Ernst Cassirer in systematischen Beziehungen: Zur kritisch-kommunikativen Bedeutung seiner Kulturphilosophie 9783110549478, 9783110548921

The volume is devoted to Ernst Cassirer as a philosopher of connections. His work allows the linking of disparate ideas

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German Pages 316 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung der Herausgeber
An den Grenzen der Symbolisierung
Was sind die Objekte der Wahrnehmung?
Rekonstruktive Synthesis
Basisphänomen und Leibapriori
Cassirers analytische Philosophie
Der leibliche Grund der Symbolfunktion
Mind als Geist in der Welt der Kultur
Inkarnierter Sinn
„Werkzeug-Denken“
Formwerdung und Formlosigkeit der Form
Transformation oder Deformation des Subjekts?
Ästhetik versus Kunstgeschichte?
Cassirer und die Verhaltensbiologie
Michel Foucault als Leser Ernst Cassirers
Siglenverzeichnis
Personenregister
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Ernst Cassirer in systematischen Beziehungen: Zur kritisch-kommunikativen Bedeutung seiner Kulturphilosophie
 9783110549478, 9783110548921

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Ernst Cassirer in systematischen Beziehungen

Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderbände 40

Ernst Cassirer in systematischen Beziehungen Zur kritisch-kommunikativen Bedeutung seiner Kulturphilosophie Herausgegeben von Thiemo Breyer und Stefan Niklas

ISBN 978-3-11-054892-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054947-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-054914-0 ISSN 1617-3325 Library of Congress Control Number: 2018957419 Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Printing and binding: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Thiemo Breyer und Stefan Niklas Einleitung der Herausgeber Zur kritisch-kommunikativen Haltung der Philosophie Ernst Cassirers

1

Elio Antonucci An den Grenzen der Symbolisierung Eine vergleichende Studie zu den triadischen Phänomenologien von Charles S. 7 Peirce und Ernst Cassirer Tobias Endres Was sind die Objekte der Wahrnehmung? Ernst Cassirers Antwort auf die analytische Wahrnehmungstheorie

25

Sascha Freyberg und Stefan Niklas Rekonstruktive Synthesis Zur Methodik der Kulturphilosophie bei Ernst Cassirer und John Dewey

47

Oliver Honer Basisphänomen und Leibapriori Überlegungen zu einem kulturphilosophischen Begriff dialektischer Praxis Guido Kreis Cassirers analytische Philosophie

89

Marion Lauschke Der leibliche Grund der Symbolfunktion Über Spannungsbögen und „dynamische Bewegungseinheiten“ als 113 Vermittlungsformen von Geist und Leben Sebastian Luft Mind als Geist in der Welt der Kultur Kulturphilosophie, „Naturalistische“ Transzendentalphilosophie und die Frage 129 nach dem Raum der Kultur Nikolai Mähl Inkarnierter Sinn Zur Symbolik des Leibes bei Cassirer und Merleau-Ponty

151

69

VI

Inhalt

Oliver Müller „Werkzeug-Denken“ Ernst Cassirers Theorie der ‚Entechnisierung‘ des Selbst- und Weltverhältnisses 175 Ralf Müller Formwerdung und Formlosigkeit der Form Die Beiträge von Ernst Cassirer und Nishida Kitarō zur Lebensphilosophie

195

Viola Nordsieck Transformation oder Deformation des Subjekts? 217 Ernst Cassirer und die Kritische Theorie Martina Sauer Ästhetik versus Kunstgeschichte? Ernst Cassirer als Vermittler in einer bis heute offenen Kontroverse zur Relevanz 239 der Kunst für das Leben Felix Schwarz Cassirer und die Verhaltensbiologie

261

Muriel van Vliet Michel Foucault als Leser Ernst Cassirers Siglenverzeichnis

303

Personenregister

305

283

Thiemo Breyer und Stefan Niklas

Einleitung der Herausgeber

Zur kritisch-kommunikativen Haltung der Philosophie Ernst Cassirers Am Anfang dieses Bandes stand ein Workshop an der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities (Universität zu Köln), der sich Ernst Cassirers Philosophie in der neueren Forschung widmete. Mit ‚neuerer Forschung‘ waren sowohl aktuelle Untersuchungen zu Cassirer selbst als auch die Bedeutung seiner Philosophie für die heutige Forschung in den verschiedensten Wissenschaftsgebieten gemeint. Eingeladen hatten wir zunächst nur eine Handvoll Philosoph*innen, die in der jüngeren Vergangenheit zu Cassirer veröffentlicht hatten und gemeinsam mit uns (d. h. den beiden Herausgebern dieses Bandes und ihren damaligen Kolleg*innen an der a.r.t.e.s. Graduate School) im Rahmen eines konzentrierten Arbeitstreffens intensiv diskutieren wollten, was ein ‚frischer‘ Blick auf Cassirers Philosophie zu Tage bringen könnte. Unsere fünf Gäste waren Guido Kreis, Marion Lauschke, Sebastian Luft, Viola Nordsieck und Muriel van Vliet, die alle in diesem Band mit ihren – zum Teil weit über das Vorgetragene hinausgehenden – Texten vertreten sind. Das vermeintlich kleine Arbeitstreffen stieß jedoch auf eine Resonanz, mit der wir so nicht gerechnet hatten. Die zahlreichen angereisten Cassirer-Expert*innen – und es darf hervorgehoben werden, dass es sich dabei in der großen Mehrheit um sogenannte Nachwuchswissenschaftler*innen handelte – trugen zu einer äußerst produktiven Diskussion bei, die einmal mehr bestätigte, dass Cassirer längst vom Vergessenen über den Geheimtipp zum Klassiker aufgestiegen ist. Diese Resonanz und die beeindruckende Dichte des stattgefundenen Dialogs hat uns sodann nicht nur motiviert, überhaupt eine Publikation der überarbeiteten – oder auch gänzlich neu aufgesetzten – Beiträge anzustreben, sondern auch den Kreis der Beiträger*innen über den der eingeladenen Gäste hinaus noch einmal deutlich zu erweitern; mit anderen Worten also nicht einen Themenschwerpunkt, sondern einen ganzen Sonderband zu organiseren, der hiermit nun vorliegt. Wenn Klassiker in der Philosophie die Funktion haben, durch ihr fortwährendes Interpretiertwerden – und vor allem über dieses hinaus! – Medien der Diskussion zu sein, so ist Cassirers Status als (kultur‐)philosophischer Klassiker in besonderer Weise gerechtfertigt: Seine Philosophie ist strukturell auf kritische Vermittlung ausgelegt, und zwar sowohl im Sinn eines Theoriemediums, das eine Terminologie und Methode anbietet, wie auch als Mediator im Sinne der Integration unterschiedlicher, teils widerstrebender Positionen als Problemzusammenhänge. In diesem Sinn ist Cassirers Werk ein philosophischer Beziehungsstifter, es ermöglicht sachliche Verbindungen, wo terminologische und methodische Unterschiede – und vor allem die damit verbundenen Vorurteile – die wechselseitige kritische Ergänzung sonst verhindern. Diese Verbindungen betreffen nicht nur die Beziehungen zwischen pauschal so bezeichneten Gebilden wie der ‚analytischen‘ und der ‚kontinentalen‘ Philosophie, sondern https://doi.org/10.1515/9783110549478-001

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Thiemo Breyer und Stefan Niklas

überhaupt das Verhältnis von ‚analytischen‘ und ‚synthetischen‘ oder ‚diskursiven‘ und ‚intuitiven‘ Verfahren und Erkenntnisstilen, von historischer Betrachtung und systematischer Auswertung, von kategorialer Kohärenz und thematischer Offenheit sowie von informierter Einbeziehung der jeweils aktuellen Forschung und traditionsbewusster Treue zu bewährten Quellen und Mitteln des philosophischen Denkens. Cassirer ist also Klassiker nicht (nur) um einer bestimmten Position willen, sondern (vor allem) um einer bestimmten Haltung willen. Wenn wir von der kritischkommunikativen Bedeutung seiner Kulturphilosophie sprechen, so meinen wir eben diese Haltung, die in seiner Philosophie zum Ausdruck kommt, aber mehr noch durch sie. Wie der Ausdruck kommunikativ verdeutlichen soll, ist diese Haltung wesentlich durch ihre Offenheit, durch einen konsequenten Pluralismus der Wissens-, Anschauungs- und Lebensformen (kurz: der symbolischen Formen) gekennzeichnet. Ist die integrative Vermittlung prinzipiell auf Verständigung ausgelegt, so ist diese eher am Ideal der Verständlichkeit als an dem der Harmonie oder Versöhnung zu messen. Denn Spannungen, Widersprüche und direkte Negationen innerhalb der symbolischen Formen sind, wie Cassirer immer wieder betont hat, Teil ihrer Dynamik und machen im klassischen Vokabular des Deutschen Idealismus – also jenem Vokabular, das Cassirer aufnimmt und weiterentwickelt – deren Dialektik aus (vgl. exemplarisch PSF 2/ECW 12, S. 275 – 306). Insbesondere in ihrem Bezug zur wissenschaftlichen Forschung, wo Kontroversen und Konflikte der Normalfall sind, muss sich die (Kultur‐) Philosophie mitten in die entsprechenden Auseinandersetzungen begeben, um die systematischen Beziehungen rekonstruieren zu können, die dort herrschen – entweder trotz der Konflikte oder gerade in Gestalt dieser Konflikte. Eben hier setzt auch der kritische Aspekt dieser Haltung, d. h. die kritische Funktion von Cassirers Philosophie an. Denn um Gegensätzliches miteinander verbinden zu können, müssen Grenzbestimmungen und Ebenenunterscheidungen vorgenommen werden, es muss also Kritik im kantischen Sinn geübt werden. Darüber hinaus ist Cassirers Kulturphilosophie im engagierten Sinn kritisch gegenüber jeder Vereinseitigung und Verengung der Perspektiven und der Reduktion auf ein – dann nur noch behauptetes und nicht mehr aufgewiesenes – Prinzip oder Ziel. Die Verteidigung des Pluralismus der menschlichen Wissens-, Anschauungs- und Lebensformen ist, mit anderen Worten, das Motiv dieser Kritik, die – wenn nötig – eine Korrektur von metaphysischen, moralisch-weltanschaulichen, politischen oder sonstigen Vorurteilen vornehmen muss. Was diese Kritik aber nicht will, ist brachial durchzugreifen oder ihr Anliegen mit dem Furor der vermeintlich notwendigen Übertreibung (als dem einzig verbleibenden Weg zur Wahrheit) vorzutragen. Vielmehr will sie umsichtig vorgehen, die Probleme durchmessen und schließlich in ein offenes Ganzes integrieren. Man könnte diese Haltung als Konzilianz ansprechen, wenn darin nicht wieder die falsche Versöhnung mitschwingen würde, die mit dem offenen Ganzen gerade nicht gemeint sein kann, da dessen Teile ebenso konvergieren wie konfligieren können, ohne jemals einer Harmonisierung oder ‚Aufhebung‘ zuzustreben. Dennoch gehört auch ein gewisser Enthusiasmus zu dieser konzilianten Haltung, die sich von Erkenntnissen überzeugen und von Intuitionen anstecken lässt; nur will sie sich nicht

Einleitung der Herausgeber

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von einzelnen Positionen dauerhaft mitreißen lassen, sondern diese stets wieder durch andere ergänzen. (Davon ausgenommen ist bestenfalls das eigene Pathos der durch die Vielfalt der Formen zu erlangenden Freiheit, das zuweilen durchaus Spott auf sich zieht, wie man in Lehrveranstaltungen und auf Konferenzen leicht überprüfen kann.) Eine derartige Auffassung von kommunikativer Kritik (und kritischer Kommunikation) scheint im politischen Kampf nicht die gewünschten Effekte zu erzielen; und auch im philosophischen Diskurs läuft sie Gefahr, durch scheinbar mangelnde (rhetorische) Schärfe, nicht tief genug einzukerben, nicht deutlich genug auf den Punkt zu bringen, was es nun zu denken und zu tun gibt. Das jedenfalls mag ein wichtiger Grund dafür sein, dass diese konziliante, konsequent pluralistische Haltung in der Philosophie lange Zeit nicht gewürdigt wurde und neben den dominanten Strömungen und deren jeweiligem Gestus nur eine wenig beachtete Rolle spielen konnte. Unbeachtet blieb dadurch nicht nur, dass es bei Cassirer durchaus engagierte Kritik an praktischen Verhältnissen gibt – beispielsweise in seiner (zugegebenermaßen späten) Kritik an den modernen politischen Techniken des Mythos (vgl. ECW 24, S. 197– 208 und ECW 25) –, sondern auch, dass seine Erkenntniskritik einer ethisch-politischen Überzeugung entspricht. Die Zeiten scheinen sich jedenfalls wieder einmal geändert zu haben, Cassirers Denken ist vielleicht sogar attraktiver denn je, und auch sein vermeintlich altmodischer Stil – der Ausdruck der beschriebenen Haltung ist – wird wieder akzeptiert. Die Fragen, auf die Cassirer nach Antworten gesucht hat, scheinen jenen Fragen zu entsprechen oder wenigstens zu ähneln, die auch aus heutigen philosophischen Erkenntnisinteressen und Deutungsbedürfnissen sprechen. Doch wie genau entfaltet sich nun die kritisch-kommunikative Bedeutung von Cassirers Philosophie in systematischer Hinsicht? Worin bestehen, mit anderen Worten, die systematischen Beziehungen, die sich heute mit seinem Werk stiften lassen? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen die entsprechenden Beziehungen nicht bloß behauptet, sondern gezeigt werden. Genau das tun die Beiträge dieses Bandes: Sie zeigen jeweils Aspekte von Cassirers Philosophie in ihrer Beziehung zu anderen philosophischen und wissenschaftlichen Projekten, um auf diese Weise nicht nur zu belegen, dass das besagte kritisch-kommunikative Potenzial besteht, sondern dieses auch sogleich nutzbar zu machen. Hierzu gehören die Beziehung Cassirers zur analytischen Philosophie, speziell im Kontext der Wahrnehmungsphilosophie bei Tim Crane und Peter Strawson (Tobias Endres) sowie zu Strawsons Projekt einer deskriptiven Metaphysik (Guido Kreis) und zur Bewusstseinstheorie John McDowells und der Pittsburgh School (Sebastian Luft). Das betrifft weiter das Verhältnis zum amerikanischen Pragmatismus, zum einen in Bezug auf die Symboltheorie bei Charles S. Peirce (Elio Antonuci) und zum anderen auch in Bezug auf John Dewey und die rekonstruktive Logik der Kulturforschung (Sascha Freyberg und Stefan Niklas). Besondere Aufmerksamkeit erhält sodann das Verhältnis Cassirers zur Theorie des Leibes, und zwar mit Blick auf Karl-Otto Apels Idee des Leibapriori (Oliver Honer), auf Merleau-Ponty und die Symbolik des Leibes (Nikolai Mähl) und als Phänomenologie leiblich vermittelter Subjektivität nochmals mit Bezug auf Merleau-

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Thiemo Breyer und Stefan Niklas

Ponty sowie auf Thomas Fuchs und die Theorie vorbewusster Lebendigkeit (Marion Lauschke). Das Thema der Lebendigkeit bzw. des Lebens zieht sich auf unterschiedliche Weise auch durch Beiträge zu Cassirers Technikphilosophie vor dem Hintergrund von enactivism und 4e cognition (Oliver Müller), zu Cassirers Verhältnis zur Verhaltensbiologie und seiner Anschlussfähigkeit im Kontext der gegenwärtigen anthropologischen Forschung (Felix Schwarz) sowie zu seiner Vermittlerrolle im alten Streit um die Bedeutung der Kunst für das Leben (Martina Sauer). Weiterhin wird Cassirers Philosophie im Dialog mit der Kritischen Theorie auf das Problem der „pathologischen Verformung“ des Subjekts bezogen (Viola Nordsieck). Ebenso wird Cassirers Bedeutung für seinen Leser Michel Foucault in ethischer, logischer und methodischpolitischer Hinsicht beleuchtet (Muriel van Vliet). Im Vergleich und Dialog mit dem Denken des japanischen Philosophen Nishida Kitarō wird schließlich die Dialektik des Formbegriffs behandelt (Ralf Müller). Wir – und mit diesem ‚wir‘ erlauben sich die Herausgeber für die Autor*innen mit zu sprechen – sehen unseren Band keineswegs in ‚Konkurrenz‘ zu anderen beachtenswerten Bänden, die unlängst zu Cassirer erschienen sind, sondern freuen uns über die gute Gesellschaft, in der sich sodann trefflich streiten lässt! Wir sehen uns als Teil einer Forschergemeinschaft, die Cassirer neu lesen (Endres/Favuzzi/Klattenhoff 2016) will und an A Novel Assessment (Friedman/Luft 2015) seiner Philosophie interessiert ist.¹ Wir teilen diese Anliegen (und wie sich leicht feststellen lässt, sind einige Autor*innen dieses Bandes auch an den anderen Projekten beteiligt) und setzten hier also speziell den Fokus auf Cassirers Philosophie als dem zentralen Punkt, von dem aus systematische Beziehungen in allerlei, teils überraschende Richtungen gehen. Dabei geht es nicht allein darum, einen Beitrag zur Cassirer-Forschung zu leisten, sondern prinzipieller für die kritisch-kommunikative Haltung einzutreten, die sich an Cassirer lernen lässt, um sie in die Praxis der Philosophie insgesamt zu tragen. Wir haben darauf verzichtet, die Beiträge unter Rubriken zu gruppieren, die das entstehende Beziehungsgewebe vorab in Zonen einteilen würden. Stattdessen lassen wir die Reihenfolge der Beiträge von der formal strengen, aber sachlich ungebundenen Ordnung des Alphabets diktieren. Die oben angedeutete Bündelung der Beiträge nach ungefähren thematischen Zusammenhängen bitten wir in diesem Sinn als den bloß rhetorisch-didaktischen Versuch zu verstehen, das Panorama des Bandes einmal kurz zu überblicken. Wir bedanken uns ganz herzlich bei allen, die zum Gelingen des Workshops und dieses Bandes beigetragen haben. Der Dank gilt zunächst den Beiträger*innen sowie dem diskussionsfreudigen Publikum beim Workshop, weiter der a.r.t.e.s. Graduate School, insbesondere Andreas Speer und den Kolleg*innen am Research Lab. Ein besonderer Dank gebührt dem Sonderforschungsbereich 806 „Our Way to Europe“ und seinem Sprecher Jürgen Richter für die interessierte Begleitung unserer kultur-

 Weitere Publikationsprojekte in französischer und englischer Sprache sind auf dem Weg (vgl. van Vliet i.V.; Pollock/Filieri i.V.).

Einleitung der Herausgeber

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philosophischen Fragestellungen sowie für einen großzügigen Druckkostenzuschuss. Den Herausgeber*innen der Deutschen Zeitschrift für Philosophie danken wir für die Aufnahme in die Reihe der Sonderbände. Schließlich bedanken wir uns bei Gertrud Grünkorn und Johanna Davids für die verlegerische Betreuung sowie Erik Norman Dzwiza, Niklas Grouls und Carina Sperber für die Unterstützung bei der editorischen Arbeit am Manuskript. Köln und Amsterdam im April 2018 Thiemo Breyer und Stefan Niklas

Literaturverzeichnis Endres, Tobias/Favuzzi, Pellegrino/Klattenhoff, Timo (Hrsg.) (2016): Philosophie der Kultur- und Wissensformen. Ernst Cassirer neu lesen. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang. Friedman, J. Tyler/Luft, Sebastian (Hrsg.) (2015): The Philosophy of Ernst Cassirer. A Novel Assessment. Berlin/Boston: de Gruyter. Pollock, Anne/Filieri, Luigi (Hrsg.) (i.V.): Ernst Cassirer’s Philosophy of Symbolic Forms. The Method of Culture. Pisa: Edizioni ETS. Van Vliet, Muriel (Hrsg.) (i.V.): Cassirer et l’exile americaine. Paris: Éditions Honoré Champion.

Elio Antonucci

An den Grenzen der Symbolisierung Eine vergleichende Studie zu den triadischen Phänomenologien von Charles S. Peirce und Ernst Cassirer Abstract: At the threshold of symbolic expression: A comparative study of Charles S. Peirce’s and Ernst Cassirer’s triadic phenomenological theories of categories. Both Peirce and Cassirer developed, in a mature stage of their philosophical reflection, phenomenological theories on three fundamental categories: Firstness, Secondness, and Thirdness are the names of Peirce’s categories, while Cassirer’s ‚basis phenomena‘ are denominated with the personal pronouns Ich, Du and Es. Prompted by John Michael Krois’s suggestion of an indirect similarity between the two phenomenological theories of categories, this essay aims to find a possible justification for this convergence, thereby reconstructing its metaphysical and epistemological grounding. The study is divided into four sections. In the first part, Peirce’s and Cassirer’s theories of knowledge are compared as expressions of a similar symbolic conception of thought. Secondly, I offer a parallel account of the reasons which led the two philosophers toward a more metaphysical grounding of their symbolic theories, focusing in particular on the relevance of the problem of life in both views. In the third section, I concentrate on the content of the two phenomenological theories and argue that they both represent an attempt to conciliate the tension between the transcendental premises of their symbolic theories of knowledge and the living character of experience. Finally, the reflections of Goethe and Schiller are presented as a possible source of Peirce’s and Cassirer’s triadic phenomenological theories. Keywords: triadic phenomenology, Charles Sanders Peirces, Ernst Cassirer, basephenomena, aesthetics of Romanticism

Einleitung Im Jahr 1995 eröffnete John Michael Krois in einem Aufsatz das Potenzial, die Phänomenologie von Charles S. Peirce und die Theorie der drei Basisphänomene von Ernst Cassirer zu vergleichen (vgl. Krois 1995). Krois war diesbezüglich der Erste, der betonte, dass Peirce und Cassirer in ihren Spätwerken ähnliche phänomenologische Theorien ausarbeiteten, die sich in drei Grundkategorien auffächern. Krois stellte in zwei späteren Aufsätzen die These auf, dass bei Peirce wie bei Cassirer die triadischen Theorien jeweils als Basis ihrer semiotischen Erkenntnistheorien dienen (vgl. Krois 2004; 2012). Mit diesen triadischen Konzeptionen unternehmen die beiden Philosophen den Versuch, das Phänomen des Erscheinens in seiner eigenen Entwicklung zu beobachten, unabhängig davon, ob es durch besondere symbolische Erkenntnisbedingungen konstituiert ist. Das wesentliche Problem, den tieferen Grund dieser unhttps://doi.org/10.1515/9783110549478-002

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Elio Antonucci

erwarteten Übereinstimmung zwischen den beiden Philosophen zu identifizieren, blieb jedoch ungelöst. Die Fokussierung auf den jeweiligen Entstehungsprozess der triadischen Theorien ist eine Weiterentwicklung im Rahmen des Vergleichs zwischen Peirce und Cassirer und eröffnet eine neue Perspektive, vor allem, wenn die besondere Stellung der Phänomenologie innerhalb der Philosophien von Peirce und Cassirer ausgewertet wird.¹ Die Peirce’sche Kategorienlehre entstand ab dem Jahr 1885 in engem Bezug zu seiner Evolutionsmetaphysik, sodass eine Verwandtschaft im Gedankengang dieser beiden Ansätze festgestellt werden kann (vgl. Rosensohn 1974, S. 63; Topa 2007, S. 23). Die Kategorienlehre bietet eine Phänomenbeschreibung, die eine Kohärenz zwischen den Grundlagen von Peirces semiotischer Erkenntnistheorie und seiner kosmologischen Theorie zu etablieren versucht. Gleichermaßen steht die Theorie der Basisphänomene von Cassirer in enger Verbindung mit einer metaphysischen Überlegung, durch die er in den Jahren 1921– 27 eine neue Begründung der Theorie der symbolischen Formen unternimmt (vgl. Möckel 2010, S. 74). Es scheint daher zulässig, im metaphysischen Hintergrund ein gemeinsames Motiv beider Denker zu suchen, das die Übereinstimmung in den phänomenologischen Theorien aufklären kann. Dieser Anknüpfungspunkt liegt in der Thematik des Lebens, bei der sich die Analysen von Peirce und Cassirer in der Anerkennung einer wirkenden Spontaneität treffen. Die These, die in diesem Aufsatz verfolgt wird, lautet, dass das Lebensproblem zu einer Revision der transzendentalen Grundlagen ihrer symbolischen Erkenntnistheorien führt. Die triadischen phänomenologischen Theorien bieten ein Schema, um den symbolischen Prozess und das Leben zu vereinen. Die Ausarbeitung ist in drei Teile gegliedert: Zuerst werden die Voraussetzungen für die Peirce’schen und Cassirer’schen symbolischen Erkenntnistheorien verglichen (1); danach werden die beiden metaphysischen Überlegungen untersucht und das Lebensproblem in den Fokus gestellt (2); im dritten Teil wird die phänomenologische Trichotomie analysiert (3); schließlich wird in der deutschen Romantik eine gemeinsame Quelle des triadischen Themas aufgedeckt, die einen Grund für die Konvergenz zwischen Peirce und Cassirer bieten kann (4).

