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German Pages 290 Year 2016
Magdalena Scherl Ersehnte Einheit, unheilbare Spaltung
Edition Politik | Band 33
Magdalena Scherl (Dr. phil.) promovierte an der Universität Regensburg in politischer Philosophie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind der moderne Republikanismus, postmodernes politisches Denken sowie die Themen Körper, Geschlecht und Politik.
Magdalena Scherl
Ersehnte Einheit, unheilbare Spaltung Geschlechterordnung und Republik bei Rousseau
Universitäts-Dissertation Regensburg, Juli 2015
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Inhalt
Einleitung | 9
Thema und Fragestellung | 9 Forschungsstand | 16 Methode und Vorgehen | 25
I. G ESCHLECHTERORDNUNG Geschlecht und Geschlechterordnung | 33 1. 2. 3. 4.
Geschlecht, Natur und Gesellschaft | 39 Begehren | 53 Männlichkeit und Weiblichkeit | 63 Familie und Intimität | 73
Zusammenfassung | 85
II. REPUBLIK Republik, Natur und Gesellschaft | 91 1. Recht | 99
1.1 Republik und Recht | 99 1.2 Die patriarchale Matrix | 105 2. Tugend | 117
2.1 Republik und Tugend | 117 2.2 Republikanisches Begehren | 125 2.3 Öffentlichkeit und Privatheit | 137 2.4 Republikanische Familie | 149 3. Einheit | 163
3.1 Republik und Einheit | 163 3.2 Republikanische List | 172 3.3 Republikanische Intimität | 182 Zusammenfassung | 195
III. EINHEIT UND SPALTUNG Das Scheitern der Ideale | 201 1. Ersehnte Einheit | 207 1.1 Die ursprüngliche Einheit und der Einbruch der Spaltung | 207 1.2 Das Ideal der Einheit und der Stachel der Spaltung | 218 2. Unheilbare Spaltung | 229
2.1 Die ursprüngliche Spaltung | 229 2.2 Die Rehabilitation der Spaltung | 243 Zusammenfassung | 261 Ausklang | 265 Danksagung | 273 Siglenverzeichnis | 275
Werke von Rousseau | 275 Weitere Primärwerke | 276 Literaturverzeichnis | 277
Primärliteratur | 277 Übersetzungen | 278 Sekundärliteratur | 279
Quand tous mes reves se seroient tournés en realités ils ne m’auroient pas suffi; j’aurois imaginé, revé, desiré encore. (ROUSSEAU, LDM I 1140)
Einleitung
T HEMA UND F RAGESTELLUNG »Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?« (Nietzsche, FW 125)
Etwas Ungeheuerliches ist geschehen. Der tolle Mensch in Nietzsches berühmtem Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft kündet von einer Katastrophe kosmischen Ausmaßes – von einem Todesfall, der die ganze Welt aus den Fugen geraten lässt. »Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!« (Ebd.) Mit dem Tod Gottes verliert die Erde ihr Gravitationszentrum, ihren Fixpunkt. Von der Sonne losgekettet, taumelt sie haltlos durch das Nichts, stürzt im freien Fall durch einen kalten, finsteren, leeren Weltraum. Über die Menschheit bricht eine »Verdüsterung und Sonnenfinsterniss« herein, »deren Gleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat« (ebd.: 343). So fürchterlich dieser Mord, so alptraumhaft seine Folgen auch erscheinen mögen: Nietzsche selbst hält sich nicht damit auf, den Tod Gottes zu betrauern. Er sieht darin vielmehr einen Anlass zu »Heiterkeit« (ebd., Herv. i.O.): »In der Tat, wir Philosophen und ›freien Geister‹ fühlen uns bei der Nachricht, dass der ›alte Gott todt‹ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder er-
10 | E RSEHNTE EINHEIT , UNHEILBARE S PALTUNG laubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ›offnes Meer‹.« (Ebd., Herv. i.O.)
Gott ist tot, endlich: Eine Last scheint abgefallen, das Denken selbst ist von den Ketten befreit, die es jahrhundertelang in den gleichen Bahnen gehalten haben. Den freien Geistern stehen nun alle Wege offen – für ein neues Abenteuer, ein neues Spiel. Der Tod Gottes ist das einschneidende »Ereignis« (Derrida 1972: 422) in der Geschichte des abendländischen Denkens. So lässt sich jedenfalls Derridas Diagnose in Die Struktur, das Zeichen und das Spiel verstehen.1 Nietzsche tritt hier als einer der Kronzeugen für dieses Ereignis auf, das nicht weniger bedeutet als den Abschied vom Mythos der Metaphysik. Mit Gott stirbt der Glaube an das eine Zentrum, von dem aus sich alles ordnet und fügt – der Glaube an den einen Ursprung, der alles begründet, und an die eine Wahrheit, die es zu entziffern gilt. Nach diesem Bruch (vgl. ebd.) gibt es keine Sonne mehr, um die alles kreist, und keinen Fixpunkt, an dem der unendliche Sturz durch den leeren Weltraum zum Halten käme. Man kann das schlimm finden – oder auch nicht. Nietzsche ist einer, der sich in einer Welt ohne festes Zentrum sehr gut zurechtfindet. Bei Derrida steht sein Name stellvertretend für einen positiven, spielerischen Umgang mit dem Ende aller metaphysischen Gewissheiten. Es gibt jedoch noch eine andere Möglichkeit, auf den Tod Gottes zu reagieren: mit Nostalgie. Das »Heimweh nach dem Ursprung« (ebd.: 440), die Sehnsucht nach der Rückkehr in eine geordnete Welt, stellt das Gegenstück dar zur nietzscheanischen Heiterkeit. Auch dieses Gefühl trägt bei Derrida einen Namen: Rousseau. »Der verlorenen oder unmöglichen Präsenz des abwesenden Ursprungs zugewandt, ist diese strukturalistische Thematik der zerbrochenen Unmittelbarkeit also die traurige, negative, nostalgische, schuldige, rousseauistische Kehrseite jenes Denkens des Spiels, dessen anderes Gesicht Nietzsches Bejahung darstellt, die fröhliche Bejahung des Spiels der Welt und der Unschuld der Zukunft, die Bejahung einer Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung, die einer tätigen Deutung offen ist.« (Ebd.: 441, Herv. i.O.)
1
In dem eigentlich Lévi-Strauss gewidmeten Aufsatz lässt Derrida den klassischen Strukturalismus hinter sich, indem er die Dezentrierung der Struktur postuliert; damit formuliert er den Grundgedanken des Poststrukturalismus, vgl. Münker/Roesler 2000: 33f. Die Metapher vom Tod Gottes verwendet Derrida hier selbst nicht, verweist aber auf die nietzscheanische Metaphysikkritik, vgl. Derrida 1972: 424f.
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Rousseau ist der traurige Nietzsche.2 Auch er weiß, dass etwas Ungeheuerliches geschehen ist. Vielleicht ist er der erste Zeuge dieses Ereignisses. Aber er findet darin keine »Erleichterung, Erheiterung, Ermuthigung« (Nietzsche, FW 343). Er blickt keiner neuen Morgenröte entgegen. Derrida stellt die rousseauistische Trauerarbeit der nietzscheanischen Aufbruchsstimmung gegenüber: »Es gibt somit zwei Interpretationen der Interpretation, der Struktur, des Zeichens und des Spiels. Die eine träumt davon, eine Wahrheit und einen Ursprung zu entziffern, die dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen sind, und erlebt die Notwendigkeit der Interpretation gleich einem Exil. Die andere, die dem Ursprung nicht länger zugewandt bleibt, bejaht das Spiel [...]« (Derrida 1972: 441).
Rousseau will nicht spielen, er träumt sich lieber zurück zur Wahrheit und zum Ursprung – wohl wissend, dass beides unwiederbringlich verloren ist. Es gibt keinen Weg zurück in den sicheren Hafen der Metaphysik. Fern von allen Sonnen bleibt nur das Leben im Exil. Dieser Rousseau ist es, der mich interessiert und auf den folgenden Seiten beschäftigen wird.3 Die Zerrissenheit zwischen der Sehnsucht nach dem Verlorenen und der bitteren Erfahrung des Exils möchte ich als Leitmotiv nachzeichnen, das Rousseaus Denken in seiner Gesamtheit durchzieht und dabei besonders seinem politischen Denken eine sehr spezielle Färbung verleiht. Rousseau träumt laut Derrida von Wahrheit und Ursprung, von Präsenz und Unmittelbarkeit; mit Starobinski könnte man auch von Transparenz sprechen. Ich möchte für diesen Traum den Begriff der Einheit verwenden.4 Einheit ist in Rousseaus Denken zugleich Ursprung und Ziel, archè und telos (vgl. ebd.: 423). Einheit als Ursprung: Im Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité begibt sich Rousseau auf die Suche nach der ursprünglichen Natur des Menschen und findet sie in einem fiktiven Zustand der Einheit. Der homme naturel er-
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Für den Vergleich zwischen Nietzsche und Rousseau vgl. etwa Ansell-Pearson 1991; Froese 2001.
3
Damit schlage ich einen anderen Weg ein als Inston, der gegen Derrida eine – von de Man inspirierte – postfundamentalistische Lesart Rousseaus vorschlägt, vgl. Inston 2010: 15 und 193 (Endnote).
4
Rousseau selbst spricht an einer zentralen Stelle des Emile von »Einheit« (unité, Emile IV 249), um das jeweilige Ziel von individuellem und politischem Ideal zu bezeichnen, vgl. dazu das Anfangskapitel von Teil II. Darüber hinaus empfiehlt sich der Begriff durch die Rezeptionsgeschichte, in deren Verlauf Rousseau immer wieder als Denker der Einheit apostrophiert worden ist.
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scheint als vollständig, bruchlos, mit sich selbst identisch und harmonisch eingegliedert in die Ordnung der Natur. Sobald der Mensch den Naturzustand verlässt, geht diese ursprüngliche Einheit des Selbst verloren. Die Vergesellschaftung des Menschen markiert den Beginn seiner Selbstentfremdung, bis hin zum völligen Selbstverlust des homme de l’homme in der bürgerlichen Gesellschaft. Einheit aber auch als Ziel: In den positiven Idealen, die Rousseau ausmalt, nimmt sein Traum von der Heimkehr aus dem Exil Gestalt an. Die verlorene Einheit aus dem Naturzustand soll im Gesellschaftszustand zurückgewonnen werden: als Einheit des Individuums im Emile, als Einheit einer intimen Hausgemeinschaft in der Nouvelle Héloïse, als Einheit des politischen Gemeinwesens im Contrat social. Unter den Bedingungen der Vergesellschaftung erweist sich das Ideal der Einheit jedoch stets als brüchig und prekär. Alle Versuche der Rückkehr sind letztlich zum Scheitern verurteilt. Der Ursprung geht unwiederbringlich verloren, das Ziel rückt in unerreichbare Ferne. Die Erfahrung des Exils ist unvermeidliche condition humaine. Jene Momente menschlicher Existenz, die dem Traum von der Einheit notwendig entgegenstehen, möchte ich unter den Begriff der Spaltung fassen.5 Für Rousseau bricht die Spaltung mit der Vergesellschaftung über den Menschen herein. Sobald der Mensch sich selbst nicht mehr genügt, ist er nicht mehr eins mit sich. Als soziales Wesen ist er ein Mangelwesen, unweigerlich an den Anderen verwiesen. Rousseau kann dem nichts Positives abgewinnen, zumindest nicht auf den ersten Blick. Er schildert die Geschichte des vergesellschafteten Menschen als Verfallsgeschichte. Selbstentfremdung, Inauthentizität, gesellschaftliche Abhängigkeit und die Herrschaft des amour propre prägen die soziale Existenz des Menschen. Rousseaus Ideale versuchen auf verschiedenen Wegen, diesen Zustand der Spaltung zu überwinden. Dabei gibt es jedoch keinen Schritt zurück hinter die Tatsache der menschlichen Vergesellschaftung. Der Weg zurück in den Naturzustand bleibt verschlossen, der Mensch ist ein hoffnungslos gespaltenes Wesen. Rousseaus tiefe Sehnsucht nach Einheit wird also stets von dem Wissen begleitet, dass die Spaltung letztlich unheilbar bleibt. Vor dem Hintergrund dieser Denkstruktur möchte ich mich vor allem Rousseaus politischer Philosophie widmen. Sein Ideal der Republik verstehe ich als einen der Versuche, die verlorene ursprüngliche Einheit unter gesellschaftlichen Bedingungen wiederauferstehen zu lassen – als politische Einheit. Das sich selbst genügende Ich des homme naturel wird hier durch das moi commun der politischen Gemeinschaft ersetzt; die republikanische Ordnung der Freiheit ver-
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Dieser Begriff darf als Verwandter von Derridas différance und Starobinskis obstacle verstanden werden.
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tritt die Stelle der Ordnung der Natur. Dass Rousseau sich in seiner politischen Philosophie als Denker der Einheit präsentiert, ist oft genug festgestellt und kritisiert worden. Nicht zufällig belegt er hinter Platon den zweiten Platz in der Rangliste derjenigen klassischen Denker, denen immer wieder totalitäre Tendenzen vorgeworfen wurden. Gegen Rousseau ist zu diesem Schlag jedoch viele Male allzu vorschnell ausgeholt worden. Seinen komplexen Denkwegen wird der Vorwurf des Totalitarismus nicht gerecht. Ich möchte dagegen einer Lesart folgen, die vor allem die Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit des rousseauschen politischen Denkens betont (vgl. Herb 1989; Herb 1999; Herb/Scherl 2012). Gerade die zahlreichen Aporien und Ambivalenzen, die das Republikideal durchziehen, weisen den vermeintlichen Doktrinär der Einheit als ebenso hellsichtigen Denker der Spaltung aus. Um das zeigen zu können, möchte ich das politische Ideal in seinem Zusammenhang mit der rousseauschen Konzeptualisierung von Geschlechtlichkeit und Begehren untersuchen. Dieser Fokus mag zunächst überraschen. Zwar verrät der Blick auf Rousseaus Gesamtwerk schnell, dass ihn Liebe, Lust und Leidenschaft sehr beschäftigen. Davon zeugt sein Liebesroman Julie ou La Nouvelle Héloïse ebenso wie die gesamte zweite Hälfte des Erziehungsromans Emile. In anderen Schriften, wie dem Zweiten Diskurs oder dem Essai sur l’origine des langues, taucht das Motiv der geschlechtlichen Liebe an Schlüsselstellen auf. Doch gerade Rousseaus zentrale politische Schrift, der Contrat social, schweigt zu diesem Thema. Scheinbar haben der politische Rousseau und Rousseau, der Theoretiker des Begehrens, nichts miteinander zu tun. Für heutige Interpret_innen6 ist das ein durchaus angenehmer Umstand. Rousseaus Republikideal, so ambivalent es auch erscheinen mag, bietet produktive Anknüpfungspunkte für die Debatten der Gegenwart. Von seinen Gedanken zum Thema Geschlecht, insbesondere zum Verhältnis der Geschlechter, kann man das nicht gerade behaupten. Das Fünfte Buch des Emile beispielsweise, in dem Rousseau sein Ideal natürlicher Weiblichkeit ausbreitet, enthält auf den ersten Blick vor allem antiquiert wirkende Stereotype, die wir heute längst überwunden zu haben glauben. Da scheint es nahezuliegen, Rousseaus Geschlechter-
6
Anmerkung zum Sprachgebrauch: Sofern es sinnvoll ist, verwende ich für Personenbezeichnungen den gender gap (vgl. dazu Herrmann 2003). In Rousseaus vergeschlechtlichtem Universum wäre diese Kennzeichnung gleichwohl in aller Regel unsinnig: Hier sind Bürger eben gerade keine Bürger_innen. Auch bei gemischtgeschlechtlichen Personengruppen wie z.B. den Bewohnerinnen und Bewohnern von Clarens würde die Verwendung des gender gap in die Irre führen, weshalb ich hier darauf verzichte.
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theorie einfach als Kuriosität zu betrachten, die entweder den bedauernswerten Zeitumständen des 18. Jahrhunderts anzulasten ist oder besser noch den persönlichen Problemen des Autors Jean-Jacques Rousseau im Umgang mit Frauen.7 Auf diese Weise wird Rousseaus Geschlechtertheorie zur bloßen Randnotiz, wenn es darum geht, seine politische Philosophie zu verstehen. Der Contrat social scheint diese Art der Lektüre mit seinem Schweigen zu bestätigen. Gegen diesen ersten Augenschein möchte ich die These vertreten, dass es nicht nur zusätzlich erhellend sein kann, Rousseaus Republik im Lichte seiner Geschlechter- und Begehrenstheorie zu betrachten – vielmehr führt diese Untersuchung, wenn wir von der Spannung zwischen Einheit und Spaltung sprechen wollen, mitten in den Kern der Sache. Denn Rousseau verhandelt das Problem von Einheit und Spaltung, das ihn so hartnäckig umtreibt und auch sein politisches Ideal imprägniert, vorrangig an der Geschlechter- bzw. Begehrensthematik. Geschlechtlichkeit und Begehren stehen bei ihm einerseits paradigmatisch für die Spaltung des Menschen, erweisen sich andererseits aber auch als die zentralen Instrumente zur Wiederherstellung der Einheit. Die ursprüngliche Einheit des Menschen geht verloren, wenn er zum gesellschaftlichen Wesen wird, und das bedeutet bei Rousseau immer auch: wenn er zum begehrenden Wesen wird. Am Anfang der menschlichen Geschichte stehen die Begegnung zwischen den Geschlechtern und das Erwachen der Leidenschaft. Das geschlechtliche Begehren wird zum Paradigma der Spaltung: Als begehrendes Wesen ist der Mensch nicht mehr eins mit sich selbst. Im Begehren erlebt er seine eigene Unvollständigkeit, seine Abhängigkeit vom Anderen. Die geschlechtliche Leidenschaft kann nie abschließend gestillt werden; befeuert von der Einbildungskraft treibt sie den Menschen stets über sich selbst hinaus. Nichts stellt das Ideal der Einheit daher so grundlegend in Frage wie die Tatsache der menschlichen Geschlechtlichkeit. Gleichzeitig spielt die richtige Organisation von Geschlechtlichkeit und Begehren eine wesentliche Rolle bei dem Versuch, Einheit unter gesellschaftlichen Bedingungen wiederherzustellen. Rousseau imaginiert für alle seine Ideale eine Ordnung der Geschlechter, die das Begehren einhegen und in die richtigen Bahnen lenken soll, um so die Spaltung des Menschen zu bewältigen. Vor diesem Hintergrund lassen sich die rigiden Standards für Männlichkeit, Weiblichkeit,
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Ersteres ist historisch völlig unplausibel vor dem Hintergrund, dass sich die Geschlechtervorstellungen im 18. Jahrhundert im Umbruch befinden, vgl. dazu das Anfangskapitel von Teil I. Zur zweiten Interpretationsmöglichkeit vgl. etwa Kofman 1986; eine solche biographisch-psychoanalytische Interpretation liegt mir fern, vgl. dazu die Hinweise zur Methode.
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heterosexuelles Begehren und familiäre Intimität besser verstehen, die Rousseaus Geschlechtertheorie mitunter so irritierend machen. Treten Begehren und Geschlechtlichkeit als Probleme in Erscheinung, die unweigerlich mit der Vergesellschaftung des Menschen einhergehen, so präsentiert Rousseau die Geschlechterordnung als Lösung. Jeder Versuch, die Einheit im Gesellschaftszustand wiederherzustellen, muss einen Weg finden, mit dem Problem des Begehrens fertig zu werden. Das pädagogische Ideal des Emile und das häusliche Ideal der Nouvelle Héloïse greifen recht offensichtlich auf die Geschlechterordnung zurück, um die Gefahren des Begehrens in den Griff zu bekommen. Im Falle des politischen Ideals tritt dieser Zusammenhang weniger offensichtlich zutage. Trotzdem – das beabsichtige ich zu zeigen – entkommt bei Rousseau auch das Politische nicht dem sexe. Die Geschlechterordnung schreibt sich tief in die republikanische Ordnung ein. Sie wird zum Fundament der Republik, strukturiert sie und spiegelt zugleich ihre Funktionsprinzipien wider. Indem ich Geschlechtlichkeit und Begehren in den Fokus rücke, verlagert sich der Schwerpunkt meiner Untersuchung weg von der Problematik des Eigentums, die vielleicht einen auf den ersten Blick naheliegenderen Zugang zu Rousseaus Geschichtsphilosophie und seiner Kritik der Vergesellschaftung bieten würde. Daher betrachte ich als paradigmatische Szene des Übergangs vom Natur- in den Gesellschaftszustand nicht die erste Landnahme durch den unbekannten »Gründer der bürgerlichen Gesellschaft« (DI III 164), sondern das erste Fest, die erste Begegnung der Geschlechter. Und Rousseaus Gesellschaftskritik wird uns vor allem in der paranoiden Form beschäftigen, die ihr der Brief an d’Alembert verleiht, während das wunderbar liberalismuskritische Ende des Zweiten Diskurses sträflich vernachlässigt bleiben muss. Diese Akzentverschiebung ist gleichwohl beabsichtigt. Denn so prominent das Problem des Eigentums in Rousseaus Philosophie auch in Erscheinung tritt, so führt das Problem des Begehrens doch noch wesentlich tiefer hinein in die Ambivalenzen und Abgründe des rousseauschen Denkens. Der vergesellschaftete Mensch ist für Rousseau nicht nur ein begehrendes Wesen, sondern immer auch ein sprechendes Wesen. Die Sprache ist eine weitere Dimension menschlicher Existenz, in der die elementare Abhängigkeit vom Anderen zum Ausdruck kommt, ein weiteres Paradigma der Spaltung. Die enge strukturelle Verwandtschaft von Begehren und Sprache wird es mit sich bringen, dass auch das Thema der Sprache des Öfteren eine Rolle in dieser Untersuchung spielen wird. Gleichwohl beabsichtige ich keine systematische Erschließung die-
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ses Themenfeldes für meine Fragestellung. Dies ist von anderen bereits geleistet worden.8 Das Ziel dieser Untersuchung wird also darin liegen, Rousseaus Denken im Spannungsfeld von ersehnter Einheit und unheilbarer Spaltung zu rekonstruieren, indem nachverfolgt wird, wie sich das Problem des Begehrens und die Geschlechterordnung in das Republikideal einschreiben. Wenn ich den Zusammenhang von Geschlechterordnung und Republik untersuche, ist das also in erster Linie Mittel zum Zweck: Dieser Zusammenhang bietet, so die These, einen besonders geeigneten Zugang zu dem Problem von Einheit und Spaltung. Im Lichte von Geschlechterordnung und Republik können wir begreifen, auf welche Weise das vergebliche Streben nach Einheit und das Bewusstsein der unheilbaren Spaltung Rousseaus Denken strukturieren. Umgekehrt gibt uns die Analyse dieser charakteristischen Denkbewegung jedoch auch ein Instrument an die Hand, das erlaubt, Geschlechterordnung und Republik besser zu verstehen. Im Lichte von Einheit und Spaltung können wir den irritierenden Umstand besser einordnen, dass Rousseau für seine Republik der Freiheit auf eine rigide heteronormative Begehrens- und Geschlechterordnung zurückgreift. Im Lichte von Einheit und Spaltung können wir außerdem auch ein tiefer gehendes Verständnis für die Ambivalenzen des Republikbegriffes entwickeln.
F ORSCHUNGSSTAND 1957 und 1967 erscheinen zwei zentrale Werke der Rousseau-Interpretation: Starobinskis Jean-Jacques Rousseau: La transparence et l’obstacle und Derridas De la grammatologie. Methodisch könnten beide Arbeiten wohl kaum weiter voneinander entfernt liegen. Starobinski verbindet Werkinterpretation und Biographie. Sein Augenmerk richtet sich auf Jean-Jacques, dessen Denken und Schreiben sich nicht von seinem Leben und Fühlen trennen lassen. Daher macht Starobinski es sich zur Aufgabe, »das literarische Schaffen Jean-Jacques’ zu untersuchen, als stelle es ein imaginäres Handeln dar, und sein Verhalten, als bildete es eine gelebte Fiktion« (Starobinski 2003: 9). Derrida dagegen analysiert das, was er in Anführungszeichen die »Epoche Rousseaus« (Derrida 1967: 145) nennt, als exemplarischen Zugang zum Logozentrismus, den er als Grundproblem des abendländischen Denkens identifizieren möchte. Rousseau tritt hier nicht als Starobinskis Jean-Jacques auf, nicht als souveräner Urheber seiner
8
Vgl. grundlegend Derrida 1967; de Man 1979. Für den Zusammenhang zwischen Sprache und Begehren vgl. vor allem Bürgin 2008.
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Werke und schon gar nicht als schreibendes Individuum. Für Derrida ist Rousseau »in erster Linie der Name eines Problems« (ebd.: 148). Ungeachtet dieser methodischen Differenzen stoßen Starobinski und Derrida in ihren Rousseau-Lektüren auf dieselbe Grundstruktur. Starobinski beschreibt mit den Begriffen transparence und obstacle die ambivalente Struktur, die er im rousseauschen Denken am Werk sieht: »Rousseau ersehnt die Kommunikation und Transparenz der Herzen, doch seine Erwartung wird enttäuscht, und er schlägt den entgegengesetzten Weg ein, er nimmt das Hindernis an und ruft es hervor [...]« (Starobinski 2003: 10, Herv. i.O.). Derrida spricht von présence und différance, um ein ganz ähnliches Muster nachzuzeichnen. Für ihn sucht Rousseau nach der Präsenz, versucht sie vergeblich herbeizuschreiben, da sein Schreiben niemals dem Wirken der différance entkommen kann, das sich vor allem im Wesen der Schrift zeigt (vgl. Derrida 1967: 203f.). Für beide Interpreten offenbart sich in Rousseaus Werk eine vergebliche Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, Ganzheit, Präsenz oder Transparenz, nach dem verlorenen Ursprung und dem unerreichbaren Ziel – und zugleich eine wachsame Aufmerksamkeit und eine paradoxe Anerkennung für die Widerstände, Hindernisse, Verschiebungen und Brüche, die diese Sehnsucht schon immer hintertreiben. Starobinskis und Derridas geteilte Diagnose bildet daher den Ausgangspunkt und die Grundlage meiner Untersuchung, die Rousseaus Denken im Spannungsfeld zwischen Einheit und Spaltung verstehen möchte. Starobinski sieht in Rousseau vor allem den Nostalgiker, der vom verlorenen Paradies träumt und zugleich unter der Unerfüllbarkeit seines Traumes leidet. Dieses Leiden an der Wirklichkeit wird auch von Baczko (1970 [1964]) als zentrales Motiv in Rousseaus Werk identifiziert. Er erkennt in Rousseau einen Entfremdungstheoretiker avant la lettre und trifft damit sehr gut die wehmütige Färbung der rousseauschen Geschichtsphilosophie und Gesellschaftskritik. Auch Derrida kennt, wie wir gesehen haben, den nostalgischen Rousseau. Darüber hinaus analysiert er akribisch die Selbstaufhebung des rousseauschen Diskurses der Einheit durch das Wirken der différance. Man kann ihm in diesem Unterfangen zwei weitere dekonstruktivistisch arbeitende Interpreten zur Seite stellen: Lacoue-Labarthe (2004 [2002]) und de Man (1979, 1993 [1971]). LacoueLabarthe nimmt die rousseausche Geschichtsphilosophie unter dem Vorzeichen der mimesis auseinander; damit leistet er einen wichtigen Beitrag zur Klärung der Frage, wieviel Spaltung bereits in der Einheit steckt. De Man entschlüsselt die Rhetorizität des rousseauschen Werkes. Sein Ehrgeiz dabei ist, all jene Interpret_innen zu widerlegen, die Rousseau eine Sehnsucht nach Einheit attestieren: Sie hätten überlesen, dass die vermeintliche Sehnsucht nur zum rhetorischen Spiel gehöre. Auch Starobinski entkommt diesem Verdikt nicht (vgl. de Man
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1993: 196f.). Für de Man ist Rousseau Opfer eines notorischen Missverständnisses. Allein Derrida habe ihn mit der gebührenden Aufmerksamkeit gelesen und dabei entdeckt, dass sich seine Texte selbst dekonstruieren. Dennoch geht selbst das de Man nicht weit genug. Rousseau ist für ihn letztlich ein lupenreiner Denker der Spaltung. Statt wie Derrida nach den Ambivalenzen des Textes zu fragen, geht er daher lieber von der Blindheit der Interpret_innen aus.9 Obwohl ich de Mans Fundamentalkritik an der Rousseau-Interpretation und seine Einwände gegen Derrida nicht teilen kann, liefert seine eigene Lektüre für mein Vorhaben durchaus einige produktive Einsichten, die das ambivalente Bild, das Rousseaus Denken im Kontext von Einheit und Spaltung bietet, abrunden können. In der Grammatologie geht es Derrida vor allem um Rousseaus Theorie der Sprache und der Schrift. Mitten in einer Diskussion über das Mitleid, die eigentlich dazu dient, die Chronologie des Zweiten Diskurses und des Essais über die Sprachen zu klären, findet sich jedoch auf neun Seiten ein Exkurs zur moralischen Liebe und zum geschlechtlichen Begehren. Derrida weist selbst darauf hin, dass er damit im Vorbeigehen ein Thema angerissen hat, das eine ausführlichere Auseinandersetzung lohnen würde: »Indem man sich von diesem Schema leiten ließe, müsste man alle Texte noch einmal lesen, die die Kultur als Entstellung der Natur beschreiben [...]. Man müsste sie wiederauf-
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Zur Kritik an Derridas Rousseau-Lektüre vgl. de Man 1993: 197-225. Meines Erachtens bauscht de Man hier den Unterschied zwischen seiner eigenen und Derridas Rousseau-Interpretation unnötig auf. Ob das Missverständnis allein im Auge der Interpret_innen oder bereits im Text selber liegt, würde nur dann einen signifikanten Unterschied ausmachen, wenn man sich für die bewusste Absicht des Autors interessieren würde. Tatsächlich erweckt de Man diesen Eindruck gelegentlich (vgl. z.B. de Man 1993: 202); so wird er etwa auch von Inston (miss-)verstanden (vgl. Inston 2010: 193). Dieser Eindruck ist jedoch irreführend; als gutem Dekonstruktivisten geht es de Man selbstverständlich um den Text bzw. das Wirken der Sprache, nicht um den Autor (vgl. de Man 1993: 221). Nicht zufällig nähert er sich der Position Derridas gerade dann wieder an, wenn er auf die Autonomie des Textes gegenüber der Intention des Autors abhebt; vgl. dazu das Ende seiner Analyse des Contrat social: »The redoubtable efficacy of the text is due to the rhetorical model of which it is a version. This model is a fact of language over which Rousseau himself has no control. Just as any other reader, he is bound to misread his text [...]. The error is not within the reader; language itself dissociates the cognition from the act. Die Sprache verspricht (sich) [...]« (de Man 1979: 277, Herv. i.O.).
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nehmen am Faden dieser Struktur der ›moralischen Liebe‹, als Krieg der Geschlechter und als Fesselung der Kraft des Begehrens durch das weibliche Prinzip.« (Derrida 1967: 256)
Derrida empfiehlt hier also, die ganze Problematik der rousseauschen Geschichtsphilosophie am Leitfaden der Geschlechterordnung neu aufzurollen. Dass er damit eine gute Idee formuliert, beweist ein Blick auf die umfangreiche Forschungsliteratur, die seit den späten 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Geschlechterthematik bei Rousseau aufgreift. Rousseaus Geschlechterordnung wird erstmals in größerem Ausmaß Thema der Forschung, als feministische Interpret_innen anfangen, die Rolle der Frau in der politischen Philosophie zu hinterfragen. Rousseau fehlt natürlich in keiner der klassischen Untersuchungen, die erstmals den notorischen gender bias der abendländischen politischen Philosophie aufarbeiten: Er macht seine Aufwartung in Elshtains Public Man, Private Woman von 1981, in Patemans Sexual Contract von 1988, bei Benhabib und Nicholson (1987) ebenso wie bei Coole (1993 [1988]). Die erste umfangreiche feministische Analyse der rousseauschen politischen Theorie enthält Okins Women in Western Political Thought von 1979.10 Für Feminist_innen ist Rousseau freilich eine Figur, an der man sich gründlich abarbeiten kann. Zu eklatant erscheint der Widerspruch zwischen seinem egalitären Politikverständnis und der Konzeption eines extrem inegalitären Geschlechterverhältnisses. Viele feministische Interpretationen zeugen von der enttäuschten Liebe zu einem radikalen Denker der Freiheit und Gleichheit, der ausgerechnet Frauen von seinen Prinzipien ausschließen möchte (vgl. vor allem Okin 1979; aber auch Landes 1988; Coole 1993). Andere feministische Leser_innen erheben Rousseau dagegen in den Rang einer zutiefst ambivalenten Ikone. Für diese liberalismuskritisch und kommunitaristisch orientieren Feminist_innen verdient er Anerkennung für seine ätzende Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft; aber auch dafür, dass er den Frauen und all dem, wofür sie stehen, eine zentrale Rolle in seiner Philosophie zubilligt – im Gegensatz zu den meisten anderen politischen Denkern. In Rousseaus hoher Wertschätzung der Familie, des Privaten und des Gefühls erkennen Interpret_innen wie Elshtain oder Weiss (1993) durchaus Anknüpfungspunkte für den Feminismus, ohne jedoch über die misogyne Grundtendenz seiner Diskussionsbeiträge hinwegzusehen (vgl. auch Weiss/Harper 1990; Ormiston 2002).
10 Einen guten Überblick über die feministische Rousseau-Rezeption, sowohl in ihrer frühen als auch in ihrer aktuelleren Form, bietet der von Lange herausgegebene Aufsatzband Feminist Interpretations of Jean-Jacques Rousseau von 2002.
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Eine ebenfalls kommunitaristische Stoßrichtung, allerdings ins Konservative gewendet, verfolgt Schwartz, der 1984 mit The Sexual Politics of Jean-Jacques Rousseau die erste systematische Untersuchung der rousseauschen Geschlechterordnung aus einer explizit nicht-feministischen Perspektive liefert. Während die frühen feministischen Interpretationen Rousseau oftmals auf die Anklagebank setzen, fühlt Schwartz sich zu dessen Verteidigung berufen. Gemeinsam ist beiden Seiten damit der Versuch, aus Rousseaus Geschlechtertheorien so etwas wie einen Sinn zu extrahieren, der als theoretisches Rüstzeug für die politischen Debatten der eigenen Zeit dienen kann. Was hat Rousseau den heutigen Frauen und dem Feminismus zu bieten?, fragen die einen. Was hat Rousseau den garstigen Feministinnen entgegenzusetzen?, fragt der andere. Erst in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts hören Interpret_innen der rousseauschen Geschlechterordnung auf, nach dem außertextlichen Sinn ihres Untersuchungsgegenstandes zu suchen, und fangen stattdessen an, dessen Funktion innerhalb des Textes ernstzunehmen. Der Feminismus hat seinen poststrukturalistischen turn erlebt. Die Rousseau-Interpretation profitiert davon immens. Als Pionierin im deutschsprachigen Raum kann hier Garbe mit ihrer Studie Die ›weibliche‹ List im ›männlichen‹ Text von 1992 gelten. Sie analysiert Rousseaus Geschlechtertheorie mit einem an Saussure und Lacan geschulten Blick. Dabei gelingen ihr grundlegende Erkenntnisse, ohne die mein Unternehmen nicht vorstellbar wäre: Sie entschlüsselt die Dynamik des Begehrens (vgl. I 2), ergründet den subversiven Charakter der Weiblichkeit (vgl. I 3) und entdeckt die Figur des heimlichen Anderen (vgl. II 3.2). Direkt an Garbe knüpft Bürgin mit ihrer Studie Endliches Subjekt von 2008 an. Sie vertieft die an Lacan orientierte Rousseau-Lektüre und stellt dabei den Zusammenhang von Begehren und Sprache in den Mittelpunkt. Für mein Vorhaben trägt Bürgins Untersuchung besondere Relevanz, da sie die rousseausche Begehrenstheorie im Spannungsfeld von Gleichheit und Differenz verortet und damit dieselbe Grundstruktur analysiert, die mich unter den Namen Einheit und Spaltung beschäftigen wird. Ebenfalls von Garbe ausgehend, schlägt Vinken in einem Aufsatz von 1995 eine etwas andere Richtung ein. Darin zeigt sie auf, wie die Frau bei Rousseau als Figur der Rhetorizität funktioniert. Diesen Gedanken nimmt Rebentisch (2012) wieder auf. Sie widmet Rousseau ein Kapitel in ihrem Buch Die Kunst der Freiheit, in dem sie die Angst der politischen Philosophie vor dem Theater untersucht. Ausgehend vom Begriff der Ästhetisierung gelingt ihr eine bemerkenswerte Analyse von Rousseaus Geschlechterordnung im Zusammenhang mit dem Republikideal, der ich einige wichtige Anregungen verdanke – darunter vor allem das Konzept der Parodie (vgl. III 2.2).
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Im englischsprachigen Raum ist Zerilli (1994) die erste, die Rousseaus Geschlechterordnung aus poststrukturalistischer Perspektive betrachtet. In Signifying Woman interessiert sie sich für die ambivalente Rolle, die in der klassischen politischen Philosophie für die Figur der Frau reserviert ist. Rousseau erweist sich hierfür als Paradebeispiel, wenn er einerseits Frauen als permanente Quelle der Bedrohung denunziert, die aus der männlichen Ordnung ausgeschlossen werden muss, und andererseits dem glorifizierenden Bild idealer Weiblichkeit huldigt. Zerilli gelingt es zu zeigen, dass die Frau bei Rousseau jene Tendenzen verkörpert, die als Störungen der gesellschaftlichen Ordnung unbedingt abgewehrt werden müssen: Sie wird zum Sündenbock für das gefährliche Wirken der Spaltung. Mit Snyder (1999) und Marso (1999) knüpfen im selben Jahr zwei Studien an Erkenntnisse von Zerilli an. Snyder untersucht Rousseau als Vertreter einer Theorietradition, die Republikanismus, Maskulinität und militärische Praktiken in eins setzt und so die Figur des männlichen citizen-soldier erfindet. Sie weist nach, dass bei Rousseau nicht nur die Geschlechtsidentität, sondern auch die Identität des Bürgers performativ hergestellt wird – und zwar durch dieselben Praktiken. Diesen Zusammenhang zwischen doing gender und republikanischen Sitten kann ich für meine Untersuchung aufgreifen (vgl. II 2.3). Marso widmet sich dagegen Rousseaus weiblichen Figuren Sophie und Julie und zeigt auf, inwiefern sie subversive Tendenzen innerhalb seines Werkes verkörpern. Als Dritte gesellt sich ein Jahr später Matthes (2000) hinzu. Ihre Studie bietet weitaus mehr als nur die angekündigte Lektüre von Rousseaus Fragment gebliebenem Theaterstück La mort de Lucrèce. Neben einer überaus interessanten Interpretation der Nouvelle Héloïse liefert sie eine an Derrida orientierte Analyse des Geschlechterverhältnisses als Beziehung der Supplementarität, die ich für mein Vorhaben nutzen kann (vgl. I 3, II 3.2). Einen ganz eigenen Zugang wählt schließlich Wingrove in ihrer Studie Rousseau’s Republican Romance, ebenfalls von 2000. Sie zeigt auf, inwiefern Liebesbeziehungen und politische Beziehungen bei Rousseau eine analoge Struktur aufweisen, die sie unter dem Stichwort consensual nonconsensuality zusammenfasst. Damit verweist sie interessanterweise zurück auf Schwartz, der ebenfalls auf strukturelle Parallelen zwischen Geschlechterverhältnis und Politik abhebt – allerdings freilich nicht wie Wingrove in kritisch-feministischer, sondern in affirmativ-apologetischer Absicht. Auch Wingrove betont die performative Dimension der Geschlechtlichkeit bei Rousseau und richtet darüber hinaus ein besonderes Augenmerk auf die Rolle performativ erzeugter Körperlichkeit. Jenseits des Poststrukturalismus gibt es vor allem eine herausragende Studie der letzten Jahre zu Rousseaus Geschlechterordnung: Kusters Rousseau – Die
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Konstitution des Privaten von 2005.11 Kuster rückt die Familie ins Zentrum ihrer Untersuchung und zeichnet nach, wie sich bei Rousseau die Umrisse einer Sphäre bürgerlicher Privatheit herausbilden. Von Kusters präziser Rekonstruktion der Familienthematik im Kontext der Geschichtsphilosophie kann mein Unternehmen ebenso profitieren wie von ihrer Aufarbeitung des politischen Gehalts der Nouvelle Héloïse. Besonders wertvoll ist für mich ihre Erkenntnis, dass Rousseau die Familie als Gemeinschaft des Intimen entwirft (vgl. I 4). Allerdings stimme ich nicht in jeder Hinsicht mit Kusters Analysen überein. Sie interpretiert den Emile, die Nouvelle Héloïse und den Contrat social als nahtlos ineinander greifende Teile eines umfassenden gesellschaftlichen Reformprogramms. Dabei fällt nicht nur unter den Tisch, dass Rousseau sein politisches und sein individuelles Ideal als unvereinbare Alternativen beschreibt; zudem gerät aus dem Blickfeld, dass jedes der Ideale für sich genommen zutiefst utopische und aporetische Züge aufweist (vgl. II 2.4). In den Forschungsbeiträgen, die Rousseaus Geschlechterordnung in den Blick nehmen, findet sich in aller Regel auch der Bezug zu seinem Republikideal. Besonders Snyder, Wingrove, Kuster und Rebentisch wählen einen Zugang zur Geschlechterproblematik, der auch die politische Theorie in den Vordergrund rückt. Dennoch bleibt meines Erachtens eine systematische Untersuchung des Zusammenhanges zwischen Republik und Geschlechterordnung, die insbesondere dem mehrdeutigen Charakter des rousseauschen Republikideals Rechnung trägt, ein Desiderat der Forschung. Zu Rousseaus Republik existiert selbstredend eine Fülle von Forschungsliteratur, deren umfassende Berücksichtigung den Rahmen meines Vorhabens sprengen würde. Mein Fokus richtet sich daher auf eine bewusste Auswahl an Werken, die es erlaubt, das Republikideal im Kontext von Einheit und Spaltung zu verorten und zugleich in seiner – auf mehreren Ebenen wirksamen – Eigenlogik zu betrachten. In meiner Einordnung des Republikideals in den Zusammenhang der rousseauschen Geschichtsphilosophie folge ich der prominent durch Shklar (1969) vertretenen These, dass Rousseau dem Verhängnis der Vergesellschaftung zwei alternative Ideale gegenüberstellt, die sich wechselseitig ausschließen (vgl. auch Derathé 1962, Herb 1999).12 Dabei bleiben beide Ideale der resignativen Grundstimmung der Geschichtsphilosophie verhaftet und erweisen sich als letztlich
11 Fermon 1997 verfolgt ein ganz ähnliches Lektürevorhaben wie Kuster, ihre Studie vermittelt jedoch nicht die gleiche argumentative Stringenz. 12 Gleichwohl werde ich mich Shklars Einschätzung zur Rolle der Familie in der Republik nicht anschließen (vgl. II 2.4).
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uneinlösbare Utopien. Die Vergeblichkeit des politischen Ideals wird vor allem von Herb (1999) ausführlich thematisiert. Seine Analyse der republikanischen Aporien liegt meiner Diagnose vom Scheitern des politischen Ideals zugrunde. Für die Untersuchung der kontraktualistischen Grundlagen der Republik kann ich mich vor allem auf Herbs Studie Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft von 1989 stützen, in der er minutiös den rechtstheoretischen Gehalt des Contrat social rekonstruiert (vgl. auch Forschner 1977, Kersting 1994; vgl. II 1.1). Herb weist auch darauf hin, dass Rousseaus Republik letztlich über den Rahmen der Vertragstheorie hinausweist, indem sie zur Gemeinschaft der Tugend wird. Diese Dimension der Republik findet etwa bei Baczko eingehende Behandlung. Ihre systematische Erschließung ist jedoch vor allem Fetscher (1975 [1960]) zu verdanken, der in seiner bekannten Studie Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs unter anderem den Zusammenhang zwischen Ethik und politischer Philosophie bei Rousseau herausarbeitet. Seine Analyse des Tugendbegriffs hat für meine Untersuchung grundlegenden Charakter (vgl. II 2.1). Um die Republik unter dem Vorzeichen der Einheit zu betrachten, liegt es nahe, Interpretationen heranzuziehen, die Rousseau totalitäre Züge nachweisen wollen.13 Manche der dort formulierten Vorwürfe sind freilich mit Vorsicht zu genießen. In dem Eifer, Rousseau als Vordenker der totalitären Demokratie (Talmon 1961 [1952]) oder als totalitären Geist (Crocker 1968) zu entlarven, spiegelt sich bisweilen auch das grundsätzliche Unverständnis liberaler Denker_innen für eine politische Theorie republikanischer Prägung wider. Dennoch kann vor allem Talmons Analyse für die ambivalenten und manipulativen Züge sensibilisieren, die Rousseaus politischer Philosophie innewohnen (vgl. II 3.1). Eine interessante Interpretation der rousseauschen Republik im Lichte der Einheit liefert auch Johnston (1999), der nicht aus einer liberalen, sondern aus einer von Nietzsche und Foucault inspirierten Perspektive urteilt. Ihm verdanke ich vor allem einen überzeugenden Einblick in die Funktionsweise des republikanischen Panoptismus (vgl. II 3.3). Auch einige der bereits erwähnten feministischen Poststrukturalist_innen betonen den Einheitsgedanken und die manipulativen Tendenzen in Rousseaus politischer Philosophie, so etwa Garbe, Bürgin und Rebentisch. Während Rousseaus Theorie für seine totalitarismuskritischen Leser_innen vollständig im Zeichen der Einheit steht, schlägt Inston in Rousseau and Radical Democracy (2010) den entgegengesetzten Weg ein. Inspiriert von de Man zeich-
13 Für eine überblickhafte Analyse und kritische Würdigung des Totalitarismusvorwurfs gegen Rousseau vgl. Maier et al. 2011.
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net er den politischen Rousseau detailliert als genuinen Denker der Spaltung – als Postfundamentalisten und Radikaldemokraten avant la lettre. Dabei glückt ihm nicht nur so mancher Punkt gegen eine einseitige totalitäre Lesart. Vielfach weist er auch in überzeugender Weise auf jene Aspekte der rousseauschen Republik hin, die unter der Oberfläche des Einheitsdenkens das subversive Potential der Spaltung freilegen (vgl. III 2.2). Allerdings schießt Inston in seiner Mission zuweilen auch über das Ziel hinaus. Nicht immer ist in dem Bild, das er zeichnet, Rousseau einwandfrei wiederzuerkennen.14 Ein treffenderes Bild gelingt Honig in einem Aufsatz von 2007 über die Paradoxien des Politischen. Hier wird erkennbar, was Rousseau zu einer postmodernen Demokratietheorie beitragen könnte, ohne dass der notorisch ambivalente Denker dafür in einen überzeugten Radikaldemokraten umgebogen werden müsste. Aus dem Stand der Forschung wird deutlich, was mir nun zu tun übrig bleibt. Ausgehend von Starobinskis und Derridas Entdeckung soll das prägende Muster des rousseauschen Denkens nachverfolgt werden: das spannungsreiche Verhältnis von Einheit und Spaltung. Dabei möchte ich Derridas Anregung aufgreifen, dieses Muster anhand einer Untersuchung der Geschlechterordnung herauszuarbeiten. Während ich dabei bereits auf die Unterstützung zahlreicher einschlägiger Studien zurückgreifen kann, sehe ich meine Aufgabe insbesondere darin, den Zusammenhang zwischen Geschlechterordnung und Republikideal systematisch aufzuarbeiten. Wichtig sind mir dabei vor allem zwei Aspekte: Die Republik soll einerseits in ihrer Mehrdeutigkeit zwischen Rechtstheorie, Tugendideal und Einheitslogik erfasst werden. Andererseits möchte ich zeigen, wie stark auch Rousseaus politisches Denken von der Ambivalenz zwischen Einheit und Spaltung durchtränkt ist.
14 Für eine kritische Würdigung vgl. Scherl 2012b. Zum Teil scheint mir Instons einseitige Interpretation gerade dadurch möglich zu werden, dass er in seiner Lektüre den Aspekt der Geschlechterordnung ignoriert. So deutet er beispielsweise die Genfer cercles aus dem Brief an d’Alembert als eine Art basisdemokratischer Diskussionsforen, ohne zu reflektieren, dass hier vor allem die strikte Trennung der Geschlechter und die republikanische Tugend als heteronormative Männlichkeit reproduziert werden sollen (vgl. Inston 2010: 116f.). Die Auswirkungen des fehlenden Bezugs zur Geschlechterordnung fallen besonders ins Auge, wenn man Instons Ausführungen mit den wesentlich kritischeren Interpretationen von Bürgin, Rebentisch oder auch Johnston vergleicht.
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Der Gegenstand dieser Untersuchung ist Rousseaus Denken. Damit ist gleichwohl nicht die Gedankenwelt eines Individuums namens Jean-Jacques Rousseau gemeint. Vielmehr geht es mir um ein spezifisches Denkmuster, das sich aus den Texten extrahieren lässt, die diesen Namen tragen. Rousseau steht für mich gleichsam als Personifikation für das Denken, das sich im untersuchten Text äußert. Jean-Jacques wird dagegen nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein. Welcher Text liegt meiner Lektüre zugrunde? Die Grundstruktur der rousseauschen Geschichtsphilosophie offenbart sich grundlegend im Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité, aber auch im Emile sowie im Essai sur l’origine des langues. Für das politische Ideal der Republik ist selbstverständlich der Contrat social einschlägig. Ergänzend werde ich hierfür auch auf den Discours sur l’économie politique und die Considérations sur le gouvernement de Pologne zurückgreifen. Die Funktionsweise der Geschlechterordnung lässt sich in erster Linie anhand des Emile – einschließlich der unvollendeten Fortsetzung Emile et Sophie – und des Romans Julie ou La Nouvelle Héloïse rekonstruieren. An dieser Stelle zeigt sich bereits eine Schwierigkeit meines Vorhabens: Emile und Julie beschreiben jeweils eigenständige Ideale, die – der von mir befürworteten These Shklars folgend – zunächst einmal unabhängig vom politischen Ideal zu betrachten sind. Ich kann also nicht einfach davon ausgehen, dass in der Republik genau jene Geschlechter- und Familienverhältnisse herrschen, die im Emile und in der Julie beschrieben werden. Den Brückenschlag zwischen politischer Theorie und Geschlechtertheorie trotzdem zu schaffen, stellt die zentrale methodische Herausforderung dieser Arbeit dar. So erklärt sich auch die herausgehobene Stellung, die Rousseaus Lettre à M. d’Alembert für meine Analyse einnimmt: Dieser Text macht den Zusammenhang zwischen Republik und Geschlechterordnung als einziger explizit, sieht man von einer Passage aus der Widmung des Zweiten Diskurses und gelegentlichen Bemerkungen aus dem Emile ab. Da wir nicht über Jean-Jacques sprechen wollen, bleiben die autobiographischen Werke Rousseaus in der Analyse unberücksichtigt. Freilich würden insbesondere die Confessions eine wahre Fundgrube zum Thema Begehren und Geschlechtlichkeit bieten. Zudem ließe sich gerade hier das Wirken von Einheit und Spaltung gut nachvollziehen, wie Starobinski eindrucksvoll gezeigt hat. Dennoch möchte ich den Bereich der Autobiographie für meine Untersuchung vollständig ausklammern. Die Figur Jean-Jacques steht in Rousseaus Kosmos für das exzeptionelle Individuum, das weder für den Bürger noch für den gemeinen
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Mann Modell stehen kann. Im Horizont meiner Fragestellung, die vorrangig auf das politische Ideal abzielt, ist diese Figur nicht von Belang.15 Darüber hinaus möchte ich Jean-Jacques Rousseau auch nicht als Dialogpartner in die Deutung seines Werkes miteinbeziehen. Deshalb werden die zahlreichen Selbstdeutungen, Selbstbespiegelungen und Selbstrechtfertigungen, die der missverstandene Autor in Briefen und Lebensbilanzen vor seinem Lesepublikum ausbreitet, ebenfalls keine Berücksichtigung finden.16 Da das Denken Rousseaus hier nicht als das Denken eines Autorsubjekts interessiert, sollen auch keine Entwicklungen innerhalb dieses Denkens nachvollzogen werden. Daher wird weder auf die Chronologie der Werke reflektiert, noch werden frühere Versionen der untersuchten Texte, etwa das Genfer Manuskript des Contrat social, systematisch betrachtet und ins Verhältnis zu den veröffentlichten Versionen gesetzt. Nach allem, was bisher gesagt wurde, sollte es nun nicht mehr überraschen, dass sich meine Rousseau-Lektüre den Prinzipien des Poststrukturalismus verpflichtet fühlt. Im Anschluss an Barthes’ Aufsatz Die strukturalistische Tätigkeit17 möchte ich die poststrukturalistische Methode als eine spezifische Form der Tätigkeit auffassen. Was aber tun wir, wenn wir poststrukturalistisch tätig sind? Die poststrukturalistische Lektüre versucht nicht, den Sinn eines Textes freizulegen. Wie schon im klassischen Strukturalismus geht es weniger darum, »den Objekten [...] Bedeutungen zuzuweisen, als vielmehr zu erkennen, wodurch die Bedeutung möglich ist, zu welchem Preis und auf welchem Weg« (Barthes 1966: 195). Anders gesagt, die poststrukturalistische Lektüre versucht zu verstehen, wie der Text funktioniert, versucht die Strukturen zu erkennen, die in ihm wirken und ihn sinnvoll – oder auch widersinnig – machen. Dafür muss der Text so rekonstruiert werden, dass die Muster, die ihn sonst im Verborgenen strukturieren, an die Oberfläche treten und sichtbar werden. Nach Barthes besteht die strukturalistische Tätigkeit aus zwei Arbeitsschritten: »Der strukturale Mensch nimmt das Gegebene, zerlegt es, setzt es wieder zusammen [...]« (ebd.: 191). Im Zeichen des Poststrukturalismus kann man dieses strukturalistische Zerlegen und Wiederzusammensetzen um einen dritten Schritt erweitern, den ich in Anleh-
15 Zur Geschlechter- und Begehrensstruktur in den Confessions vgl. etwa Schwartz 1984: 98-113; Wingrove 2000: 131-143. 16 Die zwei Ausnahmen, die ich davon machen werde, sollen rein illustrativen Zwecken dienen. 17 Zu Barthes’ Literaturtheorie und deren Verortung zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus vgl. Geisenhanslüke 2006: 82f.; Münker/Roesler 2000: 22f.
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nung an Derridas Lektüremethode als eine Art von Verschieben umschreiben möchte. Beim Zerlegen entstehen laut Barthes zunächst Fragmente, die an sich keine Bedeutung haben, aber in ihrem geordneten Zusammenspiel Bedeutung erzeugen (vgl. ebd.: 193). Auch meine Lektüre beginnt damit, Rousseaus Denken in seine Bestandteile zu zerlegen. Dabei sollen jedoch nicht die kleinsten bedeutungsstiftenden Teilchen isoliert werden. Stattdessen will ich versuchen, verschiedene Bedeutungsschichten abzutragen und einzelne Bedeutungsfäden herauszupräparieren. Wie sich zeigen wird, sprechen aus Rousseaus Texten viele Stimmen, die es zunächst einmal zu entwirren gilt. Jede Aussage steht in einem bestimmten Kontext oder ändert ihren Gehalt, je nachdem in welchen Kontext sie gestellt wird. Es macht einen Unterschied, ob Rousseau als Rechtstheoretiker spricht oder als Gesellschaftskritiker; ob er die Republik als Kontraktualist oder als Bewunderer der antiken Polis beschreibt; ob er die Rolle der Frau als politischer Theoretiker oder als Romanautor in den Blick nimmt.18 Um all diese Unterscheidungen sinnvoll treffen zu können, werde ich im ersten Schritt meiner Lektüre auch auf Verfahren bzw. Erkenntnisse der Diskursanalyse und der klassischen Ideengeschichte zurückgreifen.19 Von zentraler Bedeutung ist für meine Untersuchung vor allem die bereits angesprochene Unterscheidung zwischen den drei Idealen, die Rousseau entwirft, dem politischen, dem individuellen und dem häuslichen Ideal. Contrat social, Emile und Julie präsentieren aus meiner Sicht zunächst einmal unabhängig voneinander drei Visionen, die nicht unbedingt ineinander passen und deren Elemente man nicht eins zu eins übertragen kann. »Den gesetzten Einheiten muß der strukturale Mensch Assoziationsregeln ablauschen oder zuweisen: das ist die Tätigkeit des Arrangierens, die der Tätigkeit der Nennung folgt.« (Ebd.: 194) Im zweiten Schritt der strukturalistischen
18 Zum Unterschied zwischen rechtstheoretischer und gesellschaftskritischer Argumentation vgl. Herb 1989: 120 und 248f.; vgl. II 1.1. Zum Unterschied zwischen kontraktualistischer und am Polisideal orientierter Argumentation vgl. Herb 1989: 155f.; Herb 1999: 46; Forschner 1977: 106; Kersting 1994: 167f.; vgl. II 2.1. Zur unterschiedlichen Ausdeutung der Rolle der Frau im Kontext der Rechtstheorie und im Kontext der Geschlechterordnung vgl. II 1.2. 19 Die Diskursanalyse wird ihren Auftritt ausschließlich im Anfangskapitel von Teil I und, darauf Bezug nehmend, in II 1.2 haben, um zwei verschiedene Geschlechterkonzeptionen innerhalb des rousseauschen Denkens voneinander abzugrenzen. Die klassische ideengeschichtliche Herangehensweise wird durchgängig eine Rolle spielen, steht aber vor allem Pate für diejenigen Unterkapitel in Teil II, in denen die drei Bedeutungsebenen des Republikideals unterschieden werden sollen (II 1.1, 2.1, 3.1).
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Lektüre werden die isolierten Fragmente wieder zusammengesetzt – nicht willkürlich, sondern so, dass die verborgenen Strukturen zum Vorschein kommen. Das ist auch mein Ziel, wenn ich versuche, die Zusammenhänge in Rousseaus Denken herauszuarbeiten. Dazu kann ich die im ersten Schritt voneinander getrennten Bedeutungsfäden nebeneinander legen und auf wiederkehrende Muster hin untersuchen. Es wird zu zeigen sein, dass die drei Ideale zwar nicht miteinander kompatibel, dafür aber analog zueinander strukturiert sind. Jede der drei Visionen funktioniert nach demselben Grundmuster, in dem sich das ambivalente Verhältnis von Einheit und Spaltung abbildet. Diesen Umstand kann ich mir zunutze machen, um den Zusammenhang zwischen Geschlechterordnung und Republik auf struktureller Ebene herzustellen. Indem ich das politische Ideal immer wieder parallel zu den Idealen aus dem Emile und der Nouvelle Héloïse lese, kann ich die Strukturmuster herausfiltern, die allen drei Idealen zugrundeliegen. Die strukturalistische Tätigkeit endet mit der Rekonstruktion der Funktionsmuster des analysierten Gegenstandes. Die poststrukturalistische Tätigkeit fängt hier jedoch erst richtig an. Wie wir von Derrida wissen, hat die Struktur kein Zentrum, das außerhalb der Struktur selbst liegt (vgl. Derrida 1972: 422f.). Dass die Strukturalität des Textes daher unvermeidlich gewisse Nebenwirkungen zeitigt, darüber ist sich auch Barthes im Klaren. Mit dem Tod des Autors, den er diagnostiziert (vgl. Barthes 2000), fällt jede versichernde Autorität aus, die dem Text einen eindeutigen, abgeschlossenen Sinn zuweisen könnte. Der Text erweist sich so als »Feld ohne Ursprung – oder jedenfalls ohne anderen Ursprung als die Sprache selbst, also dasjenige, was unaufhörlich jeden Ursprung in Frage stellt« (ebd.: 190).20 Ohne Zentrum und ohne Ursprung wird das Sinngebäude zur wackligen Konstruktion. Die Strukturen verschieben sich: Sie erzeugen eine Bedeutung, die im selben Zuge auch schon unterlaufen wird. »Die Schrift bildet unentwegt Sinn, aber nur, um ihn wieder aufzulösen.« (Ebd.: 191) Diese Bewegung des Verschiebens, die der Text selbst vollzieht, gilt es im dritten Schritt der
20 Der Tod des Autors verweist bei Barthes letztlich auch zurück auf den Tod Gottes und damit auf das Ende des metaphysischen Erkenntnismodells. Vgl. dazu: »Genau dadurch setzt die Literatur (man sollte von nun an besser sagen: die Schrift), die dem Text (und der Welt als Text) ein ›Geheimnis‹, das heißt einen endgültigen Sinn, verweigert, eine Tätigkeit frei, die man gegentheologisch und wahrhaft revolutionär nennen könnte. Denn eine Fixierung des Sinns zu verweigern, heißt letztlich, Gott und seine Hypostasen (die Vernunft, die Wissenschaft, das Gesetz) abzuweisen.« (Barthes 2000: 191, Herv. i.O.) Spätestens an dieser Stelle erweist sich Barthes meines Erachtens als poststrukturalistischer Denker.
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Lektüre nachzuverfolgen. In der Grammatologie ist Derrida dieser Bewegung auf der Spur und führt vor, wie der rousseausche Text sich fortwährend selbst aufhebt: Rousseau behauptet das eine und beschreibt gleichzeitig etwas anderes.21 An dieses Lektüremuster kann ich auch für meine Untersuchung anknüpfen. So bleibt mir schließlich zu zeigen, wie sich in den charakteristischen Mustern, die das rousseausche Denken durchziehen, dessen ganze Ambivalenz zwischen Einheit und Spaltung offenbart. Gerade dort, wo es um Geschlechtlichkeit und Begehren geht, fallen Behauptung und Beschreibung auseinander, werden permanent Bedeutungen verschoben. Wir müssen nur genau hinsehen, um diese Bewegung am Werk zu beobachten. Das Ziel der strukturalistischen Tätigkeit ist Barthes zufolge »die Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern verständlich machen will« (Barthes 1966: 192). Indem der Untersuchungsgegenstand einmal komplett auseinandergenommen und dann nach strukturellen Gesichtspunkten wieder zusammengesetzt wird, entsteht ein Abbild, in dem die Muster deutlich sichtbar werden, die sich zuvor den Blicken entzogen haben. Es handelt sich um eine »Tätigkeit der Nachahmung« (ebd.). Die strukturalistische Nachahmung soll jene verborgenen Mechanismen aufdecken, nach denen der nachgeahmte Gegenstand funktioniert. Die poststrukturalistische Nachahmung soll darüber hinaus vorführen, wie diese Funktionsmechanismen zugleich unvermeidlich fehlschlagen. In diesem speziellen Sinne kann man die poststrukturalistische Tätigkeit als Parodie auffassen: als Kunst der entlarvenden Imitation.22 In Teil I möchte ich Rousseaus Konzeption von Geschlechtlichkeit und Begehren rekonstruieren. Dieses Vorhaben beginnt zunächst mit einer kurzen diskursanalytischen Einordnung der rousseauschen Geschlechtervorstellungen, die in Hinblick auf meine Fragestellung zwei Funktionen erfüllt: Erstens bereitet sie eine analytische Unterscheidung vor, die später zu Anfang des zweiten Teils entwickelt werden soll, um zwei Verwendungsweisen des Geschlechterbegriffs bei Rousseau voneinander abzugrenzen. Zweitens kommt der diskursanalytischen Betrachtung eine heuristische Funktion zu, da sie die Analysekategorien der folgenden rein textimmanenten Untersuchung vorgibt. Hier wird es zuerst darum gehen, wie Rousseau das Geschlecht zwischen Natur und Gesellschaft
21 Die Beispiele für dieses Lektüremuster sind so zahlreich, dass ich hier exemplarisch nur auf ein paar Stellen verweisen möchte: Vgl. Derrida 1967: 284, 325f., 338, 344f. 22 Zur Parodie und ihrer Rolle bei Rousseau selbst wird am Ende der Untersuchung noch einiges zu sagen sein (vgl. III 2.2 und Ausklang). Tatsächlich wird sich herausstellen, dass die Analyse hier nur nachvollziehen kann, was der Untersuchungsgegenstand selbst vorführt.
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verortet, danach um seine Theorie des Begehrens, seine Konzeption von Männlichkeit und Weiblichkeit und schließlich um sein Verständnis der Familie als Gemeinschaft des Intimen. Teil II wird die Zusammenhänge zwischen Geschlechterordnung und Republikideal herausarbeiten. Hier werde ich die Republik nacheinander unter dem Vorzeichen der Rechtstheorie, des Tugendbegriffes und schließlich des Einheitsideals betrachten.23 Diese drei verschiedenen Perspektiven werden den Blick auf jeweils andere Strukturmuster lenken, die den Zusammenhang zwischen Republik und Geschlechterordnung kennzeichnen. So wird die rechtstheoretische Perspektive zunächst ein Stück weit vom Thema Einheit und Spaltung wegführen und auf eine andere Konzeption politisch relevanter Geschlechtlichkeit verweisen, die es von der in Teil I rekonstruierten Geschlechterordnung abzugrenzen gilt. Von diesem Abstecher in die Welt der klassischen Vertragstheorie werde ich zurückkehren, indem ich anschließend den rousseauschen Begriff der Tugend in den Mittelpunkt rücke. Aus dieser Perspektive wird vor allem deutlich werden, inwieweit die Geschlechterordnung eine funktionelle Voraussetzung der Tugendrepublik bildet und der republikanischen Strukturlogik zugrundeliegt. Schließlich werde ich die Republik als Variante des rousseauschen Einheitsideals analysieren. Diese Perspektive wird es ermöglichen, die Analogie der Strukturmuster aufzuzeigen, die im politischen Ideal einerseits und in der Geschlechterordnung andererseits wirksam sind. Teil III soll den Bogen zurück zum Ausgangsproblem schlagen: dem Spannungsfeld von Einheit und Spaltung. Es wird zu zeigen sein, inwiefern bereits die rousseausche Geschichtsphilosophie von einer profunden Ambivalenz im Verhältnis zwischen diesen beiden Polen durchzogen ist, die sich im politischen Ideal fortsetzt. Aus der Rekonstruktion des Zusammenhangs von Republik und Geschlechterordnung lassen sich schließlich zwei verschiedene Deutungsmuster für das Verhältnis von Einheit und Spaltung ableiten. Einerseits wird uns Rousseau als nostalgischer Denker begegnen, der die Einheit vergeblich herbeisehnt und die Spaltung betrauert. Andererseits werden wir auch Rousseaus subversive Seite kennenlernen – seine Einsicht in die gar nicht so traurig stimmende Unheilbarkeit der Spaltung.
23 Die Systematik dieses Dreischritts verdanke ich Anregungen von Karlfriedrich Herb in einem Seminar im Sommersemester 2010. Zur Ambivalenz der rousseauschen politischen Theorie zwischen Rechtstheorie und Tugendideal vgl. Herb 1989, 1999. Meine Rekonstruktion der Logik der Einheit schließt an die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismusvorwurf gegen Rousseau an, vgl. dazu Herb/Scherl 2012.
I. Geschlechterordnung
Wir werden sozusagen zweimal geboren: einmal um zu existieren, und einmal um zu leben; einmal für die Gattung und einmal für das Geschlecht. ROUSSEAU, EMILE IV 489
Geschlecht und Geschlechterordnung
Wovon spricht Rousseau, wenn er vom sexe spricht? Der Antwort auf diese Frage wollen wir in diesem ersten Teil näherkommen. Damit das gelingt, müssen wir alle eigenen Definitionen und Theorien hinter uns lassen, die im Vorhinein festlegen könnten, was es mit dem Geschlecht auf sich hat. Es soll ganz Rousseau überlassen bleiben, den Begriff sexe mit Bedeutung zu füllen. Dennoch ist vorab eine Klarstellung vonnöten, die der unvermeidlichen Problematik jeder Übersetzung geschuldet ist. Wie wir sehen werden, denkt Rousseau den Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern, zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, ausgehend vom Begehren. Wenn er den Menschen als geschlechtliches Wesen betrachtet, hat er daher stets zweierlei im Blick: den Menschen als Mann oder Frau1 und den Menschen als begehrendes Wesen. Rousseau folgend werde ich daher vom Geschlecht sprechen und damit zugleich auf das Begehren verweisen – auch wenn der deutsche Begriff diesen Assoziationsraum wohl leider weniger selbstverständlich eröffnet als der französische. Die Geschlechterordnung, die es im Folgenden zu rekonstruieren gilt, ist also grundsätzlich immer auch als eine Ordnung des Begehrens zu verstehen. Rousseau schreibt als Teil eines Diskurses, als Stimme in einem laufenden Verständigungsprozess darüber, wie Geschlechtlichkeit zu verstehen ist. Das 18. Jahrhundert ist für diese Thematik eine Zeit des Umbruchs. Die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen im Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Zeitalter verfehlen auch auf dem Feld des Geschlechtlichen nicht ihre Wirkung: Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen muss neu bestimmt werden, nachdem alte Weltbilder ins Wanken geraten sind. In der querelle des femmes diskutieren Intellektuelle der Zeit kontrovers über die Gleichheit – oder Ungleichheit
1
Bzw. den Menschen als Mann im Unterschied zur Frau – so die zutreffendere Formulierung, wenn man bedenkt, dass der Mensch für Rousseau immer schon Mann ist, dazu später mehr (vgl. I 3).
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– der Geschlechter (vgl. Honegger 1991: 140). Gleichzeitig löst sich die überkommene Familienordnung auf: Das Ende des traditionellen oikos macht auch eine Neubestimmung der Familie notwendig (vgl. Schwab 1975: 271). In diese Zeit der politisch-gesellschaftlichen Umbrüche fällt zudem ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel: Durch den beginnenden Aufschwung der Humanwissenschaften zeichnet sich ein grundlegender epistemologischer Wandel am Horizont ab, der auch die Bedeutung des Geschlechts durcheinander wirbeln wird (vgl. Foucault 1976). Das 18. Jahrhundert erweist sich so auch auf dem Gebiet der Geschlechtlichkeit als Sattelzeit.2 Traditionelle Vorstellungen davon, was das Geschlecht ausmacht, verlieren ihre Gültigkeit; vieles steht zur Disposition und muss neu ausgehandelt werden. Es dauert etwa bis zum Ende des Jahrhunderts, spätestens bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, bis sich eine neue Vorstellung von Geschlechtlichkeit etabliert hat (vgl. Honegger 1991: 4; Schwab 1975: 299). Idealtypisch vereinfacht macht sich der Vorstellungswandel in vier Hinsichten bemerkbar. Erstens ändert sich das Verständnis davon, was Geschlechtlichkeit prägt und bestimmt. Bis zum 18. Jahrhundert galt das Geschlecht in erster Linie als ein soziales Statusmerkmal: »To be a man or a woman was to hold a social rank, a place in society, to assume a cultural role [...]« (Laqueur 1992: 8). Im Zuge einer »Verwissenschaftlichung« (Honegger 1991: 2) des Geschlechterdiskurses kommt jedoch seit Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue Betrachtungsweise auf: das Geschlecht als Tatsache der Natur. Gesucht wird nun nach einer tief in den menschlichen Körper eingeschriebenen Wahrheit des Geschlechts. Eine naturwissenschaftlich orientierte Anthropologie und die entstehende moderne Medizin erheben vormals gesellschaftlich definierte Kategorien zu biologischen Fakten. Die Leiblichkeit des Menschen wird nun auch zur unhintergehbaren Grundlage moralischer Geschlechtertheorien erklärt (vgl. ebd.: 135f.; Laqueur 1992: 6f.). Damit beanspruchen die Naturwissenschaften selbstbewusst die Expertise auf einem Gebiet, das zuvor Philosophie und Moraltheologie vorbehalten war (vgl. Honegger 1991: IX). Ein ähnlich gelagerter Wandel betrifft zweitens auch die Sexualität: Der Biologisierung des Geschlechts entspricht die Psychologisierung des Sexes. Auch der Geschlechtsakt wurde ehedem vor allem mit Bezug auf die gesellschaftliche Ordnung verstanden: Rechtmäßig ausgeübt in der christlichen Ehe, diente er als Grundlage sozialer Beziehungen in einem geregelten Verwandtschaftssystem. Erst das 18. Jahrhundert entwickelt die Vorstellung einer tief im Menschen angelegten sexuellen Disposition, die zur Triebfeder seiner sexuellen Handlungen wird. Der Begriff der Perversion ist eine moderne Erfindung: Wo frühere Jahr-
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Zum Begriff der Sattelzeit vgl. Koselleck 1972.
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hunderte ein moralisches Fehlverhalten, einen Verstoß gegen die geltenden Regeln der Ehe sahen, erkennt man nun eine widernatürliche individuelle Veranlagung (vgl. Foucault 1976: 58f.). Der Geschlechtsakt gilt nicht mehr in erster Linie als äußerer Akt mit sozialer Bedeutung, sondern vielmehr als Ausfluss eines inneren Triebes, eines dunklen Geheimnisses, das jeder Mensch in sich trägt und das ihn im Verborgenen prägt (vgl. ebd.: 205f.). Drittens ändert sich die Deutung des Geschlechterverhältnisses. Die Frau, so war man sich Jahrhunderte lang einig, ist eine unvollkommenere Ausgabe des Mannes. Die Unterschiede zwischen beiden erschienen als lediglich graduell – in Hinblick auf Tugenden und Fähigkeiten ebenso wie in leiblicher Hinsicht (vgl. Laqueur 1992: 4f.). Diese Vorstellung einer Hierarchie der Geschlechter wird im Laufe des 18. Jahrhunderts abgelöst durch ein neues Paradigma: An die Stelle der quantitativen Abstufung tritt die qualitative Unvereinbarkeit. Mann und Frau gelten nun als wesenhaft verschieden, ja als gegensätzlich. Die Grundlage dafür wird in ihrer Anatomie gesucht (vgl. Honegger 1991: 135f.; Laqueur 1992: 5f.). Ausgehend von der leiblichen Differenz wird nun auch im Bereich der Tugend ein Unterschied gemacht: Die Frau ist nicht mehr unvollkommener Mann, sondern vollkommene Frau (vgl. Pabst 2007: 27). Dieser Wandel von der hierarchischen Ungleichheit zur Differenz der Geschlechter bedeutet jedoch nicht, dass die Frau dem Manne nun ebenbürtig wäre. Nach wie vor bleibt sie ein Sonderfall, eine Abweichung vom Normalfall des Menschen, der selbstverständlich männlich gedacht wird (vgl. Honegger 1991: 6; Laqueur 1992: 22). Die Frau ist nun zwar nicht mehr das zweite Geschlecht, wird dafür aber zum anderen Geschlecht.3 Einem grundlegenden Wandel unterliegt viertens auch der Begriff der Familie. Bevor sich erstmals eine außerhäusliche Sphäre des Wirtschaftens entwickelt, wurde die Familie durch die Brille der aristotelischen Ökonomik betrachtet: strukturiert durch die drei traditionellen Herrschaftsbeziehungen zwischen Mann und Frau, Vater und Kind, Herr und Knecht (vgl. Schwab 1975: 258-66). Ihr Zweck war ökonomischer, aber auch politisch-gesellschaftlicher Natur: Sie erlaubte durch geregelte Verwandtschaftsbeziehungen die Reproduktion der bestehenden Ordnung – zu denken ist an die Weitergabe von Herrschaftstiteln im Adel, aber auch an die Vererbung von Eigentum (vgl. Foucault 1976: 140). Durch die gesellschaftlichen Umbrüche des 18. Jahrhunderts büßt der oikos seine
3
Die Unterscheidung zwischen zweitem Geschlecht und anderem Geschlecht verdanke ich einer Anregung von Karlfriedrich Herb. Es handelt sich um eine Anspielung auf Beauvoirs Le deuxième sexe, das auf deutsch in freier Übersetzung als Das andere Geschlecht publiziert wurde (vgl. Beauvoir 1968).
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bisher gültige Form ein, aus dem ganzen Haus wird die Kleinfamilie. Nicht nur die wirtschaftliche Funktion der Familie verliert an Bedeutung, auch ihre politische Rolle steht in Frage. Die Romantik verklärt die Ehe zur communio der Seelen in der Liebe und raubt ihr so den Charakter der sozialen Pflicht (vgl. Schwab 1975: 286). Damit steht die ganze Familie im Zeichen einer »Verinnerlichung« (ebd.: 278), die familiären Beziehungen werden durch Gefühl, Empfindsamkeit, Liebe aufgeladen (vgl. Foucault 1976: 143; Okin 1982). Die moderne bürgerliche Familie ab dem 19. Jahrhundert wird zur Gemeinschaft des Intimen. Die traditionellen Vorstellungen von Geschlechtlichkeit – Foucault würde vom dispositif d’alliance sprechen, Laqueur vom one-sex model (vgl. Foucault 1976: 140; Laqueur 1992: 8) – betonen vor allem deren soziale Funktion. Das Geschlecht legt den Status fest und definiert die Beziehungen innerhalb einer hierarchischen Ordnung. Mann oder Frau – das sagt wenig über ein Individuum aus, viel mehr dagegen über die soziale Position, die es einnimmt. Die geschlechtlichen Beziehungen werden gleichsam von außen betrachtet, es interessieren nicht ihre individuellen Antriebe, sondern ihre gesellschaftlichen Folgen. Ehe und Familie bilden die Grundlage einer verwandtschaftlich organisierten Ständegesellschaft. Dieses Modell der Geschlechtlichkeit ist zur Zeit von Rousseau in Auflösung begriffen, aber durchaus noch nicht endgültig passé. Rousseaus Denken enthält deutliche Spuren dieses Vorstellungskomplexes, immer wieder tauchen entsprechende Argumentationsmuster auf, um die Geschlechterordnung zu rechtfertigen. Die enge Verbindung zwischen Geschlechtlichkeit und politischer Ordnung, die das alte Modell impliziert, verlangt nach einer gemeinsamen Analyse. Daher werden wir diesen Spuren erst in Teil II nachgehen, wenn der Zusammenhang zwischen Geschlechterordnung und Republik Thema wird (vgl. II 1.2). Die Sichtweise des Geschlechtlichen, die in Rousseaus Denken dominiert, trägt jedoch die Züge der neuen Zeit – um diese Perspektive soll es in Teil I gehen. Am Ende des 18. Jahrhunderts steht eine völlig gewandelte Vorstellung von Geschlechtlichkeit. Das Geschlecht wird von der sozialen zur natürlichen Tatsache, zur Wahrheit, die in Leib und Seele jedes Menschen eingeprägt ist. Mann oder Frau zu sein, das weist nicht mehr den Rang in einer sozialen Hierarchie zu, sondern gleichsam die Zugehörigkeit zu einer von zwei Spezies. Sexualität, Ehe, Familie – die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung werden individualisiert und affektiv aufgeladen. Am Horizont taucht so jenes Geschlechtermodell auf, das seine Wirkung bis heute entfaltet. Rousseau schaltet sich in den Geschlechterdiskurs ein, noch bevor sich dieses Modell endgültig etabliert. Die breite Re-
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zeption seiner Gedanken in den folgenden Jahrzehnten legt sogar nahe, ihn als Vordenker der neuen Sicht auf das Geschlecht zu bezeichnen.4 Dies nachzuweisen soll jedoch nicht Aufgabe dieser Arbeit sein; vielmehr können uns die vier beschriebenen Veränderungen als Anhaltspunkte dienen, welche Fragen an Rousseau zu stellen sind, um seine Geschlechterordnung zu rekonstruieren. Erstens, wie verortet Rousseau Geschlecht und Geschlechterordnung zwischen Natur und Gesellschaft? Die Antwort scheint auf den ersten Blick eindeutig – Rousseau gilt als Stichwortgeber all jener, die das Geschlecht als Faktum der Natur sehen wollen. Allerdings muss hier genau hingeschaut werden: Natur ist bei Rousseau ein schillernder Begriff und hat nur sehr wenig mit biologistischen Argumentationen zu tun. Daher muss die Rolle der Geschlechtlichkeit sorgfältig mit Blick auf die rousseausche Geschichtsphilosophie rekonstruiert werden (I 1). Zweitens, wie denkt Rousseau Sexualität? Auf der Schwelle zu einer neuen Denkweise entwirft er eine Theorie des Begehrens – eine Perspektive, die nicht den Geschlechtsakt und seine sozialen Folgen, sondern das innerpsychische Geschehen in den Fokus rückt. Der Begriff des Begehrens steht im Zentrum von Rousseaus Geschlechterordnung; er strukturiert die geschlechtliche Natur des Menschen ebenso wie das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Für die beabsichtigte Untersuchung ist es somit unerlässlich, die Schlüsselrolle des Begehrens genau in den Blick zu nehmen (I 2). Drittens, wie bestimmt Rousseau das Verhältnis zwischen Mann und Frau? Seine Geschlechtertheorie wird sich nahezu als Prototyp einer Differenztheorie erweisen: Männlichkeit und Weiblichkeit sind bei Rousseau zwei gegensätzliche Konzepte. Beide müssen in ihrer Eigenlogik wie in ihrer Bezugnahme aufeinander analysiert werden (I 3). Viertens, welche Rolle spielt die Familie? Die moderne bürgerliche Familie verdankt Rousseau wohl ihr charakteristischstes Kennzeichen: die Transformation zu einer Gemeinschaft des Intimen. Das Augenmerk der Analyse wird sich auf die Logik der Intimität richten und die Frage klären müssen, wie sich diese zur Logik des Begehrens verhält (I 4). Mit der Betrachtung der Familie kann die angestrebte Rekonstruktion zum Abschluss gebracht werden: Rousseaus Geschlechterordnung kulminiert in seinem Familienideal.
4
Zu Rousseaus Einfluss auf das Konzept der bürgerlichen Familie vgl. z.B. Okin 1982; Kuster 2005; zu seiner Bedeutung für das Konzept männlicher Öffentlichkeit und weiblicher Privatheit vgl. Landes 1988; zu seiner Bedeutung für das Konzept des komplementären Geschlechterverhältnisses vgl. Hauser 1992; Heinz 2003; zu seinem Einfluss auf die Neubestimmung von Weiblichkeit vgl. Bovenschen 1979; Steinbrügge 1987; Pabst 2007.
1. Geschlecht, Natur und Gesellschaft
»Wollt ihr immer gut geleitet sein? Folgt immer den Hinweisen der Natur. Alles, was das Geschlecht charakterisiert, muss als von ihr eingerichtet geachtet werden.« (Emile IV 700) Geschlechtlichkeit als Faktum der Natur – dieses Mantra trägt Rousseau an denjenigen Stellen seines Werkes vor, die am prominentesten den Unterschied zwischen den Geschlechtern thematisieren. Das Fünfte Buch des Emile und der Brief an d’Alembert feiern die Ordnung der Geschlechter als natürliche Ordnung. Erst das Abweichen von dieser Ordnung ist Signum des Gesellschaftlichen, ja der gesellschaftlichen Perversion. Frauen, die dem Ideal natürlicher Weiblichkeit nicht entsprechen; Männer, die sich weibisch verhalten; Familien, die erodieren – all dies sind Kennzeichen eines gesellschaftlichen Verfalls, der sich gegen die Ordnung der Natur richtet.1 Die Kennzeichnung der Geschlechterordnung als natürlich steht jedoch in einem offenen Widerspruch zu der Geschichtsphilosophie, die Rousseau im Zweiten Diskurs entfaltet. Der Naturzustand, den er hier zeichnet, kennt keine Geschlechterordnung. Der homme naturel ist ein isolierter Einzelgänger, der eigentümlich geschlechtslos bleibt. Es gibt keinen Unterschied in den Lebensweisen und Eigenschaften der Geschlechter, keine geschlechtliche Liebe, keine Familie. All dies sind spätere Entwicklungen, die ihren Platz nicht in der Natur, sondern in der Geschichte der menschlichen Vergesellschaftung finden. Feministische Interpret_innen haben auf diesen Widerspruch aufmerksam gemacht und ihn als gender bias interpretiert. Die Berufung auf die Natur diene in Bezug auf das Geschlecht nur als Vorwand, als durchsichtige Rechtfertigung
1
Einige frühe feministische Interpret_innen nehmen Rousseau hier beim Wort und verstehen ihn als Essentialisten, der die Grundlage des asymmetrischen Geschlechterverhältnisses in der Biologie sieht, vgl. etwa Lange 1981: 251f.; Elshtain 1981: 160f. Vgl. dazu auch den Nicht-Feministen Schwartz, der von einer materialistischen Sichtweise Rousseaus auf das Geschlechtliche ausgeht, vgl. Schwartz 1984: 2f.
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einer gar nicht so natürlichen Geschlechterordnung, die einseitig zu Lasten der Frauen gehe.2 Um diesen scheinbaren Widerspruch richtig einzuordnen, darf jedoch nicht übersehen werden, dass Rousseau den Begriff der Natur auf sehr spezielle Weise verwendet. Daher müssen wir nun zunächst untersuchen, wie Rousseau Geschlechtlichkeit innerhalb seiner Geschichtsphilosophie thematisiert, um die Verortung der Geschlechterordnung im Feld zwischen Natur und Gesellschaft zu entschlüsseln. In der rousseauschen Geschichtsphilosophie taucht das Motiv der Geschlechtlichkeit immer dann auf, wenn die Verwandlung des Menschen von einem natürlichen in ein gesellschaftliches Wesen beschrieben wird. Das lässt sich zum einen dort beobachten, wo Rousseau den Übergang vom Natur- in den Gesellschaftszustand auf menschheitsgeschichtlicher Ebene rekonstruiert: im Diskurs über die Ungleichheit, aber auch im Essai über den Ursprung der Sprachen. Zum anderen findet sich dieses Muster auch im Emile wieder, projiziert auf die Entwicklungsgeschichte des Individuums. Hier wird Geschlechtlichkeit zum zentralen Motiv, das den Eintritt des natürlich erzogenen Kindes in einen neuen, gesellschaftlich bestimmten Lebensabschnitt markiert.3 Betrachten wir zunächst das Geschlechtsleben des Menschen im Naturzustand. Der solitäre Wilde, der in den Wäldern umherstreift, erscheint geschlechtlich so gut wie nicht differenziert. Dass der homme eher männlich gedacht ist, die Abwesenheit des Geschlechtlichen mithin in erster Linie eine Abwesenheit des Weiblichen ist,4 wird freilich bereits durch die Sprache (homme, Mensch und Mann) festgelegt, scheint aber auch in manch einer verräterischen Formulierung auf: »Die einzigen Güter, die er in der Welt kennt, sind Nahrung, ein Weibchen und Ruhe« (DI III 143) – oder auch: »jede Frau ist gut für ihn« (ebd.: 158). Ein-
2
Vgl. für diese These von der Funktionalisierung der weiblichen ›Natur‹ vor allem Okin 1979: 106-139; vgl. auch Bovenschen 1979: 173, 176f.; Kofman 1986: 12f.; Coole 1993: 84-90. Auch Weiss analysiert Rousseaus Geschlechtertheorie als funktionalistisch statt essentialistisch; im Gegensatz zu Okin unterstellt sie Rousseau hier jedoch weniger patriarchale als vielmehr kommunitaristische Absichten, vgl. Weiss 1993: 36-53.
3
Vgl. hierzu die These von Vargas, »dass der Übergang von der Natur zur Gesellschaftlichkeit ein komplexes Dispositiv impliziert, dessen Achse die menschliche Sexualität bildet« (Vargas 2012: 152). Auch er zeigt dies anhand einer parallelen Lektüre von Emile, Diskurs und Essai. Vgl. zu dieser Vorgehensweise auch Kuster 2005: 164, hier bezogen auf die Familie.
4
Auf diesen Umstand machen z.B. Fetscher 1989: 3, Benhabib/Nicholson 1987: 534 und Holland-Cunz 1997: 55 aufmerksam.
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zig die Themen Fortpflanzung und Kindheit eröffnen für Rousseau die Notwendigkeit, überhaupt anzusprechen, dass es »Männchen« und »Weibchen« (ebd.: 147) gibt. Das Zusammenleben in Form der Familie wird für den Naturzustand ebenso zurückgewiesen wie die leidenschaftliche Liebe. Rousseau ist bemüht, seinen Naturzustand von allem freizuhalten, das nach definierter Geschlechtlichkeit verlangt. Geschlechtlichkeit beschränkt sich gleichsam auf einen biologischphysiologischen Restbestand: den heterosexuellen Geschlechtsakt als Bedürfnisbefriedigung und Voraussetzung der Fortpflanzung sowie das Tragen und Säugen des Kindes durch die Mutter. Familie, Mutterschaft und Vaterschaft sollen später näher betrachtet werden (vgl. I 4). Daher wenden wir uns nun zunächst dem ersten Aspekt zu: dem Geschlechtstrieb und der sexuellen Vereinigung von Männchen und Weibchen im Naturzustand. Rousseaus Ausführungen im Zweiten Diskurs und im Essai über den Ursprung der Sprachen weichen in dieser Frage voneinander ab. Im Diskurs kommt es zum Geschlechtsakt, wenn die isoliert lebenden Männchen und Weibchen zufällig aufeinandertreffen. Im Essai dagegen leben die Menschen in inzestuösen Horden zusammen, in denen sich Brüder und Schwestern paaren. Ungeachtet dieser Abweichungen5 folgt das Geschlechtsleben in beiden Beschreibungen einem speziellen Muster, das es als vorgesellschaftlich kennzeichnet: Es ist im Sinne eines physischen Bedürfnisses strukturiert. Der wilde Mensch folgt nur dem »einfachen Antrieb der Natur« (DI III 143): »Seine Begehren gehen nicht über seine physischen Bedürfnisse hinaus. Die einzigen Güter, die er in der Welt kennt, sind Nahrung, ein Weibchen und Ruhe [...]« (ebd.). Das sexuelle Verlangen ist bloßes Bedürfnis wie das Bedürfnis nach Nahrung oder nach Schlaf, es entspringt allein dem amour de soi. Der Diskurs spricht von einem »blinden Hang«, der einen »rein animalischen Akt« hervorbringt (ebd.: 164). Auch die Vereinigung der Geschwister im Essai ist allein vom »natürlichen Trieb« und »Instinkt« geleitet (EOL V 406). Das Geschlechtsleben im Diskurs und Essai weist dieselbe charakteristische Struktur auf, die wir als Struktur des Bedürfnisses verstehen können. Erstens, das Bedürfnis kennt keine Präferenzen. Für den Menschen im Diskurs ist jede Frau, die zufällig seinen Weg kreuzt, eine potentielle Geschlechtspartnerin (vgl. DI III 158). Ebenso wahllos finden Bruder und Schwester im Essai zusammen –
5
Laut Derrida deuten die Abweichungen zwischen Diskurs und Essai auf einen leicht verschobenen Fokus hin: Während der Diskurs den antisozialen Charakter des Naturzustands zuspitzt, um den Bruch zu betonen, der mit der Vergesellschaftung einhergeht, will der Essai die allmähliche Entwicklung vom Natur- in den Gesellschaftszustand nachvollziehbar machen (vgl. Derrida 1967: 358). Vgl. auch Kuster 2005: 57.
