68 Durch diese „Rückkehr“ der Ästhetik zum Anfang ist die Philosophie abgeschlossen und ein System erreicht.69 ______________________
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Die Annahme, daß sich die Zufälle in der unendlichen Zeit ausgleichen, ist freilich unwiderlegbar, da niemand den Überblick über die unendliche Zeit und den unendlichen Raum haben kann. Ä1, S. 149f. (§ 52, Anm.). Ä1, S. 150 (§ 53). Ä1, S. 157 (§ 56). Vischer ist mit seiner Definition des Komischen als eines umgekehrt Erhabenen Jean Paul verpflichtet. Vgl. Emrich (1959): Vischer, S. 141. „Ein System ist vollendet, wenn es in seinen Anfangspunkt zurückgeführt ist.“ (Friedrich Wilhelm Schelling: System des transzendentalen Idealismus. In: Schellings Werke. 13 Bde. Nach der
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Das Komische ist der Modus, in dem die verschiedenen Zufälligkeiten der Welt im Schönen zur Geltung kommen. So kann es nicht verwundern, daß die Theorie des Komischen ein Kernstück von Vischers Ästhetik ist. Damit das Komische entsteht, ist ein Zuschauer notwendig, der ein Ereignis als komisch empfindet. Er schreibt beispielsweise einem Stein, über den ein Dritter stolpert, eine böse Intention zu.70 Mit anderen Worten: Für das Komische ist Bewußtsein nötig, das der Zuschauer in das Ereignis einbringen muß. Dieser Akt der „Leihung“ erinnert an Feuerbachs Gedanken einer Projektion menschlicher Bewußtseinsinhalte in die Natur, auch wenn Vischer diesen Bezug nicht selbst herstellt. Der von Vischer so genannte „Akt der Leihung“ spielt auch in seiner Naturphilosophie eine Rolle und wird später sogar zum neuen Ausgangspunkt des Nachdenkens über Ästhetik. Vischer entwickelt den absoluten Humor, die höchste Stufe des Komischen, aus dem komischen Subjekt.71 Der Humorist erkennt in einer zufälligen Störung, von der er selbst betroffen ist, den „Brennpunkt des Widerspruchs, der durch das Weltganze geht“72, also den Widerspruch zwischen erhabener Idee und zufälliger Wirklichkeit, Geist und Natur, Subjekt und Objekt. Da sich in der Subjektivität das Weltganze zusammenfaßt, ist ihm jeder persönliche Zufall Ausdruck dieses „Weltwiderspruchs“. Dadurch bekommt der Humor eine metaphysische Dimension: „Der Humorist treibt immer Metaphysik.“73 Doch das Komische ist nur eine Seite des endgültigen Ausgleichs. Hinzunehmen muß man nach Vischer die Versöhnung, die durch das Erhabene zustande kommt. Da im Komischen die Idee verneint wird, im Erhabenen aber das zufällige Individuelle, so heben sich beide gegensätzlichen Asymmetrien gegenseitig auf und kehren zur Einheit des Schönen zurück, die jetzt als lebendige Einheit des objektiven Erhabenen, welches das Zufällige negiert, und des subjektiven Komischen, das die Idee negiert, zu verstehen ist.74 Als „Endergebnis“ stellt sich Vischer nun keine ______________________
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Originalausgabe in neuer Anordnung herausgegeben von Manfred Schröter. München 1927–1959, Bd. 3, S. 628. Band und Seitenangabe werden, wie üblich, nach der Ausgabe von Karl Friedrich August Schelling angegeben. Im folgenden wird diese Ausgabe mit der Sigle ‚SW‘ abgekürzt. Vgl. Ä1, S. 419–421 (§ 178). Dies im Unterschied zu Jean Paul, der von der Universalität des Komischen ausgeht. Vgl. Emrich (1959): Vischer, S. 146. Ä1, S. 489 (§ 210). Ä1, S. 491 (§ 211, Anm.). Max Schasler bezeichnet die Rückkehr des Schönen aus dem Widerstreit seiner Momente als „die schwächste Seite des ganzen Werkes“. [Schasler (1872): Kritische Geschichte der Ästhetik. Bd. 2, S. 1060.] Diese Kritik trug dazu bei, daß Vischer diesen Abschluß des Systems später aufgab.
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besondere schöne Gestalt vor; vielmehr kann ein Kunstwerk Schönes, Erhabenes und Komisches zugleich oder nacheinander darstellen. Die Einheit des Kunstwerks kommt durch „das Unsichtbare, was diese Formen zu einem Ganzen bindet“75, zustande.76 Vischer möchte gemäß seinem identitätsphilosophischen Standpunkt zeigen, daß schon die Wirklichkeit in ihren metaphysischen Bedingungen selbst versöhnt ist, daß die objektiven und subjektiven Begriffsmomente des Schönen sich zur Einheit des Absoluten, Subjektiv-Objektiven, aufheben. Kommt es nicht zu dieser Einheit, dann kann der Humor vom Schmerz über den Zufall nicht befreien, der Humor bleibt gebrochen, der Weltwiderspruch bestehen.77 Schon in der Ästhetik, so die Meinung von Berthold Emrich, sei die Versöhnung der Gegensätze nur ein „Spiel mit Begriffen, die an der einfachen Tatsache des Dualismus nichts ändern“.78 Trotz des latenten Dualismus hält Vischer in seiner Ästhetik sowohl in systematischer wie auch in historischer Hinsicht an einem Ausgleich der Gegensätze fest. Dies ist entscheidend, weil sonst weder das dialektische Prinzip aufgeht noch die Ästhetik zum Abschluß gebracht werden kann. Die Realteleologie, von der Vischer ausgeht, führt in ihrer begrifflichen Rekonstruktion zu einer Art Erzählteleologie in der Ästhetik. Auch im Text der Ästhetik wird Einzelnes in einen großen Zusammenhang eingegliedert, der sich stufenweise und dialektisch auf sein Ziel hin bewegt. Durch die resultierende Kohärenz erhält das Einzelne seine Notwendigkeit. Daß sich Vischer selbst an narrativen Mustern orientiert, zeigt seine anthropomorphisierende Begriffswahl: Das Schöne entzweit sich in das Erhabene und das Komische, beide liegen miteinander im „Streite“79, üben sich in „Versöhnung“80 und „kehren“ zur Einheit „zurück“: „so erlischt der Streit“.81 Daß Vischer aber selbst den Zugzwängen seines Systems unterliegt, zeigt die Tatsache, daß er angesichts der Unstimmigkeiten in seinem System mit Widerwillen an seiner Ästhetik arbeitete.82 Doch mußte die große Erzählung vom Schönen zum Ende geführt und abgeschlossen werden. ______________________
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Ä1, S. 529 (§ 231, Anm.). Allerdings weist Vischer kurz darauf hin, daß nur eine Reihe von Kunstwerken eines Künstlers oder eines Volkes zu dieser Ganzheit werden kann. Ein einzelnes Kunstwerk gehöre dagegen immer nur einer der Formen des Schönen an, sei also entweder erhaben oder komisch oder schön. Vgl. Ä1, S. 529, (§ 231, Anm.). Vgl. hierzu die Paragraphen über den gebrochenen Humor: Ä1, S. 503–507. (§ 218f.). Emrich (1959): Vischer, S. 147. Ä1, S. 227 (§ 82). Ä1, S. 523 (§ 228) u.ö. Ä1, S. 528 (§ 230). Vgl. Fritz Schlawe: Friedrich Theodor Vischer. Stuttgart 1959, S. 198.
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Für die Dichtung und ihren Operationsmodus der Idealisierung hat das Festhalten an der Realteleologie und ihre Rekonstruktion durch das idealistische System ebenfalls größte Bedeutung: Solange die Welt realteleologisch strukturiert ist, kann nicht nur der Ästhetiker die Welt in einem teleologischen System abbilden, er kann auch dem Dichter die Rolle zusprechen, durch seine Teleologie des Erzählens die Welt in ihrem Wesen zu erkennen. Er blickt durch die erscheinende Kontingenz der Welt hindurch auf ihr realteleologisches Wesen und wiederholt dieses in der Erzählteleologie. Dies wird sich ändern, wenn der Zufall eine Letztkategorie der Wirklichkeitsbeschreibung wird. Im folgenden wenden wir uns dem Naturschönen zu und skizzieren die Leistung und Funktion von Dichtung in Vischers Gesamtentwurf. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich die Veränderungen in Vischers späteren ästhetischen Schriften, die unter anderem durch die DarwinRezeption angestoßen wurden, verstehen. 2.2 Das Naturschöne und seine Auflösung Im Anschluß an die Metaphysik behandelt Vischer das objektive Naturschöne und die subjektive Phantasie. Vereinigen sich beide, so entsteht Kunst als die höchste Form des Schönen. 83 Das Naturschöne ist ein Herzstück von Vischers Ästhetik, es ist nicht nur für den Gesamtaufbau notwendig, sondern zugleich der Ausdruck seines Interesses an der Empirie. Ein Hauptanliegen Vischers ist es, mit der ausführlichen Behandlung des Naturschönen die Romantik und den Idealismus abzuwehren, die den Künstler „auf nichts stellen“ und alles aus der Phantasie entwickeln. Schon in der Vorrede zur ersten Auflage des ersten Bandes der Ästhetik verteidigt Vischer die Einführung des Naturschönen. Nur so könne er dem Künstler „eine Welt, darin er sich umsehe“84, geben. Bereits der Biograph Fritz Schlawe urteilte: „Der Grund des Einbaus dieser Abhandlung über die Naturschönheit ist also in der realistischen Tendenz Vischers zu suchen […].“85 ______________________
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Vgl. KG4, S. 181 (Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik). Ä1, Vorrede S. 4. Im zweiten Band der Ästhetik gibt Vischer dann die Gründe an, warum er das Naturschöne als eigenständige Form des Schönen noch vor der Phantasie behandelt habe: „Das Hinausschieben [des Subjekts hinter das Naturschöne; P.A.] war, um es hier, am eigentlichen Orte, noch einmal streng auszusprechen, schlechtweg eine wissenschaftliche Notwendigkeit. Ehe ich das Subjekt einführe, muß es seinen Boden, Stoff, Ausgangspunkt haben, ich darf es nicht in einen leeren Raum stellen, daß es aus dem Blauen stofflose Bilder spinne.“ [Ä2, S. 373 (§ 383, Anm.).] Schlawe (1959): Vischer, S. 204.
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Realteleologie und Kontingenz bei Friedrich Theodor Vischer
Nicht zu übersehen ist auch die kritische Wendung gegen Hegel: Vischer hatte bereits im frühen Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik an Hegel kritisiert, daß das Naturschöne in dessen Ästhetik „viel zu kurz“86 komme. Er werde dagegen beweisen, daß „wesentliche Sphären des Naturschönen“87 von Hegel übergangen worden seien. Bei der Begründung des Naturschönen richtet sich Vischer abermals gegen das technomorphe Weltbild. Dagegen setzt er den Gedanken der inneren Zweckmäßigkeit des Organischen, der zwar zum menschlichen Willen ‚hinauf‘ verweise, aber trotz der Zwecktätigkeit weder über Bewußtsein noch über Denken verfüge.88 Der nächste Paragraph führt sogleich die Folgen eines fehlenden technomorphen Weltbildes vor Augen.89 Weil Schönheit kein bewußt verfolgtes Ziel ist, wird sie zufällig. Es gibt keine Instanz, die Naturdinge so koordiniert, daß sie in schönen und harmonischen Verhältnissen zueinander stehen. Aber auch der einzelne Organismus ist, trotz innerer Zweckmäßigkeit, nicht vollkommen schön, weil diese unbewußte Zwecktätigkeit Schönheit nicht zum Ziel hat, so daß auch hier der störende Zufall ansetzen kann. Erst der Akt der Zusammenziehung, den die Phantasie eines Subjekts leistet, kann die in der Natur gefährdete Schönheit stabilisieren und ganz herstellen. Man kann allerdings, so Vischer, die Möglichkeit nicht ausschließen, daß der störende Zufall einmal „zufällig“ ausbleibt. Dann sei die Natur auch ohne Hilfe des Subjekts schön. Die Schönheit der Natur ist somit auf einen zufällig ausbleibenden störenden Zufall angewiesen. Wegen dieser minimalen Chance muß das Naturschöne in die Ästhetik als eigenständiger Hauptabschnitt aufgenommen werden. Die Schönheit in der Natur ist folglich für Vischer nichts Notwendiges. Sie basiert vielmehr auf dem Zufall: So ist das Naturschöne dasjenige, was von Kräften hervorgebracht wird, welche die Schönheit als solche nicht wollen und bezwecken, es ist die zufällige Schönheit, welcher kein sie hervorbringender Wille, welche vielmehr selbst einem solchen vorausgesetzt ist […].90
Das sichtbare Ergebnis dieser in bezug auf die Schönheit ziellosen Kräfte ist ein heilloses Durcheinander in der Natur. Einheit und Begrenzung der Idee, beides für das Schöne erforderlich, gibt es zunächst nicht. Ganzhei______________________
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KG4, S. 160 (Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik). KG4, S. 160 (Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik). Es sei das Geheimnis der Natur, „daß sie das, wozu nach unserer Vorstellung Wille gehört, ohne Willen, also, da Bewußtsein und Denken im Willen miteinbegriffen sind, ohne Bewußtsein und Denken tut […].“ [Ä2, S. 7 (§ 233, Anm.).] Vgl. Ä2, S. 12f. (§ 234). Ä2, S. 13 (§ 234, Anm.).
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ten bilden sich in der Natur nur zufällig und ausnahmsweise, der Zufall wird zum Künstler: „Der Zufall scheint der erste komponierende Künstler […].“91 Der Unterschied zu Blanckenburg ist hier besonders gut faßbar: In dessen technomorphem Weltbild bestand die Natur aus solchen von Gott zweckmäßig eingerichteten Ganzheiten, die der Künstler nur noch übersichtlich in ein Werk überführen mußte. Bei Vischer dagegen kommen Ganzheiten in der Natur nur zufällig zustande. Erst im Kunstwerk gewinnen die dargestellten Elemente durch den Künstler Notwendigkeit. Trotzdem folgt auf den nächsten 300 Seiten der Ästhetik ein ausführlicher Gang durch die Natur nach dem teleologischen Stufenmodell Schellings. ‚Natur‘ ist dabei für Vischer alles außer bewußt durch den Menschen produzierte Kunst.92 Die genaue Ausformulierung des Naturschönen muß uns hier nicht weiter beschäftigen. Es sei nur ein Punkt herausgegriffen, der auf ein zentrales Problem in Vischers Ästhetik verweist: Schönheit kommt durch einen Akt des Subjekts, nämlich durch „Leihung“, zustande. Der Vorgang der Projektion von Bewußtseinsinhalten auf Objekte spielte schon in der Theorie des Komischen eine Rolle; auch in die Naturästhetik führt Vischer dieses Feuerbachsche Konzept ein: Je tiefer die Natur auf der Stufenleiter steht, desto stärker muß nach Vischer der Betrachter dem Naturobjekt die Schönheit „leihen“ oder „unterschieben“. Hiermit ist das Subjekt wieder im Spiel, trotz aller Beteuerung der objektiven Naturschönheit. Die anorganische Natur hat für Vischer streng genommen keinen Platz in der Ästhetik. Nur wenn man ihr menschliche Eigenschaften zuschreibt, wird sie für die Ästhetik interessant: die Elemente werden vorgestellt, als wüßten sie um das außer ihnen bereits vorhandene organische und menschliche Leben und erfreuten sich daran, es zu nähren, sich ihm zum Genusse zu geben, oder es neidisch zu zerstören. Allein die Zurückverlegung des empfindenden und selbstbewußten Lebens hinter sich in die blinde Natur ist hier dieselbe, nur daß der Akt unvermerkt den bestimmten Widerspruch in sich aufnimmt, das höhere Leben da zu suchen, wo es noch nicht ist, und doch zugleich es da zu wissen, wo es ist. – Die vorchristlichen Religionen vollzogen diese ganze Unterschiebung förmlich und machten die Erscheinungen der unorganischen Natur zu Göttern, die neuere Bildung vollzieht dieselbe unbestimmt in ahnender, bloß ästhetischer Weise; denn wo sie bestimmt denkt, hat natürlich für sie die Unterschiebung ein Ende.93 ______________________
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93
Ä2, S. 25 (§ 238, Anm.). Hier setzt sich Vischer ein weiteres Mal von Hegel ab, der unter dem Naturschönen nur die bewußtlose Natur faßte, so daß Hegels Naturbegriff sich über den Gegensatz zum Geist konstituiert. Hier habe Hegel „einen wirklichen Fehler gemacht“ [KG4, S. 169 (Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik)]. Ä2, S. 31 (§ 240, Anm.).
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Realteleologie und Kontingenz bei Friedrich Theodor Vischer
Der von Vischer beschriebene Akt der Leihung ist gerade für seine Ästhetik des Naturschönen ein nur schwer zu integrierendes Element. Vischer nimmt an, daß er nur für die unorganische Natur in vollem Umfang notwendig ist. Sobald sich die Natur zum Organismus erhoben habe, sei Schönheit in der Natur durch ihre innere Zweckmäßigkeit potentiell wahrhaft vorhanden. Für die vegetabile Natur sei die Leihung nur noch in geringerem Maße notwendig, beim sich selbst bewußten Menschen schließlich sei sie gar nicht mehr nötig, da er selbst beseelt sei, so daß man ihm keine Seele leihen müsse. Das Konzept der Leihung, eigentlich ein Fremdkörper in Vischers Naturästhetik, wird sich als das zukunftsweisende Element der Ästhetik erweisen. Ohne daß Vischer den Namen Feuerbach erwähnt, ist es naheliegend, hier eine Parallele zu sehen. Vischers Leihung ist eigentlich nichts anderes als Feuerbachs Projektion, also eine Hypostasierung94 des menschlichen Gemüts, seiner Wünsche und seines Wesens. Die Leihung wird in dem Maße wichtig werden, wie die Objektivität der Naturschönheit nicht mehr aufrecht erhalten werden kann und die Realteleologie weiter an Glaubwürdigkeit verliert. Deutlich wird dies in Vischers Kritik meiner Ästhetik werden. Das Naturschöne entwickelte Vischer unter der Voraussetzung, daß der störende Zufall auch ausbleiben könne. Diese Voraussetzung wird zu Beginn des Abschnitts über die Phantasie hinterfragt. Das Schöne stehe „in einem so unsteten Verhältnisse zu den Zwecken der geschichtlichen Bewegung“95 und die Gunst des ausbleibenden störenden Zufalls sei ebenfalls äußerst selten. Das wiederum habe seinen Grund darin, „daß alles Naturschöne als solches nicht g e w o l l t ist, sondern sich nur mitergibt, während die allgemeinen Lebenszwecke verfolgt werden.“96 Die „Auflösung des Naturschönen“97 durch genaue Beobachtung („rein empirisch“98) ist also die erste Aufgabe im Abschnitt über die Phantasie. Dies geschieht beispielsweise dadurch, daß Vischer anführt, daß Feindschaft in der Natur herrsche („Jedes Lebende hat unzählige ______________________
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Zur Hypostasierung als mythischer Denkform im Werk Gustav Meyrinks vgl. Jan Christoph Meister: Hypostasierung. Die Logik mythischen Denkens im Werk Gustav Meyrinks nach 1907. Eine Studie zur erkenntnistheoretischen Problematik eines phantastischen Oeuvres. Frankfurt am Main, Bern, New York 1987. Vgl. insbesondere auch die Ausführungen über Kant, Hans Vaihinger und Ernst Cassirer (ebd. S. 115–134). Vaihinger verfaßte seine erst 1911 veröffentlichte Philosophie des Als Ob in den Jahren 1876–1878, also in der Zeit, in der Vischer sich anschickte, sein ganz ähnliches Konzept der „Leihung“ im Roman Auch Einer umzusetzen. Ä2, S. 356 (§ 379). Ä2, S. 357 (§ 379). Ä2, S. 358 (§ 379, Anm.) und S. 362 (§ 380, Anm.). Ä2, S. 362 (§ 380, Anm.).
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Feinde“99). Landschaften wie auch einzelne Naturobjekte seien nur ausnahmsweise und zufällig schön, zumindest wenn man genauer hinsehe: „Glücklicherweise ist unser Auge kein Mikroskop, schon das gemeine Sehen idealisiert […].“100 Im nächsten Paragraphen nimmt Vischer eine Beweislastumkehr vor: Nicht er müsse beweisen, daß der Zufall in der Natur überall herrsche, sondern das Gegenteil wäre zu zeigen, nämlich ob sich irgend etwas den „Störungen, Bedürftigkeiten, Verletzungen, all der Not und Abhängigkeit des Lebens entziehen könne.“101 Die Wahrheit sei, daß „der störende Zufall notwendig überall herrscht.“102 Damit ist aber die Voraussetzung des Naturschönen, nämlich daß der störende Zufall auch einmal ausbleiben könne, haltlos geworden. Das Naturschöne ist aufgelöst, für die Empirie unerreichbar. Dies hat Konsequenzen für die Philosophie der Kunst. 2.3 Die Erkenntnisfunktion der Dichtung 2.3.1 Phantasie und Kunst Die Wirklichkeit ist Vischer zufolge zwar eine zweckmäßige Einheit, doch ist diese Ganzheit für den Menschen nicht wahrnehmbar, weil sie sich nur im Laufe der unendlichen Zeit realisiert. Gleichwohl konnte der Metaphysiker Vischer zeigen, daß die Welt schon in ihren allgemein-begrifflichen Momenten ein System bildet. Die Phantasie als eine natürlich-produktive Kraft des Menschen hat nun die Aufgabe, die kontingent erscheinende Wirklichkeit so zu formen, daß ein Kunstwerk entsteht. In Vischers idealistischer Terminologie: Durchdringt die subjektive Phantasie das objektive Naturschöne, so kommt es zur Kunst als der subjektiv-objektiven Wirklichkeit des Schönen. Das Kunstwerk ist einerseits vom störenden Zufall weitgehend gereinigt, läßt andererseits aber dem harmlosen Zufall einen Platz, so daß es natürlich wirkt. Die fortschreitende Verarbeitung des Zufalls, also seine Tilgung oder Bewahrung, hat mit dem Menschen im Aufbau der Welt die höchste Stufe erreicht. Dabei ist die teilweise bewußte Zwecktätigkeit der menschlichen Phantasie nichts grundlegend Verschiedenes von der unbewußten Zwecktätigkeit im natürlichen Organismus: Beides ist im Kern derselbe subjektive Geist, der für die Eliminierung oder Einbindung ______________________
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Ä2, S. 359 (§ 379, Anm.). Ä2, S. 363 (§ 380, Anm.). Ä2, S. 362 (§ 380, Anm.). Ä2, S. 362 (§ 380, Anm.).
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Realteleologie und Kontingenz bei Friedrich Theodor Vischer
des Zufalls sorgt. Damit ist die künstlerische Produktion die Wiederkehr der natürlichen Produktivität, der natura naturans, nur eben auf höherer, bewußter Stufe. So heißt es in einem undatierten Aphorismus: Was im Menschen Bilder der Dinge schafft, im Traum und in der Kunst, ist dem ähnlich, ja muß, in anderer Form, dasselbe sein, was in der Natur die Originale dieser Bilder schafft. In der Natur muß etwas wirken, was Phantasie ist, und in der Phantasie die Natur; diese wiederholt hier im Bilde das, was sie wirklich geschaffen; sie vergeistigt damit ihr Werk und schützt es vor der Laune des Zufalls, erhebt es zum Idealbild […].“103
Die Identität der schöpferischen Kräfte in der Natur und im Menschen geht wohl auf die Vischer bekannte Akademierede Schellings von 1807 zurück. Dort formulierte der Idealist, daß der „Geist der Natur […] nur scheinbar der Seele entgegengesetzt“104 sei. Die produktiven Kräfte der lebendigen Natur und des Künstlers stehen in einem Verwandtschaftsverhältnis und sind in Schellings Identitätsphilosophie im metaphysischen Prinzip des Absoluten vereint. Großen Wert legt Vischer auf den Umwandlungsvorgang von einer kausal-kontingent erscheinenden Wirklichkeit in die Kunst. Er unterscheidet verschiedene Stufen des Schaffensprozesses, wobei er zwar das bewußt-rationale Moment in den Vordergrund rückt, gleichwohl aber auch eine unbewußte Komponente annimmt. In der Konzeption des Schaffensprozesses als eines bewußt-unbewußten Vorgangs folgt Vischer ebenfalls Schellings Akademierede. Die Phantasie formt das zufällig aufgefaßte Einzelwesen so um, daß das Störende ausgeschlossen und das seiner Idee Gemäße betont wird. Durch diesen „Umwandlungsprozeß“105 korrigiert das Subjekt aktiv das Naturschöne mit dem Hinblick auf ein „Urbild“. Das Subjekt wird zum „Schöpfer des Schönen“106, wobei der Realist Vischer gleich betont, daß man nicht in „die Willkür eines objektlosen Tuns geraten“107 dürfe. Nach der Begeisterung des Subjekts angesichts des Naturschönen, die bereits den Anfang einer umschaffenden „Formtätigkeit“108 in sich enthält, kommt im „Akt der Konzentrierung“109 die bewußte und intentionale Komponente ins Spiel. Es handelt sich um die bereits erwähnte „Zusammenziehung“, die die subjektive Phantasie leisten muß und die mit ______________________
103 Friedrich Theodor Vischer: Aphorismen. In: KG4, S. 535–543. Hier S. 535. 104 Friedrich Wilhelm Schelling: Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur. In: SW 7, S. 289–329. Hier S. 311. 105 Ä2, S. 369 (§ 381, Anm.). 106 Ä2, S. 370 (§ 382). 107 Ä2, S. 370 (§ 381, Anm.). 108 Ä2, S. 411 (§ 395). 109 Ä2, S. 412 (§ 396).
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dem subjektiv-schöpferischen Prinzip im Organismus korrespondiert. Hierbei wird das innere „Bilder-Chaos“110, das die Begeisterung hinterläßt, gestaltet. Schließlich erscheint die reine Schönheit als inneres Bild, wobei die Natur für die Lebendigkeit des Schönen, der Geist für die Befreiung vom störenden Zufall verantwortlich ist.111 Jetzt muß das innere Bild des Schönen noch in die Realität umgesetzt werden. Dann ist das Kunstschöne als die subjektiv-objektive Wirklichkeit des Schönen bestimmt. Die Vorarbeit zur Umsetzung ist die Komposition. Zur Überführung des Phantasiebildes in ein Objekt, das als Material vorliegt, braucht der Künstler Intentionalität. Seine Aufgabe ist es, die „organische Gliederung des Bildes zu einem Ganzen“112 in der Kompositionsphase zu perfektionieren. Dazu müssen die Bestandteile eines Werks erneut getrennt und das Isolierte wieder verbunden werden.113 Die hinreichende Verbindung von Teilen eines Kunstwerks unter dem Gesichtspunkt der Kausalität nennt Vischer „Motivierung“.114 Denselben Begriff bezieht er aber mitunter auch auf die Wirklichkeit. Nun ist es bedeutsam zu sehen, daß Vischer die Ursachenart in der erscheinenden Wirklichkeit von derjenigen in der Kunst scharf trennt. „In der Wirklichkeit nun ist jede Erscheinung unendlich motiviert, d.h. sie steht in einem Kausalnexus, der auf eine Reihe ohne Ende zurückführt.“115 In der Kunst muß dagegen durch die Phantasietätigkeit der „Zusammenziehung“ zweierlei geschehen.116 Die Kausalketten müssen verkürzt werden und „die Zahl der unendlichen Fäden muß sich in wenige und diese rasch in Einen zusammenfassen.“117 Daß diese Tätigkeit der Lenkung und schlußendlichen Zusammenfassung vom Künstler auszugehen habe, also nicht in der vorfindbaren Wirklichkeit gegeben ist, ist für Vischer eine Selbstverständlichkeit. ______________________
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Ä2, S. 413 (§ 396, Anm.). Vgl. Ä2, § 398. Ä3, S. 23 (§ 494). Vgl. Ä3, § 498. Vgl. Ä3, S. 44 (§ 499, Anm.). Vischer spricht hier noch ganz allgemein von Kunst, also nicht nur von Literatur. Diese scheint er aber, wie seine Beispiele zeigen, besonders im Auge zu haben. 115 Ä3, S. 46 (§ 499, Anm.). 116 Vischer betont, daß in der einen Protagonisten umgebenden Wirklichkeit nicht das Strukturmuster eines organischen Körpers vorliege, das durch seine immanente Teleologie eine zweckmäßige Einheit sei. Also müsse sich der Künstler überlegen, wie weit er die Kausalkette zurückverfolgen wolle. Vgl. Ä3, S. 45 (§ 499, Anm.). 117 Ä3, S. 47 (§ 499, Anm.).
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Um den Unterschied der Ursachenarten von Literatur und Wirklichkeit zu greifen, spricht er von der „künstlerische[n]“ und der „tatsächlichen Motivierung des Gegenstands in der Wirklichkeit“.118 Sorgt die erste für eine „organische Gliederung“ des Kunstwerks,119 die durch die „bindende und scheidende“ Tätigkeit der Phantasie zustande kommt, so laufen die Kausalketten in der Wirklichkeit ins Unendliche.120 Ein Blick auf Blanckenburgs Versuch macht den Unterschied deutlich: Blanckenburg verwendete ebenfalls die Metapher der Fäden, doch für ihn hatten die Kausalfäden auch in der Wirklichkeit einen Anfang und ein Ende und waren durch den Schöpfer geordnet. Deshalb konnte er den Dichtern ins Stammbuch schreiben: „verfahret in der Verbindung, der Anordnung eurer Werke so, wie die Natur in der Hervorbringung der ihrigen verfährt.“ (VR, S. 312f.) Die Folge seines technomorphen Weltbildes war die Kongruenz von Real- und Erzählteleologie. Und noch Vischers Gewährsmann Schelling betonte die strukturelle Kongruenz von Kunst und Natur, diesmal auf der Grundlage des organologischen Weltbilds: „Der ist noch sehr weit zurück, dem die Kunst nicht als ein geschlossenes, organisches und ebenso in allen seinen Theilen nothwendiges Ganzes erschienen ist, als es die Natur ist.“121 Diese Auffassung war die Konsequenz seiner Identitätsphilosophie, die mit Geist und Natur auch die jeweiligen Prinzipien Teleologie und Mechanismus vereinigte. Die Unterschiede zwischen Natur und Kunst sah Schelling wesentlich darin, daß das Kunstwerk die Synthese einer vorhergehenden Trennung ist und die produzierende Tätigkeit mit Bewußtsein beginnt. Die natura naturans schafft dagegen unbewußt zweckmäßige Werke.122 ______________________
118 Ä3, S. 48 (§ 499, Anm.). 119 Vgl. Ä2, S. 430 (§ 399). 120 Vischer macht sich auch Gedanken über die Motivierung von Ereignissen innerhalb der erzählten Welt. Hierzu könne man nichts Allgemeines sagen, weil die unterschiedlichen Epochen der Phantasie jeweils unterschiedlich motivierten. Insbesondere unterscheide sich die moderne Phantasie von der morgenländischen, griechischen und mittelalterlichen. Jene vergangenen Epochen faßten eine Kette von Ereignissen in einer Gottheit zusammen. Von dieser „im mythischen Sinne vereinfachten Motivierung“ [Ä3, S. 47 (§ 499, Anm.)] unterscheide sich die moderne. An dieser Stelle macht sich das historische Bewußtsein Vischers deutlich bemerkbar. Für die älteren Formen der Literatur läßt er die mythische Motivierung, also das, was wir ‚erzählte Teleologie‘ nannten, gelten. Eine besondere „Weltanschauung“ generiert auch in der Literatur die entsprechende Art der Motivierung. 121 Friedrich Wilhelm Schelling: Philosophie der Kunst. In: SW 5, S. 357. 122 Vgl. Hans Jörg Sandkühler: F.W.J. Schelling. Stuttgart, Weimar 1998, S. 113. Zu Schellings Theorie der künstlerischen Produktion vgl. Axel Gellhaus: Ekstasis. Schellings Theorie der künstlerischen Produktion. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 2 (1992), 3. Heft, S. 499–525. Zum Verhältnis des künstlerischen und des natürlichen Produktionsprozesses vgl. bes. S. 506f.
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Bei Vischer hingegen ist die erscheinende Wirklichkeit durch unendliche Kausalität gekennzeichnet, die Beschreibung des literarischen Kunstwerks dagegen hat sich in dieser Hinsicht seit Blanckenburg nicht verändert. Es ist nach wie vor durch die Erzählteleologie geprägt, steht jedoch, anders als bei Blanckenburg und Schelling, in einem Differenzverhältnis zur kausal-kontingent erscheinenden Wirklichkeit. Deshalb führt er den Übersetzungsprozeß von Wirklichkeit in Kunst derart breit aus. Doch ist die Differenz von Erzählteleologie und kontingenter Wirklichkeit, wie sich zeigen wird, nur vorläufig. Vischer schließt sich mit seiner Betonung des Umwandlungsprozesses von Wirklichkeit in Literatur an die Ästhetik Hegels an und befindet sich darüber hinaus zum großen Teil im Einklang mit der sich herausbildenden Literaturprogrammatik des Realismus.123 Hegel hatte eine prosaische von einer poetischen Bewußtseinssphäre unterschieden, die er als historische Erscheinungsformen des Bewußtseins verstanden wissen wollte. In der prosaischen Bewußtseinssphäre überwiegt das verständige Denken und das Befragen der Dinge auf ihre Ursachen und Zusammenhänge. Wenn, wie in der Moderne, das prosaische Bewußtsein dominiert, „so muß die Poesie das Geschäft einer durchgängigen Umschmelzung und Umprägung übernehmen“124, wobei der Ausschluß alles Zufälligen und Gleichgültigen erreicht wird. Das Zufällige müsse durch Elemente ersetzt werden, durch welche die innere Substanz der Sache klar herausscheinen kann, so daß dieselbe in dieser umgewandelten Außengestalt so sehr ihr gemäßes Dasein findet, daß sich nun erst das an und für sich Vernünftige in seiner ihm an und für sich entsprechenden Wirklichkeit entwickelt und offenbar macht.125
Vischer verzichtet allerdings – zumindest teilweise – auf die Historisierung der Bewußtseinssphären durch Hegel. Über Hegel hinausgehend und im Rückgriff auf Schellings Akademierede findet Vischer aber auch einen innovativen Weg, das Zufällige und Störende in der Kunst, besonders in der Literatur, zur Geltung kommen zu lassen. Dies gelingt ihm durch eine Differenzierung des Begriffes der Idealisierung, der wie der Verklärungs-Begriff „systemlogisch gesehen die Aufgabe der (kategorialen) Distanzierung der Literatur von der außerliterarischen Realität“126 hat. Vischer unterscheidet nämlich zwischen direkter und indirekter Idealisierung. ______________________
123 Vgl. die wegweisende Studie von Ulf Eisele: Realismus und Ideologie. Zur Kritik der literarischen Theorie nach 1848 am Beispiel des „Deutschen Museums“. Stuttgart 1976. 124 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. 20 Bde. Frankfurt am Main 1986. Hier Bd. 15, S. 244. 125 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. 20 Bde. Frankfurt am Main 1986. Hier Bd. 15, S. 267. 126 Eisele (1976): Realismus, S. 65.
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2.3.2 Direkte und indirekte Idealisierung Im Fall der direkten Idealisierung müssen alle in das Kunstwerk aufgenommenen Elemente selbst schön sein. Schönheit entsteht hier primär durch Selektion. Vischers Hauptbeispiel für das Prinzip der direkten Idealisierung ist die Bildhauerei. Sie hat nur sehr eingeschränkt die Möglichkeit, Charakteristisches und Zufälliges zu integrieren. Dagegen ist die Literatur auf „das Prinzip der i n d ir e kt e n I d e a l i s i e r u n g “127 angewiesen. Hier können nicht nur die beiden harmloseren Arten des Zufalls in der Kunst aufgehoben werden (im Sinn von conservare), sondern auch Häßliches, Zufälliges und Zweckwidriges, womit der störende Zufall des § 40 Einlaß in das Kunstwerk findet.128 Vischer konnte sich für eine bedingte Zulassung des CharakteristischZufälligen in der Kunst auf Schelling berufen. Dieser betonte in seiner Akademierede den Wert des Charakteristischen für das Schöne und wies auch bereits knapp auf Gattungsunterschiede hinsichtlich der Aufnahme des Charakteristischen hin: Die Plastik sei kaum fähig, das Charakteristische wiederzugeben, in der Malerei und der Dichtung sei es aber zugelassen. Hier scheint die Wurzel für Vischers Prinzip der „indirekten Idealisierung“ zu liegen, das ja dieselben Gattungsunterschiede aufweist.129 Von Schelling abweichend ist allerdings die Art und Weise, wie der Zufall in der Dichtung zur Geltung kommt. Er muß bei Vischer nämlich in das Komische verwandelt werden, so daß der Zufall zugleich bewahrt und, indem der Leser darüber lacht, entschärft wird. Das Schöne entspringt im Fall der indirekten Idealisierung aus der „Gesamtwirkung“130 des Kunstwerks. Nicht jede der aufgenommenen Gestalten muß für sich ideal schön sein, sondern ist durch minder schöne, also individuelle und charakteristische Nebengestalten abgestuft. Da der Zeitverlauf in der Poesie eine wichtige Rolle spielt, kann aus dem zeitlichen Hintereinander der individuellen Gestalten das Schöne als „Gesamtwirkung“ entstehen.131 ______________________
127 Ä6, S. 39 (§ 844). 128 Vgl. Ä6, S. 35 (§ 843). 129 Vgl. Ä1, S. 115 (§ 39 Anm.). Ferner Friedrich Wilhelm Schelling: Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur. In: SW 7, S. 289–329. Hier insbesondere S. 305–309. Vischer führt die indirekte Idealisierung im Paragraphen über Malerei ein und macht dort das Kolorit – im Gegensatz zur Zeichnung – für die indirekte Idealisierung verantwortlich. Vischer denkt hier an die weichen Farbübergänge der Ton-in-Ton-Malerei, die einzelne unvollkommene Formen in einen Gesamtzusammenhang aufzulösen vermögen. Vgl. Ä4, S. 275f (§ 674). Zur Kritik in Beziehung auf Rembrandt vgl. Erich Heyfelder: Klassicismus und Naturalismus bei Fr. Th. Vischer. Berlin 1901, S. 23f. Allgemein zum Prinzip der „indirekten Idealisierung“, allerdings ohne Hinweis auf Schelling, vgl. Widhammer (1972): Realismus, S. 183f. 130 Ä6, S. 40 (§ 844, Anm.). 131 Vgl. Ä6, S. 40 (§ 844, Anm.).
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Schon in der Metaphysik wurde das Paradoxon des Zufalls in einer zweckmäßigen Welt dadurch aufgelöst, daß es in die Zeit verlegt wurde, in der sich der Zufall ausgleichen sollte. Etwas strukturell Homologes hat Vischer mit dem Prinzip der indirekten Idealisierung im Blick: Auch hier, im organischen Erzähltext, soll das Häßliche, Zweckwidrige und Zufällige einen Platz bekommen, aber durch die Einbindung in Erzählzusammenhänge, die natürlich in der Zeit stattfinden, aufgelöst werden. Das Konzept der indirekten Idealisierung ist eine Folge der Temporalisierung des Zufall-Paradoxons in der Metaphysik. Vischer hebt die Ästhetik durch das Konzept der indirekten Idealisierung auf das Niveau der Hegelschen Geschichtsphilosophie. Die geforderte „Zusammenziehung“ sorgt dafür, daß die funktionale Einheit nicht, wie in der Realität, unanschaulich wird, sondern ästhetisch, also wahrnehmbar wird. Die von Hegel normativ eingeforderte ausschließliche „Umschmelzung und Umprägung“ der Wirklichkeit ist somit durchlässig für das Kontingente geworden. Erst im Erzähltext soll es durch die Erzählteleologie funktionalisiert werden.132 In der Dichtung gibt es aber neben der indirekten Idealisierung auch die direkte. Die verschiedenen Idealisierungen bringen gegensätzliche Stile hervor: Die direkte Idealisierung behandelt die Welt allgemeiner, einfacher, ungebrochener und regelmäßiger, die andere […] verfolgt eine buntere Welt in die tieferen Brüche des Bewußtseins und der Erscheinung, in die härteren Bedingungen des Daseins und in die schärfste Eigenheit der Individualität und schreitet bis zu den kühnsten Verbindungen des Ernsten und Komischen fort.133
Die direkte Idealisierung führt nach Vischer zum Klassischen, die indirekte zum Realismus, wobei Vischer beides nicht als historische Epochen, sondern als logische Möglichkeiten von Dichtung sieht. In der Regel vermeidet Vischer den Begriff ‚Realismus‘ und zieht den Begriff des individualisierenden oder charakteristischen Stils vor. Nach der treffenden Formulierung von Erich Heyfelder findet Vischers „ästhetischer Realismus“ seine Grenzen an dessen „metaphysische[m] Idealismus“.134 Einerseits läßt er das Kontingente im Kunstwerk zu, andererseits hält er am Ausgleich der zufälligen Momente fest, so daß das Schöne als Gesamtwirkung entsteht. ______________________
132 Hermann Kinder faßt zusammen: „die ‚indirekte Idealisierung‘ erlaubt, in Kunst die Erfahrungen mit einer Wirklichkeit zu integrieren, die in allen ihren Sonderungen nicht mehr als gerechtfertigte, sinnvolle erfahrbar ist, und dennoch die prinzipielle Rechtfertigung der Wirklichkeit und ihrer Geschichte aufzuweisen.“ (Hermann Kinder: Poesie als Synthese. Ausbreitung eines deutschen Realismus-Verständnisses in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1973, S. 108.) 133 Ä6, S. 64 (§ 849). 134 Vgl. Heyfelder (1901): Klassicismus und Naturalismus, S. 22f.
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Des weiteren findet Heyfelder im Moment der indirekten Idealisierung ein wesentlich innovatives Moment der Ästhetik Vischers. Während Kant, Schiller, Fichte und Schelling stets nur das (subjektiv oder objektiv) Zweckmäßige als das Kunstwürdige erkannt hätten, versuche Vischer nun auch, den Zufall in die Kunst aufzunehmen: Vischer machte dann zum ersten Male […] den Versuch, nicht metaphysisch, sondern ästhetisch der realistischen Kunst eine Stätte im System zu bereiten, indem er nicht nur das z w e c k m ä ß i g e , sondern auch das z u f ä l l i g e Dasein als Objekt künstlerischer Darstellung anerkannte.135
Muß auch Heyfelders Aussage mit dem Blick auf die Behandlung des Charakteristischen in Schellings Akademierede eingeschränkt werden, so ist sicher richtig, daß bei Vischer der Zufall das dominierende Thema wird und die Frage, wie sich Kunst zum empirisch feststellbaren Unzweckmäßigen zu verhalten habe, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. 2.3.3 Idealisierung als Erkenntnisleistung Vischers Konzept der Idealisierung entspricht dem damals vielberufenen Prinzip der ‚Verklärung‘. Ulf Eisele stellte für den programmatischen Realismus bekanntlich ein zweistufiges gegenläufiges Verklärungsschema auf, das er anhand von Texten Otto Ludwigs entwickelte. Die zufällige und teilweise häßliche empirische Realität müsse demnach auf das wesensgemäße Ideale reduziert und schließlich wieder individualisiert werden, so daß es den Anschein habe, als ob nichts zu der Wirklichkeit hinzugefügt oder weggenommen worden sei: „Der empirisch fundierte Realismus reduziert die Realität also zunächst auf das ihr Wesentliche und versucht dann, in einem zweiten Schritt, das Wesen zur sinnlich-konkreten Erscheinung zu bringen.“136 Das Ergebnis sei die wirkliche, poetische und poesiefähige Wirklichkeit, die sich von der einfachen Nachahmung oder Kopie der Wirklichkeit unterscheidet.137 Verklärung ist in dieser Hinsicht also ein „Poetizitätsin______________________
135 Heyfelder (1901): Klassicismus und Naturalismus, S. 29. 136 Eisele (1976): Realismus, S. 63. 137 Die für den Realismus typische Ablehnung der einfachen Nachahmung findet sich auch bei Vischer: „Das Gesetz der Naturnachahmung löst sich im Versuche, es streng festzuhalten, in sich selbst auf, denn eigentlich im engsten Sinne die Natur nachzuahmen, ist gar nicht möglich, da selbst dann, wenn der Künstler jedes Atom durch das Vergrößerungsglas betrachten würde, nicht der ganze Umfang der Erscheinung zur Wahrnehmung und Nachahmung gelangen könnte; läßt man aber auch nur durch die kleinste Bresche ein Wählen zu, so ist das Prinzip aufgegeben. Wäre übrigens eine absolute Kopie der Natur auch möglich, so ist nicht abzusehen, zu welchem Zweck man sich die Mühe geben soll, zu machen, daß die Dinge doppelt da sind, eigentlich und im Nachdruck“ [Ä3, S. 99 (§ 513, Anm.)].
Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen
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dex“138, der die in der Kunst dargestellte Wirklichkeit von der kontingenten echten Wirklichkeit unterscheidet. Doch zugleich soll die verklärte Wirklichkeit keine verfälschte Wirklichkeit sein: Literatur soll in der realistischen Literaturprogrammatik eine Erkenntnisfunktion haben. Nach Eisele ist die Grundlage ihrer Erkenntnisfunktion die Identitätsphilosophie des Idealismus. Die Einheit von Kunst und Wirklichkeit sei aufgrund der identitätsphilosophischen Prämissen wesensmäßig bedingt, und hierauf beruhe die Erkenntnisfunktion von Literatur: „Da das Widerspiegelnde und das Widergespiegelte strukturell identisch sind, verbürgt das erste die vollkommene Erkenntnis des zweiten. Die Literatur erweist sich als erkannte Realität.“139 Dieser hohe Anspruch, deutlich formuliert schon in Schellings System des transzendentalen Idealismus, greifbar aber auch in seiner Akademierede, gilt auch für Vischer, ja, er erscheint ihm so selbstverständlich, daß er kaum der Rede wert ist. Als Einheit von Subjekt und Objekt auf höchster Stufe ist Kunst, und insbesondere Dichtung, die Art und Weise schlechthin, wie die Idee in Erscheinung tritt. Damit hat sie Erkenntnisfunktion: „Die Poesie ist die eigentlich wissende Kunst.“140 Doch sind bei Vischer Literatur und Realität überhaupt „strukturell identisch“? Weiter oben konnte festgestellt werden, daß Vischer sehr wohl einen Strukturunterschied sah: Die Wirklichkeit scheint kausal-kontingent zu sein und sich ins Unendliche zu verlieren, Literatur war dagegen durch Funktionalität geprägt. Hier ist abermals an Vischers Trennung einer – trotz des Zufalls – realteleologischen metaphysischen Ebene von einer kausal-kontingent erscheinenden Wirklichkeit zu erinnern. Die Erkenntnisfunktion der Literatur bezieht sich auf das realteleologische Wesen der Wirklichkeit. Kann in der Metaphysik gezeigt werden, daß der Zufall sowohl in der Logik der begrifflichen Konstruktion wie auch in der Zeit ausgeglichen wird, so wiederholt Literatur diesen Ausgleich des Zufalls. Die Phantasie und ihre Operationsmodi „Zusammenziehung“ und „Konzentrierung“ sind keine willkürlichen Verformungen der Realität, sondern machen die unsichtbare Realteleologie als Erzählteleologie ästhetisch nachvollziehbar und genießbar. ______________________
Zur Stellung des Nachahmungs-Begriffs im Realismus vgl. Gerhard Plumpe: Einleitung. In: Edward McInnes, Gerhard Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart Bd. 6). München 1996, S. 17–83. Hier bes. S. 42–50. 138 Plumpe (1996): Einleitung, S. 56. 139 Eisele (1976): Realismus, S. 25. 140 Ä6, S. 11 (§ 837, Anm.).
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Realteleologie und Kontingenz bei Friedrich Theodor Vischer
Also sind auch bei Vischer letztlich Literatur und Wirklichkeit strukturell kongruent, wie Eisele dies für die realistische Literaturprogrammatik feststellte. Allerdings ist die Lage bei Vischer dadurch komplizierter geworden, daß er sich den Ausgleich der kontingenten Momente durch die Zeit erhofft und diesem Gedanken sein Verklärungs-Konzept anpaßt. Auch seine indirekte Idealisierung hat eine zeitliche Komponente. Damit ist aber Idealisierung weniger ein „Poetizitätsindex“ als eine „Erkenntnisleistung“.141 Genau betrachtet, sind Real- und Erzählteleologie bei Vischer nicht nur kongruent, sie sind sogar identisch. Denn die Phantasie, Ursache für die Erzählteleologie, ist ja nichts anderes als das schöpferische Prinzip, welches auch in der Natur wirksam ist und dort für Teleologie sorgt. Rückt man allerdings die Empirie in den Vordergrund und vergißt darüber die Metaphysik, wie Vischer dies besonders bei der Auflösung des Naturschönen tat, dann erscheinen Kunstwelt und Naturwelt als unterschiedlich strukturierte Bereiche, da das Kausal-Kontingente eine Letztkategorie der Wirklichkeitsbeschreibung wird. Damit geht allerdings die Funktion der Literatur verloren, die Wirklichkeit abzubilden. Sie ist ein durch die Basisfunktionalität des Erzählens strukturierter Organismus, der mit der kausal-kontingenten Wirklichkeit keine Strukturkongruenz mehr hat. Doch noch trägt – mehr schlecht als recht – die metaphysisch postulierte Realteleologie und die Aufhebung des Zufalls in der Zeit. Zwei wichtige Entwicklungen nach der Fertigstellung der Ästhetik, entziehen auch dieser verstecken Teleologie den Boden. Zum einen gibt Vischer seine Konzeption der objektiven Naturschönheit auf und trägt damit eigenen Bedenken ebenso Rechnung wie der Kritik anderer Ästhetiker. Die Folge ist eine Subjektivierung der Ästhetik. Zum anderen kommt Vischer in den 1870er Jahren mit dem Darwinismus in Berührung, der jede Form von Realteleologie, von Geist in der Natur, weiter unplausibel werden läßt. Die ästhetische Reflexion kann sich immer weniger darauf verlassen, daß die Rundung des Kunstwerks zum Ganzen ein zusammengezogenes, konzentriertes und verdichtetes Abbild der ‚wahren‘ Wirklichkeit ist.
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141 Plumpe stellt dies für die realistische Literaturtheorie im allgemeinen fest. Vgl. Plumpe (1996): Einleitung, S. 56.
Die Subjektivierung der Ästhetik (Kritik meiner Ästhetik I)
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3 Die Subjektivierung der Ästhetik (Kritik meiner Ästhetik I ) Vischer hatte mit dem Akt der „Leihung“ in seine Ästhetik ein nur schwer zu integrierendes Nebenstück eingeführt, weil er damit mitten im Bereich des objektiven Naturschönen dem Subjekt eine entscheidende Rolle zuwies. Die Möglichkeit des Naturschönen konnte Vischer für den Organismus zwar noch im Anschluß an Schelling metaphysisch begründen, aber das Naturschöne verfiel in seiner Existenz dem Zufall und wurde schließlich aufgelöst. Dies geschah allerdings in der Gewißheit, daß die Welt in ihrer idealen Dimension teleologisch ist, so daß sich die Phantasie bei ihrer Tätigkeit darauf beziehen konnte. 1866 kommt es nun zu einer ebenso erstaunlichen wie schonungslosen öffentlichen Selbstkritik Vischers. Die Schrift Kritik meiner Ästhetik zielt genau auf das Problem der Naturschönheit.142 Die Selbstkritik wurde Jahre später fortgesetzt, nämlich im August 1873, also nach der Diskussion um Straußens Glaubensbekenntnis in der Allgemeinen Zeitung. 1866 gesteht Vischer, daß er seine Ästhetik so aufgebaut habe, „als ob das Schöne ohne unser Zutun in der Natur und Menschenwelt einfach da sei, gegeben sei“.143 Dann habe er unter Aufrechterhaltung dieses Scheins das Naturschöne behandelt wie einen Gegenstand und erst sehr spät aufgelöst. Doch das Naturschöne „muß heraus“144, es dürfe keinen eigenen Hauptabschnitt in der Ästhetik ausmachen. Vischer beschreibt anschließend seinen „ehrlichen Irrtum“: Er habe das Subjekt auf einen festen Boden stellen und einen „Damm der Objektivität“ gegen die „neuere Romantik“ errichten wollen.145 Das heißt nun, daß die Bedeutung der künstlerischen Phantasie möglichst klein gehalten werden sollte, da ja die ______________________
142 Vgl. Friedrich Theodor Vischer: Kritik meiner Ästhetik. In: KG4, S. 222–419. Der 1866 erschienene Teil reicht bis S. 329 und ist mit einem Sternchen von der erst 1873 verfaßten Fortsetzung getrennt. Eduard von Hartmann geht in seiner Ästhetik seit Kant auch auf Vischer ein und rückt neben den Unterschieden zu Hegel das Naturschöne in den Vordergrund. Die Naturschönheit könne schon in der Ästhetik nicht zu ihrem Recht kommen, weil Vischer nur die subjektive Erscheinung der Natur kenne. Das Naturschöne müsse er folgerichtig als „Illusion“ auflösen. Deshalb sei es innerhalb seines Ansatzes richtig, wenn Vischer das Naturschöne in der Kritik meiner Ästhetik ganz aus dem System verweise. Allerdings hält es Hartmann für ungenügend, Naturschönheit nur psychologisch zu begründen, wie Vischer dies in seiner Kritik tat. Vielmehr hätten die „immanenten Naturzwecke“ oder die „Naturideen“ eine eigene Schönheit, die der Betrachter nur herauslesen müsse. Im übrigen fällt die Kritik Hartmanns sehr negativ aus. Das Werk sei schlicht überholt, Hegel sei falsch verstanden worden. Vgl. Eduard von Hartmann: Die deutsche Ästhetik seit Kant. Erster historisch-kritischer Theil der Ästhetik. Leipzig 1886. Bes. S. 217f. 143 KG4, S. 222 (Kritik meiner Ästhetik). 144 KG4, S. 223 (Kritik meiner Ästhetik). 145 Vgl. KG4, S. 225 (Kritik meiner Ästhetik).
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Realteleologie und Kontingenz bei Friedrich Theodor Vischer
Natur selbst die Möglichkeit zur Schönheit hat. Vischer wollte dem Künstler und seiner „tätigen Erfindung beinahe keinen Raum“146 lassen. Die Gründe für die Selbstkritik sind vielfältig. Bedenken gegenüber der eigenen Ästhetik begleiteten die Ausarbeitung des Werks schon von Beginn an.147 In den 1850er Jahren schließlich entwickelte sich eine formalistische Schule der Ästhetik mit dem Protagonisten Robert Zimmermann. Es kam zu einer lang anhaltenden Kontroverse zwischen Zimmermann und Vischer über Form und Gehalt in der Kunst; Vischer hielt zwar an der Einheit von Form und Inhalt fest, blieb gleichwohl von der Kritik der Formalisten an der idealistischen Ästhetik nicht unbeeinflußt.148 Auch gehört Vischers Selbstkritik in die Neukantianische Bewegung hinein, da er in seinen späten Schriften die Schönheit, einst objektiv in der Natur gesucht, nun nicht mehr als Objekt, sondern als Art der Anschauung konzipiert.149 Für das neue Konzept zur Bestimmung der Naturschönheit knüpft Vischer beim Akt der Leihung an: Das Subjekt hypostasiert seine eigene Schönheit und trägt sie in die Natur. Damit wird die Schönheit zu einem Akt des Subjekts und die dreigliedrige Ästhetik aus objektivem Naturschönen, subjektiver Phantasie und deren Vereinigung in der Kunst ist aufgegeben:150 Das Schöne ist einmal nicht einfach ein Gegenstand, das Schöne wird erst im Anschauen, es ist Kontakt eines Gegenstands und eines auffassenden Subjekts, und da das wahrhaft Tätige in diesem Kontakte das Subjekt ist, so ist es ein Akt. Kurz das Schöne ist einfach eine bestimmte Art der Anschauung: damit hat der erste Teil [der Ästhetik; P.A.] zu beginnen […].151
Indem Vischer Schönheit nun als Akt auffaßt, entlastet er sich von der Aufgabe, die Natur objektiv als schön zu begründen. Die innere Zweckmäßigkeit wird von der Funktion entbunden, die Ableitung des Naturschönen zu gewährleisten und die Unregelmäßigkeiten in der Stufenfolge der Natur, an der Vischer hier noch festhält, wiegen nicht mehr so schwer.152 Selbst das Konzept der Idee des Schönen kann nun durch den ______________________
146 KG4, S. 225 (Kritik meiner Ästhetik). 147 Vgl. Schlawe (1959): Vischer, S. 198. 148 Diese Kontroverse wird nachgezeichnet bei Lothar Schneider: Realismus und formale Ästhetik. Die Auseinandersetzung zwischen Robert Zimmermann und Friedrich Theodor Vischer als poetologische Leitdifferenz im späten 19. Jahrhundert. In: Andreas Hoeschen, Lothar Schneider (Hg.): Herbarts Kultursystem. Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert. Würzburg 2001, S. 259–281. 149 Vgl. Schlawe (1959): Vischer, S. 304. 150 „Die dreiteilige Anordnung meines Systems ist nun, wenn die eine Hälfte meines zweiten Teils wegfällt, umgestoßen.“ [KG4, S. 231 (Kritik meiner Ästhetik).] 151 KG4, S. 224 (Kritik meiner Ästhetik). 152 Vgl. KG4, S. 291f. (Kritik meiner Ästhetik).
Die Subjektivierung der Ästhetik (Kritik meiner Ästhetik I)
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Begriff der Beseelung ersetzt werden, wie Vischer andeutet: „Sagen wir also einmal statt Idee, Gehalt einfach: Beseeltheit […].“153 Diese Beseeltheit kommt aber nun von einem Wesen, dessen Fähigkeit, mentale Zustände zu haben, unbestritten ist. Vischers späte Reflexionen und diejenigen seines Sohnes Robert Vischer kreisen dann um den Gedanken einer Ästhetik als unbewußte Natursymbolik, die vom Betrachter ausgeht.154 Der Beseelung der Natur durch den Menschen liegt aber bereits das Eingeständnis zugrunde, daß die Natur ‚an sich‘ für den Menschen keine ästhetische Bedeutung hat. Robert Vischer nennt in seiner Dissertation von 1873 den von seinem Vater dargestellten Akt der Leihung ‚Einfühlung‘ und begründet damit die Einfühlungsästhetik. Nach Wilhelm Perpeet liegt dieser Konzeption ein Naturbild zugrunde, das nur noch die Ergebnisse der Naturwissenschaften als objektive Wahrheit akzeptiert, so daß die Natur dem Menschen fremd geworden ist: „Nicht aus dem Staunen über die Befreundung mit der Natur, sondern über die Befremdung ihr gegenüber konzipiert die Einfühlungsästhetik ihre These.“155 Damit ist die Differenz zur romantischen Einfühlung bezeichnet, der die Welt als Organismus beseelt war, womit ein Vertraulichkeitsverhältnis zwischen Betrachter und Natur begründet werden konnte. Allerdings hält Friedrich Theodor Vischer weiterhin an der idealistischen Vorstellung fest, daß zumindest die Möglichkeit einer Einfühlung in die Natur durch die metaphysische Einheit von Subjekt und Objekt, Natur und Geist begründet wird.156 Das identitätsphilosophische Erbe läßt Vischer auch dann nicht los, wenn er sachlich schon an neuen Problemen arbeitet. Begriffe und Konzepte werden bei ihm selten ganz aufgegeben, sondern es gibt Schwerpunktverlagerungen und neue Konzepte, die an vorhandenes Material angeschlossen werden. Im Kontext des hier behandelten Problemfeldes kommt die radikale Subjektivierung der Ästhetik dem Eingeständnis gleich, daß die Begründung der Naturschönheit durch teleologische Konzepte wie innere Zweckmäßigkeit und Stufenbau der Natur nicht zu leisten ist. Gerade bei dem verspäteten Idealisten Vischer lassen sich die Stationen der Teleolo______________________
153 KG4, S. 403 (Kritik meiner Ästhetik). 154 Vgl. besonders Friedrich Theodor Vischer: Das Symbol. In: KG4, S. 420–456. 155 Wilhelm Perpeet: Historisches und Systematisches zur Einfühlungsästhetik. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 11 (1966), 2. Heft, S. 193–216. Hier S. 204. Diesen Befund übernimmt auch Martin Fontius in seinem Artikel Einfühlung / Empathie / Identifikation. In: Ästhetische Grundbegriffe. 7 Bde. Hg. von Karlheinz Barck u.a. Stuttgart, Weimar 2000ff., Bd. 2, S. 121–142. Bes. S. 130f. 156 Vgl. KG4, S. 456 (Das Symbol ).
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Realteleologie und Kontingenz bei Friedrich Theodor Vischer
giekrise gut fassen. Die Ästhetik muß nach der Aufgabe des objektiven Schönen neue Wege gehen: „d i e Ä s t h e t i k i s t n o ch i n d e n A n f ä n g e n “157, bekennt 1873 derjenige, der sich seit beinahe 40 Jahren mit Ästhetik beschäftigt. Vischer schwebt hier die empirische Erforschung und Erklärung von Mimik und Physiognomik vor, wo es Schönheit in der Natur ohne Hypostasierung gebe. Neben einem allgemeinen Hinweis auf Carl Gustav Carus und Theodor Piderit kennt er auch schon Darwins Ausdruck der Gemütsbewegungen (1872). An Darwins Buch lobt er den „Reichtum fein beobachteten Erfahrungsstoffs“158, hält allerdings die Erklärungen für unzureichend. Vischers Suche nach dem Naturschönen begann somit im Idealismus und führte ihn zur Psychologie und (Evolutions-)Biologie.159 Die Beobachtung einer Teleologiekrise wird von Willi Oelmüller gestützt, der zu begründen versucht, warum Vischer das Konzept des Naturschönen aufgegeben habe. Er stellt knapp fest, daß die Natur für Vischer nur noch das Ergebnis blinder Naturgesetze sei, die Schönheit nicht zu ihrem Zweck hätten und sie deshalb nur zufällig hervorbrächten: „Die Vorstellung einer teleologisch und vernünftig geordneten Natur und eine objektive Naturschönheit ist damit für Vischer unhaltbar geworden.“160 Die Subjektivierung des Naturschönen in Vischers ästhetischen Schriften stützt eine weitere, diesmal literaturwissenschaftliche These: Richard Brinkmann hatte bereits 1958 festgestellt, daß im Realismus „die tatsächliche Wirklichkeit erst recht eigentlich problematisch geworden ist“161 und eine „Subjektivierung der Wirklichkeit“162 nach sich zieht. Dieser Vorgang läßt sich also auch im Bereich der Ästhetik festmachen. Dies wird an der Entwicklung des Naturschönen als objektiver Kategorie hin zur Einfühlungsästhetik, in der Schönheit vom Subjekt ausgeht, hinlänglich deutlich. In der Analyse des Romans Auch Einer werden wir später den literarischen Konsequenzen dieser Subjektivierung, beispielsweise in der Naturbeschreibung, nachgehen. ______________________
157 KG4, S. 419 (Kritik meiner Ästhetik). 158 KG4, S. 419 (Kritik meiner Ästhetik). 159 Die zahlreichen Tierbeobachtungen im Auch Einer müssen vor diesem Hintergrund gelesen werden. 160 Oelmüller (1959): Vischer, S. 158. Oelmüller führt noch einen weiteren Grund für den Verzicht auf das Naturschöne als objektive Kategorie an, nämlich die fortschreitende Naturzerstörung durch die Industrialisierung. Vgl. Oelmüller (1959): Vischer, S. 157. 161 Richard Brinkmann: Zum Begriff des Realismus. Für die erzählende Dichtung des 19. Jahrhunderts. In: Richard Brinkmann (Hg.): Begriffsbestimmung des literarischen Realismus. Darmstadt 31987 (ED 1958), S. 222–235. Hier S. 225. 162 Brinkmann (1987): Realismus, S. 230.
Die Subjektivierung der Ästhetik (Kritik meiner Ästhetik I)
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An das Vischersche Konzept der Leihung schlossen sich auch wenige Jahre später die Dichter an, die dem Naturalismus nahe standen. Wolfgang Kirchbach (1857–1906), ein Kenner von Vischers Schriften und insbesondere des Romans Auch Einer, greift beispielsweise darauf zurück. Allerdings hat sich nun die Begründung für die Möglichkeit der Leihung verändert. Wo Vischer noch am Rande auf die metaphysische Einheit von Subjekt und Objekt hinwies, die die Grundlage für die Einfühlung in die belebte und unbelebte Natur sei, greift Kirchbach nun auf die „Deszendenzlehre“163 zurück. In seinem Aufsatz Was kann die Dichtung für die moderne Welt noch bedeuten? von 1888 ist das darwinistisch fundierte Konzept der Einfühlung ein zentrales Argument für die Poesiefähigkeit der modernen wissenschaftlichen Weltsicht:164 So ist es ein wesentlicher Trieb aller Poesie, die Erscheinungen der Natur und der leblosen Dinge zu vermenschlichen und ihnen Tätigkeiten der Menschenseele zu leihen […]. Sollte diejenige Weltanschauung recht behalten, welche die Erscheinungen um uns und in uns nach einer m e c h a n i s c h e n Methode sich entwikkeln und hervorgehen sieht […] so würden wir Menschen, sofern auch wir selbst geistig und körperlich nach einer solchen Methode leben und vergehen, ein hohes poetisches Recht haben, die Dinge um uns zu beleben mit den Werten unsres eigenen Inneren, und die moderne Poesie hätte nur die Aufgabe, dies im Sinne der Wahrheit zu modifizieren […].165
Die Objekte der Natur sind nun nichts mehr, was dem Menschen völlig fremd gegenüber steht, sondern die Objekte werden zu Vorläufern der ______________________
163 Wolfgang Kirchbach: Was kann die Dichtung für die moderne Welt noch bedeuten? In: Marie Luise Becker, Karl von Levetzow (Hg.): Wolfgang Kirchbach und seine Zeit. Briefwechsel und Essays aus dem Nachlaß. München 1910 (ED 1888), S. 177–207. Hier S. 197. Kirchbach betont also in Darwins Theoriegebäude den genetischen Zusammenhang der Lebewesen und vernachlässigt das Selektionstheorem und damit den Aspekt des Zufalls. 164 Zugleich wird nun auch darwinistisch begründet, warum die Dichtung in der Wertehierarchie über der Musik steht: Darwin erwähne einen Affen, der eine Oktave singen könne, „gewiß ein Wunder der Schöpfung, das aber die Achtung vor der ‚überirdisch‘ höheren Kunst der Musik ein wenig herabzustimmen geeignet ist, wenn man zugleich erwägt, daß Darwin und Haeckel keinen Affen nachzuweisen imstande sind, der auch nur einen Vers zu machen fähig wäre“ [Kirchbach (1910): Dichtung, S. 182]. Auch bei Vischer steht die Musik unter der Dichtung, aber hier ist die Begründung, daß sie eine subjektive Kunstform ist, die in die subjektiv-objektive Dichtung aufgehoben wird. Das Beispiel zeigt den Einfluß der idealistischen Ästhetik auf Kirchbach, der sich hier nicht der Schopenhauerschen Hochschätzung der Musik als objektiver Ausdrucksform des Willens anschließt. Dagegen werden die Wertungen aus Vischers idealistischer Ästhetik übernommen; die Begründungen ändern sich, indem sie evolutionsbiologisch (genauer: deszendenztheoretisch) aktualisiert werden. 165 Kirchbach (1910): Dichtung, S. 204. Ein Textausschnitt von Kirchbachs Aufsatz befindet sich in der Textsammlung Theorie des Naturalismus. Allerdings ist hier Kirchbachs neue darwinistische Begründung des Konzepts der Leihung nicht abgedruckt. Vgl. Theo Meyer (Hg.): Theorie des Naturalismus. Stuttgart 1993, S. 87–91.
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Realteleologie und Kontingenz bei Friedrich Theodor Vischer
Subjekte, denen man durch eine „geistige Rückwärtsbelebung“166 Bedeutung für den Menschen verleihen kann. Die räumlich gedachte Opposition von Subjekt und Objekt wird also durch eine zeitliche Verknüpfung beider ersetzt. Allerdings funktioniert dieses Konzept streng genommen nur, wenn man eine einlinige Entwicklungsgeschichte annimmt und befriedigend wird diese Vorstellung dann, wenn die Bedeutung der Zufälligkeit der Evolution nicht besonders hervorgehoben wird.167 Damit kann freilich der universelle Sinngenerator Teleologie wieder in die Naturvorstellung einziehen, so etwa bei Wilhelm Bölsche: „In den immer erneuten Möglichkeiten der Entwickelung schlummert in jedem alles: in der blauen Lotosblüte schläft schon der Mensch.“168 Selbst Schellings Naturphilosophie ist dann nicht mehr weit, die allerdings den Stufenbau der Natur in einem nicht-genetischen Sinn verstand. Und von hier aus nutzen dann Dichter wie Arno Holz das Imaginationspotential des neuromantischen Naturbildes, wie es Peter Sprengel am Phantasus zeigen konnte.169 Vischer dagegen beurteilte die Darwinsche Theorie und ihre Leistung hinsichtlich der Konstruktion eines einheitlichen Weltbildes weit skeptischer. Ja, der Widerspruch zwischen Subjekt und Objekt, der schon immer im Zentrum von Vischers Denken stand und der durch den Humor versöhnt werden sollte, dieser Widerspruch drohte durch Darwins Erklärung der Evolution zu einem „Riß“ zu werden.
4 Kontingenzschub: „Darwin“ oder „e twa s Darwin“? Zwischen den ersten und zweiten Teil von Vischers Selbstkritik fällt seine Beschäftigung mit der Kontroverse, die Straußens Buch Der alte und der neue Glaube ausgelöst hatte. Hier kam er mit dem Darwinismus und der Realteleologiekrise direkt in Berührung. Vischer hatte sich mit schriftlichen Äußerungen zu dem Werk des langjährigen Freundes Strauß zunächst zurückgehalten.170 Er war in ______________________
166 Kirchbach (1910): Dichtung, S. 204. 167 Kirchbach kommt nur am Rande auf die Zufälligkeit der Evolution zu sprechen: „Ist nicht die Poesie der Blume zerstört, wenn ich denken soll, sie sei nichts anderes, als das Geschlechtsorgan der Pflanze, welches obendrein noch nur zufällig die Art erhält durch Vermittelung der Insekten?“ [Kirchbach (1910): Dichtung, S. 194f.] 168 Wilhelm Bölsche: Entwicklungsgeschichte der Natur. 2 Bde. Berlin o.J. (1894/96). Hier Bd. 2, S. 794. Vgl. hierzu auch Sprengel (1998): Darwin in der Poesie, S. 26. 169 Vgl. Sprengel (1998): Darwin in der Poesie, S. 25f. 170 Die folgenden Informationen nach der Einleitung von Robert Vischer zum Druck des Manuskripts: Robert Vischer: Ein Manuskript von Friedrich Th. Vischer über das Buch: Der alte und der neue Glaube. In: DVjs 5 (1927), S. 583–608. Bes. S. 583–585 und S. 606–608. Zum
Kontingenzschub: „Darwin“ oder „etwas Darwin“?
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wesentlichen Punkten mit Straußens Buch nicht einverstanden, wollte aber den Kritikern des Freundes nicht in die Hände arbeiten. So entschloß sich Vischer, zunächst an Strauß selbst eine ausführliche Kritik zu schikken und ihm zu empfehlen, einen zweiten Teil folgen zu lassen, der diese Kritik berücksichtige.171 Über den gemeinsamen Freund Adolf Rapp bat der altersschwache und kranke Strauß, mit dieser Kritik zu warten, da sein Rücken durch die laute Kritik dem eines „Gassengejagten“172 gleiche. Vischer aber bestand offenbar auf der Zusendung, was zum Bruch der Freundschaft führte. Strauß fand Vischers Empfehlung, einen zweiten Teil folgen zu lassen, „absolut sinnlos“ und teilte dem Freund Rapp mit: „Er [Vischer; P.A.] kann versichert sein, daß es nicht mehr viel Zusammenstöße zwischen uns geben wird, denn es wird nicht mehr viel Berührungen zwischen uns geben“.173 Am 15. März 1873 erhielt Strauß in einem Paket Vischers Brief zusammen mit einem über 50-seitigen Manuskript. Strauß wollte das Paket später öffnen, um die Einwände möglichst objektiv beurteilen zu können, starb aber am 8. Februar 1874, so daß es nach Straußens Tod ungeöffnet an Vischer zurück ging. Das dicht geschriebene und um genaue Argumentation bemühte Manuskript ist nach den Kapiteln von Straußens Buch gegliedert und in einer teilweise informellen Sprache abgefaßt. Zustimmung erhält Strauß für seine Kritik am rational aufgefaßten Christentum, das auf den Pfeilern Gott und Unsterblichkeit ruht. Als Haupteinwand formuliert Vischer jedoch, daß die heute noch mögliche und zeitgemäße Religion aus dem dritten Kapitel Wie begreifen wir die Welt? abgeleitet werden müßte und nicht schon vorher postuliert werden dürfe. In seinem Bekenntniß hatte Strauß aber die Frage Haben wir noch Religion? vor dem dritten Kapitel beantwortet. Das Ergebnis war dort, daß die Idee des Universums als Gegenstand des Glaubens bleibe, weil es die „Urquelle alles Vernünftigen und Guten“ sei. Strauß setze somit den „immanente[n] Geist“174 in diesem Kapitel voraus, obwohl er aus der spezifischen Weltauffassung abgeleitet werden müßte. Letztere war aber, wie wir bereits sahen, durch den Darwinismus und die Verbannung der Teleologie geprägt. Vischer stellt nun die Frage, ob die Annahme eines vernünftigen und gütigen immanenten Geistes im ______________________
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Verhältnis von Strauß und Vischer, wie es sich in ihrem Briefwechsel darstellt, vgl. Ernst Müller: David Friedrich Strauß und Friedrich Theodor Vischer. In: Schwäbische Heimat 5 (1953), S. 196–202. Erst später, im August 1873, veröffentlichte Vischer eine Rezension, der im darauffolgenden Jahr eine weitere folgte. Vgl. S. 186 dieser Arbeit. Strauß an Adolf Rapp am 18.2.1873. Zitiert nach: Vischer (1927): Manuskript, S. 584. Strauß an Adolf Rapp am 22.2.1873. Zitiert nach: Vischer (1927): Manuskript, S. 585. Vischer (1927): Manuskript, S. 591.