1 Die symbolischen Erkenntnisbedingungen Die Überlegungen von Peirce und Cassirer treffen sich in der These über die symbolische Natur des Denkprozesses,² die das Fundament sowohl der Philosophie der

 Die Auseinandersetzung zwischen Peirce und Cassirer ist tatsächlich ein Thema, das schon in den 1970er und 1980er Jahren in verschiedenen Aufsätzen von J.M. Krois, K. Oehler und H. Paetzold diskutiert wurde. Die daran anschließende Debatte hat sich aber zumeist auf das Problem der Semiotik beschränkt. Für eine aktuelle Zusammenfassung vgl. Andermatt (2007) und Stjernfelt (2012).  In diesem Text verwende ich die Bezeichnung symbolisch nicht in Bezug auf die Spezifität des Symbols der Peirce’schen Semiotik, sondern im allgemeinen Sinne, um die zwischen den beiden Philosophen geteilte These der zeichenvermittelten Erkenntnisnatur zu betonen. Die Bezeichnung

An den Grenzen der Symbolisierung

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symbolischen Formen (Cassirer) als auch der semiotischen Erkenntnistheorie (Peirce) bildet.³ Im Rahmen dieser beiden Perspektiven besagt die These der symbolischen Natur des Denkprozesses nicht nur, dass sich das Denken aus der Konstruktion und Anwendung von Zeichen unterschiedlicher Art konstituiert, sondern dass jeder Begriff in sich ein symbolisches Verhalten zeigt. Peirce und Cassirer etablieren auf diese Weise die leibnizianische These der cognitio symbolica neu und entwickeln mit ihren Zeichentheorien nicht nur semiotische Theorien der Zeichenanwendung oder der Zeichenklassifikation, sondern arbeiten zwei bestimmte Erkenntnisperspektiven heraus, die dieselbe funktionale und symbolische Auffassung von Kognition teilen. In gleichem Maße baut der Gedankengang in beiden Fällen auf der transzendentalen Philosophie Kants auf, was sich insbesondere in der Beachtung offenbart, die dem Prozess der Erkenntniskonstituierung geschenkt wird.⁴ Der Einfluss Kants auf die Peirce’sche Philosophie zeigt sich bereits in seinen ersten Schriften, insbesondere in The New List of Categories und, wenn auch weniger offensichtlich, in den sogenannten anticartesianischen Schriften der Jahre 1868 und 1869,⁵ in denen er sein semiotisches Modell der Erkenntnistheorie entwickelt. Zentral für diese Theorie ist, dass die Möglichkeit des Intuitionsvermögens verworfen wird, die Peirce zur Abwendung vom cartesianischen Rationalismus ebenso wie von jeder naiven Form von Empirismus führt, die einen direkten Zugang zur Erfahrung postuliert (vgl. Fisch 1986, S. 216; vgl. CP 5.291– 309). Für Peirce gibt es keinen primären Zugang zu empirischen Daten, stattdessen werden alle Daten innerhalb des semiotischen Prozesses durch den Vollzug von hypothetischen Schlüssen für die Interpretation der Erfahrungsinhalte konstituiert. Die Bedeutung der Begriffe entsteht im Verweis, in der funktionalen Beziehung der Begriffe untereinander, und das Denken wird als unterschiedliche semiotische Funktionen interpretierende Aktivität beschrieben. Auf derselben transzendentalen und anti-empirischen Ebene setzt auch Cassirer schon in seinem Werk Substanzbegriff und Funktionsbegriff an. In seiner Analyse der Logik der Begriffsbildung verneint er die Möglichkeit, rein sinnliche Gegenstände der Wahrnehmung zu begreifen und sieht die Dynamik der Begriffsbildung in dem Zusammenhang zwischen besonderen empirischen Daten und allgemeinen, logischen Gesetzen (vgl. ECW 6, S. 24; s.a. ECW 11, S. 39 – 49). Cassirer verwirft damit nicht nur semiotisch wird in demselben Sinn verwendet und lässt die Frage über den Unterschied der beiden Zeichentheorien beiseite, bezüglich derer ich auf Andermatt (2007, Kap. 3) verweise.  Die in den Lowell Lectures über die Logik der Wissenschaft im Jahr 1866 erdachte Formulierung: „All thinking is a process of symbolization, for the conceptions of the understanding are symbols in the strict sense“ (W 1.469) spiegelt sich indirekt fast genau in der Cassirer’schen These wider, dass „alles wahrhaft strenge und exakte Denken […] seinen Halt erst in der Symbolik und Semiotik, auf die es sich stützt“ (ECW 11, S. 16), findet.  Ferrari (2012, S. 15) vermutet, dass sowohl Peirce als auch Cassirer eine Integration der leibnizianischen und der kantianischen Tradition des symbolischen Denkens vornehmen.  Noch in diesem Text betont Peirce die Kontinuität zwischen seiner Perspektive und der Erkenntnisphilosophie Kants (vgl. die Fußnote auf S. 199 f.).

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Elio Antonucci

eine naive empirische Auffassung des Intuitionsbegriffs (vgl. Krois 1981, S. 101), sondern benennt das wesentliche Problem des radikalen Empirismus: seine Unfähigkeit, die relationale Natur des Begriffs zu begreifen (vgl. die Kritik an J.S. Mill in ECW 6, S. 9 – 13). Um den relationalen Charakter der Erkenntnis richtig darzustellen, darf der Begriff nicht als Gattung betrachtet werden, die gewisse empirische Daten enthält, sondern muss als Funktion verstanden werden, d. h. als verbindendes Mittel, das spezifische empirische Inhalte in eine systematische Struktur einordnet (Reihenbildung) (vgl. ECW 6, S. 255 – 291). Sowohl Peirce als auch Cassirer teilen im Grunde die epistemologische Position eines funktionalen Modells, das die Struktur der symbolischen Begriffsbildung beschreibt (vgl. Krois 1981, S. 100; Luft 2015, S. 230). Neben der funktionalen Auffassung der Begriffe wird in den Erkenntnistheorien von Peirce und Cassirer auch die Zentralität der Interpretationsphase im Erkenntnisprozess hervorgehoben. In der Philosophie der symbolischen Formen wird das Modell der Begriffsbildung in ein System der symbolischen Funktionen eingegliedert, das aufgrund seiner Fokussierung auf die Interpretationsphase mit dem semiotischen Modell von Peirce verglichen werden kann, trotz der unterschiedlichen Denkstile und der Problemrichtung der einzelnen Denkperspektiven (vgl. Krois 1984, S. 443; 1987, S. 52). Obwohl der Einfluss der Philosophie Kants in beiden Fällen über die Zeit hinweg nicht statisch ist und auch Abbruchpunkte kennt, kann man in den Analysen von Peirce und Cassirer einen grundlegenden transzendentalen Leitfaden erkennen, der sich in der unüberwindlichen Dynamik zwischen dem Problem der Objektivität und dem der Repräsentativität zeigt. Das Problem der Objektivität ist innerhalb der beiden semiotischen Erkenntnistheorien immer der Voraussetzung der symbolischen Funktionen untergeordnet (vgl. Krois 1981, S. 101; 1995; 2004), dessen Bedingungen letztlich in den logischen und praktischen Zielen eines möglichen Subjekts liegen. Das zeigt die Peirce’sche Theorie des Pragmatismus, in der sich die Realität nur in the long run durch die symbolischen Repräsentationen der Wissenschaft im Laufe des Forschungsprozesses begreifen lässt und nie auf einmal gegeben ist (vgl. EP 1, S. 139).⁶ Das semiotische Modell betrifft aber nicht nur die Bedingungen der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern markiert für Peirce auch die Grenzen jeder Denktätigkeit in Bezug auf die verschiedenen Arten von Zeichen, Objekten und Interpretationsmodalitäten. Das Verhältnis zwischen den symbolischen Funktionen und dem Realitätsbegriff wird in der Kulturphilosophie Cassirers gleichermaßen stark betont. Der Realitätsbegriff kennt nicht nur eine Historisierung im Rahmen der wissenschaftlichen Entwicklung,⁷ sondern auch eine Kontextualisierung in Bezug auf die unterschiedlichen Arten der Objektivitätskonstruktion des Systems der Kultur (vgl. ECW 11, S. 6). Die Philosophie der symbolischen Formen stellt ein Kultursystem dar, in dem die  Gava (2011) wirft die Frage auf, inwiefern es noch sinnvoll ist, über eine transzendentale Einstellung der Peirce’schen Philosophie zu sprechen. Zentral ist diesbezüglich in Peirces Erkenntnistheorie „the recognition of the representational character of our experience“ (Gava 2011, S. 218).  Die Historisierung der a priori-Begriffe Kants ist ein Charakterzug von Cassirers Weiterentwicklung der Transzendentalmethode (vgl. Ferrari 2010, S. 296).

An den Grenzen der Symbolisierung

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Gesamtheit der Weltvorstellungen durch unterschiedliche symbolische Funktionen determiniert wird (vgl. Ullrich 2010, S. 3). Von reinen Begriffen des Intellekts im kantischen Sinne ist keineswegs die Rede, es taucht aber doch das Problem der logischen Apriorität der symbolischen Funktionen auf, mit dem die empirischen Inhalte geordnet werden können. Die transzendentale Frage nach der Bedingung der Kognition erfährt eine semiotische Transformation und wird somit zur Frage nach den Bedingungen der Symbolisierung.⁸ Die symbolische Erkenntnisperspektive von Peirce und Cassirer fängt immer bei einem sinnlichen Gegebenen an, um dieses danach als Zeichen, d. h. als Resultat einer symbolischen Funktion zu betrachten. Man könnte in dieser Betrachtung eine Perspektive von innen erkennen, durch die die semiotischen Funktionen eines möglichen denkenden Subjekts betont werden, wobei mit ‚Subjekt‘ nicht unbedingt eine individualistische Auffassung verknüpft ist, sondern auch das Subjekt einer Forschungsgemeinschaft oder der Kultur gemeint sein kann. Die Situation ändert sich, wenn über einen anderen Aspekt der Realität nachgedacht wird, und zwar nicht nur über die Realität als Resultat der symbolischen Darstellungen, sondern über die Realität als Auftreten einer eigenen Wirksamkeit. Obwohl Peirce und Cassirer verschiedene Ausgangspunkte haben, scheinen sie in späteren Phasen ihrer Überlegungen diesen anderen Gedankengang einzuschlagen, der die beiden Philosophen noch einmal unerwarteterweise an einen ähnlichen Punkt führt. Vor dem Hintergrund einer neuen metaphysischen Perspektive wird im Lebensproblem ein neuer Anknüpfungspunkt geschaffen.

2 Vom Symbolproblem zum Lebensproblem In der Tat ist die Entstehung eines neuen metaphysischen Gedankenweges keine überraschende Entwicklung der Peirce’schen Philosophie. Wenn die logische und semiotische Orientierung schon Peirces frühe Überlegungen kennzeichnet, knüpft sich daran auch ein metaphysischeres Interesse, insbesondere die kosmologische Frage nach dem Verhältnis zwischen der Struktur der Realität und der des Geistes (vgl. Topa 2007, S. 90 – 111). In den Jahren, in denen Peirce an der späteren Theorie der Kategorien arbeitet (1885 – 88), beschäftigt er sich mit der kosmologischen Thematik in dem Aufsatz Design and Chance (1883 – 84), in dem zum ersten Mal eine evolutionistische Metaphysik der Realität vorgestellt wird. Im Kontext einer Überlegung zur Relevanz des Zufalls und des Indeterminismus in den modernen Wissenschaften entwickelt Peirce eine von Darwin inspirierte kosmologische Theorie (vgl. W 4.552). Den Zufall erkennt Peirce als  Die These der semiotischen Transformation der Philosophie wurde bei Apel zuerst eingeführt, der aber auch die Differenz zwischen den Perspektiven von Peirce und Cassirer betont (vgl. Apel 1973, S. 188 f.). Meine Interpretation stimmt deswegen nicht komplett mit Apel überein, sondern nähert sich mehr der Krois’schen Hypothese der Kontinuität zwischen Peirce und Cassirer.

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wirkliches Ereignis in der Realität an, das er als „Agency at work“ (W 4.548) bezeichnet. In dieser ersten Formulierung kann man schon das von Peirce ab dem Jahr 1891 genannte Prinzip des Tychismus erkennen (vgl. EP 1, S. 312– 33). Das Zufallsprinzip gilt in Peirces Auffassung als Äußerung der Spontaneität und Unbestimmtheit der Realität und ist Teil des umfassenden evolutionären Prozesses, dem jedes Phänomen der Natur unterworfen ist, sogar die Naturgesetze, die nicht ewig betrachtet werden können, sondern aus derselben Entwicklung hervorgegangen sind. Dieses Prinzip bestimmt den dynamischen Übergang von einem homogenen zu einem heterogenen Zustand der Realität (vgl. W 4.550). Im Gegensatz zu dieser ‚zerstreuenden‘ Tendenz zeigt sich die Neigung, neue Verhaltensgewohnheiten auszubilden, was das Auftreten neuer Regelmäßigkeiten in der Natur erklärt. Hierin kann man schon das spätere Prinzip des Synechismus erkennen; in diesem metaphysischen Modell der Realitätsentwicklung sind die Naturgesetze im Entwicklungsprozess etablierte Kontinuitäten, die das Verhalten der Phänomene nur in the long run bestimmen. Die Naturgesetze tolerieren deswegen auch eine Fehlerspanne, in der sich die Spontaneität und die Freiheit der einzelnen Phänomene widerspiegeln. Peirce vertritt damit ein antimechanistisches Modell der Realität, nach dem der Zufall nicht als Gegensatz zur Regelmäßigkeit betrachtet werden muss. In enger zeitlicher und inhaltlicher Beziehung zu diesen evolutionistischen Überlegungen arbeitet Peirce die drei allgemeinen Kategorien der Erfahrung aus. Genau in der Mitte zwischen den logisch-semiotischen und den kosmologischen Problemen liegt der Versuch, eine Theorie dieser Kategorien zu entwickeln, deren Aufgabe es ist, die drei „Fundamental categories of thought and of Nature“ (W 5.242) zu finden. In einem kurzen Entwurf aus dem Jahr 1886 wird die trichotomische Reflexion in eine „Evolutionist speculation“ (W 4.298) eingebettet. Hier wird die Neigung zu Verhaltensgewohnheiten des Phänomens Third genannt, und als „mediating element between chance, which brings forth First and original events, and law which produces sequences or Seconds“ (W 5.293) definiert. Die zweite Kategorie beschreibt die Faktizität, das relationale und reaktive Element der Phänomene. In seiner phänomenologischen Überlegung aber wird die Triade generalisiert, um nicht nur als Modell seiner evolutionistischen Kosmologie zu dienen, sondern um als Objekt einer Wissenschaft der Kategorien zu fungieren. Die Kategorien werden als komplementäre Aspekte der Erfahrung betrachtet und die Trichotomie wird ein elementares Schema, um das Erscheinen in seiner Dreifaltigkeit und in der Gesamtheit des Erkenntniskontextes abzubilden; dies wird im Inhaltsverzeichnis der ersten reifen Ausarbeitung der Trichotomie des nicht vollendeten Buchprojekts mit dem Titel Guess at the Riddle klar gezeigt. Dieselbe Trichotomie erscheint nicht nur in der Metaphysik, sondern auch in der Semiotik, Physik, Psychologie, Physiologie, Soziologie und der Theologie (vgl. W 6.166). Gemäß dieser neuen triadischen Auffassung von Erfahrung ist die Kategorie des First zentral, die in erster Linie die Singularität der einzelnen Phänomene bezeichnet, aber auch die Anerkennung der zufälligen Spontaneität aller lebendigen Erscheinungen. Die Kategorie eines Ersten artikuliert eine Singularität des Erscheinens und

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einer wirksamen Lebendigkeit: „The First is full of life and variety“ (W 6.181). Der Denkprozess wird auch anhand der Prinzipien von Peirces evolutionistischer Metaphysik untersucht und als lebendiger Prozess herausgestellt.⁹ Die Kategorien von First (und später Firstness) als lebendiger Charakter der Erfahrung und Third (oder Thirdness) als Vermittlung zeigen in dieser Phase seines Denkens die Möglichkeit, eine Kontinuität zwischen Geistes- und Naturwelt festzumachen, ohne einen materialistischen Reduktionismus vorauszusetzen (vgl. W 6.188).¹⁰ In diesem Kontext spielt der Lebensbegriff eine wesentliche Rolle für die Erweiterung des Phänomenbegriffs: […] it is to be remarked that I use the word „experience“ in a much broader sense than it carries in the special sciences. […] for philosophy, which is the science which sets in order those observations which lie open to every man every day and hour, experience can only mean the total cognitive result of living. (CP 7.538)¹¹

Der Gedankengang, der Peirce zur Ausarbeitung der Trichotomie führt, lässt sich mit der Cassirer’schen Auseinandersetzung mit dem Lebensproblem vergleichen, die zwischen den 1920er und 1930er Jahren im Zentrum seiner Überlegung steht: nicht nur weil den Endpunkt beider Überlegungen die Ausarbeitung einer triadischen Theorie bildet, sondern weil deren ermittelte kritische Punkte sich höchst ähnlich sind. Das Lebensproblem ist innerhalb von Cassirers Philosophie ein extrem polysemer Begriff und umfasst tatsächlich einen großen Teil seines Schaffens (für eine ausführliche Darstellung vgl. Möckel 2005). Aber in diesen Jahren erhält der Lebensbegriff eine wesentliche Rolle, die zu einer Revision der Grundlagen der Philosophie der symbolischen Formen (vgl. Möckel 2005, S. 14) und damit zu einer Ausarbeitung einer Metaphysik der symbolischen Formen führt. Das Urphänomen des Lebens, wie sich Cassirer mit einer Goetheanischen Terminologie ausdrückt, wird in der kleinen Schrift Metaphysik des Symbolischen (1921– 27) als der „höchste Begriff“ (ECN 1, S. 264), den es zu erfassen gibt, definiert. Im Zentrum dieser Betrachtung des Problems des Symbolischen steht die Polarität zwischen Geist und Leben, die auch dem ersten Teil des nachgelassenen vierten Bands der Philosophie der symbolischen Formen den Titel gibt. Wenn die systematische Perspektive der Philosophie der symbolischen Formen sich auf die heterogenen symbolischen Funktionen der Gesamtheit der Kultur konzentriert, bezieht sich nach Cassirers Auffassung das Lebensproblem auf das Problem der Einheit der symbolischen Aktivität, d. h. auf das Leben als Träger der symbolischen Aktivität und als konkreter  Der lebendige Aspekt des Denkens verbindet sich mit der Bezeichnung des Denkens als growing process, was ein wesentliches Prinzip von Peirces Erkenntnismodell darstellt und schon in den anticartesianischen Schriften betont wird. Trotzdem wird die These dort nur innerhalb seiner erkenntnissemiotischen Einstellung elaboriert (vgl. W 2. 224).  Das zeigt sich klar im Abschnitt über die Physiologie und die Psychologie, in dem das Denken selbst durch die erste Kategorie im Sinne eines lebendigen und wirksamen Prozesses konzipiert ist.  In den Vorlesungen über Pragmatismus definiert Peirce auch den Pragmatismus als „a sort of instinctive attraction for living facts“ (EP 2, S. 158).