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»die Gewohnheit nahm die Stelle der Präferenz ein« (EOL V 406). Der geschlechtliche Akt wird vollzogen, sobald der natürliche Trieb und eine günstige Gelegenheit zusammentreffen. Die Geschlechtspartner sind austauschbar. Zweitens, das Bedürfnis ist kein auf den Anderen bezogenes Gefühl und begründet somit keine sozialen Beziehungen. Die Vereinigung von Männchen und Weibchen im Diskurs bleibt ein singulärer Akt (vgl. DI III 147). Den Menschen fehlt jede Vorstellung eines individuellen Gegenübers, die zu einer dauerhaften Bindung führen könnte. Rousseau lässt auch Lockes Argument (vgl. Locke, TG II § 79, 80) nicht gelten, dass die gemeinsame Sorge um den Nachwuchs Mann und Frau auf natürliche Weise zusammenschweiße. Schließlich können Wesen ohne jedes Erinnerungs- und Reflexionsvermögen schwerlich absehen, welche Folgen der sexuelle Akt nach sich zieht. »Denn diese Art der Erinnerung, aufgrund derer ein Individuum für den Zeugungsakt einem Individuum den Vorzug gibt, erfordert [...] mehr Fortschritt oder Korruption im menschlichen Verstand, als man bei ihm im Zustand der Animalität, um den es sich hier handelt, voraussetzen kann.« (DI III 217)
Während also im Diskurs jede Art der Familienbildung durch den Geschlechtsakt entschieden zurückgewiesen wird, scheint der Essai auf den ersten Blick so etwas wie eine natürliche Familie zu kennen. Die inzestuöse Horde erscheint hier zunächst tatsächlich als erste rudimentäre Form eines sozialen Verbandes. Obwohl Rousseau sie sogar als Familie bezeichnet, charakterisiert er sie jedoch deutlich als präsoziale Form des Zusammenlebens (vgl. Kuster 2005: 58ff.). Die Inzestfamilie gehört zu einer Epoche der menschlichen Geschichte, die noch vor aller Geschichte liegt: »In den ersten Zeiten hatten die über die Erde verstreuten Menschen als Gesellschaft nur die der Familie, als Gesetze nur die der Natur, als Sprache nur Gebärden und einige unartikulierte Laute.« (EOL V 395) In ihrer Isolation, ihrer Sprachlosigkeit und ihrem fehlenden Reflexionsvermögen gleichen die Mitglieder dieser Ur-Familie den wilden Einzelgängern des Diskurses. Ohne Erkenntnisvermögen und Einbildungskraft bleibt der Mensch »allein inmitten des Menschengeschlechts« (ebd.: 396), und auch das Zusammenleben in der inzestuösen Horde bietet keinen Ansatzpunkt, diese Vereinzelung zu überwinden. »Da sie niemals etwas anderes gesehen hatten als das, was um sie herum war, kannten sie selbst das nicht; sie kannten sich selbst nicht.« (Ebd.) Die Kon-
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frontation mit dem Immergleichen verhindert, eine Vorstellung des Anderen zu entwickeln.6 Drittens, ein Bedürfnis kann durch den Geschlechtsakt unmittelbar und restlos befriedigt werden: »[I]st das Bedürfnis befriedigt, so ist das ganze Begehren erloschen.« (DI III 158) Im Naturzustand entsprechen die Bedürfnisse des Menschen seinen Fähigkeiten, sie zu befriedigen; es herrscht ein Gleichgewicht zwischen Kräften und Wünschen (vgl. Emile IV 304). Daher ist der natürliche Mensch mit sich selbst im Reinen: Er ist noch kein Mangelwesen, er ist sich selbst genug. Seine beschränkten Kenntnisse und sein begrenzter Horizont sorgen dafür, dass er keine unerfüllbaren Bedürfnisse hat. »Seine Einbildungskraft malt ihm nichts aus [...]« (DI III 144). Im Naturzustand tut sich demnach noch keine Lücke auf zwischen dem, was der Mensch will, und dem, was er bekommen kann: Diese Lücke wird erst mit dem Erwachen der Einbildungskraft entstehen (vgl. Bürgin 2008: 98). In seiner Beschränkung auf rein physische Bedürfnisse gleicht der homme naturel dem – nach seinem Vorbild erzogenen – Kind im Emile. Auch der kleine Emile kennt nur Bedürfnisse. Aufgrund seiner physischen Schwäche kann er sie nicht alle selbst befriedigen, er ist auf Hilfe angewiesen. Rousseaus Plan einer »Erziehung durch die Dinge« (Emile IV 247) ist aber gerade darauf angelegt, um jeden Preis zu verhindern, dass sich das Kind seiner Abhängigkeit bewusst wird. Deshalb soll es keine Bedürfnisse entwickeln, die der »Phantasie« oder »unbegründeter Begierde« (ebd.: 290) entspringen und sich nur durch andere Menschen erfüllen lassen. So soll für das Kind die Gefahr gebannt werden, sich vorzeitig in Abhängigkeitsverhältnisse zu verstricken und eine Vorstellung von Herrschaft und Knechtschaft zu entwickeln.7 Nun bleibt es aber nicht bei dem rein bedürfnisstrukturierten, ungesellschaftlichen Menschen, weder in Emiles Erziehung noch in der Entwicklung der Menschheit. In beiden Versionen der Geschichte verlässt der Mensch seinen natürlichen Zustand und wird zum gesellschaftlichen Wesen. Bezeichnenderweise findet sich in allen Beschreibungen dieses Übergangs derselbe unerwartete Kristallisationspunkt: das geschlechtliche Begehren. Der Zweite Diskurs lässt die Vergesellschaftung des Menschen mit einer »ersten Revolution« (DI III 167) beginnen: Der Mensch wird sesshaft; Familie, Sprache und ein erster Gesellschaftsverbund (Nation, ebd.: 169) entstehen. Auf dieser Stufe der Entwicklung tauchen nun alle Elemente der Geschlechterordnung erstmals auf. Die Familie
6
Auf die Inzestfamilie aus dem Essai werde ich im Kontext der Familie (vgl. I 4) noch einmal ausführlicher zurückkommen.
7
Zu Emiles Erziehung durch die Dinge ausführlicher in I 3 und in II 3.2.
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nimmt Gestalt an und vereinigt Mann und Frau sowie Eltern und Kinder in einer intimen Gemeinschaft. Die Differenz zwischen den Geschlechtern bildet sich aus (vgl. ebd.: 168). Und auch die Liebesleidenschaft entsteht nun, erstmals tritt das Begehren an die Stelle des Bedürfnisses (vgl. ebd.). Im Essai erscheint der Übergang vom ungeselligen Stadium der Menschheit zur ersten Gesellschaft chronologisch uneindeutiger. Doch auch hier stellt Rousseau an den Anfang der Sprachentwicklung und der Geschichte die Begegnung zwischen den Geschlechtern: »Solcherart musste der Ursprung der Gesellschaften und der Sprachen in den heißen Ländern gewesen sein. Dort formten sich die ersten Bande der Familien; dort fanden die ersten Begegnungen der beiden Geschlechter statt.« (EOL V 405) Schließlich findet sich auch im Emile ein vergleichbarer Übergang an der Schwelle von der Kindheit zum Erwachsenenalter. Rousseau spricht von der »zweiten Geburt« (Emile IV 490), die den Menschen vom selbstbezogenen Einzelwesen zum gesellschaftlichen Wesen macht. Diese zweite Geburt fällt ineins mit der ersten Regung des Geschlechtstriebes: »Sobald der Mensch eine Gefährtin braucht, ist er kein isoliertes Wesen mehr; sein Herz ist nicht mehr allein. Alle seine Beziehungen zu seiner Gattung, alle Zärtlichkeiten seiner Seele werden mit jener geboren. Seine erste Leidenschaft bringt bald die anderen zum Gären.« (Ebd.: 493)
Als Auslöser des Übergangs zum Gesellschaftszustand werden in den menschheitsgeschichtlichen Rekonstruktionen allein kontingente Umstände benannt: Naturkatastrophen, die veränderte Umweltbedingungen und neue Anforderungen mit sich bringen. Auch wenn das Verlassen des Naturzustands solchen Zufällen zuzuschreiben ist – dass der Mensch überhaupt dazu fähig ist, die eigene Natur zu überschreiten, verdankt er einer Eigenschaft, die er – paradoxerweise – von Natur aus in sich trägt: der Perfektibilität. Als differentia specifica, die den Menschen vom Tier unterscheidet, ist die Perfektibilität eigentlich das Kennzeichen eines Mangels: Der Mensch hat keinen ihm eigenen Instinkt (vgl. DI III 135). Er hat aber eine unbegrenzte »Fähigkeit, sich zu vervollkommnen« (ebd.: 142): die Fähigkeit, Eigenschaften zu erwerben, die über seine Natur hinausgehen. Die Perfektibilität macht den Menschen gleichsam zum von Natur aus kulturellen Wesen: »Die Natur des Menschen besteht darin, keine zu haben.« (Lacoue-Labarthe 2004: 36)8 Die zweite Geburt des Kindes verdankt sich hingegen keinem Zufall, sondern einer natürlich angelegten Entwicklung: dem altersgemäßen Eintritt in die Puber-
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Ausführlicher zur Perfektibilität in III 2.1.
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tät. Entwicklungspsychologische Notwendigkeit und menschheitsgeschichtliches Missgeschick haben dennoch ähnliche Voraussetzungen. Auch das Individuum verfügt über die Perfektibilität (vgl. DI III 142), über »virtuelle Fähigkeiten« (Emile IV 304), die gleichsam in der Seele schlummernd nach Bedarf zur Wirkung kommen. Als »die aktivste von allen« (ebd.) bezeichnet Rousseau die Einbildungskraft. Die Einbildungskraft spielt für die Entfaltung des Geschlechtstriebes die entscheidende Rolle – in der Entwicklung des pubertierenden Emile, aber auch für die neu erwachte Liebesleidenschaft im Diskurs (vgl. DI III 158). Mit dem Erwachen der Einbildungskraft öffnet sich die Lücke zwischen den Wünschen und den Fähigkeiten des Menschen: Aus dem physischen Bedürfnis, das dem einfachen Antrieb der Natur folgt, wird das durch Vorstellungen vermittelte Begehren (vgl. ebd.: 143).9 Erst mit der Vergesellschaftung des Menschen entsteht das, was Rousseau als »das Moralische […] im Gefühl der Liebe« (ebd.: 157) bezeichnet. Anders als das Verlangen, das im Naturzustand zur Vereinigung der Geschlechter treibt, ist die moralische Liebe gerade kein bloßes Bedürfnis. Vielmehr ist sie ein durch die Einbildungskraft vermitteltes Begehren. Die Liebesleidenschaft entspringt nicht dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb, dem amour de soi; sie kann nur in der Gesellschaft entstehen, sie ist eine künstliche Leidenschaft wie der amour propre: »ein künstliches Gefühl; aus der Gewohnheit der Gesellschaft entstanden« (ebd.: 158). Die moralische Liebe überschreitet die Grenzen des physischen Bedürfnisses in jeder Hinsicht; sie trägt alle Kennzeichen des Begehrens. Mit ihr kommt erstens das Gefühl der Präferenz ins Spiel. Das Verlangen richtet sich nun nicht mehr wahllos nach der erstbesten Gelegenheit, sondern legt sich auf ein bestimmtes Liebesobjekt fest. »Das Moralische ist das, was dieses Begehren bestimmt und es ausschließlich auf einen einzigen Gegenstand fixiert, oder was ihm zumindest für diesen bevorzugten Gegenstand einen höheren Grad an Energie verleiht.« (Ebd.: 157f.) Diese Art der Bevorzugung kann erst der vergesellschaftete Mensch entwickeln, denn sie setzt die Fähigkeit zu vergleichen und zu urteilen voraus, die der Mensch im Naturzustand nicht besitzt: »Da dieses Gefühl sich auf bestimmte Begriffe des Verdienstes oder der Schönheit gründet, die ein Wilder gar nicht haben kann, und auf Vergleiche, die er gar nicht anstellen kann, muss es für ihn nahezu null sein.« (Ebd.: 158; vgl. Emile IV 493f.)
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Vgl. Derrida 1967: 263; Garbe 1992: 43; Bürgin 2008: 98. Rousseau unterscheidet zwar in seiner Wortwahl nicht konsequent zwischen Bedürfnis (besoin) und Begehren (désir), strukturell ist diese Unterscheidung jedoch deutlich zu erkennen.
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Mit dem Begehren endet zweitens die reine Selbstbezüglichkeit des Menschen. Das Bedürfnis verlangt nach der Befriedigung des eigenen sexuellen Triebes; der andere spielt hier eine rein funktionale Rolle. Das Begehren jedoch richtet sich tatsächlich auf den Anderen: Der Liebende möchte vom Objekt seiner Begierde zurückgeliebt werden. Damit erzeugt das Begehren jene personalisierten Beziehungen, die das Bedürfnis nicht zu stiften vermag. Als liebendes Wesen verwandelt sich der Mensch in ein soziales Wesen. Gleichzeitig wird er damit zum abhängigen Wesen (vgl. Meier 2008a: LXVII). Während Männchen und Weibchen im Naturzustand nach vollzogenem Geschlechtsakt mit Leichtigkeit auseinandergehen, büßen die Liebenden ihre Freiheit für immer ein – sie sind sich selbst nicht mehr genug. Drittens lässt sich das Begehren nie abschließend befriedigen.10 Die Liebe ist ein Kind der Einbildungskraft, und wie diese geht sie immer über die Grenzen des Wirklichen hinaus: »Es ist die Einbildungskraft, die für uns das Maß des Möglichen erweitert, sei es zum Guten, sei es zum Schlechten, und die folglich die Begierden durch die Hoffnung, sie zu befriedigen, erregt und nährt.« (Emile IV 304) »Die wirkliche Welt hat ihre Grenzen, die Welt der Vorstellungen ist unendlich [...]« (ebd.: 305).
Leidenschaftliche Liebe entsteht nur, wo das Objekt der Begierde schwierig zu erreichen ist. Der homme naturel, der zur Paarung bereite Weibchen unter denselben Bäumen finden kann wie seine Nahrung oder sein Nachtlager, liebt ebensowenig wie der inzestuöse Wilde aus dem Essai, der zur Befriedigung seines Triebes jederzeit auf seine Schwestern zurückgreifen kann. Im Gegensatz dazu richtet sich das Begehren stets auf ein entferntes Objekt, das nicht unmittelbar zur Verfügung steht.11 Gerade durch diese Unerfüllbarkeit erhält die Liebe einen gesteigerten Intensitätsgrad, der sie zu einer riskanten und potentiell zerstörerischen Leidenschaft macht: »Unter den Leidenschaften, die das Herz des Menschen bewegen, gibt es eine glühende, ungestüme, die ein Geschlecht dem anderen notwendig macht, eine schreckliche Leidenschaft, die allen Gefahren trotzt, die alle Hindernisse niederreißt, und die in ihrer Raserei
10 Vgl. dazu mit Bezug auf Lacan Bürgin 2008: 86. 11 Vgl. Vargas 2012: 152. Deshalb entsteht das Begehren nur unter der Voraussetzung der Exogamie (vgl. I 4) sowie der künstlichen Verknappung des Liebesobjekts Frau durch die weibliche Scham (vgl. I 2).
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geeignet erscheint, das Menschengeschlecht zu zerstören, das sie zu erhalten bestimmt ist.« (DI III 157)
Hier wird bereits deutlich, mit welchem Unbehagen Rousseau die moralische Liebe betrachtet. Sie markiert den Übergang in die Gesellschaft, und wie diese erweist sie sich als höchst ambivalent. Im Diskurs und im Essai werden die Begegnung zwischen den Geschlechtern und das Erwachen der Liebesleidenschaft im poetischen Bild des Festes geschildert. Die bekannte Ursprungsszene der Vergesellschaftung im Essai zeigt tanzende und singende junge Männer und Frauen am Brunnen: »Unter alten Eichen, den Siegern über die Jahre, vergaß eine hitzige Jugend schrittweise ihre Wildheit, man gewöhnte sich nach und nach aneinander; indem man sich bemühte, gehört zu werden, lernte man, sich zu erklären. Dort fanden die ersten Feste statt, die Füße sprangen vor Freude, die eifrige Gebärde genügte nicht mehr, die Stimme begleitete sie mit leidenschaftlichem Akzent, das Vergnügen und das Begehren verschmolzen miteinander und wurden zugleich empfunden. Dort stand schließlich die wahre Wiege der Völker, und dem reinen Kristall der Brunnen entsprangen die ersten Feuer der Liebe.« (EOL V 406)
Die idyllische Schilderung des dörflichen Festes, in dem die Liebe erwacht, findet sich auch im Diskurs wieder. Allerdings ist die Idylle hier bereits brüchig: »Man gewöhnte sich daran, sich vor den Hütten oder rund um einen großen Baum zu versammeln: Der Gesang und der Tanz, wahre Kinder der Liebe und der Muße, wurden das Vergnügen oder vielmehr die Beschäftigung der müßigen und zusammengekommenen Männer und Frauen. Jeder begann, die anderen zu beachten und selbst beachtet werden zu wollen, [...] und das war der erste Schritt hin zur Ungleichheit und gleichzeitig zum Laster [...]« (DI III 169f.).
Noch im selben Atemzug mit der Beschreibung von Liebe, Gesang und Tanz beschwört Rousseau die negativen Folgen der ersten gesellschaftlichen Gefühle herauf. Mit dem Wunsch nach Liebe entfaltet sich unweigerlich die verderbliche Dynamik des amour propre. Der Mensch, der bevorzugt, möchte selbst bevorzugt werden und beginnt sich mit anderen zu vergleichen. Mit der Liebe entsteht die Logik des sozialen Vergleichs, das Bedürfnis nach Anerkennung und öffentlicher Wertschätzung (vgl. ebd.; Emile IV 494). Daraus folgt für Rousseau die selbstentfremdete Existenz unter dem Diktat der öffentlichen Meinung – das Leben im Blick der Anderen:
48 | E RSEHNTE EINHEIT , UNHEILBARE S PALTUNG – G ESCHLECHTERORDNUNG »Mit der Liebe und der Freundschaft werden die Streitigkeiten, die Feindschaft, der Hass geboren. Aus dem Schoße so vieler verschiedener Leidenschaften sehe ich die Meinung sich einen unerschütterlichen Thron errichten, und die dummen Sterblichen, die ihrer Herrschaft unterworfen sind, ihre eigene Existenz nur auf die Urteile anderer gründen.« (Emile IV 494)
Rousseaus Bewertung des geschlechtlichen Begehrens am Ursprung der Gesellschaft fällt zwiespältig aus. Das Fest markiert den ersten Schritt in der Chronologie der Menschheitsgeschichte. Von nun an geht es bergab. Rousseau will hier allerdings noch keinen Automatismus erkennen. Erst der zweite Schritt stellt die Weichen endgültig in Richtung Abgrund. Der entscheidende Sündenfall ist die Einführung von Arbeitsteilung und Eigentum, die mit den zweifelhaften Segnungen von Ackerbau und Metallurgie einhergeht. Erst hier beginnt für Rousseau die Pathologie der Vergesellschaftung im eigentlichen Sinne. Im Vergleich dazu erscheint das dörfliche Leben mit seinen Festen als »glücklichste und dauerhafteste Epoche« (DI III 171), als »wahrhafte Jugend der Welt« (ebd.). Rousseau scheint hier bereits vergessen zu haben, dass er die Menschen dieser Epoche noch kurz zuvor als »blutrünstig und grausam« (ebd.: 170) beschrieben hat. Nur ein »verhängnisvoller Zufall« (ebd.: 171) konnte den Menschen aus diesem angeblich so glücklichen Zustand herausreißen und in den Abwärtsstrudel der bürgerlichen Gesellschaft führen. Diese Behauptung steht nun freilich in blankem Widerspruch zu der vorherigen Schilderung des dörflichen Festes, wo es noch lange vor dem Eigentum die leidenschaftliche Liebe ist, die die Dynamik des sozialen Vergleichs in Gang setzt. Das geschlechtliche Begehren erscheint also im Kontext einer ambivalent beurteilten société naissante, einer gerade im Entstehen begriffenen Gesellschaftlichkeit, die schon nicht mehr Natur ist, aber noch nicht bürgerliche Gesellschaft (vgl. Derrida 1967: 358f.). Dieser Punkt liegt in der Abfolge vor dem erklärten Ausgangspunkt der menschlichen Verfallsgeschichte und enthält dennoch bereits alle Merkmale, die den Verfall unaufhaltsam machen werden.12 Die Vergesellschaftung des Menschen erweist sich als höchst zwiespältig: Einerseits beschreibt Rousseau sie als Sündenfall an sich, der unweigerlich in den Abwärtsstrudel der menschlichen Geschichte führt. Andererseits gibt es so etwas
12 Eine ähnliche Struktur lässt sich, wenn auch weniger eindeutig, am Essai festmachen: Auch hier liegt das Fest als Ausgangspunkt der Vergesellschaftung noch vor dem Übergang zum Ackerbau, der auch hier die bürgerliche Gesellschaft markiert. Darüber hinaus wird die Chronologie jedoch durch die Unterscheidung zwischen den Sprachen des Südens und des Nordens veruneindeutigt.
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wie eine Gesellschaft vor der Gesellschaft – ein Stadium der Unschuld, das noch vor dem Beginn der pathologischen Entwicklung liegt. Das geschlechtliche Begehren ist genau in diesem Stadium verortet: Es beendet die Selbstgenügsamkeit des natürlichen Menschen und setzt die soziale Dynamik des Vergleichs in Gang. Zugleich liegt es noch diesseits von Eigentum, Ungleichheit und bürgerlicher Gesellschaft – ist also gleichsam noch zu retten. Diese ambivalente geschichtsphilosophische Bewertung von Gesellschaft und Begehren – einerseits Pathologie an sich, andererseits geschichtlich und damit kontingent verdorben (vgl. Derrida 1967: 253f.) – strukturiert auch Rousseaus Versuche, der Pathologie beizukommen. Eine Rückkehr in den Naturzustand ist unmöglich. Es gibt aber zwischen dem Naturzustand und dem endgültigen Verhängnis einen Zustand, in dem die Abwärtsbewegung noch nicht wirklich begonnen hat, der bewahrt werden müsste. Weil jede Art der Vergesellschaftung aber den Keim des Verfalls bereits in sich trägt, ist dieses Bewahren nur im Sinne eines Aufschubs, einer Verzögerung zu bewerkstelligen.13 In Rousseaus Werk finden sich zwei alternative Versuche, der Verfallsgeschichte der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen: das Programm einer ›natürlichen‹ Erziehung zum Menschen im Emile und die Republik der freien Bürger im Gesellschaftsvertrag. Beide Ideale sind einander »notwendig entgegengesetzt« (Emile IV 250), die Erziehung zum Menschen und die Erziehung zum Bürger schließen sich wechselseitig aus. Während in der Erziehung des Emile eine sorgfältig kultivierte Natürlichkeit des Individuums das Ideal vorgibt, geht es in der Republik um den radikalen Bruch mit der Natur, um mit der Republik eine neue Einheit auf kollektiver Ebene zu schaffen. Beide Ideale können jedoch als Versuche gedeutet werden, den unausweichlichen Verfall, der durch die Vergesellschaftung ausgelöst wird, aufzuhalten und in eine positive Gesellschaftlichkeit zu transformieren, die gewissermaßen die erste Unschuld der Anfänge bewahrt.14 Zu diesem Zweck muss die verhängnisvolle Dynamik des Begehrens suspendiert werden. Das Begehren kann nicht ausgeschaltet werden, es ist das unvermeidbare Signum des Gesellschaftlichen. Aber es kann kanalisiert und reguliert werden, so dass seine störenden Potentiale eingehegt werden. Der Emile widmet sich dieser Aufgabe denn auch ausführlich. Die gesamte zweite Hälfte des Erziehungsprogramms, die nach der zweiten Geburt des Kindes einsetzt und
13 Der Begriff des Aufschiebens – différer – spielt bei Derrida eine zentrale Rolle. Vgl. etwa Derrida 1967: 254; hier mit Verweis auf die Scham als Strategie des Aufschubs. Zur Scham ausführlich im nächsten Kapitel. 14 Vgl. Shklar 1969: 5; Derathé 1962: 217; Herb 1999: 193ff.; Herb/Taureck 2012. Vgl. hierzu das Anfangskapitel von Teil II.
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den Menschen zum sozialen Wesen machen soll, steht unter dem Vorzeichen der Sexualerziehung. Ziel und Leitbild ist es dabei, Emile und Sophie zur Entfaltung einer ›natürlichen‹ Geschlechtlichkeit anzuleiten: Emile soll zum echten Mann, Sophie zur wahren Frau werden, und gemeinsam sollen sie eine vorbildliche Ehe und Familie führen – alles im Sinne einer ›natürlichen‹ Geschlechterordnung. Damit sind wir an unserem paradoxen Ausgangspunkt angekommen: Nimmt man Rousseaus Geschichtsphilosophie ernst, kann es keine natürliche Geschlechterordnung geben. Der Begriff ist eine contradictio in adiecto, denn wie wir gesehen haben, gibt es im Naturzustand kein geschlechtliches Begehren, damit auch keine Männlichkeit und Weiblichkeit und keine Familie. Die Geschlechterordnung ist eine durch und durch gesellschaftliche Ordnung, die Rousseau jedoch benutzt, um sie dem Übel entgegenzusetzen, das durch die Vergesellschaftung entstanden ist. Dem Verlust der ursprünglichen Natur soll durch »vollendete Kunst« (CSMG III 288) begegnet werden – Gift und Heilmittel sind identisch. Das mag paradox erscheinen. Diese Struktur kennzeichnet jedoch, wie wir noch oft sehen werden, alle Versuche Rousseaus, den negativen Auswirkungen der Vergesellschaftung des Menschen beizukommen.15 In diesem Sinne lässt sich der Widerspruch der natürlichen Geschlechterordnung verstehen: ›Natur‹ bezeichnet ein Ideal, das durch die Vergesellschaftung unwiederbringlich verloren gegangen ist und nie wieder eingeholt werden kann. Die Kultur ist das Ergebnis des nicht rückgängig zu machenden Sündenfalls der menschlichen Geschichte. Als Versuch, das Gleichgewicht des Naturzustands auf gesellschaftlicher Ebene durch die Mittel der vollendeten Kunst wiederherzustellen, ist die Geschlechterordnung beides zugleich: gesellschaftlich und natur-äquivalent.16 Vor diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, warum Rousseaus Geschlechterordnung stets so fragil erscheint, obwohl sie sich vermeintlich auf die feste Grundlage der Natur stützen kann. Sie ist eben nur ein Äquivalent der natürlichen Ordnung und bleibt – Kunst. Um Emile zum natürlichen Mann und Sophie zur natürlichen Frau zu erziehen, muss ein hohes Maß an Geschick und Kunstfertigkeit aufgewandt werden. Auch in der Republik müssen echte Männlichkeit und wahre Weiblichkeit korrekt in Szene gesetzt und durch entsprechende Sitten aufrecht erhalten werden – sonst droht, wie wir noch sehen werden, die Perversion der Geschlechterordnung. Obwohl Rousseau im Zusammenhang mit der
15 Vgl. Derrida 1967: 254f.; vgl. auch Fermon 1994: 28; Kuster 2014. Fermon und Kuster vergleichen dieses Prinzip mit der Homöopathie – das Bild ist insofern nicht ganz stimmig, als bei Rousseau nicht kleine Dosen des Gifts zur Heilung führen sollen, sondern eine Überdosis. 16 Vgl. hierzu auch Benhabib/Nicholson 1987: 537.
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Ordnung der Geschlechter so viel von Natur spricht, erscheinen Männlichkeit und Weiblichkeit stets als etwas Gemachtes, das nur allzu leicht missraten kann.17
17 Dass Geschlechtlichkeit bei Rousseau eine starke performative Komponente aufweist, werde ich vor allem in II 2.3 und III 2.2 ausführen. In der Literatur ist auf diesen Umstand vielfach hingewiesen worden, vgl. etwa Zerilli 1994: 18; Snyder 1999: 55-59; Marso 1999: 34f.; Wingrove 2000: 8-11; Rebentisch 2012: 292f.
2. Begehren
»Nun ist leicht zu sehen, dass das Moralische der Liebe ein künstliches Gefühl ist; aus der Gewohnheit der Gesellschaft entstanden und von den Frauen mit viel Geschick und Sorgfalt gepriesen, um ihre Herrschaft zu errichten und das Geschlecht dominant zu machen, das gehorchen sollte.« (DI III 158)
Dass die Liebe nur in der Gesellschaft entstehen kann, dass sie geradezu das Signum des Gesellschaftlichen ist, haben wir gesehen. Unvorbereitet kommt jedoch die zweite Hälfte des Satzes, die im Zweiten Diskurs auch keine weitere Erklärung findet. Die Frauen erscheinen hier als die treibende Kraft hinter der Liebe, wenn nicht als Verursacherinnen, so doch als aktive Betreiberinnen des Begehrens. Bemerkenswert erscheint auch die eigentümliche Dialektik der Herrschaft in der Beziehung zwischen Mann und Frau – die Liebe macht die Beherrschten zu Herrscherinnen. Im Folgenden gilt es, die Struktur und Dynamik des Liebesbegehrens zu entschlüsseln. Dabei wird insbesondere die Frage im Fokus stehen, welche Rolle die Frau dabei zu spielen hat. Im Fünften Buch des Emile setzt Rousseau die Dynamik des Begehrens an den Anfang, als erstes Prinzip, aus dem sich die Unterschiede der Geschlechter entwickeln lassen. Das Grundprinzip beruht auf einer zunächst scheinbar eindeutigen Verteilung der Pole Aktivität und Passivität: »Bei der Vereinigung der Geschlechter trägt jedes gleichermaßen zum gemeinsamen Ziel bei, aber nicht in der gleichen Weise. [...] Das eine muss aktiv und stark sein, das andere passiv und schwach; notwendigerweise muss das eine wollen und können; es genügt, wenn das andere ein wenig Widerstand leistet.« (Emile IV 693)
Bei näherer Betrachtung irritiert der erläuternde Nachsatz, der die scheinbar eindeutige Aussage mehrdeutig macht (vgl. Garbe 1992: 80): Die Passivität und die Schwäche der Frau manifestieren sich ausgerechnet in ihrem Widerstand, also in
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einer unerwartet aktiven Verhaltensweise. Im Folgenden wird deutlich, dass es gerade der Widerstand der Frau ist, der das Spiel des Begehrens in Gang setzt: »Die ihr eigene Gewalt liegt in ihren Reizen; durch diese muss sie [den Mann] dazu zwingen, seine Kraft zu entdecken und zu gebrauchen. Die sicherste Kunst, diese Kraft zu erwecken, besteht darin, sie durch Widerstand notwendig werden zu lassen.« (Emile IV 694) Tatsächlich fällt der Frau also der aktive Part zu: In einem Modus »aktiver Passion« bzw. »passiver Aktion« (Garbe 1992: 82) zwingt sie den Mann dazu, als Mann zu handeln, und ruft seine männliche Aktivität und Stärke hervor. Dieses Verhaltensmuster kennzeichnet Rousseau mit dem Begriff der Scham, der zum zentralen Angelpunkt seiner Erörterungen zum Thema Weiblichkeit wird (vgl. auch LdA V 75-82). Die Scham liegt der eigentümlichen Dialektik der Herrschaft zugrunde, die das Liebesverhältnis strukturiert; sie verleiht dem schwachen Geschlecht Autorität über das starke: »Daraus werden der Angriff und die Verteidigung geboren, der Wagemut des einen Geschlechts und die Schüchternheit des anderen, schließlich die Sittsamkeit und die Scham, mit denen die Natur das schwache Geschlecht gerüstet hat, um das starke zu unterwerfen.« (Emile IV 694) Die Funktion der Scham ergibt sich zunächst aus einer ungleichen Verteilung des Begehrens (vgl. Kuster 2005: 179f.). Rousseau spricht der Frau, im Gegensatz zum Mann, »unbegrentze Begierden« (Emile IV 694) zu.1 Das Begehren des Mannes ist begrenzt und muss erst durch die weiblichen Verführungskünste geweckt werden. Das Begehren der Frau ist hingegen von vornherein gegeben – Weiblichkeit und Begehren scheinen sich geradezu wechselseitig zu definieren. In diesem Kontext fallen der weiblichen Scham zwei Funktionen zu: Zum einen begrenzt sie das potentiell unerschöpfliche weibliche Begehren, indem sie der Frau Zurückhaltung und Mäßigung auferlegt. Zum anderen ist sie das Mittel der Wahl, um männliches Begehren hervorzurufen und zu steigern. Diese zweifache Funktion spiegelt sich in dem zweifachen Krisenszenario wider, das Rousseau bei einem Mangel an weiblicher Scham prophezeit (vgl. Kuster 2005: 80f.). In der ersten Version führt die unbegrenzte weibliche Begierde zu einer heillosen Überforderung der Männer: »[V]on [den Frauen] tyrannisiert, würden sie schließlich zu deren Opfern und sähen sich allesamt dem Tod entgegengetrieben, ohne sich jemals dagegen verteidigen zu können.« (Emile IV 694) In der zweiten Version hat die Schamlosigkeit der Frauen einen allgemeinen Mangel an Lei-
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Diese Zuordnung sollte nicht als biologisch-physiologische Beobachtung missverstanden werden (so etwa bei Schwartz 1984: 16-22; vgl. auch Makus 2002), sie dient Rousseau vielmehr als Ausgangspunkt für die Konstruktion der Begehrensdynamik, die mit biologischen Gegebenheiten nichts zu tun hat; vgl. Wingrove 2000: 67f.
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denschaft zur Folge: »[E]s gäbe gar keine vergebliche Zudringlichkeit; Feuer, die in ermüdender Freiheit ständig vor sich hin schwelen, würden sich niemals entzünden [...]« (LdA V 77). In welcher Weise ist gerade die Scham imstande, das Begehren des Mannes zu wecken? Die Verführungskunst der schamhaften Frau erfolgt in zwei Stufen (vgl. Garbe 1992: 81f.): Zunächst wird das erotische Interesse des Mannes geweckt. Dazu muss die Frau gefallen: »Die ihr eigene Gewalt liegt in ihren Reizen [...]« (Emile IV 694). Die weiblichen Reize wirken jedoch nicht, wenn sie in ›schamloser‹ Offenheit präsentiert werden. Die Freizügigkeit der Pariserinnen etwa ist kaum geeignet, männliche Begierde zu erwecken (vgl. Julie II 266). Die schamhafte Frau versteht es jedoch, mit der Einbildungskraft des Mannes zu spielen. Gerade in der Andeutung, dem nicht-gegebenen Versprechen, liegt der Reiz, der das Begehren anstachelt. Nachdem die Leidenschaft des Mannes entfacht ist, folgt die zweite Stufe der Verführung: Die schamhafte Frau setzt der Erfüllung seines Verlangens Widerstand entgegen und feuert es so weiter an. »Sie hält ihn hin, weist ihn ab, türmt tausend kleine Hindernisse zwischen den entflammten Liebhaber und das Ziel seines Begehrens.« (Garbe 1992: 82) Die Intensität des Verlangens steigt ins Unermessliche, indem seine Befriedigung hinausgezögert wird (vgl. LdA V 77). Das Verhaltensmuster der Scham ist also wesentlich, um das Verhältnis zwischen Mann und Frau tatsächlich im Modus des Begehrens zu strukturieren: Die schamhafte Zurückhaltung der Frau stimuliert die Einbildungskraft des Mannes, ihre Verführungskunst fixiert sein Verlangen auf einen bestimmten Gegenstand, ihr Widerstand verhindert die unmittelbare Befriedigung.2 Die weibliche Scham liegt also dem männlichen Begehren zugrunde – sie initiiert und intensiviert es. Unbeantwortet bleibt jedoch die Frage, woraus sich das weibliche Begehren speist. Woher kommt das unbegrenzte Liebesverlangen der Frau, das durch die Scham begrenzt werden muss? Aufschlussreich ist Rousseaus Vergleich der Frau mit dem Tierweibchen (vgl. Emile IV 694f.). Beim Tierweibchen sorgt ein »negativer Instinkt« (ebd.: 695) für die Begrenzung des sexuellen Triebes. Dieser Instinkt fehlt der Frau und muss daher durch die Scham ersetzt werden. Das Sexualverhalten der Tiere ist im Vergleich zu dem der Menschen instinktgesteuert; vor allen Dingen aber ist es bedürfnis- und nicht begehrensstrukturiert. Dass das sexuelle Verlangen des Tierweibchens begrenzt ist, resultiert aus der einfachen Erfüllbarkeit des Bedürfnisses: »[I]st das Bedürf-
2
Vgl. dazu Vargas 2012: 156. Vargas zufolge dient die weibliche Scham dazu, die Frau zu einem abwesenden Objekt der Begierde zu machen, das allein durch ihre Abwesenheit die männliche Einbildungskraft stimuliert.
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nis befriedigt, findet das Begehren ein Ende, sie stoßen das Männchen nicht mehr zum Schein, sondern im Ernst zurück [...]« (ebd.: 694). Die Parallele zum homme naturel aus dem Zweiten Diskurs ist offensichtlich: Auch er kennt sexuelles Verlangen nur als Bedürfnis. Eine Begrenzung oder Regulierung dieses Verlangens ist nicht notwendig, da der Geschlechtsakt zur unmittelbaren Befriedigung des Triebes führt. Im ursprünglichen Naturzustand gilt das für Männchen wie für Weibchen – das Menschenweibchen verhält sich hier auf die gleiche Weise wie das Tierweibchen. Weder das unbegrenzte Begehren noch die begrenzende Scham können aus der Natur hergeleitet werden. Die weibliche Scham entpuppt sich als eine von der Frau erbrachte erste Kulturleistung (vgl. Heinz 2003: 134; Vinken 1995: 185): als Beschränkung und Aufschub des eigenen geschlechtlichen Verlangens, um beim Mann Begehren zu wecken. Als solche ist sie aber auch schon die Antwort auf eine gleichfalls nicht natürliche Anlage: das Begehren der Frau. Indem Rousseau Begehren und Scham zu den Grundcharakteristika der Frau erklärt, entkoppelt er das Konzept Weiblichkeit von der Natur und stellt es vollständig auf die Seite des Gesellschaftlichen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich die eigentümliche Abwesenheit des Geschlechtlichen im Naturzustand vor allem als eine Abwesenheit des Weiblichen manifestiert: Es gibt keine femme naturelle, da Weiblichkeit an sich schon den Ausgang aus dem Naturzustand kennzeichnet. Was Rousseau etwa im Emile oder im Brief an d’Alembert wiederholt als Natur der Frau bezeichnet, entpuppt sich als natur-äquivalente vollendete Kunst.3 Deutlich ist nun geworden, warum die Liebe gleichsam mit den Frauen in die Welt kommt. Bleibt die Frage nach der Herrschaft, die den Frauen durch die Liebe zuteil wird, und der Rolle, die sie für Rousseaus Geschlechterordnung spielt. »Es gibt noch eine dritte Konsequenz der Verfasstheit der Geschlechter; nämlich, dass das stärkere scheinbar der Herr ist und tatsächlich vom schwächeren abhängt; [...] nach einem unabänderlichen Gesetz der Natur, das es der Frau leichter macht, die Begierden zu erwecken, als dem Mann, sie zu befriedigen, und ihn so, obwohl er möchte, vom Wohlwollen der Frau abhängig macht und ihn zwingt, seinerseits zu versuchen, ihr zu gefallen, um zu erreichen, dass sie ihn bereitwillig den Stärkeren sein lässt.« (Emile IV 695f.)
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Vgl. Vargas 2012: 158f. Dagegen wird in manchen feministischen Interpretationen die Ansicht geäußert, die Frau sei bei Rousseau näher an der Natur als der Mann, vgl. etwa Lange 1981; Steinbrügge 1987: 77-84. Mehr zum gesellschaftlichen Charakter der Weiblichkeit in I 3.
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Die Frau ist im Verhältnis beider Geschlechter nur scheinbar die Schwächere. Tatsächlich ist sie diejenige, die durch ihr schamhaftes Verhalten die Liebesleidenschaft erwecken und steuern kann. In ihrer Hand liegt es, das Verlangen zu entfachen; in ihrer Hand liegt es auch, die Befriedigung des Verlangens zu gewähren oder zu versagen. So gewinnt die Frau die Souveränität über die Leidenschaften des Mannes – durch sein Begehren ist er von ihr abhängig. Voraussetzung ist auch hierfür die Scham: Nur eine schamhaft agierende Frau kann den Mann auf diese Art an ihre Herrschaft binden. Rousseau spricht von der »List« der Frau (ebd.: 696, 711): Die Scham erscheint als durchaus taktisch eingesetzte Fähigkeit, als kokette Verführungskunst, mit der die Frau sich den Mann zu Willen macht. Die erotische Herrschaft der Frau über den Mann folgt notwendig aus der Dynamik des Begehrens – ihre Auswirkungen jedoch sind ambivalent. Rousseau sieht sie als Macht, die zum Guten wie zum Bösen eingesetzt werden kann: »Diese Herrschaft gehört den Frauen und kann ihnen nicht genommen werden, selbst wenn sie sie missbrauchen [...]« (ebd.: 697).4 Die Macht der Frauen muss richtig ausgeübt werden, dann wird sie zum Instrument, das die Ordnung der Geschlechter aufrechterhält und das potentiell schädliche Begehren in die Schranken weist. Wie segensreich der Kontakt mit dem Weiblichen unter genau bestimmten Bedingungen ausfallen kann, führt der Emile vor. Die Sexualerziehung des Zöglings muss beginnen, sobald in ihm die Einbildungskraft erwacht. Denn damit wird Emile empfänglich für die Schliche der Frauen. Sorgsame erzieherische Maßnahmen sind nun notwendig, um das Begehren in geregelte Bahnen zu lenken: »[D]ie Schläuche, die du mit so großer Sorgfalt verschlossen hast, sind geöffnet; die Stürme sind bereits entfesselt: Verlasse das Ruder auch nicht für einen Augenblick, oder alles ist verloren.« (Ebd.: 490) Der Erzieher bedient sich zunächst einer Verzögerungs- und Ablenkungstaktik: Emiles Vorstellungswelt soll so lange wie möglich vom anderen Geschlecht frei gehalten werden. »Sobald das kritische Alter naht, bietet den jungen Leuten Schauspiele, die sie zurückhalten, und keine Schauspiele, die sie erregen: Täuscht ihre entstehende Einbildungskraft durch Gegenstände, die die Aktivität ihrer Sinne zügeln statt sie zu entzünden.« (Ebd.: 517) Die Schule der Empfindsamkeit, die Rousseau für den Jugendlichen vorschlägt, um sein Mitleid auszubilden, dient auch dazu, das
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Vgl. auch: »Ich bin weit entfernt zu glauben, dass dieser Einfluss der Frauen an sich ein Übel sei. Es ist ein Geschenk, das die Natur ihnen für das Glück des Menschengeschlechts gemacht hat: Besser gesteuert könnte es ebenso viel Gutes hervorbringen, wie es heutzutage Schlechtes bewirkt.« (DSA III 21)
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Erwachen des geschlechtlichen Begehrens hinauszuzögern.5 Letztlich ist der »wahre Augenblick der Natur« (ebd.: 639) jedoch unausweichlich, die Begegnung mit der Frau wird sich nicht verhindern lassen. Im Angesicht der Gefahr trifft der Erzieher Vorsorge: Er schließt einen Vertrag mit Emile (vgl. Fetscher 1975: 90). Der Vertragsschluss zwischen Emile und Erzieher ist Höhe- und Zielpunkt eines sorgfältig inszenierten Aufklärungsgesprächs. Der Erzieher malt seinem Schützling die Freuden der tugendhaften Liebe und Ehe aus, sowie die »Schrecken der Ausschweifung« (ebd.: 650). Emile soll nun selbst erkennen, in welcher Gefahr er schwebt, und sich aus freiem Willen der Autorität des Erziehers anvertrauen. Die Worte des Schützlings nehmen ganz unverkennbar zentrale Motive aus dem Gesellschaftsvertrag auf;6 sie werden zur Vertragsformel eines freiwilligen Gehorsamsversprechens: »Oh mein Freund, mein Beschützer, mein Lehrer! Nehmt die Autorität wieder zurück, die Ihr in dem Augenblick aus der Hand geben wollt, in dem mir am wichtigsten ist, dass sie Euch bleibt; Ihr hattet sie bis jetzt nur durch meine Schwäche, Ihr werdet sie ab jetzt durch meinen Willen haben, und sie wird mir dadurch heiliger sein. Verteidigt mich gegen all die Feinde, die mich belagern, und vor allem gegen jene, die ich in mir trage und die Verrat an mir begehen [...]. Ich will Euren Gesetzen gehorchen, ich will das immer, das ist mein beständiger Wille; wenn ich Euch jemals nicht gehorchen sollte, wird es gegen meinen Willen sein; macht mich frei, indem Ihr mich vor meinen Leidenschaften beschützt, die mir Gewalt antun; hindert mich daran, ihr Sklave zu sein, und zwingt mich dazu, mein eigener Herr zu sein und keinesfalls meinen Sinnen zu gehorchen, sondern meiner Vernunft.« (Ebd.: 651f.)
Mit diesem Versprechen ermächtigt Emile den Erzieher, ihn zu seiner Freiheit zu zwingen (vgl. CS III 364). Emile soll die eigenen Leidenschaften beherrschen, um Herr seiner selbst zu werden. Bevor mit der Pubertät die Einbildungskraft erwacht, ist das richtig erzogene Kind wie der homme naturel: Es kennt keine Leidenschaften, die über die natürlichen Bedürfnisse hinausgehen. Mit der zweiten Geburt, dem Eintritt in den gesellschaftlichen Zustand, entsteht unweigerlich das Begehren. Der Mensch im Naturzustand ist frei, weil er kein Begehren kennt. Der bereits vergesellschaftete Mensch muss dagegen lernen, sein Begehren mittels der Tugend zu beherrschen, wenn er wirklich frei sein möchte. Um
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Ausführlicher hierzu in III 2.1. Parallelen zwischen diesem Vertrag und dem Gesellschaftsvertrag sowie zwischen Erzieher und Gesetzgeber werden in II 2.2 ausführlich thematisiert.
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der Gefahr des falsch geleiteten Begehrens zu entgehen, muss Emile also Tugend einüben, er muss lernen, sein Verlangen zu besiegen (vgl. Emile IV 818). Damit winkt ihm die Aussicht auf eine neue Form der Freiheit: »Bis jetzt warst du nur scheinbar frei; du hattest nur die unsichere Freiheit eines Sklaven, dem man nichts befohlen hat. Jetzt sei tatsächlich frei; lerne, dein eigener Herr zu werden; befehle deinem Herzen, oh Emile, und du wirst tugendhaft sein.« (Ebd.) Durch das Gehorsamsversprechen gebunden, kann Emile der Gefahr des Begehrens ausgesetzt werden. Die erste Begegnung mit dem Weiblichen findet in der Fantasie statt: Der Erzieher lenkt die Einbildungskraft seines Zöglings auf ein »imaginäres Objekt« (ebd.: 656). Beeindruckt von den geschilderten Vorzügen der imaginären Sophie wird Emile unempfänglich für die Reize der koketten Pariserinnen (vgl. ebd.: 691). Die Einzige, die Emiles Leidenschaft erwecken kann, ist Sophie selbst – dafür haben die umsichtigen Maßnahmen des Erziehers gesorgt. Die Liebe zu Sophie wird zum entscheidenden Prüfstein in Emiles Erziehung: Ist Emile tatsächlich frei und Herr seiner selbst, kann er seine Leidenschaft überwinden? Der Erzieher pocht auf die Einhaltung des Vertrages und zwingt Emile, seine Geliebte vorübergehend zu verlassen. Emile gehorcht widerwillig, aber er gehorcht – und bleibt dem selbst gegebenen Gehorsamsversprechen treu. Damit legt er, wie der Erzieher betont, die Grundlage für ein tugendhaftes Leben als Herr seiner Leidenschaften: »Das ist nun deine erste Leidenschaft. [...] Wenn du sie wie ein Mann zu beherrschen verstehst, wird sie die letzte sein; du wirst alle anderen unterjochen und nur derjenigen der Tugend gehorchen.« (Ebd.: 818; vgl. Scherl 2012a: 121) Emiles Erziehung endet mit seiner Hochzeit: Er wird zum Ehemann und Familienvater. Die Aufgabe des Erziehers erscheint erfüllt – sie ist es jedoch nicht: Emile ist nicht dauerhaft Herr seiner Leidenschaften geworden; er braucht weiterhin Unterstützung, um auf dem Pfad der Tugend zu bleiben. Bevor der Erzieher sich aus dem Leben seines Schützlings zurückzieht, legt er daher sein Amt in die Hände von Sophie: »Lieber Emile, ein Mann benötigt sein ganzes Leben lang Rat und Führung. Ich habe mein Bestes gegeben, diese Pflicht bis heute für Euch zu erfüllen; hier endet meine langwierige Aufgabe, und die eines anderen beginnt. Ich lege heute die Autorität nieder, die Ihr mir anvertraut habt, und hier ist von nun an Euer Erzieher.« (Emile IV 867)
Sophie wird im Ehealltag die subtile Herrschaft ausüben, die bislang dem Erzieher anvertraut war (vgl. Makus 2002: 203). Ihre Autorität beruht auf der Herrschaft über Emiles Begehren. Die letzte Unterweisung des Erziehers beinhaltet den Auftrag an Emile, Sophie in der Rolle als »Schiedsrichter seiner Lüste«
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(Emile IV 865) stets zu respektieren.7 Dieses Arrangement eröffnet Sophie die Möglichkeit, Sexualität taktisch einzusetzen, was ihr vom Erzieher ausdrücklich nahegelegt wird (vgl. ebd.: 865f.). Als schamhafte Ehefrau obliegt es ihr zum einen, durch ihre Verführungskunst das Liebesbegehren in der Ehe wachzuhalten.8 Zum anderen kann sie das Verlangen des Ehemanns steuern, indem sie ihm Befriedigung gewährt oder versagt. Durch das Maß ihrer sexuellen Hingabe oder Verweigerung kann sie ihren Einfluss bei Emile geltend machen. Daraus ergibt sich eine eigentümliche Dialektik der Herrschaft in der Ehe: »Indem er Euer Ehemann geworden ist, wurde Emile Euer Oberhaupt; Ihr müsst gehorchen, so hat es die Natur gewollt. Wenn die Frau Sophie ähnelt, ist es dennoch gut, dass der Mann von ihr geführt wird; auch das ist ein Gesetz der Natur; und um Euch ebenso viel Autorität über sein Herz zu geben wie sein Geschlecht ihm Autorität über Eure Person gibt, habe ich Euch zum Schiedsrichter seiner Lüste gemacht.« (Ebd.: 865)
Wenngleich Emile durch die Ehe zum Familienoberhaupt wird, geht Sophies Souveränität tiefer: Sie wird zur Herrin über Emiles Herz.9 Die Ausübung dieser Macht erfordert Sophies weibliche Scham. Nur wenn sie ihr eigenes sexuelles Verlangen zügeln kann, gewinnt sie die Souveränität über Emiles Begehren – »Ihr werdet ihn beherrschen, wenn Ihr Euch selbst beherrschen könnt« (ebd.). Sophies Selbstbeherrschung durch die Scham umfasst die kokette Verführungskunst, das taktische Spiel mit dem Begehren des Mannes. Sie geht darüber aber auch eindeutig hinaus: Sophie muss die Scham als tu-
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Hier geht es gerade nicht darum, Sophies sexuelle Selbstbestimmung innerhalb der Ehe zu gewährleisten, vielmehr soll Sophie so in die Lage versetzt werden, Emiles Begehren richtig – und das heißt, im Sinne der männlichen Autonomie – zu regulieren. Ziel ist somit die Autonomie des Mannes, nicht der Frau. Vgl. Matthes 2000: 150f. Zur Rolle der Frau bei der Aufrechterhaltung männlicher Autonomie ausführlich in I 3.
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Erst später wird Begehren durch Intimität ersetzt, vgl. Emile IV 866; mehr dazu in I 4. Zur erotischen Freundschaft der Ehegatten vgl. Kuster 2005: 181.
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Schwartz sieht daher im Verhältnis zwischen Mann und Frau den aristotelischen »interchange of ruling and being ruled« (Schwartz 1984: 13) verwirklicht. Wingrove fasst dieselbe Struktur weniger naiv harmonisierend unter den Begriff consensual nonconsensuality. Zu Wingroves Kritik an Schwartz vgl. Wingrove 2000: 163. Sowohl Schwartz als auch Wingrove sehen in der Struktur des Verhältnisses zwischen Mann und Frau die Struktur des Politischen bei Rousseau vorgeprägt. Dieser Zusammenhang wird in Teil II ausführlich Thema werden, vgl. vor allem II 2.2 und II 3.2.
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gendhafte Haltung, als Ethos ihres gesamten Verhaltens kultivieren. Denn die erotische Herrschaft über den Mann ist kein Selbstzweck. Sophies Einfluss auf Emile steht unter dem Vorzeichen der Tugend. Auf Empfehlung des Erziehers soll sie »die Koketterie im Interesse der Tugend einsetzen, und die Liebe zugunsten der Vernunft« (ebd.: 866). Damit Emile ein dauerhaft tugendhaftes Leben führen, der Versklavung durch die Leidenschaften entgehen und sein eigener Herr sein kann, ist er also auf eine weibliche Vorleistung angewiesen: Sophie muss ihre Aufgabe als tugendhafte Ehefrau erfüllen. Die Situation erscheint paradox: Emile ist (im moralischen Sinne) frei, weil er (im erotischen Sinne) beherrscht wird (vgl. Scherl 2012a: 122). Am Beispiel von Emile und Sophie zeigt Rousseau, wie die ambivalente Macht der Frauen im Sinne der Geschlechterordnung richtig ausgeübt wird. Die vorbildhafte Ehe zwischen Mann und Frau wird zum Ort eines sorgsam eingehegten Begehrens. Innerhalb der Ehe ist es in erster Linie die Frau, die für die Ökonomie des Begehrens verantwortlich zeichnet. Indem sie ihre weibliche List, die Scham, zur Tugend erhebt, erhält sie das Gleichgewicht zwischen Begehren und Tugend aufrecht. Die tugendhafte Ehe zwischen Emile und Sophie ist ein Musterbeispiel für das wohlgeordnete Begehren. In der Nouvelle Héloïse stellt Rousseau eine andere Liebesgeschichte vor: Julie hat eine schwierigere Situation zu bewältigen als Sophie, denn ihr steht die Möglichkeit einer Liebesheirat nicht offen. Zur Ehe mit Wolmar gezwungen, füllt sie dennoch die Rolle der tugendhaften Ehefrau aus. Julies Tugend verlangt ein weitaus größeres Opfer: Sie muss ihr Begehren nicht nur zu beherrschen lernen, sie muss es dauerhaft überwinden und auf den Geliebten verzichten. Die Überwindung der leidenschaftlichen Liebe ist zunächst eine Leistung Julies.10 Unter ihrem Einfluss findet auch ihr Liebhaber St. Preux zur Tugend und lernt, seine Leidenschaft zu bezwingen. Vordergründig scheinen diese Tugendübungen zu gelingen: Julie wird zum Musterbild einer tugendhaften Ehefrau und Mutter, St. Preux’ Gefühle läutern sich, er bleibt Freund und enger Vertrauter des Ehepaars. Das Ende des Romans stellt diese Idylle jedoch grundlegend infrage (vgl. Pabst 2007: 178-181). Julie zerbricht an der Forderung, ihre Liebe zu St. Preux aus ihrem Herzen zu streichen. Erst der Tod befreit sie von dem Zwang, ein Begehren zu verleugnen, das sich offenbar nicht restlos besiegen lässt. Die Tugend ist nicht lebbar, nur im Tod lässt sich der Widerspruch zwischen Liebe und Tugend auflösen: »Die Tugend, die uns auf Erden getrennt hat, wird uns in der Ewigkeit vereinen. Ich sterbe in dieser süßen Erwartung.
10 Auch Julie hilft hierbei eine Art Vertrag; dazu an späterer Stelle (I 4; II 2.2) mehr.
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Allzu glücklich, mit meinem Leben das Recht zu erkaufen, dich immer ohne Verbrechen zu lieben, und es dir einmal noch zu sagen.« (Julie II 743)11 Obwohl für Emile und Sophie Liebe und Ehe eine Einheit bilden, lässt Rousseau auch sie scheitern. In Emile und Sophie oder Die Einsamen kommt es zu Sophies Ehebruch und der Trennung des Paares. Scheinbar sind es unglückliche äußere Umstände, die zu diesem Scheitern führen: Sophie verliert Eltern und Tochter; Emile bringt sie nach Paris, um seiner Ehefrau dort Ablenkung und Trost zu verschaffen. Die oberflächliche und vergnügungssüchtige Pariser Gesellschaft entfremdet die Eheleute voneinander, falsche Freundinnen und Freunde tun ihr Übriges. Dennoch: Die äußeren Umstände fördern nur die Sollbruchstellen einer Verbindung zutage, die ihre Selbstgefährdung bereits in sich trägt. Emiles böse Vorahnungen auf dem Weg nach Paris legen davon Zeugnis ab: »Ich dachte nicht von ferne daran, dass ich die Gefahr nicht in der Hauptstadt suchen ging, sondern dass sie mir dorthin folgte.« (E&S IV 885) Emile und Sophie schaffen es in Paris nicht mehr, das Begehren in der Ehe aufrechtzuerhalten: Die Liebe schwindet, die Leidenschaft nutzt sich ab. Die Störung der Begehrensstruktur geht dabei in erster Linie von Emile aus, der sich in den Zerstreuungen der Großstadt verliert. Erst Sophies konsequente Verweigerung nach dem Ehebruch facht seine Leidenschaft wieder an (vgl. ebd.: 889f.). Doch es ist zu spät: Sophies Entehrung macht die Trennung unausweichlich – auch wenn sie gerade in ihrer Verfehlung noch einmal ihre Tugend unter Beweis stellt und damit, wie Julie, tragische Größe zeigt (vgl. ebd.: 897f.). Das tragische Ende beider Liebesgeschichten ist bemerkenswert. Was Rousseau als programmatische Lösung für das Problem des Begehrens präsentiert, scheint in der Narration zum Scheitern verurteilt. Die Ordnung der Leidenschaft durch die Tugend erweist sich als höchst prekär. Selbst Julie und Sophie, die als leuchtende Beispiele weiblicher Tugend gelten, können dem Ideal nicht gerecht werden. Erneut wird hier die Fragilität der Geschlechterordnung deutlich: Das Begehren wirkt als Störfaktor, der sich nicht dauerhaft einhegen oder gar überwinden lässt.
11 Julies Tod und das Ende des Romans werden noch einmal ausführlich Thema in Teil III dieser Arbeit.
3. Männlichkeit und Weiblichkeit
»So muss die ganze Erziehung der Frauen sich auf die Männer beziehen. Ihnen zu gefallen, ihnen nützlich zu sein, sich von ihnen lieben und achten zu lassen, sie in ihrer Jugend aufzuziehen, sie im Alter zu versorgen, sie zu beraten, sie zu trösten, ihnen das Leben angenehm und süß zu gestalten, das sind die Pflichten der Frauen zu allen Zeiten, und das ist es, was man sie von Kindheit an lehren muss.« (Emile IV 703)
Im Fünften Buch des Emile entwirft Rousseau seine Theorie der Geschlechterdifferenz und lässt sie in eine deutliche Asymmetrie münden: Leben und Bestimmung der Frau gehen offenbar zur Gänze im Dienst am Manne auf. Der Nachweis fällt denn auch nicht schwer, dass die weibliche Sondererziehung, die Rousseau hier vorschlägt, Punkt für Punkt der Erziehung zur Freiheit widerspricht, die Emile zuteil werden soll.1 Dennoch denkt Rousseau das Verhältnis zwischen den Geschlechtern nicht schlicht hierarchisch – das hat der Gedanke der erotischen Herrschaft der Frau über den Mann bereits deutlich gemacht. Um dieses Verhältnis jenseits von Über- und Unterordnung genauer zu erfassen, müssen nun Rousseaus Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit näher beleuchtet werden. Auch wenn seine Ausführungen hierzu im Ganzen das Bild einer misogynen Grundhaltung abgeben mögen, kommt es doch darauf an, die zugrundeliegenden Prinzipien und Strukturmuster zu untersuchen. Wie denkt
1
Okin hat die Diskrepanzen zwischen weiblicher und männlicher Erziehung am umfassendsten ausgeführt. Dabei ist ihr Hauptkritikpunkt, dass die weibliche Erziehung von rein funktionalistischen Überlegungen geleitet wird, die Rousseau für die männliche Erziehung gerade nicht gelten lassen will, vgl. Okin 1979: 135f., 157-166. Weiss argumentiert dagegen, dass sowohl die weibliche als auch die männliche Erziehung funktionalistischen Imperativen entspringt (wobei sie jedoch von der irrigen Annahme ausgeht, Emile werde zum Bürger erzogen), vgl. Weiss 1993: 10-35.
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Rousseau Männlichkeit und Weiblichkeit, und wie setzt er beides zueinander in Relation? Zu Beginn des Fünften Buchs versucht Rousseau, das Verhältnis der zwei Geschlechter zwischen Gleichheit und Verschiedenheit zu verorten (vgl. ebd.: 692f.). Mann und Frau sind gleich, sofern sie nicht in ihrer Eigenschaft als Geschlechtswesen betrachtet werden. Was das Geschlechtliche betrifft, stellt Rousseau zunächst »überall Gemeinsamkeiten und überall Unterschiede« (ebd.: 693) fest – eine vorläufige Aussage, die lediglich der praktischen Schwierigkeit geschuldet ist, den Einflussbereich des Geschlechtlichen definitorisch sicher abzustecken. Tatsächlich besteht Rousseaus Lösung darin, den Unterschied zum Grundprinzip des Geschlechtlichen zu machen: »[D]as Einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass alles, was sie gemeinsam haben, zur Gattung, und alles, was sie unterscheidet, zum Geschlecht gehört [...]« (ebd.). Von Übereinstimmungen kann nur noch in Bezug auf die Gattung die Rede sein, als Geschlechtswesen sind Mann und Frau in jeder Hinsicht verschieden (vgl. Heinz 2003: 131f.). Der Unterschied zwischen den Geschlechtern kann kein gradueller sein, vielmehr handelt es sich um einen qualitativen Unterschied: »In dem, was sie gemeinsam haben, sind sie gleich; in dem, was sie unterscheidet, sind sie unvergleichlich [...]« (Emile IV 693). Damit verliert die Vorstellung einer hierarchischen Ungleichheit der Geschlechter bei Rousseau ihre Gültigkeit. Der Mann gibt nun nicht mehr ein Maß der Vollkommenheit vor, das von der Frau nur ungenügend erreicht werden kann. Vielmehr gelten für Mann und Frau zwei völlig verschiedene Maßstäbe: »[E]ine vollkommene Frau und ein vollkommener Mann dürfen sich im Geist ebensowenig ähneln wie im Angesicht, und die Vollkommenheit eignet sich nicht für ein Mehr oder Weniger.« (Ebd.) Nicht mehr die graduelle Abstufung, sondern die wesenhafte Differenz bestimmt das Verhältnis zwischen den Geschlechtern (vgl. Herb/Morgenstern/Scherl 2011: 290). Die Differenz durchzieht dabei in der Tat das ganze Wesen von Mann und Frau: Der Einfluss des Geschlechts beschränkt sich weder auf den Körper noch auf dessen unmittelbare Funktionen (vgl. Heinz 2003: 132f.). Mannsein und Frausein sind zwei alternative, jeweils umfassend zu verstehende Daseinsweisen des Menschen. Die Frau rangiert hier offensichtlich nicht als zweites Geschlecht. Daraus eine prinzipielle Gleichrangigkeit der Geschlechter abzuleiten, hieße jedoch die Logik der Differenz zu verkennen. Unbestrittener Ausgangspunkt bleibt der Mann als der Normalfall des Menschlichen. Das Männliche muss nicht eigens thematisiert werden: Bis zum Vierten Buch des Emile ist der Zögling einfach nur Mensch – erst der Auftritt von Sophie ruft gleichsam in Erinnerung, dass Emile
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auch Mann ist. Rousseaus Theorie der Geschlechterdifferenz entfaltet sich im Folgenden denn auch ausschließlich als eine Theorie der Weiblichkeit: Ausgehend von der festgestellten Unterschiedlichkeit der Geschlechter wird nun ausführlich dargelegt, inwiefern der Sonderfall Frau vom Normalfall Mann abweicht. In der binären Logik der Geschlechter wird die Frau so zum anderen Geschlecht. Wie wir bereits gesehen haben, geht Rousseau zunächst von einer unterschiedlichen Rolle in der Begehrensdynamik aus, um die Geschlechterdifferenz zu bestimmen: auf der einen Seite die Frau, die durch ihr schamhaft-passives Verhalten das Begehren des Mannes stimuliert und so zur Herrschaft über sein Herz gelangt – auf der anderen Seite der Mann, der aktiv und stark zu sein scheint, tatsächlich aber der Souveränität der Frau unterworfen ist. Um die Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit zu erfassen, die hinter dieser Konstellation stehen, soll die Geschlechterdifferenz nun zunächst jenseits des Begehrens betrachtet werden. Bevor Emile und Sophie aufeinander treffen, folgt ihre Erziehung bereits entgegengesetzten Grundsätzen. Emile soll nach dem Vorbild des natürlichen Menschen erzogen werden; Sophie soll etwas sein, das Rousseau als ›natürliche Frau‹ bezeichnet, für das es gleichwohl keinerlei Vorbild im Naturzustand gibt. Worin die Unterschiede bestehen, lässt sich zeigen, indem die Grundsätze wahrer Weiblichkeit der Erziehung Emiles gegenübergestellt werden – insbesondere der Erziehung vor dem Erwachen des Begehrens. Das (männliche) Kind in den ersten drei Büchern des Emile soll dem homme naturel gleichen, insofern es nur physische Bedürfnisse kennt und nur von den Dingen abhängt. Das Ideal, dem seine Erziehung folgt, ist das »Gleichgewicht zwischen dem Vermögen und dem Begehren« (Emile IV 304). Zwar ist das Kind nicht von Anfang an in der Lage, seine Bedürfnisse selbst zu stillen. Umso mehr muss ihm gegenüber sorgfältig der Eindruck vermieden werden, es sei der Willkür anderer Menschen ausgeliefert. Wer von anderen abhängig ist, kann seine Wünsche nicht selbst erfüllen, sondern muss jemand anderes dazu bringen. Bei falscher Erziehung lernt das Kind schnell, die Erwachsenen zu Erfüllungsgehilfen seiner Bedürfnisse zu machen – und bekommt so die erste »Vorstellung von Macht und Herrschaft« (ebd.: 287). Dies ist die erste schädliche Lektion, die Emile um jeden Preis vorenthalten werden muss: die Fähigkeit zu entwickeln, andere für sich handeln zu lassen. Herrschsucht und Abhängigkeit sind eng verschwistert,2 und es ist nicht der natürliche Mensch, sondern der homme de l’homme, der sich in ihre Fesseln verstrickt:
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Vgl. auch: »Wer sich für den Herrn der anderen hält, bleibt mehr Sklave als sie.« (CS III 351)
66 | E RSEHNTE EINHEIT , UNHEILBARE S PALTUNG – G ESCHLECHTERORDNUNG »Aber sobald [die Kinder] die Leute in ihrer Umgebung als Instrumente betrachten können, die sie nach ihrem Belieben handeln lassen können, bedienen sie sich ihrer, um ihrer Neigung zu folgen und ihre eigene Schwäche auszugleichen. So werden sie unbequem, tyrannisch, herrschsüchtig, bösartig, unbezähmbar; ein Fortschritt, der nicht einer natürlichen Herrschsucht entspringt, sondern der ihnen diese eingibt [...]« (ebd.: 289).
Emiles Erziehung ist daher darauf angelegt, das natürliche Gleichgewicht zwischen Bedürfnissen und Fähigkeiten aufrechtzuerhalten – »mehr wahrhafte Freiheit und weniger Herrschaft« (ebd.: 290) lautet die Devise. Emiles Freiheit besteht darin, nichts zu wollen, was er nicht selbst in der Lage ist zu tun.3 Dadurch ist er auf niemanden angewiesen und muss über niemanden herrschen. »Der Einzige, der nach seinem Willen handelt, ist derjenige, der nicht darauf angewiesen ist, seine Arme durch die eines anderen zu verlängern: Daraus folgt, dass das oberste aller Güter nicht die Autorität, sondern die Freiheit ist.« (Ebd.: 309) Wie ist es jedoch um Sophies Freiheit bestellt? Das Gleichgewicht zwischen Kräften und Wünschen, das Emile zum unabhängigen Menschen macht, ist im Falle der Frau aufgehoben: »Die Frau, die schwach ist und nichts außerhalb sieht, schätzt und beurteilt die Kräfte, die sie einsetzen kann, um ihre Schwäche auszugleichen, und diese Kräfte sind die Leidenschaften des Mannes. […] Für alles, was ihr Geschlecht nicht von sich aus tun kann und was ihr nützlich oder angenehm ist, benötigt sie die Kunst, es uns wollen zu lassen [...]« (ebd.: 737).
Wie das Kind ist die Frau aufgrund ihrer Schwäche nicht in der Lage, ihre Wünsche selbst zu erfüllen. Und wie das falsch erzogene Kind kompensiert sie diese Schwäche durch die Instrumentalisierung anderer. Was in Bezug auf Emile als Folge fehlgeleiteter Erziehung angeprangert wurde, ist für Sophie Verhaltensmaßstab: Andere (den Mann) für sich handeln zu lassen ist ihre weibliche Kunst (vgl. Garbe 1992: 83; Schwartz 1984: 88). Emile darf nicht herrschen, um frei zu bleiben. Sophie dagegen muss herrschen, weil sie von Anfang an nicht frei ist. Keine Gültigkeit für die Frau hat auch die im Falle des männlichen Kindes so entscheidende Beschränkung auf physische Bedürfnisse. Emiles Wünsche entspringen nur dem »realen Nutzen«, nicht der »Phantasie« oder »grundloser Begierde« (Emile IV 290), sie sind Bedürfnisse, keine Begehren. Die Unterschei-
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Zum Freiheitsbegriff des Emile, der sich am homme naturel und dessen ursprünglicher Einheit des Selbst orientiert, ausführlicher in II 3.2. Vgl. dazu auch Garbe 1992: 3740.
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dung zwischen Bedürfnis und Begehren macht in Bezug auf die Frau jedoch keinen Sinn – ob nützlich oder angenehm ist in ihrem Falle gleichviel (vgl. Garbe 1992: 83f.). Den Wünschen der Frau ist das Begehren von vornherein eingeschrieben, ist sie zu deren Erfüllung doch notwendig auf den Anderen verwiesen. Das zentrale Merkmal des reinen Bedürfnisses – dass es aus eigener Kraft unmittelbar befriedigt werden kann – trifft auf die Wünsche der Frau in keinem Fall zu. Wenden wir uns nun der weiblichen Kunst zu, andere für sich handeln zu lassen. Anders als beim herrschsüchtigen Kind ist die Herrschaft der Frau höchst subtil: Sie richtet sich auf die Leidenschaften des Mannes. »Sie muss lernen, [die] Gefühle [der Männer] zu durchdringen, in ihren Reden, ihren Handlungen, ihren Blicken, ihren Gesten. Sie muss ihnen durch ihre Reden, ihre Handlungen, ihre Blicke, ihre Gesten die Gefühle einflößen können, die ihr gefallen, ohne den Eindruck zu erwecken, auch nur im Traum daran zu denken.« (Emile IV 737)
Die Frau übt ihren Einfluss aus, indem sie Gefühle erweckt und steuert. Ihre Verführungskunst stützt sich auf vielsagende Worte, Gesten, Blicke, die alle mit dem Ziel eingesetzt werden, das Herz des Mannes in ihrem Sinne zu bewegen. Gleichzeitig vermeidet die Frau aber jeden Anschein einer bewussten Einflussnahme: Der Mann darf die Absichten hinter ihrem Spiel nicht erkennen. Die Manipulation erfolgt vollständig im Verborgenen (vgl. Garbe 1992: 85; Vinken 1995: 189f.). Wie Garbe ausführlich aufzeigt, liegt der weiblichen List eine spezifische Form der Kommunikation, des Gebrauchs von Sprache und Zeichen, zugrunde.4 Der von Rousseau empfohlene Spracherwerb des männlichen Kindes unterliegt dem »Primat der Bezeichnung« (Garbe 1992: 47): Sprachliches Zeichen und bezeichneter Gegenstand sollen für das Kind stets eindeutig und offensichtlich verknüpft sein. »Ich wünschte, dass die ersten Artikulationen, die man ihn hören lässt, selten, einfach, deutlich, häufig wiederholt wären, und dass die Wörter, die sie zum Ausdruck bringen, sich nur auf wahrnehmbare Gegenstände bezögen, die man dem Kind zuerst zeigen könnte.« (Emile IV 293) Emile gebraucht Sprache in ihrer nüchternsten Form, als einfaches Instrument der Verständigung (vgl. ebd.: 546). Seine sprachliche Erziehung soll von Anfang an verhindern, dass die
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Zum Spracherwerb des männlichen Kindes vgl. Garbe 1992: 46-54; vgl. auch Schneider 2012: 75-78; zum weiblichen Sprachgebrauch vgl. Garbe 1992: 76-113, insbesondere 103-107. Vgl. dazu auch Vinken: »[M]an becomes the figure that denies figurality, whereas woman becomes the figure that incarnates figurality.« (Vinken 1995: 194)
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Worte ein Eigenleben entwickeln, dass sich das Spiel der Zeichen verselbstständigt. Worte, die das Kind nicht unmittelbar auf sinnlich fassbare Gegenstände beziehen kann, könnten Vorstellungen in ihm wachrufen und so zum worst case führen: zum vorzeitigen Erwachen der Einbildungskraft (vgl. Garbe 1992: 49; Zerilli 1994: 41f.). Damit wäre der ganze verderbliche Mechanismus in Gang gesetzt, der das Begehren weckt, Wünsche und Fähigkeiten aus dem Gleichgewicht bringt und zur Tragödie der gesellschaftlichen Abhängigkeit führt. Vom Erzieher angeleitet, bleibt Emile daher bei einer unzweideutigen Sprache, die genauso transparent ist wie sein Herz: »Er wird Euch das Schlechte, das er getan oder gedacht hat, ebenso freimütig sagen wie das Gute, ohne sich in irgendeiner Form um den Eindruck zu kümmern, den das von ihm Gesagte auf Euch machen wird; er wird das Wort in der ganzen Einfachheit seiner ersten Einrichtung verwenden.« (Emile IV 420; vgl. Makus 2002: 189) Dieser Eindeutigkeit und Geradlinigkeit der männlichen Sprache steht die weibliche List gegenüber. Die Verführungskunst der Frau ist eine Kunst der Verstellung, der Verschleierung und des uneindeutigen Gebrauchs von Zeichen.5 Ihre Worte sagen stets mehr als das darin Bezeichnete; ihr Tonfall, ihre Blicke und ihr ganzes Verhalten verweisen auf das, was explizit ungesagt bleiben muss (vgl. Emile IV 734f.). Sprechend sind Rousseaus Beispiele für die weibliche List als »natürliches Talent« (ebd.: 711): Ein Mädchen umgeht geschickt das Verbot, bei Tisch um etwas zu bitten, indem es aufzählt, wovon es bereits gegessen hat, und das Begehrte mit vielsagendem Schweigen übergeht (vgl. ebd.: 712).6 Eine Frau sitzt zwischen zweien ihrer heimlichen Liebhaber und versteht es, ihre Aufmerksamkeiten so zu verteilen, dass beide zugleich glauben, exklusiv gemeint zu sein (vgl. ebd.: 733f.). In beiden Fällen ist es die weibliche Kunst der Kommunikation, die das Eigentliche verschweigt und dennoch mehr sagt, als sie zur Sprache bringt. Nicht nur die Art des Sprechens, auch der Inhalt der Rede ist je nach Geschlecht verschieden: »Der Mann sagt, was er weiß, die Frau sagt, was gefällt; der eine braucht zum Sprechen Kenntnisse, die andere Geschmack; der eine muss hauptsächlich über die nützlichen Dinge sprechen, die andere über die angenehmen.« (Ebd.: 718) Nützlichkeit ist der Beurteilungsmaßstab, den Emile an die Welt anzulegen lernt (vgl. ebd.: 445ff.). Das Mädchen hingegen wird in seiner Erziehung nicht mit der Frage nach dem Nutzen, sondern nach dem Eindruck konfrontiert: »Welchen Eindruck wird das machen?« (Ebd.: 719) Diese Sorge
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Vinken spricht von der Rhetorizität der Frau, vgl. Vinken 1995: 189f. Für eine ausführliche Analyse dieses Beispiels im Lichte der Saussureschen Sprachtheorie vgl. Garbe 1992: 105ff.
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durchzieht die gesamte Lebenswelt der Frau. Bei allem, was sie tut, geht es in erster Linie darum, welches Bild sie nach außen abgibt: Es gilt, anderen zu gefallen und angenehm zu erscheinen. Sophie sieht sich selbst beständig von außen, mit den Blicken der Anderen. Selbst ihre Vorlieben sind so gewählt, dass sie dabei jederzeit die beste Figur macht – das Klavierspiel zum Beispiel soll anfangs nur ihre schönen Hände auf den schwarzen Tasten zur Geltung bringen (vgl. ebd.: 747). Diesen Blick auf sich selbst von außen übt bereits das kleine Mädchen ein, das völlig selbstvergessen mit seiner Puppe spielt: »[S]ie ist ganz in ihrer Puppe, sie legt ihre ganze Koketterie in die Puppe, sie wird sie nicht für immer darin lassen; sie wartet auf den Moment, in dem sie selbst ihre Puppe sein wird.« (Ebd.: 707) Das Spiel mit der Puppe erweist sich als anschauliches Bild für die weibliche Selbstreflexivität: Das Mädchen sieht sich selbst in ihrer Puppe, die erwachsene Frau sieht sich selbst als Puppe. In der weiblichen Selbstwahrnehmung findet eine Spaltung des Ichs statt – in ein Ich als Subjekt und ein Ich als Objekt. Die Frau fühlt sich nicht als geschlossene Einheit, sondern betrachtet sich selbst stets als Objekt der Betrachtung von außen (vgl. Vinken 1995: 190; Garbe 1992: 100f.). Dieser selbstreflexive Blick ist genau jene Perspektive, die Emile niemals einnehmen darf – sie kennzeichnet den homme de l’homme: »Der Mann von Welt lebt vollständig in seiner Maske. Da er fast nie in sich selbst lebt, fühlt er sich immer fremd und unbehaglich, sobald er gezwungen ist, dorthin zurückzukehren. Was er ist, gilt ihm nichts, was er scheint, gilt ihm alles.« (Emile IV 515) Auch für die Frau gilt der Schein alles. Da das Urteil der Anderen für sie die maßgebliche Instanz ist, kann sie nicht in sich selbst leben: »Woman has no être en soi, but only être pour autrui [...]« (Vinken 1995: 189, Herv. i.O.). Im Gegensatz zu Emile, der keine Masken trägt, der immer er selbst ist, lebt die Frau für den äußeren Schein – sie ist eine Darstellerin ihrer selbst (vgl. ebd.; Matthes 2000: 148). Auch Sophies Art, die Welt außerhalb wahrzunehmen und zu beurteilen, ist von der Emiles grundlegend verschieden. Der Mann, der nach dem Vorbild des homme naturel ganz bei sich ist, nimmt stets sich selbst zum Ausgangspunkt und Maßstab seiner Weltbetrachtung. »Er schätzt das, was ihm fremd ist, nur in Bezug auf sich selbst ein [...]. Er betrachtet sich ohne Rücksicht auf die anderen und findet es gut, dass die anderen gar nicht an ihn denken.« (Emile IV 487f.) Die Frau hingegen ist nie ganz bei sich, ihre Wahrnehmung richtet sich vielmehr ganz auf den Anderen. Die ihr eigene Wissenschaft ist darum das Studium der Herzen:
70 | E RSEHNTE EINHEIT , UNHEILBARE S PALTUNG – G ESCHLECHTERORDNUNG »Sie muss also den Geist des Menschen/Mannes gründlich studieren, nicht abstrakt den Geist des Menschen im Allgemeinen, sondern den Geist der Männer, die sie umgeben [...]. [Die Männer] philosophieren besser als sie über das menschliche Herz; aber sie liest besser als diese in den Herzen der Menschen.« (Ebd.: 737)
Wenn der Mann über die menschliche Natur philosophiert, entdeckt er in sich selbst den Maßstab für das, was allen gemeinsam und universal gültig ist. Die Frau dagegen verzichtet auf abstrakte Betrachtungen des Menschen, sie wendet sich vielmehr den Menschen zu, mit denen sie es konkret zu tun hat. Die Fähigkeit zur Empathie, zum Lesen im menschlichen Herzen, ist daher ein weibliches Talent, das dem Mann notwendig fehlt (vgl. ebd.: 736f.; Kukla 2002: 349-357; Marso 1999: 39-42). Die Abweichungen vom wahren Menschsein, die Rousseau der Frau zuschreibt, folgen einer bemerkenswerten Logik. So gar nichts hat sie gemein mit dem homme naturel, mit der ungebrochenen Einheit des Selbst, die das Ideal für Emiles Erziehung vorgibt. Die Frau ist nicht frei, sondern auf die subtile Herrschaft über Andere angewiesen. Sie ist nicht transparent, sondern bedient sich der Sprache der List und der Macht der Zeichen. Sie ist nicht authentisch, sondern führt ein Leben im Blick der Anderen. Nicht zufällig offenbaren sich überall Parallelen zwischen der Frau und dem homme de l’homme. Weiblichkeit steht für das vergesellschaftete Dasein schlechthin, für den Menschen als das Wesen, das nicht eins ist mit sich selbst.7 In den ersten drei Büchern des Emile sind die Eigenschaften, die später die Frau auszeichnen werden, nur als Negativfolie präsent: das falsch erzogene Kind, der Mensch der Gesellschaft. Emile soll vor all dem bewahrt werden – seine Erziehung zielt auf Freiheit, Transparenz, Authentizität; kurz, auf die Einheit des Selbst. Mit Buch IV muss sich jedoch alles grundlegend ändern: Nach dem Erwachen des Begehrens lässt sich die Selbstgenügsamkeit des homme naturel nicht aufrechterhalten. Indem der Mann zum begehrenden Wesen wird, wird auch er zum abhängigen Wesen: »Die Männer hängen durch ihre Begierden von den Frauen ab [...]« (Emile IV 702). Damit ist eine sehr konkrete Gefahr benannt: Die Logik des Weiblichen bedroht die Einheit des männlichen Selbst. Der Mann, der begehrt, droht zum gespaltenen Wesen zu werden – sein Begehren nach der Frau macht ihn gewissermaßen selbst zur Frau (vgl. Zerilli 1994: 48).
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Die Formulierung verweist auf Irigaray, für die das Weibliche als Geschlecht, das nicht eins ist, die männliche Logik des Phallogozentrismus durchbricht, vgl. Irigaray 1979.
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Rousseaus Geschlechterordnung versucht, diese Bedrohung zu neutralisieren, indem sie das Weibliche in die Logik der Differenz einhegt: Das Wesen, das nicht eins ist, wird zum anderen Geschlecht. Die Frau verwandelt sich so von der unberechenbaren Bedrohung der männlichen Einheit in die hilfreiche und notwendige Ergänzung des Mannes. Der Eine wird durch die Andere gerade nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr in seiner Identität bestätigt. Diese Logik der Differenz stützt sich auf die weibliche Scham und die von ihr regulierte Begehrensdynamik zwischen Mann und Frau.8 Sophie ist die einzige ernsthafte Gefährdung für Emile, der dazu erzogen wurde, auf keinen anderen Menschen angewiesen zu sein. Sie beherrscht den jungen Mann, der Herrschaft nicht kennenlernen sollte. In ihren Händen wird der ernsthafte und selbstbestimmte Emile zum »Spielzeug eines Kindes« (Emile IV 799). Dennoch ist es letztlich Sophie, die Emile dabei hilft, seine Freiheit auch über das Erwachen des Begehrens hinaus zu bewahren – weil sie eine schamhafte Frau ist. Im Verhaltensmodus der Scham kommen all die Fähigkeiten und Eigenschaften zum Einsatz, die Rousseau der Frau zuspricht: ihr Talent zur indirekten Einflussnahme und zur Manipulation von Gefühlen, ihre Beherrschung der Sprache der List und des uneindeutigen Gebrauchs von Zeichen, ihre Kunst der Verstellung und des Scheinens. Die schamhafte Frau verleugnet ihr eigenes Begehren, um das Begehren des Mannes anzustacheln, sie verstellt sich, um die Kontrolle über seine Gefühle zu erlangen (vgl. Zerilli 1994: 33). Die Scham besiegelt so einerseits die Macht der Frau über den Mann, indem sie ihr die Fähigkeit verleiht, das männliche Begehren zu wecken und zu steuern. Andererseits verschwindet auf diese Weise die Frau selbst hinter dem »Schleier der Scham« (Bürgin 2008: 120). Indem sie ihr eigenes Begehren stets verleugnet und versteckt, macht sie sich als Gegenüber des Mannes unsichtbar. Ihre Wünsche dürfen sich nie direkt offenbaren, sondern immer nur in verkleideter Form – als Wünsche des Mannes. Die Frau verliert so jede eigenständige Identität – sie reflektiert nur noch die Identität des Mannes, sie wirft ihm sein Bild zurück wie ein Spiegel (vgl. Zerilli 1994: 47; Matthes 2000: 148ff.).9 Die weibliche Scham ist für Rousseau also mehr als ein Instrument weiblicher Herrschaftssicherung: Sie garantiert zugleich, dass die Herrschaft der Frau
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Vgl. dazu Zerilli 1994: 47; Vinken 1995: 191f.; Bürgin 2008: 132f.; Matthes 2000: 143-150. Ich würde hier Bürgins Kritik zustimmen, dass Garbe die Dynamik zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit insgesamt zu optimistisch bewertet (vgl. Bürgin 2008: 129ff.): Das Weibliche hat zwar subversive Kraft, die Geschlechterordnung ist aber genau zu dessen Domestizierung da.
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Zur Rolle der Frau als ›Spiegel‹ der männlichen Identität ausführlicher in II 3.2.
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nur zum Wohle des Mannes eingesetzt wird – um ihn in seiner Autonomie zu bestätigen. So wie bei Sophie, die ihre Kunst der Verführung nur gebraucht, um Emiles Tugend zu stärken und ihm so ein selbstbestimmtes Leben als Herr über seine Leidenschaften zu ermöglichen. Die Frau wird, indem sie sich selbst als Subjekt zum Verschwinden bringt, zur Voraussetzung der männlichen Subjektivität. Damit hat das andere Geschlecht seine Aufgabe erfüllt: die Bestätigung des einen Geschlechts (vgl. Vinken 1995: 192). Die Frau auf die Tugend der Scham festzulegen, stellt so den entscheidenden Mechanismus zur Domestizierung des Weiblichen dar. Die Herrschaft der Frau, ihre überlegene List und ihre Gabe, Gefühle zu lesen und zu manipulieren – all das verliert in der tugendhaften Ehe seine Bedrohlichkeit, da es unter dem Diktat eines eindeutigen Zwecks zum Einsatz kommt: die Einheit des Mannes zu ermöglichen. Der Preis der Tugend, den die Frau zu zahlen hat, ist hoch. Als tugendhafte Ehefrau unterliegt sie einem strengen Verhaltensregime. Sie hat sich dem Urteil der Männer und dem Urteil der Gesellschaft zu beugen (vgl. Emile IV 702f.). Ihre Ehrbarkeit lässt sich nur bewahren, indem sie sich ganz dem gesellschaftlichen Zwang ausliefert: »[Die Mädchen] werden ihr ganzes Leben dem dauerhaftesten und härtesten Zwang unterworfen sein, nämlich dem des Anstands: Sie müssen als erstes an den Zwang gewöhnt werden, damit er sie niemals etwas kostet [...]« (ebd.: 709). Die Regeln der weiblichen Scham verlangen außerdem nach einer zurückgezogenen Lebensweise, beschränkt auf das Haus (vgl. ebd.: 705). Entsprechend eingeschränkt sind auch die weiblichen Aufgabenbereiche: Die Frau ist in erster Linie Ehegattin und Familienmutter. In dieser Weise verengt sich der weibliche Lebenshorizont bis hin zur ausschließlichen Ausrichtung auf die Männer: »Ihnen zu gefallen, ihnen nützlich zu sein, sich von ihnen lieben und achten zu lassen, sie in ihrer Jugend aufzuziehen, sie im Alter zu versorgen, sie zu beraten, sie zu trösten, ihnen das Leben angenehm und süß zu gestalten, das sind die Pflichten der Frauen zu allen Zeiten [...]« (ebd.: 703). In dieser domestizierten Form verliert das Weibliche den Stachel, der es zur Gefahr für die Einheit des Selbst werden lässt. Gerade die Schärfe der Eindämmungsmaßnahmen ist jedoch Beweis dafür, welche Bedrohung tatsächlich vom Weiblichen ausgeht. Die Geschlechterordnung steht auf tönernen Füßen: Alles hängt von den Frauen ab, die nur allzu leicht vom Pfad der Tugend abweichen können (vgl. Zerilli 1994: 49f.; Matthes 2000: 153).
4. Familie und Intimität
Bis jetzt haben wir Rousseaus Geschlechterordnung vor allem unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wie das Begehren entsteht und die Beziehungen zwischen Mann und Frau strukturiert. Neben dem Begehren steht aber stets noch ein weiteres Thema im Zentrum, sobald Rousseau über Geschlechtlichkeit nachdenkt: die Familie. In der Gemeinschaft der Familie verwirklicht sich die Geschlechterordnung in ihrer vollkommenen Ausprägung, alle ihre Elemente sind hier gleichsam aufgehoben: Das Begehren findet seinen gesicherten Ort in der tugendhaften Ehe zwischen Mann und Frau; das Weibliche entfaltet seine segensreiche Wirkung im Kreise der Familie. Gleichzeitig etabliert die Familie eine Ordnung, die zur Logik des Begehrens quer läuft: Rousseau strukturiert sie als intime Gemeinschaft (vgl. Kuster 2005). Um die Logik des Intimen und ihr Verhältnis zum Begehren zu rekonstruieren, muss noch einmal von vorne angefangen werden: beim homme naturel im Naturzustand. Im Zweiten Diskurs legt Rousseau großen Nachdruck darauf, dass es im Naturzustand keine Familie gibt. Der homme naturel ist ein ungeselliger Einzelgänger und bleibt es auch dann, wenn es um Maßnahmen zur Arterhaltung geht, also um Fortpflanzung und die Aufzucht von Nachkommen. Familiäre Bindungen entstehen weder zwischen Mann und Frau noch zwischen Mutter und Kind, und schon gar nicht zwischen Vater und Kind. Die flüchtige Befriedigung eines sexuellen Bedürfnisses, die Männchen und Weibchen im Naturzustand zusammenführt, stiftet keine dauerhaften Bande. Die Zufälligkeit der Begegnung und die Wahllosigkeit des Verlangens lassen keine individualisierte Beziehung zwischen zwei bestimmten Partnern entstehen: »Ist das Verlangen befriedigt, hat der Mann kein Bedürfnis mehr nach einer bestimmten Frau, noch die Frau nach einem bestimmten Mann.« (DI III 217) Ein Gattenverhältnis, das über den einmaligen Geschlechtsakt hinausginge, entwickelt sich nicht – schon deshalb, weil es dafür keinen Ort gibt. Der wilde Mensch kennt keine festen Behausungen, Mann und Frau leben nicht unter ei-
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nem gemeinsamen Dach (vgl. ebd.: 147). Ohne das gewohnheitsmäßige Zusammenleben entsteht keine Hausgemeinschaft, keine »ebenso intime und dauerhafte Vereinigung wie bei uns« (ebd.: 146). Auch das im Geschlechtsakt gezeugte Kind stiftet keine Verbindung zwischen Mann und Frau. Explizit wendet Rousseau sich gegen Locke: Die gemeinsame Sorge um den Nachwuchs lässt er nicht als Argument für die Natürlichkeit der ehelichen Gemeinschaft gelten (vgl. ebd.: 214-218). Bis zur Geburt des Kindes sind sich Männchen und Weibchen längst wieder fremd geworden; zudem hat der homme naturel keinerlei Vorstellung von den Folgen des Geschlechtsaktes: »Warum wird er ihr helfen, ein Kind aufzuziehen, von dem er nicht einmal weiß, dass es ihm gehört, und dessen Geburt er weder geplant noch vorhergesehen hat? […] Dieser hat nicht die geringste Sorge wegen der Folgen seiner Handlung, noch vielleicht die geringste Vorstellung davon.« (Ebd.: 217)
Zwischen Vater und Kind besteht im Naturzustand überhaupt keine, nicht einmal eine flüchtige Beziehung. Da dem homme naturel ein auf die Zukunft bezogenes Reflexionsvermögen fehlt, ist das Konzept der Vaterschaft faktisch eliminiert. Zwischen Mutter und Kind besteht hingegen notgedrungen eine gewisse Beziehung. Rousseau bemüht sich jedoch, diese Verbindung weitgehend auf den Zweck der physischen Bedürfnisbefriedigung zu reduzieren. Die Mutter gleicht vorübergehend den kindlichen Mangel an Fähigkeiten aus: Sie trägt es, solange es nicht selbst laufen kann, und ernährt es, solange es nicht eigenständig auf Nahrungssuche gehen kann. In Ansätzen entsteht zwar durch den gewohnheitsmäßigen Umgang eine gewisse emotionale Bindung der Mutter an das Kind (vgl. ebd.: 147). Aber auch hier ist die Beziehung nicht von langer Dauer – schon allein weil die Phase der kindlichen Hilflosigkeit im Naturzustand kurz ausfällt (vgl. ebd.: 217). Ebenso gilt auch für Mutter und Kind: aus den Augen, aus dem Sinn. »[S]obald sie die Kraft hatten, ihre Nahrung zu suchen, zögerten sie nicht, sogar die Mutter zu verlassen; und da es fast gar kein anderes Mittel gab, sich wiederzufinden, als sich nicht aus den Augen zu verlieren, waren sie bald an dem Punkt angelangt, an dem sie einander nicht einmal mehr wiedererkannten.« (Ebd.: 147)
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Das rasche Vergessen zeugt auch in diesem Fall davon, dass zwischen Mutter und Kind keine individualisierte Beziehung entstanden ist.1 Die losen Verbindungen zwischen Mann, Frau und Kind im Naturzustand qualifizieren nicht als Familienbande. Aus den Gründen, die Rousseau für diese Mangelhaftigkeit angibt, lassen sich zwei Strukturmerkmale der Familie ableiten. Die Familie verlangt zum einen nach der Dauerhaftigkeit einer Beziehung. Das Bewusstsein von Dauer setzt Gewohnheit voraus. Dem Menschen im Naturzustand fehlt dieses Bewusstsein, und es kann sich bei ihm mangels eines gewohnheitsmäßigen Zusammenlebens nicht entwickeln. Zum anderen kann nur dann von Familie gesprochen werden, wenn der Andere als individuelles Gegenüber wahrgenommen wird, nicht als bloßer Funktionsträger. Rousseau spricht im Zusammenhang mit der Familie zwar nicht explizit von Präferenz, dennoch tritt hier das Prinzip zum Vorschein, das wir schon im Kontext des Begehrens kennengelernt haben: das Bevorzugen eines ganz speziellen Menschen vor allen anderen. Im Gegensatz zum homme naturel des Diskurses leben die frühen Menschen im Essai in Horden zusammen, die Rousseau als Familien bezeichnet. Bei genauer Betrachtung operiert er hier jedoch mit zwei verschiedenen Familien-Begriffen. Während der eine die vorgesellschaftliche inzestuöse Horde benennt, ist der andere deutlich mit der Vergesellschaftung des Menschen verknüpft und entspricht so dem Gebrauch des Begriffes im Diskurs. Die Gründung von Familien im strengen Sinne hängt auch im Essai mit der Sesshaftwerdung (vgl. EOL V 397) und dem »Ursprung der Gesellschaften und der Sprachen« (ebd.: 405) zusammen: »Dort formten sich die ersten Bande der Familien [...]« (ebd.). Die Inzestfamilie ist hingegen keine Familie im strengen Sinne. Zwar erfüllt sie das erste erwähnte Strukturmerkmal der Familie: Ihre Mitglieder leben dauerhaft zusammen und gewöhnen sich aneinander. »Die Kinder derselben Eltern wuchsen zusammen auf und fanden nach und nach Weisen, sich einander zu erklären [...]« (ebd.: 406). Das zweite Merkmal jedoch wird von der inzestuösen Horde ver-
1
Bradshaw leitet dagegen aus der Mutter-Kind-Beziehung im Naturzustand die soziale Natur der Frau ab und sieht darin den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Familie, vgl. Bradshaw 2002: 69f. Ich stimme mit Bradshaw überein, dass Rousseau die Frau immer schon als gesellschaftliches und gespaltenes Wesen konzipiert, würde aber bestreiten, dass das Weibchen im Naturzustand als Frau im rousseauschen Sinne gelten kann. Kernpunkt der weiblichen Gesellschaftlichkeit ist meines Erachtens außerdem nicht, wie Bradshaw annimmt, die durch die natürliche Tatsache der Mutterschaft gegebene care-Affinität der Frau, sondern ihr (alles andere als natürliches) Begehren.