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Realteleologie und Kontingenz bei Friedrich Theodor Vischer
dritten Kapitel „sich bewährt“.175 Wieder also hängt die Teleologie-Frage aufs engste mit der Frage eines Geistes zusammen, der allein über mentale Inhalte verfügen kann. Vischers Auseinandersetzung mit dem Kapitel Wie begreifen wir die Welt? ist nun schon deshalb eine gewichtige Stellungnahme zum Darwinismus, weil sie auf das Teleologie-Problem abstellt und die Brisanz von Darwins Erklärung der Zweckmäßigkeit erkennt. Die Tragweite seiner Darwin-Kritik kann aber nur vor dem Hintergrund der Ästhetik ermessen werden. Zudem zeigt Vischers Reaktion beispielhaft, wie Darwins popularisierte Theorien rezipiert und selektiv angenommen wurden, denn Vischer bezieht sich explizit auf die Teleologie-Debatte in der Allgemeinen Zeitung, die wir bereits vorgestellt haben.176 Vor dem Hintergrund unserer Analyse von Vischers Ästhetik kann es nicht verwundern, daß er besonders auf zwei zusammenhängende realteleologische Vorstellungen eingeht: Auf den Stufenbau der Natur und auf das Konzept der inneren Zweckmäßigkeit. Vischer beginnt seine Kritik zum Darwin-Kapitel mit den Worten: Grundbegriff: E n t w i c k l u n g statt S c h ö p f u n g . Ich fasse denselben sogleich am Punkte: D a r w i n i s m u s . 1. Bei Darwin gibt es eigentlich keine E n t w i c k l u n g . Die Fortbildung wird den Formen durch den Kampf ums Dasein m e c h a n i s c h a n g e r i e b e n , angewetzt, angedrückt. Neuere Naturforscher machen daraus vollends Ernst. Nicht eine innere potentia ist es, die durch den Kampf ums Dasein, Zuchtwahl, Vererbung als bloße Vermittlung aktualisiert würde; daher zugleich auch kein A u f s t e i g e n zu höheren Stufen, kein Vervollkommnungsgang – (so Semper).177
Vischer schließt sich hier explizit dem Artikel von Karl Semper in der A.Z. an, in dem der Biologe zwischen dem philosophischen Entwicklungsbegriff und dem biologischen Veränderungsbegriff unterschieden hatte.178 Die Metaphern aus dem Bereich der Mechanik sollen verdeutlichen, daß es sich um zufällige, also nicht-intentionale und äußerliche Vorgänge handelt, die nicht aufeinander abgestimmt sind. Vischer versteht Darwin also ganz im Sinne Sempers, wenn er das Stufenmodell und die Vorstellung der Vervollkommnung für unverträglich mit Darwins Theorie hält. In Straußens Buch dagegen fanden sich durchaus noch Passagen, die eine fortschreitende Vervollkommnung der Natur zur Grundlage hatten. ______________________
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Vischer (1927): Manuskript, S. 591. Vgl. S. 121ff. dieser Arbeit. Vischer (1927): Manuskript, S. 591. Im Städtischen Museum Ludwigsburg wird die Allgemeine Zeitung (mit Beilage) der Jahre 1863–1887 aus Vischers Nachlaß aufbewahrt. Vgl. Birgit Kotzur: Bestandverzeichnis des Vischer-Nachlasses im Städtischen Museum Ludwigsburg. In: Andrea Berger-Fix (Hg.): „Auch Einer“. Friedrich Theodor Vischer zum 100. Todestag. Katalog zur Ausstellung des Städtischen Museums Ludwigsburg 14. September 1987 - 28. Februar 1988. Ludwigsburg 1987, S. 181–185. Hier S. 184.
Kontingenzschub: „Darwin“ oder „etwas Darwin“?
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Darwins Theorie der zielblinden Veränderung hält Vischer nun aber für ergänzungsbedürftig. Zu diesem Zweck beruft er sich auf Karl Christian Plancks Schrift Wahrheit und Flachheit des Darwinismus179 und Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewußten. Vischer kannte Planck persönlich aus der Tübinger Zeit, wo dieser zur Tübinger Schule um den Theologen Ferdinand Christian Baur und Eduard Zeller gehörte.180 ______________________
179 Vgl. Karl Christian Planck: Wahrheit und Flachheit des Darwinismus. Ein Denkstein zur Geschichte heutiger deutscher Wissenschaft. Nördlingen 1872. Auf den Philosophen Karl Christian Planck (1819–1880) bezog sich Vischer immer wieder, wenn es um eine seiner Meinung nach angemessene Erklärung der Evolution ging. Dessen Philosophie bezeichnete Vischer, trotz seiner Zustimmung im grundsätzlichen, als „vielfach ungenießbar schwierig, obstrus“ [Vischer (1927): Manuskript, S. 591]. In seinem Buch Wahrheit und Flachheit des Darwinismus setzt sich der evangelische Theologe mit dem Darwinismus auseinander und ist bestrebt, ihn mit der idealistischen Philosophie zu versöhnen. Es ist also ein Versuch, sich der Herausforderung der modernen Naturwissenschaften zu stellen und ihre Hypothesen und Ergebnisse in eine idealistische, auch emotional befriedigende Philosophie zu integrieren. Die „Wahrheit“ des Darwinismus bestimmt Planck in der Einsicht, daß die Entwicklung des Organischen „von dem noch g a n z u n d i f f e r e n z i r t e n und g l e i c h m ä ß i g e n Ganzen ausgehe und allmählich erst zur vollen Differenzirung und individuellen Ausbildung fortschreite“ (ebd. S. III). Darwins Hypothese der Evolution von zielblinder Variation und Selektion wird allerdings abgelehnt. Statt dessen müsse „eine noch wichtigere Seite dieses organischen Entwicklungsgesetzes“ (ebd. S. III) begründet werden, wonach die Differenzierung der (stofflichen) organischen Formen zugleich eine „Concentrirung“ (ebd. S. III) auf ein Zentrum hin sei, das als „geistig universelle Einheitsform“ (ebd. S. IV) gedacht wird. Die Evolution schreite von der „Peripherie“ zu diesem Zentrum voran, das als „Ziel“ (ebd. S. X) verstanden wird. Es besteht im Geist als dem „i n n e r l i c h U n i v e r s e l l e [ n ] “ (ebd. S. X) des Menschen. Wenn die Natur aber den Geist als Ziel habe, dann müsse sie auch als „Ausgangspunkt“ schon über Geist verfügen. Der heutige Darwinismus mache dagegen „das individuelle, selbstisch finstre und kalte Theildasein der Stoffatome zum Ursprünglichen“ (ebd. S. IX). So komme die Auffassung zustande, „das Organische aus einem bloßen Zusammenwirken der unorganisch individuellen Stoffe zu erklären, und so auch das geistig universelle Wesen des menschlichen Bewußtseins aus dem bloß sinnlichen und selbstischen Einzelleben des Thieres und Affen abzuleiten.“ (ebd. S. X) Zugleich sind schon im Vorwort nationale Stereotypen erkennbar: Der Darwinismus sei durch die „Englische[ ] Äußerlichkeit“ bestimmt, während die Synthese aus halbem Darwinismus und der Concentrierungs-These die Evolution in „ächt d e u t s c h e r Weise“ (ebd. S. X) erkläre. Die Zufälligkeit der Evolution im darwinistischen Sinn wird klar erkannt: „Die ganze Darwinistische Anschauungsweise macht also ihrer Consequenz nach den Ursprung und die Entwicklungsgeschichte des Organischen zu etwas äußerlich Zufälligem, rein Empirischem […]“ (ebd. S. 141f.). Doch ebenso klar wird diese Konsequenz im Namen einer speziell deutschen Geisteshaltung abgelehnt und für unzureichend befunden. 180 Zur Tübinger Schule im allgemeinen und Karl Christian Planck im besonderen vgl. Horton Harris: The Tübingen School. Oxford 1975. Bes. S. 1–8 und S. 89–95. Harris’ Urteil über Plancks Philosophie: „Karl Christian Planck was best known for his extremely complex philosophical system which no one but he himself was ever able to understand.“ (ebd. S. 89). Zu Planck ferner Friedrich Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie. 4. Teil: Die deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart. Völlig neubearbeitet von Traugott Konstantin Oesterreich. Berlin 121923, S. 217–219.
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Beide, Planck und Hartmann, nehmen eine innere „potentia“ an, die die Entwicklung der Lebewesen „lebendig von innen“181 her bestimme. Beide sind Vertreter einer teleologischen Überformung von Darwins Theorien. Selbst in der unorganischen Materie muß es, so Vischer, ein „B i l d von dem, was werden soll“182 geben und diese Bilder seien eben „die Platonischen Ideen“.183 Und doch muß Vischer die Theorie Darwins in einigen ihrer Momente zu einleuchtend sein, um sie ganz von der Hand zu weisen. Die Betonung des zufälligen Zusammenstoßens der Arten, der zufälligen Variabilität der Individuen (man denke an Vischers „unendliche Eigenheit“ des Individuums) und der Grausamkeit in der Natur: Dies sind freilich Motive, die wir bereits aus Vischers Ästhetik kennen. Deshalb stimmt Vischer Darwin wieder zu: „Und doch kann Darwin auch nicht Unrecht haben.“184 Die Alternative sei gar nicht, wie Strauß in seinem Buch suggeriere, Darwinismus oder Kreation, sondern: „Darwin, d.h. mechanische Kausalität oder immanente Entwicklung (mit Hinzunahme von e t w a s Darwin). Nu n k a n n i c h a b e r n i c h t s e h e n , w i e D u D i c h d a z u v e r h ä l t s t .“185 Vischer sieht sich demnach vor der Alternative eines zielblinden, ‚materialistischen‘ oder eines teleologisch, ‚idealistisch‘ gefilterten Darwin und entscheidet sich für den letzteren. Er wirft dem Freund Strauß vor, daß er sich nicht gleichfalls vor diese Alternative stelle, sondern die Teleologie einmal verbanne, dann aber wieder von Entwicklung und Vervollkommnung spreche. Sogar an den Urvater der Teleologie, an Aristoteles, knüpft Vischer wieder an, indem er der Natur eine Kraft zuschreibt, die ohne Überlegung Werke hervorbringe, zu denen der Mensch Bewußtsein und Überlegung brauche: Eben! Eben! sage ich: das ist schon nach dem alten Knaben Aristoteles eben die Natur, daß sie Solches, wozu nach unserer Art hervorzubringen Überlegung gehört, ohne Überlegung hervorbringt. Überlegung ohne Überlegung: dies ist das unbewußte Bild des Werdenden.186
Hinter diesem Satz fügt Vischer an: „Gibt es dies nicht so gibt es keine Entwicklung.“187 Dieser Satz wurde zwar später wieder gestrichen, zeigt aber, daß Vischer den Entwicklungsbegriff an teleologische Konzepte ______________________
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Vischer (1927): Manuskript, S. 592. Vischer (1927): Manuskript, S. 592. Vischer (1927): Manuskript, S. 592. Vischer (1927): Manuskript, S. 592. Vischer (1927): Manuskript, S. 592. Vischer (1927): Manuskript, S. 593. Das Manuskript wird im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt (Sig. 41.727, S. 19), wo ich es mit der freundlichen Unterstützung der Mitarbeiter einsehen konnte. Da der Satz gestrichen wurde, erscheint er nicht in Robert Vischers Abdruck von 1927.
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bindet, so daß er zusammen mit der Realteleologie in Zweifel gezogen wird. Mit dem Thema der Stufenleiter der Natur hängt natürlich auch die Frage zusammen, ob die rezenten Arten veränderlich oder aber konstant seien. Vischer nimmt hier wieder eine schwankende Haltung ein, indem er die Veränderlichkeit prinzipiell zugibt, aber die „Hauptformen des organischen Lebens“188 unveränderlich wissen will. Nur so kann er seine Ideenwelt retten, die er für ewig hält. Das gleiche Ziel verfolgt er mit der Idee einer Evolution der kulturellen Einrichtungen und Werte des Menschen, einer „Art von Darwinismus N. 2“: „Man wird auch von den sittlichen Ideen, d.h. Gestaltungen des Lebens nachweisen können, daß sie wie durch mechanischen Prozeß – Kampf ums Dasein – gefunden sind.“189 Doch auch diese kulturelle Evolution will Vischer durch innere Ideen geleitet wissen, so daß sich die menschlichen Ideale zwar in der Zeit nach darwinschen Prinzipien entwickelt haben und sich auch heute noch verändern, aber trotzdem „z e i t l o s ewige Ideen, – ‚die droben hängen unveräußerlich und unzerbrechlich‘ “190 sind. Die Verbindung eines weitgehend akzeptierten Darwinismus mit platonischem Gedankengut dient dazu, die aufbrechenden Unsicherheiten über Entstehung und weitere Veränderung des Menschen und seiner sittlich-kulturellen Ordnungen zu beherrschen. Zu diesem Zweck sichtet Vischer die philosophische Literatur seiner Zeit. Was die Verbindung des Darwinismus mit dem Platonismus anbelangt, so bedient er sich eines Aufsatzes von Otto Liebmann, der die weitgehende Vereinbarkeit von Darwinismus und Platonismus postuliert.191 So kommt Vischer zu einer getrennten Evolution von Natur und Geist auf zwei Ebenen, was er in seinem Manuskript graphisch durch zwei parallel versetzte Linien veranschaulicht:
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188 Vischer (1927): Manuskript, S. 592. 189 Vischer (1927): Manuskript, S. 597. Planck schreibt im Vorwort von Wahrheit und Flachheit des Darwinismus, daß die Kulturentwicklung der Menschheit „eine Bestätigung“ für die „Grundansicht“ der zunehmenden Differenzierung, also für die Grundeinsicht des Darwinismus sei. Vgl. Planck (1872): Wahrheit und Flachheit des Darwinismus, Vorwort S. 3. 190 Vischer (1927): Manuskript, S. 597. Das Schiller-Zitat stammt aus Wilhelm Tell (2. Akt, 2. Szene) und wird in Alberts Tagebuch im Auch Einer (AE2, S. 114) wiederholt. 191 Otto Liebmann: Platonismus und Darwinismus. In: Philosophische Monatshefte 9 (1874), S. 441– 472. Vischer erwähnt den Namen Liebmann mit dem Hinweis auf die Philosophischen Monatshefte in Friedrich Theodor Vischer: Carl Gustav Reuschle, Philosophie und Naturwissenschaft. Zur Erinnerung an David Friedrich Strauß. Bonn 1874. In: KG4, S. 489–534 (ED 1874; erweitert 1882), S. 514.
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Realteleologie und Kontingenz bei Friedrich Theodor Vischer
Auf beiden Ebenen akzeptiert er die Selektionstheorie als Beschreibung und will sie zumindest in der Ideen-Evolution durch teleologische Prinzipien ergänzen. Mit Vischers graphischer Darstellung ist zugleich die Grundlage für die Zwei-Stockwerk-Lehre gelegt, wie sie Albert im Auch Einer vorträgt. Als zweiten Schritt unternimmt Vischer eine Verteidigung des Begriffs der inneren Zweckmäßigkeit.192 Wie wir zeigen konnten, nahm dieses Konzept in Vischers Ästhetik eine entscheidende Rolle in der metaphysischen Begründung der Naturschönheit ein. Wieder hält er Strauß vor, einmal mit Darwin Zweckmäßigkeit durch das Walten von blinden Naturgesetzen zu erklären und sich dabei auf Erläuterungen von Hermann von Helmholtz zu stützen. An anderen Stellen dagegen werde die innere Zweckmäßigkeit wieder behauptet. Auch hier hat Vischer die Allgemeine Zeitung genau gelesen, denn er geht auf die Rezension von Georg Seidlitz ein, in der dieser zwischen Zweckmäßigkeit als Resultat und als Prinzip unterschieden hatte. Über den Begriff der Zweckmäßigkeit ex post (als Resultat) schreibt Vischer: „Dies ist ein Begriff, der sich in Widersprüche auflöst. – Die innere Zweckmäßigkeit in der Natur wäre also g e l e u gn e t ; soll Zweckmäßigkeit nur expost sein, so gibt es keine i n n er e .“193 Vischer meint hiermit nicht etwa, daß durch Darwins Theorie die Tatsache der Zweckmäßigkeit eines Organismus geleugnet wird, sondern wenn er den Begriff ‚innere Zweckmäßigkeit‘ verwendet, dann denkt er an die Schellingsche Konzeption dieses von Kant stammenden Begriffs, also an die Einheit von Geist und Materie, Teleologie und Kausalität in der produktiven organischen Natur (natura naturans). Wenn nun Zweckmäßigkeit ohne Geist erklärt werden kann (also ex post entsteht), dann ist die innere Zweckmäßigkeit im Sinne Schellings überflüssig. Vischer wirft diesem Begriff zwar Widersprüchlichkeit vor, begründet dies aber im Haupttext nicht. Am Rand fügt er hinzu: „Die innere Zweckmäßigkeit ist zeitlos im Weltall, also i m m e r wie n a c h h e r , so auch v o r h e r .“194 Vischer sucht auch in anderen Texten die Zeitlosigkeit der inneren Zweckmäßigkeit und deren neue Begründung durch Darwin ______________________
192 In Vischers gedruckter Rezension des Straußschen Buches in den Kritischen Gängen formuliert er als Haupteinwand, daß Strauß eine unklare Haltung zur inneren Zweckmäßigkeit einnehme. Der zweite Haupteinwand betrifft das Verhältnis des Zufalls zur inneren Zweckmäßigkeit. Wie stelle sich innere Zweckmäßigkeit trotz oder sogar durch den Zufall so her, daß man von einer moralischen Weltordnung reden könne? Vgl. Friedrich Theodor Vischer: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntnis von D. Fr. Strauß. In: KG1, S. 280–295 (ED 1873). Besonders S. 289f. Der darwinsche Gedanke einer durch Zufälle entstehenden Zweckmäßigkeit wird auch im Tagebuch des Auch Einer auftauchen. 193 Vischer (1927): Manuskript, S. 593f. 194 Vischer (1927): Manuskript, S. 593.
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zusammenzudenken. Genau dies führt zu dem Versuch „einer Korrektur des Zeitbegriffes“195, der in Vischers späten Schriften und in den Reflexionen des Auch Einer immer wieder auftaucht. Nach Vischer müßte man zeigen, daß „Vorher und Nachher in dieser Frage ungültige Kategorien seien“196 und Vischer zweifelt, ob eine solche Untersuchung des Zeitbegriffs zielführend sei. Diese Tatsache zeigt aber aufs neue, daß Vischer die Darwinsche Erklärung der Zweckmäßigkeit nicht einfach ablehnt oder gar ignoriert, sondern der Alternative einer Zweckmäßigkeit ex ante (als Prinzip) oder ex post (als Resultat) dadurch zu entkommen versucht, daß er die Voraussetzungen, auf denen die Alternative ruht, also den Zeitbegriff, hinterfragt.197 Nach der Kritik des Darwinschen Zweckbegriffs und der Restitution der inneren Zweckmäßigkeit fragt Vischer angesichts von Straußens Buch, „ob Geist in der Natur ist.“198 Sei dies nicht der Fall, dann habe die Konzeption eines gütigen und vernünftigen Universums einen „wankenden Unterbau“. In diesem Fall des Materialismus hat für Vischer das „Weltganze einen Riß“199, der Mensch sei dann „vereinzelt“, was dazu führe, daß die Zufälle, durch die Vischer den Menschen betroffen sieht, nicht mehr durch eine letzte Größe absorbiert werden können: Wenn von der Vernunft in uns hinüber zur sogenannten Materie nur ein Weg durch mechanische Prozesse ist, so wissen wir nicht [sic!] von Vernunft und Güte im Weltall. Der Satz: „Einrichtung der Welt zu Gunsten eines reinen Strebens“ hat kein Fundament, wenn die unendlich schwere Frage über den Z u f a l l , das unendliche Ineinander von äußeren Begebenheiten und Handlungen, nicht so besprochen ist, daß der Verfasser einen G l a u b e n an die unabweisbare, dunkle Wahrheit einer Weltordnung fordert.200
Das heißt nun nichts anderes als: Wenn Darwin mit seiner Erklärung der Zweckmäßigkeit Recht hat, dann gibt es keinen Geist in der nichtmenschlichen Natur, der Mensch steht einer ateleologischen Welt gegenüber. Dann sind die Zufälle, die zwischen menschlichen Handlungen und der Natur entstehen, nicht durch eine Weltordnung oder im zeitlichen Verlauf der absoluten Idee aufhebbar. Das Kausal-Kontingente wäre eine letzte Kategorie der Wirklichkeitsbeschreibung. Wir erinnern uns, daß Vischer dem Zufall in seiner Ästhetik zwar großen Spielraum gelassen, aber an ______________________
195 KG4, S. 516 (Carl Gustav Reuschle, Philosophie und Naturwissenschaft). 196 KG1, S. 290 [(Rez.): Der alte und der neue Glaube]. 197 Auch Fritz Schlawe stellt beim späten Vischer eine Krise des Zeitbegriffs fest, bringt diese aber nicht in Zusammenhang mit der darwinschen Erklärung der Zweckmäßigkeit. Schlawes Hinweis auf Schopenhauer reicht zur Erklärung dieser Krise bei Vischer nicht aus. Vgl. Schlawe (1959): Vischer, S. 343. 198 Vischer (1927): Manuskript, S. 594. 199 Vischer (1927): Manuskript, S. 600. 200 Vischer (1927): Manuskript, S. 600.
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einem schließlichen Ausgleich schon in der Wirklichkeit festgehalten hatte. Diese Möglichkeit, Kontingenz zu absorbieren, indem sie verzeitlicht wird, steht jetzt zur Disposition. Damit verliert aber auch das Prinzip der indirekten Idealisierung seinen Wahrheitsgehalt, den Vischer noch in der Ästhetik mit dem Hinweis, daß sich auch in der Wirklichkeit die Zufälligkeiten schließlich aufheben, rechtfertigen konnte. Doch immer wieder verteidigt Vischer seine teleologischen Kernkonzepte. So an einer Stelle, die im Hinblick auf seinen Roman Auch Einer von Bedeutung ist. Für die Annahme einer vernünftigen und guten Weltordnung werde nämlich die Vorstellung eines „Verhältnisses zwischen Tugend und Wohl, Schuld und Übel“201 benötigt. Die Frage ist demzufolge, ob es eine ausgleichende Gerechtigkeit (eine Nemesis) gebe oder ob der reine Zufall herrsche. Man müsse sich für die Nemesis entscheiden, weil sonst weder Güte noch Vernunft im Weltall behauptet werden können. Die Dichter würden in ihren Werken auf die Nemesis zurückgreifen und das zeitweise Ausbleiben dieser Gerechtigkeit in der Wirklichkeit ignorieren. Ob sie damit die Wirklichkeit richtig abbilden, weiß Vischer nicht zu sagen.202 Trotz der wiederholten Behauptung einer teleologischen Weltordnung ist es auffällig, wie genau Vischer den Darwinismus versteht und wie weitgehend er ihn akzeptiert. So kann es nicht verwundern, daß Vischer die Notwendigkeit zur „Halbheit“ in seinen Schriften zum Straußschen Buch immer wieder betont. Die Religion und der Mythos müßten zwar immer weiter reduziert werden, aber sie dürften eben, vor allem für die große Mehrheit der Menschen, nicht ganz aufgegeben werden.203 Was wir also beim späten Vischer sehen, ist eine vielfach widersprüchliche Schwundstufe des Geistglaubens und damit der Realteleologie. Sie kommt dadurch zustande, daß Vischer zu sehr an der Empirie interessiert ist, um die neuen Ergebnisse der Naturwissenschaften zu ignorieren, andererseits aber zu tief in der idealistischen Tradition von Schelling und Hegel, letztlich im christlichen Erbe, verwurzelt ist. Die Orientierungsleistung der Realteleologie zeigt sich in dem Moment ganz, wo sie zur Disposition steht. Dann erweist sich, wie unmittelbar metaphysische Konzepte wie die innere Zweckmäßigkeit verknüpft sind mit emotionalen Reaktionen und Handlungsanweisungen.
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201 Vischer (1927): Manuskript, S. 598. 202 Vgl. Vischer (1927): Manuskript, S. 598f. 203 Vgl. Vischer (1927): Manuskript, S. 604f.
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Die Besprechung des Buchs von Carl Gustav Reuschle204 Philosophie und Naturwissenschaft. Zur Erinnerung an David Friedrich Strauß von 1874 vertieft die Argumente, die wir schon kennen, bringt aber keine substantiell neuen Gedanken. Deutlich wird jedoch, daß die Möglichkeit der Reduktion aller Vorgänge auf die Bewegung von Atomen, also das, was Dubois-Reymond als „Naturerkennen“ bezeichnet hatte, Vischer und seinen Zeitgenossen erhebliche Schwierigkeiten bereitete. Das kann nicht verwundern, lag doch noch kein brauchbares Atommodell vor.205 Aber auch auf der Ebene der Evolution von Organismen gab es erhebliche Verständnisprobleme, weil der Gedanke einer positiven Rückkopplung der erfolgreichen Merkmale durch erhöhte Reproduktionswahrscheinlichkeit neu und ungewöhnlich war: Die zufälligen Mutationen werden ja über die vermehrte Reproduktion wieder als Ausgangsmaterial in das System eingebracht und evoluieren somit. Vischer fehlt dieser Systemgedanke, von dem aus die Konzeption der „Finalität als objektive Systemeigenschaft“206 möglich ist: Versuchen wir eine Natur uns zu denken, unter deren ununterbrochener Kausalkette nichts läuft als das Atom, und sehen wir von den aufgedeckten innern Widersprüchen des Atomismus augenblicklich ab, so müssen wir die Vorstellung einer Werkstätte vollziehen, worin ein Etwas in immer neue Formen getrieben wird, das dem Treibendem, dem Hammer mit einer innern, ihm eigenen lebendigen Kraft absolut so wenig als Eisen und Erz entgegenkommt. So entstehen Nägel, Klammern, Stangen, so entsteht in Ewigkeit keine organische Welt. Mit dem allgemeinen Nexus der Kausalität ist nichts erklärt, wenn man auf die eine Seite das schlechthin Tote, auf die andere das Gesetz der Ursache und Wirkung stellt.207
So kann es nicht verwundern, daß Vischer zu der Einsicht kam, das Atommodell mit dem Kausalitätsprinzip sei „mystisch“, weil es viele Erscheinungen nicht erklären könne. Nochmals stellt Vischer die Alternative zwischen Realteleologie und Kausalität auf: Ziel ist entweder kein leeres Wort, dann enthält es den Begriff Streben, Streben aber setzt Zweck voraus und hiemit ist die ganze b l o ß e Kausalitätstheorie umgestoßen, oder diese bleibt stehen und „Ziel“ ist ein leeres Wort.208 ______________________
204 Vischer kannte Carl Gustav Reuschle (1812–1875) persönlich aus der Zeit, als er in Tübingen außerordentlicher Professor war. Reuschle war zu diesem Zeitpunkt Stiftsrepetent. Vgl. KG6, S. 484 (Mein Lebensgang). Zu Reuschle vgl. ADB, Bd. 28, S. 298. 205 Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Atomhypothese durch die Beugung von Röntgenstrahlen und die Experimente in der Wilsonschen Nebelkammer bestätigt und fand allgemeine Anerkennung. Das Bohr’sche Atommodell wurde 1913 konzipiert. 206 Engels (1982): Teleologie, S. 132. 207 KG4, S. 512 (Carl Gustav Reuschle, Philosophie und Naturwissenschaft). 208 KG4, S. 515 (Carl Gustav Reuschle, Philosophie und Naturwissenschaft).
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Realteleologie und Kontingenz bei Friedrich Theodor Vischer
Hier zeigt sich vielleicht am deutlichsten, daß Vischer Ziele weiterhin mit Zwecken, also mit mentalen Zuständen verbindet und sich nicht erklären kann, wie Zielgerichtetheit in einer nach dem Paradigma des Mechanismus verstandenen kausalen Welt zustande kommt. Und doch hat Vischer recht, wenn er feststellt, daß sich der Zielbegriff in der Evolutionstheorie grundlegend ändert, ja ein „leeres Wort“ ist. Heute wird es im Fall von unbelebten Systemen entweder metaphorisch verwendet (Woodfield209) oder aber ganz zurückgewiesen (Engels210), weil der kybernetische Zielbegriff ohne mentale Zustände auskommt. Vischer hält deshalb auch hier an einer „innere[n] Entwicklungsfähigkeit“211 fest, die der Natur „entgegenlebt“. Diese Auffassung sei ebenso mystisch wie die Atom-Hypothese, und Vischer entscheidet sich für den Mystizismus, der ihn persönlich befriedigt. Und doch ist der Zweifel inzwischen zu groß geworden, und die Alternative einer Erklärung der Zweckmäßigkeit, die im Einklang mit der Empirie steht, zu verlockend, um das Erklärungsangebot des Darwinismus ganz auszuschlagen.
5 Vischers neue Metaphysik des Schönen: Kampf, Übergangsformen und offenes Ende In der Fortsetzung seiner Ästhetik-Kritik von 1873 gibt Vischer die ganze Hegelianische Dialektik auf, die sein großes idealistisches System strukturierte: „ich gebe mehr preis, und zwar die ganze Methode Hegelscher Begriffsbewegung, welche die immanente logische Bewegung der Sache selbst sein soll“.212 Statt der teleologischen Selbstbewegung des Begriffs über die dialektischen Gegensätze hin zu einer stufenweisen Aufhebung und einem festen Ziel entwirft Vischer nun eine Art Begriffsmechanik mit offenem Ende, in der es eigentlich nur Übergangsformen gibt. Sein dort skizzierter Plan sah vor, zunächst das allgemeine Wesen des Schönen zu entwickeln. Beim Übergang zu den besonderen Formen des Schönen, also zum Erhabenen und Komischen, solle nun das Häßliche als Ursache der Differenzierung eingeführt werden. An dieser Stelle gab es in seiner dialektischen Ästhetik eine gravierende Motivierungslücke. Warum sollte sich das Schöne ______________________
209 Andrew Woodfield zählt unbelebte Systeme mit Rückkopplungs-Effekt zur Kategorie der „zielintendierten“ Gerichtetheit, die normalerweise die Fähigkeit, mentale Zustände zu haben, impliziert. In diesem Fall sei die mentale Komponente einer teleologischen Beschreibung nur metaphorisch zu verstehen. Vgl. Woodfield (1976): Teleology, S. 207. 210 Vgl. Engels (1982): Teleologie, S. 51. 211 KG4, S. 512 (Carl Gustav Reuschle, Philosophie und Naturwissenschaft). 212 KG4, S. 404 (Kritik meiner Ästhetik).
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selbsttätig in das Erhabene und das Komische teilen?213 Das Häßliche konturiert nun ‚rückwärts‘ das einfach Schöne als dessen ausgeschlossenes Gegenteil. Zugleich ist es ab dieser Stelle auch als gültiges Prinzip zugelassen: „Von da an begleitet es die Ästhetik auf allen ihren Wegen, bald ungültig, aber als abhebender Schlagschatten, bald gültig, eingelassen, aber als Feind, der überwunden werden soll. –“214 So gesehen ist das Häßliche immer in der einen oder anderen Form anwesend, auch schon beim einfach Schönen. Die Motivationslücke ist nun durch das Häßliche ausgefüllt. Es ist der „Motor der Differenzierung im Schönen“215 oder das „Ferment der Differenzierung“216, wie es Vischer unter Verweis auf den Ästhetiker Max Schasler auch nennt.217 Das Häßliche treibt demzufolge aus dem Schönen differenzierte Formen heraus, die miteinander im Kampf liegen und zahlreiche „Übergangsformen“ erzeugen.218 So entsteht etwas Erhaben-Komisches oder etwas Komisches, das einen „furchtbaren Hintergrund“ hat.219 Das Häßliche ist im Erhabenen und Komischen stets als Moment anwesend, wird folglich nicht aufgelöst oder überwunden. Dies hat freilich Konsequenzen für das Prinzip der indirekten Idealisierung und somit für den realistischen Stil, sollte in ihm doch gerade das Häßliche in das Komische und Erhabene aufgelöst werden. Nun zeigt sich, daß in diesen Formen ebenfalls das Häßliche anwesend ist, so daß von dessen Überwindung keine Rede mehr sein kann: „Hiemit erhellt, wie groß die Rolle des Häßlichen in einem Teile der Künste sein wird.“220 Die indirekte Idealisierung verliert damit ______________________
213 Die Begründung in seiner Ästhetik basiert deutlich auf einer anthropomorphisierenden Selbstbewegung der Idee: „Jede wahre Einheit enthält den Gegensatz als Möglichkeit in sich, sie betätigt sich als Einheit, indem sie ihn in die Wirklichkeit entläßt, wodurch er, weil die Entgegengesetzten Glieder derselben Einheit sind, zum Widerspruch wird; sie bewährt sich, indem sie im Widerspruch nicht verloren geht, sondern ihn überwindet.“ [Ä1, S. 226 (§ 82).] 214 KG4, S. 409 (Kritik meiner Ästhetik). 215 KG4, S. 410 (Kritik meiner Ästhetik). 216 KG4, S. 408 (Kritik meiner Ästhetik). 217 Schaslers eigener Versuch, Darwinismus und Hegelianismus, also zufällig-mechanistische und notwendig-teleologische Weltauffassung zusammen zu denken, findet sich in: Max Schasler: Über materialistische und idealistische Weltanschauung. Berlin 1879, S. 1–56. Bes. S. 22– 53. Schasler, durchaus auf der Höhe des Diskussionsstandes, unterscheidet den philosophischen Entwicklungsbegriff von der zufälligen Veränderung in Darwins Lehre, ordnet aber schließlich die Kausalursachen den teleologischen Ursachen unter. Wenn man dies akzeptiert, dann „hört der Weltprozeß auf, ein blos zufälliges Spiel ideenloser Atomkräfte zu sein“ (ebd. S. 52f.). Zusätzliche Argumente des Ästhetikers sind dabei die „Weltschönheit“ und die geistigen Güter des Menschen. Vgl. hierzu ebd. S. 52f. 218 Vgl. KG4, S. 413 (Kritik meiner Ästhetik). 219 Vgl. KG4, S. 413 (Kritik meiner Ästhetik). 220 KG4, S. 414 (Kritik meiner Ästhetik).
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aber teilweise ihre Verklärungs-Funktion, weil ja nach wie vor Häßliches vorhanden ist. Statt eines festen Abschlusses, also einer Rückkehr der widerstreitenden Momente zur Einheit des einfach Schönen, läßt Vischer die Metaphysik des Schönen nun gegen das Ende hin zerfasern. Ja, den harmonischen Abschluß der Ästhetik bezeichnet er als seinen „Hauptfehler“.221 Zwar konzipiert er noch eine „harmlose“ Schönheit, die er mit den Begriffen der Schillerschen Ästhetik als Anmut und Würde bestimmt. Doch diese Formen vermischen sich mit dem Erhabenen und Komischen, so daß auch hier das Häßliche seinen Platz hat und nur „Übergänge“, „Verbindungen“ und „Mischungen“ übrig bleiben, vor denen der immer noch vorhandene Systemwille Vischers kapituliert.222 Von einem festen Abschluß oder gar einer „Rückkehr“ der widerstreitenden Momente kann keine Rede mehr sein.223 Vischers Selbstkritik, kurz nach der Teleologie-Debatte in der Allgemeinen Zeitung entstanden, trägt deutliche Züge einer veränderten, an darwinistischen Prinzipien orientierten Weltauffassung: Die Einsicht, daß Entwicklung nicht von selbst abläuft, sondern ein bewegendes Prinzip, einen „Motor“ benötigt, wurde durch Darwins Hypothese zur Evolution sicher sehr begünstigt, ebenso wie die Metaphorik des „Kampfes“ zwischen verschiedenen Kräften, die nur „Übergangsformen“ hervorbringen. Wir erinnern uns, daß Mischformen in Vischers Naturästhetik keinen Platz hatten oder einfach abgewertet wurden. Nun sind sie zum wesentlichen Bestandteil geworden, ja eigentlich gibt es bei Vischer nur noch Übergangsformen. Vor allem aber erzählte die Metaphysik des Schönen in Vischers Ästhetik auch eine schöne Geschichte: Vom einfach Schönen, das auszog, sich in das Erhabene und das Komische spaltete und nach dieser langen Verirrung schließlich wieder zu sich fand, ja förmlich „zurückkehrte“. Doch gerade das befriedigende Ziel dieser Begriffsbewegung muß Vischer aufgeben. Sein neuer Metaphysik-Entwurf kennt nur noch kämpfende Übergangsformen und ein offenes, zerfasertes Ende ohne „Rückkehr“. Anstelle der teleologischen Selbstbewegung des Begriffs ist die Metaphorik des Darwinismus („Motor“, „Kampf“, „Übergangsformen“) getreten, wobei sich die aus der Allgemeinen Zeitung bekann______________________
221 KG4, S. 409 (Kritik meiner Ästhetik). 222 Vgl. KG4, S. 412 (Kritik meiner Ästhetik). Vischer sieht im Bestimmen dieser Mischungsformen „eine der schwersten Aufgaben der Ästhetik“ (ebd.). 223 Die Kritik von Max Schasler, auf die sich Vischer auch explizit bezieht, hat sicher dazu beigetragen, daß Vischer die Rückkehr des Erhabenen und Komischen zum Schönen als Abschluß der Metaphysik des Schönen fallen ließ. Schasler hatte zu dieser „Rückkehr“ geschrieben: „Es ist wahrlich schwer, bei solchen dialektischen Kunststücken, zu denen hier die Idee genöthigt wird, nicht satyrisch zu werden.“ [Schasler (1872): Kritische Geschichte der Ästhetik. Bd. 2, S. 1072.]
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te Teleologie-Debatte in der Ziellosigkeit des offenen Endes niederschlug. Denn in der A.Z. wurde ja gerade kritisiert, daß die „unbewußte immanente Teleologie Hegels ein unklarer Gedanke sei.“224 Auch wurde hier vorgeschlagen, die Hegelsche Negation durch den Kampf ums Dasein als bewegendes Prinzip zu ersetzen. Es ist also kein Zufall, daß Vischers Selbstkritik mit Darwins neuestem Buch Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen (1872) und mit dem Eingeständnis endet, daß die Erforschung einer an den Naturwissenschaften orientierten Ästhetik ganz am Anfang stehe. Zweifelsohne darf man die Bedeutung dieses Entwurfs für Vischers Ästhetik nicht zu hoch ansetzen. Schließlich wurde der Plan in den Vorlesungen, die uns in editorisch problematischer Gestalt unter dem Titel Das Schöne und die Kunst vorliegen, nicht sehr konsequent verfolgt oder gar weiter in Richtung eines ästhetischen Darwinismus ausgebaut.225 Doch bekommt das Häßliche nun einen breiteren Spielraum. Sicher sah Vischer auch einen Unterschied zwischen der Fachdiskussion und der allgemeinverständlichen Vermittlung von Ästhetik in seinen Vorlesungen. Aber trotzdem zeigt der Versuch, daß Vischer auf der Suche nach einem Ersatz für die Hegelsche Dialektik ist, und daß dieser Ersatz im Umfeld der Transmutationslehre Darwins gesucht wurde. Auch konnten wir nahelegen, daß die Teleologie-Diskussion um den Darwinismus dazu beitrug, daß Vischer sich so deutlich von der Hegelschen Begriffsbewegung distanzierte. Das Ergebnis, also das Häßliche als Motor der Aufspaltung des Schönen in die sich bekämpfenden Momente des Erhabenen und Komischen mit ihren vielen Übergangsformen, mutet freilich reichlich seltsam an, und das wohl nicht nur aus heutiger Perspektive. Und doch mag ein Blick auf Nietzsches Geburt der Tragödie zeigen, daß beinahe zeitgleich aus dem Zusammenbruch der Dialektik ein ähnliches Konzept entwickelt wurde.226 ______________________
224 Theobald Ziegler: Kritik gegen Kritik. In: Allgemeine Zeitung vom 29.12.1872, Nr. 364 (B), S. 5571–5572; 30.12.1872, Nr. 365, S. 5579–5581; 31.12.1872, Nr. 366 (B), S. 5597–5599. Hier 30.12.1872, Nr. 365, S. 5580. 225 Vgl. Friedrich Theodor Vischer: Das Schöne und die Kunst. Zur Einführung in die Ästhetik. Vorträge. Hg. von Robert Vischer. Stuttgart 21898. 226 Auf eine Wahlverwandtschaft von Vischer und Nietzsche hinzuweisen, ist seit Willi Oelmüllers Studie nichts Ungewöhnliches. So sieht Reinhold Grimm in der bejahenden Weltanschauung, hier durch den Humor, dort durch den amor fati, ein gemeinsames Element beider Denker. Ihre Verwandtschaft zeige sich besonders in einer Arbeit des VischerSchülers Julius Bahnsen von 1877: Das Tragische als Weltgesetz und der Humor als ästhetische Gestalt des Metaphysischen. Vgl. Reinhold Grimm: Embracing Two Horses: Tragedy, Humor and Inwardness; or, Nietzsche, Vischer and Julius Bahnsen. In: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 203–220. Allerdings geht Grimm wohl zu weit, wenn er Nietzsches Philosophie als „a mere variant of Vischer’s worldview and attitude toward life and all things“ (ebd. S. 217) beschreibt.“ Vor allem konnte sich Vischer von der Dialektik Hegels, trotz des hier vorgestellten Metaphysik-Entwurfs, nur sehr langsam und unvollständig lösen. Gerade das absolute Komi-
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Nietzsches Metaphysik in der Geburt der Tragödie basiert schließlich ebenfalls auf zwei Prinzipien, die nicht dialektisch entgegengesetzt sind, sondern im ewigen Kampf miteinander liegen und nur zeitweise in einer Art „Waffenstillstand“ zur Ruhe kommen. Ganz so ist das Verhältnis des Häßlichen und Schönen bei Vischer konzipiert. Das Häßliche begleitet das Schöne immer, ist einmal ganz ausgeschlossen (so wie in Nietzsches Schrift im Fall dorischer Kunst das Dionysische ganz ausgeschlossen ist), dann zugelassen und im Kampf mit dem Schönen. Vischers und Nietzsches Entwürfe können so als Reaktion auf den Zusammenbruch des Hegelschen Entwicklungsdenkens gelesen werden, das teleologisch orientiert war. Der Kampf als Prinzip der ziellosen Differenzierung in viele Übergangsformen ist an dessen Stelle getreten. Mit der Aufgabe der Teleologie in der Ästhetik ist auch die Funktion, den Zufall aufzuheben, unmöglich geworden. Weder kann in der begrifflichen Konstruktion gezeigt werden, wie sich aus dem Erhabenen und Komischen das Schöne wieder herstellt, noch kann die Kunst diese Vereinigung zur Wirklichkeit bringen. Vielmehr wird das Häßliche als Folge des Zufälligen selbst in der Kunst einen entscheidenden Stellenwert einnehmen. Als eigenständigen und gleichberechtigten Versuch, über den Zufall nachzudenken, werden wir im folgenden Kapitel den Roman Auch Einer von 1878227 betrachten. Im Erzählen versucht Vischer, dem Zufall möglichst großen Spielraum zu lassen und ihn trotzdem in eine ästhetische Komposition einzubinden. Auch Einer wurde von Willi Oelmüller und anderen als bloßer Zitaten-Spender verwendet, ohne daß der Eigenwert des Ästhetischen hierbei eine Rolle gespielt hätte. Dabei wird der Roman selbst mit seiner Komposition zu einem, ja eigentlich zu zwei Versuchen, den Zufall zu verarbeiten und im Erzählen aufzuheben.
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sche ist ja in diese Dialektik eingebunden und ist nur durch die Tatsache versöhnt, daß auch in der Realität Subjekt und Objekt identisch sind. Bei Nietzsche dagegen entsteht die Lebensbejahung angesichts des Chaos’ der Welt in einem dynamischen Modell der Selbstkonstitution, das sich eher durch seinen Rückgriff auf Heraklits ‚königliche Intuitionskraft‘ nachvollziehen läßt, also aus anderen Quellen gespeist wird. 227 Der Roman ist 1878 ausgeliefert worden, wurde aber auf 1879 vordatiert.
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6 Auch Einer 6.1 Rezeption und Forschung Für die normative Literaturkritik des 19. Jahrhunderts stellte Vischers Buch Auch Einer ein wirkliches Problem dar: Kritiker wie Friedrich Spielhagen oder Berthold Auerbach, die sich dem Werk unter gattungspoetologischen Prämissen näherten, wurden schon durch den Untertitel provoziert: Auf dem Vorsatzblatt, wo normalerweise unter dem Titel die Gattungsbezeichnung wie ‚Novelle‘ oder ‚Ein Roman‘ vermerkt ist, steht im Fall von Vischers Werk „Eine Reisebekanntschaft“. Spielhagen reagierte besonders verärgert: „Wenns ‚ein Roman‘ sein sollte, weshalb es nicht ehrlich sagen? wollte sich der Verfasser dem zuständigen Gerichtshof entziehen?“228 Freilich gab auch die Werkform selbst Anlaß zum Zweifel: Das zweibändige Werk beginnt mit einer etwa 120-seitigen Ich-Erzählung, in der wir in strenger Mitsicht mit dem Erzähler seine Reisebekanntschaft kennenlernen, die er „Auch Einer“ nennt, da er Vor- und Nachnamen zunächst nicht in Erfahrung bringen kann. Dieser A.E. schickt dem Erzähler einige Monate später die ‚Pfahldorfgeschichte‘ zu, die dieser nach dem Tod des Autors herausgibt. Sie nimmt einen großen Teil des ersten Bandes ein. Im zweiten Band folgt dann nochmals ein Bericht des IchErzählers, diesmal über eine zufällige Beinahe-Wiederbegegnung auf einem Bahnhof und über den Tod von A.E. Unterbrochen wird diese Darstellung, in der vor allem die Bekannten von A.E. zu Wort kommen, von weiteren poetischen und philosophischen Versuchen des A.E. Den Großteil des zweiten Bandes nimmt das Tagebuch des A.E. ein. Hiermit schließt das Werk, sieht man einmal ab von einem dreizeiligen Nachsatz des fiktiven Herausgebers und Erzählers. Diese offensichtliche Zerstückelung der Form stellte die Rezensenten vor erhebliche Probleme, vor allem, weil sie Vischer als normbewußten Ästhetiker und Literaturwissenschaftler schätzten. Trotz aller Kritik an der Form ist bereits bei den damaligen Rezensenten der Wille erkennbar, in dem komplizierten Aufbau des Buchs eine Qualität zu sehen: So bei Wolfgang Kirchbach, der feststellte, daß die „scheinbar unkünstlerische
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228 Friedrich Spielhagen: Ein „humoristischer“ Roman. Fr. Theodor Vischers „Auch Einer“. In: Friedrich Spielhagen: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. Faksimiledruck nach der 1. Auflage von 1883. Mit einem Nachwort von Hellmuth Himmel. Göttingen 1967 (veränderter Abdruck des ED 1879), S. 101–128. Hier S. 103.
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Komposition doch im innersten Grunde künstlerischer war, als gar mancher Meister von der Zunft sie jemals zu Wege gebracht hat […].“229 Während Kirchbach seine Vermutung nicht weiter begründete, gab Berthold Auerbach 1879 wichtige Hinweise, die eine Grundlage zur Neubewertung der Form hätten sein können, wenn man seine in Aphorismen gehaltene Rezension Wissen und Schaffen aufmerksam gelesen hätte. Der Romanaufbau sei eine „Decomposition“, eine gut überlegte Zerschlagung der Form, was mit dem Auflösen der Fabel (der histoire) und der fehlenden Entwicklung des Helden zusammenhänge.230 Auerbach selbst sah sich allerdings nicht im Stande, ausgehend von diesen Bemerkungen die Form des Romans unabhängig von der gattungspoetologischen Norm zu beurteilen.231 Das Verdikt über die mangelhafte Form bestimmte bis in die 1970er Jahre die Forschung. Die ausführlichste Arbeit, die noch aus der Phase der Popularität des Auch Einer stammt, ist die Dissertation von Franza Feilbogen von 1916. Deutlich ist ihre Ratlosigkeit angesichts der formalen Komplexität des Romans, die als Mangel gewertet wird: „Gewiß liegt in der Form eine Schwäche des Buches, sowie der Inhalt seine Stärke ist.“232 Noch Fritz Martini spricht 1974 in der dritten Auflage der Deutschen Literatur im bürgerlichen Realismus von einem „komplizierten Formgewebe […], an dessen Unentschiedenheit das künstlerische Gelingen gescheitert ist“.233 Inzwischen hatte sich allerdings eine neue Perspektive auf den Roman ergeben, die auch zu einer Neubewertung der Form führte. Walter H. Bruford und Reinhold Grimm stellten beide 1969 den Roman ins Vorfeld der literarischen Moderne, wobei Bruford auf die inzwischen zu Klassikern der Moderne avancierten Dichter James Joyce und Robert Musil verwies.234 Diesem Urteil schloß sich auch Günter Oesterle an: Auch Einer bezeichne eine „Durchgangsstelle zum modernen Roman.“235 ______________________
229 Wolfgang Kirchbach: Auch eine Rezension – kurz, man versteht mich! In: Wolfgang Kirchbach: Ein Lebensbuch. München, Leipzig 1886, S. 129–149. Hier S. 130. 230 Vgl. Berthold Auerbach: Wissen und Schaffen. Aphorismen zu Friedrich Vischer’s „Auch Einer“. In: Deutsche Rundschau 19 (1879), S. 269–295. Hier S. 272. 231 Nur Auerbachs negatives Urteil findet sich in Reinhold Grimms Aufsatz zur Wirkungsgeschichte des Auch Einer und als Folge auch bei Matias Martinez. Die aufschlußreichen Hinweise Auerbachs zur Analyse und damit zum Verständnis der Komposition wurden hierbei vernachlässigt. Vgl. Reinhold Grimm: Zur Wirkungsgeschichte von Vischers „Auch Einer“. In: Helmut Kreuzer (Hg.): Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Literatur-, kunst- und musikwissenschaftliche Studien. Fritz Martini zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1969, S. 352–381. Hier S. 361, Anm.60; S. 370. Ferner Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 110f. 232 Franza Feilbogen: Fr. Th. Vischers „Auch Einer“. Eine Studie. Zürich 1916, S. 155. 233 Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848–1890. Stuttgart 31974, S. 432. 234 Vgl. Grimm (1969): Wirkungsgeschichte, S. 380. Ferner Walter Horace Bruford: The Idea of „Bildung“ in Friedrich Theodor Vischer’s „Auch Einer“. In: Siegbert S. Prawer, R. Hinton Tho-
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Gegen die Fruchtbarkeit dieser Lesart wandte sich 1996 Matias Martinez. Er brachte als Interpretationshorizont die inzwischen aus dem Blick geratene Ästhetik Vischers, insbesondere die Paragraphen über den Zufall und den Humor, in die Diskussion ein. Allerdings verengte er die Problematik des Zufalls auf das Kunstwerk, nahm also die Ästhetik nicht in ihrem Gesamtentwurf wahr, in dem der Zufall die Wirklichkeit beherrscht, aber schon in ihr aufgehoben sein sollte. Auch vernachlässigte er die späten ästhetischen und naturphilosophischen Schriften Vischers, die dem Roman schon zeitlich viel näher stehen. So kam er zu dem Urteil, daß die Figur des A.E. ins Vorfeld der Psychoanalyse gehöre. Der Kampf des Protagonisten mit dem tückischen Objekt sei eine „nachträgliche, idiosynkratische Rationalisierung einer verzweifelten psychischen Notlage.“236 Eine zweite Linie in der Forschung, neben der Gattungs- oder Formdiskussion, behandelt den Roman als verdeckte Autobiographie Vischers. Sie läßt sich von den ersten Rezensionen237 über Vischers eigene Rechtfertigung238 bis hin zur modernen Forschung239 verfolgen. Besonders wirkte wohl die Einschätzung des Biographen Fritz Schlawe nach, der Auch Einer „geradezu eine zweite Abhandlung ‚Mein Lebensgang‘ “240 nannte. Hier soll der Versuch gemacht werden, Auch Einer vor dem Hintergrund von Vischers ästhetischen Schriften sowie seinen philosophischnaturwissenschaftlichen Reflexionen, wie sie hier vorgestellt wurden, zu verstehen. Die philosophische Bewältigung des Zufalls ist gescheitert, die Ästhetik subjektiviert, realteleologische Annahmen wurden durch Darwins ______________________
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mas, Leonard Forster (Hg.): Essays in German Language, Culture and Society. London 1969, S. 7–17. Hier bes. S. 7. Günter Oesterle: Die Grablegung des Selbst im Andern und die Rettung des Selbst im Anonymen. Zum Wechselverhältnis von Biographie und Autobiographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Friedrich Theodors Vischers Auch Einer. In: Reinhold Grimm, Jost Hermand (Hg.): Vom Anderen und vom Selbst. Beiträge zu Fragen der Biographie und Autobiographie. Königstein/Ts. 1982, S. 45–70. Hier S. 59. Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 133. Auch die Pathologisierung des A.E. hat Vorläufer im 19. Jahrhundert. Obwohl sich Wolfgang Kirchbach in seiner positiven Rezension zunächst gegen die Vorwürfe wehrt, daß A.E. ein pathologischer Charakter sei, so stimmt er ihnen schließlich doch zu: Die Zufälle, die dem A.E. begegnen, bestünden „für viele normal organisierte Menschen“ gar nicht, mithin sei der Protagonist – zumindest teilweise – psychisch wie körperlich „p a t h o l o g i s c h “. Vgl. Kirchbach (1886): Rezension, S. 141f. Vgl. z.B. Auerbach (1879): Wissen und Schaffen, S. 292. Hier spricht Auerbach von einer „nur theilweise vollbrachten Ablösung [des Protagonisten; P.A.] von der Persönlichkeit des Dichters.“ Vgl. KG6, S. 523–527 (Mein Lebensgang). Hier räumt er diesen Vorwurf zumindest nicht ganz aus. Hier ist vor allem die Studie von Günter Oesterle zu nennen: Oesterle (1982): Grablegung. Schlawe (1959): Vischer, S. 361.
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Erklärung der Zweckmäßigkeit zunehmend unplausibel. Wie überführt Vischer unter diesen komplizierten Ausgangsbedingungen sein ZufallsProblem in das neue Medium? Wie wirkt es sich auf eine mögliche erzählte Teleologie, wie auf die Erzählteleologie aus? Es sei vorausgeschickt, daß eine erzählte Teleologie in Vischers Roman systematisch vom sinnlosen Zufall verhindert wird. Die Erzählteleologie wird mit einer für das 19. Jahrhundert ganz ungewöhnlichen Konsequenz zur Basisfunktionalität abgebaut. Die Reduktion zur Basisfunktionalität hat im Tagebuch als einer Form, in der jede nachträgliche Sinnstiftung, jede „retrospektive Teleologie“ (Jens Brockmeier) unmöglich ist, seine (vorläufige) End- und Schwundstufe erreicht. Demgegenüber zeigt die intradiegetische, vom Protagonisten erzählte Pfahldorfgeschichte alle Kennzeichen einer stark ausgeprägten Erzählteleologie, also besonders eine rigide Funktionalisierung des Zufalls auf das Ende hin. Sie ist ein ‚Ganzes‘, doch geht diese Eigenschaft auf Kosten ihrer Glaubwürdigkeit. Somit müssen wir innerhalb der ästhetischen Konstruktion erneut nach dem Verhältnis von Wirklichkeit (Rahmenhandlung) und Kunst (Pfahldorfnovelle) fragen. Bevor wir auf die formalen Probleme des Auch Einer genauer eingehen, wird der Inhalt kurz referiert. Der Leser muß sich die histoire aktiv aus den Informationen des Erzählers, des Erzählerberichts über die Gespräche mit Freunden und Bekannten des A.E. und aus dem Tagebuch zusammensetzen. Gerade die Tatsache, daß die Informationen des Tagebuchs zur Vervollständigung der Fabel nötig sind, trägt zur Zersplitterung der Form bei. Gemessen am Roman des 19. Jahrhunderts mußte aber auch die Fabel an sich willkürlich und zufällig wirken. 6.2 Inhalt Die Reisebekanntschaft des Erzählers heißt Albert Einhart und wurde 1815 geboren. Albert wird – wohl in den 40er Jahren – Polizeivogt in einem kleinen Landkreis. 1847/48 macht er eine Reise nach Norwegen, wo er die verführerische Goldrun kennenlernt. Von Leidenschaft getrieben, verfällt er ihr, schändet halb wahnsinnig mit einem Dolch die Leiche eines Konkurrenten und fügt Goldrun mit diesem Dolch eine kleine Wunde zu, die zu einer tödlichen Blutvergiftung führt. Albert erkrankt daraufhin an einem Nervenfieber, das ein Arzt namens Erik heilt. Während der Pflege lernt er die hübsche Gattin von Erik, Cordelia, kennen. Nach einer Aufforderung Cordelias zieht Albert in den DeutschDänischen Krieg (1848–1850) und kämpft für Schleswig-Holstein. Als sein Gewehr in einem kritischen Moment versagt, wird er verwundet.
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Wieder im Amt, kann er als Polizeivogt Erfolge vorweisen und bekommt ungefähr 1860 ein Amt mit einem größeren Wirkungskreis. Vor Amtsantritt macht er eine erste Reise nach Italien; auf der Durchreise durch die Schweiz sieht er die Ausgrabungen der Pfahlbauten und denkt daran, eine historische Novelle zu schreiben. In Italien besucht er Cordelias Familie; sie selbst lebt mit Erik in Schottland. Einige Jahre später erfährt Albert von Eriks Tod. Mitte der 60er Jahre wird Albert im Amt zunehmend unbeliebter. Ein unglücklicher Zufall – Albert wirft zornig einen Hund aus dem Fenster, der aus Versehen einen Ministerialrat trifft –, verschiedene Rechenfehler und seine politische Einstellung tragen dazu bei. 1865 überschlägt sich seine Stimme im Parlament während einer schwungvollen Rede zugunsten des Tierschutzes. Albert blamiert sich und reicht sein Entlassungsgesuch ein. Nun Vogt außer Diensten, trifft er 1865 in der Schweiz, auf seiner zweiten Reise nach Italien, für wenige Tage den Ich-Erzähler. Beide verlieren sich aus den Augen und treffen sich in einem Gasthaus in Bürglen wieder. Zufällig hat Albert die inzwischen verwitwete Cordelia dort angetroffen. Beide scheinen sich gerade näher zu kommen, als Albert von einem Niesanfall heimgesucht wird. Sein Taschentuch kann nicht verhindern, daß Nasensekret in den Suppenteller einer Dame spritzt, was Cordelia aber nicht merkt. Zwar tauscht der Kellner den Teller schnell aus, doch Albert verläßt blitzartig die Gesellschaft. Eine mögliche Annäherung der beiden ist damit für dieses Mal – und wie sich herausstellen wird, für immer – vereitelt. Diesem Zwischenfall, von dessen Tragweite der Erzähler zu diesem Zeitpunkt nichts weiß, folgt eine gefährliche Szene in der Schöllenschlucht, die im nachhinein als Selbstmordversuch in der Folge des Mißgeschicks gedeutet werden muß: Albert steht hoch auf einer Klippe, der Erzähler sieht ihn zufällig und will ihn vor dem Schlimmsten bewahren. Aus Versehen stolpert der Erzähler an einer gefährlichen Stelle; Albert kann den Stürzenden auffangen und beide fallen gemeinsam den Hang hinunter, allerdings ohne sich ernsthaft zu verletzten. Der vermeintliche Retter ist zum Geretteten geworden. A.E. setzt seine Reise fort, ohne seinen Namen oder seine Adresse preiszugeben. Aus Venedig schickt A.E. dann 1866 die Pfahldorfgeschichte Ein Besuch an den Erzähler. Auf seiner dritten Italienreise 1869 hält sich Albert gerade in Sizilien auf, als in einem langen Traum Goldrun und Cordelia auftauchen. Kurz darauf erfährt Albert zufällig, daß Cordelia in Assisi im Sterben liegt. Er reist dort hin und erfährt am Sterbebett vom bevorstehenden Krieg Deutschlands gegen Frankreich. Zurück in Deutschland, bereitet er sich auf den Feldzug vor. Kurz vor der Abreise scheut sein Pferd wegen eines Papierblattes auf der Straße. Albert wird abgeworfen und verrenkt sich
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den Fuß, so daß er nicht in das Gefecht ziehen kann. Die Schlacht von Sedan am 2. Juli 1870 verfolgt Albert mit patriotischer Freude, nicht ohne vor den Folgen eines Siegs über Frankreich für die Moral der Deutschen zu warnen. Kurz darauf gerät Albert, der erklärte Tierliebhaber, während eines Spaziergangs mit einem Pferdeschinder in Streit und wird von diesem niedergestochen. An den Folgen dieser Verletzung stirbt Albert und bestimmt testamentarisch den Ich-Erzähler zum Herausgeber seines Nachlasses. 6.3 Fehlende Erzählteleologie und die Basisfunktionalität des Textes Wie gesehen, bestimmte die Frage, ob der Auch Einer überhaupt ein Roman sei, nachhaltig die Rezensionen und Forschungsbeiträge. Dies lag an der besonderen und heterogenen Form des Textes: Vischer geht neue und innovative Wege, um die in der erzählten Welt der Rahmenhandlung vorhandenen Zufälle auch formal zur Geltung zu bringen, also Erzählteleologie so weit wie möglich abzubauen. Ganz offensichtlich beschäftigt sich Vischer mit der Frage, wie sich der Zufall als Motiv in einem sprachlich verfaßten Werk so zur Geltung bringen läßt, daß der Leser das Gefühl großer Komplexität und Unübersichtlichkeit hat, daß ihm Kontingenzerfahrung zuteil wird. Eben die formalen Eigenschaften des Auch Einer waren es, die die Kritiker des 19. und zum großen Teil auch des 20. Jahrhunderts vor Schwierigkeiten stellten. Nur wenn man erkennt, daß die Komposition der Rahmenhandlung und des Tagebuchs teilweise eine Folge, teilweise eine formale Antwort auf die in der erzählten Welt dargestellte Kontingenz ist, wird die komplizierte Komposition des Auch Einer zu einer künstlerisch notwendigen Eigenschaft. 6.3.1 Dominante interne Fokalisierung Die eigentliche Reisebekanntschaft wird in Vischers Roman durch einen homodiegetischen Erzähler retrospektiv erzählt. Der zeitliche Abstand dieses späteren Erzählens zu den Ereignissen auf der mehrtägigen Wanderung vom Zuger See zum Göschenen-Paß beträgt mindestens sieben Jahre. Den hieraus resultierenden Wissensvorsprung hält der Erzähler jedoch zurück, indem er die Ereignisse in strenger Mitsicht schildert.241 Durch die interne Fokalisierung kann der Erzähler den Eindruck der Zufälligkeit und Sprunghaftigkeit der Ereignisse besser zur Geltung ______________________
241 Dies ist der Grund, warum wir über den Erzähler selbst so gut wie nichts erfahren.
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bringen. Statt einer nachträglichen Anordnung der Erlebnisse im Hinblick auf ein dann sinnvoll erscheinendes Ende führt der Zufall die Rahmenhandlung in unvorhersehbare Richtungen. Der Erzählerkommentar anläßlich der Konfrontation Alberts mit einem Physikprofessor: „Was werden sollte, wer konnte es wissen?“ (AE1, S. 35)242 zeigt, daß dies auch metanarrativ reflektiert wird.243 Ein heterodiegetischer allwissender Erzähler kann potentiell alle noch so unwahrscheinlichen Zusammenhänge aufklären und ins rechte Licht rücken, so daß er die Handlung seiner Geschichte nie aus dem Blick verliert. Im Fall der internen Fokalisierung schlagen sich die zweckwidrigen und plötzlichen Ereignisse dagegen in der Komposition nieder, einfach weil der Protagonist wie nach der Niesszene in Bürglen plötzlich den Ort wechselt und damit aus dem Blickfeld des Erzählers verschwindet. Eine „retrospektive Teleologie“ (Jens Brockmeier), die Ereignisse im Nachhinein ordnet und sie so auf das Romanende bezieht, wird durch die interne Fokalisierung verhindert.244 Um den Eindruck zu verstärken, daß selbst der Erzähler nicht mehr weiß als der Leser (obwohl er doch im Imperfekt, also rückblickend berichtet), werden die beim Leser auftretenden Informationslücken nicht sofort gefüllt. Merkwürdige Worte, die Albert äußert, werden unkommentiert stehen gelassen, so daß auch der Leser ratlos bleibt. Als Beispiel sei hier das Wort „amplificatio!“ (AE1, S. 4) genannt, das Albert nach dem Überschlagen seiner Stimme und dem darauffolgenden Sturz aus der Kutsche ausruft oder das „Tetem?“ (AE1, S. 52), das er zu anderer Gelegenheit vorbringt.245 Der Erzähler der Rahmengeschichte läßt das ______________________
242 Ich zitiere nach der gängigen Ausgabe von Vischers dichterischen Werken: Friedrich Theodor Vischer: Dichterische Werke. 5 Bde. Leipzig 1917. Die ersten beiden Bände enthalten den Auch Einer. Der Nachweis der Textstellen erfolgt im laufenden Text in runden Klammern mit der Sigle ‚AE‘ und der Bandangabe mit arabischer Ziffer. Problematisch an dieser (nicht-kritischen) Ausgabe ist allerdings, daß der Untertitel der Originalausgabe Eine Reisebekanntschaft in Roman geändert wurde. 243 Das epische Präteritum eignet sich besonders, um diesen Sachverhalt darzustellen: Zum Zeitpunkt der Konfrontation der beiden Männer, also im Spätsommer 1865, kann der Erzähler freilich nicht wissen, was geschehen wird. Nach 1872, also zum Zeitpunkt des Erzählens, weiß er natürlich schon, was anschließend geschah. Der Satz schwankt zwischen Imperfekt und Zukunftsbezug, stellt aber gerade die Zukunft vom Zeitpunkt des Wahrnehmenden aus als ungewiß dar. 244 Wieder war es Berthold Auerbach, der versuchte, diese Kompositionseigenschaft zu reflektieren. Unter Rückgriff auf einen Ausspruch Alberts wendet er den Begriff des Zufalls auf die Dichtung selbst an: „Auch die Dichtung steht unter der Führung der ‚Frau von Vorsehung, geborenen Zufall.‘ “ [Auerbach (1879): Wissen und Schaffen, S. 273.] 245 Die Bedeutung beider Worte wird nicht explizit erklärt, sondern der Leser muß sie sich selbst aus Informationen erschließen, die er mehrere hundert Seiten später bekommt. „Tetem“ ist der Spitzname des Stadtgeistlichen Zunger, der beim Singen des Liedes „Wie groß ist des Allmächt’gen Güte“ die Wörter „mit verhärtetem Gemüte“ so gefühlsinnig singt, daß Albert einen Lachanfall bekommt (vgl. AE2, S. 35f.). Der rhetorische Terminus „amplifica-
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Unverständliche stehen, obwohl er zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner Erzählung die Auflösung der Rätselworte schon weiß. Diesen Wissensvorsprung läßt er in den Text nicht einfließen, weil dies eine retrospektive Erklärung wäre, die eine im Text steckende Erzählteleologie, nämlich vorwegnehmendes Bewußtsein, offensichtlich machen würde. Dies ist aber mit der Erzählperspektive der Mitsicht nicht in Einklang zu bringen. Für den Leser hilfreiche Sätze wie „Wie ich später erfahren sollte, bedeutete ‚Tetem‘…“ verweisen nämlich auf ein Wissen, das über das normal in einer Situation erreichbare hinausgeht. Dieses Bewußtsein hätte schon die Ziele im Blick, auf die hin erzählt wird, also in diesem Fall: Die befriedigende Auflösung des Rätselworts. Diese Zukunftsverweise werden vermieden, um eine ‚natürliche‘ Situation zu simulieren. Die Mitsicht selbst ist wiederum eine höchst künstliche Einrichtung, weil der Autor dadurch die Tatsache, daß sein Schreiben zielgerichtet ist, wieder verdeckt. So muß der Leser schließlich selbständig die eigenen Wissenslücken aus dem Material der restlichen Texte füllen. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Ortsangaben. Wohin Albert nach seinem Selbstmordversuch wandert, erfahren wir beispielsweise erst viele hundert Seiten später aus dem Tagebuch. Auch topographisch wird dem Leser also keine hinreichende Orientierung gegeben. Auf die Tatsache, daß der Erzähler seinen Wissensvorsprung zurückhält, weist schon der erste Satz des Auch Einer hin: „Auch Einer von denjenigen nämlich – – – kurz, man versteht mich.“ (AE1, S. 1) Freilich versteht der Leser durch drei Gedankenstriche noch gar nichts. 6.3.2 Anachronien Da das Leben des Protagonisten von Zufällen beherrscht wird und deshalb keine zielgerichtete und notwendige Entwicklung aufweist, gibt es auch keinen künstlerischen Anlaß, Alberts Vita chronologisch vom Anfang über die Mitte bis zu ihrem Ende zu erzählen. Vielmehr bringt es die Wahl der internen Fokalisierung mit sich, daß der Erzähler in der Reihenfolge berichtet, in der er die Informationen über den Protagonisten erhält. Da er ihn nur kurz auf einer Wanderung trifft, wird die Chronologie von Alberts Geschichte aufgelöst. Die zeitliche Ordnung ist aber für die Erzählteleologie schlichtweg entscheidend. Kann der Leser die Chronologie kaum oder gar nicht überblicken, dann weiß er nicht, was der in der Zukunft liegende Zielpunkt dieser Ereignisse sein soll. Daraus folgt, ______________________
tio“ bedeutet in Alberts „System des harmonischen Weltalls“ eine Häufung von Zufällen (vgl. AE2, S. 75).
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daß sich die Erzählteleologie weiter zersetzt, da dem Leser gar nicht immer deutlich ist, an welcher zeitlichen Stelle der Geschichte er sich gerade befindet. Diese Tatsache hat bereits Auerbach erkannt: Da das Genetische einmal ausgeschlossen ist, war diese Form, die die gewohnte Folgenreihe auflöst, künstlerisch wohlbedacht, aber sie erschwert die Aufnahme des Lesers.246
Die Anachronien sind tatsächlich ein hervorstechendes Merkmal des Romans, das oftmals nur als bloßes Unvermögen Vischers bewertet wurde. Aber der Erzähler und Herausgeber verweigert bewußt eine kohärente Erzählung auf ein Ende hin und eine dementsprechende Anordnung einzelner Teile. Der Leser muß sich in die Erfahrungsperspektive des Erzählers zu dem Zeitpunkt begeben, als dieser dem mysteriösen A.E. zufällig auf einer Reise begegnet. Das erste Drittel des ersten Bandes füllt die eigentliche Reisebekanntschaft, also das Treffen, Verlieren und Wiedertreffen des A.E. auf einer mehrtägigen Wanderung vom Zuger See über Bürglen (Gasthaus Wilhelm Tell) nach Göschenen im Kanton Uri im Spätsommer 1865. Bezeichnet man diesen ersten Teil als ‚Basiserzählung‘, so kann man von ihr ausgehend den zeitlichen Rang der anderen Romanteile und der in ihnen geschilderten Ereignisse angeben. Die Basiserzählung selbst wird chronologisch erzählt, beinahe ohne Ana- oder Prolepsen. Aus der Tatsache, daß der Erzähler die Pfahldorfnovelle abdruckt, kann sich dann der Leser erschließen, daß Albert inzwischen verstorben ist. Er weiß aber weder, wann oder wie dies geschehen ist, noch wie der Erzähler, der ja bis zu diesem Zeitpunkt weder über den Namen noch über die Adresse der Reisebekanntschaft verfügt, davon erfahren hat. Der zweite Band fährt mit dem Bericht des Ich-Erzählers fort: Der Erzähler reflektiert seine Lektüre der Pfahldorfnovelle und berichtet, wie er Albert im Jahr 1870 beinahe an einem Bahnhof wieder getroffen hätte. Letzterer verlor auf dem Bahnsteig seine Brieftasche samt Paß. Hierdurch erfährt der Leser den Namen von Albert und daß dieser 1865 in Italien war. Auf dem Hinweg durch die Schweiz muß er demnach den Erzähler getroffen haben. Durch einen zweiten Paß können wir erschließen, daß er auch 1869 in Italien gewesen sein muß. Der Erzähler weist einen Bahnbeamten an, die Brieftasche mit einer Begleitkarte des Finders dem Besitzer zuzuschicken. Der Erzähler möchte nun die sympathische Reisebekanntschaft wiedertreffen; doch der Krieg 1870/71 verzögert die Reise, so daß er sie erst nach der Schlacht von Sedan, im September 1870, antritt. Im Wohnort angekommen, erfahren Erzähler und Leser vom Tod Alberts. Die Haushälterin Hedwig empfängt den Erzähler. Sie und ein ehemaliger ______________________
246 Auerbach (1879): Wissen und Schaffen, S. 272.
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Referendar des Polizeivogts außer Diensten berichten nun Ereignisse aus seinem Leben, die chronologisch vor, während, oder nach der Basiserzählung liegen. Von der Haushälterin erfährt der Erzähler auch, daß er aus dem Nachlaß von Albert weitere Schriften veröffentlichen dürfe. Der Bekanntenkreis, den der Referendar zusammen mit dem Erzähler besucht, trägt ein übriges zur stückweisen Erhellung des Bildes von Alberts Persönlichkeit bei. Nachdem der Erzähler einige kleinere poetische Versuche und den unvollendeten Systementwurf des harmonischen Weltalls (chronologisch vor der Basiserzählung entstanden) von Albert eingeschoben hat, folgt auf den restlichen 300 Seiten das Tagebuch von Albert, das in Analepsen Begebenheiten schildert, die vor der Basiserzählung liegen (1847–1865), schon aus der Basiserzählung bekannte Ereignisse aus der Perspektive des Protagonisten darstellt (Spätsommer 1865) oder proleptisch Ereignisse festhält, die chronologisch nach der Basiserzählung liegen (1865–1870).247 Großen Raum nehmen auch naturphilosophische und literarische Reflexionen ein. Allerdings weist das Tagebuch eine größere Lücke im Februar 1848 auf, in die die Erzählung des Schwiegervaters von Cordelia geschoben ist, der über Alberts Aufenthalt in Norwegen berichtet. Dieser Überblick über die Anachronien des Auch Einer mag hinreichen, um die Schwierigkeit zu verdeutlichen, sich die ungefähre Lebenslage Alberts auf den ersten Seiten des Romans zu erschließen. Die drei Teile des Romans, also die Basiserzählung der Reisebekanntschaft, die Reise zum Wohnort mit den Erzählungen von Bekannten und das Tagebuch stehen zueinander in vielschichtiger chronologischer Beziehung. Auerbach beschreibt die Eigentümlichkeit und die Folgen für die Komposition: „Durch das Zerschlagen der Fabel in drei Theile muß der Dichter vorund rückwärts gehen, er macht damit eigentlich eine Decomposition […].“248 Das „Zerschlagen der Fabel“ ist aber der möglichst weitgehende Abbau der Erzählteleologie, also eines Ganzen, in dem der Anfang schon durch das Ende bestimmt ist und der Roman auf dieses hingeschrieben wird. Wenn aber Chronologie kaum mehr herstellbar ist, dann ist auch für den Leser das Ganze nicht mehr erfahrbar. Und selbst nach einiger Lesearbeit entsteht keine Geschichte, die sich durch Geschlossenheit oder ______________________
247 Das Tagebuch selbst ist wohl chronologisch geordnet, aber selbst hierüber ist sich die Forschung nicht einig. Franza Feilbogen kann im Tagebuch „keinerlei chronologische Reihenfolge“ erkennen [vgl. Feilbogen (1916): „Auch Einer“, S. 153]. Zum Problem einer Chronologie des Tagebuchs vgl. Stenger (1986): Auch Einer, S. 118. 248 Auerbach (1879): Wissen und Schaffen, S. 272.