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Kontext seiner Äußerung. Zweifellos findet Cassirer keine reine und primäre Dimension der Erfahrung im Lebensbegriff. Merkmal seiner Kulturphilosophie ist die symmetrische Beziehung zwischen Form und Leben: Es gibt keinen Abbruch zwischen unterschiedlichen Dimensionen des Geistes und des Lebens, sondern das Widerspiegeln des geistigen Lebens in der Form (zur Polarität der Formwerdung vgl. Fetz 2008). Diese Betrachtung löst jedoch nicht die Polarität zwischen Geist und Leben. Die Emphase auf dem lebendigen Aspekt des symbolischen Geistes kennzeichnet nur einen Teil des Lebensproblems, das aber immer das Leben durch die Augen des Geistes bleibt, d. h. durch die symbolischen Funktionen eines Subjekts. Die Transzendentalperspektive Cassirers betont auf diese Weise immer wieder die Grenzen der Aktivität des symbolischen Ausdrucks und übergeht damit das Problem der Beziehung zwischen dem Prozess des geistigen Lebens und der Dimension des nichtgeistigen Lebens, auf den der Mensch immer zurückgestoßen ist. Diese Problemrichtung wird in dem erst im Jahre 1930 veröffentlichten Aufsatz Geist und Leben in der Philosophie der Gegenwart genau diskutiert. In seiner Darstellung der Grundlagen der philosophischen Anthropologie Schelers stimmt Cassirer mit diesem darin überein, Geist und Leben als zwei eigenständige und nicht aufeinander reduzierbare Prinzipien der Realität zu betrachten. Kein metaphysischer Monismus darf den Geist durch seine biologische Struktur vollständig bestimmen, genauso wenig wie eine Reduzierung der lebendigen Welt auf den bloßen Geist denkbar wäre. Stimmt Cassirer Scheler einerseits in der Anerkennung der Selbstständigkeit der beiden Prinzipien zu, widerspricht er ihm andererseits, indem er den Weg der Auflösung dieser Polarität nicht anerkennt. Die beiden Prinzipien dürfen nicht zu unterschiedlichen geschlossenen Welten gehören (vgl. ECW 17, S. 188 – 191), sondern es muss ein Anknüpfungspunkt gefunden werden, der die Einheit dieser Prinzipien zeigt. Cassirer findet deswegen im Lebensbegriff zwei Arten von Prozessen: die Energie des Bildens, die das ideelle geistige Tun charakterisiert, und die unmittelbare Energie des Wirkens des organischen Lebens, die auch jeder Mensch als Lebewesen trägt. In dieser funktionalen Auflösung der Polarität darf man den Geist nicht als fremdes oder feindliches Prinzip betrachten, sondern muss ihn als „eine Wandlung und Umkehr des Lebens selbst“ (ECW 17, S. 201) verstehen. Wenn wir die Darstellung der Phylogenese der symbolischen Funktionen in der Philosophie der symbolischen Formen betrachten, so wird dieser Grundgegensatz zwischen den beiden Seiten des Lebensbegriffs bereits thematisiert (vgl. Möckel 2005, S. 158 f., 214– 218). Tatsächlich ist die ganze Entwicklung der symbolischen Formen eine Wendung zur Form aus einer quasi-animalischen Dimension (vgl. Möckel 2005, S. 158), über die der Mensch durch seine sinnlich-subjektiven Triebe herauswächst, welche sich durch seine eigenen Prinzipien des Wirkens manifestieren. Dieser Auffassung gemäß bleibt zwar der Unterschied zwischen Geist und Leben bestehen, aber nicht als Opposition zwischen zwei unversöhnlichen Dimensionen der Realität, sondern als vorhandene Spannung, die jeden Menschen immer wieder betrifft. Im Versuch, den Zusammenhang zwischen diesen beiden Polen des Lebensbegriffs zu bestimmen, liegt die echte Bedeutung von Cassirers Metaphysik des Symbolischen,

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die zugleich „Kritik u[nd] Erfüllung der symbolischen Formen“ (ECN 1, S. 265; vgl. Fetz 2008, S. 32) sein muss. Der Denkprozess, der unter der systematischen Perspektive der Kulturphilosophie nur durch die Ziele der symbolischen Funktionen definiert wurde, zeigt sich in einer allgemeineren Perspektive auch als Äußerung einer selbstständigen Wirksamkeit. Wird durch den Lebensbegriff das Prinzip des Wirkens und der Spontaneität sowohl des biologischen Lebens als auch des Denkens erfasst, kann dieses Problem klar mit Peirces metaphysischen Überlegungen verbunden werden. Obwohl eine kosmologische Überlegung den Anfangspunkt seiner Untersuchung bildet und die Reflexion Cassirers im Rahmen seiner Philosophie der Kultur stattfindet,¹² ist es möglich, im Lebensbegriff das Merkmal jedes Phänomens und des Prozesses der symbolischen Aktivität selbst zu erkennen. Die beiden Philosophen begegnen sich in einem ähnlichen Kontext der Wiederverwertung eines idealistischen Gedankengangs bei dem Versuch, eine Einigung zwischen den Grenzen der symbolischen Erkenntnis und der Wirksamkeit des Lebens zu finden.¹³

3 Die Trichotomie im Vergleich Wie in dem vorherigen Abschnitt gezeigt wurde, treffen sich die metaphysischen Überlegungen von Peirce und Cassirer in der Anerkennung eines lebendigen Charakters der Realität, der außerhalb der bloß semiotischen Ebene der symbolischen Funktionen liegt. Peirces evolutionistische Spekulation führt zu einer Erweiterung des Phänomenbegriffs mittels eines triadischen Schemas. Die Kategorienlehre wird ab dem Jahr 1902 Phänomenologie genannt, ihre Aufgabe es ist, die drei konstitutiven Momente jeder Erfahrung in allen repräsentativen Kontexten aufzuweisen (vgl. CP 1.280). Gleichermaßen spielt in Cassirers Untersuchung über die Philosophie der Kultur das Lebensproblem eine wesentliche Rolle. Mit dem Lebensproblem wird das Problem der Symbolisierung durch die Ausarbeitung einer Metaphysik des Symbolischen in eine neue Perspektive eingeordnet, in der eine „ideelle[…] Befreiung vom Zwang der Symbolik“ (ECN 1, S. 265) erreicht werden soll. Das Endergebnis dieser Überlegung ist auch für Cassirer eine phänomenologische Theorie dreier Kategorien der Erfahrung, die in der Mitte der 1930er Jahre ausgearbeitet wird und deren Ziel die Bestimmung eines funktionalen Strukturverhältnisses zwischen Ausdrucksfunktion und Lebensverhältnis ist (vgl. Möckel 2005, S. 301). Sowohl für Peirce als auch Cassirer hat sich das Verhältnis zwischen Erfahrung und Kognition jedoch geändert, da das Phänomen nicht mehr nur von innen, vom Standpunkt der Erkenntnisfunktionen eines möglichen Subjekts, analysiert wird,  Das Lebensproblem schließt außerdem das Interesse für das Problem des lebendigen Organismus nicht aus, mit dem sich Cassirer schon in den Jahren 1916 bis 1921 beschäftigt hat (vgl. Möckel 2005, S. 78).  Vgl. zum hegelianischen Charakter beider phänomenologischen Theorien Andermatt (2007, S. 174).

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sondern sich in diesem neuen Kontext durch drei phänomenologische Modi der Erfahrung betrachten lässt. Auf diese Weise erlaubt es die Trichotomie, die transzendentale Perspektive der Kognition zu einer äußeren Beschreibung des Prozesses des Erscheinens zu transformieren. Durch diesen Phänomenbegriff wird nicht nur die Anpassung der symbolischen Form verstanden, sondern auch eine Art der Spontaneität des Phänomens in Augenschein genommen. In der Trichotomie identifizieren Cassirer und Peirce ein Schema, in dem das Lebendige Teil des symbolischen Prozesses ist (vgl. Möckel 2005, S. 310.). Das ist das Ergebnis, das sich in Peirces späterer semiotischer Reflexion widerspiegelt. Im Syllabus der Vorlesung zum Pragmatismus denkt Peirce über eine neue Taxonomie der Zeichen nach, in der eine neue phänomenologische triadische Gliederung die alte Gliederung von Ikon, Index und Symbol ablöst (vgl. EP 2, S. 289 f.). In diesem Sinne wird der Moment der Interpretation hier nur als dem Denkprozess nachgeordnet betrachtet. Primär ist die Anerkennung des lebendigen und wachsenden Charakters des Denkens, der sich in der ersten Kategorie zeigt (vgl. Rosensohn 1974, S. 93 – 96). Die Unterordnung der symbolischen Dimension unter die phänomenologischen Kategorien zeigt sich bei Cassirer in der Theorie der Basisphänomene schon in der Definition der Kategorien als Modi der Vermittlung und der Objektivierung (vgl. ECN 2, S. 6.; ECN 1, S. 132). Das verdeutlicht die neue Einstellung, in der die Modalitäten der Aufschlüsselung des Phänomens dem Prozess der symbolischen Objektivierung der Erfahrung vorausgehen. Die Basisphänomene können sich das Erscheinen zuerst offenbar und zugänglich machen (vgl. ECN 1, S. 131 f.), sodass es mittels der symbolischen Vermittlung erschlossen werden kann. In beiden Fällen ist das Problem der Konstituierung der empirischen Inhalte durch die phänomenologische Theorie in einem metaphysischen Modell der Erfahrung als lebendiges Erscheinen integriert. Soll ein Unterschied zwischen der Peirce’schen und der Cassirer’schen Theorie der Kategorien gefunden werden, muss man annehmen, dass nur Peirce die Phänomenologie als Fachdisziplin der Philosophie betrachtet, die neben der Metaphysik und den normativen Wissenschaften (Ethik, Ästhetik, Logik) existiert (vgl. EP 2, S. 196). Cassirer entwickelt keine Phänomenologie als besonderen Teil der Philosophie,¹⁴ wobei dieser Umstand dadurch begründet werden könnte, dass Cassirer nur zwei spätere, unveröffentlichte Texte dem Thema der Basisphänomene widmet. Die Beschreibung der drei Kategorien ist bei Peirce und Cassirer offensichtlich ähnlich. In der Kategorie des „Ich“ genauso wie in der Firstness ist die Prozessualität, die Spontaneität des einzelnen Phänomens zu finden, d. h. der lebendige Charakter der Realität. In der Kategorie des „Du“ erkennt Cassirer die Reaktivität der Realität, das Triebhafte „des Nicht-Ich“ (ECN 2, S. 10; s.a. EP 2, S. 151), genauso wie Peirce in der Secondness die Wirksamkeit des Schocks und der Anstrengung beobachtet (vgl. EP 2,

 Dennoch betrachtet er die Theorie der Basisphänomene als eine Art Phänomenologie der Erkenntnis (vgl. ECN 2, S. 12).

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S. 150). Die Beschreibung dieser zweiten Kategorie wird außerdem in beiden Fällen durch das Modell der Polarität von Aktion und Reaktion, von Agent und Patient unternommen (vgl. ECN 1, S. 124; EP 2, S. 150), die auf exemplarische Weise in der Erfahrung der Wahrnehmung dargestellt wird. Die ersten Kategorien des Ich und Du, oder der Firstness und Secondness, siedeln sich auf einer Ebene an, der das Moment der Repräsentation vorausgeht (vgl.W 6.170). Nur in der dritten Kategorie findet das Moment der symbolischen Vermittlung und der Repräsentation seinen Platz. Im Es ebenso wie in der Thirdness erkennt man den Prozess der Objektivierung oder der semiotischen Darstellung, den die Erkenntnis kennzeichnet. Für Peirce beschreibt Thirdness auch jedes allgemeine Gesetz der Kontinuität, das sowohl die Zeichen und das Denken als auch die Regelmäßigkeiten der Realität bestimmt.¹⁵ Über die große Ähnlichkeit dieser Beschreibungen hinaus treffen die beiden Theorien der Kategorien sich im Versuch, das dreifältige Schema in allen der möglichen symbolischen Kontexte aufzufinden. In beiden Fällen ist das Hauptziel der Kategorienlehre die Generalisierung dieser Triade. Die Trichotomie ist ein metarepräsentationales Schema, das drei allgemeine und parallel vorhandene Hinsichten des Phänomens in verschiedenen Erkenntniskontexten abbildet. Diese ‚Interdisziplinarität‘ der Trichotomie wird, wie schon gezeigt, bei Peirce bereits im Text A guess at the riddle betont und taucht darüber hinaus wiederholt in seinen zahlreichen Versuchen auf, die Trichotomie anzuwenden. Dies lässt sich ebenso für die Schriften Cassirers über die Basisphänomene aufzeigen, da in der Psychologie, Metaphysik, Biologie, Physik und Kulturwissenschaft verschiedene Anwendungen dieser Trichotomie vorgeschlagen werden (vgl. ECN 1, S. 138 – 195; ECN 2, S. 13). Das erklärt auch die methodologische Spannung, welche die Bezeichnung der Basisphänomene als Wege zur Wirklichkeit charakterisiert. Wichtig ist, zu erkennen, dass weder für Peirce noch für Cassirer die Kategorien die Möglichkeit darstellen, elementare Bestandteile der Erfahrung zu erfassen. Die Kategorien bezeichnen keine privilegierte Dimension der Wirklichkeit¹⁶ und sie sind dementsprechend keine primären Sinnesdaten, auf denen eine empirische Begründung ihrer Systematik versucht werden könnte. Dennoch sind die drei Kategorien auch keine bloß semiotischen Kategorien der Kognition im Sinne einer Begriffsbildung, die im ersten Absatz beschrieben wird. In der Tat sind die Kategorien keine echten Begriffe, da sie nicht vollendete Repräsentation sind, sondern Prozesse beschreiben. Deswegen nennt Peirce diese Kategorien „ideas so broad that they may be looked as moods or tones than as notion“ (W 6.169; s.a. W 5.237; EP 1, S. 247). Dieselbe Schwierigkeit ist in den Worten von Cassirer zu erkennen, der die Kategorien auf unterschiedliche Weise als Fenster (vgl. ECN 1, S. 132), Richtungen der Erfahrung,  In der dritten Kategorie finden wir „what we call laws when we contemplate from the outside only, but which when we see both sides of the shield we call thoughts“ (CP 1.420). Diese Zweiseitigkeit der Ebene der Objektivierung zeigt sich auch in der Kategorie des Es, in der Cassirer das „Poietische“ (ECN 1, S. 187) sowohl im Psychischen als auch im Physischen erkennt.  Es gibt keine absolute Wirklichkeit der Welten des Ich und des Du (vgl. ECN 2, S. 12).

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Modi der Vermittlung (vgl. ECN 1, S. 132 f.) definiert, sodass sie eine präsymbolische Modalität der Erkenntnis bezeichnen.¹⁷ Die semiotische Perspektive wird aber nicht geleugnet, sondern tatsächlich erweitert, weil das transzendentale Moment der Symbolisierung auch in der Kategorie des Es oder der Thirdness als Sondermoment mit eingeschlossen wird. Jedoch können die Kategorien ihre wahre Aufgabe nur gemeinsam erfüllen, weil die dritte Kategorie die Beziehung und die Artikulation der Firstness und der Secondness erklärt.¹⁸ Für beide Philosophen bleibt die Repräsentativität die unüberschreitbare Grenze der Kognition.¹⁹ Zusammenfassend konvergieren zwei Themen in Peirces und Cassirers Phänomenologien: einerseits die metaphysische Ebene des Lebensproblems, in dem der Denk- und der Erscheinungsprozess in Einklang gebracht werden; andererseits der systematische Anspruch, der die Trichotomie als Modell voraussetzt, als Schema für die Prozessbeobachtung in allen unterschiedlichen Erkenntniskontexten (vgl. Meland 2012, S. 61). Hier könnte man auch den größeren Unterschied zur Phänomenologie Husserls hervorheben, da Peirce und Cassirer unter Phänomenologie in erster Linie nicht reine Bewusstseinsanalyse von subjektiven Inhalten verstehen, sondern eine allgemeine Theorie der Erfahrung als lebendiges Erscheinen.²⁰

4 Der Einfluss der deutschen Romantik Die ab dem Jahr 1885 entwickelte phänomenologische Theorie der Kategorien war in der Tat das Wiederaufleben einer Faszination für die Trichotomie, die schon ein Leitmotiv der frühen Überlegungen von Peirce gewesen ist. Auf die Thematik der Trichotomie wurde Peirce durch die Beschäftigung mit unterschiedlichen Traditionen aufmerksam, vor allem zwei für sein Frühwerk wichtige Quellen: erstens die Philosophie Kants, da drei Vermögen der Vernunft das System des kritischen Idealismus strukturieren und da dieselbe Kategorientafel durch verschiedene Dreiteilungen ausgearbeitet wird, und zweitens Schillers Werk Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in dem die Triade aus Stoff-, Form- und Spieltrieben ins Zentrum einer ästhetischen Reflexion gestellt wird (vgl. Topa 2007, S. 119). Die erste Trichotomie, die bei Peirce in einigen kurzen Entwürfen in den Jahren 1856 – 57 entwickelt wird, realisiert eine Synthese dieser beiden Pole seiner philoso-

 Die Kategorien „sind ‚vor‘ allem Denken und Schliessen“ und sie müssen selbst „die Wirklichkeit zuerst ‚aufschließen‘“ (ECN 1, S. 132).  „Only together do Firstness, Secondness, and Thirdness constitute the categorial minimum of structure“ (Krausser 1977, S. 15).  Peirce schreibt: „First must be false“, da es „beyond the margin of any representation“ liegt (W 5.239).  Das schließt nicht die Möglichkeit aus, in beiden phänomenologischen Spekulationen auch eine Theorie des Subjekts herauszuschälen, die auch tiefere Ähnlichkeiten mit der Phänomenologie Husserls zeigen kann. In Bezug auf Peirce vgl. Short (2008, S. 71) und Rosensohn (1974, S. 78).

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phischen Ausbildung und teilt erstaunlicherweise sogar die Terminologie mit Cassirers Theorie der Basisphänomene: I, Thou und It. Dies darf aber nicht überschätzt werden, da die spekulative Anwendung von Pronomen einen großen Teil der philosophischen Tradition charakterisiert, vom Kant’schen Ich Denke bis hin zu Fichte (vgl. Topa 2007, S. 154 ff.). In den letzten Jahren wurde auch vermutet, dass in der Überlegung des jungen Peirce der indirekte Einfluss von Humboldt zu lesen ist, der seine Sprachtheorie durch genau diese drei Personalpronomen entwickelt und einen Grundstein der Philosophie Cassirers darstellt (vgl. Viola 2011; Topa 2007, S. 152– 56). Auf jeden Fall hatte Peirce damals noch keine semiotische Theorie und keine evolutionistische Kosmologie aufgestellt und seine ersten theoretischen Ansätze weisen große Unterschiede zu der späteren Triade auf (vgl. für eine ausführliche Analyse Topa 2007, S. 113 – 56). Insbesondere wird die Vermittlungsfunktion zwischen den Kategorien im Gegensatz zu der späteren Trichotomie bei der zweiten Kategorie des Thou und nicht beim Es angenommen. Für die Verdeutlichung dieser ersten Trichotomie verweise ich auf andere Studien (vgl. Esposito 1980, S. 11; Barmow 1988; Topa 2007), hier werde ich mich stattdessen mit der Frage beschäftigen, ob die drei Triebe Schillers eine engere Beziehung zu Peirces späterer Phänomenologie aufweisen. Die Gliederung in Stoff-, Form- und Spieltriebe ist bei Schiller ein triadisches Schema, mit dem das ästhetische Thema in verschiedenen Kontexten der Reflexion entwickelt wird. Auf einem ersten historischen und anthropologischen Niveau kennzeichnen die drei Triebe drei Stadien der menschlichen Entwicklung und Zivilisation. Im Spieltrieb zeigt sich die Funktion der ästhetischen Disziplin als wesentliche Phase der Erziehung, in der die Synthese von ethischer und natürlicher Dimension erreicht wird (vgl. Schiller 1905, 24. Brief, S. 92). Daneben werden die drei Kategorien im 25. Brief nicht nur als Momente der Menschwerdung und Epoche der Menschheitsgeschichte erkannt, sondern auch als Bezeichnung von drei Erkenntnisvermögen verwendet (vgl. Schiller 1905, 25. Brief, S. 99). Auf dieser Ebene entspricht der Stofftrieb dem sinnlichen Teil der Erkenntnis, die Form kennzeichnet die formalen Bedingungen der Vernunft, während die Einigungsfunktion erneut dem Spieltrieb zukommt, in welchem die sinnliche Dimension der Gefühle mit der formalen Vernunft durch die Idee der Schönheit in Einklang gebracht wird. Schließlich wird die ästhetische Reflexion in Zusammenhang mit einer naturalistischen Spekulation gebracht, in deren Verlauf die Sonderstellung des ästhetischen Schauens in Bezug zur Gesamtheit des natürlichen Lebens diskutiert wird. Das Leben betrifft im ersten Sinn den Ausdruck des sinnlichen Triebs (vgl. Schiller 1905, 15. Brief, S. 55). Gleichzeitig beobachtet man in der Natur auch den Prozess der Gestaltung, in dem sich der Gegenstand des Formtriebs zeigt. Nur in der ästhetischen Dimension manifestiert sich aber der Spieltrieb und lässt die Natur sich als lebendige Gestalt definieren (vgl. Schiller 1905, 15. Brief, S. 55). In der ästhetischen Betrachtung der Natur, die sich auf

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das Erscheinen selbst richtet, liegt die Möglichkeit, den Lebens- und den Formbegriff zu vereinen.²¹ Vergleicht man die drei Triebe mit Peirces Kategorien, so sind durchaus Ähnlichkeiten festzustellen. Im Formspiel ist es möglich, das Niveau der Vermittlung und der Erkenntnis zu erfassen, welches die Thirdness kennzeichnet. Im Stofftrieb kann man die Wirksamkeit der Secondness erkennen, während der Spieltrieb zum Teil den lebendigen Aspekt der ästhetischen Dimension mit Peirces Firstness teilt (vgl. ECN 1, S. 123; ECN 2, S. 8).²² Hier liegt aber auch ein großer Unterschied zwischen Peirces und Schillers triadischen Konzeptionen: Der Spieltrieb ist im Gegensatz zu Peirces Kategorie des Firstness der zentrale Begriff in Schillers System und stellt die Einheitsfunktion des Schemas dar, während in Peirces symbolischer Erkenntnistheorie das Dritte diese Aufgabe als Moment der symbolischen Vermittlung übernimmt. Die drei Triebe bilden dennoch ein Schema, in dem das Lebensproblem und der Denkprozess vereint sind: In dieser Perspektive liegt die größte Affinität zwischen Schillers ästhetischen Briefen und Peirces Phänomenologie. Außerdem liegen, wie schon gezeigt wurde, die Wurzeln der Cassirer’schen Theorie der Basisphänomene in der deutschen Romantik, da sie von einer Maxime Goethes inspiriert sind. In der von Cassirer zitierten Passage vereint Goethe selbst seine naturphilosophische Lehre vom biologischen Leben mit seiner ästhetischen Perspektive, um seine Studie „auf der reinen Basis des Erlebten“ (Goethe 1959, S. 276; vgl. Recki 2002, S. 210) zu gründen. Wenn man in dem ersten Wirken und Trieb jeder Erfahrung das biologische und geistige Leben erkennen kann, wird in dem zweiten das Erlebte und die Umgebung der Außenwelt gefunden, während sich in der Handlung die objektivierende Dimension des Ästhetischen widerspiegelt (vgl. Goethe 1959, S. 275).Die naturphilosophische Perspektive Goethes wird durch eine ästhetische und eine anthropologische ergänzt; in letzterer wird der Mensch als kunstschaffendes Wesen gekennzeichnet. Wie Schiller letztlich die gesamte Auffassung seiner Begründung der ästhetischen Theorie in einem naturalistischen Blick auf das Leben findet, so erkennt die naturalistische Morphologie Goethes eine Begründung in der ästhetischen Reflexion. In der Dialektik zwischen Freiheit und Form sieht Cassirer übrigens schon in seiner Darstellung des Deutschen Idealismus, Freiheit und Form aus dem Jahr 1918, den Kernpunkt der deutschen Romantik. Dort stellt Cassirer Schillers und Goethes Reflexionen über Manier und Stil gegenüber, und findet in der Frage nach der Spezifität der menschlichen Darstellung einen Verbindungspunkt (vgl. ECW 7, S. 304). Im Kontext seiner ästhetischen Überlegungen macht Cassirer auf die Bedeutung aufmerksam, welche die beiden Dichter der Analogie „zwischen künstlerischer Gestaltung und organisch-lebendiger Gestaltung“ (ECW 7, S. 305) zuschreiben. In der äs „[D]as Schöne soll nicht bloßes Leben und nicht bloße Gestalt, sondern lebende Gestalt“ (Schiller 1905, 15. Briefe, S. 59) sein.  Außerdem bedeutet das Firstness für Peirce auch die Qualität, und wird oft als Beschreibung der Gefühle benutzt (vgl. EP 2, S. 268; Rosensohn 1974, S. 81).