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fehlt; von einer emotionalen Bindung zwischen individualisierten Partnern lässt sich angesichts der vorreflexiven Dumpfheit der ersten Menschen kaum sprechen. Interessant ist, wie der Essai erklärt, warum den ersten Menschen die Erkenntnis des Anderen als personales Gegenüber fehlt: Gerade die Gewohnheit, die immergleiche Umgebung, verhindert die Entwicklung des Reflexionsvermögens und der Präferenz. »Die Reflexion entsteht aus dem Vergleich von Vorstellungen, und es ist die Vielzahl an Vorstellungen, die dazu führt, sie zu vergleichen. Wer nur einen einzigen Gegenstand sieht, hat gar keinen Vergleich anzustellen. Wer nur eine kleine Zahl davon sieht, und immerzu dieselben seit seiner Kindheit, vergleicht sie gar nicht mehr, weil die Gewohnheit, sie zu sehen, ihm die nötige Aufmerksamkeit nimmt, sie zu untersuchen [...]« (ebd.: 396).
Der Diskurs legt den Schluss nahe, dass nur durch gewohnheitsmäßigen Umgang personalisierte Beziehungen entstehen. Der Essai scheint hingegen Gewohnheit und Bevorzugung gegeneinander auszuspielen: Weil die ersten Menschen das eine im Übermaß haben, können sie das andere nicht entwickeln – »die Gewohnheit nahm die Stelle der Präferenz ein« (ebd.: 406). Nur auf den ersten Blick handelt es sich um einen Widerspruch. Denn Gewohnheit ist nicht gleich Gewohnheit. Wesentliches Merkmal der Ur-Familie im Essai ist der Inzest – er steht für die vorgesellschaftliche Selbstbezüglichkeit der ursprünglichen Menschen (vgl. Zerilli 1994: 23f.). Der homme naturel im Diskurs ist mit sich selbst allein, die ersten Menschen im Essai sind allein mit ihren engsten Blutsverwandten. Beiden fehlt so die Möglichkeit, Vergleiche anzustellen und damit Urteilsvermögen und Vorlieben zu entwickeln. Die richtige Familie muss dagegen exogam sein (vgl. Kuster 2005: 60). Erst die Exogamie weitet den Horizont über den Kreis des Eigenen hinaus und lenkt den Blick auf das, was fremd ist: Sie eröffnet die Möglichkeit, »das Begehren auf ein entferntes, unvertrautes und prekäres Objekt zu richten« (ebd.: 63). Die Konfrontation mit dem Fremden durchbricht die Selbstbezüglichkeit und weckt das Empfindungsvermögen des Menschen, »und so führt uns das, was uns fremd ist, zur Untersuchung dessen, was uns berührt« (EOL V 396). Unter der Voraussetzung der Exogamie sind Gewohnheit und Präferenz keine Widersprüche. In den dörflichen Festen der société naissante spielt sich gleichsam eine Gewöhnung an das Fremde ab: »Eine dauerhafte Nachbarschaft kann nicht verfehlen, schließlich irgendeine Verbindung zwischen verschiedenen Familien zu stiften. [...] Man gewöhnt sich daran, verschiedene Gegenstände zu betrachten und Vergleiche anzustellen [...]« (DI III 169).
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Rousseau lässt die Familie mit der Sesshaftwerdung entstehen: Die Menschen geben ihr unstetes Leben in den Wäldern auf und bauen Hütten. Diese erste Revolution der Menschheitsgeschichte führt unmittelbar zur »Gründung« und »Unterscheidung« (ebd.: 167) von Familien. Die Einrichtung fester Behausungen ermöglicht erstmals das beständige Zusammenleben unter einem gemeinsamen Dach. So kann sich nun auch das Bewusstsein von Dauer entwickeln, das den Menschen des Naturzustandes so fremd blieb (vgl. Radica 2012: 134). Die Gewohnheit des vertrauten Umgangs lässt darüber hinaus die ersten familiären Gefühle aufkeimen: Erstmals entstehen emotionale Bindungen zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern. »Die ersten Entwicklungen des Herzens waren das Ergebnis einer neuen Situation, welche Ehemänner und Frauen, Eltern und Kinder in einer gemeinsamen Behausung vereinte; die Gewohnheit zusammenzuleben ließ die süßesten Gefühle entstehen, die den Menschen bekannt sind, die eheliche Liebe [amour conjugal] und die väterliche Liebe [amour Paternel].« (DI III 168)
Die wahllosen und flüchtigen Verbindungen des Naturzustandes sind nun durch stabile und individualisierte Beziehungen ersetzt. Das Verhältnis der Gatten zueinander ist vom amour conjugal getragen, zwischen Eltern und Kind besteht eine dauerhafte Bindung. Insbesondere die Beziehung zwischen Vater und Kind wird durch das Zusammenleben überhaupt erst möglich gemacht. Erst jetzt erhält das Konzept der Vaterschaft Bedeutung. Die Hütte dient als Ort, der die zuvor verstreut lebenden Menschen dauerhaft vereint und zugleich absondert – von der natürlichen Umgebung, aber auch von all denen, die nicht Teil der Familie sind. So entsteht eine erste »Trennlinie zwischen Innen und Außen« (Kuster 2005: 54), eine Grenze, die einen inneren Bereich des Vertrauten und Eigenen absteckt. In den primitiven Behausungen aus Reisig und Lehm nimmt zum ersten Mal Gestalt an, was beinahe zum Synonym für die Familie werden wird: das Private. Der geschützte Bereich der eigenen vier Wände gilt Rousseau als »eine Art von Eigentum« (DI III 167): Nicht das auf Arbeitsteilung beruhende Privateigentum der bürgerlichen Gesellschaft ist gemeint, sondern die Sphäre des Privaten als abgegrenzter, eigener Bereich (vgl. Kuster 2005: 55).2
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Für diesen Begriff des Eigentums vgl. Arendt 2008: 76f. Rousseau verwendet den Begriff des Eigentums in der Regel anders, weshalb er hier auch nur von ›einer Art von Eigentum‹ spricht.
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Hier entfalten sich nun auch die zarten Bande der innigen Verbundenheit: »Jede Familie wurde zu einer kleinen Gesellschaft, die umso inniger vereint war, als die einzigen Bande die gegenseitige Zuneigung und die Freiheit waren [...]« (DI III 168; vgl. Kuster 2005: 54f.). Die Familie wird weder durch gemeinsame Bedürfnisse noch durch das Begehren zusammengehalten: Sie gründet sich allein auf Zuneigung und Freiheit – auf den Einklang einander zugetaner Herzen. Rousseau zeichnet die Familie bereits an ihrem Ursprung als eine Gemeinschaft des Intimen. Mit der Familie verändert sich das Geschlechterverhältnis. Aus den im Prinzip geschlechtlich nicht differenzierten Männchen und Weibchen des Naturzustandes werden Mann und Frau: »[U]nd damals kam der erste Unterschied in der Lebensweise der beiden Geschlechter auf, die bis dahin nur eine Lebensweise gehabt hatten.« (DI III 168; vgl. Zerilli 1994: 27) In diesen ersten Unterschieden spiegelt sich bereits die spätere Geschlechterordnung: »Die Frauen wurden häuslicher und gewöhnten sich daran, auf die Hütte und die Kinder aufzupassen, während der Mann den gemeinsamen Lebensunterhalt suchen ging.« (DI III 168) Ohne weitere Erläuterung führt Rousseau hier die zurückgezogene, auf das Private beschränkte Lebensweise der Frau ein, die er andernorts aus der weiblichen Scham ableitet. Eigentümlich grundlos erscheint die geschlechtliche Differenzierung der Lebensweisen an dieser Stelle.3 Wohl nicht zufällig: Eine der rousseauschen Geschlechterlogik angemessene Begründung müsste auf die Scham und damit auf die Dynamik des Begehrens eingehen. Ein Thema, das an dieser Stelle offenbar unpassend ist – warum, wird sich im Folgenden herausstellen. Rousseau lässt Familie und Gesellschaft im selben Augenblick der Geschichte entstehen. Der Diskurs streift nach Sesshaftwerdung und Familienbildung in rascher Folge alle Elemente der ersten Vergesellschaftungsstufe: Sprache, Nation, Begehren. Das Verhältnis zwischen Entstehung der Familie und Entstehung der Gesellschaft stellt sich jedoch nicht ganz eindeutig dar: Ist die Familie Ausgangspunkt oder vielmehr Folge der société naissante? Kann sie als »erste gesellschaftliche Institution, ja die am stärksten vergesellschaftende Institution überhaupt« (Radica 2012: 147) gelten, oder entzieht sie sich der Dynamik des Vergesellschaftungsprozesses (vgl. Kuster 2012: 152)? Diese Fragen interessie-
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Angesichts der fehlenden Begründung ist es wenig verwunderlich, dass sich Rousseau an dieser Stelle den Vorwurf feministischer Interpret_innen einhandelt, inkonsistent zu argumentieren: Gleichsam unter der Hand werde die geschlechtliche Arbeitsteilung eingeführt und damit der Grundstein für die Abhängigkeit und Ungleichheit der Frau gelegt (vgl. Okin 1979: 112f.; Coole 1993: 82f.). Für eine differenzierte Analyse und eine Richtigstellung dieser Interpretation vgl. Kuster 2005: 74-80.
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ren in unserem Zusammenhang insbesondere deshalb, weil damit zugleich das Verhältnis der Familie zum Signum des Gesellschaftlichen par excellence, dem Begehren, auf dem Prüfstand steht. Wie der Blick auf den Essai deutlich gemacht hat, ist die richtige Familie exogam – die inzestuös zusammenlebende Gruppe von Blutsverwandten gilt nicht als solche. Familie gibt es also nur im Plural: Ihre Gründung setzt zugleich die Unterscheidung und den Austausch zwischen verschiedenen Familien voraus. Das notwendige Gegenstück zur entstehenden Privatheit ist daher die erste Form der Öffentlichkeit, wie sie in Diskurs und Essai beschrieben wird: das Aufeinandertreffen der jungen Männer und Frauen verschiedener Familien bei Gesang und Tanz. Von der naturzuständlichen Inzestfamilie gehen hingegen keinerlei Impulse zur Vergesellschaftung aus; sie ist auch keine Vorform der Familie in dem Sinne, dass sich diese notwendig aus jener entwickeln müsste (vgl. ebd.: 64). Damit wird klar: Die Familie kann nicht der Anfangspunkt der Vergesellschaftung sein, auch wenn die Erzählchronologie des Diskurses diesen Eindruck erweckt.4 Vielmehr setzt ihre Gründung bereits Gesellschaftlichkeit voraus. Das heißt aber auch: Die Familie ist nicht denkbar ohne das Begehren. Der Essai lässt denn auch beides in derselben Szene entspringen, in dem Fest am Brunnen: »Dort formten sich die ersten Bande der Familien; dort fanden die ersten Begegnungen der beiden Geschlechter statt.« (EOL V 405) Nicht nur der Ursprung der Sprachen ist in den Leidenschaften zu suchen, Sprache und Familie sind gleichursprünglich. Das Begehren bildet gleichermaßen die Grundlage einer allgemeinen Sprachordnung wie einer allgemeinen Verwandtschaftsordnung; durch Sprache und Exogamie etabliert sich der Gesellschaftszusammenhang.5 Auch der Diskurs zeichnet in der Szene des ursprünglichen Festes den Zusammenhang zwischen Sprache, Begehren und Gesellschaft. Die Familie hingegen ist aus diesem Zusammenhang gewissermaßen ausgelagert: Rousseau zieht sie chronologisch nach vorne, macht ihre Entstehung zur eigenen Episode innerhalb der Erzählung. In dieser Episode wird das Begehren mit keinem Wort erwähnt – nicht einmal, um das plötzliche Auftauchen der Geschlechterdifferenz zu erklären. Damit trennt Rousseau zwei Phänomene voneinander, die der Logik der Exogamie folgend eigentlich eine Einheit bilden: das Zusammenleben in der Familie und das geschlechtliche Begehren. Fast scheint es, als bestehe überhaupt keine Verbindung zwischen dem friedlichen amour conjugal und der rasenden
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Radica 2012 erliegt diesem Fehlschluss, da sie nur die Familie im Diskurs, nicht aber im Essai betrachtet.
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Lévi-Strauss weist darauf hin, dass Sprache und Exogamie das gleiche Funktionsmuster ausbilden, vgl. Lévi-Strauss 1981: 658-662. Vgl. dazu auch Zerilli 1994: 24f.
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Liebesleidenschaft. Warum diese merkwürdige Form der Darstellung? Der Essai, der Familie und Begehren in einem Atemzug nennt, schildert die Begegnung der Geschlechter am Brunnen ganz im Zeichen des süßen Zaubers der Liebe. Nicht um das drohende Verhängnis der Vergesellschaftung geht es, sondern um die Geburt der Sprache aus den ersten Feuern der Liebe. Nur im Diskurs mündet die Szene des dörflichen Festes unmittelbar in eine Analyse der gesellschaftlichen Abwärtsdynamik. Hier liegt der Akzent auf der unheilvollen Logik des amour propre, die dem Begehren von Anfang an eingeschrieben ist (vgl. Kuster 2005: 64). Die Familie bleibt von dieser Logik offenbar unberührt. Die Ambivalenz, die der société naissante innewohnt, scheint sie nicht zu betreffen. Kuster erklärt die verdrehte Erzählchronologie des Diskurses daher folgendermaßen: »Die Tatsache, daß die Familie ›vor‹ der Gesellschaft rangiert[,] bedeutet, daß allein in der Familie eine Form des sozialen Miteinander möglich ist, die von der Grundstruktur der Gesellschaftlichkeit, dem amour-propre[,] unberührt bleibt.« (Ebd.: 152, Herv. i.O.) Die Familie wird so als Gemeinschaftsform ohne Spaltung, ohne die Ambivalenz des Gesellschaftlichen präsentiert. Obwohl sie bereits Folge der Vergesellschaftung ist, hat sie an deren Verfallsgeschichte keinen Anteil. Zwar trägt das Begehren den Keim des Verfalls bereits in die société naissante – die Familie ist davon jedoch scheinbar nicht infiziert. Das Begehren als Signum des gesellschaftlichen Verhängnisses – die Familie als unschuldige Form des Zusammenlebens. Gibt es überhaupt trennscharfe Unterschiede zwischen den beiden Konzepten, die eine solche Gegenüberstellung rechtfertigen? Betrachtet man die Strukturmerkmale der Familie in Nahaufnahme, wird die Abgrenzung zum Begehren schwer. Auch familiäre Bindungen beruhen auf Präferenz: Sie fixieren das Verlangen auf ein bestimmtes Objekt. Damit knüpfen auch amour conjugal und amour paternel zwischen den Menschen soziale Bande, die ihre natürliche Unabhängigkeit einschränken. Freilich entstehen die Beziehungen in der Familie durch die süße Gewohnheit des Zusammenlebens, während sich das Begehren gerade auf das ferne, unerreichbare Objekt richtet – vermittelt durch die Einbildungskraft. Der vermeintlich klare Gegensatz verschwimmt jedoch bei genauem Hinsehen. Auch in der Genese des Begehrens spielt die Gewohnheit eine unübersehbare Rolle (vgl. DI III 169; EOL V 405f.). Umgekehrt lässt sich erst dann von Familie sprechen, wenn die Einbildungskraft des Menschen erwacht und die dumpfe Eintönigkeit der inzestuösen Horde durchbrochen ist. Die Parallelen kommen nicht von ungefähr: Sowohl die Familie als auch das Begehren stiften die ersten sozialen Beziehungen – es geht jeweils um die Geburt des Menschen als gesellschaftliches Wesen. Dennoch stellt Rousseau dieses Gesellschaftlichwerden in sehr verschiedene Kontexte. Eine sichtbare Demarkation bildet die bereits erwähnte Grenze zwi-
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schen Innen und Außen, zwischen Privat und Öffentlich. Die familiären Beziehungen entfalten sich in einem inneren Bezirk, innerhalb der Grenzen des Privaten. Das Begehren muss diese Grenzen notwendig überschreiten. Es entfaltet sich außerhalb des häuslichen Bereichs, in einem ersten Raum des Öffentlichen – »vor den Hütten oder rund um einen großen Baum« (DI III 169).6 Die räumliche Dichotomie setzt sich in einer seelischen fort: Die petite société der Familie beruht allein auf individueller Vertrautheit und Zuneigung; die société naissante kennt dagegen bereits die gesellschaftliche Wertschätzung, die sich über die öffentliche Meinung vermittelt. Die Logik der sozialen Anerkennung verlangt mehr nach dem Scheinen als dem Sein – im Gegensatz zu den unvermittelten Gefühlsbeziehungen der Familie, die authentisches Selbstsein erlauben. Verinnerlichung, Unmittelbarkeit der Beziehungen, Authentizität: Diese Merkmale kennzeichnen exklusiv die Gemeinschaft der Familie – als deren differentia specifica damit das Intime umrissen ist. Nur die Familie lässt den Menschen zugleich gesellschaftlich werden und bei sich selbst bleiben. In der intimen Gemeinschaft ist die Entfremdungslogik, die der Vergesellschaftung innewohnt, aufgehoben (vgl. Kuster 2005: 183). So werden Intimität und Begehren zu Gegenspielern. Steht dieses für die Spaltung des Menschen im Prozess der Vergesellschaftung, ermöglicht jene die Einheit des Menschen mit sich selbst – trotz des Lebens in Gemeinschaft. Damit erweist sich das Begehren als potentielle Bedrohung für die intime Gemeinschaft. Die Familie muss davor behütet werden, damit sich Intimität ungehindert entfalten kann. Vor diesem Hintergrund nimmt Rousseau im Essai eine höchst bemerkenswerte Umdeutung des Inzestverbots vor. In einer Fußnote zur inzestuösen Horde betont er nicht, wie man erwarten könnte, die gesellschaftsstiftende Rolle der Exogamie, um das Inzesttabu zu begründen. Vielmehr erscheint es Rousseau als notwendig, um den vertrauten Umgang der Geschlechter in der Familie vor den Gefahren des Begehrens zu schützen: »Aufgrund der Vertraulichkeit, die der häusliche Umgang notwendigerweise zwischen den beiden Geschlechtern stiftet, gäbe es in dem Augenblick, in dem ein so heiliges Gesetz aufhörte, zum Herzen zu sprechen und die Sinne zu beeindrucken, keine Anständigkeit mehr unter den Menschen, und die entsetzlichsten Sitten würden bald zur Zerstörung des Menschengeschlechts führen.« (EOL V 406)
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Der Baum als Markierung des öffentlichen Raumes ist ein wiederkehrendes Motiv bei Rousseau, vgl. CS III 437, EOL V 406 und in stilisierter Form in LdA V 115. Mehr dazu in II 2.3.
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Auch das Regime einer strikten Geschlechtertrennung im häuslichen Bereich, das Rousseau in der Nouvelle Héloïse für die Gemeinschaft von Clarens imaginiert, dient diesem Zweck (vgl. Julie II 449f.). Clarens erscheint auf den ersten Blick als ideale Hausgemeinschaft, in der sich Intimität vollständig ohne Begehren verwirklicht. Die Beziehung zwischen Julie und Wolmar gründet gerade nicht auf leidenschaftlicher Liebe, sondern auf freundschaftlicher Zuneigung. Ehe ohne Liebe als Ideal? Julie versucht, dies St. Preux nahezulegen: »Was mich lange Zeit getäuscht hat und Euch vielleicht immer noch täuscht, ist der Gedanke, die Liebe sei notwendig für eine glückliche Ehe. Mein Freund, das ist ein Irrtum; Rechtschaffenheit, Tugend, bestimmte Übereinstimmungen, weniger des Standes oder des Alters als des Charakters und des Temperaments, reichen zwischen zwei Gatten aus; was gar nicht daran hindert, dass aus dieser Vereinigung eine sehr zärtliche Zuneigung entsteht, die zwar nicht gerade Liebe ist, aber dafür nicht weniger süß und nur umso beständiger als diese.« (Ebd.: 372; vgl. Kuster 2005: 173)
Das Opfer, das die tragische Romanheldin Julie auf sich nimmt, entspricht jedoch nicht dem, was Rousseau für den Normalfall einer glücklichen Ehe vorsieht: Zu deutlich fällt an anderer Stelle sein Plädoyer für die Liebesheirat aus (vgl. Emile IV 764f.; LdA V 119). Es hieße das Ideal von Clarens misszuverstehen, wollte man aus der erzwungenen Ehe zwischen Julie und Wolmar schließen, dass Rousseau generell die strikte Trennung von Liebesleidenschaft und familiärer Intimität vertritt. Tatsächlich ist das Verhältnis komplexer: Das Begehren ist paradoxerweise nicht nur latente Gefährdung, sondern auch notwendige Voraussetzung der intimen Gemeinschaft. Denn Intimität kann nur dort gedeihen, wo das Begehren durch Tugend überwunden wird. Die Überwindung des Begehrens als Voraussetzung der tugendhaften Ehe ist das zentrale Motiv bei Emile und Sophie wie auch bei Julie. Emile wird Meister seiner Leidenschaften, indem er einen Vertrag schließt und sich der erotischen Herrschaft Sophies unterwirft. Es liegt an Sophie, das Begehren in der Ehe zu regulieren und aufrechtzuerhalten. Aller weiblichen Kunst zum Trotz ist die eheliche Leidenschaft jedoch mit einem Verfallsdatum versehen. Wenn das Feuer der Liebe nachlässt, bleibt die intime Vertrautheit der Eheleute übrig: »Aber wenn die Liebe lange Zeit gewährt hat, füllt eine süße Gewohnheit ihre Leere, und der Reiz des Vertrauens folgt auf die Aufwallungen der Leidenschaft. [...] Wenn Ihr aufhören werdet, Emiles Liebhaberin zu sein, werdet Ihr seine Frau und seine Freundin sein; Ihr werdet die Mutter seiner Kinder sein.« (Emile IV
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866) Intimität wird hier zum dauerhaften, stabilen Ersatz des anfänglichen Begehrens. Auch Julie wird erst zum Mittelpunkt der intimen Gemeinschaft von Clarens, nachdem sie ihre Leidenschaft bezwungen hat. Der entscheidende Wendepunkt ihres Lebens ist die Eheschließung mit Wolmar. Vor dem Traualtar durchläuft sie eine sehr bemerkenswerte Veränderung – eine Läuterung im Sinne der Tugend, eine Befreiung von den Ketten der Leidenschaft. In Julies emphatischer Beschreibung dieses Moments hallen Formulierungen aus dem Contrat social wider: »Wie ist dieser glückliche Wandel zustande gekommen? Ich weiß es nicht.« (Julie II 364)7 Von ferne klingt auch hier der Gedanke des Vertrages an: Julie verspricht in einer Art Vertragsformel, sich aus eigenem Willen dem Willen Gottes zu unterwerfen, der sie zu Keuschheit und Tugend verpflichtet.8 Analog zur Struktur des Emile hat also auch die intime Gemeinschaft von Clarens eine Vorgeschichte, in der das Begehren eine Hauptrolle spielt. Erst dessen Überwindung im Vertragsschluss lässt die familiäre Intimität entstehen. Am Ende sticht ins Auge, wie paradox Rousseau auch die Familie zwischen Natur und Gesellschaft verortet: Der Diskurs siedelt Familie und häusliche Intimität noch ganz an der Schwelle des Naturzustandes an, fast noch vor Beginn der Vergesellschaftung. Mit Blick auf die Familien von Emile und Julie wird jedoch deutlich, dass Intimität ein höchst voraussetzungsreiches Konzept ist. Nichts weniger als natürlich, krönt sie eine hochkomplexe Geschlechterordnung, die mittels vollendeter Kunst den Anschein des Natürlichen erwecken soll.
7
Zur Bedeutung der Formel je l’ignore im Kontext der rousseauschen Rechtstheorie vgl. Herb 2012a.
8
Zur Parallele zwischen Julies Versprechen und Emiles Vertrag sowie dem Gesellschaftsvertrag ausführlich in II 2.2.
Zusammenfassung
»Wollt ihr immer gut geleitet sein? Folgt immer den Hinweisen der Natur. Alles, was das Geschlecht charakterisiert, muss als von ihr eingerichtet geachtet werden.« (Emile IV 700) Bei einer zweiten Lektüre dieses Satzes stolpert man unweigerlich über die eigentümliche Formulierung. Rousseau sagt nicht: Alles, was das Geschlecht charakterisiert, ist von der Natur eingerichtet. Er sagt: Alles, was das Geschlecht charakterisiert, muss als von der Natur eingerichtet geachtet werden. In diesem kleinen Unterschied liegt, wie die Untersuchung deutlich gemacht hat, der Schlüssel zum Verständnis von Rousseaus Geschlechterordnung. Plumpen Essentialismus kann man Rousseau nicht zum Vorwurf machen. Nur bei oberflächlichem Hinsehen scheint es, als bilde die Geschlechterordnung die Ordnung der Natur ab. Rousseau vertritt aber auch keinen klassischen Konstruktivismus: Geschlecht und Geschlechterordnung verhalten sich zueinander nicht wie Natur und Kultur, wie roh und gekocht.1 Seine Denkwege zeichnen vielmehr ein komplexes Muster (vgl. Tabelle 1). Geschlechtlichkeit an sich gehört nicht zur natürlichen Ordnung – der homme naturel kennt nur Triebbefriedigung und Fortpflanzung in ihrer elementarsten Form. Erst der vergesellschaftete Mensch wird zum Geschlechtswesen: zum begehrenden Wesen, zu Mann und Frau, zu Vater und Mutter. Die Geschlechterordnung setzt diesen Weg in zwei gegensätzliche Richtungen fort: Einerseits ist sie noch künstlicher, noch weiter vom natürlichen Ausgangspunkt entfernt. Um sie zu etablieren, braucht es einen zusätzlichen Schritt: den Vertragsschluss. Sowohl Emile als auch Julie machen eine bemerkenswerte Veränderung durch; sie müssen sich in einem bewussten Akt der freiwilligen Unterwerfung von den Fesseln ihres alten Ich befreien. Im Kontext des politischen Vertrages wird Rousseau hier unmissverständlich von der Denaturierung des Menschen sprechen. Andererseits erscheint die Ge-
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Das wäre die Position klassischer feministischer Theorien im Gefolge von Beauvoir, vor allem ist hier Rubin 1975 mit ihrer These eines sex/gender-system zu nennen.
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schlechterordnung gleichsam als eine Rückkehr zur Natur, als Natur reloaded. Als Heilmittel gegen die Übel der Vergesellschaftung soll sie einen Zustand herstellen, in dem der Mensch fast wieder homme naturel sein kann: Er bekommt eine zweite Natur. Tabelle 1: Verortung der Geschlechterordnung zwischen Natur und Kultur Natur
Kultur
keine Geschlechtlichkeit
Vergesellschaftung
Geschlechterordnung
Vertrag
Geschlechtlichkeit
Quelle: eigene Darstellung
So erweist sich die Geschlechterordnung als zugleich natürlich und künstlich. In einem Zustand der Spaltung soll sie Einheit garantieren. Als geschlechtliches Wesen ist der Mensch bereits unwiderruflich aus der Ordnung der Natur herausgetreten. Nun gilt es, Geschlechtlichkeit so zu organisieren, dass eine neue, natur-äquivalente Ordnung entsteht. Die Geschlechterordnung wirkt so als Surrogat der natürlichen Einheit. Geschlechtlichkeit ist zunächst eng an die verhängnisvolle Dynamik der Vergesellschaftung gekoppelt. Die Spaltung des Menschen spiegelt sich in seinem geschlechtlichen Begehren. Das Begehren zerstört die Selbstgenügsamkeit des Menschen, macht ihn auf andere angewiesen und führt ihn in einen Abgrund aus Abhängigkeit, Inauthentizität und amour propre. Deutlich genug wird die unheilvolle Verbindung von Gesellschaftlichkeit und Begehren im Wesen der Frau: Das Weibliche steht für die soziale Existenz par excellence, für die Spaltung des Menschen im Zeichen des Begehrens. Die Geschlechterordnung soll die Spaltung überwinden und die Einheit bewahren, indem sie die Abwärtsdynamik der Gesellschaft und des Begehrens suspendiert. Der Weg zurück in den Naturzustand bleibt verschlossen, aber Geschlechtlichkeit kann und muss domestiziert werden. Das Begehren findet seinen ordnungsgemäßen Platz in der Ehe, wo es sorgfältig durch die Tugend begrenzt wird – zugleich stimuliert und reguliert durch die schamhafte Ehefrau. Der angemessene Ort der Frau ist das Private: An der Seite und im Dienst des Mannes verliert ihre Andersartigkeit den Schatten des Bedrohlichen. Eingehegt in eine Logik der Differenz lässt sich das Weibliche in den Dienst der Einheit stellen. Letztlich realisiert sich in der Familie eine Gemeinschaft, die vermeintlich ohne
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Spaltung auskommt: Die familiäre Intimität scheint der verderblichen Logik der Gesellschaft enthoben. Aber die Ordnung ist zerbrechlich: Sie ist eben nur ein künstlicher Ersatz für die natürliche Ordnung und muss das Ideal der Einheit stets um Haaresbreite verfehlen. Das Begehren lässt sich durch die Tugend eindämmen, aber nie gänzlich überwinden. Die Bedrohung durch das Weibliche ist nur gebannt, solange die Frauen die ihnen zugedachte Rolle einnehmen. Die Familie schließlich kann sich der Logik des Begehrens nur vordergründig entziehen, tatsächlich bleibt sie in dessen Bann. Die von der Geschlechterordnung versprochene Einheit bleibt prekär: Höchste Kunstfertigkeit ist notwendig, um sie aufrechtzuerhalten, und dennoch ist ihr Niedergang stets nur aufgeschoben.
II. Republik
Ob ein Monarch über Männer oder Frauen herrscht, kann ihm ziemlich gleichgültig sein, solange man ihm gehorcht; aber in einer Republik braucht man Männer. ROUSSEAU, LDA V 92
Republik, Natur und Gesellschaft
»Wer sich daran wagt, ein Volk zu errichten, muss sich in der Lage fühlen, sozusagen die menschliche Natur zu ändern; jedes Individuum, das von sich aus ein vollendetes und für sich bestehendes Ganzes ist, in den Teil eines größeren Ganzen zu verwandeln, von dem dieses Individuum gewissermaßen sein Leben und sein Sein empfängt; die Verfasstheit des Menschen zu entstellen, um sie zu stärken; eine partielle und moralische Existenz an die Stelle der physischen und unabhängigen Existenz zu setzen, die wir alle von der Natur erhalten haben.« (CS III 381)
Die Errichtung der Republik erfordert einen klaren Schnitt: Der Mensch bricht mit seiner Natur, der homme wird zum citoyen. Für das Politische erhebt Rousseau die Denaturierung zum Programm. Auf den ersten Blick verortet er damit Republik und Geschlechterordnung an entgegengesetzten Polen: Während die Geschlechterordnung unmittelbar von der Natur eingerichtet scheint, gründet die Republik auf einer radikalen Absage an die Natur. Bei näherer Betrachtung hat sich jedoch gezeigt, dass auch die Geschlechterordnung alles andere als ›natürlich‹ ist. Sie ist vielmehr der Versuch, die Übel der Vergesellschaftung mit gesellschaftlichen Mitteln zu bekämpfen – das künstliche Surrogat einer uneinholbaren Ordnung der Natur. In diesem Sinne erfüllen Republik und Geschlechterordnung eine analoge Funktion. Auch die Republik ist eine radikal gesellschaftliche Einrichtung, die die gesellschaftliche Spaltung überwinden soll. Der Bruch mit der Natur dient dazu, eine neue Einheit auf kollektiver Ebene zu schaffen, die der Einheit des natürlichen Zustandes nahekommt. Damit fügt sich Rousseaus politisches Ideal in dieselbe Bewegung zwischen Natur und Gesellschaft ein, die das vorangegangene Kapitel für die Geschlechterordnung nachgezeichnet hat. Bevor wir nun Republik und Geschlechterordnung in ihrem Zusammenhang betrachten, muss diese Bewegung auch für die Republik nachvollzogen werden.
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Rousseau erzählt die menschliche Geschichte als Verfallsgeschichte. Der Beginn der Vergesellschaftung liest sich wie eine Vertreibung aus dem Paradies: Die Harmonie, Ruhe und Selbstgenügsamkeit des Naturzustandes scheinen für immer verloren, sobald der Mensch zum gesellschaftlichen Menschen wird. Die Geschichte steuert unweigerlich auf ihre Perversion in der bürgerlichen Gesellschaft zu. Diesem Verhängnis stellt Rousseau zwei Ideale entgegen. Dem depravierten Menschen der Moderne steht auf der einen Seite der ›natürlich‹ erzogene Emile gegenüber, auf der anderen Seite der citoyen der Republik.1 Individuelles und politisches Ideal sind unvereinbar: Man muss wählen zwischen dem Menschen und dem Bürger (vgl. Emile IV 248).2 Emiles Erziehung ist ein Programm zur Renaturierung des Menschen; sie orientiert sich an seinen natürlichen Regungen und Antrieben. Demgegenüber steht das republikanische Programm der Denaturierung: Der Bürger muss alle natürlichen Gefühle hinter sich lassen, um sein Leben voll und ganz in den Dienst der Republik zu stellen (vgl. ebd.: 249f.). Der Versuch, beide Richtungen zugleich einzuschlagen, kann nicht gut gehen. Auf halbem Weg zwischen natürlichen Neigungen und gesellschaftlicher Orientierung manövriert sich der moderne Mensch in einen chronischen Zwiespalt. Weder taugt er zum Menschen noch zum Bürger. »Immer im Widerspruch zu sich selbst, immer zwischen seinen Neigungen und seinen Pflichten treibend, wird er niemals Mensch noch Bürger sein [...]. Er wird einer dieser zeitgenössischen Menschen sein; ein Franzose, ein Engländer, ein bourgeois; er wird nichts sein.« (Ebd.; vgl. Herb 1999: 194) Die Alternative Mensch/Bürger scheint auf den ersten Blick gleichbedeutend mit der Alternative Natur/Gesellschaft: Emile soll zum homme naturel werden, der Bürger zum totalen Gesellschaftswesen. Diese Dichotomie ist jedoch mit Vorsicht zu genießen. Ein Zurück zur Natur ist nach der Vergesellschaftung des Menschen nicht mehr möglich. Auch Emile wird nicht für den Naturzustand,
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Vgl. Derathé 1962: 214; Shklar 1969; Herb 1999: 192f. Neben diese beiden ›klassischen‹ Ideale wird im Verlauf von Teil II der Haushalt von Clarens aus der Nouvelle Héloïse als dritte Variante des Einheitsideals treten. Eine weitere Variante, die sich in Rousseaus autobiographischen Schriften finden lässt, bleibt in dieser Arbeit dagegen vollständig unberücksichtigt: die »persönliche und moralische Reform« (Starobinski 2003: 25) eines exzeptionellen Individuums, verkörpert in der Person von JeanJacques. Vgl. hierzu Starobinski 2003, insbesondere 56-100.
2
Vgl. Shklar 1969: 5; Derathé 1962: 217; Herb 1999: 193ff. Vgl. dagegen Kuster 2005: 15 und Fermon 1997: 19, die gerade in Rousseaus Familienideal ein Scharnier zwischen dem homme und dem citoyen ausmachen. Zur ausführlichen Auseinandersetzung mit dieser These vgl. II 2.4.
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sondern für ein Leben in Gesellschaft erzogen. Daher gilt es mit Shklar darauf hinzuweisen, dass es Rousseau nicht um die Wahl zwischen Natur und Gesellschaft geht, sondern um diejenige zwischen häuslicher und öffentlicher Erziehung – beides bewusste erzieherische Programme in einem gesellschaftlichen Kontext und somit alles andere als natürlich (vgl. Shklar 1969: 5). Erklärtes Ziel ist in beiden Fällen, den Menschen vor der unglücklichen Zwitterexistenz des bourgeois zu bewahren. Der Zerrissenheit des modernen Menschen wird jeweils die Einheit als Ideal gegenübergestellt: »Der natürliche Mensch ist sich selbst alles: Er ist die numerische Einheit, das absolute Ganze, das nur auf sich selbst oder seinesgleichen bezogen ist. Der bürgerliche Mensch ist nur ein Bruchteil, der sich auf den Nenner bezieht, und dessen Wert im Bezug auf das Ganze liegt, das der gesellschaftliche Körper ist. Die guten gesellschaftlichen Einrichtungen sind jene, die es am besten verstehen, den Menschen zu denaturieren, ihm sein absolutes Dasein zu nehmen, um ihm ein relatives zu geben, und das Ich auf die gemeinsame Einheit zu übertragen; in der Art, dass sich jeder Einzelne nicht mehr als Eines versteht, sondern als Teil der Einheit, und nur noch im Ganzen empfindungsfähig ist.« (Emile IV 249)
Für Emiles Erziehung steht der homme naturel Pate, der mit sich selbst eins ist. Die Erziehung zum Bürger formt dagegen eine Einheit auf kollektiver Ebene: Der Einzelne begreift sich nur in Bezug auf das Ganze der Republik. Beides sind Möglichkeiten, Einheit trotz Gesellschaft herzustellen: die Einheit des Individuums auf der einen Seite, die Einheit des Gemeinwesens auf der anderen. Dass man wählen muss zwischen Menschsein und Bürgersein, dass individuelles und kollektives Ideal unvereinbar sind, offenbart das Elend des vergesellschafteten Menschen (vgl. Shklar 1969: 5). Er ist ein unheilbar gespaltenes Wesen – hin- und hergerissen zwischen Ich und Wir. Die Versöhnung von Mensch und Bürger steht für den Traum einer unversehrten Existenz. Sie ist für Rousseau nur im Konjunktiv möglich: »Wenn sich vielleicht das doppelte Ziel, das man sich setzt, in einem einzigen zusammenfassen ließe, würde man, indem man die Widersprüche des Menschen beseitigte, ein großes Hindernis seines Glücks beseitigen.« (Emile IV 251) Der Emile soll die Möglichkeit einer solchen Existenz jenseits der menschlichen Widersprüche narrativ ausloten. Vielleicht, so die angedeutete Hoffnung, ersteht durch das Erziehungsprogramm ein neuer homme naturel, ein wirklich ungeteiltes Wesen, in dem selbst der Widerspruch zwischen Mensch und Bürger aufgehoben ist.
94 | E RSEHNTE EINHEIT , UNHEILBARE S PALTUNG – R EPUBLIK »Man müsste ihn, um das zu beurteilen, ganz ausgebildet sehen; man müsste seine Neigungen beobachtet, seine Fortschritte gesehen haben, seinem Weg gefolgt sein: Kurz gesagt, man müsste den natürlichen Menschen kennen. Ich glaube, man wird nach der Lektüre dieses Buches in diesen Untersuchungen einige Schritte vorangekommen sein.« (Ebd.)
Am Ende des Buches wird sich diese Hoffnung jedoch als vergeblich erweisen. Emile, der moderne homme naturel, findet seine Freiheit in sich selbst und im beschaulichen Landleben. Im Politischen ist sie für ihn nicht (mehr) zu haben – zum citoyen wird Emile nicht (vgl. ebd.: 855f.; Herb 1999: 196f; Herb/Taureck 2012).3 Damit bestätigt die Erzählung Rousseaus Resignation vor der Moderne: In der voll entfalteten bürgerlichen Gesellschaft ist die Republik nur noch eine nostalgische Erinnerung. »Die öffentliche Erziehung existiert nicht mehr, und kann nicht mehr existieren; denn wo es kein Vaterland mehr gibt, kann es keine Bürger mehr geben. Diese beiden Begriffe, Vaterland und Bürger, müssen aus den modernen Sprachen gestrichen werden.« (Emile IV 250) Von den beiden Idealen, die Rousseau entwirft, scheint nur noch eines umsetzbar: die Erziehung zum Menschen.4 Die Republik ist dagegen in der Moderne bereits zum Anachronismus geworden – zu weit ist die Verfallsgeschichte der Gesellschaft fortgeschritten (vgl. Herb 1999: 195ff.). Erziehungsprogramm und Republikideal setzen an unterschiedlichen Ebenen an, um dasselbe unlösbare Problem zu lösen: Wie lässt sich die Einheit des homme naturel, die mit der Vergesellschaftung des Menschen endgültig verloren gegangen ist, trotz der Vergesellschaftung bewahren? Die pädagogische Lösung besteht darin, einen Einzelnen zum freien Menschen zu erziehen. Die politische Lösung zielt darauf, ein freies Volk zu schaffen. Trotz der unterschiedlichen Ansatzpunkte fallen die strukturellen Parallelen zwischen beiden Lösungsstrategien auf. Kernstück ist in beiden Fällen das Motiv des Vertrags: Emiles Erziehung nimmt mit dem Gehorsamsversprechen an den Erzieher eine entscheidende Wendung; der Gesellschaftsvertrag begründet die Republik. Dabei ist der Zeitpunkt des Vertragsschlusses bedeutend. Der pädagogische Vertrag wird nach der
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Daran ändert auch der Rat des Erziehers nichts, Emile solle die Pflichten eines Bürgers erfüllen, wenn es von ihm verlangt werde. Emile wird auch in diesem Fall nicht zum Bürger, sondern bleibt ein Mensch, der (vorübergehend) die Funktion des Bürgers übernimmt (vgl. Emile IV 860).
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Wie wir später sehen werden (II 2.4), lässt sich aufgrund des Verfalls der Familie in der bürgerlichen Gesellschaft auch dieses Ideal nicht mehr verwirklichen.
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zweiten Geburt notwendig, nachdem der junge Emile nicht länger von der Gesellschaft isoliert in einem künstlichen Naturzustand gehalten werden kann. Er muss in der kurzen Phase der jugendlichen Unschuld geschlossen werden, in der Emiles soziale Gefühle zwar schon geweckt sind, er aber noch nicht in den Strudel der gesellschaftlichen Abhängigkeit geraten ist (vgl. Fetscher 1975: 90). Auch für den Gesellschaftsvertrag gibt es einen richtigen Zeitpunkt: Die Gründung einer Republik ist nur in der Jugend eines Volkes möglich (vgl. CS III 385; Baczko 1970: 390). Analog zur Jugend Emiles handelt es sich um die Phase nach der Vergesellschaftung, aber noch vor der rapiden Verfallsgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. In der Moderne ist es für die Republik zu spät: Das geschichtsphilosophische Verfallsdatum ist überschritten, die Unschuld der Anfänge kann nicht wiederhergestellt werden. Während in der Entwicklung des Individuums der entscheidende Moment noch abgepasst werden kann, ist die Entwicklung der Gesellschaft längst über diesen Punkt hinaus – die Republikgründung wird zum Ding der Unmöglichkeit (vgl. Derathé 1962: 218; Herb 1999: 195ff.). Zur rechten Zeit kann der Vertrag die Abwärtsdynamik der Vergesellschaftung jedoch unterbrechen. Bevor Emile den Verlockungen der zeitgenössischen Gesellschaft erliegen kann, lernt er mithilfe seines Gehorsamsversprechens, das Leben eines tugendhaftes Mannes zu führen und so der Existenz des bourgeois zu entkommen. Ebenso setzt der Gesellschaftsvertrag die Logik der fortschreitenden gesellschaftlichen Abhängigkeit zu einem frühen Zeitpunkt außer Kraft – noch bevor die bürgerliche Gesellschaft und die Ungleichheit unter den Menschen voll entfaltet sind. Tabelle 2: Rousseaus Ideale als Unterbrechung der gesellschaftlichen Verfallsgeschichte Naturzustand
Vergesellschaftung
Vertrag
Republik (politisches Ideal) Emile (individuelles Ideal) bürgerliche Gesellschaft bourgeois
Quelle: eigene Darstellung
Allerdings kann der Verfall auch durch die Republikgründung nur aufgeschoben werden, das Verhängnis der menschlichen Geschichte lässt sich nicht endgültig aufheben. So wie Emiles Lebensmodell letztlich scheitert, ist auch der Republik
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von vornherein ein Verfallsdatum eingeschrieben (vgl. CS III 424). »Both of Rousseau’s utopias are interruptions of the progress of inequality. [...] They forestall, they halt the normal course of history. [...] In his utopias history does briefly stop – until it begin[s] to roll over them as it sooner or later must.« (Shklar 1969: 10f.) Der Versuch, die gesellschaftliche Spaltung dauerhaft zu überwinden, ist zum Scheitern verurteilt – ob auf individueller oder auf politischer Ebene. Beide rousseauschen Ideale können der ursprünglichen Einheit des vorgesellschaftlichen Zustandes nur nahe kommen, sie können sie niemals einholen. Obwohl Rousseau die Republik als Programm der Denaturierung, die Erziehung Emiles hingegen als Programm der Renaturierung kennzeichnet, sind also beide Ideale in ähnlicher Weise zwischen Natur und Gesellschaft verortet. Der durch den Gesellschaftsvertrag markierte Bruch mit der menschlichen Natur entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ein Bruch mit der Logik der menschlichen Geschichte, die unaufhaltsam auf ihr Verderben zusteuert. Damit richtet sich die radikale Künstlichkeit der Republik gegen die Misere des gesellschaftlichen Menschen, dessen Zerrissenheit überwunden werden soll – indem die Einheit des Politischen an die Stelle der natürlichen Einheit des Menschen mit sich selbst tritt. Die Fragen, die Rousseau in Bezug auf die Republik umtreiben, ähneln nicht zufällig denen, die uns im ersten Teil bereits im Kontext der Geschlechterordnung beschäftigt haben. Im Emile wird der Zusammenhang zwischen pädagogischem Ideal und Geschlechterordnung explizit: Die zweite Geburt des Kindes als soziales Wesen fällt mit dem Erwachen erster sexueller Regungen zusammen; das Problem der Vergesellschaftung stellt sich hier also vorrangig als Problem des geschlechtlichen Begehrens. Entsprechend erweist sich das weitere Erziehungsprogramm in weiten Teilen als Erziehung zum richtigen Umgang mit Begehren und Geschlechtlichkeit und mündet schließlich in die Gründung der Familie. Wenn wir davon ausgehen, dass politisches und pädagogisches Ideal dasselbe Ziel verfolgen und parallel strukturiert sind, dann sollte sich zeigen lassen, dass die Geschlechterordnung auch für die Republik eine zentrale Rolle spielt. Dieser Zusammenhang muss jedoch erst noch systematisch bestimmt werden. Stellt sich das Problem des Begehrens für die Republik in ähnlicher Weise wie für Emile? Wenn ja, wie wird es hier bewältigt? Wie schreiben sich die Konzepte Männlichkeit und Weiblichkeit in das Politische ein? Welche Rolle spielt die Familie im Kontext der Republik? Gibt es eine spezifisch republikanische Form des Intimen? Dies sind die Fragen, die uns in den folgenden Kapiteln beschäftigen werden. Eine schnelle Beantwortung verbietet sich jedoch aus einem naheliegenden Grund: Rousseaus Republikideal sperrt sich gegen eine vereindeutigende Inter-
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pretation. Auch der Versuch, die verborgene Geschlechtermatrix der Republik aufzudecken, muss der Vielschichtigkeit Rechnung tragen, die Rousseaus politischem Ideal von jeher anhaftet. Deshalb werden wir im Folgenden die Bedeutungsschichten einzeln abtragen und die Republik nacheinander aus drei verschiedenen Perspektiven betrachten. Der erste Teil geht von der Idee des Rechts aus. Die Republik erscheint hier als Antwort auf die rechtstheoretische Frage nach der Legitimität staatlicher Herrschaft (II 1). Der Fokus verschiebt sich damit zunächst von der Geschichts- zur Rechtsphilosophie (vgl. Herb 1989: 120; Herb 2015: 167f.). Im zweiten Teil kehren wir mit dem Begriff der Tugend zurück zur Problematik der menschlichen Verfallsgeschichte. Indem sie sich als Tugendgemeinschaft konstituiert, kann die Republik die Logik der Vergesellschaftung außer Kraft setzen (II 2). Der dritte Teil betrachtet die Republik schließlich unter dem Vorzeichen der Einheit. Inwiefern versteht Rousseau sein politisches Ideal tatsächlich als Ideal einer bruchlosen Einheit, das in der Lage ist, die gesellschaftliche Spaltung zu überwinden (II 3)? Je nachdem, aus welchem Blickwinkel wir die Republik betrachten, wird sich auch ihr Verhältnis zur Geschlechterordnung verschieden darstellen.
1. Recht
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Die Republik bietet zunächst nicht weniger als die Antwort auf die berühmte Frage, die Rousseau sich in der Eingangspassage des Contrat social stellt: »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. [...] Was kann [diesen Wandel] rechtfertigen?« (CS III 351) Es handelt sich dabei um die grundlegende Frage der Rechtstheorie: Wie lässt sich Herrschaft angesichts der angeborenen Freiheit des Menschen legitimieren? Mit dieser Fragestellung befindet sich Rousseau mitten im rechtstheoretischen Diskurs des klassischen Kontraktualismus. Die bekannten Vorgänger, Hobbes und Locke, Grotius und Pufendorf, dienen ihm als Stichwortgeber ebenso wie als Gegenspieler, von denen es sich abzugrenzen gilt. In diesem theoretischen Kontext liefert die Republik die principes du droit politique, die Prinzipien rechtmäßiger staatlicher Ordnung. Es ist dieser Aspekt der rousseauschen Republik, den später Kant aufgreifen und systematisieren wird (vgl. Herb 1989: 209-212; Gebhardt 2012). Damit tritt die Republik im Contrat social zunächst als normatives Konzept in Erscheinung, das auch ganz unabhängig von der rousseauschen Geschichtsphilosophie betrachtet werden kann, als reine Idee der Rechtstheorie, als respublica noumenon (vgl. Herb/Ludwig 1994: 447-477; Herb 2000: 30). Rousseau verdeutlicht diese Perspektive schon in der Fragestellung auf unnachahmlich beiläufige Weise: »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. [...] Wie ist dieser Wandel zustande gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann ihn rechtfertigen? Ich glaube, diese Frage beantworten zu können.« (CS III 351) Die Republik liefert die Antwort auf die zweite Frage. Die erste Frage wird hingegen mit einem lapidaren ich weiß es nicht vom Tisch gefegt. Dabei handelt es sich, wohlgemerkt, um die Frage, die noch den Diskurs über Ungleichheit bestimmt hat: Wie konnte sich die natürliche Freiheit des Menschen im Laufe der Geschichte in gesellschaftliche Abhängigkeit verkehren? Jetzt geht es aber nicht
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mehr um Geschichtsphilosophie, sondern um Rechtstheorie: die Vereinbarkeit von Freiheit und Herrschaft, mithin die Legitimität von Herrschaft.1 Das vertragstheoretische Schema verlangt nach einem Naturzustand, aus dem heraus sich die Notwendigkeit des Vertragsschlusses systematisch begründen lässt. Der ursprüngliche Naturzustand aus dem Zweiten Diskurs scheidet für diese Aufgabe aus: Der homme naturel ist weit davon entfernt, einen Staat zu gründen. Das gilt es zu beachten, wenn im Kontext der rousseauschen Vertragstheorie vom Naturzustand die Rede ist. Es handelt sich dabei nicht um einen menschheitsgeschichtlichen Urzustand wie im Diskurs, sondern um die theoretische Annahme eines vorrechtlichen Zustandes (vgl. Herb 2000: 32-35). Mit einer detaillierten Beschreibung dieses Zustandes hält sich Rousseau nicht weiter auf. Ein Hinweis auf nicht näher bestimmte »Hindernisse« (CS III 360) genügt ihm, um die Unausweichlichkeit der gesellschaftlichen Vereinigung zu illustrieren. Zwischen den Zeilen lässt sich jedoch erkennen, worin das Problem des Naturzustandes liegt: Es handelt sich um einen Zustand der rechtlichen Unsicherheit, in dem jeder sein eigener Richter ist, da es keine übergeordnete Instanz gibt (vgl. ebd.: 361; Herb 1989: 151). Hier klingt der hobbessche Krieg aller gegen alle an – eine konfliktive Ausgangssituation, die zum exeundum aufruft (vgl. Hobbes, Lev. I 13; Bertram 2004: 73). Herrschaft ist also notwendig, aber wie sieht legitime Herrschaft aus? Die Eingangskapitel des Contrat social spielen zunächst verschiedene Antworten auf diese Frage durch, um deren Unangemessenheit zu erweisen. Herrschaft lässt sich nicht durch väterliche Autorität, durch die Natur oder durch das sogenannte Recht des Stärkeren begründen. Rechtmäßige staatliche Ordnung entsteht vielmehr nur durch »Vereinbarungen« (CS III 352, 355) – ein deutliches Bekenntnis zur Vertragstheorie. Dem Gedanken eines natürlichen Herrschaftsrechtes stellt Rousseau denn auch die natürliche Freiheit des Menschen entgegen: »Diese gemeinsame Freiheit ist eine Folge der Natur des Menschen. Sein erstes Gesetz ist, auf seine eigene Erhaltung bedacht zu sein, seine erste Sorge ist die, welche er sich selbst schuldet, und sobald er in das Alter der Vernunft eingetreten ist, ist er der einzige Richter über die geeigneten Mittel der Selbsterhaltung und wird so zu seinem eigenen Herrn.« (Ebd.: 352)
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Zum Wechsel von der geschichtsphilosophischen zur rechtstheoretischen Fragestellung, von der quaestio factis zur quaestio iuris vgl. Herb 1989: 120 und 248f. (Endnote); Herb 2000: 29; vgl. auch Kersting 1994: 149f. Zur Bedeutung des je l’ignore vgl. Herb 2012a.
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Damit sind die zentralen Koordinaten des vorstaatlichen Naturzustandes gesetzt: Die Selbsterhaltung ist Ziel und Pflicht des Menschen; über die dazu geeigneten Mittel urteilt er selbst. In diesem Sinne ist er unabhängig von der Sorge und Willkür anderer – unter der Voraussetzung der Vernunft. So buchstabiert Rousseau den vorrechtlichen Status des Menschen als einen der natürlichen Freiheit bzw. der Autonomie aus (vgl. Herb 1989: 119). Bis hierher noch ganz im Windschatten der kontraktualistischen Tradition, setzt Rousseau im nächsten Schritt markante eigene Akzente. Vertrag ist eben nicht gleich Vertrag: Rousseau erteilt allen Kontraktualismen eine Absage, die den Vertrag als Unterwerfungsvertrag konzipieren (vgl. Forschner 1977: 100f.; Kersting 1994: 152f.). Dem Tauschakt Freiheit gegen Sicherheit kann er nichts abgewinnen: »Auf seine Freiheit verzichten heißt, auf seine Eigenschaft als Mensch [qualité d’homme] zu verzichten, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten. [...] Ein solcher Verzicht ist mit der Natur des Menschen unvereinbar, und seinem Willen jede Freiheit nehmen heißt seinen Handlungen jede Sittlichkeit nehmen.« (CS III 356)
Die Sicherung der Selbsterhaltung rechtfertigt keinen Verzicht auf Freiheit: Damit fällt das Hobbessche Modell der Rechtsübertragung als Herrschaftsbegründung aus, es ist unvereinbar mit der Natur des Menschen. Während Freiheit und Selbsterhaltungspflicht zunächst noch im gleichen Atemzug genannt wurden, erhält die Freiheit als eigentliche qualité d’homme nun oberste Priorität. Damit erweitert Rousseau »das traditionelle Axiom der Selbsterhaltung [...] um das unverzichtbare Postulat der Freiheitswahrung« (Forschner 1977: 101; vgl. Herb 1989: 145). Diese Akzentverschiebung wird in Rousseaus Formulierung des problème fondamental besonders deutlich: »Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und die Güter jedes Mitglieds verteidigt und schützt, und durch die jeder, der sich mit allen vereinigt, dennoch nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.« (CS III 360)
Auch wenn als Ziel des Zusammenschlusses zunächst die Selbsterhaltung benannt wird, findet sich die entscheidende Herausforderung in dem Zusatz, dass jeder Einzelne nur sich selbst gehorchen und so frei wie zuvor bleiben soll. Die Freiheit, in deren Namen Rousseau zuvor die Vertragstheoretiker kritisierte, fungiert »nun positiv als oberstes legitmitätsstiftendes Kriterium« (Herb 1989: 144)
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der eigenen Vertragstheorie. Als eigentlicher Zweck staatlicher Herrschaft kristallisiert sich so nicht die hobbessche Existenzsicherung, sondern die Freiheitssicherung heraus (vgl. ebd.: 145; Forschner 1977: 97f.). Die Lösung des Problems ist der Gesellschaftsvertrag. Rousseaus Vertrag wird zwischen den Einzelnen abgeschlossen und besteht im Kern in der »vollständigen Entäußerung [aliénation totale] jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an die ganze Gemeinschaft« (CS III 360). Die Entäußerung muss vollständig sein: Jeder Rechtsvorbehalt beschwört den drohenden Rückfall in den Naturzustand herauf. Sie muss jeden in gleicher Weise betreffen, um für jeden eine gleiche Ausgangslage zu schaffen. Und schließlich werden die Rechte nicht, wie bei Hobbes, auf einen Dritten übertragen, sondern auf die Gemeinschaft selbst. Der totale Rechtsverzicht jedes Einzelnen zugunsten aller hebt jedes einseitige Abhängigkeitsverhältnis auf und macht alle Verpflichtungen vollständig wechselseitig (vgl. Herb 1989: 147f.). Die anspruchsvolle Forderung der Freiheitswahrung erfüllt sich so allein in der Struktur des Vertrages – »jeder gibt sich, indem er sich allen gibt, niemandem« (CS III 361). Die totale Entäußerung wird zum gewinnbringenden Geschäft: Jeder bekommt als Teil der Gemeinschaft zurück, was er als Einzelner gegeben hat. Die Formel des Vertrages lautet: »Jeder von uns stellt gemeinsam seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Führung des Gemeinwillens; und wir nehmen als Körper jedes Glied als vom Ganzen untrennbaren Teil auf.« (Ebd.: 361, Herv. i.O.) Durch diesen Akt des Zusammenschlusses entsteht die Republik als »moralischer und kollektiver Körper« (ebd.). Der Gesellschaftsvertrag enthält keine Autorisierung eines Dritten, schafft keinen Leviathan außerhalb der Vertragsgemeinschaft (vgl. Kersting 1994: 163ff.). Diese hobbessche Lösung hat Rousseau bereits als nicht mit der Freiheit des Menschen vereinbar ausgeschlossen. So wie der Einzelne seine Freiheit nicht aufgeben kann, ohne seine qualité d’homme zu verlieren, so kann auch ein Volk seine Souveränität nicht auf einen Dritten übertragen, ohne seine qualité de peuple zu verlieren (vgl. CS III 369; Kersting 1994: 173). Souverän ist daher in Rousseaus Republik einzig die volonté générale, der vereinigte Volkswille. Jeder ist zugleich Teil des Souveräns, das heißt Urheber der volonté générale, und Untertan, das heißt der volonté générale unterworfen: »[D]iese Begriffe des Untertans und des Souveräns sind identische Entsprechungen, deren Idee sich in dem einen Begriff des Bürgers zusammenfassen lässt.« (CS III 427) Diese Identität zwischen Souverän und Untertan denkt Rousseau konsequent zuende: Die volonté générale ist nicht nur unveräußerlich, sondern auch völlig unrepräsentierbar. Der vereinigte Volkswille kann nur durch das tatsächlich vereinigte Volk artiku-
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liert werden. Damit steht das Prinzip der Volkssouveränität bei Rousseau nicht im Konjunktiv.2 Rousseau räumt der durch den Vertrag entstandenen souveränen Gewalt des Volkes einen außerordentlichen Spielraum ein. Die Herrschaft des Gemeinwillens wird durch keine checks and balances gemäßigt, sie ist »unteilbar« (ebd.: 369). Rousseau differenziert zwischen Souverän und Regierung, zwischen gesetzgebender und ausführender Gewalt, aber letztere ist nicht mehr als ein abgeleiteter Ausfluss der Legislativgewalt (vgl. ebd.: 370, 395; Herb 1989: 169f.). Souverän ist einzig und allein der gesetzgebende Wille des Volkes. Dieser kann sich auch keine Selbstbeschränkung auferlegen: Dass sich der souveräne Wille an ein »Grundgesetz« (CS III 362) bindet, erscheint Rousseau selbstwidersprüchlich. Auch an den Rechten der Individuen findet die Souveränität keine Schranken: Die aliénation totale geschieht ohne jeden Vorbehalt. Zwar unterliegt nicht alles der Gesetzgebungshoheit des Staates, aber wo seine Kompetenz endet, entscheidet allein der Souverän (vgl. ebd.: 373). Anders als bei Locke steht über dem Gemeinwillen kein Gesetz der Natur, das als normgebende Instanz von außen die Grenzen der Souveränität festlegt. Rousseau kehrt sich – hierin um einiges radikaler als selbst Hobbes – von dem Gedanken einer naturrechtlichen Einhegung der Souveränität ab (vgl. Herb 1989: 186f.). Sein Souverän ist »ganz unumschränkt, ganz heilig, ganz unverletzbar« (CS III 375). Wie lässt sich angesichts einer solchen Machtfülle des Souveräns von Freiheit sprechen? Die Republik sichert die Freiheit des Einzelnen nicht durch äußere Einschränkungen der Staatsgewalt, sondern allein durch die innere Logik ihrer Konstruktion (vgl. Herb 1989: 188, 194f.; Kersting 1994: 166f., 175). Da der Souverän aus den Einzelnen besteht, kann er schlicht nichts beschließen, was den Einzelnen zuwiderläuft (vgl. CS III 363). Dieses Prinzip des volenti non fit iniuria greift aber nur unter einer strengen Bedingung: Der gesetzgebende Wille muss allgemein sein. Die volonté générale ist in einem doppelten Sinne allgemein – »sie muss von allen ausgehen, um für alle zu gelten« (ebd.: 373). Alle müssen an der Gesetzgebung beteiligt sein, und alle müssen durch die Gesetzgebung gleichermaßen betroffen sein. Unter dieser Bedingung sind alle Verpflichtungen vollkommen wechselseitig, »denn in dieser Einrichtung unterwirft sich jeder notwendigerweise den Bedingungen, die er den anderen auferlegt« (ebd.: 374). Jeder ist in gleicher Weise den Gesetzen unterworfen, die er mitbeschlossen hat.
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Bei Kant findet sich die Volkssouveränität im Konjunktiv im Ewigen Frieden (vgl. Kant, ZeF AA 350), allerdings nicht mehr in der Metaphysik der Sitten (vgl. Kant, RL AA 314). Vgl. Gebhardt 2012: 26f.
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In diesem Sinne gehorchen die Bürger der Republik tatsächlich nur sich selbst – die Gesetze sind nichts anderes als »Verzeichnisse unseres Willens« (ebd.: 379). Als solche schränken sie die Freiheit des Einzelnen nicht ein, vielmehr ermöglichen sie die Freiheit unter den allgemeinen Bedingungen der bürgerlichen Vereinigung. Hierin liegt schließlich die Lösung des problème fondamental: Der Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz ist Gehorsam gegen den eigenen Willen und damit nichts anderes als – Freiheit. Die einzig legitime Form der Herrschaft ist daher die Herrschaft des Gesetzes in der Republik: »Republik nenne ich also jeden Staat, der durch Gesetze regiert wird [...]. Jede legitime Regierung ist republikanisch [...]« (ebd.: 379f.). Die Bürger in Rousseaus Republik sind frei, weil sie unmittelbar an der Souveränität teilhaben. Sie sind niemandem verpflichtet außer dem Gesetz, an dessen Entstehen sie selbst beteiligt waren. Damit ist zugleich die Unabhängigkeit eines jeden von der nötigenden Willkür der anderen gegeben, da jeder nur dem Gesetz unterworfen ist und keine partikularen Abhängigkeiten zwischen den Bürgern mehr bestehen können (vgl. Herb 1989: 198f.). Notwendiges Korrelat der bürgerlichen Freiheit ist die rechtliche Gleichheit: Jeder nimmt gleichberechtigt an der Gesetzgebung teil, und jeder ist den Gesetzen in gleicher Weise unterworfen (vgl. CS III 374; Herb 1989: 197). Mit der Freiheit unter dem Gesetz geht selbstverständlich die Pflicht zum Gehorsam gegen das Gesetz einher. Staatliche Zwangsmaßnahmen zur Rechtsdurchsetzung tun der Freiheit daher keinen Abbruch, sondern machen sie vielmehr erst möglich. In diesem Sinne wird Rousseaus – oft missverstandene – Rede vom Zwang zur Freiheit verständlich: »Damit also der Gesellschaftsvertrag keine leere Formel sei, beinhaltet er stillschweigend jene Verpflichtung, die allein den anderen Kraft geben kann, nämlich dass, wer immer sich weigern wird, dem Gemeinwillen zu gehorchen, dazu vom ganzen Körper gezwungen werden wird: was nichts anderes heißt, als dass man ihn zwingen wird, frei zu sein [...]« (CS III 364).
Kant wird, weniger missverständlich, den staatlichen Zwang als »Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit« (Kant, RL AA 231) rechtfertigen.3 Im Zentrum der Freiheitsarchitektur der Republik steht die volonté générale, die einen eigentümlichen Doppelcharakter aufweist (vgl. Herb 1989: 200f.; Kuster 2005: 205): Einerseits lässt sich der Gemeinwille als vernunftrechtliche Norm
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Zu dieser Deutung des Zwangs zur Freiheit vgl. Herb 1989: 194; Herb/Ludwig 1993: 287. Die Parallele zu Kant folgt ebenfalls einem Hinweis von Karlfriedrich Herb.
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verstehen – als der ideale Punkt, an dem die Freiheit eines jeden mit der eines jeden anderen zusammenstimmen kann. So verstanden kann die volonté générale nichts anderes als das Wohl der Gemeinschaft und jedes Einzelnen wollen, sie ist »immer richtig« (CS III 371). Andererseits ist der Gemeinwille aber auch der tatsächliche, prozedural hervorgebrachte Volkswille. Dass beide Aspekte mitunter auseinanderfallen, ist Rousseau wohl bewusst. Seine Unterscheidung zwischen Gemein- und Gesamtwillen versucht dieser Differenz Rechnung zu tragen (vgl. ebd.; Herb 1989: 202ff.). Damit die realen Abstimmungsergebnisse tatsächlich mit der vernunftrechtlichen Norm übereinstimmen, kommt es letztlich auf das vernunftgemäße Abstimmungsverhalten des Einzelnen an. Der Bürger muss rational abwägen, was dem Gemeinwohl zuträglich ist, er darf sich nicht von seinen eigenen partikularen Interessen leiten lassen (vgl. CS III 441). Wenn die Einzelnen nicht »als Bürger« (ebd.: 363) entscheiden, sondern ihrem Sonderwillen folgen, läuft die rein prozeduralistische Bestimmung des Gemeinwillens ins Leere (vgl. Herb 1989: 206f.). Aber wie kann dem Auseinanderfallen von volonté de tous und volonté générale ein Riegel vorgeschoben werden? Wie kann der Einzelne dazu gebracht werden, seine eigenen Interessen hintanzustellen? Hier kommt Rousseaus vertragstheoretische Konstruktion an ihre Grenzen. Beruht die Republik etwa auf Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen kann? Eine widerspruchsfreie Formulierung der principes du droit politique ist nur möglich, wenn man sie als reines Vernunftideal, als regulative Idee auffasst. Diesen Weg hat Kant beschritten (vgl. ebd.: 210; Gebhardt 2012: 28f.). Rousseaus eigener Ehrgeiz, die Rechtsprinzipien konkret anzuwenden, führt zum Bruch mit dem rechtstheoretischen Paradigma. Mit dem Gedanken der Tugend begibt sich Rousseau auf Gelände, das der normativen Rechtstheorie fremd ist. Bevor wir ihm dorthin folgen, müssen wir jedoch zunächst klären, welche Rolle das Thema Geschlecht in rechtstheoretischer Hinsicht spielt.
1.2 D IE
PATRIARCHALE
M ATRIX
Zugegeben: Der Contrat social, Rousseaus politiktheoretisches Hauptwerk, schweigt hartnäckig zum Thema Geschlecht. Dieses Schweigen ist von Interpret_innen der rousseauschen Republik lange Zeit zum Anlass genommen worden, dieses Thema ebenso hartnäckig zu ignorieren. Muss man denn überhaupt einen Zusammenhang sehen zwischen den principes du droit politique und den launigen Bemerkungen, die Rousseau an anderen Stellen seines Werkes über Frauen macht?
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Zumindest in einer Hinsicht ist der Impuls, die politische Theorie unabhängig von der Geschlechtertheorie verstehen zu wollen, nicht ganz falsch. Als rein normatives Konzept der Rechtstheorie bleibt die Republik tatsächlich weitgehend unberührt von der Logik der rousseauschen Geschlechterordnung. Allerdings darf zweierlei nicht übersehen werden: Erstens bildet der rechtstheoretische Gedankengang nur die oberste Schicht des Republikideals. Darunter liegt noch weit mehr verborgen, das den Rahmen des kontraktualistischen Begründungsschemas sprengt.4 Die nächsten Kapitel werden die Republik daher im Zeichen der Tugend (II 2) und der Einheit (II 3) analysieren. Wie sich zeigen wird, lässt sich aus diesen Perspektiven sehr wohl ein deutlicher Zusammenhang mit der Geschlechterordnung nachweisen. Zweitens ist auch die rechtstheoretische Republik nicht einfach geschlechtsneutral. Zwar bleiben die zentralen Konzepte der Geschlechterordnung – das Begehren, die weibliche Scham, das Intime – dem strengen Kontraktualisten eher fremd. Aber das Thema Geschlecht als solches findet im vertragstheoretischen Diskurs durchaus Aufmerksamkeit. Im Mittelpunkt steht dabei vor allem die Familie, die Anlass zu Überlegungen zur Ehe und damit auch zum Verhältnis zwischen Mann und Frau gibt. An dieser Stelle ist es an der Zeit, auf eine Andeutung aus dem Anfangskapitel von Teil I dieser Arbeit zurückzukommen, die wir bis jetzt nicht weiter verfolgt haben. Rousseau schreibt in einer Zeit, in der traditionelle Vorstellungen von Geschlechtlichkeit ins Wanken geraten und neuen Denkformen Platz machen müssen. Mit seiner Geschlechterordnung ist er ein Vorreiter dieses Ablösungsprozesses. Trotzdem enthält sein Denken auch Spuren des überkommenen Geschlechtermodells – und zwar, wie wir im Folgenden sehen werden, vor allem im Kontext der Vertragstheorie. Rousseau behandelt die Geschlechter- bzw. Familienthematik hier in Anlehnung an und in Auseinandersetzung mit der Tradition – und orientiert sich dabei gelegentlich stärker an Argumentationsmustern seiner Vorgänger als an der eigenen Theorie des Begehrens. Wir wollen uns diese Gedankengänge im Folgenden näher ansehen, um bestimmen zu können, in welchem Verhältnis sie zur rousseauschen Geschlechterordnung stehen. »Die älteste aller Gesellschaften und die einzige natürliche ist die der Familie.« (CS III 352) Gleich einer der ersten Sätze des Contrat social bringt die Familie ins Spiel. Zuvor hat Rousseau die Frage aufgeworfen, wie Freiheit und Ketten zusammen gedacht werden können. Nachdem er sich mit dem Hinweis, alles Recht beruhe auf Vereinbarungen, bereits klar zur Vertragstheorie bekannt hat, geht es ihm nun darum, alternative Herrschaftsbegründungen zu widerlegen.
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Vgl. Herb 1989: 155f.; Herb 1999: 46; Forschner 1977: 106; Kersting 1994: 167f.
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Die Familie ist unverzichtbares Requisit in dieser Auseinandersetzung: Nachgewiesen werden soll ihre Untauglichkeit, eine natürliche Basis zur Legitimation staatlicher Herrschaft zu liefern. Ungenanntes Angriffsziel ist der Patriarchalismus eines Filmer, gegen den schon Locke eifrig zu Felde gezogen war.5 Locke steht denn auch Pate für die rousseausche Argumentation: Politisches Recht kann eben nicht als Fortsetzung väterlichen Rechtes gedacht werden. Der Vater übt keine willkürliche, lebenslange Herrschaft über seine Kinder aus. Sein Regiment ist vielmehr an einen klar umrissenen Zweck gebunden – die Sorge um die kindlichen Bedürfnisse – und mit einem Verfallsdatum versehen. Sobald das Kind in das »Alter der Vernunft« (ebd.) eintritt und für sich selbst sorgen kann, kommt die natürliche Freiheit des Menschen zum Tragen, und die spezielle Beziehung zwischen Vater und Kind endet. »Wenn sie weiterhin vereint bleiben, dann nicht mehr natürlicherweise, sondern freiwillig, und die Familie selbst bleibt nur durch Übereinkunft bestehen.« (Ebd.) Selbst die Familie beruht also, ungeachtet ihres zunächst natürlichen Ursprungs,6 auf konventionellen Banden. Als Muster für absolutistische Herrschaft ist sie somit ungeeignet. Wenn Rousseau daher im Folgenden die Familie als »Urbild der politischen Gesellschaften« (ebd.) präsentiert, dann stellt er die Filmersche Argumentation auf den Kopf: Politische Herrschaft ist nicht ebenso natürlich wie väterliche Herrschaft, vielmehr ist väterliche Herrschaft in gewissem Sinne ebenso konventionell wie politische Herrschaft. Für beides gilt: »[D]a alle gleich und frei geboren sind, veräußern sie ihre Freiheit nur zu ihrem Nutzen.« (Ebd.)7 An anderer Stelle, nämlich zu Beginn seines Enzyklopädie-Artikels zur Politischen Ökonomie, hat Rousseau den Kampf gegen Filmer bereits in größerer Breite ausgefochten. Seine Argumentation setzt hier an anderer Stelle an: Väter-
5 6
Zur Auseinandersetzung des Kontraktualismus mit Filmer vgl. Pateman 1988: 82-88. Auch bei Locke wird die väterliche Gewalt von der Natur verliehen (vgl. Locke, TG II § 173). Eine eigene Akzentsetzung Rousseaus würde ich daher an dieser Stelle noch nicht erkennen, wie Kuster das sieht (vgl. Kuster 2005: 34). Die Bezeichnung der Familie als ›natürlich‹ hat an dieser Stelle meines Erachtens nichts mit ihrer geschichtsphilosophischen Stellung zu tun; ist also weder als offener Widerspruch zum Diskurs zu verstehen noch als Andeutung der künstlichen Natürlichkeit der Geschlechterordnung. Eher ist die Begriffsverwendung hier vergleichbar mit dem vertragstheoretischen Naturzustand, der ebenfalls ohne den geschichtsphilosophischen Kontext auskommt, und verweist auf die (bei Rousseau ebenso wie bei Locke gegebene) Vorstaatlichkeit der Familie.
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Vgl. auch DI III 182; hier findet sich eine ähnliche Argumentation gegen den Filmerschen Patriarchalismus, der die väterliche Autorität vom Despotismus abgrenzt.
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liche Herrschaft kann schon deshalb nicht als Modell politischer Herrschaft gelten, weil Familie und Staat zwei grundverschiedene Dinge sind. Zwar ist es die Pflicht des Familienvaters ebenso wie des Staatsoberhaupts, für das Wohl der ihm Anvertrauten zu sorgen – aber hier enden auch schon die Gemeinsamkeiten (vgl. EP III 244). Die väterliche Gewalt ist zeitlich begrenzt, aber auch in ihrer Reichweite, insofern sie nicht das Recht über Leben und Tod mit einschließt. Außerdem kann sie sich auf das natürliche Gefühl der Zuneigung stützen, während im Politischen allein das Gesetz maßgeblich sein darf (vgl. ebd.: 241ff.). Wenngleich Rousseau diesen letzten Aspekt besonders betont, so verlässt er mit seiner Abgrenzung von Staat und Familie doch nicht den Rahmen, der durch die lockesche Argumentation vorgegeben wird (vgl. Kuster 2005: 98). Auch Locke trennt politische und private Herrschaft mit Verweis auf die Unterschiede in Ursprung, Zweck und Reichweite säuberlich voneinander (vgl. Locke, TG II §§ 86, 170).8 Rousseaus Betrachtung der Familie steht ganz im Zeichen der Auseinandersetzung mit dem Patriarchalismus. Filmer hat die absolute Gewalt des Vaters über die Kinder herangezogen, um damit die absolute Gewalt des Monarchen über die Untertanen zu rechtfertigen. Rousseau entzieht dieser Argumentation in zweifacher Hinsicht den Boden: Schon die Prämisse, die Gewalt des Vaters sei absolut, ist falsch. Darüber hinaus ist der Schluss von der Familie auf den Staat unzulässig. Der Logik dieses Gefechts ist es geschuldet, dass Rousseau das Thema Familie im Contrat social ausschließlich mit Blick auf das Verhältnis zwischen Vater und Kindern abhandelt (vgl. Kuster 2005: 35). In der Politischen Ökonomie findet sich immerhin der Hinweis auf die drei klassischen Herrschaftsverhältnisse des aristotelischen oikos: Der Familienvater übt seine Befehlsgewalt nicht nur als Vater über die Kinder, sondern auch als Dienstherr über die Bediensteten und als Ehemann über die Ehefrau aus (vgl. EP III 242f.). Für die Untersuchung des Geschlechterverhältnisses ist nun freilich von besonderem Interesse, was Rousseau in diesem Zusammenhang über die Ehe zu sagen hat. Bei Locke beruht die Ehe auf einem Vertrag zwischen Mann und Frau. Ungeachtet dieses konventionellen Ursprungs steht von Natur aus fest, wer innerhalb der Ehe das Sagen hat: Der Mann ist »the abler and the stronger« (Locke, TG II § 82) und deshalb entscheidungsbefugt in allen gemeinsamen Belangen.
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Mit Rousseaus Betonung des Gefühls als Grundlage väterlicher Herrschaft ist freilich bereits ein Hinweis in Richtung intimer Gemeinschaft gesetzt. Die Unterscheidung, die bei Locke noch lediglich gradueller Art ist (obwohl auch er von »affection and tenderness« spricht, vgl. Locke, TG II § 170), tendiert hier bei Rousseau bereits ins Prinzipielle, wie Kuster feststellt (vgl. Kuster 2005: 150).
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Eine solche Konzeption der Ehe scheint Rousseau recht fern zu liegen, denkt man an Emile und Sophie. Die beiden bindet kein schnöder Vertrag aneinander, sondern durch Tugend geläuterte Liebe. Emile ist auch nicht einfach fähiger und stärker als Sophie – vielmehr haben beide ihre ganz eigenen Qualitäten, die sich gar nicht miteinander vergleichen lassen. Wer hier über wen herrscht, ist denn auch alles andere als eine triviale Frage. In der Politischen Ökonomie fällt die Antwort dagegen noch eindeutig und im Sinne Lockes aus: Der Mann herrscht über die Frau. Grund ist ein winziges weibliches Defizit, das, kaum ins Gewicht fallend, doch den ganzen Unterschied ausmacht: »Für wie geringfügig man die speziellen Unpässlichkeiten der Frau auch immer halten mag; da sie für die Frau immer eine Phase der Untätigkeit bedeuten, ist das ein ausreichender Grund dafür, sie von diesem Vorrecht auszuschließen: Denn wenn die Waage vollkommen ausgeglichen ist, reicht ein Strohhalm, um den Ausschlag zu geben.« (EP III 242)
Diese Argumentation steht in offenem Widerspruch zu Rousseaus Theorie der Geschlechterdifferenz: Statt als anderes Geschlecht wird uns die Frau hier als das schwächere Geschlecht präsentiert. Die Geschlechter sind annähernd gleich, aber eine biologisch begründete Kleinigkeit genügt, um die Vorherrschaft des Mannes festzuschreiben. Das Prinzip ist hier nicht die Differenz, sondern die hierarchische Ungleichheit: Mann und Frau sind nicht grundsätzlich verschieden, aber der Mann ist einfach ein bisschen besser. Das bleibt jedoch nicht die einzige Ungereimtheit: Versteckt in einer Fußnote kommt Rousseau schließlich auch im Contrat social doch noch einmal auf die Ehe zu sprechen und bezeichnet sie tatsächlich als »bürgerlichen Vertrag« (CS III 469) – und wieder lässt Locke grüßen. Betrachtet man den Kontext, in dem diese Äußerungen zur Ehe stehen, erhärtet sich der Verdacht, dass Rousseau hier auf lockeschen Abwegen wandelt: Es geht nämlich ums Eigentum. Am Eigentum macht Rousseau einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen Familie und Staat fest: In der Familie kommen alle Eigentumsrechte nur einem zu – dem Vater. »[A]lle Eigentumsrechte gehören ihm oder gehen von ihm aus [...]« (EP III 242). Es ist das »Hauptziel« (ebd.) der häuslichen Ökonomie, das väterliche Eigentum zu erhalten und zu mehren, damit er es schließlich an seine Nachkommen vererben kann. Demgegenüber erfüllt der Staat die Aufgabe, das Eigentum seiner Bürger zu sichern. Wenngleich Rousseau mit dieser Gegenüberstellung in erster Linie versucht, einen Punkt gegen Filmer zu machen, deutet er hier doch gleichzeitig eine enge funktionale Verzahnung von Familie und Staat an. Der Staat ist Garant der bestehenden Ei-
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gentumsordnung, die Familie sorgt für die Weitergabe des Eigentums an die nächste Generation. Das eine ist ohne das andere nicht möglich. Was passiert, wenn diese Verbindung gestört wird, ist Thema in besagter Fußnote. Rousseau schließt sie an seine Überlegungen zum Thema Staat und Religion im vorletzten Kapitel des Contrat social an. Welche Auswirkungen hätte es auf den Staat, wenn die Institution der Ehe in falsche Hände geriete, wenn eine intolerante Priesterschaft das Monopol auf die Eheschließung beanspruchen würde? »Die Ehe zum Beispiel hat, da sie ein bürgerlicher Vertrag ist, bürgerliche Auswirkungen [effets civils], ohne die es sogar unmöglich ist, dass die Gesellschaft erhalten bleibt. Nehmen wir also an, einem Klerus gelingt es, sich allein das Recht anzueignen, diesen Akt zu vollziehen; [...] ist es nicht offensichtlich, dass er allein über die Erbschaften, die Ämter, die Bürger verfügen wird, sogar über den Staat selbst, der nicht fortbestehen könnte, da er nur noch aus Bastarden zusammengesetzt ist?« (CS III 469)
Abgesehen vom religionspolitischen Gehalt, der uns hier nicht weiter zu interessieren braucht, enthält diese Äußerung mehrere bemerkenswerte Punkte. Zunächst spricht Rousseau hier direkt die zentrale Bedeutung der Ehe für das Fortbestehen des Staates an: Sie zeitigt effets civils, ohne die der Staat nicht überlebensfähig wäre. Im Weiteren wird klar, worin diese effets bestehen. Die Ehe regelt als bürgerlicher Vertrag die Weitergabe von Besitztümern, Ämtern und Rechtstiteln an legitime Erben. Wer Ehen schließen kann, verfügt damit über die Grundlagen des Staates. Ohne rechtmäßig geschlossene Ehen kann Eigentum nicht begründet auf die nächste Generation übertragen werden, da es nur noch Bastarde, also Kinder mit unklarem Rechtsstatus gäbe. Damit würden die Grundfesten des Staates ins Wanken geraten. Die Vererbung von Eigentum ist also nur auf Grundlage der Ehe als Rechtsinstitution möglich. Das ist nur folgerichtig, nachdem Rousseau Eigentumsrechte ausschließlich beim Vater ansiedelt. Denn die Ehe schafft überhaupt erst eine rechtliche Verbindung zwischen Vater und Kind: Nur als Ehemann der Mutter gilt ein Mann als rechtmäßiger Vater des Kindes. Vaterschaft ist eine nicht unmittelbar einsichtige Angelegenheit – ein Problem für die Vererbung in väterlicher Linie. Daher spielt die Mutter eine entscheidende Rolle: Sie bürgt für das Band zwischen Vater und Kind. Die Ehe schafft eine rechtliche Basis dafür, aber zugleich muss gewährleistet sein, dass die gemeinsam aufgezogenen Kinder auch wirklich der ehelichen Verbindung entspringen. Für Rousseau liegt hierin ein weiterer Grund, warum dem Mann die häusliche Befehlsgewalt zukommt: Er
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muss über die eheliche Treue der Frau wachen, um sicherzustellen, dass ihre Kinder tatsächlich seine Kinder sind. »Außerdem muss der Ehemann die Kontrolle über das Verhalten seiner Frau haben: denn es ist ihm wichtig, sicher zu sein, dass die Kinder, die anzuerkennen und zu ernähren er gezwungen ist, niemand anderem als ihm gehören. Die Frau, die nichts dergleichen zu befürchten hat, hat nicht dasselbe Recht über den Ehemann.« (EP III 242)
Vor diesem Hintergrund wirkt Rousseaus Verweis auf die weiblichen Unpässlichkeiten ebenso konstruiert und vorgeschoben wie Lockes Argument, der Mann sei von Natur aus fähiger und stärker. Ein patrilineares Verwandtschaftssystem beruht auf Vaterschaft. Im Staat der Eigentümer ist das der eigentliche Grund für die männlich dominierte Ehe.9 Der Zusammenhang zwischen dem Eigentum und den familiären Verwandtschaftsverhältnissen erhellt sich weiter, wenn man auf die Geschichte ihrer Entstehung blickt, die Rousseau im Zweiten Diskurs entfaltet. Im Naturzustand gibt es keine Ehen und keine Familien. Fortpflanzung folgt einem rein biologischen Muster. Vor diesem Hintergrund bleibt das Konzept der Vaterschaft ohne Bedeutung: Das Männchen steht in keiner Verbindung zu dem von ihm gezeugten Nachwuchs. Mit der Sesshaftwerdung des Menschen ändern sich die Bedingungen jedoch grundlegend. Mann und Frau leben nun dauerhaft und monogam unter einem Dach. An die Stelle des wahllosen und zufälligen Verkehrs der Geschlechter im Naturzustand tritt eine exklusive und kontinuierliche Sexualbeziehung. So entsteht erstmals die Vorstellung von Vaterschaft: »Der Mann erkennt und anerkennt die Kinder der Frau, mit der er sein Leben teilt, als die seinen [...]« (Kuster 2005: 87). Mit der neuen Familienstruktur ist der Schritt getan von der Biologie der Fortpflanzung zur sozialen Ordnung der Verwandtschaft. Von der Familie der Politischen Ökonomie ist diese Familie gleichwohl noch weit entfernt. Noch ist der Vater nicht ihr Oberhaupt, noch übt er nicht die alleinige Autorität über Ehefrau und Kinder aus. Noch gibt es kein Herrschaftsverhältnis zwischen Mann und Frau, sondern nur einen unschuldigen Unterschied in der Lebensweise: »Die Frauen wurden häuslicher und gewöhnten sich daran, auf die Hütte und die Kinder aufzupassen, während der Mann den gemeinsamen Le-
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Zum Zusammenhang zwischen der Unsicherheit der Vaterschaft und der männlichen Geschlechtsvorherrschaft vgl. allgemein O’Brien 1981. Zur patriarchalen Ehe als Voraussetzung patrilinearer Vererbung speziell bei Rousseau vgl. Okin 1979: 147; Lange 1981: 263f.; Wingrove 2000: 93-96; Makus 2002: 194f.; speziell bei Locke vgl. Clark 1979: 33f.; Braun/Diekmann 1994: 170f.; Coole 1993: 70.
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bensunterhalt suchen ging.« (DI III 168) Die erste Familie liegt noch vor der bürgerlichen Gesellschaft, die Kategorie des Eigentums ist noch nicht etabliert (vgl. Kuster 2005: 75f.). Aber sie schafft bereits die strukturellen Voraussetzungen für die weitere Entwicklung: die personalen Beziehungen zwischen Ehemann und Ehefrau, Vater und Kindern, die sich nach Einführung des Eigentums zu Herrschaftsverhältnissen wandeln werden. Mit dem Schritt in die arbeitsteilige bürgerliche Gesellschaft bildet sich in der Familie die Stellung des Vaters als Oberhaupt heraus, der als Einziger über Eigentum verfügen und es weitervererben kann: »Die Güter des Vaters, über die er wahrhaft Herr ist, sind die Bande, die seine Kinder in Abhängigkeit von ihm halten, und er kann sie nur in dem Maße an seinem Erbe beteiligen, in dem sie sich durch eine beständige Achtung seines Willens um ihn verdient gemacht haben werden.« (DI III 182)
Grundlage für die ausschließliche Verfügungsgewalt des Mannes über das Eigentum ist seine Lebensweise, die ihn zum unabhängigen Akteur in der bürgerlichen Gesellschaft macht. Demgegenüber bleibt die Frau vom wirtschaftlichen Prozess ausgeschlossen – ihre häusliche Lebensweise beschränkt sie auf den Bereich der reproduktiven Arbeit und besiegelt ihre ökonomische Abhängigkeit vom Ehemann (vgl. Kuster 2005: 79). Die wichtigste Funktion der Frau ist aus dieser Perspektive, die Verbindung zwischen Vater und Kindern zu garantieren, um die patrilineare Vererbung des Eigentums sicherzustellen. Damit wird eheliche Treue zur alles beherrschenden Aufgabe der Frau; die Kontrolle über ihr sittliches Verhalten zu Pflicht und Vorrecht des Mannes. Anfänglich ging es Rousseau, wir erinnern uns, um eine Widerlegung des Filmerschen Patriarchalismus. Letztlich kann man seine Überlegungen zur Familie aber kaum weniger patriarchalistisch nennen – wenn auch in anderem Sinne.10 Als Paradigma für politische Herrschaft hat die Herrschaft der Väter zwar endgültig ausgedient. Als Herrschaft des Vaters und des Ehemanns innerhalb der Familie bleibt sie jedoch unerschüttert. Die väterliche Autorität stammt nicht mehr, wie bei Filmer, von der Natur oder vom Schöpfergott; stattdessen ist sie ein Spross der bürgerlichen Gesellschaft: Ihr Ursprung liegt in der Macht des Eigentums.