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Abrundung auszeichnet, sondern lediglich eine dann chronologische Reihenfolge kausal-kontingenter Ereignisse. 6.3.3 Wechsel von Fokalisierung und Stimme Zur Zersplitterung der Komposition trägt auch bei, daß der Leser den Protagonisten aus verschiedenen Perspektiven kennenlernt. Auerbach hielt auch dies in seiner Rezension fest: Ähnlich wie die Fabel zerschlagen ist, gibt sich auch die Darstellung des Helden an sich; er wird in drei verschiedenen Gesichtspunkten gesehen: vom Dichter mit Ich erzählend, vom Bekanntenkreis und schließlich, wie er sich selbst ansieht in dem Tagebuch.249
Der Erzähler stellt nicht nur seine eigenen Erlebnisse mit Albert dar, sondern gibt auch in direkter Rede die Ausführungen der Haushälterin, des Referendars, des Freundeskreises und des Schwiegervaters von Cordelia wieder. Durch das Tagebuch schließlich werden wir mit der Selbstbeobachtung Alberts bekannt gemacht. Keiner dieser intradiegetischen Erzähler hat den souveränen Überblick eines allwissenden Erzählers, kann also über erste Anfänge und letzte Ursachen des Geschehens berichten. So bleiben denn Elemente der Handlung tatsächlich unaufgeklärt. Der Leser erfährt beispielsweise nie, wer eigentlich die Person ist, die Albert in Norwegen in den Fluß stößt, als er auf dem Weg zu Goldrun ist.250 Diese Szene ist funktional völlig überschüssig; sie zieht keine weiteren Folgen nach sich. Allerdings erzeugt sie gerade durch ihre scheinbare Funktionslosigkeit einen effet de réel (R. Barthes), ist also für die Realitätsillusion wichtig. Das Tagebuch Alberts ist eine vom Erzähler leicht redigierte, aber ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Mischung aus Reiseund Alltagstagebuch, Reflexionen, Aphorismen und Notizen, die wohl in einer chronologischen Reihenfolge stehen, aber nicht datiert sind. Das Tagebuch bildet den letzten Teil des Romans. Wir lesen es, nachdem wir schon von Alberts Tod erfahren haben. Der Leser muß sich also für den Protagonisten noch interessieren, obwohl er schon von dessen Tod weiß. Dies war offensichtlich einer der Hauptvorwürfe der Rezensenten gegen den Auch Einer.251 Vischer wählte diese Komposition absichtlich, weil er nach eigener Aussage nicht der „Romanleser-Neugier“ entgegenkommen ______________________
249 Auerbach (1879): Wissen und Schaffen, S. 272. 250 Vgl. AE2, S. 194f. Feilbogen stellt die Frage nach der Identität dieser Person. Vgl. Feilbogen (1916): Auch Einer, S. 154. 251 Vgl. KG6, S. 527 (Mein Lebensgang).
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wollte, die immer danach frage, „ob Hans die Grete kriegt“.252 Ganz bewußt entfernt sich Vischer also von konventionellen und zufriedenstellenden Plots, zieht das Ende der Geschichte in die Mitte und löst so das teleologische Ganze aus Anfang, Mitte und Ende auf. Das Tagebuch bietet die Möglichkeit, die Teleologie des Erzählens so weit wie möglich abzubauen.253 Die Einträge in ein Diarium werden Tag für Tag niedergeschrieben, weshalb sie eine große zeitliche Nähe zum Geschehen haben und in der Regel nur chronologisch zusammenhängen.254 Eine Funktionalisierung von Vergangenem auf das zeitlich Spätere, eine Ausrichtung des Anfangs auf das Ende sind hier nicht möglich. Was bereits durch die Wahl der Mitsicht in der Erzählung versucht wurde, nämlich die Zurücknahme der Erzählteleologie, kann im Medium des Tagebuchs noch konsequenter durchgeführt werden. Mit anderen Worten: Es gibt im Diarium keine Erzählteleologie oder „Nachsehung“, wie Albert dieses Phänomen einmal nennt. Ein Experiment Alberts, auf das bereits Matias Martinez hinwies,255 darf hier nicht unerwähnt bleiben, weil es in unseren Problemzusammenhang gehört. Abermals geht es Albert um die Frage, wie sich der Zufall im Medium der Sprache adäquat abbilden läßt, also wie sich die Erzählteleologie des Textes aushebeln läßt. Der Erzähler findet im Nachlaß seiner Reisebekanntschaft einen seichten Roman, in den Albert mit Rotstift korrigierend Anmerkungen eingetragen hatte: „Es war ein lachender Morgen Ende Augusts. Wir standen reisefertig. Der gute, liebe Onkel! Es war ihm schwer geworden in seinen Jahren, aber er hatte sich entschlossen; mein Sehnen sollte erfüllt werden, er führte mich nach Paris. Die Koffer waren gepackt – Anmerkung: bis auf einen, den Hauptkoffer, wozu der Schlüssel verlegt war – Die Droschke war bestellt – Anm.: und kam nicht. Endlich steigen wir in den Wagen –
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252 KG6, S. 527 (Mein Lebensgang). 253 Schon für das fiktive Diarium Alberts gilt, was Sibylle Schönborn für das Tagbuch des 20. Jahrhunderts feststellte: „Seine harte Schnittechnik und die Montage aus disparaten Materialien öffnen das Tagebuch für literarische Experimente“ (Tagebuch. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. 3 Bde. Hg. von Klaus Weimar, Harald Fricke und Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 1997– 2003, Bd3, S. 574–577. Hier S. 576). Auch die Tatsache, daß das Tagebuch im 19. Jahrhundert zu einer heterogenen Form wurde, die „keinen Anspruch auf Literarizität“ mehr erhob und vielfach zur reinen Informationsquelle für die Biographie des Schreibers wurde, trifft auf das Tagebuch Alberts zu (vgl. ebd.). 254 Vgl. zu diesem Aspekt der Unmittelbarkeit durch zeitliche Nähe: Karl Ludwig Stenger: Die Erzählstruktur von Friedrich Theodor Vischers „Auch Einer“. Wesen und Funktion. New York, Bern, Frankfurt am Main 1986, S. 121f. 255 Vgl. Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 137f.
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Anm.: wobei der Onkel fehltrat und umfiel – Wir sitzen, das Dampfroß schnaubt, die Räder beginnen zu rollen – Anm.: das Handgepäck fällt aus dem Netzfach und treibt dem Onkel den Hut an. […]“ (AE2, S. 80f.)
Der Erzähler bemerkt, daß die Romanhandlung und damit der Roman durch diese Eingriffe unmöglich wird, und führt dies als Grund an, warum Albert nach einigen Seiten von den Korrekturen Abstand nahm und selbst weiterdichtete (vgl. AE2, S. 84f).256 Der Roman wird allerdings nicht so sehr durch die kausale Motivierung innerhalb der erzählten Welt unmöglich,257 sondern weil der Zufall hier als Kreuzung zweier Intentionen schon auf der Autoren-Ebene angelegt ist. Erzählteleologie kommt dann zustande, wenn ein Erzähler seine Geschichte auf das Ende hin erzählt. Nun zeigt sich, daß durch zwei Erzähler die Erzählteleologie aufgehoben werden kann, wenn sie ihre Intentionen nicht koordinieren.258 6.3.4 Die Basisfunktionalität des Textes Nach diesen weitgehenden Versuchen, Erzählteleologie abzubauen und Kontingenz zu simulieren, stellt sich die Frage, was den Roman Auch Einer eigentlich noch als Textganzes zusammenhält. Natürlich ist auch dieser Roman von der Basisfunktionalität des Erzählens geprägt. Die für den Protagonisten sinnlosen Zufälle ändern hieran nichts, ja, Vischer hat selbst mit seinem Konzept des Komischen eine Theorie entwickelt, in der sie kommunikative Funktionen erfüllen. Aber auch die dargelegten Eigenheiten des narrativen Diskurses lösen diese Basisfunktionalität nicht auf. Allerdings muß ein Text, der geläufige Leseerwartungen und KohärenzAnsprüche so enttäuscht wie der Auch Einer, auch neue Wege darin gehen, die heterogenen Texte aufs Neue zu einer Einheit zu verschnüren. Neben Motiven im klassischen Sinn wie dem Schnupfen-Motiv oder dem Motiv des Zufalls scheinen hier Wiederholungen und repetitive Erzählungen ______________________
256 Albert läßt die Romanhandlung in einer Zugkatastrophe münden. Im übrigen schwärmt der Roman von der geisterfüllten Natur und ihrer Einheit mit dem Menschen. Damit markiert und karikiert er den populär-idealistischen Hintergrund dieses Romans und zugleich die für Vischer überwundene Position einer notwendig aufgebauten, pantheistischen Welt: „Ja, die Natur hat Seele, sie ist doch immer seelisch besagend. Die Natur ist Geistflüsterung, der Mensch Geistsprechung, sie ist Geistduftung, der Mensch Geistblitzung.“ (AE2, S. 81f.) 257 So Matias Martinez. Vgl. Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 138. 258 Ganz ähnlich schreibt schon Clemens Lugowski, daß die ‚Motivation von hinten‘ dann aufgehoben werden kann, wenn ein Roman nicht mehr komponiert ist, etwa wie der Simplicissimus von Grimmelshausen. Vgl. Lugowski (1976): Form, S. 181.
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besonders wichtig zu sein. Viele zentrale Ereignisse, die Albert in der Vergangenheit zugestoßen sind, wiederholen sich nämlich ganz ähnlich in den wenigen Tagen der Reisebekanntschaft. Besonders auffällig ist hier das Überschlagen der Stimme im Parlament (vgl. AE2, S. 33), das sich in vergleichbarer Weise in der Kutschenszene der Basiserzählung (vgl. AE1, S. 4) wiederholt, oder Alberts Tod im Kampf mit einem Tierschinder, den er ganz ähnlich, allerdings mit glücklicherem Ausgang, bereits während der Basiserzählung führte.259 Eine andere Art der Wiederholung ist das mehrfache Berichten eines Ereignisses aus verschiedenen Erzählperspektiven, also die repetitive Erzählung.260 Als Beispiel sei die Niesszene in Bürglen genannt, die in der Basiserzählung geschildert wird (vgl. AE1, S. 61f.), im Bericht der Haushälterin auftaucht (vgl. AE2, S. 51) und schließlich auch im Tagebuch notiert ist (vgl. AE2, S. 316). Auch die repetitive Erzählung kann Textkohärenz herstellen, da sich auf den ersten Blick unzusammenhängende Schilderungen auf ein und denselben Vorgang beziehen. Was durch beide Arten der Wiederholungen allerdings unterlaufen wird, ist die erzählte Teleologie beziehungsweise die Erzählteleologie. Wenn immer wieder geschildert wird, wie Albert etwas Peinliches widerfährt, so verhindert das den Eindruck einer zielgerichteten Entwicklung seiner Person. Die Ereignisse der erzählten Welt sind nicht auf einen Entwicklungsprozeß abgestimmt. Im Fall der repetitiven Erzählung wird durch rein formale Mittel die Erzählteleologie unterlaufen, da durch das mehrfache Berichten eines unglücklichen Ereignisses der Leser das Endziel des Romans aus dem Blick verliert. Selbst wenn Zufälle innerhalb der erzählten Welt für die Figuren sinnlos sind, sind sie doch so vorbereitet, daß sie komisch wirken. Im Roman gibt es eben keinen Zufall, sondern nur den „erzählerischen Zufall“261 oder den Zufall als „Motiv“, wie Vischer sich selbst ausdrückt. Schon Richard Weltrich bezeichnete es in seiner Rezension als die Grundidee des ganzen Romans, Zweckwidrigkeiten und Zufälle in eine künstlerische Komposition einzubinden und sie damit zu eigenen Zwekken zu lenken: Ihr [zweckwidrigen Dinge und Zufälle; P.A.] dient mir aber nicht wie ihr wollt, sondern wie ich will, von mir geordnet und für meinen Zweck, für einen künstlerischen Zweck und im Rahmen der ästhetisch zulässigen Composition – das ______________________
259 Auerbach erkennt diese Szene als Vorausdeutung auf das Ende Alberts: „Der Dichter hatte hier also bereits die Schlußkatastrophe im Auge und deutete sie kunstgerecht an.“ [Auerbach (1879): Wissen und Schaffen, S. 291.] 260 Feilbogen wertet dies als einen Fehler Vischers. Vgl. Feilbogen (1916): Auch Einer, S. 146. 261 Dieser Begriff stammt von Ernst Nef. Vgl. Ernst Nef: Der Zufall in der Erzählkunst. Bern 1970, S. 7.
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scheint mir der originale Vorwurf dieses neuen Werkes, des „Auch Einer“ zu sein.262
Was durch Religion nicht mehr möglich ist und in der groß angelegten idealistischen Ästhetik scheiterte, soll nun das Erzählen leisten, nämlich die Darstellung des Zufalls sowie seine Einbindung in einen größeren ästhetischen Zusammenhang. Doch wie wird der sinnlose Zufall zu kommunikativen Zwecken funktionalisiert? Vor Alberts Niesanfall in Bürglen wird beispielsweise der Hexameter aus Schillers Das Distichon rezitiert: „ ‚Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule –‘ “. Der Erzähler unterbricht danach die Erzählung der Ereignisse und kommentiert: „Die Geschichte ist eine strenge Wissenschaft. Sie kennt nur die Wahrheit. Die Schicklichkeit wird sie beobachten, solange es tunlich, ohne ein wesentliches Stück der Wahrheit zu unterdrücken.“ (AE1, S. 61) Ganz fraglos wird hier die Dichtung („Geschichte“) als Wissenschaft bezeichnet, die der Wahrheitssuche dient. Die idealistische Konzeption von Dichtung als „die eigentlich wissende Kunst“263 oder, wie in Schellings Transzendentalphilosophie, als „das einzige wahre und ewige Organon zugleich und Document der Philosophie“264, wird an dieser Stelle immer noch zugrunde gelegt. Der Wahrheitswert der Dichtung hängt nun für den Erzähler an der Frage, ob sie auch das Ekelhafte und Widerliche aufnehmen kann. Der Erzähler schildert die Szene unter Bezugnahme auf das Schiller-Distichon: „– eine ganz dünne Fontäne steigt in zierlichem Bogen und fällt nieder in den soeben mit Kapernsauce frisch versehenen Teller der gestrengen Dame zur Linken“.265 Durch den Kontrast der Stilebenen soll nun das Komische entstehen und der Leser durch das Lachen von der alptraumhaften Szene entlastet werden. Also ______________________
262 Richard Weltrich: (Rez.): „Auch Einer“. Eine Reisebekanntschaft von Fr. Th. Vischer. In: Allgemeine Zeitung vom 7.1.1879, Nr. 7 (B), S. 89–91; 8.1.1879, Nr. 8 (B), S. 106–108; 9.1.1879, Nr. 9 (B), S. 123–124; 10.1.1879, Nr. 10 (B), S. 138–140. Hier die Ausgabe vom 7.1.1879, Nr. 7 (B), S. 90. 263 Ä6, S. 11 (§ 837). 264 Friedrich Wilhelm Schelling: System des transzendentalen Idealismus. In: SW 3, S. 627. 265 Friedrich Theodor Vischer: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. 2 Bde. Stuttgart, Leipzig 1879. Hier Bd. 1, S. 64. Diese Stelle wird ausnahmsweise nach dem Erstdruck der Ausgabe zitiert, da Vischer den Text für die 3. Auflage überarbeitete und Änderungen vornahm, die unter anderem die eben zitierte Stelle betreffen. Indem der im Haupttext zitierte Satz wegfiel, wurde die Stelle so geglättet, daß der peinliche Vorfall vom Leser erschlossen werden muß. Zu den Abänderungen der dritten Auflage vgl. Stenger (1986): Auch Einer, S. 43–55. Stengers Fazit: „Die meisten Textänderungen betreffen stilistische Ungenauigkeiten, doch konnten wir auch beobachten, daß Vischer einige tiefergreifende Veränderungen vorgenommen hat, um den Einwänden der Kritiker in Bezug auf Einharts Chauvinismus, A.E.s Charakterisierung und die Schilderung von Ekelhaftem zu begegnen. Es ist daher um so bedeutsamer, daß Vischer einzig die Struktur des Romans unverändert läßt.“ (ebd. S. 52f.)
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sind auch die sinnlosen Zufälle in der Rahmenhandlung kompositorisch motiviert, allerdings nicht im Sinn einer Erzählteleologie, da eine Funktion dieses Vorfalls für das Romanende nicht abzusehen ist, sondern nur im Sinn der Basisfunktionalität des Erzählens. Sie haben ein vorwiegend kommunikatives Ziel, sie sollen den Leser von einer Situation, die für den Protagonisten selbst tragisch ist, entlasten. Aus komischen und erhabenen Momenten soll, zumindest nach der Konzeption der Ästhetik, eine ausgeglichene Stimmung entstehen. Dem Leser ist es überlassen, die komischen und tragischen Momente des Romans zu einem harmonischen Ganzen zu synthetisieren. Der Anspruch, ein Ganzes zu schaffen, wird damit von der Aufgabe des Erzählers, der dies offenbar nicht mehr zu leisten vermag oder leisten will, zu einer erst noch zu erfüllenden Aufgabe des Lesers.266 Vischer selbst stellt anläßlich der Verteidigung seines Romans die Frage, inwiefern Dichtung „vertuschende, beschönigende Dichtung“267 sein muß oder ob sie „schärfere Dissonanzen zu harmonisieren vermag“:268 wenn sie ihr [der Dichtung; P.A.] Auge nicht auch zum Mikroskop schleifen darf, wenn man ihr nicht zutraut, daß sie auch das haarscharf gesehene Kleinste in das Licht ihrer Verklärung zu heben vermag, dann gut Nacht! dann vermag sie überhaupt nichts Rechtes.269
Wahrheit wird hier mit Mikroskopie, mit wissenschaftlicher Detailbeobachtung assoziiert. Die ‚Verklärung‘, in Vischers Terminologie die ‚indirekte Idealisierung‘, soll das Mittel sein, das Akzidentelle in die Dichtung aufzunehmen und bewußt zu halten, aber gleichzeitig so zu verklären, daß der Leser „von seinem [des Zufalls; P.A.] dumpfen Druck“270 entlastet wird. Was Dichtung als Werkzeug der Erkenntnis aber nicht darf, ist Unangenehmes und Kontingentes zu verbergen, also durch Selektion einfach auszuschließen. Damit ist der direkten Idealisierung, die auf eben diesem Prinzip beruhte, mithin dem Klassizismus, eine Absage erteilt. Aufgabe der realistischen, indirekten Idealisierung ist zugleich Darstellung und Funktionalisierung des Zufalls. Nun hatte Vischer seinen Glauben an die Zweckmäßigkeit der Welt und damit zusammenhängend, einen Ausgleich von komischen und tragischen Momenten, bereits in der Kritik meiner Ästhetik aufgegeben. Will Dichtung weiterhin Wahrheit für sich reklamieren, dann muß sie die ______________________
266 Freilich muß der Leser auch im Fall einer sehr funktionalen Romanhandlung die entsprechenden Bezüge selbst herstellen und im Lesen aktualisieren. Es handelt sich also um eine graduelle Verschiebung hin zu einer erhöhten Leseraktivität. 267 KG6, S. 514 (Mein Lebensgang). 268 KG6, S. 515 (Mein Lebensgang). 269 KG6, S. 515 (Mein Lebensgang). 270 KG6, S. 517 (Mein Lebensgang).
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kontingente Welt, also das Vorherrschen des störenden Zufalls zeigen und damit auch dem Häßlichen einen entscheidenden Raum geben. Zwar bleibt es beim Gegensatz von Tragik und Komik, doch er wird so stark, daß an einen Ausgleich nicht zu denken ist. In dieser Weise wurde der Roman auch im 19. Jahrhundert rezipiert. So schreibt Auerbach in seiner Rezension Wissen und Schaffen, die nicht zufällig im Titel auf den Gegensatz von Wissenschaft und schöpferischer Dichtung anspielt, über den Nasenschleimvorfall in Bürglen: Der Dichter geht bewußt an das Anwidernde. Aber es gibt Dinge, von denen kein Gott Apollo mehr erlösen kann. Auch humoristisch gibt es da keine Rehabilitation mehr. Es gibt ein Lachen, wobei es Einem leid thut, daß man lachte, weil man eigentlich mitleidig sein sollte gegenüber dem in Ungemach Gerathenen; wir kommen aber durch Urplötzlichkeit nicht zur Besinnung. […] Der Dichter verwechselt hier einfach Wissenschaft und Kunst. Für die Wissenschaft gibt es nichts Ekelhaftes, sie nimmt jeden Stoff in ihre Zange, in ihre Retorte, sie hat ihn zu untersuchen. Auch die Psychologie als Wissenschaft ist hierzu berechtigt. Anders die Kunst.271
Auerbach hat den Hintergrund von Vischers Schreiben hellsichtig erkannt. Die Rahmenhandlung des Auch Einer ist ein Versuch, sich auf „die furchtbare Konkurrenz der Wissenschaften“272 (Friedrich Spielhagen) einzulassen, und für die Dichtung die gleiche Objektivität der Beobachtung einzufordern, die im Verständnis des 19. Jahrhunderts die Naturwissenschaften hatten. Hierzu gehört für Vischer inzwischen, die radikale und unaufhebbare Kontingenz der Welt darzustellen und die Form des Werks diesem Vorhaben unterzuordnen. Hieraus entspringt für Vischer Realismus; damit kann Dichtung noch weiterhin Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen und zur Wahrheitssuche beitragen. Dies alles würde nicht in der großen Deutlichkeit hervortreten, wenn der Roman nicht die Differenz von unverklärt/verklärt oder Kontingenz/Teleologie als Binnendifferenz in das Werk aufgenommen hätte: Albert selbst dichtet nämlich eine Erzählung. Seine Pfahldorfgeschichte ist ein Versuch, in der Dichtung den Zufall streng zu funktionalisieren und somit eine Geschichte mit einer stark ausgeprägten Erzählteleologie zu schreiben. Durch die inhaltliche und formale Differenz von Pfahldorfgeschichte und Rahmenhandlung kommt es dazu, daß der Roman die Unterscheidung von erzählteleologischer Kunst und ‚realer‘ Kontingenz darstellt, so daß der Leser sie im Medium der Kunst beobachten kann. ______________________
271 Auerbach (1879): Wissen und Schaffen, S. 279. 272 Friedrich Spielhagen: Das Gebiet des Romans. In: Friedrich Spielhagen: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. Faksimiledruck nach der 1. Auflage von 1883. Mit einem Nachwort von Hellmuth Himmel. Göttingen 1967 (ED 1873), S. 35–63. Hier S. 40f.
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Bevor wir uns Alberts Versuchen, Kontingenz zu beherrschen, zuwenden, werfen wir einen Blick auf die Figuren der erzählten Welt, allen voran auf Albert. Wie verhält er sich zu seiner hoch kontingenten Umgebung? 6.4 Albert und die „Tücke des Objekts“: fehlende erzählte Teleologie 6.4.1 Die Grundkonzeption Als Vischer den Schritt vom objektiven Naturschönen hin zur Schönheit als Form der Anschauung machte, rückte unversehens das Subjekt in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Diesem wurde die Aufgabe zugesprochen, seine eigenen Bewußtseinsinhalte der nun kontingenten Natur unterzulegen, um sie so ästhetisch konsumierbar zu machen. Der Protagonist des Auch Einer, Albert, ist nun der Prototyp des Leihenden in einer kontingenten Welt. Die Tatsache, daß der Roman im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert spielt, sorgt für eine wichtige Komplikation: Albert ist sich zeitweise bewußt, daß er es ist, der die Welt beseelt. Daraus resultiert eine komplizierte psychische Situation, die im Auch Einer humoristisch gestaltet wird. Zu Beginn des Buches lernt der Leser Albert kennen, dessen sonderbares, an Wahnsinn grenzendes Betragen auf eine bewegte Vergangenheit schließen läßt. Der Leser wird zunächst Zeuge von allerhand Zufällen, die Albert zustoßen. Unter Zufällen sind alle handlungszweckwidrigen Begebenheiten zu verstehen: Auf einer Kutschenfahrt überschlägt sich Alberts Stimme während der Zurechtweisung eines anderen Fahrgastes. Beim anschließenden Versuch, aus dem Wagen zu springen, bleibt er hängen, stolpert und fällt in den Schmutz. An einem Morgen findet er seine Brille nicht und ergeht sich beim Suchen in lauten Flüchen und Schimpfreden, so daß der Erzähler, der das Zimmer neben Albert bewohnt, sich gezwungen sieht, einzugreifen. In Alberts Zimmer wird er dann Zeuge, wie der Protagonist die wiedergefundene Brille als „Ungeheuer“ (AE1, S. 18) beschimpft, ihr anthropomorphisierend dämonische Absichten zuschreibt und den Gegenstand schließlich mit dem feierlichen Ausruf „ ‚Todesurteil! Supplicium! ‘ “ (AE1, S. 19) zertritt. Im Laufe des daran anschließenden Gesprächs stellt sich heraus, daß Albert bereits den ganzen Morgen mit abspringenden Hemdknöpfen und einem verlegten Schlüssel beschäftigt war. Er klagt: „‚Wer kann nun daran denken, wer auf die Vermutung kommen, wer so übermenschliche Vorsicht üben, solche Tücke des Objekts zu vermeiden!“ (AE1, S. 23)
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Mit der Gegenüberstellung der sprichwörtlich gewordenen „Tücke des Objekts“ mit der „Vorsicht“ wird bereits ein wichtiges Thema angeschlagen: Der Versuch des Menschen, „Vorsicht“ zu üben, scheitert an der widerständigen Realität. Eine „übermenschliche Vorsicht“, die den Menschen lenkt oder die Umwelt „zu Gunsten eines reinen Strebens“ eingerichtet hat, kommt aber nur noch als leere Metapher vor. Auch Alberts früheres sowie sein weiteres Leben sind, wie der Leser später erfährt, von Zufällen bestimmt. Erwähnt seien nur die Ereignisse, die zu seinem Entlassungsgesuch führen oder die Niesszene in der Gegenwart von Cordelia in Bürglen. Diese Zufälle freilich haben nun einen erheblichen Einfluß auf Alberts Leben. Über die verlegte Brille oder den Sturz aus der Kutsche kann gelacht werden. Ihre Folgen sind vergleichsweise harmlos: So klagt der Protagonist ganz besonders über den Zeitverlust, den das Suchen von Gegenständen nach sich zieht. Die zufälligen Ereignisse, die eine Glückserfüllung in der Arbeit oder der Liebe verhindern, sind zwar nicht grundsätzlich anderer Art, aber von anderer Wirkung, weil sie in den Lebenslauf des Protagonisten erheblich eingreifen. Erwähnt sei hier nur das Überschlagen der Stimme in der Kutsche und der darauffolgende Sturz beim Versuch, auszusteigen. Dieser „Zufall“ hat seine Parallele in der Rede Alberts vor Abgeordneten der Kammer. Hier überschlägt sich die Stimme ebenfalls, Albert macht sich lächerlich und reicht in der darauffolgenden Aussprache mit dem Minister sein Entlassungsgesuch ein (vgl. AE2, S. 33).273 Diese ‚Zufälle‘, also Störungen der Intentionen eines Subjekts durch das geistlose Objekt, für das im Auch Einer prototypisch der Schnupfen steht, greifen in Alberts Lebensweg erheblich ein. Diese Vorfälle können als tragisch bezeichnet werden. Der Zustand zwischen Tragik und Komik ist von Vischer beabsichtigt, wie man aus seinen ästhetischen Schriften leicht erschließen kann. Tragikomik empfanden auch die zeitgenössischen Leser: So der Rezensent Wolfgang Kirchbach, der schreibt: Ich „habe gelacht, daß mir das Zwerchfell wie ein Stück Gummi schnellte, daß meine Umgebung mit ängstlichen Blicken mich auf dem Sopha liegen sah“.274 Er sei vom Schicksal des A.E. aber auch mit „tragischer Macht“275 berührt worden, so daß er von „gemischten Empfindungen“276 spricht. ______________________
273 Zum Ende von Alberts Dienstlaufbahn schreibt Weltrich treffend: „So endet in wildem Lärm, verzerrt, mit lächerlichem Zufall, in Kränkung, was er ruhig in geordnetem Wollen, in geraden Absichten begonnen hatte“ [Weltrich: (1879): „Auch Einer.“, S. 107]. 274 Kirchbach (1886): Rezension, S. 129. 275 Kirchbach (1886): Rezension, S. 132. 276 Kirchbach (1886): Rezension, S. 132.
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Der Grundkonflikt des Romans ist demnach der Widerstreit des zweckstrebenden Subjekts mit dem geistlosen und zweckwidrigen Objekt beziehungsweise dem Objekthaft-Körperlichen am Subjekt. Vischer selbst verdeutlicht in seinem Zusatz zu Mein Lebensgang, in dem er sich ausführlich zu seinem Roman äußert, das Grundmodell des Auch Einer: Diesmal sollte denn die tiefberechtigte Empfindlichkeit des geistigen Menschen über die Stöße, welche er durch die irrationale, von der Natur ausgehende Kreuzung seiner Zwecke erleidet, in Person, in der Form barocker Persönlichkeit auftreten. […] Es handelt sich also um Störungen, die von außen, von der unbewußten Natur kommen, oder auch von innen, sofern neben dem Geist in uns die blinde Natur wohnt.277
Die Zufälle, die Albert begegnen, sollen demnach nicht als individuelles Problem gedeutet werden, nicht als psycho-pathologische oder körperliche (im Fall des Schnupfens) Abnormität. Vielmehr will Vischer Alberts Problem als allgemein-menschliches verstanden wissen. Es geht um den Konflikt eines Zwecke verfolgenden Geists, den Vischer hier offenbar nur noch im Menschen ausmacht,278 mit einer kontingenten, „blinde[n] Natur“. Erst durch die Behandlung eines allgemeinen Problems bekommt der Roman überindividuelle Bedeutung: Ich behaupte: die Plackerei mit dem Kleinen, das uns quer in den Weg führt, ist ein allgemein menschliches Leiden, das schnurgerade auf die furchtbare Wahrheit führt, daß der Geist, der Sohn des Himmels, in den Staubleib, in das rohe Gepuff der Körperwelt gebannt ist!279
Die kleinen und unbedeutenden Zufälle stehen also stellvertretend für eine „furchtbare Wahrheit“, nämlich für den Gegensatz von Geist und Körper, Subjekt und Objekt. Und wie wir bereits sahen, haben kleine Zufälle ja auch zum Teil gravierende Konsequenzen, wie den Verlust des Berufs oder die Verhinderung erfüllter Liebe. Die Diskrepanz zwischen zufälligem Individuum und gattungsgemäßer Idee wurde in der Ästhetik durch die Humortheorie beziehungsweise durch die Theorie des Erhabenen fruchtbar gemacht. Das Subjekt war der „Brennpunkt des Widerspruchs, der durch das Weltganze geht“280, also der Widerspruch zwischen erhabener Idee und zufälliger Wirklichkeit. In Vischers Ästhetik war mit der Zusammenfassung des Weltwiderspruchs in ein Subjekt schon der erste Schritt zur Versöhnung getan. Sie wurde vollends durch den Ausgleich von tragisch-erhabenen ______________________
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KG6, S. 510 (Mein Lebensgang). Zweckstreben erkannte Vischer in der Ästhetik ja auch in der nicht-menschlichen Natur. KG6, S. 515 (Mein Lebensgang). Ä1, S. 489 (§ 210).
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und komischen Momenten herbeigeführt: Kontingenz war nicht die höchste Stufe der Realität, sondern konnte aufgehoben werden. Auch die tragisch-erhabenen Momente in dem Sinn, daß die Idee über das zufällige Individuum dominiert, finden sich im Roman. Hierzu gehört vor allem Alberts Tod. Seine uneigennützige Tierliebe ist im Roman kein sekundäres Motiv, sondern essentieller Bestandteil sowohl von Vischers als auch von Alberts Philosophie.281 Das Moralische, in diesem Fall die Tierliebe, ist so stark, daß das Individuum keine Rücksicht auf sein persönliches, individuelles und zufälliges Leben nimmt. Deshalb ist diese Konstellation erhaben im Sinne Vischers.282 Ob sich die gegensätzlichen Momente des Schönen, also das Erhabene und das Komische, ausgleichen, wie in der Ästhetik gefordert, ist allerdings fraglich. Wie wir bereits sahen, verschärft Vischer im zweiten Teil der Kritik meiner Ästhetik von 1873 diese Theorie dahingehend, daß die „Übergangsformen“ zwischen tragischen und komischen Momenten stärker berücksichtigt werden und auf eine dialektische Versöhnung der Gegensätze verzichtet wird. Da die Versöhnung der Gegensätze hier bereits theoretisch aufgegeben ist, steht zu vermuten, daß auch im Roman diese Gegensätze nicht ausgeglichen werden, so daß die Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit, Subjekt und Objekt bestehen bleibt. 6.4.2 Leihung als Beseelung der tückischen Objekte: Albert Um nun die Kontingenz der Welt zu reduzieren und Handlungsanschlüsse bereitzustellen, „leiht“ Albert den widerständigen Objekten eine Seele, er schreibt ihnen Intentionen, Zielstreben und Gefühle zu. Allerdings ist damit noch nicht gesagt, daß Albert von dieser Leihung auch weiß, daß er sie bewußt vollzieht. Zunächst hat es nämlich ganz den Anschein, als ob er selbst an die bösen Intentionen der Objekte glaubt. Damit verfolgt der Protagonist eine Strategie, die Vischer schon in der Ästhetik angesprochen hatte und die in seinen späten ästhetischen Reflexionen ganz ins Zentrum rückt. In Auch Einer äußert sich die Leihung zunächst in den Schimpfreden auf die Gegenstände und in anthropomorphisierenden Wendungen. Die ______________________
281 Zu Vischers Tierliebe und seinem Eintreten für den Tierschutz vgl. Andrea Hauser: Vischer als Tierschützer. In: Andrea Berger-Fix (Hg.): „Auch Einer“. Friedrich Theodor Vischer zum 100. Todestag. Katalog zur Ausstellung des Städtischen Museums Ludwigsburg 14. September 1987–28. Februar 1988. Ludwigsburg 1987, S. 172–180. 282 Dies übersah insbesondere Matias Martinez, der in A.E.s Tod kein erhabenes Motiv sieht. Vielmehr ende das Leben des A.E. „zufällig-unglücklich“ [Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 148].
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Brille wird zur „Teufelsbestie“, die durch die Hinrichtung ihre „Strafe für jahrelange unbeschreibliche Bosheit“ (AE1, S. 19) erhalten habe, einem Knopf sehe man seine „Verruchtheit“ (AE1, S. 20) nicht an, obwohl er doch die schlimmsten „Possen“ aufführe, ein fallendes Papierblatt „verhöhnt“ ihn und flattert in „Spottbewegungen“ (AE1, S. 31) zu Boden, ein rotbraunes Brillenfutteral „versteckt sich“ (AE1, S. 33) auf rotbraunem Möbel, und anderes mehr: „So lauert alles Objekt“ (AE1, S. 31). In einem weiteren Gespräch dieses sonderbaren Charakters mit dem Erzähler werden wir mit seiner privaten Mythologie bekannt gemacht, derzufolge Geister nach der Erschaffung des Menschen in die Objekte flüchteten und dort furchtbare Rache schworen (vgl. AE1, S. 91). In dieser Mythologie haben also die Objekte tatsächlich Geist, allerdings einen böswilligen. Es sei also, so folgert A.E., „[…] ungenau gesprochen […] wenn man das besessene Objekt anschuldigt statt den besitzenden Dämon. Dies ist nur sprach- und phantasiegemäß; man kann nicht allemal zwei nennen.“ (AE1, S. 91)
An dieser Stelle mag der Leser kurz verunsichert sein, ob es in der erzählten Welt wirklich böswillige Geister in den Objekten gibt. Doch nicht nur, daß Erzähler und Leser Alberts Reden nicht ernst nehmen und darüber lachen. Der Erzähler bemerkt gelegentlich auch Ironiesignale von Albert. So nimmt er während seiner närrischen Ausführungen über tückische Objekte ein „ganz leichtes Zucken“ (AE1, S. 47) in seinen Gesichtszügen wahr, das der Erzähler zunächst nicht deuten kann. Doch kurz darauf kommt ihm der Gedanke, daß Albert vielleicht ein „Kapitalschelm“ sei, der seine Mitmenschen „zum Narren“ (AE1, S. 49) halte. Nun hatte Vischer schon in der Ästhetik die Praxis der Kontingenzminderung durch Hypostasierung von Zwecken beschrieben. Dort hieß es: Beim Eintritt des schädlichen sinnlosen Zufalls wird eine persönliche Intelligenz angenommen, welche geheime Zwecke haben müsse, dies zuzulassen, und in diesem Voraussetzen unbekannter Zwecke liegt für das einfache Bewußtsein der Trost.283
Auch Albert ist von Zufällen geplagt und reagiert mit dem „Voraussetzen unbekannter Zwecke“. Allerdings ist Albert ein aufgeklärter Mensch des 19. Jahrhunderts, der diese Zwecke keinem christlichen Schöpfergott zuschreibt, sondern halb im Ernst, halb humoristisch eine kuriose Privatmythologie entwirft. Ein Blick auf Vischers späte Konzeption der Leihung und die damit zusammenhängende Symbol- oder Einfühlungs-Theorie wird diesen außergewöhnlichen Zug an Vischers Roman erklären und seine von Vischer angenommenen anthropologischen Bedingungen ______________________
283 Ä1, S. 149 (§ 52, Anm.).
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transparent machen. Die anthropomorphe „Tücke“ des Objekts läßt sich aus Vischers Schriften ganz eindeutig herleiten, ja er tat dies selbst in dem Zusatz zu Mein Lebensgang.284 Diese Parallele soll zunächst herausgestellt werden. Über sie hinaus hat aber auch aus heutiger Sicht die Hypostasierung des menschlichen Zielhandelns als Mittel zur Kontingenzreduktion ein hohes Maß an Plausibilität. Albert leidet nicht unter der „Tücke“ des Objekts285, sondern unter dem zufälligen Objekt, dem er halb ernst und halb humoristisch – dann nämlich als Beobachter seiner selbst – Intentionen unterschiebt. Zugleich schützt eine solche Kontextualisierung vor dem Versuch, Alberts Mythologie nur als „paranoide[n] Verfolgungswahn“286 oder als „Produkt einer pathologischen Entlastungs- und Selbstrechtfertigungsstrategie“287 zu sehen. Das Konzept der Leihung, also der unbewußten Unterschiebung der eigenen Seele unter ein unbeseeltes Objekt, war in der Ästhetik eine Hilfskonstruktion zur Erklärung der Schönheit anorganischer Natur. Mit dem ersten Teil der Kritik meiner Ästhetik wurde die Leihung zum neuen, neukantianischen Ausgangspunkt einer nun subjektivierten Ästhetik, nachdem sich das Objektiv-Naturschöne, auf realteleologischen Vorstellungen ruhend, nicht halten ließ. Im zweiten Teil der Kritik sowie in dem späten Aufsatz Das Symbol wird die Leihung, die nun auch Symbolisierung genannt wird, zu einem allgemein anthropologischen Prinzip der Weltwahrnehmung, das weit über die Ästhetik hinaus Bedeutung hat und einem Prozeß der Rationalisierung unterworfen ist.288 Im zweiten Teil der Kritik meiner Ästhetik versteht Vischer unter ‚Symbol‘ das „unfreie völlige Verwechseln des Bildes mit der Bedeutung“.289 Es geht Vischer also um das Verwechseln eines Gegenstandes mit seiner vom Menschen zugeschriebenen Bedeutung. Hier liegt es nahe, an Feuerbachs Prinzip der Projektion zu denken. Vischer erwähnt den Philosophen allerdings nicht explizit. Aber er sieht, wie Feuerbach, in dieser Verwechslung den „Hauptschlüssel zum Verständnis aller positiven Religion“.290 Das gilt gleichfalls für das Naturschöne oder die Naturreligionen. Im Bereich des Naturschönen sei die in der Ästhetik beschriebene „Leihung“ ______________________
284 285 286 287 288
Vgl. KG6, S. 510f. (Mein Lebensgang). So Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 125. Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 136. Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 149. Daß Vischers Ästhetik, die er in zeitlicher Nähe zum Auch Einer ausarbeitet, wesentlich auf dem Prinzip der Leihung aufgebaut ist, vernachlässigt Martinez in seinem Vischer-Kapitel. Statt dessen greift er auf das Konzept der Leihung zurück, wie es im ersten Band der Ästhetik von 1846 in der Theorie des Komischen auftritt. Vgl. Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 122f. 289 KG4, S. 316 (Kritik meiner Ästhetik). 290 KG4, S. 425 (Das Symbol ).
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nichts anderes gewesen als diese Art des Symbolisierens.291 Das Subjekt legt eine Bedeutung in ein Naturphänomen, so daß es für ihn eine Qualität bekommt und schön wird: Der Mensch projiziert beispielsweise seine Sehnsucht in den Sonnenuntergang, so daß dieses physikalische Phänomen selbst Sehnsucht zu haben scheint und so zu einem Symbol der Sehnsucht werden kann:292 „Unbeseeltes jeder Art wird mit Willen ausgestattet“.293 Dem Menschen könne nun der Akt der Symbolisierung selbst verborgen bleiben, so daß er das Objekt und die ihm zugeschriebene Bedeutung vollständig verwechselt. Dies sei in den Religionen (besonders den Naturreligionen) der Fall, wo Dinge göttlich verehrt werden, was eine „völlige Verwechslung“294 der verehrten Gegenstände mit den ihnen zugeordneten Bedeutungen sei.295 Es gebe aber auch ein fortgeschrittenes Bewußtsein, wo die Symbolisierung „in schwebender Weise mit Vorbehalt der freien Unterscheidung“296 funktioniere. So sei für den aufgeklärten Bürger des späten 19. Jahrhunderts die Symbolisierung ein „ästhetisch freies symbolisches Verfahren“.297 Wir leihen der Natur zwar notwendig menschliche Eigenschaften oder verwenden in der Kunst Götter, aber „die Einsicht in das eigene Verfahren als ein bloß vergleichendes“298 kann jederzeit zu Bewußtsein kommen. Der Zwiespalt besteht demnach darin, daß dieses Leihen für Vischer zwar notwendig geschieht, aber jederzeit als ein nur subjektives Projektionsverfahren bewußt werden kann. An seine Leser schreibt Vischer im Zusatz zu Mein Lebensgang, daß jeder diese Notwendigkeit zum Leihen, also zur Anthropomorphisierung an sich selbst beobachten könne: ______________________
291 292 293 294 295
Vgl. KG4, S. 318f. (Kritik meiner Ästhetik). Vgl. KG4, S. 432f. (Das Symbol ). KG4, S. 433 (Das Symbol ). KG4, S. 319 (Kritik meiner Ästhetik). Ein Beispiel Vischers mag dies verdeutlichen: Im Christentum könne man dadurch die „Verwechslung“ des Leib Christi mit Brot und Wein erklären. Am Anfang habe nur eine lose Verbindung bestanden: Anfänglich aß man das Brot und trank den Wein, um dann dem Opfertod Christi zu gedenken. So wie sich der Gläubige Brot und Wein aneigne, so wolle er sich auch die Wirkung des Opfertodes, die Erlösung von den Sünden, aneignen. Durch den Vergleichspunkt des Aneignens erhielten Brot und Wein symbolische Eigenschaften. Doch die religiöse Vorstellung nehme das Symbol eigentlich, Brot und Wein seien nach der magischen Handlung eines Priesters für den Gläubigen wirklich der Leib Christi. Nun erhoffe man sich vom Verzehren von Brot und Wein die Wirkung, die eigentlich nur der Opfertod Christi habe, nämlich die Vergebung der Sünden. Vgl. KG4, S. 424f. (Das Symbol ). 296 KG4, S. 317 (Kritik meiner Ästhetik). 297 KG4, S. 318 (Kritik meiner Ästhetik). 298 KG4, S. 319 (Kritik meiner Ästhetik).
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wir Alle denken und sagen tausendmal bei sehr lästigen Zufällen: es ist doch, als ob Dämonen gegen mich verschworen wären! Man mache aus diesem „A l s o b “: halb Ernst, wie die alte Mythologie ganz Ernst aus Ähnlichem machte, – nun, so hat man ja den A.E.!299
Vor diesem Hintergrund läßt sich also Alberts Mythenglaube als ein Schwanken zwischen einem unfreien, mythisch gebundenen Glauben an die bösen Absichten der Geister in den Objekten und der Reflexion auf das eigene Projektionsverfahren beschreiben. Der ungeteilte Glaube hat für Albert, wie mehrfach angedeutet wird, befreiende Wirkung, weil er die Dinge für ihre Tücke verantwortlich machen kann. Dann flucht Albert und bestraft die widerspenstigen Gegenstände. Das Fluchen über die verschwundene Brille ist hier beispielhaft. „Was nützt aber die Wut?“ fragt der Erzähler seine Reisebekanntschaft, die auf ihre verlegte Brille schimpft. Alberts Antwort: „O, geistlos! Hat es Luther nichts genutzt – falls von Nutzen die Rede sein soll –, wenn er den Teufel fortschalt? Wißt ihr denn nichts von Entlastung der armen Seele? Von der köstlichen Arznei, die im Fluchen liegt?“ Der böse Geist kam mit neuer Gewalt über ihn, er schoß wütend im Zimmer hin und her und ergoß eine Flut von Schimpfwörtern auf die arme Brille. (A.E.1, S. 18)
Der Glaube an die bösen Intentionen der Objekte führt zu einer Kontingenzreduktion, die durch eine umfassende Mythologie abgesichert wird. Zugleich erlaubt sie Anschlußhandlungen und dadurch „Entlastung der armen Seele“. Die ‚Hinrichtung‘ der Brille ist die äußerste Konsequenz dieses Verhaltens. Das Objekt zu bestrafen ist Albert wichtiger als die Tatsache, daß er nun ohne Brille auskommen muß. Andererseits ist die Beobachtung des eigenen Verfahrens, also die Beobachtung zweiter Ordnung, nicht rückgängig zu machen. So erklären sich die Ironiesignale, die bei Albert deutlich werden und den Erzähler dazu veranlassen, ihn als einen „Kapitalschelm“ (AE1, S. 49) zu bezeichnen, der seine Umgebung zum Narren hält. Da Albert zwischen beiden Beobachtungs-Ordnungen schwankt, wirkt er pathologisch. Im mimischen Zucken Alberts ist beides enthalten: Es ist als verschmitzter Ausdruck von Ironie ebenso lesbar wie als Zeichen pathologischer Nervosität. Schließlich gibt es auch einige Stellen, in denen der Erzähler infiziert wird von der Privatmythologie seiner Reisebekanntschaft. Auf einer Wanderung beseelt sich ihm die Natur und ruft ihm „Tetem“ zu, also das zunächst auch für den Leser unverständliche Rätselwort Alberts. Seine Tasche beginnt beim Laufen hin und her zu schwingen. Daraufhin schleudert er sie samt Inhalt an einen Felsen. Ferner beteiligt er sich an der ‚Hinrichtung‘ eines Tischgedecks (vgl. AE1, S. 110ff.). Nach Alberts ______________________
299 KG6, S. 511 (Mein Lebensgang).
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Tod wird der Erzähler im Bekanntenkreis des Verstorbenen nur mit Mühe die „Paradoxie“ zurückhalten, „der Selige habe mit seinen angeblichen Grillen überhaupt recht gehabt.“300 Der Leser des Romans glaubt jedoch keinen Moment an die Mythologie des Helden, sie soll ja gerade humoristisch wirken und ihn zum Lachen bringen. In seinem Glauben an die Kausalität der erzählten Welt wird er nicht erschüttert. Es passiert nichts, was dem Leser die Existenz einer finalen Motivierung nahelegen würde. So geht der Zerstörung des Tischgedecks das Problem voraus, daß nach dem Frühstück eine Landkarte auf dem Tisch ausgebreitet werden soll. Hierbei stört das Gedeck auch noch nach wiederholten Umstellungs-Versuchen, so daß es zerstört – in der Sprache von A.E.: „hingerichtet“ – wird. Hier geht alles mit rechten Dingen zu. Die Alternative ist nicht, ob es Geister in der erzählten Welt gibt, die Geschehen motivieren können und Absichten haben, oder ob A.E. ein weiser Narr ist, der durch eine Privatmythologie seine Umwelt täuscht. Vielmehr geht es um das unwillkürliche Leihen und die Tatsache, daß sich das Subjekt zeitweise seines Projektionsverfahrens (der „Einfühlung“, wie es Robert Vischer und später sein Vater nannten) bewußt ist. Vischer entwirft eine Theorie der Religion als Projektionsverfahren zur Kontingenzreduktion und Entlastung. Zugleich stellt er eine kulturgeschichtliche Diagnose, indem er die Folgen der Beobachtung dieses Verfahrens beschreibt. Albert ist insofern eine Illustration einer späten, aufgeklärten Religionsstufe. Dies muß ausdrücklich gegen Matias Martinez betont werden, der davon ausgeht, daß es in der Rahmenhandlung des Auch Einer eine kausale und eine finale Motivierung gibt, so daß diese erzählte Welt eine „doppelte Welt“ sei.301 Die Unsicherheit des Erzählers, sein ‚als ob‘, führe zu einer „prinzipiellen epistemischen Unsicherheit des Lesers“.302 Dagegen gilt ______________________
300 AE2, S. 100. Diese Bemerkung zielt wohl wieder auf die identitätsphilosophische Einheit von Subjekt und Objekt als Voraussetzung für die Möglichkeit (oder die zeitweise Notwendigkeit) der Leihung. 301 Vgl. Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 140–142. 302 Vgl. Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 140. Martinez erläutert dies an einem Beispiel: Albert spricht gerade über die Tücke des Objekts. Am Nebentisch sitzt ein Physikprofessor, der soeben sein Honigbrot bestreicht. Albert erläutert eine „Haupttücke“ des Objekts, nämlich „an den Rand kriechen und sich da von der Höhe fallen lassen, aus der Hand gleiten, – du vergissest dich kaum einen Augenblick und ratsch –“ (AE1, S. 32f). In diesem Moment fällt dem Physiker das Honigbrot aus der Hand und zwar – was sich freilich leicht erklären läßt – auf die bestrichene Seite. Bei diesem komischen Zufall verkneift sich der Erzähler nur mühsam das Lachen, „denn es war auch gerade, als ob das ‚Ratsch‘ und das Fallen des Brotes in einem geisterhaften Kausalitätsverhältnis gestanden wären.“ (AE1, S. 33) Wenn der Leser (und Interpret) wirklich über die Kausalität der erzählten Welt verunsichert wäre, müßte er der Weltsicht des A.E. einige Wahrheit zugestehen und dürfte ihn
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festzuhalten, daß hier keine „Zweideutigkeiten der Geschehensmotivierung“303 vorliegen, sondern es vielmehr um die Frage geht, wie in einer naturwissenschaftlich erkannten Welt Menschen mit dem Zufall umgehen. Die Antwort ist, daß sogar aufgeklärte Menschen wie der Erzähler oder ein Physikprofessor bei einem Zufall zumindest im Vergleich teleologische Beschreibungen verwenden und dem zufälligen Objekt eine Intention unterschieben.304 6.4.3 Leihung als Beseelung der Natur: der Erzähler Die Bedeutung des Konzepts der Leihung für Auch Einer ist aber erst dann vollständig erkannt, wenn berücksichtigt wird, daß der Erzähler in seinen Naturschilderungen auf dieselbe Weise wie Albert den unbelebten Gegenständen eine Seele leiht und dadurch für den Leser anschaulich gestaltet: Die Beseelung der Naturobjekte ist nicht nur ein Mittel der Kontingenzminderung, sondern überhaupt nötig, um der Natur Bedeutung und Schönheit zu verleihen. Dies wird durch zwei Tatsachen deutlich: Zum einen durch die auffällige Häufung von Anthropomorphismen in der (ohnehin seltenen) Naturbeschreibung, zum anderen durch die Abhängigkeit des Naturschönen nicht nur von äußeren Zufällen wie dem Wetter, sondern nun auch von der Stimmung des wahrnehmenden Subjekts. Zwei Beispiele mögen dies belegen: Bei einer der Windungen des Weges bekam ich plötzlich einen Stoß, der mich fast zu Boden geworfen hätte. Auf Geierfittichen war jetzt der Föhn über das Joch herabgeschossen und schrie wütend auf, da er sie an den stahlharten Felswänden zerstieß. Zwischen sein Ächzen, Pfeifen, Kreischen, Heulen mischten die klagenden, grollenden Wasser ihr Weinen, ihr Schelten, ihren Donner; es war, als sei die Hölle losgelassen. (AE1, S. 69)
Diese Naturbeschreibung, die kompositorisch auf den Selbstmordversuch von Albert vorbereitet, verwendet ausgiebig Anthropomorphismen. Dadurch wird ein Vorgang der Meteorologie für den Menschen ästhetisch bedeutsam. Daß die Beschreibung des Föhns durch einen Vergleich mit der „Hölle“ endet, verweist auf die heimliche Einheit von Erzähler und ______________________
nicht, wie Martinez dies tut, als pathologischen Fall behandeln. Bei A.E.s Weltsicht handelt es sich aber um keine Anormalität, sondern um eine kuriose Ausprägung eines nach Vischer allgemeinmenschlichen Verhaltens. 303 Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 141. 304 Dem „als ob“ des Erzählers entspricht ein „gleichsam“ des Physikprofessors: Albert habe ihm das Butterbrot „gleichsam“ (AE1, S. 35) hinuntergeworfen.
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Protagonist in bezug auf das Prinzip der Leihung: Auch Albert beseelt seine Objekte schließlich mit Teufeln und höllischen Dämonen. Eine andere Naturschilderung belegt die Abhängigkeit des Naturschönen von der (zufälligen) Stimmung des Subjekts: Ich schritt geruhig meines Wegs, beschaute mir See, Fels und hohe Bergeshäupter, nicht eben zu gehobener Naturempfindung gestimmt, der Himmel war bedeckt, die Spitzen des Nieder- und Oberbauen, des Uri-Rotstocks verhüllt, ein schweres Grau lag auf allen Höhen, Tiefen und Flächen. Dennoch war die Landschaft nicht tonlos. Eine eigentümliche Unruhe schien im See sich zu rühren, der doch kaum von einem Windhauch bewegt wurde; […] Seltsam blitzte da und dort ein scharfer Lichtstreifen aus dem Wasserspiegel auf, wie ein zorniger Blick aus einem Auge schießt. Es war etwas Geheimnisvolles, dumpf Verhülltes rings umher, wiewohl alle bestimmten Anzeichen nahen Unwetters fehlten. Das verschleiert Drohende, das sich dunkel zu fühlen gab, führte mir doch die Sturmbilder aus Schillers Tell vor die Phantasie. Versenkt in diese innere Anschauung gieng ich meines Wegs und hatte einen Lärm, der in mäßiger Entfernung sich hören ließ, mit dem körperlichen Ohre wohl längst aufgenommen, ehe mir die Sinnesempfindung zum Bewußtsein kam. Es war heftiges, zorniges Geschrei von Männerstimmen, Hundegebell dazwischen. (AE1, S. 36f.)
Zunächst beruft sich der Erzähler selbst darauf, daß er „nicht eben zu gehobener Naturempfindung gestimmt“ sei. Die folgende, ebenfalls mit Anthropomorphismen durchsetzte Naturbeschreibung, ist aber bereits vom unbewußt wahrgenommenen Geschrei und Hundegebell geprägt: Hierbei handelt es sich erneut um Albert, der mit einem Tierschinder kämpft. Diese Szene weist auf seinen Tod viele Jahre später voraus, wo er bei einer ähnlichen Auseinandersetzung niedergestochen wird. Doch die Vorbereitung der eben zitierten Streitszene wird diesmal nicht nur kompositorisch durch die Naturschilderung angekündigt. Die Beschreibung der Natur als „zornig“ und unheilsschwanger drückt bereits die Stimmung des Erzählers aus, der ja den Kampf schon wahrgenommen hat, auch wenn dieser ihm noch nicht ins Bewußtsein gedrungen ist. Die Naturbeschreibung ist demnach auch innerhalb der erzählten Welt psychologisch motiviert, womit sie eine Folge der Stimmung des Wahrnehmenden wird. In diesen Passagen liegt, soweit ich sehe, eine noch nie gewürdigte Qualität des Romans. Die Naturschilderung wird zur Seelenlandschaft, noch nicht so radikal wie später in der Literatur der Jahrhundertwende,305 dafür jedoch theoretisch durch das Konzept der Symbolisierung oder Einfühlung vorbereitet und reflektiert. Indem Vischer einen Ich-Erzähler verwendet und diesen ebenfalls den Akt der Leihung vollziehen läßt, nimmt er das Problem der Subjektivität des Naturschönen, das wir als Krisenprodukt einer gescheiterten objektiven Zuschreibung von Natur______________________
305 Man denke an die lyrischen Dramen des jungen Hugo von Hofmannsthal.
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schönheit verstanden haben, in die Form des Romans, in die Darstellung der erzählten Welt auf. In der Tat hat sich Vischer hier sehr weit von seiner in der Ästhetik vertretenen Idee des objektiven Naturschönen entfernt: Dort entfaltete sich die Idee des Schönen in der Natur nach einer teleologischen Stufenordnung. Die Phantasie hatte nur die Aufgabe, dieses Naturschöne zu idealisieren, also vom Zufall zu befreien. Die Leihung war ursprünglich nur ein (unsystematisches) Hilfskonzept. Nun ist sie, halb geglaubt, halb durchschaut, unter dem Namen der ‚Symbolisierung‘ das alleinige Mittel, um der Natur Bedeutung und Schönheit zuzuschreiben. Was der Erzähler weitgehend unbewußt vollzieht, wird in Alberts kurioser Mythologie zum teilweise bewußten und dann ironisch gebrochenen Akt. Vischer selbst verwendet also auf der Erzähler-Ebene dasjenige Prinzip, welches er in der Figur Alberts ironisch bricht. Mehr noch: Er ist nach der Einsicht in die Haltlosigkeit des objektiven Naturschönen darauf angewiesen und kann es doch nicht unreflektiert verwenden. So gebraucht er das Prinzip der Symbolisierung stillschweigend in den Objektbeschreibungen der Erzählerfigur und ironisiert die Objekt-Beseelung in der Figur des A.E.306 Da die Anthropomorphisierung einmal zur Konstruktion der erzählten Welt verwendet, dann aber in der Figur Alberts als bloß subjektiv dem Lachen preisgegeben wird, kommt es zu einer Art unzuverlässigen Erzählens. Wie die Natur ‚an sich‘ aussieht, weiß der Leser nicht. Vischer beschreibt im Symbol-Aufsatz eine Art nicht geglaubter Verzauberung der Welt aus pragmatischen Gründen. Dieser „poetische Glaube“ müsse vom echten Mythosglauben unterschieden werden: Hier ist nötig, genau zu unterscheiden zwischen dem Mythusgläubigen und dem, der diesem in sein Vorstellen, sein Bewußtsein sieht, dabei den Wert des Mythus kennt und ihn, obwohl ohne eigentlichen Glauben, als ästhetisches Motiv gebraucht, für Kunst, Poesie und Schmuck des Lebens und der Rede verwendet. Für j e n e n sind Götter (nebst Genien, Geistern, Sagenhelden) wirkliche Wesen, ihre Handlungen, Erlebnisse sind Geschichte, für d i e s e n nicht, faktische Wahrheit legt ihnen dieser nicht bei, aber er versetzt sich gern in den Mythusgläubigen, er weiß ganz, daß nur durch solchen Glauben so lebensvolles Phantasiegebilde entstehen konnte; dieses Versetzen nennen wir poetischen Glauben, aber der poetische Glaube ist kein eigentlicher, kein historischer, neben oder hinter ihm bleibt das helle Bewußtsein bewahrt, daß diese Gebilde Phantasiewerk sind. 307
Vischer kommt es auf eine schwebende Mittelposition an: In einer aufgeklärten, naturwissenschaftlich erkannten Welt soll der vom Subjekt ausgehenden und notwendig vollzogenen Beseelung der Natur ein Platz ______________________
306 Ein besonders gutes Beispiel ist die Szene, in der Albert seine Brille beschimpft (vgl. AE1, S. 18). Der Erzähler reagiert mit Unverständnis, sieht sich aber genötigt, die „arme“ Brille in Schutz zu nehmen. Er vollzieht also den Akt der Symbolisierung ebenso wie Albert, nur eben unbewußt. 307 KG4, S. 427f. (Das Symbol ).
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eingeräumt werden. Will Vischer die Naturbeseelung rechtfertigen, so gibt er auch in dem späten Symbol-Aufsatz noch die Identität von Subjekt und Objekt als Grund für die Möglichkeit der Naturbeseelung an.308 Doch die Problemkonstellation und das Prinzip der Symbolisierung, die die späten ästhetischen Schriften und den Auch Einer beherrschen, sind nur vor dem Hintergrund einer radikal entteleologisierten Welt zu verstehen. 6.4.4 Zufall, Entwicklung, Vorsehung und Weltgeist Die Zufälle in der erzählten Welt ersticken schon im Keim viele sinnvolle Handlungsfolgen des Protagonisten und erzeugen so beim Leser ein Gefühl der Unsicherheit. Auerbach hält diese Leseerfahrung prägnant fest: Wir [Leser; P.A.] wissen nicht, was der Held nun nach irgend einem Ereigniß thun wird; wir können nicht erwarten oder ahnen, was er nun aufnehmen wird, nachdem er dieses oder jenes Gebiet des Lebens und Denkens scharf und eigenartig durchforscht hat; das Überraschende hat nun den Charakter des Zufälligen.309
Das Zufällige, mit dem Albert und der Leser konfrontiert werden, läßt sich an der folgenden Szene gut zeigen: Der bereits erwähnte Physikprofessor, der über Alberts Privatmythologie erbost ist, nähert sich diesem erregt. Beide stehen also offenbar kurz vor einer verbalen oder gar physischen Auseinandersetzung. Der Erzähler kommentiert die Szene: Was werden sollte, wer konnte es wissen? Plötzlich stieg ihm [A.E.; P.A.] eine flammende Röte ins Gesicht, seine Augen funkelten, er fuhr auf, und ich, da ich meinen Mann eben doch noch nicht so ganz kannte, wurde schon für den Frieden besorgt, als er mit Sturmschritten, ja mit Sätzen wie ein Panther quer über das Zimmer nach einer Ecke schoß, […] und nun gieng ein Husten, Niesen mit untermischtem Schlucken, seltsamen, wilden Gurgel- und Schnapptönen, ein so schreckliches Glucksen, Kollern, Fauchen, Raspeln, Schnarren, Stöhnen, schußartiges Bellen los, als hörte man die rasende Musik eines Chors von Höllengeistern. (AE1, S. 35)
Statt des Kampfes oder eines cholerischen Ausbruchs, scheinbar durch die Gesichtsröte und den Blick angekündigt, folgt ein Hustenanfall, also die für den Roman beispielhafte zufällige Störung einer Handlung durch die geistlose Natur. Aufschlußreich ist, daß auch die Wirkung der Erzählung auf den Leser reflektiert und einkalkuliert wird. Denn der Leser kann diesen Zufall, zumindest am Anfang des Romans, tatsächlich nicht ______________________
308 Hinter der Möglichkeit der täuschenden Naturbeseelung liege die „Wahrheit aller Wahrheiten, daß das Weltall, Natur und Geist in der Wurzel e i n e s sein muß.“ [KG4, S. 434 (Das Symbol ).] 309 Auerbach (1879): Wissen und Schaffen, S. 291.
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vorhersehen, so daß, ganz wie Auerbach schreibt, das „Überraschende“ der Handlung zum „Zufälligen“ wird. Zudem wird durch die Gesichtsröte und den funkelnden Blick das pathognomische Wissen des Lesers angesprochen und er somit virtuos auf eine falsche Interpretationsfährte gelockt. Es ist bereits deutlich geworden, daß Albert eine eigene Mythologie entworfen hat, um die Kontingenz der Welt zu reduzieren. Seine anderen Versuche der Kontingenzminderung, nämlich das Erzählen und das philosophische Systematisieren, werden wir später noch behandeln. Albert, den der Zufall so hart trifft, weil er ein ausgesprochenes Bewußtsein für das Zweckmäßige hat, kommt zumindest an einem Punkt seines Lebens ins Zweifeln, ob es nicht doch eine Vorsehung gibt, ob hinter diesen Zufällen folglich nicht eine waltende Vernunft steht. Während seines Selbstmordversuchs in der Schöllenschlucht rettet er ja den Erzähler, der ihm zur Hilfe kommen will. Der Lebensmüde wird so zum Lebensretter. Albert spricht bereits kurz nach dem Zwischenfall von der „Frau von Vorsehung, geborene Zufall“ (AE1, S. 76), die sich diesmal gut gehalten habe. In seinem Tagebuch kommentiert er das Ereignis, wohl einige Tage später, durch erregte Fragesätze: Gerettet? Heißt man das retten? Oder doch verborgenes Weltgesetz? Daß der gute Mensch sein Leben wagt und daß der zum Retter wird, der gerettet werden soll und – wird? Ist jener zu Diensten aufgehoben für das Leben, zu erklecklichem Wirken? Steht der Zufall in tiefem, nicht zu übersehendem Zusammenhang? Ich, auch ich zu Zwecken gerettet? Ich? o, das ist vorbei! (AE2, S. 316f.)
Albert kann die Zufälle, die ihm widerfahren, selbst wenn es glückliche Zufälle sind, nicht mehr einer Vorsehung oder einer welt-immanent gedachten Vernunft zurechnen. An eine zweckmäßige Ordnung der Welt, in der das Einzelschicksal aufgehoben wäre, glaubt Albert nicht mehr.310 Statt dessen hat Albert in seinem Tagebuch das Konzept einer ‚Vorsehung ex post‘ entwickelt, ganz analog zu der Vischer bekannten Darwinschen Idee einer Zweckmäßigkeit ex post: Vorsehung. Man sollte eigentlich sagen: Nachsehung. Es handelt sich doch vom Zufall. Der Zufall ist eine im Moment ihres Auftretens von keiner Intelligenz überwachte, rein irrationale, gesetzlose Schneidung der Linien, auf denen die Natur und die Geisteswelt ihre Tätigkeiten, jede an sich gesetzmäßig, ausüben. […] Das ganze Leben, die ganze Geschichte ist Verarbeitung des Zufalls. Er wird in das Reich des Naturwirkens und des menschlichen Denkens, Willens und Tuns hinein stetig umgebildet. Vorher, in seinem Eintreten, ist er blind, nachher wird ______________________
310 In einer Gesprächsrunde nach Alberts Tod sagt ein Geistlicher, der Albert kannte, daß sein Unglück nur daher gekommen sei, daß er nicht an die Vorsehung geglaubt habe. Der ehemalige Referent von Albert wendet daraufhin ein, daß die Umkehrung des Satzes wahr sei, daß nämlich erst die Zufälle und die Grausamkeit der Natur dazu geführt hätten, daß Albert den Vorsehungs- und Gottesglauben aufgegeben habe (vgl. AE2, S. 98).
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er eine von sehenden Augen geflochtene Masche im unendlichen Netze der Tätigkeiten. Also eigentlich Nachsehung. Aber da die Zeit ja doch nur Schein ist, so ist das „Nach“ auch falsch, so falsch wie das „Vor“. (AE2, S. 349f)
Im Moment des Auftretens ist der Zufall nicht gelenkt oder gezielt, sondern „irrational“. Erst im Nachhinein kann dem Zufall vom Menschen eine Bedeutung zugeschrieben werden oder er diese wirklich bekommen, nämlich im „Reich des Naturwirkens“ im Wechselspiel aus Variation und Selektion. Die Unterschiede zu Vischers Feststellung von 1846, daß „[a]lles, Leben, alle Geschichte, alle Bewegung des Geistes in jeder Sphäre […] wesentlich diese Geschichte der Aufhebung des Zufalls“311 sei, mögen als Feinheiten erscheinen, sind aber in Wirklichkeit gravierend: In Vischers idealistischer Phase war die Natur und die Geschichte die teleologische Entfaltung des absoluten Geistes, in der der Zufall aufgehoben war. Alberts Aussage ist jetzt so zu verstehen, daß die Natur den Zufall ex post verarbeitet. Was den Menschen betrifft, so ordnet er die ihm widerfahrenden Zufälle im nachhinein so an, daß sie für ihn eine sinnvolle Entwicklung ergeben. Ganz wie in Vischers Reflexionen zur Darwinschen Erklärung der Zweckmäßigkeit kommt Albert hier auf das Problem der Zeit zu sprechen, das heißt, er möchte die Paradoxie der Vor- bzw. Nachsehung dadurch auflösen, daß er die Zeit als „Schein“ bezeichnet. Doch Alberts Konzept der Nachsehung kann trotz einer Bezweiflung der linearen Zeitvorstellung nicht die Sicherheit einer dem Menschen wohlwollenden Vorsehung ersetzen, denn, so fährt der Tagebucheintrag fort: Gewiß ist freilich eines: unendlich vieles fällt durch die Maschen ins Leere, unzähliges Leben geht elend zugrunde, ohne daß wir eine Frucht absehen. Da ist nicht zu helfen; darein muß man sich ergeben; da gibt es keinen Trost, als den: sollen die blinden Naturgesetze unendliches Leben schaffen und unendliches Wohl, so geht es nicht anders, sie müssen auch ihre Opfer haben. – (AE2, S. 351)
Die poststabilierte Harmonie fordert notwendig viele Opfer, für die selbst eine „Nachsehung“ nicht zu sinnvollen Lebensschicksalen führt. Sie können vielleicht nicht direkt durch „unendliches Wohl“ gerechtfertigt werden, aber dieser Gedanke vermag zumindest Trost zu spenden. Aufschlußreich ist ein Vergleich mit David Friedrich Straußens Buch Der alte und der neue Glaube. Hier versucht Strauß mit einer ähnlichen Gedankenfigur den Pessimismus, der durch die Selektionstheorie verschärft wurde, zu überwinden. Das Leiden der Welt könne gerechtfertigt werden, wenn man wie Darwin erkenne, daß gerade im Leiden, identifiziert mit dem Kampf ums Dasein, das Ferment liege, „das allein Bewegung und Fortschritt in die Welt bringt“ (ANG, S. 147). Doch es gibt ______________________
311 Ä1, S. 121 (§ 41, Anm.).
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einen wichtigen Unterschied, der mit dem Entwicklungs- oder Fortschrittsbegriff zusammenhängt. Strauß konnte die Leiden der Welt nur dadurch rechtfertigen, daß etwas Höheres, Fortschrittlicheres entstehe: Das Niedere wird dem Höheren geopfert. Dieser Gedanke stammt wohl aus der Geschichtsphilosophie Hegels, der die Übel in der Geschichte durch die „Gottwerdung Gottes in der Geschichte“312 rechtfertigte. So konnte er die Vernichtung ganzer Völker begründen, wenn sie nur höhere Zwecke beförderte.313 Doch Vischer, der die Teleologie-Debatte in der Allgemeinen Zeitung verfolgte, weiß, daß Darwins Theorie keine Entwicklungstheorie im Hegelschen Sinn ist, sondern ‚nur‘ eine Veränderungstheorie. Also entfällt auch die Möglichkeit, die Leiden der Welt durch einen angeblichen Fortschritt in der Natur zu rechtfertigen. Es bleibt übrig, sich auf „unendliches Leben […] und unendliches Wohl“ zu berufen. Dieser Gedanke vermag immerhin noch „Trost“ zu spenden, aber von einer emphatischen Rechtfertigung des Leidens angesichts eines allumfassenden Fortschritts wie bei Strauß kann keine Rede sein. Allerdings schließen die Reflexionen des Protagonisten über den Zufall natürlich nicht aus, daß in der erzählten Welt doch eine Vernunft herrscht oder sie so eingerichtet ist, daß sich sein Leben harmonisch entfalten kann. Doch weder Alberts Leben noch die allgemeine politische Entwicklung lassen eine solche Deutung zu: Schon für den Zeitgenossen Berthold Auerbach war es sehr auffällig, daß Albert keine Entwicklung durchläuft. In Vischers Buch stehe „der Held immer als derselbe vor uns; er erlebt nur Verschiedenes, er selber wird kein Anderer.“314 An anderer Stelle betont er, daß wir von Alberts Kindheit und Jugend nichts erfahren: In diesem Roman sei „das Genetische einmal ausgeschlossen“.315 Besonders deutlich wird dies nach Alberts dritter Italienreise. In Italien hat er einen Traum, dessen Wichtigkeit für Albert und den Roman Vischer selbst hervorhob.316 Nimmt man hinzu, daß seine Italienreise eine klassische Bildungsreise ist und in diese Zeit auch der Tod Cordelias fällt, so ist eine einschneidende Veränderung seines Lebens eigentlich zu erwarten. Zunächst scheinen die Ereignisse auch ihre Wirkung nicht zu ______________________
312 313 314 315 316
Topitsch (1979): Erkenntnis und Illusion, S. 171. Vgl. Topitsch (1979): Erkenntnis und Illusion, S. 171. Auerbach (1879): Wissen und Schaffen, S. 272. Auerbach (1879): Wissen und Schaffen, S. 272. Vgl. den Brief Vischers an Wolfgang Kirchbach vom 3.4.1879. In: Marie Luise Becker, Karl von Levetzow (Hg.): Wolfgang Kirchbach und seine Zeit. Briefwechsel und Essays aus dem Nachlaß. München 1910, S. 32. Wendelin Haverkamp deutet diesen Traum als Ausdruck der Einheit von Geist und Natur, die durch Cordelia und Goldrun symbolisiert würden. Vgl. Wendelin Haverkamp: Aspekte der Modernität. Untersuchungen zur Geschichte des „Auch Einer“ von Friedrich Theodor Vischer. (Diss.) Aachen 1981, S. 14.
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verfehlen: Die Haushälterin Frau Hedwig beschreibt ihn bei seiner Rückkehr wie folgt: „Es war etwas Geklärtes in seinen Zügen, die Stirne erschien glätter, der Blick freier und heller, die Mundwinkel neigten nicht mehr zu dem bitteren Zug nach unten. Er erklärte, er wolle in den Krieg.“ (AE2, S. 18) Doch als seine Kriegspläne durch den Sturz vom Pferd zunichte gemacht werden, ändert sich seine Stimmung wieder grundlegend. Nicht nur, daß er die bösen Geister beschimpft, die diesen Unfall verursacht hätten, auch die vorgebliche Läuterungswirkung der Italienreise hält nicht an: „So war es denn kein Wunder, wenn die klare und freie Stimmung, die A.E. von der Reise mitgebracht hatte, nicht vorhielt.“ (AE2, S. 19f) Von einer teleologischen Entwicklung des Charakters, wie ihn Blankkenburg fordert oder von einer organischen Bildungskonzeption, die eine teleologische Komponente enthält, kann demnach keine Rede sein. Im Gegenteil: Beinahe systematisch verstellt der Roman angedeutete Entwicklungen oder relativiert sie. In der erzählten Welt des Auch Einer gibt es keine Realteleologie; auch lassen sich Alberts Stimmungsschwankungen nicht mehr als „gebrochene Teleologie“317 oder überhaupt vor der Folie einer Realteleologie sinnvoll beschreiben. Deshalb ist die Einschätzung Walter Brufords zurückzuweisen, daß der Auch Einer in die Tradition des Bildungsromans gehöre: „Vischer’s novel is in the tradition of the ‚Bildungsroman‘, like Wilhelm Meisters Lehrjahre and Der Nachsommer, which he held to be still the natural type for his age.“318 Im Roman fehlt aber nicht nur eine persönliche Entwicklung des Helden. Auch die politische Entwicklung von der Revolution 1848 zur deutschen Einheit 1871 läßt sich wohl kaum als hegelianische Entfaltung der Idee des Staates in der Geschichte verstehen. Oft wurde bemerkt, daß das Tagebuch des A.E. und damit der Roman mit einem Eintrag über die Schlacht von Sedan, also mit der Perspektive auf die nationale Einheit, endet.319 Albert selbst spricht auf dem Sterbebett davon, daß die Deutschen ein Volk seien, „dem zu Ehren der Weltgeist den Tag von Sedan eingeleitet hat“ (AE2, S. 24). Allerdings knüpft er daran den Glauben, daß so ein Volk nicht so schnell „verlottern“ werde. Doch genau da liegt das Problem: ______________________
317 So der Titel einer Studie zum Bildungsroman. Vgl. Klaus-Dieter Sorg: Gebrochene Teleologie. Studien zum Bildungsroman von Goethe bis Thomas Mann. Heidelberg 1983. 318 Walter Horace Bruford: The German Tradition of Self-Cultivation. „Bildung“ from Humboldt to Thomas Mann. Cambridge 1975, S. 147–163. Hier S. 153. Bruford begründet seine Einschätzung mit einem Hinweis auf Vischers Ästhetik, nach der das Ziel eines Romanhelden immer die Humanität sei. 319 Vgl. zuletzt Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 146.