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thetischen Dimension erkennen Schiller und Goethe nämlich die Modalität, in der eine Art der Freiheit des Phänomens zu betrachten ist. In den betrachteten Analysen von Schiller und Goethe vereint dieses romantische Thema sich mit der Anwendung eines triadischen Schemas. In diesem Punkt kann man die Auseinandersetzung von Schiller und Goethe mit der Transzendentalphilosophie Kants erkennen, insbesondere den Versuch, den Dualismus zwischen dem Reich der Naturgesetze und den ethischen Prinzipien zu überwinden. Trotzdem bewegt sich dies genau auf der Ebene der Interpretation der Philosophie Kants, wo auch Cassirer einen tieferen Unterschied zwischen Goethe und Schiller findet (vgl. ECW 7, S. 316 – 19; ECW 24, S. 553 f., 568 ff.). Der Einfluss der deutschen Romantik auf die phänomenologischen Theorien von Peirce und Cassirer zeigt sich nicht einfach in der Anwendung einer Triade, sondern in der Integration der triadischen Struktur in das Lebensproblem (vgl. ECN 1, S. 127).²³ Es ist in der Polarität zwischen Form und Leben, geistiger und natürlicher Schöpfung, begründet, dass die trichotomische Überlegung auch für Peirce und Cassirer zur Gelegenheit wird, um ein Modell des Denkprozesses auf der Basis des Lebensproblems zu denken. Daher überrascht es nicht, dass Cassirer in seiner Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie in dem schon erwähnten Aufsatz Geist und Leben im positiven Sinne genau auf die deutsche Romantik hinweist. In diesem Text erkennt Cassirer an, dass die gegenwärtige Debatte innerhalb der Lebensphilosophie, insbesondere in Bezug auf „die große Antithese von Natur und Geist“ (ECW 17, S. 186), seine Wurzel eigentlich in der Philosophie der deutschen Romantik hat. Hier bemerkt Cassirer jedoch polemisch, dass die deutsche Romantik in den polaren Begriffen von Geist und Leben, ganz im Gegensatz zur zeitgenössischen Debatte (bzw. Klages’ Lebensphilosophie), nicht nur einen unlösbaren Widerspruch gefunden hatte. Ganz im Gegenteil könne man im System der deutschen Romantik auch einen Weg für eine Überwindung der Opposition durch die ästhetische Harmonisierung in der Naturbetrachtung finden. Ein Weg zur Überwindung der Opposition zwischen Geist und Leben wird durch die beiden triadischen Theorien von Peirce und Cassirer in einem neuen Rahmen eingeschlagen, indem sie die Trichotomie als Schema des Erscheinungsprozesses in der Gesamtheit der Erkenntniskontexte anwenden. Konzentriert man sich auf die triadische Struktur der Theorien, könnte man vermuten, dass die beiden Philosophen im Grunde auch im romantischen Anspruch der ästhetischen Harmonisierung verbleiben, da sie Gültigkeit und Vollständigkeit nicht in einer endgültigen, logischen Rechtfertigung verorten.²⁴ Will man die triadische Struktur nicht als Koinzidenz betrachten, scheint es, dass die einzige mögliche Rechtfertigung der Trichotomie für

 Die Wichtigkeit des Themas des Lebens charakterisiert einen großen Teil der deutschen Romantik und des Deutschen Idealismus (vgl. Möckel 2005, S. 74).  Diesbezüglich erwähnt Cassirer die Rechtmäßigkeit der Frage nach der Begründung der Trichotomie, ohne diese aber in späteren Schriften zu beantworten (vgl. ECN 1, S. 133). Ebenso hat Peirce, obwohl er an mehreren Stellen die Möglichkeit einer logischen Begründung der Trichotomie erwähnt (vgl. CP 1.345.), keine derartige Rechtfertigung erreicht (vgl. Short 2007, S. 74).

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Peirce und Cassirer auf der Ebene der ästhetischen Reflexion liegt, d. h. in der Voraussetzung einer Übereinstimmung in der triadischen Rhythmik des Erscheinens und des Symbolischen. Ein ästhetischer Akzent der triadischen Phänomenologien zeigt sich auch in der von beiden Philosophen geteilten Auffassung der Kategorien als Objekte einer besonderen Art der Betrachtung. Dieser Gedankenweg zeigt sich klar in Cassirers Emphase des semantischen Felds des Sehens, in der Definition der Basisphänomene als „Fenster unseres Bewusstseins“ (ECN 1, S. 132) und als „ersten Augenaufschlag“ (ECN 1, S. 133), wodurch eine Art des symbolischen Schauens beschrieben ist, in der sich der Einfluss von Goethes ideeller Anschauung der Urphänomene zeigt (vgl. Cassirer ECW 7, S. 263 – 266). Die Idee der Phänomenologie als Modalität der Beobachtung wird auch in den Peirce’schen Schriften betont, da dieser die Aufgabe aller Bemühungen der Phänomenologie wie folgt definiert: „simply to open our mental eyes and look well at the phenomenon“ (EP 2, S. 147). Peirce und Cassirer konvergieren in dieser Suche nach einem allgemeinen und elementaren triadischen Schema der Erfahrung. Die größte Gemeinsamkeit zeigt sich bei der Einheit der Intentionen, d. h. bei dem theoretischen Versuch, den Zusammenhang zwischen Geist und Leben zu begreifen. Die Trichotomie wird für beide sowohl als Schema des Erscheinungsprozesses wie auch als Modell der Symbolisierung betrachtet. Beide Philosophen nehmen hier ein Thema der deutschen Romantik auf. Die Trichotomie wird für Peirce und Cassirer ein allgemeines Symbol der Erfahrung und des Denkprozesses, d. h. ein Blick auf den Prozess der Symbolisierung selbst, der in seinem Spiel die Realität widerspiegelt.

Danksagung Ich möchte Julia Weber herzlich danken, die eine entscheidende Hilfe bei der Korrektur des Textes geleistet hat. Selbstverständlich verbleibt die Verantwortung für alle Fehler gleichwohl beim Autor.

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Tobias Endres

Was sind die Objekte der Wahrnehmung?

Ernst Cassirers Antwort auf die analytische Wahrnehmungstheorie Abstract: What are the Objects of Perception? Ernst Cassirer’s Response to Analytic Theories of Perception. On the basis of its third volume, the Phenomenology of Knowledge (1929), Cassirer’s principal work, the Philosophy of Symbolic Forms (1923 – 29), can be read as a phenomenology of perception. That is to say, Cassirer not only starts from the fact of multiple forms of cultural expression to reconstruct their transcendental conditions of objectification, but at once to trace their underlying forms of perceptive subjectivity. Hence, a holistic theory of subjective and objective spirit, to which Cassirer’s philosophy boils down, moves between exactly those two poles of perception and cultural expression. Starting from this interpretation, the article asks for the possibility to contribute to criticism towards recent theories of perception within the tradition of analytic philosophy. At the heart of things is the question: what should we actually conceive as the objects of perception? In most of its debates, analytic philosophy finds itself in the stranglehold of an internalism-externalism-dichotomy, that rests upon an unsettled understanding of objectivity. By contrast, Cassirer’s understanding of objectivity as objectification allows us to reformulate the question of the objects of perception, and hence to undermine the above dichotomy. The main points of reference of the critical examination are Peter Strawson’s Perception and its Objects (1979) and Tim Crane’s What is the Problem of Perception (2005). It will be shown that the foundation of Cassirer’s theory of perception, the distinction between perception of things and perception of expression, provides exactly the critical capability to move on from Crane’s contemporary diagnosed unsatisfactory alternative between disjunctivism and intentionalism which amounts to a new version of the controversy between direct realism and sense-data-theories in the twentieth century. Cassirer’s theory enables one to reconcile the directedness of perception with the representational capacities of the human mind. Keywords: theory of perception, Peter Strawson, Tim Crane, disjunktivism, Ernst Cassirer

Einleitung Die Cassirer-Rezeption befindet sich an der Schwelle des Eintritts in eine neue Phase, in welcher es wesentlich darum gehen muss, die in den neunziger Jahren zum Durchbruch gekommene Cassirer-Renaissance dergestalt voranzutreiben, dass das kulturphilosophische Denken in einen kritisch-systematischen Dialog mit möglichst vielen Formen und Spielarten der Gegenwartsphilosophie eintritt. Dies ist in Anbetracht folgender Thesen nicht nur möglich, sondern notwendig: (1) In der Cassirerhttps://doi.org/10.1515/9783110549478-003

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Forschung hat man bereits darauf hingewiesen, dass die Spaltung der westlichen Philosophie in eine kontinentale und eine analytische Tradition möglicherweise weniger radikal ausgefallen wäre, hätte Cassirer in den USA länger wirken und einen größeren Schülerkreis formieren können (vgl. Luft/Schnell 2014, S. 15 Anm. 2).¹ So spekulativ diese Vermutung auch sein mag, gebietet es dieser Gedanke doch, im Geiste einer Cassirer’schen Konzilianz die unterschiedlichen Traditionen in einen konstruktiven statt distanzierenden Dialog zu bringen, um diesem sich ohnehin auf dem Rückzug befindlichen, jedoch nicht überwundenen Zerwürfnis entgegenzuwirken. (2) Die hierzu erforderlichen Methoden sind bereits mit der Philosophie der Kultur grundgelegt. Cassirers Œuvre dokumentiert, worauf die Herausgeber Thiemo Breyer und Stefan Niklas in diesem Band hinweisen, dass die hiermit programmatisch formulierte philosophische Umsicht nicht eklektisch, sondern systematisch möglich ist: Die Symbolphilosophie ist so angelegt, dass philosophische Begriffe in einer Weite gefasst werden, die es ermöglicht, gerade durch Aufnahme des aktuellen Erkenntnisstandes der Einzelwissenschaften eine einheitliche Fragestellung zu formulieren und die Antwortstrategien anhand einer Synthese philosophischer Stile und Methoden zu verfolgen. Der vorliegende Beitrag sucht vor diesem Hintergrund danach, eine sehr konkrete Frage der Wahrnehmungsphilosophie zu beantworten: Was sind die Objekte der Wahrnehmung? Wahrnehmungstheoretische Überlegungen eignen sich in mehrerlei Hinsicht dafür, kritisch-systematische Beziehungen zwischen dem Cassirer’schen Denken und der Gegenwart herzustellen. Ganz allgemein lässt sich darauf hinweisen, dass das Problem der Wahrnehmung, was auch immer man genau darunter versteht, seit Anbeginn der Tradition einen Platz im Zentrum der theoretischen Philosophie innehat. Mit Blick auf das zwanzigste und beginnende einundzwanzigste Jahrhundert zeigt sich weiterhin, dass insbesondere die Wahrnehmungsphilosophie durch die analytisch-kontinentale Kluft entzweit ist und man gerade erst beginnt, aufeinander zuzugehen: Während im anglo-amerikanischen Raum ein ganzes Jahrhundert darum gestritten wurde, ob nun der Sinnesdatentheorie, der Adverbialtheorie, dem Intentionalismus oder – wie heute weitestgehend favorisiert – dem Disjunktivismus der Vorzug zu geben ist, hat sich auf kontinentaler Seite in erster Linie die Phänomenologie mit dem Problem der Wahrnehmung beschäftigt. In den derzeit boomenden enaktivistischen Verkörperungstheorien der Wahrnehmung ist die Annäherung dieser unterschiedlichen Denkstile bereits geglückt.² Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass die Frage nach den Objekten der Wahrnehmung intrinsisch auf den Begriff der Objektivität verweist, weshalb die in der analytischen Philosophie weit verbreitete Favorisierung externalistischer Positionen in Fragen des Wissens, der Wahrnehmung und  In diesem Kontext sind weiterhin die Arbeiten von Friedman (2000), Meland (2011) und Gordon (2012) einschlägig.  Ich werde hierauf nicht weiter eingehen können, weil es diesen Theorien zu eigen ist, den Begriff der Repräsentation fallen zu lassen, womit sie wichtigen Grundannahmen der Symbolphilosophie diametral entgegenlaufen, wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe (vgl. Endres 2017a).

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des Weltbezuges mit Cassirers Hilfe kritisch hinterfragt werden kann. Dies nicht jedoch einfach zugunsten eines Internalismus, sondern durch eine Neufassung des Begriffs der Objektivität als Möglichkeit semiotisch-semantischer Objektivierung. Ich werde im Folgenden zunächst zwei klassische Texte der analytischen Wahrnehmungstheorie besprechen, die beide – wenn auch auf unterschiedliche Weise – die Frage nach den Objekten der Wahrnehmung ins Zentrum der Wahrnehmungstheorie stellen. Im Anschluss werde ich dann in gebotener Kürze die wichtigsten Grundannahmen von Cassirers Phänomenologie der Wahrnehmung rekonstruieren, um eine Antwort im Sinne der Kulturphilosophie zu formulieren. Es wird sich zeigen, dass Kulturobjekte den Bestand von Wahrnehmungserfahrungen ausmachen, was einerseits den Anschluss im Sinne einer Erweiterung an die gegenwärtig von McDowell vertretene Position ermöglicht, andererseits aber die Möglichkeit, dass den Kulturobjekten Naturobjekte in einer gewissen Weise zugrunde liegen, – wie es die meisten Vertreter analytischer Wahrnehmungstheorien wohl einfordern würden – nicht ausschließt, wodurch eine integrative Lösung in Sichtweite rückt.

1 Tim Crane und das Problem der Halluzination Wer sich in den gegenwärtigen Stand analytischer Wahrnehmungstheorien einarbeiten möchte, ist mit dem Eintrag The Problem of Perception (Crane/French 2015) in der Stanford Encyclopedia of Philosophy zunächst gut beraten,³ in welchem die wichtigsten Diskurse und Autoren des zwanzigsten und beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts entlang der im Titel formulierten Grundlagenfrage systematisiert werden und der in seinem Grundaufbau auf einen einschlägigen Artikel zurückgeht. In What is the Problem of Perception (Crane 2005) geht es Tim Crane wesentlich um eine Standortbestimmung: Lassen sich die vielen spezifischen Detailfragen gegenwärtiger Theorietypen einem konkreten Problem unterordnen und wenn ja, steht dieses historisch betrachtet in einer Kontinuität mit heute als überwunden geglaubten Theorietypen der analytischen Wahrnehmungsphilosophie? Als solch vieldiskutierte Fragen können exemplarisch gelten (vgl. Crane 2005, S. 238): (a) Wie hängen Wahrnehmungen und Überzeugungen zusammen? (b) Wie wäre das Verhältnis von Erscheinungen und Realität zu bestimmen? (c) Benötigen wir den Begriff der Empfindung, wenn wir über Wahrnehmungen sprechen? (d) Worin unterscheiden sich ‚etwas wahrnehmen‘ und ‚über etwas nachdenken‘? (e) Sind wir uns beim Wahrnehmen (auch) nicht-physischer resp. nicht-physikalischer Objekte bewusst? (f) Welche Rolle spielen Begriffe und Begriffsbildung in Wahrnehmungserfahrungen und schließlich (g) Welche Art introspektiven Wissens haben wir von unseren Wahrnehmungen?

 Weiterführend sei auf Staudacher (2011) und Fish (2010) verwiesen.

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Crane möchte bestimmen, worin das spezifisch philosophische Problem liegt, wenn wir nach der Natur von Wahrnehmungserfahrungen fragen (vgl. Crane 2005, S. 237).⁴ Man ist sich weitestgehend einig, dass Fragen zu den Funktionsmechanismen der Wahrnehmungsorgane empirische Fragen sind, die sich in erster Linie an die Kognitionswissenschaften richten. Hiervon abzugrenzen wäre die bereits gestellte und in fast allen gegenwärtigen Debatten proteushaft auftauchende Fundamentalfrage (a), wie Wahrnehmungserfahrungen zu Überzeugungen führen können, in welcher Relation also Wahrnehmungen und Gründe zueinander stehen. Diese Frage erscheint prima vista im Gegensatz zu empirischen Fragen normativ, da man wissen möchte, wie es sein kann, dass ein sinnlicher Zustand (‚Ich sehe zwei Flaschen Milch, wenn ich den Kühlschrank öffne.‘) als Grund für eine Überzeugung (‚Ich muss keine Milch einkaufen.‘) gilt. Man könnte geneigt sein dies zu bestreiten und behaupten, dass Gründe kausal gerechtfertigt würden, es sich letztlich also doch um eine empirische Frage handle (vgl. Crane 2005, S. 238). Solch einer Strategie steht der Normativismus, mit welchem man eine internalistische Begründung zwischen Wahrnehmungen und Überzeugungen nachzuweisen versucht, entgegen. Ähnlich wiederum wie in der kausalen Konzeption behauptet der Reliabilismus, in dem auf die methodische Zuverlässigkeit von Wahrnehmungen bei der Ausbildung von Überzeugungen verwiesen wird, einen externalistischen Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Wissen. Crane möchte diesbezüglich zunächst keine Position einnehmen, sondern darauf hinweisen, dass die bereits gestellten Fragen weit über diesen epistemologischen und empirischen Horizont hinausweisen und sich die Wahrnehmungsphilosophie deshalb gerade nicht in Erkenntnistheorie und Kognitionswissenschaft erschöpft (vgl. Crane 2005, S. 239). Im weiteren Verlauf wird zu klären sein, ob Cranes Strategie, das Problem der Wahrnehmung grundsätzlicher zu fassen, einen erfolgsversprechenden Weg aus der skizzierten Internalismus-Externalismus-Dichotomie hinaus eröffnet oder dieser verhaftet bleibt. Um das grundlegende Problem der Wahrnehmung weiter herauszuarbeiten, postuliert Crane vier Thesen, welche entlang der Idee einer „openness to the world“ (Crane 2005, S. 239) ein metaphysisches Problem offenlegen, das sich zugleich mit den Fragen aus obigen Perspektiven überschneidet. Unter einer Wahrnehmungserfahrung soll folglich „an immediate awareness of mind-independent objects“ (Crane 2005, S. 239) verstanden und wie folgt erläutert werden: (1) Geistunabhängigkeit: Die Objekte der Wahrnehmung sind nicht vom Prozess des Wahrgenommenwerdens abhängig, sondern „ordinary objects“ (Crane 2005, S. 239), wie sie in der Erste-Person-Perspektive eines Wahrnehmenden auftauchen, also Objekte außerhalb unserer mentalen Einstellung zu ihnen und auch nicht etwa Sinnesdaten oder abstrakte Objekte. Ich verstehe Crane hier so, dass die Wahrnehmungsobjekte – nach obigem Beispiel – einfach die Milchflaschen im Kühlschrank

 In späteren Publikationen unterscheidet Crane Wahrnehmungen und Wahrnehmungserfahrungen terminologisch (vgl. Crane 2009, S. 453 f.), was jedoch hier keine Rolle spielen soll.

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sind, die ich sehe, und nicht ein mentales Abbild ihrer oder eine mit ihnen verbundene mentale Einstellung zu ihnen (bspw. ‚Ich sehe, dass ausreichend Milch vorhanden ist.‘). (2) Objektabhängigkeit: Die Wahrnehmungserfahrung eines Objektes ist mindestens in Teilen abhängig davon, wie das Objekt in Wirklichkeit ist. Ob wir ‚Dinge-ansich‘ wahrnehmen, ist hier also nicht der ausschlaggebende Punkt, sondern lediglich der logische Sachverhalt, dass unter sonst gleichen Umständen bspw. frischer Schnee weiß und zu einem anderen Zeitpunkt grau wahrgenommen wird, weil er schmilzt (Cranes Beispiel), sich also das Objekt ändert und nicht etwa die Wahrnehmungsmodalität des Betrachters. (3) Die Möglichkeit der Halluzination: Erfahrungen von der Art, dass eine Wahrnehmende nicht unterscheiden kann, ob ihrer Erfahrung ein externes Objekt zugrunde liegt oder nicht, sind metaphysisch möglich. Wahrnehmungen sind demnach entweder veridisch oder täuschend, was im Falle einer Halluzination jedoch nicht entschieden werden kann. Dass diese Annahme keiner Phänomenologie der Halluzination standhält, worauf immer wieder hingewiesen wird (vgl. Merleau-Ponty 1945, S. 12, 332, 340 f., 385, 395; Austin 1962, S. 48 f.; Ratcliffe 2017), berücksichtigt Crane explizit nicht (vgl. Crane 2005, S. 249), ihm geht es um einen logisch-metaphysischen Tatbestand. (4) Die Identität des Ununterscheidbaren: Diese These besagt, dass zwei einem Subjekt ununterscheidbare Wahrnehmungserfahrungen in psychologischer Hinsicht identisch sein müssen. Wenn ich Crane an dieser Stelle richtig verstehe, meint er, dass die Objekte der beiden Wahrnehmungszustände nur in psychologischer, nicht aber in metaphysischer Hinsicht identisch sein müssen. Akzeptiert man die Plausibilität dieser vier Postulate, ergibt sich aus ihnen sofort ein schwerwiegendes Problem, denn wir müssen uns fragen, wie es möglich sein soll, dass bewusstseinsexterne Objekte die perzeptive Erfahrung von Objekten (zumindest in Teilen) konstituieren, wenn Halluzinationen grundsätzlich möglich sind. Denn im Falle der Halluzination gibt es überhaupt kein externes Objekt und doch erscheint in der Wahrnehmung ein Gegenstand, der die gleichen Merkmale aufweist wie ein „ordinary“ (Crane 2005, S. 239),⁵ also geistunabhängiges Objekt. Wichtig ist zu sehen, dass der Fall der Illusion das Problem nicht annähernd in der gleichen Schärfe stellt. Denn Illusionen verweisen lediglich darauf, dass Objekte anders erscheinen können als sie sind. Aus der Müller-Lyer-Illusion oder einem im Wasser gebogen erscheinenden Stab folgt nichts in Bezug auf die Existenz dieser Objekte. Ob ihre Erscheinungsweisen durch mentale Entitäten wie Sinnesdaten oder Perzepte, oder doch durch einen direkten Realismus erklärt werden, hat keine Konsequenzen hinsichtlich der Existenz der zugrundeliegenden, externen Objekte, sondern ausschließlich in Bezug auf deren Eigenschaften und Merkmale. Vor diesem Hintergrund bestimmt

 Die Rhetorik vom ‚gewöhnlichen Objekt‘ dient Crane zur Etablierung einer Common-Sense-Ansicht hinsichtlich der Objekte der Wahrnehmung.