10 Pateman z.B. unterscheidet den Filmerschen Patriarchalismus (classic patriarchalism) von einem modernen Patriarchalismus, der von der Vertragstheorie begründet wird: »Modern patriarchy is fraternal, contractual and structures capitalist civil society.« (Pateman 1988: 25)
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Dieser Patriarchalismus 2.0 argumentiert, wie wir gesehen haben, anders als die Geschlechterordnung. Die Ehe dient hier nicht der Regulation des Begehrens, vielmehr regelt sie die Verwandtschaftsverhältnisse. Zwischen den Geschlechtern entfaltet sich keine komplexe Dialektik der Herrschaft, stattdessen führt der Mann das unangefochtene Regiment über seine Ehefrau. Auf den ersten Blick ist es seine natürliche Überlegenheit, auf den zweiten Blick seine ökonomische Vorrangstellung, die ihn dazu befähigt. Die Frau jedenfalls hat hier keine weibliche List entgegenzusetzen, sie ist tatsächlich »das Geschlecht, das gehorchen sollte« (DI III 158). Die Familie schließlich erscheint als Herrschaftsverband, der die bestehende Eigentums- und Gesellschaftsordnung reproduziert. Liebe, Vertrautheit, Authentizität – die Kennzeichen der intimen Gemeinschaft spielen dabei keine Rolle. Im Ganzen entspricht die patriarchale Matrix damit den Vorstellungen von Geschlechtlichkeit, die im 18. Jahrhundert allmählich zum Auslaufmodell wurden (vgl. Seite 36). Rousseau greift noch einmal auf die alten Schemata zurück, wenn er das Geschlechterverhältnis zu einer Frage der häuslichen Hierarchie und die Familie zur ökonomischen Basis der gesellschaftlichen Ordnung erklärt. Insgesamt aber hat er dieses Denken bereits hinter sich gelassen und seine ganz eigene Logik des Geschlechts entworfen. Inhaltlich sind patriarchale Matrix und Geschlechterordnung durchaus weit voneinander entfernt: Geht es dieser um Begehren, Scham und Intimität, sind für jene Vererbung, Vaterschaft und Verwandtschaftsordnung die Stichwörter. An einigen Stellen widerspricht Rousseau sich selbst, wenn er auf patriarchalistische Argumente zurückgreift – etwa, wenn er die Ehe zum Vertrag oder die Frau zum schwächeren Geschlecht erklärt. Hier liegt die patriarchale Matrix deutlich quer zur Logik der Geschlechterordnung. An anderen Stellen laufen beide Argumentationsfäden aber auch parallel: So treffen sich Geschlechterordnung und patriarchale Matrix in der Forderung an die Frau, ein zurückgezogenes, häusliches Leben zu führen. Im Sinne der Geschlechterordnung folgt das aus der weiblichen Tugend der Scham. Patriarchalistisch gedacht lässt sich dafür eine andere Begründung finden: Das Verhalten der Frau steht unter besonderer Beobachtung, da sie für die rechtmäßige Abkunft der Kinder bürgt. Weibliche Untreue stellt die Grundlagen der patrilinearen Ordnung infrage und muss unter allen Umständen verhindert werden. Tatsächlich verwendet Rousseau beide Argumente nebeneinander, um die besondere sittliche Pflicht der Frau zu Keuschheit und sexueller Zurückhaltung zu begründen. So findet sich im Emile neben dem Verweis auf die Scham auch das Argument der weiblichen Verantwortung für die Vaterschaft:
114 | E RSEHNTE E INHEIT , UNHEILBARE S PALTUNG – R EPUBLIK »Derjenige von beiden, dem die Natur das Pfand der Kinder übertragen hat, ist dem anderen dafür verantwortlich. [...] Aber die untreue Frau [...] löst die Familie auf und zerreißt alle Bande der Natur; indem sie dem Mann Kinder gibt, die nicht ihm gehören, verrät sie die einen wie die anderen, sie fügt der Treulosigkeit noch Arglist hinzu.« (Emile IV 697f.)
Auch im Brief an d’Alembert argumentiert Rousseau auf zwei Ebenen für die weibliche Zurückhaltung und nimmt dabei eine gewisse Inkonsistenz seiner Beweisführung in Kauf.11 Eigentlich geht es ihm darum, zu zeigen, dass die Scham eine natürliche weibliche Tugend ist. In diesem Zusammenhang legt er seinen Kritiker_innen den folgenden Einwand in den Mund: »Gemeine Vorurteile! ruft man mir zu; Kindische Irrtümer! Blendwerk der Gesetze und der Erziehung! Die Scham ist gar nichts. Sie ist nur eine Erfindung der gesellschaftlichen Gesetze, um die Rechte der Väter und Gatten zu sichern und eine gewisse Ordnung in den Familien aufrechtzuerhalten.« (LdA V 76)
Die fiktive Kritik sieht in der Rede von der Scham nur einen ideologischen Vorwand. In Wahrheit gehe es den Verfechtern der Scham um die patriarchale Ordnung der Familie. Rousseau weist diesen Vorwurf entrüstet zurück. Trotzdem unterbricht er seine Erläuterungen zum natürlichen Schamgefühl der Frau nur wenig später für die Behauptung: »Als ob all die strengen Pflichten der Frau nicht allein daher kämen, dass ein Kind einen Vater haben muss!« (Ebd.: 77f.) Haben die Kritiker_innen also doch recht? Steckt hinter der angeblich natürlichen Scham doch nichts weiter als die soziale Pflicht der Frau zur Wahrung der väterlichen Rechte? Hier geraten Rousseau offenbar zwei Argumentationsmuster durcheinander, die zwar dasselbe fordern, aber aus unterschiedlichen Gründen. An Stellen wie diesen wird deutlich, dass die patriarchale Matrix im Ganzen doch eher einen Fremdkörper in Rousseaus Denken darstellt. Sie wirkt wie eine Zutat, die er sich von Locke oder anderen Vorgängern ausgeborgt hat. Ihre Rolle verblasst angesichts der zentralen Bedeutung, die Rousseau der Geschlechterordnung beimisst. Das unterscheidet ihn klar von seinen kontraktualistischen Kollegen. Bei Hobbes, bei Locke, auch noch später bei Kant gibt es eine verborgene patriarchale Matrix hinter der Vertragstheorie.12 Einerseits kommt die kontraktualistische Logik offenbar nicht aus ohne die Familie als Ort der Reproduk-
11 Für eine detaillierte Analyse der inkonsistenten Argumentation zur weiblichen Scham im Brief an d’Alembert vgl. Wingrove 2000: 180-186. 12 Vgl. dazu etwa Pateman 1988; Braun/Diekmann 1994; Brennan/Pateman 1998; Clark 1979; Hansen 1994.
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tion der Gesellschaftsordnung. Andererseits wirft die Begründung der männlichen Herrschaft gewisse Schwierigkeiten auf. Der gemeine Vertragstheoretiker greift auf das Argument der natürlichen Überlegenheit des Mannes zurück – und gerät damit in Widerspruch zu seinen eigenen Prämissen, die es verbieten, Herrschaft mit Blick auf die Natur zu rechtfertigen. Kuster sieht hier die »notorische argumentative Schwachstelle grundliberaler Konzeptionen« (Kuster 2005: 99f.). Schon Locke ist reichlich inkonsequent, wenn er die Ehe zwar als freiwilligen Vertrag analog zum Gesellschaftsvertrag beschreibt, die männliche Vorherrschaft aber als naturgegeben sehen will. Für Rousseau hat sich diese Argumentationsfigur endgültig erledigt: Wenn die Ehe bei ihm ein Vertrag analog zum Gesellschaftsvertrag wäre, könnte es gar keine patriarchale Herrschaft geben. Schließlich müsste dann auch für die Frau gelten, dass sie ihre Freiheit nicht vertraglich veräußern kann. Die patriarchale Ehe würde auf einer Vereinbarung beruhen, die Rousseau als selbstwidersprüchlich und deshalb ungültig entlarvt: »Ich treffe mit dir eine Vereinbarung, ganz auf deine Kosten und ganz zu meinen Gunsten, die ich einhalten werde, solange es mir gefällt, und die du einhalten wirst, solange es mir gefällt.« (CS III 358, Herv. i.O.) Dieser Widerspruch bringt Rousseau freilich nicht dazu, die Ehe egalitärer zu gestalten. Vielmehr gibt er die Figur des ehelichen Vertrages komplett auf.13 Geschlechterverhältnis und Familie stehen bei ihm auf einer völlig neuen Basis (vgl. Kuster 2005: 99f.). Der Vertrag als Begründungsmuster für rechtliche Verhältnisse kommt bei Rousseau an seine Grenzen – in Bezug auf das Geschlecht noch deutlicher als in der Republik.
13 »For Rousseau, it therefore follows that any relationship that resembles slavery is illegitimate, and no contract that creates a relationship of subordination is valid – except the sexual contract.« (Pateman 1988: 76) Pateman sieht den Widerspruch, bleibt aber dennoch bei ihrer These, auch Rousseau sei ein Theoretiker des sexual contract.
2. Tugend
2.1 R EPUBLIK
UND
T UGEND
»Dieser Übergang vom Naturzustand zum bürgerlichen Zustand bewirkt im Menschen eine sehr bemerkenswerte Veränderung, indem er in seinem Verhalten die Gerechtigkeit an die Stelle des Instinktes setzt und seinen Handlungen die Moralität verleiht, die ihnen vorher fehlte. Erst jetzt, da die Stimme der Pflicht an die Stelle des physischen Triebes tritt und das Recht an die Stelle des Verlangens, sieht sich der Mensch, der bislang nur auf sich selbst geachtet hatte, gezwungen, nach anderen Prinzipien zu handeln und seine Vernunft zu befragen, bevor er auf seine Neigungen hört. Auch wenn er in diesem Zustand mehrere Vorteile verliert, die er von Natur aus hat, gewinnt er so große Vorteile zurück, seine Fähigkeiten bilden sich aus und entwickeln sich, seine Vorstellungen erweitern sich, seine Gefühle veredeln sich, seine ganze Seele erhebt sich bis zu jenem Punkt, an dem er, wenn der Missbrauch dieses neuen Zustands ihn nicht oft noch unter den, den er verlassen hat, herabstufen würde, ununterbrochen den glücklichen Augenblick preisen müsste, der ihn dem letzteren für immer entrissen hat, und der aus einem stumpfsinnigen und beschränkten Tier ein intelligentes Wesen und einen Menschen gemacht hat.« (CS III 364)
Der Gesellschaftsvertrag bewirkt eine sehr bemerkenswerte Veränderung: Der Mensch wird zum citoyen. Rousseau schildert diese Verwandlung emphatisch als Aufstieg zu Moralität und wahrer Menschlichkeit. Damit sprengt er den Rahmen des Kontraktualismus (vgl. Herb 1989: 155f.; Herb 1999: 46; Forschner 1977: 106; Kersting 1994: 167f.). Der Vertrag bietet eigentlich nicht mehr und nicht weniger als das Muster für den Übergang in einen rechtlichen Zustand. Er wird von Individuen geschlossen, die, von Natur aus frei und unabhängig, ihre Freiheit unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenschlusses sichern wollen. Wenn Rousseau nun von dem glücklichen Augenblick der bürgerlichen Transsubstantiation schwärmt, stellt er diese gedanklichen Vorgaben auf den Kopf. Plötzlich gewinnt der Mensch erst als Bürger der Republik die Quali-
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täten, die ihn laut Vertragstheorie doch eigentlich natürlicherweise auszeichnen und zum Vertragsschluss befähigen: Vernunft, Freiheit, moralische Autonomie. Unversehens wird die kontraktualistische Logik von einem republikanischen Pathos verdrängt, das eher an die antike Polis erinnert. Das Begründungsmuster des Gesellschaftsvertrages verliert so seinen ursprünglichen Kontext. Der Vertrag erscheint zugleich als »Herzstück und Fremdkörper« (Herb 1999: 46) in Rousseaus Republik. Doch auch wo Rousseau sich von den Fundamenten der Vertragstheorie entfernt, bleibt der Vertrag als Motiv gegenwärtig: Er wird zur »Chiffre« (Kersting 1994: 168) einer Republik, die nicht mehr kontraktualistisch gedacht ist. Der Übergang, den der Vertrag illustriert, ist nicht mehr in erster Linie jener vom natürlichen zum rechtlichen Zustand. Vielmehr geht es um eine grundlegende innere Umwandlung: Der Mensch, der den Vertrag schließt, wird tugendhaft. Der Bürger der Republik ist frei, weil er niemandem gehorcht als den Gesetzen, die er selbst mitbeschlossen hat – das macht ihn unabhängig von jeder fremden Willkür. Es gibt aber nicht nur äußere, sondern auch innere Freiheitshindernisse. Bevor der Mensch zum Bürger der Republik wird, ist er den despotischen Mächten in sich selbst ausgeliefert: Instinkt, Trieb, Verlangen und Neigung regieren sein Verhalten. In der Republik treten Gerechtigkeit, Moralität, die Stimme der Pflicht, Recht und Vernunft an deren Stelle – das moralische Ich wird Herr im eigenen Haus. Rousseau ergänzt daher die Errungenschaften des bürgerlichen Zustandes um die »moralische Freiheit« (liberté morale, CS III 365). Im moralischen Sinne ist der Bürger der Republik frei, weil er nur den Gesetzen gehorcht, die er sich in einem bewussten Akt selbst auferlegt hat, und niemandem sonst – auch nicht den Einflüsterungen der eigenen Gelüste. »[D]enn der Antrieb des reinen Verlangens ist Sklaverei, und der Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selbst gegeben hat, ist Freiheit.« (Ebd.) Wer den Leidenschaften ungezügelt nachgibt, macht sich zum Sklaven. Autonomie bedeutet dagegen Selbstbeherrschung: Der citoyen ist seinen niederen Regungen nicht mehr unterlegen, sein sittliches Selbst triumphiert über Trieb und Verlangen.1 Die Fähigkeit, sich selbst zu beherrschen, lässt ihn »wahrhaft Herr seiner selbst« (ebd.) werden. Es ist diese Fähigkeit, die Rousseau an anderer Stelle als Tugend bezeichnet (vgl. Emile IV 818). Indem Rousseau die Tugend zum Produkt des Gesellschaftsvertrags erklärt, stellt er eine bemerkenswerte Verbindung zwischen Moral und Politik her (vgl.
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Vgl. dazu die Definition des positiven Freiheitsbegriffs bei Berlin 1969: 132, dort in polemischer Absicht. Wohlwollender und speziell auf Rousseau bezogen dagegen bei Wokler 1987, insbesondere 84ff.
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Fetscher 1975: 92f.). Der Einzelne erlangt seine moralische Souveränität, indem er Teil eines politischen Gemeinwesens wird. Wie ist dieser Zusammenhang zu verstehen? Die Republik ist offensichtlich mehr als nur ein zweckrationaler Zusammenschluss eigennütziger Individuen. Sie ist ein »moralischer und kollektiver Körper« (CS III 361). Die volonté générale, die hier herrscht, ist nichts anderes als ein kollektiv gewordener sittlicher Wille. Die Imperative des moralischen Selbst, die sich der tugendhafte Einzelne selbst auferlegt, werden in der vom Gemeinwillen beherrschten Tugendrepublik zu allgemeinen Gesetzen. Damit ist der Einzelne im Kampf gegen seine Leidenschaften nicht mehr allein, er bekommt machtvolle Verstärkung durch die staatliche Gemeinschaft. Als Teil der Republik ist das Individuum in der Lage, den Impulsen seiner Leidenschaften zu widerstehen, weil es nun unter Gesetzen lebt, die vermittelt über die volonté générale seinem eigenen moralischen Selbst entspringen. Die Gesetze flößen ihm gleichsam den »Mut, gerecht zu sein«, ein (Emile IV 858; vgl. Fetscher 1975: 93). In diesem Sinne macht der Gehorsam gegen die Gesetze auch moralisch frei. Damit eröffnet sich eine weitere Möglichkeit, Rousseaus paradoxe Rede vom Zwang zur Freiheit zu verstehen: Die zwingende Kraft der Gesetze stellt sicher, dass die Bürger nicht dem Drängen ihrer selbstsüchtigen Begierden nachgeben, sondern ihren moralischen Überzeugungen folgen. Dieser Zwang arbeitet weniger mit der Androhung von Sanktionen als mit einer Form der moralischen Verpflichtung: Der Einzelne verhält sich auch dann richtig, wenn er sich aus eigener Kraft nicht dazu überwinden könnte – nicht aus Angst vor Strafe, sondern weil er es allen anderen versprochen hat (vgl. Plamenatz 2000: 79-82; Fetscher 1975: 91). Um in dieser Weise zu wirken, müssen die Gesetze jedoch tatsächlich dem moralischen Willen der Gemeinschaft entspringen. Selbstverständlich ist das nicht: Der Gemeinwille wird in Abstimmungen ermittelt. Damit sich in ihm rein und unverfälscht die Stimme der Pflicht artikuliert, kommt es auf das Abstimmungsverhalten der Einzelnen an: Entscheiden sie pflichtbewusst »als Bürger« (CS III 363) – oder lassen sie sich von ihren eigennützigen Regungen leiten und bringen in der Abstimmung nur ihren Sonderwillen zum Ausdruck? Wenn letzteres Verhalten um sich greift, ist die Republik an ihr Ende gekommen: »[D]ann verstummt der Gemeinwille, alle werden von geheimen Absichten geleitet und äußern ihre Meinung nicht mehr als Bürger, als hätte der Staat nie existiert, und man erlässt unter dem Namen von Gesetzen fälschlicherweise unbillige Verordnungen, die nur das Sonderinteresse zum Ziel haben.« (Ebd.: 438)
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Wie aber lässt sich verhindern, dass der Gemeinwille von egoistischen Einzelinteressen unterlaufen wird? Rousseaus Antwort ist die Tugend: »Wollt ihr, dass der Gemeinwille vollzogen wird? Sorgt dafür, dass sich alle Einzelwillen darauf beziehen; und da die Tugend nichts anderes ist als diese Übereinstimmung des Einzelwillens mit dem Gemeinwillen, so lasst, um dasselbe mit einem Wort zu sagen, die Tugend herrschen.« (EP III 252)
Der tugendhafte Bürger ordnet sein selbstsüchtiges Verlangen dem allgemeinen Wohl unter, er nimmt den Willen der Gemeinschaft als seinen eigenen Willen an. Tugend ist für Rousseau dabei kein rationales Prinzip. Wenn der tugendhafte Bürger Pflicht über Neigung obsiegen lässt, hört er nicht auf seinen Verstand, sondern auf die Stimme seines Herzens. Die Liebe zur Pflicht ist zu seiner Neigung geworden (vgl. Baczko 1970: 406). Die Republik setzt daher auf das Gefühlsleben ihrer Bürger – denn »die größte Triebfeder der öffentlichen Autorität liegt im Herzen der Bürger« (EP III 252). Die republikanische Seelenlage gedeiht nur auf einem lebensweltlichen Nährboden (vgl. Herb 1999: 55). Gemeinsam geteilte Sitten, Bräuche und Meinungen (vgl. CS III 394) verwandeln die Orientierung am Gemeinwohl in eine gute Gewohnheit. Nicht die positiven Gesetze, sondern allein die habits of the heart können die Herrschaft der volonté générale garantieren: »Das Gesetz wirkt nur außerhalb und regelt nur die Handlungen; allein die Sitten dringen nach innen und lenken den Willen.« (FP III 555) Die republikanische Tugend lässt die Herzen der Bürger in zweifacher Weise höher schlagen. Einerseits gibt sie ihnen die Liebe zu den Gesetzen, zur Freiheit und zum Vaterland ein – also die Liebe zur Republik selbst:2 »Jeder wahre Republikaner hat mit der Milch seiner Mutter die Liebe zu seinem Vaterland eingesogen, das heißt die Liebe zu den Gesetzen und zur Freiheit.« (Pologne III 966) Andererseits erzeugt sie zwischen den Einzelnen ein Gefühl der Verbundenheit
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Fetscher unterscheidet zwischen Staatsbürgertugend und Patriotismus, wobei das eine als vollständige Überwindung der Leidenschaften, das andere als Neuorientierung der Leidenschaften in Richtung auf die Gemeinschaft gedacht ist, vgl. Fetscher 1975: 198f. Ich halte diese Unterscheidung für nicht überzeugend, da mir das Charakteristische an Rousseaus Konzept gerade zu sein scheint, dass es die Leidenschaften in Dienst nimmt, um sie zu überwinden. Anders gesagt, die Tugend des Staatsbürgers manifestiert sich gerade in seinem Patriotismus. Dieses Muster soll in Bezug auf die Geschlechterordnung im nächsten Unterkapitel (II 2.2) herausgearbeitet werden. Die Paradoxie, die in dieser Lösung steckt, wird in III 1.2 noch einmal aufgegriffen.
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und Freundschaft: »[S]ie sind alle Freunde, sie sind alle Brüder; die Freude und die Eintracht herrschen unter ihnen.« (LdA V 124) Als Freunde und Brüder stellen die Bürger ganz zwanglos das gemeinsame Wohl über alles; egoistische Sonderinteressen kommen gar nicht erst auf. Freundschaft und Eintracht machen die Gesetzgebung zu einer Herzensangelegenheit, die einvernehmlich und friedlich unter einer Eiche erledigt werden kann. Unter Freunden versteht es sich von selbst, wann neue Gesetze notwendig werden: »Der erste, der sie vorschlägt, spricht nur aus, was alle schon gefühlt haben [...]« (CS III 437; vgl. Scherl 2012a: 116). Geht diese friedliche Eintracht verloren, erkennt Rousseau darin bereits eine Verfallserscheinung. Hitzige Debatten und Meinungsverschiedenheiten sind ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Band der Freundschaft zwischen den Bürgern gerissen ist (vgl. CS III 438f.; Herb 1999: 113). Mit dem Fokus auf die Tugend ändert sich der Charakter der Republik grundlegend – von der Vertragsgemeinschaft zur Gefühlsgemeinschaft (vgl. Baczko 1970: 404ff.). Wenn die Einzelnen sich nicht mehr als Rechtssubjekte, sondern als Freunde und Brüder begegnen, verschieben sich die Koordinaten der Vertragstheorie. In der Lebenswelt der Republik herrscht nicht nur rechtliche Gleichheit, sondern eine gemeinsam geteilte Lebensart: die Gleichheit der Sitten, des Charakters, der Gefühle. Hier geht es gerade nicht mehr darum, konkurrierende Rechtsansprüche zu versöhnen (vgl. Herb 1999: 115). Während der Vertrag dem kontraktualistischen Muster zufolge die Lösung eines Rechtsdilemmas bietet, den Ausweg aus einem zumindest potentiellen Krieg aller gegen alle, wird er nun zum Band zwischen Menschen, die an Konfliktregelung kaum Bedarf haben. Die Eintracht zwischen tugendhaften Bürgern macht staatlichen Zwang fast überflüssig. Wo er dennoch notwendig wird, präsentiert er sich als Symptom des Niedergangs republikanischer Tugend (vgl. ebd.: 116). Sind Pflichtgefühl, Eintracht und Gleichheit aber nun Voraussetzungen oder Wirkungen des Gesellschaftsvertrags? Bei genauem Hinsehen führt die Forderung der Tugend in einen logischen Zirkel (vgl. Riley 2000: 123; Honig 2007: 3; Bürgin 1992: 130): Einerseits macht erst der Gehorsam gegen die volonté générale den Einzelnen zum tugendhaften Bürger. Andererseits ist die Tugend des Einzelnen nötig, damit die volonté générale überhaupt zur Herrschaft gelangt. Rousseau sieht die Schwierigkeit: »[D]ie Wirkung müsste zur Ursache werden, der gesellschaftliche Geist, der das Werk der Errichtung sein soll, müsste der Errichtung selbst vorausgehen, und die Menschen müssten vor den Gesetzen bereits das sein, was sie durch die Gesetze werden sollen.« (CS III 383) Was war zuerst da – die Republik oder der citoyen? Rousseau löst diese Aporie auf, indem er an den Anfang eine beinahe gottgleiche Figur stellt: den législateur. Der Gesellschaftsvertrag allein kann die Tugendrepublik nicht begründen, weil ein Ver-
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trag zwischen egoistischen Einzelmenschen noch lange keine citoyens schaffen kann (vgl. Fetscher 1975: 110; Riley 2000: 126). Der Gesetzgeber ist der deus ex machina, der gleichsam aus dem Nichts auftritt und die übermenschliche Aufgabe bewältigt, Menschen in Bürger zu verwandeln. Der Gesetzgeber entwirft die politischen Institutionen und Gesetze, aber das allein reicht noch nicht aus, um die Republik im Zeichen der Tugend zu begründen. So beschäftigt er sich »im Geheimen« (CS III 394) in erster Linie mit dem, was die Republik im Innersten zusammenhält: mit den Sitten, Bräuchen und Meinungen.3 Es ist diese Art der Gesetze, »die sich weder in Marmor noch in Erz einschreibt, sondern in die Herzen der Bürger; die die wahre Verfassung des Staates ausmacht; die [...] ein Volk im Geiste seiner Errichtung erhält« (ebd.). Politische Institutionen und Sitten müssen ineinander greifen, um den Geist der tugendhaften Republik in den Herzen der Bürger lebendig zu halten. Um das Werk des klugen Gesetzgebers über den Gründungsakt hinaus zu bewahren, bedarf es einiger Kunstgriffe. Im Contrat social gibt es dafür etwa das Zensoramt: eine Einrichtung, die keine wirkliche Macht im Staat ausübt, aber durch ihren Einfluss auf die opinion publique die republikanische Moral hochhält (vgl. ebd.: 458f.). Auch die Zivilreligion dient dem Zweck, den Menschen den Gemeinsinn einzugeben, der einen guten citoyen ausmacht (vgl. ebd.: 468). Gleichwohl ist sie nicht mit der Religion des Bürgers zu verwechseln, mit den religiösen Kulten der alten Völker. Rousseau schätzt zwar deren Kraft, die Liebe zum Vaterland anzustacheln, geißelt sie jedoch für ihre Intoleranz (vgl. ebd.: 464f.). Das »rein bürgerliche Glaubensbekenntnis« (ebd.: 468), das er für die Republik vorschlägt, ist demgegenüber eine deutlich abgemilderte Variante des Versuchs, die Religion für die bürgerliche Tugend in Dienst zu nehmen.4 Die zentrale Institution der Republik, in der sich der Geist des Gesellschaftsvertrags bewahrt, ist jedoch die Volksversammlung. Die Abstimmung über den Gemeinwillen geschieht nicht im Geheimen, sie gerät zum öffentlichen Schauspiel. Rousseau möchte, dass das Volk in regelmäßigen Abständen zusammen-
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Zur Rolle des Gesetzgebers als Urheber der Sitten vgl. auch Maier 2012: 152ff. Für eine differenzierte Analyse der Zivilreligion vgl. Rehm 2000. Rehm möchte die Zivilreligion deutlich von der Figur des Gesetzgebers getrennt sehen und damit gegen den Vorwurf des Manipulativen verteidigen, vgl. Rehm 2000: 224ff. Zwar stimme ich ihr zu, dass die Zivilreligion nicht mit dem Glauben an die Götter gleichzusetzen ist, auf die der Gesetzgeber sich bei der Republikgründung beruft, allerdings würde ich die Zivilreligion als Teil der republikanischen Sitten betrachten, die der Gesetzgeber ins Leben ruft. Inwiefern auch diese manipulative Züge aufweisen, werde ich an späterer Stelle (vgl. II 3.1, III 2.2) ausführen.
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kommt und sich als Souverän zeigt (vgl. ebd.: 426). Der Sinn dieser Zusammenkünfte liegt sicherlich nicht darin, eine Bühne für politische Deliberation zu schaffen. In Rousseaus Volksversammlungen wird nicht debattiert, nicht um Kompromisse gerungen. Wenn es dazu kommt, ist der republikanische Geist bereits akut gefährdet (vgl. ebd.: 438; Herb 1999: 113). Wozu also das Volk an einem Ort versammeln? Durch seine unmittelbare physische Anwesenheit konstituiert sich das Volk als Souverän; das abstrakte Prinzip der Volkssouveränität wird als sinnliche Realität bestätigt. In der Volksversammlung wird Bürgersein anschaulich: Jeder bestimmt über jeden, ist zugleich Autor und Adressat des Gesetzes. Dabei erlebt sich jeder Einzelne unmittelbar als Teil des moi commun, als Glied eines großen Körpers. Die gemeinschaftliche Erfahrung der Teilhabe erzeugt einen Gleichklang der Herzen, aus dem sich der Gemeinwille wie von selbst ergibt, als spontanes Übereinstimmen der Einzelwillen (vgl. Herb/Morgenstern/Scherl 2011: 283). Es ist wohl kein Zufall, dass sich hier ebenso gut an ein Volksfest denken lässt. Wenn Rousseau im Brief an d’Alembert in leuchtenden Farben ausmalt, wie die Republik feiert, dann scheint es fast, als spreche er von der Volksversammlung.5 Das Volk kommt unter freiem Himmel zusammen, ohne Anlass – es feiert sich selbst, die Republik, die Freiheit: »Zu welchen Völkern passt es besser, sich oft zu versammeln und untereinander die süßen Bande des Vergnügens und der Freude zu knüpfen, als zu jenen, die so viele Gründe haben, sich zu lieben und für immer vereint zu bleiben? [...] An der frischen Luft, unter freiem Himmel sollt ihr euch versammeln und euch dem süßen Gefühl eures Glücks hingeben. [...] Aber was werden schließlich die Gegenstände dieses Schauspiels sein? Was wird man dort zeigen? Nichts, wenn man so will. Mit der Freiheit herrscht überall, wo Andrang herrscht, auch das Wohlbefinden. Pflanzt in der Mitte eines Platzes einen mit Blumen bekränzten Pflock, versammelt dort das Volk, und ihr werdet ein Fest haben. Besser noch: Stellt die Zuschauer zur Schau; macht sie selbst zu Darstellern; sorgt dafür, dass jeder sich in den anderen erkennt und liebt, damit alle inniger vereint sind.« (LdA V 115)
Wie in der Volksversammlung wird die Gemeinschaft im Fest sinnlich erfahrbar. Jeder ist Zuschauer und Darsteller zugleich, liebt und erkennt sich selbst in allen anderen. Im gemeinsamen Feiern wird die Gleichheit und innige Verbundenheit der Bürger sinnfällig. So stellt sich ein geteiltes Gefühl der Freude ein, eine festliche Stimmung, die nichts anderes ist als der Gemeinwille »im Sonntagsanzug«
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Zum republikanischen Fest vgl. Starobinski 2003: 140-147; Herb 2012b: 99f.
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(Starobinski 2003: 146). Die Republik erweist sich hier wahrhaft als Gemeinschaft der Herzen. Volksversammlung und Fest sind praktische Lektionen in Bürgertugend (vgl. Snyder 1999: 52f.). Hier werden die republikanischen Werte verinnerlicht, die Bande der Freundschaft geknüpft, die Liebe zum Vaterland geweckt. Der Bürger soll sich mit seiner Republik identifizieren. Noch in der Fremde bleibt das Bekenntnis zur Heimat tief in sein Herz eingeschrieben: »Ach! Wo sind die Spiele und die Feste meiner Jugend? Wo ist die Eintracht der Bürger? Wo ist die allgemeine Brüderlichkeit? Wo sind die reine Freude und die wahre Föhlichkeit? Wo sind der Frieden, die Freiheit, die Gleichheit, die Unschuld?« (LdA V 121) Neben Fest und Volksversammlung kennt Rousseau noch weitere Bausteine einer republikanischen Sozialisation: öffentliche Spiele und Wettbewerbe, militärische Übungen, ein patriotisches Erziehungswesen (vgl. Fetscher 1975: 201f.). Das Prinzip hinter all diesen Einrichtungen hat er sich von den Gesetzgebern der Antike abgeschaut, die er bewundert: Moses, Numa, vor allem Lykurg (vgl. Pologne III 956ff.). Es gilt, die Bürger möglichst vollständig in Beschlag zu nehmen, ihr ganzes Streben auf die Republik auszurichten, damit die Herzen im gleichen Takt schlagen – für das Vaterland: »Sobald ein Kind die Augen öffnet, muss es das Vaterland sehen, und bis zu seinem Tod nichts anderes. Jeder wahre Republikaner hat mit der Milch seiner Mutter die Liebe zu seinem Vaterland eingesogen [...]. Diese Liebe macht sein ganzes Dasein aus; er sieht nur das Vaterland, er lebt nur für dieses; sobald er alleine ist, ist er nichts; sobald er kein Vaterland mehr hat, existiert er nicht mehr, und wenn er nicht tot ist, ist es noch schlimmer für ihn.« (Ebd.: 966)
Alle diese praktischen Übungen des Bürgerseins – ob festliche Freude oder politischer Ernst – haben eines gemeinsam: Sie erfordern Anwesenheit. Jeder muss als Person gegenwärtig sein. Nur die unmittelbare Teilhabe an den Aktivitäten der Gemeinschaft erzeugt das Zugehörigkeitsgefühl, das den echten citoyen auszeichnet. Wer sich selbst heraushält, begeht Verrat an den republikanischen Werten und zeichnet verantwortlich für den Verlust des bürgerlichen Miteinanders, mithin für den Niedergang der Republik (vgl. Herb 1999: 121). Diesen Vorwurf erhebt Rousseau gegen den modernen bourgeois, der nur seine eigennützigen Geschäfte im Kopf hat und sich von den bürgerlichen Pflichten lieber freikauft: »Muss man in die Schlacht ziehen? Sie bezahlen Truppen und bleiben zu Hause. Muss man in den Rat gehen? Sie benennen Abgeordnete und bleiben zu Hause. Der Faulheit und
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des Geldes wegen haben sie schließlich Söldner, um das Vaterland zu versklaven, und Volksvertreter, um es zu verkaufen.« (CS III 428f.)
Söldnerheere und Parlamente sind die Kennzeichen einer Gesellschaft, die Tugend gegen Eigennutz getauscht hat, die Liebe zum Vaterland gegen die Liebe zum Geld. Es ist diese verhasste Logik der Repräsentation, in der Rousseau das größte Freiheitshindernis in der Moderne sieht (vgl. Herb 1999: 116ff.). Weil es nur noch bourgeois und keine citoyens mehr gibt, verblasst die Republik zu einer nostalgischen Erinnerung – Sparta ist längst Geschichte. Mehr noch: Die anspruchsvolle Forderung nach Teilhabe führt nicht nur in den Anachronismus, sondern letztlich auch in die Aporie (vgl. ebd.: 119f.; Wokler 1987: 92f.). Rousseau weiß sehr wohl, dass sich die antike Bürgertugend nur auf der Grundlage einer Sklavenwirtschaft entfalten konnte. »Was! Behauptet sich die Freiheit nur mithilfe der Knechtschaft? Vielleicht. [...] Es gibt derart unglückliche Lagen, in denen man seine Freiheit nur auf Kosten der Freiheit der anderen bewahren kann, und in denen der Bürger nur dadurch vollkommen frei sein kann, dass der Sklave aufs Äußerste versklavt ist.« (CS III 431)
Damit setzt Rousseau nun freilich nicht zu einer Apologie der Sklaverei an – dass diese nicht gutzuheißen ist, steht für den Denker der Freiheit außer Frage. Vielmehr geht es ihm um die Kritik an seinen bourgeoisen Zeitgenossen: »Ihr, moderne Völker, ihr habt gar keine Sklaven, aber ihr seid es; ihr bezahlt deren Freiheit mit der euren.« (Ebd.) Gleichzeitig enttarnt diese Überlegung die Tugendrepublik jedoch als Utopie. So, wie Rousseau sie imaginiert, kann sie nicht und konnte sie auch niemals bestehen.
2.2 R EPUBLIKANISCHES B EGEHREN Emile wird nicht für das Leben in der Republik erzogen, aber auch er muss lernen, tugendhaft zu sein. Ausgerechnet seine Liebe zu Sophie ist es, die hierfür zum pädagogischen Exempel wird. Indem Emile diese Leidenschaft zu beherrschen lernt, erlangt er seine Tugend: »Das ist nun deine erste Leidenschaft. Es ist vielleicht die einzige, die deiner würdig ist. Wenn du sie wie ein Mann zu beherrschen verstehst, wird sie die letzte sein; du wirst alle anderen unterjochen und nur derjenigen der Tugend gehorchen.« (Emile IV 818) Im Emile verbindet Rousseau die Tugendthematik direkt mit dem Problem des geschlechtlichen Begehrens: Moralische und erotische Erziehung gehen Hand in Hand. Lässt sich
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dieser Zusammenhang auch auf das politische Ideal übertragen? Welche Rolle spielt die Libido des citoyen für die Tugendrepublik? Um das herauszufinden, müssen wir zunächst einen Blick auf die strukturellen Parallelen zwischen Pädagogik und Politik werfen: Die Tugend ist im Emile wie auch im Contrat social ein Produkt des Vertrages. Auch im Emile dient die Tugend der Freiheit, der liberté morale. Für Emile wird sie in dem Moment notwendig, da er erstmals Leidenschaften entwickelt, die ihn zu beherrschen drohen. Seine ganze Kindheit hindurch hatte er nichts derartiges zu befürchten: Der Erzieher wusste zu verhindern, dass sich in das Herz seines Zöglings künstliche Begierden einschleichen. Mit der zweiten Geburt, dem Erwachen des Begehrens, ist diese Sicherheit jedoch vorbei. Nun droht die Gefahr der inneren Selbstversklavung: »[E]in neuer Feind erhebt sich, den zu besiegen du noch nicht gelernt hast und vor dem ich dich nicht mehr retten kann. Dieser Feind bist du selbst. [...] indem du zu begehren gelernt hast, hast du dich zum Sklaven deiner Begierden gemacht.« (Ebd.: 816) Um nicht zum Sklaven der eigenen Gelüste zu werden, braucht Emile die Tugend: die Fähigkeit, dem Ansturm der Leidenschaften standzuhalten und sich selbst zu beherrschen. Solange der kleine Emile in seinem künstlichen Naturzustand war, hat er eine nur vorläufige Form der inneren Freiheit genossen. Wirkliche Freiheit im Sinne der liberté morale erlangt Emile erst durch die Tugend, die ihm zum Sieg über die Leidenschaften verhilft: »Was also ist der tugendhafte Mensch? Das ist derjenige, der seine Gefühle zu überwinden weiß. Denn damit folgt er seiner Vernunft, seinem Gewissen, er tut seine Pflicht, er hält sich in der Ordnung, und nichts kann ihn davon abbringen. Bis jetzt warst du nur scheinbar frei; du hattest nur die unsichere Freiheit eines Sklaven, dem man nichts befohlen hat. Jetzt sei tatsächlich frei; lerne, dein eigener Herr zu werden; befehle deinem Herzen, oh Emile, und du wirst tugendhaft sein.« (Ebd.: 818)
Der tugendhafte Mensch folgt der Vernunft, dem Gewissen, der Pflicht und wird so zu seinem eigenen Herrn, seine natürliche Freiheit verwandelt sich in sittliche Freiheit. Für Emile gilt hier nichts anderes als für die Bürger der Republik. Während sich letztere jedoch einem nicht näher bestimmten Antrieb des reinen Verlangens erwehren müssen, ist Emiles Gegner eindeutig benannt: das geschlechtliche Begehren. Die Verwandlung des Menschen in den Bürger vollzieht sich mit Abschluss des Gesellschaftsvertrags. Auch im Emile ist es ein »Vertrag« (ebd.: 653), der den entscheidenden Schritt in ein tugendhaftes Leben markiert. Der Vertrag beinhaltet in beiden Fällen ein freiwilliges Gehorsamsversprechen: Die Bürger ver-
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pflichten sich wechselseitig zum Gehorsam gegen die volonté générale; Emile verpflichtet sich zum Gehorsam gegen das Wort des Erziehers. Hier wie dort bindet das Versprechen an einen vernünftigen, moralischen Willen. Emile spricht deutlich aus, was er sich davon erhofft – nämlich Schutz vor den Anfechtungen der eigenen Begierden: »Oh mein Freund, mein Beschützer, mein Lehrer! Nehmt die Autorität wieder zurück, die Ihr in dem Augenblick aus der Hand geben wollt, in dem mir am wichtigsten ist, dass sie Euch bleibt; Ihr hattet sie bis jetzt nur durch meine Schwäche, Ihr werdet sie ab jetzt durch meinen Willen haben, und sie wird mir dadurch heiliger sein. Verteidigt mich gegen all die Feinde, die mich belagern, und vor allem gegen jene, die ich in mir trage und die Verrat an mir begehen; wacht über Euer Werk, damit es Eurer würdig bleibt.« (Ebd.: 651)
Mit dem Vertrag gewinnt Emile einen mächtigen Verbündeten im Kampf gegen die Leidenschaften. Der Erzieher übernimmt für ihn die Aufgabe, die in der Republik die Vertragsgemeinschaft für den einzelnen Bürger erfüllt: Er ermöglicht die moralische Freiheit seines Zöglings auch dann, wenn dieser selbst nicht stark genug ist, sich dem Antrieb des Begehrens entgegenzustellen. Das Mandat dafür überträgt ihm Emile in einem freiwilligen Akt: »Ich will Euren Gesetzen gehorchen, ich will das immer, das ist mein beständiger Wille; wenn ich Euch jemals nicht gehorchen sollte, wird es gegen meinen Willen sein; macht mich frei, indem Ihr mich vor meinen Leidenschaften beschützt, die mir Gewalt antun; hindert mich daran, ihr Sklave zu sein, und zwingt mich dazu, mein eigener Herr zu sein und keinesfalls meinen Sinnen zu gehorchen, sondern meiner Vernunft.« (Ebd.: 651f.)
In der Vertragsformel erklärt Emile seinen beständigen Willen, sich der Führung des Erziehers anzuvertrauen. Sollte er sich je gegen dessen Anweisungen stellen, geschieht dies nicht aus freien Stücken, sondern unter dem Einfluss der Leidenschaften. Emile fordert den Erzieher denn auch auf, ihn gegebenenfalls zu seiner Freiheit zu zwingen: zwingt mich dazu, mein eigener Herr zu sein. Der Erzieher macht von dieser Befugnis später tatsächlich Gebrauch. Emile ist nicht bereit, Sophie zu verlassen, obwohl er den Sinn dieser Maßnahme durchaus einsieht. Weil sein Zögling nicht genug Willensstärke aufbringt, auf die eigene Einsicht zu hören, greift der Erzieher zum Zwang: »[D]a Ihr ja der Vernunft nicht gehorcht, erkennt einen anderen Herrn an. Ihr habt die Verpflichtung nicht vergessen, die Ihr mir gegenüber eingegangen seid. Emile, Ihr müsst Sophie verlassen: Ich will es so.« (Ebd.: 824) Die Republik greift in derselben Art auf Zwang zurück, wenn sich Einzelne nicht an ihre Gesetze halten. Der beständige Wille der
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Bürger ist der Gemeinwille (vgl. CS III 440). Wer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, handelt wie Emile nicht als moralisch autonomes Wesen, sondern als Sklave der Leidenschaften – und muss deshalb zur Freiheit gezwungen werden (vgl. Fetscher 1975: 91).6 Der Erzieher nimmt gegenüber Emile eine ähnliche Position ein wie der Gesetzgeber gegenüber dem Volk: Einen freien Menschen zu erziehen ist eine ebenso übermenschliche Aufgabe wie eine freie Nation zu gründen (vgl. Gagnebin 2000: 136f.). Wie der Gesetzgeber muss der Erzieher die menschlichen Leidenschaften durch und durch kennen und selbst doch leidenschaftslos sein – ein außergewöhnlicher Mensch: »Ein Erzieher! Oh was für eine erhabene Seele... wahrhaftig, um einen Menschen zu erziehen, muss man entweder Vater sein oder selbst mehr als ein Mensch.« (Emile IV 263) Um seiner Aufgabe gewachsen zu sein, müsste der Erzieher selbst schon nach seinen Prinzipien erzogen worden sein (vgl. ebd.) – eine »Aporie des Anfangs« (Herb/Taureck 2012: 127), wie wir sie schon von der Tugendrepublik kennen. Rousseau löst das Problem erneut mit einer enigmatischen Figur, einem fiktiven Erzieher, der gleichsam aus dem Nichts erscheint. Zwar ist der législateur nicht selbst Vertragspartner wie der Erzieher, beide stehen jedoch vor derselben Schwierigkeit: Sie müssen ihre Schützlinge dazu bringen, aus freien Stücken das Joch der Freiheit auf sich zu nehmen. Rousseaus Empfehlung hierzu lautet: »Lasst die Sprache des Geistes durch das Herz gehen, damit sie sich verständlich macht.« (Emile IV 648) Der Erzieher setzt das entscheidende Gespräch mit Emile sorgsam in Szene, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Sein Appell geht nicht an Emiles Verstand, sondern an seine Gefühle. Alles ist darauf angelegt, das Herz des Zöglings zu bewegen: »Ich werde in meine Augen, in meinen Tonfall, in meine Gebärden die Begeisterung und das Feuer legen, die ich ihm eingeben möchte. [...] ich werde die Kraft der Beweisführung durch Bilder und Metaphern beleben; ich werde mich nicht lang und diffus in kalten Grundsätzen ergehen, sondern überquellende Gefühle im Überfluss liefern.« (Ebd.)
Auch der Gesetzgeber sollte dem Volk nicht mit rationalen Argumenten kommen, sondern besser auf eine mitreißende Inszenierung setzen. Das Mittel der
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Hier erkennt man deutlich, dass der Zwang zur Freiheit nicht unbedingt im Sinne staatlicher Sanktionsgewalt zu verstehen ist: Auch der Erzieher wendet keine physische Gewalt gegen Emile an oder droht damit, sondern erinnert ihn nur an sein Versprechen.
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Wahl ist hier die Religion,7 »um durch die göttliche Autorität jene mitzureißen, die die menschliche Klugheit nicht bewegen könnte« (CS III 384). Erzieher und Gesetzgeber müssen außerdem den richtigen Zeitpunkt für den Vertragsschluss abpassen: »Es gibt für die Nationen ebenso wie für die Menschen eine Zeit der Reife, die es abzuwarten gilt, bevor man sie Gesetzen unterwirft [...]« (ebd.: 386). Emile ist reif für die Tugend, sobald sich das Begehren in ihm regt. Zu lange darf der Erzieher jedoch nicht warten, sonst ist es bald zu spät. Mit dem Erwachen der Leidenschaft ist das sittliche Verderben nur noch eine Frage der Zeit (vgl. Emile IV 640f.). Analog dazu nützen die Künste des Gesetzgebers nur in der Jugend eines Volkes (vgl. CS III 385; Fetscher 1975: 94; Baczko 1970: 390). Auch ein Volk ist reif für den Gesellschaftsvertrag, wenn es gleichsam in die Pubertät gekommen ist: wenn es zwar bereits gesellschaftliche Bedürfnisse und Leidenschaften entwickelt hat, aber noch ganz am Anfang seiner Geschichte steht. Der Gesetzgeber muss handeln, solange es von den schlimmsten gesellschaftlichen Übeln noch weiter entfernt ist als von der Reinheit des Naturzustands, den es bereits verlassen hat. Geschichtsphilosophisch verortet Rousseau die Gründung der Tugendrepublik auf der Stufe der société naissante. Unter dem Vorzeichen der Tugend ist es also gerade nicht die bürgerliche Gesellschaft, die im Vertrag ihre Eigentumskonflikte regelt. Vielmehr nimmt sich der Gesetzgeber eine Gesellschaft vor, in der die sozialen Beziehungen noch (fast) unschuldig sind. In der société naissante hat sich, wie bei dem jungen Emile, das Begehren schon bemerkbar gemacht, Tugend ist also notwendig. Andererseits ist der Verfall noch nicht weit fortgeschritten: Es ist also noch Zeit, ihn durch den Vertrag aufzuhalten. Im Vergleich zwischen Emiles Vertrag und dem Gesellschaftsvertrag kristallisiert sich deutlich das Grundmuster heraus, das auf der individuellen Ebene ebenso wirksam wird wie auf der kollektiven: Sobald die gesellschaftliche Entwicklung einsetzt und künstliche Bedürfnisse entstehen, ist die natürliche Freiheit des Menschen in Gefahr. Es droht die Tyrannei der Leidenschaften, des amour propre. Einziger Ausweg ist die Tugend: Sie macht den Menschen moralisch frei. Mit dem Vertrag wird der Weg in den Abgrund verlassen und der Pfad der Tugend betreten. Dieser Richtungswechsel ergibt sich freilich nicht aus der Logik der Vergesellschaftung selbst – deshalb ist das Eingreifen einer quasigöttlichen Instanz nötig (vgl. Baczko 1970: 394f.). Erzieher und Gesetzgeber verkörpern beide die Schwierigkeit, den Übergang zur Tugend aus sich selbst heraus zu motivieren.
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Auch der Erzieher appelliert an Emiles religiöse Gefühle, vgl. »ich werde das ewige Wesen [...] als Zeuge der Wahrhaftigkeit meiner Reden anrufen« (Emile IV 648).
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Die plötzliche Bekehrung zur Tugend begegnet uns auch als Motiv in der Nouvelle Héloïse. Im Gegensatz zu Emile und den Bürgern der Republik ist es hier eine Frau, die eine »glückliche Veränderung« (Julie II 364) durchlebt: Julie wird zur tugendhaften Mme de Wolmar (vgl. Steinbrügge 1987: 92), sobald sie vor den Traualtar tritt. In einem Brief an St. Preux beschreibt sie diesen glücklichen Moment, zwar ohne von einem contract zu sprechen, aber dennoch mit deutlichen Anklängen an das Vertragsmotiv. Julies freiwilliges Gehorsamsversprechen nimmt die Form eines Gebetes an und ist direkt an Gott gerichtet: »Ich will [...] das Gute, das du willst, und dessen Quelle du allein bist. Ich will den Ehemann lieben, den du mir gegeben hast. Ich will treu sein, weil das die oberste Pflicht ist, die die Familie und die ganze Gesellschaft zusammenhält. Ich will keusch sein, weil das die oberste Tugend ist, die alle anderen nährt. Ich will alles, was der Ordnung der Natur entspricht, die du eingerichtet hast, und den Regeln der Vernunft, die ich von dir habe. Ich gebe mein Herz in deine Obhut und lege meine Begierden in deine Hand. Sorge dafür, dass alle meine Handlungen meinem beständigen Willen entsprechen, der der deine ist, und dulde nicht mehr, dass der Irrtum eines Augenblicks den Sieg über die Entscheidung meines ganzen Lebens davonträgt.« (Julie II 356f.)
Julies beständiger Wille ist es, in Einklang mit den göttlichen Gesetzen zu leben, statt ihrer Leidenschaft zu erliegen – anders als Emile weiß sie aus eigener Erfahrung, wovon sie spricht. Auch Julie bindet sich mit diesem Versprechen an einen moralischen Willen, an den Willen Gottes. Der Gehorsam gegen Gott kann freilich nicht durch eine Zwangsbefugnis abgesichert werden wie der Gehorsam gegen staatliche Gesetze oder die Autorität eines Erziehers. Julie muss daher letztlich das höhere Maß an Selbstüberwindung aufbringen; ihre Tugend ist herausragend, einer tragischen Romanheldin würdig. Ihr Versprechen leistet sie zudem aus eigenem Antrieb, ohne die Überredungskünste eines Erziehers oder Gesetzgebers. Auch wenn Wolmar später die Funktion des législateur für den Haushalt von Clarens übernehmen wird, so spielt er bei der Bekehrung seiner Braut doch keine aktive Rolle.8 Inhaltlich unterscheidet sich Julies Versprechen vom Gesellschaftsvertrag und dem pädagogischen Vertrag in einer wesentlichen Nuance: Julie gelobt ehe-
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Vgl. dagegen Steinbrügge 1987: 92, die hervorhebt, dass Julie die Ehe mit Wolmar nicht aus freien Stücken eingeht. Freilich beinhaltet Julies Eheversprechen »Gehorsam und vollständige Treue« (Julie II 354) gegenüber Wolmar, dennoch würde ich das im Gebet geleistete Gehorsamsversprechen gegen Gott hier als primären Tugendvertrag sehen.
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liche Treue und Keuschheit.9 Damit wird deutlich, dass es hier nicht um die männliche, sondern um die weibliche Tugend geht. Rousseau differenziert genau zwischen beiden: »Das höchste Wesen wollte dem Menschengeschlecht in allem Ehre erweisen; gibt es dem Mann maßlose Neigungen, gibt es ihm gleichzeitig das Gesetz, das sie regelt, damit er frei sei und sich selbst beherrsche; liefert es ihn unmäßigen Leidenschaften aus, fügt es diesen Leidenschaften die Vernunft hinzu, um sie zu beherrschen; liefert es die Frau unbegrenzten Begierden aus, fügt es diesen Begierden die Scham hinzu, um sie in Schranken zu halten.« (Emile IV 695)
Die innere Souveränität des Mannes wird durch Neigungen und Leidenschaften in Frage gestellt; seine sittliche Freiheit verdankt er dem Gesetz und der Vernunft. Die Frau dagegen kämpft mit unbegrenzten Begierden, die sie durch ihre Scham in Schach halten muss. Für beide besteht die Tugend in der Fähigkeit, sich selbst zu beherrschen – doch wo es beim Mann um Autonomie geht, geht es bei der Frau um Keuschheit und sexuelle Zurückhaltung. Wir wissen bereits, welche gewichtige Rolle die weibliche Tugend der Scham innerhalb der rousseauschen Begehrensdynamik spielt. Indem sie das männliche Begehren weckt und steuert, verleiht sie der Frau die Souveränität über das Herz des Mannes. Diese Herrschaft trägt höchst ambivalente Züge, im besten aller Fälle aber dient sie der Tugend. Die schamhafte Frau hat es in der Hand, ihren Geliebten für das Gute zu gewinnen – sofern sie selbst den Wert der Tugend erkennt und über alle Maßen schätzt: »Die Männer werden immer das sein, was den Frauen gefällt: Wenn ihr also wollt, dass sie groß und tugendhaft werden, bringt den Frauen bei, was Größe der Seele und Tugend ist.« (DSA III 21) Die sanfte Autorität der tugendhaften Frau flößt auch dem Mann die Liebe zur Tugend ein.
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Auch Sophie hat ein solches Gelöbnis geleistet: »Sophie wird keusch und anständig sein bis zu ihrem letzten Atemzug; das hat sie auf dem Grund ihrer Seele geschworen, und zwar zu einer Zeit, als sie schon alles gefühlt hat, was es kosten wird, einen solchen Schwur zu halten [...]« (Emile IV 751). Darüber hinaus hat Sophie mit ihren Eltern »eine Übereinkunft« (ebd.: 757) getroffen, die strukturell dem Vertrag zwischen Emile und Erzieher ähnelt. Dabei geht es um die Wahl eines Ehegatten, die prinzipiell Sophie überlassen bleibt, für die sich ihre Eltern jedoch ein Vetorecht ausbedingen, um ihre Tochter gegebenenfalls vor ihren eigenen irreführenden Leidenschaften zu bewahren (vgl. ebd.: 757f.; vgl. dazu Wingrove 2000: 78f.).
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Sophie ist eine solche Frau, deren vorherrschende Leidenschaft die Liebe zur Tugend ist (vgl. Emile IV 751). Das macht sich der Erzieher zunutze, wenn er sich am Ende des Emile aus dem Leben seines Zöglings zurückzieht: Er überträgt seine Autorität auf Sophie, im Vertrauen darauf, dass diese nur im Sinne der Tugend davon Gebrauch machen wird. Sophie soll das Erbe als gouverneur antreten und ihren Einfluss bei Emile geltend machen, um ihn weiter auf dem rechten Weg zu halten (vgl. ebd.: 867). Auch der Gesetzgeber kann auf die Macht der Frauen zurückgreifen, wenn es darum geht, den Geist der republikanischen Tugend über den Gründungsakt hinaus zu bewahren. Wie Sophie, die im Ehealltag das Amt des Erziehers übernimmt, wachen die Frauen im Alltag der Republik über die guten Sitten – und treten damit das Erbe des Gesetzgebers an (vgl. Scherl 2012a: 122f.). Rousseau formuliert diese weibliche Aufgabe ausführlich in der Widmung an Genf, die er dem Zweiten Diskurs voranstellt: »Könnte ich jene teure Hälfte der Republik vergessen, die das Glück der anderen ausmacht und deren Sanftheit und Besonnenheit den Frieden und die guten Sitten in ihr aufrechterhält? Liebenswerte und tugendhafte Bürgerinnen, das Schicksal Eures Geschlechts wird es immer sein, das unsere zu regieren. Welch ein Glück, wenn Eure keusche Macht lediglich in der Ehegemeinschaft ausgeübt wird und sich nur zum Ruhme des Staates und zum öffentlichen Glück spürbar macht. So geboten die Frauen in Sparta, und so verdient Ihr es, in Genf zu gebieten. Welcher barbarische Mann könnte der Stimme der Ehre und der Vernunft aus dem Mund einer zärtlichen Ehefrau widerstehen [...]? Es ist an Euch, durch Eure liebenswürdige und unschuldige Herrschaft und Euren gewinnenden Esprit die Liebe zu den Gesetzen im Staat und die Eintracht unter den Bürgern stets aufrechtzuerhalten [...]. Seid also immer das, was Ihr seid, die keuschen Hüterinnen der Sitten und die sanften Bande des Friedens, und fahrt fort, bei jeder Gelegenheit die Rechte des Herzen und der Natur zugunsten der Pflicht und der Tugend zur Geltung zu bringen.« (DI III 119f.)
Der weibliche Einfluss unterliegt einer klaren Beschränkung: Nur in der Ehe, und nur durch tugendhafte, keusche Frauen soll er ausgeübt werden. Unter diesen Bedingungen allerdings entfaltet er eine höchst förderliche Wirkung. Die Frauen regieren das Reich der habits of the heart: Sie halten die Liebe zur Republik wach und stärken das Band der Zuneigung und Freundschaft zwischen den Bürgern. Damit sorgen sie für den affektiven Nährboden, auf dem die republikanische Tugend gedeihen kann. Die Autorität der Frauen beruht dabei weder auf politischer Macht noch auf rationaler Überzeugungskraft. Vielmehr ist es der zwanglose Zwang der weiblichen Liebenswürdigkeit und Sanftmut, dem kein Mann mit Herz widerstehen kann. Auf solchen sanften Wegen entfalten die
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Frauen im Verborgenen einen weitreichenden Einfluss. Ihrem Urteil traut Rousseau es sogar zu, die öffentliche Meinung zu ändern, vor der staatliche Gesetze und Appelle an die Vernunft gleichermaßen kapitulieren müssen: »[W]eder die Vernunft, noch die Tugend, noch die Gesetze werden die öffentliche Meinung überwinden, solange man die Kunst, sie zu ändern, nicht entdecken wird.« (LdA V 64) »Ich bin überzeugt, dass man es niemals schaffen wird, diese Veränderungen zu bewirken, ohne auch die Frauen eingreifen zu lassen, von denen die Denkungsart der Männer zum Großteil abhängt.« (Ebd.: 66; vgl. Fermon 1997: 153f.)
Die weibliche Intervention kann und soll die opinion publique für die Tugend empfänglich machen. Damit übernehmen die Frauen, wie Rousseau es für die Genferinnen formuliert, »fast [...] die Funktion von Zensoren.« (LdA V 97) Ihre subtile Macht steht dabei ausschließlich im Dienst des Vaterlandes. Durch ihre Verantwortung für die guten Sitten und die öffentliche Meinung werden die Frauen gleichsam zu Stellvertreterinnen des Gesetzgebers auf Erden – sie sind es, die jene vierte Art der Gesetze »in die Herzen der Bürger« einschreiben, die »die wahre Verfassung des Staates ausmacht« (CS III 394; vgl. Korecky 2013: 394f.). Auch die Art ihrer Einflussnahme, der Appell an die Gefühle, gleicht dem Eingreifen des législateur.10 Damit füllen die Frauen die funktionale Lücke, die sich daraus ergibt, dass der Gesetzgeber in der Republik selbst keinen Platz findet. Als quasi-metaphysische Instanz steht er vor und außerhalb des Staates: Er setzt den Rahmen für das Funktionieren der Tugendgemeinschaft. Die Frauen sorgen dagegen innerhalb dieses Rahmens für deren Fortdauern. Damit entspricht das Verhältnis Gesetzgeber/Frauen dem Verhältnis Erzieher/Sophie (vgl. Scherl 2012a: 123). Eine ähnliche Aufgabenteilung lässt sich – wenn auch weitaus weniger eindeutig11 – in Clarens zwischen Wolmar und Julie wie-
10 Parallelen in der Funktion der schamhaften Frau zu Erzieher und Gesetzgeber sollen ausführlich im Unterkapitel II 3.2 im Zusammenhang mit dem Thema Manipulation diskutiert werden. 11 Julie erweist sich als weitaus vielschichtigere Figur als Sophie oder die Frauen der Republik, daher lässt sie sich in das Schema nicht eindeutig einordnen. Einerseits übernimmt sie selbst gemeinsam mit Wolmar auch die Rolle des législateur (diesen Aspekt übersieht etwa Steinbrügge, die Wolmar als alleiniges Mastermind von Clarens sieht, vgl. Steinbrügge 1987: 84-96); andererseits muss Julie wie Emile mithilfe des Vertrags um ihre eigene Tugend kämpfen. Ihre Verwandtschaft zu Sophie und den tugendhaften Frauen der Republik zeigt sich schließlich vor allem in ihrer Funktion in bezug auf ihren früheren Liebhaber St. Preux, dessen sittliche Läuterung sie bewirkt.
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derfinden. Während Wolmar in eher abstrakter Hinsicht als Architekt der häuslichen Ordnung fungiert, bleibt es vor allem Julie überlassen, innerhalb der häuslichen Gemeinschaft als »Inkarnation der Wolmarschen Prinzipien« (Steinbrügge 1987: 93) zu wirken. Damit erfüllen die tugendhaften Frauen in der Republik, im Emile und in der Nouvelle Héloïse alle eine ähnliche Aufgabe: Ihre weibliche Tugend wird zur Grundlage einer Ordnung der Leidenschaften, die das Begehren einhegt und zähmt. Die schamhafte Frau sorgt dafür, dass aus der ungezügelten Leidenschaft eine Leidenschaft für die Tugend wird. Das geschlechtliche Begehren, das ursprünglich die moralische Freiheit bedrohte, verwandelt sich so in ein Instrument, das die Ordnung der Freiheit stabilisiert – ob in der Republik, im Haushalt von Clarens oder in Emiles Seele. In Emiles Erziehung zur Tugend steht die Ordnung der Leidenschaften im Mittelpunkt, weil Emiles innerer Freiheit nur die Liebe zu Sophie gefährlich werden kann. Die Bürger der Republik dagegen sind potentiell allen Anfechtungen ausgesetzt, die dem amour propre entspringen. Daher ist die Ordnung der Leidenschaften hier nur ein Element der Sitten und Institutionen, die darauf ausgerichtet sind, republikanische Tugend zu erzeugen und aufrechtzuerhalten – Volksfeste, militärische Übungen, die Zivilreligion etwa verfolgen dasselbe Ziel.12 Die Bürger sollen eine gut republikanische Gefühlswelt entwickeln: Zerstörerische Begierden, egoistische Neigungen, Sonderinteressen sollen weichen; an ihre Stelle sollen Vaterlandsliebe, bürgerliche Verbundenheit und eine glühende Begeisterung für die Grundwerte der Republik treten. Die Republik nutzt dafür gerade die gefährlichsten Abgründe des gesellschaftlichen Menschen, indem sie ihnen eine andere Richtung gibt (vgl. Fetscher 1975: 96, 196-204; Snyder 1999: 60f.): Das geschlechtliche Begehren ist ein Gift, das richtig angewandt zum Heilmittel wird. Dasselbe Prinzip liegt auch anderen Therapien zugrunde, die Rousseau der Republik verschreibt. So entfaltet etwa die opinion publique, eigentlich höchster Ausdruck der gesellschaftlichen Entfremdung, eine heilsame Wirkung, sobald die republikanischen Zensor(inn)en ihre Finger im Spiel haben. Ähnlich funktionieren die öffentlichen Wettbewerbe, die Rousseau für Polen wie für Genf nach dem Vorbild Spartas vorschlägt (vgl. Pologne III 968; LdA V 115f.). Hier wird das eigentlich hoch problematische Streben nach öffentlicher Anerkennung geläutert. Im Wetteifern um die größte Tugendhaftigkeit kommt keine spaltende Konkurrenz zwischen den Bürgern auf, im Gegenteil: Das gemeinsame Streben nach Ruhm für das Vaterland stärkt nur umso mehr die repu-
12 Vgl. dazu Matthes 2000: 142f., die Rousseaus Geschlechterordnung als eine Fortsetzung der republikanischen spectacles auffasst.
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blikanische Zusammengehörigkeit (vgl. Fetscher 1975: 197; Rebentisch 2012: 303). Wie wichtig aber auch für die Republik gerade die Ordnung der Leidenschaften ist, thematisiert Rousseau vor allem ex negativo: Im Brief an d’Alembert zeichnet er das Schreckensszenario einer dysfunktionalen Begehrensdynamik. Mit dem Theater, so die Befürchtung, könnten in Genf schlechte Sitten Einzug halten, ausgelöst durch etwas, das Rousseau aus der verabscheuten Pariser Gesellschaft kennt: den désordre des femmes, »die Liederlichkeit der Frauen« (LdA V 100; vgl. ebd.: 74). So bezeichnet Rousseau weibliches Verhalten, das nicht dem Idealbild der schamhaften Frau entspricht. Dabei hat er in erster Linie die Damen der Pariser Salongesellschaften vor Augen, deren unordentliches Betragen in der Nouvelle Héloïse ausführlich geschildert wird (vgl. Julie II 265-278). St. Preux bemängelt in seinem Brief die freizügige Kleidung, das ordinäre und unweibliche Auftreten und den allzu vertrauten und wahllosen Umgang der Pariserinnen mit Männern. Die von ihm beschriebenen Frauen bewegen sich selbstverständlich in männlicher Gesellschaft, lieben das Theater, scharen einen Kreis von Verehrern um sich, statt ein zurückgezogenes, häusliches Leben zu führen. In Rousseaus Augen ist ein solches Verhalten schamlos (vgl. Scherl 2012a: 124). Dieser Mangel an weiblicher Tugend zeitigt zwei auf den ersten Blick gegensätzliche Konsequenzen: ein Zuwenig und ein Zuviel an Begehren. Weil die Scham das Begehren zugleich stimuliert und zügelt, führt weibliche Schamlosigkeit zu einem Schwinden der Leidenschaft und gleichzeitig zur erotischen Überforderung der Männer (vgl. Seite 54f.). Auf jeden Fall aber bringt sie die wohl austarierte Ordnung der Leidenschaften durcheinander. Einerseits erlischt ohne Scham das Feuer der wahren Liebe: Schamlose Frauen haben zwar viele männliche Bewunderer, echtes Begehren können sie jedoch nicht hervorrufen. In den Salons tritt schale Galanterie an die Stelle der glühenden Leidenschaft, die nur eine tugendhafte Frau erwecken könnte: »[W]elche Liebe kann herrschen, wo die Scham verspottet wird, und welchen Reiz kann ein Leben haben, dem es gleichzeitig an Liebe und Anständigkeit mangelt?« (Julie II 270; vgl. LdA V 95f.) Mit der fehlenden Scham verlieren die Frauen so auch ihre Herrschaft über die Herzen der Männer: »Eine dreiste, unverschämte, intrigante Frau, die ihre Liebhaber nur durch Koketterie anzuziehen und durch Begünstigungen zu halten weiß, zwingt sie wie Diener in knechtischen und gemeinen Dingen zum Gehorsam; bei den wichtigen und ernsten Dingen hat sie keine Autorität über sie. Aber eine zugleich ehrbare, liebenswürdige und besonnene Frau, [...] die zurückhaltend und bescheiden ist, [...] schickt sie mit einem Wink ans Ende der Welt, in den Kampf, zum Ruhm, in den Tod, wohin es ihr gefällt [...]« (Emile IV 745).
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Die Ergebenheit eines galanten Liebhabers ist mehr Schein als Sein: Zu seelischer Größe und tugendhaftem Verhalten lässt er sich nur schwerlich anhalten. Wenn das Begehren erlischt, schwindet damit auch der segensreiche Einfluss der Frauen. Andererseits schlägt ohne Scham der Einfluss der Frauen ins Negative um. Durch den Umgang mit Frauen, die selbstbewusst ihr ungezügeltes Begehren artikulieren, werden Männer geschwächt: Ihre körperliche Konstitution verweichlicht, ihre geistigen Fähigkeiten beschränken sich auf die Kunst belangloser Plaudereien (vgl. LdA V 93ff.). Aus der physischen und intellektuellen folgt vor allem die moralische Schwäche. Männer, die sich den Launen einer Salondame unterwerfen, verzichten freiwillig auf ihre moralische Autonomie. Die Herrschaft der Frau, die idealerweise zur Tugend erzieht, bewirkt in ihrer pervertierten Form das glatte Gegenteil. Männer, die unter dem Einfluss schamhafter Frauen doch eigentlich lernen sollen, sich selbst und ihre Leidenschaften zu beherrschen, werden zu willenlosen Sklaven des weiblichen Begehrens. Rousseau verurteilt diese männliche Selbsterniedrigung in drastischen Worten: »Man enthält ihnen jede Übung vor, man nimmt ihnen alle ihre Fähigkeiten, man macht sie unfähig zu jedem anderen Gebrauch als zu den Tätigkeiten, zu denen sie bestimmt sind, und das Einzige, was die Frauen nicht von diesen schändlichen Sklaven verlangen, ist, sich ihrem Dienst nach Art der Orientalen zu widmen.« (Ebd.: 102)
Männer, die sich ganz den Wünschen und Begierden einer schamlosen Frau verschreiben, selbst für deren sexuelle Befriedigung nach Art der Orientalen zur Verfügung stehen, riskieren nicht nur ihre Tugend, sie riskieren auch ihre Männlichkeit (vgl. Vinken 1995: 193). Die Männer in den Pariser Salons verweichlichen und verweiblichen zugleich: »[K]raftlos geben wir uns den Wünschen des Geschlechts hin, das wir beschützen und nicht bedienen sollten; wir haben gelernt, es zu verachten, indem wir ihm gehorchen [...]; und jede Pariserin versammelt in ihrer Wohnung einen Harem von Männern, die mehr Frau sind als sie [...]« (LdA V 93).
Der Salon als Harem mit vertauschten Geschlechterrollen – hier wird offenkundig, dass der Verlust an Tugend, der durch den désordre des femmes ausgelöst wird, zugleich einen Verlust an Männlichkeit bedeutet. Das Gegenstück zur
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schamlosen Frau ist der verweiblichte Mann. Indem Rousseau dieses Stereotyp 13 bemüht, um die bedrohlichen Konsequenzen eines möglichen Verfalls republikanischer Sitten zu illustrieren, nimmt er eine bemerkenswerte Gleichsetzung vor: Republikanische Tugend ist dasselbe wie republikanische Männlichkeit. »[I]n einer Republik braucht man Männer« (ebd.: 92) – Rousseaus politisches Ideal funktioniert in geschlechtlichen Kategorien. Um zu verstehen, in welchem Sinne die Republik Männer braucht, müssen wir uns nun einer weiteren Unterscheidung zuwenden. Denn die Logik der Dichotomie männlich/weiblich erstreckt sich auch auf das politische Terrain und teilt es in zwei Bereiche: Öffentlichkeit und Privatheit.
2.3 Ö FFENTLICHKEIT
UND
P RIVATHEIT
In der Geschichtserzählung des Zweiten Diskurses entstehen Öffentlichkeit und Privatheit mit der Sesshaftwerdung der Menschen. Die kleinen Hütten aus Reisig und Lehm, die Rousseaus erste Revolution hervorbringt, scheiden erstmals Innen von Außen. Innerhalb konstituiert sich die Familie als Gemeinschaft des Intimen: Vertrautheit und liebevolle Zuneigung binden Mann und Frau, Eltern und Kinder aneinander und bestimmen den inneren Bezirk des Privaten. Außerhalb schlägt dagegen die Geburtsstunde des Öffentlichen. »Man gewöhnte sich daran, sich vor den Hütten oder rund um einen großen Baum zu versammeln: Der Gesang und der Tanz, wahre Kinder der Liebe und der Muße, wurden das Vergnügen oder vielmehr die Beschäftigung der müßigen und zusammengekommenen Männer und Frauen.« (DI III 169)
Unter freiem Himmel, auf dem Dorfplatz, rund um einen Baum entfaltet sich das öffentliche Geschehen: Junge Männer und Frauen kommen zusammen und vertreiben sich die Zeit mit Gesang und Tanz. Ganz ähnlich gestaltet sich die Szenerie im Essai über den Ursprung der Sprachen. Am Rande der Brunnen, »unter alten Eichen« (EOL V 406), entwickeln sich aus den »ersten Begegnungen der Geschlechter« (ebd.: 405) die »ersten Feste« (ebd.: 406). Das Zusammenleben von Mann und Frau im Privaten wird von der Logik der Intimität bestimmt – Innerlichkeit, Vertrautheit, Authentizität. Die öffentliche Begegnung der Geschlechter steht hingegen unter dem Vorzeichen des Begeh-
13 Zum Stereotyp des effeminierten Mannes vgl. Halperin 2003: 181-185; vgl. auch Scherl 2012a: 126.
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rens. Die Feuer der leidenschaftlichen Liebe setzen eine gefährliche Dynamik in Gang. Schon im unschuldigen Geschehen des Dorffestes zeichnet sich die Ambivalenz des Öffentlichen ab: Das Leben unter den Blicken der Anderen birgt die Gefahr der Selbstentfremdung (vgl. Herb 2012b: 99). Blicke, die beurteilen und vergleichen, werden zu Blicken, die begehrt und schließlich nicht mehr entbehrt werden können. »Durch das Einander-Sehen kann man nicht mehr darauf verzichten, einander immer wieder zu sehen. [...] Jeder begann, die anderen zu beachten und selbst beachtet werden zu wollen, und das öffentliche Ansehen hatte einen Wert.« (DI III 169) Sobald die öffentliche Wertschätzung zur harten Währung wird, haben der gesellschaftliche Kampf um Anerkennung und die Tyrannei der öffentlichen Meinung begonnen. Aber Rousseaus Verurteilung ist nicht eindeutig: Während er das dörfliche Fest im Diskurs ausdrücklich zum Ausgangspunkt der unheilvollen gesellschaftlichen Dynamik erklärt, lässt die Schilderung im Essai noch nichts von der Problematik des amour propre erahnen. Hier scheint der »reine Kristall der Brunnen« (EOL V 406) die Blicke der anderen zu läutern, die Feiernden sehen einander direkt ins Herz (vgl. Schneider 2012: 73). Die Urszene des Festes bleibt auch dort allgegenwärtig, wo Rousseau vom öffentlichen Leben in der Republik spricht. Menschen kommen unter freiem Himmel zusammen, erfreuen sich ihres Beisammenseins und erleben sich als Gemeinschaft: Dieses Grundmuster prägt nicht nur die spielerischen Vergnügen der Republik, etwa das im Brief an d’Alembert beschriebene Volksfest oder die Spiele und Wettkämpfe der Polen. Auch den ernsten Angelegenheiten der Republik haftet stets noch etwas Festliches an: der Gesetzgebung in der Volksversammlung ebenso wie den Übungen der Bürgermiliz zur Vaterlandsverteidigung. Wie zur Erinnerung an das Dorffest der société naissante lässt Rousseau republikanische Öffentlichkeit immer wieder rund um einen Baum entstehen. Auch Gesetze werden »unter einer Eiche« (CS III 437) gemacht; das Volksfest kommt mit einer stilisierten Variante aus: »Pflanzt in der Mitte eines Platzes einen mit Blumen bekränzten Pflock, versammelt dort das Volk, und ihr werdet ein Fest haben.« (LdA V 115) Von der Ambivalenz, die dem Öffentlichen an seinem Ursprung in der société naissante noch innewohnt, ist in der Republik nichts mehr zu spüren. Die Blicke der Anderen stacheln hier nicht zu Eitelkeit und sozialem Vergleich an, vielmehr führen sie zu einer allgemeinen Verbundenheit im wechselseitigen Erkennen und Anerkennen: »[S]orgt dafür, dass jeder sich in den anderen erkennt und liebt, damit alle inniger vereint sind.« (Ebd.; vgl. Starobinski 2003: 146f.) In der Republik herrscht eine Form der Öffentlichkeit, die sich der Logik des Gesellschaftlichen entzieht.
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Wie ist das möglich? Die Szenen des dörflichen Festes im Diskurs und im Essai erzählen vom rendez-vous der Geschlechter. Sie zeichnen ein zwiespältiges Bild des Öffentlichen, weil das geschlechtliche Begehren nun einmal eine zwiespältige Angelegenheit ist. Die Republik dagegen kennt einen Weg, dieser Ambivalenz zu entgehen: Rousseaus Ordnung der Geschlechter bewahrt die republikanische Öffentlichkeit vor den gefährlichen Abgründen des Begehrens. Dafür sorgen einerseits die Trennung der männlichen und weiblichen Lebensbereiche und die Verbannung der Frauen ins Private. Andererseits erfindet Rousseau für seine Republik eine spezielle, geläuterte Form des öffentlichen Begehrens. Rousseau setzt für die Republik auf Geschlechtertrennung: »[W]ir werden entdecken, dass die beiden Geschlechter sich manchmal versammeln und gewöhnlich getrennt leben müssen.« (LdA V 92) Die Empfehlungen, die der Brief an d’Alembert hierzu bereithält, entsprechen ziemlich genau den Richtlinien, die im Hause Clarens für das Zusammenleben des Dienstpersonals gelten (vgl. Julie II 449ff.). In beiden Fällen hat die Geschlechtertrennung zwei Funktionen. Zunächst geht es darum, dem allzu intimen Umgang der Geschlechter vorzubeugen, um unsittliches Begehren gar nicht erst aufkommen zu lassen. Darüber hinaus sind es gerade die getrennten Lebenswelten, die Männer zu Männern und Frauen zu Frauen machen (vgl. Korecky 2013: 386; Fermon 1997: 109). In Clarens gewöhnt man männliche und weibliche Bedienstete an »völlig verschiedene Beschäftigungen, Gewohnheiten, Geschmäcker und Vergnügungen« (Julie II 449f.), um den Kontakt zwischen ihnen zu minimieren – als Prophylaxe gegen Unsittlichkeit, aber auch als Selbstzweck: Julies Auffassung nach ist die unterschiedliche Lebensweise notwendig, um den natürlichen Bestimmungen der Geschlechter zum Durchbruch zu verhelfen. Männer und Frauen sollen komplementäre Talente entwickeln, die je auf ihre Weise zum Gelingen des Ganzen beitragen. »[Julie] zufolge sind die Frau und der Mann wohl dazu bestimmt zusammenzuleben, aber nicht auf dieselbe Weise; sie müssen in Übereinstimmung handeln, ohne dieselben Dinge zu tun.« (Ebd.: 450) Die Republik orientiert sich an derselben Maßgabe. Der Brief an d’Alembert beschwört ein Genf, in dem noch alles seine Ordnung hat. Das bedeutet für Rousseau, dass Männer und Frauen weitgehend getrennt ihrer Wege gehen. An eine Aufhebung der Geschlechtertrennung knüpfen sich auch hier zwei Befürchtungen: Einerseits würden die guten Sitten verloren gehen, wenn sich Männer und Frauen gemeinsam den zweifelhaften Vergnügungen des Theaters hingeben. Andererseits würde die Grenze zwischen den Geschlechtern verschwimmen, wenn sich die separaten Lebensbereiche vermischen. Männer wären keine echten Männer, Frauen keine richtigen Frauen mehr.
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Schnell wird deutlich, dass es hier um eine doppelte Grenzziehung geht: Die Scheidelinie zwischen männlichen und weiblichen Lebensbereichen verläuft in der Republik ziemlich genau zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten.14 Tugendhafte Frauen bleiben im inneren Bezirk des Hauses, sie sind auf ein »zurückgezogenes und häusliches Leben« (LdA V 75) festgelegt. Umgekehrt bezieht die republikanische Öffentlichkeit ihr spezifisches Profil gerade aus ihrer Eigenschaft als Reservat der Männlichkeit. Wieder einmal bemüht Rousseau das Vorbild der Antike, um sein Ideal einer frauenfreien Öffentlichkeit zu skizzieren: »Die Alten verbrachten fast ihr ganzes Leben an der frischen Luft, entweder gingen sie ihren Geschäften nach, oder sie regelten die Angelegenheiten des Staates auf dem öffentlichen Platz, oder sie gingen auf dem Land spazieren [...]. Bei alldem keinerlei Frauen; aber man wusste bei Bedarf gut, wo sie zu finden waren [...]« (ebd.: 92).
Bei den Griechen und Römern gab es noch echte Männer, die den öffentlichen Raum bevölkerten, ohne sich durch die Anwesenheit von Frauen stören zu lassen. Einen Abglanz der antiken maskulinen Herrlichkeit erkennt Rousseau auch in seiner Heimatstadt: in den traditionellen Zirkeln der Genfer Bürger (vgl. ebd.: 96). Als Ort, an dem Männer unter sich sein können, wirken diese Zirkel geradezu als Lehrstätten republikanischer Männlichkeit. »Schließlich vereinen diese ehrbaren und unschuldigen Einrichtungen alles, was dazu beitragen kann, aus denselben Männern Freunde, Bürger und Soldaten zu formen, und folglich alles, was am besten zu einem freien Volk passt.« (Ebd.) Um der Republik als echte Männer dienen zu können, müssen Männer zu Freunden, Bürgern und Soldaten werden15 – eine Aufgabe, die nur unter Ausschluss weiblicher Ablenkung zu bewältigen ist. Aus diesem Blickwinkel rücken die öffentlichen Institutionen, die Rousseau für die ideale Republik vorschlägt, in ein neues Licht. Wie die Genfer Zirkel in
14 Zur Konstitution republikanischer Öffentlichkeit und Privatheit entlang der Geschlechtergrenzen vgl. grundlegend Landes 1988. Die Trennung zwischen männlicher Öffentlichkeit und weiblicher Privatheit entspricht bei Rousseau wohlgemerkt nicht den klassischen cartesianischen Dichotomien Geist vs. Körper, Kultur vs. Natur, Verstand vs. Gefühl – so etwa bei Lange 1979; vgl. auch Steinbrügge 1987: 73 –, da Rousseaus republikanische Öffentlichkeit gerade keine Sphäre der reinen Rationalität darstellt. Vgl. zur Kritik an solchen Interpretationen Snyder 1999: 60; Ormiston 2002. Laut Wingrove ist Rousseaus Position in dieser Hinsicht deutlich von früheren Versionen des Republikanismus zu unterscheiden, vgl. Wingrove 2000: 13f. 15 Vgl. dazu und im Folgenden Scherl 2012a.
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kleinerem Rahmen, so tragen Volksversammlungen, militärische Übungen, Wettkämpfe und Feste im großen Stile dazu bei, Männer zu Freunden, Bürgern und Soldaten zu machen. Die praktischen Übungen des Bürgerseins wirken also zugleich als praktische Übungen der Männlichkeit – republikanische Sozialisation entpuppt sich als doing gender (vgl. Snyder 1999: 55). Die Ausführungen im Brief an d’Alembert machen deutlich, dass das öffentliche Leben nicht nur weitgehend den männlichen Bewohnern der Republik vorbehalten ist, mehr noch: Das öffentliche Leben bringt echte Männer in einem republikanischen Sinne erst hervor. Die Volksversammlungen vermitteln das Gefühl der Zugehörigkeit und Teilhabe am Gemeinwesen, das den Bürger auszeichnet. Der Ausschluss von Frauen ist hier notwendig: Nur unter Männern lassen sich die ernsthaften Geschäfte des Vaterlandes besprechen (vgl. LdA V 96). Die Feste und Spiele erzeugen die brüderliche Verbundenheit zwischen Freunden. Im Unterschied zu den anderen gemeinschaftsstiftenden Aktivitäten der Republik ist das Fest zwar keine reine Männerangelegenheit. Frauen spielen hier jedoch eine sehr spezielle Rolle, die noch näher ins Auge gefasst werden muss. Am deutlichsten wird die Verbindung zwischen republikanischer Teilhabe und Männlichkeit schließlich in den Institutionen, die Soldaten heranziehen sollen: Der verpflichtende Militärdienst sowie die kampf- und körperbetonten Wettbewerbe tragen dazu bei, Eigenschaften wie physische Stärke, Zähigkeit und Tapferkeit auszubilden. Wenn Rousseau die Manneskraft der antiken Griechen und Römer mit der seiner Zeitgenossen vergleicht, verrät er zugleich, dass Männlichkeit eine keineswegs angeborene Tugend ist, sondern vielmehr praktisch eingeübt werden muss: »[D]ie ersten Römer lebten als Männer und fanden in ihren fortwährenden Übungen die Kraft, die ihnen die Natur versagt hatte« (ebd.: 94) – ganz im Gegensatz zu den schwächlichen Franzosen, die nicht als Männer, sondern in der schädlichen Gesellschaft von Frauen leben. Nirgends wird wohl so offenkundig, dass Geschlechtlichkeit für Rousseau letztlich keine Naturtatsache, sondern etwas Gemachtes ist (vgl. Snyder 1999: 56f.). Alle diese öffentlichen Übungen zielen darauf, republikanische Männlichkeit zu erzeugen, die sich in dem Dreiklang Freunde – Bürger – Soldaten spiegelt. Gleichzeitig handelt es sich um praktische Lektionen in republikanischer Tugend. Der tugendhafte citoyen hängt mit ganzem Herzen an seinen Mitbürgern und an seiner Republik. In den öffentlichen Vergnügungen entsteht und bestätigt sich das Gefühl der Freundschaft, Eintracht und Gleichheit, das die Bürger zu Freunden und Brüdern macht. Auch die Liebe zu und die Identifikation mit dem Vaterland werden hier gestiftet. Wenn Rousseau die Bürger außerdem zu Soldaten macht, vertieft er diese affektive Dimension des Tugendbegriffes noch weiter: Vaterlandsliebe bedeutet auch die Bereitschaft zur Verteidigung der Repu-
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blik und ihrer Werte – wenn es sein muss, mit dem eigenen Leben. Tugendhafte Bürger sind »Männer, die im Herzen den Eifer tragen, dem Vaterland zu dienen und Blut für es zu vergießen« (LdA V 103). In zugespitzter Form gibt sich hier die republikanische Tugend zu erkennen, die das Wohl der Gemeinschaft über das eigene Interesse stellt. Darüber hinaus verkörpert der Bürger als Soldat auch in besonderer Weise die Fähigkeit der Selbstbeherrschung. Das kriegerische Pathos, das Rousseau mit Vorliebe an den Spartanern rühmt, feiert Selbstüberwindung und Selbstdisziplin. Härte, Ausdauer und Zähigkeit sind die militärischen Tugenden, die zugleich als Voraussetzung für die Tugend in moralischer Hinsicht gelten (vgl. Scherl 2012a: 117f.; Snyder 1999: 54f.). In den drei Identitäten Freund – Bürger – Soldat, die durch die öffentlichen Praktiken der Republik erzeugt werden, fallen Männlichkeit und Tugend ineins: Echte Männer sind zugleich tugendhafte Bürger. In diesem Sinne kommt Rousseau zu dem Schluss: »Ob ein Monarch über Männer oder Frauen herrscht, kann ihm ziemlich gleichgültig sein, solange man ihm gehorcht; aber in einer Republik braucht man Männer.« (LdA V 92) Nichtsdestotrotz werden in der Republik auch Frauen gebraucht, allerdings nicht in der Öffentlichkeit. Die weibliche Tugend der Scham bestimmt die Frau für ein Leben im Privaten. Die tugendhafte Frau liefert sich den Blicken der Anderen nicht aus; sich öffentlich zu zeigen wäre für sie gleichbedeutend mit Schamlosigkeit: »[D]ie Blicke der Männer zu suchen, bedeutet bereits, sich von ihnen verführen zu lassen, und [...] jede Frau, die sich zeigt, entehrt sich [...]« (ebd.: 76). Ideale Weiblichkeit entfaltet sich daher ausschließlich im privaten Bereich des Hauses und der Familie – umgekehrt erscheint das Private als Reich der Frau: »Ein Haus ohne Herrin ist ein Körper ohne Seele, der bald verfällt; eine Frau außerhalb des Hauses verliert ihren schönsten Glanz, und ihrer wahren Zierden beraubt, zeigt sie sich mit Unschicklichkeit.« (Ebd.: 80) Außerhalb des Hauses tritt die tugendhafte Frau nicht in Erscheinung. Innerhalb des Hauses sorgt sie für die republikkonforme Begrenzung und Kanalisierung des Begehrens: Ihre Herrschaft über das Herz des Mannes trägt maßgeblich dazu bei, männliche Tugend – und damit republikanische Tugend – zu erwecken. Das Zusammenspiel zwischen republikanischem Bürgersein, öffentlich zur Schau gestellter Männlichkeit und der Rolle der Frauen kommt am besten in einer Szene zum Ausdruck, die Rousseau als Kindheitserinnerung in einer Fußnote zum Brief an d’Alembert beschreibt.16 Nach einer Exerzierübung und einem ge-
16 Zur Interpretation dieser Fußnote vgl. Zerilli 1994: 37f.; Snyder 1999: 58; Rebentisch 2012: 297.
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meinsamen Essen des Regiments entwickelt sich auf dem Platz St. Gervais in Genf spontan ein Fest: Die Soldaten fangen an zu tanzen. »Das Regiment von St. Gervais hatte geübt, und wie gewöhnlich hatte man nach Kompanien getrennt zu Abend gegessen. Der Großteil der Kompaniemitglieder versammelte sich nach dem Abendessen auf dem Platz St. Gervais, wo sie alle miteinander zu tanzen begannen, Offiziere und Soldaten, rund um den Brunnen, auf dessen Beckenrand Trommler, Pfeifer und Fackelträger gestiegen waren.« (Ebd.: 123)
Die Musik und der gemeinsame Tanz unter freiem Himmel, rund um den Brunnen, beschwören mit wenigen Worten den Geist der rousseauschen Öffentlichkeit herauf. Kein Baum ist es diesmal, sondern ein Brunnen, der zum Mittelpunkt des festlichen Geschehens wird – ein Detail, das sofort die Erinnerung an jenes andere Fest am Rande der Brunnen wachruft, das im Essai die Feuer der Leidenschaften entzündet (vgl. Zerilli 1994: 38). Im Unterschied zum Fest der société naissante tanzt und feiert in Genf jedoch eine Gruppe von Männern. Männer zumal im vollen Sinne des Wortes: Auf dem Platz St. Gervais präsentieren sie sich in der maskulinen Dreifaltigkeit als Freunde, Bürger und Soldaten – als einträchtig verbundene Bürger in Uniform. Rousseau beschreibt den besonderen Reiz der Szene: »Die Übereinstimmung von fünf- oder sechshundert Männern in Uniform jedoch, die sich alle an den Händen hielten und ein langes Band formten, das sich im Takt und ohne Durcheinander tausendfach vor und zurück wand [...]; all das bewirkte eine sehr lebhafte Empfindung, die man nicht kalten Herzens über sich ergehen lassen konnte.« (LdA V 123)
Die uniformierten Männer, die eine lange Kette bilden und sich im Gleichtakt zur Musik bewegen, vermitteln vor allem den Eindruck und das Gefühl der Gleichheit. Vorhandene Hierarchieunterschiede zwischen Offizieren und Soldaten sind aufgehoben, was zählt, ist die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Freunde und Brüder. Der Vater deutet das Geschehen für den kleinen JeanJacques denn auch als Ausdruck des republikanischen Geistes und gleichzeitig als Lektion in Sachen Vaterlandsliebe. Seine Worte prägen sich in das Herz des Sohnes ein, als Aufruf, die Identität des Genfer Bürgers anzunehmen: »Jean-Jacques, sagte er zu mir, liebe deine Heimat. Sieh diese guten Genfer; sie sind alle Freunde, sie sind alle Brüder; die Freude und die Eintracht herrschen unter ihnen. Du bist Genfer, du wirst eines Tages andere Völker sehen; aber [...] du wirst niemals eines finden, das ihnen gleicht.« (Ebd.: 124)
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Aufschlussreich ist nun der Auftritt der Frauen in dieser Inszenierung des männlichen Bürgerseins. Zunächst beschränken sie sich auf die Rolle der Zuschauerinnen: »Es war spät; die Frauen waren schlafen gegangen, alle standen wieder auf; bald waren die Fenster voller Zuschauerinnen, die den Darstellern neuen Eifer einflößten.« (Ebd.: 123) Die Frauen sind zu Hause, an dem ihnen angemessenen Ort, und beobachten das Treiben von den Fenstern aus. Die Identität von Darsteller und Zuschauer, die das republikanische Fest verspricht, ist im Fall der Frauen suspendiert. Sie sind nur Publikum, aber nicht selbst Akteurinnen im Theaterstück der bürgerlichen Öffentlichkeit. Trotzdem spielen sie eine wichtige Rolle: Ihre Blicke stacheln den Eifer der männlichen Akteure an. Unter den Augen der Frauen laufen Männer zu republikanischer Höchstform auf (vgl. Zerilli 1994: 38; Rebentisch 2012: 297). Lange hält es die Frauen jedoch nicht an den Fenstern. Sobald sie die Szenerie betreten, ändert sich das Bild schlagartig. Die Reihen der tanzenden Soldaten lösen sich auf, es bilden sich kleine Grüppchen, jede Frau tritt zu ihrem Gatten, auch Kinder gesellen sich zu ihren Eltern. »Der Tanz wurde unterbrochen [...]. Man wollte den Tanz wieder aufnehmen, es ging nicht mehr.« (LdA V 123f.) Der Auftritt der Frauen setzt dem öffentlichen Schauspiel ein Ende; an die Stelle der großen brüderlichen Gemeinschaft treten die einzelnen Familien. Bald schon verlagert sich das ganze Geschehen zurück ins Private. Die Frauen holen ihre Männer nach Hause: »Nachdem man noch einige Zeit lachend und plaudernd auf dem Platz verweilt hatte, musste man sich trennen: Jeder zog sich friedlich mit seiner Familie zurück, und da brachten diese liebenswürdigen und klugen Frauen ihre Ehemänner nach Hause, nicht um ihr Vergnügen zu stören, sondern um es mit ihnen zu teilen.« (Ebd.: 124)
An dieser Stelle wird die komplementäre Funktion des (weiblichen) Privaten in Bezug auf das (männliche) Öffentliche sehr deutlich. Der Eingriff der Frauen stellt hier laut Zerilli auch sicher, dass die brüderliche Eintracht zwischen den Männern nicht in homoerotisches Begehren ausartet (vgl. Zerilli 1994: 38). Republikanische Öffentlichkeit kann nur als Gemeinschaft der Gleichen funktionieren, weil das störende Element des Begehrens in den sicheren Hafen des Privaten ausgelagert ist. Sie ist somit auf die »absent presence« (Snyder 1999: 58; vgl. Rebentisch 2012: 300) der Frauen angewiesen: Man(n) lässt sich im Öffentlichen nicht von den Frauen stören, weiß aber bei Bedarf, wo sie zu finden sind (vgl. LdA V 92). Die Erinnerung an die tanzenden Genfer Bürger liefert die Matrix für eine geglückte und beglückende republikanische Öffentlichkeit. Rousseau resümiert
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die Lehre aus seinem Kindheitserlebnis: »Nein, es gibt keine reine Freude außer der öffentlichen Freude [...]« (ebd.: 124). Durch die Trennung der Geschlechter gelingt es in der Republik, dem Öffentlichen seine ursprüngliche Ambivalenz auszutreiben. Es herrscht die reine Freude – vielleicht lässt sich hier auch an den reinen Kristall der Brunnen zurückdenken, dessen Bild das Fest im Essai prägt (vgl. EOL V 406). Jedenfalls sehen auch die feiernden Bürger einander direkt ins Herz, nichts trennt sie mehr.17 Mit der Trennung der Geschlechter und der daraus folgenden Beschränkung des Begehrens auf das Private stellt Rousseau Maßgaben für die Republik auf, die sich freilich nicht durchweg realisieren lassen. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass geschlechtliches Begehren die gesellschaftsstiftende Kraft par excellence ist. Wie wir aus Diskurs und Essai wissen, entsteht Gesellschaft erst in der Begegnung der Geschlechter außerhalb der Familie. Exogamie ist die Grundbedingung des Austritts aus dem Naturzustand. Deshalb stellt sich auch für die Republik die Frage, wie sich das öffentliche Aufeinandertreffen der Geschlechter gestalten kann. Rousseau hat davon sehr konkrete Vorstellungen. Ein Fest soll es sein, natürlich, auf dem getanzt wird – aber nicht eines der sommerlichen Volksfeste unter freiem Himmel, sondern ein Winterball.18 Die jungen Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter sollen hier zusammenkommen und beim gemeinsamen Tanz Gefallen aneinander finden. Und die ganze Republik soll dabei zusehen: Väter und Mütter, die Älteren, »die dem Vaterland bereits Bürger geschenkt haben« (LdA V 118), überhaupt alle verheirateten Bürgerinnen und Bürger. Dieser Ball ist eine Ausnahme von Rousseaus strengem Geschlechterregime, in zweifacher Hinsicht: Er bringt Männer und Frauen zusammen, die im Alltagsleben der Republik einander kaum je begegnen. Und er erlaubt den jungen Frauen, was ihnen sonst um den Preis ihrer Ehrbarkeit verboten ist: sich öffentlich zu zeigen, sich zur Schau zu stellen (vgl. Wingrove 2000: 202). Sogar die Wahl einer Ballkönigin sieht Rousseau vor (vgl. LdA V 118f.). Diese Ausnahme von der Regel dient dem hehren Ziel der Eheanbahnung. Glückliche Ehen, die auf Liebe und Zuneigung beruhen, sind das Fundament der Republik. Rousseau spricht sich gegen arrangierte Ehen aus, in denen sozialer Status und Vermögen den Ausschlag geben. Sein Ideal der Liebesheirat ist ganz dem republikanischen Geist der Gleichheit verpflichtet (vgl. ebd.: 119f.). Aber der Liebesfunke muss kontrolliert überspringen, um nicht zum gefährlichen Flächenbrand der Leidenschaften zu führen. Rousseau fürchtet die geheimen Zusammenkünfte der Liebenden, die dem Laster Tür und Tor öffnen. Denn im
17 Zum Transparenzideal der rousseauschen Öffentlichkeit ausführlicher in II 3.3. 18 Vgl. dazu Rebentisch 2012: 296f.; Wingrove 2000: 202f.; Johnston 1999: 103-106.