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Albert hatte schon vorher einen moralischen Verfall Deutschlands nach der Reichseinigung prognostiziert, was zur Verdüsterung seiner Stimmung nach dem Sturz vom Pferd beigetragen hatte: ‚Ach Gott, ach Gott! so viel Glück ertragen die Deutschen nicht!‘ […] ‚Wir werden unser Ziel erreichen, aber von so viel ungewohntem Gelingen auch einen schlimmen Butzen davontragen; wenn der Tempel aufgebaut ist, gebt acht, wie sich die Fälscher, Krämer, Wechsler, Wucherer breit darin einnisten werden!‘ (AE2, S. 20)
Doch schon 1865, also mehrere Jahre zuvor, sieht Albert die Wirkungen einer künftigen Reichseinheit durchaus kritisch. Zum Erzähler sagt er, nachdem er seine Erregung von einem ganz anderen Thema „durch einen sichtbar künstlichen Akt der Seele“ (AE1, S. 84) auf das Thema des Patriotismus übertragen hat: „Sehen Sie, die Deutschen können das Glück und die Größe nicht recht vertragen. Ihre Art Idealität ruht auf Sehnsucht. Wenn sie’s einmal haben – vielleicht erleben wir’s, geben Sie acht, – und nun nichts mehr zu sehnen ist, so werden sie frivol werden, die Hände reiben und sagen: unsere Heere haben’s ja besorgt, seien wir jetzt recht gemeine Genuß- und Geldhunde mit ausgestreckter Zunge –“ (AE1, S. 85).
Der Erzähler bekennt daraufhin in einer der seltenen Leseransprachen, daß diese Prophezeiung inzwischen eingetreten sei und dies der Anlaß gewesen sei, Albert in einem Buch zu schildern. Damit wird am Ende der histoire der bedenkliche Zustand Deutschlands, der dem ‚Weltgeist‘ eigentlich widerspricht, und nicht etwa die Reichseinheit, zum unmittelbaren Auslöser für die Schilderung Alberts und damit für ein Kunstwerk. Anders gewendet: Ein zweifacher Zufall führt den Erzähler dazu, den „Sonderling“320 Albert zu schildern. Zunächst natürlich der Zufall der Reisebekanntschaft, dann aber auch der moralische Verfall der Deutschen, der als Zufall in dem Sinn gedeutet werden kann, daß er den Zwecken des Weltgeistes widerspricht. Selbst wenn man aber die Entwicklung des deutschen Reichs als vernünftige und notwendige Entfaltung der Staatsidee sieht, so bleibt festzuhalten, daß Albert an dieser Entwicklung kaum Anteil hat. Seine Karriere als Abgeordneter endet mit seiner peinlich scheiternden Rede, eine Teilnahme am Deutsch-Französischen Krieg verhindert der Sturz vom zufällig scheuenden Pferd. Der Krieg selbst vereitelt wiederum, daß sich der Erzähler und Albert wiedersehen und so möglicherweise eine Freundschaft entsteht. Der Zufall ist in der Rahmenhandlung nicht funktional in Beziehung auf diese großen Zusammenhänge, sondern einfach blind ______________________
320 Herman Meyer zählt den Protagonisten des Auch Einer unter die Sonderlings-Figuren der deutschen Literatur. Vgl. Herman Meyer: Der Sonderling in der deutschen Dichtung. München 1963, S. 223–228.
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gegenüber Fortschritt, Liebe, ja, überhaupt blind gegenüber den Intentionen der Menschen. Das schließt nicht aus, daß er auch einmal zufällig günstig ausfällt, wie im Beispiel von Alberts Selbstmordversuch, der vom Erzähler verhindert wird. Albert stirbt im Streit mit einem Pferdeschinder. In der Idee des Mitleids mit anderen Kreaturen sieht der Protagonist selbst die Möglichkeit, seinem Schicksal einen Sinn zuzuschreiben: Er stirbt im Kampf für das „obere Stockwerk“. Was ist damit gemeint? 6.4.5 Alberts Naturmythologie und die philosophischen Reflexionen seines Tagebuchs Die Zwei-Stockwerk-Lehre ist das leitmotivisch wiederkehrende Modell, nach dem Albert seine Reflexionen zu Geist und Natur systematisiert. Das Auffälligste an ihr ist zunächst ihr manifester Dualismus: Der blinden Natur wird das untere Stockwerk zugewiesen. Dort herrschen Zufall und Unvernunft, und daraus resultierend, Chaos und Leid. Die „Tücke des Objekts“ ist diesem Stockwerk zuzuordnen. Im oberen Stockwerk sind die Ideen der Menschen zuhause: Eigentum, Recht, Gesetz und Staat sowie, noch höher stehend, Kunst und Wissenschaft (vgl. AE2, S. 114f). Alberts oft benutzte Sentenz „Das Moralische versteht sich immer von selbst“ bezieht sich auf die angebliche Selbstverständlichkeit dieses zweiten Stockwerks. Allerdings soll die Tautologisierung wohl eher den Blick dafür verstellen, wie zweifelhaft inzwischen der Status dieser Ideenwelt geworden ist. Das Problem nämlich ist, daß das Stockwerk-Modell in beiden ‚Etagen‘ eine zeitliche Komponente enthält, also evolutionär konzipiert ist. Das wird schon an der scherzhaften Mythologie deutlich, die A.E. dem Erzähler während eines Tischgesprächs anvertraut. Ausgangspunkt des Gesprächs ist die Geschichtsschreibung. Der Historiker müsse nämlich eine profunde metaphysische Vorbildung haben. Die scherzhafte misogyne Mythologie, die nun folgt, läßt sich wohl kaum noch auf eine Hegelsche Geschichtsdialektik zurückführen, aber enthüllt bei genauem hinsehen ihren darwinistischen Ursprung. Die Natur sei das Produkt eines weiblichen „Urwesens“ (AE1, S. 86). Dieses Urweib ersinne „ohne alles Nachdenken“ (AE1, S. 87 u. S. 88) die „unendlichen Formen“ (AE1, S. 87) der Natur, so wie eine Frau gedankenlos ihre teuflischen Pläne aushecke. Mit dem Verweis auf die „Toilette der Vögel“ (AE1, S. 87) veranschaulicht Albert, wie eitel die Natur sei. Besonders aber sei sie, ganz wie eine Frau, abwechselnd gütig und grau-
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sam, fürsorglich und dämonisch, in ihrem Erfindungsreichtum genial, dann wieder dumm wie eine „reine Gans“ (AE1, S. 87). Dieses Urweib habe sich mit bösen Geistern verbündet. Zusammen hätten sie „das Ganze aller Scheußlichkeiten, die ganze Welt raffinierter Grausamkeit“(AE1, S. 89) ausgeheckt. Es sei zu mild, die Natur ein „allgemeines Wechselmordsystem“ (AE1, S. 89) zu nennen. Man solle beobachten, wie sich die Tiere gegenseitig stundenlang quälten.321 Nun habe die Natur einmal den Menschen hervorgebracht. Er sei zwar auch eine grausame Bestie, aber dann habe er, geführt von einem männlichen „Lichtgeist“ (AE1, S. 91) „das Recht, den Staat, die Wissenschaft, die begierdelose Liebe und die Künste“ erfunden. Während das Urweib nur verwundert gewesen sei, hätten die Geister Rache geschworen und seien in die Objekte geschlüpft. Das untere Stockwerk wird somit einem weiblichen Urwesen zugewiesen, das alle Paradoxien von Alberts Naturbild zu vereinigen hat. Deutlich aber sind die Hinweise auf die große Fruchtbarkeit und Grausamkeit der Natur. Besonders die Schaffensweise der Natur, nämlich ohne Planung („ohne alles Nachdenken“) die Vielfalt der Organismen hervorzubringen, erinnert an die von Darwin ausgehenden Überlegungen Vischers im Manuskript an Strauß.322 Allerdings werden die kulturellen Einrichtungen des Menschen hier nicht evolutionär aus der Natur erklärt, sondern ein zweites metaphysisches Prinzip ist für deren Entstehen verantwortlich. Dieser Dualismus ist in einem Tagebucheintrag einem weitgehend konsequenten darwinistisch-mechanischen Materialismus gewichen: Die Natur hat sich schwer und wild abgemüht, bis sie die jetzigen Typen (Gattungen und Arten) festgestellt hat, an ihrer Spitze den Menschen. Vielleicht ______________________
321 In Alberts Bibliothek findet sich das Buch Kraft und Stoff von Ludwig Büchner, in dem dieser die Unzweckmäßigkeiten der Natur aufzählt. Vgl. AE2, S. 16. Zudem liest Albert später Theodor Piderits Wissenschaftliches System der Mimik und Physiognomik (Detmold 1867). Es führt ihn zu der Feststellung, daß im Tierreich „weit mehr Menschenähnlichkeit“ herrsche als gemeinhin angenommen (vgl. AE2, S. 281). Albert soll dieses Buch aber, falls das Tagebuch, wie bisher überwiegend angenommen, chronologisch geordnet ist, schon vor 1865, also vor der zweiten Reise nach Italien, gekannt haben. Vischer selbst hatte Piderit 1871 gelesen [vgl. Schlawe (1959): Vischer, S. 330]. Zu Piderit vgl. Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen 1995. Bes. S. 149–172. 322 Dort hieß es in Anlehnung an den Entelechie-Gedanken von Aristoteles: „Überlegung ohne Überlegung: dies ist das unbewußte Bild des Werdenden.“ [Vischer (1927): Manuskript, S. 593.] Bereits Walter Bruford wies allgemein darauf hin, daß die grundsätzlich Hegel verpflichtete Gedankenwelt Alberts entscheidend durch den Darwinismus reformuliert sei: „But it is a revised form of Hegelianism, strongly influenced by contemporary science, by the Darwinian theory of evolution, no doubt, in particular, though Darwin is not mentioned by name.“ [Walter Horace Bruford: The German Tradition of Self-Cultivation. „Bildung“ from Humboldt to Thomas Mann. Cambridge 1975, S. 147–163. Hier S. 157.] Bruford geht allerdings auf die von Vischer erkannten Unterschiede von Hegelianismus und Darwins Veränderungslehre nicht ein.
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kommt noch einer auf den Gedanken, wahrscheinlich zu machen, daß sie nicht nur formell aussehen, als wäre eine Form aus der anderen entwickelt (wie die vergleichende Anatomie bei der Tierwelt zeigt), sondern daß es wirklich real so zugegangen, also auch der Menschen vorher Tier gewesen ist. Nun hat dann der Mensch wieder von vorn angefangen, er ist zuerst jedenfalls nicht viel besser gewesen als ein Tier. Wütend, viehisch muß Mensch mit Mensch gerauft haben um Wohnsitz, Speise, Weib, Macht. Ein Kampf, dem analog, durch den einst die Typen, die genera und species geworden sein müssen. Durch eine Reihe furchtbarer Erfahrungen, in unermeßlicher Zeitdauer muß dieser Kampf dahin geführt haben, daß allmählich rechtliche, sittliche, politische Ordnungen sich herausarbeiteten und gründeten, z.B. bis man einsah, daß es Eigentum geben muß, durch Gesetze geschützt, daß die Raserei des Geschlechtstriebs nicht zu zügeln ist, als durch die Ehe. So entstand eine zweite Welt in der Welt, eine zweite Natur über der Natur, die sittliche Welt. Dies heiße ich für meinen Bedarf das zweite Stockwerk. (AE2, S. 113f.)
Albert nimmt in dem zitierten Tagebucheintrag eine Realdeszendenz des Menschen aus dem Tierreich durch das Mittel des Kampfes an. Ganz ohne Beihilfe von außen habe der Mensch dann durch einen der natürlichen Selektion analogen Kampf in „unermeßlicher Zeitdauer“ moralische Vorstellungen und institutionelle Ordnungen entwickelt, die den Menschen jetzt auszeichnen. Offensichtlich betrifft diese Evolution nur den Geist des Menschen, sie ist nicht in seine Natur eingegangen. Von einer Steuerung dieser Entwicklung durch ein teleologisches Prinzip ist an dieser Stelle keine Rede. Das zweite Stockwerk, also die kulturell-sittliche Welt, ist durch ein Prinzip entstanden, das analog zur natürlichen Selektion ist. Nun ist bedeutsam, wie Albert dem Vorwurf der zeitlichen Relativität der kulturell-sittlichen Ordnungen begegnet. An dieser Argumentation hängt nämlich die Möglichkeit, dem Pessimismus Schopenhauers zu entkommen, der seinen Blick nur auf das untere Stockwerk richtet: Wie nun jene Naturtypen nach so langen, harten Prozessen festgestellt sind, als wären sie ewig festgestanden, so die sittliche Ordnung. Sie hebt sich über die Zeit aus der Zeit heraus, ist ein Unbedingtes, an sich Wahres, man kann ganz davon absehen, es ist auch gleichgültig, daß sie in der Zeit entstanden ist, – ewige Substanzen, die „droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich, wie die Sterne selbst“. Sie sind allerdings auch in einer Entwicklung begriffen, aber diese trifft nicht ihren Kern (AE2, S. 114).
Die sittliche Ordnung ist demzufolge im Laufe der Zeit entstanden und verändert sich weiter, dennoch hat sie überzeitliche Geltung, ist eine ideale Ordnung. Daß sie geworden ist, spielt demnach für ihr Wesen jetzt keine Rolle mehr. Diese Argumentation kennen wir bereits aus Vischers Manuskript an Strauß über dessen Buch Der alte und der neue Glaube, ja selbst das Schiller-Zitat aus Wilhelm Tell kam dort schon vor. Damit wird deutlich, daß der Versuch, dem „oberen Stockwerk“ relative Konstanz
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zuzuschreiben, als Reaktion auf den Verzeitlichungs- und Kontingenzschub betrachtet werden muß, den der Darwinismus mit sich brachte. Albert geht zur Begründung der Moral als überzeitlicher Konstante einen anderen Weg als Strauß in seinem Bekenntnis-Buch Der alte und der neue Glaube : Strauß verließ sich nicht auf die Begründung der Moral durch „äußere Nothwendigkeit“323, also durch das sich in der Zeit vollziehende Wechselspiel von Selektion und Mutation. Er führte bei der Begründung der Moral kurzerhand das Vervollkommnungs-Modell und damit die eigentlich zurückgewiesene Realteleologie wieder ein. Albert dagegen kann in seiner Welt keine Vervollkommnung, sondern nur zufällige Veränderungen ausmachen. Er springt deshalb direkt vom darwinistischen Entwicklungsdenken zur Ideenlehre. Der Wissenskontext auf der Autorenebene ist dabei, daß Vischer eine allzu naive Berufung auf die Vervollkommnungstheorie versperrt war, da er Karl Sempers Überlegungen zum Darwinismus in der A.Z. kannte. Die hier angestrebte Verbindung von Evolutionstheorie und Ideenlehre entnahm Vischer, wie wir bereits sahen, dem Aufsatz Platonismus und Darwinismus von Otto Liebmann. Vischer ist damit auf der Suche nach einer Möglichkeit, Darwins Theorie weitgehend zu akzeptieren und gleichzeitig den Menschen und die sittliche Ordnung nicht der Kontingenz zu überlassen. Vielleicht hat er auch eine Anregung für die ZweiStockwerk-Lehre aus diesem Aufsatz bekommen, denn dort heißt es: Wer nun aber in seinem Denken bis auf die letzten, principiellen Fragen zurückstrebt, für den müßte der Streitpunkt [in der Frage der Variabilität oder Stabilität der Arten; P.A.] an eine ganz andere Stelle hinverlegt, gleichsam in ein höheres Stockwerk hinaufgehoben werden. Für ihn, der unter Anderm weiss, dass die Empirie zwar ein sehr berechtigter, aber doch nur relativer Standpunkt ist, wird es fraglich, ob die Descendenzlehre, ihre Bestätigung vorausgesetzt, überhaupt den ihr so häufig beigelegten Werth p h i l o s o p h i s c h e n Evangelii in Anspruch nehmen darf; ja es wird fraglich, ob P l a t o n i s m u s und D a r w i n i s m u s , diese angeblich diametralen Gegensätze, überhaupt in Antagonismus stehen.324
Vischer glaubte hiermit wohl eine Lösung gefunden zu haben, die den Ergebnissen der Naturwissenschaften und den eigenen Erfahrungen gerecht wurde und zugleich eine Möglichkeit zum Optimismus zuließ. In dem Bestreben, die Evolutionstheorie soweit wie möglich zu einer befriedigenden Weltsicht auszulegen, führt Albert letztlich die Teleologie als Vervollkommnungslehre wieder ein. Dies macht er vor dem Hintergrund, daß eine rein materialistische Naturauffassung die geistigen Eigenschaften des Menschen nicht erklären kann. In Alberts Tagebuch ______________________
323 ANG, S. 156. 324 Otto Liebmann: Platonismus und Darwinismus. In: Philosophische Monatshefte 9 (1874), S. 441– 472. Hier S. 442. Hervorhebung durch Fettdruck von mir.
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finden sich nämlich auch Reflexionen, die zeigen, warum er die Welt grundsätzlich dualistisch auffaßt und nicht einem konsequenten Materialismus das Wort redet. Seine Gedanken stammen aus dem zeitgenössischen Diskurs über die Naturwissenschaften, genauer gesagt aus der Ignorabimus-Rede von Emil Dubois-Reymond. Der berühmte Physiologe postulierte bekanntlich, daß im menschlichen Bewußtsein das Naturerkennen an eine prinzipielle Grenze stoße. Zwar sei eine Reduktion geistiger Vorgänge auf Bewegung von Atomen prinzipiell möglich, doch könne man geistige Vorgänge dadurch nicht begreifen.325 Auch für Albert gibt es eine Erklärungslücke zwischen den Bewegungen von Atomen und geistigen Eigenschaften des Menschen. Selbst das genuin darwinistische Argument einer graduellen Akkumulation von vererbbaren Eigenschaften kann ihn hier nicht überzeugen: Wendet da nichts von Vererben ein! Es kann durch Vererbungssummationen nichts werden, was nicht potentialiter in den sogenannten Atomen liegt. Zwei Sätze stehen gegeneinander und wollen in Einklang gebracht sein: Geist ist nicht, wo kein Träger für Geist (Gehirn). Und: ein Träger von Geist könnte nicht entstehen, wenn die Materie nur wäre, was wir Materie nennen. Die Materie als Gehirn denkt, ist Geist, der Geist als Gehirn ist Materie, und umgekehrt. (AE2, S. 284f.)326
Ganz wie bei Vischer reflektieren Alberts Gedanken das durch DuboisReymonds Rede markierte Scheitern des Reduktionismus und die Verständnisprobleme, die sich durch das neue und ungewohnte mechanischdarwinistische Finalitätsdenken ergeben. Dies führt an dieser Stelle erneut zu einer Identifizierung von Geist und Materie, das heißt, für Albert steckt schon in den Atomen eine Möglichkeit zur Entwicklung. In dieser Situation, also zwischen mechanisch-darwinistischem Evolutionsdenken und der identitätsphilosophischen Gleichsetzung von Materie und Geist, Objekt und Subjekt, also einem idealistischen Entwicklungsdenken, möchte sich Albert für die Alternative entscheiden, die ihn emotional befriedigt. Hier zeichnet sich eine pragmatische Lösung des Problems ab: „Wir sind von Rätseln umgeben. In dieser Lage ist es das einzig Vernünftige, als wahr anzunehmen, was uns am wohlsten tut, ______________________
325 Vgl. Emil Dubois-Reymond: Über die Grenzen des Naturerkennens. In: Emil DuboisReymond: Reden von Emil Du Bois-Reymond. Mit einer Gedächtnisrede von Julius Rosenthal. Hg. von Estelle Du Bois-Reymond. 2 Bde. Leipzig 21912, Bd. 1, S. 441–473. 326 In seinem Zusatz zu Mein Lebensgang formuliert Vischer das „Welträtsel“, das Albert zu lösen versucht, wie folgt: „Die Natur, aus deren blindem Schoße uns die rohen Zufallstöße kommen, ist dieselbe, die das menschliche Hirn bildet, wo die Gedanken wohnen, die durch ebendiese Stöße so grausam durchrissen werden: das führt mitten hinein in das Welträtsel, in die innere Einheit aller Dinge und den Widerspruch in dieser Einheit. In diese dunkle Tiefe mußte mein A.E. den Denkerblick richten“ [KG6, S. 519 (Mein Lebensgang)].
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sofern es nur unleugbaren Verstandesgesetzen nicht widerspricht.“ (AE2, S. 344) Das Beste für den Menschen sei „treue Arbeit im Dienste der unzeitlichen Güter“ (AE2, S. 344). In dieser Arbeit werde man nun bestärkt, wenn man annehme, es walte ein unbedingtes Etwas, das aus streng logischen Gründen nicht Person sein kann, das dennoch eine Ordnung erwirke und baue in dem verworrenen Wesen, Welt genannt, und zwar auf dem Unterbau der (auf diesem Auge) blinden Natur und des blinden Zufalls einen Oberbau, worin sich durch immer neue Tätigkeit unzähliger Menschen die Sitte, das Gute, der Staat, die Wissenschaft, die Kunst herstellt. (AE2, S. 344f.)
Auch diese „Halbheit“327 kennen wir schon aus dem Manuskript Vischers an Strauß. Der Glaube an eine in der Natur bauende Vernunft ist hier weitgehend zurückgedrängt und Alberts wesentliche Argumentation kommt inzwischen ohne diese Vernunft aus. Wie wir oben sahen, springen seine Gedanken über die Kluft, die der Dualismus läßt, direkt von der mechanisch angetriebenen und deshalb zufälligen Evolution der Organismen und der menschlichen Kultur zur Ideenlehre. Nun wird mit einem realteleologischen Modell ein halb-geglaubter Begründungsrahmen nachgeliefert, der ganz praktisch die Individuen zu immer neuer Arbeit und moralischem Verhalten anspornen soll. Wohlgemerkt wird die Realteleologie hier nur im oberen Stockwerk wieder eingeführt, gilt also für die Entwicklung der Kultur. Die Natur verfährt weiterhin blind. In Alberts Reflexionen wird ganz deutlich, wie schwer es fällt, das Naturerkennen von emotionalen Werten und der Verhaltenssteuerung abzukoppeln. In ihren idealistischen Passagen ist Alberts Weltwahrnehmung ein „plurifunktionales Führungssystem“ im Sinne von Ernst Topitsch. Doch droht sich das Naturerkennen zu verselbständigen, da sich die wissenschaftlichen Ergebnisse immer schwerer mit den Bedürfnissen nach emotionaler Befriedigung und Moral vereinbaren lassen. So bleibt der Romanfigur nur der Rückzug auf die Arbeit des einzelnen Subjekts inmitten einer kontingenten Welt und der Glaube, daß die Moral des „oberen Stockwerks“ zwar entstanden, aber nun im wesentlichen unveränderlich sei. Allerdings führt diese Weltsicht zu keiner signifikanten Kontingenzminderung für Albert, was ein bereits zitierter Tagebucheintrag belegt: – Gewiß ist freilich eines: unendlich vieles fällt durch die Maschen ins Leere, unzähliges Leben geht elend zugrunde, ohne daß wir eine Frucht absehen. Da ist nicht zu helfen; darein muß man sich ergeben […]. (AE2, S. 351)
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327 Vischer (1927): Manuskript, S. 604.
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Das obere Stockwerk und seine Entwicklung sind die moralische Quintessenz von Vischers einzigem Roman. Sie wurde von der zeitgenössischen Kritik zum großen Teil als optimistisch wahrgenommen. Als „eine sittliche That“328 bezeichnete Wolfgang Kirchbach den Auch Einer, Richard Weltrich sprach von einem national-pädagogische[n] Werth für unser Volk, das in schweren Krisen der Skepsis sich ängstigt, für alle die sich unwillig abwenden von der Öde mechanistischer Naturauffassung, von den Coketterien des Pessimismus, aber auch von der Verläugnung der unerbittlich forschenden Vernunft.329
Auerbach schließlich stellt dem Optimismus Vischers den Pessimismus Schopenhauers entgegen. Vischer zeige, daß „die sittliche Weltordnung nicht in der äußeren Natur liegt“330, die von Grausamkeit beherrscht sei. Vielmehr habe der Mensch in der Geschichte die Humanität hervorgebracht: „Der Pessimismus verharrt im Naturdasein, der Optimismus kommt zur Humanität, und Humanität ist kein Naturgesetz, sondern ein geschichtliches Culturproduct.“331 Läßt man die komplizierte, vielfach abgestufte und teilweise widersprüchliche Naturphilosophie einmal weg, so bleibt als praktischwillensmäßiger Kern des Auch Einer332 etwas, was man mit dem Sprichwort „Es gibt nichts Gutes außer: man tut es“ (Erich Kästner) zusammenfassen könnte. Im Roman schlägt sich dieses Prinzip in den wohltätigen, von Mitleid bestimmten Handlungen des A.E. nieder. Vor allem ist diesbezüglich an die finanzielle Unterstützung einer Mutter und ihres Kindes zu denken, die entrüstet zusehen, wie Albert und der Erzähler das feine Tischgedeck zerwerfen (vgl. AE1, S. 112f). Das zweite ausführlicher geschilderte Beispiel ist das Versprechen an einen Tierschinder, ihn reichlich zu belohnen, wenn er seinen Karren von Huftieren statt von Hunden ziehen läßt (vgl. AE1, S. 39ff). Beide Taten sind also an das Geld gebunden, so daß sich der Widerspruch von Idealismus und Materialismus, diesmal im ganz landläufigen und unphilosophischen Sinn, bis in die alltägliche Praxis fortschreibt. ______________________
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Kirchbach (1886): Rezension, S. 149. Weltrich (1879): „Auch Einer.“, S. 124. Auerbach (1879): Wissen und Schaffen, S. 280. Auerbach (1879): Wissen und Schaffen, S. 283. Auch Wilhelm Kühlmann kommt in einer Analyse von Vischers Gedicht Wir haben keinen lieben Vater im Himmel… und mit Blick auf Auch Einer zu dem Ergebnis: „Ein voluntativer Akt als Möglichkeit von Humanität, – kein Zweifel, daß Vischer die Konsequenzen eines materialistischen Naturdenkens ebenso klar wie unbehaglich waren.“ [Wilhelm Kühlmann: Das Ende der Verklärung. Bibel-Topik und prädarwinistische Naturreflexion in der Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Schillergesellschaft 30 (1986), S. 417–452. Hier S. 452.]
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Von den positiven Auswirkungen dieser Handlungen erfährt der Leser erst im zweiten Band des Auch Einer. Hier berichtet der Erzähler bei einem erneuten Besuch in der Schweiz nach 1872333, daß die unterstützte Mutter und ihr Kind inzwischen eine Wirtschaft betreiben, die von den Arbeitern des Gotthard-Tunnels genutzt wird. Der ehemalige Tierschinder hat inzwischen einen Esel als Zugtier für den Karren und zudem einen Nachbarn davon überzeugt, daß Hunde zum Ziehen eines Karrens ungeeignet sind. An dieser Stelle wird also auch innerhalb des Romans ein humanitärer Fortschritt angedeutet, der allerdings durch Geld erreicht wurde (vgl. AE2, S. 101ff. und S. 108). Damit jedoch ergibt sich ein weiteres Problem: Der Ausblick auf die deutsche Einheit wurde durch das Gewinnstreben der Gründerzeit getrübt. Nun zeigt sich, daß Geld auch für humanitären Fortschritt nötig ist, so daß das Edelste an das Materielle gebunden ist und von ihm pervertiert werden kann. So relativieren sich die beiden großen Sinnzusammenhänge gegenseitig, nämlich die Verwirklichung der Staatsidee und der humanitäre Fortschritt. In der erzählten Welt der Rahmenhandlung lassen sich keine teleologischen Konzepte nachweisen, die unabhängig vom Subjekt Geltung hätten. Vielmehr ist es der Mensch, der seine eigenen Bewußtseinsinhalte hypostasiert und dadurch der kontingenten Welt Sinn verleiht. Diese Beseelung der unzweckmäßigen Objekte erlaubt, durch Anschlußhandlungen auf die Kontingenz reagieren zu können. Alberts Reflexionen über seine kontingente Umwelt kommen allerdings ohne realteleologische Vorstellungen nicht ganz aus. Eine andere Möglichkeit, auf die kontingente Realität zu reagieren, ist der Versuch, eine teleologische und geordnete Wirklichkeit zu erschaffen: Die Pfahldorfgeschichte muß konsequent als Poiesis Alberts gelesen werden. 6.5 Versuche der Kontingenzbeherrschung: Philosophie und Dichtung Die Pfahldorfgeschichte Der Besuch, die Albert 1866 an den Erzähler schickt, wurde von einigen Rezensenten als der Kern des Auch Einer betrachtet.334 Sie wurde in den Rezensionen auch dann positiv beurteilt, wenn der Auch Einer als gesamtes Werk, wie etwa bei Spielhagen und Auerbach, kritisch gesehen wurde. Auerbach schreibt, sie sei „innerlich so wohl gefugt, daß sie als rundes Kunstwerk dasteht, weit mehr als das, was ______________________
333 Dieses Datum läßt sich aus den im Roman dargestellten Bauarbeiten am Gotthard-Tunnel erschließen, die 1872 begonnen wurden. 334 So etwa von Berthold Auerbach. Vgl. Auerbach (1879): Wissen und Schaffen, S. 271.
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der Dichter mit seinem ‚A.E.‘ gestaltet hat.“335 Wie schon angemerkt, werden wir diesen Unterschied, der bei Auerbach vor allem ein Qualitätsunterschied sein soll, als bewußt inszenierte Differenz behandeln. Auch Albert, der fiktive Schöpfer der Pfahldorfgeschichte, ist zufrieden mit seiner Geschichte. In einem Tagebucheintrag heißt es: „Pfahldorfgeschichte fertig. Besorge Abschrift für den Reisekameraden; soll bald abgehen. Etwas doch zustande gebracht! Wie es auch sei, es kann doch – im kleinen – ein Ganzes heißen.“ (AE2, S. 327)336 Für Albert ist die Pfahldorfgeschichte ein abgeschlossenes rundes Kunstwerk, ein „Ganzes“. Verfolgt man die Entstehungsgeschichte der Pfahldorfgeschichte im Tagebuch Alberts, dann wird deutlich, daß Literatur wie auch Philosophie für ihn Mittel sind, um Zufälle in notwendige Zusammenhänge zu bringen, um Sinnloses mit Sinn zu füllen. Im Schreiben findet Arbeit am (relativ) zeitlosen „oberen Stockwerk“ statt. Darin sieht Albert seine höchste Aufgabe, besonders nachdem ihm der Dienst für den Staat als Polizeivogt nicht mehr möglich ist. Statt Ordnung in der Wirklichkeit des Staates zu schaffen, wird nun eine künstliche Welt geordnet. So gelten die ersten Gedanken nach seiner peinlich gescheiterten Rede in der Kammer der bereits begonnenen, aber zur Seite gelegten Pfahldorfgeschichte (vgl. AE2, S. 302). Einige Einträge später kommt er auf die berühmte Anekdote zu sprechen, der zufolge Luther ein Tintenfaß nach dem Teufel geworfen habe:337 Es geht ja vorwärts. Fort, ihr Dämonen, sollt mich nicht abbringen! – Ich weiß jetzt, ich mach’s wie Luther, der dem Teufel das Tintenfaß an den Kopf warf! Will noch anders reagieren als mit Exekutionen – literarisch – will euch brandmarken – ein ganzes System gegen euch, euch an den Kopf! Etwa: „System des harmonischen Weltalls“ oder – (AE2, S. 303).
Das zuletzt genannte „System des harmonischen Weltalls“ ist Alberts philosophischer Versuch, die zufälligen Störungen des Menschen durch die zweckwidrigen Objekte zu ordnen, also ein „[h]armonisches Bild des unharmonischen Weltalls“ (AE2, S. 60) systematisch zu entfalten. Das in Wort und Bild hinterlassene Ergebnis dieser Anstrengungen macht den Erzähler „ganz schwindlig“ (AE2, S. 59), da sich etwas Kontingentes nun einmal nicht systematisieren läßt. Es ist ein unvollendetes System voll innerer Widersprüche, derer sich der Verfasser bewußt ist (vgl. AE2,
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335 Auerbach (1879): Wissen und Schaffen, S. 271f. 336 Auch der Erzähler glaubt, daß man die Pfahldorfnovelle „in einem gewissen Sinn ein Ganzes“ (AE2, S. 86) nennen kann. 337 Auch im Beisein des Erzählers wird er – chronologisch später, aber in der Darstellung zuerst – auf diese Anekdote zu sprechen kommen.
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S. 59ff).338 Und auch die Wirkung auf den Betrachter und Leser dieses Systems macht deutlich, daß die empirisch erfahrene Kontingenz durch das philosophische, also begriffliche Systematisieren und Deduzieren nicht erfaßt und reduziert werden kann: Wie „betrunken“ fühlt sich der Erzähler und Herausgeber angesichts dieser „Papierungeheuer“ (AE2, S. 59). Erinnert man sich an Versuche Vischers, dem Zufall in seiner idealistisch-systematischen Ästhetik einen großen Platz einzuräumen und zugleich „aufzuheben“, so erscheint dieses System als Parodie der eigenen Ästhetik und darüber hinaus als Parodie des idealistischen Systemwillens überhaupt.339 Als Substitution der physischen Zerstörungen wird ebenfalls die Erzählliteratur erwogen und erprobt. Etwas später wird Albert zum Erzähler sagen, daß die Zufälle, also die bösen Geister, das obere Stockwerk nicht zum Einsturz bringen können: „ ‚[…] Ja die Geister selbst und ihre bösen Werke, obwohl wir sie nicht hindern können, müssen uns dienen: wir erkennen sie, wir verwenden sie, namentlich in der Kunst. ‘ “ (AE1, S. 92) So überrascht es also nicht, daß sich Albert nach den unglücklichen Zufällen, die ihm widerfahren sind, auch auf die Dichtung verlegt, besonders da die Systematisierung des Zufalls im philosophischen System mißlingt. In der Pfahldorfgeschichte kann er sich eine Welt erschaffen, sie ordnen, funktionale Beziehungen stiften und als souveräner auktorialer Erzähler dem Leser, und sich selbst als erstem Leser, so vermitteln, daß er beruhigt und befriedigt ist. Mit anderen Worten: Die Pfahldorfgeschichte weist eine stark ausgeprägte Erzählteleologie auf, sie ist anders als das philosophische System abgeschlossen und ein „Ganzes“. Albert bildet darin nicht seine als kontingent erfahrene Umwelt ab, sondern eine prähistorische Gegenwelt. Die formalen Eigenschaften der Pfahldorfnovelle erhalten ihre Bedeutung aber erst im Kontrast mit der Rahmenhandlung, die formal in allen Punkten gegensätzlich gestaltet ist. In Alberts Geschichte geht es um das steinzeitliche Pfahldorf am See Robanus, in dem neben dem mächtigen Druiden Angus auch die Protagonisten Alpin und Sigune wohnen, die ineinander verliebt sind. Eines Tages kommt der fortschrittliche Artur an. Sigune läßt sich von Artur beschenken und scheint ihn Alpin vorzuziehen. Alpin wird eifersüchtig und denunziert den ungläubigen Artur beim Druiden. Ein Zweikampf ______________________
338 Albert selbst spricht einmal von der „Diskreditierung der Philosophie durch die Systeme.“ (AE2, S. 332) 339 Auch Heinz Schlaffer betont, daß dieser scherzhafte Systementwurf eine Parodie von Vischers eigener Ästhetik ist. Vgl. Heinz Schlaffer: Friedrich Theodor Vischer. Professor der Ästhetik und deutschen Literatur. In: Andrea Berger-Fix (Hg.): „Auch Einer“. Friedrich Theodor Vischer zum 100. Todestag. Katalog zur Ausstellung des Städtischen Museums Ludwigsburg 14. September 1987 - 28. Februar 1988. Ludwigsburg 1987, S. 107–110. Hier S. 110.
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zwischen Alpin und Artur wird dadurch verhindert, daß zufällig ein Wisent auftaucht. Es greift Artur an; dieser flieht und wird von Alpin gerettet, der das Tier erlegt. Sigune eilt hinzu und gesteht Alpin ihre Liebe. Parallel zur Liebesgeschichte entdecken die Pfahlbürger verschiedene Kulturstufen und setzen sich mit ihnen auseinander. Zweifach werden sie in ihrem Selbstverständnis relativiert: Zum einen finden sie Überreste eines alten, im Seeschlamm versunkenen Pfahldorfes, das ihnen eine niedrigere Kulturstufe vor Augen führt. Zum anderen bringt Artur Erzwaffen mit und verkündet einen neuen, abstrakteren Gottesglauben, so daß sie von einer weiter fortgeschrittenen, aber gleichzeitig bestehenden Kultur erfahren. In langen Reden führt der bereits aufgeklärte Barde Ferudin Kallar340 aus Turik (Zürich) die philosophischen Konsequenzen vor Augen: die Relativität der Kulturgrade und der Zeit. Darüber hinaus ruft er dazu auf, die alte Religion hinter sich zu lassen und vom See auf das Land zu ziehen.341 Der Druide tritt gegen Kallar auf, fällt aber während seiner Rede von der Kanzel. Auch der zunächst geflüchtete Artur hält eine Rede, in der er einen neuen, unbekannten Gott verkündet. Er wird festgenommen; Alpin und Sigune verhelfen ihm zur Flucht. Der Schluß zeigt mehrere Jahre später Alpin und Sigune sowie ihr kleines Kind. 6.5.1 Die Naturreligion des Schnupfens Die Pfahldorfgeschichte bietet Albert zunächst die Möglichkeit, die Religion einer frühen Kulturstufe zu schildern. Sie hat die Funktion, das Zweckwidrige zu erklären und ihm damit einen Sinn zuzuweisen: In Alberts kurioser Naturreligion ist natürlich der Schnupfen das zentrale Element. Seine Symptome, also Husten und Niesen, sind den Pfahldorfbewohnern heilige, von der wohltätigen Mondgöttin Selinur geschickte Zeichen der Läuterung. Zugleich jedoch versucht der Gott Grippo den Schnupfen zum Bösen zu wenden. Ohne die ganze Mythologie ausführlich zu schildern, so sei doch hervorgehoben, daß die Pfahlbürger und die Druiden als ihre religiösen Führer aus einem physiologischen Leiden ein ganzes Sinnsystem gemacht haben, das es ihnen ermöglicht, mit dieser Zweckwidrigkeit umzugehen und sie zu verarbeiten. Dies wird besonders anläßlich einer Initiationsfeier deutlich, wo die Jungen und Mädchen auf ______________________
340 Das Vorbild für diese Figur ist Ferdinand Keller (1800–1881), der die steinzeitlichen Behausungen am Zürichsee entdeckte und ihnen den Namen „Pfahlbauten“ gab. Vgl. ADB, Bd. 15, S. 563–568. Bes. S. 567. 341 Anders als heute ging man im 19. Jahrhundert davon aus, daß die Pfahldörfer im See lagen und deshalb von Wasser umgeben waren.
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einen Katechismus antworten müssen (vgl. AE1, S. 195–204): Das Niesen und Husten wird zum Zeichen der Lebendigkeit des Menschen und seiner Läuterung. Die Mondgöttin Selinur habe dem Menschen Odem eingeblasen und ihnen befohlen, auf dem Wasser zu wohnen, wo ihre Nebel den Schnupfen heilen, der durch die Nähe zum Wasser aber auch häufiger auftritt. Der böse Gott Grippo ist der Widersacher, der diese Phänomene zum Schlechten wendet. An die Frage, wie und wie oft ein Mensch hustet und niest, knüpfen sich nun weitere Unterscheidungen wie Frommheit und soziale Stellung oder die Unterscheidung von Einheimischen und Fremden. Vor allem aber befestigt der Druide Angus seine mächtige Stellung innerhalb der Gemeinde mit dieser Mythologie. Albert macht sich somit die frühe Kulturstufe zunutze, um den Akt des Leihens in einem Stadium zu zeigen, in dem er von einer ganzen Gemeinde unbewußt vollzogen wird. Dementsprechend glauben die Pfahlbürger an ihre Mythologie. Sie strukturiert ihr soziales Leben und bietet Regeln, durch die die Zweckwidrigkeit des Schnupfens gehandhabt werden kann. So müssen beispielsweise der Göttin Selinur Opfer dargebracht werden. Alberts eigenes Problem, also die Beobachtung des eigenen Projektionsverfahrens, ist für die Pfahldorfbewohner kein Thema. Allerdings wird diese Religion schon von außen bezweifelt, nämlich durch die beiden Barden aus Turik, Kallar und Kullur, sowie vor allem durch Artur. Da die Novelle hier besonders auf die Methode hin untersucht werden soll, nach der Albert als Autor in ihr und durch sie Kontingenz reduziert, können diese Auseinandersetzungen zunächst beiseite gelassen werden. Sie spiegeln in vielfältiger Weise Themen und Ideen, die Albert in seinem Tagebuch behandelt und die wir auch aus Vischers eigenen Schriften kennen. Allerdings ist die Konsequenz der Aufklärungsbestrebungen wichtig, da mit der Aufgabe der Religion auch die KontingenzPhänomene, für die hier der Schupfen steht, neu gedeutet werden müssen. Alberts eigene halb-geglaubte Privatmythologie ist also die späte Folge einer Umbruchssituation, wie sie in der Pfahldorfgeschichte dargestellt wird. Die Sinnsuche, eigentlich schon durch den Projektionsverdacht unmöglich geworden, ist nun zur Privatsache geworden. 6.5.2 Starke Erzählteleologie und Übersichtlichkeit Der Regelung und Minimierung von Kontingenz innerhalb der PfahldorfGemeinde durch ihre Religion entspricht eine formal-kompositorische Seite, die dazu führt, daß der Leser ein Gefühl der Sicherheit und Beherrschbarkeit der erzählten Welt bekommt. Zwar sind auch in der erzähl-
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ten Welt der Pfahldorfnovelle alle Ereignisse nur durch den Kausalnexus zusammengehalten, aber ein über allem stehender heterodiegetischer und allwissender Erzähler erzählt chronologisch auf das Ende zu, liefert alle nötigen Informationen und schließt begonnene Handlungsmuster und Motive ab. Des weiteren bereitet er auftretende Zufälle sorgfältig kompositorisch vor und funktionalisiert sie für größere moralische oder geschichtsphilosophische Zusammenhänge. Schließlich hat die Erzählung ein deutliches triadisches Handlungsschema, also einen stabilen Zustand vor Arturs Ankunft, die Störung dieses Zustandes durch Artur und die Barden aus Turik, und schließlich ein neu gewonnenes Gleichgewicht nach diesen Ereignissen. Schon auf den ersten Blick hebt sich damit die Pfahldorfgeschichte signifikant vom Rest des Romans, also von der Rahmenerzählung und dem Tagebuch, ab. Der auktoriale Erzähler bleibt stets präsent. Wie sich aus seinen Vergleichen erschließen läßt, die er immer wieder zieht, ist er ein gebildeter und literaturkundiger Mensch des 19. Jahrhunderts. Er nimmt den Leser gleichsam an die Hand und beginnt mit einem vertraulichen „Wir“ durch das Fenster einer Pfahldorf-Hütte zu blicken, immerzu alles Fremde erläuternd (vgl. AE1, S. 123). Deutlich gibt er an, wie der Besitzer einer Hütte heißt und wo er sich gerade befindet: „Er heißt Odgal und ist augenblicklich abwesend; einige hundert Schritte entfernt sitzt er in einem Einbaum auf dem Wasser und ist mit seinen Fischernetzen beschäftigt.“ (AE1, S. 124) Er teilt ebenfalls mit, wenn er selbst den Standort wechselt und nun eine andere Person erzählerisch begleitet: „Wir überlassen sie [Sigune; P.A.] ihrer Arbeit und folgen dem aufgeregten Alpin durch ein paar Zwischengänge des Pfahldorfs nach der Hütte seines Vaters.“ (AE1, S. 136) Dabei dienen diese Angaben nur zur Orientierung des Lesers, denn der Erzähler ist ja ein Mensch des 19. Jahrhunderts und kein homodiegetischer Erzähler: Er steht in weitem zeitlichen Abstand über der Geschichte. Gerade weil die Geschichte im wesentlichen chronologisch erzählt wird, hebt der Erzähler Anachronien überdeutlich hervor. Er führt Analepsen in klassischer Weise dann ein, wenn er die Vorgeschichte benötigt, um einen gewissen Sachverhalt zu erklären: So wird die Ankündigung, daß die beiden Barden aus Turik eingeladen seien, von den Überbringern der Nachricht mit Kopfschütteln begleitet. Um das zu erklären, blickt der Erzähler zurück auf die Ausgrabungen von Pfahldörfern im Sommer zuvor: „Wir müssen in der Zeit etwas zurückgehen, dem Leser Licht zu geben.“ (AE1, S. 169) Oder innerhalb derselben Analepse: „wir sind ja, wie sich der Leser erinnert, um einige Wochen zurückgegangen“ (AE1, S. 178). Der Rückblick wird mit folgenden Worten beendet: „Wir haben zurückschreiten müssen, um das Kopfschütteln zu erklären,
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womit jene frommen Alten dem Druiden diese Nachricht mitteilten; wir begeben uns wieder auf die Zeitstelle, von der aus wir diesen kurzen Abstecher angetreten haben.“ (AE1, S. 185) Diese Beispiele genügen, um zu zeigen, daß Albert überdeutlich auf die zeitliche Ordnung seiner Erzählung bedacht ist, damit sich der Leser in ihr orientieren kann. Erinnern wir uns an die Rahmenhandlung mit ihrer komplexen und vielfach unklaren Chronologie, so wird der Unterschied deutlich greifbar, ja, die übersichtliche Ordnung der Pfahldorfnovelle tritt als Gestalt erst vollständig vor dem Hintergrund des chronologischen Chaos der Rahmenhandlung in Erscheinung. Dasselbe ist auch auf lexikalischer Ebene zu beobachten. Das beweisen die Worterklärungen, die der Erzähler sofort nach dem Auftreten der semantischen Schwierigkeit gibt: So sagt Alpin über den Barden Guffrud Kullur, daß er seine Reime mit „Cwlwm“ und „Mwchwl“ (AE1, S. 178) singe und der Erzähler erläutert sogleich: „Seine Zuhörer wußten besser als unsere Leser, daß die zwei niedlichen Wörter musikalische Sätze und Weisen bedeuteten“ (AE1, S. 178). Noch deutlicher befriedigt der Erzähler vorhandene Lesererwartungen, wenn er das Schimpfwort „Kaib!“ (AE1, S. 370) sofort erläutert und dabei die im Entstehen begriffene Schlägerei unterbricht: „Der reißend schnelle Hergang muß einen Augenblick mit einer erläuternden Bemerkung unterbrochen werden, die der Leser billig erwartet.“ (AE1, S. 370) Nochmals sei betont, daß diese Eigenschaften natürlich besonders auffällig werden, weil die Rahmenhandlung in allen Punkten anders verfährt und den Leser bei vergleichbaren Schwierigkeiten im Ungewissen läßt. Beim letzten Beispiel macht sich allerdings auch schon durch die ironische Metalepse,342 das scherzhafte Vertauschen von Erzählzeit und erzählter Zeit, eine Tendenz bemerkbar, die größere Teile der Erzählung prägt: Der Erzähler scheint seine Geschichte nicht ganz ernst zu nehmen. Bevor wir uns diesem Problem zuwenden, untersuchen wir zunächst noch die kompositorische Einbindung des Zufalls in die Erzählteleologie anhand der zwei wichtigsten Beispiele. 6.5.3 Funktionale Zufälle Diesbezüglich steht an erster Stelle der zufällige Sturz des Druiden von der Kanzel: Nach der ketzerischen Rede des Barden Ferudin Kallar betritt der Druide Angus die Kanzel und fängt an, leidenschaftlich gegen die ______________________
342 Zur narrativen Metalepse vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. München 1994 (ED 1972), S. 167–169.
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Ansichten des Barden zu wettern. Er beginnt „sich heftig hin- und herzubewegen“ und stürzt dann durch eine offene Stelle der Reisigbrüstung zu Boden (vgl. AE1, S. 277f.). Der Rahmenerzähler und Herausgeber der Pfahldorfnovelle denkt selbst über diese Stelle nach und richtet damit die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Einbindung des Zufalls. Er wertet es als einen Akt der „Freiheit“, daß Albert als Erzähler in seiner Geschichte dem intentionswidrigen Zufall kaum Raum lasse, während er doch in seinem Leben ständig darunter leide. Einzelnes, wie eben der Sturz des Druiden von der Kanzel, ist doch motiviert und zählt also eigentlich nicht in die Sphäre des reinen Widersinns. Diese Einschränkung durfte ich ebenfalls für einen Erweis von Freiheit gelten lassen: er [Albert; P.A.] konnte eine Menge komischer Motive aus diesem Gebiete schöpfen, aber der Zusammenhang seiner Komposition wollte es nicht zulassen, und als Künstler fügte er sich in dies Verbot, während er als Mensch doch gewiß auf Schritt und Tritt einen starken Reiz fühlen mußte, es zu übertreten. (AE2, S. 5)
Der Sturz des Druiden ist allerdings kunstgerecht in die Erzählteleologie eingebunden: Nach der ersten Begegnung mit Artur erfährt der Druide, daß die Barden Kullur und Kallar aus Turik eingeladen worden seien. Zugleich wird ihm mitgeteilt, daß auch der Weg von Artur über Turik führte, so daß er argwöhnt, daß auch Artur zur liberal-fortschrittlichen Bardenpartei gehöre. Als Angus allein ist, heißt es: „Es wollte ihm scheinen, der Boden schwanke unter seinen Füßen.“ (AE1, S. 187) Auf der Kanzel, beinahe 100 Seiten später, beschreibt der Druide dann die Folgen der ketzerischen Ansichten: „Entsetzlich! Nichts ist mehr fest, alles wankt und schwankt!“ (AE1, S. 276) Kurz darauf gerät er selbst ins Schwanken und stürzt.343 Doch nicht nur die artifizielle Vorbereitung durch das einmal wörtlich, einmal metaphorisch verwendete Verbum ‚schwanken‘ verleiht dem zufälligen Sturz des Druiden kompositorische Notwendigkeit. Durch diesen Zufall wird die geistige Entwicklung innerhalb der Geschichte symbolisch zusammengefaßt und darüber hinaus noch eine höhere, geschichtsphilosophische Wahrheit angedeutet. Der Zufall ist in diesen Zusammenhang eingebunden und auf das Ende der histoire, das zugleich das Ende des erzählerischen discours ist, funktionalisiert. Der für die Religion stehende Druide fällt nämlich durch die Öffnung, die für die Harfe des Barden Guffrud Kullur ausgespart worden war (vgl. AE1, S. 245). Zunächst nutzt sie der Druide, um sich geschickt in Szene zu setzen (vgl. AE1, S. 274f. u. S. 278), dann stürzt er aber durch das Loch zu ______________________
343 Vgl. hierzu Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 142–144. Martinez weist auch auf die sorgfältige kausale Motivierung dieses zufälligen Sturzes innerhalb der erzählten Welt hin.
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Boden. Der hoch symbolische Vorgang erzählt demnach davon, wie die Religion sich der Dichtkunst zunächst bedient, um sich zu präsentieren, dann aber durch die Poesie, und im besonderen durch die Dichtung des Feuerbachianers Gottfried Keller, zu Fall kommt. Und tatsächlich, auch auf der Handlungsebene glaubt ja der Druide Angus, daß seine Gedichte neben denen des Sängerbarden Kullur nicht bestehen können (vgl. AE1, S. 251). Der Schluß der Erzählung zeigt dann, wie die Stellung des Glaubens durch Artur und die Barden geschwächt wurde, da der neue Druide Ungläubige nicht mehr verfolgt. Der Zufall vollzieht also gegen die Intention des Druiden eine höhere Wahrheit, hier ist Hegels ‚List der Vernunft‘ am Werk. Der zufällige Sturz eines in seiner Eigenheit zufälligen Druiden wird so eingebunden in eine große Fortschrittserzählung, nämlich in die Erzählung der Ablösung der Religion durch die Poesie. Ein anderes Beispiel ist der zufällige Wisentkampf anstelle des Zweikampfes zwischen Artur und Alpin. Diese Szene ist der dramatische Höhe- und Umschlagspunkt der novellenhaften Erzählung. Schon vor der zufälligen Begegnung mit dem gewaltigen Tier wird ein Wisent erwähnt, das in der Gegend umherschweift, so daß der Zufall etwas weniger unwahrscheinlich wirkt und der Leser vorbereitet ist (vgl. AE1, S. 210f.). Der Erzähler weiß dann auch, daß es dasselbe Wisent ist, das zuvor einen anderen Pfahlbürger verwundet hatte (vgl. AE1, S. 229). Vor allem aber wollen eigentlich weder Alpin noch Artur wirklich kämpfen, etwas in ihnen spricht gegen den Zweikampf (vgl. AE1, S. 228f.). Schließlich ist das zufällige Auftreten des Wisents ein Motor der Handlung: Alpin und Artur müssen nicht gegeneinander kämpfen, keiner wird mit dem Tod des anderen belastet; gleichzeitig aber können sie in einer groß geschilderten Szene ihre Tapferkeit beweisen. Zugleich lösen sich die Liebeswirren der Sigune: Sie verspricht sich Alpin und erkennt in ihrem Kokettieren mit Artur einen „wilden Mutwill“ (AE1, S. 234). Schließlich bringt der Zufall auch den moralischen Wendepunkt, nämlich von böswilligem Denunziantentum und ungerechtem Zweikampf hin zu Liebe, Nächstenliebe, und Versöhnung. Das zweimalige Erröten von Sigune markiert hierbei, daß Alpin und Sigune sich in diesen Momenten so weit als möglich zur Humanität erheben, denn das Erröten ist für Albert ein Zeichen des Geistes gegen den Materialismus.344 ______________________
344 Vgl. AE1, S. 234 und S. 242. Ferner Alberts Tagebuch: „Zu den stärksten Beweisen gegen den Materialismus gehört die Schamröte und das Genie.“ (AE2, S. 284) Das Phänomen des Errötens spielt im Umfeld des Materialismus eine erhebliche Rolle. Vgl. hierzu Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren. Kritische Edition, Einleitung, Nachwort und Kommentar von Paul Ekman. Frankfurt am Main 2000 (ED 1872). Bes. S. 347–386. Ferner Jacob Henle: Über das Erröthen. Breslau 1882. In Kellers Sinngedicht wird das Erröten dann zu einem wichtigen Leitmotiv.
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Der Zufall des Wisentkampfes ist also ein gezielter Zufall in dem Sinn, daß dadurch die eigensten Intentionen der Protagonisten befördert werden. Vor allem aber steht er in einem festen moralischen Zusammenhang, der sich in der Geschichte entfaltet und in der Nachkommenschaft von Sigune und Alpin am Schluß der Novelle seinen Abschluß findet. Also ist auch dieser Zufall als dramatischer Wendepunkt der Geschichte auf das Ende bezogen. Diese Möglichkeit, den Zufall zu verwenden, hatte Vischer schon im § 52 seiner Ästhetik unter Verweis auf Aristoteles beschrieben: Baue man den Zufall so ins Kunstwerk ein, daß er „wie aus Absicht“345 geschehe, dann könne man ihn in der Kunst verwenden. Im letzten Band der Ästhetik schreibt Vischer, daß sich der Zufall „ruhig und elastisch in den Zusammenhang“346 einfügen sollte. In diesem Sinn verwendet Albert den Zufall für seine Komposition. Ganz anders dagegen wiederum der Erzähler der Rahmenhandlung: Unvorbereitet treffen die Zufälle den Protagonisten und, durch die Mitsicht, auch den Leser. Weder sind sie Ausdruck von großen, sinnvollen Zusammenhängen, in die sich die Zufälle einfügen würden, noch tragen sie zum Fortschritt der Handlung bei. Dagegen löst sich in der Pfahldorfnovelle selbst ein dissonanter Schlußakkord harmonisch auf, nämlich der Tod Arturs in einem fernen Land Jahre nach den Ereignissen der Pfahldorfgeschichte. Er ist nämlich in den größeren Zusammenhang der Aufklärung und des Fortschritts eingebunden.347 Artur stirbt bei dem Versuch, einem anderen Volk die Götter zu nehmen. Als Sigune einwendet, daß nun Alpin Artur umsonst gerettet habe, erwidert Alpin: „Doch nicht umsonst, lieb Herz! Was er ausgestreut, wird aufgehen. Ist ja bei uns auch aufgegangen: nicht zu viel, doch manches. Der neue Druide haßt und verfolgt die Leute nicht, die nicht gerad’ alles so glauben.“ (AE1, S. 391)
Zusätzlich erzählt Alpin kurz darauf, wie Artur zum Verkünder des unbekannten Gottes berufen wurde (vgl. AE1, S. 392). Nun ist deutlich, ______________________
345 Aristoteles zitiert nach: Ä1, S. 150 (§ 52, Anm.). Vgl. auch Aristoteles: Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 33 (Kap.9). Dort heißt es: „denn auch von den zufälligen Ereignissen wirken diejenigen am wunderbarsten, die sich nach einer Absicht vollzogen zu haben scheinen“. Und nach einem illustrierenden Beispiel: „solche Dinge scheinen sich ja nicht blindlings zu ereignen“ (ebd.). 346 Ä6, S. 145 (§ 870, Anm.). 347 Daß Aufklärung und Fortschritt in der Pfahldorfnovelle gekoppelte Größen sind, zeigt sich daran, daß Artur nicht nur die Naturreligion zurückdrängen will, sondern auch das Erz in das steinzeitliche Dorf bringt. Dies wird deutlich, als Urhixidur zu Angus sagt, daß man mit den scharfen Erzmessern noch „unsere gute alte Religion zerschneiden“ werde. Artur ist erstaunt über diese „rasche Logik“. Vgl. AE1, S. 159.
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daß Artur als Märtyrer für eine höhere Sache stirbt, für Aufklärung und Fortschritt im Dienst eines neuen Glaubens. So ist die Pfahldorfgeschichte ein „Ganzes“. Sie hat einen Anfang, eine Mitte mit dem Höhepunkt des Wisentkampfes und ein Ende mit dem Ausblick auf Nachkommenschaft. Die Erzählung wird im wesentlichen chronologisch vorgetragen, stets kann sich der Leser in Zeit und Raum der erzählten Welt orientieren. Dies wird durch den heterodiegetischen allwissenden Erzähler ermöglicht, der das Geschehen aus großer zeitlicher Distanz beobachtet. Er erzählt so, daß die Ereignisse in hohem Maß funktional für das Ende seiner Geschichte sind, was wir besonders an den Zufällen beobachten konnten. Die Wirkung auf den Leser ist, daß ihm durch die Leitung des Erzählers eine klare Übersicht über eine geordnete erzählte Welt verschafft wird. In ihr ist selbst der Zufall funktional in dem Sinn, daß er größere individuelle oder gesellschaftliche Entwicklungen befördert. So ist der Leser am Ende der Geschichte weitgehend beruhigt. Wie lassen sich nun die formalen Unterschiede von Rahmerzählung und Pfahldorfnovelle erklären? Offensichtlich wird hier die Differenz von Kunst und Wirklichkeit innerhalb der Erzählung durch die verschiedenen narrativen Ebenen thematisiert.348 Vischer stellt also kausal-kontingente Wirklichkeit in der Rahmenhandlung und idealisierte teleologische Wirklichkeit in der Pfahldorfnovelle einander gegenüber. 6.6 Kunst und Wirklichkeit Legt man das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit zugrunde, wie es Vischer in seiner Ästhetik entfaltet, dann müßte die Kunst ein direkt oder indirekt idealisiertes Bild der Wirklichkeit bieten. Offenbar unterliegt die Pfahldorfnovelle dem Prinzip der direkten Idealisierung, das heißt, die Figuren haben wenig Individuelles und Charakteristisches, alles Häßliche und Zweckwidrige kommt in der Dichtung gar nicht erst vor, die Zufälle aber sind hoch funktionale und gut vorbereitete Ereignisse. Nun könnte man argumentieren, daß Vischer ja schon in der Ästhetik de facto von einer kausal-kontingenten Wirklichkeit ausgeht, in der sich der Künstler befindet. Dessen Kunstwerk idealisiert die Wirklichkeit mit Blick auf die wirklich vorhandene Zweckmäßigkeit der Welt. Die Pfahldorfnovelle hätte in diesem Fall Erkenntnisfunktion, nur daß sich im Wirklichkeitsausschnitt, der dem Leser in der Rahmenhandlung dargebo______________________
348 Von diesem Verhältnis geht auch Matias Martinez aus. Vgl. Martinez (1996): Doppelte Welten, S. 144.
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ten wird, die Zweckmäßigkeit der Welt eben zufällig nicht zeigt. Albert würde sich dann über das Individuelle erheben und sich dadurch mit seinem Schicksal versöhnen.349 Damit entspräche das Verhältnis von Wirklichkeit und Kunst, wie es sich intradiegetisch im Auch Einer zeigt, demjenigen von Vischers Ästhetik. Läßt man den Einwand beiseite, daß eine in der Tiefe vorhandene Realteleologie, die für das Schicksal des Protagonisten keine Rolle spielt, auch für den Roman und damit für den Leser belanglos ist, so spricht ein gewichtiger Einwand gegen diese These.350 Denn die Pfahldorfnovelle als Ganzes wird zum Scherz, zur „Kinderei“, wie Vischer später Dichtung insgesamt nennen wird. Sie kann nicht als adäquates Abbild der ‚echten‘ Realität gelten. Sehen wir einmal von der Naturreligion des Schnupfens ab, die wohl allein schon geeignet wäre, der Novelle einen scherzhaften Ton zu verleihen, so fallen besonders drei Faktoren auf, die dazu beitragen, daß die Pfahldorfnovelle einen Ton des Unernsten bekommt. Zunächst konnten wir schon anhand der überdeutlich markierten Zeit- und Ortswechsel Ironie feststellen. Vischer hat wohl erkannt, daß dem Konzept eines allwissenden Erzählers, der aus olympischer Perspektive und großer zeitlicher Distanz auf das Geschehen blickt, die theologische Metaphysik in den Knochen steckt. Schon die Erzählerperspektive ist unglaubwürdig, weil es diesen allwissenden Standort in der Wirklichkeit nicht gibt. Noch deutlicher wird dies freilich, wenn man die Erzählhaltung mit derjenigen der Rahmengeschichte vergleicht. Der Unterschied liegt genau in der Fähigkeit des Erzählers, retrospektiv Teleologie in die Geschichte zu bringen und so durch das Erzählen Ordnung zu stiften. Dann wird die Realitätsillusion des Lesers offensichtlich stärker als von Vischer beabsichtigt durch die Anspielungen auf das 19. Jahrhundert gestört, durch entsprechende Vergleiche sowie durch Reden, die samt ihrem Problembewußtsein ebenfalls ins 19. Jahrhundert, und nicht in die Steinzeit, gehören.351 Vischer hatte schon in der Ästhetik angedacht, daß man eine Erzählung dadurch idealisieren kann, daß man sie in eine längst vergangene Zeit entrücke.352 In der Pfahldorfnovelle wird nun die Problematik dieses Vorhabens deutlich: Der Reflexionsstand des späten 19. ______________________
349 So die Meinung von Franza Feilbogen. Vgl. Feilbogen (1916): Auch Einer, S. 118. 350 Die Aussage, daß sich in der unendlichen Zeit der Zufall ausgleiche, so daß Idee und zufällige Wirklichkeit harmonieren, läßt sich schließlich nicht vollständig widerlegen, weil man keine unendliche Zeit beobachten kann. 351 Diese Faktoren erkannte auch Vischer als illusionsstörend an. Vgl. KG6, S. 531 (Mein Lebensgang). 352 Vgl. Ä6, S. 177 (§ 879, Anm.). Schon hier bemerkt er, daß das Wissen um die „unerbittliche Natur der Realität […] jedenfalls im Dichter“ (ebd.) sei und sich in der Dichtung bemerkbar mache, auch wenn sich der Dichter in vergangene Zeiten flüchte.
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Jahrhunderts läßt sich dann nicht mehr integrieren. Indem Vischer dies trotzdem tut, geschieht neben der Illusionsdurchbrechung aber noch etwas anderes. Die Figurenreden, insbesondere die von Ferudin Kallar, relativieren inhaltlich das, was die ganze Pfahldorfnovelle exemplifizieren soll, nämlich den Fortschritt als umfassendes Weltprinzip, in das sich der einzelne einordnen kann. Kallar kommt durch die Entdeckung älterer Pfahlbauten auf dieses Problem zu sprechen. Er gibt zu denken, daß man heute nicht auf einer absoluten Spitze einer Bildungsbewegung stehe, sondern daß es „immer neue Gipfel der Bildung [gibt; P.A.], und weil es immer neue gibt, so gibt es keinen.“ (AE1, S. 264). Schließlich räumt er auch ein, daß es in der Menschheitsgeschichte „nicht immer bergauf, sondern auch bergab und bergauf“ (AE1, S. 264) gehe. Vischer bezeichnete die „Relativität aller Kulturgrade und vermeintlichen Kulturgipfel“ und die Relativität des „Z e i t b e g r i f f s “ als eine der Hauptideen für den Auch Einer.353 Ganz Ähnliches läßt sich für die Darwin-Anspielungen innerhalb der Pfahldorfnovelle sagen. Auch sie haben als neuartige Interpretation der steinzeitlichen Naturmythologie der Pfahldorfgemeinde ihren Weg in die Rede von Kallar gefunden, ohne allerdings ihr teleologiekritisches Potential so zu entfalten wie in den Tagebucheinträgen Alberts. Kallar interpretiert die Sage neu, nach der Gwyon von einem Zaubertopf geschleckt habe und dann durch die Fee Cordiwen verfolgt worden sei, wobei er sich unter anderem in einen Hasen, einen Fisch und einen Distelfinken verwandelt habe. Kallars Auslegung: Den Geist kriegt man nicht umsonst, der läßt sich nicht nur so schlecken, da muß man gejagt, geängstet, gebeutelt, getrillt, geworfelt werden, da muß man sich durch alle Formen durchwürgen, hat sich ja vor der ersten Geburt schon durchwürgen müssen als Has’, Fisch und Fink, da muß man die Todesangst der Kreatur nicht viermal, nein viermillionenmal schmecken […]. (AE 1, S. 271)
Albert läßt also durch Figurenreden (und Erzählerkommentare) die geistige Situation des 19. Jahrhunderts in seine Erzählung einfließen. Das Konzept eines allumfassenden Fortschritts wird nur in den Figurenreden kritisiert, aber weder an den Figuren exemplifiziert noch formal zur Geltung gebracht; Handlungsschema und Komposition bleiben unberührt von der Kritik am Fortschrittsgedanken. So findet sich das Problem teleologischer Ordnungsvorstellungen, die den Gegensatz von Rahmengeschichte und Pfahldorfnovelle ausmachen, auch innerhalb der Pfahldorfnovelle wieder. Während Alberts „System des harmonischen Weltalls“ scheitert, führt er seine Pfahldorfgeschichte zu Ende. Doch die kompositorische Ge______________________
353 Vgl. KG6, S. 508 (Mein Lebenslauf ).
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Realteleologie und Kontingenz bei Friedrich Theodor Vischer
schlossenheit, also die souveräne Leitung des Lesers durch die geordnete erzählte Welt und die perfekte Einbindung des Zufalls in die Erzählteleologie werden um den Preis erkauft, daß die Erzählung einen ironischen, scherzhaften und wirklichkeitsfernen Ton bekommt. Während das begriffliche System also an der Unreduzierbarkeit der Kontingenz scheitert, kann das teleologische Erzählen zwar den Zufall einbinden, doch die Dichtung entfernt sich gerade durch ihre Funktionalität, Kohärenz und Abrundung von der Wirklichkeit. Gleichsam unter der Hand und gegen den eigenen Willen wird Albert der Versuch, glaubhaft das Bild einer abgerundeten, klaren und funktionalen Welt zu zeichnen, zur ironischen Spielerei.
7 Dichtung: Vom Erkenntnismedium zur „Kinderei“ Doch wie steht es nun um die Rahmenerzählung? Während die Funktionalität der Pfahldorfnovelle durch die Rahmengeschichte konturiert wird, bleibt diese selbst in ihrer Fähigkeit, Wirklichkeit zu erkennen und wiederzugeben, unhinterfragt. Wie seine Äußerungen in Mein Lebensgang nahelegen, scheint Vischer anzunehmen, daß die Rahmenhandlung durch ihre Weise, den Zufall wiederzugeben, Wahrheit und Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen kann. Dies mag insofern verwundern, als Vischer natürlich deutlich sah, daß der Auch Einer als Ganzes eine hochreflektierte und kalkulierte Komposition war. Vischer selbst schenkte ja Kompositionsfragen viel Aufmerksamkeit. Im seinem Zusatz zu Mein Lebensgang rechtfertigte er die ungewöhnliche Form, gestand aber auch mögliche Schwächen ein: Soviel jedenfalls werde ich zum Abschluß dieses Punktes sagen dürfen: mag dies und das nicht glücklich komponiert sein, nicht komponiert ist das Buch nicht. Mir war es eine lehrreiche Übung, ich habe daran gelernt, wenn nicht machen, doch besser verstehen, wie gemacht wird, wie man das Eine auf das Andere richten, Fäden wieder aufnehmen und knüpfen, wie man es überhaupt bewerkstelligen muß, daß der Leser sich unter Bekannten fühle, im Bilde des Lebens heimisch werde und an seine Scheinrealität glaube.354
Doch dieses konstruierende und intentionale Moment im Schaffen ist für den späten Vischer ein Problem, weil es die Ursache dafür ist, daß Literatur und Wirklichkeit (Natur) in ihrer Produktionsweise nichts miteinander gemein haben, weshalb erstere die kontingente Wirklichkeit trotz aller erzähltechnischer Neuerungen prinzipiell nicht abbilden kann. Die Behandlung des Zufalls in der Rahmengeschichte ist schließlich nur ______________________
354 KG6, S. 530 (Mein Lebenslauf ).
Dichtung: Vom Erkenntnismedium zur „Kinderei“
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graduell verschieden von derjenigen in der Pfahldorfnovelle. Dichtung insgesamt kann nicht mehr der Wahrheitssuche dienen. Dieses Feld überläßt der späte Vischer der Naturwissenschaft. Folgender später Aphorismus, der offenbar nach dem Roman Auch Einer (1878) entstanden ist, markiert diesen Unterschied zwischen Wissenschaft und Literatur: Wenn ich zum Dichten gestimmt bin, kommt mir die Wissenschaft, das philosophische Denken arm vor. Wenn ich Wissenschaft treibe, erscheint mir alle Kunst dagegen als Kinderei. – Die letztere Stimmung nimmt überhand. Über einer Romankomposition brüten ist fein, aber ich möchte es nicht noch einmal. Diejenigen, die es in Erfindung und Komposition besser gemacht als ich, schätze ich darum, doch ohne viel Respekt. – Schweres Dilemma! Aber Forschen ist eben doch mehr! Der Poet ist Schöpfer eines Vollen, Ganzen wohl! Die Natur ist auch Schöpferin, wunderbar, aber der Geist erkennt die Blindheit in ihrer Genialität. Sie ist Genie und Gans.355
Wissenschaft und Philosophie werden hier der Kunst, besonders der Literatur, gegenübergestellt. Die Naturerkenntnis findet in der Wissenschaft und der Philosophie statt.356 Hier erkennt der Mensch, daß die Natur zwar eine Schöpferin ist, also die reichen organischen Formen hervorgebracht hat, aber daß ihre Produktivität keine mit dem Menschen zu vergleichende Genialität ist, sondern daß sie ‚blind‘ wirkt. Idealistische Vorstellungen, nach denen auch der nichtmenschlichen Natur ein subjektives Prinzip innewohne und dieses mit der menschlichen Phantasie verwandt sei, lassen sich nicht mehr halten. Die Produktivität der Natur kommt nur durch Variation und Selektion zustande, hat aber kein Ziel oder Urbild vor Augen; die Natur ist keine vernünftige und geplante Einheit. Da Vischer die zweckmäßigen Produkte nicht leugnen will, bleibt sie ein „Genie“, weil sie aber ganz anders verfährt als der mit Intention begabte Mensch, ist sie eine „Gans“, die auch viel Unheil, Zweckloses und Zufälliges anrichtet. In Vischers Roman Auch Einer wird die darwinistisch verstandene Natur ebenfalls mit diesen beiden Metaphern beschrieben (vgl. AE1, S. 87, S. 90). Damit gerät nicht nur die empirisch erfahrbare, sondern auch die begrifflich konstruierte Natur in einen Gegensatz zur Kunst, weil hier der Poet der Schöpfer eines Ganzen ist. Blanckenburg konnte eben hierdurch eine Kongruenz der technomorphen Welt mit Gottes Schöpfung behaupten. Kausalketten waren hier wie dort teleologisch gelenkt, schon die Welt war eine teleologische Einheit. So konnte er behaupten, daß der Dichter ein „Schöpfer“ sei und ihm so die höchste Dignität zusprechen. Eine Romankomposition ist nach wie vor ein funktionales Ganzes. Doch ______________________
355 KG6, S. 567 (Aphorismen). 356 Der Darwinismus wurde ja gerade als Zwitter aus Wissenschaft und Philosophie aufgefaßt.
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Erfindung und Komposition spiegeln nun keine Wirklichkeit mehr wider; auch haben sie keine Erkenntnisfunktion hinsichtlich metaphysischer Gewißheiten mehr. Keine Rede kann mehr sein von der Dichtung als „die eigentlich wissende Kunst“.357 Vielmehr steht Vischer selbst inzwischen auf der Seite des Naturerkennens, des Forschens, und wertet die Kunst als „Kinderei“ deshalb ab. Die Komposition wird zur wirklichkeitsfernen Tüftelei. Idealisierung als Leistung der Phantasie ist folglich keine Erkenntnisleistung mehr, wie in der Literaturtheorie des Realismus und in Vischer eigener Ästhetik, sondern führt von der Realität weg in ganz andere Bereiche. Diese „Reichsunmittelbarkeit der Poesie“ (Gottfried Keller) vermag Vischer jedoch nicht positiv zu sehen. Er kann die Entlastung von der Wahrheits- und Erkenntnisfunktion nicht als neue Freiheit bewerten und sie produktiv nutzen, wie wir dies etwa zeitgleich bei Gottfried Keller beobachten können. Vischer bleibt der idealistischen Überforderung der Dichtung durch den Erkenntnisanspruch verhaftet und sieht gleichzeitig, daß Dichtung diesen Anspruch prinzipiell nicht einlösen kann. Damit gilt für den späten Vischer nicht mehr, was Eisele für die programmatischen Realisten der 1850er Jahre wie Otto Ludwig oder Robert Prutz, aber auch noch für Spielhagens Romantheorie aus den 1880er Jahren feststellte, nämlich daß sie die „Ununterscheidbarkeit von Literatur und Realität“358 fördere, so daß es am Schluß zu einer scheinbaren Identität von Literatur und Realität komme. Eisele konstatiert deshalb eine „programmatische Theorieunfähigkeit in einem entscheidenden Punkt […], nämlich in der Frage der spezifischen Existenzweise von Literatur.“359 Deshalb habe der literarische Realismus „strenggenommen gar keine Ästhetik“.360 Vischer beantwortet zwar die Frage nach einer „spezifischen Existenzweise von Literatur“ nicht, aber ihm ist sehr wohl klar, daß es bei der Darstellung der kontingenten Wirklichkeit aufgrund dieser Existenzweise prinzipielle Schranken gibt. Oder anders formuliert: Nachdem es für ihn eine einst metaphysisch konstruierte Realteleologie nicht mehr gibt, kann Dichtung nicht mehr als Mittel der Erkenntnis verstanden werden; ihre Leistung muß neu gedeutet werden. Hier gäbe es prinzipiell sicher mehrere Möglichkeiten: Denkbar wäre auch eine Position des l’art pour l’art, also einer Selbstreferenzialisierung der Kunst. Vischer ist hierfür wohl einfach zu wenig Sprachkünstler und zu sehr Empiriker. Er hält am Primat der Wahrheitssuche fest und kommt so zu dem Ergebnis, daß die Kunst hierfür untauglich sei, eben „Kinderei“. ______________________
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Ä6, S. 11 (§ 837, Anm.). Eisele (1976): Realismus, S. 65. Eisele (1976): Realismus, S. 91. Eisele (1976): Realismus, S. 91.