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Crane das Problem der Halluzination als das Fundamentalproblem der philosophischen Wahrnehmungstheorie und behandelt es (zunächst) als metaphysisches Problem (vgl. Crane 2005, S. 239, 249). Um die Fokussierung auf das Problem der Halluzination zwingend erscheinen zu lassen, müssen Crane zunächst einige Präzisierungen bzgl. (1) und (2) zugestanden werden. Die These der Unabhängigkeit der Wahrnehmungsobjekte von mentalen Einstellungen (1) soll das Problem der Halluzination über eine Verpflichtung auf eine Existenzaussage lösen. Demnach folgt aus ‚X nimmt Y wahr‘, dass Y existiert, während aus ‚X hat eine Wahrnehmungserfahrung als ob Y‘ nicht folgt, dass Y existiert. Hieraus möchte Crane ableiten, dass die Common-Sense-Ansicht richtig ist, dass im Wahrnehmungsprozess also nie mentale Stellvertreterobjekte oder Einstellungen im Spiel sind. Ferner kann die Frage nach dem Zusammenhang von mentalen Eigenschaften, worunter meist ‚Qualia‘ wie Farben fallen, und der Eigenschaften der Objekte ‚an-sich‘ zurückgestellt werden, da es ohne die postulierten externen Common-Sense-Objekte gar keine geistunabhängigen Eigenschaften, wie z. B. raum-zeitliche Ausdehnung, gäbe (vgl. Crane 2005, S. 244 f.). Crane möchte idealistische Züge in der Wahrnehmungstheorie um jeden Preis vermeiden, obwohl er unter solchen keine Reduktion auf eine reine Geistabhängigkeit versteht, sondern einräumt, dass gleichermaßen eine Geistabhängigkeit wie -unabhängigkeit, so z. B. in der Sinnesdatentheorie, vertreten werden kann (vgl. Crane 2005, S. 246). Ihm zufolge sollen die Objekte der Wahrnehmung nicht ‚als-ob-unabhängig‘ im Sinne eines Erscheinens, sondern vollständig in ihrer Existenz und ihren Eigenschaften vom Wahrnehmenden unabhängig sein. Dies führt zu einer Präzisierung von (2): Phänomenologisch betrachtet beschreiben wir unsere Wahrnehmungserfahrungen am besten, wenn wir die Objekte der Erfahrung qua wahrgenommener Eigenschaften spezifizieren (vgl. Crane 2005, S. 247). Im Unterschied zu imaginierten Objekten hängen wahrgenommene Objekte nicht von vorgestellten Eigenschaften ab, sind also keine Repräsentationen.Vielmehr verbürgen wahrgenommene Eigenschaften in der Common-Sense-Ansicht die Präsenz eines Objektes. Eine letzte Präzisierung betrifft (3): Die Behauptung, dass Halluzinationen metaphysisch möglich sind beruht auf der Annahme, dass unsere Erfahrungen kausal durch Wirkungen auf und innerhalb unseres Organismus bestimmt werden. So ist es denkbar, dass im Falle einer veridischen Wahrnehmung Objekt Y den Wahrnehmungszustand X verursacht, wohingegen eine Halluzination durch eine andere, bspw. organismusinterne Kausalkette hervorgerufen wird (vgl. Crane 2005, S. 250). Hiermit ist man nicht auf eine kausale Theorie der Wahrnehmung (vgl. Grice 1961), in welcher Wahrnehmungen ausschließlich kausal analysiert werden, festgelegt, wohl aber auf die empiristische Grundannahme, dass die Inhalte unserer Wahrnehmungserfahrungen kausal und nur kausal festgelegt werden. Und hierin liegt eine entscheidende

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Schwäche in Cranes Deduktion des Problems der Wahrnehmung, worauf in Abschnitt 4 zurückzukommen ist.⁶ Die Annahmen (1) – (4) eignen sich nun dafür, die bereits über hundert Jahre zurückreichenden Debatten der analytischen Wahrnehmungstheorie zu systematisieren und zugleich das Problem der Halluzination als das zentrale Problem der Wahrnehmungsphilosophie auszuweisen. Die von Crane vorgenommene Einteilung der Diskurse in (a) Sinnesdatentheorie, (b) Intentionalismus und (c) Disjunktivismus ist heute unstrittig.⁷ Crane kann überzeugend zeigen, dass (a) These (1) angreift, (b) die These (2) bestreitet und dass (c) der These (4) widerspricht, jedoch kein einziger Theorietyp die Möglichkeit der Halluzination (3) in Frage stellt. Ob dieses Vorgehen wirklich ein genuines Argument für die Plausibilität von (3) liefert oder nicht lediglich ein erkenntnistheoretisches Vorurteil der analytischen Wahrnehmungstheorie bestätigt, was Crane ja gerade vermeiden will, soll am Ende dieses Aufsatzes geklärt werden. Zunächst und diesen Teil abschließend soll Cranes oben skizzierte Systematisierung erläutert werden. (a) Die Sinnesdatentheorie: Vertreter dieses Theorietyps gehen üblicherweise davon aus, dass die Objekte der Wahrnehmung (auch) von externen Objekten bestimmt werden, dass die Möglichkeit der Halluzination besteht und dass letztere ununterscheidbar von veridischen Wahrnehmungszuständen ist. Aus der Annahme also, dass (2), (3) und (4) wahr sind, folgt unmittelbar, dass (1) falsch sein muss: Die Objekte der Wahrnehmung sind zwar im Falle veridischer Wahrnehmungen z.T. bedingt durch geistunabhängige Objekte, können jedoch auch – im Falle der Halluzination – ohne deren Grundlage erscheinen, weshalb die Objekte der Wahrnehmung vom menschlichen Geist abhängige Mediatoren sind, nämlich Perzepte bzw. die bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts viel diskutierten Sinnesdaten (vgl. Russell 1912; Moore 1953; Ayer 1940). Auf Grundlage der Falschheit von (1) muss die Wahrnehmungstheorie repräsentational im Sinne eines indirekten Realismus, Phänomenalismus oder Idealismus konstruiert werden (vgl. Crane 2005, S. 253). Doch gerade weil es Sinnesdatentheoretikern nie gelang, repräsentationale Strukturen mit dem phänomenologisch unbestreitbaren Phänomen der Präsenz im Wahrnehmungsbewusstsein zu versöhnen, gilt dieser Theorietyp den meisten Autoren als eine Theorie vom ‚Schleier der Wahrnehmung‘⁸ und eben deshalb als antiquiert. Crane betont weiterhin, dass die Sinnesdatentheorie nicht mit den gängigen Naturalismen der gegenwärtigen Theorien des Geistes kompatibel ist (vgl. Crane 2005, S. 254).

 Crane bestreitet auf Grundlage seines nicht-reduktiven Naturalismus freilich, dass Alternativen zu dieser empiristischen Grundannahme plausibel wären (vgl. Crane 2005, S. 250).  Ausgespart wird an dieser Stelle die Adverbialtheorie der Wahrnehmung, da sie einerseits an dieser Stelle nichts zur Problembestimmung beiträgt und andererseits auch nie eine den anderen Theorietypen ebenbürtige Popularität erlangte.  Diese Begrifflichkeit geht in der westlichen Philosophie auf Schopenhauer zurück, der in seinem Phänomenalismus vom „Schleier des Truges“ (Schopenhauer 1998, § 3) und vom „Schleier der Maya“ (Schopenhauer 1998, §§ 51, 63, 65, 66, 68) spricht.

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(b) Der Intentionalismus: Auch hier geht man davon aus, dass die Objekte der Wahrnehmung unabhängig von ihrem Wahrgenommenwerden existieren und im Falle der Halluzination kein externes Objekt der Erfahrung des wahrgenommenen Objektes zugrunde liegt. Aus der Annahme, dass (1), (3) und (4) wahr sind, wird geschlossen, dass (2) falsch sein muss: Die Objekte der Wahrnehmung können daher gar nicht von einem physischen Objekt abhängig sein, da es im Falle der Halluzination nicht wahr ist, dass ein externes Objekt mindestens in Teilen die phänomenale Wahrnehmungserfahrung bestimmt (vgl. Crane 2005, S. 254). Historisch betrachtet hat dieser Theorietypus seine Vorläufer in den belief-theories von Anscombe, Armstrong und Pitcher (vgl. Anscombe 1965; Armstrong 1968; Pitcher 1970), welche Wahrnehmungen hauptsächlich als den Erwerb von Überzeugungen analysieren. Der Vorteil, die Wahrnehmung so grundsätzlich als intentional zu charakterisieren liegt darin, dass man diesen Theorien zufolge Objekte ohne externe Grundlage genauso wahrnehmen kann, wie man etwa Gedanken über Inexistentes formulieren kann. Die Halluzination wäre dann so etwas wie eine Intension ohne Referenz. Es ist allerdings wenig plausibel, dass unsere Überzeugungen derart die Wahrnehmung bestimmen können; die Müller-Lyer-Illusion ist eine der gängigsten Demonstrationen, dass wir trotz besseren Wissens die Illusion nicht zum Verschwinden bringen können. Die Weiterentwicklung des Intentionalismus hat jedoch auch externalistische Positionen hervorgebracht (vgl. Searle 1983, S. 37– 78, 112– 140), welche auf die Annahmen der belief-theories nicht festgelegt sind, sich also im Falle einer echten Wahrnehmung durchaus auf die Existenz externer Objekte festlegen, die dann auf eine gewisse Weise im Geist repräsentiert werden, und die im Falle der Halluzination von missglückten Repräsentationen sprechen. Obwohl Crane der Ansicht ist, dass der Intentionalismus es wert ist, weiterentwickelt zu werden (vgl. Crane 2005, S. 258) und er selbst die These vertritt, dass Wahrnehmungserfahrungen intentionalen Gehalt haben (vgl. Crane 2001, S. 130 – 155), stellt sich ihm ein Grundproblem hinsichtlich der Objekte der Wahrnehmung: Im Intentionalismus ist das Objekt der Wahrnehmung immer „an object for a subject“ (Crane 2005, S. 257), was seiner Common-Sense-Ansicht widerspricht, dass die Objekte der Wahrnehmung vollständig geistunabhängig und letztlich physische oder möglicherweise auch physikalische Objekte sind. (c) Der Disjunktivismus: Dieser Theorietypus hat sich aus naiv-realistischen Theorien des Geistes entwickelt und seit seiner Einführung durch John Hinton (1973) viele Anhänger gefunden.⁹ Man geht davon aus, dass vollständig geistunabhängige Objekte direkt die phänomenale Erfahrung dieser Objekte bestimmen und dass Halluzinationen möglich sind. (1), (2) und (3) sind also wahr, weshalb (4) falsch sein muss: Veridische Wahrnehmungen und Halluzinationen sind psychologisch betrachtet nicht identisch, sondern durch unterschiedliche mentale Zustände determi Bspw. ist Hilary Putnam aufgrund der Wahrnehmungstheorie von seinem internen Realismus abgerückt und vertritt in seinem Spätwerk einen „natural realism“ (Putnam 1999, S. 10, 15, 38). John Searle (2015, S. 15 f.) wiederum hält am Begriff eines direkten Realismus fest, u. a. da er den Disjunktivismus ablehnt.

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niert. Psychologisch betrachtet sind Wahrnehmung und Halluzination zwar weiterhin ununterscheidbar, ihnen liegen jedoch unterschiedliche Wahrmacher zugrunde (vgl. Crane 2005, S. 258). Man spricht deshalb auch von relationalen Wahrnehmungstheorien im Disjunktivismus, da eine genuine Wahrnehmung hier immer relational zu einem Objekt im Sinne der Objektabhängigkeit verstanden wird. Wahrgenommene und halluzinierte Objekte können demnach auf identischen Gehirnzuständen basieren, genuine Wahrnehmungen werden jedoch ausschließlich durch externe Objekte instanziiert. Anders gesagt: Wahrnehmungen sind „constitutively dependent“ (Crane 2005, S. 259) vom Wahrnehmungsobjekt. Der Disjunktivismus bringt demnach folgende Intuitionen der Sinnesdatentheorie und des Intentionalismus zusammen: Die Objekte der Wahrnehmung sind zugleich geistunabhängig und direkt präsent, sind also weder Repräsentationen externer Objekte noch eine indirekte Vermittlung via Stellvertreter. Ohne nun weiter auf die Probleme des Disjunktivismus eingehen zu können, kann ein vorläufiges Fazit gezogen werden, das Crane folgendermaßen beschreibt: The debate about perception in analytic philosophy at the beginning of the 21st century in some ways echoes the debate of a century earlier. Russell, Moore and their contemporaries were engaged in a debate about the objects of experience which has many elements in common with today’s debate, although there are many differing elements too. They were concerned about what the objects of perceptual experience were, whether the objects of experience were external to the mind, and what was present to the mind in the case of illusion and hallucination. These questions have their present-day counterparts posed by what has been called here the problem of perception. However, it seems fair to say that while at the beginning of the 20th century, the chief protagonists in the philosophy of perception were the direct realists and the sense-data theorists, at the beginning of the 21st century they are the disjunctivists and intentionalists (Crane 2005, S. 261).

Aus Cranes Herleitung dieses „Kampfplatz[es]“ (Kant 1998, S. AVIII) der Wahrnehmungsphilosophie wird in erster Linie deutlich, und dies soll im weiteren Verlauf problematisiert werden, dass das eigentliche Problem der Wahrnehmung die Frage nach den Objekten der Wahrnehmung ist. Crane hat zwar das Problem der Halluzination als die Fundamentalfrage der dargestellten Diskurse bestimmt, jedoch führt die Dialektik dieser These auf das Problem der Objekte der Wahrnehmung zurück. Die im Disjunktivismus versuchte Synthese aus den Stärken der Sinnesdatentheorie und des Intentionalismus lässt das Streitfeld als fest im Griffe einer Dichotomie zwischen Externalismus und Internalismus erscheinen: Man ist sich im Wesentlichen uneinig darüber, ob Wahrnehmungserfahrungen ihrer Natur nach präsentativ oder repräsentativ verstanden werden müssen. Ich werde im weiteren Verlauf mit Ernst Cassirer die These vertreten, dass Wahrnehmungserfahrungen immer schon zugleich präsentativ und repräsentativ sind. Zunächst soll aber noch einmal auf die Theoriebildung in der analytischen Philosophie eingegangen werden, indem der Einfluss Strawsons auf das von Crane entfaltete Panorama nachgezeichnet wird.

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2 Peter Strawson und die Objekte der Wahrnehmung Peter Strawson hat mit Perception and its Objects (Strawson 1979) einen der einflussreichsten Texte der Wahrnehmungsphilosophie in der zweiten Hälfte des zwanzigstens Jahrhunderts vorgelegt. Dessen Nachhall zeigt sich in allen gegenwärtigen Diskursen und so auch in Cranes oben dargelegten Annahmen über die CommonSense-Ansicht, der Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen externem Objekt und Wahrnehmungsobjekt sowie der Überzeugung, dass diese physische oder ggf. physikalische Objekte sind. Bevor diese Annahmen in einen kritischen Dialog mit den diesbezüglichen Auffassungen Ernst Cassirers überführt werden, sollen sie im Folgenden zunächst aus Strawsons Problemlage heraus rekonstruiert werden. Strawson entwickelt das Problem der Objekte der Wahrnehmung aus einer Kritik an Alfred Ayers logischem Empirismus und John Mackies wissenschaftlichem Realismus, genauer: aus den Konsequenzen, die beide Positionen für die Wahrnehmungstheorie mit sich bringen. Mit Ayer ist sich Strawson darin einig, dass das Problem der Wahrnehmung ein Schlüssel zu den Problemen der Erkenntnistheorie und Metaphysik ist, weil der Begriff der Wahrnehmung sich dafür eignet, eine CommonSense Ansicht in Form eines Realismus zu etablieren und auf dieser Basis ebenso jene Disziplinen zu fundieren (vgl. Strawson 1979, S. 92). Ayer geht davon aus, dass der nicht-philosophierende Alltagsverstand in seinen Urteilen über die Welt einen Realismus vertritt, demzufolge wir uns auf physische (letztlich aber physikalische) Objekte beziehen. Dies geschieht jedoch derart, dass unsere Wahrnehmungsurteile über konkrete Wahrnehmungserfahrungen hinausgehen (vgl. Strawson 1979, S. 92). Damit ist gemeint, dass die Common-Sense-Ansicht wissensabhängig ist, sich also mit wandelnder wissenschaftlicher Erkenntnis ändern kann und Wahrnehmungsurteile deshalb den Status von Interpretationen im Lichte einer Theorie haben (vgl. Strawson 1979, S. 94). Strawson möchte Ayers Standpunkt dahingehend stark machen, dass dieser Common-Sense-Realismus tatsächlich die Basis weiteren Philosophierens sein sollte, diesen aber gerade nicht als Theorie, über deren Wahrheit entschieden werden müsste, verstehen, weshalb er auch Ayers Deutung der Wahrnehmungsurteile als Interpretationen ablehnt. Vielmehr sollen Wahrnehmungsurteile sich direkt auf physische Objekte der Common-Sense-Einstellung beziehen. In einem Gedankenexperiment stellt Strawson einen philosophisch unbedarften Wahrnehmenden vor, der seine Erfahrung in Worte fassen soll. Dieser antwortet mit viel zitierter Beschreibung: „I see the red light of the setting sun filtering through the black and thickly clustered branches of the elms; I see the dappled deer grazing in groups on the vivid green grass“ (Strawson 1979, S. 94). Gleich im Anschluss soll er erneut über seine Erfahrung berichten, jedoch ohne sich auf die tatsächliche Existenz der Wahrnehmungsinhalte resp. Objekte festzulegen. Aus solch einer rein phänomenalen Als-ob-Beschreibung folgt nach Strawson, dass Wahrnehmungsurteile natürlicherweise geistunabhängige, externe Objekte und

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deren Eigenschaften enthalten, die in einem geteilten, öffentlichen Raum wahrgenommen werden und von denen wir annehmen, dass sie persistieren, wenn sie aktual nicht wahrgenommen werden (vgl. Strawson 1979, S. 95). Weiterhin geht er davon aus, dass Begriffe notwendig sind, um solche Wahrnehmungsurteile zu treffen und dass Menschen ebenso natürlicherweise davon ausgehen, dass diese Begriffe auf die Welt anwendbar sind, sich also wirklich auf die Objekte der Wahrnehmung beziehen – und dies unabhängig davon, ob dieser natürliche Realismus wahr ist oder nicht (vgl. Strawson 1979, S. 96). Ayers Beschreibung von Wahrnehmungsurteilen als Interpretationen auf Grundlage theoriegeladener Beobachtung ist folglich unangemessen; der Realismus der Wahrnehmung und deren Objekte liegt tiefer als jede realistische Theorie resp. realistisch-wissenschaftliche Beschreibung der Welt. In Strawsons Worten: The ‚data‘ are laden with the ‚theory‘. Sensible experience is permeated by concepts unreflective acceptance of the general applicability of which is a condition of its being so permeated, a condition of that experience being what it is; and these concepts are of realistically conceived objects (Strawson 1979, S. 96).

Die Annahme, dass wir auf solch einen Realismus physischer Objekte in jeder veridischen Wahrnehmungserfahrung verpflichtet sind, geht folglich einher mit der Verpflichtung auf ein realistisches Begriffsschema. Anders als Ayer, welcher der Begriffsbildung Muster im Sinne der Sinnesdatentheorie zugrunde legt, behauptet Strawson, „that the employment of our ordinary, full-blooded concepts of physical objects is indispensable to a strict, and strictly veridical, account of our sensible experience.“ (Strawson 1979, S. 98) Ein realistisches Begriffsschema dieser Art enthält Strawson zufolge, ebenso wie die Annahme physischer Objekte, keine theoretischen Verpflichtungen, sondern ist – in einer leicht dunklen Formulierung – „given with the given“ (Strawson 1979, S. 99). Mit dieser Wendung kann sich Strawson auch tatsächlich zu Recht auf Kant beziehen,¹⁰ der im Sinne des von Sellars aufgeworfenen Mythos¹¹ des Gegebenen die Unzertrennlichkeit von Wahrnehmungs- und Begriffsleistungen, auch im Sinne neuerer Theorien (vgl. McDowell 1994; Brandom 2015), bereits gezeigt hat. Auch hierauf wird mit Cassirer zurückzukommen sein. Nachdem Strawson seinen eigenen Common-Sense-Realismus von der Ayer’schen Auffassung abgegrenzt hat, bringt er ihn in einem zweiten Schritt in Kontrast zu Mackies wissenschaftlichem Realismus, in welchem physische Objekte ausschließlich solche sind, wie sie in physikalischen Theorien samt theoretischer Kausalzusammenhänge vorkommen. Aus solch einem Realismus folgt sofort, dass wir Objekte nie so wahrnehmen können, wie sie wirklich sind, denn Farben oder andere Qualitäten

 Strawson bezieht sich hier auf eine Anfangsstelle aus Kants „Widerlegung des Idealismus“ (Kant 1998, S. B 276).  Der Mythos ist nicht ein Gegebenes schlechthin, sondern die Vorstellung eines Gegebenen, das nicht rational durchdrungen ist.