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Dunkeln gedeihen statt zarter Gefühle die unsittlichen Begierden: »Die unschuldige Freude liebt es, sich am hellen Tage zu verausgaben; aber das Laster ist ein Freund der Dunkelheit, und niemals haben die Unschuld und das Geheimnis lange Zeit beieinander gewohnt.« (Ebd.: 117) Mit dem Winterball entwirft Rousseau das Gegenbild zu diesen verdächtigen Heimlichkeiten. Hier stehen die jungen Männer und Frauen im Scheinwerferlicht, statt sich in dunkle Ecken zurückzuziehen. Im Lichte der Öffentlichkeit entsteht so ein gezähmtes Liebesbegehren, das dem republikanischen Anstand entspricht: »Aber man möge mir sagen, wo junge heiratsfähige Leute die Gelegenheit haben, aneinander Gefallen zu finden und einander mit mehr Anstand und Behutsamkeit zu begegnen, als bei einer Versammlung, wo die unablässig auf sie gerichteten Augen der Öffentlichkeit sie zu Zurückhaltung und Bescheidenheit zwingen, und dazu, mit größter Sorgfalt auf sich achtzugeben?« (Ebd.; vgl. Julie II 456f.)
Auch in Clarens veranstaltet man im Winter Bälle, die für einen Abend die strenge Geschlechtertrennung aufheben. Julie verteidigt diese Praxis gegen den Vorwurf der Unsittlichkeit: »Ich für meinen Teil denke im Gegenteil, dass immer dann, wenn die beiden Geschlechter zusammentreffen, jedes öffentliche Vergnügen gerade dadurch unschuldig wird, dass es öffentlich ist, während unter vier Augen die achtbarste Beschäftigung verdächtig ist.« (Julie II 456)
Eben weil die Begegnung der Geschlechter unter den Augen der Öffentlichkeit stattfindet, bleibt sie unschuldig; das hier erweckte Begehren steht nicht im Widerspruch zur Tugend. Analog dazu hat Rousseau auch gegen das Wetteifern um Anerkennung nichts einzuwenden, solange es nur öffentlich passiert – ob es nun um den Titel der Ballkönigin geht oder um die republikanischen Spiele und Wettbewerbe der Polen.19 Unter den wachsamen Augen der Mitbürger verliert die Konkurrenzsucht, ebenso wie das geschlechtliche Begehren, alles Anstößige. Die Devise lautet: »den amour propre zufriedenstellen, ohne die Tugend zu beleidigen« (LdA V 119).
19 »Ihre Erziehung kann häuslich und privat [particulière] sein, aber ihre Spiele müssen immer öffentlich und allen gemeinsam sein; denn es geht hier nicht nur darum, sie zu beschäftigen [...]; sondern darum, sie zur rechten Zeit an das Gesetz zu gewöhnen, an die Gleichheit, die Brüderlichkeit, die Wettkämpfe, und daran, unter den Augen ihrer Mitbürger zu leben und die öffentliche Zustimmung zu begehren.« (Pologne III 968)
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Im Brief an d’Alembert stellt Rousseau seinen Träumereien von der idealen republikanischen Öffentlichkeit eine ernüchternde Gegenwartsdiagnose gegenüber. In der modernen, vom Pariser lifestyle beeinflussten Gesellschaft findet das öffentliche Leben nicht mehr unter freiem Himmel rund um einen Baum statt. Man trifft sich stattdessen in den stickigen Räumlichkeiten der Salons, wo sich alles um die Gastgeberin dreht. Während die Alten ihre Tage an der frischen Luft unter ihresgleichen verbrachten, lassen sich die Modernen in die »freiwilligen Gefängnisse« (ebd.: 92f.) der Salondamen sperren. Vor allem das Theater zeichnet Rousseau als Stätte einer verfallenden Öffentlichkeit: »diese abgeschlossenen Schauspiele, die eine kleine Zahl von Leuten trübselig in eine dunkle Höhle sperren; die sie furchtsam und reglos in Schweigen und Untätigkeit halten« (ebd.: 114). Das Dunkel des Zuschauerraums, das eingesperrte, zur Passivität verurteilte Publikum – eine klaustrophobische Schilderung, die ganz im Gegensatz steht zum lichtdurchfluteten republikanischen Fest, bei dem jeder Darsteller und Zuschauer zugleich ist (vgl. Starobinski 2003: 143f.; Herb 2012b: 99f.). Statt die Menschen zu versammeln, isoliert das Theater sie voneinander; an die Stelle des gemeinschaftlichen Erlebens tritt die Vereinzelung einer passiven Menge (vgl. Rebentisch 2012: 298). Salon und Theater sind für Rousseau die Orte, die den Bankrott des Öffentlichen in der Moderne offenkundig machen. In beinahe arendtscher Manier20 macht Rousseau für den Ruin des Öffentlichen die Übergriffigkeit des Privaten verantwortlich: Die strikte Abgrenzung zwischen beiden Sphären funktioniert in der Moderne nicht mehr. Der Brief an d’Alembert benennt dafür den Grund und die Schuldigen: Männliche und weibliche Lebensbereiche vermischen sich auf unheilvolle Weise, weil schamlose Frauen ihre Grenzen nicht mehr akzeptieren. Es ist der désordre des femmes, der die Demarkationslinie zwischen Öffentlich und Privat zum Schwinden bringt. Frauen, die sich nicht auf das Haus beschränken, bringen die männliche Öffentlichkeit aus dem Gleichgewicht. Als Salonnières beherrschen sie ein eigentümliches Zwischenreich, eine ungesunde Mischung aus privatem Umgang und öffentlicher Zurschaustellung (vgl. ebd.: 290, 295). Aus dem désordre des femmes folgt für Rousseau der désordre des sexes: Wenn die Regeln der Geschlechtertrennung verletzt werden, gerät die Ordnung der Geschlechter aus den Fugen. Sobald Frauen sich nicht mehr wie richtige Frauen verhalten, können Männer keine echten Männer mehr sein. Rousseau benennt die Gefahr ganz konkret: Schamlose Frauen machen Männer zu Frauen.
20 Zu den Parallelen der Gesellschaftskritik bei Rousseau und Arendt vgl. Herb/Morgenstern/Scherl 2011: 292-295.
148 | E RSEHNTE E INHEIT , UNHEILBARE S PALTUNG – R EPUBLIK »Denn dieses schwächere Geschlecht ist außerstande, unsere Lebensweise zu übernehmen, die zu beschwerlich für es ist, und zwingt uns die seine auf, die zu lasch für uns ist; und wenn sie die Trennung nicht mehr ertragen wollen, machen die Frauen, da sie keine Männer werden können, uns zu Frauen.« (LdA V 92)
Der Schamlosigkeit auf Seiten der Frauen entspricht auf Seiten der Männer die Verweiblichung: Männlichkeit wird defizitär (vgl. Vinken 1995: 193; Scherl 2012a: 124ff.; Rebentisch 2012: 290f.). Rousseau stellt die modernen Männer, die ihre Zeit in weiblicher Gesellschaft verbringen, als verweichlichte, unmännliche Schwächlinge dar – als Opfer einer fehlgeleiteten, an weiblichen Maßstäben orientierten Erziehung, als verzärtelte Muttersöhnchen, deren einzige Bestimmung das Amüsement adeliger Damen ist (vgl. LdA V 102). Dass es sich bei ihnen nicht mehr um echte Männer handelt, macht Rousseau mit boshaftem Spott deutlich: »Auf meiner letzten Reise nach Genf habe ich bereits mehrere dieser jungen Damen im justaucorps gesehen, die Zähne weiß, die Hand füllig, die Stimme flötend, einen hübschen grünen Sonnenschirm in der Hand, die ziemlich ungeschickt Männer nachahmten.« (Ebd.) Diese »hübschen kleinen Herren« (ebd.: 103) sind für die Republik verloren – Freunde, Bürger und Soldaten werden nie aus ihnen werden (vgl. Scherl 2012a: 125f.). Als Soldaten taugen sie schon aufgrund ihrer schwachen körperlichen Konstitution nicht. Verdorben durch die verhätschelnde Erziehung fehlt ihnen jede männliche Tatkraft und Stärke, die zur Verteidigung des Vaterlandes notwendig wäre. Auch das Gefühl der Gleichheit und freundschaftlichen Verbundenheit kann sich nur einstellen, wo Männer unter sich bleiben: Galante Liebhaber, die um die Gunst einer Dame wetteifern, können schlecht zu Freunden werden (vgl. Vinken 1995: 195). Schließlich mangelt es Männern, die sich freiwillig zum Spielzeug einer Salondame machen, an der moralischen Autonomie, ohne die Bürgersein unmöglich wird (vgl. Zerilli 1994: 32). Leidenschaft für die Republik kann Rousseau nicht ausmachen an den jungen Männern, die sich lieber mit Schauspielerinnen treffen als die republikanischen Sitten hochzuhalten. Sein Urteil fällt daher pessimistisch aus: »[I]ch bezweifle ein wenig, dass diesen Parisern in Genf unsere Regierung lange gefallen wird.« (LdA V 102) Weil Rousseau Männlichkeit mit republikanischer Tugend gleichsetzt, wächst sich die Krise des modernen Mannes zu einer Krise der Republik aus. Wo es keine echten Männer mehr gibt, die dem Vaterland als Freunde, Bürger und Soldaten dienen könnten, wird die Republik zum unerreichbaren Traum. Rousseau resigniert vor der Moderne daher nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die Ordnung der Geschlechter in Auflösung befindet.
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2.4 R EPUBLIKANISCHE F AMILIE Während die Republik ihre männlichen Bewohner unter freiem Himmel versammelt, um sie in Freunde, Bürger und Soldaten zu verwandeln, behält sie ihre Bewohnerinnen lieber zu Hause. Freundinnen, Bürgerinnen und Soldatinnen werden dort freilich nicht geformt. Der republikanische Dreiklang für die Frau lautet offenbar: Gattin – Hausfrau – Mutter. Jedenfalls bringt häusliche Weiblichkeit Rousseau ins Schwärmen: »Gibt es auf der Welt ein so rührendes, ein so ehrwürdiges Schauspiel wie eine Familienmutter, umringt von ihren Kindern, die die Arbeiten ihrer Bediensteten regelt, ihrem Ehemann ein glückliches Leben verschafft und das Haus klug regiert?« (LdA V 80) Bisher haben wir die Privatisierung der Frau vorrangig als Mechanismus diskutiert, der die republikanische Öffentlichkeit vor problematischem Begehren schützen soll. Allerdings sieht Rousseau die Frau nicht nur in der Rolle der schamhaften Geliebten. Sie ist auch Familienmutter. Die häusliche Sphäre, das Reich der Frau, erlangt ihre Bedeutung vor allem auch als Heimstätte des Familienlebens. Unter diesem Vorzeichen muss die Funktion des Privaten für die Republik erst noch näher bestimmt werden. Dabei stoßen wir jedoch sofort auf eine Schwierigkeit. Die Lobeshymnen auf Familie und häusliches Glück, die Rousseau im Emile und in der Nouvelle Héloïse anstimmt, lassen sich in der Tat kaum überlesen – aber gelten sie uneingeschränkt auch für die Republik?21 Zweifel an der Vereinbarkeit von Familie und Bürgersein sind durchaus erlaubt. Diese Frage müssen wir daher zunächst klären, bevor wir überhaupt von der republikanischen Familie sprechen können. »Gezwungen, die Natur oder die gesellschaftlichen Einrichtungen zu bekämpfen, muss man sich entscheiden, ob man einen Menschen oder einen Bürger schaffen will; denn beides zugleich kann man nicht schaffen.« (Emile IV 248) Menschsein oder Bürgersein – die beiden Ideale, die Rousseau gegen das Verhängnis der menschlichen Vergesellschaftung in Stellung bringt, sind unvereinbare Alternativen. Shklar erkennt hinter diesen Alternativen zwei ganz verschiedene Vorbilder: Während sich das politische Ideal am antiken Sparta orientiert, verweist das individuelle Ideal auf das Goldene Zeitalter und das friedliche Leben in einem ländlichen Haushalt (vgl. Shklar 1969: 3). Aus dieser Gegen-
21 Viele feministische Rousseau-Interpretationen gehen über diese Frage relativ unbekümmert hinweg, indem sie einfach davon ausgehen, dass der Emile eine Anleitung zur Erziehung von Bürgern der Republik des Contrat social enthält. Vgl. z. B. Elshtain 1981: 160; Benhabib/Nicholson 1987: 536; Landes 1988: 70; Coole 1993: 80; Weiss 1993: 7; Rauschenbach 1998: 52; Marso 1999: 49.
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überstellung folgt für Shklar eine eindeutige Zuordnung der Familie: »The happiness of men in the Golden Age [...] springs from one source only, unspoiled family love. And the Spartan city is explicitly built on the destruction of the family and of all its emotional and social gratifications.« (Ebd.: 21) Ein glückliches Familienleben gehört wesentlich zum Menschsein, aber nicht zum Bürgersein. Im Gegenteil: Bürgersein und Familienleben schließen sich aus.22 Shklars Argumentation folgend müsste man die republikanische Familie als sinnlose contradictio in adiecto betrachten. Was spricht für diese Sichtweise?23 Zunächst durchaus einiges. Rousseau versteht sein politisches Ideal unmissverständlich als Programm der Denaturierung. Es gilt, die absolute Existenz des Menschen durch eine relative zu ersetzen (vgl. Emile IV 249). Der Bürger definiert sich nur noch als Teil der Republik: »Ein Bürger Roms war weder Caius noch Lucius; er war ein Römer [...]« (ebd.). Die natürlichen Regungen des Einzelnen müssen zugunsten der ungeteilten, alles andere in den Schatten stellenden Hingabe an die Gemeinschaft überwunden werden. Rousseau führt verschiedene Anekdoten aus der römischen und griechischen Geschichte an, um die rechte republikanische Gesinnung zu illustrieren. Das eindrücklichste dieser Beispiele wirft zugleich ein bezeichnendes Licht auf das republikanische Familienleben: »Eine Frau aus Sparta hatte fünf Söhne in der Armee und wartete auf Neuigkeiten von der Schlacht. Ein Helot kam an; sie befragte ihn zitternd. Deine fünf Söhne wurden getötet. Niederträchtiger Sklave, habe ich dich danach gefragt? Wir haben den Sieg errungen. Die Frau lief zum Tempel und sagte den Göttern Dank. Das ist die Bürgerin.« (Ebd.)
Die spartanische Mutter, die den Sieg ihres Vaterlandes feiert statt den Tod ihrer Söhne zu beweinen, gilt Rousseau als wahre Bürgerin. Sie demonstriert, was es heißt, sich mit ganzem Herzen der Republik zu verschreiben. Für persönliche Anhänglichkeiten und Sentimentalitäten bleibt da kein Platz mehr – auch nicht für die eigene Familie. »If citizens are to be denatured so as to identify wholly with the republic, then their loyalties must not be shared with a family.« (Shklar 1969: 21) Diese spartanische Mutter hat offenbar nicht viel gemein mit der Fa-
22 Eine etwas weniger zugespitzte Variante dieser Argumentation findet sich bei Melissa Butler: Die Familie wird in der Republik auf ihre ökonomische Rolle reduziert, da ihre care-Aufgaben vom Staat selbst wahrgenommen werden, der dadurch zum maternal state mutiert, vgl. Butler 2002: 222-227. 23 Eine Gegenüberstellung der wichtigsten Stellen, die gegen bzw. für die republikanische Familie sprechen, findet sich bei Okin 1979: 189-192.
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milienmutter aus dem Fünften Buch des Emile, die sich voller Liebe und Zärtlichkeit für Kinder und Ehemann aufopfert (vgl. Emile IV 697). Aus dem Unterschied Mensch/Bürger folgt für Rousseau die Entgegensetzung von häuslicher und öffentlicher Erziehung (vgl. ebd.: 250). Ein weiterer Punkt, der gegen die republikanische Familie zu sprechen scheint. Denn die häusliche Erziehung will Rousseau nur dem Menschen angedeihen lassen. Die leidenschaftlichen Plädoyers, die er im Ersten Buch des Emile für die intakte Familie und das pädagogische Engagement von Vater und Mutter hält (vgl. ebd.: 257f., 261f.), beziehen sich explizit nur auf das individuelle Ideal. Zukünftige Bürger dagegen dürfen nicht den »Vorurteilen der Väter« (EP III 260) überlassen werden. Für sie ist eine öffentliche Erziehung vorgesehen – unter staatlicher Obhut und nach gesetzlichen Vorgaben (vgl. ebd.: 260f.) Ausgerechnet Platon ist es, den Rousseau zum Erziehungsexperten für die Republik erklärt: »Wollt ihr eine Vorstellung von der öffentlichen Erziehung bekommen? Lest den Staat von Platon. [...] Das ist die schönste Abhandlung über die Erziehung, die je geschrieben wurde.« (Emile IV 250) Für das Schicksal der Familie verheißt diese Referenz nichts Gutes. Bekanntlich erkauft Platon die Einheit seiner kallipolis in der Tat durch die Zerschlagung der Familie. Ein platonischer Wächter darf Vater und Mutter nicht kennenlernen, damit er in jedem Mitglied seines Standes Bruder und Schwester zu erkennen lernt (vgl. Platon, Pol. 463c). Auch bei Rousseau sollen die kleinen citoyens in den öffentlichen Bildungsstätten lernen, die Republik als eine Art Ersatzfamilie zu betrachten (vgl. Butler 2002: 224f.): »Wenn die Kinder gemeinschaftlich im Schoße der Gleichheit aufgezogen werden, wenn sie von den Gesetzen des Staates und den Prinzipien des Gemeinwillens durchdrungen sind, wenn sie dazu angehalten werden, diese vor allem anderen zu respektieren, wenn sie von Beispielen und Gegenständen umringt sind, die ihnen ohne Unterlass von der zärtlichen Mutter erzählen, die sie ernährt, von der Liebe, die sie für sie hegt, von den unschätzbaren Gütern, die sie von ihr erhalten, und von dem, was sie ihr im Gegenzug schulden, dann lasst uns nicht daran zweifeln, dass sie so lernen, sich gegenseitig wie Brüder zu lieben [...] und eines Tages die Verteidiger und Väter des Vaterlandes zu werden, dessen Kinder sie so lange Zeit gewesen sein werden.« (EP III 261)
Wenn die Republik zur zärtlichen Mutter, die Bürger zu Brüdern und schließlich zu den Vätern des Vaterlandes werden sollen, dann dürfte sich die Zuneigung zur eigenen Familie nur als störend erweisen – zumindest, wenn man der platonischen Logik folgen will (vgl. Okin 1979: 188f.). Allerdings: So gut Rousseau die Politeia als Erziehungsratgeber auch gefällt – mit allem ist er doch nicht einverstanden. Dass Platon Wächter und Wächte-
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rinnen gemeinsam erziehen lässt, kann Rousseau nicht gutheißen. Die Geschlechtertrennung ist für ihn unverhandelbar; wo Männer zu Freunden, Bürgern und Soldaten gemacht werden, haben Frauen nichts zu suchen. Die Missachtung dieses Prinzips ist das Einzige, das er selbst am bewunderten Sparta auszusetzen hat (vgl. Emile IV 704). Bezeichnenderweise erkennt Rousseau bei Platon einen direkten Zusammenhang zwischen der gemeinsamen Erziehung der Geschlechter und der Auflösung der Familie: »Platon gibt in seinem Staat den Frauen die gleichen Übungen wie den Männern; das glaube ich gern! Nachdem er die Einzelfamilien aus seiner Regierung entfernt hatte und nichts mehr mit den Frauen anzufangen wusste, sah er sich gezwungen, sie zu Männern zu machen.« (Ebd.: 699f.)
Ohne die Familie verlieren die Frauen ihren angestammten Platz in der Republik, deshalb bleibt Platon nichts anderes übrig, als sie wie Männer zu behandeln. Die Gleichheit der Geschlechter ist somit eine Folge der platonischen Familienpolitik. Rousseau kann beidem wenig abgewinnen. Seine Kritik zielt erstens auf die »bürgerliche Promiskuität« (ebd.: 700), also auf die aus dem Brief an d’Alembert wohlbekannte Geschlechterverwirrung, die nur den schlechten Sitten Vorschub leistet. Der zweite Kritikpunkt bezieht sich direkt auf die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Republik: »[I]ch spreche von dieser Verkehrung der zärtlichsten Gefühle der Natur, die einem künstlichen Gefühl geopfert werden, das nur durch sie fortbestehen kann; als ob es nicht eines natürlichen Halts bedürfte, um konventionelle Bande zu knüpfen; als ob die Liebe, die man für seine Nächsten empfindet, nicht das Prinzip der Liebe wäre, die man dem Staat schuldet; als ob das Herz sich nicht durch das kleine Vaterland, die Familie, dem großen anschlösse; als ob es nicht der gute Sohn, der gute Ehemann, der gute Vater wären, die den guten Bürger ausmachen!« (Ebd.)24
In diesem Einwand gegen Platon bestimmt Rousseau das Verhältnis von Familie und Republik völlig entgegengesetzt zu dem, was sein Programm zur Denaturie-
24 Während Shklar diese Stelle nur beiläufig in einer Fußnote erwähnt, ohne näher darauf einzugehen (vgl. Shklar 1969: 21), klammert Butler sie explizit aus ihrer Argumentation aus, da es sich um ein Zitat aus dem Emile handelt und Butler sich in ihrem Aufsatz speziell mit der Perspektive aus Rousseaus politischen Werken (Contrat social, Economie politique und Pologne) beschäftigen möchte (vgl. Butler 2002: 221, 225).
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rung und das Beispiel der spartanischen Mutter nahelegen. Die sanften Gefühle, die den Einzelnen an seine Nächsten binden, erscheinen hier nicht als störende Ablenkung vom republikanischen Gemeinschaftsgefühl, sondern vielmehr als dessen Voraussetzung. Rousseau denkt überhaupt nicht daran, das kleine Vaterland gegen das große auszuspielen. Der gute citoyen ist auch ein Familienmensch. Rousseau sieht ihn gleich dreifach in der familiären Pflicht: als guten Sohn, als guten Ehemann und als guten Vater. Ein Widerspruch zu seinen Bürgerpflichten ergibt sich daraus nicht. Im Gegenteil. Die Liebe des guten Sohnes zu seiner Mutter liefert das Vorbild für die Liebe des guten Bürgers zu Mutter Nation (vgl. Wingrove 2000: 159f.). Zumal es die ureigene Aufgabe einer republikanischen Mutter ist, gute citoyens hervorzubringen. Gebären ist erste Bürgerinnenpflicht: Gesunde, kräftige Söhne sollen es sein – solche, die dem Vaterland später als Freunde, Bürger und Soldaten dienen können, so wie die Söhne der antiken Griechinnen: »[D]iese Mütter brachten die gesündesten, kräftigsten und wohlgeratensten Männer der Erde zur Welt [...]« (Emile IV 705; vgl. auch 698, 704). Aber die gute republikanische Mutter gibt ihren Söhnen nicht nur eine gute physische Konstitution mit auf den Weg, sondern auch das, was einen echten citoyen auszeichnet: die kompromisslose Liebe zum Vaterland. »Jeder wahre Republikaner hat mit der Milch seiner Mutter die Liebe zu seinem Vaterland eingesogen, das heißt die Liebe zu den Gesetzen und zur Freiheit.« (Pologne III 966) In diesem Sinne hat die spartanische Mutter alles richtig gemacht. Rousseau beabsichtigt nicht etwa, sie als kaltherzige Rabenmutter vorzuführen, er präsentiert sie vielmehr als wahre Bürgerin, und damit auch als vorbildliche republikanische Mutter. Sie hat dem Vaterland fünf Söhne geschenkt – und sie hat wahrhaft gute Söhne aus ihnen gemacht, die bereit sind, für Vaterland und Freiheit in die Schlacht zu ziehen und zu sterben (vgl. Schwartz 1984: 53). Dass diese Mutter den Sieg Spartas feiert, den ihre Söhne mit dem Leben bezahlt haben, sollte man daher nicht als Ausdruck emotionaler Gleichgültigkeit missverstehen. Rousseau erkennt darin vielmehr den bewundernswerten Umstand, dass für eine echte Republikanerin selbst die Liebe zu den Nächsten stets auf die Liebe zur Republik bezogen bleibt. Tatsächlich beweist die spartanische Mutter für ihn wohl nichts anderes als republikanische Mutterliebe. Von einer solchen Mutter geliebt zu werden, so viel steht fest, macht zwangsläufig zum guten citoyen. Dass nur ein guter Ehemann auch ein guter Bürger sein kann, ergibt sich bereits aus den Überlegungen zum republikanischen Begehren (vgl. II 2.2). Die tugendhafte Ehefrau hat es in der Hand, ihren Gatten zur bürgerlichen Tugend anzuhalten: »Die Männer werden immer das sein, was den Frauen gefällt: Wenn ihr also wollt, dass sie groß und tugendhaft werden, bringt den Frauen bei, was
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Größe der Seele und Tugend sind.« (DSA III 21) Der Einfluss der Frauen entfaltet sich ganz zum Wohle der Republik, wenn er in der Ehe ausgeübt wird; ein guter Ehemann wird seiner liebenswürdigen Gattin nichts abschlagen. So liegt es in der Macht der Ehefrauen, bürgerliche Eintracht zu stiften, die republikanischen Sitten aufrechtzuerhalten und die Liebe zu den Gesetzen zu erwecken (vgl. DI III 119f.). Darüber hinaus gehört es zum Verantwortungsbereich der Frauen, Brüche in der republikanischen Gemeinschaft zu kitten – »entzweite Familien durch glückliche Ehen zu vereinigen« (ebd.: 120). Eheschließungen sind für Rousseau das Mittel der Wahl, um die konventionellen Bande zwischen den Bürgern durch den geschickten Einsatz natürlicher Gefühle zu festigen. Wenn Rousseau im Brief an d’Alembert leidenschaftlich für die Liebesheirat plädiert, argumentiert er bezeichnenderweise nicht im Namen der individuellen Freiheit, sondern im Namen des allgemeinen Wohls: »Diese Gelegenheiten, sich zu versammeln, um sich zu vereinigen und Ehen anzubahnen, böten oftmals die Möglichkeit, entzweite Familien einander anzunähern und den Frieden zu festigen, den unser Staat so nötig hat. [...] Wenn die Beziehungen einfacher würden, wären die Ehen häufiger. Weniger auf den gleichen Stand beschränkt, würden diese Ehen den Parteiungen zuvorkommen, die übermäßige Ungleichheit eindämmen, den Volkskörper besser im Geiste seiner Verfassung bewahren; auf diese Weise gesteuert, würden diese Bälle weniger einem öffentlichen Schauspiel als vielmehr der Versammlung einer großen Familie gleichen, und aus dem Schoße der Freude und des Vergnügens würden die Bewahrung, die Eintracht und der Wohlstand der Republik entspringen.« (LdA V 119f.)
Die freie Partnerwahl führt im besten Interesse der Republik zu ehelichen Verbindungen über alle sozialen Schichten hinweg und bewahrt den Volkskörper im Geiste seiner Verfassung, im Geiste der Gleichheit und Einheit. Die Ehe wirkt integrierend, sie beugt gesellschaftlicher Spaltung vor und sorgt für Eintracht und Frieden, weil sie, zumindest potentiell, verwandtschaftliche Bande zwischen allen Republikbewohnern zu knüpfen vermag. Anders als Platon schafft Rousseau die Ehe also nicht ab, sondern macht sie sich zunutze, um die Republik in eine große Familie zu verwandeln: Seine Bürger fühlen sich als Brüder, gerade weil die Schwester des Einen zur Ehefrau des Anderen wird. Die Frauen fungieren hier als eine Art Bindemittel für die egalitäre männliche Bürgergemein-
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schaft.25 Nur als Ehemann ist der citoyen in diese Gemeinschaft der Brüder voll integriert. Schließlich ist nur ein guter Vater auch ein guter Verteidiger des Vaterlandes. Rousseau sieht keine Beziehung der Konkurrenz, sondern der Kongruenz zwischen der Sorge um Frau und Kinder und der Sorge um das öffentliche Wohl. Immerhin gehört es zu den ehrenvollsten Pflichten des Bürgers, gemeinsam mit seiner tugendhaften Ehefrau für republikanischen Nachwuchs zu sorgen. Daher will Rousseau die Mütter und Väter der Republik auch auf seinem imaginären Winterball gebührend gewürdigt wissen: »Ich wünschte, dass man im Saal einen bequemen Ehrenplatz errichtete, der für die älteren Vertreter des einen und des anderen Geschlechts bestimmt wäre, die dem Vaterland bereits Bürger geschenkt haben und noch dabei zuschauen, wie ihre Enkel sich anschicken, Bürger zu werden.« (LdA V 118)
Zwar übernimmt der republikanische Vater nicht in gleicher Weise die Rolle des Erziehers, wie Rousseau es für die häusliche Erziehung von den Vätern fordert. Dennoch trägt er seinen Teil dazu bei, seine Söhne zu tauglichen citoyens heranzuziehen. Seine Vaterpflichten vertragen sich dabei in höchst harmonischer Weise mit seinen Bürgerpflichten. Schließlich wird die öffentliche Erziehung vom Souverän bestimmt und gestaltet, der letztlich nichts anderes ist als eine Gemeinschaft der Väter: »[S]ie werden gemeinsam, unter dem Namen der Bürger, die gleiche Autorität über ihre Kinder haben, die sie getrennt unter dem Namen der Väter ausübten, und man wird ihnen nicht weniger gehorchen, wenn sie im Namen des Gesetzes sprechen, als man ihnen gehorchte, als sie im Namen der Natur sprachen.« (EP III 260)
Als gute Bürger übernehmen die Väter außerdem eine Vorbildfunktion. Sie können ihre Söhne schrittweise an die bürgerliche Lebensweise heranführen – so wie in den guten alten Zeiten in Genf, als die jungen Männer noch nicht durch
25 Nach Lévi-Strauss ermöglicht der verallgemeinerte Tausch von Ehefrauen eine gesellschaftliche Integration unter den Bedingungen der Gleichheit. Dabei kommt der freien Gattenwahl eine entscheidende Rolle zu, um die gesellschaftliche Gleichheit aufrechtzuerhalten (vgl. Lévi-Strauss 1981: 636-639). Nicht zufällig erinnert die Exogamie in Form des verallgemeinerten Tauschs an die Struktur des Gesellschaftsvertrages (vgl. ebd.: 94). Bei Pateman 1988 ist es ein brüderlicher Vertrag, der durch die wechselseitig zugesicherte Verfügung über Frauen männliche Gleichheit konstituiert.
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bourgeoise Erziehungsmethoden verdorben wurden: »Die Väter nahmen sie mit zur Jagd, aufs Land, zu allen ihren Übungen, in alle ihre Gesellschaften. [...] diese Bengel sind zu Männern geworden, die im Herzen den Eifer tragen, dem Vaterland zu dienen und Blut für es zu vergießen.« (LdA V 103) Wenn die Söhne durch den väterlichen Einfluss so gut geraten sind, können sie später in die Bürgergemeinschaft aufgenommen und von den Vätern als Gleiche anerkannt werden. Voraussetzung dafür ist freilich die Gründung einer eigenen Familie. Indem der junge Mann heiratet und sich anschickt, Familienvater zu werden, tritt er zugleich als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft der Freunde, Bürger und Soldaten bei. Diese Initiation kommt etwa in einer von Rousseau gelobten Schweizer Tradition symbolisch zum Ausdruck: »In der Schweiz wird jeder Einzelne, der heiratet, verpflichtend mit einer Uniform, die zu seinem Festgewand wird, mit einem Gewehr und mit der ganzen Ausrüstung eines Infanteristen ausgestattet, und er wird in die Kompanie seines Viertels eingetragen.« (Pologne III 1015; vgl. Snyder 1999: 55f.)
Ausgerüstet mit der Uniform, die ihn als tugendhaften citoyen auszeichnet, wird der junge Mann gleichermaßen Familienvater wie Verteidiger und Vater des Vaterlandes. Auch der Bürger hat ein Familienleben, er ist Sohn, Ehemann und Vater. Die Familie steht also nicht als konkurrierender Lebensentwurf neben der Existenz als citoyen, wie Shklar annimmt. Vielmehr ist sie als »Basis und Verwirklichungsbedingung der Republik« (Kuster 2005: 15) wesentlicher Bestandteil davon. Lässt sich angesichts dieses Befunds die grundsätzliche Trennung zwischen Mensch- und Bürgersein, die Shklar postuliert, überhaupt noch aufrechterhalten? Tatsächlich ergeht es Emile ganz ähnlich wie dem jungen Schweizer, der mit seiner Hochzeit zugleich die Insignien des Bürgers erhält. Bevor er seine Sophie heiraten darf, muss er erst eine umfangreiche Lektion in Sachen Staatsrecht absolvieren. Gerade die Aussicht, Familienoberhaupt zu werden, zwingt ihn dazu, die Pflichten eines Bürgers kennenzulernen. »Habt Ihr gut über die Pflichten nachgedacht, wenn Ihr den Stand des Ehemanns und Vaters anstrebt? Indem Ihr Familienoberhaupt werdet, werdet Ihr Mitglied des Staates werden [...]« (Emile IV 823). In der Familiengründung vollendet sich einerseits Emiles Menschsein, andererseits macht sie ihn offenbar zum Staatsbürger. Deutet sich hier eine Vereinbarkeit der beiden angeblich unvereinbaren Ideale an? Genau diese These
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vertritt Kuster.26 Sie nimmt Rousseau nicht beim Wort, wenn er behauptet, man müsse zwischen Menschsein und Bürgersein wählen. Tatsächlich entwerfe er ein gegen die Misere des zeitgenössischen bourgeois gerichtetes Reformprogramm, das die private Existenz als homme ebenso umfasst wie die öffentliche Existenz als citoyen (vgl. Kuster 2005: 183). Die Familie nimmt dabei in Kusters Augen eine vermittelnde Stellung ein, sie sei das »Scharnier« (ebd.: 14), das die scheinbar unvereinbaren Ideale miteinander verbindet. Diese Sichtweise gewinnt zunächst an Plausibilität, wenn man Rousseaus Kritik am Niedergang des Familienlebens in der Moderne27 betrachtet. Der zentrale Vorwurf richtet sich an die moderne Frau, die sich ihren Mutterpflichten entzieht. Sie schiebt ihre Kinder an eine bezahlte Amme ab, statt sie selbst zu stillen – oder verweigert die Rolle der Gebärerin gleich ganz (vgl. Emile IV 255f.). Aus dieser weiblichen Pflichtvergessenheit folgt der Zerfall des häuslichen Lebens. Ohne die Mutter, die sich liebevoll ihren Kindern widmet, kann kein glückliches Familienleben entstehen: »Alles folgt nach und nach aus dieser ersten Verderbtheit; die ganze moralische Ordnung wird beeinträchtigt, das Natürliche erlischt in allen Herzen [...]. Wenn das Haus nur noch traurige Einsamkeit bietet, muss man wohl anderswo nach Aufheiterung suchen.« (Ebd.: 257f.) Sobald die Frau nicht mehr für den familiären Zusammenhalt sorgt, verliert auch der Mann das Interesse am häuslichen Leben. Als geschäftiger bourgeois hat er Besseres zu tun, als seine Vaterpflichten zu erfüllen und die Erziehung seiner Kinder zu übernehmen: »Aber die Geschäfte, die Ämter, die Pflichten... Ach, die Pflichten! Zweifellos ist die des Vaters die unwichtigste? [...] Wenn die Mutter nicht gesund genug ist, um Amme zu sein, dann wird der Vater zu beschäftigt sein, um Erzieher zu sein.« (Ebd.: 262) Auch der Vater kauft sich von seinen Pflichten frei, indem er die Erziehung seiner Kinder an bezahlte Kräfte delegiert. Die Folgen des defekten Familienlebens sind immens. Kinder, die weder die Liebe und Fürsorge der Mutter noch die erzieherische Zuwendung des Vaters genossen haben, wachsen zu egoistischen und gemeinschaftsunfähigen bourgeois heran – »das Herz stirbt sozusagen, bevor es geboren wird« (ebd.: 259).28 Der Niedergang der häuslichen Intimität muss also unweigerlich auch zum Nie-
26 Eine ganz ähnliche These vertritt auch Fermon, vgl. dazu insbesondere Fermon 1997: 19 und 50. 27 Vgl. hierzu Weiss/Harper 1990 und Weiss 1993: 54-74. 28 Vgl. auch: »Entfernt und verstreut in Internaten, in Klöstern, in Schulen, werden die Kinder die Liebe des väterlichen Hauses anderswohin tragen, oder besser gesagt, sie werden die Gewohnheit mit nach Hause bringen, sich an nichts gebunden zu fühlen.« (Emile IV 262)
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dergang des Gemeinschaftslebens und zum Verfall der Sitten führen: »Sobald es keine Intimität mehr zwischen den Eltern gibt, sobald die Gemeinschaft der Familie nicht mehr die Süße des Lebens ausmacht, muss man wohl zum Ersatz auf die schlechten Sitten zurückgreifen.« (Ebd.: 262) Hier beginnt die sorgfältig getroffene Unterscheidung zwischen dem Ideal des Menschen und dem Ideal des Bürgers zu verschwimmen. Offenbar hat der Niedergang der häuslichen Erziehung negative Folgen, die auch auf den politischen Bereich durchschlagen müssen. Umgekehrt kann eine Revitalisierung der Familie offenbar auch zu einer politischen Erneuerung führen. Zumindest scheint Rousseau das in einigen Formulierungen nahezulegen. So liegt es etwa auch im Interesse des Staates, dass sich die Mütter wieder auf ihre Pflichten besinnen: »Doch sobald die Mütter sich dazu bequemen, ihre Kinder zu stillen, werden die Sitten sich von selbst erneuern, die Gefühle der Natur werden in allen Herzen erwachen, der Staat wird sich wieder bevölkern; dieser erste Punkt, allein dieser Punkt wird alles wieder zusammenführen.« (Ebd.: 258)
Auch die Väter schulden es nicht nur der Natur, sondern auch dem Staat, ihre Erziehungspflicht wahrzunehmen: »Wenn ein Vater Kinder zeugt und ernährt, erfüllt er damit nur ein Drittel seiner Aufgabe. Er schuldet seiner Gattung Menschen, er schuldet der Gesellschaft gesellschaftsfähige Menschen, er schuldet dem Staat Bürger.« (Ebd.: 262) Hier finden sich nun auf einmal die beiden eigentlich unvereinbaren Erziehungsziele homme und citoyen zu einem umfassenden Erziehungsauftrag an den pflichtbewussten Vater zusammengefasst. Wenn Mütter wieder richtige Mütter, wenn Väter wieder richtige Väter werden, dann scheint im Kampf gegen den gesellschaftliche Niedergang bereits viel gewonnen. Die Wiederbelebung der häuslichen Intimität gilt Rousseau als Heilmittel gegen den Verfall der Sitten und als Ausgangspunkt für eine allgemeine gesellschaftliche Reform (vgl. ebd.: 258; Fermon 1997: 18ff.). Dieselbe Hoffnung bringt er auch in der Vorrede zur Nouvelle Héloïse zum Ausdruck: »Wenn irgendeine Reform in den öffentlichen Sitten möglich ist, dann muss sie bei den häuslichen Sitten ansetzen, und das hängt ganz und gar von den Vätern und Müttern ab.« (Julie II 24) Könnte eine erneuerte häusliche Erziehung also tatsächlich nicht nur den homme, sondern auch den citoyen wiederherstellen? Dass auch die Republik auf funktionierende Familien angewiesen ist, haben wir bereits gesehen. Dennoch kann der Emile kaum als Nachweis dafür dienen, dass aus der individuellen bzw. häuslichen auch die politische Reform folgen könnte. Am Ende des Romans steht vielmehr die bittere Erkenntnis, dass die
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Verbindung zwischen homme und citoyen zum Scheitern verurteilt ist. Emile wird zum Menschen und zum Familienoberhaupt, aber zum Bürger kann er gerade nicht mehr werden. Seine staatsrechtlichen Unterweisungen dienen letztlich keinem anderen Zweck, als diese ernüchternde Tatsache aufzuzeigen (vgl. Herb 1999: 196f.). Rousseaus Entwurf einer Erziehung zum Menschen endet einseitig in der Vision des Goldenen Zeitalters, heraufbeschworen durch ein zurückgezogenes Familienleben auf dem Lande (vgl. Emile IV 859). Zwar strahlt von Emiles und Sophies häuslichem Glück tatsächlich eine gewisse sittliche Erneuerung aus: »Es rührt mich, daran zu denken, wie viele Wohltaten Emile und Sophie von ihrer einfachen Zurückgezogenheit aus um sich herum verbreiten können, wie sehr sie das Land beleben und den erloschenen Eifer des unglückseligen Dorfbewohners wieder entfachen können.« (Ebd.)
Deren Reichweite ist jedoch sehr begrenzt; eine politische Vision im Sinne der Republik müsste ganz anders aussehen. Von Sparta aber fehlt hier jede Spur. Dieses Ende ist beileibe nicht nur einem »gelegentlichen Defätismus Rousseaus« (Kuster 2005: 184) geschuldet. Dass Rousseau seine eigenen Ideale regelmäßig fehlschlagen lässt, entspringt nicht nur einer Laune, sondern gehört zur wesentlichen Eigenart seines Denkens. Die Vergeblichkeit jeden Versuchs, die Widersprüche des Menschen zu tilgen, zeigt sich gerade auch darin, dass individuelles und kollektives Ideal nicht mehr auf einen Nenner zu bringen sind (vgl. Emile IV 251). Vor diesem Hintergrund kann man Rousseau kaum unterstellen, ein kohärentes sozialreformerisches Programm zu verfolgen. Der angedeutete Optimismus, der sich in den Plädoyers für eine neue häusliche Intimität findet, bewahrheitet sich in der Narration nicht. Auch in der Nouvelle Héloïse entfaltet das häusliche Leben keine gesellschaftserneuernde Kraft, die auf das Politische durchschlagen würde. Clarens bleibt vielmehr singuläres Beispiel eines tugendhaften Haushaltes – und scheitert schließlich, ebenso wie Emiles Familie, auch an diesem begrenzten Anspruch.29 Vor diesem Hintergrund muss man die rousseausche Kritik am Niedergang der modernen Familie anders einordnen. Sie zeigt vor allem eines: Unter den Bedingungen der Moderne ist nicht nur die Republik ein uneinholbares Ideal, sondern auch die Erziehung zum Menschen à la Emile. Schuld ist in beiden Fällen der bourgeois, der seine egoistischen Interessen über alles stellt und sich von
29 Das Scheitern der rousseauschen Ideale wird in Teil III noch einmal ausführlich thematisiert.
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seinen Pflichten freikauft.30 Dieselbe Untugend, die Parlamente und Söldnerheere nötig macht, steckt auch hinter der Anstellung von Ammen und Erziehern. Denn weder Bürger und Soldaten noch Väter und Mütter können ohne moralischen Schaden durch bezahlte Kräfte ersetzt werden. All das sind »so edle Berufe, dass man sie nicht gegen Geld ausüben kann, ohne sich als ihrer unwürdig zu erweisen« (ebd.: 263). Angesichts der um sich greifenden Logik der Repräsentation schätzt Rousseau seine Aufrufe zur Neubesinnung auf Vater- und Mutterpflichten als vergeblich ein: »Überflüssiges Gerede! [...] Die Frauen haben aufgehört, Mütter zu sein; sie werden es nicht mehr sein; sie wollen es nicht mehr sein.« (Ebd.: 258) Auch ein rechtschaffener Vater ist in der Moderne nicht mehr zu finden. Deshalb ist die Erziehung Emiles wohlweislich nicht mehr als ein Gedankenexperiment: Sie ist nur mit einem fiktiven Erzieher möglich, der Mutter und Vater ersetzt (vgl. ebd.: 263). »Die öffentliche Erziehung existiert nicht mehr, und kann nicht mehr existieren; denn wo es kein Vaterland mehr gibt, kann es keine Bürger mehr geben. Diese beiden Begriffe, Vaterland und Bürger, müssen aus den modernen Sprachen gestrichen werden.« (Ebd.: 250) Auch die häusliche Erziehung, so kann man angesichts der rousseauschen Klagen hinzufügen, gibt es nicht mehr und kann es nicht mehr geben (vgl. auch ebd.: 739). Das kleine Vaterland der Familie liegt darnieder, es hat seine integrierende Kraft völlig verloren: »[E]s gibt keinerlei häusliches Leben mehr in den Familien; die Bande des Bluts werden nicht mehr durch die Gewohnheit gefestigt; es gibt weder Väter noch Mütter, noch Kinder, noch Brüder und Schwestern [...]« (ebd.: 258). So enttarnt Rousseaus Kritik an der modernen Familie auch das Erziehungsideal des Emile als anachronistisch. Nicht nur Vaterland und Bürger müssen aus den Wörterbüchern der Moderne gestrichen werden (vgl. Herb 1999: 194f.), sondern auch Familie und Mensch. Menschsein und Bürgersein sind nicht miteinander vereinbar, aber Rousseau versteht beides als Alternativen zur entfremdeten Existenz des gesellschaftlichen Menschen. Wie wir gesehen haben, bildet die Familie zwar kein Scharnier, gibt sich aber doch als Parallele zwischen den beiden Idealen zu erkennen: Der Bürger der Republik ist ebenso Familienoberhaupt wie Emile; die Bürgerin leistet als Familienmutter einen ebenso unverzichtbaren Beitrag wie Sophie. Offen bleibt zunächst noch die Frage, wie weit die Parallelen tatsächlich reichen. Ist auch die republikanische Familie eine intime Gemeinschaft? Aus dem Zweiten Diskurs kennen wir die Familie als den Bereich der Innerlichkeit und Vertrautheit, der sich gegen das gesellschaftliche Außerhalb abgrenzt – als Ort, an dem
30 Zur Schuld des bourgeois am Niedergang der Republik vgl. Herb 1999: 116ff.
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ein authentisches Zusammenleben ohne Entfremdung möglich ist. Für Emile und die Protagonistinnen und Protagonisten der Nouvelle Héloïse wird die häusliche Intimität zum Refugium innerhalb einer depravierten Gesellschaft. Übernimmt die Familie innerhalb der Republik eine vergleichbare Funktion? Oder braucht die Republik gar keinen solchen Rückzugsraum – weil die gesellschaftliche Entfremdung hier längst überwunden ist? Um diese Fragen in den Blick zu bekommen, müssen wir die Republik nun unter dem Vorzeichen der Einheit näher betrachten.
3. Einheit
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»Der bürgerliche Mensch ist nur ein Bruchteil, der sich auf den Nenner bezieht, und dessen Wert im Bezug auf das Ganze liegt, das der gesellschaftliche Körper ist. Die guten gesellschaftlichen Einrichtungen sind jene, die es am besten verstehen, den Menschen zu denaturieren, ihm sein absolutes Dasein zu nehmen, um ihm ein relatives zu geben, und das Ich auf die gemeinsame Einheit zu übertragen; in der Art, dass sich jeder Einzelne nicht mehr als Eines versteht, sondern als Teil der Einheit, und nur noch im Ganzen empfindungsfähig ist.« (Emile IV 249)
Wenn Rousseau von der Einheit des Staates träumt, dann klingt das wie der Alptraum eines jeden Liberalen: Politische Institutionen sollen die menschliche Natur brechen, gleichsam »einen neuen Menschentyp [...] schaffen, ein rein politisches Geschöpf« (Talmon 1961: 38). Das Individuum soll ganz im Kollektiv aufgehen, zum alleine nicht mehr lebensfähigen Teil des moi commun werden. Nicht wenige Leser_innen Rousseaus haben in solchen Formulierungen den Stoff erkennen wollen, aus dem die totalitären Träume des 20. Jahrhunderts sind.1 Wie auch immer Schuldzuweisungen dieser Art zu bewerten sind, fest steht, dass Rousseaus Traum von der Einheit vor dem Politischen nicht haltmacht. Die Republik ist eines der Ideale, die den Verlust der natürlichen Einheit wiedergutmachen sollen. Die Lösung wird hier in der totalen Vergesellschaftung des Menschen gesucht, in der Wiederherstellung der Einheit auf kollektiver Ebene. Diese Zielsetzung bestimmt die Logik, die Rousseaus politisches Ideal durchwirkt – auch dort, wo der Vertragstheoretiker die Republik als Inbegriff des rechtlichen Zustandes zeichnet, und erst recht dort, wo der Bewunderer der
1
Vgl. z.B. Russell 1951; Talmon 1961; Crocker 1968. Für eine kritische Würdigung der Totalitarismusvorwürfe gegen Rousseau vgl. Maier et al. 2011; Wokler 1987.
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Antike von der Republik als Gemeinschaft der Tugendhaften schwärmt. Diese Logik der Einheit gilt es nun abschließend herauszuarbeiten. Rousseau lässt in seiner Republik die volonté générale herrschen – und das unumschränkt. Mäßigende Zwischenprinzipien sind in der Herrschaftsarchitektur nicht vorgesehen. Allein die innere Logik der volonté générale garantiert, dass die Freiheit des Einzelnen in der Republik gewahrt bleibt. Weil »ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen« (Kant, RL AA 314), gilt das Prinzip des volenti non fit iniuria – zumindest in der Idee. In der Praxis kann der vereinigte Volkswille aber auch zur schnöden volonté de tous mutieren. Nicht jede Volksversammlung wird der anspruchsvollen Aufgabe gerecht, allgemeine Gesetze zu beschließen, nach denen die Freiheit eines jeden mit jedermanns Freiheit zusammen bestehen kann (vgl. ebd.: 230; Herb 1989: 206f.). Im schlimmsten Falle setzt sich statt der allgemeinen Vernunft ein dominantes Sonderinteresse durch und führt die Konstruktionslogik der Republik ad absurdum. Rousseau beschreitet wohlweislich nicht den Kantschen Weg, die Herrschaft der volonté générale zur regulativen Idee zu erklären. Sein Ehrgeiz ist es, Mittel und Wege zu finden, die vernunftrechtliche Norm in die Lebenswelt der Republik einzuschreiben (vgl. Herb 1999: 110f.). Damit handelt er sich freilich keine geringen Schwierigkeiten ein. In Kapitel 6 des Zweiten Buches des Contrat social bekräftigt Rousseau noch einmal das republikanische Prinzip, das exklusiv für die Rechtmäßigkeit staatlicher Herrschaft bürgt: »Das Volk, das den Gesetzen unterworfen ist, muss ihr Urheber sein [...]« (CS III 380). Kurz darauf scheint er jedoch vor der eigenen Courage zu erschrecken, die komplexe Angelegenheit der Gesetzgebung vollständig in die Hände einer »blinden Menge« (ebd.) zu legen. Denn das Volk will zwar immer das Richtige, den Gemeinwillen – aber manchmal ist es zu verblendet, um zu erkennen, was es wirklich will: »Von selbst will das Volk immer das Gute, aber es sieht es nicht immer von selbst. Der Gemeinwille ist immer richtig, aber das Urteil, das ihn leitet, ist nicht immer aufgeklärt.« (Ebd.) Rousseau unterscheidet also zwischen dem prozedural erzeugten Volkswillen, der in die Irre führen kann, und dem ›eigentlichen‹ Willen des Volkes, der zielsicher das Beste für alle und für jeden Einzelnen ansteuert.2 Aber wie ist es möglich, diese beiden Willen zur Deckung zu bringen? Wie bringt man das Volk dazu, zu wollen, was es wollen soll?
2
Talmon veranlasst diese Unterscheidung dazu, Rousseaus volonté générale als eine »Art mathematischer Wahrheit oder eine platonische Idee« zu charakterisieren, der »eine eigene, objektive Existenz« zukommt, »unabhängig davon, ob sie wahrgenommen wird oder nicht« (Talmon 1961: 37). Für Talmon verweist die volonté générale daher auf eine von Rousseau angenommene natürliche Ordnung (vgl. Talmon 1961:
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Um das Volk zu einem aufgeklärten Urteil über den Gemeinwillen zu bewegen, bedarf es bei Rousseau nicht des freien öffentlichen Vernunftgebrauchs. Die volonté générale entsteht gerade nicht in einem deliberativen Prozess, vielmehr ist sie immer schon da: im Inneren jedes Einzelnen (vgl. Herb 2012b: 95f.). Die Differenz zwischen volonté de tous und volonté générale entspringt letztlich einer Spannung, die im Individuum selbst angelegt ist – der Differenz zwischen Mensch und Bürger. »Tatsächlich kann jedes Individuum als Mensch einen Sonderwillen haben, der dem Gemeinwillen, den es als Bürger hat, entgegengesetzt oder unähnlich ist.« (CS III 363) Zwei Herzen schlagen in der Brust des Republikbewohners: Als Mensch überlässt er sich seinen egoistischen Neigungen und denkt nur an sein eigenes Interesse; zugleich trägt er als Bürger die volonté générale immer in sich – »immer gleichbleibend, unveränderlich und rein« (ebd.: 438). Selbst wer völlig korrumpiert ist vom eigenen oder fremden Sonderwillen, kann den Gemeinwillen in sich nicht auslöschen, er kann ihm nur ausweichen (vgl. ebd.). Im Kontext des rousseauschen Tugendverständnisses haben wir bereits erfahren, dass der Mensch, der seinem Sonderwillen folgt, Sklave seiner Leidenschaften ist. Der Bürger dagegen ist frei, weil er nur seinem moralischen Willen folgt, der sich in der Gesetzgebung der volonté générale niederschlägt. Die Republik hebt die Moral auf eine kollektive Ebene: Im Gemeinwillen spiegelt sich, was das sittliche Selbst des Einzelnen fordert. Diese Gleichung zwischen kollektivem Wollen und moralischem Selbst lässt sich jedoch auch andersherum lesen: Als wahrer, weil sittlicher Wille des Individuums hat das zu gelten, was die volonté générale fordert. Ein liberaler Kritiker wie Talmon wittert hier den Versuch, dem Einzelnen ein »besseres, höheres und wahres Selbst« (Talmon 1961: 36; vgl. Crocker 1968: 61) anzudichten, während individuelle Interessen und Wünsche als selbstsüchtige Begierden denunziert werden. Aus dieser Perspektive erscheinen Rousseaus politische Prinzipien in einem obskuren Licht. Ist die vielgerühmte Tugend des citoyen etwa nichts anderes als die zweifelhafte Kunst, den eigenen Willen zum Schweigen zu bringen, um sich einen kollektiv definierten Willen zu eigen zu machen (vgl. Johnston 1999: 130-33)? Besteht Freiheit nur im Gehorsam gegen das Selbst, das mir das Gesetz gegeben hat? Arendt jedenfalls erkennt in Rousseaus volonté générale die subtilste und grausamste Form der Tyrannei, weil sie die Herrschaftsinstanz im Inneren jedes Einzelnen installiert: »Was diese Lösung so mörderisch macht, ist, dass der Souverän [...]
34). Inwiefern die Ordnung der Natur bei Rousseau als Grundlage der sozialen Ordnung zur Verfügung steht, wird in Teil III ausführlich Thema sein, vgl. insbesondere III 2.1.
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gleichsam in mir sitzt – als der ›citoyen‹, der dem ›homme particulier‹ entgegengesetzt wird. In der ›volonté générale‹ wird in der Tat jeder sein eigener Henker.« (Arendt 2002: 242)3 Hinter der ursprünglichen Frage: Wie bringt man das Volk dazu, zu wollen, was es wollen soll? tritt damit die Frage hervor: Wie bringt man den Einzelnen dazu, zu sein, was er sein soll – nämlich citoyen? Damit der Gemeinwille in der Republik herrschen kann, muss er in der Seele jedes Einzelnen obsiegen (vgl. Johnston 1999: 131ff.). Als Ursprung des republikzersetzenden Sonderwillens macht Rousseau die »absolute und von Natur aus unabhängige Existenz« (CS III 363) des Einzelnen aus, sie muss nach Möglichkeit überwunden werden. Das Ideal ist die vollständige Verwandlung des Menschen in den Bürger. Genau diese Aufgabe überträgt Rousseau dem Gesetzgeber, also demjenigen, der den Wagemut aufbringt, eine blinde Menge in ein Volk von Bürgern zu verwandeln: »Wer sich daran wagt, ein Volk zu errichten, muss sich in der Lage fühlen, sozusagen die menschliche Natur zu ändern; jedes Individuum, das von sich aus ein vollendetes und für sich bestehendes Ganzes ist, in den Teil eines größeren Ganzen zu verwandeln, von dem dieses Individuum gewissermaßen sein Leben und sein Sein empfängt; die Verfasstheit des Menschen zu entstellen, um sie zu stärken; eine partielle und moralische Existenz an die Stelle der physischen und unabhängigen Existenz zu setzen, die wir alle von der Natur erhalten haben. Mit einem Wort, es ist nötig, dass er dem Menschen seine eigenen Kräfte nimmt, um ihm fremde zu geben, von denen er nicht ohne die Hilfe der anderen Gebrauch machen kann.« (Ebd.: 381f.)
Der Mensch soll im Sinne der Republik umgekrempelt werden, er muss sein altes Ich hinter sich lassen. Als Bürger wird er zum totalen Gemeinschaftswesen, das nur noch für und durch die Republik lebt. Je vollständiger diese Umwandlung gelingt, desto besser: Aus den Bürgern, die sich selbst nur noch in Bezug auf die Gemeinschaft definieren, kann der Gesetzgeber eine starke Einheit schmieden. Die republikanischen Institutionen zeigen sich auf dem höchsten Punkt der Perfektion, wenn keiner mehr ohne die anderen kann: »Je gründlicher die natürlichen Kräfte tot und vernichtet sind, desto größer und dauerhafter sind die erworbenen, desto fester und vollkommener ist auch die Errichtung: Man kann also sagen, wenn jeder Bürger nichts ist, nichts kann, außer durch alle anderen, und die vom Ganzen erworbene Kraft der Summe der natürlichen Kräfte aller Individuen gleich-
3
Zu Arendts kritischer Rousseau-Rezeption vgl. Morgenstern 2012.
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kommt oder sie übertrifft, dann ist die Gesetzgebung auf dem höchsten Punkt der Perfektion, den sie erreichen kann.« (Ebd.: 382)
Wenn es gelingt, Menschen in Bürger zu verwandeln, dann ist die Republik mehr als die Summe ihrer Teile, sie wird zur vollständigen Einheit. Die Kunst des Gesetzgebers zielt somit darauf, wie Arendt es ausdrückt, »aus einer Pluralität eine Singularität [zu] machen« (Arendt 2002: 242). Wem diese Transformation reichlich dubios vorkommt, der liegt sicher nicht falsch. Tatsächlich geht am Anfang der Republik nicht alles mit rechten Dingen zu: Der Gesetzgeber, der selbstsüchtige hommes in aufgeklärte citoyens verwandeln soll, kann seine Aufgabe nur mit ein bisschen Schummelei vollenden. Damit die Menschen, die freilich keinen Sinn für große Gesetzgeberkunst haben, sein Werk auch zu würdigen wissen, darf er sich als Gesandter der Götter ausgeben (vgl. CS III 383). So gesteht Rousseau dem législateur ein durchaus manipulatives Vorgehen zu, das mit den religiösen Gefühlen der Menge spielt, um politische Zustimmung zu erwirken. Die Republik wird also aus einer Lüge geboren – man kann hier an Platons edle Lüge denken (vgl. Platon, Pol. 414b). Leider ist damit die Verwandlung von Menschen in Bürger nicht ein für alle Mal vollzogen. Die Gefahr, die am Anfang der Republik aufscheint – die Ablehnung des Gesellschaftsvertrages durch eine Ansammlung egoistischer Individuen, die noch nicht wissen können, was gut für sie ist –, sucht auch noch den republikanischen Alltag heim: Der Gemeinwille läuft immer Gefahr, von einer blinden Menge verfehlt zu werden.4 Rousseau zeigt sich wenig zimperlich, wenn es darum geht sicherzustellen, dass aus den Abstimmungen des Volkes tatsächlich die reine und unverfälschte volonté générale hervorgeht: »Die Einzelnen sehen das Gute und weisen es zurück: Die Öffentlichkeit will das Gute und sieht es nicht. Beide sind gleichermaßen auf Führung angewiesen [...]« (CS III 380). Wenn das Volk von selbst nicht erkennen kann, was gut für es ist, muss es eben auf den rechten Weg geführt werden. Es gilt, der blinden Menge die Augen zu öffnen. Dabei kann der erwünschten Erkenntnis durchaus etwas nachgeholfen werden: »Man muss [den Gemeinwillen] dazu bringen, die Gegenstände so zu sehen, wie sie sind, manchmal so, wie sie ihm erscheinen müssen [...]« (ebd.). Kleine Täuschungen im Sinne des Gemeinwohls – das Mittel der edlen Lüge bleibt offenbar nicht auf die Gründungsphase der Republik beschränkt. Ist es also weiterhin die manipulative Macht des Gesetzgebers, die das Volk zur rechten
4
Vgl. Honig 2007: 3; Rebentisch 2012: 310. Inwiefern die Aporie des Anfangs, für die Rousseau den Gesetzgeber als Lösung anbietet, im Republikalltag wieder auftaucht, soll in III 2.2 noch einmal thematisiert werden.
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Erkenntnis anleitet? Entpuppt sich der législateur gar als heimlicher Führer der Republik, als der souveräne Diktator, den Carl Schmitt in ihm erkennen wollte?5 Eine solche Lesart verkennt die spezielle Funktion des Gesetzgebers. Er gehört eben gerade nicht zum republikanischen Inventarium, im Institutionengefüge der Republik findet er keinen Platz. Sein quasi-göttliches Eingreifen zu Beginn setzt lediglich die Rahmenbedingungen für das Funktionieren der Republik (vgl. Herb 1989: 159). Der Gesetzgeber ist »der Mechaniker, der die Maschine erfindet« (CS III 381), mit dem Betrieb der republikanischen Maschine hat er nichts mehr zu tun. Einmal in Gang gesetzt, läuft sie von selbst und erzeugt citoyens. Hier, in der Funktionsweise der Republik selbst, sind die einheitsstiftenden und manipulativen Tendenzen zu suchen, die in der Figur des Gesetzgebers lediglich personifiziert werden. Doch halt – gibt es nicht jemanden, der als Nachfolger des Gesetzgebers die Fäden in der Hand behält? Eine verborgene Führerelite, die weiterhin dafür sorgt, dass das Volk nicht in die Irre geht (vgl. Crocker 1968)? In Frage käme für diese Rolle die Regierung – sie hält die republikanische Maschine am Laufen, sobald der große Erfinder sich zurückgezogen hat (vgl. CS III 381). Tatsächlich wendet sich Rousseau in seiner Abhandlung über die Politische Ökonomie an die Regierung, wenn er den Auftrag formuliert, Menschen zu citoyens zu erziehen: »Es ist sicher, dass die Völker auf die Dauer das sind, wozu die Regierung sie macht. [...] Bildet also Menschen, wenn ihr Menschen befehlen wollt [...]« (EP III 251). Die Kunst des Gesetzgebers findet hier ihre Fortsetzung in der Kunst der Regierung.6 Doch im Gegensatz zum législateur gibt die Regierung eine eher schwache Führerfigur ab, und eine unzuverlässige allemal. Ihre Aufgabe besteht lediglich darin, die Sitten und Institutionen zu bewahren und fortzuschreiben, die der législateur erdacht hat. Sobald sie darüber hinausgeht und ein Eigenleben annimmt, gefährdet sie das Werk des Gesetzgebers.
5
Zu Schmitts Rousseau-Rezeption vgl. Halas 2012; speziell zum Zusammenhang Gesetzgeber und souveräner Diktator vgl. ebd.: 61ff.
6
Johnston analysiert die Kunst der Regierung bei Rousseau anhand von Foucaults Theorie der Gouvernementalität, vgl. Johnston 1999: 75-119. Dabei nimmt er (unter anderem) jene Phänomene in den Blick, die ich als republikanische Sitten bezeichne. Obwohl ich Johnstons Analyse im Ganzen sehr treffend finde, schätze ich die Rolle der Regierung etwas anders ein. Zum einen ist es zwar die Aufgabe der Regierung, die Sitten zu erhalten, aber sie erfüllt diese wiederum nur unter der Voraussetzung gut funktionierender Sitten (vgl. Fetscher 1975: 195f.). Zum anderen tritt die Regierung in der Republik der Einheit vor allem als potentielle Unruhestifterin auf; diesen Aspekt möchte ich betonen – dazu ausführlich in III 2.2.
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Statt nach den heimlichen Führern der Republik zu suchen, gilt es also auf die Sitten und Institutionen zu blicken, die der Gesetzgeber ins Leben gerufen hat und die eine gute Regierung lebendig erhalten soll. Volksversammlungen, Feste, Militärübungen, die Zivilreligion und das Zensoramt atmen alle einen ähnlichen Geist. Sie sollen einen bestimmten Menschenschlag formen: den citoyen, der ganz für sein Vaterland lebt und in der Gemeinschaft mit seinen Mitbürgern aufgeht. Um dieses Ziel zu erreichen, suchen die republikanischen Institutionen den direkten Zugriff auf das Herz der Bürger: »Wenn es gut ist, die Menschen so verwenden zu können, wie sie sind, dann ist es noch viel besser, sie so zu machen, wie man sie braucht; die uneingeschränkteste Autorität ist jene, die bis ins Innere des Menschen vordringt und sich nicht weniger auf den Willen als auf die Handlungen richtet.« (EP III 251) »Das Gesetz wirkt nur außerhalb und regelt nur die Handlungen; allein die Sitten dringen nach innen und lenken den Willen.« (FP III 555)
Rousseaus Republik begnügt sich nicht damit, die äußeren Handlungen ihrer Bürger zu regeln; sie möchte sich in ihrem Innersten einnisten, ihre Gefühle läutern und ihren Willen lenken (vgl. Herb 1999: 54f.). Dazu dienen die sentimentalen Sitten und Bräuche, die habits of the heart, die von klein auf den guten Republikaner an seine Heimat binden sollen: »Sobald ein Kind die Augen öffnet, muss es das Vaterland sehen und bis zu seinem Tod nichts anderes.« (Pologne III 966) Rousseau träumt von der bedingungslosen Hingabe des citoyen an die Republik. Die Devise lautet: Bürgersein und nichts sonst! Für den Anhänger Spartas kann es nicht mehr darum gehen, konkurrierende Interessen durch rechtliche Regelungen zu versöhnen. Ein echter citoyen hat vielmehr keine Sonderinteressen mehr, er denkt in jeder Minute seines Lebens nur an das Wohl der Republik. »Diese Liebe macht sein ganzes Dasein aus; er sieht nur das Vaterland, er lebt nur für es; sobald er alleine ist, ist er nichts; sobald er kein Vaterland mehr hat, existiert er nicht mehr, und wenn er nicht tot ist, ist es noch schlimmer für ihn.« (Ebd.) Du bist nichts, deine Republik ist alles! Um Bürger dieser Art zu schaffen, müssen die republikanischen Sitten in jeden Bereich des Lebens vordringen und die Menschen immerfort in Atem halten. Voller Bewunderung spricht Rousseau von Lykurg, der das spartanische Volk durch ein eisernes Joch aus patriotischen Verpflichtungen formte: »Er erlegte ihm ein eisernes Joch auf, wie es kein anderes Volk je getragen hat; aber er verband es mit diesem Joch, identifizierte es sozusagen damit, indem er es ständig damit beschäftigte. Er zeigte ihm das Vaterland ohne Unterlass in seinen Gesetzen, in seinen
170 | E RSEHNTE E INHEIT , UNHEILBARE S PALTUNG – R EPUBLIK Spielen, zu Hause, in seiner Liebe, in seinen Festen. Er ließ ihm nicht einen Augenblick der Erholung, um allein zu sein, und aus diesem beständigen Zwang, der durch sein Ziel geadelt wurde, erwuchs in diesem Volk jene glühende Liebe zum Vaterland, die immer die stärkste oder vielmehr die einzige Leidenschaft der Spartaner war, und die sie zu übermenschlichen Wesen machte.« (Ebd.: 957)
Angesichts dieses Beschäftigungsprogramms werden auch die Sorgen der Liberalen nachvollziehbar, dass die rousseausche Republik keinen Winkel mehr für das Private übrig lassen könnte. Der Privatmensch ist neben dem citoyen nicht mehr vorgesehen.7 Diese Sitten und Institutionen erzeugen eine umfassende republikanische Lebenswelt, die alle Bürger miteinander teilen. Rousseau möchte, dass eine verschworene Gemeinschaft von Freunden und Brüdern entsteht. Daher gilt im Grunde für jede Republik, was er explizit für die Demokratie formuliert (vgl. CS III 405; Herb/Taureck 2012: 83): Sie funktioniert nur in den engen Grenzen eines kleinen Staates und in einfachen sozioökonomischen Verhältnissen (vgl. Baczko 1970: 409ff.); andernfalls droht permanent die Spaltung der Bevölkerung in verschiedene Gruppen oder Klassen. Zu den Bedingungen für den bedingungslosen Zusammenhalt zählt vor allem »eine große Einfachheit der Sitten, die der Vielzahl an Angelegenheiten und den heiklen Diskussionen vorbeugt« (CS III 405). Verschiedenartige Lebensstile tragen nur unnötigen Zwist in die Gemeinschaft der Gleichen. Eine möglichst homogene Lebens- und Gefühlswelt ist dagegen die Voraussetzung für das zwanglose und spontane Übereinstimmen der Einzelwillen mit dem Gemeinwillen: »Solange mehrere vereinigte Menschen sich als einen einzigen Körper betrachten, haben sie nur einen einzigen Willen, der sich auf die gemeinsame Erhaltung und das allgemeine Wohl bezieht. Dann sind alle Triebkräfte des Staates gesund und einfach, seine Prinzipien sind klar und einleuchtend, es gibt keinerlei verworrene und widersprüchliche Interessen, das Gemeinwohl tritt überall klar zutage und verlangt nicht mehr als gesunden Menschenverstand, um wahrgenommen zu werden.« (Ebd.: 437)
Diese Art von Homogenität erwächst nicht aus Blut und Boden,8 sie muss vielmehr performativ hergestellt werden. Dazu dienen die Institutionen der republikanischen Öffentlichkeit. Vor allem die Volksversammlung und das Fest ma-
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Vgl. Russell 1951: 338; Talmon 1961: 42f. Zu Rousseaus Absage an das Private als liberalen Rückzugsraum vgl. Herb 1999: 115f.; Herb 2001: 62f.
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So das (absichtliche) Missverständnis bei Schmitt, vgl. Schmitt 1961: 19f.
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chen das Aufgehen des Einzelnen in der Gemeinschaft geradezu sinnlich erfahrbar. Nicht umsonst herrscht in der Republik Anwesenheitspflicht. Nur wenn jeder Einzelne körperlich gegenwärtig ist, können alle zu einem gemeinschaftlichen Körper verschmelzen. In diesen Momenten der bürgerlichen Gegenwärtigkeit geht etwas Bemerkenswertes vor sich: ein allgemeines »Sich-Öffnen der Herzen« (Starobinski 2003: 141), das die Bürger buchstäblich zum moi commun vereint. Im gemeinsam geteilten Gefühl vollzieht sich die republikanische Kommunion, alle Grenzen zwischen den Einzelnen scheinen aufgehoben – »dass jeder sich in den anderen erkennt und liebt, damit alle inniger vereint sind« (LdA V 115). Doch für Rousseau ist dieser Traum letztlich zu schön, um wahr zu sein. Der gemeinschaftliche Körper ist sterblich, er trägt die Keime seines Verfalls immer schon in sich: »Der politische Körper beginnt, ebenso wie der Körper des Menschen, von seiner Geburt an zu sterben und trägt die Gründe für seine Zerstörung in sich selbst.« (CS III 424) Die vollkommene politische Einheit, in der alle Widersprüche dauerhaft aufgehoben sind, muss Illusion bleiben. Am nächsten käme dieser Vorstellung die Demokratie – die jedoch erscheint Rousseau weder wünschenswert9 noch überhaupt möglich: »Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Eine so perfekte Regierung passt nicht zu den Menschen.« (Ebd.: 406) In der irdischen Republik muss es zumindest eine Spaltung geben: jene zwischen Souverän und Regierung. Ausgerechnet die Regierung erweist sich als permanente Quelle der Störung. Von Anfang an untergräbt sie das Werk des Gesetzgebers, das sie doch eigentlich bewahren sollte. Damit ist die Einheit schon nicht mehr perfekt, die Tage der Republik sind bereits vorab gezählt. »So wie der Sonderwille unaufhörlich gegen den Gemeinwillen handelt, so unternimmt die Regierung eine beständige Anstrengung gegen die Souveränität. [...] Genau das ist das inhärente und unvermeidliche Übel, das von der Geburt des politischen Körpers an ununterbrochen danach strebt, ihn zu zerstören, ebenso wie das Alter und der Tod den Körper des Menschen zerstören.« (Ebd.: 421)
Die Einheit im Politischen lässt sich nur vorübergehend realisieren, nur für einen glücklichen Augenblick innerhalb der allgemeinen Verfallsgeschichte der Menschheit. Selbst Rom und Sparta sind untergegangen (vgl. ebd.), und ein Weg zurück findet sich in der Moderne ohnehin nicht mehr. Vor diesem Hintergrund muss man Rousseaus politisches Ideal als Utopie verstehen. Nein, Rousseau
9
Auf diesen Punkt gilt es noch zurückzukommen, vgl. III 2.2.
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schreibt nicht das Drehbuch der Französischen Revolution; er verfasst keine Programmschrift für eine umfassende Gesellschaftsreform. Vielmehr träumt er einen unmöglichen Traum – den Traum von der unvermittelten Einheit des Gemeinwesens.10
3.2 R EPUBLIKANISCHE L IST Die Republik ist nur eine Version der rousseauschen Einheitsphantasie. Neben der Einheit des Kollektivs steht die Einheit des Individuums, erklärtes Ziel der ›natürlichen‹ Erziehung Emiles. Wie wir gesehen haben, ist die individuelle Einheit höchst voraussetzungsreich. Die Erziehung nach dem Vorbild des homme naturel kann unter gesellschaftlichen Bedingungen nur mittels einer komplizierten Versuchsanordnung gelingen: Emile muss möglichst lange in seinem künstlichen Naturzustand bleiben; er muss zur rechten Zeit einen Vertrag eingehen, der ihn zur Tugend führt; und schließlich muss er eine tugendhafte Frau wie Sophie finden, die für ihn dauerhaft das Problem des Begehrens löst. All diese Lebensstationen, die aus Emile einen freien Menschen machen sollen, bringen ein gehöriges Maß an Täuschung ins Spiel – sie funktionieren nur, weil hinter Emiles Rücken jemand anderes heimlich die Fäden zieht. Als Kind lebt Emile in einer ganz und gar von seinem Erzieher inszenierten Welt; auf der Schwelle zur Reife lässt er sich unter höchst fragwürdigen Umständen ein Gehorsamsversprechen abringen; als Erwachsener schließlich wird er zum Opfer weiblicher List und unterliegt der subtilen Macht Sophies, ohne sich dessen bewusst zu sein. Die Einheit des Menschen ist offenbar nichts anderes als »das Ergebnis eines großangelegten Täuschungsmanövers« (Garbe 1992: 59). Gilt dasselbe auch für die Einheit des Politischen? Ist die Republik nur eine Inszenierung, die Freiheit des citoyen durch Manipulation erkauft? Und welche Rolle spielt die weibliche List im republikanischen Kontext? Zunächst gilt es zu zeigen, inwieweit die Einheit in der Republik, analog zur Einheit des ›natürlich‹ erzogenen Individuums, ein Produkt der List und Täuschung ist. Rousseaus Traum von der Einheit beginnt mit dem Naturzustand. Es ist der homme naturel, der das Urbild des autonomen, bruchlosen und vollständigen Menschen verkörpert. Der homme naturel genießt seine Freiheit vor allem als innere Autonomie: Ohne Einbildungskraft, ohne Begehren, kennt er nur einfache Bedürfnisse, die er sich selbst erfüllen kann. Auf niemanden angewiesen, ohne
10 Zu Rousseaus Absage an Revolution und Reform und zu seiner resignativen Beurteilung des eigenen politischen Ideals vgl. Herb 1999: 185-197.
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Leidenschaften, die seine Kräfte übersteigen würden, genügt er sich selbst – »ohne jedes Bedürfnis nach Seinesgleichen, [...] nur wenigen Leidenschaften unterworfen und sich selbst genügend« (DI III 160). Dieser Zustand der Selbstgenügsamkeit und inneren Harmonie ist ein für alle mal vorbei, wenn der Mensch zum gesellschaftlichen Wesen wird.11 Die Begegnung mit dem Anderen, die Rousseau mit dem Bild des dörflichen Festes illustriert, birgt von Anfang an das Moment der Selbstentfremdung: Der Mensch ist nicht mehr völlig bei sich, sobald er sich auf den Anderen bezieht. Die Leidenschaften, die sich an den Anderen richten, erzeugen einen Überschuss – Wünsche und Fähigkeiten des Menschen geraten aus dem Gleichgewicht. Für Rousseau scheint daher in der sozialen Existenz des Menschen immer schon das Problem der Abhängigkeit auf. Unter gesellschaftlichen Bedingungen ist die Freiheit des homme naturel nicht einzuholen. Die Abhängigkeit vom Anderen, in die sich der gesellschaftliche Mensch unweigerlich verstrickt, wirft ihn in einen Zustand der Schwäche und Unvollkommenheit zurück. Der homme de l’homme ist genauso hilflos und seinen Mitmenschen ausgeliefert wie ein Kind – nicht weil es ihm wie diesem an Kräften mangelt, sondern weil seine Begierden ins Unendliche steigen: »Die Kinder genießen [...] nur eine unvollständige Freiheit, ähnlich wie jene, die die Menschen im bürgerlichen Zustand genießen. Da wir nicht mehr ohne die anderen auskommen können, wird jeder von uns in dieser Hinsicht wieder schwach und armselig. Wir wurden geschaffen, Menschen zu sein, die Gesetze und die Gesellschaft haben uns in die Kindheit zurückgeworfen.« (Emile IV 310)
Die Abhängigkeit vom Anderen stellt die größte Gefahr für die Autonomie des Menschen dar. Aber wie kann es gelingen, in Gesellschaft zu leben und trotzdem frei zu sein? Das ist genau die Frage, für die Rousseau im Emile und im Contrat social zwei alternative Antworten entwirft. Das gemeinsame Prinzip hinter den beiden Lösungsvorschlägen verdeutlicht Rousseau im Emile, indem er zwei Arten der Abhängigkeit voneinander unterscheidet: »Es gibt zwei Sorten der Abhängigkeit. Die von den Dingen kommt von der Natur; die von den Menschen kommt von der Gesellschaft. Die Abhängigkeit von den Dingen besitzt keinerlei Moralität und schadet daher in keiner Weise der Freiheit und verursacht keinerlei
11 Benhabib und Nicholson sprechen hier von der »Zerstörung des narzißtischen Gleichgewichts« durch das Eindringen des »Blick[s] des anderen in das Universum des Selbst« (Benhabib/Nicholson 1987: 534). Vgl. auch Bradshaw 2002: 70.
174 | E RSEHNTE E INHEIT , UNHEILBARE S PALTUNG – R EPUBLIK Laster. Die Abhängigkeit von den Menschen widerspricht der Ordnung und verursacht alle Laster, und durch sie verderben Herr und Sklave sich gegenseitig.« (Ebd.: 311)
Die Abhängigkeit von den Dingen kann der Einheit des Menschen nicht gefährlich werden, sie ist Teil der natürlichen Ordnung. Auch der homme naturel muss sich den Notwendigkeiten der Natur beugen, und trotzdem ist er frei: Die Macht der Dinge bleibt ohne moralische Bedeutung, sie kann die Autonomie des Menschen nicht infrage stellen. Anders sieht es mit der Abhängigkeit von den Menschen aus. Sie ist das Grundübel, das die Gesellschaft bereithält – sie bringt die Ordnung der Natur durcheinander und setzt die Dynamik von Herrschaft und Knechtschaft in Gang. Wie könnte man sich dieser unheilvollen Konsequenz der Vergesellschaftung entziehen? Rousseaus Antwort erscheint verblüffend simpel: Es gilt, die Abhängigkeit von den Menschen in eine Abhängigkeit von den Dingen zurückzuverwandeln. »Wenn es irgendein Mittel gibt, dieses Übel in der Gesellschaft zu heilen, dann indem man das Gesetz an die Stelle des Menschen setzt [...]. Wenn die Gesetze der Nationen dieselbe Unerbittlichkeit haben könnten wie diejenigen der Natur, die keine menschliche Kraft je besiegen kann, dann würde die Abhängigkeit von den Menschen wieder zu der von den Dingen werden, man würde in der Republik alle Vorteile des natürlichen Zustands mit denen des gesellschaftlichen Zustands verbinden, man würde der Freiheit, die den Menschen frei von Lastern hält, die Moralität hinzufügen, die ihn zur Tugend erhebt.« (Ebd.)
Damit bringt Rousseau die Grundidee seiner Republik auf eine einfache Formel: Das Gesetz soll herrschen, damit der Mensch nicht über den Menschen herrscht. Wie unerschütterliche Naturgesetze sollen die Gesetze wirken, die der Gemeinwille gibt. So wie der homme naturel nur den Befehlen der Natur gehorcht, so schuldet der Bürger nur der volonté générale Gehorsam. Persönliche Abhängigkeitsverhältnisse gibt es in der Republik nicht mehr, alle unterstehen dem einen Gesetz, das von allen und damit zugleich von niemandem auszugehen scheint: die entpersonalisierte Herrschaft der volonté générale (vgl. Bürgin 2008: 145). Emiles Erziehung zur Freiheit folgt derselben Maßgabe: »Haltet das Kind allein in der Abhängigkeit von den Dingen [...]« (Emile IV 311). Nur die Macht des Faktischen darf sich den Wünschen des Kindes in den Weg stellen; niemals soll es den Eindruck bekommen, fremder Willkür ausgeliefert zu sein. Alles, was Emile zu spüren bekommen soll, sei »das harte Joch, das die Natur dem Menschen auferlegt, das schwere Joch der Notwendigkeit [...]. Dass er diese Notwendigkeit in den Dingen sehe, niemals in der Laune der Menschen [...]« (ebd.:
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320). Emile soll die Abhängigkeit von den Menschen gar nicht erst kennenlernen, weder soll er zu gehorchen lernen noch zu befehlen: »Dass er nicht wisse, was Gehorsam ist, wenn er handelt, noch was Herrschaft ist, wenn man für ihn handelt. Dass er seine Freiheit gleichermaßen in seinen Handlungen und in den Euren fühle.« (Ebd.: 311) Der kleine Emile soll die Freiheit des homme naturel genießen, nur den Gesetzen der Natur und nicht dem Willen des Menschen zu unterliegen. Was Rousseau deshalb vorschlägt, ist eine negative Erziehung (vgl. ebd.: 323): keine Verbote, kein erzwungener Gehorsam, keine Bestrafungen. Das Kind soll sich frei von jeder Autorität entfalten können. In Wirklichkeit erweist sich Rousseaus negative Erziehungsmethode jedoch als keineswegs von laissez-faire geprägt. Während sich der kleine Emile seiner scheinbar uneingeschränkten Freiheit erfreut, steht im Hintergrund der Erzieher, der das Leben seines Zöglings jederzeit vollständig im Griff hat. Der Erzieher verbietet Emile nichts, aber er legt ihm Hindernisse in den Weg, wo es nötig ist. Er bestraft nicht, aber er sorgt dafür, dass Emiles Fehler lehrreiche Konsequenzen nach sich ziehen. Er befiehlt nichts, aber er lenkt die Handlungen seines Schützlings durch umsichtige Maßnahmen, die Emile freilich verborgen bleiben. Die traditionellen Erziehungsmethoden, die auf unverhohlene Autorität setzen, kritisiert Rousseau als ineffektiv: Sie verwandeln das Kind lediglich in einen Meister der Verstellung – es lernt nichts anderes, als sich Verboten und Befehlen trickreich zu entziehen (vgl. ebd.: 362). Die negative Erziehung versucht stattdessen, den Anschein der Freiheit zu erwecken, um eine umso wirkungsvollere Unterwerfung zu erzielen: »Schlagt mit Eurem Schüler eine entgegengesetzte Richtung ein; damit er immer glaubt, Herr zu sein, und immer Ihr es seid, die Herr sind. Es gibt überhaupt keine so vollständige Unterwerfung wie jene, die den Anschein der Freiheit bewahrt; so hält man sogar den Willen gefangen.« (Ebd.; vgl. Garbe 1992: 56ff.)
Von wegen laissez-faire – tatsächlich hat der Erzieher alle Hände voll zu tun, um die große Illusion der kindlichen Freiheit aufrechtzuerhalten. Die ganze Umgebung des Kindes muss so eingerichtet werden, dass es nur Eindrücke empfangen und Menschen begegnen kann, die seiner Entwicklung förderlich sind (vgl. Emile IV 325f.). Der Erzieher muss das Kind unter permanenter Kontrolle haben. Er muss alle seine Handlungen genauestens beobachten und selbst seine Gedanken und Gefühle im Voraus erahnen (vgl. ebd.: 461). Alle Situationen, in die Emile gerät, sind bewusst inszeniert; alle Mitwirkenden sind vorab instruiert. In seinem pädagogischen Theaterstück lässt der Erzieher etwa den Gärtner Robert auftreten, um seinem Zögling den Begriff des Eigentums näherzubringen
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(vgl. ebd.: 331ff.), oder einen Zauberkünstler auf dem Jahrmarkt, der Emiles Eitelkeit in die Schranken weisen soll (vgl. ebd.: 437-440).12 Hinter den Kulissen der großen Emile-Show wirkt stets ein Regisseur, der nichts dem Zufall überlässt. Die angebliche Abhängigkeit von den Dingen ist ein Trugschluss: Sie erweist sich als Abhängigkeit von Dingen, die der Erzieher sorgfältig arrangiert hat. Emiles Freiheit entpuppt sich als eine Illusion, sie ist »der täuschende Effekt einer gigantischen Inszenierung« (Garbe 1992: 59; vgl. Vinken 1995: 189). Letztlich ist Emile vollständig von seinem Erzieher abhängig, der die totale Kontrolle über sein Leben, seine Gefühle und seinen Willen ausübt: »Das arme Kind, das nichts weiß, nichts kann, nichts kennt, ist es Euch nicht ganz ausgeliefert? Verfügt Ihr nicht über alles in seiner Umgebung, was sich auf es bezieht? Seid Ihr nicht Herr darüber, es zu beeindrucken, wie es Euch gefällt? Seine Arbeiten, seine Spiele, seine Vergnügen, seine Schmerzen, liegt nicht alles in Euren Händen, ohne dass es das weiß? Zweifellos muss es nur tun, was es will; aber es darf nur das wollen, was Ihr wollt, dass es tut; es darf keinen Schritt tun, den Ihr nicht vorausgesehen habt, es darf den Mund nicht öffnen, ohne dass Ihr wisst, was es sagen wird.« (Emile IV 362f.)