Zusammenfassung
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Für die systematische Philosophie hatte schon Willi Oelmüller festgestellt, daß sie für den späten Vischer von einem „Organon“, mit der man die Wirklichkeit erkennen kann, zu einem „Pharmakon“ wird, mit dem man vor ihr auf der Flucht ist. Vischer versuche in seiner Spätphilosophie nicht mehr, die zufällige Wirklichkeit in ein idealistisches System zu fassen und verzichte auf die Synthese der widerstreitenden Momente. Nicht bedacht hat Oelmüller, daß Vischer gegen Ende seines Lebens den Versuch unternimmt, im Medium der Dichtung Kontingenz darzustellen und zu überwinden. Auch dieser Versuch scheiterte in Vischers Augen an der prinzipiellen Basisfunktionalität von Dichtung. War aber Vischers idealistische Ästhetik nur ein Ausdruck der Realteleologie-Krise, so ist der Roman Auch Einer Reflexion dieser Krise und ein Experiment mit den Möglichkeiten des Romans, Kontingenz wiederzugeben.
8 Zusammenfassung Vischers Problemlage entwickelten wir aus der Kritik am Theismus. Mit der Absage an einen persönlichen Schöpfergott war das technomorphe Weltbild aber nicht mehr zu halten. Da kein Geist ‚hinter‘ der Welt steckt, der ihr Bestehen notwendig macht, wurde sie zufällig. Der Zufall und die Frage, wie und ob er sich ausgleichen läßt, wurde zum treibenden Moment in Vischers Denken. Die idealistische Identitätsphilosophie von Schelling und Hegel, die beide durch das Konzept des Absoluten die Differenz von Subjekt und Objekt aufhoben, bot hier Abhilfe. Geist und Materie wurden identifiziert; die Welt, verstanden als Entfaltung des ihr immanenten Geistes, konnte wieder als notwendig aufgefaßt werden. Aus der inneren Zweckmäßigkeit als produktivem Prinzip (natura naturans) leitete Vischer in seiner Ästhetik das Schöne ab, das er nach den Regeln der teleologischen Begriffsdialektik Hegels entfaltete. Mit dem Geist zog aber auch eine nun subtiler gewordene neue Form der Teleologie in die Weltauffassung ein. Der Zufall, bei Hegel vernachlässigt, wurde in das idealistische Gesamtkonzept integriert. Er schob sich als Störfaktor zwischen Idee und Erscheinung. Aus ihrer Differenz ließ Vischer das Objektiv-Erhabene und das Subjektiv-Komische hervorgehen, die sich wechselseitig zum Subjektiv-Objektiven ausgleichen und zum einfach Schönen zurückkehren. Die Welt ist nach Vischers Ästhetik also in ihren allgemeinen Begriffsmomenten ein geschlossenes und aufeinander bezogenes Ganzes, ein System. Aber auch in der zeitlich und räumlich unendlichen Wirklichkeit wird der Zufall ausgeglichen. Das Paradoxon des Zufalls in einer zweckmäßigen
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Realteleologie und Kontingenz bei Friedrich Theodor Vischer
Welt wird wie in Hegels Geschichtsphilosophie über Temporalisierung aufgelöst. Die zweckmäßige Einheit der Welt ist also vorhanden, empirisch kann aber nur deren Zufälligkeit wahrgenommen werden, woraus sich Probleme für die Ästhetik ergeben: Vischer reagierte mit dem Konzept der „indirekten Idealisierung“. Hier wiederholte sich die Auflösung des Zufälligkeits-Paradoxons durch Temporalisierung, weil die vorhandenen Zweckwidrigkeiten und Zufälle so aufgenommen werden müssen, daß sich die daraus resultierenden erhabenen oder komischen Momente im zeitlichen Verlauf einer Dichtung nivellieren. Die Verklärung verdeutlicht durch „Zusammenziehung“, daß die kontingente Wirklichkeit ein realteleologisches Wesen hat. Kunst konnte in Vischers Ästhetik Wahrheit beanspruchen, sie war eine privilegierte Form des Wissens und spiegelte in konzentrierter Form die echte Versöhnung des Subjekts mit dem Objekt, die absolute Idee, wider. Den hohen Anspruch einer objektiv zu begründenden Naturästhetik gab Vischer im ersten Teil der Schrift Kritik meiner Ästhetik auf. Die Naturästhetik, wesentlich auf realteleologischen Vorstellungen gebaut, wurde durch eine psychologisierende Hypostasierung von menschlichen Bewußtseinsinhalten, also durch das Konzept der „Leihung“, ersetzt. Dies kam einem stillschweigenden Bedeutungsverlust der Realteleologie gleich: Der Stufenbau der Natur und ihre innere Zweckmäßigkeit rückten aus dem Blickfeld. Die Teleologie-Debatte um Straußens Buch Der alte und der neue Glaube führte zu einer langfristigen Irritation in Vischers Denken. Da er den Darwinismus nicht ganz ablehnen konnte, versuchte er unter Rückgriff auf Planck und von Hartmann, aber auch auf Platon und Aristoteles, seine immer noch idealistisch geprägte Realteleologie mit dem Darwinismus zu versöhnen. So verteidigte er noch einmal die Konzepte der inneren Zweckmäßigkeit der Welt und der scala naturae. Doch weil er andererseits den Darwinismus samt seinen ateleologischen Implikationen weitgehend akzeptierte, blieb er mit einer großen Unsicherheit zurück und bedachte die Möglichkeit, daß „Halbheiten“ in der Weltanschauung notwendig seien, um nicht die Konsequenzen eines materialistischen Weltbildes tragen zu müssen. Ist Darwins Erklärung der Zweckmäßigkeit „ex post“ akzeptiert, dann gibt es für Vischer keine innere Zweckmäßigkeit im Sinne Schellings. Vor diesem Hintergrund muß der zweite Teil der Kritik meiner Ästhetik (1873) gesehen werden, in dem Vischer auch die teleologische Selbstbewegung des Begriffs aufgab und diese durch ein Darwin-analoges Konzept ersetzte, in dem es für die Differenzierung nun einen „Motor“ gibt. Statt einer dialektischen Aufhebung von komischen und tragisch-
Zusammenfassung
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erhabenen Momenten rückten nun „Übergangsformen“ in den Blick, die auch Häßliches enthalten. Gerade der Abschluß des ästhetischen Entwurfs war nun von diesen schwer bestimmbaren Übergangsformen dominiert, die zwischen Grazie, Anmut, dem Erhabenen und dem Komischen schwankten und somit immer auch Häßlichkeits-Anteile enthielten. Statt der zielgerichteten Entwicklung der ästhetischen Welt konnte Vischer nur noch Veränderungen von mehr oder minder schönen Übergangsformen ausmachen. Die Aufhebung des Zufalls in der Ästhetik war damit aber für Vischer nicht mehr absehbar. Daß Vischer sich nicht an die Ausarbeitung einer neuen systematischen Ästhetik machte, liegt sicher nicht nur daran, daß sich diese Wissenschaft seit Jahren veränderte,361 sondern auch daran, daß er nicht mehr sah, wie die Lehre vom Schönen den Zufall aufheben könne, ja wie überhaupt eine begrifflich-systematische Philosophie die Welt reflektieren könne. Vischer überführte mit seinem Roman Auch Einer diese Probleme in das neue Medium der fiktionalen Erzählung. Er zeigte einen Menschen inmitten einer zufälligen Welt, der zum Zweck der Kontingenzminimierung den Objekten Geist lieh. Als aufgeklärter Mensch des 19. Jahrhunderts wußte Albert jedoch vom Projektionscharakter seines Geisterglaubens, was eine prekäre psychische Konstitution zur Folge hatte. Durch innovative Erzähltechniken wie die dominante interne Fokalisierung, Anachronien, und nicht zuletzt die Einbeziehung des Tagebuchs am Ende des Romans erreichte Vischer, daß die Erzählteleologie der Rahmenhandlung abgebaut wurde. Dies wurde wiederum dadurch besonders augenscheinlich, daß Albert selbst erzählerische Versuche zur Kontingenzreduktion unternahm. Seine Pfahldorfnovelle konnte als formales Gegenstück zum Erzählrahmen gelesen werden. Die Novelle erwies sich nicht als wahrheitsgemäße Verklärung der in der Rahmenhandlung dargestellten Wirklichkeit, sondern bekam als Ganzes einen Ton des Unernsten und wurde zur „Kinderei“. Diese Bezeichnung wählte Vischer in einem späten Aphorismus für die Kunst insgesamt, weil er die Wahrheitssuche nicht mehr in der verklärenden Funktion der Kunst sah, sondern den Naturwissenschaften überließ. Hatte der Idealismus auf die Einheit der natürlichen und geistigen Produktivität verwiesen, um die Wahrheitsfunktion von Dichtung zu begründen, so wurde Vischer nach seiner Darwin-Rezeption deutlich, daß die natürliche Zweckmäßigkeit mit der menschlichen keine Ähnlichkeit hatte. ______________________
361 So Vischers eigene Auskunft. Vgl. KG4, S. 418 (Kritik meiner Ästhetik).
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Realteleologie und Kontingenz bei Friedrich Theodor Vischer
Vischers Versuch, Kontingenz im Roman darzustellen, führte zur Schilderung von Absonderlichkeiten und Geschmacklosem sowie zu einer weitgehenden Auflösung der Romanform. Mit dieser radikalen Lösung stand Vischer trotz seines Notkonzepts der „indirekten Idealisierung“ außerhalb der Verklärungs-Doktrin des poetischen Realismus. Das zeigten nicht zuletzt die Reaktionen der zeitgenössischen Kritiker. Das Problem, an dem Vischer arbeitet, ist dabei durchaus symptomatisch für den Realismus, nicht aber seine Lösung. Im nächsten Kapitel möchte ich zeigen, daß Gottfried Keller dasselbe Problem beschäftigt: Auch er sieht sich mit einem Glaubwürdigkeitsverlust realteleologischer Vorstellungen konfrontiert und paßt sein Erzählen der neuen Wirklichkeitswahrnehmung an. Es folgt ein Vergleich der beiden Fassungen des Grünen Heinrich. Die synoptische Vorgehensweise läßt bereits vermuten, daß es eine zeitliche Entwicklung gibt, was die Reflexion dieses Problems betrifft.
V Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (1854/55 und 1879/80): von der erzählten Krise zur Krise des Erzählens 1 Keller und das Problem der Realteleologie In der Keller-Forschung ist es ein Gemeinplatz, daß die Bedeutung Feuerbachs für die Prosa des Schweizers kaum überschätzt werden kann. Natur und Sinnlichkeit nähmen in Kellers Texten nach den Heidelberger Feuerbach-Vorlesungen eine entscheidende Stellung ein. Keller sei von einem Romantiker, der seinen Blick in die Transzendenz richtete, zu einem Realisten geworden, dem die Natur als Leitfaden für das Handeln der Menschen diene.1 Zu selten wird dagegen darauf hingewiesen, daß die weitgehende Kritik an der Prävalenz des objektiven Geistes auch ein Problemgenerator ist.2 Dies gilt insbesondere für die Frage nach realteleologischen Konzepten. Greift Gott aktiv in das Weltgeschehen ein? Wirkt seine Vorsehung durch die Naturgesetze hindurch? Hat die Natur als Schöpfung Vorbildcharakter für den Menschen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die erste Fassung des Grünen Heinrich. Sie zeigt, wie schwer es für den Protagonisten ist, Zufälle als Tatsachen hinzunehmen und sie nicht teleologisch erklären zu wollen oder auf sich zu beziehen. Dabei bilden die (unerfüllt bleibenden) Ansprüche des Helden an eine sinnvolle und teleologische Wirklichkeit auch noch das Schema für die Erzählung selbst. Erzählteleologische Muster strukturieren die Erstfassung, ordnen die erzählten Ereignisse und stiften Kohärenz. Doch das Problem der Kontingenz reflektiert Keller später noch auf einer anderen Ebene: In den 1870er Jahren rückt die Frage in den Vordergrund, wie eine inzwischen ateleologisch aufgefaßte Welt überhaupt erzählerisch vergegenwärtigt werden kann. Mit anderen Worten: Die Differenz einer kontingenten Realität und einer erzählteleologischen Literatur rückt als Problem in den Vordergrund. Es kommt in Kellers Texten ______________________
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Vgl. Emil Ermatinger: Gottfried Kellers Leben, Briefe, Tagebücher. Auf Grund der Biographie Jacob Baechtolds dargestellt und herausgegeben. 3 Bde. Stuttgart, Berlin 6,71924 (ED 1915), S. 203. Vgl. dagegen schon Laufhütte, der den Orientierungsverlust des Helden und seine zahlreichen Lebensalternativen auf eine Weltauffassung nach Feuerbach, „ohne sinngebendes göttliches Prinzip“, zurückgeführt hatte [Hartmut Laufhütte: Wirklichkeit und Kunst in Gottfried Kellers Roman „Der grüne Heinrich“. (Diss. Kiel 1964) Bonn 1969, S. 364].
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Gottfried Keller: Der grüne Heinrich
freilich auf andere Weise zum Tragen als bei seinem Freund Vischer. Die Zweitfassung des Grünen Heinrich findet neue Wege, um Kontingenz zu simulieren, und zwar so, daß sie auf die Darstellung, auf die Erzählteleologie durchschlägt und diese abbaut. Der Erzähler selbst beginnt, sich von erzählteleologischen Schemata zu lösen: Er erzählt beispielsweise Parallelgeschichten, die sich durch Allegorese auf Heinrich beziehen lassen und somit seinen Lebenslauf variierend aufgreifen, ohne daß sie die Handlung zum Ende vorantreiben. Durch die in den 1870er Jahren sich verstärkende Krise der Realteleologie erkennt Keller immer deutlicher, was Literatur eigentlich von der Wirklichkeit unterscheidet: ihre Teleologie, die sich selbst noch in der Funktionalität des Zufalls zeigt. Anders als Vischer kommt aber Keller nicht zu dem Schluß, daß Dichten „Kinderei“ sei. Er findet ein spielerisches Verhältnis zu dem Problem und inszeniert sich als souveräner Erzähler und Erfinder seiner Geschichten. Neben der so entstehenden Artifizialität läßt sich in der Altersfassung zusätzlich beobachten, daß sich das Erzählen selbst strukturell verändert, was in letzter Konsequenz einer Auflösung des althergebrachten Werkbegriffs gleichkommt. So rechtfertigt sich die Überschrift, daß Kellers Prosa von einer erzählten Krise zur Krise des Erzählens führt. Ein problembezogener Vergleich der beiden Fassungen des Grünen Heinrich (1854/55 und 1879/80) kann hierüber Aufschluß bieten. Beispielhaft werden so Eigenschaften von Kellers später Prosa sichtbar, die sich in den späten Erzählungen ebenfalls finden lassen. Forschungsgeschichtlich können wir bei Richard Brinkmann ansetzen, der mit seinen Beobachtungen die These Lugowskis von einer „Vereinzelung der Dinge“ im Realismus stützt. Diese Entwicklung sei das eigentlich Neue am Realismus, nicht aber „die Forderung nach einer bedingenden Ordnung der Dinge“ (Fritz Martini): Die „Forderung einer bedingenden Ordnung der Dinge“ gibt es t r o t z der zentralen Tendenz, die das Neue und Eigentümliche des Realismus ausmacht. Diese Ganzheiten sind zum großen Teil hypostasierte Ganzheiten, die nicht aus der erfahrenen Tatsächlichkeit abgelesen sein wollen, sondern nach denen das in der Erfahrung isolierte Einzelne normativ angeordnet wird, und die man nach ästhetischer Zweckmäßigkeit als Aufbauschemata der Erzählkunstwerke braucht. Sie haben vielfach den Charakter des Surrogats der verlorenen Ganzheit der idealistisch-klassisch-romantischen Epoche und früherer Zeiten. – Ganzheit gehört n i c h t konstitutiv zu einem Begriff des Realismus im 19. Jahrhundert.3
Ganzheiten werden Brinkmann zufolge als Wahrnehmungsraster des Subjekts erkannt. Sie finden sich nicht objektiv in der Realität, sondern ______________________
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Richard Brinkmann: Wirklichkeit und Illusion. Studien über den Gehalt und Grenzen des Begriffs Realismus für die erzählende Dichtung des 19. Jahrhunderts. Tübingen 21966 (ED 1957), S. 316.
Keller und das Problem der Realteleologie
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der Künstler bindet das kontingente Einzelne in seine Komposition ein und rundet sie somit zum Ganzen. Der Zufall ist aber die vereinzelte Erfahrung par excellence, so daß sich auch bei Keller an der Behandlung des Zufalls die hier geschilderten Probleme besonders gut ablesen lassen. Und eines der wichtigsten „Aufbauschemata“ war sicher lange Zeit die Teleologie, von deren Krise das dritte Kapitel dieser Arbeit handelt. Kam Gottfried Keller, der anders als der Gelehrte Vischer Autodidakt war, überhaupt mit der Krise der Realteleologie und ihren Folgeproblemen in Berührung? An erster Stelle ist hier sicher an Feuerbachs Vorlesungen über das Wesen der Religion zu erinnern, die Keller hörte.4 Ferner unterhielt Keller freundschaftliche Beziehungen zu Vischer.5 Ein Blick in Kellers nachgelassene Bibliothek zeigt, daß er David Friedrich Straußens Erfolgsbuch Der alte und der neue Glaube ebenso zur Hand hatte wie die Schriften Jacob Moleschotts oder Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus.6 Die Diskussion um Straußens Buch, an der ja auch Vischer beteiligt war, dürfte ihm sicher nicht entgangen sein. Des weiteren las Keller wichtige Zeitschriften wie Die deutsche Rundschau.7 Selbst hier spiegelt sich die Kontroverse über die Realteleologie. So beispielsweise in einem Beitrag Eduard von Hartmanns über Ernst Haeckel. Dort bespricht Hartmann das Verhältnis von Naturphilosophie und Teleologie, wirft dem Darwinismus Haeckelscher Prägung vor, daß er in der Verbannung der Teleologie zu weit gegangen sei und sieht selbst in einer neuidealistischen Vereinigung von Teleologie und Kausalität die Lösung des Problems.8 Aber auch die Anthropologischen Vorträge Jacob Henles (1809–1885), die Keller in Heidelberg hörte, verdienen hervorgehoben zu werden. Henle, den Keller schon aus Zürich kannte,9 war ein Schüler des Mediziners Johannes Müller.10 Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit (er ______________________
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Vgl. das Feuerbach- Kapitel in dieser Arbeit. Vgl. Ermatinger (1924): Keller, S. 374. Kellers Bibliothek wird in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt und kann dort eingesehen werden. Eine Bibliographie wurde noch nicht publiziert. Zur Vorarbeit vgl. Peter Villwock: Was stand in Gottfried Kellers Bibliothek? In: Text. Kritische Beiträge 4 (1998), S. 99–118. Für die freundliche Unterstützung meines Zürich-Aufenthaltes danke ich Peter Villwock herzlich. Langes Geschichte des Materialismus besaß Keller allerdings erst in der vierten Auflage von 1882 (Zentralbibliothek Zürich, ZB 43.277). Heute noch als Bestandteil von Kellers Bibliothek aufbewahrt werden die Bände Oktober 1874 und die kompletten Jahrgänge 1876, 1877, 1878, 1880. Eduard von Hartmann: Ernst Haeckel. In: Die Deutsche Rundschau 1 (1875), 10. Bd. , S. 7–32. Vgl. auch den Artikel von Adolf Lasson: Eduard von Hartmann und dessen neueste Schriften. In: Die Deutsche Rundschau 2 (1876), 8. Bd. , S. 391–417. Vgl. Hans Dünnebier: Gottfried Keller und Ludwig Feuerbach. Zürich 1913, S. 169.
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Gottfried Keller: Der grüne Heinrich
war einer der Begründer der Lehre von den Infektionskrankheiten) hielt er in Heidelberg zwischen 1847 und 1852 seine Anthropologischen Vorträge, in denen er Aspekte des Menschen aus der Perspektive des Physiologen für eine breitere Zuhörerschaft behandelte. Die Vorträge erschienen Jahrzehnte später auch gedruckt in zwei Heften, die Keller anschaffte.11 Obwohl Jacob Henle in der Gestalt eines Anthropologie-Professors im Grünen Heinrich auftaucht und Heinrich bei ihm Vorlesungen besucht,12 hat die Forschung die Bedeutung der Anthropologischen Vorträge für andere Texte Kellers nicht ausreichend untersucht.13 Lediglich Wolfgang Rohe hat sich in neuerer Zeit der Diskursivierung des naturwissenschaftlichen Wissens im Grünen Heinrich gewidmet. Dabei ist er allerdings auf Henle unmittelbar kaum eingegangen.14 Über den Mediziner schrieb Keller an seinen Freund Eduard Dößekel am 8. Februar 1849: Fast zufällig besuchte ich einmal Henles Vorlesung über Anthropologie; der klare, schöne Vortrag und die philosophische Auffassung fesselten mich, ich ging nun in alle Stunden und gewann zum erstenmal ein deutliches Bild des physischen Menschen, ziemlich von der Höhe des jetzigen wissenschaftlichen Standpunktes. Besonders das Nervensystem behandelte Henle so geistreich und tief und anregend, daß die gewonnenen Einsichten die beste Grundlage oder vielmehr Einleitung zu dem philosophischen Treiben abgaben.15 ______________________
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Zu Henle vgl. vor allem den Artikel in: Walther Killy (Hg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 5. Gütersloh, München 1990, S. 213. Siehe auch Friedrich Merkel: Jacob Henle. Göttingen 1886. Jacob Henle: Anthropologische Vorträge. Braunschweig 1876/1880 (ZB Zürich, Sig. 43.284). Über diese Buchausgabe sind die Vorträge heute noch greifbar, allerdings unter Vorbehalt, da sie „in einer andern Form gehalten wurden, als in welcher sie hier erscheinen.“ [Henle (1876): Anthropologische Vorträge, S. VI.] Diese Stelle ist in der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags, nach der hier durchgehend zitiert wird, ausführlich kommentiert worden. Vgl. Gottfried Keller: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Hg. von Thomas Böning, Gerhard Kaiser und Dominik Müller. Frankfurt am Main 1985–1996. Hier Bd. 2, S. 1290–1298. Diese Werkausgabe wird im folgenden mit der Sigle ‚KSW‘ bezeichnet. Zu Henle vgl. auch Wolfgang Rohe: Roman aus Diskursen. Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (Erste Fassung 1854/55). (Diss. Münster 1990) München 1993, S. 151ff. Die biographische Situation ist dargestellt bei Ermatinger (1924): Keller, Bd. 1, S. 192ff. Mark Lehrer weist in seiner Studie zum Realismus auf dieses Defizit hin, behebt es aber nicht. Vgl. Mark Lehrer: Intellektuelle Aporie und literarische Originalität. Wissenschaftsgeschichtliche Studien zum deutschen Realismus: Keller, Raabe und Fontane. New York, Frankfurt am Main 1991, S. 138, Anm.14. Vgl. Rohe (1993): Roman aus Diskursen, S. 142–173. Keller an Eduard Dößekel am 8.2.1849. In: Gottfried Keller: Gesammelte Briefe. 4 Bde. Hg. von Carl Helbling. Bern 1950–1954. Hier Bd. 2, S. 457f. Im folgenden wird für die Gesammelten Briefe die Sigle ‚GB‘ verwendet. Es folgen Band, Teilband und Seitenangabe. Mit dem „philosophischen Treiben“ meint Keller, wie aus dem Fortgang des Briefes deutlich wird, die Spinoza-Vorlesung von Hermann Hettner und die Vorlesungen von Feuerbach.
Der grüne Heinrich (1. Fassung, 1854/55)
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Der zweite Band dieser Vorträge erschien 1880, also im letzten Jahr der Neugestaltung des Grünen Heinrich. Hier findet sich auch ein Vortrag über Teleologie und Darwinismus, der freilich aus späterer Zeit als Kellers Heidelberg-Aufenthalt datieren muß. Er ist eine Verteidigung der teleologischen Betrachtung der Natur, erkennt aber gleichwohl Darwins Verdienste an. Deutlich sieht Henle die antiteleologische Stoßrichtung des Darwinismus. Er vermerkt aber auch die Fehler einer teleologischen Betrachtungsweise der Natur. So kritisiert er das willkürliche Erraten der natürlichen Zwecke ebenso wie ein vorschnelles Erlahmen des Forscherdranges nach dem Erkennen eines vermeintlichen Zwecks. Schließlich konstatiert Henle auch die Unfähigkeit der Teleologen zur Selbstkritik.16 Ob Keller die letzten Differenzen in der Teleologie-Diskussion bekannt waren, sei dahingestellt; auf jeden Fall hatte die Teleologie-Krise eine solche Dimension, daß sie in Kellers Wissenshorizont sicher eine Rolle spielte. Darüber hinaus legen Kellers literarische Texte Zeugnis davon ab, daß er schwierige und weltanschaulich relevante Fragen wie das Verhältnis von Kausalität und Teleologie reflektierte, natürlich zum Teil unter der Verwendung anderer Begriffe. Auf Kellers Naturbild vor den Feuerbach-Vorlesungen kann an dieser Stelle nicht besonders eingegangen werden. Hierzu sei auf die Arbeit von Gabriel Imboden verwiesen.17 Wir wenden uns gleich der ersten Fassung des Grünen Heinrich zu, um der Frage nachzugehen, inwiefern der Text von der Krise der Realteleologie, wie sie durch Feuerbach vermittelt wurde, geprägt ist.
2 Der grüne Heinrich (1. Fassung, 1854/55) Zwischen die ersten Entwürfe zum Roman und dessen Fertigstellung im Jahr 1855 fällt bekanntlich Kellers Studienzeit in Heidelberg, wo er die Vorlesungen über das Wesen der Religion Ludwig Feuerbachs hörte. Was dies für seinen Roman bedeutete, hat er selbst in einem bezeichnenden Satz in einem Brief an August Adolf Ludwig Follen festgehalten. Der Brief schließt mit den Worten: „fast könnte ich sagen, die Vorsehung habe es [das Buch Der grüne Heinrich; P.A.] so lange hingehalten, bis es eine Protestation wider sie selbst geworden ist.“18 Der Satz ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil er das Heidelberger Studienjahr als Grund dafür ______________________
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Vgl. Jacob Henle: Anthropologische Vorträge. Braunschweig 1876/1880, S. 64f. Vgl. Gabriel Imboden: Gottfried Kellers Ästhetik auf der Grundlage der Entwicklung seiner Naturvorstellung. Studie zur Begründung der geometrischen Struktur in der Novellistik. Frankfurt am Main 1975, S. 23ff. Keller an Adolf Ludwig Follen im September 1849. In: GB4, S. 24.
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nennt, daß sich der Roman in einer noch genauer zu bestimmenden Art gegen die dominante Form der Realteleologie, nämlich die Vorsehung, richtet. Sie wird sogar selbst scherzhaft für die Verzögerung verantwortlich gemacht, so daß der Autor des Grünen Heinrich einerseits halb an sie zu glauben scheint, während sich sein Roman offenbar gegen die Vorstellung einer Vorsehung richtet, gegen sie protestiert. Doch wie kann man mit einem Roman gegen eine teleologische Wirklichkeitsvorstellung wie die Vorsehung protestieren? Die Antwort, die Keller fand, lautet: Man verwende teleologische Schemata und gebe ihnen eine antiteleologische Wendung. Die Erzählteleologie bleibt dabei erhalten, ja sie ist sogar stark ausgeprägt, das heißt, viele Handlungselemente zielen auf den Tod Heinrichs, deuten ihn an und sind Mittel zu diesem Zweck. Nur ist dieses Ende kein Ziel im Sinne eines Vollendungszustandes. 2.1 Erzählteleologische Schemata und ihre antiteleologische Durchführung Die erste Fassung des Grünen Heinrich wird dadurch geprägt, daß der Roman durch erzählteleologische Schemata strukturiert ist und durch sie aufgebaut wird, diese jedoch gleichsam mit negativem Vorzeichen durchgeführt werden. Im einzelnen gilt dies für den in den Bildungsroman eingebetteten Bestimmungsgedanken, für das Handlungsschema der Lebensreise, für typologische Beziehungen und für die Vorausdeutungen auf Heinrichs Ende. Sie alle tragen zu einer stark ausgeprägten Erzählteleologie bei, weil sie in der Lage sind, viele geschilderte Ereignisse im Hinblick auf das Ende zu funktionalisieren und so für die Kohärenz des Erzählten zu sorgen. Das führt beim Leser zum Eindruck einer zusammenhängenden und relativ übersichtlichen Welt, die sich zielstrebig auf ein (allerdings negatives) Ende hin bewegt. Wie sehr es Keller auf eine durchgehende Funktionalisierung der Handlung auf das Ende abgesehen hat, oder vielleicht genauer: wie sehr dies als Ausweis künstlerischer Meisterschaft verstanden wurde, zeigt sich in einem Brief an seinen Verleger Vieweg vom 28. April 1853: Auf den Untergang des Helden sei es „in jedem Kapitel, fast auf jeder Seite des Buches zwischen den Zeilen abgesehen […].“19 Wir werden uns im folgenden den wichtigsten erzählteleologischen Mustern zuwenden. Die Forschung hat diese Schemata bereits herausgearbeitet, so daß wir uns auf die Arbeiten von Hartmut Laufhütte, Dominik ______________________
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Keller an Eduard Vieweg am 28.4.1853. In: GB3/2, S. 69.
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Müller und anderen stützen können. Als Leitfaden dient eine Beobachtung Müllers, der feststellte, daß die erste Fassung des Grünen Heinrich „auf Verdeutlichung, auf Totalisierung zielt“20, in der Zweitfassung dagegen „die klarere Architektur aufgegeben“21 werde. 2.1.1 Bildungsroman Dominik Müller kam zu dem Ergebnis, daß beide Fassungen nicht dem Schema des Bildungsromans folgten:22 „Es liegt auf der Hand, daß die Lebensgeschichte von Heinrich Lee diesem teleologischen Schema [des Bildungsromans; P.A.] nicht folgt, weder in der ersten noch in der zweiten Fassung.“23 Auch Laufhütte brachte bereits entscheidende Argumente vor, die es verbieten, den Grünen Heinrich als Bildungs- oder Entwicklungsroman zu verstehen. Seine Argumente, die er anhand der Zweitfassung entwickelte, gelten hinsichtlich der Bildungsproblematik auch für die erste Fassung: Der Lebensweg des Helden sei „weder von einem inneren Werdegesetz noch zum überwiegenden Teil von Willensimpulsen des Helden bestimmt. Die soziale Situation, Zufälle, äußere Einwirkungen aller Art haben stärkeren Anteil an ihm.“24 Heinrichs Jahre als Maler seien keine notwendige Durchgangsstufe zu einem noch höheren Bildungsziel, sondern einfach verlorene Lebenszeit, die den Helden schwer belaste.25 Worauf beide Interpreten nicht genügend Wert legten, ist die Tatsache, wie sehr die erste Fassung vom Erzählschema des Bildungsromans abhängt, in diesem gedacht und geschrieben wurde, und wie sehr die Ansprüche an eine Welt, die der Bestimmung des Helden entgegenkommen soll, sowohl Heinrichs Gedanken als auch die des heterodiegetischen ______________________
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Dominik Müller: Wiederlesen und Weiterschreiben. Gottfried Kellers Neugestaltung des „Grünen Heinrich“. Mit einer Synopse der beiden Fassungen. (Diss.) Bern, Frankfurt am Main u.a. 1988, S. 60. Müller (1988): Wiederlesen, S. 61. Vgl. auch Gerard Kaiser: „Der historische Entwurf des Entwicklungs- und Bildungsromans wird zurückgenommen“ (Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben. Frankfurt am Main 1981, S. 137). Müller (1988): Wiederlesen, S. 86. Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 355. Vgl. Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 357. Dies sei ein Grund, warum Der grüne Heinrich kein Entwicklungsroman sei, denn: „Für den Entwicklungsroman gibt es keine verlorene Lebenszeit“ [Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 356]. Ähnlich stellt Jannidis für eine teleologische Bildungskonzeption fest: „Auch der Irrtum ist Teil der Bildung des Individuums.“ [Jannidis (1999): Bildung, S. 451.]
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Erzählers bestimmen.26 Ein ganz anderes, von der teleologischen Komponente des Bildungsgedankens unabhängiges Erzählschema, steht dem Erzähler nicht zur Verfügung. Er verwendet das erzählteleologische Gerüst des Bildungsromans und zeigt, daß sich die Ansprüche an eine Finalität der Welt nach Feuerbachs anthropologischer Wende nicht aufrecht erhalten lassen. Der heterodiegetische Erzähler selbst stellt summarisch fest, daß Heinrichs Leben eigentlich aus zwei Entdeckungsreisen bestehe, die miteinander in Einklang gebracht werden wollen, nämlich die „nach seiner menschlichen Bestimmung und diejenige nach dem zwischenweiligen Auskommen“.27 Mit der „menschlichen Bestimmung“ wird eine Bildungskonzeption aufgerufen, die aufgrund ihres theologischen Ursprungs eine teleologische Komponente enthält. Seit dem 18. Jahrhundert war Bildung eine besonders erfolgreiche Antwort auf die von Johann Joachim Spalding formulierte Frage nach der Bestimmung des Menschen.28 In Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774) war die Bestimmung als Perfektibilität der Leitgedanke, der die Veränderungen, die der Protagonist erfährt, regeln und auf ein Ziel richten sollte. Alle geschilderten Ereignisse sollten funktional auf den „Endzweck“ des Romans bezogen sein. Die Wahrhaftigkeit dieser Darstellungsweise legitimierte er durch eine umfassende Realteleologie: Die Welt war von Gott in perfekte Beziehungen gebracht worden, so daß auch die wirkliche Umwelt funktional für die Vervollkommnung des Menschen ist. Das Auftreten des Künstlers und Mallehrers Römer ist für diese Bildungskonzeption und ihre kompositorischen Konsequenzen ein gutes Beispiel: Heinrich hat bereits einige Grundlagen des Malens erworben. Mit der Goethe-Lektüre hat sich sein Naturverständnis um eine wichtige Dimension erweitert. Nun arbeitet er wieder nach der Natur, kann aber seine gereiften Einsichten nicht zu Papier bringen. In diesem Moment erscheint mit Römer die funktional passende Figur für Heinrichs Problem, eine Figur, die vorher nicht eingeführt wurde und die schon durch ihren ______________________
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Müller sah allerdings deutlich, daß das „teleologische Verlaufsschema“ [Müller (1988): Wiederlesen, S. 86] und die mit ihm verbundenen Harmonieerwartungen die Erstfassung des Grünen Heinrich stark bestimmen. So sei die Urfassung „dem Muster [des Bildungsromans; P.A.] ex negativo aufs Stärkste verpflichtet.“ [Müller (1988): Wiederlesen, S. 87.] Deshalb kommen auch Jürgen Jacobs und Gerhart Mayer, die sich beide mit dem Bildungsroman als Gattung beschäftigen, zu dem Ergebnis, daß Der grüne Heinrich in der Tradition der Bildungsromane stehe. Vgl. Jacobs (1983): Wilhelm Meister, S. 187. Ferner Gerhart Mayer: Der deutsche Bildungsroman. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Stuttgart 1992, S. 156. Die erste Fassung des Grünen Heinrich wird zitiert nach: Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Erste Fassung. Hg. von Thomas Böning und Gerhard Kaiser. Frankfurt am Main 1985. In: KSW, Bd. 2. Hier S. 717. Im folgenden werden Zitate aus der ersten Fassung mit der Sigle ‚GH1‘ und der Seitenzahl nachgewiesen. Vgl. Jannidis (1999): Bildung, S. 443.
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Namen ihre Erzählfunktion verrät, nämlich Heinrichs Malweise nach den Einsichten des klassisch-römischen Goethe auszurichten. Das Unwahrscheinliche seines Auftretens wird als Motiv in der erzählten Welt reflektiert, indem Heinrich kurz zuvor gebetet hatte und er so Römer als Schikkung Gottes ansehen kann. Für Heinrich bekommt Römers Auftreten damit etwas Notwendiges, der Leser aber, der Heinrichs Erklärung nicht akzeptiert, wird erst recht auf die Unwahrscheinlichkeit des Ereignisses hingewiesen. Diese wird noch dadurch gesteigert, daß Heinrich als Erzähler dieser Szene keine Hinweise auf eine kausale Motivierung von Römers Auftreten gibt. Daran kann ihm freilich auch nicht gelegen sein, möchte er doch das Erscheinen Römers als etwas Wunderbares darstellen. Der Leser, dem keine kausale Motivierung dargeboten wird und der darüber hinaus Heinrichs finale Erklärung nicht glaubt, wird auf die Ebene der Erzählteleologie verwiesen. Er merkt, wie perfekt sich die neue Figur in das Vervollkommnungsschema einer Bildungsgeschichte einfügt, eine notwendige Stufe im Entwicklungsgang des Helden ist und vielleicht schon auf Heinrichs zukünftige Meisterschaft vorausweist. Doch die durch das teleologische Schema geweckten Leseerwartungen werden enttäuscht. Zunächst noch scheint sich das teleologische Schema zu bestätigen, indem Heinrich unter der Leitung des Lehrers Fortschritte macht. So heißt es unter Verwendung der Allegorie der Schiffahrt: „So erreichte ich endlich etwelches Fahrwasser, auf welchem ich ganz still dem Ziele einer leidlichen Arbeit zusteuerte.“ (GH1, S. 470) Doch dann entdeckt Heinrich den Wahnsinn Römers und wird an ihm schuldig: Er hatte Römer aus der Kasse seiner Mutter Geld geliehen und fordert dies nun mit scharfen Worten brieflich zurück, obwohl Römer es in einem übertragenen Sinn verdient hätte. Römer, inzwischen in Paris, verarmt daraufhin, versetzt seine Bilder bei einem Trödler und läuft dann hungernd durch die Straßen. Aus einem Gefängnis oder Irrenhaus schreibt er einen Brief an Heinrich, in dem er ihn verwünscht und ihm zynisch vorwirft, daß er ihn seiner „wahren Bestimmung anheimgegeben“ habe (GH1, S. 507). Heinrich hatte Römer als gottgeschicktes Mittel zur Beförderung seiner eigenen Bestimmung gesehen. Nun zeigt sich, daß Römer ein eigenes Schicksal hat, in dem Heinrich eine unglückselige Rolle spielt: Er wird schuldig an Römer, kann sich aber weder durch den Gedanken an die Barmherzigkeit Gottes entlasten (vgl. GH1, S. 512) noch bekommt er von Judith die erwartete Vergebung seiner Schuld: „ ‚Daraus wird nichts! Die Vorwürfe deines Gewissens sind ein ganz gesundes Brot für dich, und daran sollst du dein Leben lang kauen, ohne daß ich dir die Butter der Verzeihung darauf streiche! […]‘ “ (GH1, S. 514f.). Die eigentliche Funktionalität der Szene ist also nicht ihr Beitrag zur Vervollkommnung des Protagonisten, sondern sie zielt mindestens ebenso
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auf eine Vermehrung seiner Schuld. Sie ist auf das tatsächliche Ende Heinrichs hin finalisiert, nämlich auf seinen Tod. Aber ihre Wirkung bezieht sie daraus, daß sie das tradierte Erzählschema des Entwicklungsromans aufgreift und, was das Ziel der Perfektibilität betrifft, ins Leere laufen läßt. Denn letztlich muß man mit Laufhütte Heinrichs Zeit, die er mit dem Malen zubringt, als verlorene Lebenszeit werten. Blanckenburg hatte die „Bildungstragödie“29 mit dem Hinweis ausgeschlossen, daß doch keiner „dem großen Werkmeister der Natur so unähnlich […]“ (VR, S. 399) werden wolle. Durch die Realteleologie legitimierte er die Erzählteleologie. Im Grünen Heinrich sind die Ansprüche, die sich auf die Vernünftigkeit und moralische Einrichtung der Welt beziehen, zwar bescheidener geworden, aber im Kern immer noch vorhanden. Sie werden nun nicht mehr auf den persönlichen Gott, sondern auf einen den Dingen gemeinsamen „Lebensgrund“ zurückgeführt. Doch dieser vermag kaum noch Orientierung zu bieten.30 Für die Erzählteleologie ändert sich aber nur insofern etwas, als die weitgehende Finalisierung der Begebenheiten nun eine auf Heinrichs Tod, und nicht eine auf Heinrichs Integration in die Gesellschaft ist.31 Dieselbe Verfahrensweise, teleologische Handlungsstränge abzubrechen, läßt sich auch für die Darstellung von Heinrichs Schuljahren feststellen. Hier ahnt Heinrich zwar, „daß alle Kenntnisse wohl ineinander münden und sich zu einem lichten Zwecke verflechten würden“ (GH1, S. 198). Doch die Wirklichkeit sieht anders aus, ermöglicht keine Zusammenschau aller Kenntnisse als Basis einer Berufswahl, die der eigenen Bestimmung entspräche. Dies belegen eindrucksvoll zwei Ereignisketten, die man als Episoden bezeichnen muß, weil sie für die kausale Fortführung der Handlung irrelevant sind: Der Biologie- und der Musikunterricht sind Sackgassen in Heinrichs Biographie. Im Biologieunterricht beginnt ein herausragender Lehrer, die Botanik als „ein organisches Ganzes“ (GH1, S. 197) vorzutragen, so daß die Schüler begeistert sind und eifrig ______________________
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So bezeichnete Hermann Hettner den Grünen Heinrich in einem Brief an Keller. Vgl. Hettner an Gottfried Keller am 11.6.1855. In: GB1, S. 413. Laufhütte spricht davon, daß mit dem Lebensgrund eine „fragwürdige Transzendenz“ gerettet werde, die „die Orientierung für den einzelnen fast unmöglich“ mache [vgl. Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 356]. Etwas Ähnliches meint wohl Sautermeister, wenn er schreibt, daß Keller die Prämisse der programmatischen Realisten nicht teilte, daß die Gesellschaft ein funktionaler Organismus sei und deshalb bei diesen auf Unverständnis stieß: „Der Lebensnerv der Realidealisten, den Kellers Epik traf, ruhte in ihrem Organismusglauben, der ihnen die bürgerliche Ordnung als Kosmos im umfassendsten Sinne, als familialen, betrieblichen, sozialen und wirtschaftlichen, vorspiegelte.“ (Gert Sautermeister: Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. In: Romane des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1992, S. 280–320. Hier S. 315) Sautermeister sieht das erzählerische Hauptmittel für eine Verwirklichung dieser Störung in den reflexiven Passagen des Grünen Heinrich (vgl. ebd.).
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lernen. Einige seien vielleicht in der Klasse gewesen, bei denen dieser Unterricht eine „einflußreiche Anhänglichkeit an die Natur und ihre Kenntnis“ (GH1, S. 197) ausgelöst haben könnte. Doch, so fährt der erzählende Heinrich fort, der Lehrer sei plötzlich erkrankt und durch einen schlechten Lehrer ersetzt worden, der mit Zoologie fortgefahren habe. Heinrich kommentiert: „Solches blindes Einwirken des Zufalles in unser Fortschreiten kam mehr als einmal vor, und es verletzt das ohnehin zarte Gewebe des zusammenhängenden Verständnisses rauher, als man denkt.“ (GH1, S. 197) Die Krankheit des Lehrers ist, bezogen auf den Entwicklungsgang der Kinder, zufällig und stört ihre fortschreitende Bildung. Dabei ist das Fach Botanik sicher nicht willkürlich für diese Episode gewählt. Als Leitwissenschaft des 18. Jahrhunderts hatte sie für Goethe entscheidende Bedeutung bei der Entwicklung seiner morphologischen Ideen und galt als Grundlage der naturkundlichen Bildung. Während Heinrich Lees botanische Studien vereinzelt bleiben, kann ein Blick auf Stifters Nachsommer (1857) zeigen, wie die Pflanzenkunde für dessen Protagonist Heinrich Drendorf einen notwendigen Baustein im Gefüge seiner Bildung ausmacht: Dessen naturkundliche Studien beginnen mit Botanik und Mineralien und schreiten über das Tierstudium zur Physiognomik der Erde fort, um sich dann dem Himmel und dem Wetter zuzuwenden. Innere Entwicklung des Helden und der Zufall (etwa der tote Hirsch, der Heinrich Drendorf zu den Tierstudien bewegt), stehen in einem Verhältnis der prästabilierten Harmonie. Drendorfs Sammeln, Beschreiben, Systematisieren und Abzeichnen wird dann im Rosenhaus unter der Führung von Risach weiter vertieft und kann schließlich auch als Grundlage für das Malen von Landschaftsbildern dienen.32 Heinrich Lees Bemühungen um die Botanik finden dagegen mit der Krankheit des Lehrers abrupt ein Ende und bleiben folgenlos. Eine solide Grundlage für seine Landschaftsbilder kann ihm die Botanik nicht sein. Als zweites Beispiel für die Aussage über ein „blindes Einwirken des Zufalls“ möchte Heinrich den unmittelbar folgenden Musikunterricht verstanden wissen. Er habe ein „sehr gutes Gehör“ gehabt und sei ein „eifriger Sänger“ gewesen. Doch in der Schulstunde, in der Tonskalen und Tonarten eingeführt wurden, war Heinrich zufällig abwesend. Die Wissenslücke kann Heinrich nicht mehr auffüllen: „Ich war nun ein für allemal vor die Tür gesetzt“ (GH1, S. 197). Seither galt er dem Lehrer als „böswillig“, wenn es an das Notenlesen gehen sollte. Gerade vor dem Hintergrund, daß Heinrich sein Talent als Maler häufig kritisch beurteilt, ______________________
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Vgl. Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Hg. von Max Stefl. Augsburg o.J. Bes. S. 27–40; S. 329.
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macht diese Stelle hellhörig.33 Heinrich als Musiker oder Komponist, der Grüne Heinrich als Musikerroman? Immerhin kommt in einer für die Kontingenz-Problematik der ersten Fassung zentralen Stelle der heterodiegetische Erzähler genau darauf zu sprechen. Heinrich als Landschaftsmaler wendet sich gerade anhand eines Modells des Borghesischen Fechters der Wiedergabe des menschlichen Körpers zu und merkt, daß ihm dies mindestens genau so leicht fällt wie die Landschaftsmalerei. Er hätte folglich genau so gut Historien- oder Portraitmaler werden können und in dieser Gattung vielleicht sogar Besseres erzielt als in der Landschaftsmalerei: Mit e i n e m Worte, mit einem seltsamen Frösteln überzeugte er sich, aufspringend und die Tafel von sich schleudernd, daß seine geliebte und begeisterte Wahl, der er vom vierzehnten Jahre an bis heute gelebt, nicht viel mehr als ein Zufall, eine durch zufällige Umstände bedingte Ideenverbindung gewesen sei. (GH1, S. 664)
Hier wird durch das Erzählen Kontingenz erzeugt, und zwar dadurch, daß eine zuvor geschilderte Entscheidung, die zudem noch Heinrichs Bestimmung zu entsprechen schien, als Zufall bezeichnet wird. Doch der Erzähler überbietet Heinrichs Gedanken noch dadurch, daß er seine „Bestimmung“ ganz dem Zufall preisgibt. Nachdem der irritierte Held einige Töne auf seiner Flöte gespielt hatte, kommentiert der Erzähler: Der Ärmste ahnte aber nicht einmal, was die verklungenen Töne gesungen hatten, und daß, wenn zufällig ein Klavier in seinem elterlichen Hause gestanden und er etwa als Kind einen Musikkundigen in der Nähe gehabt hätte, es sich vielleicht jetzt gar nicht einmal um Bäume oder Menschen handeln, sondern er irgendwo als eingeübter Musikant oder gar als hoffnungsvoller Komponist existieren würde, der auf seinen selbstgewählten Beruf schwüre, ohne auf einem festeren Grunde zu stehen, kurz, daß ihn der Zufall auf hundert andere vermeintliche Bestimmungen hätte führen können. (GH1, S. 664)
Der Musikunterricht wäre also als möglicher Anfang einer „Entwicklung“ zu begreifen, die Heinrich vielleicht zu einem Musiker gemacht hätte. Aber der Leser kann hier nur spekulieren, ganz so wie der Erzähler. Für die Repräsentation von Kontingenz ist diese Stelle für die Erstfassung signifikant. Sie stellt den Bestimmungsglauben Heinrichs in Frage und deutet zahllose Alternativen an, aber gleichwohl bleibt sie punktuell.34 Sie kann nicht die Struktur liefern, nach der der Roman aufgebaut ist und seine Ereignisse anordnet. Diese liefert weiterhin das Bildungsschema: ______________________
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Zum Spott, den Heinrich als Erzähler seinen Malversuchen entgegenbringt, vgl. Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 84f.; S. 86. Auch Keller selbst schreibt in einem Brief über Heinrich, daß „seine Künstlerschaft nur ein Irrtum war, daß er ebensogut ein geistreicher Liebhaber in irgend einer andern Spezialität hätte werden können wie in der Landschaftsmalerei“ (Keller an Hermann Hettner am 5.1.1854. In: GB1, S. 383).
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Heinrichs Kenntnisse werden durch das Abzeichnen des Borghesischen Fechters erweitert. Anschließend wird er die Universität besuchen, um weitergehende anatomische Kenntnisse zu erwerben. Die Erzählfunktion der Kontingenz-Szene liegt nicht in der Fortführung der Handlung. Sie eröffnet vielmehr einen Möglichkeitsraum für den Leser und untergräbt mit dem Glauben an eine einzige notwendige Bestimmung die teleologische Komponente des Bildungskonzepts. 2.1.2 Lebensreise Ähnlich wie mit dem teleologischen Bildungskonzept verfährt der Erzähler auch mit dem Handlungsschema der Lebensreise. Das klassische triadische Schema von Ausfahrt, Erlebnissen in der Ferne und Heimkehr vermag zwar nicht den ganzen Roman zu strukturieren, aber gleichwohl bestimmt es seine große Architektur. Dominik Müller arbeitete die Bedeutung der Lebensreise für die Urfassung heraus:35 „In der Urfassung des ‚Grünen Heinrich‘ dient das Reisemotiv dazu, Heinrichs Leben als Zusammenhang mit eindeutigem Verlauf zu begreifen.“36 Wie schon in der Formulierung der „Entdeckungsreisen […] nach seiner menschlichen Bestimmung“ anklingt, sind Bestimmungs- und Reisethematik eng miteinander verbunden. Heinrichs Reise soll seine Bestimmung zu Tage fördern. Sie ist nur im topographischen Sinn zyklisch, als Rückkehr in die Heimatstadt. Dadurch, daß die Bestimmungsthematik mit ihr verbunden ist, bekommt auch sie eine realteleologische Komponente. Sie besteht darin, daß Heinrichs Lebensreise eine Ganzheit sein soll, die durch den Anfang, der schon die Bestimmung als Ziel in sich trägt, determiniert wird. Wenn Heinrich am Beginn seiner Ausfahrt nach dem Morgenstern sieht und sich der Führung Gottes anvertraut (vgl. GH1, S. 15f.), dann ist in dieser Szene sein Vertrauen auf eine gleichsam geführte Lebensreise formuliert. Durch die eingeschobene Jugendgeschichte gelingt es Keller, seinen etwa 20-jährigen Helden in dem Moment einzuführen, in dem er sich von der Vaterstadt verabschiedet und in die Fremde zieht. Wenn man von einer ausführlichen Landschaftsschilderung absieht, ist dies zugleich der Anfang der Narration (vgl. GH1, S. 15f.). Mehrere hundert Seiten und sieben Jahre später finden wir Heinrich dann, wie er zu Beginn des letzten Kapitels heimkehrt (vgl. GH1, S. 890).37 Anfangs- und Schlußkapitel sind ______________________
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Vgl. Müller (1988): Wiederlesen, S. 40–47. Müller (1988): Wiederlesen, S. 46. Auf die Korrespondenzen zwischen Ausfahrt und Heimkehr hat Müller hingewiesen [vgl. Müller (1988): Wiederlesen, S. 41].
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aufeinander bezogen und bilden den Rahmen, in dem sich Heinrichs Leben abspielt. Weitere Motivkomplexe sind auf Heinrichs Lebensreise bezogen, etwa die Schiffs- und Wandererallegorien oder die Anspielungen auf Odysseus, also auf den Prototypen des heimkehrenden Reisenden.38 Anhand einer Odysseus-Anspielung läßt sich gut zeigen, wie Keller eine Motivschicht auf Heinrichs Biographie bezieht, so daß diese als planvoll sich entwickelnde Einheit erscheint. In der Erstfassung bringt Römer seinem Schützling Homer nahe, indem er ihm die Nausikaa-Stelle erläutert. Allerdings verkehrt er die Szene, in der Odysseus bei Homer gerettet wird, seiner Paranoia gemäß in einen Ausdruck der Heimatlosigkeit.39 Vor allem aber bezieht er die Szene auf Heinrich, so daß sie einer Prophezeiung gleichkommt. Römer stellt sich vor, wie sich Heinrich gerade seiner Heimat nähert und sie in glänzenden Farben vor sich sieht. Doch „[…] da entdecken Sie [Heinrich; P.A.] plötzlich, daß Sie zerfetzt, nackt und kotbedeckt einhergehen; eine namenlose Scham und Angst faßt Sie, Sie suchen sich zu bedecken, zu verbergen und erwachen in Schweiß gebadet. Dies ist, solange es Menschen gibt, der Traum des kummervollen umhergeworfenen Mannes, und so hat Homer jene Lage aus dem tiefsten und ewigen Wesen der Menschheit herausgenommen!“ (GH1, S. 473)
Odysseus, nackt und „vom Schlamm des Meeres besudelt“,40 wird freilich von Nausikaa gastfreundlich aufgenommen. Heinrich gerät Jahre später tatsächlich in eine ähnliche Situation, nämlich als er auf seinem beschwerlichem Fußweg nach Hause auf Dortchen stößt: So stand er [Heinrich; P.A.] denn auch gar über und über mit Schlamm und Kot bedeckt vor der schönen Person [Dortchen; P.A.], die ihn aufmerksam betrachtete, und er schlug höchst verlegen die Augen nieder und schämte sich vor ihr, indessen er doch ein wenig lächeln mußte, denn er gedachte sogleich wieder des unglückseligen Römer, welcher ihm einst den vor der schönen Nausikaa sich schämenden Odysseus poetisch erklärt hatte. „O“, dachte er, „da es noch hie und da eine Nausikaa gibt, so werde ich auch mein Ithaka noch erreichen! Aber welch närrische Odysseen sind dies im neunzehnten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung!“ (GH1, S. 802f.)
Daß Heinrich nun genauso vor Dortchen steht wie Odysseus vor Nausikaa und damit die Prophezeiung Römers eintrifft, soll allerdings nicht als ______________________
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Nach dem von Peter Villwock verfaßten Kommentar der Zweitfassung ist Odysseus eines der „tragenden Leitmotive und Strukturmodelle des Grünen Heinrich“. Die zweite Fassung des Grünen Heinrich wird im folgenden zitiert nach: Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Zweite Fassung. Hg. von Peter Villwock. Frankfurt am Main 1996. In: KSW, Bd. 3. Hier S. 1222. Im folgenden werden Zitate aus der zweiten Fassung mit der Sigle ‚GH2‘ und der Seitenzahl nachgewiesen. Vgl. Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 183. Odyssee VI, v. 137 (Übersetzung Voss).
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bloßer Zufall verstanden werden. Heinrichs Reise folgt vielmehr Lebensstationen, die aus dem „ewigen Wesen der Menschheit“ stammen. Er wandelt in mythischen Spuren, die als natürlich gegebene nicht noch eigens problematisiert werden.41 Die Lebensreisen verlaufen zwar im 19. Jahrhundert unter anderen Bedingungen, es sind „närrische Odysseen“. Gleichwohl strukturieren diese Ereignisse Heinrichs Leben und erzeugen Leseerwartungen. Nachdem Römers Vorhersage eingetroffen ist, erwartet der Leser, daß Heinrich auch sein Ithaka erreichen wird. Der Erzähler als Konstrukteur dieser Bezüge kommt gar nicht in den Blick, weil die Lebensläufe als Ganzheiten natürliche Einheiten sind. Um so drastischer und wirkungsvoller erscheinen dann die Ereignisse bei Heinrichs Ankunft in der Schweiz, seinem „Ithaka“. Der Blick auf die Heimatstadt wird bereits vom Läuten des Totenglöckchens begleitet. Der Trauerzug, den er dann sieht, folgt dem Sarg seiner Mutter. Sein eigener Tod kurz darauf gibt allen hier angeführten erzählteleologischen Schemata die negative Pointe. Das Ziel der Reise „nach seiner menschlichen Bestimmung“ ist sein Tod, was nichts an der strukturellen Bedeutung der teleologischen Erzählschemata ändert. Die Funktionalität im kompositorischen Sinne bleibt gewahrt; die einzelnen Szenen erfüllen weiterhin Funktionen füreinander und sind Mittel zum Ende des Romans; der Text wird durch sie organisiert, viele seiner Szenen sind kompositorisch durch sie motiviert. Doch für Heinrich ergeben sie keinen Sinn mehr. 2.1.3 Typologie Ganz ähnlich verhält es sich mit den typologischen Beziehungen, die Kindheit und Münchener Jahre zueinander in Beziehung setzen. Typologie ist ja ein altes Muster der Kohärenzstiftung, durch das Personen (oder Ereignisse) zueinander in Beziehung gesetzt werden, so daß die spätere Person (oder das Ereignis) als Erfüllung des in seinem Vorläufer Angeleg______________________
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Gerhart von Graevenitz kommt für die Zweitfassung zu dem Ergebnis, daß „dieser ‚mythologische‘ Held im Grünen Heinrich ein ‚mythologisches‘ Leben“ führe. Dies bezieht v. Graevenitz besonders auf die Liebesgeschichten und die Festaktivitäten. Hinter aller Mythologie stehe aber als Wahrheit eine pantheistisch verstandene Natur. Vgl. Gerhart von Graevenitz: Mythologie des Festes – Bilder des Todes. Bildformeln der Französischen Revolution und ihre literarische Umsetzung (Gustave Flaubert und Gottfried Keller). In: Das Fest. Hg. von Walter Haug und Rainer Warning. München 1989, S. 526–559. Hier S. 555. Wie wir anhand der Nausikaa-Szene der Zweitfassung sehen werden, versucht Keller gerade in der Zweitfassung, die gleichsam natürlich-mythologische Ganzheit von Heinrichs Leben zu relativieren, indem er die mythologische Stilisierung in der erzählten Welt stattfinden läßt. Damit entfällt in diesem Fall die Stilisierung seines Lebenswegs als eines ‚natürlichen‘ und schafft Platz für eine Betonung der Kontingenz seines Lebens.
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ten verstanden wird. Jesus kann so zum neuen Adam werden, indem er typologisch auf ihn bezogen wird. Selbstverständlich war die Erfüllung stets als positive Steigerung und Überhöhung des im Vorläufer angelegten gemeint. Keller bedient sich des typologischen Schemas, um die Ereignisse der Jugendgeschichte und die Münchener Jahre seines Helden in Beziehungen zu bringen. Schon Wolfgang Preisendanz und später Gerhard Kaiser haben hierauf hingewiesen.42 In der ersten Fassung rechtfertigt nämlich Heinrich als Erzähler die ausführlichen Schilderungen aus der Kindheit damit, daß sie ein „Vorspiel des ganzen Lebens“ seien. Die folgende Stelle ist in die Anhörung der Schüler eingeschoben, die zum Schulausschluß Heinrichs führt: Wenn ich nicht überzeugt wäre, daß die Kindheit schon ein Vorspiel des ganzen Lebens ist und bis zu ihrem Abschlusse schon die Hauptzüge der menschlichen Zerwürfnisse im kleinen abspiegele, so daß später nur wenige Erlebnisse vorkommen mögen, deren Umriß nicht wie ein Traum schon in unserm Wissen vorhanden, wie ein Schema, welches, wenn es Gutes bedeutet, froh zu erfüllen ist, wenn aber Übles, als frühe Warnung gelten kann, so würde ich mich nicht so weitläufig mit den kleinen Dingen jener Zeit beschäftigen. (GH1, S. 205)
Heinrich schreibt seine Kindheitserlebnisse also in dem Glauben auf, daß sie Vorausdeutungen auf die Zukunft sind und ihm deshalb Orientierung geben können. Dieser Glaube Heinrichs bekommt nun besonders vor dem Hintergrund Bedeutung, daß er seine Jugendgeschichte zu Beginn der Münchener Zeit genau mit diesem Ziel liest, nämlich um „eine Richtschnur oder wenigstens die Anknüpfungspunkte für eine solche“ (GH1, S. 56) herauszufinden. Dabei ist es für diese Arbeit nebensächlich, ob sich die Typologie schon innerhalb der Ich-Erzählung verwirklicht, indem, wie Daniel Rothenbühler annimmt, Kindheit und Jugend in typologischen Beziehungen stehen,43 oder ob die Typologie für die ganze Jugendgeschichte in ihrem Verhältnis zu dem vom heterodiegetischen Erzähler Berichteten gilt.44 Denn sicher ist, daß Heinrich als Erzähler an dieses typologische Muster glaubt und ebenso gewiß ist es, daß sich auch der heterodiegetische Erzähler darauf bezieht. Der Kampf mit Lys wird zur Wiederaufnahme der Prügelei mit Meierlein, die Plünderung der Sparbüchse und die darauffolgende Prahlerei wiederholten sich ähnlich auch in der Münchener ______________________
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Vgl. Wolfgang Preisendanz: Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. In: Benno von Wiese (Hg.): Der deutsche Roman vom Barock bis zur Gegenwart – Struktur und Geschichte. Düsseldorf 1963, S. 76–127. Hier S. 78f. Ferner Kaiser (1981): Keller, S. 136f. Der Spur ist Daniel Rothenbühler gefolgt: Daniel Rothenbühler: Der grüne Heinrich 1854/55. Gottfried Kellers Romankunst des „Unbekannt-bekannten“. (Diss. Bern 1992) Bern, Berlin u.a. 2002, S. 205ff. Vgl. Rothenbühler (2002): Der grüne Heinrich, S. 206f. Vgl. Preisendanz (1963): Der grüne Heinrich, S. 79.
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Zeit. Auf die letzte Stelle weist der heterodiegetische Erzähler selbst hin:45 „Es wiederholte sich jener Vorgang aus seiner Kinderzeit, als er, indem er seine Sparbüchse verschwendete, plötzlich ein lauter und beredter Tonangeber geworden war.“ (GH1, S. 720) So ist die Typologie also zunächst ein teleologisches Ordnungsmuster, nach dem Heinrich die Ereignisse seiner Jugendgeschichte auswählt und anordnet und die geschilderten Ereignisse bei der Lektüre als Orientierungspunkte für die Zukunft verwendet.46 Indem aber auch der heterodiegetische Erzähler darauf zurückkommt, zeigt sich, daß die Typologie auch unabhängig von Heinrichs Wahrnehmung sein Leben und damit den Roman bestimmt. Sie ist, wie die Entwicklungslinie in Heinrichs Biographie oder das Handlungsschema der Lebensreise, ein teleologisches Ordnungsschema der Erzählung, das bei Leser bestimmte Erwartungen weckt und so die Rezeption steuert. Aus den Beispielen ist bereits deutlich geworden, daß vorwiegend Ereignisse typologisch aufgenommen werden, die negativ für den Helden sind. Wie die Bildungsgeschichte zu einer Vermehrung der Schuld führt und die Lebensreise mit dem Tod endet, so ist auch das Ordnungsmuster der Typologie negativ verwirklicht und damit gebrochen. Das „‚Moment der Steigerung‘ als ‚Grundbedingung alles Typologischen‘ “47 werde von Keller in sein Gegenteil verkehrt, so Rothenbühler. Damit fügt sich Kellers Behandlung des typologischen Schemas in seine Strategie ein, Schemata mit teleologischer Komponente eine antiteleologische Wendung zu geben. Dies sind die erzählerischen Mittel, mit denen Keller den Roman zu einer „Protestation wider sie selbst [die Vorsehung; P.A.]“ werden ließ. 2.1.4 Heinrichs Tod und dessen Vorausdeutung Das Erzählziel des Romans ist der Tod Heinrichs und seiner Mutter. Der Tod des Helden ist der Endpunkt der Narration, auf den ein Großteil des geschilderten Geschehens zuläuft und der wiederum den Verlauf des Geschehens bestimmt. Dieser Schluß wurde von der zeitgenössischen Literaturkritik als zutiefst unbefriedigend empfunden. Friedrich Theodor Vischer beispielsweise beklagte den „abreißenden Schluß“48 und sprach ______________________
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Vgl. auch Kaiser (1981): Keller, S. 136. So auch Rothenbühler (2002): Der grüne Heinrich, S. 211. Friedrich Ohly zitiert nach Rothenbühler (2002): Der grüne Heinrich, S. 215. KG6, S. 244 (Gottfried Keller).
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davon, daß er „unorganisch“49 sei: „eine tolle Art von Abschluß, ein Schnake, eine Mücke, eine ‚naupengeheuerliche Geschichtsklitterung‘ “.50 Der Schluß stieß wohl aus zwei Gründen auf Ablehnung: Zum einen hält sich Heinrich auf seinem Rückweg längere Zeit auf einem Grafenschloß auf. Der Vergleich mit Wilhelm Meisters Lehrjahren lag somit nahe und die Leser erwarteten sich von dem Aufenthalt bei dem Grafen, ganz wie bei Goethe, eine „schöne Abrundung“51 der Komposition. Doch selbst die Zeit, die Heinrich beim Grafen verbringt, führt zur Vermehrung seiner Schuld, da er seine Mutter zuhause warten läßt, ohne ihr Nachricht von sich zu geben. Noch schwerer wiegt, daß der Tod Heinrichs in der erzählten Welt gar nicht begründet wird. Heinrich stirbt ‚einfach so‘ seiner Mutter nach. Die Handlung des beinahe 900 Seiten starken Romans wird durch einen Halbsatz zum Abschluß gebracht. Heinrich schreibt sein Unglück noch in einem Brief an den Grafen, doch ehe die Antwort da war, „rieb es ihn auf, sein Leib und Leben brach und er starb in wenigen Tagen“ (GH1, S. 897). Durch die fehlende kausale Motivierung wird der Leser auf die kompositorische Motivierung hingewiesen. Der Schluß ist freilich im künstlerischen Sinn notwendig und damit motiviert. Die antiteleologische Durchführung handlungsrelevanter Schemata führt ja gerade auf den Tod des Helden hin. Die kompositorische Motivierung schien Keller offenbar so stark zu sein, daß er glaubte, auf eine kausale Begründung des Todes verzichten zu können. Heinrichs Irrwege und sein schuldhaftes Verhalten schienen auszureichen, um den Helden sterben zu lassen. Erstaunlich ist die bislang nicht genug akzentuierte Tatsache, daß der heterodiegetische Erzähler schon sehr früh eine Anspielung auf das Ende Heinrichs macht und damit durch eine Prolepse gleichsam die Obüberhaupt-Spannung reduziert. So kann sich der Leser darauf konzentrieren, wie es zu diesem Ende kommt. Schon bei der ersten Gelegenheit, bei der Heinrich sein Geld unbedacht an Arme gibt, kommentiert der Erzähler, daß Heinrich, wenn er ein König wäre, viele Millionen verschleudert hätte: „so aber konnte er nichts vergeuden, als das wenige, was er besaß: seines und seiner Mutter Leben.“ (GH1, S. 28) Da der Erzähler hier das Ende der Geschichte vorwegnimmt, kommt es zur Betonung des erzählteleologischen Schemas, erneut unter negativem Vorzeichen. Beim aufmerksamen Leser werden wiederum Erwartungen geweckt und er wird die geschilderten Ereignisse befragen, inwiefern sie Mittel zu diesem Erzählziel sind. ______________________
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KG6, S. 244 (Gottfried Keller). KG6, S. 244 (Gottfried Keller). KG6, S. 286 (Gottfried Keller).
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2.2 Natur als Wertsphäre und Handlungsmaßstab Der Tod hat in der Erstfassung des Grünen Heinrich nicht das letzte Wort. Er markiert zwar das Ende von Heinrichs individuellem Leben, doch geht der unglückliche Held zum Schluß in die Natur ein, die als grünes Gras Heinrichs Grab überwuchert. Mit diesem Motiv wird zunächst ein Rahmen geschaffen, der den ganzen Roman einfaßt: Der Roman hatte mit einer breiten Naturschilderung begonnen und schließt mit dem Verweis auf eben diese Natur. Deshalb schrieb Keller an seinen Verleger, das Buch klinge „so mild in der lyrischen und liebevollen Weise des Anfanges aus, daß ich glaube, die in einem guten Trauerspiele nötige Versöhnung werde sich auch hier bemerklich machen und das Buch durchaus nicht etwa in krasser und schreiender Weise endigen.“52 Die Versöhnung entsteht formal durch das Bezogensein des Endes auf den Anfang. Inhaltlich entspricht dem ein zyklisches Naturverständnis, in dem es zwar einen endgültigen individuellen Tod gibt, ein Weiterleben im allgemeinen der Natur – und sei es als Kreislauf der Stoffe – aber gegeben ist. Hierfür steht als Bild der Friedhof zu Beginn der Jugendgeschichte, über den es heißt: „es ist unmöglich, daß bis zur Tiefe von zehn Fuß ein Körnlein sei, welches nicht seine Wanderung durch den menschlichen Organismus gemacht und einst die übrige Erde mit umgraben geholfen hat.“ (GH1, S. 57) Nicht ganz so materialistisch formulieren es jene Bäume, die Heinrich in der Erstfassung noch zurufen: „Wir gehen unter und leben doch“ (GH1, S. 748). Die Natur, durch die dieser Rahmen hergestellt wird, ist die zentrale Wertsphäre des Romans und ein wichtiger Handlungsmaßstab für dessen Figuren. Sie ist kein erzählteleologisches Schema wie der Bildungsroman oder das Handlungsschema der Lebensreise. Aber sie trägt unverkennbare Züge des Gemachtseins: Sie ist auf Heinrich bezogen und unterliegt vielfach einem menschlichen Maßstab. Sie kann Heinrich zumindest teilweise Orientierung bieten, die er weder in der Schule noch auf seiner Reise finden konnte. Gerade was das Naturbild betrifft, lassen sich allerdings zwischen der ersten und zweiten Fassung eklatante Unterschiede festmachen, auf die insbesondere Dominik Müller hingewiesen hat.53 Die ältere Forschung hatte Kellers frühe Naturseligkeit auf das ganze Werk ausgeweitet, ohne die Differenzen zu bemerken. Müller zufolge beruft sich Emil Staiger bei seinen Ausführungen zu Gottfried Kellers Weltbild auf Stellen aus der ersten Fassung, die ein harmonisches und unmittelbares Verhältnis des ______________________
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Keller an Eduard Vieweg am 28.4.1853. In: GB 3/2, S. 69. Vgl. Müller (1988): Wiederlesen, S. 171–185.
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Menschen zur Natur anzeigen. Doch alle Passagen, die Staiger als Belege für Gottfried Kellers lebenslange Naturauffassung dienen, seien in der zweiten Fassung gestrichen worden.54 Folglich ist Vorsicht geboten, die Naturauffassung, wie sie sich in der ersten Fassung zeigt, im Hinblick auf spätere Werke Kellers zu verallgemeinern. Müller etwa kommt zu dem Ergebnis, daß es in der Zweitfassung „kaum noch Elemente unmittelbarer Teilhabe an der Natur“55 gebe. Gründe für die Veränderung der Naturauffassung gibt er nicht an. Müller betont, daß sich die Unterschiede der beiden Fassungen auch jeweils als Polaritäten innerhalb einer Fassung wiederfänden, was insbesondere für das Naturbild gelte.56 So distanziert sich beispielsweise in der Erstfassung der Erzähler durch Ironie von Heinrichs einfühlsamen Naturerleben.57 Gleichwohl gibt es viele Passagen, in denen der unmittelbare, harmonische und werteorientierte Naturbezug eine wichtige Rolle spielt und das letzte Wort hat. Die im folgenden vorgestellten Zitate, die dies belegen sollen, wurden allesamt in der Neubearbeitung des Romans gestrichen. Dies ist ein wichtiges Argument für die These, daß die Veränderungen, die sich hinsichtlich des Teleologie-Problems zwischen den beiden Fassungen des Grünen Heinrich ausmachen lassen, mit einer gewandelten Natur-Konzeption zusammenhängen. Dabei muß nicht davon ausgegangen werden, daß Keller zum Zeitpunkt der Neubearbeitung des Romans Darwinist war. Es reicht anzunehmen, daß er sich durch die damaligen Diskussionen seiner eigenen romantisch-idealistisch gefärbten Naturauffassung, wie sie noch in der ersten Fassung zu greifen ist, in verstärktem Maße bewußt wurde und sie nun ablehnte. Die Voraussetzung eines innigen, harmonischen und wertebezogenen Zusammenhangs des Menschen mit der Natur ist im Pantheismus zu suchen, wie er zum Teil auch von Heinrich und dem Grafen reflektiert wird. Durch die Annahme eines Geistes in der Natur bekommt letztere einen menschlichen Maßstab; sie kann einem Erzähler dazu dienen, die Gefühle des Helden auszudrücken und zu überhöhen. Dies machen Heinrich als Erzähler seiner Autobiographie und der heterodiegetische Erzähler in nahezu gleicher Weise. Dies zeigt sich beispielsweise als Heinrich erfährt, daß Anna in eine entfernte Bildungsanstalt geschickt wurde. Die Natur beginnt daraufhin, von der Liebsten zu sprechen: Nun wurde das ganze Land wieder beredt und voll ihres Lobes! Jedes Gras und jedes Blatt am Baume sprach mir von ihr, der blaue Himmel hier schien mir tau______________________
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Vgl. Müller (1988): Wiederlesen, S. 168. Müller (1988): Wiederlesen, S. 171. Vgl. Müller (1988): Wiederlesen, S. 171. Vgl. Müller (1988): Wiederlesen, S. 176.