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der Erste-Person-Perspektive, die meist unter dem Begriff ‚Qualia‘ diskutiert werden, kommen im Gegenstandsbereich der Physik nicht so vor, wie wir sie wahrnehmen. Genau genommen nehmen wir dem wissenschaftlichen Realismus zufolge überhaupt keine physischen Objekte wahr, sondern sind als Wahrnehmende „victims of a systematic illusion“ (Strawson 1979, S. 101), die in Korrelation zu ausschließlich messbaren physikalischen Objekten einer Theorie steht. Die Idee, dass unsere Wahrnehmungserfahrungen durch theorieinterne Objekte verursacht werden, führt unweigerlich in den Repräsentationalismus. Das äußerste, was hier noch behauptet werden kann, ist, dass die Objekte der Wahrnehmung den physikalischen Objekten strukturell ähneln bzw. zueinander in irgendeiner Art Isomorphie-Beziehung stehen. Und genau dies versteht Mackie unter einem Common-Sense-Realismus (vgl. Strawson 1979, S. 102). Im Gegensatz zur Sinnesdatentheorie Ayers und zum Repräsentationalismus Mackies möchte Strawson einen direkten Realismus in der Wahrnehmungstheorie etablieren, der vortheoretisch auf Folgendes festgelegt ist: In der Common-Sense-Ansicht (a) unterscheiden wir zwischen unserer Wahrnehmung von Objekten und den Objekten selbst, (b) sind uns dieser Objekte unmittelbar bewusst und gehen (c) davon aus, dass unsere Wahrnehmungen fallibel sind. Hieraus folgt nun aber auch, dass (d) unsere Erfahrung von Objekten durch diese kausal bestimmt ist, denn andernfalls müsste in den bereits gezeigten Annahmen (a), (b) und (c) ein Fehler liegen, wovon Strawson nicht ausgeht (vgl. Strawson 1979, S. 103 ff.). Obwohl es aus meiner Sicht nicht intuitiv plausibel ist, physische Objekte und Kausalität einer vortheoretischen, phänomenologischen Einstellung zuzurechnen, wäre Strawsons Überlegungen doch insofern zuzustimmen, als er sich hier nicht auf eine wissenschaftliche Auffassung von ‚physikalisch‘ und ‚kausal‘ festlegt. Es wird an späterer Stelle zu prüfen sein, inwiefern das Common-Sense-Schema und eine phänomenologische Betrachtung zur Deckung zu bringen sind. In einem letzten Schritt geht es um die kritische Prüfung des etablierten Schemas, denn Strawson geht nach wie vor davon aus, dass es nötig sein könnte, dieses im Angesicht wissenschaftlicher Erkenntnis zu revidieren oder gar zu verabschieden (vgl. Strawson 1979, S. 105). Die zentrale Frage lautet daher, ob die wissenschaftliche Erkenntnis dazu zwingt, das Schema zu ändern. Eine Antwort könnte sein, dass man zu dessen Aufgabe nicht gedrängt wird, da sich die Eigenschaften abstrakter physikalischer Objekte einer Theorie und die phänomenalen Eigenschaften der Wahrnehmungsobjekte ähneln. Dies war aber die bereits zurückgewiesene, von Mackie vertretene Version eines Repräsentationalismus. Die Inkonsistenz solch einer Position zeigt sich sofort, wenn man sich fragt, in welchen Eigenschaften bspw. sich der lebensweltlich erfahrene Raum und mathematisch beschreibbare Räume überhaupt ähneln könnten. Eine andere Antwort skizziert Strawson mit seiner Interpretation Kants, nach der die wissenschaftliche Beschreibung der Welt einer Korrektur der Le-

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benswelt gleichkommt (vgl. Strawson 1979, S. 107).¹² Das Problem liegt jedoch darin, dass das Common-Sense-Schema hierdurch eine radikale Abwertung aus rationaler Sicht erfährt, was nicht Sinn seiner Etablierung war. Eine Lösung muss letztlich darin liegen, irgendeine Form der Identität zwischen den phänomenalen Objekten der Wahrnehmung und wissenschaftlichen Objekten aufzuweisen (vgl. Strawson 1979, S. 108).¹³ Strawson versucht sich hinsichtlich dieses Problems an einer indirekten Argumentationsstrategie, die in gewisser Hinsicht nahe bei Cassirer liegt: Der Sinn von ‚real‘ kann sich verschieben, er ist relativ zu einem Betrachtungsrahmen. Nur weil bspw. Blut unter dem Mikroskop weitestgehend farblos wahrgenommen wird, macht es weder Sinn zu sagen ‚Blut ist in Wirklichkeit rot.‘ noch ‚Blut ist in Wirklichkeit nicht rot.‘ (Strawsons Beispiel). Auf den Punkt gebracht: „There is an irreducible relativity, a relativity to what in the broadest sense may be called the perceptual point of view, built in to our ascriptions of particular visual properties to things“ (Strawson 1979, S. 109). Die Pointe hierbei ist, dass der wissenschaftliche Standpunkt ein intellektueller und eben kein perzeptiver ist (vgl. Strawson 1979, S. 110). Ersterer setzt letzteren aber genealogisch betrachtet und auch methodisch voraus, denn auch im Experiment ist die Wissenschaftlerin auf Beobachtung und somit auf Wahrnehmung angewiesen. Möchte man diese Beschreibungsperspektivität zu Gunsten eines rein wissenschaftlichen Standpunktes auflösen, verletzt man implizit die natürliche Einstellung des Common-Sense. Hiermit ist das Identitätsproblem zwar nicht aufgelöst,¹⁴ aber es ist klargeworden, dass die Wissenschaft ein „offspring of common sense“ (Strawson 1979, S. 112) ist und auf diesen angewiesen bleibt. Aus dem dargelegten Zusammenhang von gewöhnlichen Wahrnehmungserfahrungen und Beobachtungen im wissenschaftlichen Experiment kann ein weiteres Zwischenfazit für das Problem der Objekte der Wahrnehmung gezogen werden: Die Doppeldeutigkeit des englischen Begriffs physical als einerseits ‚physisch‘ und andererseits ‚physikalisch‘ bringt eine Unschärfe mit sich, welche – insbesondere vor dem Hintergrund des in der analytischen Philosophie oftmals schlicht vorausgesetzten Naturalismus – die Theoriebildung immer wieder auf Abwege führt. Der direkte Realismus verbietet es jedenfalls, physikalische Objekte als die Objekte der Wahrnehmung zu definieren. Ob im Sinne Strawsons physische Objekte die einzigen Objekte der Wahrnehmung sind, wird im Weiteren in Auseinandersetzung mit Cassirer zu klären sein.

 Hierbei ist durchaus fraglich, inwiefern Strawson an dieser Stelle Kant gerecht wird, was hier aber nicht Thema sein kann.  „And at bottom this question is one of identity“ (Strawson 1979, S. 108).  Strawson behauptet dies zwar scheinbar zunächst, stellt final aber klar: „If this means […] that our thought is condemned to incoherence, then we can only conclude that incoherence is something we can perfectly well live with and could not perfectly well live without“ (Strawson 1979, S. 112).

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3 Ernst Cassirer: Objektivität als Objektivierung Das Problem der Wahrnehmung zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk Ernst Cassirers. Dem zumindest mit dem Hauptwerk vertrauten Leser wird nicht entgangen sein, dass dem dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen eine Wahrnehmungstheorie zugrunde liegt, die ihre systematische Zuspitzung im Kapitel zur symbolischen Prägnanz erfährt (vgl. ECW 13, S. 218 – 233). Im Ausgang der Phänomenologie der Erkenntnis ist es gar möglich, diese – und damit die gesamte Symbolphilosophie – als eine Phänomenologie der Wahrnehmung auszulegen, was hier zwar systematisch vorausgesetzt werden soll, en detail an dieser Stelle aber nicht nachgewiesen werden kann.¹⁵ Ich werde mich daher im Folgenden auf die Darstellung der wichtigsten systematischen Theoreme beschränken. Als einzige weitere werkinterne Indizien, die für die Wichtigkeit der Wahrnehmungstheorie bei Cassirer sprechen, sei lediglich auf die zweite Abhandlung von Zur Logik der Kulturwissenschaften, die den Titel Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung trägt, und den 1938 zuerst auf französisch erschienenen Artikel Le concept de groupe et la théorie de la perception verwiesen, in dessen entstehungsgeschichtlichem Umfeld sich eine äußerst markante, in der Forschungsliteratur jedoch kaum wahrgenommene autobiographische Notiz findet: Cassirer betrachtet die Frage nach dem Zusammenhang von Wahrnehmung und Erkenntnis und seine Lösung, die er für das so bestimmte Problem der Wahrnehmung anbietet, als eine Art Summa seines philosophischen Denkens. Die wesentlichen Inhalte obigen Artikels hatte Cassirer bereits im Dezember 1937 bei einer Versammlung des Kulturbundes Deutscher Juden in Wien vorgetragen und beabsichtigte, diese erneut im April 1945 im Philosophy Club der Columbia University zu präsentieren. Hierzu kam es zwar nicht mehr, jedoch dokumentiert die am Morgen von Cassirers Todestag verfasste siebenseitige Einleitung zu diesem Vortrag folgende, allzu deutliche Selbsteinschätzung: When I received your kind invitation I immediately accepted it with great gratitude and I decided to avail myself of this opportunity to speak, in a circle of philosophers, about a problem that had occupied my thoughts for a very long time. As a matter of fact the subject of this paper was one of the first to arouse my philosophical interest; I began to wonder about it when still an undergraduate in philosophy. It took, however, a very long time before I found the courage to publish the results to which I had been led. […] What I can give in the following remarks is not an exhaustive treatment of the subject itself; it is rather a chapter of my intellectual autobiography – a short report of the way in which I myself became engaged in the study of the problem and of the trend of thought by which I reached my conclusion (ECN 8, S. 181 f.).

 Ich habe diese Lesart ausführlich in meiner Dissertation durchgeführt (vgl. Endres 2017b). Eine komprimierte Darstellung der Kernidee wurde bereits veröffentlicht (vgl. Endres 2016).

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Dieser Hinweis soll hier genügen, um die Bedeutsamkeit der Wahrnehmungstheorie in Cassirers Denken wenigstens anzuzeigen.¹⁶ Im Folgenden soll es ganz konkret um die Bestimmung der Objekte der Wahrnehmung gehen. Für Cassirer bewegt sich das Problem der Wahrnehmung in der theoretischen Philosophie seit jeher zwischen zwei Polen: dem der Psychologie und dem der Erkenntnistheorie (vgl. ECW 13, S. 64). Demnach betrifft dieses Problem „entweder die Entstehung und Entwicklung der Wahrnehmung oder ihre objektive Bedeutung und Geltung“ (ECW 13, S. 64). Im Sinne Cranes ist Cassirer ebenso der Ansicht, dass das Problem der Wahrnehmung eben nicht in den Fragen der Kognitionswissenschaften und der Erkenntnistheorie ein Ende hat, denn ihm zufolge erscheint es lediglich „sicher, daß sich in ihnen das theoretisch-philosophische Interesse erschöpft“ (ECW 13, S. 64). Ebenso klar weist Cassirer darauf hin, dass die hier diagnostizierte Dichotomie von Internalismus und Externalismus sich notwendig aus obiger Auffassung ergibt und nicht in eine Richtung auflösen lässt, da beide Fragestellungen gleichermaßen legitim sind: Denn so wahr die Erfahrung als Ganzes sich für uns in zwei scharf geschiedene Gebiete: in ein „Innen“ und „Außen“, zerlegt – so wahr scheinen wir das Wesen der Wahrnehmung vollständig erkannt zu haben, sobald es uns gelungen ist, ihr in diesen beiden Sphären den ihr zukommenden Platz zuzuweisen, sobald wir sie auf der einen Seite als ein psychisches Geschehen, das unter bestimmten Regeln steht, erfaßt und sie andererseits als Grundlage, als erstes Element der theoretischen Objektsetzung begriffen haben (ECW 13, S. 64).

Aus der Feststellung, dass unsere Erfahrung immer Erfahrung von externen Dingen, Zuständen, Prozessen usf. der Außenwelt ist, andererseits aber auch interne Aspekte wie Intentionalität, Überzeugungen, Gründe usf. eine Rolle in unserer Erfahrung spielen, folgt, dass durch nur eine Richtung der Fragestellung sich das Problem der Wahrnehmung philosophisch nicht angemessen umfassen lässt.Wichtigstes Merkmal externalistischen Denkens ist, wie wir bereits gesehen haben, die Auffassung, dass es die geistunabhängigen, externen Naturobjekte sind, welche das Wahrnehmungsobjekt bestimmen. Für Cassirer mündet dieser Ansatz zwangsläufig in einer Psychophysik der Wahrnehmung, wie wir sie in Strawsons Kritik an Mackie kennengelernt haben, denn die Eigenschaften der Naturobjekte sollen wahrgenommene Eigenschaften an Objekten mindestens in Teilen objektiv bestimmen. In dieser Konzeption ist aber überhaupt nicht klar, was ‚objektiv‘ philosophisch bedeutet, sondern der Begriff der Objektivität bereits im Sinne der Naturwissenschaften oder des CommonSense als Relation zu den Objekten der Wahrnehmung unkritisch vorausgesetzt. ‚Unkritisch‘ ist hier nicht lediglich in Abgrenzung zum naiven Realismus gemeint, sondern allgemeiner im Sinne einer unhinterfragten Annahme, die auch das Common-

 Eine Interpretation von Gruppenbegriff und Wahrnehmungstheorie (1937) ist ebenso Teil meiner Lesart der Philosophie der symbolischen Formen als Phänomenologie der Wahrnehmung (vgl. Endres 2017b, S. 222– 232).

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Sense-Schema in seiner theoretischen Unvoreingenommenheit in Frage stellt. Die Annahme der objektiven Abhängigkeit des Wahrnehmungsobjektes vom physischen oder physikalischen Objekt kritisiert Cassirer am Begriff der Konstanzhypothese: ¹⁷ „Mag man diese Abhängigkeit als kausales Verhältnis oder mag man sie als funktionale Entsprechung denken – immer gilt, daß ‚Reiz‘ und ‚Empfindung‘ in irgendeiner Weise aufeinander abgestimmt sind und daß sie demnach in bestimmten grundlegenden Strukturverhältnissen miteinander übereinkommen müssen“ (ECW 13, S. 65). Der sich hieraus ergebende Parallelismus in der objektiven Gliederung von Reizwelt und Wahrnehmungswelt ist Cassirer zufolge philosophisch unbrauchbar, da er in den Repräsentationalismus resp. die Abbildtheorie (vgl. ECW 11, S. 39 – 49) führt. Seine Kritik an dieser Theorieoption fällt harsch aus, da Cassirer nicht nur den mit der Konstanzhypothese einhergehenden Empirismus in der Philosophie immer wieder zurückweist (vgl. ECW 13, S. 23 f., 235 f., 248, 477), sondern insbesondere in wahrnehmungsphilosophischer Hinsicht den Repräsentationalismus für eine sinnlogische Sackgasse hält: Zur Anerkennung irgendwelcher im strengen Sinne „originärer“ Wesenszüge der Wahrnehmung kann es, auf dem Boden dieser Betrachtungsweise, nicht kommen: Denn eben in der getreuen Abspiegelung der Verhältnisse der „äußeren“ Welt, in ihrer „Wiedergabe“, besteht der Sinn und Gehalt der Wahrnehmung selbst (ECW 13, S. 65).

An dieser Stelle wird zudem deutlich, worum es Cassirer beim Problem der Wahrnehmung zu gehen scheint, nämlich um den ‚Sinn und Gehalt der Wahrnehmung selbst‘. Die erkenntnistheoretische Frage wiederum wirft ein Problem auf, das vor dem Hintergrund des kantischen Erbes der Symbolphilosophie überhaupt nicht augenscheinlich ist. Ganz nach internalistischer Manier geht die Erkenntnistheorie, für die Cassirer den kantischen Kritizismus schlicht voraussetzt, davon aus, dass die Wahrnehmungsobjekte immer solche für ein wahrnehmendes Subjekt sind, der Subjektund Objektbegriff also nicht im Sinne des Alltagverstandes vorausgesetzt werden kann, sondern beide in Korrelation zueinander entwickelt werden müssen. Die Erkenntnistheorie „muß demnach die Wahrnehmung und ihre Beschaffenheit nicht als ‚von außen‘ bedingt, sondern als bedingend, sie muß sie als konstitutives Moment der Dingerkenntnis nehmen“ (ECW 13, S. 65). Cassirer hält diese Strategie zwar für grundsätzlich richtig, weist aber darauf hin, dass unter kantischen Prämissen im Vergleich zur externalistischen Strategie die Ursachen lediglich durch ein Ziel vertauscht wurden. Denn auf diese Weise besteht der ‚Sinn und Gehalt der Wahrnehmung

 Diese Kritik ist eine der wichtigsten Grundlagen von Merleau-Pontys Hauptwerk (vgl. MerleauPonty 1945, S. 14) und geht auf den Mitbegründer der Gestalttheorie Wolfgang Köhler zurück (vgl. Köhler 1913). Cassirer spricht in Anlehnung an diesen von einer „allgemeinen ‚Konstanzannahme‘“ (ECW 13, S. 65).

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selbst‘ zwar nicht mehr in der Abbildung des Naturobjektes, jedoch in seiner Vorbildung, in der intentionalen Ausrichtung auf das Naturobjekt und nur auf dieses. Damit sind wir an demjenigen Punkt angelangt, von dem aus Cassirers Kritik gleichermaßen den Objektbegriff externalistischer und internalistischer Wahrnehmungstheorien sowie des Common-Sense-Realismus Strawsons zurückweisen kann. Ihnen allen liegt eine ausschließlich theoretische Auffassung der Wahrnehmungsobjekte als Naturobjekte zugrunde: „Und indem [sie] sich in dieser Weise auf [sie] richte[n], ha[ben] [sie] sich schon unvermerkt nach [ihnen] gerichtet. […] Das Wesen der Wahrnehmung wird nach ihrer ‚objektiven Gültigkeit‘ bestimmt“ (ECW 13, S. 66). Welche Alternative bestünde aber überhaupt zu den grundsätzlichen Vorgehensweisen von Empirismus und Normativismus, egal in welcher Spielart sie sich bislang gezeigt haben? Von welchen Objekten sollen wir sprechen, wenn es Cassirer zufolge eine Verstellung des Problems der Wahrnehmung ist, die „Ding-EigenschaftsKategorie, die eine konstitutive Bedingung des theoretischen Naturbegriffs ist, schon in die reine Deskription, in die Phänomenologie der Wahrnehmung“ (ECW 13, S. 66) hineinzulegen? Zur Klärung dieser Frage muss zunächst in groben Zügen umrissen werden, was Cassirer überhaupt unter einer Phänomenologie der Wahrnehmung versteht. Eine solche erfordert, die Wahrnehmung zunächst als ein „ungeschiedenes Ganze[s]“ anzunehmen, als ein „Gesamterlebnis“, das „in irgendeiner Weise gegliedert ist“ (ECW 13, S. 31). Es ist davon auszugehen, dass „das Phänomen der Wahrnehmung, wenn es in seiner ursprünglichen Grundgestalt, in seiner Reinheit und Unmittelbarkeit genommen wird“, trotz dieser behaupteten Unmittelbarkeit eine Struktur aufweist, diese jedoch keine „Zerfällung in disparate sinnliche Elemente in sich schließt“ (ECW 13, S. 31). Vielmehr ist diese Struktur im Sinne einer transzendentalen Korrelation von Bedeutungsintentionen und sinnlichen Gehalten konstituiert, oder – mit Strawson gesprochen – „gegeben mit dem Gegebenen“. Die normativen Bedingungen solcher perzeptiv-symbolischen Strukturen gilt es freizulegen, weshalb der modus operandi von Cassirers transzendental-genetischer Phänomenologie eine rekonstruktive Analyse im Sinne Paul Natorps (1912) ist. Die phänomenologische Betrachtung des unmittelbar in der Wahrnehmung gegebenen ist folglich keine Version des Mythos des Gegebenen, sondern geht davon aus, dass Wahrnehmungserfahrungen durch und durch geistige Erfahrungen sind. In Anlehnung an McDowell können wir mit Cassirer sagen, dass Wahrnehmungserfahrungen „all the way out“ (McDowell 1994, S. 69) symbolisch strukturiert sind. Der Versuch, „sie von jedem geistigen Bezug zu lösen, sie von der Gesamtheit der möglichen Bedeutungsintentionen abzuschneiden und in ihrem nackten Ansich hinzustellen […] erscheint von Anfang an als widersinnig und als methodisch hoffnungslos“ (ECW 13, S. 66). Gesteht man Cassirer diese objektiv-idealistische Voraussetzung zu, ergibt sich die Bestimmung der Objekte der Wahrnehmung aus einer phänomenologischen Analyse des sinnlich-gebundenen Sinntragens, wie es Cassirer entlang der drei prinzipiellen Weisen symbolischer Formung dargelegt hat. Diese sind Mythos, Sprache und (wissenschaftliche) Erkenntnis. Letztere steht zwar am Ende dessen, worauf die Wahr-

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nehmung aus ihrer immanenten Struktur heraus immer schon abzweckt.¹⁸ Bei der Rekonstruktion aller Wahrnehmungsleistungen und ihrer Objekte dürfen die nichtepistemischen Funktionen aber nicht vorschnell mit Blick auf dieses Ziel übersprungen werden, da sich die Objektivität unterschiedlicher Wahrnehmungsobjekte erst aus der Genese unterschiedlicher kultureller Weltbezüge ergibt. Das auf die symbolische Form des Mythos zurückgehende Gefühl, dass uns die Dinge um uns herum überhaupt etwas sagen, dass sie expressiv als Zeichen wahrgenommen werden können, ist nach Cassirer nicht weniger objektiv als die in Zeichen der mathematischen Erkenntnis verfassten Objekte bspw. der Feldphysik. Und diese sind wiederum nicht objektiver als sprachlich bezeichnete Alltagsgegenstände. Diese holistische Betrachtung des Zusammenhangs von Wahrnehmung und kulturellem Ausdruck kommt der Sache nach der von Strawson festgestellten Relativität des Bezugsrahmens nahe, verzichtet jedoch auf die Forderung einer Identität im Sinne eines wie auch immer konzipierten Übersetzungsproduktes als Grundlage aller Objekte der Wahrnehmung, was auf den ersten Blick durchaus als relativistisches Problem betrachtet werden kann (vgl. Habermas 1997, S. 33). Eine Lösung im Sinne einer Ontologie der Wahrnehmungsobjekte liefert das Herzstück der Symbolphilosophie, das Lehrstück über Prägnanz. Symbolische Prägnanz und symbolische Form können gleichermaßen als Fachbegriffe gelesen werden, die Variationen des folgenden Grundsatzes der Philosophie der symbolischen Formen sind: „Das Licht bekundet und erweist sich erst in dem Schatten, den es wirft: Das rein ‚Intelligible‘ hat das Sinnliche zu seinem Gegensatz, aber dieser Gegensatz bildet zugleich sein notwendiges Korrelat“ (ECW 12, S. 286). Immer geht es um den Grundsatz, dass sich Geistiges, also jede objektivierende Form der Weltaneignung und -deutung, nur im und am Sinnlichen realisieren lässt, welches dann erst im Modus der Naturerkenntnis als physisches Objekt erscheint. Diesen Sachverhalt hat Guido Kreis pointiert als die These der Ausdrucksgebundenheit des Geistes bezeichnet und im Ausgang dessen eine Theorie semantischer Objektivität gerechtfertigt (vgl. Kreis 2010, S. 144 ff., 188 – 201). Jede Wahrnehmungserfahrung ist demzufolge an die zeichenhafte Expressivität von Kulturobjekten gebunden, die zwar eine materielle Grundlage haben, aber erst durch die Semantik der wissenschaftlichen Erkenntnis als Naturobjekte erscheinen. Um nichts anderes geht es der Sache nach bei der symbolischen Prägnanz. An ihr vollzieht sich die für den dritten Band der Symbolphilosophie charakteristische Akzentverschiebung zur Wahrnehmungstheorie. Cassirer spricht hier – genau dort, wo er die symbolische Prägnanz definiert – unzweideutig von Wahrnehmungserfahrungen. Im berühmt gewordenen Wortlaut heißt es: Unter „symbolischer Prägnanz“ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als „sinnliches“ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen „Sinn“ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt. Hier handelt es sich nicht um

 Diese These entwickelt Cassirer mit der Invariantentheorie von Wahrnehmung und Begriff in Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis (ECN 2, S. 83 – 133).

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bloß „perzeptive“ Gegebenheiten, denen später irgendwelche „apperzeptive“ Akte aufgepfropft wären, durch die sie gedeutet, beurteilt und umgebildet würden. Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger „Artikulation“ gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie zugleich ein Leben „im“ Sinn. Sie wird nicht erst nachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheint gewissermaßen als in sie hineingeboren. Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinnganzes, soll der Ausdruck der „Prägnanz“ bezeichnen (ECW 13, S. 231).