So weit Emiles Abhängigkeit vom Erzieher reicht, so peinlich genau ist dieser darauf bedacht, jeden Anschein dieser Abhängigkeit zu vermeiden und sich selbst als handelnde Person unsichtbar zu machen. Der Erzieher verwischt alle Spuren seines Eingreifens; er weiß alles über Emile, lässt sich selbst aber nicht in die Karten schauen (vgl. Garbe 1992: 58; Bürgin 2008: 107f.). So intensiv er sich seinem Zögling widmet, so wenig ist er für diesen als Gegenüber greifbar. Garbe versteht den Erzieher daher als den »heimlichen Anderen« (Garbe 1992: 59) in Emiles Leben: Er gibt sich nicht als Anderer zu erkennen, an dessen Willen Emiles Autonomie ihre Grenzen findet. Vielmehr bringt er sich selbst zum Verschwinden – und verfolgt dabei einzig das Ziel, Emiles Autonomie zu bestätigen. »So souverän sich das Kind auch wähnen mag: Immer ist da schon jemand, der seine Souveränität in Kraft setzt.« (Garbe 1992: 59) Tatsächlich entkommt Emile der Abhängigkeit von den Menschen nicht – aber er spürt sie nicht, weil der heimliche Andere an seiner Seite alles daran setzt, die Illusion der Freiheit aufrechtzuerhalten (vgl. Vinken 1995: 188f.; Makus 2002: 203).
12 In einem anderen sehr eindrücklichen Beispiel beteiligt sich die ganze Nachbarschaft an einer solchen pädagogischen Inszenierung, um ein verzogenes Kind zur Räson zu bringen (vgl. Emile IV 364-369; Garbe 1992: 56).
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Der Figur des heimlichen Anderen begegnen wir auch in Clarens und in der Republik wieder. Emiles Erzieher, der Gesetzgeber und Wolmar zeichnen sich alle durch ähnliche Charakterzüge aus: eine ausgeprägte Beobachtungsgabe, ein tiefes Verständnis der menschlichen Leidenschaften und gleichzeitig eine auffällige Leidenschaftslosigkeit. Wolmar beschreibt sich selbst als einen nüchternen Mann mit »ruhiger Seele und kaltem Herzen« (Julie II 491): »Wenn ich irgendeine vorherrschende Leidenschaft habe, dann ist es die der Beobachtung: Ich liebe es, in den Herzen der Menschen zu lesen [...]. Wenn ich meine Wesensart ändern und ein lebendiges Auge werden könnte, würde ich diesen Tausch freiwillig eingehen.« (Ebd.)
Der kühl analysierende Wolmar übernimmt in Clarens die Rolle des Gesetzgebers: Ohne dass sich sein Einfluss recht bemerkbar macht, ordnet er seinen Haushalt nach den Gesetzen der Vernunft und der Freiheit. »Die Ordnung, die er in seinem Haus eingeführt hat, ist das Abbild von der, die auf dem Grund seiner Seele herrscht, und scheint in einem kleinen Haushalt jene Ordnung nachzuahmen, die in der Regierung der Welt gültig ist. [...] Man erkennt dort immer die Hand des Herren, doch man spürt sie niemals; er hat die erste Anordnung so gut getroffen, dass jetzt alles ganz von alleine läuft und man sich gleichzeitig an der Regel und an der Freiheit erfreut.« (Ebd.: 371f.)
Wolmar und Julie wachen gemeinsam über die Ordnung in Clarens. Genau wie Emile sollen die Mitglieder des Haushaltes gar nicht zu spüren bekommen, dass ihr Zusammenleben einem wohldurchdachten Plan folgt und durchdringender Kontrolle unterliegt. Im Umgang mit den Dienstboten etwa machen sich Wolmar und Julie die Maximen von Emiles Erzieher zu eigen – Autorität muss sich den Anschein der Freiheit geben, um wirksam zu sein. »Die ganze Kunst des Herrn besteht darin, diesen Zwang unter dem Schleier des Vergnügens oder des Interesses zu verstecken, so dass sie glauben, all das zu wollen, was man ihnen zu tun aufträgt.« (Ebd.: 453) Gleiches gilt für die Erziehung der Kinder. Julie erzieht ihre Kinder den theoretischen Anweisungen ihres Mannes folgend, der offenbar den Emile gelesen hat. Auch diese Erziehung zur Freiheit stützt sich auf heimliche Kontrolle. So berichtet Julie etwa, dass sie selbst die alltäglichen Gespräche ihrer Kinder unbemerkt mitprotokolliert: »Tatsächlich höre ich ihnen mit der größten Aufmerksamkeit zu, ohne dass sie etwas davon ahnen; ich führe ein genaues Verzeichnis von dem, was sie tun, und dem, was sie sagen [...]« (ebd.: 584).
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Der Gesetzgeber der Republik erfüllt auf einer höheren Ebene dieselbe Aufgabe wie Wolmar – statt eines Haushaltes ordnet er ein Gemeinwesen. Auch er muss ein intimer Kenner der menschlichen Abgründe sein, ohne selbst daran teilzuhaben: »Um die besten gesellschaftlichen Regeln zu entdecken [...], bedürfte es einer überlegenen Vernunft, die alle Leidenschaften der Menschen sehen und keine davon empfinden würde, die keine Beziehung zu unserer Natur hätte und sie von Grund auf kennen würde, deren Glück von uns unabhängig wäre und die sich dennoch gerne mit dem unseren beschäftigen wollte [...]« (CS III 381).
Ausgezeichnet mit diesen Eigenschaften vollbringt er dasselbe Kunststück wie Emiles Erzieher: Er verwandelt die Abhängigkeit von den Menschen zurück in eine Abhängigkeit von den Dingen. Der von ihm dirigierte Gründungsakt beendet die Herrschaft des Menschen und legt den Grundstein für die unpersönliche Herrschaft der Gesetze. Aber auch auf politischem Terrain gelingt diese Glanznummer nicht ganz ohne faulen Zauber. Es muss schon die Macht der Götter heraufbeschworen werden, damit ein menschengemachtes Gesetzeswerk als unabänderliches Naturgesetz erscheint, »damit die Völker, den Gesetzen des Staates auf dieselbe Weise unterworfen wie denen der Natur, [...] aus Freiheit gehorchen und das Joch der öffentlichen Glückseligkeit gefügig tragen« (ebd.: 383; vgl. Garbe 1992: 132). Allen drei Figuren – dem Erzieher, Wolmar und dem législateur – ist gemeinsam, dass sie eine Ordnung der Freiheit in Kraft setzen und dabei auf Täuschung zurückgreifen. Ob es um die Autonomie des Individuums, die Harmonie des Haushaltes oder die Einheit der Republik geht – offenbar läuft es nicht ohne das Eingreifen des heimlichen Anderen, der sich hinter dem Schleier der Naturnotwendigkeit versteckt. Für den Gesetzgeber haben wir bereits festgestellt, dass er kaum wörtlich zu nehmen ist, sondern eher die Wirkungsweise der republikanischen Institutionen personifiziert. Auch der Erzieher und selbst Wolmar, das lebendige Auge, sind hochgradig hypothetische Figuren, die völlig in ihrer Funktion als heimlicher Anderer aufgehen.13 Analog zum Gesetzgeber verkörpert der Erzieher vor allem eine notwendige Wirkungsweise der rousseauschen Erziehungsmethode: Jemand muss die Einheit des Individuums bestätigen, ohne sie zu bedrohen – das kann nur der Andere, der sich nicht als Anderer zu erkennen gibt. Bürgin spricht hier im Rückgriff auf Lacan von der Funktion des heimlichen
13 Auch Julie ist gewissermaßen Gesetzgeberin von Clarens, anders als Wolmar geht sie jedoch nicht in dieser Funktion auf, vgl. Seite 133, Fußnote 11.
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Anderen als »Spiegel und Zeuge« (Bürgin 2008: 125): Die Einheit des Einen kann sich gleichsam nur im Blick des Anderen realisieren; er braucht jemanden, der seine Einheit reflektiert und bezeugt, ohne ihr jedoch einen Widerstand entgegenzusetzen. »Bevor das Ich als Einheit existiert, war der andere immer schon da, allerdings als ein anderer, der als solcher nicht in Erscheinung treten darf.« (Ebd.: 129) Was für die Einheit des Individuums gilt, lässt sich ebenso auf die Einheit der Republik übertragen. Auch die blinde Menge ist nicht imstande, sich selbst als ein Volk mit einem Willen wahrzunehmen, bevor ihr nicht jemand den Spiegel vorhält, der ihr Bild als moi commun zurückwirft. Die Figur des Gesetzgebers lässt erahnen, dass diese Aufgabe nur dem Anderen zukommen kann: Nicht zufällig ist der législateur in der Regel kein Sohn des Volkes, dem er Gesetze gibt (vgl. CS III 382). Die natürliche Erziehung hat ein Ende, sobald Emile erwachsen ist; die Aufgabe des législateur ist mit Gründung der Republik erfüllt. Der Erzieher arbeitet daher ebenso wie der Gesetzgeber daran, sich selbst überflüssig zu machen. Die einmal eingesetzte Ordnung muss von selbst funktionieren, so wie es laut Julie dem klugen Wolmar gelungen ist, der »die erste Anordnung so gut getroffen [hat], dass jetzt alles ganz von alleine läuft« (Julie II 371f.). Wir wissen aber bereits, dass es jemanden gibt, der die Aufgaben des Erziehers und des Gesetzgebers übernimmt: die Frauen. Der Erzieher setzt Sophie als seine Nachfolgerin ein; in der Republik bewahren die Hüterinnen der Sitten das Werk des Gesetzgebers. Bisher haben wir diese Funktionsübernahme durch das weibliche Personal vor allem unter dem Aspekt der Tugendsicherung betrachtet. Nun müssen wir uns die Rolle der Frauen noch einmal ansehen: Treten sie auch das Erbe des heimlichen Anderen an?14 Die notwendige Gabe dazu haben die Frauen auf jeden Fall: Die List ist ihr natürliches Talent (vgl. Emile IV 711). Wie der Erzieher und der Gesetzgeber verstehen sie sich auf die hohe Kunst, im menschlichen Herzen zu lesen (vgl. ebd.: 737). Ihren scharf analysierenden Blicken entgeht gleichfalls nichts: »Die Geistesgegenwart, der Scharfsinn, die feine Beobachtungsgabe sind die Wissenschaft der Frauen, das Geschick, sie sich zunutze zu machen, ist ihr Talent.« (Ebd.: 734) Und sie nutzen diese Begabung, um Einfluss auf den Willen und das Verhalten der Männer auszuüben: Ihre Fähigkeiten zur Manipulation der kleinsten Gefühlsregungen stellen selbst die groß angelegten Täuschungsmanöver des Erziehers in den Schatten. Genau wie dieser operieren die Frauen jedoch voll-
14 Zur Strukturanalogie von schamhafter Frau und Erzieher bzw. Gesetzgeber vgl. Matthes 2000: 123ff.; Makus 2002: 201ff.; Garbe 1992: 60; Vinken 1995: 189; Bürgin 2008: 161.
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ständig im Verborgenen – die von ihnen gesteuerten Männer ahnen nicht einmal, dass sie der weiblichen List zum Opfer gefallen sind (vgl. ebd.: 737). So lässt sich die Dialektik der Herrschaft zwischen Mann und Frau in genau derselben Weise beschreiben wie das Verhältnis von Zögling und Erzieher: Immer hält er sich für den Herrn, während in Wirklichkeit sie es ist, die ihn beherrscht – indem sie seiner Unterwerfung den Anschein der Freiheit gibt.15 Rousseau macht keinen Hehl aus der Abhängigkeit des Mannes von der Frau: »Die Männer hängen durch ihre Begierden von den Frauen ab [...]« (ebd.: 702). Aber wie schon der Erzieher versteht es Sophie, Emile diese Abhängigkeit nicht fühlen zu lassen. Dafür sorgt die weibliche Scham: Eine Frau wie Sophie kann nach Belieben das männliche Begehren erwecken und steuern, gibt aber die Absicht dahinter nie zu erkennen.16 Sie lässt den Mann im Glauben, der Stärkere zu sein, und gibt doch das Heft des Handelns niemals aus der Hand. Es ist dieses listenreiche Versteckspiel, das die schamhafte Frau für die Rolle der heimlichen Anderen prädestiniert. Wie der Erzieher arbeitet sie an der großen Illusion der männlichen Autonomie, indem sie sich selbst und ihren Einfluss hinter dem »Schleier der Scham« (Bürgin 2008: 120) zum Verschwinden bringt. Wie Sophie beherrschen auch die Frauen in der Republik die Kunst der heimlichen Einflussnahme in Perfektion. Rousseau weist ihnen eine beträchtliche Macht zu. Sie verfügen über »die größte Triebfeder der öffentlichen Autorität« (EP III 252): das Herz der Bürger. Wie der Gesetzgeber selbst widmen sie sich dem, was die »wahre Verfassung des Staates« (CS III 394) ausmacht: den Sitten. Und genau wie er arbeiten sie dabei »im Geheimen« (ebd.): indem sie die Gefühlswelt der Männer kontrollieren und lenken (vgl. Matthes 2000: 123f.; Makus 2002: 201f.). Freilich: Weder Erzieher und Gesetzgeber noch die schamhaften Frauen setzen List und Täuschung als Selbstzweck oder gar zu ihrem eigenen Nutzen ein. Sie alle verfolgen vielmehr ein hehres Ziel: die Bestätigung der Einheit – des Kindes, des Gemeinwesens, des Mannes. Die Aufgabe des heimlichen Anderen ist es, die unvermeidbare Abhängigkeit des Menschen vom Menschen im gesell-
15 »Es gibt noch eine dritte Konsequenz der Verfasstheit der Geschlechter; nämlich, dass das stärkere scheinbar der Herr ist und tatsächlich vom schwächeren abhängt [...]« (Emile IV 695). 16 Ein Beispiel ihrer Kunst gibt Sophie etwa am Morgen nach der ersten Begegnung mit Emile: Wie zufällig erscheint sie in einfacherer Aufmachung; dabei verfolgt sie laut Erzieher (der sie natürlich durchschaut) aber eine bewusste Absicht, nämlich Emiles Interesse von Äußerlichkeiten auf ihre Persönlichkeit zu lenken. Vgl. Emile IV 778f.; vgl. dazu auch Garbe 1992: 99.
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schaftlichen Zustand zu verschleiern, um die Illusion einer autonomen, bruchlosen, vollständigen Existenz zu erzeugen – kurz, um den homme naturel jenseits des Naturzustandes auferstehen zu lassen. Auch Sophie ist für Emile Spiegel und Zeugin. Sie zeigt ihm sein Bild als der Eine, ohne sich selbst als die Andere zu erkennen zu geben: »Woman [...] mirrors himself back to him, and this confrontation with sameness masquerading as difference does not alarm his inadequacies but rather confirms his identity. In other words, man looks at woman and she does not look back.« (Matthes 2000: 150) Tatsächlich gelingt es Rousseau mithilfe der schamhaften Sophie, seinen Helden vollständig vor der Konfrontation mit dem Anderen zu bewahren. Sophie, die einzige Person, die seiner Unabhängigkeit gefährlich werden könnte, ist nur eine reflektierende Oberfläche, auf der Emile niemand anderen als sich selbst erkennen kann.17 In der Republik, in der alle zu einem moi commun verschmelzen, gibt es keinen Anderen mehr – mit Ausnahme des anderen Geschlechts. Die tugendhaften Frauen sind daher Spiegel und Zeuginnen der männlichen Republik, nachdem der Gesetzgeber aus dem Republikalltag verschwunden ist. Als Einzige können sie von außen den Blick auf die männliche Gemeinschaft der citoyens werfen – und bleiben dabei zugleich schamhaft im Dunkel des Hauses verborgen. Man kann hier wieder an die Szene auf dem Platz St. Gervais denken, die Rousseau im Brief an d’Alembert beschreibt: Unter den bestätigenden Blicken der Frauen, die das festliche Treiben vom Fenster aus beobachten, entdecken sich die Männer der Republik als Gemeinschaft der Freunde, Bürger und Soldaten.18 Gleichwohl bemüht Rousseau nicht immer die Frauen als Zeuginnen der republikanischen Einheit. Im sommerlichen Volksfest erscheint die Zeugenschaft des Anderen zugunsten einer vollständigen Wechselseitigkeit des Blickes aufgehoben (vgl. Bürgin 2008: 145f.). Hier gibt es keine Zuschauerinnen, stattdessen ist jeder zugleich Darsteller und Zuschauer. Indem sich jeder im Anderen erkennt, braucht die Gemeinschaft keine Bestätigung von außen mehr, um sich als Einheit zu begreifen. Im Taumel der Transparenz scheint der Andere endlich überflüssig zu werden. Tatsächlich aber wird hier erkennbar, wie das Prinzip des heimlichen Anderen in einen allgemeinen Panoptismus umschlägt – dies soll uns im folgenden Unterkapitel beschäftigen.
17 Vgl. Bürgin 2008: 115; 132f.; Zerilli 1994: 47; Matthes 2000: 142-153. Zur Metapher des Spiegels in diesem Zusammenhang vgl. Irigaray 1980, insbesondere 170ff. 18 Interessanterweise nehmen auch Jean-Jacques und sein Vater den Standpunkt des Beobachters von außen ein; die Worte des Vaters bezeugen die Einheit der Gemeinschaft.
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Die Einheit des homme naturel erscheint mit der Vergesellschaftung des Menschen unwiderruflich verloren. Sie lässt sich unter gesellschaftlichen Bedingungen nur als Illusion wieder heraufbeschwören: Nur der Gebrauch von List kann über die grundlegende Abhängigkeit des Menschen vom Anderen hinwegtäuschen. Rousseau ist sich bewusst, wie prekär diese Lösung ist. Sie funktioniert nur, solange jemand bereit ist, die Rolle des heimlichen Anderen zu spielen (vgl. ebd.: 130). Was passiert, wenn der Andere nicht mehr im Verborgenen bleiben möchte, das bringt Rousseaus Schreckensszenario vom désordre des femmes vielsagend zum Ausdruck: Frauen, die sich nicht mehr hinter dem Schleier der Scham verstecken, bedrohen die männliche Freiheit.
3.3 R EPUBLIKANISCHE I NTIMITÄT Sobald der Mensch den Naturzustand verlässt und zum gesellschaftlichen Wesen wird, ist seine Einheit unwiederbringlich dahin. Jeder Lebensbereich des homme de l’homme ist von der gesellschaftlichen Spaltung durchsetzt. Wirklich jeder? Nein, Rousseau kennt einen Ort, der von der Logik des amour propre abgekoppelt bleibt: die Familie. Im Zweiten Diskurs konnten wir beobachten, wie im Inneren der ersten Behausungen ein vertrauensvolles und von reiner Zuneigung getragenes Zusammenleben entsteht, während draußen die Liebesleidenschaft die unheilvolle Dynamik des Gesellschaftlichen in Gang setzt. Unter dem Vorzeichen der Intimität wird möglich, was Rousseau sonst unerreichbar scheint: ein nichtentfremdetes Leben in Gemeinschaft. Freilich beruht auch diese in den gesellschaftlichen Zustand hinübergerettete Einheit auf einem kunstreichen Arrangement. Die häusliche Intimität erscheint nur auf den ersten Blick als unvermittelter Ausfluss natürlicher Gefühle, tatsächlich beruht sie auf der voraussetzungsreichen Überwindung des Begehrens. Inwiefern greift auch die Republik auf das Muster des Intimen zurück, um Einheit herzustellen? Gibt es so etwas wie republikanische Intimität? Mit dieser Fragestellung gerät zugleich die republikanische Familie zurück ins Blickfeld: Ist die Familie auch innerhalb der Republik ein privilegierter Hort des Intimen? Bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, müssen wir jedoch zunächst untersuchen, welche Funktionsweisen und Implikationen Rousseau der Intimität zuschreibt. Zu diesem Zweck eignet sich nichts besser als ein Blick auf die »sehr intime Gemeinschaft« (société très-intime, Julie II 28) von Clarens. Dabei wird sich zeigen, dass Rousseau Intimität aufs engste mit der Vorstellung einer vollständigen Transparenz verbindet.
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»Gesteht zumindest, dass der ganze Reiz der Gemeinschaft, die zwischen uns herrscht, in dieser Öffnung des Herzens liegt, die alle Gefühle, alle Gedanken gemeinsam macht, und die dazu führt, dass jeder sich so fühlt, wie er sein soll, und sich allen so zeigt, wie er ist.« (Ebd.: 689)
So beschreibt Julie in einem Brief an St. Preux den Zauber der Gemeinschaft von Clarens. Die Öffnung des Herzens ist das entscheidende Moment, das den intimen Charakter des Zusammenlebens ausmacht. Clarens vereint einen exklusiven Kreis von Freunden und Familienmitgliedern, die voreinander nichts mehr zu verbergen haben – »eine derart reizende Gemeinschaft, dass nichts auf dem Grund des Herzen geblieben ist, was man voreinander verstecken wollte« (ebd.: 557). Offene Herzen teilen alle Gefühle und Gedanken miteinander, alle Regungen der Seele werden füreinander einsehbar. Aus der bedingungslosen Offenherzigkeit erwächst die innige Vertrautheit der kleinen Gemeinschaft, der Gleichklang der Herzen. Der kleinste Vorbehalt kann diese Harmonie stören: »Nehmt für einen Moment irgendeine geheime Intrige an, irgendein Verhältnis, das man verstecken müsste, irgendeinen Grund für Vorbehalt und Geheimnis; augenblicklich vergeht das Vergnügen, sich zu sehen, man fühlt sich gezwungen voreinander, man versucht sich zu entziehen; wenn man sich versammelt, möchte man sich aus dem Weg gehen [...]« (ebd.: 689).
Das Geheimnis schiebt sich wie ein dunkler Schatten zwischen die Herzen, die Sicht trübt sich. Sobald Verstellung nötig wird, um den Schein zu wahren, wird das Beisammensein zur unangenehmen Pflichtübung; das traute Einvernehmen und die Ungezwungenheit sind dahin. Nur die vorbehaltlose Transparenz der Herzen vermag diese Trübung des Vertrauens zu verhindern.19 Die Forderung nach Transparenz verbietet jedes Hindernis und jeden Umweg. Wenn sich die Seelen im intimen Zwiegespräch direkt berühren, ist selbst die Vermittlung durch Worte schon zu viel. »Ammutiscon le lingue, e parlan l’alme. Welche Dinge lassen sich sagen, ohne den Mund zu öffnen! Welch glühende Gefühle lassen sich ohne die kalte Vermittlung der Sprache mitteilen!« (Ebd.: 560, Herv. i.O.; vgl. Kuster 2005: 191f.) Die Sprache schafft eine störende Distanz; sie verfehlt das Wesentliche, das sich nur ungesagt mitteilen lässt. St. Preux verachtet die eitle Geschwätzigkeit oberflächlicher Beziehungen, in denen es nur darum geht, sich selbst darzustellen. Wahre Freunde verstehen sich ohne
19 Am vollständigsten hat Starobinski die Gemeinschaft von Clarens unter dem Vorzeichen von Transparenz und Verschleierung analysiert, vgl. Starobinski 2003: 123-182.
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Worte: »Aber die Freundschaft, Mylord, die Freundschaft! Lebendiges und himmlisches Gefühl, welche Worte sind deiner würdig? Welche Sprache wagt es, dein Übersetzer zu sein?« (Julie II 558) Sprache kann nur unzureichend übersetzen, woran das überschäumende Gefühl zwischen intimen Vertrauten unmittelbar teilhaben lässt. Die unvermittelte Kommunikation der offenen Herzen erlaubt es jedem, sich allen so zu zeigen, wie er ist. Für Rousseau, den Entfremdungstheoretiker, versteht sich das keineswegs von selbst. In der Regel fallen Sein und Scheinen auseinander, sobald der Mensch unter den Blicken der Anderen lebt. Der vergesellschaftete Mensch zeigt sich gerade nicht so, wie er ist: »Der Mann von Welt lebt vollständig in seiner Maske. [...] Was er ist, gilt ihm nichts, was er scheint, gilt ihm alles.« (Emile IV 515) In der intimen Gemeinschaft dagegen fallen alle gesellschaftlichen Masken, jeder zeigt sein wahres Gesicht. Unter den Bedingungen der Intimität gelingt so die Quadratur des Kreises: Authentisches Selbstsein und das Leben in Gemeinschaft sind keine Widersprüche mehr. Mehr noch – das Zusammensein mit den engsten Vertrauten ist zugleich recueillement, Einkehr und Besinnung auf sich selbst (vgl. Julie II 558). »Man möchte sozusagen ineinander aufgehoben [recueillis] sein: die geringsten Ablenkungen sind betrüblich, der geringste Zwang ist unerträglich.« (Ebd.) Der Eine ist im Anderen aufgehoben, in der transparenten Seele des Freundes findet und erkennt er sich selbst. Erneut begegnet uns hier die Funktion des Anderen als Spiegel und Zeuge, der die Einheit des Ichs reflektiert und bestätigt; jedoch in abgewandelter Form: Die intime Beziehung beruht auf Wechselseitigkeit, einer findet seine Anerkennung im Blick des anderen. Aber dieses Wunder wird nur den Herzen zuteil, die frei von jedem Hindernis füreinander durchsichtig werden können. Jede Störung von innen oder außen macht das Aufgehen der Seelen ineinander unmöglich. Bereits die bloße Anwesenheit von Fremden zwingt die nach Vereinigung strebenden Seelen zum Rückzug, schiebt sich so störend zwischen sie, dass nicht einmal die Gedanken frei bleiben: »Es scheint, dass man nicht einmal frei zu denken wagt, was man nicht zu sagen wagt: Es scheint, dass die Gegenwart eines einzigen Fremden das Gefühl zurückhält und die Seelen beengt, die sich ohne ihn so gut verstehen würden.« (Ebd.) Die Transparenz der Herzen kehrt die Wirkung der Begegnung mit dem Anderen glatt um. Eigentlich lauert auf dem Grunde jeder sozialen Beziehung die Gefahr der Entfremdung. Sobald der Mensch von der Anerkennung des Anderen abhängt, nach sozialer Wertschätzung giert, ist er nicht mehr bei sich selbst. Er verliert sich im Anderen. Ganz anders in der intimen Beziehung: Statt sich im Anderen zu verlieren, findet man sich im Anderen. Die offenen Herzen berühren sich, sie verschmelzen buchstäblich zu einem moi commun. Hier ist die unheil-
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volle Dynamik des amour propre von vornherein ausgeschaltet, auch das Begehren schweigt angesichts der unmittelbaren Erfüllung. Die intime Gemeinschaft enthält daher im Grunde keine wirkliche Begegnung mit dem Anderen. Sie beruht vielmehr auf einer Ausweitung des Ichs, die jede Vermittlung überflüssig macht (vgl. Kuster 2005: 161). Die Spaltung ist restlos aufgehoben. Julie beschreibt diesen Zustand der völligen Übereinstimmung: »Dieses kleine Zimmer enthält alles, was meinem Herzen teuer ist, und vielleicht alles, was das beste auf Erden ist; ich bin von allem umgeben, was mir wichtig ist, das ganze Universum ist für mich hier; ich genieße gleichzeitig die Zuneigung, die ich für meine Freunde hege, die, die sie mir zurückgeben, die, die sie füreinander hegen; ihr wechselseitiges Wohlwollen geht entweder von mir aus oder bezieht sich auf mich; ich sehe nichts, was mein Wesen nicht ausweitet, und nichts, was es teilt; es ist in allem, was mich umgibt, kein Teil davon bleibt fern von mir; meine Einbildungskraft hat nichts mehr zu tun, ich habe nichts mehr zu begehren; empfinden und genießen sind für mich ein und dasselbe; ich lebe gleichzeitig in allem, was ich liebe, ich bin von Glück und Leben gesättigt [...]« (Julie II 689).
Die intime Gemeinschaft befindet sich hier auf dem höchsten Punkt der Perfektion. Nirgends könnte Julie so sehr bei sich sein wie im Kreise ihrer Lieben. Ihr ganzes Wesen spiegelt sich in der kleinen Gemeinschaft, die sie umgibt, und alles ist von Julies Wesen durchwirkt. Nichts fehlt mehr, nichts bleibt zu wünschen übrig. Das Glück, mit den geliebten Menschen zusammen zu sein, bringt die Einbildungskraft endgültig zum Schweigen. In Clarens scheint die verlorene Harmonie des Naturzustandes wiedergefunden – in einer bruchlosen Gemeinschaft der Herzen. Selbstverständlich hat auch diese Form der Einheit ihren Preis. Das authentische Selbstsein in der intimen Gemeinschaft gelingt nur deshalb, weil sich jeder so fühlt, wie er sein soll. Diese eigentümliche Formulierung bringt uns zurück zu der Frage, wieviel Zwang und Manipulation die Einheitsstiftung voraussetzt. In Clarens ist es nicht nur möglich, sich ungezwungen und ohne Maske zu geben – es wird auch wenig subtil eingefordert.20 St. Preux etwa lernt diesen Zwang zur Ungezwungenheit bald kennen. Julies ehemaliger Geliebter wird in Clarens aufgenommen, er soll Erzieher ihrer Kinder werden – auf Betreiben von Julies Ehemann, der über die gemeinsame Vorgeschichte der beiden bestens informiert ist.
20 Vgl. Vernes 2012: 188. Vgl. auch Morgenstern 2002: 122-125, die Clarens, einen Begriff von Sennett ausborgend, sehr treffend als Tyrannei der Intimität charakterisiert.
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Bereits bei der ersten Begegnung stellt Wolmar klar, was von St. Preux als Teil der Gemeinschaft erwartet wird: »Ihr seht ein Beispiel der Offenheit, die hier herrscht. Wenn Ihr aufrichtig tugendhaft sein möchtet, lernt es nachzuahmen: Das ist die einzige Bitte und die einzige Lektion, die ich Euch geben möchte. [...] Ein einziges moralisches Gebot kann an die Stelle aller anderen treten; nämlich dieses: Tue niemals etwas und sage niemals etwas, von dem du nicht möchtest, dass jeder es sieht und hört; und ich für meinen Teil habe immer den Römer für den achtbarsten Menschen gehalten, der wollte, dass sein Haus so gebaut werde, dass man alles sehe, was darin passierte.« (Ebd.: 424)
Wie der von Wolmar bewunderte Römer das Innere seines Hauses für alle sichtbar macht, so soll St. Preux den Blick auf den tiefsten Grund seiner Seele freigeben. Wolmar verlangt von ihm Authentizität, auch und gerade in seinem Verhalten gegenüber Julie: »Umarmt Eure Schwester und Eure Freundin; behandelt sie immer als solche; je vertrauter Ihr mit ihr sein werdet, desto weniger werde ich an Euch denken. Aber verhaltet Euch unter vier Augen so, als wäre ich da, oder in meiner Gegenwart so, als wäre ich nicht da; das ist alles, was ich von Euch verlange.« (Ebd.)
St. Preux’ Wohlverhalten allein reicht nicht aus, um ihn gefahrlos in die Gemeinschaft von Clarens einzugliedern; es geht um mehr: Sein Herz muss geläutert, die frühere Leidenschaft vollständig ausgemerzt werden. Wolmars Anspruch ist es, St. Preux von seiner verbotenen Liebe zu »heilen« (ebd.: 417). Die vorbehaltlose Öffnung des Herzens gilt ihm als die beste Therapie. St. Preux’ Herz steht unter permanenter Beobachtung, jede kleinste Regung wird registriert und analysiert. Nicht nur Wolmar, auch Julie, Claire und nicht zuletzt St. Preux selbst sind ständig auf der Jagd nach widerspenstigen Gefühlen, die in die geordneten Bahnen der Tugend gebracht werden müssen. Ziel dieser Übungen ist es, die gefährlichen Abgründe des Herzens zu überwinden, um zu einer Gemeinschaft reiner, ungetrübter Seelen zu gelangen, die tatsächlich nichts voreinander zu verbergen haben. Die völlige Transparenz bringt das innere Empfinden mit den Tugendanforderungen der Gemeinschaft zur Deckung; sie hebt den Zwiespalt zwischen den Ansprüchen der anderen und dem eigenen Herzen auf. Wo alle Gefühle offengelegt werden, fühlt jeder, wie er fühlen soll. Auch St. Preux kann sich der läuternden Wirkung der Transparenz nicht entziehen. Seine Gefühle veredeln sich bereits unter dem wissenden Blick Wolmars: »Ich begann zu verstehen, mit was für einem Menschen ich es zu tun hatte, und ich fasste den
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festen Entschluss, mein Herz stets so zu bewahren, dass es von ihm gesehen werden konnte.« (Ebd.: 425) Die Heilung scheint schließlich erfolgreich. Wenn sich anlässlich der Weinlese die intime Gemeinschaft von Clarens selbst feiert, kann St. Preux (fast) unbeschwert an der allgemeinen Freude teilhaben.21 Allein die Gegenwart und die Blicke von Wolmar, Claire und Julie garantieren für die Unschuld seines Herzens: »Wenn die Arbeit des Tages, die Dauer und die Heiterkeit der Mahlzeit dem Wein, der von diesen geliebten Händen ausgeschenkt wird, größere Kraft verleihen, lasse ich meine Gefühlsaufwallungen ohne Zwang ausströmen; sie haben nichts mehr an sich, was ich verheimlichen müsste, nichts, was die Gegenwart des weisen Wolmar zu scheuen hätte. Ich fürchte nicht, dass sein aufgeklärtes Auge auf dem Grund meines Herzens liest; und wenn dort eine zärtliche Erinnerung wieder erwachen will, dann führt ein Blick von Claire sie in die Irre, ein Blick von Julie lässt mich darüber erröten.« (Ebd.: 609)
Die intime Gemeinschaft erlaubt es, das wahre Ich zu zeigen – aber zugleich formt und bestimmt sie mit ihren Ansprüchen auch, was als wahres Ich zu gelten hat. Die Öffnung der Herzen erweist sich so als eine höchst zwiespältige Angelegenheit: Sie ermöglicht und erzwingt zugleich das authentische Selbstsein.22 Die Republik weist einige bemerkenswerte Parallelen zu Clarens auf, die nahelegen, dass wir es hier mit der in ein politisches Vokabular übersetzten Version der société très-intime zu tun haben.23 Auch die Herzen der Bürger sollen sich füreinander öffnen und im gleichen Takt schlagen. Das spontane Übereinstimmen aller Einzelwillen mit dem Gemeinwillen ist dort am besten gewährleistet, wo alle Gefühle, alle Gedanken geteilt werden. Je größer die Einmütigkeit der Bürger, desto reiner kommt in den Abstimmungen die volonté générale zum Ausdruck. »Solange mehrere vereinigte Menschen sich als einen einzigen Körper betrachten, haben sie nur einen einzigen Willen [...]« (CS III 437). Im Idealfall fühlt jeder gleichermaßen, wann Gesetze notwendig werden, und es bedarf keiner großen Worte, um Einvernehmen herzustellen:
21 In dieser Szene zeigt sich jedoch auch, dass diese Transparenz brüchig bleibt, vgl. Starobinski 2003: 139. Darauf ist noch zurückzukommen (vgl. III 1.2). 22 Clarens erweist sich so als Musterbeispiel für das foucaultsche Konzept des assujetissement, das Subjektbildung und Unterwerfung in einem bezeichnet, vgl. Foucault 1976: 81. Vgl. dazu Herb/Morgenstern/Scherl 2011: 296. 23 Zur Parallele Clarens/Republik vgl. Starobinski 2003: 129.
188 | E RSEHNTE E INHEIT , UNHEILBARE S PALTUNG – R EPUBLIK »Der Erste, der sie vorschlägt, spricht nur aus, was alle schon gefühlt haben, und es ist weder eine Frage von Intrigen noch von Eloquenz, etwas als Gesetz zu erlassen, was jeder bereits beschlossen hat zu tun, sobald er sicher sein wird, dass die anderen ebenso handeln werden wie er.« (Ebd.)
Aber auch hier ist die Harmonie fragil. Wenn Einzelne aus der Gemeinschaft ausscheren, Sonderinteressen und »geheime Absichten« (ebd.: 438) ins Spiel kommen, dann trübt sich der Blick auf die volonté générale. In den Volksversammlungen der Republik gilt wie in Clarens: Vorbehalte stören die unmittelbare Kommunikation der Herzen. Auch in der Republik verbieten sich deshalb Umwege. Rousseaus Allergie gegen Repräsentation ist hinlänglich bekannt. Jeder muss persönlich anwesend sein, um am moi commun teilzuhaben. Und auch hier ist Geschwätzigkeit verdächtig. Wo viele Worte gemacht werden, ist die bürgerliche Vertrautheit bereits verloren gegangen: »[L]ange Debatten, Streitigkeiten und Tumult kündigen den Aufstieg der Sonderinteressen und den Niedergang des Staates an.« (Ebd.: 439) Rousseaus Pathos der Unmittelbarkeit verlangt körperliche Anwesenheit bei weitgehender Sprachlosigkeit. Damit sich das Wunder der republikanischen Kommunion vollziehen kann, ist jede Form der Vermittlung unerwünscht (vgl. Schneider 2012: 74f.). Auf diese Weise gelingt den Bürgern der Republik, was in Clarens einem kleinen Kreis von Vertrauten vorbehalten ist: sich der Logik der gesellschaftlichen Entfremdung zu entziehen. Die Republik löst eine ähnlich unlösbare Aufgabe wie die intime Gemeinschaft. So wie sich in Clarens jeder allen zeigt und dabei dennoch ganz bei sich bleibt, so vereinigt sich im Gesellschaftsvertrag jeder mit allen und gehorcht dabei doch nur sich selbst (vgl. CS III 360). Das politische problème fondamental stellt zwar weniger die Möglichkeit des authentischen Selbstseins ins Zentrum und verschiebt stattdessen den Fokus hin zur Frage der Freiheit, des autonomen Willens.24 Die Grundstruktur des Problems bleibt jedoch die gleiche: Wie kann man in Gemeinschaft mit anderen leben und trotzdem unberührt bleiben von der korrumpierenden Dynamik des Gesellschaftlichen – so bruchlos und eins mit sich selbst wie der homme naturel? Auch die Lösung des Problems geht in dieselbe Richtung. Das völlige Aufgehen des Einen im Anderen, die vorbehaltlose Vereinigung der Herzen in Clarens erinnert nicht zufällig an die Struktur der aliénation totale, an die vollständige Entäußerung eines jeden an alle, aus der das gemeinsame Ich der Republik entsteht. Auch im
24 Zum Verhältnis von Autonomie und Authentizität bei Rousseau vgl. Herb 2012c.
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Contrat social träumt Rousseau von einer Gemeinschaft, die aus einer Ausweitung des Ichs erwächst und auf Vermittlung verzichten kann. Was hier noch in abstrakter rechtstheoretischer Terminologie formuliert wird, fasst der Brief an d’Alembert anschaulich in das Bild des Festes (vgl. Starobinski 2003: 146f.). Das republikanische spectacle kommt im Gegensatz zum Theater ohne vermittelndes Objekt aus: Statt die Augen starr auf ein Bühnengeschehen zu richten, haben die Feiernden sich gegenseitig im Blick. »Aber was werden schließlich die Gegenstände dieses Schauspiels sein? Was wird man dort zeigen? Nichts, wenn man so will. [...] Stellt die Zuschauer zur Schau; macht sie selbst zu Darstellern; sorgt dafür, dass jeder sich in den anderen erkennt und liebt, damit alle inniger vereint sind.« (LdA V 115; vgl. Starobinski 2003: 145f.)
Wie in der intimen Beziehung erkennt sich der Eine im Spiegel des Anderen, beruht die innige Verbundenheit aller auf der wechselseitigen Anerkennung des Einen durch den Anderen. Wieder spielt die allgemeine Sichtbarkeit eine entscheidende Rolle. In auffälligem Kontrast zur dunklen Höhle des Theaters findet das Fest unter dem strahlenden Licht der Sonne statt: »Aber lasst uns keinesfalls diese abgeschlossenen Schauspiele übernehmen, die eine kleine Zahl von Leuten trübselig in eine dunkle Höhle sperren; die sie furchtsam und reglos in Schweigen und Untätigkeit halten; die den Augen nichts anderes darbieten als Wände, Eisenspitzen, Soldaten, betrübliche Bilder der Knechtschaft und der Ungleichheit. Nein, glückliche Völker, das sind nicht eure Feste! An der frischen Luft, unter freiem Himmel sollt ihr euch versammeln und euch dem süßen Gefühl eures Glücks hingeben. [...] Dass die Sonne eure unschuldigen Schauspiele erleuchte, ihr werdet selbst eines bilden, das würdevollste, das sie erleuchten könnte.« (LdA V 114f.)
Während das düstere Theater zum Sinnbild der Entfremdung gerinnt, des passiven Ausgeliefertseins isolierter Einzelner an die gesellschaftlichen Missstände, beschwört das sonnenbeschienene Fest eine Welt der Unschuld, der reinen Freude herauf. Beide Bilder »stehen einander gegenüber wie eine Welt von Undurchsichtigkeit und eine Welt von Transparenz« (Starobinski 2003: 143). Die vorbehaltlose Öffnung der Herzen, die wechselseitige Anerkennung im Blick des Anderen, die Verschmelzung zu einem moi commun – alle diese Motive der intimen Gemeinschaft kehren in der Republik wieder. Beide Ideale sind von derselben Sehnsucht nach Transparenz und Unmittelbarkeit getragen, nach einer Rückgewinnung der verlorenen Einheit des Naturzustandes (vgl. Starobinski 2003: 129). Dabei macht sich in der Republik in gleicher Weise wie in
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Clarens die Ambivalenz bemerkbar, die der Öffnung des Herzens innewohnt. Auch der wahre citoyen, der ohne Vorbehalte in der Gemeinschaft der volonté générale aufgeht, fühlt sich so, wie er sein soll. Die Gemeinschaft von Clarens stellt die Herzen ihrer Mitglieder unter Beobachtung, um sicherzustellen, dass jeder fühlt, wie er fühlen soll. Die Republik sucht den Zugriff auf die Herzen ihrer Bürger, damit alle wollen, was sie wollen sollen, und der Gemeinwille unverfälscht zur Geltung kommt. In beiden Versionen geht es darum, die Herzen von widrigen Leidenschaften zu reinigen und damit der Tugend zum Durchbruch zu verhelfen. St. Preux lernt in Clarens, die verbotene Liebe zu Julie zu überwinden. Die Bürger der Republik lernen, sich von egoistischen Antrieben zu befreien und sich allein von der Stimme der Pflicht leiten zu lassen. Rousseau nimmt beide Male dieselbe folgenschwere Gleichsetzung vor: Er deutet die Unterwerfung der individuellen Leidenschaften unter die Tugendanforderungen der Gemeinschaft als Ausdruck des wahren Ichs. In der volonté générale offenbart sich der wahre Wille des Einzelnen; wer ihr folgt, bleibt sich selbst treu. Wer dagegen dem Sonderwillen in sich nachgibt, handelt fremdbestimmt und macht sich zum Sklaven der Begierden. Der Triumph des moralischen Ichs über das Begehren wird möglich durch die Transparenz der Herzen. Nicht nur Clarens setzt auf Offenherzigkeit und permanente Sichtbarkeit. Der ideale Republikbewohner gleicht dem von Wolmar angesprochenen Römer, der sich selbst keinen Rückzug in das Dunkel des Privaten gestattet (vgl. Herb 2001: 63). In ihren Sitten und Ritualen feiert die Republik das Ideal der Öffentlichkeit: Jeder soll für jeden sichtbar sein. Mit Blick auf die Mechanismen der intimen Gemeinschaft gewinnt dieser republikanische Öffentlichkeitsfetisch noch einmal eine neue Bedeutung – als republikanischer Panoptismus.25 Schon von klein auf müssen die Bürger der Republik an die transparente Gesellschaft gewöhnt werden, so wie Rousseau es für die jungen Polen vorschlägt: »Ihre Erziehung kann häuslich und privat [particulière] sein, aber ihre Spiele müssen immer öffentlich und allen gemeinsam sein; denn es geht hier nicht nur darum, sie zu beschäftigen [...]; sondern darum, sie zur rechten Zeit an das Gesetz zu gewöhnen, an die Gleichheit, die Brüderlichkeit, die Wettkämpfe, und daran, unter den Augen ihrer Mitbürger zu leben und die öffentliche Zustimmung zu begehren.« (Pologne III 968)
25 Foucault bezeichnet mit dem Begriff des Panoptismus eine politische Technologie, die durch eine spezifische Ökonomie der Sichtbarkeit zur Internalisierung gesellschaftlicher Normen und damit zur Bildung normkonformer Subjekte führt, vgl. Foucault 1994: 251-292.
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Unter den Augen der Mitbürger zu leben gehört unabdingbar zur republikanischen Sozialisation. Nicht umsonst finden all die Feste, Wettbewerbe, Exerzierübungen im Freien, auf den öffentlichen Plätzen statt. Die einzige Ausnahme von dieser Regel, der Winterball, kann gleichwohl als Paradebeispiel für das panoptische Prinzip dienen (vgl. Johnston 1999: 103). Rousseau imaginiert für diesen festlichen Anlass eine raffinierte Anordnung, in der niemand den kritischen Blicken der versammelten republikanischen Familie entkommt. Die jungen Männer und Frauen, die auf der Tanzfläche ihre Rollen als künftige Bürger und tugendhafte Ehefrauen einüben sollen, stehen unter genauer Beobachtung. Nicht nur ihre Mütter und Väter sind da, »um über ihre Kinder zu wachen, um Zeugen ihrer Anmut und ihrer Gewandtheit zu sein« (LdA V 118), auch die übrigen Bürgerinnen und Bürger spielen die Rolle von »Zuschauern« und »Richtern« (ebd.). Die Ältesten blicken von einer Ehrentribüne herab auf das Schauspiel, das die Kinder der Republik bieten. Zu ihnen, die ihre Aufgabe als gute Bürgerinnen und Bürger bereits erfüllt haben, soll die Jugend regelmäßig respektvoll aufblicken – »um sich zur rechten Zeit daran zu gewöhnen, dem Alter Respekt zu zollen« (ebd.). Schließlich ist auch ein Magistrat anwesend, ein Regierungsvertreter, um das allgegenwärtige Auge des Gesetzes zu verkörpern (vgl. Wingrove 2000: 202). Dieses ganze ausgeklügelte Arrangement der Blicke schafft eine Atmosphäre allgemeiner Sichtbarkeit, die sich auf das Verhalten derjenigen niederschlägt, die auf diese Art ins Scheinwerferlicht gerückt werden: »Aber man möge mir sagen, wo junge heiratsfähige Leute die Gelegenheit haben, aneinander Gefallen zu finden und einander mit mehr Anstand und Behutsamkeit zu begegnen, als bei einer Versammlung, wo die unablässig auf sie gerichteten Augen der Öffentlichkeit sie zu Zurückhaltung und Bescheidenheit zwingen, und dazu, mit größter Sorgfalt auf sich achtzugeben [à s’observer avec le plus grand soin]?« (LdA V 117)
Durch die Beobachtung der Anderen sollen jeder Einzelne und jede Einzelne dazu gebracht werden, mit größter Sorgfalt sich selbst zu beobachten. Damit wird eine Haltung der Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung habitualisiert, die zur Voraussetzung republikanischer Tugend wird. In der festlichen Inszenierung geht es um die Internalisierung republikanischer Werte (vgl. Johnston 1999: 104). Der Winterball gerät zum panoptischen Spektakel, das sowohl die Pflichten des patriotischen Bürgers als auch die Normen der Geschlechterordnung in die Herzen der Feiernden einpflanzt (vgl. Wingrove 2000: 203). Deshalb brauchen die Bewohnerinnen und Bewohner der Republik keinen Erzieher mehr: Durch ihre zwingenden Blicke erziehen sie sich in ihren öffentlichen Ritualen
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gegenseitig zu guten Bürgern und tugendhaften Frauen (vgl. Johnston 1999: 105). Die allgemeine Sichtbarkeit bewirkt so eine bemerkenswerte Veränderung im Inneren jedes Einzelnen; sie schreibt die Werte der republikanischen Ordnung tief in jedes Herz ein. So wie schließlich ein Blick von Wolmar, Claire oder Julie genügt, um St. Preux’ Gefühle zu läutern, so bringt das stets wachsame Auge der Öffentlichkeit den Bürger dazu, die Ansprüche republikanischer Tugend zu internalisieren. Auch in der Republik ist die Öffnung der Herzen zugleich eine Reinigung der Herzen (vgl. Starobinski 2003: 145). Die Strukturen der intimen Gemeinschaft finden sich also in der Republik wieder – allerdings nicht, wie erwartet, in der republikanischen Familie, sondern im Bereich des Öffentlichen. Die Bürger sind es, die ihre Herzen füreinander öffnen und zu vollkommener Einmütigkeit gelangen. Mit ihren öffentlichen Freuden, den Versammlungen und Festen, in denen jeder jeden lieben lernt, gerät die ganze Republik zur »großen Familie« (LdA V 120). Damit ergibt sich eine entscheidende Diskrepanz zu dem, was wir mit Blick auf den Zweiten Diskurs als Intimität definiert haben. In der Geburtsstunde der Gesellschaft erscheint die Familie als exklusiver Ort des Intimen, als innerer Bezirk der Vertrautheit, der sich vom gesellschaftlichen Draußen abgrenzt. Nur im Kreise der Familie entstehen Beziehungen, die frei von amour propre auf reine Zuneigung bauen, während sich außerhalb davon, im öffentlichen Raum, unweigerlich die negative Dynamik der Vergesellschaftung entfaltet. Es ist diese Dichotomie zwischen dem Intimen und dem Gesellschaftlichen, die im Familienideal der Nouvelle Héloïse wie auch des Emile zum Tragen kommt. Die Familie erscheint dort als Refugium, als einziger Ort innerhalb des gesellschaftlichen Entfremdungszusammenhangs, an dem Authentizität gelebt werden kann – eine beschränkte »kleine Welt offener Seelen« (Starobinski 2003: 127), die nur bestehen kann, indem sie sich den Ansprüchen der korrumpierten Außenwelt entzieht. Weil im Politischen bereits alles zu spät ist, lässt sich Einheit nur noch im häuslich-individuellen Rahmen wiederherstellen. Daher beklagt Rousseau in diesem Kontext den Niedergang der Privatheit in den großen Städten: »Unglücklicherweise gibt es in den großen Städten keine private Erziehung mehr. Die Gesellschaft ist dort so allgemein und so gemischt, dass keine Zufluchtsstätte für den Rückzug bleibt und man selbst noch zu Hause in der Öffentlichkeit steht.« (Emile IV 739) In der Republik verliert die Dichotomie zwischen Innen und Außen in dieser Form ihre Bedeutung. Der Anspruch, auf der Basis bedingungsloser Transparenz eine bruchlose Einheit zu schaffen, bleibt hier nicht auf eine kleine Gemeinschaft von Vertrauten beschränkt. Das politische Ideal soll auf kollektiver Ebene verwirklichen, was das individuelle Ideal nur noch im kleinen Maßstab vermag –
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die Aufhebung der Entfremdung. Daher verliert die Familie hier ihren Status als exklusiver Ort des Intimen, stattdessen erweist sich die ganze Republik als intime Gemeinschaft. Der Rückzug in den inneren Bezirk ist dann nicht mehr notwendig, um frei und authentisch leben zu können. Im Gegenteil: Der Republik schadet es, wenn die Bürger sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen und sich stattdessen hinter geschlossenen Türen um ihre privaten Angelegenheiten kümmern (vgl. CS III 428f.; Herb 2001: 62f.). Die Sorge um die Privatsphäre, die den Gesellschaftskritiker Rousseau umtreibt, liegt dem politischen Theoretiker daher denkbar fern. Innerhalb der intimen Republik gilt der Imperativ der Transparenz, hier darf es keinen Rückzugsraum geben. Wer seinen Mitbürgern sein Herz verschließt, kann an der Gemeinschaft nicht teilhaben; jeder private Vorbehalt stört die Reinheit der volonté générale.26 Der Rückzug aus der Gesellschaft in die häusliche Intimität, der im Rahmen des individuellen Ideals unabdingbar ist, findet in der Republik also nicht statt. Dennoch spielt, wie wir festgestellt haben, auch hier der vom Öffentlichen abgegrenzte Bereich häuslicher Privatheit eine wesentliche Rolle. Wir müssen jedoch unterscheiden. In der Nouvelle Héloïse und im Emile entspricht die Grenze zwischen Drinnen und Draußen dem Gegensatz von intimer Gemeinschaft und bürgerlicher Gesellschaft, von Authentizität und Entfremdung. Innerhalb der Republik folgt die Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit einer ganz anderen Logik: Sie orientiert sich an den Geschlechtergrenzen. Der Rückzug ins Haus ist hier eine Forderung der weiblichen Scham, er dient der Regulierung des Begehrens. Damit aber ist eine wesentliche Vorbedingung dafür geschaffen, dass Intimität im republikanischen Maßstab überhaupt funktionieren kann. Wir erinnern uns: Intimität kann nur entstehen, wo das Begehren begrenzt und in Schach gehalten wird. Genau wie der Haushalt von Clarens praktiziert die Republik daher die Geschlechtertrennung, um die intime Gemeinschaft zu stabilisieren und vor unkontrolliertem Begehren zu schützen. Damit hebt die intime Republik die Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten gleichzeitig auf und schreibt sie neu in das Gemeinwesen ein.27
26 Zur unterschiedlichen Bewertung von Privatsphäre im Kontext der Republik und im Kontext der Gesellschaftskritik vgl. Herb 2001: 65f.; Starobinski 2003: 72. 27 Vgl. Herb/Morgenstern/Scherl 2011: 280ff. Bürgins Kritik an feministischen Interpretationen, die Rousseau als Advokaten einer strikten Trennung von Öffentlich und Privat sehen, stimme ich daher nur zum Teil zu (vgl. Bürgin 2008: 160f.). Zwar hebt die intime Republik in der Tat die Gegensätze zwischen Gefühl und Vernunft, Natur und Kultur, Liebe und Gerechtigkeit auf, bleibt aber dennoch strukturell auf die Aufrecht-
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Mit dem Ideal der Intimität gelangt Rousseaus Projekt einer Rückgewinnung des Naturzustandes auf den Höhepunkt. Die zerbrochene Einheit des Ichs scheint wiederhergestellt – als moi commun in der Gemeinschaft der Herzen. Aber nach der Vertreibung aus dem Paradies stellt sich die Einheit nicht mehr naturwüchsig und ungezwungen ein. Sie ist eine schöne Illusion, aufrechterhalten durch Zwang und Manipulation, der täuschende Effekt eines panoptischen Spektakels. Im Gesellschaftszustand lässt sich die Einheit niemals vollständig, sondern immer nur fast verwirklichen, und sie bleibt dabei höchst zerbrechlich. Tatsächlich wird sie zerbrechen – dieses Schicksal hat der Romanautor Rousseau seiner glücklichen Gemeinschaft zugedacht: Julie, Mittelpunkt der société très-intime von Clarens, wird sterben. Und ihr Tod wird das Projekt der Einheit von Grund auf in Frage stellen.
erhaltung separater Sphären angewiesen – gerade um die Intimität zu erzeugen, die zur Versöhnung dieser Gegensätze führen kann.
Zusammenfassung
Kaum eine politische Idee hat mehr Faszination und zugleich Abwehr hervorgerufen als Rousseaus Republik. Von jeher streiten sich die Interpret_innen darüber, wie sie zu verstehen ist: Als Vorbild des demokratischen Rechtsstaats? Als nostalgische Reminiszenz an die antike polis? Oder gar als Prototyp des totalitären Einheitsstaats? Die Lesarten sind Legion. Um der Vielschichtigkeit der Republik gerecht zu werden, haben wir sie nacheinander aus drei Blickwinkeln betrachtet: als rechtstheoretisches Ideal, als Tugendgemeinschaft, als Einheitsphantasie. Der Vertrag, aus dem die Republik entspringt, schafft die Bedingungen, unter denen die Freiheit eines jeden gewahrt werden kann. Zugleich bewirkt er aber auch eine existenzielle Umwandlung – vom selbstsüchtigen homme zum tugendhaften citoyen. Und schließlich entsteht aus dem Zusammenschluss das gemeinschaftliche Ich, ein Kollektiv, in dem der Einzelne vollständig aufgehen soll. Zwischen dem ersten und dem zweiten dieser drei Muster verläuft ein deutlicher Bruch: Das Thema der Tugend liegt, wie wir gesehen haben, in mehrfacher Hinsicht quer zur kontraktualistischen Logik. Dennoch folgt es gewissermaßen konsequent aus einer in der Rechtstheorie angelegten Sollbruchstelle. Damit sich die vernunftrechtliche Norm der volonté générale prozedural durchsetzen kann, muss die Republik an der moralischen Beschaffenheit des Einzelnen ansetzen. Damit erlangt das Politische bei Rousseau eine affektive Dimension: Die Bereitschaft, das eigene Interesse dem Gemeinwohl unterzuordnen, erwächst aus der Identifikation mit der Gemeinschaft. Sobald die Gefühlswelten der Bürger zur Disposition stehen, erweist sich schließlich der Übergang vom Paradigma der Tugend zum Paradigma der Einheit als fließend. Die Gleichsetzung von kollektivem Willen und moralischem Sein bereitet den Weg für den subtilen Zwang, der die republikanischen Institutionen an so mancher Stelle durchzieht. Die verschiedenen Bedeutungsschichten, aus denen sich das Republikideal zusammensetzt, begründen auch ein jeweils anderes Verhältnis zur rousseau-
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schen Geschlechterordnung. Solange Rousseau sich im kontraktualistischen Rahmen bewegt, spielt seine Konzeption von Begehren und Geschlechtlichkeit keine Rolle. Die Geschlechterfrage wird im rechtstheoretischen Kontext auf eher traditionelle Weise thematisiert: Ehe und Familie dienen hier der Aufrechterhaltung einer legitimen Verwandtschaftsordnung; das Geschlechterverhältnis ist klar hierarchisch definiert. Sobald Rousseau jedoch den Rahmen der Vertragstheorie verlässt, schlägt auch die Stunde der Geschlechterordnung. Grundgedanke der Tugendrepublik ist die Idee, dass der wahre citoyen fähig sein muss, die eigenen Leidenschaften zu beherrschen, um moralisch frei zu sein und dem Gemeinwillen zu folgen. Die Geschlechterordnung erweist sich hier als zentrales Instrument der republikanischen Affektkontrolle. Sie dient der Einhegung und Regulation des Begehrens und ermöglicht so die Ausbildung republikanischer Tugend. Unter diesem Vorzeichen erhält die Republik eine geschlechtliche Einfärbung: In einer Republik braucht man Männer. Nur echte Männer sind auch gute Bürger; aber letztlich liegt es in der Hand der Frauen, aus Männern echte Männer und damit gute citoyens zu machen. Tugendhafte Frauen erwecken die Liebe zum Vaterland, halten die Eintracht unter den Bürgern wach und sorgen für den richtigen republikanischen Geist in den Familien. Das funktioniert aber nur unter den Bedingungen einer strikten Geschlechtertrennung: Die republikanische Grenzziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit folgt bei Rousseau unmittelbar aus den Regeln der Geschlechterordnung. Während das republikanische Öffentliche zum Schauplatz männlicher Tugend wird, stellt sich das häusliche Private als die Wirkungsstätte der schamhaften Frau dar, von der aus sie ihren Einfluss auf die Republik entfaltet. Die Mechanismen der Geschlechterordnung folgen einem bewährten Prinzip: Sie machen das Gift zum Heilmittel. Das Begehren, eigentlich Signum der gesellschaftlichen Abhängigkeit, verwandelt sich in die Liebe zur Tugend und wird so zur Grundlage der republikanischen Ordnung der Freiheit. Mit dem Wechsel zur Perspektive der Einheit treten schließlich die Strukturanalogien zwischen der Geschlechterordnung und der Republik deutlich zutage. Rousseaus Konzeption der Beziehung zwischen Mann und Frau weist frappierende Parallelen zur Wirkungsweise der republikanischen Institutionen auf, wie sie in der Figur des Gesetzgebers personifiziert werden. In beiden Fällen wird auf List und Manipulation zurückgegriffen, um die Illusion der Einheit des Mannes bzw. der Republik zu erzeugen. Unverkennbare Parallelen finden sich auch zwischen der Republik und dem rousseauschen Ideal der Familie als intimer Gemeinschaft. Beides lebt von der Sehnsucht nach vollständiger Transparenz und Unmittelbarkeit, vom Aufgehen des Einzelnen im gemeinschaftlichen Ich. Rousseaus Traum von der Aufhebung der gesellschaftlichen Entfremdung, von
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der Wiederherstellung der verlorenen Einheit, trägt in jedem Fall ambivalente Züge: Das authentische Leben in Gemeinschaft erscheint nur unter Rückgriff auf Täuschung und subtilen Zwang möglich. Wir sind von der Überlegung ausgegangen, dass Rousseau mit dem Erziehungsprogramm des Emile einerseits und dem politischen Programm der Republik andererseits zwei Ideale entwirft, die er als alternative Lösungen ein und desselben Problems versteht: Wie lässt sich die Einheit des Naturzustandes nach dem Sündenfall der Vergesellschaftung wiedergewinnen? Während wir nach dem Zusammenhang zwischen dem Republikideal und der Geschlechterordnung gesucht haben, hat sich diese These als sehr produktiv erwiesen – gerade die zahlreichen Parallelen zwischen dem politischen und dem individuellen Ideal konnten immer wieder Licht auf die Rolle der Geschlechterordnung werfen. Gleichzeitig hat sich mehr und mehr gezeigt, dass auch das häusliche Ideal von Clarens als Lösungsvariante für das rousseausche Grundproblem gelesen werden kann, eine Variante, die sich zwischen individuellem und politischem Ideal einordnen lässt.1 Damit greift Rousseau in der Tat, wie Kuster feststellt, die klassische Trias aus Individuum, Haus und Staat auf (vgl. Kuster 2005: 14). Allerdings handelt es sich gerade nicht um drei ineinandergreifende Teile eines gesellschaftlichen Ideals. Eher wirken Emiles Erziehung, der Haushalt von Clarens und die Republik wie drei Variationen über ein Motiv: die Suche nach der verlorenen Einheit im Gewande des pädagogischen Ratgebers, des Liebesromans und der politischen Theorie. Rousseaus Denken kreist in diesen unterschiedlichen Kontexten jeweils um dasselbe Problem (vgl. Starobinski 2003: 25f.): die hoffnungslose Verstrickung des Menschen in die verderbliche Logik des Gesellschaftlichen, die zu Abhängigkeit und Inauthentizität führt. Nicht zufällig ergeben sich daher zwischen den jeweiligen Lösungsvorschlägen so viele strukturelle Parallelen. In allen drei Varianten ist es ein Vertrag bzw. ein vertragsähnliches Versprechen, das den Fortgang des gesellschaftlichen Verfalls unterbricht und als Wendepunkt hin zur Tugend dient. Als Bedingung der Tugend kristallisiert sich für Individuum, Haus und Staat gleichermaßen die Geschlechterordnung heraus. Das Begehren, Produkt der gesellschaftlichen Spaltung par excellence, muss eingehegt, geläutert und überwunden werden – andernfalls droht die gesellschaftliche Perversion im désordre des sexes.
1
Während politisches und individuelles Ideal klar unvereinbar sind, lässt sich das häusliche Ideal durchaus mit dem individuellen verbinden; so spricht etwa Derathé von der Nouvelle Héloïse als Epilog des Fünften Buches des Emile (vgl. Derathé 1962: 215).
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Tabelle 3: Geschichtsphilosophische Einordnung von Republik und Geschlechterordnung Naturzustand
Vergesellschaftung
Vertrag
Republik (politisches Ideal) Clarens (idealer oikos) Emile (individuelles Ideal) bürgerliche Gesellschaft bourgeois
keine Geschlechtlichkeit
Begehren Weiblichkeit
Vertrag
Geschlechterordnung
Geschlechterunordnung Quelle: eigene Darstellung
Alle drei Ideale zeugen jedoch auch davon, wie voraussetzungsreich und prekär der Versuch ist, Einheit im Gesellschaftszustand zu erreichen. Das Scheitern der Ideale scheint letztlich unausweichlich: Die menschliche Geschichte strebt dem Abgrund entgegen.
III. Einheit und Spaltung
Ohne Schmerz zu leben ist kein Zustand für den Menschen; so zu leben heißt tot zu sein. Derjenige, der alles könnte, ohne Gott zu sein, wäre ein bedauernswertes Geschöpf; das Vergnügen zu begehren wäre ihm vorenthalten; jeder andere Verlust wäre erträglicher. ROUSSEAU, JULIE II 693f.
Das Scheitern der Ideale
Warum stirbt Julie? Scheinbar auf dem Gipfel der Vollkommenheit endet das häusliche Glück von Clarens jäh mit Julies tragischem Tod. Julie, die tugendhafte Familienmutter und treue Freundin, hat stets für die Eintracht und Harmonie der kleinen Gemeinschaft gesorgt. Sie ist Herz und Seele der société très-intime. Noch auf dem Sterbebett verkörpert sie diese Rolle in Perfektion. Sie trifft alle Vorkehrungen, um die Gemeinschaft über ihren Tod hinaus zu bewahren, all ihre Lieben in Clarens zu versammeln und dauerhaft zu einem glücklichen Zusammenleben zu vereinigen. Julies Vermächtnis soll im Fortdauern der société très-intime bestehen. In ihrem Geiste, unter ihren Augen soll die vertraute Gemeinschaft fortleben: »Kommt also, liebe und geehrte Freunde, kommt und vereint euch mit allem, was von ihr bleibt. Versammeln wir alles, was ihr lieb war. Ihr Geist möge uns beseelen; ihr Herz möge all die unseren verbinden; lasst uns immer unter ihren Augen leben.« (Julie II 744; vgl. ebd.: 726) Dieses Vermächtnis ist es, das Julie vor ihrem Tod in die Herzen ihrer Lieben einschreibt.1 So präsentiert sie sich auf dem Sterbebett ganz in ihrer Rolle als législatrice; und es ist sicher nicht aus der Luft gegriffen, in ihrem Tod eine Parallele zu entdecken zu dem Verschwinden von Gesetzgeber und Erzieher in der Republik und im Emile (vgl. Fermon 1997: 52, 106; Matthes 2000: 125ff.). Doch ganz passt der Vergleich nicht: Während Gesetzgeber und Erzieher sich (zunächst) erfolgreich selbst überflüssig machen, gehen Julies Pläne für die Zukunft der Gemeinschaft nicht auf. Ihr Versuch, die Bande zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern von Clarens über ihren Tod hinaus immer enger zu knüpfen, scheitert an einem zentralen Punkt: Claire und St. Preux finden nicht als Paar zueinander, wie Julie es gewünscht und ge-
1
Wolmar erzählt in seinem Brief über Julies letzte Stunden: »Dann hielt sie mir eine lange Rede, von der ich Euch eines Tages erzählen werde und während derer sie ihr Vermächtnis in mein Herz schrieb.« (Julie II 708)
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plant hat (vgl. Julie II 742).2 Statt mit einer Erneuerung der häuslichen Idylle endet der Roman mit Claires Verzweiflung und Todessehnsucht am Grab der Freundin (vgl. ebd.: 745; Garbe 1992: 181). Nicht nur die Zukunft der intimen Gemeinschaft erscheint nach Julies Tod ungewiss. Ihr Abschiedsbrief an St. Preux wirft rückblickend auch ein völlig anderes Licht auf das in Clarens gelebte Ideal. Die zuvor vermittelte Deutung von Leben und Tod der tugendhaften Mme de Wolmar wird durch diesen Brief nachhaltig erschüttert, ja geradezu außer Kraft gesetzt (vgl. Garbe 1992: 179; Pabst 2007: 178-181): Julie hat nie aufgehört, St. Preux zu lieben. In ihren letzten Zeilen an den Geliebten erklärt sie ihre Heilung zur Illusion, ihr Ringen um die Tugend zum permanenten Tanz am Abgrund der Leidenschaft: »Ich habe mich lange Zeit einer Illusion hingegeben. Diese Illusion war heilsam für mich; sie löst sich in dem Augenblick auf, in dem ich sie nicht mehr brauche. Ihr habt geglaubt, ich sei geheilt, ich habe dasselbe geglaubt. Danken wir demjenigen, der diesen Irrtum hat andauern lassen, solange er nützlich war; wer weiß, wenn ich mich dem Abgrund so nahe gesehen hätte, ob mir nicht geschwindelt hätte?« (Julie II 740f.)
Das scheinbar ungetrübte Glück des Zusammenseins, die zwanglose Offenherzigkeit, die intime Vertrautheit der Bewohnerinnen und Bewohner von Clarens – Julies Geständnis legt offen, mit welcher Mühe sie sich all dies abgerungen hat, welchen Zwang sie sich antun musste, um die Eintracht der intimen Gemeinschaft aufrechtzuerhalten,3 und wie präsent zu jedem Zeitpunkt die Gefahr des
2
Die Parallele zum Verschwinden des Gesetzgebers und des Erziehers scheitert wohl auch daran, dass Julie eben nicht nur Gesetzgeberin, sondern gleichzeitig Erbin des Gesetzgebers ist und als solche innerhalb der Gemeinschaft benötigt wird, vgl. Seite 133, Fußnote 11. Julies Versuch, Claire zur Ehe mit St. Preux zu überreden, erscheint in diesem Kontext wie ein Versuch, die Cousine in dieser Rolle als Nachfolgerin zu installieren. Claire jedoch, die eine subversive, tendenziell homosexuelle Weiblichkeit verkörpert, eignet sich für die Rolle der schamhaften Frau gerade nicht; das Scheitern ist hier also vorprogrammiert. Vgl. hierzu Matthes 2000: 129-132. Zur Figur der Claire und ihrem Verhältnis zu Julie vgl. grundlegend Disch 1994.
3
Diese Erkenntnis kommt nicht ganz unvorbereitet. Vielmehr wird die vorherrschende Deutung der glücklichen Gemeinschaft bereits vorher durch verschiedene erzählerische Signale in Frage gestellt, vgl. Pabst 2007: 157-177. Bemerkenswert ist hier vor allem die Szene im Elisée, in der Julie St. Preux ihre Situation in metaphorischer Weise vor Augen führt, von ihm aber nicht verstanden wird; vgl. Garbe 1992: 170-174; Pabst 2007: 173-177.
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Scheiterns war. Dass Julie dem Tod mit fast heiterer Gelassenheit entgegenblickt, gewinnt vor diesem Hintergrund einen bittersüßen Beigeschmack. »Habe ich nicht lange genug für das Glück und für die Tugend gelebt? Welchen Nutzen kann ich noch aus dem Leben ziehen. Wenn der Himmel es mir nimmt, nimmt er mir nichts, was zu bedauern wäre, und bringt meine Ehre in Sicherheit. Nach so vielen Opfern erachte ich jenes, das mir zu bringen bleibt, gering: Es heißt nur, noch einmal mehr zu sterben.« (Ebd.: 741)
Haben die rührenden Szenen an ihrem Sterbebett zuvor noch den Eindruck vermittelt, dass Julie zufrieden aus einem erfüllten Leben scheidet, so erscheint ihr Tod nun vielmehr als Befreiung – als letzter Ausweg aus einem Leben, das nicht lebbar ist (vgl. Vernes 2012: 190). Ihre Abschiedsworte an St. Preux zeugen von dem unüberwindbaren Zwiespalt, der sich offenbar nur im Tod aufheben lässt: »Nein, ich verlasse dich nicht, ich werde dich erwarten. Die Tugend, die uns auf Erden getrennt hat, wird uns in der Ewigkeit vereinen. Ich sterbe in dieser süßen Erwartung. Allzu glücklich, mit meinem Leben das Recht zu erkaufen, dich immer ohne Verbrechen zu lieben, und es dir einmal noch zu sagen.« (Julie II 743)
War das Glück der société très-intime tatsächlich so fragil, so unmittelbar bedroht durch die Leidenschaft, die überwunden zu sein schien? Beweist Julies Tod letztlich, dass die Idylle von Clarens von vornherein zum Scheitern verurteilt war? Tatsächlich sind alle Ideale, die Rousseau ausmalt, scheiternde Ideale. Der zur Freiheit erzogene Mensch, die häusliche Intimität, die Republik – nichts davon erweist sich letztlich als probates Mittel gegen die Misere der menschlichen Geschichte. Wenn überhaupt, lässt sich der ursprüngliche Verlust der natürlichen Einheit nur vorübergehend, nur annäherungsweise und nur unter höchst prekären Bedingungen wiedergutmachen. Vollendete Kunst ist notwendig, um zur Illusion der Natur zurückzugelangen, und die erforderlichen Kunstgriffe sind äußerst störungsanfällig. Nicht nur in der Nouvelle Héloïse, auch in der Fortsetzung des Emile führt uns Rousseau das Misslingen dieser kunstvollen Arrangements vor. Auf politischer Ebene stehen die Erfolgsaussichten nicht besser, im Gegenteil: Der Tod der Republik ist nur eine Frage der Zeit. Wenn es die Republik denn überhaupt geben kann. Die Fragilität der Ideale ist das eine, das andere ist ihr grundsätzlich utopischer Charakter. Rousseaus Träumereien sind nicht umsetzbar, zumindest nicht im Hier und Jetzt. Die Republik gerät unter den Bedingungen der Moderne zum Anachronismus (vgl. Herb 1999: 193), weit entrückt in
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die ruhmreiche Vergangenheit einer idealisierten Antike oder in die ›guten alten Zeiten‹ von Genf. Auch das häuslich-individuelle Ideal lässt sich nur noch in der Fiktion einholen, nachdem das Familienleben den Pathologien der Moderne zum Opfer gefallen ist. Allein in der Abgeschiedenheit einer unbestimmten ländlichen Idylle, weit weg vom Epizentrum des gesellschaftlichen Verfalls, kann die Vision des lange schon verlorenen Goldenen Zeitalters noch aufscheinen. Rousseaus Ideale sind Utopien im eigentlichen Wortsinn – möglich nur noch an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit (vgl. Derrida 1967: 282). Immer wieder kommt Rousseau auf das Motiv einer dysfunktionalen Begehrens- und Geschlechterordnung zurück, wenn er das Scheitern und die Unmöglichkeit seiner Ideale thematisiert. Das tragische Ende von Clarens verweist darauf, dass die Leidenschaft sich nie ganz zum Schweigen bringen lässt. Emiles Lebensplan zerbricht an der – von ihm selbst mitverschuldeten – Untreue Sophies. Davon abgesehen entpuppt sich das Ideal der häuslichen Erziehung als ohnehin obsolet, da es Frauen wie Sophie gar nicht mehr gibt: Die moderne bourgeoise fügt sich von vornherein nicht in die Rolle der tugendhaften Ehefrau und Familienmutter. Die republikanische Entsprechung dieser Problematik finden wir im Brief an d’Alembert. Hier spiegeln sich die modernen Pathologien, die eine Wiederbelebung des Republikideals unmöglich machen, in der Auflösung der Geschlechterordnung. Schamlose Frauen und verweiblichte Männer stehen für den Ruin der republikanischen Öffentlichkeit und den Verlust an Bürgertugend, der das Schicksal der Republik besiegelt: Sie geht an der Unordnung der Geschlechter zugrunde. »Niemals ist ein Volk am übermäßigen Weingenuss zugrunde gegangen, alle gehen an der Liederlichkeit [désordre] der Frauen zugrunde.« (LdA V 100) In gewissem Sinne scheitern Rousseaus Ideale also alle an den Frauen – genauer gesagt, an der misslingenden Regulation des Begehrens. Damit sind wir beim Grundproblem menschlicher Geschichte angelangt. Das geschlechtliche Begehren steht bei Rousseau paradigmatisch für die Verwerfung, die sich mit dem Ausgang des Menschen aus dem Naturzustand ereignet hat. Es verweist auf die condition humaine des vergesellschafteten Menschen, auf seine grundsätzliche Angewiesenheit auf den Anderen, sein Nicht-eins-Sein mit sich selbst. Sobald die Einheit des homme naturel zerbrochen ist, lebt der Mensch unausweichlich unter den Bedingungen der Spaltung. Selbst in den Versuchen, im Rahmen der rousseauschen Ideale Einheit wiederherzustellen, bleibt die Spaltung als Bedrohung immer präsent. Sie lässt sich nie endgültig überwinden; jeder Versuch, sie zu tilgen, muss notwendig scheitern oder rückt in den Bereich der Utopie. Die Sehnsucht nach Einheit erweist sich als vergeblich – die Spaltung bleibt letztlich unheilbar.
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Diese Spannung zwischen ersehnter Einheit und unheilbarer Spaltung, die Rousseaus Denken in seiner Gesamtheit durchzieht und im Kontext der Geschlechterordnung so prominent aufscheint, wollen wir uns im letzten Teil dieser Arbeit noch einmal genauer ansehen. Was ist das für eine Geschichte, die Rousseau uns zu erzählen versucht? Eine altbekannte Geschichte, zunächst: Es geht um das Paradies, den Sündenfall und den vergeblichen Versuch, das verlorene Paradies wiederzugewinnen (vgl. Starobinski 2003: 429). Der ursprüngliche Naturzustand steht für die reine und vollkommene Einheit, er liegt ganz diesseits der Spaltung. Erst mit dem Sündenfall der Vergesellschaftung bricht das Unheil über den Menschen herein: Er fällt aus der Ordnung der Natur heraus, wird zum gespaltenen Wesen (III 1.1). Fortan gilt es, in die Ordnung zurückzukehren, der ursprünglichen Einheit zumindest so nahe wie möglich zu kommen. Dass dieses Ziel notwendig verfehlt wird, darin liegt die ganze Tragik der menschlichen Existenz (III 1.2). Einheit als Ursprung, Spaltung als Katastrophe, Einheit als vergeblich angestrebtes Ziel: Diesem Erzählstrang wenden wir uns zunächst zu. Aber Rousseau erzählt auch eine andere Geschichte, vielleicht ohne es zu wollen.4 Sie handelt davon, dass es kein Diesseits der Spaltung gibt, dass die Einheit selbst im Naturzustand Illusion ist. Das Paradies ist immer schon verloren. Rousseau ahnt, dass die Spaltung der Einheit auf eine eigentümliche Art von Beginn an innewohnt (III 2.1). Von dieser Ahnung aus fällt auch auf das Scheitern der rousseauschen Ideale ein anderes Licht. Es ist gar kein von außen kommendes Verhängnis, das die Einheit destabilisiert; vielmehr gehören Gelingen und Misslingen immer schon untrennbar zusammen. Die Bewertung des Verhältnisses von Einheit und Spaltung kehrt sich dann in gewissem Sinne um: Das Ideal der Einheit wird selbst fragwürdig, die Spaltung als unhintergehbare condition humaine rehabilitiert (III 2.2).5
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Vgl. Derrida 1967: 325f. Derrida unterscheidet zwischen dem, was Rousseau sagen möchte, und dem, was er beschreibt. De Man geht dagegen in seiner Kritik an Derrida davon aus, dass Rousseau das, was er beschreibt, auch sagen möchte, vgl. de Man 1993. Die Berufung auf Rousseaus ›Autorintention‹ ist in beiden Fällen metaphorisch zu verstehen, vgl. Seite 18, Fußnote 9.
5
In Derridas Worten, der statt von der Spaltung hier vom Schriftwerden spricht: »Rousseau, der sagen möchte, dass dieses Schriftwerden über den Ursprung kommt [survient à l’origine], über ihn hereinbricht, nach ihm hereinbricht, beschreibt nun aber tatsächlich, auf welche Weise dieses Schriftwerden sich am Ursprung ereignet [survient à l’origine], sich vom Ursprung an ereignet. [...] Er möchte sagen, dass der Fortschritt, so ambivalent er auch ist, entweder zum Schlimmeren oder zum Besseren
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Auch von Julies Tod lässt sich auf zwei verschiedene Arten erzählen. Wir können ihren Tod als tragisches Scheitern eines Ideals verstehen, das zu schön ist, um wahr zu sein. Die Gemeinschaft von Clarens erscheint als fast vollkommene Verwirklichung des Traumes von der Einheit. Aber das höchste Glück muss um Haaresbreite verfehlt werden. Denn der Stachel des Begehrens sitzt zu tief, als dass sich die verwundeten Seelen je völlig davon erholen könnten. Wir können Julies Tod aber auch als bittere Konsequenz des Versuchs verstehen, ein lebensfeindliches Ideal durchzusetzen. Dann erscheint uns Clarens als Verwirklichung eines Traumes, der zum Alptraum wird. Das Glück dort mutet zu vollkommen an, um menschliches Leben wirklich zuzulassen. Der Tod ist nur mehr ein willkommener Ausweg aus dieser beunruhigenden Vision der totalen Einheit: Es heißt nur, noch einmal mehr zu sterben. Warum also stirbt Julie? Was bedeutet ihr Tod? Damit ist die eigentliche, die entscheidende Frage gestellt: Warum lässt sich die Einheit nie verwirklichen?
führt, sei es zum Guten, sei es zum Schlechten. [...] Aber Rousseau beschreibt, was er nicht sagen möchte: dass der ›Fortschritt‹ sowohl zum Schlimmeren als auch zum Besseren führt. Gleichzeitig. Was die Eschatologie und die Teleologie außer Kraft setzt, ebenso wie die Differenz – oder die ursprüngliche Artikulation – die Archäologie außer Kraft setzt.« (Derrida 1967: 325f., Herv. i.O.) Was Rousseau beschreibt, ohne es sagen zu wollen, hebt sowohl die Vorstellung eines ›reinen‹ Ursprungs (die Archäologie) als auch die Vorstellung eines ›reinen‹ Ideals der Einheit (die Eschatologie bzw. Teleologie) auf. Zur Archäologie und Eschatologie des Denkens der Präsenz vgl. Derrida 1972: 423.
1. Ersehnte Einheit
1.1 D IE DER
URSPRÜNGLICHE S PALTUNG
E INHEIT
UND DER
E INBRUCH
Für den savoyischen Vikar, den Rousseau im Vierten Buch des Emile auftreten lässt, ist Gott noch nicht tot, die Erde noch nicht von der Sonne losgekettet. Sein Glaubensbekenntnis bringt eine ermutigende Gewissheit zum Ausdruck: Die Welt ist geordnet, und es gibt einen Gott – ein Zentrum, das die Ordnung in der Welt bewirkt und garantiert. »[D]as Ganze ist eins und kündet von einer einzigen Vernunft; denn ich sehe nichts, was nicht in ein und demselben System geordnet wäre und zu ein und demselben Ziel beitragen würde, nämlich die Erhaltung des Ganzen in der gültigen Ordnung. Dieses Wesen, das will und das kann, dieses selbsttätige Wesen, dieses Wesen schließlich, das, was auch immer es sei, das Universum bewegt und alle Dinge ordnet, nenne ich Gott.« (Emile IV 581)
Auch der Mensch findet seinen Platz in der göttlichen Ordnung. Er darf sich glücklich schätzen, denn für ihn ist gar die höchste Stufe bestimmt: Als »König der Erde« (ebd.: 582) steht er über allen anderen Arten. Aber diese stolze Sicherheit schwindet dahin, sobald sich der Blick auf das Bild richtet, dass die Menschen in ihren tatsächlichen Beziehungen zueinander bieten: »Was für ein Schauspiel! Wo ist die Ordnung, die ich beobachtet hatte? Das Bild der Natur bot mir nur Harmonie und Proportionen dar, das der menschlichen Gattung zeigt mir nur Verwirrung und Unordnung! Übereinstimmung herrscht zwischen den Elementen, und die Menschen versinken im Chaos! Die Tiere sind glücklich, allein ihr König ist bedauernswert! Oh Weisheit, wo sind deine Gesetze? Oh Vorsehung, regierst du etwa so die Welt? Wohltätiges Wesen, was ist aus deiner Macht geworden? Ich sehe das Übel auf Erden.« (Ebd.: 583)
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Verwirrung, Unordnung, Chaos – der universalen Ordnung der Welt steht die Unordnung in der Welt der Menschen gegenüber. Nicht der Mensch an sich bringt die natürliche Harmonie aus dem Gleichgewicht. Es ist vielmehr der Mensch in seinen Beziehungen zum Menschen, in seiner geschichtlichen und gesellschaftlichen Realität, dem das Unglück und das Böse in der Welt anzulasten sind (vgl. Starobinski 2003: 36). Der Mensch ist schuldig, insoweit er sich von seinem ursprünglichen Wesen entfernt hat, insoweit er seine natürlichen Gaben missbraucht: »Es ist der Missbrauch unserer Fähigkeiten, der uns unglücklich und böse macht. Unsere Leiden, unsere Sorgen, unsere Schmerzen kommen von uns selbst. Das moralische Übel ist unbestreitbar unser Werk, und das physische Übel wäre nichts ohne unsere Laster, die uns dafür empfänglich gemacht haben.« (Emile IV 587)
Als Geschöpf Gottes ist der Mensch gut, als Werk des Menschen ist er zum Problemfall geworden. Er selbst hat sich außerhalb der Ordnung platziert, ist aus der natürlichen Ordnung der Schöpfung herausgetreten. Im berühmten ersten Satz des Emile bringt Rousseau das Problem auf den Punkt: »Alles, was die Hände des Urhebers der Dinge verlässt, ist gut: Alles entartet unter den Händen des Menschen.« (Ebd.: 245) Doch was im Menschen ist das Werk Gottes, und was ist das Werk des Menschen? Was gehört zum menschlichen Wesen und steht im Einklang mit der natürlichen Ordnung, und was ist der Degeneration durch die menschliche Geschichte geschuldet? Auf diese Frage will Rousseau im Diskurs über die Ungleichheit eine Antwort geben. Im Vorwort betont er die Schwierigkeit seines Vorhabens, indem er auf einen Vergleich aus Platons Politeia zurückgreift: »Gleich der Statue des Glaukos, die die Zeit, das Meer und die Stürme so verunstaltet hatten, dass sie weniger einem Gott als einem wilden Tier glich, hat die menschliche Seele, die innerhalb der Gesellschaft [...] entstellt wurde, sozusagen ihr Aussehen so weit verändert, dass sie fast nicht wiederzuerkennen ist; und anstelle eines stets nach sicheren und unveränderlichen Prinzipien handelnden Wesens, anstelle dieser himmlischen und majestätischen Einfachheit, die ihm sein Urheber eingeprägt hatte, findet man dort nur mehr den missgebildeten Kontrast der Leidenschaft, die vernünftig zu urteilen glaubt, und des Verstandes im Delirium wieder.« (DI III 122)
Die Statue des Meergottes Glaukos (vgl. Platon, Pol. 611c-612a; Starobinski 2003: 28-35) ist von Zeit und Witterung so verunstaltet, dass die vorbeifahrenden Seeleute kaum mehr in der Lage sind, ihre ursprüngliche Gestalt auszuma-
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chen. Die Züge des Gottes sind »zerstoßen und auf alle Weise von den Wellen beschädigt« (Platon, Pol. 611d), überzogen von einer Schicht aus »Muscheln[,] Tang und Gestein« (ebd.). Wer die Natur des Menschen zu bestimmen sucht, steht vor derselben Schwierigkeit wie die Betrachter der Statue: Der Mensch hat sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Gesellschaft hat seine ursprüngliche Gestalt entstellt und überformt, und es bedarf einiger Anstrengung zu unterscheiden, zu »entwirren« (DI III 122, 123), was der menschlichen Natur entspricht und was nur Verunstaltung durch die Unbilden der menschlichen Geschichte ist. Der Diskurs unternimmt genau diese Anstrengung. Er trägt die Schichten aus Muscheln, Tang und Gestein ab, entwirft das Bild des homme naturel – des Menschen in seinem ursprünglichen Zustand – und stellt es dem depravierten gesellschaftlichen Menschen gegenüber. Auch wenn der Diskurs auf den ersten Blick eine historische Erzählung von den Anfängen der Menschheitsgeschichte anbietet, so darf man sich über das Vorhaben Rousseaus doch nicht täuschen lassen. Im Grunde geht es ihm nicht um eine historische Rekonstruktion, sondern um die prinzipielle Klärung der Frage, was die Natur des Menschen ausmacht und wo die Entartung beginnt.1 Der Naturzustand soll nicht als geschichtlicher Ursprung verstanden werden, sondern als Ausdruck der Natur der Dinge: »Fangen wir also damit an, alle Tatsachen beiseite zu lassen, denn sie berühren die Frage gar nicht. Man darf die Untersuchungen, in die man über diesen Gegenstand einsteigen kann, nicht als historische Wahrheiten verstehen, sondern lediglich als hypothetische und bedingte Gedankengänge; eher geeignet, die Natur der Dinge zu erhellen, als deren wahrhaftigen Ursprung zu zeigen, und vergleichbar mit jenen, die unsere Naturwissenschaftler tagtäglich über die Entstehung der Welt anstellen.« (Ebd.: 132f.)
Weniger überraschend erscheint dann auch Rousseaus Zugeständnis, dass es diesen Naturzustand, der im ersten Teil des Diskurses so detailreich und anschaulich beschrieben wird, möglicherweise gar nicht gegeben hat. Auch wenn es sich um eine Fiktion handelt, so ist diese Fiktion doch hilfreich und nötig, um den Zustand des gegenwärtigen Menschen zwischen ursprünglicher Natur und künstlicher Überformung richtig zu beurteilen. »Denn es ist kein leichtes Unterfangen zu entwirren, was in der gegenwärtigen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich ist, und einen Zustand richtig zu erkennen, der nicht mehr existiert, der vielleicht überhaupt nie existiert hat, der wahrscheinlich niemals
1
Vgl. hierzu ausführlich Baczko 1970: 87-103.