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sendmal schöner und sehnsüchtiger, als anderswo, die blauen Bergzüge und die weißen Wolken zogen ihr nach, und von Westen her, wo Anna weilte, dünkte es mir leis aber selig über die Bergrücken herzuläuten. (GH1, S. 316)
Diese Anthropomorphismen stellen Natur als „Landschaft“58 in einen Bezug zum Menschen. Wenn auch Müller in dieser Passage „ganz leise Ironie“59 feststellt, so funktioniert doch diese Szene hauptsächlich dadurch, daß der Leser die Landschaft so beseelt und ausdrucksvoll auffaßt wie Heinrich. Auch der heterodiegetische Erzähler bedient sich der anthropomorphisierenden Naturbeschreibung, etwa wenn fallende Tropfen des schmelzenden Schnees eine „Frühlingsmusik“ (GH1, S. 854) zu Heinrichs Verliebtheit machen oder wenn ihm das Wetter zu einem „Liebeswetter“ (GH1, S. 862) wird.60 Vielleicht zeigt eine andere Szene noch deutlicher, wie bruchlos sich der Held in der Natur spiegeln kann, ohne daß er dadurch mit der Natur als eigenständigem Prinzip in Kontakt kommt. Heinrich ist wieder einmal in die Natur geflüchtet, um sich dort seinem Liebesschmerz zu überlassen. Unter einem Baum liegend, seufzt er immer dieselbe Liebesklage, bis „eines schönen Morgens“ ein Star diese Klageworte wiederholt, „so daß sie nun unablässig in dem grünen Busch ertönten“ (GH1, S. 864f.). Und selbst einen kleinen Dialog kann Heinrich nun mit der Stimme aus dem grünen Busch führen. Die Natur ist ganz auf Heinrich und seine momentanen Gefühle bezogen. Sie steht an diesen Stellen nicht als eigenständiges Prinzip dem Menschen gegenüber, sondern ist die vergegenständlichte Seite von Heinrichs Innenleben, und zwar ohne daß – wie in Vischers Auch Einer – diese Hypostasierung eigens zum Thema gemacht werden würde. Während der menschliche Geist in diesen Passagen als natürlich ______________________
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„Landschaft ist Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist […].“ [Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Joachim Ritter: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt am Main 1974 (ED 1963), S. 141–163. Hier S. 150.] Müller (1988): Wiederlesen, S. 176. Friedrich Christian Delius ist der Frage nach dem Verhältnis von Held und Wetter im bürgerlichen Realismus nachgegangen (Friedrich Christian Delius: Der Held und sein Wetter. Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus. München 1971). Raabe weise beispielsweise ironisch auf die Funktionalität des Wetters für seine Protagonisten hin, was aber an diesem Verhältnis nichts ändere (ebd. S. 57). Nach dem Hungerpastor meide er das für die Romanhandlung funktionale Wetter (ebd. S. 89). Im Falle des Grünen Heinrich stellt Delius zwischen den beiden Fassungen einen Unterschied in der Wetter-Behandlung fest und führt diesen auf die Resignation des Dichters zurück. Richtiger ist sicher der Hinweis, daß im späten Realismus eine „Abneigung gegen die Trivialität des Mittels“ (ebd. S. 89) zu beobachten ist. Bei Vischer konnten wir beobachten, wie das Naturschöne in dem Maße als subjektive „Leihung“ erkannt wurde, wie das objektive, auf Realteleologie gebaute Naturschöne, fragwürdig wurde.
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beglaubigt wird, bekommt die Natur einen geistigen Untergrund. Natur und Geist sind keine letzten Gegensätze, sondern lassen sich versöhnen. Diese und ähnliche Stellen haben freilich nichts mit dem Naturbild zu tun, wie es Feuerbach in seinen Heidelberger Vorlesungen und im Wesen der Religion entworfen hatte. Er hatte der Religion die Funktion zugesprochen, das „unpopuläre und unheimliche Wesen der Natur in ein bekanntes, heimliches Wesen zu verwandeln“ (W, S. 40) und zugleich festgehalten, daß dies nicht der richtige Weg sei, um die Natur zu begreifen, daß also an die Natur „kein ‚menschlicher Maßstab‘ angelegt werden darf und kann, ob wir gleich ihre Erscheinungen mit analogen menschlichen Erscheinungen vergleichen und bezeichnen, um sie uns verständlich zu machen“ (W, S. 61). Die Vergegenständlichung oder Projektion, die dazu notwendig ist, um Natur dem Menschen anzuverwandeln, wird in der ersten Fassung zwar durch die ab und zu spürbare Ironie deutlich: Sie erzeugt eine Distanz zu dieser Art der Naturschilderung. Hauptsächlich jedoch wird Natur stillschweigend verwendet, um Heinrichs Gefühle darzustellen und emotionale Reaktionen beim Leser hervorzurufen. Hier drängt sich eine Parallele zu Kellers Freund Vischer auf. Dieser hatte etwa gleichzeitig in den Abschnitten zur Naturästhetik das Prinzip der „Unterschiebung“ eingeführt, worunter er die unwillkürliche Projektion von Bewußtseinsinhalten des Subjekts auf seine anorganische und organische Außenwelt verstand. Gleichwohl behandelte er im folgenden das Naturschöne so, als ob es unabhängig vom Subjekt existent sei. In Vischers idealistischer Ästhetik zeigt sich demnach dasselbe Problem wie bei Keller. Beide sind sich wohl bewußt, daß ihre Naturbeschreibungen durch die Vergegenständlichung von subjektiven Bewußtseinszuständen ermöglicht werden. Der Forderung Feuerbachs, Natur „nur durch sich selbst zu fassen“ kommen sie damit nicht nach. Beide beziehen die Natur auf den Menschen, um ihr Bedeutung zuzuschreiben. Hier zeigt sich der Sinn von Feuerbachs widersprüchlicher Dopplung, daß an die Natur „kein ‚menschlicher Maßstab‘ angelegt werden darf und kann“.61 Man kann es eben doch und es wurde in dieser Zeit auch praktiziert. Daß man es nicht darf, ist eine normative Forderung, die auf bestimmten Voraussetzungen beruht, etwa derjenigen, daß die Natur „nur durch sich selbst zu fassen“ sei. Diese Forderung nach Objektivität war aber offenbar in den 1840er und 1850er Jahren in der Literatur, aber auch in der Ästhetik, nicht so bindend, daß sie die hier besprochenen Naturschilderungen verhindert hätte. Erst anhand des Romans Auch Einer konnten wir beobachten, daß Vischer konsequent die Hypostasierung von Bewußtseinsinhalten zum ______________________
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Wenn man etwas nicht kann, so ist es überflüssig zu betonen, daß man es nicht darf. Etwas (nicht) zu dürfen impliziert, daß man es könnte.
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Thema machte. Dieses Verfahren hatten wir als Folgeproblem des gescheiterten Versuchs charakterisiert, die organische Natur als Einheit von Geist und Materie zu begreifen. Dasselbe letztlich pantheistische Konzept liegt auch den Naturschilderungen der ersten Fassung des Grünen Heinrich zugrunde. Zur Zeit der Zweitfassung steht Keller, ganz wie Vischer, einer idealistischen Naturkonzeption offenbar skeptischer gegenüber, was sich in der Überarbeitung des Romans niederschlagen wird. 2.3 Erzählte Teleologie als Projektion: Heinrichs Glaube an die Vorsehung 2.3.1 Vorsehung und Bestimmung Wie gehen nun die Figuren in der ersten Fassung des Grünen Heinrich mit einer Welt um, die abgebrochene Entwicklungen und Zufälle kennt, für die die Natur aber gleichwohl eine letzte Wertsphäre sein kann? Im Unterschied zu Albert, dem Protagonisten von Vischers Auch Einer, muß sich Heinrich keine Privatmythologie erfinden; er ist nicht darauf angewiesen, Gegenstände zu beseelen und ihnen Zwecke zuzuschreiben. Vielmehr wächst der Protagonist von Kellers Roman in einem sozialen Umfeld auf, in dem es ganz üblich ist, die Vorfälle und Ereignisse der Welt als Schickung Gottes anzusehen. Man beruft sich zur KontingenzReduktion auf die Vorsehung, genauer: auf die individuelle Fürsorge Gottes für den Einzelnen (procuratio individualis). Der Glaube an eine Realteleologie reduziert die faktische Kontingenz. Heinrichs Mutter ist hierfür sicher ein herausragendes Beispiel: Sie gibt dem Sohn die Worte „vergiß nicht, daß wir eine Vorsehung haben“ (GH1, S. 22) mit auf seine Reise. Für sie selbst ist Gott vorwiegend „der höchste Schutzpatron und Oberviktualienmeister“ (GH1, S. 727), der „versorgende und erhaltende Vater, die Vorsehung.“ (GH1, S. 87) Das hindert sie nicht daran, selbst für alles Nötige zu sorgen, ganz nach dem Ausspruch: „Denn ein doppelter Strick halte besser, und wenn auf Erden und im Himmel zugleich gesorgt würde, so könne es um so weniger fehlen!“ (GH1, S. 702) Sie sucht also in der Vorsehung keine Lebensorientierung; vielmehr bildet die göttliche Vorsehung einfach ihre eigene Sorge um Nahrung und Schutz ab. Andere Menschen aus dem sozialen Umfeld Heinrichs stellen größere Ansprüche an Gott und die Vorsehung. Etwa der Schulmeister, der mit Heinrich ein wichtiges Gespräch führt, nachdem letzterer von der Schule verwiesen worden war. Das Gespräch ist ausschlaggebend für Heinrichs
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Lebenslauf, da hier seine Richtungsentscheidung fällt, Maler zu werden. Die Argumentation des Schulmeisters ist typisch für den Glauben an eine intentional gedachte Teleologie, hinter der Gott steht. Sie basiert auf einer Immunisierungsstrategie, die keine Einwände mehr zuläßt.62 Der Schulmeister gibt dem von der Schule verwiesenen Heinrich zu bedenken, daß er sich „glücklich preisen“ (GH1, S. 250) könne, da Gott sich so intensiv um ihn kümmere und ihm so früh eine „ernste Strafe und Belehrung“ (GH1, S. 250) zuteil werden lasse. Was Heinrich nämlich als ungerecht empfinde, sei nicht mit den Maßstäben der menschlichen Gerechtigkeit zu messen, sondern sei ein „unmittelbares Eingreifen des Herrn der Welt“ (GH1, S. 250). Um den Schulverweis als etwas Notwendiges und Sinnvolles verstehen zu können, müsse man ihn als Schickung Gottes auffassen; ansonsten bleibe er „nur eine fatale und ärgerliche Geschichte […], mit welcher ein so junges Leben zu beladen nicht die Absicht und das Vergnügen Gottes sein kann.“ (GH1, S. 251) Den genauen Sinn dieses Eingreifen Gottes glaubt der Schulmeister darin zu erkennen, daß sich Heinrich früher als andere für einen Beruf entscheiden solle: „wer weiß, ob nicht Euere Bestimmung ist, gerade durch diese plötzliche Bedrängnis Euch früher zu entscheiden, als sonst geschehen wäre!“ (GH1, S. 251) Dem jungen und verunsicherten Heinrich gefallen diese Reden sehr gut und er ergreift den „Gedanken an eine höhere Bestimmung und Leitung Gottes höchst lebendig“ (GH1, S. 251). So geht ihm ein „heller Stern“ auf und er äußert den Wunsch, Maler zu werden. Als göttliche Bestimmung Heinrichs im Sinn von Spalding kann der Malerberuf ebensowenig verstanden werden wie als notwendige Durchgangsstufe zu einem noch höheren Bildungsziel. Vielmehr ist diese Entscheidung eine schwere Hypothek für Heinrichs Leben: Hartmut Laufhütte zieht deshalb das Fazit: „Heinrichs gesamte Malerlaufbahn ist eine verlorene, sein weiteres Leben schwer belastende Zeit.“63 In einem echten Entwicklungsroman dürfe es aber keine verlorene Lebenszeit geben, so daß der Grüne Heinrich kein Entwicklungs- oder Bildungsroman im goethezeitlichen Sinne sei.64 Um die ganze tragische Ironie der Schulmeister-Szene zu ermessen, ist es nötig, den feuerbachschen Standpunkt hinsichtlich der Vorsehungsfrage zu kennen. Natürlich gilt auch in diesem Fall Feuerbachs durchgehende Reduktion der Religion auf Anthropologie. So wie er die Zwecke in der ______________________
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Vgl. Niklas Luhmann: Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftstheoretischer Perspektive. In: Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 2. Frankfurt am Main 1981, S. 9–44. Hier S. 15. Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 357. Vgl. Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 356f. Wieder ist dieses Urteil im strengen Sinn nur für die Zweitfassung gültig, kann aber auch auf die erste angewendet werden.
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Natur als die vergegenständlichten Zwecke des Menschen erkannte, bestimmte er den anthropologischen Kern der göttlichen Vorsehung im angesammelten Wissen der Menschheit: Die Vorsehung der Menschheit ist einzig die Kultur, die Bildung der Menschheit. […] „Die Vorsehung akkommodiert sich dem jedesmaligen Standpunkt und Bildungsgrad der Menschheit“ – das heißt: Die Grenze der Bildung ist immer auch die Grenze der Vorsehung; wo die Kultur ausgeht, da geht auch die Vorsehung aus, da ist der Mensch wehr- und schutzlos den ungestümen Mächten der Natur und Leidenschaft preisgegeben.65
Heinrichs eigentliche (auf die Anthropologie reduzierte) Vorsehung ist also nichts anderes als seine eigene Fähigkeit, auf der Grundlage des angesammelten Wissens seine Aussichten zu beurteilen. Gerade da liegt natürlich das Problem, weil seine Schulbildung durch den Schulverweis eben verkürzt wurde, so daß seine Voraussicht nicht sehr weit reicht. Die verkürzte Schullaufbahn bedeutet also nichts weniger als das Kind um Lebensorientierung und Entwicklungsmöglichkeiten zu bringen. Entsprechend drastisch kommentiert der Ich-Erzähler den Schulausschluß, den er mit einem Todesurteil vergleicht: Wenn über die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe ein tiefer und anhaltender Streit obwaltet, so kann man füglich die Frage, ob der Staat das Recht hat, ein Kind oder einen jungen Menschen, die gerade nicht tobsüchtig sind, von seinem Erziehungssysteme auszuschließen, zugleich mit in den Kauf nehmen. Gemäß jenem Vorgange wird man mir, wenn ich im späteren Leben in eine ähnliche ernstere Verwicklung gerate, bei gleichen Verhältnissen und Richtern, wahrscheinlich den Kopf abschlagen; denn ein Kind von der allgemeinen Erziehung ausschließen, heißt nichts anderes, als seine innere Entwicklung, sein geistiges Leben köpfen. (GH1, S. 207)
Damit wird eine ehemals religiöse Frage zur schulpolitischen oder auch pädagogischen Angelegenheit.66 Dies weiß freilich der erzählende, nicht aber der erlebende Heinrich. Letzterer projiziert seine eigenen zufällig bedingten Wünsche in die Vorsehung und orientiert sich dann wiederum an ihr. Während Heinrichs Mutter von der Vorsehung nur das Nötigste verlangt, erwartet Heinrich von ihr bereits vor Reiseantritt umfassende Orientierung für seine Lebensplanung. Zu Beginn finden wir den Helden nach Orientierung suchend. Nach Osten gewendet, betrachtet er „starr“ den „Morgenstern“ (GH1, S. 15). Dies ist ein Bild für Heinrichs Orientierungslosigkeit und weist voraus auf die Szene, in der ihm ein „Stern“ bei ______________________
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Ludwig Feuerbach: Ergänzungen und Erläuterungen zum „Wesen der Religion“. In: GW 10, S. 80– 121. Hier S. 101. Frau Regel Amrain aus den Leuten von Seldwyla ist durch ihre pädagogischen Maßnahmen für ihren Sohn eine solche „rein menschliche Vorsehung“ im Feuerbachschen Sinn. Vgl. Ermatinger (1924): Keller, S. 352.
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dem Wunsch aufgeht, Maler zu werden. Heinrichs Erwartungen, die sich in einem gleichzeitigen Gebet äußern, sind allerdings sehr diffus: „Wo und wer du auch seist, habe Nachsicht mit mir, du weißt, wie alles kommt in deiner Welt, übrigens mache mit mir, was du willst!“ (GH1, S. 16) Heinrich vertraut sich also seinem Gott an, verläßt sich darauf, daß die Vorsehung ihn leitet. Dies gilt für Heinrich als Kind ebenso wie für den 20-jährigen, der seine Kinder- und Jugendjahre erzählt. Auch wenn der Gott, an den Heinrich glaubt, im Laufe der Zeit immer schemenhafter wird, so bleibt doch der Glaube an etwas Unendliches, „unter dessen Obhut ich zu wandeln glaube“ (GH1, S. 74), für den Protagonisten essentiell. Noch deutlicher verkündet Heinrich, daß die Vorsehung auch wirksam sei, wenn er sich nicht an ihr orientiere: „Wie sicher weiß ich, daß die Vorsehung über mir geht gleich einem Stern am Himmel, der seinen Gang tut, ob ich nach ihm sehe oder nicht nach ihm sehe.“ (GH1, S. 373) Diesmal wird der Stern am Himmel explizit zum Vergleich mit der Vorsehung herangezogen, so daß seine Orientierungsfunktion deutlich wird. 2.3.2 Heinrichs Interpretation des Zufalls als Schickung Gottes Was in der Schulmeister-Szene exemplarisch vor Augen geführt wird, ist die Kontingenz absorbierende Funktion von Religion: Einem in bezug auf die Berufswahl zufälligen Ereignis wird retrospektiv Sinn zugesprochen, indem es als Wink Gottes verstanden wird. So wird das zunächst Zufällige zu einem sinnvollen Bestandteil der eigenen Biographie, hier: zu einer Station auf der linearen Entwicklungslinie, die Heinrich zum Malerberuf führt. Hilft am Anfang der Schulmeister noch nach, indem er Heinrich die teleologische Interpretation anbietet, übernimmt Heinrich im weiteren Verlauf seines Lebens selbst die teleologische Deutung des Zufalls. Durch ihn wirkt in den Augen Heinrichs die göttliche Vorsehung. Dies läßt sich an der Szene zeigen, in der Heinrich nach der 30-tägigen Goethe-Lektüre durch die Natur streift, um sie auf eine neue und gereifte Weise zu malen. Dies gelingt ihm nicht auf Anhieb, da ihm gemalte Vorlagen oder eine sachkundige Anleitung durch einen guten Lehrer fehlen. Gerade als sich Heinrich an Gott wendet und bittet, ihm „aus der Klemme zu helfen“ (GH1, S. 461), tritt Römer auf. In Heinrichs Jugendgeschichte ist sein Erscheinen von einer dramatischen Lichtmetaphorik begleitet: „Da überschattete sich plötzlich der weiße Bogen auf meinen Knien, der vorher von der Sonne beglänzt war; erschrocken schaute ich mich um und sah einen ansehnlichen, fremd gekleideten Mann hinter mir stehen, welcher den Schatten verursachte.“ (GH1, S. 461) Das von
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Heinrich pathetisch geschilderte Auftreten Römers kann natürlich kein Zufall sein; vielmehr steht es für Heinrich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Gebet und bestätigt ihm, auf dem richtigen Weg zu seiner Bestimmung zu sein: Ich hatte aber ein anderweitiges geheimes Zeichen von der Richtigkeit meiner Hoffnungen, nämlich das plötzliche Erscheinen Römers unmittelbar nachdem ich gebetet hatte. Hiervon sagte ich aber nichts zu meiner Mutter, denn erstens war zwischen uns nicht herkömmlich, daß man viel von solchen Dingen sprach, besonders wenn sie nach salbungsvoller Prahlerei ausgesehen hätten, und dann baute die Mutter wohl fest auf die Hülfe Gottes, aber es würde ihr nicht gefallen haben, wenn ich mich eines so eklatanten und theatralischen Falles gerühmt hätte, und als ein solcher wäre ihr meine Erzählung ohne Zweifel erschienen, da sie viel zu schlicht und bescheiden war, um ein solches Einschreiten in solchen Angelegenheiten von Gott zu erwarten. […] [D]esto mehr beschäftigte ich mich den Abend hindurch mit dem Vorfalle und muß gestehen, daß ich dabei doch eine grübelnde Empfindung hatte. Ich konnte mir die Vorstellung eines langen Drahtes nicht unterdrücken, an welchem der fremde Mann auf mein Gebet herbeigezogen sei, während, gegenüber diesem lächerlichen Bilde, mir ein Zufall noch weniger munden wollte, da ich mir das Ausbleiben desselben nun gar nicht mehr denken mochte. (GH1, S. 465f.)
Heinrich sieht selbst deutlich, daß seine Ansprüche an die Vorsehung weit größer und umfassender sind als diejenigen seiner Mutter, so daß er sich vor ihr schämt. Er ist auch aufgeklärt genug, um nicht an einen einfachen Zusammenhang zwischen dem Gebet und dem unmittelbarem Erscheinen Römers zu glauben. Doch es ist die Alternative, die ihn abschreckt, nämlich die Möglichkeit, daß dann das Auftreten Römers „ein Zufall“ sei. Auf den Höhepunkt wird dieses Thema sicher in der Szene geführt, in der Heinrich vor Hunger ein Buch zum Trödler trägt, um es zu verkaufen und sich anschließend satt zu essen. Zuvor betet Heinrich zum ersten Mal um das tägliche Brot. Am nächsten Morgen nimmt er ein Buch, verkauft es beim Trödler und bekommt dafür den Gegenwert: „mehrere nagelneue blanke Guldenstücke“ (GH1, S. 728), deren Blinken „wie der Sonnenaufblitz eines unmittelbaren allernächsten Wunders“ (GH1, S. 728) wirkt. Anschließend dankt er für die Erhörung des Gebets, obwohl er eigentlich an den persönlichen Gott lange gar nicht gedacht und eher „alle ewige Weltordnung und Vorsehung“ (GH1, S. 728) darunter verstanden hatte, also eine Instanz, bei der man sich eigentlich persönlich gar nicht bedanken kann. Der heterodiegetische Erzähler kommentiert, indem er zwei mögliche Lesarten der Passage vorstellt: Hier wird sich nun der dogmatische Leser in zwei Heersäulen spalten; die eine wird behaupten, daß es allerdings die Kraft des Gebetes und die Hülfe der Vorsehung gewesen sei, welche die magischen Guldenstücke auf Heinrichs Hand legten, und sie wird diesen Moment, da wir bereits mitten im letzten Bande stehen, als den Wendepunkt betrachten und sich eines erbaulichen Endes versehen.
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Die andere Partei wird sprechen: „Unsinn! Heinrich würde sich sowieso endlich dadurch haben helfen müssen, daß er das Buch oder irgendeinen anderen Gegenstand verkaufte, und das Wunderbare an diesem Helden ist nur, daß er dies nicht schon am ersten Tage tat! Es sollte uns übrigens nicht wundern, wenn der dünne Feldweg dieser Geschichte doch noch in eine frömmliche Kapelle hineinführt!“ Wir aber als die verfassenden Geister dieses Buches können hier nichts tun, als das Geschehene berichten und enthalten uns diesmal aller Reflexion mit Ausnahme des Zurufes: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ (GH1, S. 729)
In diesem Absatz stellt der Erzähler zur Debatte, ob die geschilderte Handlung ihre erste Ursache in Gott hat oder ob die natürlichen kausalen und psychologischen Ursachen das Geschehen alleine erklären. Der hungrige Heinrich dankt Gott für die Hilfe, der satte „schämte […] sich jetzt plötzlich seines Wunderglaubens“ (GH1, S. 730). Doch der Erzähler läßt offen, ob der satte oder der hungrige Heinrich recht hat. Allerdings wird der gläubige Leser letztlich enttäuscht, weil die Verkäufe an den Trödler zwar tatsächlich einen Glückswechsel herbeiführen, dieser aber nicht zu einem „erbaulichen“ Ende führt; vielmehr endet die erste Fassung des Romans bekanntlich mit dem Tod Heinrichs. Die zweite Fassung wird an der Stelle des Buchverkaufs das später genauer zu betrachtende „Flötenwunder“ setzen und damit statt der Leseransprache eine Szene liefern, die mit beinahe analytischer Prägnanz das Thema auf den Punkt bringt. Schon in der Erstfassung geht es – trotz der Leseransprache – nicht um die Frage, ob in der erzählten Welt des Grünen Heinrich eine göttliche Vorsehung herrscht oder nicht. Für den Feuerbachianer kann es hier keinen Zweifel geben. Es handelt sich vielmehr darum, ob Menschen nicht stets ‚hinter‘ vollständig kausal verständlichen Vorgängen zusätzlich eine teleologische, also eine vernünftige Ursache vermuten. Dabei verleihen sie dem Geschehen, dessen Zusammenhang mit ihnen ansonsten nur als zufällig beschrieben werden könnte, etwas Notwendiges. Wir erinnern hier nur an den von Nicolai Hartmann auf die Teleologie angewendeten Ausdruck des ‚transzendentalen Scheins‘.67 Bei Heinrich ist die Mächtigkeit dieses transzendentalen Scheins offenbar an die Grundbedürfnisse gebunden. Doch nicht nur bei Hunger und in Notfällen denkt Heinrich an die Allwirksamkeit Gottes. Auch im Haus des Grafen kann er nicht davon lassen, die guten Zufälle, die ihm widerfahren sind, als Schickungen Gottes zu verstehen. In einem Gespräch mit dem Grafen thematisiert er dieses Problem ganz direkt: „Ich habe, seit ich in Ihrem Hause bin, wieder viel mit meiner Selbstsucht zu kämpfen, indem ich nach alter eingewurzelter Gewohnheit immer dem lieben Gott für das Gute danken möchte, das er mir erwiesen. Denn obschon ich mir ______________________
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Vgl. S. 22 dieser Arbeit.
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schon seit längerer Zeit widerstand und meine kleinen persönlichen Erlebnisse nicht mehr einer unmittelbaren Lenkung Gottes zuschreiben mochte, so verlockt mich das, was mir hier geschah, dennoch immer wieder dazu, und ich muß manchmal lachen, wenn ich bedenke, welch ein lustiges und liebliches Schauspiel es für den guten weisen Gott sein muß, zu sehen, wie ein junger Mensch ihm gern für etwas Gutes danken möchte und sich ganz ehrlich dagegen sperrt aus lauterer Vernunftmäßigkeit! Warum macht er sich aber auch so närrische Geschöpfe!“ (GH1, S. 846)
Ganz wie Feuerbach macht Heinrich in der „Selbstsucht“, also im Egoismus, den Grund für den Glauben an die providentia specialis aus. Feuerbach schrieb seinen Lesern ins Stammbuch, daß der Glaube an die individuelle Vorsehung aus dem „unwillkürliche[n] Egoismus“68, aus einem „instinktartige[n] Selbsterhaltungstrieb“69 hervorgehe, den jedes Individuum besitze. Dieser verwandele sich alles an, bringe „Zufälligkeiten […] in einen sinnvollen Zusammenhang und [gebe; P.A.] dadurch meinem Leben den Anstrich eines durchdachten Planes“.70 Zufälle würden wir nur als solche bemerken und in das „Tagebuch unsers Lebens“ schreiben, wenn der Selbsterhaltungs- oder der Glückseligkeitstrieb daran beteiligt seien. Empfinde man beispielsweise Hunger, so vergegenständliche man das göttliche Gefühl, durch einen Zufall gerettet zu sein in einem göttlichen Wesen, dem man den Zufall als Handlung zuschreibe.71 Heinrich kommt mit seiner Rede eigentlich schon dem Feuerbachschen Standpunkt nahe, aber er stellt zudem in Rechnung, daß er (und damit der Mensch allgemein) nun einmal häufig in die teleologische Weltauffassung zurückfällt und sich nicht nur durch „Vernunftmäßigkeit“ leiten läßt. Der Graf erteilt Heinrich dennoch eine „Zurechtweisung“ (GH1, S. 846) und fragt rhetorisch: Warum, wenn wir in neunundneunzig Fällen, wo es uns schlimm ergeht, wo kein glücklicher Stern, d. h. kein guter Zufall uns begünstigt, uns mit der Vernunft und Notwendigkeit trösten und unsere tüchtige feste Haltung rühmen, warum denn im hundertsten Falle, wo einmal ein schönes und glückhaftes Ungefähr uns lacht, alsdann stracks an der Vernunft zu verzweifeln, an der natürlichen Schickung der Dinge, an unserer eigenen gesetzmäßigen Anziehungskraft für das uns Angenehme und Nützliche? Ist die Vernunft, welche uns über neunundneunzig unangenehme Dinge hinweggeholfen hat, nicht mehr da, wenn das hundertste Ding ein angenehmes ist? (GH1, S. 846f.) ______________________
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Ludwig Feuerbach: Ergänzungen und Erläuterungen zum „Wesen der Religion“. In: GW S. 102. Ludwig Feuerbach: Ergänzungen und Erläuterungen zum „Wesen der Religion“. In: GW S. 101f. Ludwig Feuerbach: Ergänzungen und Erläuterungen zum „Wesen der Religion“. In: GW S. 101. Vgl. Ludwig Feuerbach: Ergänzungen und Erläuterungen zum „Wesen der Religion“. In: GW S. 102f.
10, 10, 10, 10,
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Sowohl bei vorteilhaften als auch bei schädlichen Zufällen soll man also auf „Vernunft und Notwendigkeit“ vertrauen und nicht Gott dafür verantwortlich machen. Allerdings hat der Graf ebenfalls eine vage Vorstellung davon, daß es sich nicht um zusammenhangslose Zufälle handelt, die uns widerfahren, sondern daß es an „unserer eigenen gesetzmäßigen Anziehungskraft für das uns Angenehme und Nützliche“ liegt, wenn wir Glück haben. Ganz frei von Metaphysik und Spekulation ist demnach selbst der Graf nicht, auch wenn er die Zufälle nicht auf Gott zurückführt, sondern an die Vorstellung einer „natürlichen Schickung“ glaubt. Heinrich als Erzähler seiner Jugendgeschichte hatte schon eine ähnliche Position eingenommen. Anläßlich des Erscheinens von Römer, für das der junge Heinrich Gott dankt, bestimmt der erzählende Heinrich seine eigene Position hinsichtlich des Zufall-Problems: Seither habe ich mich gewöhnt, dergleichen Glücksfälle, sowie ihr Gegenteil, wenn ich nämlich ein unangenehmes Ereignis als die Strafe für einen unmittelbar vorhergegangenen, bewußten Fehler anzusehen mich immer wieder getrieben fühle, als vollendete Tatsachen einzutragen und Gott dafür dankbar zu sein, ohne mir des genaueren einzubilden, es sei unmittelbar und insbesondere für mich geschehen. Doch kann ich mich bei jeder Gelegenheit, wo ich mir nicht zu helfen weiß, nicht enthalten, von neuem durch Gebet solche hübsche faits accomplis herbeizuführen und für die Zurechtweisungen des Schicksals einen Grund in meinen Fehlern zu suchen und Gott Besserung zu geloben. (GH1, S. 466)
Eine direkte Verantwortlichkeit Gottes für Glücks- oder Unglücksfälle weist der etwa 20-jährige Heinrich als Erzähler seiner Jugendgeschichte zurück. Vielmehr will er diese Vorfälle als „vollendete Tatsachen“ ansehen, die nicht insbesondere für ihn geschehen. Gleichwohl dankt er Gott dafür und fällt sogar in das alte Schema zurück, positive Zufälle durch Gebete herbeiführen zu wollen. Daß er den Glauben an die providentia specialis auch Jahre später noch nicht überwunden hat, zeigt das oben zitierte Gespräch mit dem Grafen. So ergibt sich das Bild, daß Heinrich beständig schwankt zwischen einem aufgeklärten, rationalistischen oder auch pantheistischen Gottesbild und dem tief eingewurzelten, ja anthropologisch fundierten Glauben, daß der persönliche Gott unmittelbar für ihn sorge.
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2.3.3 Heinrichs technomorphes Weltbild Heinrich glaubt nicht nur an den aktualistischen Typus der Vorsehung, also daran, daß Gott spontan und unmittelbar in das Weltgeschehen eingreift, sondern auch an die sinnvolle und weise Einrichtung der Welt durch Gott und damit an eine allwirksame, sapiential-ordinative Vorsehung. Wird hier die Welt als Produkt Gottes oder der Vorsehung aufgefaßt, so können wir davon noch eine dritte Stufe der geglaubten Realteleologie unterscheiden, die dem Pantheismus oder Spinozismus in der Ausprägung Goethes sehr nahe kommt.72 Zunächst sei aber auf zwei Stellen verwiesen, die Heinrichs Glauben an ein technomorphes Weltbild verdeutlichen. In der Diskussion mit dem jungen, philosophisch gebildeten Schulmeister nennt Heinrich zwei Gründe, warum er an Gott und die Vorsehung glaubt: Weil er vermutet, daß er die Hilfe der Vorsehung noch gut gebrauchen könne und weil ihm die Natur nur dann etwas bedeutet, wenn er sie als aus freiem Willen geschaffen verstehen könne, also als das „Werk eines mir gleichfühlenden und voraussehenden Geistes“ (GH1, S. 351). Für Heinrich als Landschaftsmaler ist dies natürlich besonders wichtig. Von der Würde seines abzubildenden Gegenstandes hängt auch Heinrichs eigene künstlerische Würde und schließlich seine gesellschaftliche Stellung ab, wie sich schon in den Unterhaltungen mit seinem Vetter, dem Schulmeister aus der Kindheit, zeigt.73 Heinrich verdeutlicht dem selbsternannten Philosophen: Ein sonnedurchschossener Buchengrund konnte nur dann ein Gegenstand der Bewunderung sein, wenn ich ihn mir durch ein ähnliches Gefühl der Freude und der Schönheit geschaffen dachte. „Sehen Sie diese Blume“, sagte ich zum Philosophen, „es ist gar nicht möglich, daß diese Symmetrie mit diesen abgezählten Punkten und Zacken, diese weiß und roten Streifchen, dies goldene Krönchen in der Mitte nicht vorher gedacht seien! Und wie schön und lieblich ist sie, ein Gedicht, ein Kunstwerk, ein Witz, ein bunter und duftender Scherz! So was macht sich nicht selbst!“ (GH1, S. 351)
Heinrich argumentiert hier ganz ähnlich wie die Physikotheologen des 18. Jahrhunderts, die die Funktionalität und Ordnung der Natur als Beweis für Gottes Wirksamkeit nahmen. Teleologisch ist Heinrichs Naturerklärung in dem Sinn, daß sie die natürliche Funktionalität der Natur als ______________________
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Heinrichs Pantheismus, der demjenigen des heterodiegetischen Erzählers sehr nahe kommt, wird in einem eigenen Kapitel nachgegangen. Vgl. S. 289 dieser Arbeit. Heinrich erklärt ihm seinen Berufswunsch als Landschaftsmaler wie folgt: „Warum sollte dies nicht ein edler und schöner Beruf sein, immer und allein vor den Werken Gottes zu sitzen, die sich noch am heutigen Tag in ihrer Unschuld und ganzen Schönheit erhalten haben, sie zu erkennen und zu verehren und ihn dadurch anzubeten, daß man sie in ihrem Frieden wiederzugeben versucht?“ (GH1, S. 253) Kunst wird so zum „wahren Nachgenuss[ ] der Schöpfung“ (GH1, S. 253).
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artifizielle Funktionalität mit Gott als Hersteller beschreibt. Zugleich wird an dieser Szene deutlich, wie sehr auch noch Mitte des 19. Jahrhunderts Naturerklärung und emotionale Reaktion gekoppelt sind. Nur weil Heinrich sich die Natur als frei geschaffene und damit in Analogie zum menschlichen Kunstwerk denkt, ist sie für ihn ein „Gegenstand der Bewunderung“. Dies hat sich auch mehrere Jahre später kaum geändert. Heinrich ist inzwischen in München und „zwei- oder dreiundzwanzig“ (GH1, S. 664) Jahre alt. Nach den Versuchen, eine Kopie des Borghesischen Fechters abzuzeichnen, besucht der von der Schule verbannte Autodidakt Vorlesungen an der Universität, um sich „eine genauere Kunde vom menschlichen Körper zu erwerben“ (GH1, S. 665). Er bekommt die „berühmte Vorlesung über Anthropologie“ (GH1, S. 665f.) empfohlen, deren textexternes Vorbild Jacob Henles Anthropologische Vorträge sind.74 Hier nun trifft er auf einen Lehrer, der die Funktionsweise von Organen erläutert. Heinrich kann sich der Vorstellung nicht erwehren, daß Gott für das wunderbare Zusammenspiel der Organe verantwortlich ist: Hauptsächlich beschäftigte ihn alsobald die wunderbar scheinende Zweckmäßigkeit in den Einzelheiten des tierischen Organismus; jede neue Tatsache schien ihm ein Beweis zu sein von der Scharfsinnigkeit und Geschicklichkeit Gottes, und obgleich er sich sein Leben lang die ganze Welt nur als vorgedacht und geschaffen vorgestellt hatte, so war es ihm nun bei diesem ersten Einblicke zumut, als ob er bisher eigentlich gar nichts gewußt hätte von der Erschaffung der Kreatur, dagegen jetzt mit der lebendigsten Überzeugung wider jedermann das Dasein und die Weisheit des Schöpfers behaupten könne und wolle. (GH1, S. 668)
Hatte er, wie wir bereits sahen, schon vorher die Welt stets als Produkt Gottes verstanden, so scheint er mit den Einblicken in die Funktionsweise eines Organismus erstmals einen „Beweis“ für seine Vorstellung zu haben, daß die Natur der „Weisheit des Schöpfers“ zu verdanken sei. Doch der Anthropologieprofessor läßt die Funktionalität und Notwendigkeit der Dinge unvermerkt in sich selbst ruhen, und so vollkommen ineinander aufgehen, daß die ausschweifenden Schöpfergedanken ebenso unvermerkt zurückkehrten und in den geschlossenen Kreis der Tatsachen gebannt blieben, welcher jener Schlange der Ewigkeit gleicht, die sich selbst in den Schwanz beißt. (GH1, S. 669)
Was der Anthropologe zunächst abwehrt, sind Schlüsse auf den traditionellen Schöpfergott. Er betont die „Folgerichtigkeit und Einheit der Natur“ (GH1, S. 669), die selbst eine mystische Qualität zu bekommen scheint, wie der Vergleich mit der Schlange nahelegt. Heinrich allerdings läßt sich selbst durch diese Vorlesung nicht in seinem Glauben an Gott beirren. Er merkt zwar früh, daß es in dieser ______________________
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Vgl. die Einleitung zu diesem Kapitel.
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Vorlesung „um seinen Glauben an Gott und Unsterblichkeit“ (GH1, S. 673) geht, aber er hält nicht krampfhaft an seinen vorgeblichen „Beweisen“ für die Weisheit des Schöpfers fest, sondern ist im Gegenteil froh, seinem „liberalen und generösen“ Gott „jedes Fleckchen Welt einzuräumen, das sich selbst bewirtschaften konnte“ (GH1, S. 674). So gereicht jeder Versuch, der ein Phänomen vollständig und ohne Zuhilfenahme Gottes erklärt, gerade zur „größeren Ehre Gottes“ (GH1, S. 674). Eine solche Position ist immun gegen die Ergebnisse der Naturwissenschaften, zumindest solange deren interpretierte Resultate nicht inkompatibel mit den Gott zugeschriebenen Eigenschaften wie Güte oder Freiheit sind. Insofern ist Heinrichs Ansicht eine praktikable Lösung, um die steigende Bedeutung und den größer werdenden Erklärungsanspruch der Naturwissenschaften mit einer Gottesvorstellung zu vereinbaren. 2.4 Realteleologische Konzepte Heinrichs und des Erzählers 2.4.1 Pantheismus Weit mehr als die Stellen, in denen Heinrich einem überholt geglaubten Gottesbild anhängt, hat sich die Forschung mit denjenigen Passagen beschäftigt, die einen an Goethe ausgerichteten Pantheismus nahelegen. Der persönliche Gott, an den Heinrich immer wieder seine Gebete richtet, wird ja vom heterodiegetischen Erzähler sehr deutlich als feuerbachsche Projektion von Heinrichs Wünschen beschrieben. So heißt es in einem Paralipomenon: „Nicht zu vergessen gegen den Schluß der Autobiographie Heinrichs Gott so schildern, wie Heinrich selbst ist. Naivetät, mit welcher er seine willkürlich genialische Subjektivität zu seinem Gotte macht.“ (GH1, S. 920) Die entsprechende Szene findet sich dann nicht am Ende der Autobiographie, sondern nach der Jugendgeschichte, also in dem Teil, der vom heterodiegetischen Erzähler berichtet wird. Dies liegt wohl daran, daß Heinrich als Autobiograph im ersten Fall den Projektionscharakter seines Gottesbildes ganz durchschaut haben müßte. An der erwähnten Stelle wird erzählt, daß sich Heinrich einem „selbstgemachten, manchmal etwas flachen Rationalismus“ hingegeben habe, in welchem sich sein Gott wie ein Fremdkörper ausnehme: „ein wahrer Diamantberg von einem Wunder, in welchem sich die Zustände und Bedürfnisse Heinrichs abspiegelten und in flüchtigen Regenbogenfarben ausstrahlten.“ (GH1, S. 556f.) Ist diese persönliche Transzendenz damit auf die Anthropologie reduziert, so ist dennoch nach den von der Forschung immer wieder zitierten metaphysischen Restbestandteilen zu fragen. Hartmut Laufhütte kam,
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allerdings auf der Grundlage der zweiten Fassung, zu dem Ergebnis, daß Heinrichs Natur-Reflexionen nach seiner Goethe-Lektüre das „organisierende Zentrum“75 des ganzen Romans seien. Heinrich beschreibt seine entsprechenden Gedanken wie folgt: „Es war die hingebende Liebe an alles Gewordene und Bestehende, welche das Recht und die Bedeutung jeglichen Dinges ehrt und den Zusammenhang und die Tiefe der Welt empfindet.“ (GH1, S. 458) Heinrich entwickelt hier den Glauben, daß die Vielheit der Erscheinungen einen wesentlichen gemeinsamen Kern hat, der den Dingen ihre Bedeutung gibt. Das Wesen der Natur reicht über die Einzelerscheinungen hinaus und sorgt für ihren sinnvollen Zusammenhang. Die Aufgabe der Kunst ist es dann, dieses Wesentliche in den Dingen zu sehen: Denn wie es mir scheint, geht alles richtige Bestreben auf Vereinfachung, Zurückführung und Vereinigung des scheinbar Getrennten und Verschiedenen auf e i n e n Lebensgrund, und in diesem Bestreben das Notwendige und Einfache mit Kraft und Fülle und in seinem ganzen Wesen darzustellen, ist Kunst; (GH1, S. 460).
Laufhütte spricht anläßlich der Goethe-Reflexionen Heinrichs von einer „Synthese“ aus Goethes Pantheismus und Feuerbachs Materialismus, die „nicht ganz frei von Inkonsequenz“76 sei. Die Metapher des „e i n e n Lebensgrund[es]“ ist für Laufhütte dabei zentral. Der immanente Lebensgrund sei das Substitut für die verbannte göttliche Substanz. So würden Kellers Materialismus und Heinrichs Pantheismus zu einer Synthese geführt. Die Ästhetikentwürfe, die sich aus dem Pantheismus und dem atheistischen Materialismus ableiten lassen, müssen sich nicht widersprechen, wenn nur der Materialist an die Stelle der verbannten göttlichen Substanz, die bisher die Einheit der Welt und die Sinnhaftigkeit der Kunst gewährleistet hatte, eine andere sinngebende Ordnungsmacht setzen und so seine Welt vor dem Zerfall in beziehungslose Einzelheiten und isolierte Teilbezüge bewahren kann.77
Nach dem Rückblick auf Heinrichs Lebensweg bezeichnet es Laufhütte dann allerdings als ein „etwas gewaltsames Verfahren, den ewigen Lebensstrom auch in einer der Göttlichkeit beraubten Welt als einen organischen, sinnvoll geordneten Prozeß zu betrachten.“78 Denn diese „fragwürdige Transzendenz“79 mache die Orientierung für den Einzelnen in der Welt fast unmöglich. Dies stellte Laufhütte für die Zweitfassung fest; im Wesentlichen gilt es auch für die erste Fassung. ______________________
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Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 347. Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 369. Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 27. Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 369. Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 356.
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Gleichwohl gibt es in der Erstfassung noch Momente in Heinrichs Leben, in denen er sich sehr wohl an der „geistdurchdrungenen lebenswarmen“ (GH1, S. 32) Natur orientiert. So nennt sie der heterodiegetische Erzähler der Erstfassung; in der Zweitfassung dagegen wird die Natur nicht mehr in dieser enthusiastischen Weise angesprochen. An einer „geistdurchdrungenen“ Natur kann man sich ausrichten und Handlungsanweisungen aus ihr beziehen. So beispielsweise in der Szene, in der Heinrich am Tiefpunkt seiner Malerlaufbahn angekommen ist und bei einem Trödler Fahnenstangen für eine Fürstenhochzeit bemalt. Er flieht daraufhin in die Natur, die ihn aufzurufen scheint „zur Treue gegen sich selbst und zum Widerstand gegen jedes unnatürliche Joch“ (GH1, S. 748). Als er daraufhin in die Stadt zurückkehrt, beschließt er, nie wieder zu dem Trödler zu gehen, so daß das Vorbild einer sich selbst stets gleichen Natur handlungsmotivierend gewirkt hat. Da dies eine der wenigen Stellen in der ersten Fassung ist, wo eine Lebensentscheidung Heinrichs direkt vom Vorbildcharakter einer pantheistisch aufgefaßten Natur abhängt, ist es um so bedeutsamer, daß diese Passage in der zweiten Fassung gestrichen wurde. Ersetzt wurde sie durch die Hulda-Episode, in der Heinrich kein Naturerlebnis hat, sondern auf einer gut besuchten Ausflugsinsel eine Frau namens Hulda kennenlernt. Ähnlich ist eine Reflexion des Erzählers über die Biographien Rousseaus und Spinozas einzustufen, die neben ihren ‚eigentlichen‘ philosophischen Tätigkeiten auch Arbeiten zum Broterwerb ausführen mußten. Auch hier wird der Anspruch, daß jeder Mensch seiner „wahren Bestimmung und Eigenschaft“ (GH1, S. 709) folgen sollte, aus der Natur herausgelesen, indem die Doppelleben von Rousseau und Spinoza als defizitär angesehen werden: „Die Natur selbst aber weist nicht auf ein solches Doppelleben, und wenn diese Entsagung, die Spaltung des Wesens eines Menschen allgemein gültig sein sollte, so würde sie die Welt mit Schmerz und Elend erfüllen.“ (GH1, S. 708) Auch diese Ansprüche an eine ‚wahre‘ Bestimmung, deren vollständige Umsetzung und ihre Kompatibilität mit der Umwelt werden in der zweiten Fassung fallen gelassen; das zwischen Erwerbsarbeit und Philosophie gespaltene Leben Spinozas hingegen wird aufgewertet. 2.4.2 Fortschritt Während Heinrichs Natur- und Weltbild einerseits von der Vorsehungslehre geprägt ist, andererseits aber auch pantheistische Elemente enthält, steht der heterodiegetische Erzähler ganz auf dem letzteren Standpunkt, den er allerdings zusätzlich mit Elementen des Materialismus kontami-
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niert. Dabei entsteht eine Schwierigkeit daraus, daß die Kommentare des heterodiegetischen Erzählers von denjenigen, die der erzählende Heinrich äußert, oft „kaum zu unterscheiden“80 sind. Zusätzlich sind die Gedanken dieses heterodiegetischen Erzählers, zumindest in einigen Kapiteln, von denjenigen des erlebenden Heinrich nur schwer zu trennen: Figuren- und Erzählerperspektive verschwimmen. Als Fluchtpunkt zeichnet sich ein wertetragendes, pantheistisches und fortschrittsorientiertes Natur- und Weltbild ab, auf das die Ansichten des Grafen, des erzählenden und teilweise des erlebenden Heinrich sowie diejenigen des heterodiegetischen Erzählers zulaufen, so daß man versucht ist, diese Auffassungen dem impliziten Autor zuzuschreiben. Selbst wenn ein langer Absatz mit den Worten beginnt: „So kam Heinrich zu der Überzeugung […]“ (GH1, S. 695) oder auch mit „Wie er nun dazu noch sah […]“ (GH1, S. 696), so sind doch die jeweils folgenden langen Reflexionen nicht mehr an Heinrichs Perspektive gebunden. Vielmehr sind es Heinrichs Einsichten in Sachverhalte, die offenbar der Erzähler ebenfalls für richtig befindet und die sogar Allgemeingültigkeit beanspruchen. Heinrich und der heterodiegetische Erzähler sind hier auf gleichem Reflexionsniveau und ihre Gedanken gehen vielfach ineinander über. Das ist beispielsweise der Fall, wenn Einsichten über den zielgerichtet fortschreitenden, sinnvollen und gerechten Weltverlauf geäußert werden. Diese Passagen werden in der zweiten Fassung des Grünen Heinrich gestrichen.81 Statt dessen spricht Heinrich von „platten Sprüchwörtern“ (GH2, S. 635), mit denen er seine Ansichten über Geschichte zusammengefaßt habe. In der Erstfassung ist der „Fortschritt“ das universelle Prinzip der Weltgeschichte, der Rückschritt ist nur scheinbar:82 Sodann lernte er die unruhigen Gegensätze von Hoffnung und Furcht, wie sie durch Fortschritt und Rückschritt in der Geschichte wachgehalten werden, in sich bändigen und ausgleichen, und zwar in bezug auf den Teil davon, den die nächste Zeit und der einzelne selbst erlebt. Er sah, daß die Geschichte nicht einem schlechten Romane gleicht, wo eine Anzahl gemütlicher und tadelloser Menschen von der willkürlichen Teufelei absoluter Schurken gehemmt und ver______________________
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So das Urteil Gerhard Kaisers. Vgl. Kaiser (1981): Keller, S. 13. Vgl. übereinstimmend: Müller (1988): Wiederlesen, S. 18. Vgl. auch die Synopse der Unterschiede beider Fassungen bei Müller (1988): Wiederlesen, S. 353. Wolfgang Rohe hat darauf hingewiesen, daß Gerhard Kaiser die Geschichtsreflexionen Heinrichs und des Erzählers vernachlässige und Keller insgesamt eine „Rücknahme der Bewegungsmomente der Geschichte“ [Kaiser (1981): Keller, S. 248] unterstelle. Rohe hält dagegen fest, daß Heinrichs Geschichtsentwurf „im genauen Gegensatz zu einem nichtteleologischen Konzept ohne Handlungsbegriff“ steht [Rohe (1993): Roman aus Diskursen, S. 175]. Positiv formuliert: Heinrich hat einen fortschrittsorientierten und teleologischen Geschichtsbegriff, in dem auch das Handeln des Einzelnen einen sinnvollen Platz hat.
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wickelt wird, sondern daß in ihr das Unheil eben nur der Lückenbüßer und Ährenleser des Heiles, d. h. der Rückschritt nichts anderes als der stockende Fortschritt ist […]; denn es gibt nur e i n e wirkliche Bewegung, diejenige nach vorwärts; alle Völker und Menschen wollen vorwärtsschreiten auf ihre Weise, und die Reaktionäre von Profession, die sich so nennen, wissen selbst nicht, warum und woher sie in der Welt sind. Sie sind nämlich nur die Fußschwielen der vorwärtsschreitenden Menschheit. (GH1, S. 691f.)
Der Fortschritt ist demnach universell, selbst der Rückschritt ist funktional auf den Fortschritt bezogen und nur eine defizitäre Form desselben.83 Dem einzelnen Betrachter fällt es zu, die kontingent und gegensätzlich erscheinenden Momente der Geschichte so zu verstehen, daß darin das Gesetz des universellen Fortschritts sichtbar wird, sie sich also „bändigen und ausgleichen“. Dieses Konzept wird kurz darauf noch durch eine Utopie überboten, die ein versöhnliches und gutes Ziel für alle Menschen als Ende der Geschichte ansieht. Auch sie wurde bei der Überarbeitung des Romans gestrichen: es handelt sich aber eben in der Geschichte und Politik um das, was die kurzatmigen Helden und Rhetoren nie einsehen: nicht um ein Trauerspiel, sondern um ein gutes Ziel und Ende, wo die geläuterte unbedingte Einsicht alle versöhnt, um ein großes heiteres Lustspiel, wo niemand mehr blutet und niemand weint. Langsam aber sicher geht die Welt diesem Ziele entgegen. (GH1, S. 695f.)
Aus dieser realteleologisch aufgefaßten Weltgeschichte werden schließlich auch moralische Ansprüche für den Lebensweg des Einzelnen abgeleitet, etwa wenn die Gewißheit geäußert wird, Rache werde durch den schließlichen „Untergang“ (GH1, S. 695) des Rächers bestraft. Noch deutlicher in bezug auf den moralischen Anspruch des Weltverlaufs heißt es über Heinrich: „Er ertrug das Härteste ohne Verbitterung und ohne Hoffnungslosigkeit, wohl fühlend, daß eher ein Berg einstürzt, als ein Menschenwesen ohne angemessene Schuld zugrunde geht“ (GH1, S. 751). Dieser hohe Anspruch auf ein moralisch gerechtes Schicksal ist nur vor dem Hintergrund dieser realteleologischen Wirklichkeitskonzeptionen zu verstehen. Irgend etwas muß diese Gerechtigkeit ermöglichen, die Geschichte im Kleinen so lenken, daß es selbst auf der Ebene des Individuums zu einem sinnvollen Schicksal kommt. Von hier aus läßt sich auch das Zufalls-Problem erneut in den Blick nehmen: Wenn die positiven Zufälle, die Heinrich zustoßen, auch nicht als direkte Schickungen eines persönlichen Gottes aufgefaßt werden können, so weisen doch schon die Aussagen des Grafen und des erzäh______________________
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So heißt es beispielsweise über die politische Reaktion, daß sie sich „für höchst selbständig und ursprünglich hielt, in der Tat aber nur dazu diente, dem Fortschritt einen Schwung zu geben […].“ (GH1, S. 884)
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lenden Heinrich in eine Richtung, die den Zufall nicht als rein kontingent erscheinen läßt. Der kausal-kontingente Zufall ist mit einer „natürlichen Schickung der Dinge“ unvereinbar. Hier lassen sich Laufhüttes Überlegungen eines Zufalls „aus Verdienst“84 anschließen, den er vom sinnlosen Zufall unterschieden wissen möchte. Voraussetzung für diesen Zufall ist ein den Dingen innewohnendes göttliches Prinzip, mit dem etwa in Form des Fortschrittsgedankens die Realteleologie Einzug hält: Als Funktionalität des guten Zufalls für einen Menschen und, in der Zeit betrachtet, als Abfolge von glücklichen Ereignissen, die zu einem guten Ziel fortschreiten. Laufhütte bestimmt den sinnvollen Zufall auf der Grundlage des von ihm stark gemachten pantheistisch verstandenen „e i n e n Lebensgrund[es]“: Zufall in einer in sich, aus einem ihr innewohnenden göttlichen Prinzip heraus sinnvoll ablaufenden Welt muß sein: natürlich sich ergebende Zusammenfügung des einander Entsprechenden, kraft innerer Gesetzlichkeit sich vollziehende Ausgestaltung von Zusammenhängen […].85
Laufhütte stellt zu Recht fest, daß man Heinrichs Lebensweg nicht als gefügt von diesen teleologischen Zufällen ansehen kann. Dieses Ergebnis gilt sicher schon für die erste Fassung. Diese hat aber, wie Dominik Müller feststellte, zwei Enden: Den Tod Heinrichs im Sommer 1844, zugleich das Ende des narrativen Diskurses, und ein „forciertes HappyEnd auf der Ebene der politisch-gesellschaftlichen Thematik des Romans“86, wobei die politische Handlung bis ins Jahr 1848 geführt wird.87 Während also die geschichtlichen Fortschrittskonzeptionen Heinrichs eine Bestätigung durch die politische Entwicklung erfahren,88 ist das Ende des Individuums Heinrich schwieriger zu beurteilen. Gibt es einen klaren Zusammenhang von Schuld und Tod im Falle Heinrichs, wie dies die romaninternen Reflexionen nahelegen? Der Erzähler stellt fest, daß Heinrich zumindest nicht in einem einfachen Sinne am Tod der Mutter Schuld sei: Da nun aber in Wirklichkeit nichts an ihm zu durchschauen war, als das lauterste und reinste Wasser eines ehrlichen Wollens, wie er jetzt war, so erschien ihm dies ______________________
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Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 319. Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 170. Müller (1988): Wiederlesen, S. 258. Zu den Datierungen vgl. Rohe (1993): Roman aus Diskursen, S. 184f. Vischers Roman Auch Einer dreht das Schema des doppelten Schlusses um, indem hier der narrative Diskurs mit dem politischen Ereignis des Sedanstages endet, der Tod des Helden aber zuvor erzählt wird. Zudem wird hier auch das politische Ende relativiert. Vgl. hierzu die entsprechenden Ausführungen im Kapitel „Auch Einer“ dieser Arbeit. So auch das Urteil von Rohe: „Soweit scheinen die vom Roman erzählten Ereignisse Heinrichs Erwägungen über den Verlauf der Geschichte zu bekräftigen: diese ist eine planvoll fortschreitende Bewegung zu gutem Ende.“ [Rohe (1993): Roman aus Diskursen, S. 186.]
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Leben wie eine abscheuliche, tückische Hintergehung, wie eine niederträchtige und tödliche Narretei und Vexation, und er brauchte alle Mühen seiner ringenden Vernunft, um diese Vorstellung zu unterdrücken und der guten Meinung der Welt ihr Recht zu geben. (GH1, S. 893f.)
Allerdings ist Heinrichs Perspektive nicht das letzte Wort. Sie wird durch das „erschien ihm“ als nicht endgültig markiert. Und doch ist die Frage nach dem Verhältnis von Schuld und Sühne nicht einfach zu beantworten. Denn einerseits kann Heinrich keine „angemessene Schuld“ (GH1, S. 751) bei seiner Mutter ausmachen. Selbst wenn er ihre Strenge und Sparsamkeit in Rechnung stellt, so ist „kein gerechtes und weises Verhältnis“ (GH1, S. 753) zwischen ihrer Schuld und der „Leidensschule“ (GH1, S. 753), in der sie sich befindet, erkennbar. Andererseits ist auch Heinrichs „Schuld“ am Tod seiner Mutter zumindest keine sittliche Schuld in dem Sinn, daß er freiwillig und bewußt ihren Tod herbeigeführt oder auch nur in Kauf genommen hätte.89 Heinrich selbst kommt zu dem Ergebnis, daß er „in Ansehung seiner Mutter eine große Schuld erwachsen sah, an der er doch wieder nicht schuld zu sein meinte“ (GH1, S. 753). Eben weil die Schuldfrage vielschichtig und kompliziert ist, bleibt angesichts von Heinrichs Tod der Trost eines im Roman ebenfalls thematisierten zyklischen Geschichtsbildes. Über Heinrichs Grab wächst grünes Gras, Heinrich kehrt in die Natur zurück: „Wir gehen unter und leben doch“ (GH1, S. 748) hatte die Natur Heinrich zugerufen, als er bei ihr vor der Arbeit des Stangenbemalens Schutz suchte. Selbst wenn man Adolf Muschg zustimmt, daß erst vom Tod her das Leben „Schönheit und Wahrheit“90 bekomme oder Heinrichs Sterben mit Dominik Müller als Ausweis eines noblen Charakters interpretiert, der einen „moralische[n] Rigorismus“91 verrate: Der Schluß läßt sich weder mit den Fortschrittsvisionen, noch mit den Ansprüchen an eine moralisch gerechte Weltordnung in Einklang bringen. Allerdings klingt nach Keller der Schluß versöhnlich aus.92 Diese verklärende Versöhnung, die durch den Rückbezug auf die grüne Natur zustande kommt, zeigt aber nur an, daß hier keine absoluten und prinzipiell unauflösbaren Gegensätze zwischen dem Individuum und der Natur und Gesellschaft vorliegen. Trotzdem kommt es, was die Biographien von Heinrich und seiner Mutter betrifft, zu einer Diskrepanz zwischen dem Romanende und dem allgemein projektierten ______________________
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Kellers eigenes Urteil über seinen Helden mag hier als Stütze dienen: Es sei „im Grunde kein Dolus [kein böser Vorsatz, keine Arglist; P.A.] in ihm“ (25.6.1855 an Hermann Hettner. In: GB1, S. 414). Muschg zitiert nach Rohe (1993): Roman aus Diskursen, S. 187. Müller (1988): Wiederlesen, S. 75. Vgl. Keller an Eduard Vieweg am 28.4.1853. In: GB 3/2, S. 69.
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„Ziele“ der Weltgeschichte. Wie Heinrichs Tod als positiver Beitrag auf dem Weg zu diesem Ziel aufgefaßt werden kann, wird nicht deutlich.
3 Der grüne Heinrich (2. Fassung, 1879/80) Fünfundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen der ersten Fassung des Grünen Heinrich hatte Keller die tiefgreifende Umarbeitung seines Romans abgeschlossen. Die Pläne hierzu reichten bis auf die Zeit kurz nach der Fertigstellung der Erstfassung zurück.93 Bekanntlich beklagt Keller schon im Vorwort zur ersten Fassung eine „gewisse Unförmlichkeit“ (GH1, S. 10) des Romans, was an der zu lang geratenen „Selbstbiographie“ (GH1, S. 10) des Helden liege, die in den „eigentlichen Roman“ (GH1, S. 10) eingeschoben sei. In einem Brief an Hermann Hettner vom 14. Februar 1854 denkt Keller dann über „eine gelegentliche Umarbeitung und Kürzung“94 nach. Kellers Pläne für eine Neubearbeitung wurden dann Anfang der 1870er Jahre durch den Briefwechsel mit dem Literaturhistoriker Emil Kuh entscheidend gefördert. Im Brief an Kuh vom 3. April 1871 formuliert Keller die wichtige Alternative, den Roman entweder ökonomisch abzurunden oder aber formal zu öffnen: Entweder könnte man die Komposition in aller Gemütsruhe sorgfältiger ausbauen und abrunden, gleichzeitig durch gute Ökonomie etwas knapper und dadurch pikanter halten; oder man müßte die abgeschlossene Form ganz aufgeben und dem Roman einen künstlich fragmentarischen Anstrich verleihen, so daß alles drin stünde, was man sagen will, ohne daß der Rahmen fertig ist.95
Keller ist sich demnach unschlüssig, wie er den Roman weiter entwickeln soll. Einer formalen Rundung steht die Idee einer Öffnung des „Rahmen[s]“ gegenüber, so daß der Roman absichtlich zu einem Fragment werden würde. Der letzte Gedanke ist überraschend. Eine nachträgliche Fragmentarisierung eines bereits fertigen Werks kennen wir aus der literarischen Moderne, nicht aber aus dem poetischen Realismus. Zu denken wäre etwa an Hugo von Hofmannsthal, der seinen Fünfakter Das Bergwerk zu Falun 1899 vollständig niederschrieb, aber nur den ersten Akt in den Druck gab. Das ganze Stück wurde in Fragmenten veröffentlicht und erst 1933 vollständig bekannt. Mathias Mayer beschreibt die „nachträgliche Fragmentarisierung“ als Merkmal einer modernen Ästhetik des Fragments: „Einem mindestens zu Ende geschriebenen, bisweilen aber ______________________
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Die folgenden Informationen unter Zuhilfenahme des Kapitels „Entstehung“ aus Villwocks Kommentar der Zweitfassung. Vgl. GH2, S. 865–884. Keller an Hermann Hettner am 14.2.1854. In: GB1, S. 390. Keller an Emil Kuh am 3.4.1871. In: GB3/1, S. 156.
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gar gedruckten oder aufgeführten Werk wird durch nachträgliche Fragmentarisierung die Vollständigkeit genommen, weil die umfangreichere Version offenbar poetisch weniger gelungen wirkt als einer ihrer Teile.“96 Das Besondere an dieser Sichtweise liegt darin, daß die festen Grenzen zwischen abgeschlossenem Werk und offenem Fragment verschwimmen. Es gelte, so Mayer, „den Fragmentcharakter des Werkes und dessen Umkehrung, den Werkcharakter des Fragments, ernstzunehmen.“97 Keller hat den Grünen Heinrich zwar nicht in ein offensichtliches Fragment umgearbeitet, aber die Offenheits-Alternative hat er gleichwohl auf ganz unterschiedlichen Textebenen realisiert und damit seinem Werk einen Fragmentcharakter verliehen. Auffallend ist bereits, daß in der Folgezeit der Anfang und das Ende der Neufassung, also ihr ‚Rahmen‘, für Keller entscheidende Probleme bleiben. Der Entschluß, mit der Autobiographie der Jugendgeschichte zu beginnen, fällt erst am 6. September 1878, als Theodor Storm diesem Vorschlag ausdrücklich zustimmt. Das Ende von Heinrichs Geschichte hängt natürlich mit der Erzählperspektive zusammen. Soll Heinrich seine ganze Geschichte in der Form von zwei Autobiographien (1. Jugendgeschichte; 2. Münchener Erlebnisse und weitere Zeit) erzählen, so muß er leben bleiben.98 Doch wie er fortlebt, ist damit noch nicht gesagt. Während Keller die erste Fassung von Beginn an auf den Tod des Helden hinschrieb, so beginnt nun die Umarbeitung Anfang 1878 offenbar, ohne daß Keller um das genaue Ende seines Helden wüßte.99 In einem Brief an Storm vom 25. Juni 1878 spricht er davon, daß Heinrich „still und dunkel“ fortlebe, „durch einen Unfall der Hülfe und Pflege bedürftig.“100 Dann kehre Judith aus Amerika zurück, so daß sich noch ein „kurzer Abendschein in den beiden Seelen“101 bilde. Auch ein Paralipomenon (Nr. 5) hält einen Unfall als markanten Endpunkt von Heinrichs Lebensgeschichte fest: „Resignation der Arbeit im Dunkeln, unbekannt bleibend, geringe Dinge verrichtend (?) Fehltritt auf der Treppe, mit Erscheinung Judiths verbunden.“ (GH2, S. 886) Kellers Phantasie scheint hier von Vischers Auch Einer angeregt zu sein, dessen Held Albert täglich mit ähnlichen Widrigkeiten zu kämpfen hat. Mit der Verbindung von Heinrichs dem Zufall preisgegebenen Weiterleben und Judiths Rückkehr ______________________
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Mathias Mayer: Zwischen Ethik und Ästhetik. Zum Fragmentarischen im Werk Hugo von Hofmannsthals. In: Hofmannsthal Jahrbuch. Zur europäischen Moderne 3 (1995), S. 251–274. Hier S. 254. 97 Mayer (1995): Zwischen Ethik und Ästhetik, S. 252. 98 Der Vorschlag einer durchgehenden Umarbeitung in die Ich-Form stammt von Emil Kuh. Vgl. seinen Brief vom 25.7.1871 an Keller (GB3/1. Bes. S. 159). 99 Peter Villwock setzt in seinem Kommentar der Neufassung den Beginn der Umarbeitung auf Ende 1877 oder Anfang 1878 fest. Vgl. GH2, S. 875. 100 Keller an Theodor Storm am 25.6.1878. In: GB 3/1, S. 421. 101 Keller an Theodor Storm am 25.6.1878. In: GB 3/1, S. 421.
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möchte Keller wohl gleichzeitig eine Öffnung und Schließung der Komposition erreichen. Als vereinzeltes Ereignis würde das Unglück die Veränderlichkeit und Fragilität von Heinrichs Leben betonen, während Judiths Rückkehr ein bereits eingeführtes inhaltliches Element zum Abschluß brächte. Abrundung und offener Rahmen, früher als Alternativen formuliert, würden so in verschiedenen Ereignissträngen des Textes gleichzeitig verwirklicht sein. Auch wenn die Idee, Heinrich von der Treppe stürzen zu lassen, nicht verwirklicht wurde, so bleiben doch das Weiterleben von Heinrich und die Rückkehr Judiths aufeinander bezogen: „Ich lasse den Hering leben und mit der Judith-Figur aus der ersten Hälfte wieder zusammenkommen“102, so der Autor in einer für ihn typisch flapsigen Wendung. Wie genau Keller den Schluß nun ausführt, werden wir noch ausführlicher behandeln, weil er für die erzählteleologischen Schemata von großer Wichtigkeit ist. Die Umarbeitung des letzten Bandes des Grünen Heinrich fiel Keller besonders schwer. Die ersten drei Bände waren schon Weihnachten 1879 gedruckt und im Handel, den Schluß des Buches schickte er aber erst am 22. September 1880 an seinen Verleger Ferdinand Weibert. Die Neuausgabe des Grünen Heinrich war somit erst Weihnachten 1880 vollständig im Buchhandel erhältlich. Schon die Erstfassung war durch die Krise der Realteleologie geprägt, wie sie durch Feuerbach vermittelt wurde. Vorsehung und Vorherbestimmung konnten keine Orientierung für den Handelnden mehr bieten, da sie sich als Projektion des Subjekts erwiesen. Gleichwohl waren Fortschrittskonzepte und eine pantheistisch aufgefaßte Natur Größen, die Kontingenz zu reduzieren vermochten: Heinrich als Individuum sollte untergehen, ja der ganze Roman war auf dieses Ziel hin geschrieben. Doch damit ging Heinrich einerseits in die Natur ein, andererseits wurde die Tragik seines Todes durch eine aufstrebende politische Entwicklung relativiert. Daß sich die Krise der Realteleologie in den 1870er Jahren noch verschärfte, konnten wir bereits im wissenschaftsgeschichtlichen Kapitel feststellen. Keller war mit der popularisierten Form des Darwinismus sicher vertraut. Das zeigen nicht nur die Darwin-Anspielungen in den Zürcher Novellen, im Sinngedicht und im Martin Salander. Ebenso stand Keller im Austausch mit Vischer, las dessen Roman Auch Einer wie auch Straußens Abhandlung Der alte und der neue Glaube. Auch die Folgeprobleme für die Erzählliteratur nehmen offenbar zu oder werden eingehender bedacht, was sich an der zweiten Fassung des Grünen Heinrich ablesen läßt. War die erste Fassung eine „Protestation“ ______________________
102 Keller an Paul Heyse am 9.11.1879. In: GB3/1, S. 39.
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gegen die Vorsehung und blieb ihr damit in negativer Weise verhaftet, so versucht die Altersfassung, einen dritten Weg zu gehen. Durch Streichungen und bestimmte erzählerische Verfahren suspendiert Keller teilweise die Erzählteleologie, die in der ersten Fassung trotz ihrer negativen Pointe stark ausgeprägt war. Dies ist schon daran zu sehen, daß sich Keller über das Ende seines Helden beim Beginn der Umarbeitung nicht im Klaren war. Die Veränderungen, die dem Helden widerfahren, sind kontingent geworden, so daß mehrere Erzähl-Enden möglich erscheinen. Aus dem Problem, das in der ersten Fassung innerhalb des Schemas des Bildungsromans reflektiert wurde, ist ein Erzählproblem geworden. Wie kann Literatur eine nun endgültig kontingente Wirklichkeit wiedergeben? Kann sie den Zufall darstellen? Wie hat sie mit der ihr eigenen Funktionalität umzugehen, die sich in der Wirklichkeit nicht mehr findet? Diese Fragen, die Vischers Auch Einer prägen, bewegen Keller ebenfalls. Allerdings geht er sie anders an und löst die entstehenden Erzählprobleme auf andere Weise. Die vorgenommenen Veränderungen, die Erst- und Zweitfassung unterscheiden, wurden häufig einfach auf die Resignation des alternden Dichters oder auf problematische politische Veränderungen der Schweiz zurückgeführt. Gerade negative politische Erscheinungen konnten aber in der Erstfassung als fortschrittsdienliche Momente verstanden werden. Zudem läßt sich so nicht erklären, warum sich gerade das Naturbild gravierend geändert hat. Naheliegend erscheint es deshalb, den Grund für den neuerlichen Kontingenzschub in einer veränderten, zunehmend ateleologischen Natur- und Wirklichkeitswahrnehmung zu sehen. Schließlich ist zu bedenken, in welchem Verhältnis die Zweitfassung zur Urfassung und zum Spätwerk steht. Hier zeichnet sich eine neue Offenheit des Werks ab: Zum einen ist es transparent auf die erste Fassung, ja diese muß zur adäquaten Rezeption der Zweitfassung hinzugezogen werden. Zum anderen öffnet sich die Zweitfassung zu anderen Werken wie dem Martin Salander, wird gleichsam in letzterem fortgeschrieben. Das Werk als autarke Einheit wird relativiert zugunsten eines Schreibprozesses, der in allen seinen Stufen Relevanz besitzt. Vereinfachend lassen sich folgende Unterschiede zwischen den beiden Fassungen benennen: Keller stellte die schon in der Erstfassung in der Ich-Form niedergeschriebene Jugendgeschichte an den Anfang. Der schreibende Heinrich ist nun ein wenig älter als in der Erstfassung, nämlich ungefähr 25 Jahre alt, weil er seine Jugenderlebnisse erst in der Münchener Zeit zu Papier bringt (vgl. GH2, S. 664).103 Die Jugendge______________________
103 Zur Bestimmung des Alters des schreibenden Heinrichs in der Zweitfassung vgl. Hartmut Laufhütte: Gottfried Keller: Zu spät im Rosenhaus. Die beiden Fassungen des Romans Der grüne Heinrich. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich - Linz 4 (1997), S. 45–57. Bes. S. 55.
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schichte weist nur „kleinere Änderungen“ (GH2, S. 973) sowie Streichungen auf, die Keller direkt im Druckexemplar vornahm. Der zweite, von einem heterodiegetischen Erzähler berichtete Teil wurde hingegen ganz in die Form der Autobiographie umgearbeitet und neu geschrieben. Nur etwa 20 Prozent der Erstfassung wurden in diesem Teil unverändert übernommen (vgl. GH2, S. 977). Die Neufassung besteht also aus zwei Teil-Autobiographien, die Heinrich zu unterschiedlichen Lebensabschnitten verfaßt. Den zweiten Teil schreibt Heinrich mit etwa 50 Jahren, so daß zwischen der Anfertigung der beiden fiktiven Autobiographien ungefähr 25 Jahre liegen. Inhaltlich läßt sich ein markanter Unterschied in einer Fechtszene ausmachen, in der Heinrich in der Erstfassung den Freund Lys tödlich verwundet hatte. Nun endet sie nicht mehr tödlich. Des weiteren wurde der Schluß vollkommen neu geschrieben, da Heinrich am Leben bleibt und Judith zurückkehrt. Neben vielen gewichtigen Änderungen im Detail fallen besonders die neu eingefügten Episoden, Allegorien und sonstigen Einschübe auf. Bislang hat die Forschung versäumt, nach einer Erklärung der Umarbeitung und ihrer Schwierigkeiten zu fragen. Diese Darstellung will in den Überarbeitungsvorgängen eine einheitliche Strategie erkennen, mit der Keller auf Veränderungen im zeitgenössischen Wissenskontext reagierte. 3.1 Abbau der Erzählteleologie 3.1.1 Fragmentarische Offenheit des Textes und der Prozeßcharakter des Schreibens Wurden in der Vergangenheit beide Fassungen miteinander verglichen, ist es häufig um Rangfragen gegangen. So etwa bei Emil Ermatinger, der zum Ergebnis kommt, mit der Zweitfassung habe Keller den Grünen Heinrich „als Ganzes erst zum Kunstwerk erhoben“104 Im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert rückte dann die Erstfassung wieder in den Vordergrund, der bescheinigt wurde, „frischer, spontaner und authentischer zu sein.“105 Wie schon Rolf Selbmann feststellte, ist der Streit über den Qualitätsrang „müßig“.106 Blendet man allerdings die Qualitätsfrage aus, dann wird die Frage um so dringlicher, wie sich der Leser den beiden Fassungen gegenüber verhalten solle. Wenn die zweite Fassung nicht als Vollendung des in der Erstfassung Angelegten gelesen wird, soll der Leser dann die erste ______________________
104 Ermatinger (1924): Keller, S. 585. 105 Müller (1988): Wiederlesen, S. XVII. 106 Vgl. Rolf Selbmann: Gottfried Keller. Romane und Erzählungen. Berlin 2001, S. 137.