Die Semantik von Prägnanz verweist neben dem lateinischen Bedeutungsspektrum von praegnans, aus dem der Begriff sich ableitet, bildsprachlich auf einen Inhalt und ist daher anschlussfähig sowohl für eine Konzeption repräsentationaler Gehalte, wie sie z. B. in sprachlichen Systemen vorliegen, als auch sinnlicher Gehalte, wie sie in den Debatten um die (Nicht‐)Begrifflichkeit der Wahrnehmung konzipiert werden (vgl. Kreis 2015). Diese metaphorische Verwobenheit von Geburt, geistigem Gehalt und Wahrnehmungsinhalten fasst Cassirer im Begriff der Prägnanz nun derart, dass er behauptet, dass jede Wahrnehmungserfahrung schon als in die Sphäre des Geistigen hineingeboren erscheint: Die Prägnanz ist den Phänomenen „der Geburtsbrief, durch den sie als aus einer bestimmten Sphaere des Sinnes ‚stammend‘ gekennzeichnet sind“ (ECN 4, S. 83). Auf dieser Basis gelingt es Cassirer, die Wahrnehmungstheorie grundlegend zu erweitern: Dadurch, dass nicht ausschließlich Naturobjekte als Kandidaten des Wahrnehmungsbestandes in Betracht gezogen werden, gibt er einer Tiefenschicht der Wahrnehmungsintentionalität Raum, die er in Abgrenzung zur sprachlich geformten Dingwahrnehmung Ausdruckswahrnehmung nennt (vgl. ECW 24, S. 391– 413). Deren Funktionalität besteht darin, die Objekte der Wahrnehmung als Zeichen aufzufassen, indem sie die materiellen Gegenstände unserer Erfahrung konstitutiv mit einem unmittelbar erfahrenen Sinn verknüpft, mit dem jede weitere kulturelle Formung genealogisch verbunden ist. Die Dingwahrnehmung baut in dem Sinne hierauf auf, dass sich die expressiven Zeichen zu sprachlichen Begriffen wandeln und dadurch den Wahrnehmungsbestand im Sinne des Common-Sense-Schemas Strawsons und der empirischen Betrachtung formen. Die wissenschaftlichen Zeichen wiederum bedürfen keiner besonderen Form der Wahrnehmung, da sie intellektuelle Symbole sind und letztlich die Welt der Wahrnehmung verlassen, um sie in ein System reiner Symbolik zu überführen, in dem die Wahrnehmung nur noch indirekt, also als Beobachtung im Experiment eine Rolle spielt.

Konklusion Das Problem der Wahrnehmung besteht, wie im Ausgang von Cassirers Phänomenologie der Wahrnehmung gezeigt wurde, nicht in erster Linie als Problem der Halluzination, wie Crane dies möchte. Auch kann es nicht ohne Weiteres mit Strawson als

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Problem der Identität zwischen physischen und physikalischen Objekten gefasst werden. Der genealogische und phänomenologisch freizulegende Zusammenhang von Wahrnehmung und Erkenntnis weist vielmehr in die Richtung, Kulturobjekte als die basalen Objekte der Wahrnehmung anzusetzen, die zwar materiell an die Natur gebunden sind, als Naturobjekte jedoch erst im wissenschaftlichen Denken erscheinen. Dieser Perspektive liegt eine dialektische Entwicklung zugrunde, die von den Objekten der Ausdruckswahrnehmung über die Objekte der Dingwahrnehmung hin zu Objekten reicht, die nicht mehr direkt an die Wahrnehmung gebunden sind.

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Was sind die Objekte der Wahrnehmung?

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Sascha Freyberg und Stefan Niklas

Rekonstruktive Synthesis Zur Methodik der Kulturphilosophie bei Ernst Cassirer und John Dewey Abstract: Reconstructive Synthesis. On the Method of the Philosophy of Culture in Ernst Cassirer and John Dewey. This paper argues that Ernst Cassirer and John Dewey – despite their seemingly opposing views on ‚idealism‘ and ‚naturalism‘ – pursue a common project. We want to elucidate this project along the lines of a philosophy of culture that is characterized by the leading idea of a reconstructive synthesis. The consequent result of this common project consists in the program for a logic of cultural inquiry. In order to establish the decisive link between Cassirer and Dewey we will first have a look at historical interrelations highlighting a shared conception of philosophy. We will, then, elaborate on the method of reconstruction as well as the transformative aspect of the logic of inquiry in Cassirer and Dewey. Finally, we will give a programmatic sketch of the logic of cultural inquiry resulting from our synthesis of the two theories. Keywords: John Dewey, Ernst Cassirer, pragmatism, philosophy of culture, logic of cultural inquiry, synthetic reconstruction

1 Das Projekt Im Folgenden wollen wir zwei Positionen unter einem Titel miteinander verbinden, besser gesagt: kritisch synthetisieren, die ihrem jeweiligen Namen nach als genau entgegengesetzt erscheinen. Es handelt sich dabei auf der einen Seite um den zunächst neukantianisch geprägten ‚kritischen‘ oder ‚symbolischen Idealismus‘ von Ernst Cassirer und auf der anderen Seite um den Pragmatismus und ‚empirical naturalism‘ von John Dewey. Das gemeinsame Projekt dieser vermeintlich gegensätzlichen Auffassungen wollen wir als das einer Kulturphilosophie erläutern, die einen genuinen Ansatz und keine Bereichs- oder Bindestrichphilosophie bezeichnet und deren methodische Ausrichtung sich auf die Formel der rekonstruktiven Synthesis bringen lässt. Diese basiert auf der Engführung von Kultur und Erfahrung und bindet die philosophische Untersuchung – das heißt die Bildung, Revision und Transformation grundlegender Begriffe – stets an Prozesse konkreter Wirklichkeitserschließung. Diese Wirklichkeitserschließung kann dabei ebenso in den strengeren Formen empirischer und theoretischer Erkenntnis erfolgen, aber auch in denen ästhetischer oder mythischer Imagination sowie in alltagspraktischen Formen. All diesen Formen wird eine systematisch gleichrangige Stellung eingeräumt, wodurch die Kulturphilosophie von Anfang an pluralistisch ausgerichtet und entsprechend kritisch akzentuiert ist. Die kritische https://doi.org/10.1515/9783110549478-004

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Akzentuierung besteht dabei in der Unterscheidung der verschiedenen Formen, der Verteidigung ihrer irreduziblen Pluralität, der Analyse ihrer Beziehungen und Interferenzen, sowie in der auch ethisch motivierten Reflexion ihrer jeweiligen Behandlung in den Kulturwissenschaften. Die Methodik dieser in der Verbindung von Cassirer und Dewey zu erläuternden Kulturphilosophie besteht in der Rekonstruktion der vielfältigen, je spezifischen Formen der Synthesen der Erfahrung, in denen Wirklichkeit nicht nur erfasst, sondern überhaupt aufgebaut wird. Der Aufbau von Wirklichkeit, die konstruktive Synthesis, bezeichnet die Aktivität, die in der philosophischen Rekonstruktion vorausgesetzt wird. Sie stellt keinen einmaligen Vorgang, sondern einen fortwährenden Prozess des Auf- und Umbauens dar, der in Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Erkenntnisakten vor sich geht. Die philosophische Rekonstruktion geht durch die (typischerweise von den unterschiedlichen Wissenschaften geleistete) Analyse der Struktur dieser formgebenden Synthesen hindurch, um sie schließlich im Medium philosophischer Begriffe zu (re‐) synthetisieren. Der Ausdruck ‚rekonstruktive Synthesis‘ mag zunächst mehr nach deutschem Idealismus als nach amerikanischem Pragmatismus klingen, wie überhaupt der Begriff der Kulturphilosophie, auf den dieses gemeinsame Projekt gebracht werden soll, explizit nur von Cassirer und nicht von Dewey reklamiert wurde. Tatsächlich aber ist es Dewey, der den Begriff der ‚rekonstruktiven Synthesis‘ an prominenter Stelle verwendet, um die Aufgabe der philosophischen Arbeit zu beschreiben. Dabei ist an dieser Stelle interessanterweise nicht Deweys frühe Prägung durch Hegel (das ‚permanent deposit‘ wie Dewey selbst sagt),¹ sondern der Fund einer glücklichen methodischen Formulierung aus der Sozial- und Kulturforschung auschlaggebend. Dewey übernimmt den Begriff von einem Boas-Schüler, dem Kulturanthropologen Alexander A. Goldenweiser, und bezieht sich damit zugleich auf die entscheidende Rolle, die die kulturtheoretische Reflexion bei der Vermittlung und Re-Synthetisierung spielt: „A reconstructive synthesis re-establishes the synthetic unity necessarily lost in the process of analytic dismemberment“ (EN, S. 41).² Während Goldenweiser damit eine Aufgabe seiner eigenen Disziplin anspricht, sieht Dewey hierin das Ziel der Philosophie überhaupt: „I do not mean that philosophy is to be merged in an anthropological view of culture. But in a different context and by a different method, it has the task of analytic dismemberment and synthetic reconstruction of experience“ (EN, S. 41). Und er fügt noch hinzu, was auch Cassirer immer wieder betont, nämlich dass anthropologische, kulturtheoretische Studien für die Aufgabe des Philosophierens weit wichtiger seien als die Psychologie, solange diese einem isolierenden Pa-

 Zur Hegel-Rezeption bei Dewey und Cassirer siehe die Beiträge von Rölli und Wunsch in Wyrwich (2011).  Originalzitat in Goldenweiser (1918, S. 604). Goldenweiser, ein Vertreter der Boas-Schule, diskutiert in dem zitierten Aufsatz übrigens ausführlich die Kategorien der Sozialwissenschaften, die er von Geschichte, Psychologie und Anthropologie her explizit als Mittel zur Erforschung von Kultur versteht.

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radigma folge.³ Sowohl Dewey als auch Cassirer waren dagegen Fürsprecher einer relational und enaktivistisch ausgerichteten Erneuerung der Psychologie, welche sich in Begriffen der ‚Situation‘ und des ‚Feldes‘ ausdrückt und sich darin den kulturanthropologischen Feldforschungen nähert, deren komplexes und konkreszentes Material immer die Dimension von Sinn und Funktion in den Fokus rückt. Wie bei Cassirer und Dewey gleichermaßen deutlich wird, ist das Selbstverständnis ihrer Philosophie nicht dadurch gekennzeichnet, bestimmte Aufgaben an die ‚Einzelwissenschaften‘ delegieren zu wollen, sondern vielmehr dadurch, (kultur‐) wissenschaftliche Erkenntnis als Material aufzufassen, das es zu durchdringen gilt. Die spezifisch synthetische Arbeit besteht dabei in der perspektivischen Verschränkung von diachronen und synchronen, strukturellen und genetischen und schließlich von systematischen und historischen Aspekten. Allerdings werden die Ergebnisse (kultur‐) wissenschaftlicher Erkenntnis nicht einfach importiert – vielmehr richtet sich die kritische Arbeit der philosophischen Rekonstruktion auf deren Logik. Das betrifft insbesondere die um Begründung ringende (sozial- und) kulturwissenschaftliche Forschung. Damit Philosophie jedoch „als Mitstreiterin“ (ECW 17, S. 358) in den Debatten auftreten und darüber hinaus auch die Aufgabe „als Kritikerin“ (Lotter 2007) erfüllen kann, muss der Weg der kulturphilosophischen Rekonstruktion über die Rekonstruktion der Logik der kulturwissenschaftlichen Erkenntnis als Forschungsprozess verlaufen. Die Methodik der (Kultur‐) Philosophie entspricht somit ihrer prinzipiellen Aufgabe – eine Aufgabe, die in der Philosophie lange genug vergessen war –, nämlich der kritischen Reformierung des Projekts dialektischer Formanalyse, das Cassirer und Dewey auf komplementäre Weise fortführen. Es sind also zwei Thesen, die einzuholen wir uns zur Aufgabe machen und wofür wir im Folgenden wenigstens die Instrumente auslegen wollen. Erstens: Cassirer und Dewey verbindet ein gemeinsames Projekt. Wir nennen dieses Projekt Kulturphilosophie, weil es die Modi oder die Formen der Erfahrung und der Erkenntnis von Wirklichkeit als Prozesse kultureller Formung denkt (Erfahrung und Erkenntnis als kulturell geformt und Wirklichkeit als kulturell durchformt). Zweitens: Dieses gemeinsame Projekt umfasst konsequenterweise das Programm einer Logik der Kulturwissenschaften, wie es titelgebend bei Cassirer heißt, wobei diese Logik mit Dewey als die Theorie der Forschung – eben auch der kulturwissenschaftlichen Forschung – konzipiert werden muss. Um die entscheidende Verbindung zwischen Cassirers und Deweys Philosophie in der Methode der rekonstruktiven Synthesis aufzuweisen, werfen wir im Folgenden zunächst (in Abschnitt 2) einen kurzen Blick auf das historische Verhältnis und den geteilten Philosophiebegriff. Danach werden wir die Me-

 Auch die psychologische Forschung war für beide wichtig, jedoch standen sie ihr in der zeitgenössischen Ausprägung in gleicher Weise ablehnend gegenüber. Dewey hat das in einer eigenen Psychologie ausgearbeitet, von der auch sein berühmter Aufsatz gegen den Reflexbogen geprägt ist. Cassirer hat die Logik der Psychologie in Substanzbegriff und Funktionsbegriff ausführlich untersucht und bereits hier, noch vor dem Erstarken der Gestaltpsychologie, für das relationale Paradigma argumentiert.

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thode der Rekonstruktion (Abschnitt 3) und den transformatorischen Aspekt der Forschungslogik (Abschnitt 4) bei Cassirer und Dewey herausarbeiten, um schließlich (in Abschnitt 5) das sich hieraus ergebende Programm der Logik der kulturwissenschaftlichen Forschung zu skizzieren.

2 „Old-fashioned philosophy“: Philosophie als Forschung In einem Brief äußerte Dewey Ende der 1930er Jahre die Absicht, angesichts der anhaltenden Kontroversen um sein Werk (vgl. Morgenbesser 1978) eine Art summa zu schreiben, die er The Philosophic Science nennen wollte. Aus diesem Vorhaben entstanden dann im Laufe der 40er Jahre die Aufzeichnungen zum Buch Unmodern Philosophy and Modern Philosophy (UM), dessen Manuskript Dewey aber verloren ging. Schaut man in diese Aufzeichnungen, von denen eine umfassende Abschrift Jahrzehnte später zufällig im Archiv entdeckt wurde, so ergibt sich der Eindruck, dass Dewey auf dem Weg zu einem Ansatz war, den er dann auch explizit als Kulturphilosophie hätte bezeichnen können.⁴ Diese Ausrichtung ist dabei nur scheinbar neu, vielmehr war sie bereits in früheren Werken angelegt. Als programmatisch kann man den Titel seines Sammelbands Philosophy and Civilization und insbesondere den Vorschlag seiner (dann nicht berücksichtigten) neuen Einleitung für die zweite Auflage von Experience and Nature ansehen. Dort wollte Dewey ausgerechnet seinen Kampf- und Grundbegriff der Erfahrung durch den Begriff der Kultur ersetzen, um die Ganzheit der Erfahrung⁵ zu thematisieren: It is a prime philosophical consideration that “culture” includes the material and the ideal in their reciprocal interrelationsships and (in marked contrast with the prevailing use of “experience”) “culture” designates, also in their reciprocal interconnections, that immense diversity of human affairs, interests, concerns, values which compartmentalists pigeonhole under “religion”, “morals”, “aesthetics”, “politics”, “economics” etc. etc. (LW 1, S. 363).

Historisch gesehen scheint es trotzdem keine folgenreiche gegenseitige Beeinflussung zwischen Cassirer und Dewey gegeben zu haben. Auf der Seite von Dewey ist das nicht überraschend, weil er insgesamt eher selten andere, ihm zeitgenössische Positionen diskutiert und stattdessen mit dem Gestus der Eigenständigkeit und des Neuanfangs auftritt. Dieser oftmals polemische Gestus richtet sich nicht zuletzt gegen ‚den‘

 Zur Überlieferungsgeschichte und mehr noch zur kulturphilosophischen Ausrichtung von Deweys Philosophie vgl. das Vorwort des Herausgebers Philip Deen. Deen spricht dort von „Dewey’s cultural history of philosophy and the philosophical framework embodied in it – cultural naturalism“ (UM, S. XVIII), ebenso wie von Deweys „call for a critical and reconstructive theory of culture“ (UM, S. XXVII).  Zur Funktion des Kulturbegriffs als Ganzheitsbegriff siehe Geyer (1994, S. 6 – 9; 2016, S. 164– 167).

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Idealismus⁶ – wozu auch der im Zitat angesprochene, auf kantianische Ansätze abzielende ‚compartmentalism‘ gehört –, und somit gegen das, wofür auch Cassirer in Deweys Augen gestanden haben muss.⁷ Auch Cassirer hat – trotz einiger Affinitäten, die der Marburger Ansatz im Allgemeinen und Cassirers symbolphilosophische Weiterentwicklung im Speziellen mit den frühen Pragmatisten teilen⁸ – vor seiner Zeit im amerikanischen Exil nur sehr wenig von dem gelesen, was die Protagonisten des philosophischen Pragmatismus geschrieben haben.⁹ Zieht man jedoch den damaligen Diskussionsstand in Betracht,¹⁰ ist es allerdings bemerkenswert, dass Cassirer überhaupt methodologische Beiträge von „Dewey und seine[r] Schule“ (ECW 6, S. 344) und im Zusammenhang der symbolischen Logik auch von Peirce wahrgenommen hat. Doch ausführlicher hat er sich zunächst nur mit William James beschäftigt, dem einzigen in Deutschland einigermaßen bekannten und gelesenen Pragmatisten. Wie sich bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff (ECW 6) von 1910 nachvollziehen lässt, hat Cassirer James als Autor der Principles of Psychology geschätzt und auch den Aufsatz Does ‚consciousness‘ exist? wiederholt gewürdigt,¹¹ in dem James ganz im Sinne Cassirers für einen Funktions- anstelle eines Substanzbegriffs des Bewusstseins plädiert. Doch offensichtlich hat ihn das erst einmal nicht zur intensiveren Beschäftigung mit anderen Aspekten des (keineswegs einheitlichen¹²) Programms des Pragmatismus und seiner Protagonisten angeregt. Cassirers Verhältnis zum Pragmatismus ändert sich erst als er in den 1940er Jahren das amerikanische Umfeld besser kennenlernt (so u.a. die Dewey-Schüler Randall und Nagel) und versucht, Anschluss an die philosophische Diskussion in den USA zu finden. Cassirer beginnt nun verstärkt Werke von Dewey zu lesen, dessen intellektueller Einfluss auf die amerikanische

 Deweys ‚Kriegsschriften‘, die seine Polemik am Deutschen Idealismus auf die Spitze treiben, übergehen wir an dieser Stelle (siehe dazu Lotter 2000).  Ein Verweis auf Cassirer lässt sich nur in dem gemeinsam mit Arthur Bentley verfassten Knowing and the Known finden, wo Cassirers Unterscheidung von Substanz- und Funktionsbegriffen erwähnt wird (vgl. LW 16, S. 115n). Positiv wird dort auch auf die Theorien von Uexküll und Goldstein verwiesen, wodurch genau jene biologisch-morphologischen und gestaltpsychologischen Forschungen betont werden, auf die sich auch Cassirer stützt.  Diese Übereinstimmungen wurden bereits von den Zeitgenossen gesehen, wie schon ein Blick in den Cassirer gewidmeten Band aus der Reihe Living Philosophers (Schilpp 1949) verrät.  Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Massimo Ferrari (i.V.). Jedoch bleibt er bei der Rezeption des Pragmatismus in Cassirers Texten stehen, deutet nur allgemeinere Berührungspunkte an und blendet die Bedingungen der wechselseitigen Rezeption weitgehend aus (vgl. Freyberg/Niklas i.V.).  Siehe dazu die Diskussionen auf dem Internationalen Kongress für Philosophie in Heidelberg 1909. Die deutschsprachige Rezeption des Pragmatismus insgesamt hat Hans Joas (1992) als die ‚Geschichte eines Missverständnisses‘ bezeichnet.  So im Aufsatz „Erkenntnistheorie nebst Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie“ (ECW 17, S. 31), und beispielsweise auch in der Studie „Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung“ (ECW 24, S. 406).  Nicht nur die Umbenennung von Pragmatismus in Pragmatizismus durch seinen „Erfinder“ Charles Sanders Peirce (1935), sondern auch eine frühe Polemik gegen The Thirteen Pragmatisms von Arthur O. Lovejoy (1908) ist hier einschlägig.

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Philosophie und Öffentlichkeit zu dieser Zeit immens war. Im Essay on Man (ECW 23) zitiert Cassirer längere Passagen aus Deweys Human Nature and Conduct (HNC) sowie aus Experience and Nature (EN), die er offensichtlich als Bestätigung seiner eigenen Position verstanden hat. Letztlich hat Cassirers Tod verhindert, dass es überhaupt noch zu einer intensiveren Auseinandersetzung seiner Philosophie mit der von Dewey hat kommen können. Anstatt darüber zu spekulieren, wie eine Auseinandersetzung ausgesehen hätte, wollen wir hier das historische Verhältnis nur als Hintergrund für die systematische (und fraglos selektive) Rekonstruktion der Berührungspunkte und wechselseitigen Ergänzungen benutzen. Der wichtigste Berührungspunkt besteht in der grundlegenden Übereinstimmung von Cassirers und Deweys jeweiligem Philosophiebegriff. Beide begreifen ihre Arbeit emphatisch als philosophische Forschung. Als solche ist sie eine Philosophie im Werden und von einer schrittweisen, kontinuierlichen Ausarbeitung geprägt, die jedes Bekenntnis zu einer endgültigen Version oder Lehre verweigert und anstelle der fertigen Konzeption die Systematik eines strukturell offenen Entwurfs anstrebt. Ihr Denken geht dabei oft tastend, die bereits gefassten Einsichten variierend und somit überprüfend vor. In einem gewissen Sinne betreiben beide eine ‚very old-fashioned philosophy‘, wie Cassirer über sich selbst geäußert hat.¹³ Doch diese ‚altmodische‘, stets auf ihre eigene (philosophie‐) historische Einbettung reflektierende Philosophie ist gänzlich auf die Zukunft gerichtet, sie ist Projekt im besten Sinn. Die Aufgabe dieses Projekts besteht nicht zuletzt darin, mitten in den Konflikten der Forschung stehend, Verbindungen herzustellen. Dewey hat diese Grundaufgabe der Philosophie im Bild des „liaison officer“ (EN, S. 410) festgehalten. Die größten Unterschiede zwischen Deweys und Cassirers Art zu Philosophieren betreffen vor allem den jeweiligen Gestus, die Rhetorik und die Einschätzung der eigenen Wirkmächtigkeit. Überspitzt gesagt trifft hier der Erneuerer auf den Vermittler und die Bereitschaft zu Polemik und Apell auf die zur historisch informierten Konzilianz. Deweys Rhetorik ist im Gegensatz zu der von Cassirer deutlich direkter, und zwar sowohl stärker appellierend in Bezug auf die eigenen Ziele, als auch wesentlich polemischer in Bezug auf gegnerische Positionen, an denen die eigene profiliert werden soll. Darüber hinaus schreibt Dewey erkennbar im Bewusstsein seines großen öffentlichen Einflusses, weswegen er seine Philosophie auch explizit als emanzipativpädagogisches Projekt präsentieren kann. Diese Haltung steht in deutlichem Kontrast zu Cassirers Stil, der so viel indirekter, subtiler, vielleicht auch umständlicher daherkommt und damit die Komplexität sowie die Grenzen philosophischer Interventionsmöglichkeiten betont, um Dogmen und intellektuellen Übergriffen entgegenzuwirken, die sonst allzu oft im Namen der Philosophie erfolgt sind. Vielleicht helfen gerade diese sich durch die unterschiedlichen Kontexte geprägten und im jeweiligen Stil ausdrückenden Unterschiede der philosophiepolitischen Haltungen, den (zumindest im Nachhinein) einigermaßen erstaunlichen Kon-

 Der von Charles W. Hendel überlieferte Ausspruch Cassirers findet sich in Schilpp (1949, S. 57).