210 | E RSEHNTE E INHEIT , UNHEILBARE S PALTUNG – EINHEIT UND SPALTUNG existieren wird, und von dem zutreffende Begriffe zu haben dennoch notwendig ist, um unseren gegenwärtigen Zustand richtig zu beurteilen.« (Ebd.: 123)
Dasselbe Unternehmen der Entwirrung von Ursprünglichem und Künstlichem liegt der Konzeption des Emile zugrunde. Statt einen fiktiven menschheitsgeschichtlichen Urzustand auszumalen, versucht Rousseau hier anhand einer fiktiven Erziehungsgeschichte, die natürlichen Anlagen des Menschen gegen seine gesellschaftlich erworbenen Vorurteile und Leidenschaften abzugrenzen. In beiden Fällen ist Rousseau auf der Suche nach dem reinen Ursprung – der göttlichen Gestalt, die sich unter den Ablagerungen des Meeres und der verwitterten Oberfläche verbirgt. Zumindest in der Fiktion lässt sich dieser ursprüngliche Kern herauspräparieren und zum Maßstab der Wirklichkeit erheben. Dieser reine Ursprung, den Rousseau in der Figur des homme naturel Gestalt annehmen lässt und in Emile zu bewahren sucht, ist ein Zustand der Einheit. Dieses Muster ist in den bisherigen Betrachtungen immer wieder deutlich geworden. Der homme naturel lebt im Einklang mit der natürlichen Ordnung, weil er nicht aus sich selbst heraus tritt. Sein beschränkter Horizont gestattet ihm nur den Blick auf sich selbst und die eigenen unmittelbaren Bedürfnisse. Es fehlt ihm an Reflexionsfähigkeit und Einbildungskraft, um über den gegenwärtigen Augenblick hinausgehende Wünsche, Pläne oder Vorstellungen zu entwickeln: »Seine Einbildungskraft malt ihm nichts aus; sein Herz verlangt nichts von ihm. [...] Seine Seele, die durch nichts in Unruhe versetzt wird, gibt sich dem bloßen Gefühl ihrer gegenwärtigen Existenz hin, ohne jede Vorstellung von der Zukunft, wie nah sie auch sein mag, und seine Pläne, die so beschränkt sind wie seine Absichten, erstrecken sich kaum bis ans Ende des Tages.« (Ebd.: 144)
In dieser Beschränktheit folgt der homme naturel nur den Bedürfnissen, die ihm sein natürlicher Selbsterhaltungtrieb eingibt; Rousseau spricht vom amour de soi, den der Mensch mit allen anderen Tieren teilt. Die Selbstliebe ist das grundlegendste und ursprünglichste Gefühl (vgl. Emile IV 491), als solches bewegt sie sich immer innerhalb der natürlichen Ordnung. Denn die Natur selbst ist es, die jedem Lebewesen den Auftrag erteilt, über die eigene Erhaltung zu wachen (vgl. ebd.). Die vom amour de soi eingegebenen Bedürfnisse sind einfach und restlos zu befriedigen, sie weisen nicht über sich selbst hinaus. Die Natur hat den Menschen mit allen nötigen Fähigkeiten ausgestattet, die ihm eine Erfüllung seiner grundlegenden Bedürfnisse aus eigener Kraft erlauben. Sie sorgt dafür, dass sich seine Wünsche und Fähigkeiten stets die Waage halten (vgl. Starobinski 2003:
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433; Meier 2008a: LXIVf.): »So hat ihn die Natur, die alles zum besten bestellt, zunächst eingerichtet. Sie gibt ihm unmittelbar nur die Begierden ein, die für seine Erhaltung notwendig sind, und ausreichende Fähigkeiten, um sie zu befriedigen.« (Emile IV 304) Der homme naturel befindet sich im inneren Gleichgewicht, er ist »wohlgeordnet« (ebd.) – nichts treibt ihn dazu an, die Grenzen seiner Existenz zu überschreiten. Er ist zufrieden mit dem, was er sich selbst verschaffen kann. »Nur in diesem ursprünglichen Zustand halten sich Vermögen und Begehren die Waage, und der Mensch ist nicht unglücklich.« (Ebd.) Der Mensch, dessen Bedürfnisse sich auf das Wesentliche beschränken, ist glücklich und zugleich frei. Denn die natürliche Freiheit besteht darin, nicht mehr zu wollen als das, was die eigenen Fähigkeiten erlauben, und somit auf niemandes Hilfe angewiesen zu sein. »Der Einzige, der nach seinem Willen handelt, ist derjenige, der nicht darauf angewiesen ist, seine Arme durch die eines anderen zu verlängern [...]. Der wahrhaft freie Mensch will nur das, was er kann, und macht das, was ihm gefällt.« (Ebd.: 309) Der wahrhaft freie Mensch ist nicht von anderen Menschen abhängig. Die Grenzen seiner Willkür werden lediglich durch die Gegebenheiten seiner natürlichen Umgebung markiert. Der homme naturel unterliegt nur der Abhängigkeit von den Dingen (vgl. ebd.: 311). Die Selbstgenügsamkeit des natürlichen Menschen geht so weit, dass Rousseau ihm jede Soziabilität abspricht. Gesellschaftliche Bande sind im Plan der Natur nicht vorgesehen. »Tatsächlich ist es unmöglich, sich vorzustellen, warum in diesem ursprünglichen Zustand ein Mensch eines anderen Menschen eher bedürfen sollte als ein Affe oder ein Wolf seinesgleichen [...]« (DI III 151). Rousseaus Ausführungen zu Geschlechtsleben und Fortpflanzung im Naturzustand zeigen, was das bedeutet: Soweit der homme naturel überhaupt andere Menschen braucht, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, dienen ihm diese als bloße Funktionsträger. Er erkennt im Anderen kein individuelles Gegenüber, Bevorzugung ist ihm ebenso fremd wie Abneigung (vgl. Meier 2008a: LXIV). Diese reine Selbstbezogenheit lässt den homme naturel ganz und gar in sich selbst ruhen – »[d]er Wilde lebt in sich selbst« (DI III 193). Für ihn besteht kein Anlass, sich selbst in Bezug auf andere zu beurteilen, sich mit anderen zu vergleichen oder messen zu wollen. Der natürliche Mensch blickt nicht von außen auf sich selbst, und daher muss er auch niemals etwas anderes darstellen, als er tatsächlich ist. Die fehlende soziale Natur des Menschen wird besonders sinnfällig in der von Rousseau imaginierten Sprachlosigkeit des homme naturel. Mit der Sprache wird vor allem jene Verwendungsweise der Zeichen aus dem Kosmos der ursprünglichen Einheit verbannt, die wir als ›typisch weiblich‹ kennengelernt haben (vgl. Seite 68). Weil Worte immer auf etwas verweisen, das nicht unmittel-
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bar anwesend ist, rufen sie fast zwangsläufig die Einbildungskraft auf den Plan. Der homme naturel kommt mit diesem gefährlichen Eigenleben der Worte gar nicht erst in Berührung, seine einzige Sprache ist der unartikulierte Schrei der Natur: »Die erste Sprache des Menschen, die universellste, die kraftvollste und die einzige Sprache, die er brauchte, bevor es nötig wurde, versammelte Menschen zu überreden, ist der Schrei der Natur.« (DI III 148)2 Auch Emile soll von den Unwägbarkeiten der Sprache verschont bleiben, indem er lernt, sie in größtmöglicher Eindeutigkeit zu verwenden. Im Fall der Sprache erweist sich das Natürliche als die unangezweifelte Einheit von Zeichen und Bezeichnetem (vgl. Derrida 1967: 282). Der natürliche Mensch ist, was er scheint, und er meint, was er sagt. Wenn Rousseau auch bestreitet, dass der Mensch eine soziale Natur hat, so gesteht er ihm doch eine natürliche Regung zu, die sich auf den Anderen richtet und die Grenzen der reinen Selbstbezüglichkeit überschreitet: das Mitleid. Als zweites ursprüngliches Prinzip der menschlichen Seele steht die pitié neben dem amour de soi (vgl. DI III 125f.), einerseits als eine Art Ausweitung des Selbsterhaltungstriebes auf die Gattung, andererseits als mäßigendes Gegenstück zur Selbstliebe (vgl. ebd.: 156).3 Rousseau legt großen Wert darauf zu betonen, dass das Mitleid ein natürliches und präreflexives Gefühl ist, das selbst bei den Tieren anzutreffen ist – »eine dem Menschen um so universellere und um so nützlichere Tugend, als sie bei ihm dem Gebrauch jeder Reflexion vorausgeht, und eine so natürliche, dass selbst die Tiere manchmal wahrnehmbare Zeichen davon geben« (ebd.: 154; vgl. ebd.: 155, 156). Dennoch handelt es sich beim Mitleid um ein sentiment rélatif, wenn auch um das »erste relative Gefühl, das das menschliche Herz der natürlichen Ordnung folgend berührt« (Emile IV 505). Das Mitleid verlangt vom Menschen, aus sich selbst herauszutreten, um sich in den Anderen hineinzuversetzen – ein Vorgang, der nach einer aktiven Einbildungskraft verlangt (vgl. ebd.: 505f.; EOL V 395). Damit weist das Mitleid, so natürlich es angeblich ist, strukturell bereits über den Horizont des homme naturel hinaus.4
2
Vgl. dazu Schneider 2012: 68. Vgl. auch: »Unartikulierte Schreie, viele Gebärden und einige nachahmende Geräusche mussten lange Zeit hindurch die universelle Sprache ausmachen [...]« (DI III 167).
3
Sowohl Fetscher als auch Derrida sehen hier gegen Derathé keinen Widerspruch, vgl. Fetscher 1975: 77f.; Derrida 1967: 248f.
4
Vgl. dagegen Wingrove 2000: 32 und Bradshaw 2002: 68, die das Mitleid im Diskurs noch nicht als sentiment rélatif sehen. Vgl. dagegen auch Kuster 2005: 165-168. Zur ausführlichen Diskussion des Mitleids vgl. III 2.1.
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Dennoch enthält der ursprüngliche Naturzustand vorerst nichts, was aus sich selbst heraus die Geschichte der Menschheit in Gang setzen könnte (vgl. Meier 2008a: LXIII). Der homme naturel entwickelt sich nicht weiter, er bleibt immer derselbe. »Es gab weder Erziehung noch Fortschritt, die Generationen vermehrten sich unnütz; und da jede immer wieder vom gleichen Punkt ausging, flossen die Jahrhunderte in der ganzen Rohheit der ersten Zeitalter dahin; die Art war bereits alt, und der Mensch blieb noch immer ein Kind.« (DI III 160)
Aus dem Ursprung entspringt nichts; es handelt sich um einen völlig in sich geschlossenen Zustand der Einheit. Aber der Mensch bleibt nicht derselbe, er tritt aus der natürlichen Ordnung heraus. Was passiert, wenn die Geschichte der menschlichen Vergesellschaftung beginnt, haben wir mit dem Begriff der Spaltung zu fassen versucht. Spaltung, weil die selbstzufriedene Einheit des Menschen mit sich und der Natur nun zerbricht. Das friedliche bloße Gefühl der gegenwärtigen Existenz ist dahin, sobald Einbildungskraft und Reflexion den begrenzten Horizont des Menschen erweitern und seinen Blick über die Unmittelbarkeit des Augenblicks hinaus öffnen (vgl. Starobinski 2003: 438; Meier 2008b: 88f.). Neben die einfache Welt der Dinge tritt die unendliche Welt der Wünsche und Vorstellungen. Der Mensch entwickelt Leidenschaften, die weit über den natürlichen Selbsterhaltungstrieb hinausgehen und nur noch entfernt mit der unschuldigen Selbstliebe zu tun haben: »Ihre Quelle ist natürlich, das ist wahr; aber tausend fremde Zuflüsse haben sie anschwellen lassen: Es ist ein großer Fluss, der ununterbrochen zunimmt und in dem man kaum noch ein paar Tropfen ihres ursprünglichen Wassers wiederfinden würde.« (Emile IV 491) Rousseau will strikt unterschieden wissen zwischen dem naturkonformen amour de soi und dem ungesunden amour propre, der sich aus fremden Einflüssen und Ursachen speist – »ein relatives, künstliches und in der Gesellschaft entstandenes Gefühl« (DI III 219). Im amour propre äußert sich die ganze Widernatur des gesellschaftlichen Menschen, er ist eine ausschließlich gesellschaftlich erworbene Abart der natürlichen Selbstliebe. Im Gegensatz zu den Bedürfnissen der Selbstliebe kann das vom amour propre erweckte Begehren niemals wirklich zufriedengestellt werden. Die Fähigkeiten des Menschen bleiben notwendig immer hinter den Begierden zurück, die sich wie die Einbildungskraft, der sie entsprungen sind, ins Unendliche erstrecken.
214 | E RSEHNTE E INHEIT , UNHEILBARE S PALTUNG – EINHEIT UND SPALTUNG »Es ist die Einbildungskraft, die für uns das Maß des Möglichen erweitert, sei es zum Guten, sei es zum Schlechten, und die folglich die Begierden durch die Hoffnung, sie zu befriedigen, erregt und nährt. Aber das Ziel, das man zunächst schon in der Hand zu halten schien, entflieht schneller, als man ihm folgen kann; wenn man es erreicht zu haben glaubt, verwandelt es sich und zeigt sich vor uns in weiter Ferne.« (Emile IV 304)
Die ruhige Selbstzufriedenheit des homme naturel liegt für den vom amour propre getriebenen Menschen außer Reichweite. Er hat sein inneres Gleichgewicht verloren; er will immer mehr, als er erreichen kann. Das macht ihn ebenso unglücklich wie unfrei. Weit entfernt davon, sich selbst zu genügen, ist der gesellschaftliche Mensch ein Sklave seiner widernatürlichen Leidenschaften. »Unsere natürlichen Leidenschaften sind sehr beschränkt, sie sind die Werkzeuge unserer Freiheit, sie dienen unserer Erhaltung. Alle jene, die uns unterjochen und uns zerstören, kommen von anderswo zu uns; die Natur gibt sie uns nicht ein, wir eignen sie uns auf ihre Kosten an.« (Ebd.: 491)
Der amour propre ist ein sentiment rélatif, er bezieht sich wesentlich auf die Anderen. Die Sehnsüchte des gesellschaftlichen Menschen richten sich nicht einfach auf das eigene Wohlergehen; vielmehr definiert er sich über den Vergleich. Der erste vergleichende Blick gilt Rousseau als die Geburtsstunde des amour propre und aller daraus folgenden Leidenschaften: »Mein Emile hat bis jetzt nur auf sich selbst geschaut, der erste Blick, den er auf seine Mitmenschen wirft, bringt ihn dazu, sich mit ihnen zu vergleichen; und das erste Gefühl, das dieser Vergleich in ihm erregt, ist der Wunsch nach dem ersten Platz. Hier ist also der Punkt, an dem sich die Selbstliebe in amour propre verwandelt und alle Leidenschaften entstehen, die damit zusammenhängen.« (Ebd.: 523)
Der Mensch des Vergleichs ist chronisch unzufrieden, weil es ihm immer auch darum geht, alle anderen zu übertrumpfen und sich selbst an erster Stelle zu sehen. Er giert nach Anerkennung und verliert dadurch seine natürliche Freiheit: Er wird abhängig vom Urteil der Anderen. Die vom amour propre eingeflüsterten Begierden können schon deshalb unmöglich zum Schweigen gebracht werden, da sie sich stets an den Anderen richten (vgl. ebd.: 493). Der Mensch hat die Bedingungen seines Glücks aus den Händen gegeben. Sein sentiment de l’existence findet er nicht mehr bei sich, in der Unmittelbarkeit seines Daseins, sondern nur noch außerhalb seiner selbst, in den Augen der Anderen: »Der Wilde lebt in sich selbst; der gesellschaftliche Mensch, der immer außerhalb seiner
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selbst ist, weiß nur in der Meinung der anderen zu leben und bezieht sozusagen allein aus deren Urteil das Gefühl seiner eigenen Existenz.« (DI III 193; vgl. Meier 2008a: LXVIII) Dieses Leben im Blick der Anderen führt zu einer weiteren Spaltung: dem Auseinandertreten von Sein und Schein. Der nach Anerkennung strebende Mensch ist damit beschäftigt, sich selbst ins beste Licht zu rücken; er muss nach außen etwas darstellen – wichtig ist die Fassade: »Man musste sich um des eigenen Vorteils willen anders zeigen, als man tatsächlich war. Sein und Scheinen wurden zwei völlig verschiedene Dinge, und aus dieser Unterscheidung gingen der gewaltige Prunk, die trügerische List und alle Laster hervor, die deren Gefolge bilden.« (DI III 174)
Selbstdarstellung geht für Rousseau mit Verstellung einher: Der gesellschaftliche Mensch ist nicht, was er scheint, und meint nicht, was er sagt. Was sich hinter der Maske aus sozialen Konventionen und trügerischen Eitelkeiten verbirgt, lässt sich kaum mehr ausmachen. Sein wahres Ich hat der Mensch des schönen Scheins längst verloren: »Der Mann von Welt lebt vollständig in seiner Maske. Da er fast nie in sich selbst lebt, fühlt er sich immer fremd und unbehaglich, sobald er gezwungen ist, dorthin zurückzukehren. Was er ist, gilt ihm nichts, was er scheint, gilt ihm alles.« (Emile IV 515) Der homme de l’homme lebt in einer Welt der Inauthentizität und der Entfremdung (vgl. Starbobinski 2003: 439; Herb 2012c: 95). Im Gegensatz zur statischen Existenz des homme naturel tritt der vergesellschaftete Mensch in eine höchst dynamische Entwicklung ein. Mit seinen immer über sich selbst hinausweisenden Leidenschaften initiiert er die Geschichte und treibt sie voran. Sobald der Mensch den ursprünglichen Naturzustand hinter sich gelassen hat, beschleunigt sich der gesellschaftliche Fortschritt, immer schneller bewegt sich die Gesellschaft auf ihren Verfall zu. Der ursprüngliche Zustand der Einheit und die gesellschaftliche Spaltung, in der sich die Welt der Menschen befindet, könnten nicht weiter voneinander entfernt liegen. Fast erscheint es Rousseau unmöglich zu erklären, wie sich der Übergang vom einen zum anderen gestaltet haben mag. Wann und warum ist der Mensch aus der Ordnung der Natur herausgefallen? Wie konnte er so entarten, obwohl er die Hände des Schöpfers doch so gut verlassen hatte? Der Blick auf den homme naturel und seine völlig in sich geschlossene Existenz macht die Sache nur rätselhafter: »[W]er sieht nicht, dass alles vom wilden Menschen die Versuchung und die Mittel fernzuhalten scheint, aufzuhören wild zu sein?« (DI III 144; vgl. Baczko 1970: 112) Schon allein das Aufkommen der Sprache er-
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scheint Rousseau als ein Ding der Unmöglichkeit für ein Wesen, das weder das Bedürfnis noch die Notwendigkeit verspürt, sich anderen mitzuteilen. Viel zu groß ist der Abstand zwischen den einfachen und beschränkten Regungen des homme naturel und den gesellschaftlich depravierten Leidenschaften des homme de l’homme: »Je länger man über dieses Thema nachdenkt, desto weiter dehnt sich vor unseren Augen der Abstand der reinen Empfindungen von den einfachsten Erkenntnissen aus; und es ist unmöglich zu begreifen, wie ein Mensch nur aus eigener Kraft, ohne die Hilfe der Kommunikation und ohne den Stachel der Notwendigkeit, einen so großen Zwischenraum hätte überwinden können.« (DI III 144)
Rousseau greift nicht auf die Theologie zurück, um zu klären, wie ein gut geschaffenes Wesen böse wird (vgl. Fetscher 1975: 70; Starobinski 2003: 24f.). Seine Geschichte vom Sündenfall ist ganz diesseitig, sie erzählt von der schrittweisen Vergesellschaftung des Menschen. Der zweite Teil des Diskurses findet vor allem zwei Erklärungen dafür, dass der Kreislauf des Naturzustandes durchbrochen werden konnte: lange Zeiträume und kontingente äußere Umstände. Die ersten Entwicklungen erstrecken sich über »unzählige Jahrhunderte« (DI III 167) und gehen »fast unmerklich« (ebd.) vor sich. Allein der »unermessliche Zeitraum« (ebd.: 147) kann das Unbegreifbare annähernd begreifbar machen und lässt erahnen, wie »verschiedene Zufälle« (ebd.: 144 und 162) schließlich zu ersten kleinen Fortschritten führen konnten. Die große erste Revolution, mit der Familie, Sprache, Nation ihren Anfang nehmen, kann sich dagegen nur den großen Zufällen der Natur verdanken. Am Anfang der Geschichte stehen im Diskurs wie im Essai über den Ursprung der Sprachen Naturkatastrophen: Überschwemmungen, Erdbeben, Kontinentalverschiebungen, Vulkanausbrüche, Waldbrände (vgl. ebd.: 168; EOL V 402) schaffen schlagartig neue Bedingungen für das Überleben der Menschheit und zwingen zur Vergesellschaftung. Es ist ein ganz und gar von außen hereinbrechendes Schicksal, das die Entwicklungen auslöst. Ein Bild, das der Essai entwirft, verdeutlicht das in besonders anschaulicher Weise: »Derjenige, der wollte, dass der Mensch gesellig werde, berührte die Achse des Erdballs mit dem Finger und neigte sie zur Achse des Universums hin. Auf diese leichte Bewegung hin sehe ich, wie sich das Gesicht der Erde ändert und über die Bestimmung des Menschengeschlechts entscheidet [...]« (EOL V 401).5
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Vgl. zur Deutung dieser Passage Derrida 1967: 361-364.
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Die Verschiebung der Erdachse durch das göttliche Fingerschnippen verursacht den Wechsel der Jahreszeiten und neue klimatische Bedingungen, die die Menschheit aus dem »immerwährenden Frühling« (ebd.: 400) ihres anfänglichen Zustands herausreißen. Nur ein Zufall in wahrhaft universalem Maßstab kann also in das Gleichgewicht des Naturzustandes einbrechen. »Die Unruhe kann nicht aus der Ruhe entstehen, sie kommt nur durch die Katastrophe über den Zustand des Menschen [...]: als Wirkung einer im System der Erde völlig unvorhersehbaren Kraft.« (Derrida 1967: 363) Blenden wir zurück von der menschheitsgeschichtlichen Perspektive von Diskurs und Essai zur Perspektive des Emile, dann lässt sich als Pendant zu den Umwälzungen der Vergesellschaftung jene zweite Geburt ausmachen, die das Kind in ein soziales Wesen verwandelt. Auch hier bedient sich Rousseau einer auffälligen »Katastrophen-Rhetorik« (Garbe 1992: 55; vgl. Bürgin 2008: 115): Das Einsetzen der Pubertät, »diese stürmische Revolution« (Emile IV 489), scheint in seiner unvorhersehbaren Plötzlichkeit und in seinen alles verändernden Wirkungen tatsächlich einer Verschiebung der Erdachse gleichzukommen. Das ist sehr bemerkenswert – schließlich wird hier ja nichts anderes als eine natürlich angelegte, altersgemäße Entwicklung beschrieben. Schon diese Parallele weist darauf hin, dass der Eindruck nicht ganz stimmen kann, dass das gesellschaftliche Verhängnis ganz und gar von außen kommt. Auch an dem Bild aus dem Essai stört etwas: Ist es etwa wirklich Gott selbst, der mit einer beiläufigen Fingerbewegung seine eigene Ordnung über den Haufen wirft?6 Tatsächlich – die Natur selbst hat etwas Entscheidendes dazu beigetragen, dass der Mensch sich gegen sie wenden und aus ihrer Ordnung heraustreten kann. Sie hat ihn mit der Fähigkeit, sich zu vervollkommnen, ausgestattet und auf den Grund seines Herzen virtuelle Fähigkeiten gelegt, die sich entfalten, sobald veränderte Bedingungen danach verlangen (vgl. DI III 142, 152; Emile IV 304).7 Und doch besteht Rousseau darauf: Es hätte niemals so weit kommen müssen. Es sind nur Zufälle und fremde Ursachen, die zum Erwachen der Perfektibilität und der virtuellen Fähigkeiten geführt haben. Der Mensch hätte immer glücklich bleiben können:
6
Vgl. hierzu Derrida 1967: 363f., der die Ambivalenz dieser Stelle auslotet. Vgl. auch Schneider: Wenn es nicht Gott ist, der die Welt aus den Fugen geraten lässt, ist es vielleicht ein »anonymer Dämon, ein Vorsehungsdämon oder womöglich ein Antivorsehungsdämon« (Schneider 2012: 67)?
7
Zur Perfektibilität des Menschen ebenfalls ausführlich in III 2.1.
218 | E RSEHNTE E INHEIT , UNHEILBARE S PALTUNG – EINHEIT UND SPALTUNG »Nachdem ich gezeigt habe, dass die Perfektibilität, die gesellschaftlichen Tugenden und die anderen Fähigkeiten, die der natürliche Mensch potentiell erhalten hatte, sich niemals von selbst entwickeln konnten, dass sie dafür des zufälligen Zusammentreffens mehrerer fremder Ursachen bedurften, die auch niemals hätten entstehen können, und ohne die er ewig in seiner ursprünglichen Lage geblieben wäre; bleibt es mir noch übrig, die verschiedenen Zufälle zu erwägen und zusammenzubringen, die imstande waren, die menschliche Vernunft zu vervollkommnen, indem sie die Art verdarben, ein Wesen böse zu machen, indem sie es gesellig machten, und den Menschen und die Welt von einem so weit entfernten Stadium schließlich an den Punkt zu bringen, an dem wir sie sehen.« (DI III 162)
Der Einbruch der Spaltung ist ein kontingentes Unheil: Die Natur hatte den Menschen zur Einheit bestimmt.
1.2 D AS I DEAL DER E INHEIT DER S PALTUNG
UND DER
S TACHEL
Nachdem sich das Unglück der Spaltung ereignet hat, gibt es keinen Weg zurück in den unschuldigen ersten Zustand der Einheit. Trotzdem ist der Mensch kein völlig hoffnungsloser Fall. Für den savoyischen Vikar jedenfalls steht fest, dass der Mensch zum Besten ebenso fähig ist wie zum Schlimmsten. So sehr er Chaos und Verwirrung in der Welt stiftet – er trägt auch das Potential in sich, der selbst angerichteten Unordnung beizukommen: »Als ich über die Natur des Menschen nachdachte, glaubte ich darin zwei verschiedene Prinzipien zu entdecken, von denen das eine ihn zum Studium der ewigen Wahrheiten erhob, zur Liebe zu Gerechtigkeit und guter Moral, in die Regionen der geistigen Welt, deren Betrachtung die Wonne des Weisen ausmacht, und von denen das andere ihn zu sich selbst herabzog, ihn der Herrschaft der Sinne und den Leidenschaften, die ihre Diener sind, unterwarf und durch diese alles durchkreuzte, was die Empfindung des ersteren ihm eingab.« (Emile IV 583)
Der homme naturel war Teil der Ordnung, ohne sich dessen bewusst zu sein; in seiner unreflektierten bloßen Existenz war er an seinem Platz. Der vergesellschaftete Mensch kann nie wieder hinter den Einbruch der Spaltung zurück, aber er trägt nicht nur die Leidenschaften in sich, die ihn nach unten in den Abgrund ziehen. Mit der fortschreitenden Entwicklung des Menschen entstehen nicht nur alle Laster und Übel, sondern auch die Vernunft, die Moral und die Tugend. Der Mensch, der nachdenkt, ist ein depraviertes Tier (vgl. DI III 138) – einerseits.
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Andererseits kann er die ewigen Wahrheiten der natürlichen Ordnung, die Grundsätze der Gerechtigkeit und Moral erkennen und sie bewusst bejahen (vgl. Fetscher 1975: 83). Auf diese Möglichkeit bauend malen Rousseaus Ideale die Hoffnung aus, dass sich doch noch alles zum Guten wenden lässt. Es gibt Alternativen zur Realität der zeitgenössichen Gesellschaft; Rousseau erzählt davon im Emile, in der Nouvelle Héloïse und im Contrat social. Jenseits des Ursprungs, nach dem Einbruch der Spaltung, tun sich zwei Wege für den Menschen auf: Entweder folgt er dem Weg immer weiterer Spaltung und verliert sich in den Pathologien der Gesellschaft – oder er versucht, zu einer neuen Form der Einheit zu gelangen. In diesem Entweder/Oder manifestiert sich die Ambivalenz der geschichtlichen Entwicklung nach der Vergesellschaftung (vgl. Derrida 1967: 326): Beide Möglichkeiten stehen offen, der Mensch kann alles gewinnen oder alles verlieren.8 Wohin die Reise geht, kann sich nur kurz nach dem Einbruch der Spaltung entscheiden. Die Akzeleration des Verfalls beginnt sehr schnell, es gilt also den Zeitpunkt abzupassen, von dem aus sich die Dinge noch zum Guten entwickeln lassen. »Es gibt, ich fühle es, ein Alter, bei dem der individuelle Mensch gerne stehenbleiben würde; du wirst das Alter suchen, von dem du wünschtest, deine Art wäre bei ihm stehen geblieben.« (DI III 133) Wir haben über diesen Zeitpunkt schon mehrmals gesprochen, es ist der Zeitpunkt des Vertragsschlusses, von dem aus sich die rousseauschen Ideale entfalten. Nur aus der (noch) (fast) unschuldigen société naissante heraus kann die Tugendrepublik entstehen; nur der (noch) (fast) unschuldige Emile kann zu Beginn der Pubertät mithilfe seines Erziehers den Weg der Tugend einschlagen. Noch unschuldig: Die verderblichen gesellschaftlichen Laster haben sich noch nicht voll entfaltet, die Seele des Jugendlichen ist noch rein, die Pathologien der bürgerlichen Gesellschaft sind noch fern. Aber doch nur noch fast unschuldig: Die Einbildungskraft ist bereits erwacht, die Logik des Vergleichs fordert bereits ihren Tribut, die unreflektierte Selbstbezüglichkeit ist bereits durchbrochen. Weil der Zeitpunkt des Vertrags noch so nahe am Ursprung liegt, scheint es beinahe so, als müsse die ursprüngliche Einheit nur bewahrt werden. Fast wie ein verlängerter Naturzustand erscheint die société naissante noch immer als ein Zustand des Gleichgewichts und des Glücks. Nur ein weiterer verhängnisvoller Zufall kann die folgenden Entwicklungen einleiten:
8
Vgl. auch Derrida, bezogen wiederum auf die göttliche Fingerbewegung aus dem Essai: »Derjenige, der die Achse des Erdballs neigte, hätte ein Spieler-Gott sein können, der gleichzeitig das Beste und das Schlimmste riskiert, ohne es zu wissen.« (Derrida 1967: 367) Vgl. dagegen de Man 1993: 205.
220 | E RSEHNTE E INHEIT , UNHEILBARE S PALTUNG – EINHEIT UND SPALTUNG »Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr findet man, dass dieser Zustand am wenigsten den Umwälzungen unterworfen und am besten für den Menschen war, und dass der Mensch nur aufgrund irgendeines verhängnisvollen Zufalls daraus hat heraustreten müssen, der sich im Sinne des allgemeinen Nutzens niemals hätte ereignen dürfen.« (Ebd.: 171)
Aber dieser Eindruck trügt: Der Zeitpunkt des Vertrags liegt doch ganz klar nach dem Einbruch der Spaltung, nachdem der Naturzustand verlassen wurde und die Vergesellschaftung nicht mehr rückgängig zu machen ist. Es kann sich also bei dem Vertragsschluss nicht um ein Bewahren, sondern nur um ein Wiederherstellen der Einheit handeln. Rousseaus Ideale erzeugen daher eine Einheit zweiter Ordnung, die sich zwar strukturell auf die ursprüngliche Einheit des Naturzustandes zurückbezieht, aber doch auf einer neuen, höheren Stufe angesiedelt ist. Die Spaltung ist in dieser Einheit 2.0 immer schon vorausgesetzt, sie darf nur noch nicht zu weit fortgeschritten sein. Als Ideal wird die Einheit damit zum Endpunkt einer dreistufigen Struktur (vgl. Baczko 1970: 132f.). Ausgangspunkt ist die ursprüngliche Natur; ihre Negation durch die gesellschaftliche Entartung bildet die zweite Stufe. Als Endpunkt stellt das Ideal schließlich nicht wirklich eine Rückkehr zur Natur dar, sondern vielmehr den Aufstieg zu einer zweiten Natur. Die Natur gibt lediglich den Maßstab vor für ihre Rekonstruktion unter den Bedingungen der Gesellschaftlichkeit. Der ursprüngliche Verlust soll dadurch mehr als wettgemacht werden. Rousseau entwirft eine »Vision der ›naturalisierten Kultur‹ als volle Realisierung der menschlichen Natur« (ebd.: 133; vgl. Starobinski 2003: 436). Dazu müssen die Vorzüge des homme naturel, die im Zuge der Vergesellschaftung verloren gegangen sind, durch neue Prinzipien ersetzt werden. Wenn die Stimme der Natur einmal erstickt ist, gilt es, die Ordnung »auf anderen Grundlagen neu zu errichten« (DI III 126). Auf den unschuldigen amour de soi kann man nicht mehr hoffen, sobald der entartete amour propre im Menschen erwacht ist. Aber wenn sich die einfache Selbstliebe zum amour de l’ordre veredelt, kann das Gleichgewicht wiederhergestellt werden (vgl. Emile IV 589, 602; Fetscher 1975: 80). Damit schlägt die Stunde der Tugend. Tugend, das haben wir bereits gesehen, ist die Fähigkeit, die Leidenschaften dem moralischen Selbst unterzuordnen. Der tugendhafte Mensch überwindet die Einflüsterungen des amour propre, indem er sich bewusst in der Ordnung hält: »Was also ist der tugendhafte Mensch? Das ist derjenige, der seine Gefühle zu überwinden weiß. Denn damit folgt er seiner Vernunft, seinem Gewissen, er tut seine Pflicht, er hält sich in der Ordnung, und nichts kann ihn davon abbringen.« (Emile IV 818) Mithilfe seiner Vernunft vermag der Mensch zu erkennen, was
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der natürlichen Ordnung entspricht, und sein Gewissen lehrt ihn, das Gute zu lieben (vgl. ebd.: 600; Fetscher 1975: 85f.). Seine Tugend schließlich lässt im Kampf gegen die naturwidrigen Leidenschaften die Liebe zur Ordnung obsiegen. Die Tugend verlangt nach Stärke, sie ist nicht anstrengungslos zu erlangen: »[E]s gibt keinerlei Glück ohne Mut und auch keine Tugend ohne Kampf. Das Wort Tugend kommt von Kraft, die Kraft ist die Grundlage aller Tugend.« (Emile IV 817, Herv. i.O.) Darin liegt der große Unterschied zur natürlichen bonté des homme naturel. Den Menschen im Naturzustand kostet es keine Mühe, seinen Platz innerhalb der Ordnung einzunehmen, weil er nicht von gesellschaftlich erworbenen Begierden in Versuchung geführt wird. Genauso ergeht es auch Emile, solange der Erzieher ihn vor allen Gefahren der Leidenschaft bewahren kann. Die natürliche Güte reicht für das Zeitalter der Unschuld aus, dem Ansturm der Leidenschaften kann jedoch nur die Tugend standhalten: »Indem ich dich in der ganzen Einfachheit der Natur aufgezogen habe, statt dir lästige Pflichten zu predigen, habe ich dich vor den Lastern bewahrt, die diese Pflichten lästig machen [...]. Ich habe dich eher gut als tugendhaft gemacht: Doch derjenige, der nur gut ist, bleibt es nur, solange er Gefallen daran findet; die Güte zerbricht und vergeht beim Aufprall der menschlichen Leidenschaften; der Mensch, der nur gut ist, ist gut nur für sich.« (Ebd.: 818)
Gerade das macht den Sieg der Tugend so verdienstvoll und erhebt den tugendhaften Menschen weit über den homme naturel, auf die höchste Stufe der Vollkommenheit. Er übertrifft selbst die Engel, die keine Versuchungen kennen: »Wenn der Geist des Menschen frei und rein geblieben wäre, welches Verdienst läge darin, die Ordnung zu lieben und zu befolgen, die er errichtet sähe und die zu stören er keinerlei Interesse hätte? Er wäre glücklich, das ist wahr; aber seinem Glück würde die erhabenste Stufe fehlen, der Ruhm der Tugend und das gute Zeugnis seiner selbst; er wäre nur wie die Engel, und ohne Zweifel ist der tugendhafte Mensch mehr als sie.« (Ebd.: 603; vgl. Fetscher 1975: 87)
Rousseaus Ideale sind Tugendideale, das konnten wir am Beispiel der Republik ausführlich beobachten. Die Tugend des citoyen äußert sich in seiner Liebe zur republikanischen Ordnung, und gleichzeitig ist es die republikanische Ordnung selbst, die den Bürger zur Tugend erzieht. Auch wenn die Ordnungsliebe in der Republik eine Herzensangelegenheit ist, die durch Sitten und Bräuche hervorgerufen und am Leben gehalten wird, muss man die Unterwerfung unter den Gemeinwillen doch auch als moralisches Verdienst im Sinne der Tugend verste-
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hen.9 Denn die Bereitschaft des Bürgers, nicht auf seine Begierden zu hören, sondern auf die Stimme der Vernunft und der Pflicht, entspricht seinem im Vertrag erklärten beständigen Willen. Und die Tugend äußert sich gerade in der Stärke des Willens: »Die Tugend kommt nur einem Wesen zu, das von Natur aus schwach und durch seinen Willen stark ist [...]« (Emile IV 817). Die natürliche Schwäche des Einzelnen, die ihn seinen Leidenschaften ausliefert, wird in der Republik durch die kollektive Stärke der volonté générale ausgeglichen, der sich der einzelne Bürger wiederum aus freien Stücken unterwirft, indem er den Gemeinwillen zu seinem eigenen beständigen Willen erklärt. Aber nicht nur in der Republik, auch für den heranwachsenden Emile und für den Haushalt von Clarens ist Tugend die Voraussetzung für die Wiederherstellung der Einheit auf höherer Stufe: Sie ersetzt die bonté des natürlichen Menschen und ermöglicht es, die Spaltung durch moralische Anstrengung zu überwinden. Denn das ist das Ziel der rousseauschen Ideale: eine neue Form der Einheit zu schaffen, indem das Prinzip der Spaltung annulliert wird. Aber wie funktioniert das? Wie gelangt man zurück zur Unmittelbarkeit des sentiment de l’existence, wie schaltet man den Einfluss des amour propre und des Begehrens aus, wie bringt man die nie zu sättigende Einbildungskraft zum Schweigen? Wir haben uns speziell anhand der Republik und ihrer Fundierung durch die Geschlechterordnung angesehen, wie dieses Kunststück vollbracht werden soll. Zwar gibt es keinen Weg zurück zu der friedlichen Existenz des homme naturel, der nur von den Bedürfnissen des amour de soi angetrieben wird. Aber der verderbliche amour propre kann durch die Tugend geläutert werden, das Begehren kann kanalisiert und in geordnete Bahnen gelenkt werden. Wir haben dieses Prinzip an der republikanischen Ordnung der Leidenschaften nachvollzogen: Unter dem Einfluss tugendhafter Frauen richtet sich die Libido der männlichen Bürger voll und ganz auf das Vaterland. Selbstsüchtige Begierden weichen in der Republik der Leidenschaft für Tugend und Freiheit. Dabei lässt sich die Liebe zur republikanischen Ordnung durchaus als eine Art Ausweitung des Prinzips der Selbstliebe auf die Gemeinschaft verstehen; allerdings setzt sie zugleich die
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Vgl. dazu Baczko 1970: 429ff. Laut Fetscher greift die Republik auch auf die instinkthafte bonté zurück (vgl. Fetscher 1975: 89). Meines Erachtens zeigt der Bürger der Republik aber eben keine natürliche bonté, sondern die durch den Vertrag vermittelte, künstlich erzeugte vertu. Das zeigt sich schon daran, dass, wie in II 2 gezeigt wurde, die spontane Liebe zur Republik auf komplexen Voraussetzungen beruht und nur u.a. vermittelt durch die Ordnung der Leidenschaften und die Rolle der Frauen entsteht.
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Sublimierung des amour propre durch die Tugend voraus. Mithilfe der Tugend tritt in der Republik die moralische Freiheit an die Stelle der natürlichen Freiheit. Wer seine Leidenschaften zu beherrschen lernt, wird »wahrhaft Herr seiner selbst« (CS III 365) – die Freiheit des homme naturel, die auf dem Schweigen des Begehrens beruht, erscheint im Vergleich dazu nur noch als »unsichere Freiheit eines Sklaven, dem man nichts befohlen hat« (Emile IV 818). Der gesellschaftliche Mensch ist unweigerlich auf den Anderen verwiesen, die völlige Selbstgenügsamkeit des homme naturel kann nicht wiederhergestellt werden. Mit der Republik findet Rousseau jedoch eine Formel für den Versuch, die Abhängigkeit vom Anderen auch im Gesellschaftszustand zu neutralisieren. Die anonyme Herrschaft der Gesetze soll an die Stelle personalisierter Abhängigkeitsverhältnisse treten – so wird die Abhängigkeit von den Menschen (zumindest scheinbar) in eine Abhängigkeit von den Dingen zurückverwandelt. Die Gesetze der Republik sollen wie Naturgesetze wirken und die Willkür des Einzelnen begrenzen, ohne seine Freiheit zu gefährden. »Wenn die Gesetze der Nationen dieselbe Unerbittlichkeit haben könnten wie diejenigen der Natur, die keine menschliche Kraft je besiegen kann, dann würde die Abhängigkeit von den Menschen wieder zu der von den Dingen werden, man würde in der Republik alle Vorteile des natürlichen Zustands mit denen des gesellschaftlichen Zustands verbinden, man würde der Freiheit, die den Menschen frei von Lastern hält, die Moralität hinzufügen, die ihn zur Tugend erhebt.« (Ebd.: 311)
So genießt der Bürger der Republik eine Freiheit, die der Unabhängigkeit des homme naturel gleichkommt und sie zugleich übertrifft: Der Gehorsam gegen die Gesetze beinhaltet mehr als die bloße Unterwerfung unter Naturnotwendigkeiten, er beruht auf der bewussten Hinwendung zur Tugend. Damit verbindet die Republik das Beste aus dem Naturzustand mit dem Besten aus dem Gesellschaftszustand. Sobald der Mensch zum sozialen Wesen geworden ist, gibt es die reine Selbstbezüglichkeit des homme naturel nicht mehr. Die Republik findet trotzdem zur Einheit zurück, indem sie das Ich des Einzelnen gleichsam auf die Gemeinschaft überträgt. An die Stelle des Selbstbezugs tritt so der ausschließliche Bezug auf das moi commun der Republik: »Die guten gesellschaftlichen Einrichtungen sind jene, die es am besten verstehen, den Menschen zu denaturieren [...] und das Ich auf die gemeinsame Einheit zu übertragen; in der Art, dass sich jeder Einzelne nicht mehr als Eines versteht, sondern als Teil der Einheit, und nur noch im Ganzen empfindungsfähig ist.« (Ebd.: 249)
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Mit dieser Ausweitung des Ichs auf die Gemeinschaft verliert die Begegnung mit dem Anderen, an der sich die ganze Problematik der Entfremdung entzündet, ihre Bedrohlichkeit. Der rastlose amour propre, die Sucht nach Anerkennung und der Zwang zur Selbstdarstellung kommen in der Gemeinschaft der Gleichen zur Ruhe. Hier ist der Andere nur noch in der beruhigenden abwesenden Anwesenheit des anderen Geschlechts gegenwärtig – in Gestalt der schamhaften Frauen, die der Einheit nicht gefährlich werden. Unter Freunden und Brüdern muss man sich nicht verstellen, um Anerkennung zu finden. Die Differenz zwischen Sein und Schein ist aufgehoben, wenn die Herzen füreinander durchsichtig werden. Rousseau verbannt aus der Republik den verborgenen Sonderwillen ebenso wie die verführerische Kunst der Rhetorik. Jeder ist, was er scheint, und sagt, was er meint: In ihrer idealen Form wird die Republik zum Hort der Transparenz und Authentizität (vgl. Starobinski 2003: 129; Herb 2012c: 98). Auf diese Weise ist das rousseausche Ideal der Republik tatsächlich in der Lage, das sentiment de l’existence auf die Erde zurückzuholen, das der gesellschaftliche Mensch doch für immer verloren zu haben schien. Ganz in der Unmittelbarkeit des Augenblicks aufgehen, alle Trennungen und Spaltungen überwinden: Das ist das Gefühl, das sich in jenen Momenten der bürgerlichen Apotheose einstellt, die sich in der Volksversammlung oder im republikanischen Fest vollziehen. Man könnte auf diese Situationen jene Beschreibung übertragen, die Rousseau in den Träumereien für Jean-Jacques’ einsame Bootsfahrten auf dem Bieler See findet: »Was genießt man in einer solchen Situation? Nichts außerhalb seiner selbst, nichts außer sich selbst und seine eigene Existenz; solange dieser Zustand andauert, genügt man sich selbst wie Gott.« (Rêveries I 1047)10 Im Fest manifestiert sich analog dazu der reine Selbstgenuss der feiernden Gemeinschaft. Zurückdenken lässt sich hier freilich auch an das erfüllte Zusammensein in Clarens, wo Julie in der bloßen Gegenwart ihrer Vertrauten wirklich nichts mehr zu wünschen übrig bleibt – so wie Jean-Jacques in seiner selbstgewählten Einsamkeit: »[S]olange dieser Zustand andauert, kann sich derjenige, der sich darin befindet, glücklich nennen; nicht in der Art eines unvollständigen, armseligen und relativen Glücks, so wie jenes, das man in den Vergnügungen des Lebens findet, sondern in der Art eines ausreichenden, perfekten und vollen Glücks, das in der Seele keinerlei Leere hinterlässt, die es zu füllen gälte.« (Ebd.: 1046)
10 Für eine Analyse dieser Episode als Erfahrung der Selbstpräsenz und des sentiment de l’existence vgl. Derrida 1967: 354f.; Maier 2014: 35f.; Herb 2012c: 103.
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Scheinbar gelingt es auf diese Weise, eine neue Stufe des vollkommenen Glücks zu erreichen – einen Zustand, der ebenso harmonisch und in sich geschlossen sein müsste wie der Naturzustand selbst. Aber warum zerplatzt dieser Traum in schnöder Regelmäßigkeit? Auf den ersten Blick bemüht Rousseau wieder das Motiv des verhängnisvollen Zufalls, des kontingenten Eingriffs von außen, um das Scheitern seiner Ideale zu erklären. Ein Theater infiziert das beschauliche Genf mit den depravierten Sitten der großen Städte. Emile und Sophie setzen sich, vom blinden Schicksal getroffen, den schädlichen Pariser Einflüssen aus. Der plötzliche Tod Julies zerreißt die Gemeinschaft von Clarens. Nichts davon scheint auf den ersten Blick notwendig oder folgerichtig. Aber dieser Eindruck täuscht. Tatsächlich lässt sich das ruhige Gleichgewicht der ursprünglichen Einheit nicht mehr wiederherstellen; Rousseaus Ideale der Einheit sind von Anfang an instabil. Den Grund dafür kennen wir bereits: Der Stachel der Spaltung sitzt zu tief. Die Hoffnung auf ihre Überwindung ist immer schon illusorisch. Dass die neue Einheit am Endpunkt einer dreistufigen Bewegung angesiedelt ist, verleiht ihr einen ambivalenten Charakter. Einerseits sollen die Tugendideale den Menschen auf die höchste Stufe heben und seine wahren Potentiale freilegen – und damit die dumpfe Existenz des homme naturel um ein Vielfaches übertreffen. Andererseits haftet der neuen Einheit etwas zutiefst Defizitäres an: Sie hat eben nur kompensatorischen Charakter. Das Ideal, so perfekt es anmutet, kann letztlich doch nicht mehr als ein Ersatz für den verlorenen Ursprung sein. Rousseau lässt uns darüber nicht im Unklaren: Die Natur, die das Vorbild für die neue Einheit abgibt, muss durch ein Höchstmaß an Kunstfertigkeit rekonstruiert werden. Vollendete Kunst soll zur »Wiedergutmachung der Übel« führen, »die die begonnene Kunst der Natur zugefügt hat« (CSMG III 288). Ein schwieriges Reparaturgeschäft – zu erledigen an bereits deformiertem Material und mit Werkzeugen, die allein die Gesellschaft selbst zur Verfügung stellt. Was dabei herauskommt, soll den Eindruck der Natürlichkeit vermitteln, ist in Wirklichkeit aber bloße Nachbildung. Diese Lösung bleibt nicht zuletzt deshalb so prekär, weil hier als Heilmittel nichts anderes als das Gift in einer Überdosis verwendet wird: »[B]emühen wir uns, aus dem Übel selbst das Mittel zu ziehen, das es heilen soll.« (Ebd.) Am Beispiel der Geschlechterordnung wird die Problematik dieser Strategie sehr deutlich. Bezeichnend dafür ist die doppelte Rolle, die Rousseau der Frau zuschreibt – als schamlose Verführerin und zugleich als tugendhafte Seele der Republik; als größte Gefahr für die männliche Souveränität und zugleich als Voraussetzung männlicher Tugend; als Verkörperung der Spaltung und zugleich als Bewahrerin der Einheit. Das Konzept Weiblichkeit steht geradezu paradigmatisch für die gesellschaftliche Existenz des Menschen und ist doch gleichzeitig
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essentiell für das Projekt einer wieder zu errichtenden Natürlichkeit. Das Risiko dieser Versuchsanordnung ist hoch, wie das wiederholte Scheitern von Rousseaus Idealen am désordre des femmes zeigt. Der künstlichen Nachbildung der ursprünglichen Natur haftet zudem, wie wir gesehen haben, etwas höchst Illusorisches an. Die vermeintliche Freiheit des Bürgers entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine Abhängigkeit von den subtilen Wirkmechanismen der republikanischen Sitten und Institutionen – nicht anders als die scheinbare Autonomie des Mannes, hinter der sich in Wirklichkeit die manipulative weibliche List verbirgt. Als ebenso trügerisch erweist sich die spontane Unmittelbarkeit, die dem republikanischen Gemeinschaftsgefühl zugrunde zu liegen scheint. Auch hier wird mit durchaus robusten Mitteln nachgeholfen: Derselbe Zwang zur Authentizität, der die Intimität der Gemeinschaft von Clarens sicherstellt, sorgt für die Konformität der bürgerlichen Gefühlswelten. In der Nouvelle Héloïse bekommt St. Preux einen exklusiven Einblick in die vollendete Kunst einer gesellschaftlich rekonstruierten Natur. Julie gewährt ihm eine Führung durch ihr Elisée, den Garten, der unter ihrer Aufsicht in Clarens entstanden ist.11 Es ist ein verwunschenes Paradies, ein Stück völlig unberührte Natur, das St. Preux zu betreten glaubt: »[I]ch sehe hier keinerlei menschliche Arbeit.« (Julie II 472) Julie aber weiht ihn in die Geheimnisse der vermeintlich sich selbst überlassenen Natur ein. Tatsächlich hat sie in ihrem Garten nichts dem Zufall überlassen: »Es stimmt, sagte sie, dass die Natur alles gemacht hat, aber unter meiner Führung, und es gibt hier nichts, was ich nicht angeordnet hätte.« (Ebd.) Der Eindruck der Natürlichkeit beruht auch hier auf einer wohldurchdachten Täuschung. Die Spuren menschlicher Einwirkung werden sorgfältig verwischt: »Alles ist grün, frisch, lebendig, und die Hand des Gärtners zeigt sich überhaupt nicht: Nichts widerspricht der Vorstellung einer verlassenen Insel, die mir beim Eintreten gekommen ist, und ich nehme keine menschlichen Spuren wahr. Ah! sagte M. de Wolmar, das kommt daher, dass man sehr darauf geachtet hat, sie zu verwischen.« (Ebd.: 478f.)
11 Zur Interpretation der Szene im Elisée vgl. Garbe 1992: 170-74; Pabst 2007: 173-177; Starobinski 2003: 166f.; Kuster 2014. Steinbrügge sieht im Elisée dagegen nicht ein Werk vollendeter Kunst, sondern den anstrengungslosen Ausfluss der weiblichen Natur Julies, vgl. Steinbrügge 1987: 94f. Kavanagh wiederum betont in seiner Interpretation den lenkenden Einfluss Wolmars, was ihn das Elisée als Metapher für das lacansche Symbolische und die väterliche Autorität sehen lässt, vgl. Kavanagh 1987: 1621.
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Während St. Preux sich noch über all diese Anstrengungen wundert, erklärt Julie in aller Deutlichkeit das Prinzip ihres Gartens: Er soll einen künstlichen Ersatz schaffen für die Schönheiten der Natur, die für den Menschen unerreichbar geworden sind. Die Zumutungen der Zivilisation sind schuld daran, dass die Natur sich vor den Augen der Menschen verbirgt und in weit entfernte Gefilde zurückzieht. Wer sich trotzdem an ihr erfreuen möchte, dem bleibt nur das Surrogat einer vorgetäuschten Natürlichkeit: »Übrigens scheint die Natur den Augen der Menschen ihre wahren Reize vorenthalten zu wollen, für die sie zu wenig empfänglich sind und die von ihnen verunstaltet werden, wenn sie in ihrer Reichweite liegen: Sie flieht die häufig aufgesuchten Plätze; auf den Gipfeln der Berge, in den Tiefen der Wälder, auf verlassenen Inseln breitet sie ihre rührendsten Reize aus. Diejenigen, die sie lieben und nicht so weit gehen können, um sie aufzusuchen, sind genötigt, ihr Gewalt anzutun, sie gewissermaßen zu zwingen, bei ihnen zu wohnen, und all das kann nicht ohne ein bisschen Illusion geschehen.« (Ebd.: 479f.)
Gewalt, Zwang und ein bisschen Illusion werden notwendig, wo die wahre Natur nicht mehr zu erreichen ist. Nach demselben Prinzip funktionieren die rousseauschen Ideale: die Republik ebenso wie Emiles Welt und die société très-intime von Clarens. Mithilfe der vollendeten Kunst können sich Rousseaus Protagonisten der vollkommenen Einheit nur annähern – mehr nicht. Die Illusion kann noch so perfekt sein, es handelt sich dennoch nur um »eine Fiktion, ein symbolisches Spiel und nicht die wahre Rückkehr zum Ursprung« (Starobinski 2003: 140). Ein Hauch von Vergeblichkeit umweht alle Versuche, eine neue Unmittelbarkeit herzustellen. Starobinski weist etwa auf die elegische Stimmung hin, die das Weinlesefest in Clarens durchzieht (vgl. ebd.: 137-140). St. Preux braucht den Blick Wolmars nicht mehr zu fürchten, er hat seine unstatthafte Leidenschaft überwunden und ist Teil der intimen Gemeinschaft geworden. Dennoch kann er sich der wehmütigen Erinnerungen nicht erwehren, die ihn überkommen, wenn er den Liedern der Weinleserinnen lauscht: »Claire kann es sich nicht verkneifen zu lachen, Julie zu erröten, ich zu seufzen, wenn wir in diesen Liedern Wendungen und Ausdrücke wiederfinden, die wir früher benutzt haben. Wenn ich dann meine Augen auf sie richte und mich an die lange zurückliegenden Zeiten erinnere, überkommt mich ein Zittern, eine unerträgliche Last senkt sich plötzlich auf mein Herz und hinterlässt einen unheilvollen Eindruck, der nur unter Schmerzen vergeht.« (Julie II 609)
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Das Glück der Gemeinschaft ist eben nur fast ungetrübt, die Gefühle von einst sind nur fast überwunden. Was auch immer das in Clarens gelebte Pathos der Authentizität verheißen mag – ein vollkommen ungezwungenes Beisammensein ist für die ehemals Liebenden nie wieder möglich. Es bedarf der fortwährenden Wachsamkeit und moralischen Anstrengung, um die Illusion der wiedergefundenen Unschuld aufrechtzuerhalten. Nicht anders sieht es im Falle der sündig gewordenen Menschheit aus. Mit dem Naturzustand ist etwas verloren gegangen, das sich nicht wirklich ersetzen lässt; ein Riss hat sich aufgetan, der nicht wirklich geheilt werden kann. Die Verfallsgeschichte, die mit der Vergesellschaftung des Menschen begonnen hat, lässt sich allenfalls verlangsamen. Aus dieser Perspektive betrachtet stellt Rousseaus Ideal der Einheit weniger den krönenden Abschluss einer dialektischen Entwicklung dar als den letztlich vergeblichen Versuch, die Fahrt in den Abgrund aufzuhalten und die Wirkungen der Spaltung für den Moment zu suspendieren (vgl. Baczko 1970: 134). Für die Republik bringt Rousseau diese Aussicht recht deutlich zur Sprache: Der politische Körper trägt die Keime seines Verfalls von Anfang an in sich. Selbst die beste Verfassung kann den unvermeidlichen Niedergang nur hinauszögern (vgl. CS III 424). Mit derselben Erkenntnis konfrontiert uns das Ende der Nouvelle Héloïse: Selbst Julie konnte den Sieg ihrer Tugend nur von einem Tag auf den nächsten verteidigen. »Ich wage es, auf die Vergangenheit stolz zu sein; aber wer hätte mir für die Zukunft bürgen können? Ein Tag mehr vielleicht, und ich wäre schuldig geworden!« (Julie II 741) Erst der Tod rettet sie endgültig vor dem fortwährend drohenden Rückfall.12 Die Sehnsucht nach der erneuerten Einheit muss vergeblich bleiben, so viel ist sicher. Einmal aus der Ordnung der Natur gefallen, kann der Mensch nicht mehr an seinen Platz zurückkehren. Aber vielleicht reicht das Problem ja noch tiefer: Was ist, wenn dem Menschen gar kein Platz zugewiesen ist in der göttlichen Ordnung? Wenn das Prinzip Natur ausfällt, um die Einheit zu bewirken und zu garantieren?
12 In einer ähnlichen Situation befindet sich auch der savoyische Vikar, der auf verlorenem Posten gegen seine sexuellen Begierden ankämpft (vgl. Emile IV 604f.). Solange die Heimsuchungen des Begehrens andauern, kann die Tugend nicht wirklich siegen. Erst der Tod und die damit verbundene Befreiung vom sündigen Leib werden dem Vikar ein Leben ohne Spaltung, »ohne Widerspruch, ohne Teilung« (ebd.), ermöglichen.
2. Unheilbare Spaltung
2.1 D IE
URSPRÜNGLICHE
S PALTUNG
Im Zweiten Diskurs stellt sich Rousseau der Aufgabe, den ursprünglichen Platz des Menschen in der Ordnung der Natur zu bestimmen. Doch gleichzeitig ist seine Skepsis gegenüber dem eigenen Vorhaben unverkennbar. Ist es überhaupt möglich, die wahre Natur des Menschen zu erkennen? Sobald der Mensch sich die Frage danach überhaupt stellen kann – sobald er anfängt, sich selbst zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen –, ist er eigentlich schon nicht mehr in der Lage, sie zu beantworten (vgl. Inston 2010: 16f.). Der gesellschaftliche Mensch hat sich viel zu weit von seinem Ursprung entfernt, der Blick zurück ist durch die erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse verstellt. »Was noch grausamer ist: Da alle Fortschritte der menschlichen Art diese ununterbrochen von ihrem ursprünglichen Zustand entfernen, berauben wir uns, je mehr wir an neuen Erkenntnissen ansammeln, um so mehr der Mittel, die wichtigste von allen zu erlangen, und in gewissem Sinne haben wir uns durch das Studium des Menschen außerstande gesetzt, ihn zu erkennen.« (DI III 122f.)
Eben diese Verblendung macht Rousseau denen zum Vorwurf, die sich auf die Natur des Menschen beziehen, um daraus Normen für die Gesellschaft abzuleiten. Die Vertreter der Naturrechtslehre machen es sich in seinen Augen allzu leicht, weil sie den Menschen nur betrachten, wie er ist, ohne zu reflektieren, dass und wie er zu dem geworden ist, was er ist. So projizieren sie auf den vermeintlichen Naturzustand lediglich die willkürlichen Erkenntnisse, die sie aus ihren Analysen der gegenwärtigen Gesellschaft gewonnen haben: »Schließlich haben alle [...] auf den Naturzustand Vorstellungen übertragen, die sie der Gesellschaft entnommen hatten; sie sprachen vom wilden Menschen und beschrieben den bürgerlichen Menschen.« (Ebd.: 132; vgl. ebd.: 125) Um diesen Fehler
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zu vermeiden, kann Rousseau seinen »wahrhaften Naturzustand« (ebd.: 219) nur radikal von jeder gesellschaftlichen Teleologie abkoppeln. Nichts, was die menschliche Gesellschaft kennzeichnet, ist in der Natur des Menschen angelegt oder lässt sich aus dieser begründen. Deshalb beschreibt Rousseau den homme naturel als ein Wesen, dem alles Menschliche fremd ist (vgl. Meier 2008a: LXI). Wenn man all den gesellschaftlichen Schlick abträgt, dann kommt nichts anderes zum Vorschein als ein Tier: »Wenn ich dieses so verfasste Wesen aller übernatürlichen Gaben, die es hat empfangen können, und aller künstlichen Fähigkeiten, die es nur durch langwierige Fortschritte hat erwerben können, entkleide; wenn ich es, mit einem Wort, so betrachte, wie es aus den Händen der Natur hat hervorgehen müssen, dann sehe ich ein Tier, das weniger stark als die einen, weniger flink als die anderen, aber alles in allem am vorteilhaftesten von allen organisiert ist [...]« (DI III 134f.).
Der homme naturel ist ein Tier wie jedes andere. Mit einem entscheidenden Unterschied jedoch. Als menschliches Alleinstellungsmerkmal identifziert Rousseau die »Eigenschaft, ein frei Handelnder zu sein« (ebd.: 141). Das nichtmenschliche Tier folgt seinen Instinkten, ohne Ausnahme – es kann gar nicht vom Plan der Natur abweichen. Auch der Mensch empfängt die Befehle der Natur, trotzdem handelt er »durch einen Akt der Freiheit« (ebd.), da er ihnen im Gegensatz zum Tier den Gehorsam verweigern kann. Die Freiheit des Menschen, seine fehlende Instinktgebundenheit,1 ist für Rousseau eine zwiespältige Angelegenheit. Einerseits zeigt sich darin die »Geistigkeit seiner Seele« (ebd.: 142). Andererseits wird die Freiheit dem Menschen zum Verhängnis, sie ist die Voraussetzung seiner Depravation – »weil der Geist die Sinne verdirbt, und der Wille noch spricht, wenn die Natur schweigt« (ebd.: 141). Gerade weil der Mensch ein frei Handelnder ist, kann er aus der Ordnung der Natur heraustreten. Noch deutlicher wird die Ambivalenz der hervorstechenden Eigenart des Menschen, wenn Rousseau sie als die Fähigkeit sich zu vervollkommnen definiert (vgl. ebd.: 142). Handlungsfreiheit und Perfektibilität hängen unmittelbar zusammen: Weil der Mensch als einziges Tier dazu in der Lage ist, sich gegen die natürlichen Instinkte zu stellen, kann er auch als einziges Tier über seine ur-
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Diese Freiheit im Sinne der fehlenden Instinktgebundenheit weist in eine ganz andere Richtung als die Freiheit, die sich im Gleichgewicht von Wünschen und Fähigkeiten realisiert: Sie ist weniger natürliche Freiheit als vielmehr Freiheit von der Natur. Gleichwohl besitzt der Mensch sie von Natur aus; darin liegt das Paradoxe der menschlichen Perfektibilität.
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sprüngliche Natur hinauswachsen und sich in einer Weise weiterentwickeln, die im Plan der Natur nicht vorgesehen ist. Der Begriff der Vervollkommnung ist hier etwas irreführend. Rousseau denkt die Perfektibilität gerade nicht im Sinne einer teleologischen Entfaltung (vgl. Starobinski 2003: 435). Die virtuellen Fähigkeiten, die im Innern des Menschen schlummern, könnten gut und gern für immer inaktiv bleiben. Die Natur hat sie lediglich für die entsprechenden Gelegenheiten bereitgestellt, auf Abruf. Nur »bei Bedarf« (DI III 152; Emile IV 304) entfalten sie sich; es braucht den Anstoß von außen, das »zufällige Zusammentreffen mehrerer fremder Ursachen, die auch niemals hätten entstehen können« (DI III 162). Man versteht Rousseau also falsch, wenn man hier an im Vorhinein genau definierte Fähigkeiten denkt, die auf ihre Aktualisierung warten. Vielmehr verweist der Begriff der Perfektibilität darauf, dass der Mensch als einziges Tier flexibel auf neue Anforderungen reagieren kann, indem er völlig neue Fähigkeiten ausbildet, wenn veränderte äußere Umstände danach verlangen (vgl. Meier 2008b: 134f.). Rousseaus Versuch, die ursprüngliche Natur des Menschen zu bestimmen, nimmt also eine bemerkenswerte Wendung. Während er alle positiven Definitionen des Menschen ablehnt, da sie sich fälschlicherweise auf den homme civil beziehen, erkennt er als differentia specifica des Menschen einzig dessen Unbestimmtheit an: das Fehlen einer strikten Festlegung durch die Natur und die unbegrenzte Möglichkeit, sich über die Natur hinaus weiterzuentwickeln. Von Natur aus ist der Mensch nichts, und gerade deshalb kann er wider die Natur alles werden.2 Damit fällt die Natur als festes Fundament der menschlichen Existenz aus. Für den Menschen ist in der natürlichen Ordnung kein Platz vorgesehen – er wird erst zum Menschen, sobald er die Ordnung verlassen hat. »Die Natur des Menschen besteht darin, keine Natur zu haben.« (Lacoue-Labarthe 2004: 36) Im Laufe unserer Untersuchung haben wir bereits ein Wesen kennengelernt, dessen Natur darin besteht, keine Natur zu haben: die Frau. Natürliche Weiblichkeit, das hat unsere Lektüre des Emile ergeben, ist beinahe gleichbedeutend mit Gesellschaftlichkeit. Die Frau ist von Natur aus kein natürliches Wesen. Sie ist vollständig auf den Anderen hin orientiert, sie lebt in einer Welt des Scheins, sie kennt das Begehren und die Tücken der Sprache – mit einem Wort: Sie ist ein gespaltenes Wesen. Nun ist der homme naturel freilich gerade keine Frau. Er verkörpert ein Ideal der Einheit, dem alles Weibliche fremd ist: Er ist selbstgenügsam, authentisch, ohne Begehren, sprachlos. Wir wollen aber nun für einen
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Vgl. auch de Man 1979: 140. Vgl. auch Strauss, dort jedoch in kritischer Absicht: »Der Mensch besitzt keine Natur im strengen Sinne, die dem, was er aus sich selbst machen kann, eine Grenze setzen würde.« (Strauss 1956: 283)
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Moment diese Ebene des allzu Offensichtlichen verlassen und stattdessen danach fragen, wieviel femme im homme naturel steckt. Bei dieser Spurensuche durch den Naturzustand werden wir Hinweise darauf finden, inwiefern der homme naturel – in Rousseaus Denksystem eigentlich die paradigmatische Figur der Einheit – bereits ein Wesen der Spaltung ist. Der homme naturel ist, wie wir wissen, völlig ungesellig: In seiner Welt existiert der Andere nicht. Die Abwesenheit des Anderen garantiert im Naturzustand die in sich geschlossene Einheit des Selbst. Aber ist das wirklich so? Beginnen wir unsere Spurensuche bei den »ersten und einfachsten Operationen der menschlichen Seele« (DI III 125): Selbstliebe und Mitleid. Es liegt nahe, beim Mitleid anzufangen, um nach dem Anderen im Naturzustand zu suchen. Schließlich handelt es sich dabei um die einzige natürliche Regung, die zugleich relativ ist, sich also auf den Anderen bezieht. Damit haftet dem Mitleid bereits etwas Irritierendes an: Als Beziehungsgefühl will es nicht so recht zur reinen Selbstbezüglichkeit des homme naturel passen. Im Zweiten Diskurs pocht Rousseau darauf, dass die pitié natürlichen Ursprungs ist und der Reflexion vorausgeht – nicht weniger als dreimal findet dieser Umstand Erwähnung.3 Im Vergleich dazu überrascht der Kontext, in den der Essai über den Ursprung der Sprachen das Mitleid setzt – nämlich als eine Art Beleg für die These, dass sich die sozialen Gefühle erst mit dem Reflexionsvermögen entwickeln, dem Menschen des ursprünglichen Naturzustandes also fremd sind (vgl. EOL V 395).4 Dennoch stimmen Essai und Diskurs in einem wesentlichen Punkt überein: Das Mitleid entsteht durch die Identifikation mit dem leidenden Anderen. Aber nur der Essai gibt nähere Auskünfte darüber, welche Implikationen diese
3
Vgl. »eine dem Menschen um so universellere und um so nützlichere Tugend, als sie bei ihm dem Gebrauch jeder Reflexion vorausgeht, und eine so natürliche, dass selbst die Tiere manchmal wahrnehmbare Zeichen davon geben« (DI III 154); »die reine Bewegung der Natur, jeder Reflexion vorausgehend« (ebd.: 155); »ein natürliches Gefühl [...] ohne Reflexion« (ebd.: 156).
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Derrida nimmt diesen Widerspruch zwischen Diskurs und Essai, den er als vermeintlichen entlarven möchte, zum Ausgangspunkt seiner Auseinandersetzung mit dem Mitleid (vgl. Derrida 1967: 243-272). Dabei weist er zu recht darauf hin, dass Rousseau durchgängig die Einbildungskraft als Voraussetzung des Mitleids sieht und insofern der Essai mit dem Diskurs und dem Emile übereinstimmt. Unklar bleibt jedoch nach wie vor der Zusammenhang zwischen Reflexion und Identifikation. Während der Essai offenbar von einer positiven Korrelation ausgeht, bestimmt der Diskurs diesen Zusammenhang eindeutig negativ (vgl. DI III 155f.). Zu klären wäre hier möglicherweise der jeweils zugrundegelegte Begriff der Reflexion.
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Erkenntnis nach sich zieht, und entwickelt eine Theorie des Mitleids, die sich – zum Teil wortgleich – auch im Emile wiederfindet. »Wie lassen wir uns zum Mitleid rühren? Indem wir aus uns selbst heraustreten; indem wir uns mit dem leidenden Wesen identifizieren« (ebd.; vgl. Emile IV 505), »indem wir sozusagen unser eigenes Wesen verlassen, um das seine anzunehmen« (Emile IV 505). »Wir leiden nur, soweit wir meinen, dass es leidet; nicht in uns, sondern in ihm leiden wir.« (EOL V 395; Emile IV 505f.)
Sich mit dem Anderen zu identifizieren bedeutet, aus sich selbst herauszutreten und sich an die Stelle des Anderen zu setzen. Dieser Vorgang verlangt jedoch nach einer aktiven Einbildungskraft: »Also wird niemand empfindungsfähig, bevor seine Einbildungskraft sich belebt und beginnt, ihn aus sich heraustreten zu lassen.« (Emile IV 506) Das Mitleid kann daher nicht ins Spiel kommen, bevor es von der Einbildungskraft geweckt wird (vgl. EOL V 395). Auch Emile lässt sich erst nach der zweiten Geburt, wenn das »Feuer der Einbildung« (Emile IV 504) in ihm entzündet ist, vom Leid der Anderen anrühren. Vorher kennt er nur sein eigenes Leid (vgl. ebd.). Im Essai und im Emile betont Rousseau, wie voraussetzungsreich der Vorgang der Identifikation ist. Der mitleidende Mensch muss erst eine Vorstellung vom Leid des Anderen haben, er muss wissen, dass der Andere leidet. Und er muss den Anderen als seinen Mitmenschen erkennen – er muss sich also selbst zum Anderen in Beziehung setzen, sich mit ihm vergleichen, um die gemeinsame Leidensfähigkeit zu entdecken: »Man bedenke, wieviel dieses Heraustreten an erworbenen Kenntnissen voraussetzt! Wie würde ich mir Übel ausmalen, von denen ich keine Vorstellung habe? Wie sehr würde ich dabei leiden, einen anderen leiden zu sehen, wenn ich nicht einmal weiß, dass er leidet, wenn ich nicht weiß, was er und ich gemeinsam haben?« (EOL V 395) »Um empfindungsfähig und mitleidig zu werden, muss das Kind wissen, dass es Wesen gibt, die ihm gleichen, die leiden, so wie es gelitten hat, die dieselben Schmerzen empfinden, die es empfunden hat, und andere, von denen es eine Vorstellung haben muss, als könne es sie auch fühlen.« (Emile IV 505)
Nicht genug damit: Das Leid der Anderen wird erst in Erinnerung oder in Erwartung eigenen Leidens erfahrbar. »Wenn man gelitten hat oder wenn man fürchtet zu leiden, bedauert man jene, die leiden [...]« (Ebd.: 514). Das Mitleid setzt also auch Erinnerungs- und Antizipationsvermögen voraus, die Vorstellung einer sich über den unmittelbaren Augenblick hinaus erstreckenden Zeitlichkeit (vgl. Der-
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rida 1967: 270f.). Gerade diese Bedingung zeichnet das Mitleid als eine rein menschliche Angelegenheit aus – den Tieren fehlt die Fähigkeit, Schmerzen und vor allem den eigenen Tod vorauszusehen (vgl. Emile IV 508f.). Im Diskurs findet sich wohlweislich nichts von alledem. Hier will Rousseau das Mitleid gerade nicht als voraussetzungsreich darstellen, sondern ganz im Gegenteil als spontan, ursprünglich, allen menschlichen Verirrungen vorausliegend – »so natürlich, dass selbst die Tiere manchmal wahrnehmbare Zeichen davon geben« (DI III 154). Trotz allem kommt er aber auch hier nicht umhin, als das Wesen des Mitleids die Identifikation zu bestimmen – und damit die Fähigkeit, aus sich selbst herauszutreten, um sich an die Stelle eines anderen zu versetzen. »Tatsächlich wird das Mitleid um so stärker sein, je inniger sich das zuschauende Tier [l’animal Spectateur] mit dem leidenden Tier identifiziert: Nun ist es aber offensichtlich, dass diese Identifikation im Naturzustand unendlich viel enger hat sein müssen als im Zustand der Vernunfterwägung.« (Ebd.: 155f.)
Die ausgesprochen »theatralische Metaphorik« (Lacoue-Labarthe 2004: 49),5 die in der Rede vom animal spectateur aufscheint, betont sogar noch, was sich ohnehin kaum leugnen lässt: Die Identifikation mit dem Anderen ist nicht vorstellbar ohne das Wirken der Einbildungskraft, die den Horizont des Menschen zwangsläufig auf den Anderen hin und über die reine Gegenwärtigkeit hinaus öffnet.6 Damit weist ausgerechnet eine der beiden ursprünglichsten Regungen des homme naturel weit über die Einheit einer in sich geschlossenen Existenz hinaus. Für den jungen Emile eröffnet die Einbildungskraft die Möglichkeit des Mitleids im selben Augenblick wie die Möglichkeit des Begehrens. Diesen Umstand macht sich der Erzieher für die erotische Erziehung seines Schützlings zunutze: Indem zunächst das Mitleid kultiviert wird, kann das Erwachen des Begehrens hinausgezögert werden. Das Mitgefühl für die leidende Gattung soll vorerst die Leidenschaft für das schöne Geschlecht ersetzen.
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Zur Theatralik des Mitleids vgl. auch Derrida 1967: 262; de Man 1993: 216; Matthes 2000: 100.
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Daher stimme ich hier nicht mit Wingrove überein, die das Mitleid im Diskurs als konsistent mit der Einheit des Selbst versteht (vgl. auch Bradshaw 2002: 68), während erst das kultivierte Mitleid im Emile das Bewusstsein einer Spaltung des Selbst voraussetze, vgl. Wingrove 2000: 32. Vgl. dazu auch Kuster 2005: 165-168, die das Mitleid als expansive Selbstüberschreitung deutet, die gerade kein Moment der Selbstreflexivität und der Öffnung auf den Anderen hin enthalte.
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»Das erste Gefühl, dessen ein sorgfältig erzogener junger Mann fähig ist, ist nicht die Liebe, sondern die Freundschaft. Die erste Tat seiner erwachenden Einbildungskraft ist, ihn zu lehren, dass es Seinesgleichen gibt, und die Art rührt ihn vor dem Geschlecht an. Hier zeigt sich also ein weiterer Vorteil der verlängerten Unschuld; nämlich, die entstehende Empfindsamkeit zu nutzen, um die erste Saat der Menschlichkeit in das Herz des jungen Erwachsenen zu säen.« (Emile IV 502)
Es ist höchst bezeichnend, dass Emiles neu erwachtes Gefühl der Freundschaft im Folgenden nicht dazu führt, dass der junge Mann tatsächlich Freundschaften schließt – der Erzieher wird zeitlebens sein einziger Freund bleiben. Vielmehr wird von nun an Emiles Wohltätigkeit im Sinne einer generalisierten humanité gefördert. Sein Mitleid wird als Gefühl kultiviert, das sich auf die ganze Menschheit bezieht: Er soll sich mit dem universalisierten Anderen identifizieren, nicht mit dem konkreten Anderen (vgl. Bürgin 2008: 112f.). Er soll die Gemeinsamkeiten der Gattung wahrnehmen, nicht die Unterschiede zwischen Einzelnen. Anders gesagt: Emile soll keine Präferenzen entwickeln. Nur so, in seiner universalisierten Form, kann das Mitleid dem Begehren vorbeugen.7 Das Mitleid des homme naturel dagegen ist kein generalisiertes Gutmenschentum, sondern die spontane Regung des sich identifizierenden animal spectateur. Es bezieht sich exklusiv auf das animal souffrant, den konkret in seinem Leiden erlebten Anderen. Bemerkenswerterweise entspricht die natürliche pitié damit weniger Emiles kultiviertem Mitleid als vielmehr dem weiblichen Einfühlungsvermögen (vgl. Seite 69f.): Der Blick richtet sich auf den leidenden Menschen, nicht auf das Leiden der Menschheit. Was ist nun mit der anderen ursprünglichen Operation der menschlichen Seele? Die Selbstliebe zumindest scheint über jeden Verdacht erhaben, der Spaltung Vorschub zu leisten. Wie wir gesehen haben, steht sie geradezu paradigmatisch für den reinen, unmittelbaren Selbstbezug des natürlichen Menschen. Im
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Die Rolle des universalisierten Mitleids als Gegenspieler zum Begehren zeigt sich beispielhaft in einer Episode, in der Emile nicht wie üblich bei Sophie erscheint, weil er auf dem Weg zu ihr einen Verletzten aus einer Notlage gerettet und anschließend dessen Frau bei der Niederkunft geholfen hat (vgl. Emile IV 810-813). Am nächsten Tag erklärt er seiner Geliebten feierlich, dass selbst die Liebe zu ihr ihn niemals die »Rechte der Menschlichkeit« (ebd.: 812) vergessen lassen wird. Für Sophie freilich ergibt sich überhaupt kein Widerspruch zwischen Mitleid und Liebe, weil sich ihr Mitleid auf den konkreten Anderen bezieht, nicht auf die abstrakten Rechte der Menschlichkeit (vgl. ebd.: 813f.). Zur Interpretation dieser Szene vgl. Marso 1999: 44f.
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Gegensatz zum gesellschaftlich erworbenen amour propre ist der amour de soi gerade kein sentiment rélatif. Darauf läuft Rousseaus strikte Unterscheidung zwischen beidem hinaus (vgl. DI III 219). Seine Argumentation an dieser Stelle verdient jedoch volle Aufmerksamkeit: »Dies wohl verstanden, sage ich, dass in unserem usprünglichen Zustand, im wahrhaften Naturzustand, der amour propre nicht existiert; denn da jeder einzelne Mensch sich selbst als den einzigen Zuschauer, der ihn beobachtet, als das einzige Wesen im Universum, das Interesse an ihm nimmt, als den einzigen Richter über sein eigenes Verdienst ansieht, ist es nicht möglich, dass ein Gefühl, das aus Vergleichen entspringt, die er nicht anzustellen vermag, in seiner Seele keimen kann [...]« (ebd.).
Die Absicht dieser Passage ist offensichtlich: Rousseau möchte den homme naturel mit Verweis auf dessen fehlende Soziabilität vom Laster des amour propre freisprechen. Zwischen der ruhigen Selbstliebe des Naturzustands und der verderblichen Lust am sozialen Vergleich besteht angeblich ein himmelweiter Unterschied. Entgegen dieser Aussageabsicht wirkt der hier beschriebene natürliche Mensch jedoch ziemlich beschäftigt: Er beobachtet, nimmt Interesse, urteilt über Verdienste. Das erinnert bereits allzu sehr an die rastlose Betriebsamkeit des homme de l’homme, auch wenn sich diese intensive Aufmerksamkeit noch nicht auf den Anderen, sondern nur auf das eigene Selbst richtet. Überraschenderweise tritt die Selbstliebe hier in der Tat, trotz gegenteiliger Behauptung, als sentiment rélatif in Erscheinung: Sie setzt den Menschen mit sich selbst in Beziehung. Der homme naturel, der zum eigenen Zuschauer und Richter wird, besitzt offensichtlich bereits die Fähigkeit, aus sich selbst herauszutreten, um sich von außen zu betrachten und zu beurteilen. Auch beim vermeintlich unschuldigen amour de soi ist also schon die Einbildungskraft mit im Spiel:8 Es gilt, sich selbst mit Blick auf sich selbst zu definieren. Der Andere fehlt in dieser Konstellation zwar noch, sein Platz ist jedoch bereits strukturell gesetzt. Der selbstreflexive Blick des homme naturel erinnert an das kleine Mädchen aus dem Emile, das im Spiel mit seiner Puppe bereits die Perspektive der Anderen einnimmt, die es später als erwachsene Frau verinnerlicht haben wird (vgl. Emile IV 707). An die Stelle einer unvermittelten Einheit des Selbst tritt die Trennung zwischen dem Ich als Sub-
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Für die Einbildungskraft als Voraussetzung des amour de soi lässt sich auch argumentieren, wenn man davon ausgeht, dass die Selbstliebe letztlich – trotz Rousseaus gegenteiliger Beteuerungen – auf der Furcht vor dem Tod beruht und damit das Antizipationsvermögen bzw. das Todesbewusstsein voraussetzt. Vgl. Lacoue-Labarthe 2004: 47.
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jekt und dem Ich als Objekt,9 oder anders gesagt: die Trennung zwischen Zuschauer und Darsteller. Rousseau bedient sich hier in der Beschreibung der Selbstliebe derselben theatralischen Metaphorik wie schon im Falle des Mitleids (vgl. Lacoue-Labarthe 2004: 50). Rousseaus homme naturel soll die bruchlose Einheit des Selbst verkörpern, den Einen, für den der Andere noch nicht existiert. Selbstliebe und Mitleid hinterlassen aber bereits einen ambivalenten Eindruck: So spontan und ursprünglich sie auch erscheinen mögen, so verlangen sie doch bereits nach dem Wirken der Einbildungskraft und setzen die Spaltung des Selbst gewissermaßen voraus. Während der Diskurs sich bemüht, Selbstliebe und Mitleid gegen das Prinzip einer natürlichen Soziabilität in Stellung zu bringen (vgl. DI III 126), erweisen sie sich so tatsächlich als eine Art Platzhalter für die soziale Orientierung des Menschen. Im Falle der pitié macht Rousseau darauf sogar unwillkürlich selbst aufmerksam: »Es ist [das Mitleid], das im Naturzustand die Stelle der Gesetze, der Sitten und der Tugend vertritt, mit dem Vorteil, dass niemand versucht ist, seiner süßen Stimme den Gehorsam zu versagen [...]« (ebd.: 156). In einer eigenwilligen Umkehrung des Gedankengangs ersetzt hier das natürliche Mitleid schon einmal das, wodurch es dann nach dem gesellschaftlichen Sündenfall ersetzt werden muss (vgl. Derrida 1967: 249). Selbstliebe und Mitleid machen den homme naturel in gewissem Sinne zum Zuschauer – aber ist er auch schon Darsteller? Die Spaltung zwischen Selbst und Anderem führt bei der Frau – nicht anders als beim homme de l’homme – notwendig auch zur Spaltung zwischen Sein und Scheinen. Weil sie in den Blicken der Anderen lebt, wird sie zur Darstellerin ihrer selbst. Den homme naturel dagegen haben wir als Paradigma authentischen Selbstseins kennengelernt. Aber auch hier kann der erste Eindruck trügen. Eigentlich ist es ein Mangel, der den Menschen gegenüber allen anderen Tieren auszeichnet, ein Produktionsfehler der Natur: Ihm fehlt die Sicherheit des Instinkts, der ihm unzweifelhaft seinen Platz innerhalb der natürlichen Ordnung zuweisen könnte. Die Natur hat den Menschen jedoch mit Fähigkeiten ausgestattet, die ihn für diesen Mangel entschädigen, die den fehlenden Instinkt ersetzen: »Der wilde Mensch, von der Natur dem bloßen Instinkt überlassen, oder vielmehr für den Instinkt, der ihm vielleicht fehlt, durch Fähigkeiten entschädigt, die diesen zunächst ersetzen und den Menschen danach weit über die Natur hinausheben können, wird also mit den rein tierischen Funktionen beginnen [...]« (DI III 142f.).
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Vgl. dazu de Man 1979: 164f.; Zerilli 1994: 27f.; Korecky 2012.
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Dabei ist es gerade der Mangel des Menschen, der sich für ihn als Vorteil herausstellt und ihn letztlich über die anderen Tiere erhebt. Weil ihm kein Verhalten natürlich vorgegeben ist, kann er sich jede beliebige Verhaltensweise durch Beobachtung und Nachahmung aneignen: »Die Erde, die ihrer natürlichen Fruchtbarkeit überlassen und von unermesslichen Wäldern [...] bedeckt ist, bietet den Tieren jeder Art auf Schritt und Tritt Vorratslager und Schlupfwinkel. Die Menschen, die unter ihnen verstreut leben, beobachten ihre Fertigkeit, ahmen sie nach, und erheben sich so bis zum Instinkt der Tiere, mit dem Vorteil, dass jede Art nur den ihr eigenen hat, und der Mensch, der vielleicht keinen hat, der ihm eigen ist, sie sich alle aneignet, sich von der Mehrzahl der verschiedenen Nahrungsmittel in gleicher Weise ernährt, die die anderen Tiere sich aufteilen, und folglich seinen Lebensunterhalt leichter findet, als es irgendeines von ihnen vermag.« (Ebd.: 135)10
Das besondere Talent des Menschen, das ihn für seinen Mangel entschädigt, ist die Nachahmung. Insofern die Natur ihm den eigenen Instinkt vorenthalten hat, ist der Mensch kein Tier wie die anderen Tiere – aber er kann so tun als ob, indem er sie imitiert. Der homme naturel ist also, wie Lacoue-Labarthe feststellt, in gewisser Weise ein Schauspieler (vgl. Lacoue-Labarthe 2004: 42ff.): Gerade weil er nicht auf eine Rolle festgelegt ist, kann er jede Rolle übernehmen. Diese Erkenntnis muss überraschen, insofern Rousseau freilich nichts ferner liegen würde, als ausgerechnet den Schauspieler als Verkörperung des natürlichen Menschen zu feiern. Das Gegenteil ist der Fall. Im Brief an d’Alembert lässt er keinen Zweifel daran offen, was ihm an der Kunst des Schauspielers missfällt: »Was ist das Talent des Komödianten? Die Kunst, sich zu verstellen, einen anderen Charakter als den eigenen anzunehmen, anders zu erscheinen, als man ist, sich kaltblütig zu erregen, andere Dinge zu sagen, als man denkt, genauso natürlich, als ob man sie wirklich denken würde, und schließlich seinen eigenen Platz dadurch zu vergessen, dass man denjenigen eines anderen einnimmt.« (LdA V 72f.)
Der Schauspieler ist nicht, was er scheint, und er meint nicht, was er sagt. Nirgends tut sich die Differenz zwischen Sein und Schein so deutlich auf wie im Theater. Für Rousseau wird der Schauspieler so zum Paradigma des gesellschaft-
10 Die Aussage, dass der Mensch keinen eigenen Instinkt hat, wird in beiden Zitaten durch das vielleicht abgeschwächt; möglicherweise kann man hier eine gewisse Scheu vor den radikalen Implikationen dieser Aussage erkennen.
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lich entfremdeten Menschen, der hinter all den Masken sein wahres Ich längst verloren hat. Das Verstörendste an der Schauspielkunst ist nämlich der Umstand, dass sie gerade dann am überzeugendsten ist, wenn der Mensch hinter der Rolle vollständig verschwindet – wenn nur noch Schein übrig bleibt: »Aber ein Komödiant auf der Bühne, der andere Gefühle als die seinen ausstellt, der nur das sagt, was man ihn sagen lässt, der oftmals ein schimärisches Wesen darstellt, löscht sich sozusagen aus, hebt sich in seinem Helden auf, und wenn in diesem Vergessen des Menschen etwas von ihm übrig bleibt, dann zur Belustigung der Zuschauer.« (Ebd.: 74; vgl. Rebentisch 2012: 277f.; Vinken 1995: 195)
Der homme naturel soll eigentlich das Ideal der Authentizität verkörpern, die ungebrochene Einheit von Sein und Scheinen. Tatsächlich tritt er aber als Meister der Imitation auf, der sich in struktureller Hinsicht nicht vom Schauspieler unterscheidet – und damit auch nicht von der Frau. Das spezifisch Menschliche, die Perfektibilität, »hängt ganz und gar von der Gabe ab, alles sein zu können, weil man nichts ist, anders gesagt, spielen zu können« (Lacoue-Labarthe 2004: 44, Herv. i.O.). Als ursprünglich erweist sich so gerade nicht die Einheit von Sein und Scheinen – vielmehr fällt beides von Anfang an auseinander. Wenn die Perfektibilität bereits den homme naturel dazu bestimmt, die Ordnung der Natur zu verlassen und in die Ordnung des Sozialen einzutreten; wenn Selbstliebe und Mitleid ihn bereits auf den Anderen hin orientieren; wenn schließlich sein Mangel an natürlichen Instinkten ihn bereits zur Inauthentizität verdammt – dann stellt das alles die strikte Chronologie des Diskurses ebenso infrage wie Rousseaus Darstellung der Vergesellschaftung als kontingentes, von außen hereinbrechendes Verhängnis. Die Spaltung erscheint nun viel eher als eine Folge der Natur des Menschen, bzw. des Umstands, dass dem Menschen die Natur fehlt. Der Mensch ist ein hoffnungslos gesellschaftliches Wesen, von Anfang an durch seine radikale Unbestimmtheit aus der Ordnung der Natur ausgesetzt. Sein geschichtliches Missgeschick ist vorgezeichnet – schon allein durch das, was ihn von den anderen Tieren unterscheidet, seine Perfektibilität: »Es wäre traurig für uns, zugeben zu müssen, dass diese spezifische und fast unbegrenzte Fähigkeit die Quelle allen Unglücks des Menschen ist; dass sie es ist, die ihn mit der Zeit von dieser ursprünglichen Lage entfernt, in der er ruhige und unschuldige Tage verbringen könnte; dass sie es ist, die über die Jahrhunderte seine Einsichten und seine Irrtümer, seine Laster und seine Tugenden zur Entfaltung bringt und ihn so auf die Dauer zum Tyrannen seiner selbst und der Natur macht.« (DI III 142)
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Im zweiten Teil des Diskurses versucht Rousseau den Abgrund zwischen ursprünglicher Einheit und gesellschaftlicher Spaltung zu überbrücken, indem er lange Zeiträume, Zufälle und die Kontingenz der Katastrophe ins Feld führt. All das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das Vorher vom Nachher nicht so einfach abgrenzen lässt. Wann genau beginnt die Geschichte? Und wann beginnt die Entartung? Egal, wo man den Ausgangspunkt ansetzt – immer scheint die Spaltung schon vorher da gewesen zu sein. Unzweifelhaft markiert die Einführung des Eigentums für Rousseau einen entscheidenden point of no return. Danach, in der entfalteten bürgerlichen Gesellschaft, ist alles da, was den homme de l’homme kennzeichnet: »Nun sind also alle unsere Fähigkeiten entwickelt, die Erinnerung und die Einbildungskraft im Spiel, der amour propre interessiert, die Vernunft aktiviert und der Geist beinahe an der Grenze der Vollkommenheit angelangt, deren er fähig ist.« (Ebd.: 174) Aber wie wir gesehen haben, trägt die Vergesellschaftung des Menschen schon vorher pathologische Züge. Das Übel steckt bereits in der société naissante: Das dörfliche Fest lässt das Begehren und den Kampf um soziale Anerkennung aus dem ersten vergleichenden Blick entspringen, den die Menschen aufeinander werfen (vgl. ebd.: 169f.). Doch selbst von hier aus kann man noch einmal einen Schritt zurück gehen. Der allererste vergleichende Blick ereignet sich noch vor der société naissante, noch vor der Begegnung mit dem Anderen im Fest. Es ist der Blick, den der Mensch auf sich selbst wirft, um seinen Rang innerhalb der Ordnung der Natur abzuschätzen: »So erzeugte der erste Blick, den er auf sich selbst warf, in ihm die erste Regung des Hochmuts; so bereitete er sich, als er noch kaum die Rangverhältnisse zu unterscheiden vermochte und sich als Art auf dem ersten Rang sah, von weitem darauf vor, diesen als Individuum zu beanspruchen.« (Ebd.: 166)
Wir befinden uns hier am Anfang des zweiten Teils des Diskurses. Rousseau lässt uns wissen, dass an dieser Stelle gegenüber dem anfänglichen Naturzustand schon etwas in Bewegung geraten ist: Beschwerlichere äußere Umstände – »die Hindernisse der Natur« (ebd.: 165) – zwingen zur Konkurrenz mit den Tieren, zur Entwicklung verschiedener Lebensweisen, schließlich zu »einer Art von Reflexion« (ebd.). Doch was auch immer Rousseau behaupten mag: Genau besehen handelt es sich hier gar nicht um eine Weiterentwicklung aus dem ursprünglichen Naturzustand. Die Widrigkeiten der Natur begleiten den homme naturel von Anfang an, die Sorge um seine Selbsterhaltung zwingt ihn zur Auseinandersetzung mit den anderen Tieren, zur Beobachtung und Nachahmung ihrer Le-
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bensweisen, zur Ausbildung der eigenen Fertigkeiten (vgl. z.B. ebd.: 140). Wir kennen das alles bereits aus dem ersten Teil des Diskurses; nur dass uns diese Umstände dort als Teil einer statischen Beschreibung präsentiert wurden, während sie nun, zu Beginn des zweiten Teils, als Anstoß für die menschliche Geschichte firmieren (vgl. Meier 2008b: 174f.). Tatsächlich führt eine direkte Linie vom Interesse an der eigenen Selbsterhaltung, dem amour de soi, über die vergleichende Betrachtung des eigenen Selbst in Beziehung zur natürlichen Umgebung hin zur ersten Regung von Hochmut – dem ersten Bewusstsein der Relation von Selbst und Anderem, das Rousseau sogleich negativ konnotiert und mit dem amour propre in Verbindung setzt. Auch im Emile beginnt der erste Schritt der sozialen Entwicklung des Kindes tatsächlich schon lange vor der zweiten Geburt. Bereits die Tränen des Neugeborenen, die seine Bedürftigkeit anzeigen, legen ihn an die Ketten der gesellschaftlichen Abhängigkeit: »Aus diesen Tränen, die man für so wenig beachtenswert halten würde, entsteht die erste Beziehung des Menschen zu allem, was ihn umgibt: Hier wird das erste Glied jener langen Kette geschmiedet, aus der die gesellschaftliche Ordnung geformt ist.« (Emile IV 286) An dieser Stelle des Emile verschwimmt die sauber gezogene Trennlinie zwischen Bedürfnis und Begehren. Es ist nichts anderes als der unartikulierte Schrei der Natur, der erste Ausdruck des reinen Bedürfnisses, der das Kind bereits unwiderruflich in die Ordnung des Sozialen einfügt. In der Bedürftigkeit des Menschen scheint schon immer die Abhängigkeit vom Anderen auf – eine allgemeinmenschliche Erfahrung, die Rousseau sonst jedoch nur der Frau zugestehen möchte, während der Mann dauerhaft der Illusion einer souveränen und selbstgenügsamen Existenz aufsitzen soll. Tatsächlich ist jedes Bedürfnis auch schon Begehren: Selbst der reine Schrei der Natur enthält bereits den unkontrollierbaren Überschuss der Sprache, jedes aidez-moi ist bereits ein aimez-moi.11 All diese Erkenntnisse passen freilich nicht so recht zu der Vorher-NachherGeschichte, die Rousseau eigentlich erzählen will. Was sich hier abzeichnet, ist eine völlig andere Geschichte: Die Spaltung bricht nicht plötzlich von außen in den Ursprung ein. Sie war vielmehr schon immer da. Wenn die Spaltung immer schon da war, dann täuscht der Eindruck einer ursprünglichen Einheit. Der Mensch ist ein immer schon gespaltenes Wesen – aber er darf es nicht merken. Wie Emile muss er sich souverän in seinem kleinen Königreich fühlen. Wer aber sorgt dafür, dass diese Illusion aufrechterhalten bleibt? Emile braucht dazu, wie wir wissen, die verdeckte Macht des Erziehers. Die Illusion der Einheit wird für ihn nur durch die Figur des heimlichen Anderen mög-
11 Vgl. dazu Bürgin 2008: 86f., dort mit Bezug auf Lacan.
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lich, der hinter den Kulissen die Fäden zieht und gleichzeitig die Spuren seines Eingreifens sorgfältig verwischt. So wird die unvermeidliche Abhängigkeit von den Menschen mit viel Hokuspokus in die harmlose Abhängigkeit von den Dingen zurückverwandelt. Im Naturzustand gibt es die Abhängigkeit von den Menschen angeblich noch nicht, weil der homme naturel in seinem Universum alleine ist – er muss den Anderen nicht fürchten. Abhängig ist er nur von den Gegebenheiten der Natur. Hier lässt sich eine höchst erstaunliche Analogie zwischen Emiles Kindheit und der Kindheit des Menschengeschlechts herstellen: Tatsächlich ist es die Natur selbst, die Rousseau im Naturzustand immer wieder in der Rolle des heimlichen Anderen auftreten lässt. Mal erscheint sie als »sanfte Stimme« (DI III 156), die zum Mitleid mahnt; mal als »sehr weise Vorsehung« (ebd.: 152), die vor den schädlichen Leidenschaften bewahrt; dann wieder als Gott, der seine Gesetze wie ein législateur in das Herz des Menschen einschreibt (vgl. Emile IV 491). Am schönsten und deutlichsten kommt diese Rolle der Natur jedoch in einer Stelle aus dem Ersten Diskurs zur Sprache, die eigentlich die Problematik des menschlichen Erkenntniswillens thematisiert:12 »So sind also der Luxus, die Zügellosigkeit und die Sklaverei zu allen Zeiten die Strafe der hochmütigen Anstrengungen gewesen, die wir unternommen haben, um die glückliche Unwissenheit zu verlassen, in die uns die ewige Weisheit gesetzt hat. Der undurchdringliche Schleier, mit dem sie alle ihre Operationen bedeckt hat, schien uns hinlänglich zu mahnen, dass sie uns keinesfalls zu eitlen Untersuchungen bestimmt hat. [...] Völker, erkennt also ein für alle mal, dass die Natur uns vor der Wissenschaft bewahren wollte, so wie eine Mutter eine gefährliche Waffe aus den Händen ihres Kindes reißt; dass alle Geheimnisse, die sie vor euch versteckt, ebenso viele Übel sind, vor denen sie euch bewahrt, und dass die Mühsal, die ihr darin findet, euch Wissen anzueignen, nicht die geringste ihrer Wohltaten ist.« (DSA III 15; vgl. Zerilli 1994: 21f.; Makus 2002: 187f.)