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oder die zweite Fassung zur Hand nehmen oder sogar beide nebeneinander legen?107 Keller selbst wollte nach der Fertigstellung der Zweitfassung von der ersten nichts mehr wissen. Nach Baechtold soll er gesagt haben: „Die Hand möge verdorren, welche je die alte Fassung wieder zum Abdruck bringt!“108 Doch hat man die Drohung des Dichters nicht ernst genommen, so daß heute beide Ausgaben im Buchhandel gut greifbar sind und ihren Platz in den neueren Werkausgaben gefunden haben. Nach Dominik Müller ist die Zweitfassung eine „Revision“109 der ersten Fassung. Ihr ist die „Konfrontation mit der Urfassung eingeschrieben“.110 Damit ist zunächst gesagt, daß man die Zweitfassung nur dann angemessen verstehen kann, wenn man die Erstfassung hinzuzieht, um die Korrespondenzen herauszuarbeiten. Beide stehen in einem Verhältnis der Intertextualität, das durch Dialogizität geprägt ist. Dies bedeutet aber, daß sich die Zweitfassung nicht abschließt gegen ihre Urfassung, sondern diese in produktiver Weise einbezieht. Die Beispiele hierfür sind zahlreich und harren noch einer Systematisierung. Vergleichsweise einfach zu bestimmen ist etwa der Fall, in dem sich Heinrich in der Erstfassung über den sinnvollen und teleologischen Geschichtsverlauf Gedanken macht (vgl. GH1, S. 695f.). Diese Passage wird in der Zweitfassung gestrichen und durch eine Stelle ersetzt, in der der Erzähler eingesteht, seine geschichtlichen Reflexionen zu „platten Sprüchwörtern“ (GH2, S. 635) zusammengefaßt zu haben. Ohne die Erstfassung hinzuzuziehen geht die Pointe der Zweitfassung verloren. Die Abqualifizierung von Heinrichs Gedanken referiert auf die Geschichtsreflexion aus der ersten Fassung. Erst wenn beide Fassungen nebeneinander gehalten werden, kann die Dialogizität der Texte zum Tragen kommen. Eine Alternative für Keller wäre gewesen, die fragliche Stelle kommentarlos zu streichen. Doch Keller nutzt die Möglichkeit, die die Referenz auf die Urfassung bietet. An dieser Stelle hat das Alterswerk tatsächlich eine Kommentarfunktion für die Erstfassung. Daß sie sich darin nicht erschöpft, zeigen die weiter unten behandelten Fassungsunterschiede, die Fechtszene und Dorotheas Loskörbchen. Dies bedeutet wiederum, daß sich Kellers Schreibvorgang am besten verstehen läßt, wenn man ihn sich nicht als Ausarbeitung eines abgeschlossenen ‚wasserdichten‘ Ganzen vorstellt, als Verbesserung der ersten Fassung, sondern eher den unabschließbaren und veränderlichen Prozeß des Verfertigens betont. Keller selbst hat unter dem Druck, dem Verleger ______________________
107 Laufhütte versteht die von ihm bevorzugte zweite Fassung als „konsequentere Verwirklichung des in jener [der ersten Fassung; P.A.] Angelegten“ [Laufhütte (1997): Keller, S. 46]. 108 Ermatinger (1924): Keller, S. 586. 109 Müller (1988): Wiederlesen, S. XIV. 110 Müller (1988): Wiederlesen, S. XV.
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und dem Lesepublikum einen abgeschlossenen Roman zu präsentieren zu müssen, sehr gelitten. Gegenüber Storm klagt er in der Endphase der Arbeit an der zweiten Fassung: Der bloße Gebrauch von Blaustift und Schere wäre das Einfachste und Glücklichste gewesen; allein es wird ja gar nichts Fragmentarisches mehr gelitten, und selbst gegen das verzögerte Erscheinen eines Schlusses erfährt man das roheste materielle Räsonieren und Drängeln von seite derer, die den Anfang mit ihrer Aufmerksamkeit beehrt haben. Das war vor hundert Jahren doch anders. Ein Goethe durfte den „Wilhelm Meister“ liegen lassen, ein Schiller den „Geisterseher“ ganz abbrechen, ohne so geplagt zu werden, und man vergnügte sich an dem, was da war.111
Wieder taucht, ähnlich wie in dem Brief an Emil Kuh, der Gedanke an eine fragmentarische Offenheit des Textes auf. Keller hat mit seiner Aussage, daß „nichts Fragmentarisches mehr gelitten“ werde, recht. Das gewollte Fragment ist in der zweiten Jahrhunderthälfte des 19. Jahrhunderts kaum anzutreffen. Bezeichneten sich im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts mindestens 39 Werke im Titel als Fragment, so findet man in den 1870er Jahren kaum mehr sechs Titel.112 Verklärung bedeutet ja nicht zuletzt, das Werk zu einem abgeschlossenen Ganzen zu runden. Eben dagegen wehrt sich Keller zunehmend und unterläuft dieses Ansinnen, indem er beispielsweise die Erstfassung in die Zweitfassung einschreibt. Dies wird exemplarisch daran deutlich, daß Interpreten wie Laufhütte durch den Tod von Albertus Zwiehan in der Zweitfassung nicht etwa an eine Figur aus demselben Roman erinnert werden, sondern an Heinrichs Tod aus der ersten Fassung.113 Die Textgrenzen der Zweitfassung sind nicht nur gegenüber der Erstfassung durchlässig. In der Altersfassung finden sich auch neue Einschübe, die in enger Beziehung zum Martin Salander (1886), also zu einem späteren Werk, stehen. Die anekdotenhafte Erweiterung des RevalentaArabica-Beispiels bezeugt dies. Wäre sie nicht stilistisch so ausgereift, sie könnte als Entwurfsnotiz zum Martin Salander gelesen werden. Sie wird nur ganz locker in den neuen Text des Grünen Heinrich eingebunden. Nach der ebenfalls veränderten Schilderung der Geschäftstätigkeit eines Unternehmers fügt die Zweitfassung an, daß es nicht nur arbeitsreiche Tage, sondern auch „Tage der Erholung“ gebe. Nach einer exemplarischen Veranschaulichung wird durch ein „oder“ ein weiteres Beispiel, eine Hochzeit, angeführt. Die Schilderung der Hochzeit und besonders die ______________________
111 Keller an Theodor Storm am 13.6.1880. In: GB 3/1, S. 449. 112 Vgl. den Artikel Fragment. In: Ästhetische Grundbegriffe. 7 Bde. Hg. von Karlheinz Barck u.a. Stuttgart, Weimar 2000ff., Bd. 2, S. 551–588 (Justus Fetscher). Hier S. 577. 113 Vgl. Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 211.
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Rede, die auf der Feier gehalten wird, erinnert stark an die Hochzeitsfeier im Martin Salander. Im Grünen Heinrich hält der Brautvater die Rede: Bald aber tritt lautlose Stille ein, als der Brautvater an das Glas schlägt und mit bescheidener Rührung, ohne das Schicksal herauszufordern, seinen Lebensgang schildert und das höhere Walten preist, das ihn, den Unwürdigen, so weit geführt habe, wie jetzt allen Augen sichtbar sei. Mit nacktem Wanderstabe, der noch im stillen Kämmerlein aufbewahrt werde, sei er einst in diese werte Stadt gekommen und habe Schritt für Schritt mit Not und Sorge, aber unverdrossenem Fleiße gekämpft und öfters fast den Mut verloren; allein die edle Gattin, die Mutter seiner Kinder zur Seite, habe er sich immer wieder aufgerichtet und seine Blicke auf das Eine, das Große geheftet, was da not getan! Einsame lange Nächte hindurch habe er mit dem schöpferischen Gedanken gerungen, dessen Früchte nun einer Welt zum Segen gereichen und allerdings nebenbei auch sein redliches Streben gelohnt, einen bescheidenen Wohlstand bereitet haben u. s. w. (GH2, S. 647f.)
Das „u. s. w.“, mit dem der Einschub endet, ist schon für sich genommen eine Provokation, wenn man den Maßstab eines abgerundeten Kunstwerks zugrunde legt. Keller hätte an dieser Stelle noch weiterschreiben können, was er deutlich markiert. Mehr noch: Er tat es auch, nämlich im Martin Salander: Dort hält der Pfarrer die Festrede anläßlich der Hochzeit von Settchen und Nettchen: Er schlug mit dem Messerrücken kräftig an das Glas, blickte gebieterisch umher, bis das Tellerklappern nachließ, unterstützt durch Silentiumrufen, und erhob dann die weithin tönende Stimme. Seine Toastrede bildete die Ergänzung der gehaltenen Predigt. Erst schilderte er das Elternhaus der soeben vermählten Jünglinge, den schlichten Landmann, der im Verein mit der rastlosen Hausfrau sich zu bescheidenem Wohlstande emporgeschwungen, aber wozu? Nur um das blühende Knabenpaar, welches der im All waltende Gott in christlichem Ehestande ihnen aus reicher Hand geschenkt, des Segens der Schulanstalten teilhaftig werden zu lassen […]. „Treten wir hinüber in das bräutliche Haus, was sehen wir da? Auch einen aus dem Volke hervorgegangenen Mann, der sich durch Fleiß und Intelligenz emporgeschwungen und gegen alle Schicksalsschläge immer wieder erhoben hat, höher als vorher. In fernen Weltteilen ums Dasein kämpfend, kehrt er immer wieder mit der gerechten Siegesbeute zu den Seinigen zurück, zu den Kindern, die ihm die Gattin, ein Muster edler Weiblichkeit, treulich erzieht. Ein geachteter Handelsherr, ist er jetzt ein reicher Mann, ein Großer unter den Großen. Was tut er? Baut er sich Paläste und Villen? Fährt er in Kutschen, hält er Pferde, wie die Anderen seinesgleichen? Nein, er kennt schönere Freuden! […].“114
Das Anschlagen des Glases, der Bezug des Geschehens zum „höheren Walten“, der Aufstieg des Brautvaters, der sich seinen Reichtum „erkämpfen“ mußte, seine Frau und die Kinder: Diese Parallelen bringen beide Texte in einen engen Zusammenhang. Was Keller im Grünen Heinrich auf ______________________
114 Gottfried Keller: Martin Salander. In: KSW, Bd. 6, S. 383–699. Hier S. 536.
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einer Druckseite fragmentarisch schildert, hat er auf ungefähr 26 Seiten ausführlicher im Martin Salander beschrieben. Der Grüne Heinrich als Roman verliert durch die locker eingefügte Szene einen Teil seiner Textkohärenz. Mit „oder“ läßt sich schließlich alles Mögliche an einen Text anfügen. Allerdings verweist der Einschub durch den „Wanderstab“ und die Ankunftsszene in der Stadt wieder auf Motivkreise, die für den ganzen Roman wichtig sind: Vor allem die Figur von Heinrichs Vater wäre in diesem Fall einschlägig. Dies ist ein Hinweis darauf, daß die Zweitfassung Textkohärenz in verstärktem Maße über Motivverweise herstellt,115 eben weil die kompositorische Motivierung einzelner Textpassagen unzureichend ist. Sie sind künstlerisch nicht notwendig für den Roman und verweisen eher auf andere Texte als auf das Ende des Grünen Heinrich. Der Abbau der Erzählteleologie läßt sich so auf der Ebene des Schreibprozesses ausmachen. Er zielt nicht mehr auf den Vollendungszustand eines Textes als geschlossenes Ganzes; vielmehr läßt Keller den Roman ‚offen‘, „so daß alles drin stünde, was man sagen will, ohne daß der Rahmen fertig ist.“116 Es gilt, diese Technik als spezifisch moderne Schreibstrategie zu verstehen, die in letzter Konsequenz inkompatibel mit dem Rundungs-Anspruch des programmatischen Realismus ist. Die Entteleologisierung des Schreibvorgangs führt zu einem latent fragmentarischen Text, der in verstärkter Weise durch Motivverweise zusammengehalten wird. Der Text läßt sich als Sediment eines Prozesses verstehen, der etwa in Passagen des Martin Salander weitergeführt wurde. Rangfragen der Fassungen sind in dieser Perspektive nicht von entscheidender Bedeutung. Es käme mehr auf das permanente umarbeiten und weiterschreiben an, das Textgrenzen überschreitet. Dies entspricht wiederum dem, was Mathias Mayer bei Hofmannsthal als „Prozeß einer anhaltenden Fragmentarisierung“ beschreibt, bei dem es auf „den Widerruf des Werkes und seine Fortschreibung in anderen Texten und Kontexten“117 ankomme. Das Fragmentarische ist bei Keller noch kein „narratives Programm“118, wie Achim Aurnhammer für Hofmannsthals AndreasFragment feststellt. Gleichwohl wird es als Erzählform in Erwägung gezogen und, wie hier angedeutet, in den Grenzen, die das Literatursystem des poetischen Realismus vorgibt, umgesetzt. ______________________
115 Villwock stellt dies in erhöhtem Maße für die Zweitfassung fest. In ihr entstehe „ein unendliches Beziehungsspiel der Motivfäden und ihrer Überkreuzungen“ (GH2, S. 961). 116 Keller an Emil Kuh am 3.4.1871. In: GB3/1, S. 156. 117 Mayer (1995): Zwischen Ethik und Ästhetik, S. 255. 118 Achim Aurnhammer: Hofmannsthals „Andreas“. Das Fragment als Erzählform zwischen Tradition und Moderne. In: Hofmannsthal Jahrbuch. Zur europäischen Moderne 3 (1995), S. 275–296. Hier S. 295.
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Diese Betrachtungsweise, die sich auf den Schreibprozeß richtet, wirft endlich auch ein neues Licht auf das Problem der Schlußgebung.119 Selbst wenn zuzugestehen ist, daß Keller oft unter Zeitdruck arbeitete, so ist die bei ihm allgegenwärtige Krise der Schlußgebung nicht allein auf Zeitnot zurückzuführen, sondern ein wichtiges Moment in der Krise der Erzählteleologie. Dies vermag das Beispiel Martin Salander zu veranschaulichen:120 Der Roman erschien zuerst in Fortsetzungen in der Deutschen Rundschau. Keller vergaß, daß der Jahrgang 1886 bereits mit dem Septemberheft endete, so daß der intendierte Schluß keinen Platz mehr fand und ein behelfsmäßiger gedruckt wurde. In einem Brief stellt er die folgende überraschende Erwägung an: Sodann aber ist der Schluß des Buches fraglich geworden. Die ursprünglich tendierten Schlußkapitel fanden in der „Rundschau“ nicht mehr Raum, da mit September der Jahrgang abgeschlossen wird, was ich nicht bedacht hatte. Ich brach deshalb an geeigneter Stelle ab. Wenn nun die Lesewelt nichts vermißt und den Schluß, wie er ist, akzeptiert, so werd’ ich es dabei bewenden lassen. Werden aber gegenteilige Stimmen mir vernehmlich, so will ich den Schluß in der früher beabsichtigten Gestalt doch noch ausführen, was eine Vermehrung des Umfanges von 1 – 2 Bogen höchstens verursachen wird und bequem während des Druckes geschehen kann.121
Keller spielt also mit dem Gedanken, den Schluß in der abgebrochenen Gestalt auch in die Buchausgabe aufzunehmen, wenn ihm kein Einwand von Leserseite zu Ohren kommt. Dies war aber offenbar der Fall, denn Keller führte das Ende breiter aus und schickte im November 1886 „den Schluß des ‚Salander‘, wie er jetzt aussieht“122, an den Verleger Wilhelm Hertz. Doch Keller war auch mit diesem Schluß nicht glücklich, wie weitere Briefe zeigen.123 Seine Unzufriedenheit gipfelte in dem Projekt, „einen An- und Ausbau“124 zu schreiben. Über das Fortsetzungsprojekt berichten übereinstimmend seine Gesprächspartner der letzten Lebensjahre.125 Zu dem zweiten Band des Salander ist es nicht mehr gekommen. Aber die ganze Frage der Schlußgebung zeigt, daß Keller keinen definitiven Abschluß für den Roman finden konnte. Auch dieser Stoff könnte ins Endlose fortgeschrieben werden, weil die Teleologie als Strukturmuster ______________________
119 Vgl. dazu Peter Utz: Der Rest ist Bild. Allegorische Erzählschlüsse im Spätwerk Gottfried Kellers. In: Jürgen Söring (Hg.): Die Kunst zu enden. Frankfurt am Main, Bern u.a. 1990, S. 65–77. 120 Vgl. das Kapitel „Entstehung“ im Anhang des Martin Salander. In: KSW, Bd. 6, S. 1059– 1063. 121 Keller an Wilhelm Hertz am 3.10.1886. In: GB3/2, S. 454. 122 Keller an Wilhelm Hertz am 14.11.1886. In: GB3/2, S. 457. 123 Z.B. Keller an Käte Kroeker-Freiligrath am 8.8.1887. In: GB2, S. 370. 124 Keller an Theodor Storm am 29.12.1886. In: GB3/1, S. 501. 125 Vgl. den Kommentar zum Martin Salander. In: KSW, Bd. 6, S. 1062.
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für Wirklichkeit irrelevant geworden ist. Der Roman blieb selbst mit dem breiter ausgeführten Schluß in gewisser Weise offen, ein Fragment. Kellers Schreibprogramm, wie es hier skizziert wurde, legte er der zurückgekehrten Judith in den Mund: „Alles das erzählte sie bruchstückweise und ungezwungen mit solcher Kurzweiligkeit, daß wir nicht müde wurden, zuzuhören, zumal jedes Wort den Stempel der Wahrheit an sich trug.“ (GH2, S. 856) Wir wenden uns nun dem neuen Schluß der Altersfassung des Grünen Heinrich zu, um nach seiner Bedeutung für den Abbau der Erzählteleologie zu fragen. 3.1.2 Die neuen Enden der Romanhandlung Wurde in der ersten Fassung des Grünen Heinrich Kontingenz dadurch simuliert, daß erzählteleologische Schemata verwendet und gebrochen wurden, so versucht die Zweitfassung durch eine Reihe von weiteren Maßnahmen, die Erzählteleologie selbst zu schwächen. Schon Dominik Müller kam zu dem Ergebnis, daß in der Zweitfassung „das teleologische Verlaufsschema viel gründlicher in Frage gestellt [werde; P.A.] als in der Urfassung, wo erzählt wird, wie einer das gesetzte Ziel nicht erreicht.“126 Ganz entscheidend trägt dazu das neue Ende des Romans bei. Der Roman schließt weder mit dem Tod des Helden noch durch ein schon für die Erstfassung abgelehntes „summarisches Heiratskapitel“.127 Obwohl schon im 18. Jahrhundert unter Trivialitätsverdacht, was man nicht zuletzt an Goethes Wilhelm Meister sehen kann, hatte Blanckenburg letzteres als „so ganz übel nicht“ (V, S. 395) bezeichnet. Vielmehr führt der Protagonist mit der zurückgekehrten Judith eine Beziehung [einen „Bund“ (GH2, S. 861)], die wesentlich durch sich verändernde Umstände geprägt und deshalb dem Zufall ausgesetzt ist. Dies gilt schon für den Wohnort der beiden und, damit zusammenhängend, für ihre Treffen: Wenn ich den Wohnort verändern mußte, so ist sie [Judith; P.A.] mir das einemal gefolgt, das andere nicht, aber so oft wir wollten, haben wir uns gesehen. Wir sahen uns zuweilen täglich, zuweilen wöchentlich, zuweilen des Jahres nur einmal, wie es der Lauf der Welt mit sich brachte; aber jedesmal, wo wir uns sahen, ob täglich oder nur jährlich, war es uns ein Fest. (GH2, S. 861f.)
Zwanzig Jahre führen die beiden so eine hoch kontingente Partnerschaft, ohne gegenseitige Verpflichtungen und Ansprüche. Sie entsagen einem „vollen und ganzen Glücke“ (GH2, S. 861), weil Judith in Amerika, so ______________________
126 Müller (1988): Wiederlesen, S. 87. 127 Keller an Hermann Hettner am 25.6.1855. In: GB1, S. 415.
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mutmaßt Heinrich, wohl entsprechende Erfahrungen gemacht hat. Weder in der Beziehung noch in der beruflichen Laufbahn gibt es eine Entwicklung hin zu einem Ziel, sondern nur noch durch Umstände bedingte Veränderungen. Symbolisch bringt dies Heinrich gleich nach dem Erscheinen von Judith auf den Punkt: „Indessen waren wir ohne Plan auf dem Pfade weiter gegangen, bald dicht an einander gedrängt, bald eins hinter dem andern, wie es der Raum erlaubte.“ (GH2, S. 853) Die Personen der Lebensreise kennen keinen Zielpunkt mehr, der die Reise abschließen könnte; vielmehr wandert das Pärchen, teilweise gemeinsam, planlos dahin; ihr Beisammensein wird durch äußere Faktoren maßgeblich bestimmt. In der Altersfassung gibt keinen „Beruhigungspunkt“ mehr, wie Blanckenburg ihn forderte, zu dem sich die geschilderten Ereignisse wie Mittel zu einem Zweck verhalten. In der Zweitfassung kommen weder die Figuren noch der Leser zur Ruhe. Ein Brief Kellers an Marie Melos zeigt prägnant, daß die Leseerwartungen auch durch den neuen Schluß nicht befriedigt wurden. Hier beklagt er sich, daß der neue Schluß auf noch weniger Gegenliebe bei den Kritikern stoße als der alte: Das Tollste ist, daß jetzt, nachdem ich ein Jahr redlich daran gearbeitet habe, um allerhand Ungeschmack auszumerzen, und nachdem 25 Jahre lang die Leute sagten, der Tod des Heinrich sei unmotiviert und gewaltsam, Kritiker kommen und behaupten, er müsse tot bleiben und die alte Ausgabe sei besser.128
Der letzte Absatz des neuen Schlusses führt den Leser auf die Zeitebene des Autobiographen: Er habe den zweiten Teil der Autobiographie geschrieben und der Jugendgeschichte angefügt, um noch einmal „die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln.“ (GH2, S. 862) Der Text endet mit seinem eigenen Aufgeschriebenwerden und damit in der erinnernden Vergegenwärtigung. Er endet nicht auf der Handlungsebene, sondern als „Metatext“.129 Selbst hier hat das „Wandeln“, nun in metaphorischer Bedeutung, das letzte Wort. Durch diesen neuen handlungsenthobenen Schluß erreicht Keller eine neue Art der kompositorischen Rundung.130 Der Leser wird auf das vorliegende Buch als Erinnerungstext und damit potentiell auf den Anfang verwiesen. Dies signalisiert ferner das Wiederaufgreifen der Leitfarbe „grün“, die auf den Titel verweist. Doch ______________________
128 Keller an Marie Melos am 29.12.1880. In: GB2, S. 398. 129 Utz (1990): Der Rest ist Bild, S. 72. 130 Müllers Feststellung, daß der Schluß der Altersfassung „[w]eniger abschließend“ [Müller (1988): Wiederlesen, S. 79] nicht sein könne, ist folglich nur auf der Handlungsebene zuzustimmen. Indem sich der schreibende Heinrich seinem erinnerten Leben zuwendet, ist eine gewisse Geschlossenheit erreicht, die beispielsweise nicht vorhanden wäre, wenn der Schreibende einen ängstlichen Ausblick in eine ungewisse Zukunft geben und der Roman damit schließen würde.
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sie ist uneigentlich, metaphorisch zu verstehen. Das grüne Gras, das in der Erstfassung das Grab überwucherte, war dagegen buchstäblich grün. Die Rundung war auf der Handlungsebene angelegt: Heinrich ging zurück in die beseelte grüne Natur. Der neue Schluß bringt eine formale Rundung, ohne daß dadurch der Trost eines inhaltlichen Schlusses mitgegeben wäre. Dieses Ende war offenbar noch unbefriedigender für die Leser als der Tod des Helden.131 Die neue inhaltliche Offenheit des Schlusses ist ebenfalls eine Folge der Realteleologiekrise. George Levine kam bereits zu demselben Ergebnis bezüglich des englischen Realismus. Auch er stellte das wachsende Unbehagen an der Rundung einer Geschichte in den Kontext der durch Darwin mitverursachten Teleologiekrise: The growing nineteenth-century dissatisfactions with closure – the most marked and inevitable feature of „plotting“ – are further reflections of this Darwinian movement away from teleology and, as I have suggested, toward a new kind of emphasis on continuing change.132
Nicht nur das Ende Heinrichs wird in der Altersfassung neu geschrieben, auch das andere, chronologische Ende der Urfassung, nämlich die über Heinrichs Tod hinaus geschilderte politische Entwicklung der Schweiz, wird in der Altersfassung verändert. Die Urfassung schilderte hier die Veränderungen auf der Grundlage eines teleologischen Geschichtsverständnisses, wie es sich auch in den Fortschrittskonzepten Heinrichs und des Erzählers äußerte. Reaktionäre Kräfte, die Erstfassung führte als Beispiel die Jesuiten an, waren keine selbständigen geschichtlichen Erscheinungen, sondern dienten nur dazu, Fortschritt zu generieren. Dieses hegelianische, realteleologische Deutungsmuster findet sich in der Spätfassung nicht mehr. Mit dem Wahrnehmungsmuster Teleologie fallen große Teile des historisch-politischen Endes des Grünen Heinrich weg. Was geblieben ist (vgl. GH2, S. 831, Z. 20–32), vermittelt den Eindruck von „fast anarchischen innenpolitischen Verhältnissen“.133 Wo Figur und Erzähler der Erstfassung in geschichtlichen Prozessen Teleologie wahrnahmen, sieht der Autobiograph der Spätfassung nur noch Veränderungen. Damit entfällt auch das Ziel dieser Entwicklungen als ein notwendiges und positives. Peter Villwock kam im Kommentar der Zweitfassung ______________________
131 Keller wußte wohl um die Qualität des neuen Schlusses. An Wilhelm Petersen schrieb er selbstbewußt am 13. Januar 1883: „Der neue Schluß ist indessen jedenfalls besser als der frühere. Nur hat er etwas zuviel von dem Inhalt, den die meisten nicht gleich verstehen. Es ist wie mit dem Brot, das sie nicht heiß fressen können.“ (GB 3/1, S. 395) 132 Levine (1988): Darwin among the Novelists, S. 19. 133 Müller (1988): Wiederlesen, S. 275. Allerdings wurde die Bezeichnung beibehalten, der zufolge die Umwandlung der Schweiz ein „organischer Prozeß“ (GH2, S. 831) sei. In der Erstfassung wurde er allerdings noch dazu als ein „in sich selbst bedingter organischer Prozeß“ mit „wohlproportionierten Verhältnissen“ (GH1, S. 883) charakterisiert.
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zu einem ähnlichen Ergebnis: „Der Fortschritt zum Besseren in Politik und Gesellschaft ist vom Rückschritt in die zivilisierte Barbarei kaum noch zu unterscheiden.“ (GH2, S. 945) Da Heinrichs Lebensreise am Ende des Buchs nicht zum Abschluß kommt, stellt sich die Frage, ob dies auch Auswirkungen auf die Odysseus-Anspielungen hat. 3.1.3 Heinrichs Odyssee: Vom Handlungsschema zur intradiegetischen Reflexionsfigur In der Urfassung wandelte Heinrich auf mythischen Spuren, die der Erzählung ihre triadische Gestalt gaben. Ausfahrt und Rückkehr bildeten einen natürlichen Rahmen und mit der Nausikaa-Episode erlebte Heinrich auch auf seiner Reise eine Station, die dem „ewigen Wesen der Menschheit“ entsprach. Die Zweitfassung läßt Heinrich nicht ankommen, weder topographisch noch in einem übertragenen Sinn. Die Nausikaa-Episode als gleichsam natürliche Lebensstation hat deshalb eine wesentliche Veränderung erfahren. Sie findet nicht mehr einfach statt, indem Heinrich ‚zufällig‘ in eine vergleichbare Situation kommt und sich dann an die Erklärung der Nausikaa-Stelle durch Römer erinnert. Nun spielt Dortchen auf die Episode an, indem sie vorgibt, mit dem Pfarrer und ihrer Vertrauten Röschen ein kleines Rollenspiel aufzuführen. Röschen und Dortchen „[…] machen unserm herrlichen Dulder Odysseus den Hof. Röschen stellt die Nausikaa vor, Sie [der Pfarrer; P.A.] die heilige Macht Alkinoos, des edlen Phäakenbeherrschers, und ich die Mama Arete, Tochter des göttergleichen Rexenor!“ (GH2, S. 774)
Dortchen hatte zuvor in Heinrichs Jugendgeschichte gelesen (vgl. GH2, S. 761) und ist hier wohl auf die Passage gestoßen, in der Römer die Nausikaa-Stelle erläutert und Heinrich ein ähnliches Schicksal vorhersagt. Offenbar hat sie auch noch einmal einen Blick in die Homer-Übersetzung von Voss geworfen, wie die genau zitierten schmückenden Beiworte nahelegen. Demzufolge ist es Dortchen, die Heinrichs Situation auf eine Stelle aus seiner Jugendgeschichte bezieht und zugleich eine Verbindung mit dem Text der Odyssee herstellt. Sie bezieht sich jedoch mit ihrem angedeuteten Rollenspiel nicht mehr auf die Stelle, als Odysseus schlammbedeckt vor Nausikaa auftaucht, sondern scheint auf spätere Verse anzuspielen, in denen geschildert wird, wie Odysseus am Hof des Alkinoos aufgenommen wird, wo er schließlich von seinen Reiseerlebnissen berichtet.134 Müller deutet die Veränderungen in der Zweitfassung ______________________
134 Vgl. Müller (1988): Wiederlesen, S. 49.
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dahingehend, daß es zu einer „Dynamisierung“135 der ursprünglich statischen Motivfolge komme. Diese Interpretation erscheint nicht ausreichend. In der Urfassung ist Heinrich auf einer närrischen Odyssee; sein Leben ist eine Reise, bestehend aus Anfang, Mitte und Ende. Diese Ganzheit wird vom Erzähler einfach vorausgesetzt und strukturiert den Text, indem er selbst Heinrichs Lebensgeschichte als Lebensreise begreift. Die Zweitfassung zeigt, wie eine Figur spielerisch intertextuelle Bezüge herstellt. Es ist Dortchen, die diese Referenzen wahrnimmt und damit Heinrichs Biographie auf die mythische Form der Lebensreise projiziert, heiter mit dem Bildungsgut spielend. Heinrichs Odyssee ist vom Handlungsschema zur intradiegetischen Reflexionsfigur geworden. Hierdurch muß Keller nicht ganz auf die Nausikaa-Anspielung verzichten, er macht aber deutlich, daß die Ganzheit der Lebensreise kein Muster der Wirklichkeit ist, sondern ein Wahrnehmungsschema. Hierdurch wird die Erzählteleologie insofern abgebaut, als die Konstruktion des teleologischen Schemas der Bildungsreise metaleptisch auf die Figurenebene verlagert wird, so daß der Leser jetzt beobachten kann, wer auf teleologische Schemata zurückgreift. Was man an der überarbeiteten Stelle im Vergleich zur Urfassung sehen kann, ist Brinkmanns Beobachtung, daß Ganzheiten im poetischen Realismus nur noch „hypostasierte Ganzheiten“ seien, die zum Zweck des Erzählens benötigt werden.136 Die Zweitfassung exemplifiziert anhand der Lebensreise die Hypostasierung einer solchen Ganzheit. Der Text gewinnt dadurch an Literarizität in dem Sinn, daß Keller Prozesse in Handlung übersetzt, die einst für das Verfertigen der Erstfassung relevant waren. 3.1.4 Der Abbau von Zielvorstellungen der Lebensreise Die erste Fassung formulierte für Heinrichs Bildungsreise klare Zielvorstellungen. Dies geschah durch Nebenfiguren, die Heinrich auf seiner Reise als Vorbilder dienten und vor deren Hintergrund der Leser Heinrichs Scheitern beurteilen konnte. Mit ihnen wurde „ein Maßstab etabliert, an dem Erfolge und Mißerfolge im Leben des Helden gemessen werden können.“137 Besonders galt dies für den Vater und einen Handwerksgesellen, der gemeinsam mit Heinrich auszog und in der Urfassung als gemachter Mann zurückkehrte.138 ______________________
135 136 137 138
Müller (1988): Wiederlesen, S. 49. Vgl. S. 258f. dieser Arbeit. Müller (1988): Wiederlesen, S. 55. Auf den Handwerksgesellen muß hier nicht weiter eingegangen werden. Vgl. hierzu Müller (1988): Wiederlesen, S. 50f.
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Der Vater ist in der Urfassung das Ideal eines allseitig gebildeten und stets tätigen uomo universale. Sein Leben folgt dem teleologischen Schema der Bildungsreise.139 Der Lebenslauf des Vaters wird am Anfang der Autobiographie eingeschoben, die Heinrich in München liest, um sich Klarheit über sein eigenes Leben zu verschaffen. Der Vater hat mit 26 Jahren seine Wanderschaft „ruhmvoll“ (GH1, S. 64) beendet: Ausgerechnet mit seiner Ankunft in seinem Heimatdorf wird er eingeführt: Denn eines Tages geschah es, daß das ganze Dorf in große Bewegung gesetzt wurde durch die Ankunft eines schönen, schlanken Mannes, der einen feinen grünen Frack trug nach dem neusten Schnitte, eng anliegende weiße Beinkleider und glänzende Suwarowstiefeln mit gelben Stulpen. (GH1, S. 63)
In der Folgezeit bildet er sich vom Steinmetz zum Baumeister fort und ist somit Künstler und Handwerker in einem. Heirat und berufliche Selbständigkeit bei wachsender Geschäftstätigkeit folgen zügig. In der Freizeit gründet er Vereine und spielt Theater, so daß auch die Integration in die Gesellschaft gegeben ist. Doch deutet schon die Urfassung durch den frühen, durch Überanstrengung bedingten Tod des Vaters an, daß dieses Lebensmodell an eine Grenze gestoßen ist: Auch die Biographie des Vaters folgt dem teleologischen Modell, das dann eine antiteleologische Pointe bekommt. Trotzdem bleibt dieser Lebenslauf Heinrichs Vorbild. Die Zweitfassung, hierauf hat Dominik Müller hingewiesen, übernimmt diese Lebensbeschreibung zwar unverändert, läßt aber den lange verstorbenen Vater nochmals in einem Traum der Mutter erscheinen. Sie sieht ihn „aus der Ferne herkommen auf einer unabsehbaren Feldstraße“ (GH2, S. 621). Ein „schweres Felleisen“ tragend (GH2, S. 622), ruft er der Mutter zu: „Es ist weit, weit zu gehen! worauf er an seinem Stabe rüstig weiter wanderte, bis er ihren Augen entschwand.“ (GH2, S. 622) Mutter und Sohn interpretieren diesen Traum gegensätzlich, was Müller nicht berücksichtigt: Die Mutter wird „bei näherem Nachdenken traurig […], da sie ohne Aberglauben oder Traumdeuterei doch die Empfindung oder Vorstellung von einer großen Mühsal erlitt, in welcher sich der Abgeschiedene bewege.“ (GH2, S. 622) Der Sohn dagegen bezieht das Bild des Wanderns sofort als Vorbild auf sich: Mir hingegen erweckte jetzt das Gedenken dieses unverdrossenen Wanderns des freundlichen Geistes durch die unbekannte Ewigkeit eher das vorbildliche Anschauen eines nicht zu brechenden Lebensmutes, des rastlosen Verfolgens eines Zieles. (GH2, S. 622)
Heinrichs Interpretation stellt den Vater zunächst in eine „unbekannte Ewigkeit“ und damit in einen metaphysischen Kontext; sodann führt er ______________________
139 Vgl. Müller (1988): Wiederlesen, S. 86. Rohe konkretisiert, daß Schillers triadisches teleologisches Geschichtsmodell der Biographie des Vaters zugrunde liege. Vgl. Rohe (1993): Roman aus Diskursen, S. 54–57.
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ein Ziel ein, das der Vater verfolge, während die Deutung der Mutter bei der „großen Mühsal“ der Wanderung halt machte. Hiermit wird schlaglichtartig deutlich, daß in der Existenz eines Ziels der entscheidende Unterschied der beiden Deutungen liegt. Damit wird die Wanderung ausgerichtet, die Mühe bekommt einen Sinn als Mittel, das Ziel zu erreichen. Heinrich fühlt sich folglich auch gleich angespornt, seine Bildungsbemühungen zu intensivieren: Er begibt sich auf die Universität, um dort Anatomie zu studieren. Ob die Deutung Heinrichs oder der Mutter zutrifft, kann nicht mit letzter Sicherheit entschieden werden. Jedenfalls ist neu, daß anhand der Figur des Vaters die Frage nach der Existenz eines Ziels aufgeworfen wird. Eben dies bleibt nun als letztes Bild im Gedächtnis der Mutter und des Lesers. Der Vater, als ‚Ankommender‘ der Erstfassung, ist aus einer eindeutigen Kontrastfigur zu einer „Variante[ ] des Typus ‚grüner Heinrich‘ “ (GH2, S. 950) geworden, wie Villwock im Kommentar der Spätfassung festhält. 3.1.5 Simulation von Kontingenz durch Parallelfiguren und Allegorien Die Zielstrebigkeit von Heinrichs Biographie auf ihren negativen Endpunkt hin wird in der Altersfassung nicht nur durch das neue, offene Ende und fehlende Zielvorgaben relativiert. Der Leser verliert Heinrichs Entwicklung zu Beginn der zweiten Autobiographie sogar ganz aus den Augen. Dies liegt an neuen Figuren, Einschüben und Episoden, die zunächst von Heinrich wegführen. Sie tragen zu seiner Biographie nichts Signifikantes bei, gehören gar nicht oder kaum in die UrsacheWirkungskette, die zum Ende der Geschichte führt. Ja, sie scheinen durch ihre offene Symbolhaftigkeit oder allegorische Funktion nicht oder nur oberflächlich auf die gleiche Realitätsebene wie Heinrich zu gehören. Die Urfassung bezog die Jugendgeschichte und die Münchener Jahre durch das Schema der Typologie aufeinander. Die Anspielung auf das figurative Schema von Vorausdeutung und Erfüllung wird in der Zweitfassung gestrichen.140 Am Anfang der zweiten Autobiographie wird der Leser davon unterrichtet, daß Heinrich eine kleine Erbsumme zufällt, über deren Auszahlung die Waisenbehörde entscheiden muß. Was passieren könne, wenn man ohne Barschaft eine künstlerische Ausbildung anfange, zeige das „lebendige Beispiel“ (GH2, S. 459) des sogenannten Schlangenfressers. Die Figur wurde in der Zweitfassung neu eingeführt. Heinrich ______________________
140 Auf diese wichtige Tatsache hat Müller hingewiesen. Vgl. Müller (1988): Wiederlesen, S. 81.
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erzählt, daß der Schlangenfresser zur Zeit der Anhörung vor der Waisenbehörde in der Stadt auftaucht. Seine Biographie berichtet Heinrich auf einer knappen Seite: Gleich Heinrich konnten die Eltern des Schlangenfressers dem Kind nicht genügend Orientierung bei der Berufswahl geben. Er studierte, wie Heinrich, Malerei, konnte damit aber seinen Lebensunterhalt nicht finanzieren. Musizierend zog er dann jahrelang herum und landete, ähnlich wie Römer, in einem Armenhaus. Seinen Namen „Schlangenfresser“ trägt er wegen eines Topfes voll eingemachter Blindschleichen, den er vor den Hausgenossen des Armenhauses schützen muß. Diese dubiose Gestalt schleicht sich in die Verhandlung Heinrichs und seines Onkels mit der Waisenbehörde ein und setzt sich an den Verhandlungstisch, dessen Ende sich in der Dunkelheit verliert. Dort sitzt er schweigend, legt aber gleichwohl als gescheiterter Maler Zeugnis „gegen meine Lebenspläne“ (GH2, S. 463) ab, bis der Onkel durch seine Rede das Blatt wendet und das „festgefahrene Schifflein wieder flott“ (GH2, S. 463) macht: Heinrich bekommt schließlich die Summe ausbezahlt. Der erzählende Heinrich bezieht demnach den Schlangenfresser auf sich und seinen Lebensentwurf. Da Heinrich zwar gleichfalls eine scheiternde Malerkarriere und Hunger bevorstehen, er aber nicht im Armenhaus landet, sondern schließlich ein Amtmann mit einem festen Einkommen wird, so kann man rückblickend den Lebenslauf des Schlangenfressers als Variation von Heinrichs eigener Biographie verstehen. Seine Geschichte deutet drastisch die Möglichkeit an, auf ganzer Linie zu scheitern. Dabei wird die Frage, ob der Schlangenfresser aus Mangel an Talent oder aber wegen äußerer Umstände seinen Malerberuf aufgab, ausdrücklich im Dunkeln gelassen. Dies erst macht die Figur wirklich beunruhigend, weil sie die Möglichkeit andeutet, trotz Talent zu scheitern. Der Textabschnitt mit der neuen Figur des Schlangenfressers trägt die Züge einer Episode, weil er eine formale Einheit ist und durch einen Kausalzusammenhang, nämlich den in einem Zuge erzählten Lebenslauf der Figur, zusammengehalten wird. Aber selbst wenn Anfangs- und Endpunkt dieser ‚Episode‘ bestimmbar sind und sich gegen die Haupthandlung abgrenzen lassen,141 so hat sie doch kausale Auswirkungen auf die weitere Geschichte, indem die Figur die Waisenvorsteher beeinflußt und die Gegenrede des Onkels erzwingt. Die hauptsächliche Erzählfunktion des Schlangenfressers liegt aber in der Verdeutlichung einer Variante von Heinrichs Lebenslauf.142 ______________________
141 Anfangspunkt: GH2, S. 459, Z.4. Endpunkt: GH2, S. 463, Z.15–16. 142 Schon Laufhütte sah die erzählerische Funktion der Schlangenfresser-Geschichte und anderer Episoden darin, daß sie „variierende Schicksalsparallelen“ [Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 203] zu Heinrichs Lebenslauf seien.
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Nachdem der Onkel die Waisenbehörde von der Auszahlung des Geldes an Heinrich überzeugen konnte, sehen wir kurz darauf Heinrich, wie er seinen Koffer für die Reise packt. Neben Büchern und Kleidung nimmt er auch einen Totenschädel mit auf die Reise. Heinrich hatte ihn auf dem Friedhof in der Nähe eines Grabsteines gefunden, auf dem der Name „Albertus Zwiehan“ geschrieben stand. Obwohl nicht klar ist, ob es sich tatsächlich um Zwiehans Schädel handelt, sieht ihn Heinrich für diesen an. Zwiehans 17-seitige „wunderlichste kleine Geschichte“ (GH2, S. 468) teilt daraufhin der erzählende Heinrich mit und unterbricht damit erneut die Schilderung seiner Abreise. Wegen Zwiehans Geschichte regte sich später Kellers erzählerisches Gewissen. Wie Keller selbst in einem Brief an Storm feststellt, ist sie eine „etwas gar zu deutliche[ ] Allegorie und Prototypik für einen Verlierer seines Wesens oder seiner Person“.143 Und als ob er etwas Unerlaubtes getan hätte, fügt er an, daß er dafür „Strafe verdient“144 hätte. Später, in einem Gespräch mit Marie Bluntschli am 1. November 1887 äußerte sich Keller noch direkter über die Zwiehan-Geschichte: Ich habe sie mir als Symbol des Grünen Heinrich gedacht, der auch seinen inneren Halt verloren und im Dualismus dahin schwankte, der durch Geldmangel, Fehlen richtiger Leitung und passender Umgebung äußerlich und innerlich jede Stütze einbüßte. Dies wollte ich in dem Zwiehan, der durch einen andern um Namen und Ehre gebracht wird und alles, sogar seine Persönlichkeit einbüßt, bildlich wiedergeben.145
Tatsächlich weist der Lebenslauf von Zwiehan, der knapp von der Kindheit bis zu seinem Tod geschildert wird, viele Parallelen zu Heinrichs Lebensgang auf. Vor allem die Grundkonstellation ist gleich: Ein träumerischer Mensch mit problematischem Elternhaus gerät auf seiner Lebensreise zwischen zwei Frauen. Die eine ist als liebenswürdige und bodenständige Frau gekennzeichnet, die ihr Haus zu bewirtschaften weiß, während die andere im Zeichen des träumerisch-geisthaften steht. Albert verliebt sich in letztere; sie erscheint ihm in einem Traum als Morgenstern, dem es zu folgen gilt. Damit wird Alberts „Aufbruchssituation“ derjenigen Heinrichs angenähert, der ebenfalls angesichts des Morgensterns Orientierung suchte: Beide folgen ohne inneren Halt ihren Träumen. Zwiehans Leben ist im wörtlichen Sinn eine Lebensreise, da er von Asien nach Europa und Grönland reist und selbst als Schädel am Roman-
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143 Keller an Theodor Storm am 11.4.1881. In: GB 3/1, S. 455. 144 „Ich hatte ein böses Gewissen. Namentlich wegen des Zwiehans und seines Schädels […] hätte ich Strafe verdient“ (Keller an Theodor Storm am 11.4.1881. In: GB 3/1, S. 455). 145 Alfred Zäch: Gottfried Keller im Spiegel seiner Zeit. Zürich 1952, S. 215ff.
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ende nicht zur Ruhe kommt, indem er bestattet würde.146 Er reist einer Frau nach, die bei den Herrnhutern eintritt und teils aus eigenem Willen, teils aus Zufall, einen anderen heiratet. Zurückgekehrt, muß er feststellen, daß die andere Frau, in die er sich einst verliebte, inzwischen die Ehefrau seines tot geglaubten Halbbruders ist. Letzterer war verschollen, doch träumte Albertus, der „fest an seine Träume glaubte“ (GH2, S. 468), daß der Halbbruder ertrunken sei. Beide wohnen inzwischen in seinem früheren Haus. Da der Vater den unehelichen Halbbruder als Alleinerbe eingesetzt hatte, ist Albertus Zwiehan nun verarmt und noch dazu um die zweite Frau betrogen. Er muß nun bei dem Ehepaar dienen und entwürdigende Arbeiten verrichten, wobei ihm das Abschreiben der Familienchronik einige Abwechslung bietet. Wie Heinrich schreibt er seine Lebensgeschichte auf, und wie Heinrich aus der ersten Fassung stirbt er aus „Verdruß über den Verlust seines Daseins, ja seiner Person und Identität“ (GH2, S. 484). Sein Tod ist daher ebenso schwach kausal motiviert wie derjenige Heinrichs in der ersten Fassung. Das Ende der Zwiehan-Geschichte, so bereits Hartmut Laufhütte, kann als „spiegelnd variierende Beibehaltung des alten Schlusses angesehen werden.“147 Den vielfältigen Bezügen, die sich zu Heinrichs Biographie ergeben, soll hier nicht im einzelnen nachgegangen werden. Hervorzuheben wäre allenfalls, daß Zwiehan und seine Geliebte wichtige Lebenssituationen durch das Los entscheiden lassen, um damit dem Willen Gottes zu folgen. Die brennende Frage nach einer teleologischen Interpretation des Zufalls findet sich also auch in der Zwiehan-Geschichte wieder. Noch wichtiger indes ist es, nach der Funktion der eingeschalteten Geschichte zu fragen. Sie erzählt einen ganzen Lebenslauf, bestehend aus Anfang (Ausgangssituation), Mitte (Lebensreise) und Ende (Enttarnung, Erniedrigung, Niederschrift der Geschichte und Tod). Da sie sich ganz offensichtlich auf Heinrichs Biographie bezieht, wird sie in dem Moment eingeschoben, als Heinrich selbst im Aufbrechen begriffen ist. Das hatte schon Laufhütte als unorganisch bezeichnet, besonders weil der erlebende Heinrich die Geschichte des Schädels später selbst erzählt, so daß sie an dieser späteren Stelle zwangloser hätte eingefügt werden können.148 Doch offensichtlich paßt zu der allegorischen Geschichte eine Einfügung besser, ______________________
146 Eine von Heinrich geplante Bestattung des Schädels findet am Ende des Romans nicht mehr statt, so daß Zwiehans ‚Reise‘ ebensowenig einen Ruhepunkt findet wie Heinrichs Lebensreise. Vgl. den Kommentar zur Zweitfassung (GH2, S. 958). 147 Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 211. 148 Vgl. Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 205. Etwas Ähnliches meinte wohl auch Müller, wenn er den Allegorien der Spätfassung den Charakter „von Fremdkörpern“ zuschreibt. Vgl. Müller (1988): Wiederlesen, S. 59f.
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die erst gar nicht den Anspruch hat, ‚natürlich‘ oder ‚realistisch‘ zu wirken. Sie spielt so deutlich auf Heinrichs Biographie als Ganzes an, daß sie auch an der markanten Stelle eingeschoben werden kann, an der Heinrich die Koffer für seine Reise packt. Zur Dichtung, wie sie der programmatische Realismus forderte, paßt weder die allegorische Funktion der Geschichte noch ihre lockere Einfügung. Bereits Laufhütte hatte den formalen Sinn der Episoden und Spiegelgeschichten auf die fehlende Teleologie in Heinrichs Entwicklung bezogen. Durch die Spiegelgeschichten werde deutlich, daß es Alternativen in Heinrichs Lebenslauf gebe: Zur Verdeutlichung […] der Zufälligkeit eines bestimmten einzelnen Lebensganges steht also […] kein anderes Mittel als die kontrastierende oder parallelisierende Einbeziehung vergleichbarer Schicksalsläufe zur Verfügung. Es m ü s s e n , um die Zufälligkeit e i n e s Lebens zu demonstrieren, verschiedene Möglichkeiten der Schicksalsgestaltung bei ungefähr gleicher oder gegensätzlicher Ausgangslage gegeben werden, die entsprechenden oder anderen Zufälligkeiten unterlagen. Es müssen immer abgeschlossene Geschichten sein, damit ihre spiegelnde Bedeutung ganz hervortreten kann.149
Figuren wie der Schlangenfresser oder Albertus Zwiehan zeigen also auf eine – gegenüber der Urfassung – neuartige Weise die Kontingenz in Heinrichs Leben. Das funktionale Äquivalent in der Urfassung waren beispielsweise die Überlegungen des heterodiegetischen Erzählers, „daß ihn [Heinrich; P.A.] der Zufall auf hundert andere vermeintliche Bestimmungen hätte führen können.“ (GH1, S. 664) Diese Stellen verdeutlichen zwar die Kontingenz des Dargestellten, aber sie bleiben selbst punktuell und schlagen nicht auf die Erzählteleologie durch. Die zweite Fassung ist daher in ihrer formalen Gestaltung konsequenter. Sie unterbricht die Haupthandlung, also Heinrich beim Kofferpacken, um eine Geschichte einzuschalten, die nicht einfach Heinrichs Schicksal in einer Prolepse vorwegnimmt, sondern eine Alternativgeschichte erzählt, die ihrerseits durch Allegorese auf Heinrich bezogen werden muß. Doch sie wiederholt nicht einfach die abstrakte Ganzheit von Heinrichs Leben in einem Bild, wie es einer Allegorie zukäme, sondern sie setzt einen ähnlichen Menschen in eine andere Zeit, setzt ihn anderen Bedingungen aus und zeigt dann, wie er sich, wiederum unter Mitwirkung des Zufalls, verändert.150 Kontingenz hat hier weniger die Bedeutung von ‚Zufall‘, also von unabhängigen Kausalketten, die sich kreuzen, sondern meint „das Nicht- oder ______________________
149 Laufhütte (1964): Wirklichkeit, S. 364f. 150 Sautermeister wendet den Begriff der Variation auf die Erstfassung an, meint damit aber die abgewandelte Wiederholung einer Grundsituation aus Heinrichs Biographie zu einem späteren Zeitpunkt: „Spiegelung, Variation und Steigerung einer Grundsituation sind ein Strukturprinzip des Grünen Heinrich.“ (Gert Sautermeister: Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. In: Romane des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1992, S. 280–320. Hier S. 291.)
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Andersseinkönnen von Etwas, weil dessen Nicht- oder Anderssein grundsätzlich gedacht werden kann.“151 Durch dieses erzählerische Verfahren wird die Erzählteleologie abgebaut, weil die Geschichte nicht als Mittel zu Heinrichs Ziel verstanden werden kann. Anders als Laufhütte glaubte, ist diese Möglichkeit, Alternativen zu einem Lebenslauf anzugeben und damit Kontingenz zu simulieren, nicht die einzige. Wir sahen schon anhand von Vischers Auch Einer, daß der Autor andere Wege geht, um ein ähnliches Ziel zu erreichen. Er gewährte dem Zufall einen großen Raum und ließ seinen Helden dadurch in unvorhersehbare Situationen kommen, die auch anders hätten ausgehen können. Eine Konsequenz war freilich, daß der Roman ein ganzes Leben gar nicht mehr erzählen konnte, weil die einzelne Situation, in der stets etwas Zufälliges passiert, alle größeren Lebenspläne zunichte machte. Durch Anachronien und die Erzählperspektive der Mitsicht erreichte Vischer, daß sich der erzählte Zufall auch formal umsetzte: Die Erzählteleologie wurde weitgehend abgebaut, ein sinnvoller Verlauf der Geschichte, in dem die geschilderten Ereignisse Mittel zu dem Erzählziel sind, war kaum noch zu erkennen. Möchte der Autor in einem Roman Kontingenz simulieren, also zeigen, daß die dargestellten Ereignisse und Personen auch anders (oder gar nicht)152 hätten sein können, dann bietet sich Kellers Verfahren besonders an. Indem Vischer seine Romanhandlung in dieser Weise vom Zufall abhängig sein läßt, bekommt dieser beinahe wieder etwas Notwendiges. Ein glücklicher Lebenslauf wird in einer Welt, wie Vischer sie erzählt, fast undenkbar. Keller ist in der Repräsentation von Kontingenz einen Schritt weiter gegangen, indem er Glück und Unglück gleichermaßen schildert, aber durch Parallelgeschichten das Bewußtsein offen hält, daß es auch anders sein könnte. So heißt es denn auch zu Beginn der zweiten Autobiographie in der Altersfassung selbstreflexiv unter Bezugnahme auf die SternMetaphorik: „Dem unveränderlichen Lebenszuschauer sind Stern und Unstern gleich kurzweilig, und er zahlt seinen wechselnden Platz unbesehen mit Tagen und Jahren, bis seine fliehende Münze zu Ende geht.“ (GH2, S. 458) Der Tod setzt den wechselnden Glücks- und Unglückszuständen ein Ende, aber im Leben scheint alles oder doch sehr viel möglich zu sein. ______________________
151 Dies ist nach Joseph Wetz eine der Zufallsbedeutungen, wie sie Aristoteles verwendet. Vgl. Wetz (1998): Die Begriffe „Zufall“ und „Kontingenz“, S. 29. 152 Man denke an Reinharts Überlegungen in Die Geisterseher: Wäre sein Vater in dem von Hildeburg veranstalteten Auslese-Spiel unterlegen, so spekuliert er, dann wäre er selbst nicht geboren worden. Vgl. Gottfried Keller: Das Sinngedicht. In: KSW, Bd. 6, S. 95–381. Hier S. 271f.
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Die Ansprüche an eine moralische Weltordnung und ein gerechtes Schicksal des Einzelnen im teleologischen Geschichtsprozeß werden hier nicht mehr aufrecht erhalten, wie dies noch in der ersten Fassung der Fall gewesen war. Einer der besonders auffälligen und erklärungsbedürftigen Unterschiede zwischen den beiden Fassungen betrifft die Naturdarstellung. Die pantheistische Natur war neben dem geschichtlichen Fortschritt die zweite wichtige Realteleologie der Erstfassung. Die Entteleologisierung der Wirklichkeit macht auch vor der Naturdarstellung keinen halt. 3.2 Änderungen in der Naturauffassung des Erzählers Wenn die These zutrifft, daß der Darwinismus eine wesentliche Rolle in der Teleologiekrise des 19. Jahrhunderts spielt, dann müßte davon in besonderer Weise die Naturwahrnehmung betroffen sein. Beobachtungen, die in diese Richtung weisen, hat die Forschung bereits gemacht. Gleichwohl wurde versäumt, nach den Ursachen dieser Veränderungen zu fragen.153 Die Distanz zur Natur aus einer allgemeinen Resignation des Dichters erklären zu wollen oder auf politische Veränderungen zu verweisen, scheint unzureichend zu sein. Dagegen wird der in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts allgegenwärtige Diskurs des Darwinismus zu selten als Erklärung angeführt. Jemanden wie Keller, der in seiner Jugendzeit einem Freund riet, man müsse nur natürlich sein, um tugendhaft zu sein,154 konnte Darwins Theorie nicht unberührt lassen. Auch wenn er dem übersteigerten Erklärungsanspruch der Naturwissenschaften mit Ironie begegnete,155 so lenkte doch der Darwinismus ganz allgemein die Aufmerksamkeit von der wunderbaren Funktionalität und Schönheit der Natur auf ihre Grausamkeit, oder zumindest auf ihre Gleichgültigkeit gegenüber menschlichen und moralischen Maßstäben. Hatte Feuerbach darauf insistiert, daß an die Natur „kein ‚menschlicher Maßstab‘ angelegt werden darf und kann“, so scheint erst Darwins Theorie für eine weiter______________________
153 Dominik Müller stellt zwar durch die Kapitelüberschrift („Das Auge des Künstlers“) heraus, daß es sich um Fragen der Naturwahrnehmung handelt. Wodurch deren Veränderung aber verursacht ist, macht er nicht deutlich. Zur Naturwahrnehmung in der Zweitfassung vgl. Müller (1988): Wiederlesen, S. 171–185. 154 So im Briefentwurf an Johann Müller vom 29.6.1837, der sich im ersten Studienbuch befindet. Vgl. KSW, Bd. 7, S. 584. 155 Verwiesen sei beispielsweise auf den Eingangssatz des Sinngedichts: „Vor etwa fünfundzwanzig Jahren, als die Naturwissenschaften eben wieder auf einem höchsten Gipfel standen, obgleich das Gesetz der natürlichen Zuchtwahl noch nicht bekannt war, öffnete Herr Reinhart eines Tages seine Fensterläden […].“ (Gottfried Keller: Das Sinngedicht. In: KSW, Bd. 6, S. 97.)
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gehende Umsetzung dieser Forderung verantwortlich zu sein: Viele Anthropomorphismen verschwinden aus der Altersfassung, die Natur erscheint nicht mehr als „geistdurchdrungene“ Wertsphäre; eine unmittelbare Kommunikation, wie sie noch in der Erstfassung möglich war, indem Heinrich mit dem Star plauderte, verbietet sich die Zweitfassung. Das „Liebeswetter“, das in der Erstfassung der harmonische und adäquate Ausdruck von Heinrichs Gefühlen war, wird zu einer „falschen Frühlingsnacht“ (GH2, S. 797) inmitten des Winters, in der die Natur selbst unnatürlich zu sein scheint. Wo in der Erstfassung die Natur anthropozentrisch wahrgenommen oder aber als Ausfluß eines göttlich-immanenten Prinzips verstanden wurde, bekommt sie in der Zweitfassung eine mitunter beängstigende Eigenständigkeit: Der Frühling war gekommen; schon lagen viele Frühpflanzen, nachdem sie flüchtige schöne Tage hindurch mit ihren Blüten der Menschen Augen vergnügt, nun in stiller Vergessenheit dem stillen Berufe ihres Reifens, der verborgenen Vorbereitung zu ihrer Fortpflanzung ob. Schlüsselblümchen und Veilchen waren spurlos unter dem erstarkten Grase verschwunden, niemand beachtete ihre kleinen Früchtchen. […] Bescheiden und abgemessen nahm das zartgrüne Laubwerk seinen Platz und ließ kaum ahnen, welche Gewalt und Herrlichkeit in ihm harrte. (GH1, S. 328)
Der Frühling war gekommen; Schlüsselblümchen und Veilchen waren im erstarkten Grase verschwunden, niemand beachtete ihre kleinen Früchtchen. […]
Bescheiden und abgemessen nahm das zartgrüne Laubwerk seinen Platz und ließ kaum ahnen, welcher Überdrang in ihm heranwuchs. (GH2, S. 267)
Die Natur ist nicht dazu da, um vom Menschen wahrgenommen zu werden; folglich wird sie auch nicht in bezug auf das menschliche Auge dargestellt. Das „Laubwerk“ bekam durch die „Herrlichkeit“ der Urfassung eine Spur göttlichen Glanzes. In der Zweitfassung ist die „Herrlichkeit“ durch das bedrohlich-nüchterne Wort „Überdrang“ ersetzt. Diese scheinbar geringfügigen Änderungen tragen dazu bei, daß die Lebendigkeit der Natur in der Zweitfassung mehr Eigenständigkeit bekommt. Dazu werden neue Pflanzen eingeführt, die beinahe alle giftig sind: Schierling, Geißblatt und Seidelbast, oder aber als Todeszeichen gelesen werden müssen, wie die Stechpalme oder die Distel.156 ______________________
156 Vgl. den Kommentar von Villwock (GH2, S. 945f.).
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Die Grausamkeit der Natur wird aber auch als Fressen und Gefressenwerden dargestellt, so in der neu eingefügten Spinnengeschichte (vgl. GH2, S. 630–633). Sie wurde wohl von Darwins Schilderungen in der Reise eines Naturforschers um die Welt angeregt, was hier nur angedeutet werden kann. In seinem Reisetagebuch der Fahrt mit der „Beagle“ beschreibt der Naturforscher Spinnen im Kampf mit Wespen, parasitäre Spinnen, die keine Netze bauen, und den Kampf einer in einem Netz gefangenen Wespe mit einer Spinne. Darwin verwendet selbst eine anthropomorphisierende Sprache, schreibt den Insekten Gefühle und Intentionen zu und verwendet auch Vergleiche mit Säugetieren, etwa wenn er die Jagd der Wespe nach der Spinne mit derjenigen eines Hundes nach einem Dachs vergleicht.157 Diese literarische Strategie scheint Keller bemerkt und für das eigene Schreiben fruchtbar gemacht zu haben. Besonders auffällig ist aber die Tatsache, daß Darwin, ganz wie Heinrich, in das Geschehen eingreift. Darwin tötet nämlich die Wespe nach einer Stunde des Beobachtens, um ihr weiteres Leiden zu ersparen und verjagt anschließend die Spinne mehrmals von ihrer Beute.158 Dieses Eingreifen des Beobachters in den Naturablauf ist ein weiteres gemeinsames strukturelles Merkmal, das die Vermutung nahelegt, Keller habe die Darwin-Stelle gekannt und, poetisch ausgestaltet, in das komplexe Motivgeflecht des Romans eingebracht. Ebenfalls neu ist eine kleine Passage, in der der hungrige Heinrich von der Stadt in die Natur fliehen will: „Als aber in der Nähe plötzlich das Geschrei eines Vogels ertönte, der von einem Marder oder Wiesel erwürgt wurde, raffte ich mich auf und ging nach Hause.“ (GH2, S. 667) War in der Urfassung Natur ein Ort der „Selbstbesinnung“159 und der Ruhe, so trägt sie in der Altersfassung neue bedrohliche Züge, die mit dem hergebrachten Pantheismus kaum kompatibel sind. Geht man von einer Rezeption des Darwinismus aus, so sind die Änderungen der ökonomischen Reflexionen der Urfassung besonders plausibel: Auch beim Wirtschaften galt die Naturnähe als positiver Maßstab. Der Handel in den Städten war der Urfassung „eine ungeheure Abstraktion […], hoch über dem festen Boden der Mutter Natur“ (GH1, S. 704). Hier muß man nur an David Friedrich Straußens Erfolgsbuch Der alte und der neue Glaube von 1872 erinnern, das in Kellers Bibliothek stand. Dort konnte Keller über das Prinzip der „Concurrenz“ lesen: ______________________
157 Vgl. Charles Darwin: Reise eines Naturforschers um die Welt. Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus. Stuttgart 1875, S. 39–43. Hier bes. S. 40. 158 Vgl. Darwin (1875): Reise, S. 42. 159 Müller (1988): Wiederlesen, S. 177.
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[E]r [Darwin; P.A.] brauchte es nur von der Menschenwelt auf den Haushalt der Natur zu übertragen: die Concurrenz. Darwin’s „Kampf um das Dasein“ ist nichts andres, als dasjenige zum Naturprincip erweitert, was wir als sociales, industrielles Princip schon lange kennen. (ANG, S. 125)
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Keller sich im Falle der Ökonomie nicht mehr unbefangen auf die Natur als Norm berufen konnte und die entsprechenden Stellen strich: Eben in der Natur hatte man inzwischen in der Konkurrenz um knappe Ressourcen das Hauptprinzip der Artentwicklung ausgemacht. Daß Keller dies wußte, zeigt besonders deutlich das berüchtigte Schlangenabenteuer in der Buchausgabe des Sinngedichts: Nachdem die überarbeitete und ergänzte Fassung des Grünen Heinrich Weihnachten 1880 ausgeliefert werden konnte, machte sich Keller an die Buchausgabe des Sinngedichts. Die Novellensammlung war bislang nur in der Deutschen Rundschau in Fortsetzungen erschienen. Für den Schluß der Buchausgabe erstellte Keller ein neues Manuskript, ein weiteres Dokument für die Krise der Schlußgebung.160 Im Frühjahr und Frühsommer 1881 fügte Keller das viel diskutierte Schlangenabenteuer hinzu. Die neue Szene steht also beispielsweise mit der Spinnengeschichte des Grünen Heinrich in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang. Reinhart und Lucie, die Protagonisten des Sinngedichts, unternehmen einen Spaziergang und beobachten eine Schlange, an der sich ein Krebs festgebissen hat, „vermutlich um sie anzufressen“.161 Zusammen helfen sie dem Tier: Lucie hält nach einigem Zögern die Schlange fest, während Reinhart den Krebs abnimmt und ihn in einen Bach wirft. Lucie findet das „kleine Rettungsabenteuer“162 erhebend und freut sich, daß sie gelernt hat, die Schlange in den Händen zu halten. Reinhart erwidert: „‚Ja‘ […] ‚es erfreut uns, in dem allgemeinen Vertilgungskriege das Einzelne für den Augenblick zu schützen, soweit unsere Macht und Laune reicht, während wir gierig mitessen.“163 Läßt man die Interpretationen einmal beiseite, die das Abenteuer erotisch deuten,164 so ist die Anspielung auf Darwins Kampf ums Dasein offensichtlich und wurde auch in der Forschung vielfach bemerkt.165 Besonders nachdrücklich hat Gerhard Kaiser auf die darwinistischen Implikationen des Schlangenabenteuers hingewiesen.166 ______________________
160 161 162 163 164
Zur Entstehung der Buchausgabe vgl. KSW, Bd. 6, S. 901. Gottfried Keller: Das Sinngedicht. In: KSW, Bd. 6, S. 376. Gottfried Keller: Das Sinngedicht. In: KSW, Bd. 6, S. 377. Gottfried Keller: Das Sinngedicht. In: KSW, Bd. 6, S. 377. So z.B. Heinrich Brockhaus: Kellers Sinngedicht im Spiegel seiner Binnenerzählungen. Bonn 1969, S. 160. 165 „Mochte Keller mit Darwin in manchem nicht einverstanden sein, so konnte er doch nicht übersehen, daß in der Natur der ‚Kampf ums Dasein‘ kein bloßes Schlagwort ist. Jedes Lebewesen, will es sich behaupten, ist genötigt, auf Kosten anderer zu existieren, der
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Konkurrenz um Nahrung und andere Ressourcen ist aber nicht nur das Prinzip der nichtmenschlichen Natur, sondern der Mensch nimmt an diesem Verteilungskampf teil, wie Reinhart deutlich formuliert. Eine einfache Opposition von ‚natürlichem‘ Wirtschaften und Handel in der Stadt verbot sich aber damit auch für die Neufassung des Grünen Heinrich. So läßt sich das Fazit, zu dem Dominik Müller ebenfalls kommt, wissenschaftshistorisch fundieren: „Die Altersfassung will sich nicht mehr auf den ‚festen Boden der Mutter Natur‘ berufen.“167 Ob man angesichts der Spätfassung noch von Pantheismus sprechen kann, sei dahingestellt. Auch Strauß vereinigte ja Pantheismus und ateleologisch verstandenen Darwinismus zu einem widersprüchlichen Ganzen. Zu pauschal erscheint aber die Feststellung, daß Keller einem populären Pantheismus lebenslang angehangen habe.168 Neben den Änderungen der Naturauffassung zeichnet sich die Zweitfassung auch durch inhaltliche Varianten aus. Diese verlangen aber nach neuen Motivierungen innerhalb der erzählten Welt, denn auch die neuen Ereignisse oder Handlungen müssen begründet werden. Anhand der Fechtszene zwischen Heinrich und Lys läßt sich zeigen, daß Keller den Zufall nicht nur dafür verwendete, um wie Vischer einen Realitäts-Effekt hervorzubringen, sondern auch, um der Handlung eine andere Richtung als in der ersten Fassung zu geben.
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Mensch nicht minder als das Tier“ [Ernst May: Gottfried Kellers „Sinngedicht“. Eine Interpretation. Bern, München 1969, S. 60]. 166 Vgl. Kaiser (1981): Keller, S. 560. 167 Müller (1988): Wiederlesen, S. 184. 168 „Keller vertritt, auch dort wo er sich auf einen speziellen Feuerbachschen Natur-Begriff einläßt, den populären Pantheismus des 19. Jahrhunderts.“ [Gerhart von Graevenitz: Mythologie des Festes – Bilder des Todes. Bildformeln der Französischen Revolution und ihre literarische Umsetzung (Gustave Flaubert und Gottfried Keller). In: Walter Haug, Rainer Warning (Hg.): Das Fest. München 1989, S. 526–559. Hier S. 555.]
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3.3 Zufälle in der Spätfassung: Zwischen Fiktionssignal und Realitätseffekt 3.3.1 Entblößung von Fiktionalität (Die Fechtszene) Der Zufall sollte in der ersten Fassung als Mimesis der kontingenten Wirklichkeit verstanden werden. Die Zweitfassung baut weit weniger auf die Störung teleologischer Schemata zur Verdeutlichung von Kontingenz, sondern ging, wie wir sahen, andere Wege. Wie sich an der Fechtszene zeigen läßt, bekommt der Zufall in der Altersfassung noch eine zusätzliche Funktion. Der Zweikampf zwischen Heinrich und seinem Freund Lys war in der ersten Fassung tödlich ausgegangen. Zu dem Kampf war es gekommen, weil Heinrich Lys vorgeworfen hatte, daß sein Verhalten gegenüber Frauen mit seinem Atheismus zusammenhänge. Die Gottlosigkeit führe zur Charakterlosigkeit. Lys fordert Heinrich auf, die Beleidigung zurückzunehmen, was dieser ablehnt. Nach Lys‘ Worten, die er an Heinrich richtet, geht es darum „einmal mit der Klinge in der Hand für deinen Gott einzustehen, für den du so weidlich zu schimpfen verstehst!“ (GH1, S. 639) Lys wird verwundet und stirb später an den Folgen der Verletzung. Heinrich lädt hierdurch schwere Schuld auf sich. In der Zweitfassung wollte Keller Heinrich leben lassen und trachtete deshalb danach, seine Schuld zu verringern. Sein Ziel war also, Heinrich nicht mit dem Tod von Lys zu belasten. Hierfür wären sicher viele Wege denkbar gewesen. Keller wählte einen unwahrscheinlichen und spektakulären Zufall während des Gefechts, um das Resultat zu erzielen. Heinrich und Lys haben bereits zu Fechten begonnen: Da blitzten plötzlich Stahl und Glocken unserer Waffen mit einem rötlichen Schimmer auf und gleichzeitig begann das Bild im Hintergrunde des Zimmers sachte zu leuchten, beides vom Glühen einer Wolke, die im Widerscheine der anbrechenden Morgenröte stand. Lys warf unwillkürlich einen Blick seitwärts auf sein Bild und sah die Blicke seiner Sachverständigen, wie er sie nannte, auf uns gerichtet. Er ließ seinen Degen sinken, und mir, der ich eben wieder auszufallen im Begriffe war, wurde ein „Halt!“ zugerufen. Lys, der im übrigen vollkommen nüchtern geblieben, war der Nichtigkeit unseres Tuns durch den Anblick zuerst inne geworden. (GH2, S. 595f.)
Keller löst das Problem also, indem er die Sonne eine Wolke erleuchten läßt, um wiederum Licht in das Zimmer zu schicken, in dem die beiden „Narren“ kämpfen. Das „Bild im Hintergrunde“, das erleuchtet wird, ist die von Lys gemalte „Bank der Spötter“. Dieses Bild wird an anderer Stelle ausführlich beschrieben (vgl. GH2, S. 506–508). Die auf ihm dargestellten Personen verhöhnen die Eitelkeiten und Hohlheiten des
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Betrachters, so daß Lys, indem das Bild von der Sonne erleuchtet wird, den sinnlosen Zweikampf beendet. Indem Keller an dieser Stelle Sonne und Wolken als Mittel verwendet, um das Fechten abzubrechen, stellt er die Szene in einen besonderen Zusammenhang. Denn der Lichtstrahl der Sonne wurde schon in der Erstfassung von Heinrich als unmittelbarer Wink Gottes verstanden (vgl. GH1, S. 728). Nach dem Abbruch des Fechtens wird Heinrich nicht zu derartigen Reflexionen angeregt. Doch der Leser muß sich gerade vor dem Hintergrund der Erstfassung die Frage stellen, wie Keller hier die Änderung des Geschehens umsetzt. Er motiviert sein Eingreifen mit Mitteln, die von Heinrich häufig als Zeichen Gottes interpretiert werden. Hinter dieser für den Leser unglaubwürdigen finalen Motivierung wird sehr leicht die kompositorische Motivierung sichtbar: Keller braucht den glücklichen Ausgang des Gefechts, um Heinrich nicht mit dem Tod von Lys zu belasten. Die Basisfunktionalität des Erzählens, die auf der intrinsischen Teleologie des Autors ruht, wird hier sichtbar. Es ist der Autor, der den zufälligen Sonnenschein nach seinen Vorstellungen lenkt. Doch warum inszeniert Keller an dieser Stelle sein Eingreifen überhaupt so spektakulär und ersinnt nicht eine unauffälligere Lösung? Offenbar rechnet Keller damit, daß bei der Lektüre die erste Fassung zum Vergleich herangezogen wird oder gar noch in der Erinnerung der Leserschaft ist. Der implizite Leser der Zweitfassung hält beide Fassungen nebeneinander. Das vermutete kritische und vergleichende Rezeptionsverhalten bestimmt wiederum die Gestaltung der Altersfassung. Deshalb ist Keller so entrüstet, wenn ein Kritiker wie Otto Brahm diese Unterschiede nicht registriert: „Brahm, der das Buch mit philologischem Apparate untersucht und das Gras darin wachsen hört, hat nicht einmal bemerkt, daß das Duell mit Lys nicht mehr bis zur Verwundung fortgeführt wird und Heinrich also nicht mit dem Tode des Freundes belastet ist.“169 Schon Keller ist ein „moderner Dichter unter den Philologen“. Mit diesem Titel hatte Christoph König in seiner Hofmannsthal-Studie darauf hingewiesen, daß Hofmannsthal auch die universitäre Germanistik als Rezipientenkreis im Blick hatte und ihren Ansprüchen genügen wollte, was auf die Gestaltung der Werke rückwirkte.170 Was Keller hier spektakulär, ja gottgleich inszeniert, kann man mit Vischers Helden Albert so ausdrücken, daß die bösen Geister, also die Unzweckmäßigkeiten und Zufälle aller Art, in der Kunst „dienen“ müssen (vgl. AE1, S. 92). Seine Pfahldorfnovelle war ein solches künstlerisches ______________________
169 Keller an Wilhelm Petersen am 21.4.1881. In: GB 3/1, S. 381. 170 Vgl. Christoph König: Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen. Göttingen 2001.
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Produkt, in dem der Zufall in den Dienst der Teleologie gestellt wurde. Diese Eigenart wurde vor allem vor dem Hintergrund der Rahmenhandlung offenbar, in der der Zufall ‚blind‘ war. Die Funktionalisierung des Zufalls in der Altersfassung des Grünen Heinrich wird demgegenüber erst dann augenfällig, wenn man sich auf den Prozeß der Umarbeitung der Erst- in die Zweitfassung konzentriert. Der Sonnenstrahl, der Heinrich davor bewahrt, Lys zu töten, ist kein Werk einer der erzählten Welt immanenten Vernunft oder gar das Produkt eines aktiv handelnden Gottes, sondern ist der Laune des Dichters geschuldet, der die Dinge so zu lenken wollte.171 Hier beweist Keller die „Reichsunmittelbarkeit der Poesie“, das heißt: Der poetische Text untersteht nur dem Dichter und seiner Willkür. Die Folge der hier beschriebenen impliziten Leserrolle ist eine Entblößung der Fiktionalität des Werkes, womit es gleichsam in eine Klammer gesetzt wird.172 Indem die Funktionsweise der Handlungslenkung markiert wird, kommt die Konstruiertheit der Literatur, ihre Literarizität, zum Vorschein. Es geht nicht so zu, wie es Blanckenburg angesichts des Agathon fragend suggerierte: „Ist es möglich, nur zu vermuthen, daß der Dichter in diese Sachen sich gemischt habe? Es geht so zu, wie es, nach allen Gesetzen der Natur zugehen mußte.“ (VR, S. 344) Der implizite Leser soll die umgearbeitete Fechtszene gar nicht mehr vorrangig auf die Wirklichkeit referieren lassen, sondern auf die Entstehungsgeschichte des Textes, auf die erste Fassung. Mit der „klassischen Dämpfung“173, die Keller auf der Handlungsebene erreicht – Heinrich ist nun ja tatsächlich nicht mehr mit dem Tod von Lys belastet – geht somit eine selbstreflexive Artifizialität einher. Keller hat in seiner Neugestaltung des Grünen Heinrich mit Dortchens Loskörbchen eine Szene aus der Urfassung so verändert, daß die implizite, also literaturwissenschaftlich-vergleichende Leserrolle durch eine passende Allegorie auf den Punkt gebracht wird.
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171 Ein ähnliches Phänomen läßt sich in der Erzählung Kleider machen Leute beobachten: Hier führt der Erzähler an einigen Stellen mehrfache oder finale Motivierungen an, die unglaubwürdig erscheinen und so auf den Autor als Handlungslenker verweisen. Vgl. Philip Ajouri: Teleologie und Literatur im Realismus. Motivierungsprobleme in Gottfried Kellers Erzählung Kleider machen Leute. In: Uta Klein, Katja Mellmann, Steffanie Metzger (Hg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur. Paderborn 2006, S. 323–341. 172 Vgl. Iser (1983): Akte des Fingierens. Bes. S. 135. 173 Sautermeister sieht in dieser „klassischen Dämpfung“ der Spätfassung einen Hauptunterschied in Vergleich zur Fassung von 1854/55. Vgl. Sautermeister (1992): Der grüne Heinrich, S. 316.
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3.3.2 Allegorien des Dichtens (Dortchens Loskörbchen) In der Erstfassung berichtet der heterodiegetische Erzähler, wie Dortchen für Heinrich ein Loskörbchen zusammenstellt, und zwar so, daß alle Lose denselben Spruch enthalten. Heinrich sucht sich eines aus, dem Pfarrer verweigert Dortchen verständlicher Weise das Ziehen eines weiteren Loses (vgl. GH1, S. 872f.). Diese Szene wird in der Zweitfassung ausgebaut und verändert. Nun stößt Heinrich in Dortchens Abwesenheit auf den Tisch, auf dem die Loszettel liegen. Er weiß daher, daß alle Lose den gleichen Spruch enthalten. Trotz dieses Wissens läßt er sich nichts anmerken und spielt später beim Loseziehen mit: „Welches raten Sie [Dortchen; P.A.] mir denn zu nehmen?“ fragte ich mit innerer Bewegung; allein gleichmütig erwiderte sie: „Ich darf mich nicht darein mischen, wenn das Orakel wirken soll!“ „Soll ich dieses nehmen?“ „Ich weiß nicht!“ „Oder dieses?“ „Ich sage nichts, weder Ja noch Nein!“ „So nehm’ ich dieses und bedanke mich schönstens!“ rief ich, indem ich das Papierchen öffnete und Dortchen rasch das Körbchen zurückzog. (GH2, S. 823)
Heinrich spielt die Rolle des Unwissenden, er läßt sich absichtlich täuschen, um Dortchens Spiel nicht zu stören, obwohl er weiß, daß es in diesem Spiel keinen Zufall gibt: Alle Lose sind gezinkt. Diese Szene läßt sich, ähnlich wie andere neu eingefügte Geschichten, allegorisch deuten, so daß sie dann das Verhältnis von Autor und Leser thematisiert. Der Leser des Spruches (Heinrich) konnte der Autorin (Dortchen) gewissermaßen beim Schreiben und Anfertigen des Spiels über die Schulter sehen. Genau dies ist dem Leser der Spätfassung des Grünen Heinrich möglich: Er kann den Entstehungsprozeß des Textes nachvollziehen, indem er die erste Fassung hinzuzieht und beide kritisch vergleicht. Er enthält einen Einblick in die Werkstatt des Dichters, so wie Heinrich in Dortchens sehen kann. Eben daraus entspringt hier wie dort eine neue Art der Freude, im Fall des Grünen Heinrich: ein Spaß an der „Hypertextualität“174 der beiden Fassungen. Mit der Selbstbezüglichkeit des Textes geht eine Relativierung seiner mimetischen Funktion einher: Für den Zufall bedeutet dies, daß er in Dortchens Loskörbchen, aber auch in der Fechtszene, nicht mehr als Realitätsindikator verstanden werden kann, sondern für die Funktionalität der Literatur steht. Müller, der die Szene mit Dortchens Loskörbchen ______________________
174 Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt am Main 1993 (ED 1982), S. 14f.
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ebenfalls knapp bespricht, resümiert in diesem Sinn: „So plaudert der Zufall seine Konstruiertheit aus, funktioniert nicht einfach still als literarisches Ordnungsprinzip, sondern wird zum Thema.“175 Allerdings ist es zu kurz gegriffen, wenn Müller eine Entwicklung vom angeblich sinnstiftenden Zufall in der Erstfassung hin zum sinnzersetzenden Zufall der Spätfassung konstatiert.176 In der Erstfassung gibt es für Heinrich glückliche und unglückliche Zufälle, wobei auf Figurenebene diskutiert wird, wie man sich zu diesen Zufällen zu verhalten habe. Glückliche Zufälle bezog der erlebende Heinrich stets auf die göttliche Vorsehung. Heinrich als Erzähler der Jugendgeschichte dankte hingegen Gott für glückliche und unglückliche Ereignisse. Erzähltechnisch gesehen, wurden die unglücklichen Zufälle dadurch zur Wirkung gebracht, daß erzählteleologische Schemata gestört werden. In der Erstfassung gibt es aber keine Anzeichen einer Reflexion über die Möglichkeit, ob und wie Kontingenz im Medium der Erzählliteratur überhaupt verarbeitet werden kann. Freilich kennt auch die Spätfassung glückliche und unglückliche Zufälle. Allerdings verhält sich der erlebende Heinrich des zweiten Teils der Autobiographie jetzt anders zu ihnen; insbesondere findet er eine neue Formel, um Zufälle zu deuten: den „Lauf der Welt“. Ganz neu ist, daß Keller als Dichter nun sein Eingreifen in die Romanhandlung besonders markiert und dadurch die kompositorische Motivierung des Zufalls offenlegt. Diese Reflexionsebene wird durch die neue Szene mit Dortchens Loskörbchen spielerisch innerhalb der erzählten Welt angedeutet. Der Zufall in der Literatur ist zu einem Fiktionssignal geworden, einem Zeichen, daß Realität und Literatur unterschiedlich strukturierte Bereiche sind.177 Dies bedeutet aber nicht, daß Keller nicht auch verstärkt reflektierte, wie sich aus der Figurenperspektive der Zufall zeigt. Das neu eingefügte „Flötenwunder“, das dem ganzen vierten Kapitel des vierten Bandes ______________________
175 Müller (1988): Wiederlesen, S. 84. 176 Vgl. Müller (1988): Wiederlesen, S. 81–84. 177 Keller geht mit dieser Verwendung des Zufalls über das übliche Reflexionsniveau des Realismus hinaus, was ein Blick auf Charles Dickens verdeutlichen mag: Für Dickens sei der Zufall eine „dramatic expression of the value and ultimate order in nature“, während der Zufall bei Darwin ateleologische Veränderungen verursache [Levine (1988): Darwin and the Novelists, S. 137]. Auch für Keller ist der Zufall ateleologisch, freilich kann er in einem Text zielgerichtet eingesetzt werden. Die Zielstrebigkeit des Zufalls verweist dann nicht auf eine absolute Naturordnung, die wiederhergestellt wird, sondern muß als artifizielles Spiel mit der Literatur verstanden werden. Von hier aus wäre insbesondere die Novelle Regine im Sinngedicht erneut zu befragen. Vgl. bislang: Karl Konrad Polheim: Der gezielte Zufall. Ein Versuch über Gottfried Kellers „Regine“. In: Alexander von Bormann (Hg.): Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift für Herman Meyer zum 65. Geburtstag. Tübingen 1976, S. 541–560.
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seinen Namen (vgl. GH2, S. 655–673) gibt, geht dieser Frage mit der Präzision einer Weltanschauungsanalyse nach. 3.3.3 Realteleologie und Kausalität (Das Flötenwunder) In der ersten Fassung hatte sich Heinrich, der gerade Hunger litt, um das tägliche Brot bittend an Gott gewandt. Am nächsten Morgen kommt er auf die Idee, ein Buch zu verkaufen, um sich anschließend satt zu essen. Als der Trödler ihm die Münzen reicht, blinken sie „wie der Sonnenaufblitz eines unmittelbaren allernächsten Wunders“ (GH1, S. 728). Heinrich dankt daraufhin Gott, was den Erzähler veranlaßt, sich an die Leser zu wenden. Schon in der Erstfassung ging es um die Frage, ob kausalpsychologisch plausible Vorgänge zusätzlich einer weiteren göttlichen Ursache bedürfen. Die Zweitfassung vertieft dieses Thema und beweist damit, daß sich Keller mit der Frage des Zufalls in der Zweitfassung verstärkt auseinandersetzte.178 Einige Minuten nach dem Gebet sieht Heinrich nun im verdunkelten Zimmer etwas golden leuchten. Dieses Phänomen läßt er nicht auf sich beruhen: So stand ich auf, die Erscheinung zu untersuchen, und fand, daß der Glanz von der metallenen Klappe meiner Flöte herrührte, die seit Monaten ungebraucht in jener Ecke lehnte gleich einem vergessenen Wanderstabe. Ein einziger Sonnenstrahl traf das Stückchen Metall durch die schmale Ritze, welche zwischen den verschlossenen Fenstervorhängen offen gelassen war; allein woher, da das Fenster nach Westen ging und um diese Zeit dort keine Sonne stand? Es zeigte sich, daß der Strahl von der goldenen Spitze eines Blitzableiters zurückgeworfen war, die auf einem ziemlich entfernten Hausdache in der Sonne funkelte, und so seinen Weg gerade durch die Vorhangspalte fand. Indessen hob ich die Flöte empor und beschaute sie. „Die brauchst du auch nicht mehr!“ dachte ich, „wenn du sie verkaufst, so kannst du wieder einmal essen!“ Diese Erleuchtung kam wie vom Himmel, gleich dem Sonnenstrahl. (GH2, S. 668) ______________________
178 Schon Preisendanz hat auf das „Flötenwunder“ hingewiesen [vgl. Preisendanz (1963): Der grüne Heinrich, S. 86f.]. Er interpretiert es allgemein als Veranschaulichung des Zwiespalts zwischen poetischer Phantasie und gesetzmäßiger Wirklichkeit, oder genauer: Am „Flötenwunder“ wie auch der ganzen Jugendgeschichte Heinrichs sehe man die „Bedeutung und Problematik der Einbildungskraft als Vermittlerin zwischen innen und außen“ [Preisendanz (1963): Der grüne Heinrich, S. 101]. In der Interpretation der vorliegenden Arbeit schränken wir diese sehr allgemeine und unhistorische Charakteristik auf das weltanschaulich relevante Problem der Teleologie ein und gewinnen dadurch neue Fragerichtungen, wie etwa diejenige nach Veränderungen im zeitgenössischen Wissenskontext oder nach der Orientierungsfunktion teleologischer Erklärungen in einer kausal-kontingent aufgefaßten Welt.
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Heinrich macht sich also daran, den Lichtweg nachzuvollziehen. Dieser läßt sich genau beschreiben und ließe sich auch mit mathematischer Präzision berechnen. Daß der Lichtstrahl genau die Flöte trifft, die Heinrich verkaufen wird, scheint zwar ein großer Zufall zu sein, gleichwohl kann er einfach erklärt werden. Doch Heinrich genügt es nicht, dies zu konstatieren. Vielmehr verfällt er dem Glauben an eine „transzendente Wirkung“, „überzeugt, daß der liebe Gott doch unmittelbar geholfen habe.“ (GH2, S. 671) Zur Abrundung des Vorgangs fügt Heinrich noch ein Abschlußgebet an, „[s]chon der Symmetrie wegen“ (GH2, S. 671). Damit macht er ein zufälliges Ereignis und die eigene kontingente Anschlußhandlung zu einer erlebten Ganzheit, zum Ritual.179 Hier bleibt die Analyse aber nicht stehen. Den Grund für den Wunderglauben sieht der erzählende Heinrich in der „Eigenliebe“ (GH2, S. 671) und dem Bedürfnis eines „persönlichen Zusammenhanges mit der Weltsicherheit“ (GH2, S. 673). Gerade im Punkt der Eigenliebe, des Egoismus, macht sich wieder die Feuerbach-Rezeption Kellers bemerkbar. Der Linkshegelianer hatte Teleologie auf den Egoismus, alles in Analogie zu sich selbst zu denken und auf sich zu beziehen, zurückgeführt. Daß ausgerechnet der Blitzableiter das Licht so reflektiert, daß Heinrich an ein Wunder glaubt, ist eine Ironie der Geschichte. In der Aufklärung hatte der Blitzableiter wesentlich dazu beigetragen, sich von dem Glauben eines durch Blitze strafenden Gottes zu entledigen.180 Heinrich dagegen wird durch den Blitzableiter zu Gott geführt.181 Heinrichs Wunderglaube hält aber, ganz wie in der Erstfassung, nur solange an, wie er hungrig ist. Auch dies läßt an Feuerbach denken, der festhielt, daß das Wunder ein menschliches Bedürfnis zu seiner Voraussetzung habe.182 Satt schämt sich der erlebende Heinrich für seinen Wunderglauben und versucht, das Gebet als „anererbte Gewohnheit“ (GH2, S. 673) zu ______________________
179 Vgl. Werner Hahl: Zur immanenten Theorie und Ästhetik des Erlebens in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich (erste Fassung 1854/55). In: Martin Huber, Gerhard Lauer (Hg.): Bildung und Konfession. Politik, Religion und literarische Identitätsbildung 1850–1918. Tübingen 1996, S. 53–78. Hahl geht davon aus, daß Keller ein großes Interesse an Ritualen hat, mit dem Erlebnisse modelliert werden: „Dieses Ganze der rituellen Handlung grenzt sich gestalthaft von der Welt des Zufälligen und Gewöhnlichen ab und erfaßt ‚mein‘ unmittelbares Dabeisein als ein geordnetes und gesetzliches.“ (ebd. S. 58) In diesem Sinn macht Heinrich aus einer zufälligen Beobachtung eine geschlossene und sinnvoll erlebbare Gestalt. 180 Ein Dokument hierfür: Georg Christoph Lichtenberg: Gewitterfurcht und Blitzableitung (Auf Verlangen). In: Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. 4 Bde. Hg. von Wolfgang Promies. München 1967–1992. Hier Bd. 3, S. 130–137. 181 Müller bringt den Blitzableiter mit der goldenen Turmspitze in Verbindung, die Heinrichs erste Visualisierung für Gott war, und übersieht dadurch diese Pointe. Vgl. Müller (1988): Wiederlesen, S. 83. 182 „Das religiöse Wunder hat zu seiner Voraussetzung einen menschlichen Wunsch, ein menschliches Bedürfnis.“ (VWR, S. 264)
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erklären, die das Gemüt erleichtere und dem Betenden dadurch ermögliche, Abhilfe für die Situation zu suchen.183 Dieser ganze Prozeß aber sei „göttlicher Natur“ (GH2, S. 673). Der erzählende Heinrich relativiert auch diese „pedantische Abrechnung“ (GH2, S. 673), ohne sich aber deshalb über seine früheren Gedanken lustig zu machen. Beim anschließenden Versuch Heinrichs, die Flöte beim Trödler zu verkaufen, muß er deren Funktionsfähigkeit demonstrieren. Zu diesem Zweck spielt er die Freischütz-Arie:184 Und ob die Wolke sie verhülle, Die Sonne bleibt am Himmelszelt. Es waltet dort ein heil’ger Wille, Nicht blindem Zufall dient die Welt. (GH2, S. 670)
Damit wird das Zufalls-Thema wieder aufgegriffen. Sonne und Wolken werden ganz unmittelbar mit dem göttlichen Wirken assoziiert und dem „blindem Zufall“ entgegengestellt. So zeigt das neu eingefügte Flötenwunder, daß der Wunderglaube selbst in einer vollständig kausal beschriebenen Welt möglich, ja in subtiler Form unausweichlich ist. Die Flötenszene kann man als bildliche Antwort auf die von Nicolai Hartmann aufgeworfene Frage verstehen: „[W]ie ist es überhaupt möglich, daß ein Kausalprozeß für einen Finalprozeß gehalten wird?“185 Hartmanns Antwort ließe sich an Heinrichs Untersuchung des Lichtstrahls und seinem Wunderglauben ablesen: [E]s ist einem Ablauf rein als solchem niemals anzusehen, ob er kausal oder final determiniert ist. Und da in aller Finaldetermination das Kausalverhältnis schon mit vorausgesetzt ist – denn im Realprozeß bringen auch die Mittel den Zweck kausal hervor –, so muß man richtiger sagen: es ist einem Ablauf als solchem nicht anzusehen, ob er bloß kausal oder auch final determiniert ist.186
Heinrich untersucht den kausal bewirkten Realprozeß des Lichtes und denkt sich zusätzlich noch einen göttlichen Zweck dazu, womit er den Kausalnexus durch Finalität überschreibt. Kausalität und Finalität widersprechen sich nicht, vielmehr setzt Kausalität die Zwecke in die Realität um. Genau dem Verhältnis von Kausalität und Finalität geht die Zweitfassung viel präziser als die erste nach. Dies liegt sicher daran, daß im Zuge der Teleologiekrise der 1870er Jahre das Verhältnis von Kausalität und Finalität verstärkt diskutiert wurde. ______________________
183 Der Einfluß des Lamarckismus, also der Vererbung erworbener Eigenschaften, ist an dieser Stelle deutlich zu spüren. 184 Wie einige andere Zusätze in der Zweitfassung hat auch die Stelle mit dem flötenspielenden Heinrich einen biographischen Hintergrund: „Das ‚Flötenwunder‘ des neuen ‚Grünen Heinrich‘ ist buchstäblich erlebt.“ [Ermatinger (1924): Keller, S. 93.] 185 Hartmann (1951): Teleologisches Denken, S. 19. 186 Hartmann (1951): Teleologisches Denken, S. 19.
Der grüne Heinrich (2. Fassung, 1879/80)
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3.3.4 Ateleologische Wirklichkeitsauffassung („Der Lauf der Welt“) Auch wenn Heinrich immer wieder dem teleologischen Schein und damit dem Glauben an eine Realteleologie erliegt, so wird doch in der Zweitfassung eine neue Formel dominant, mit der Heinrich sein Leben und die Welt ohne Zuhilfenahme von Teleologie zu verstehen sucht. Mit der Metapher des „Weltlaufs“ oder des „Laufs der Welt“ deuten Heinrich selbst sowie der Graf wesentliche Teile von Heinrichs Biographie und des allgemeinen Geschehens. Das vorletzte Kapitel des Romans trägt ebenfalls den Titel „Der Lauf der Welt“ (vgl. GH2, S. 838–848). In diesem Kapitel erfährt Heinrich rückblickend das Schicksal seiner Mutter vor ihrem Tod (vgl. GH2, S. 838f.). Anders als in der Erstfassung hat nicht allein Heinrichs Abwesenheit zu ihrem Tod beigetragen. Eines Tages erhielt sie eine Vorladung beim Polizeipräsidium: Ihr Sohn werde gesucht, aber man wisse nicht, weshalb. Nun hat die polizeiliche Suche nach Heinrich einen erfreulichen Hintergrund: Es geht um ein Teilerbe über 4000 Gulden, das der Trödler Heinrich hinterlassen hatte (vgl. GH2, S. 827) und das ihm nun zukommen soll. Doch da davon zufällig niemand weiß, vermutet man auf der Polizeistation, daß sich Heinrich wegen Schulden vor Gericht zu verantworten habe. Die Mutter kann nun nicht einmal den Aufenthaltsort ihres Sohnes angeben, da er sich sehr lange bei ihr nicht gemeldet hatte; zudem spricht sich das Gerücht über Heinrichs Schulden herum, das die Mutter sehr verunsichert. Weitere äußere Umstände tragen zu ihrem Tod bei: Sie konnte eine fällige Zinszahlung für ihr Haus nicht aufbringen, weil ihr niemand das Geld bereitstellen wollte. Dies hatte wiederum die Ursache, daß „Gewinnlustige“ (GH2, S. 839) selbst das Haus erwerben wollten, weil eine Wertsteigerung der Immobilie wegen eines geplanten Bahnhofs zu erwarten war. So haben also ein unglückliches Mißverständnis und Spekulationen auf dem Immobilienmarkt zu ihrem Tod beigetragen. Heinrich kommentiert: Der Gedanke, daß unglücklicher Zufall und die Arglist Gewinnsüchtiger die Hand im Spiele gehabt, erleichterte keineswegs die Last, welche jählings auf mein Gewissen fiel mit einem Gewichte, gegen welches der Druck von Dorotheas eisernem Bilde leicht wie eine Flaumfeder schien; oder auch umgekehrt: ich möchte sagen, daß die Schwere in ein Gefühl der Leerheit überging, wie der höchste Kältegrad einem Brennen gleicht. Es war fast, wie wenn meine eigene Person aus mir wegzöge. (GH2, S. 840)
Erstaunlich ist hieran zunächst, daß Keller den so wichtigen Tod der Mutter unter anderem an ein unglückliches Mißverständnis knüpft.187 Vor ______________________
187 Der andere Faktor, der zu ihrem Tod beiträgt, nämlich das Gewinnstreben der Menschen, wird in der neu eingefügten, ebenfalls allegorisch zu verstehenden Spinnenszene (vgl. GH2, S. 630–633) weiter ausgeführt. Auch hier spricht Heinrich vom „allgemeine[n] Weltlauf“.
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Gottfried Keller: Der grüne Heinrich
allem jedoch ist bemerkenswert, daß Heinrich nicht mehr versucht, diesen Zufall als „transzendente Wirkung“ zu begreifen. Weder versteht er ihn als Strafe für eigenes Fehlverhalten – so wie der Schulmeister Heinrichs Schulverweis als „ernste Strafe und Belehrung“ (GH1, S. 250) verstanden hatte – noch wird der Zufall vor dem Hintergrund von Ansprüchen auf eine moralische Weltordnung gesehen. Er bleibt sowohl vom erlebenden als auch vom erzählenden Heinrich ungedeutet. Er beschreibt allerdings die Wirkung des ungedeuteten Zufalls ungewohnt ausführlich und drastisch. Höchster Schmerz und der beinahe Verlust der Persönlichkeit sind die Folgen, wenn man auf keine Weise Teleologie ‚hinter‘ dem Zufall ausmachen kann. Erst Monate später schafft es Heinrich nach diesen Ereignissen, an den Grafen zu schreiben. Im Antwortbrief des Grafen erscheint Heinrichs Lage als der „Lauf der Welt“, „wie er durch Paläste und Hütten gehe, Gerechte und Ungerechte heimsuche und seiner Natur gemäß unablässig sich verändere.“ (GH2, S. 845) Der Weltlauf scheint wahllos zu sein, sein Wesen ist seine Unbeständigkeit. Es gibt keine Entwicklung mehr zu einem Ziel und zufällige Störungen dieser Entwicklung, sondern nur noch Veränderungen des Lebens aufgrund kontingenter Umstände. Auf Heinrichs unglückliche Liebe zu Dortchen wird die Metapher des „Weltlaufs“ ebenfalls angewendet. Heinrich, so glaubt der Graf, hätte seine Liebe zu Dortchen früher gestehen müssen oder nach seiner Abreise zumindest bald von sich hören lassen müssen. Denn Dortchen war Heinrich nicht abgeneigt. Da er aber zu lange gewartet habe, habe Dortchen inzwischen einen anderen geheiratet. Der Graf selbst hatte offenbar großes Glück, daß seine eigene Ehefrau nicht von einem anderen heimgeführt wurde. Abschließend kommentiert er sein eigenes glückliches Schicksal vor dem Hintergrund von Heinrichs, was durch einen eigenen Absatz hervorgehoben wird: „Das ist eben auch ein Stück Weltlauf.“ (GH2, S. 847) Die glückliche Heirat des Grafen wird so zu einer weiteren Variante von Heinrichs Schicksal. Es hätte so oder so kommen können. Die Worte „ein Stück Weltlauf“ sind eine Formel der erkenntnistheoretischen Bescheidenheit und Beschränkung. Alles, was passiert, kann mit dieser Formel bezeichnet werden. Tendenzen oder Entwicklungen vorherzusagen, ist nicht möglich, da man ja stets nur ein „Stück“ der sich verändern______________________
Damit ist letztlich jedes gewinnorientierte Marktgeschehen gemeint, so daß sich die Metapher auf Heinrichs Versuch, Bilder zu verkaufen ebenso beziehen läßt, wie auf Heinrichs Mutter, die versucht, auf dem Lebensmittelmarkt möglichst viel gutes Fleisch für ihr Geld zu bekommen. Auch hier spricht Heinrich davon, daß die Mutter die Gelegenheit habe, „wenigstens einmal die Woche auf dem alten Markte zu erscheinen und den Weltlauf zu sehen.“ (GH2, S. 637) Freilich nimmt auch sie selbst an diesem Geschehen teil.
Der grüne Heinrich (2. Fassung, 1879/80)
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den Ereignisse übersehen kann. Keine Wertung, kein Maßstab ist mehr ersichtlich: So etwas kann halt passieren! Und jedem passiert es auf andere Weise. Mit einer resignativen Gelassenheit, die aus der Einsicht in die Kontingenz der Lebensumstände entspringt, konstatiert Heinrich: Freilich kam mir dieser Weltlauf etwas teuer zu stehen; denn der Umweg über das Grafenschloß hatte mich nicht nur die Mutter, sondern auch den Glauben an ihr Wiedersehen und an den lieben Gott selbst gekostet, alles Dinge indessen, deren Wert nicht aus der Welt fällt und immer wieder zum Vorschein kommt. (GH2, S. 848)
Der märchenhafte Aufenthalt auf dem Grafenschloß ist nun zunächst ein „Umweg“, der Heinrichs Abwesenheit von der Heimat verlängerte und so den Kummer der Mutter vergrößerte. Auch der Glaube an Gott und die Unsterblichkeit ist Heinrich dort genommen worden. Allerdings ist es nicht sicher, ob nicht vielleicht neue Ereignisse wieder Anlaß dazu geben, Gott zu danken, so daß sein Wert wieder ersichtlich würde. Schließlich wird auch Heinrichs Beziehung zu Judith im letzten Kapitel mit der Metapher des Weltlaufs bezeichnet. Wieder steht sie für die planlose Veränderlichkeit und Unvorhersehbarkeit von Umständen, in die man sich fügen muß: „Wir sahen uns zuweilen täglich, zuweilen wöchentlich, zuweilen des Jahres nur einmal, wie es der Lauf der Welt mit sich brachte“ (GH2, S. 861f.). So schließt der Grüne Heinrich zwar äußerlich mit einer Verbindung von Heinrich und Judith. Dieses Ende ist aber alles andere als ein „summarisches Heiratskapitel“.188 Vielmehr wendet Heinrich die Zentralmetapher für kontingente Lebensumstände nun auch auf seine eigene Beziehung zu Judith an. Gleichwohl bleibt festzuhalten, daß es auch in einer solchen, dem Zufall ausgelieferten Beziehung Glücksmomente gibt, die als „Fest“ bezeichnet werden können. Ansprüche auf dieses Glück, auf eine gerechte Weltordnung, auf einen „persönlichen Zusammenhang[ ] mit der Weltsicherheit“ (GH2, S. 673) werden nicht mehr gestellt. Das Glück ist kein durch eine transzendente Macht verbürgtes Ziel des Individuums oder der Gesellschaft, sondern muß einem inmitten kontingenter Umstände zufallen. Der erzählende Heinrich beurteilt den glücklichen oder unglücklichen Zufall nun unabhängig von realteleologischen Konzeptionen, und nicht mehr als Erfüllung oder Störung von Vorsehung-, Bildungs- oder Fortschrittskonzepten. Auch ihm als Erzähler sind „Stern und Unstern gleich kurzweilig“ (GH2, S. 458). Rückblickend auf die Münchener Zeit, also auf die Jahre der MalerAusbildung, kann dann auch erst der Heinrich der zweiten Fassung die im ______________________
188 Keller an Hermann Hettner am 25.6.1855. In: GB1, S. 415.
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Gottfried Keller: Der grüne Heinrich
Grunde einfache Feststellung treffen, daß er teilweise einfach Pech hatte und damit ein „Pechvogel“ (GH2, S. 651) gewesen sei. Daß das Leben ein „Bruchstück“ ist oder doch zumindest sein kann, hat Keller auch auf sich selbst bezogen einmal formuliert. Der Kontext ist sehr aufschlußreich, denn Jacob Baechtold hatte sich 1877 mit der Bitte an Keller gewandt, eine Biographie über ihn schreiben zu dürfen. Keller bat, davon Abstand zu nehmen und gab die folgende Erklärung: Die Sache ist die: Ich bin trotz meines Alters noch nicht fertig, sondern ein Bruchstück, das in den nächsten Jahren vielleicht ergänzt wird, aber jetzt zu keinem richtigen Bilde dienen könnte. Es kommt das von den 15 Jahren Amtsleben und von vorheriger, ungeschickter Zeitverschleuderung.189
Die Schwierigkeit besteht darin, aus einem fragmentarischen Leben, das durch Zufälle aller Art mitgestaltet wurde und selbst als kontingent betrachtet werden muß, ein literarisches Ganzes zu formen, eine Biographie zu schreiben. Keller selbst schaffte es in den Autobiographien Heinrichs, inhaltliche Offenheit und neuartige kompositorische Geschlossenheit gleichzeitig zu verwirklichen.
4 Zusammenfassung Die beiden Fassungen des Grünen Heinrich wurden in diesem Kapitel insofern untersucht, als sie Ausdruck und Reflexion der Teleologiekrise des 19. Jahrhunderts sind. Die Krise der Realteleologie selbst war im dritten Kapitel durch die Namen Ludwig Feuerbach und Charles Darwin gekennzeichnet worden. Feuerbachs Vorlesungen über das Wesen der Religion hörte Keller in Heidelberg. Mit den Teleologie-Diskussionen der 1870er Jahre, die sich an Darwins Theorie über die Entstehung der Arten entfachten, wurde Keller beispielsweise über David Friedrich Straußens Buch Der alte und der neue Glaube bekannt. Die erste Fassung des Grünen Heinrich simulierte Kontingenz, in dem sie erzählteleologische Schemata verwendete und sie entweder abbrach oder ihnen ein negatives Ende gab. Die dezidierte Antiteleologie der Erstfassung konnte unter Zuhilfenahme der Forschungsliteratur bei den Schemata des Bildungsromans, der Lebensreise, der Typologie und bei der Vorausdeutung auf Heinrichs Ende gezeigt werden. Sie stiften die tragende Struktur des Romans. Die antiteleologische Verwendung dieser Schemata ließ die Erstfassung zu einer „Protestation“ gegen die Vorsehung werden. Doch wird das Erzählen durch die Simulation dieser Antiteleologie nicht etwa chaotisch. Natur erwies sich als Wertsphäre, die ______________________
189 Keller an Jacob Baechtold am 28.1.1877. In: GB3/1, S. 282.
Zusammenfassung
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dem Roman einen Rahmen geben konnte und ein unbedingter Wertmaßstab war, an dem sich auch die Figuren orientieren konnten. In der erzählten Welt erwiesen sich Vorsehungs-Vorstellungen als Trug. Heinrichs teleologische Interpretation des Zufalls als Schickung eines persönlichen Gottes wurde deutlich als Projektion eines bedürftigen Individuums charakterisiert. Gleichwohl hielt Heinrich bis zum Schluß an der Vorstellung einer Schickung der Zufälle fest, um sich nicht mit dem Gedanken an die Kontingenz der Dinge abfinden zu müssen. Faßt Heinrich die Welt auch immer wieder als technomorph auf, so findet er doch nach der Goethe-Lektüre zum „e i n e n Lebensgrund“. Kellers Strategie der Neubearbeitung des Grünen Heinrich trug Züge der fortschreitenden Teleologiekrise. Seine Schreibstrategie erwies sich mit der Rundung zum abgeschlossenen und definitiven Werk zunehmend inkompatibel. Das Überarbeiten, Anfügen, Verändern und Weiterschreiben konnte als ‚offene‘ Schreibstrategie gelesen werden, die dem modernen fragmentarischen Schreiben nahe steht. Das Problem, den eigenen Texten einen Schluß zu geben, erwies sich als Moment dieser neuen, die Erzählteleologie unterminierenden Produktionsweise. Die Zweitfassung des Grünen Heinrich zeigte eine vertiefte Reflexion auf das Teleologie-Problem, insbesondere auf die Möglichkeiten der erzählerischen Repräsentation der ateleologischen Welt. Durch das auf der Handlungsebene offene Ende, die Rücknahme der Lebensreise als natürliche Form der Biographie, die Einfügung von Parallelgeschichten und Allegorien, die Rücknahme der Typologie und den Abbau der Zielvorstellungen erreichte Keller, daß weniger Textelemente auf das Ende des Protagonisten finalisiert waren. Die Erzählteleologie wurde geschwächt, alternative Lebensentwürfe wurden wichtiger. Der Offenheit und Kontingenz des Endes auf der Handlungsebene wirkte eine neue, kompositorische Geschlossenheit entgegen, die dem Text durch Motivverweise Kohärenz verschaffte und ihn als Metatext enden ließ. Einen wichtigen Hinweis darauf, daß die von Darwin verstärkte Teleologiekrise als Problemgenerator hinter vielen Fassungsunterschieden steht, konnten wir dem Naturbild der Zweitfassung entnehmen. Natur wurde nicht mehr hauptsächlich in Beziehung zum Menschen gesehen, Anthropomorphismen verschwanden ebenso wie die Konnotationen der Natur als etwas Göttlichem. Die Grausamkeit und Gleichgültigkeit der Natur wurde in der Zweitfassung verstärkt berücksichtigt. Schließlich wurde deutlich, daß Keller der Frage, in welchem Sinn es in der Erzählliteratur den Zufall überhaupt geben kann, verstärkt nachgeht. Sein eigenes Eingreifen in die Romanhandlung, um den Ereignissen eine andere Wendung als in der Erstfassung zu geben, markierte er unglaubwürdig als gottgeschickten Zufall, was man an der Fechtszene
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beobachten konnte. Dortchens Loskörbchen wurde als Allegorie eines neuen Autor-Leser-Verhältnisses gelesen, bei dem letzterer seinen Blick auf die Entstehungsprozesse des ‚fertigen‘ Textes richten und so jenseits der Realitätsillusion eine neue Freude an den Texten entwickeln konnte. Beide Szenen zeigen auf ihre Weise, daß im Text eine Leserolle angelegt ist, die beide Fassungen kritisch zugleich würdigt. Im „Flötenwunder“ betrieb Keller anhand von Heinrichs Flötenverkauf weltanschauliche Grundlagenforschung hinsichtlich einer Vereinbarkeit von Kausalität und Teleologie. Heinrich und der Graf reflektierten schließlich die Kontingenz der Welt ohne Rückgriff auf theologische Begriffe als den „Lauf der Welt“, was die Naturgesetzlichkeit des Geschehens ebenso so auf den Punkt brachte wie deren Zufälligkeit für das Individuum.
VI Kellers Spätwerk und ein Ausblick in die Moderne Die Dichter des poetischen Realismus, allen voran Gottfried Keller und Friedrich Theodor Vischer, schrieben und dachten in einer Zeit, in der realteleologische Deutungsmuster ihre Orientierungsfunktion verloren, die sie lange Zeit weitgehend unbemerkt erfüllt hatten. Dieser schleichende Prozeß, der sich gleichwohl präzise fassen läßt, enthüllte erst die umfassende Leistungsfähigkeit realteleologischer Vorstellungen.1 Doch die Auflösung der Teleologie als Kohärenzmuster setzt sich im 20. Jahrhundert weiter fort und verweist die Dichter immer wieder auf Formprobleme. Die Krise der Realteleologie spielt bei der Herausbildung einer spezifisch modernen Dichtung eine wichtige Rolle. So wie die stillschweigend funktionierende Realteleologie ein ‚Sinngenerator‘ ist, macht ihre Krise sie zu einem ‚Problemgenerator‘. Ausgehend vom Spätwerk Kellers soll diese These anhand der Philosophie und Dichtung der Jahrhundertwende illustriert werden. Während Auch Einer schon von den Zeitgenossen – und von Vischer selbst – nicht mehr als Roman im Sinn der Gattungskonventionen angesehen wurde, hielt sich Keller zumindest oberflächlich an literarische Gattungen wie den Roman oder die gerahmte Novellensammlung. Wie schon bemerkt, läßt sich in Kellers späten Werken ebenfalls eine Krise der Form, besonders der Schlußgebung konstatieren, die im Zusammenhang mit der Realteleologiekrise gesehen werden muß. Die Zürcher Novellen als Novellenzyklus nehmen sich beispielsweise reichlich seltsam aus, denn: „der Rahmen endet in der Mitte“.2 Die ersten drei Geschichten werden nämlich von einer Rahmenhandlung zusammengehalten, in der Herr Jacques eben durch die dargebotenen Geschichten erzogen werden sollte. Doch nicht nur das Ende des Bildungsprozesses bleibt höchst problematisch. In der Buchausgabe wird einfach über die drei gerahmten Geschichten hinauserzählt, die zuvor bereits in der Deutschen Rundschau abgedruckt worden waren. Keller hängte in einem zweiten Band die Erzählungen Das Fähnlein der sieben Aufrechten und Ursula an, ohne den Rahmen anzupassen. ______________________
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„Doch erst der offene Abschied von diesen Ideen [wie z.B. der Teleologie; P.A.] macht ihre gesellschaftliche Leistungsfähigkeit in vollem Umfang sichtbar.“ [Jannidis (1999): Bildung, S. 451.] Erika Swales: Gottfried Kellers (un)schlüssiges Erzählen. In: Hans Wysling (Hg.): Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk. Zürich 1990, S. 91–108. Hier S. 93.
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Zudem durchbricht Ursula die bislang eingehaltene chronologische Abfolge der Geschichten. Doch noch viel grundsätzlicher läßt sich bei Keller beobachten, daß für ihn der im Realismus vielberufene Wahrheitsanspruch von Dichtung nicht mehr selbstverständlich ist. Vischer tendierte ja dazu, in letzter Konsequenz die Wahrheitssuche den Naturwissenschaften zu überlassen und bezeichnete deshalb Dichtung als „Kinderei“. Einen ähnlichen Bedeutungsverlust finden wir auch bei Keller, ohne daß er allerdings die Bedeutung der Naturwissenschaften so hoch einschätzte, wie Vischer dies in dem zitierten Aphorismus tat. Storm schrieb über Keller beispielsweise in einem Brief an Paul Heyse, daß der Schweizer nicht an seine eigenen Geschichten glaube. Romeo und Julia auf dem Dorfe und Dietegen will Storm ausgenommen wissen; „in fast allem Übrigen ist der Mangel eigner innerer Betheiligung; er hat keinen Glauben an das, was er uns vorträgt“.3 Auch bei Keller selbst finden wir Hinweise, die in eine ähnliche Richtung deuten. Nicht nur, daß im zweiten Teil der Leute von Seldwyla „das Dichten nun der Lügenhaftigkeit bezichtigt wird“4, wie es im Kommentar der Werkausgabe heißt. Auch in nichtfiktionalen Texten scheint das Dichten zunehmend in den Verdacht zu kommen, nicht im Dienst der Wahrheit zu stehen, sondern eine Form der Lüge zu sein. So gebraucht Keller in einem Brief an Wilhelm Petersen „erfunden“ und „erlogen“ synonym5 oder befürchtet, man werde ihm angesichts seiner Novelle Hadlaub „lügenhafte Erfindungen“6 vorwerfen. Für das Sinngedicht mußte sich Keller später tatsächlich für seine jeder Empirie enthobenen Einfälle rechtfertigen. Um seine Dichtung zu verteidigen, führte er die vielzitierte „Reichsunmittelbarkeit der Poesie“7 ins Feld, also „das Recht, zu jeder Zeit, auch im Zeitalter des Fracks und der Eisenbahnen, an das Parabelhafte, das Fabelmäßige ohne weiteres anzuknüpfen, ein Recht, das man sich nach meiner Meinung durch keine Kulturwandlungen nehmen lassen soll.“8 Wie sehr den Zeitgenossen das Besondere, das Keller mit der „Reichsunmittelbarkeit der Poesie“ umschreiben wollte, auffiel, zeigt ein bemerkenswerter Tagebucheintrag von Theodor Fontane. Er schrieb 1881 über das Sinngedicht: ______________________
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Storm am Paul Heyse am 17.11.1876. In: Theodor Storm – Paul Heyse. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. 3 Bde. Hg. von Clifford Albrecht Bernd. Berlin 1969–1974. Hier Bd. 2, S. 21. Vgl. den Kommentar zu Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla. In: KSW, Bd. 4, S. 646. Vgl. Keller an Wilhelm Petersen am 18.7.1877. In: GB 3/1, S. 357. Keller an Jacob Baechtold am 25.12.1876. In: GB 3/1, S. 280. Keller an Paul Heyse am 27.7.1881. In: GB 3/1, S. 57. Keller an Paul Heyse am 27.7.1881. In: GB 3/1, S. 57.
Kellers Spätwerk und ein Ausblick in die Moderne
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Es ist auch in der Tat etwas durchaus Superiores darin, das gerade, was der Alltagsmensch nicht kann, nicht einmal zu können wagt. Ich bin mir aber doch nicht sicher, ob das Vorgeschilderte [der Kellersche Plauderton; P.A.] die Aufgaben sind, die man sich stellen soll. Eine exakte, natürlich in ihrer Art auch den Meister verratende Schilderung des wirklichen Lebens, das Auftretenlassen wirklicher Menschen und ihrer Schicksale scheint mir doch das Höhere zu sein. Ein echtes, ganzes Kunstwerk kann ohne Wahrheit nicht bestehn, und das Willkürliche, das Launenhafte, so reizvoll, so geistreich, so überlegen es auftreten mag, tritt doch dahinter zurück. Ich weiß wohl, daß auch das Maß der Kunst in diesen Kellerschen Sachen sehr groß ist und daß sich der sehr irren würde, der etwa glaubte, ihm diese Launen und Einfälle bequem nachmachen zu können, im Gegenteil, all dies ist wenigen gegeben und ist auch für diese gerade noch schwer genug, ist aber doch die Schwierigkeit der Künstelei. Und vor dieser hat man sich in der Kunst zu hüten.9
Fontane gesteht Keller also unumwunden größte Meisterschaft zu, stellt aber zugleich kritisch fest, daß ein Kunstwerk „ohne Wahrheit“ nicht bestehen könne. Diese „Schilderung des wirklichen Lebens, das Auftretenlassen wirklicher Menschen“ vermißt er am Sinngedicht, so daß er die große formale Meisterschaft ohne entsprechenden Inhalt verwirklicht sieht. Deshalb wirft er Keller schließlich „Künstelei“ vor. Doch dies ist freilich nur die eine Seite von Kellers überraschend heterogenem Spätwerk. Die andere ist der Roman Martin Salander, der sich nach Kellers eigenen Worten „ganz logisch und modern“10 aufführt. Allerdings ist die Klage Kellers über den eigenen Roman überliefert, daß er „nicht schön“ sei: „Es ist nicht schön! Es ist nicht schön! Es ist zuwenig Poesie darin!“11 Mit dem Salander glaubte Keller von dem lebenslang befolgten Wahlspruch „Wahr und schön!“ abgewichen zu sein.12 Auch Dritte bemerkten das Neue am Roman: Storm bezeichnete ihn in einem Brief an Keller vom 9. Dezember 1887 als „grausam realistisch“.13 Er muß geradezu wie ein Schock auf ihn gewirkt haben, wie eine eigentümlich taktlose Bemerkung Storms beweist: „Dann kam der Tod meines Sohnes, dann meine schwere Krankheit, dann Ihr Buch.“14 ______________________
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Theodor Fontane: Sämtliche Werke. 24 Bde. München 1959–1975. Hier Bd. 21, 1. Teilband, S. 260f. Keller an Theodor Storm am 14./16.8. 1881. In: GB 3/1, S. 465. Keller schreibt dort: „Ich gehe jetzt mit einem einbändigen Romane um, welcher sich ganz logisch und modern aufführen wird; freilich wird in anderer Beziehung so starker Tabak geraucht werden, daß man die kleinen Späßchen vielleicht zurückwünscht.“ Mit den „kleinen Späßen“ meinte Keller einige skurrile Details aus der Armen Baronin (im Sinngedicht), die Storm scharf kritisiert hatte. Adolf Frey: Erinnerungen an Gottfried Keller. Bern o.J., S. 36. Frey (o.J.): Erinnerungen an Gottfried Keller, S. 36. Storm an Gottfried Keller am 9.12.1887. In: GB 3/1, S. 506. Storm an Gottfried Keller am 12.1.1887. In: GB 3/1, S. 503.
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Das Überzeugungssystem des poetischen Realismus, das in dem Glauben bestand, Dichtung könne die Welt verklären oder idealisieren und in diesem Akt zur ‚wahren Wirklichkeit‘ vordringen, scheint an ein Ende gekommen zu sein. Innerhalb dieses Überzeugungssystems sind die Probleme, die sich aus der Krise der Realteleologie ergeben, nicht mehr zu lösen. Man kann sich zunehmend in „Künstelei “ ergehen auf die Gefahr, daß der Wirklichkeitsbezug, die ‚Wahrheit‘ im emphatischen Sinn, verloren geht, oder man versucht ‚wahr‘ zu sein und gibt damit die verklärende Poesie auf. Eine Gratwanderung zwischen diesen Polen vollziehen sowohl Keller als auch Vischer, letzterer versuchte sich auch theoretisch durch das Konzept der „indirekten Idealisierung“ an die neue Problemsituation anzupassen. Doch um 1890 verschiebt sich das Problem grundlegend, nämlich von der Wirklichkeit auf die Bedingungen ihrer Erkenntnis. Mit dieser Verlagerung des Problems ins Transzendentale war jeder naiven Wirklichkeitsgläubigkeit, mithin den einfacheren Spielarten von Realismus und Naturalismus, ein vorläufiges Ende bereitet. Anhand von Vischers und Kellers Texten konnte gezeigt werden, wie die Wirklichkeit zunehmend ateleologisch aufgefaßt wurde und welche Probleme sich für Dichtung und Ästhetik daraus ergeben. Um 1890 rückt dagegen der Gedanke in den Vordergrund, daß eine an Wahrheit orientierte Erkenntnis der Wirklichkeit gar nicht möglich sei, weil der Mensch mit seinen Sinnesorganen in einer ganz zufälligen und dem Wandel unterworfenen Beziehung zur Natur stehe. Das hatte freilich schon so ähnlich Schelling an Kant kritisiert, woraufhin Schelling die Natur als Form des Geistes erkannte und das Problem der Erkennbarkeit nicht mehr virulent war. Nun wird Kants Lehre von den apriorischen Denk- und Anschauungsformen biologisiert, indem das, was beim Individuum vor aller Erfahrung existiert, nun als stammesgeschichtlich erworbener und vererbter Kategorienapparat verstanden wird.15 Das Apriorische ist also nur für das Individuum vor aller (eigenen) Erfahrung, es ist gleichwohl aus Erfahrungen entstanden, nämlich aus dem nur durch Wirklichkeitskontakt möglichen Anpassungsdruck, dem die Vorfahren ausgesetzt waren. Erste Ansätze zu dieser Auffassung, die einen radikalen Bruch mit der philosophischen Tradition bedeutet, finden wir wieder einmal bei Friedrich Albert Lange, und zwar besonders in der ersten Auflage der Geschichte des Materialismus von 1866.16 ______________________
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Vgl. zu diesem Problemkomplex Eibl (2000): Darwin, Haeckel, Nietzsche. Vgl. Jörg Salaquarda: Nietzsche und Lange. In: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 236–253 und die daran anschließende Diskussion (ebd. S. 254–269). Dort präzisiert Salaquarda: „Merkwürdigerweise bietet die erste Auflage [von Langes Geschichte des Materialismus; P.A.] in viel stärkerem Maße eine sozusagen biologistische oder organistische Deutung des Transzendentalen. Was Kant als die Prinzipien unserer Erkenntnis, als die transzendentalen Gegeben-
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Nun werden auch die Verstandeskategorien kontingent: Sie hätten sich im Laufe der Evolution auch anders entwickeln können und sie bergen die Gefahr von Irrtümern.17 Die Grunderkenntnis, daß unsere Sinne ‚nur‘ evolutionär bewährte Organe sind, nicht auf Erkenntnis und Wahrheit gerichtet, sondern zum Überleben angelegt, erschüttert um 1900 die Kultur. Dabei wird der Schwerpunkt entweder auf die mehr oder weniger gute Anpassung gelegt oder auf die bloße Zufälligkeit des Sinnenapparats, von dem Erkenntnis und mithin das Ich abhängen. Daß Nietzsche in dieser Hinsicht vielfach von Lange beeinflußt ist, wurde bereits mehrfach dargelegt.18 Aber auch die Denker, die gemeinhin als Wegbereiter der literarischen Moderne gelten, nämlich Ernst Mach und Fritz Mauthner, haben ebendiese Position zur Grundlage. Damit läßt sich wohl eine wichtige Bedeutung des Darwinismus für die Sprachkritik und Literatur der Jahrhundertwende annehmen, was hier nur angedeutet werden kann. Ernst Mach nimmt beispielsweise in seiner Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen ganz unaufgeregt eine ateleologisch-evolutionistische Position ein. Er lehnt einen grundlegenden Unterschied von Physischem und Psychischem ab und findet es daher nur natürlich, sich der „Anwendung der Entwicklungslehre auf die Theorie der Sinnesorgane“19 zu widmen. Das Ich erscheint nicht mehr als stabile und vorgegebene Einheit, dessen Sinne und Erkenntnisapparat wundersamerweise auf die Wirklichkeit passen, sondern es ist ein Bündel von veränderlichen und von der Umwelt (den Empfindungen) abhängigen Elementen.20 Dabei ist die Ausbildung der Empfindungsfähigkeit geleitet durch „Interesse“, das heißt durch die Notwendigkeit zu Überleben und sich zu Reproduzieren. Dieses im Laufe der Evolution entstandene Bündel aus Empfindungen werde zur „denkökonomischen Einheit“21 des Ichs zusammengefaßt. „Die Abgrenzung des Ich stellt sich daher instinctiv her, wird geläufig und befestigt sich vielleicht sogar durch Vererbung.“22 Vor diesem darwinistischen Hintergrund ist Machs bekanntes Diktum zu verstehen, daß das „I c h […] unrettbar“23 sei. Der eigentliche ______________________
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heiten herausgearbeitet hatte, das ist für Lange in der ersten Auflage seines Werks ‚unsere Organisation‘, man muß es biologisch – z.B. mit Hilfe der Sinnesphysiologie – untersuchen.“ (ebd. S. 258). Vgl. auch George Stack: Lange and Nietzsche. Berlin, New York 1983. Bes. S. 196–202. Vgl. Stack (1983): Lange and Nietzsche, S. 199. Vgl. Salaquarda (1978): Nietzsche und Lange; Stack (1983): Lange and Nietzsche. Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Jena 21900, S. 55. Vgl. Mach (1900): Analyse der Empfindungen, S. 15–20. Vgl. Mach (1900): Analyse der Empfindungen, S. 15. Vgl. Mach (1900): Analyse der Empfindungen, S. 15. Mach (1900): Analyse der Empfindungen, S. 17.
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Problemgenerator hierbei ist ein ateleologisches, auf zufälliger Anpassung basierendes Darwin-Verständnis. Deshalb nimmt Mach auch gegenüber dem Teleologie-Problem eine deutliche Position ein: Die Teleologie darf nur als „vorläufige“ Methode zu einer Untersuchung hinzugezogen werden.24 Mach hat schließlich in Erkenntnis und Irrtum die Prinzipien von Zufall und Anpassung auch auf den Fortschritt des wissenschaftlichen Wissens angewandt und damit eine frühe, weitgehend evolutionstheoretisch fundierte Theorie des Erkenntniszuwachses konzipiert.25 Denn der „Naturforscher kann zufrieden sein, wenn er die bewußte psychische Tätigkeit des Forschers als eine methodisch geklärte, verschärfte und verfeinerte Abart der instinktiven Tätigkeit der Tiere und Menschen wiedererkennt, die im Natur- und Kulturleben täglich geübt wird.“26 Doch Mach äußerte die Gedanken, die in Erkenntnis und Irrtum ausgeführt wurden, in Grundzügen schon 1883.27 Wenige Jahre zuvor hatte Vischer mit seiner „Art von Darwinismus N. 2“, in dieselbe Richtung gedacht, sich aber letztlich entschieden, Moral und Wahrheit zeitlos zu denken (der „Lichtgeist“ in Alberts Naturmythologie). Bei Ernst Mach hingegen ist ‚Wahrheit‘ ‚nur noch‘ hinreichend angepaßte Erkenntnis, die auf der Grundlage evolutionär entstandener Sinnesorgane zustande kommt. Damit hat er die Umstellung auf einen neuen, instrumentalistischen Wahrheitsbegriff vollzogen, dem die Wahrheit eben hinreichende Anpassung des Denkens an die Wirklichkeit ist. Mit seiner publikumswirksamen Formel des ‚unrettbaren Ich‘ ist diese Position auf den Punkt gebracht. Bei dem Lamento aus den Antimetaphysischen Vorbemerkungen bleibt er allerdings nicht stehen, sondern zeigt in Erkenntnis und Irrtum, wie der Mensch zu seinen für die Orientierung in der Wirklichkeit insgesamt doch recht brauchbaren Erkenntnissen gekommen ist. Eben darin geht Mach auch über Fritz Mauthners Beiträge zur einer Kritik der Sprache hinaus, die vielfach bei der negativen Kritik stehen bleiben ohne zu erklären, warum und inwieweit Sprache (und damit zusammenhängend: Erkennen) trotzdem funktioniert. Mauthner stellt sich zwei Auffassungen entgegen, die beide ein vollständiges Passungsverhältnis von Verstand und Erscheinungswelt zur Grundlage haben: Zum einen ist das der Glaube, daß der Verstand auf die ______________________
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Allerdings ist für Mach auch die Kausalität ein problematischer Begriff: Sowohl hinter dem Zweckbegriff als auch hinter der „wirkenden Ursache“ vermutet Mach anthropomorphe Vorstellungen. Hier könnte man durchaus auch einmal systematisch anschließen, indem man eine evolutionäre Theorie des Erkenntniswandels konzipierte. Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Leipzig 21906, S. V. Ernst Mach: Über Umbildung und Anpassung im naturwissenschaftlichen Denken. In: Populärwissenschaftliche Vorlesungen. Leipzig 21897, S. 237–257.
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Welt zugeschnitten sei wie ein Handschuh für eine Hand, zum anderen die Annahme Kants, daß die Welt dem Verstand zweckmäßig entgegenkomme.28 Statt dessen nimmt er eine darwinistische Position ein und streicht heraus, daß niemand bisher ahnte, wie wenig die Welt und unsere armen fünf Sinne zueinander passen, wie vielmehr die Organismen in ihrer Lebensnot in sich diese verzweifelten fünf Sinne ausgebildet haben, um sich, daß heißt ihr Leben und ihre Nachkommen, dem Nachbarleben anzupassen. Die Wirklichkeit ist ein Ozean von Wirklichkeiten und Möglichkeiten, von Elementen und Kräften, vielleicht von wirklich gewordenen Möglichkeiten. Was wissen wir davon?29
An dieser Stelle wird exemplarisch deutlich, daß die Einsicht in die evolutionäre Angepaßtheit der Sinne an die Außenwelt einen Kontingenzschub auslöst, der wohl noch viel umfassender ist als die bloße Einsicht in die Entstehung der nichtmenschlichen Natur durch Evolution. Denn es darf nicht vergessen werden, daß von den Sinnen der Verstand und seine Kategorien abhängen: „es ist nichts im Verstande, was nicht vorher in unseren sich entwickelnden Sinnen war, und die Entwicklung dieser Sinne ist ein Werk der Wirklichkeitswelt, die Sinne sind Zufallssinne.“30 Das ganze „Seelenleben“, vom Bewußtsein vegetativer Funktionen bis zur Vernunfterkenntnis, hängt nun von den zufällig entstandenen und im entstehen begriffenen Sinnesorganen („Zufallssinne“) ab. Da die Sprache nach Mauthner an die Sinneseindrücke gebunden ist, heißt das in der Folge, daß Substantive keine objektiven Dinge, Verben keine objektiven Vorgänge, und Adjektive keine objektiven Eigenschaften bezeichnen. Doch damit nicht genug. Die Sprache bezieht sich nicht nur auf die „Täuschungen“ der Zufallssinne, sondern es gibt es auch keine stabile Existenz dieser Täuschungen im Subjekt, da sich die Sinne im Laufe der Evolution verändern. Unter Rückgriff auf Heraklit wird dieser Kontingenzschub fragend artikuliert: „A l l e s f l i e ßt . D i e We l t w i r d d ur c h u n s e r e w e r d e n d e n S inn e ; z u g l e i c h w e r d e n d i e S i n n e d u r c h d i e w e r d e n d e W e l t . Wo soll da ein ruhiges Weltbild entstehen?“31 In diesem Zusammenhang ist es sehr aufschlußreich, daß sich Mauthner vom deutschen Darwinismus, insbesondere von Haeckel, deutlich distanziert. Die Idee der zufälligen Entwicklung entnehme er nicht dem „deutschen Zerrbilde“32 des Darwinismus. Damit ist der von uns so genannte ‚realistisch‘ gefilterte Darwin einer der Hauptgründe für die ______________________
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Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 3 Bde. Leipzig 31923 (Nachdruck Hildesheim 1969). Hier Bd. 1, S. 327f. Mauthner (1923): Beiträge Bd. 1, S. 328. Mauthner (1923): Beiträge Bd. 1, S. 333. Mauthner (1923): Beiträge Bd. 1, S. 342. Mauthner (1923): Beiträge Bd. 1, S. 333.
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Erkenntnis- und Sprachkrise um 1900. Man muß sich an den Gedanken gewöhnen, daß um 1900 zwei ganz unterschiedliche Darwin-Interpretationen kursieren: Die eine zielt auf den Monismus Haeckelscher Prägung, ist der teleologische und ‚idealistisch‘ gefilterte Darwin, der nach Mauthner zu „Schnittlauch auf allen Suppen“33 geworden ist. Der andere, ‚realistisch‘ gefilterte Darwin, betont die Kontingenz der Umwandlung und führt bei Vischer oder Strauß, aber eben auch bei Denkern wie Lange, Nietzsche, Mach oder Mauthner zu Irritationen oder zu denkerischen Neuansätzen. Hermann Bahr sei abschließend zitiert, um zu belegen, daß der von Darwin ausgelöste Kontingenzschub, über Ernst Mach und Fritz Mauthner vermittelt, auch von Kritikern weitergetragen wurde. Über Machs Analyse der Empfindungen schreibt Bahr: „Das Ich ist unrettbar.“ Es ist nur ein Name. Es ist nur eine Illusion. Es ist ein Behelf, den wir praktisch brauchen, um unsere Vorstellungen zu ordnen. Es gibt nichts als Verbindungen von Farben, Tönen, Wärmen, Drücken, Räumen, Zeiten, und an diese Verknüpfungen sind Stimmungen, Gefühle und Willen gebunden. Alles ist in ewiger Veränderung. Wenn wir von Kontinuität oder Beständigkeit sprechen, so ist es nur, weil manche Änderung langsamer geschieht. Die Welt wird unablässig und indem sie wird, vernichtet sie sich unablässig. Es gibt aber nichts als dieses Werden.34
Die Sprach- und Erkenntniskrise der Jahrhundertwende ist offenbar wesentlich eine von Darwins Evolutionstheorie abgeleitete Erkenntnisskepsis, die sich in der Auseinandersetzung mit Kant und dem Neukantianismus konturiert und die sich als Biologisierung der apriorischen Denk- und Anschauungsformen fassen läßt. In diesem Prozeß kommt es zu Verwerfungen beim Wahrheitsbegriff ebenso wie zu einer erhöhten Aufmerksamkeit auf die Phänomene der ‚Illusion‘, der ‚Fiktion‘ oder der ‚Lüge‘. Da der Darwinismus, soweit ich sehe, bislang nur in seiner ‚idealistischen‘ Variante als Faktor für die Genese der (literarischen) Moderne herangezogen wurde,35 ist es wohl nötig, den hier skizzierten Fragen weiter nachzugehen.
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Personenregister Aristoteles 2, 8, 11, 21, 22, 23, 74, 148, 184, 231, 246, 254, 317 Auerbach, Berthold 195, 196, 197, 201, 203, 204, 205, 208, 211, 224, 225, 227, 236, 237, 238 Aurnhammer, Achim 304 Bacmeister, Adolf Lucas 104, 105, 112 Bacon, Francis 23 Baechtold, Jacob 301, 334 Baer, Karl Ernst von 15, 98, 130– 33, 136, 137, 140 Bahnsen, Julius 193 Bahr, Hermann 344 Barthes, Roland 31, 205 Baur, Ferdinand Christian 144, 183 Berentsen, Antoon 7 Bernhardt, Reinhold 54, 65, 66, 68 Blanckenburg, Friedrich von 9, 33, 43, 44–63, 68, 147, 163, 168, 169, 228, 251, 264, 266, 306, 307, 325 Bluntschli, Marie 314 Bölsche, Wilhelm 7, 91, 92, 180 Börne, Ludwig 121 Bowler, Peter 138 Brahm, Otto 324 Braithwaite, Richard 15 Brazill, William 116, 146 Brinkmann, Richard 178, 258, 310 Brockmeier, Jens 35, 36, 198, 201
Bronn, Heinrich Georg 96, 98, 101 Bruford, Walter 196, 228, 231 Büchner, Ludwig 65, 85, 86–90, 139, 157, 231 Busch, Werner 147 Calvin, Johannes 66 Carus, Carl Gustav 157, 178 Carus, Julius Victor 98, 101, 112 Caspari, Otto 93, 135, 136 Cassirer, Ernst 164 Cicero, Marcus Tullius 89 Coleman, William 112, 119 Cotta, Bernhard von 98 Cuvier, Georges Baron de 100, 150, 152 Czolbe, Heinrich 86 Danto, Arthur 36 Darwin, Charles 3, 4, 5, 6, 7, 15, 17, 63, 64, 69, 75, 86, 87, 88, 89, 90–142, 147, 157, 161, 178, 179, 180–90, 191, 192, 193, 197, 225, 226, 227, 231, 233, 249, 254, 255, 261, 298, 308, 318, 320, 321, 327, 334, 335, 342, 343, 344 Delius, Friedrich Christian 277 Detering, Heinrich 27 Dickens, Charles 327 Dominik Müller 263, 269, 275, 294, 295, 301, 306, 311, 318, 322 Dörpinghaus, Hermann 81 Dößekel, Eduard 260 Dove, Alfred 102, 141
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Personenregister
Dubois-Reymond, Emil 136, 137, 141, 189, 234 Düsing, Klaus 71 Dye, Robert 58 Eibl, Karl 2, 20, 92, 340 Eisele, Ulf 169, 172, 173, 174, 252 Eliot, George 108 Emrich, Berthold 145, 160 Engels, Eve-Marie 2, 6, 15, 22, 30, 66, 69, 93, 140, 190 Engels, Friedrich 87 Ermatinger, Emil 260, 281, 300 Feilbogen, Franza 196, 204, 205, 208, 248 Feuerbach, Ludwig 3, 4, 5, 63, 64, 65, 68, 76–85, 87, 93, 136, 139, 144, 159, 164, 217, 257, 259, 260, 261, 264, 278, 280, 285, 290, 298, 318, 322, 329, 334 Fichte, Johann Gottlieb 172 Fick, Monika 7, 127 Follen, Adolf Ludwig 261 Fontane, Theodor 338, 339 Frick, Werner 53, 54 Friedrich, Hans-Edwin 7 Gebhard, Walter 127 Glockner, Hermann 146 Goethe, Johann Wolfgang von 46, 72, 91, 92, 113, 264, 265, 267, 274, 282, 287, 289, 290, 302, 306, 335 Graevenitz, Gerhart von 271, 322 Gregory, Frederick 88, 89 Grimm, Reinhold 193, 196 Gutzkow, Karl 121 Haeckel, Ernst 7, 89, 90, 91, 92, 95, 98, 99, 100, 101, 104, 105, 108, 111, 113, 115, 122, 129, 131, 133, 134, 140, 179, 259, 343, 344 Hahl, Werner 329 Hamacher, Wolfram 7 Harris, Horton 183
Hartmann, Eduard von 111, 112, 116, 125–28, 127, 140, 148, 175, 183, 184, 254, 259 Hartmann, Nicolai 13, 22, 30, 41, 65, 67, 68, 127, 284, 330 Hartung, Gerald 119 Haverkamp, Wendelin 227 Haym, Rudolf 2 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 9, 66, 68, 69, 70, 73–76, 77, 78, 81, 84, 102, 118, 120, 123, 124, 128, 138, 139, 143, 145, 146, 147, 149, 150, 152, 154, 158, 162, 163, 169, 171, 175, 188, 190, 193, 194, 227, 230, 231, 245, 253, 254 Heine, Heinrich 121 Hellwald, Friedrich 95, 105, 106, 107, 108, 117, 120, 134, 139 Helmholtz, Hermann von 115, 116, 119, 139, 186 Henle, Jacob 245, 259, 260, 261, 288 Henn, Volker 15 Henrich, Dieter 74, 145 Heraklit 88, 194, 343 Hertz, Wilhelm 305 Hettner, Hermann 59, 260, 266, 296 Heyck, Eduard 121 Heyfelder, Erich 170, 171, 172 Heyse, Paul 338 Hochstetter, Ferdinand von 98 Hofmannsthal, Hugo von 222, 296, 304, 324 Holz, Arno 180 Home, Henry (Lord Kames) 60 Homer 50, 270, 309 Huber, Johannes 99, 103, 121–25, 127, 128, 129, 140 Hume, David 23 Hüsser, Heinz 83 Huxley, Thomas Henry 113 Illinger, Patrick 117
Personenregister
Imboden, Gabriel 261 Iser, Wolfgang 33, 325 Jacobs, Jürgen 44, 46, 48, 57, 264 Jäger, Gustav 98, 99, 107 Jannidis, Fotis 46, 47, 263, 337 Jean Paul 34, 145, 158, 159 Joyce, James 37, 196 Käferle, Christian 110 Kaiser, Gerhard 263, 272, 292, 321 Kallmeyer, Werner 34 Kant, Immanuel 4, 11, 19, 20, 22, 68, 69, 70–71, 72, 73, 74, 75, 77, 79, 81, 86, 88, 113, 138, 139, 155, 156, 164, 172, 186, 340, 343, 344 Kästner, Erich 236 Keller, Ferdinand 240 Keller, Gottfried 7, 10, 59, 65, 76, 84, 122, 144, 245, 252, 256, 257–340 Kelly, Alfred 92, 93, 99 Kepler, Friedrich Johannes 97 Kermode, Frank 8 Kinder, Hermann 171 Kirchbach, Wolfgang 179, 180, 195, 196, 197, 213, 236 Kolkenbrock-Netz, Jutta 7 König, Christoph 324 Kuh, Emil 296, 297, 302 Kühlmann, Wilhelm 236 Lamarck, Jean-Baptiste de 6, 88, 96, 114, 130, 131, 330 Lämmert, Eberhard 44, 45 Lamping, Dieter 25, 27, 28 Lange, Friedrich Albert 88, 109, 110, 111, 116, 118, 119, 133, 139, 259, 340, 341, 344 Laufhütte, Hartmut 257, 262, 263, 266, 268, 280, 289, 290, 294, 299, 301, 302, 313, 315, 316, 317 Lefèvre, Wolfgang 80 Lehrer, Mark 260
371
Leibniz, Gottfried Wilhelm 11, 40, 54, 55, 56, 62, 66, 67, 68, 69, 136, 137 Lenoir, Timothy 133 Lessing, Gotthold Ephraim 120 Levine, George 6, 308, 327 Lichtenberg, Georg Christoph 329 Liebig, Justus 83, 85 Liebmann, Otto 185, 233 Lovejoy, Arthur 2 Löw, Reinhard 11, 21, 55, 74 Löwith, Karl 76 Ludwig, Otto 172, 252 Lugowski, Clemens 24–29, 30, 33, 38, 39, 40, 42, 51, 207, 258 Luther, Martin 66, 238 Lyell, Charles 6, 86, 97, 100, 107, 135 Mach, Ernst 341, 342, 344 Mallarmé, Stephan 32 Martinez, Matias 27, 28, 29, 38, 40, 41, 42, 55, 196, 197, 206, 207, 215, 217, 220, 221, 244, 247 Martini, Fritz 196, 258 Mauthner, Fritz 4, 341, 342, 343, 344 May, Ernst 322 Mayer, Gerhart 264 Mayer, Mathias 296, 297, 304 Mayr, Ernst 3, 100, 123 Melos, Marie 307 Meyer, Herman 229 Meyrink, Gustav 164 Michler, Werner 6, 98 Moleschott, Jacob 80, 85, 88, 259 Monod, Jacques 4, 123 Mörike, Eduard 145 Mühry, Adolf 135, 136 Müller, Dominik 263, 264, 269, 275, 276, 277, 292, 307, 309, 311, 312, 315, 326, 327, 329 Müller, Günther 38 Müller, Johannes 259
372
Personenregister
Murdoch, Iris 8 Muschg, Adolf 295 Musil, Robert 8, 196 Nef, Ernst 208 Newton, Isaac 97 Nietzsche, Friedrich 75, 93, 125, 193, 194, 341, 344 Nikolaus von Oresme 56 Oelmüller, Willi 146, 148, 149, 157, 178, 193, 194, 253 Oesterle, Günter 196, 197 Ohly, Friedrich 273 Oldemeyer, Ernst 18 Paul, Jean-Marie 112, 119 Perpeet, Wilhelm 177 Peschel, Oscar Ferdinand 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 107, 108, 113, 114, 139 Petersen, Wilhelm 308 Piderit, Theodor 178, 231 Pittendrigh, Colin 15, 132 Planck, Karl Christian 148, 183, 184, 185, 254 Platon 18, 137, 148, 254 Plumpe, Gerhard 173, 174 Preisendanz, Wolfgang 272, 328 Preyer, Wilhelm 99, 101, 102, 103, 107 Prutz, Robert 252 Raabe, Wilhelm 277 Rapp, Adolf 181 Reimarus, Hermann Samuel 111, 112, 115, 116 Rembrandt van Rijn 170 Reuschle, Carl Gustav 189 Ricoeur, Paul 33, 36 Ritter, Joachim 277 Rohe, Wolfgang 260, 292, 294, 311 Rothenbühler, Daniel 272, 273 Rousseau, Jean-Jacques 291 Rusch, Gebhard 35 Salaquarda, Jörg 340
Sartre, Jean-Paul 8 Sautermeister, Gert 266, 316, 325 Schasler, Max 145, 146, 159, 191, 192 Scheler, Max 19 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 68, 69, 70, 71–72, 73, 88, 118, 133, 138, 143, 145, 146, 151, 155, 156, 157, 158, 163, 166, 168, 169, 170, 172, 173, 175, 180, 186, 188, 209, 253, 254, 340 Schiller, Friedrich 172, 185, 192, 209, 232, 311 Schlaffer, Heinz 24, 239 Schlawe, Fritz 161, 187, 197 Schleicher, August 95 Schleiden, Matthias Jakob 75, 98 Schmidt, Oscar 99, 107 Schönborn, Sibylle 206 Schopenhauer, Arthur 75, 76, 111, 119, 179, 187, 232, 236 Seidlitz, Georg 126, 127, 128, 130, 140, 186 Selbmann, Rolf 300 Semper, Karl 128, 129, 130, 134, 140, 182, 233 Sengle, Friedrich 44 Siemens, Werner von 65 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 146 Spaemann, Robert 11, 21, 55, 74 Spalding, Johann Joachim 46, 47, 49, 58, 62, 264, 280 Speckenbach, Susanne 86 Spielhagen, Friedrich 195, 211, 237, 252 Spinoza, Benedictus de 67, 76, 77, 91, 116, 260, 291 Sprengel, Peter 7, 91, 180 Staiger, Emil 275, 276 Stegmüller, Wolfgang 13, 15, 30 Stenger, Karl Ludwig 209 Sternberg, Meir 33
Personenregister
Stifter, Adalbert 267 Storm, Theodor 297, 302, 314, 338, 339 Strauß, David Friedrich 65, 93, 103, 104, 105, 108, 109–20, 121, 122, 123, 124, 127, 130, 134, 136, 139, 140, 141, 144, 147, 175, 180–88, 226, 227, 231, 232, 233, 235, 254, 259, 298, 320, 322, 334, 344 Swales, Erika 337 Szegedy-Maszák, Mihály 37 Thomé, Horst 91 Tomaševskij, Boris 28, 29 Tomasoni, Francesco 80, 85 Topitsch, Ernst 19, 42, 80, 235 Treiber, Hubert 93 Trendelenburg, Friedrich Adolf 102, 115, 116, 119 Ueberweg, Friedrich 69, 70–76 Utz, Peter 305 Vaihinger, Hans 164 Vieweg, Eduard 262 Villwock, Peter 259, 270, 296, 297, 304, 308, 312, 319 Vischer, Friedrich Theodor 9, 10, 69, 117, 120, 122, 142, 143– 256, 258, 259, 273, 277, 278, 279, 294, 297, 298, 299, 317,
373
322, 324, 337, 338, 340, 342, 344 Vischer, Robert 177, 180, 184, 220 Vogt, Carl 88, 98 Voss, Johann Heinrich 309 Voßkamp, Wilhelm 57 Wagner, Moritz 93, 99, 102, 104, 107, 114, 118, 130, 134, 138 Wandschneider, Dieter 87 Weibert, Ferdinand 298 Weltrich, Richard 208, 213, 236 Wetz, Joseph 317 White, Hayden 36 Wickram, Jörg 24, 27 Widenmann, Eduard 93 Wieland, Christoph Martin 44, 45, 46, 52, 54 Wigand, Albert 4, 137, 140 Wölfel, Kurt 43, 44, 50, 57, 58 Wolff, Christian 23, 40, 54, 67, 155 Woodfield, Andrew 12, 13, 14, 15, 16, 17, 30, 42, 190 Wunderle, Georg 115 Zeller, Eduard 111, 116, 136, 183 Zeller, Rosmarie 29 Ziegler, Theobald 123, 124, 125, 128 Zimmermann, Robert 176