Hier tritt die Natur als wohlmeinende Mutter in Erscheinung, die ihre Aktivitäten hinter einem undurchdringlichen Schleier verbirgt, um ihre Kinder in glücklicher Unwissenheit zu halten. So wie die tugendhafte Frau, die ihren Einfluss hinter dem Schleier der Scham versteckt, so wie der Erzieher, der sich selbst und sein Eingreifen unsichtbar macht, so sorgt Mutter Natur dafür, dass der Mensch nicht mitbekommt, auf welche Weise sie für das Wohl ihrer Kinder sorgt. Was die Wissenschaft zu einer so gefährlichen Waffe macht, ist ihr Versuch, diesen Schleier zu lüften – der Versuch, die verborgenen Mechanismen aufzudecken,
12 Ähnliche Stellen finden sich auch im Zweiten Diskurs, vgl. DI III 172, 202.
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die das Leben des Menschen bestimmen. Denn wie Emile bleibt der Mensch nur dann vor allen Gefahren bewahrt, wenn er nicht hinter die Kulissen seiner eigenen Welt blicken kann. Ist die Ordnung der Natur also nur eine Illusion, »das Ergebnis eines großangelegten Täuschungsmanövers« (Garbe 1992: 59)? Wenn der Begriff der Natur verschwimmt, die Natur als unhinterfragbarer Bezugspunkt wegfällt, dann tut sich hinter dem Schein der ursprünglichen Einheit der Abgrund der Spaltung auf.
2.2 D IE R EHABILITATION DER S PALTUNG Wir haben Rousseaus Ideale als künstliche Annäherungen an eine verlorene Natur kennengelernt, als Versuche einer Wiederherstellung der zerbrochenen ursprünglichen Einheit. Weil die Spaltung niemals restlos überwunden werden kann, bleiben diese Versuche vergeblich, sind die Ideale zum Scheitern verurteilt – ein Umstand, der wenig Hoffnung für das Schicksal des Menschen verheißt. Allerdings können wir nun auch noch aus einer anderen Perspektive auf Rousseaus Ideale blicken. Mit dem Verdacht, dass am Ursprung gar nicht die Einheit, sondern immer schon die Spaltung steht, ändern sich die Vorzeichen. Emiles Erziehung, die Ordnung von Clarens und die Republik orientieren sich an einer Vorstellung der natürlichen Einheit, die sich bei näherer Betrachtung als illusorisch erwiesen hat. Damit verlieren die Ideale ihre feste Grundlage. Die vermeintliche Wiederherstellung der Einheit hat gar kein Vorbild, auf das sie sich beziehen könnte. Die angebliche Rekonstruktion ist schlicht Konstruktion. Was das für Geschlechterordnung und Republik bedeutet, werden wir uns im Folgenden näher ansehen. Darüber hinaus verliert die Tatsache des Scheiterns der Ideale ihre Tragik, wenn der Mensch nicht von Natur aus zur Einheit bestimmt ist. Dass die vollkommene Einheit niemals erreicht werden kann, ist nicht unbedingt ein übles Verhängnis, das mit dem Sündenfall über die Menschheit gekommen ist. Vielmehr offenbart sich darin die Unmöglichkeit, menschliche Existenz ohne Spaltung zu denken. Rousseau ahnt durchaus, wie wir sehen werden, dass manche Träume besser nicht in Erfüllung gehen. Erst auf den zweiten Blick offenbaren sich am homme naturel Züge, die das Bild eines bruchlosen, sich selbst genügenden Wesens stören – Züge, die Rousseau eigentlich dem Geschlecht, das nicht eins ist, vorbehalten hat. Vor diesem Hintergrund wird nun auch zunehmend klar, warum die Frau in Rousseaus Kosmos der Einheit eine ständige latente Bedrohung darstellt. Natürlich geht es zunächst um ihre Rolle als Herrin über die Leidenschaften des Mannes: Sie hat es in der Hand, im Mann das Begehren zu wecken, das ihn unweigerlich zur sozia-
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len Existenz verdammt. Damit besitzt sie eine Macht, die sich leicht missbrauchen lässt. Tatsächlich geht jedoch noch eine viel weiter reichende Gefahr von ihr aus. Die Frau verkörpert Tendenzen, die auch im Mann angelegt sind – und zwar, wie wir gesehen haben, nicht erst im homme de l’homme, den die Gesellschaft und nicht zuletzt die Frauen verdorben haben, sondern bereits im homme naturel. Der Abgrund der Spaltung lauert von jeher im Menschen; und so ist es tatsächlich weniger die Frau, die der Mann fürchten muss, als die Konfrontation mit dem Weiblichen in sich selbst (vgl. Zerilli 1994: 18f.; Johnston 1999: 137; Snyder 1999: 59). Der Erzieher trifft also genau ins Schwarze, wenn er seinen Zögling angesichts der weiblichen Bedrohung warnt: »[E]in neuer Feind erhebt sich, den zu besiegen du noch nicht gelernt hast und vor dem ich dich nicht mehr retten kann. Dieser Feind bist du selbst.« (Emile IV 816) Rousseau unterscheidet zwei Möglichkeiten, mit der äußeren und inneren Bedrohung durch das Weibliche umzugehen. Die gute Variante ist die Geschlechterordnung. Sie neutralisiert die Bedrohung, indem sie das weibliche Gift in ein Heilmittel verwandelt. Sofern die Frau sich an die Regeln der Scham hält, kann sie den Mann vor der Konfrontation mit den eigenen Abgründen erfolgreich bewahren. Die schamhafte Frau personifiziert nicht nur all das, was der Mann im Sinne des Einheitsideals nicht sein darf; sie nutzt ihre weiblichen Schliche auch immer nur so weit, wie sie der Einheit des Mannes dienlich sind – etwa, wie die Frauen der Republik, um die männliche Tugend wachzuhalten und die Gemeinschaft der Freunde, Bürger und Soldaten zu einen. Die schlechte Variante ist dagegen die Auflösung der Geschlechterordnung im désordre des femmes. Hier verweigern sich die Frauen den Regeln der Scham und verfehlen damit das Ziel, die männliche Einheit zu bestätigen – logische Konsequenz ist denn auch die Erosion der Männlichkeit. Worin genau besteht die Differenz zwischen beiden Alternativen? Wir müssen uns noch einmal vergegenwärtigen, was eigentlich passiert, wenn der désordre des femmes um sich greift. Bei näherer Betrachtung fällt nämlich auf, wie außerordentlich schmal der Grat ist zwischen dem Gelingen der Geschlechterordnung und dem Abgleiten in die Pathologie einer aus den Fugen geratenen Geschlechtlichkeit. Tatsächlich hat die schamlose Frau mehr mit ihrer schamhaften Geschlechtsgenossin gemein, als Rousseaus moralische Entrüstung auf den ersten Blick erahnen lässt. »Der erste Nachteil der großen Städte ist, dass die Menschen dort anders werden, als sie sind, und dass die Gesellschaft ihnen sozusagen ein Wesen gibt, das sich von dem ihren unterscheidet. Das ist wahr, vor allem in Paris, und vor allem in Hinsicht auf die Frauen, die aus den Blicken der anderen die einzige Existenz beziehen, aus der sie sich etwas ma-
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chen. Wenn man sich bei einer Gesellschaft einer Dame nähert, sieht man anstelle einer Pariserin, die man zu sehen glaubt, nur ein Trugbild der Mode [un simulacre de la mode]. Ihre Größe, ihr Umfang, ihr Gang, ihre Figur, ihre Brust, ihre Farben, ihre Miene, ihr Blick, ihre Worte, ihre Verhaltensweisen, nichts von alledem ist ihr Eigen, und wenn man sie in ihrem natürlichen Zustand sehen würde, könnte man sie nicht wiedererkennen.« (Julie II 273)
Die schamlosen Pariserinnen, die St. Preux in seinem Brief anprangert, setzen sich bewusst in Szene, um die Blicke der Männer auf sich zu ziehen. In ihrer Effekthascherei verfehlen sie, sich so zu zeigen, wie sie wirklich sind, und verlieren sich ganz im schönen Schein der Mode. St. Preux kann »dieser ewigen Darbietung« (ebd.) der Weiblichkeit nichts abgewinnen. Im Vergleich zur natürlichen Anmut seiner Julie schneiden die affektierten Pariserinnen schlecht ab. Das Empörende an der Schamlosigkeit besteht gleichwohl weder in der bewussten Inszenierung noch in der Inauthentizität per se. Beides gehört schließlich auch zum Verhaltensrepertoire der schamhaften Frau. Sophie zum Beispiel: Die modischen Extravaganzen der Pariserinnen liegen ihr zwar fern; dennoch kleidet auch sie sich sehr bewusst, um beim anvisierten Publikum eine wohl kalkulierte Wirkung zu erzielen: »Es gibt keine junge Person, die weniger ausgesucht gekleidet schiene und deren Aufmachung ausgesuchter wäre; nicht eines ihrer Kleidungsstücke ist zufällig gewählt, und keines lässt die Kunst der Auswahl erkennen. Ihre Kleidung ist scheinbar sehr bescheiden und tatsächlich sehr kokett; sie stellt ihre Reize keinesfalls zur Schau, sie bedeckt sie, aber indem sie sie bedeckt, versteht sie es, sie der Vorstellung zu überlassen. Wenn man sie sieht, sagt man: Das ist ein bescheidenes und artiges Mädchen; aber solange man in ihrer Nähe bleibt, wandern die Augen und das Herz über ihre ganze Person, ohne dass man sie von ihr losreißen könnte, und man würde sagen, dass diese ganze so einfache Kleidung nur angezogen wurde, um von der Einbildungskraft Stück für Stück ausgezogen zu werden.« (Emile IV 747)
Sophie setzt ihre weiblichen Reize ein, um zu verführen, nicht anders als die Damen der Pariser Gesellschaft. Während die schamlosen Pariserinnen jedoch niemanden über den Zweck ihrer Darbietung im Unklaren lassen, besteht die Kunst der schamhaften Sophie gerade darin, ihre Kunst nicht als Kunst zu erkennen zu geben. Ganz im Sinne der rousseauschen vollendeten Kunst verwendet sie größte Mühe darauf, den Anschein des Spontanen und Natürlichen zu er-
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wecken. Der erzielte Effekt bei den Männern ist umso größer, als er völlig unbeabsichtigt erscheint.13 Die schamhafte Frau ist also keinesfalls authentischer als die schamlose – im Gegenteil. Ihre Inszenierungskunst ist vielmehr wesentlich »raffinierter« (ebd.: 778): Sie lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums nicht nur in die gewünschte Richtung, sondern täuscht dabei auch noch darüber hinweg, dass es sich in der Tat um eine Inszenierung handelt (vgl. Garbe 1992: 99f.; Vinken 1995: 190; Zerilli 1994: 33f.): Ihre Darstellung ist gleichzeitig Verstellung. Im Gegensatz dazu verstellt sich die schamlose Frau gerade nicht. Wo alles nur Schein ist, täuscht sie kein Sein vor. Ihre Darstellung bleibt als Darstellung erkenn- und durchschaubar. Das ist der eigentliche Skandal der Schamlosigkeit: nicht die Inauthentizität an sich, sondern die Weigerung, ein Hehl daraus zu machen (vgl. Vinken 1995: 190f.; Zerilli 1994: 46; Matthes 2000: 146). Folgerichtig erhebt der Brief an d’Alembert denn auch die Schauspielerin zum Inbegriff der schamlosen Frau (vgl. LdA V 82f.). Das Theaterpublikum weiß, dass die Schauspielerin auf der Bühne nur eine Rolle verkörpert, dass ihre Worte und Gesten nur einstudiert sind. Niemand käme auf die Idee, ihre Darbietung für bare Münze zu nehmen; die Schauspielerin versucht gar nicht erst, diesen Eindruck zu erwecken: »[E]s gibt darunter nicht eine, die sich nicht lächerlich zu machen glaubte, auch nur so zu tun, als würde sie die Reden von Anstand und Ehre, die sie dem Publikum auftischt, auf sich beziehen. [...] die Schauspielerin ist immer die erste, die ihre Rolle parodiert und ihr eigenes Werk zerstört.« (LdA V 83)
Hier wird der entscheidende Unterschied zur schamhaften Frau überdeutlich: Sophie und die tugendhaften Frauen der Republik geben niemals zu erkennen, dass sie nur eine Rolle spielen.14 Was sie darbieten, ist die perfekte Illusion natürlicher Weiblichkeit. Die Schauspielerin dagegen will gar nicht, dass man ihr die Rolle abnimmt, die sie spielt: Sie parodiert (vgl. Rebentisch 2012: 288). Die Parodie jedoch wirkt genau gegenläufig zur vollendeten Kunst der schamhaften Täuschung. Statt den künstlichen Charakter der Darbietung zu verbergen, stellt
13 Darin lässt sich das Prinzip des emileschen Erziehers wiedererkennen, dessen Autorität umso wirkungsvoller ist, als sie sich den Anschein der Freiheit gibt. 14 Auch Julie gibt sich nicht als Schauspielerin zu erkennen, wenn man davon absieht, dass sie St. Preux in die Geheimnisse ihres Elisée einweiht und ihm so indirekt zu verstehen gibt, welche Anstrengungen nötig sind, um den Anschein der Natürlichkeit aufrechtzuerhalten. Vgl. Seite 202, Fußnote 3.
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sie ihn provokativ zur Schau und untergräbt so die Illusion der Natürlichkeit. Die Rolle der tugendhaften Frau wirkt nur noch aufgesetzt und lächerlich, sobald eine Schauspielerin sie verkörpert. Mit dem désordre des femmes steht also tatsächlich nichts Geringeres auf dem Spiel als die Glaubwürdigkeit der Geschlechterordnung. Die schamlosen Frauen bieten, nicht anders als die Schauspielerin, eine Parodie der Geschlechterordnung, und das gleich in zweifacher Hinsicht: Einerseits übertreiben sie maßlos in ihrer Impersonifikation von Weiblichkeit. Andererseits liefern sie durch ihr Auftreten in der Öffentlichkeit und ihre anmaßende Übernahme männlicher Verhaltensmuster auch noch eine »scheußliche Nachahmung« (LdA V 81) von Männlichkeit (vgl. Rebentisch 2012: 288). Die Parodie entlarvt in beiden Fällen den prekären Status des jeweiligen Originals und macht sichtbar, was eigentlich hinter dem Schleier der Scham verborgen bleiben sollte: dass die Geschlechterordnung sich auf keine natürliche Grundlage stützen kann, sondern letztlich nur ein Ergebnis von Schauspielkunst ist.15 Das gilt, wie sich herausstellt, auch für die Rolle des Mannes. Statt sich vor den Blicken der schamhaften Frauen männlich als Bürger, Freunde und Soldaten in Pose zu werfen, geraten die »hübschen kleinen Herren« (LdA V 103), die sich mit schamlosen Frauen abgeben, selbst zu Parodien echter Männlichkeit sowie wahrer Weiblichkeit.16 Der Unterschied zwischen Geschlechterordnung und Geschlechterunordnung besteht nur vordergründig darin, dass sich Erstere auf die Natur berufen kann, während Letztere der Natur zuwiderläuft. Tatsächlich ist beides nichts weiter als ewige Darbietung. Während die Geschlechterordnung jedoch über ihren künstlichen Charakter stets hinwegzutäuschen und die Illusion der Natürlichkeit herzustellen sucht, zerplatzt diese Illusion in der verdrehten Welt der Theater und Salons, in der Frauen wie Männer auftreten und Männer sich in Frauen verwandeln. Der Gesetzgeber der Republik steht vor einer ganz ähnlichen Herausforderung wie die schamhafte Frau: Er muss in seiner Rolle überzeugen, um seine Aufgabe zu erfüllen, um den Menschen das Werk seiner Gesetzgeberkunst schmackhaft zu machen (vgl. Johnston 1999: 54). Das Volk muss ihm seinen
15 Vgl. Rebentisch 2012: 289; Vinken 1995: 192f., 197f.; vgl. auch Snyder 1999: 71f. Allgemein zur performativen Herstellung von Geschlechtlichkeit und der Wirkung der Parodie vgl. Butler 2006: 197-201, insbesondere 200. 16 »Auf meiner letzten Reise nach Genf habe ich bereits mehrere dieser jungen Damen im justaucorps gesehen, die Zähne weiß, die Hand füllig, die Stimme flötend, einen hübschen grünen Sonnenschirm in der Hand, die ziemlich ungeschickt Männer nachahmten.« (LdA V 102)
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Schwindel abkaufen, muss tatsächlich glauben, dass er im Auftrag der Götter handelt. Erfolgreiche Gesetzgeber haben etwas von »glücklichen Betrügern« (CS III 384), auch wenn Rousseau es freilich bevorzugt, von ihrem »Genie« (ebd.) zu sprechen. Denn nicht jeder verkörpert die Rolle des Gesetzgebers mit Erfolg: »Doch es kommt nicht jedem Menschen zu, die Götter sprechen zu lassen, noch sich glaubhaft zu ihrem Übersetzer auszurufen. Die große Seele des Gesetzgebers ist das wahre Wunder, das seine Mission beweisen muss. Jeder Mensch kann Steintafeln beschriften, oder ein Orakel kaufen, oder eine geheime Abmachung mit irgendeiner Gottheit vortäuschen, oder einen Vogel abrichten, der ihm ins Ohr spricht, oder andere plumpe Mittel finden, um auf das Volk Eindruck zu machen. Wer sich nur darauf versteht, wird sogar durch Zufall einen Haufen Narren versammeln können, aber er wird niemals ein Reich gründen, und sein extravagantes Werk wird bald mit ihm untergehen.« (Ebd.)
Der Scharlatan, der Steintafeln beschriftet oder einen Vogel abrichtet, ist nun eigentlich kein größerer Schwindler als der Gesetzgeber. Auch der richtige législateur gibt schließlich nur vor, seine Autorität direkt von den Göttern erhalten zu haben (vgl. Rebentisch 2012: 315). Recht besehen ist der Scharlatan darum nichts anderes als ein Gesetzgeber, der allzu leicht durchschaut werden kann – ein Betrüger, dem es an Glück und/oder Genialität mangelt (vgl. de Man 1979: 274). Was er unbeabsichtigt liefert, ist eine Parodie auf den richtigen législateur: Seine Show mit den Steintafeln erscheint nicht eindrucksvoll, sondern abgeschmackt, sein dressierter Vogel bringt vernünftige Leute nur zum Lachen. Statt eine Gemeinschaft von Bürgern zu formen, schart er höchstens einen Haufen Narren um sich – er schafft ein extravagantes Werk, übertrieben und unangemessen, eine Parodie auf die Republik. Auch wenn der Scharlatan das Misslingen seiner Darbietung im Unterschied zur Schauspielerin wohl kaum einkalkuliert, sind die Parallelen doch unverkennbar: Wie die schamlose Frau scheitert der falsche Gesetzgeber daran, seine Kunst als wahrhaftes Werk der Natur zu verkaufen, weil er zu offensichtlich nur ein Spektakel bietet. Was steht auf dem Spiel, wenn der Gesetzgeber zur Parodie gerät? Eigentlich sollte sich der wahre Gesetzgeber ganz klar vom Scharlatan unterscheiden lassen. Immerhin verlangt seine Aufgabe nach einer überlegenen Vernunft, nach einem wahrhaft göttlichen Standpunkt: »Um die besten gesellschaftlichen Regeln zu entdecken, die zu den Nationen passen, bedürfte es einer überlegenen Vernunft, die alle Leidenschaften der Menschen sehen und keine davon empfinden würde, die keine Beziehung zu unserer Natur hätte und sie von Grund auf kennen würde [...]« (CS III 381).
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Der richtige Gesetzgeber müsste in der Lage sein, die besten Regeln für das menschliche Zusammenleben zu entdecken, weil er auf tiefe Einsichten in die wahre Natur des Menschen zurückgreifen kann. Er müsste tatsächlich im Besitz einer göttlichen Wahrheit sein: »Es bräuchte die Götter, um den Menschen Gesetze zu geben.« (Ebd.) Aber die Götter stehen nicht zur Verfügung, um den Menschen Gesetze zu geben. Die Ordnung des Sozialen kann sich an keine Ordnung der Natur anlehnen – das hat unsere Lektüre des Zweiten Diskurses deutlich gemacht (vgl. Inston 2010: 145). Die besten gesellschaftlichen Regeln kann man daher nicht entdecken, sondern nur erfinden.17 Nichts anderes tut der Gesetzgeber, der für sein wagemutiges Unterfangen keinerlei Vorbild zur Verfügung hat. Die Republik ist eine creatio ex nihilo im wahrsten Sinne des Wortes. Der Gesetzgeber kann nur versuchen, über diesen Umstand hinwegzutäuschen, indem er die Wahrhaftigkeit seiner Schöpfung auf die Autorität erfundener Götter stützt.18 Dass ihm dieser geniale Betrug gelingt, ist letztlich alles, was er seinem erfolglosen Pendant voraushat. Lässt der Gesetzgeber sich dagegen als Scharlatan entlarven, wird offensichtlich, dass die Republik auf einer Fiktion aufbaut. Das macht die Parodie, genau wie im Falle der Geschlechterordnung, so riskant: Sie untergräbt die Illusion einer natürlichen Ordnung, die das Gemeinwesen legitimieren könnte. Jenseits dieser Illusion gibt es kein objektives Kriterium, das den wahren Gesetzgeber von einem Scharlatan unterscheidet. Ebensowenig lässt sich mit abschließender Sicherheit entscheiden, ob seine Gründung nun die richtige Republik sein wird oder nur ein Haufen Narren, der so tut als ob (vgl. Honig 2007: 6f.). Es steht also weitaus mehr auf dem Spiel als nur die Glaubwürdigkeit des Republikgründers. Um das ganze Ausmaß der Verunsicherung zu verstehen, die der Scharlatan repräsentiert, müssen wir uns noch einmal vergegenwärtigen,
17 Vgl. dazu Rortys Diskussion der Unterscheidung zwischen finding und making, vgl. Rorty 2002. 18 Instons sehr wohlwollende Interpretation des rousseauschen législateur übersieht meines Erachtens dieses Moment der Täuschung, das zugleich eine Essentialisierung beinhaltet. Es ist aber ein entscheidender Unterschied, ob das Volk tatsächlich glauben soll, dass der Gesetzgeber im Besitz der Wahrheit ist, oder ob der Gesetzgeber dem Volk eine politische Fiktion anbietet, über deren Fiktionalität kein Zweifel besteht. Nur die zweite Variante hätte meines Erachtens das radikaldemokratische Potential, das Inston dem législateur per se zusprechen möchte, vgl. Inston 2010: 155-161. Vgl. dazu die wesentlich kritischere Diagnose bei Rebentisch, die dem rousseauschen législateur ihr eigenes Konzept einer Theatrokratie entgegensetzt, vgl. Rebentisch 2012: 313-321, insbesondere 318.
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welchen Problemkomplex der Gesetzgeber in Rousseaus politischer Theorie personifiziert. Wir wissen bereits, dass Rousseau mit der Figur des législateur ein Problem zu lösen sucht, das unvermeidlich in der Idee der Tugendrepublik steckt. Bevor die Republik mit ihren Sitten und Institutionen nicht eine Gemeinschaft von Bürgern geschaffen hat, existiert keine Gemeinschaft von Bürgern, die in der Lage wäre, eine Republik zu gründen. Das Volk kann sich selbst nicht zum Souverän machen, solange es noch kein Volk ist, sondern nur ein Haufen egoistischer Einzelner. Deshalb läuft das Muster des Gesellschaftsvertrags als rein voluntaristischer Akt bei Rousseau ins Leere. »Damit ein entstehendes Volk die gesunden Grundsätze der Politik gutheißen und den grundlegenden Regeln der Staatsräson folgen könnte, müsste die Wirkung zur Ursache werden, der gesellschaftliche Geist, der das Werk der Errichtung sein soll, müsste der Errichtung selbst vorausgehen, und die Menschen müssten vor den Gesetzen bereits das sein, was sie durch die Gesetze werden sollen.« (CS III 383)
Um diese Aporie des Anfangs zu überbrücken, braucht es die Extrafundierung durch einen Gesetzgeber, der die nötigen Institutionen aus dem Nichts zaubert und aus den Einzelnen ein Volk formt (vgl. Herb/Taureck 2012: 127, 209). Er hält dem Volk den Spiegel vor, in dem es sich selbst erst als Einheit erkennen kann. Mit einem einmaligen Akt ist das Problem jedoch bei weitem nicht gelöst. Das Gründungsparadox kehrt, wie Rebentisch formuliert, im Alltag der Republik als Begründungsparadox zurück.19 Das Volk, das durch den Vertragsschluss als Souverän eingesetzt worden ist, muss diese Rolle auch permanent ausfüllen. Es muss seine Einheit fortwährend bestätigen, indem es in der Gesetzgebung seinen gemeinschaftlichen Willen artikuliert. Dabei zeigt sich aber, dass das Werk des Gesetzgebers niemals ganz abgeschlossen ist. Das souveräne Volk bleibt immer zugleich auch eine blinde Menge, die »nicht weiß, was sie wollen soll« (Rebentisch 2012: 311), weil sie sich selbst nicht als Einheit mit einem gemeinsamen Willen erfassen kann (vgl. ebd.; Honig 2007: 5):
19 Vgl. Rebentisch 2012: 310; Honig 2007: 3. Honig spricht vom paradox of politics, das sich nicht auf ein Gründungsparadox reduzieren lässt, da es das Politische auf permanenter Basis heimsucht. Dass Rousseau selbst das Problem mit der Gründung durch den Gesetzgeber für endgültig gelöst hält, lässt sich angesichts seiner Obsession bezüglich der republikanischen Sitten bezweifeln.
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»Das Volk, das den Gesetzen unterworfen ist, muss ihr Urheber sein; nur denjenigen, die sich zusammenschließen, kommt es zu, die Bedingungen der Gesellschaft zu regeln: Aber wie werden sie sie regeln? [...] Wie würde eine blinde Menge, die oft nicht weiß, was sie will, weil sie selten weiß, was gut für sie ist, selbst ein so großes und so schwieriges Unterfangen ausführen wie ein System der Gesetzgebung? Von selbst will das Volk immer das Gute, aber es sieht es nicht immer von selbst.« (CS III 380)
Die Aporie des Anfangs tritt hier erneut auf, als Aporie der volonté générale: Der Gemeinwille soll vom Volk ausgehen, aber gleichzeitig ist es der Gemeinwille, der das Volk erst zum Volk macht. Erst der Prozess der Gesetzgebung selbst verwandelt eine blinde Menge immer wieder in eine Gemeinschaft von Bürgern (vgl. Honig 2007: 5; Rebentisch 2012: 311). Deshalb benötigt auch die volonté générale eine Extrafundierung: »Daraus entsteht die Notwendigkeit eines Gesetzgebers.« (CS III 380) Das heißt wohlgemerkt nicht, dass der Gesetzgeber tatsächlich über die Gründung hinaus eine Rolle in der Republik spielt, dass er etwa als heimlicher Führer die Gesetze des Gemeinwillens diktiert. Vielmehr sind es die republikanischen Sitten, die im Republikalltag jene Funktion übernehmen, die der Gesetzgeber am Anfang der Republik innehatte: Sie produzieren permanent ein Volk tugendhafter Bürger, das sich selbst als Einheit begreift und daher in der Lage ist, den Gemeinwillen zu erkennen und zu artikulieren. Doch wenn die Republik nach ihrer Gründung weiterhin auf die Funktion des Gesetzgebers angewiesen ist, entkommt sie auch dem langen Schatten des Scharlatans nicht. Eigentlich möchte Rousseau die volonté générale als etwas verstanden wissen, das es zu entdecken gilt: Oft genug versteckt sie sich, aber wenn nur jeder Bürger ehrlich danach sucht und seine egoistischen Sonderinteressen beiseite schiebt, lässt sie sich finden, »immer gleichbleibend, unveränderlich und rein« (ebd.: 438). Vielleicht sitzen wir aber auch nur einem genialen Betrug auf, wenn wir das glauben, denn: Die besten gesellschaftlichen Regeln kann man nicht entdecken, sondern nur erfinden, wie Rousseau sehr wohl weiß. Auch der Gemeinwille ist eine creatio ex nihilo; er entsteht performativ in den Volksversammlungen und unterliegt allen Kontingenzen und Unwägbarkeiten, die die praktizierte Volkssouveränität mit sich bringt. Die Gefahr, dass sich der vermeintliche Gemeinwille als bloßer Gesamtwille entpuppt, ist in der Republik fortwährend präsent. Nichts kann diesen Verdacht je mit letzter Sicherheit ausräumen (vgl. Honig 2007: 7). Die republikanischen Sitten können über diesen Umstand nur hinwegtäuschen – und das ist genau die Funktion, die ihnen in der Republik zukommt. Sie sind die Fortsetzung des gesetzgeberischen Betrugs mit allen Finessen der republikanischen Schauspielkunst. Mit heiligem Ernst wird
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hier permanent das Stück von der Einheit des Volkes aufgeführt: Dazu dienen all die Feste, die Versammlungen, die öffentlichen Wettbewerbe, die Darbietungen der tugendhaften Frauen und der männlichen Freunde, Bürger, Soldaten.20 Dieses Stück darf nicht zur Parodie werden, wenn es seinen Zweck erfüllen soll. Nie darf offensichtlich werden, dass hier nur gespielt wird. Denn dann könnte die schöne Illusion von der Einheit zerplatzen und den Blick darauf freilegen, dass die Republik über dem Abgrund der Spaltung errichtet ist. Wir wissen also jetzt, dass die schamhafte Frau eine Schauspielerin ist, der Gesetzgeber ein Scharlatan und die republikanische Lebenswelt ein einziges Theater. Die Ideale, von denen Rousseau träumt, haben sich unversehens in die Pathologien verwandelt, die er verabscheut. Das große Entweder/Oder, das Rousseau so gerne postuliert – entweder gerät der Mensch in den Abwärtsstrudel der Geschichte, oder er findet zu einer neuen Einheit –, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als gegenstandslos. Die Spaltung lauert überall, selbst noch hinter jedem Versuch, Einheit zu erlangen. Rousseau weiß das. Er ist kein Fanatiker, der daran glaubt, dass seine Träume von der perfekten Einheit zu verwirklichen sind. Eher schon haben wir ihn als Nostalgiker kennengelernt, der einem Ideal hinterher trauert, dass es nie gegeben hat. Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit. Um die andere Hälfte der Geschichte zu erfahren, müssen wir uns ein letztes Mal Julie zuwenden. Einen Tag vor dem Zwischenfall, der schließlich zu ihrem Tod führen wird, schreibt Julie noch einmal an St. Preux – es wird ihr vorletzter Brief an ihn sein. Es ist dieser Brief, in dem sie die intime Gemeinschaft von Clarens auf dem höchsten Punkt der Perfektion schildert, als eine bruchlose Gemeinschaft der Herzen, in der Julie ein vollkommenes Glück erfährt: »[M]eine Einbildungskraft hat nichts mehr zu tun, ich habe nichts mehr zu begehren; empfinden und genießen sind für mich ein und dasselbe; ich lebe gleichzeitig in allem, was ich liebe, ich bin von Glück und Leben gesättigt: Oh Tod, komm wann immer du willst! Ich fürchte dich nicht mehr, ich habe gelebt, ich bin dir zuvorgekommen, ich habe keine neuen Gefühle mehr kennenzulernen, du hast mir nichts mehr zu rauben.« (Julie II 689)
Diese Schilderung ist eigentlich als klares Bekenntnis zur société très-intime gemeint – schon allein weil Julie ihren ehemaligen Geliebten überreden will, nach Clarens zurückzukehren und endgültig Teil dieser Gemeinschaft zu werden. Umso mehr irritiert der unverhohlene Todeswunsch, der sich an das Loblied an-
20 Vgl. dazu Wingrove, die von einer »generalization of the theatrical experience« (Wingrove 2000: 11) durch die republikanischen spectacles spricht.
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schließt. Will Julie uns wirklich weismachen, sie sei schlicht und ergreifend sterbensglücklich? Der zweite Teil des Briefes lässt daran zumindest Zweifel aufkommen. Julie hat das Thema gewechselt, es geht ihr nun darum, St. Preux die Gründe für ihre Hinwendung zur Religion darzulegen (vgl. ebd.: 692). Jetzt erfahren wir, dass Julie ihres Glücks überdrüssig ist: Der dégoût du bien-être, der »Überdruss am Wohlbefinden« (ebd.: 694) hat sie gepackt. Das Leben in Clarens hinterlässt, bei aller Harmonie, eine eigentümliche Leere in ihrem Herzen: »Eine geheime Wehmut setzt sich allmählich auf dem Grund meines Herzens fest; ich empfinde es als leer und aufgebläht [...]; die Zuneigung, die ich für all das empfinde, was mir lieb ist, reicht nicht aus, um es zu beschäftigen, ihm bleibt eine unnütze Kraft, mit der es nichts anzufangen weiß. Dieser Schmerz ist bizarr, das gebe ich zu; aber er ist nicht weniger wirklich. Mein Freund, ich bin zu glücklich; das Glück langweilt mich.« (Ebd.)
Julies Unzufriedenheit scheint völlig unbegründet, hat sie doch alles, was ein Mensch sich wünschen könnte: »[M]ein Herz weiß nicht, was ihm fehlt; es begehrt, ohne zu wissen was.« (Ebd.) Tatsächlich fehlt ihr in dem vollkommenen Glück von Clarens jedoch etwas Entscheidendes: das Begehren selbst. »Wehe dem, der nichts mehr zu begehren hat! Er verliert sozusagen alles, was er besitzt.« (Ebd.: 693) Was Rousseau seiner Heldin zum Ende des Romans in den Mund legt, ist nichts anderes als eine umfassende Verneigung vor dem Prinzip des Begehrens. Julie sieht darin gerade nicht die Quelle allen menschlichen Unglücks – im Gegenteil, glücklich ist der Mensch nur, solange er begehrt. Ebensowenig verurteilt Julie das Begehren als widernatürlich oder pathologisch. Für sie ist der Mensch vielmehr »dafür gemacht, alles zu wollen und wenig zu erlangen« (ebd.): Er ist als begehrendes Wesen geschaffen. Mit dem Lob des Begehrens geht auch ein Lob der Einbildungskraft einher. Julie erkennt darin ein Geschenk des Himmels, eine »tröstende Kraft« (ebd.), die den Menschen für seine Begrenztheit entschädigt. Immer übertrifft die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren den Genuss des Gegenwärtigen. »Das Land der Schimären ist auf dieser Welt das einzige, das wert ist, bewohnt zu werden, und die Nichtigkeit der menschlichen Dinge geht so weit, dass es außer dem Wesen, das durch sich selbst existiert, nichts Schönes gibt als das, was nicht ist.« (Ebd.; vgl. de Man 1993: 215) Julie trifft diese Feststellung ohne Verbitterung. Denn die unerfüllte Sehnsucht, das Begehren nach dem, was nicht ist, gehört zum Leben des Menschen – mehr noch, sie macht sein Leben lebenswert:
254 | E RSEHNTE E INHEIT , UNHEILBARE S PALTUNG – EINHEIT UND SPALTUNG »Ohne Schmerz zu leben ist kein Zustand für den Menschen; so zu leben heißt tot zu sein. Derjenige, der alles könnte, ohne Gott zu sein, wäre ein bedauernswertes Geschöpf; das Vergnügen zu begehren wäre ihm vorenthalten; jeder andere Verlust wäre erträglicher.« (Julie II 693f.)21
Von diesen Überlegungen aus fällt nun ein ganz anderes Licht auf die société très-intime, von der Julie im ersten Teil des Briefes noch zu schwärmen schien. Das vollkommene Glück und die totale Unmittelbarkeit, die in der intimen Vertrautheit von Clarens erreicht werden, lassen das Begehren und die Einbildungskraft verstummen. Ich habe nichts mehr zu begehren – genau diesen Zustand setzt Julie mit dem Tod gleich: So zu leben heißt tot zu sein. Wer nichts mehr begehrt, ist bereits tot. Die perfekte Einheit, die nichts mehr zu wünschen übrig lässt, erstickt alles menschliche Leben.22 Wir können nun auch Julies Todeswunsch verstehen. Der Tod muss ihr als willkommene Gelegenheit erscheinen, der lebensfeindlichen Ordnung von Clarens zu entfliehen, in der das Ideal der Einheit beängstigend reale Gestalt angenommen hat.23 Rousseau lässt Julie einen grundsätzlichen Einspruch gegen das von ihm hochgehaltene Ideal formulieren. Dabei geht es nicht mehr allein darum, dass das Streben nach Einheit stets vergeblich bleiben muss. Vielmehr erscheint die Verwirklichung dieses Traumes aus der von Julie vertretenen Perspektive überhaupt nicht erstrebenswert (vgl. Bürgin 2008: 168). Nur ein Gott könnte ohne Begehren leben. Das Leben der Götter aber ist nichts für den Menschen. Mit dieser Einsicht können wir noch einmal auf die Republik zurückkommen. Julies Bedenken gegen das Leben ohne Begehren finden im Contrat social ihr Echo in Rousseaus Ablehnung der Demokratie als Regierungsform. »Wenn
21 Derselbe Gedanke findet sich an einer Stelle des Emile, bezeichnenderweise im Kontext des Mitleids: »Ein wahrhaft glückliches Wesen ist ein einsames Wesen: Gott allein genießt ein absolutes Glück; aber wer von uns hat davon eine Vorstellung? Wenn irgendein unvollkommenes Wesen sich selbst genügen könnte, was würde es unsres Erachtens genießen? Es wäre allein, es wäre bedauernswert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass derjenige, der nichts braucht, etwas lieben könnte: Ich kann mir nicht vorstellen, dass derjenige, der nichts liebt, glücklich sein könnte.« (Emile IV 503) 22 Vgl. dazu: »Der Genuss selbst, ohne Symbol oder Zusatz, der uns die reine Präsenz selbst bescheren (uns mit ihr in Einklang bringen) würde, wenn etwas Derartiges möglich wäre, wäre nur ein anderer Name für den Tod.« (Derrida 1967: 223, Herv. i.O.) 23 Vgl. Vernes 2012: 190; Kukla 2002: 274, 277; Marso 1999: 70. Marso interpretiert Julies Tod gar als Selbstmord, der dazu dient, sich der repressiven Ordnung von Clarens zu entziehen.
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es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Eine so perfekte Regierung passt nicht zu den Menschen.« (CS III 406) Dass Rousseau die Demokratie als Regierungsform der Götter charakterisiert, soll freilich einerseits ihre Unrealisierbarkeit betonen – zu vollkommen ist sie, um von unvollkommenen Wesen praktiziert zu werden: »Nimmt man den Ausdruck in der Strenge seiner Bedeutung, hat niemals eine wahrhaftige Demokratie existiert, und es wird niemals eine existieren.« (Ebd.: 404) Andererseits wäre ein Volk, das sich demokratisch regiert, ohne ein Volk von Göttern zu sein, wohl nicht nur in Julies Augen ein bedauernswertes Volk: Die Demokratie ist nicht nur unmöglich, sie ist auch gar nicht wünschenswert.24 Was kann Rousseau an der Regierung der Götter auszusetzen haben? Eigentlich wäre die Demokratie die vollkommenste Verwirklichung seines Traums von der Einheit des Volkes, insofern sie sogar die Trennung zwischen Souverän und Regierung aufhebt. Das Volk beschließt die Gesetze, das Volk führt sie aus. Das Volk wäre in der Demokratie vollends mit sich selbst identisch, eine handlungsfähige Einheit mit einem gemeinsamen Willen und der gemeinsamen Kraft, diesen Willen umzusetzen. Nicht zufällig hört sich Rousseaus Aufzählung der Voraussetzungen für eine demokratische Regierung so an, als würde er die Republik in ihrer idealsten Gestalt beschreiben (vgl. Fetscher 1975: 161): ein sehr kleiner Staat, in dem alle einander kennen (und lieben, möchte man hinzufügen), einfache Sitten, gleichartige Lebensverhältnisse, keine Unterschiede zwischen Arm und Reich (vgl. CS III 405). Die besten Voraussetzungen also für eine Gemeinschaft von Freunden und Brüdern, für ein Volk der Tugendhaften, für die Republik als große Familie. Die Demokratie wäre die perfekte Inkarnation der intimen und transparenten Republik, in der sich jeder Einzelne nur noch als Teil des Ganzen fühlt. Ein so vollkommenes moi commun müsste unsterblich sein: Es gäbe keine Regierung, die fortwährend gegen den Souverän arbeitet (vgl. ebd.: 421), keinen Sonderwillen, der sich gegen den Gemeinwillen auflehnt – kurz gesagt, es gäbe keine Spaltung mehr. Ein Votum für die vollkommene Demokratie würde Rousseau wohl in der Tat als totalitären Denker ausweisen. Doch genau diesen Gefallen tut er seinen Kritiker_innen nicht. Dass die Demokratie Regierungsgewalt und Souveränität zusammenfallen lässt, erachtet er nicht als positiv, sondern als höchst problematisch. Hier werden Dinge durcheinander gebracht, die eigentlich getrennt sein sollten: die Gesetzgebung der volonté générale und die Ausführung der Gesetze – droit und fait:
24 Vgl. dagegen Fetscher 1975: 160f.
256 | E RSEHNTE E INHEIT , UNHEILBARE S PALTUNG – EINHEIT UND SPALTUNG »Wenn es möglich wäre, dass der Souverän, als solcher betrachtet, die exekutive Gewalt inne hätte, würden das Recht [droit] und die Anwendung des Rechts [fait] derart durcheinandergebracht, dass man nicht mehr wüsste, was Gesetz ist und was nicht, und der auf solche Weise denaturierte politische Körper fiele bald der Gewalt zum Opfer, gegen die er eingerichtet wurde.« (Ebd.: 432)
Die demokratischen Verhältnisse finden ihre spiegelbildliche Entsprechung in einer Situation des Machtmissbrauchs, die sogar zur Auflösung des Staates führt: Wenn eine Regierung sich eigenmächtig zum Souverän aufschwingt, fallen gesetzgebende und ausführende Gewalt ebenfalls in eins (vgl. ebd.: 422f.). Eine solche despotische Regierung schert sich nicht um den Unterschied zwischen droit und fait, sie verleiht ihren Willkürakten den Rang von Gesetzen. Rousseau befürchtet, dass in der Demokratie unvermeidlich dasselbe passieren müsste. Denn als Regierung muss das Volk auch über Einzelgegenstände urteilen – was es als Souverän nie tun dürfte, weil es damit zwangsläufig den allgemeinen Standpunkt der volonté générale verlässt (vgl. ebd.: 378f., 395f.). Die Personalunion von Souverän und Regierung verwischt die Grenze zwischen Gesetz und Verwaltungsakt, zwischen allgemeinem Willen und Einzelfallentscheidung, und öffnet so der Korruption der volonté générale durch partikulare Interessen Tür und Tor.25 »Nichts ist gefährlicher als der Einfluss der Privatinteressen in den öffentlichen Angelegenheiten, und der Missbrauch der Gesetze durch die Regierung ist ein geringeres Übel als die Korruption des Gesetzgebers, unfehlbare Folge der Sonderansichten.« (Ebd.: 404) Selbst die Gefahr des Machtmissbrauchs, die schon allein durch die Existenz einer gesonderten Regierung immer gegeben ist, verblasst vor dem unvermeidlichen Übel der Demokratie, den Unterschied zwischen Gemein- und Sonderwillen aufzulösen. Eine despotische Regierung kann immer noch vom Volk in die Schranken gewiesen werden; einem despotischen Volk aber fehlt jedes Korrektiv (vgl. Bertram 2004: 157). Auch wenn die Regierung ein durchaus gefährliches Eigenleben entwickelt, das letztlich sogar zum Tod der Republik führen wird, hält Rousseau sie doch für
25 Vgl. Inston 2010: 164f. Damit argumentiert Rousseau im Grunde ganz ähnlich wie Kant, der ebenfalls in der Partikularisierung des allgemeinen Willens den notwendig despotischen Charakter der Demokratie erkennt: »Unter den drei Staatsformen ist die der Demokratie im eigentlichen Verstande des Worts nothwendig ein Despotism, weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht mit einstimmt), mithin Alle, die doch nicht Alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist.« (Kant, ZeF AA 352)
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unverzichtbar. Ihre Funktion ist die einer Vermittlerin zwischen dem Volk in seiner Eigenschaft als Souverän und dem Volk, das der Souveränität unterworfen ist: »In der Regierung finden sich die vermittelnden Kräfte, deren Beziehungen das Verhältnis des Ganzen zum Ganzen oder des Souveräns zum Staat herstellen.« (CS III 396) Diese vermittelnde Rolle kann die Regierung gerade deshalb übernehmen, weil sie vom Souverän unterschieden ist und dem Volk gleichsam wie ein Fremdkörper gegenübersteht, »wie ein neuer Körper innerhalb des Staates, vom Volk und vom Souverän verschieden und zwischen beiden vermittelnd« (ebd.: 399). Aus dieser Position heraus kann die Regierung eine ganz ähnliche Funktion übernehmen wie der Gesetzgeber: Sie hält dem Volk den Spiegel vor, in dem es sich selbst als Souverän erkennen kann. Vermittelt durch die Regierung wird die »wechselseitige Entsprechung« (ebd.: 396) zwischen dem Volk der Untertanen und dem Souverän erst sichtbar (vgl. Inston 2010: 169f.). Allerdings steht die Regierung tatsächlich eher in der Tradition des Scharlatans als des Gesetzgebers.26 Denn sie kann niemanden darüber hinwegtäuschen, dass ihre Legitimationsbasis dünn ist. Die Regierung kann sich auf keinen Auftrag der Götter berufen – und, streng genommen, nicht einmal auf den Auftrag des Souveräns: Nicht die volonté générale ruft die Regierung ins Leben, sondern ein schnöder Verwaltungsakt. Gerade in dem Augenblick, in dem der Souverän eine Regierung einsetzt, ist er überhaupt kein Souverän, sondern selbst bloß Regierung (vgl. CS III 433).27 Wer die Rolle der Regierung übernimmt, ist also offensichtlich völlig willkürlich. Deshalb können diejenigen, die diese Rolle verkörpern, auch jederzeit abgesetzt und durch neue Darsteller ersetzt werden (vgl. ebd.: 434f.). Die Republik setzt diesen Umstand sogar regelmäßig in Szene. Jede Volksversammlung beginnt mit denselben zwei Fragen: »Die erste: ob es dem Souverän gefällt, die gegenwärtige Form der Regierung beizubehalten. Die zweite: ob es dem Volk gefällt, deren Verwaltung bei denen zu belassen, die gegenwärtig damit betraut sind.« (Ebd.: 436, Herv. i.O.) Diese ritualisierte Infragestellung ruft immer wieder in Erinnerung, dass die Regierung nur eine Rolle spielt und dass ihr Auftritt auf der Bühne der Macht jederzeit ein Ende nehmen kann (vgl. Inston 2010: 174f.).
26 Vgl. dagegen Johnston 1999: 75-119: Insofern es Aufgabe der Regierung ist, die republikanischen Sitten aufrechtzuerhalten, kann man sie sehr wohl als in der Tradition des Gesetzgebers stehend verstehen. Vgl. Seite 168, Fußnote 6. 27 Der Entstehungsakt der Regierung spiegelt in seiner aporetischen Struktur den Entstehungsakt des Volkes – beides verweist damit auf die Unmöglichkeit einer Letztbegründung des Gesellschaftlichen. Vgl. Inston 2010: 170f.
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Wir können nun noch deutlicher erkennen, worin für Rousseau das Problem der Demokratie besteht. Die demokratische Regierung ist eine »Regierung ohne Regierung« (CS III 404) – eine Regierung, die ihre vermittelnde Funktion ebenso einbüßt wie ihren scharlatanesken Charakter. In der Demokratie herrscht die totale Unmittelbarkeit, die uneingeschränkte Selbstpräsenz des Volkes. Regierung und Souverän, Souverän und Volk, Volk und Regierung, alles verschmilzt zu einer umfassenden Einheit. Das mit sich selbst identische Volk aber spielt nicht, es verkörpert keine Rolle, wenn es regiert. Anstatt die Kontingenz der Macht zu inszenieren, erzeugt es die Illusion der Einheit. Das mit sich selbst identische Volk kann sich selbst auch nicht infragestellen und erst recht nicht ersetzen. Anstatt die Bühne immer wieder freizugeben, besetzt es den Ort der Macht dauerhaft und unanfechtbar.28 Für einen demokratisch regierten Staat gibt es somit keine Möglichkeit der Reform mehr: »Wenn nun der Staat in seiner Substanz beeinträchtigt ist, wird jede Reform unmöglich.« (Ebd.) Rousseau erscheint es deshalb lohnenswert, das Risiko einzugehen, das die Trennung von Regierung und Souverän darstellt. Zwar handelt es sich hier um ebenjenen Geburtsfehler, der schließlich zum Tod der Republik führen wird (vgl. ebd.: 421). Doch gerade ihre Sterblichkeit ist das, was die Republik am Leben hält und sie vor einem schlimmeren Schicksal bewahrt. Denn wie die vollkommene société très-intime von Clarens verkörpert die vollkommene Demokratie eine Ordnung, die so in sich geschlossen und perfekt ist, dass sie nur noch mit dem Tod gleichgesetzt werden kann.29 Sie tilgt jeden Sonderwillen, hebt alle Widersprüche auf, bringt das Begehren endgültig zum Schweigen. Ihre Unsterblichkeit erkauft sie durch eine Sterilität, die das Politische selbst abtötet. »Wenn es überhaupt keine unterschiedlichen Interessen gäbe,
28 Vgl. dazu Leforts Analyse des Unterschieds zwischen Totalitarismus und Demokratie, vgl. Lefort 1990: 286-295; zur Logik der Identifikation im Totalitarismus insbesondere 287; zum leeren Ort der Macht in der Demokratie insbesondere 293. 29 Zu dieser Interpretation passt freilich nicht, was Rousseau im vorletzten Absatz des Kapitels Über die Demokratie ausführt, nämlich dass keine andere Regierungsform »so heftig und so andauernd danach strebt, ihre Form zu ändern« (vgl. CS III 405). Diese Passage erhebt gerade nicht die Einheit, sondern die Perfektibilität zum charakteristischen Merkmal der Demokratie. Derrida bringt daher die rousseausche Demokratie mit dem Konzept der démocratie à venir in Verbindung, vgl. Derrida 2003: 105-108. Dagegen würde ich argumentieren, dass die Republik ihre Perfektibilität gerade der Trennung zwischen Souverän und Regierung verdankt, die in der Demokratie aufgehoben werden soll. Die mögliche Verbindung der rousseauschen Republik zur démocratie à venir wird im Ausklang noch einmal thematisiert.
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würde man das gemeinsame Interesse, das niemals ein Hindernis fände, kaum fühlen: Alles ginge von selbst, und die Politik würde aufhören, eine Kunst zu sein.« (Ebd.: 371) Götter ohne Fehl und Tadel benötigen keine Politik, für den Menschen wäre eine Welt ohne Widerstände jedoch fatal (vgl. Matthes 2000: 139). Rousseaus bemerkenswerte Ablehnung der Demokratie speist sich daher aus der von Julie formulierten Einsicht: Nichts wäre unerträglicher als ein Leben ohne Spaltung. Dass sich die Einheit nie verwirklichen lässt, ist unser großes Glück. Rousseau ist ein nostalgischer Denker, ohne Frage.30 Aus beinahe jeder Zeile seines Werkes spricht die schmerzhafte Sehnsucht nach Einheit, nach einer Existenz ohne Widersprüche, nach Transparenz und Unmittelbarkeit – aber auch das Wissen um die Unerfüllbarkeit dieser Sehnsucht angesichts der unhintergehbaren Spaltung des Menschen. Umso bemerkenswerter sind die Momente in Rousseaus Denken, in denen die Spaltung nicht mehr ausschließlich negativ, als unheilbare Krankheit des vergesellschafteten Menschen und als ständige Bedrohung eines fragilen Ideals, auftaucht (vgl. Bürgin 2008: 168f.). Rousseau weiß, genau wie seine Romanheldin Julie, dass der Mensch nie ganz bruchlos, vollständig und eins mit sich selbst sein kann. Das perfekte Glück der Götter – »ein ausreichendes, perfektes und volles Glück, das in der Seele keinerlei Leere hinterlässt, die es zu füllen gälte« (Rêveries I 1046) – bleibt ihm für immer unzugänglich. Das Glück des Menschen jedoch liegt darin, ein ewig Begehrender zu sein, ein ewiger Träumer – so wie Jean-Jacques es in einem Brief an de Malesherbes von sich bekennt: »Wenn alle meine Träume wahr geworden wären, hätten sie mir nicht genügt; ich hätte weiter erdichtet [imaginé], geträumt, begehrt. Ich fand in mir eine unerklärliche Leere, die nichts hätte füllen können; ein gewisses Emporschwingen des Herzens hin zu einer anderen Art des Genusses, von dem ich keine Vorstellung hatte und dessen Notwendigkeit ich dennoch fühlte. Nun, Monsieur, das war selbst ein Genuss, da ich somit von einem sehr lebhaften Gefühl und einer anziehenden Traurigkeit durchdrungen war, die ich nicht missen hätte wollen.« (LdM I 1140)
30 Vgl. dagegen de Man: »Der gelegentlich angeschlagene elegische Ton drückt keine nostalgische Sehnsucht nach einer ursprünglichen Anwesenheit aus, sondern ist ein rein dramatischer Kunstgriff, ein Effekt, der durch eine Fiktion sowohl möglich wie nötig wird, die der Nostalgie jede Grundlage entzieht.« (De Man 1993: 217)
Zusammenfassung
Sophie betrügt Emile; Julie lässt Clarens im Stich; die republikanischen Frauen lernen das Theater lieben: All das sind Szenarien des Scheiterns. Rousseaus Geschichten haben in der Regel kein Happy-End. Warum nicht? Warum schlagen die Ideale, die Rousseau entwirft, am Ende immer fehl? Warum bleibt die ersehnte Einheit unerreichbar, die Spaltung unheilbar? Wir konnten beobachten, dass sich die Spannung zwischen Einheit und Spaltung, die Rousseaus Ideale prägt, einer eindeutigen Beurteilung entzieht – mindestens zwei Möglichkeiten der Interpretation stehen offen. Auf einer ersten Ebene zeigt sich Rousseau als entschiedener Verfechter der Einheit, die ihm idealisierter Ursprung und angestrebtes Ziel zugleich ist, während er die Spaltung als pathologisches und destabilisierendes Moment abzuwehren versucht. Auf einer zweiten Ebene untergräbt Rousseau dieses Verstehensangebot jedoch, indem er die vermeintlich klaren Grenzen zwischen Einheit und Spaltung fragwürdig erscheinen lässt. Die Unterscheidung zwischen Ursprung und Entartung verschwimmt dabei ebenso wie jene zwischen Ideal und Pathologie (vgl. Tabelle 4). Der Ursprung dieser Doppelbödigkeit liegt in der Geschichtsphilosophie. Rousseaus Erzählung vom Naturzustand und der Vergesellschaftung des Menschen etabliert zunächst eine fest umrissene Vorher-Nachher-Struktur. Vor dem katastrophalen Einbruch der Spaltung ist der Mensch Teil der natürlichen Ordnung, eins mit sich und der Welt. Danach beginnt die Verfallsgeschichte des vergesellschafteten Menschen, der zum unglücklichen Bewohner einer aus den Fugen geratenen Welt der Spaltung wird. So eindrücklich diese Geschichte im Zweiten Diskurs auch erscheinen mag, so nachhaltig hebt sie sich doch gleichzeitig selbst auf. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass der Mensch von Anfang an ein gespaltenes Wesen ist – ausgesetzt aus der Ordnung der Natur, unendlich vervollkommnungsfähig und radikal an den Anderen verwiesen. In diesem Licht wird es unmöglich, Vorher und Nachher eindeutig voneinander zu
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trennen. Die Illusion eines reinen Ursprungs muss der Erkenntnis weichen, dass die Spaltung immer schon gegeben ist. Die Doppelbödigkeit setzt sich fort, wenn man Rousseaus Ideale und die Gründe für deren Scheitern betrachtet. Die klare Grenzziehung zwischen Einheit und Spaltung, die sich geschichtsphilosophisch in der Teilung in ein Vorher und ein Nachher manifestiert, kehrt hier in Form einer Entweder-Oder-Alternative wieder: Entweder gelingt die Wiederannäherung an das verlorene Ideal einer natürlichen Einheit, oder der Fortgang der Vergesellschaftungsgeschichte zieht den Menschen in immer tiefere Abgründe der Spaltung. Diese Alternative erweist sich jedoch als vordergründig: Auch die rousseauschen Ideale können sich dem Wirken der Spaltung nicht entziehen, der Weg zurück zur reinen Natur bleibt versperrt. Die Einheit bleibt unter den Bedingungen der Vergesellschaftung notwendig prekär. Mehr noch: Wenn die ursprüngliche Natur als Orientierungsmaßstab ausfällt, lässt sich die kategorische Unterscheidung zwischen Ideal und Pathologie nicht mehr halten. Auch die vermeintliche Rekonstruktion der Natur ist dann letztlich nichts anderes als eine gesellschaftliche Konstruktion. Der Unterschied zwischen Ordnung und Unordnung reduziert sich damit auf das Moment des Illusorischen, auf den schmalen Grat zwischen Gelingen und Misslingen einer Täuschung. Tabelle 4: Das ambivalente Verhältnis von Einheit und Spaltung in Rousseaus Denken EINHEIT Natur, Ursprung
SPALTUNG Vergesellschaftung
EINHEIT Natur 2.0, Ideal
SPALTUNG Gesellschaftliche Pathologien
Aufhebung der EntwederOderStruktur
Aufhebung der Vorher-Nachher-Struktur Quelle: eigene Darstellung
Schließlich fällt so auch die Bewertung des Scheiterns ambivalent aus. Einerseits begreift Rousseau die Spaltung in der Tat als unheilbares Verhängnis, als dauer-
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haftes Hindernis des menschlichen Glücks (vgl. Emile IV 251). Die Einheit bleibt für den vergesellschafteten Menschen immer außer Reichweite – darin offenbart sich das ganze Elend seiner Existenz. Andererseits erkennt Rousseau die Spaltung trotz allem als Grundbedingung des menschlichen Daseins an. Damit offenbart er ein bemerkenswertes Gespür und eine überraschende Sympathie für die Dimension der Spaltung, die sein eigenes Ideal der Einheit zumindest fragwürdig erscheinen lassen. Das Scheitern der Einheit hat so für Rousseau eben nicht nur eine traurige, negative, nostalgische, schuldige und rousseauistische Seite (vgl. Derrida 1972: 441). Die nietzscheanische Bejahung des verlorenen Ursprungs und der dadurch eröffneten Möglichkeit des Spiels scheint zumindest als Ahnung präsent, wenn die restlose Verwirklichung des Ideals wie im Falle der Gemeinschaft von Clarens und der vollkommenen Demokratie nicht nur als unrealisierbar, sondern auch als kaum erstrebenswert dargestellt wird.1 Genau diese tiefgreifende Ambivalenz ist es, die Rousseau auszeichnet. Obwohl – oder gerade weil – er sich uns als entschiedener Denker der Einheit präsentiert, ist es letztlich die Spaltung, die sein Denken fortwährend heimsucht und bestimmt: »Das, was er heftiger als jeder andere ausschloss, muss ihn, wohlgemerkt, mehr als jeden anderen fasziniert und gequält haben.« (Derrida 1967: 147)2
1
Im Gegensatz zu Inston, der Rousseau ganz auf die Seite Nietzsches holen möchte (vgl. Inston 2010: 15), erachte ich die rousseauistische Seite Rousseaus dennoch als die dominante.
2
Vgl. dazu Bürgins Fazit: »Ja, Rousseaus Schriften offenbaren – trotz oder gerade wegen der Vehemenz, mit der sie diese Tatsache abzuwehren suchen – in aller Deutlichkeit, dass die menschliche Existenz letztlich nur über die Anerkennung des Begehrens [...] zu verstehen ist. Damit haben wir Rousseau zwar nicht als Apologeten, jedoch als äusserst sensiblen Denker der Differenz kennen gelernt.« (Bürgin 2008: 168f.)
Ausklang Man wird mir sagen, dass auch ich träume; das gebe ich zu; doch während die anderen sich davor hüten, gebe ich meine Träume als Träume aus und überlasse es dem Leser, danach zu suchen, ob sie irgendetwas Nützliches für aufgeweckte Leute enthalten. ROUSSEAU, EMILE IV 351
Wenn Rousseau uns an seinen Träumen von der Republik teilhaben lässt, dann sind wir manchmal nicht ganz sicher, ob es schöne Träume sind oder vielmehr Alpträume. Auf der einen Seite locken große Versprechen: Freiheit und Gleichheit, das selbstbestimmte Leben unter der Herrschaft gerechter Gesetze, die Erfahrung erfüllter und nichtentfremdeter Gemeinschaftlichkeit. Auf der anderen Seite schreckt die Vision einer homogenen, mit sich selbst identischen Gemeinschaft, die Freiheit durch Kontrolle und Manipulation zu erkaufen scheint. Dazu gehört, wie wir gesehen haben, auch eine rigide heteronormative Geschlechterordnung, die sich nicht von der Logik des Politischen trennen lässt. Ob schön, ob schrecklich – eines zumindest können wir jetzt erahnen: Es sind tatsächlich nur Träume. Rousseau schreibt keine politische Programmschrift; er ist weder Revolutionär noch Reformer; vielleicht wird ihm bereits der Titel des politischen Theoretikers nicht wirklich gerecht.1 Rousseau träumt, und seine Träume nehmen zuweilen als politische Theorie Gestalt an, so wie sie ein anderes Mal in Gestalt einer Pädagogik oder in Gestalt eines Liebesromans erscheinen. Doch wie ernst nimmt Rousseau seine eigenen Träume, und wie ernst möchte er von seinen Leser_innen genommen werden? Diese Frage eindeutig zu
1
Dafür sprechen jedenfalls Rousseaus eigene Zweifel an der Sinnhaftigkeit der politischen Theorie, vgl. Herb 1999: 195ff.
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beantworten, erweist sich letzten Endes als unmöglich. Zu doppelbödig ist das Spiel, das Rousseau mit uns treibt, wenn er sich als politischer Theoretiker in Pose wirft. Will er, dass wir ihm die Rolle des Gesetzgebers abkaufen? Oder sollen wir merken, dass auch er nur ein Scharlatan ist? Anders gefragt: Sitzen wir nun einem genialen Betrug auf, wenn wir Rousseaus Träume für bare Münze nehmen? Oder haben wir lediglich die Parodie nicht verstanden?2 Wie dem auch sei. In jedem Fall gibt es in Rousseaus Träumen für wache Geister mehr als genug Nützliches zu entdecken. Einer der ersten aufgeweckten Leser_innen Rousseaus, Kant, konnte immerhin eine ganze Staatsrechtslehre auf dem Fundament dieser Träume errichten. Die principes du droit politique, die der Contrat social entwirft, markieren zweifellos einen der Höhepunkte des vertragstheoretischen Denkens. Rousseau stellt die klassische Frage des Kontraktualismus nach der Legitimität staatlicher Herrschaft in ihrer radikalsten Form: als problème fondamental der Vereinbarkeit von Freiheit und Ketten. Nicht nur das, er findet darauf auch die konsequenteste Antwort. Kein Residuum des Naturrechts sichert in der Republik die Freiheit des Einzelnen, vielmehr wird die Freiheit selbst zum Grundprinzip der republikanischen Architektur. Zugleich gibt Rousseau seinem Kontraktualismus eine entschieden demokratische Wendung. Bei ihm begegnet uns das Prinzip der Volkssouveränität in seiner reinsten Form: Gesetzgebend kann nur der vereinigte Wille aller sein. Damit schafft Rousseau die gedanklichen Grundlagen, auf denen Kant den Republikanismus des Rechts vollenden kann (vgl. Herb 1989: 209-212). Man kann das nun freilich mit guten Gründen für das größte Verdienst des politischen Rousseau halten – und aufrichtig bedauern, dass der Contrat social nach Kapitel II 6 noch ein Stückchen weitergeht. Sobald Rousseau zu erkennen gibt, dass er die Republik gerade nicht als reine Vernunftidee à la Kant sehen möchte, konfrontiert er uns nämlich mit beunruhigenden Gedankengängen. Andererseits macht genau das seinen Beitrag zur Ideengeschichte auch so spannend (vgl. Honig 2007: 7). Dort, wo Rousseau die rechtstheoretischen Grundlagen seiner Republik überschreitet, stellt er Fragen, die den klassischen Kontraktualismus in Verlegenheit bringen müssen. Auf welchen Voraussetzungen beruht der Staat? Wo und wie werden diese Voraussetzungen geschaffen? So lenkt er den Blick auf Aspekte, die vor allem im liberalen Theoriediskurs zumeist ausge-
2
Letzteres entspricht in etwa dem Vorwurf, den de Man pauschal an alle RousseauInterpret_innen (außer Derrida) adressiert, vgl. de Man 1993, insbesondere 219f. (vgl. Seite 17f.). Einen ähnlichen Vorwurf erhebt, aus einer Straussianischen Perspektive argumentierend, auch Kauffmann 2012, allerdings speziell gegen Russell, pars pro toto für die totalitaristische Lesart der rousseauschen politischen Philosophie.
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blendet werden: auf die emotionalen und lebensweltlichen Grundlagen des Politischen (vgl. Herb 1999: 230). Rousseaus Fixierung auf die Tugend und die Sitten mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, ja sogar dem Verdacht des Totalitären Vorschub leisten. Auf den zweiten Blick jedoch kann man der rousseauschen Feststellung, dass die wahre Verfassung des Staates in den Herzen der Bürger liegt, einen hohen diagnostischen Wert abgewinnen. Bestes Beispiel ist das Thema Geschlechtlichkeit. Obwohl die klassischen liberalen Theorien in aller Regel den Mantel des Schweigens darüber breiten, kommt doch keine von ihnen ohne eine verborgene Geschlechtermatrix aus. Die implizite Ungleichheit der Geschlechter, versteckt im Dunkel des Privaten, bildet die beschämende Schattenseite des liberalen Denkens. Rousseau dagegen zerrt das Thema ans Tageslicht; seine Tugendrepublik baut explizit auf die Ordnung der Geschlechter. Im Gegensatz zu seinen liberalen Kollegen leugnet er nicht, dass das Private immer schon politisch ist – er betont es. Schon deshalb lohnt es sich, seine Fragen ernstzunehmen, auch wenn die Antworten, die er anbietet, nicht befriedigen können. Mehr noch. Indem Rousseau unangenehme Fragen stellt, die sich andere nicht zu stellen trauen, erlaubt er uns einen Blick in die Abgründe des Politischen. Dass die demokratische Verheißung sich unversehens in eine totalitäre Zumutung zu verkehren droht, ist vielleicht weniger Rousseaus theoretisches Versäumnis als vielmehr seine bedeutendste Entdeckung. Wie kein anderer kann er uns daher auf der Reise in das finstere Herz der Demokratie als Reiseleiter dienen. Wenn sich nach dem Tod Gottes der Abgrund der Spaltung auftut, gibt es keinen festen Boden mehr, auf dem die Gesellschaft (sich) gründen kann. Rousseau stellt diese Diagnose, aber den Konsequenzen möchte er am liebsten ausweichen. Er weiß, dass die Einheit ein utopisches Ziel ist, trotzdem kann er es nicht lassen, davon zu träumen. Heute wissen wir aus bitterer Erfahrung, dass diese Träume sich in sehr reale Alpträume verwandeln können. Die rousseausche Nostalgie verliert ihre Unschuld, sobald sie zur Maxime politischen Handelns wird; sobald selbsternannte Rousseauisten tatsächlich versuchen, die Einheit auf Erden zu verwirklichen.3 In der Spukgestalt des totalitären Denkens wird die Sehnsucht nach Einheit zur Heimsuchung des demokratischen Zeitalters. In der »Weigerung« (Gauchet 1990: 149), die radikale Unbestimmtheit der menschli-
3
Zur zweifelhaften Rezeption von Contrat social und Emile durch die Französischen Revolutionäre vgl. Herb/Taureck 2012: 89, 130f. Vgl. etwa auch Halas 2012, der die ›Schuldfrage‹ im Verhältnis zwischen Träumer und politischem Praktiker am Beispiel von Rousseau und Carl Schmitt diskutiert.
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chen Gesellschaft nach dem Tod Gottes auszuhalten, und in dem »wütenden Willen« (ebd.), um jeden Preis zu einer geordneten, transparenten und mit sich selbst identischen Gemeinschaft zurückzukehren, offenbart sich die aggressivregressive Seite des Einheitsstrebens (vgl. ebd.: 148-152; Lefort 1990: 296f.).4 Wenn wir verstehen wollen, wie dieses Denkmuster funktioniert, erweisen sich Rousseaus Träume in der Tat als sehr nützlich. In bemerkenswerter Klarheit führen sie uns den Mechanismus vor Augen, der allen Spielarten des Einheitsdenkens zugrundeliegt. Um das bodenlose Unterfangen des Politischen auf eine angeblich feste Grundlage zu stellen, muss die gesellschaftliche creatio ex nihilo als Verwirklichung eines göttlichen oder quasi-göttlichen Plans ausgegeben werden. Die Ordnung der Natur soll für die Ordnung des Gemeinwesens bürgen. Rousseau verrät uns, dass hier nur mit Täuschungen gearbeitet werden kann. Die Berufung auf die Natur läuft genauso ins Leere wie die Berufung auf Gott, die Vernunft oder die Wahrheit. Dennoch werden alle diese Autoritäten in Stellung gebracht, um die Illusion der Einheit zu erzeugen. Es gilt, darüber hinwegzutäuschen, dass die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft kontingent sind. Auch die Geschlechterordnung ist Teil dieser Strategie: Derselbe Mechanismus der Essentialisierung ist am Werk, ob nun die göttliche Legitimation des Gemeinwesens oder die unanfechtbare Wahrheit der heteronormativen Ordnung beschworen wird. Als Experte für totalitäre Phantasien verdirbt Rousseau uns den beruhigenden Gedanken, dass wir der totalitären Versuchung bereits ein für alle Mal entronnen seien. Der Totalitarismus begleitet das demokratische Projekt als »untrennbarer Doppelgänger« (Gauchet 1990: 148): Er droht überall dort, wo wir uns aus Angst vor der Spaltung in die Illusion der Einheit flüchten wollen. Rousseaus Träume handeln von denselben Dämonen, von denen auch wir noch immer heimgesucht werden. Während wir also noch glauben, in Rousseaus Abgründe zu blicken, blickt Rousseau tief hinein in unsere eigenen Abgründe. Doch obwohl Rousseau so sehnsuchtsvoll von der Einheit träumt, dreht sich bei ihm letztlich alles um die Unerfüllbarkeit dieser Sehnsucht, um das unvermeidliche Scheitern der Einheit. Darin liegt vielleicht der größte Nutzen seiner Träume: dass sie tatsächlich nur Träume sind, die sich nicht verwirklichen lassen und auch nicht verwirklicht werden sollen. Rousseaus profunde Skepsis gegenüber den eigenen Träumen macht ihn, wenn schon nicht zu einem genuinen Denker der Spaltung, so doch immerhin zu einem, der für das politische Denken der Postmoderne in vielerlei Hinsicht anschlussfähig ist. Als eine Art Vordenker wi-
4
Für eine Einschätzung des totalitären Potentials der rousseauschen Utopie im Lichte der lefortschen Analyse des Totalitarismus vgl. Maier 2014: 259-285.
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der Willen mag er deshalb gerade jenen aufgeweckten Leser_innen erscheinen, die das Politische nach dem Tod Gottes zu denken versuchen.5 Erinnern wir uns an seine Ablehnung der vollkommenen Demokratie: Mit seinen Vorbehalten gegen eine Regierung der Götter tritt Rousseau hier fast mehr als Kritiker denn als Apologet des Einheitsdenkens in Erscheinung. Lefort jedenfalls würde diese Vorbehalte gegen einen Staat teilen, in dem das Volk den Ort der Macht besetzt hält; in dem Staat und Gesellschaft zu einem homogenen Körper verschmelzen (vgl. Lefort 1990: 287). Dank der von Rousseau letztlich verteidigten Trennung zwischen Souverän und Regierung bleibt der Ort der Macht in der Republik eine »Leerstelle« (ebd.: 293, Herv. i.O.). Die republikanische Regierung gibt sich tatsächlich, wie Lefort es formulieren würde, »als rein symbolische Instanz zu erkennen« (ebd.): Sie sorgt dafür, dass sich die Gesellschaft auf sich selbst beziehen kann, und verzichtet dabei ganz auf den Anschein einer absoluten Legitimationsbasis. Im Akt der ritualisierten Infragestellung wird die Macht der Regierung regelmäßig zur Disposition und damit in ihrer Kontingenz zur Schau gestellt. Fast ließe sich Rousseau also zum Vordenker der Demokratie, wie Lefort sie beschreibt, ausrufen (vgl. Inston 2010: 173-176). Aber doch nicht ganz. Nach Lefort bietet die Demokratie eine Bühne, auf der vor allem der gesellschaftliche Konflikt inszeniert wird (vgl. Lefort 1990: 293f.). Deshalb ist es durchaus kein Zufall, dass der Regierung in diesem Stück eine Antagonistin zur Seite gestellt wird: die Opposition (vgl. Rebentisch 2012: 335f.). In Rousseaus Inszenierung wäre das undenkbar. Auch wenn seine Regierung sich als symbolische Instanz zu erkennen gibt, symbolisiert sie doch nichts anderes als die Einheit des Volkes. Darüber hinaus wird die symbolische Teilung der Gesellschaft hier in regelmäßigen Abständen aufgehoben und durch die unmittelbare Präsenz des einen, ungeteilten Souveräns ersetzt: Das ganze Theater ist vorbei, sobald in der Volksversammlung das souveräne Volk die Bühne betritt. Vor diesem Hintergrund kann man Rousseaus Republik sicher nicht vorbehaltlos als frühen Entwurf einer radikalen Demokratie feiern. Trotzdem lässt sich durchaus entdecken, wie in Rousseaus Träumen die Umrisse einer radikalen Demokratie Gestalt annehmen – dann nämlich, wenn man weniger auf das blickt, was Rousseau uns anzupreisen versucht, als auf das, was ihn zutiefst verstört und doch nicht loslässt. Die radikale Demokratie wäre gerade keine vollkommene Demokratie, in der alles unter dem Vorzeichen der Einheit verschmilzt. Sie wäre aber auch keine Republik, die ihre Kontingenz hinter der Inszenierung einer trügerischen Einheit verbirgt. Die radikale Demokratie
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Zur postmodernen Anschlussfähigkeit Rousseaus vgl. Comtesse 2016; mit speziellem Fokus auf Lefort vgl. Oppelt 2016.
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wäre vielmehr eine Republik, die der Spaltung die Ehre gibt, indem sie die Einheit als Illusion entlarvt. Die radikale Demokratie wäre also eine Parodie auf die Republik. Dass Rousseau den Gesetzgeber an den Anfang seiner Republik stellt, verrät uns viel über die Kontingenz des Politischen. Die Figur des législateur verkörpert die aporetische Struktur der Rechtsbegründung:6 Aus dem Nichts eine Republik zu erschaffen, mithin Recht zu setzen ohne im Recht zu sein, erfordert eine »grund-lose Gewalt(tat)« (Derrida 1991: 29). Rousseau gibt das offen zu, lässt seinen Gesetzgeber jedoch mit der vorgetäuschten Autorität einer göttlichen Stimme sprechen. Jedem Anfang wohnt ein fauler Zauber inne: Die Berufung auf die Götter verschleiert die unvermeidliche Gewalt am Grunde der Republik (vgl. Johnston 1999: 70). Als glücklicher Betrüger personifiziert der Gesetzgeber so das fundamentalistische Selbstverständnis einer Gesellschaft, die ihre Grundlosigkeit zu leugnen versucht. Das Gegenprinzip dazu könnten wir an der Figur des Scharlatans festmachen – an dem Gesetzgeber, der sich durchschauen lässt. Die parodistische Republik wäre sich dessen bewusst, dass sie von einem Scharlatan gegründet wurde; dass sie nicht auf einer Wahrheit, sondern auf einer Fiktion aufbaut. Statt die Willkür ihres Anfangs zu verleugnen, wüsste sie diese als Teil ihres anti-fundamentalistischen Selbstverständnisses zu inszenieren (vgl. Rebentisch 2012: 318). Wir können uns den gesetzgebenden Scharlatan oder den scharlatanesken Gesetzgeber als strong poet im Sinne Rortys vorstellen: nicht als einen, der »die Wahrheit über die Welt oder die Menschheit entdeckt oder erahnt hat« (Rorty 1992: 110), sondern als einen, der »zufällig treffende Worte« (ebd.) gefunden und eine gute Geschichte zu erzählen hat. Eine Republik, die von einem Scharlatan ins Leben gerufen wurde, kann ja nur aus einem Haufen Narren bestehen. Wie sollen wir uns also die Bürger_innen dieser parodistischen Republik vorstellen? Natürlich müsste es sich zunächst um republikanische Ironiker_innen handeln, die nicht nur die Gründung ihrer Republik, sondern auch ihre eigenen Überzeugungen als kontingent betrachten können.7 Denn die unvermeidliche Willkür des Anfangs setzt sich in der unvermeidlichen Willkür der volonté générale fort. Jede einzelne Entscheidung des Volkes über den Inhalt des Gemeinwillens stellt gewissermaßen eine grund-lose Gewalt(tat) dar, insofern ihr stets ein Moment des Unentscheidbaren innewohnt
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Vgl. Herb 1989: 160; Johnston 1999: 56; Honig 2007: 3; Rebentisch 2012: 309f.; Herb/Taureck 2012: 209.
7
Zur liberalen Ironikerin bei Rorty vgl. vor allem Rorty 1992: 127-161. Die Formulierung republikanische Ironiker_in verdanke ich einer Anregung von Mareike Gebhardt.
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(vgl. Derrida 1991: 49ff.). Rousseau weiß darüber sehr gut Bescheid. Schließlich offenbart sich der Gemeinwille immer nur in Form des rein prozedural erzeugten Gesamtwillens. Rousseau wählt aber auch hier die Verschleierungstaktik, wenn er uns glauben lassen will, die Wahrheit der volonté générale läge auf dem Grunde unserer Herzen verborgen. Republikanische Ironiker_innen würden sich von solcher Rhetorik nicht beeindrucken lassen. Sie würden sich damit zufriedengeben, das als volonté générale zu bezeichnen, was sich als Ergebnis der Abstimmung herausstellt8 – wohl wissend, dass es sich dabei stets nur um den Gesamtwillen handeln kann. Gleichzeitig wären die Bürger_innen der parodistischen Republik auch Schauspieler_innen. In Rousseaus Republik sorgt das Spektakel der Sitten dafür, die Herzen der Bürger zu formen. Die republikanische Identität wird performativ erzeugt, so viel ist sicher. Aber das muss verschleiert werden: Über die Authentizität und Eindeutigkeit der bürgerlichen Identität darf bei Rousseau kein Zweifel bestehen. Die parodistische Republik würde sich dagegen, wie Rebentisch vorschlägt, die Strategie des Theaters zu eigen machen: Sie würde die Kontingenz der Identitäten offen zur Schau zu stellen, um »das Recht zur Ironie im öffentlichen Raum« (Derrida 2003: 131; vgl. Rebentisch 2012: 324-328) zur Geltung zu bringen. Dasselbe gilt auch und gerade für die Geschlechtsidentität. Die Geschlechterordnung erzeugt die männlichen Freunde, Bürger und Soldaten sowie die tugendhaften Frauen, die Rousseaus Republik bevölkern. Gleichzeitig erzeugt sie die Illusion, diese Identitäten seien natürlich gegeben.9 In der parodistischen Republik würde stattdessen jener désordre des sexes herrschen, der Rousseau in seinen unruhigen Träumen verfolgt. Die schamlosen Frauen und verweiblichten Männer, die hier wohnen würden, hätten sich von der Vorstellung einer Wahrheit des Geschlechts verabschiedet. Aus Rousseaus schlechten Träumen vom Verfall der Geschlechterordnung können wir also eine weitere nützliche Lehre ziehen: Weil die Republik der Einheit auf einer heteronormativen Ordnung gründet, schließt das Anliegen einer radikalen Demokratie notwendig eine radikale Kritik der Heteronormativität mit ein. Eine Republik, die auf diese Weise »die Grundlagen aller Gewißheit auflöst« (Lefort 1990: 296, Herv. i.O.), würde sich ganz und gar der radikalen Un-
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Die Formulierung ist angelehnt an Rortys Definition einer liberalen Gesellschaft: »Eine Gesellschaft ist dann liberal, wenn sie sich damit zufriedengibt, das ›wahr‹ zu nennen, was sich als Ergebnis solcher Kämpfe herausstellt.« (Rorty 1992: 96, Herv. i.O.)
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Zur Gleichzeitigkeit von performativer Identitätsbildung und Naturalisierung vgl. Butler 2006: 10.
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bestimmtheit öffnen, die nicht nur Lefort als Wesenskern der Demokratie ausmacht. Wir können hier mit Derrida von der Perfektibilität der Demokratie sprechen, wenn wir diesen Begriff, genau wie Rousseau, in einem vollständig nichtteleologischen Sinne verstehen (vgl. Derrida 2003: 124). Die Demokratie ist unendlich veränderungsfähig, sei es zum Guten, sei es zum Schlechten. Ihre Natur besteht darin, keine Natur zu haben. Rousseau attestiert diese Veränderungsfähigkeit auch seiner Republik, doch er interpretiert sie pessimistisch, als angeborene Veranlagung zur Entartung. So wie bereits der Mensch durch seine Perfektibilität in den Strudel des geschichtlichen Abgrunds geraten ist, so ist auch die Republik durch ihre Perfektibilität dem Untergang geweiht. Rousseaus Anliegen ist es deshalb, dieses unvermeidliche Ende hinauszuzögern: Gute Institutionen und Sitten, von einem weisen Gesetzgeber eingerichtet, können den Niedergang immerhin verlangsamen. Rousseau selbst, der seine Furcht vor den Auswirkungen der Spaltung nie ganz ablegen kann, taugt also nicht wirklich zum Propheten einer radikalen Demokratie. Stattdessen können wir uns jedoch auf eine Prophetin berufen, die seinen Träumen entsprungen ist: Julie. Als Gesetzgeberin der totalitären Vision von Clarens ist sie gescheitert. Mit ihrem kraftvollen Plädoyer für das Begehren und die Einbildungskraft ist sie jedoch in der Lage, eine völlig neue Vision ins Leben zu rufen. Wenn wir uns dieser Vision anschließen, dann stellen wir fest, dass es sich mit der Demokratie so verhält wie mit dem Glück: Was sie ausmacht, ist gerade nicht ihre vollkommene Verwirklichung, sondern das unendliche, unabschließbare Streben danach. Die Demokratie bleibt, wie Derrida es formuliert, im Kommen.10 Julie formuliert es so: »Das Land der Schimären ist auf dieser Welt das einzige, das wert ist, bewohnt zu werden« (Julie II 693). Die Republik können wir uns als ein solches Land der Schimären vorstellen. Sie gibt ein Versprechen, das sie nicht halten kann und an das wir doch glauben dürfen.11 Sie ist eine völlig unbegründete Hoffnung, auf die wir trotzdem alles setzen können. Rousseaus Traum von der Freiheit: Wir dürfen, wir müssen ihn immer weiter träumen – und wie könnten wir auch anders?
10 Zur démocratie à venir vgl. Derrida 2003: 116-131, mit Blick auf Rousseau insbesondere auch 106f. 11 De Man interpretiert den Contrat social als Versprechen, das zugleich seine Unhaltbarkeit demonstriert, vgl. de Man 1979: 246-277. Inston greift diese Interpretation auf und wendet sie ins Positive, indem er sie mit Derridas démocratie à venir in Verbindung setzt, vgl. Inston 2010: 181-187.
Danksagung
Mein Dank gilt all jenen, die dieses Projekt begleitet und ermöglicht haben, allen voran Karlfriedrich Herb, der diese Arbeit in vielfältiger Weise inspiriert und gefördert hat, sowie Hans-Martin Schönherr-Mann und Jürgen Daiber für ihre wertvolle Unterstützung. Für konstruktive Kritik und hilfreiche Anregungen danke ich den Betreuer_ innen des Bayerischen Promotionskollegs Politische Theorie, Hans-Jörg Sigwart, Barbara Zehnpfennig, Clemens Kauffmann und Manfred Brocker, sowie den Promovierenden des Kollegs, hier vor allem Martin Correll, Christina Kast und David Schkade. Darüber hinaus danke ich Friederike Kuster, Karina Korecky, Martin Oppelt und Dagmar Comtesse für den produktiven Dialog auf verschiedenen Fachtagungen. Ein besonderer Dank geht an die inoffizielle Regensburger Rousseau-Forschungsgruppe: Den intensiven Gesprächen mit Tobias Maier und Franz Halas verdanke ich zahlreiche Ideen und Erkenntnisse sowie mehrere wertvolle Lektüreempfehlungen. Schließlich gilt ein tief empfundener Dank meinen ehemaligen Kolleginnen Kathrin Morgenstern und Mareike Gebhardt, die mir in den vergangenen Jahren nicht nur mit ihrer fachlichen Kompetenz, sondern auch mit ihrer Freundschaft immer zur Seite gestanden sind. Auch Elena Köstner und Lirie Avdullahu möchte ich für ihre Unterstützung und treue Freundschaft danken. Für die Korrektur des Manuskripts bin ich Mareike Gebhardt, Kathrin Morgenstern und meinem Vater Maximilian Scherl zu Dank verpflichtet. Meiner Familie möchte ich dieses Buch widmen.
Siglenverzeichnis
W ERKE
VON
R OUSSEAU
Zitiert wurde durchgängig nach der Pléiade-Ausgabe der Œuvres Complètes (vgl. Literaturverzeichnis); der Band ist in römischen, die Seitenzahlen sind in arabischen Ziffern angegeben. Die Übersetzung der französischen Zitate ins Deutsche ist meine eigene, orientiert sich jedoch zum Teil an den im Literaturverzeichnis angegebenen deutschen Übersetzungen. CS CSMG DI DSA Emile EOL EP E&S FP Julie LdA LdM Pologne Rêveries
Du Contrat social (III) Du Contrat social (Première version, Manuscrit de Genève) (III) Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité (III) Discours sur les sciences et les arts (III) Émile ou De l’éducation (IV) Essai sur l’origine des langues (V) Discours sur l’économie politique (III) Émile et Sophie (IV) Fragments politiques (III) Julie ou La Nouvelle Héloïse (II) Lettre à M. d’Alembert (V) Quatre Lettres à M. de Malesherbes (I) Considérations sur le gouvernement de Pologne (III) Les Rêveries du promeneur solitaire (I)
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W EITERE P RIMÄRWERKE Zitiert wurde jeweils nach den im Literaturverzeichnis angegebenen Ausgaben. Hobbes, Lev. Kant, RL AA
Kant, ZeF AA Locke, TG Nietzsche, FW Platon, Pol.
Leviathan (Buchteil in römischen, Kapitel in arabischen Ziffern) Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfgangsgründe der Rechtslehre (Seitenzahl in arabischen Ziffern) Zum ewigen Frieden (Seitenzahl in arabischen Ziffern) Two Treatises of Government (Buchteil in römischen, Paragraph in arabischen Ziffern) Die fröhliche Wissenschaft (Aphorismusnummer in arabischen Ziffern) Der Staat (zitiert nach Stephanus)
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