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trast zu verstehen, der zwischen den sachlichen Bezugspunkten und der tatsächlichen wechselseitigen Indifferenz besteht. So teilt Cassirer mit dem Pragmatismus die leitende Überzeugung, dass ‚Denken‘ und ‚Erkennen‘ keine Gegenbegriffe zum ‚Tun‘ darstellen, sondern selbst Tätigkeitsformen sind. Anders ausgedrückt geht es um Denken als kulturelle und soziale Praxis unter Berücksichtigung seiner medialer Bedingungen.¹⁴ Entscheidend ist dafür auf beiden Seiten eine Umstellung, die von der metaphysischen zur methodologischen Ausrichtung führt, von substantiellen zu funktionellen Begriffen und insgesamt hin zu prozessualen Konzepten von Erkenntnis, Erfahrung und Wirklichkeit.

3 Die Methode der Rekonstruktion – Analyse, Synthese, Praxisbezug Rekonstruktion ist sowohl für Cassirer wie für Dewey eine wichtige Methode, erhält aber jeweils unterschiedliche Akzente. Für beide ist das Zusammenspiel von kritischanalytischen und projektiv-synthetischen Aspekten entscheidend. Die analytische Zergliederung ist immer nur ein Zwischenergebnis. Es geht stets darum, konkrete Phänomene und Prozesse im Kontext bzw. in ihrer Situierung zu behandeln und so ihre Sinndimension zu bewahren. Wenn Cassirer dem dritten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen den Titel Phänomenologie der Erkenntnis gibt, so geht es ihm mit Hegel um die Totalität der geistigen Formen, die „nicht anders als im Übergang von der einen zur anderen Form sichtbar werden kann“ (PSF 3, S. VIII). Cassirer bezieht somit die Methode Hegels auf die kantische Fragestellung zurück. Erkenntnis soll nun nicht vor, sondern durch alle Erfahrung ihrer Formwerdungen begriffen werden. Das Ganze der Erkenntnis wird hier zum Ganzen ihres Prozesses, der immer nur eine relative Ganzheit bildet, die für die Integration neuer Formungsweisen offenbleibt.¹⁵ Mit der Idee des Erkenntnisprozesses bleibt Cassirer der Marburger Schule verbunden. Wesentlich deutlicher jedoch als etwa bei Natorp (vgl. PSF 3, S. 57 ff.) lässt seine Philosophie der symbolischen Formen den Erkenntnisprozess lange vor der Ausbildung wissenschaftlicher Erkenntnis einsetzen, nämlich grundsätzlich in den Wahrnehmungsakten sowie, was die Ausbildung komplexer ‚Kategorien‘ betrifft, bereits im mythischen Denken. Was Cassirer also zunächst anstrebt, ist Rekonstruktion als analytischer Nachvollzug des inneren Aufbaus der Formen der Erkenntnis in Hinblick auf ihr (relatives, offenes) Ganzes als ein Prozess, der bei aller Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit

 Für Cassirer muss jedoch eingeschränkt werden, dass bei ihm – anders als im Pragmatismus – die explizite Betonung des Sozialen weitgehend fehlt (während der kulturelle Charakter umso stärker gemacht wird).  Dies bildet parallel einen entscheidenden Punkt in Deweys Kritik an Whitehead (siehe Freyberg 2016).

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seiner „einzelnen Phasen […] dennoch von ein und derselben geistigen Grundfunktion beherrscht und geleitet wird“ (PSF 3, S. 47).¹⁶ Diese Rekonstruktion ist nun nicht – wie andernorts bei Cassirer – in erster Linie historisch angelegt und kann es auch gar nicht sein, da die Phasen dieses Prozesses keine historischen Ereignisse bezeichnen. Es geht vielmehr um die Übergänge, an denen die konstitutiven Synthesen deutlich werden, die als Invarianten der Erkenntnis auftreten. Solche Vorgänge findet Cassirer bereits in den basalen Akten der Wahrnehmung und von dort ‚hinauf‘ bis in die Sphäre der ‚reinen‘ mathematischen Bedeutung. Der Erkenntnisprozess lässt sich somit im Durchgang durch das Kontinuum von Ausdruck, Darstellung und Bedeutung rekonstruieren, womit die allgemeinen, invarianten Phasen bzw. die verschiedenen Dimensionen innerhalb der vielfältigen Formen der Erkenntnis bezeichnet sind. Die Frage der Phänomenologie der Erkenntnis ist mit anderen Worten „die Frage nach der Struktur des wahrnehmenden, des anschauenden und des erkennenden Bewußtseins“ (PSF 3, S. 63). Um diese Frage zu klären, sollen nun nicht die „Methodik der naturwissenschaftlichen, der kausal erklärenden Psychologie“ oder der „reinen ‚Deskription‘“ eingesetzt werden (PSF 3, S. 63) – womit Cassirer also genau wie Dewey die isolierenden Verfahren ablehnt. Wir gehen vielmehr von den Problemen des ‚objektiven Geistes‘, von den Gestalten, in denen er besteht und da ist, aus; aber wir bleiben bei ihnen nicht als bloßem Faktum stehen, sondern versuchen, durch eine rekonstruktive Analyse [!], zu ihren elementaren Voraussetzungen, zu den ‚Bedingungen ihrer Möglichkeit‘, zurückzudringen (PSF 3, S. 63).

Dieses Zurückdringen richtet sich in Cassirers (an Goethe angelehnter) Terminologie auf ‚Urphänomene‘ (vgl. ECN 1), worin zum Ausdruck kommen soll, dass es nicht um die Suche nach ‚ersten Ursachen‘ geht, sondern um nicht weiter reduzierbare phänomenale Strukturmomente, die aber immer schon konkrete Einheiten bilden. Rekonstruktion im Sinn des Rückgangs auf sogenannte ‚Urphänomene‘ stellt für Cassirer somit den programmatisch-methodologischen Gegenentwurf zum metaphysischen Fortgang dar. Jede Metabasis, also jeder qualitative Übergang vom Ausdruck zur Darstellung zur Bedeutung (und innerhalb der wissenschaftlich, speziell physikalischen Erkenntnis von Maß-, über Gesetzes- hin zu Prinzipienaussagen; vgl. ECW 19, S. 37– 71), ist für ihn kein im absoluten Sinn transzendenter, sondern ein im Erkenntnisprozess immanenter Übergang (vgl. ECW 19, S. 67). Das traditionelle Problem der metábasis eis állo génos verliert so seine Defizienz und drückt nun vielmehr aus, „daß sich alles geistige Leben und alle geistige Entwicklung nicht anders als in solchen Umbildungen, in derartigen intellektuellen Metamorphosen vollziehen kann“ (PSF 3, S. 476).¹⁷ Wenn man nun verstehen will, wie sich die verschiedenen kulturellen

 Wenn nicht anders angegeben, erfolgen alle Hervorhebungen in Zitaten – ob kursiviert oder gesperrt – immer im Original.  Auch in der Rede von den ‚intellektuellen Metamorphosen‘ zeigt sich – so meinen wir – die Anlehnung an Goethe und hier speziell an die Morphologie als der exemplarischen Rekonstruktion eines

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Formen – etwa die Sprache und das wissenschaftliche Denken – in der spezifischen Richtung ihrer Metamorphosen unterscheiden, so gilt bei Cassirer: Die Einsicht in diesen Unterschied kann nicht anders gewonnen werden als dadurch, daß man nicht nur das Ziel, dem dieses Denken zustrebt, in seiner Allgemeinheit erfaßt, sondern daß man auch den Weg, der zu ihm hinführt, in seine einzelnen Stadien zerlegt (PSF 3, S. 477).

Die Gebilde des ‚objektiven Geistes‘, von denen Cassirers rekonstruktive Analyse ausgeht, betreffen die Objektivität und Materialität der historisch gewordenen Formen der Kultur wie Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Geschichte und Wissenschaften. Sie betreffen aber auch die individuelle menschliche Entwicklung sowie die situative Realisierung spezifischer Synthesen in den Akten der Wahrnehmung. Um die bei Kant insbesondere im Schematismuskapitel aufgeworfene Problematik des Nachvollzugs überhaupt greifbar zu machen, ist ein prozedurales Verständnis dieser Akte nötig. Das war bei Kant angedeutet und ist von Schelling und Hegel wie auch von Hermann Cohen weiter ausgeführt worden. Diese Betonung von Vollzug und Tätigkeit eingebettet in praktische Bezüge ist bei Cassirer zentral. Die Phasen oder Stadien der Wahrnehmungsakte zu untersuchen, erfordert jedoch andere Instrumente als bei der Analyse der historisch und menschheitsgeschichtlich entstandenen kulturellen (symbolischen) Formen, die die jeweiligen Akte der Wahrnehmung imprägnieren. Wie also kann man bereits auf der Ebene der Wahrnehmungsakte die spezifischen Synthesen der Erkenntnis aufweisen? Das Analyseverfahren, das Cassirer hierfür anwendet, kann man als eines ex negativo oder besser als ein grenzbestimmendes und in diesem – kantischen – Sinn als ein kritisches Verfahren bezeichnen: Orientiert an den neurophysiologischen und psychopathologischen Studien seiner Zeit sind es die Pathologien des ‚Symbolbewusstseins‘ (insbesondere die Aphasien) an denen Cassirer die Grenzen und durch sie die positiven Stadien, Phasen oder Momente des ‚normalen‘, das heißt des sich innerhalb dieser Grenzen abspielenden Wahrnehmungsakts findet.¹⁸ Hieran wird deutlich, dass sich die Rekonstruktion der Erkenntnis nicht auf ein strenges Nacheinander richten kann – und zwar weil im Prozess der Erkenntnis nicht erst das eine und dann das andere passiert, sondern gewissermaßen alles auf einmal, in wechselseitiger systematischer Verschränkung. In Cassirers Worten: „Sinnlichkeit, Anschauung, Verstand bilden keineswegs bloß sukzessive Phasen der Erkenntnis, die in ihrem einfachen Nacheinander zu ergreifen sind, sondern sie stellen sich als ein strenges Ineinander, als ihre konstitutiven Momente, dar“ (PSF 3, S. 10). Wenn man, wie Cassirer, die Erkenntnis im Ganzen betrachten will, so muss man sich besonders ihrem zentralen Instrument zuwenden: den Begriffen. Denn weil die Begriffe das charakteristische Instrument der Erkenntnis sind, ist auch die Analyse

Ganzen aus seinen prozessualen Übergängen sowie den darin enthaltenen Begriff der Gestalt als der Einheit von Sein und Werden (vgl. dazu auch PSF 3, S. 150).  Vgl. das große Kapitel VI im zweiten Teil von PSF 3 (S. 234– 322).

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der Begriffsfunktion das zentrale Instrument, um den inneren Aufbau des Erkenntnisprozesses in seinen Prinzipien zu erfassen.Was Cassirers Theorie des Begriffs dabei von anderen Ansätzen unterscheidet, ist die konsequente Verortung der Begriffsfunktion im gesamten Kontinuum der Erkenntnis, von der Wahrnehmung der Ausdrucksakte über die Anschauung der Repräsentationsakte bis zu den ‚reinen‘ Bedeutungen der mathematisch-wissenschaftlichen Erkenntnisakte. Dass die Theorie des Begriffs, die Cassirer bereits vorher im Anschluss sowohl an Hegels Dialektik wie auch an den Funktionsbegriff der Mathematik entwickelt hatte (ECW 6, S. 1– 26), in seiner Phänomenologie der Erkenntnis dennoch erst im Rahmen der Analyse der wissenschaftlichen Erkenntnisform behandelt wird (vgl. PSF 3, S. 323 – 376), hat wiederum methodische Gründe: Denn mit der wissenschaftlichen Begriffsbildung wird die allgemeine Begriffsfunktion explizit. Ihr Hervortreten im Bereich der ‚reinen‘ Begriffe, das heißt der symbolischen Relationen, die keinen ontisch-realen Gegenstandsbezug mehr implizieren (vgl. PSF 3, S. 365, 369), verweist jedoch darauf, dass sie bereits auf allen anderen (logisch ‚früheren‘) Stufen der Erkenntnis bereits am Werk war: „Die Begriffsfunktion bringt also keinen Bruch in das Ganze der Erkenntnis – sie führt nur eine Grundtendenz weiter, die sich schon in den ersten Stufen der sinnlichen Erkenntnis, des wahrnehmenden Wissens wirksam erwies“ (PSF 3, S. 354). Diese methodologische Umstellung ist eine explizite Abwehr von ‚Metaphysik‘, wie Cassirer sie versteht: „Denn metaphysische Erkenntnis will die Lehre vom Unmittelbaren sein“ (PSF 3, S. 26). Ein Unmittelbares als Unvermitteltes kann es aus der Perspektive einer Philosophie, die die kulturelle Formungsleistung symbolischer Medien als konstitutiv für Erfahrung und Erkenntnis betont, nicht geben. Hier stößt die Rekonstruktion nie auf ein Unmittelbares, auch wenn sie natürlich eine ‚Konstruktion‘ als den von ihr unabhängig gedachten Gegenstand voraussetzt (vgl. PSF 3, S. 59).¹⁹ Doch dieser Gegenstand besteht in den kulturellen Artikulationen, in den Akten sinnhafter Vermittlung, kurz: in Syntheseleistungen. Wie bereits gesehen, verwendet auch Dewey den Begriff der Rekonstruktion im Sinn des Wieder-Aufbaus des Ganzen in der methodischen Abfolge von Analyse und Re-Synthetisierung.Wie Cassirer auf das ‚Ganze‘ der Erkenntnis, so zielt Dewey analog auf das ‚Ganze‘ der Erfahrung. Diese Perspektive lässt sich insbesondere der zweiten, überarbeiteten Auflage von Experience and Nature (EN) entnehmen, die 1929 erschienen ist (also im gleichen Jahr wie Cassirers Phänomenologie der Erkenntnis). Noch deutlich programmatischer hat Dewey den Rekonstruktionsbegriff bereits in seinem Buch Reconstruction in Philosophy (RP) von 1920 verwendet und ihn dort auf die Philosophie selbst bezogen, deren Rekonstruktion er im Sinne ihrer notwenigen Erneuerung, ihres Wiederaufbaus fordert. Eine solche philosophiepolitische Forderung findet sich bei Cassirer in dieser Form nicht. Doch trotz der unterschiedlichen Emphase geht es beiden um eine kritische Selbstreflexion der Philosophie als intel-

 Den Impuls für das Verfahren der ‚Rekonstruktion‘ nimmt Cassirer u. a. von Natorp auf, gibt ihm zugleich aber einen umfassenderen Sinn (vgl. PSF 3, S. 56 – 63).

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lektuelle Tätigkeitsform im Sinne des lógon didónai: „Die Philosophie ist nur dadurch, daß sie auf jeder Stufe ihrer Entwicklung immer wieder von neuem nach sich selbst, […] nach ihrer eigenen inneren Möglichkeit fragt“ (ECW 17, S. 342). Und was Dewey – etwas lauter – fordert, nämlich die Neugestaltung der Philosophie aus ihrer Geschichte heraus, entspricht durchaus dem, was auch Cassirer – etwas leiser – als Pionier der philosophischen Problemgeschichte betreibt. Cassirers leises Programm methodologischer Rekonstruktion mit Deweys lautem Programm progressiver reconstruction amplifizieren zu können, ist also bereits ein Ertrag des Versuchs, diese philosophischen Perspektiven miteinander zu synthetisieren.

4 Die Logik der Übergänge: Forschung als Intervention Wenn Cassirer den Begriff und das Phänomen der Erkenntnis zentral setzt (und darin seinen kritischen Idealismus zum Ausdruck bringt), so steht bei Dewey an dieser Stelle zunächst experience und sodann inquiry. ²⁰ Die systematische Beziehung, auf die es nun ankommt, besteht zwischen Cassirers Rekonstruktion der Kontinuität der Phasen der Erkenntnis und Deweys Theorie der Kontinuität der Phasen (sequences) der Forschung. Um diese Beziehung herausarbeiten zu können, muss zunächst geklärt werden, was Dewey unter ‚Forschung‘ versteht. Deweys wohl deutlichste Definition von Forschung lautet: „Inquiry is the controlled or directed transformation of an indeterminate situation into one that is so determinate in its constituent distinctions and relations as to convert the elements of the original situation into a unified whole“ (L, S. 117). Der Begriff der Situation bezeichnet dabei weder ein einzelnes Objekt oder Ereignis noch eine Menge derselben, sondern einen Zusammenhang, ein kontextuelles Ganzes (vgl. L, S. 66), wobei es die ‚unmittelbar durchgängige Qualität‘ („immediately pervasive quality“, L, S. 68) der Situation ist, die sie zu einem Ganzen macht. Diese qualitative Definition von Situation wird etwas deutlicher, wenn Dewey den Status einzelner Objekte und Ereignisse in der Erfahrung erläutert: „In actual experience, there is never any such isolated singular object or event, an object or event is always a special part, phase, or aspect, of an environing experienced world – a situation“ (L, S. 67). Für die Konzeption der Symbolfunktion war es auch für Cassirer entscheidend, auf die vitalen Ausdruckerlebnisse zurückzugehen, und für die „Wechselbestimmung“ von Ideellem und Qualitativem, von Sinn und Sinnlichkeit prägte er seinen Grundbegriff der „symbolischen Prägnanz“: „diese Bezogenheit des einzelnen, hier

 Der Ausdruck inquiry ist im Deutschen nicht mit einem Wort übersetzbar, sondern bedeutet je nach Kontext allgemein ‚Forschung‘ oder ‚Untersuchung‘, und zwar sowohl im wissenschaftlichen wie auch im juristischen Sinn. Vgl. die entsprechende Anmerkung von Martin Suhr, dem Übersetzer der Logik (Dewey 2008, S. 616).

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und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinnganzes, soll der Ausdruck der ‚Prägnanz‘ bezeichnen“ (PSF 3, 231). Trotz unterschiedlicher Formulierungen muss hier eine wichtige sachliche Übereinstimmung festgehalten werden und es ist genau dieser Punkt, an dem Cassirer auch Deweys ‚empiricism‘ als kongenial anerkennt. [Dewey] was one of the first to recognize and to emphasize the relative right of those feelingqualities which prove their full power in mythical perception and which are here regarded as the basic elements of reality. It was precisely his conception of the task of a genuine empiricism that led him to this conclusion (ECW 23, S. 86 f.).

Forschen bezeichnet die Praxis des Erkennens. Das ist nicht einfach ein ‚praktisches Erkennen‘ als Sonderform von Erkenntnis überhaupt, sondern vielmehr die vorgängige Grundform des Erkenntnisprozesses, der stets in situativer Dynamik als Reaktion auf Probleme in Gang gesetzt wird, die sich innerhalb der erfahrenen Welt stellen und mit denen es umzugehen gilt. Probleme erscheinen in konkreten Situationen und imprägnieren diese im Ganzen. Sie stellen sich also nicht nur in Situationen, sondern sie stellen sich als die Qualität dieser Situation dar: „If the situation experienced is that of being lost in a forest, the quality of being lost permeates and affects every detail that is observed and thought of“ (L, S. 202). Dieser Vorgang entspricht dem, was Cassirer mit dem Theorem der symbolischen Prägnanz beschreibt, nämlich die sinnhafte Durchdringung des sinnlich Präsenten aufgrund der inneren Strukturierungsleistung (‚immanenten Gliederung‘) der Wahrnehmung, die „[i]n ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, […] zugleich ein Leben ‚im‘ Sinn“, d.h. eine „Artikulation“ ist (vgl. PSF 3, bes. S. 231). Die forschende Umstrukturierung der Situation bedeutet einen reflektierenden Umgang mit ihr, wozu ein Moment relativer Distanzierung erforderlich ist, was aber nicht mit einem (ohnehin nur fiktiv möglichen oder illusionären) Ausstieg aus der Situation verwechselt werden darf. Das Problem – die problematisch gewordene Qualität der Situation – muss zunächst so gut es geht identifiziert werden (beispielsweise: Ich habe mich verlaufen!). Dann müssen die verfügbaren Mittel geklärt werden, die bei der weiteren Bestimmung der Merkmale der Situation helfen können, um diese wieder in eine kontrollierte zu überführen. Es dürfte deutlich geworden sein, dass Deweys Begriff von Forschung wesentlich weiter gefasst ist als wissenschaftliche Forschung, insofern letztere eine besondere (besonders komplexe und besonders effektive) Phase von Forschung im Allgemeinen darstellt: „In short, the material of refined scientific method is continuous with that of the actual world as it is concretely experienced“ (EN, S. 35). Diese Konzeption verhält sich analog zu Cassirers Phänomenologie der Erkenntnis, insofern letztere die wissenschaftliche (und nochmals gesteigert: die mathematische) Erkenntnisweise als eine spezifische Abstraktionsstufe und somit (genea‐) logisch spätere Phase des Erkenntnisprozesses im Allgemeinen auffasst.

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Forschung bedeutet also den kognitiv-praktischen Umformungsprozess von problematisch gewordenen Situationen – und die Theorie dieses Prozesses heißt Logik. Allerdings hat der Ausdruck ‚Logik‘ eine Bedeutung auf zwei Ebenen: Denn noch bevor er eine Theorie bezeichnet, zielt er auf die der Erfahrung inhärente Logik, das heißt darauf, wie die Dinge in der Erfahrung aufeinander bezogen sind und einander bestimmen. Cassirers Formel der Metabasis findet hier ihre Begründung. Denn ein Symbolprozess verläuft immer in Einbeziehung der Situation und der praktischen Umstände. Übergänge in eine andere Struktur oder in ein anderes Feld können daher nur rekonstruktiv (nicht aber deduktiv oder induktiv) begründet werden, zumal sie auch oft eine emergente Qualität aufweisen.²¹ Logik als Theorie, bedeutet somit die Explikation dessen, was bei jedem Versuch von praktischer Wirklichkeitserkenntnis passiert, nämlich eine Untersuchung der Beziehungen der Dinge zu- und untereinander. Sie basiert mit anderen Worten auf der „general logic of experience as a method of inquiry and interpretation“ (EL, S. 62). Das Grundproblem von Logik – implizit in der alltagspraktischen Erfahrung und explizit als theoretische Betrachtung – ist der Übergang von etwas in etwas anderes: In its generic form, it [= logic] deals with this question: How does one type of functional situation and attitude in experience pass out of and into another; for example, the technological or utilitarian into the aesthetic, the aesthetic into the religious, the religious into the scientific, and this into the socio-ethical and so on (EL, S. 61).

Und es folgt eine ergänzende Definition von Logik im weiten Sinn „as an account of the sequence of various typical functions or situations of experience in their determining relations to one another“ (EL, S. 61). Logik als Theorie der Forschung rekonstruiert also diese Übergänge, die in und durch forschendes Verhalten entstehen, wie überhaupt die Übergänge, die die Erfahrung von einem funktionalen Bereich in einen anderen führen. Die Rekonstruktion der Übergänge, die die Logik vornimmt, entspricht dabei sowohl dem methodisch-systematischen Begriff, auf den auch Cassirer zielt, als auch dem emphatischeren Begriff von reconstruction als Erneuerung, insofern das Ergebnis jeder (erfolgreichen) Nachforschung eine neue Situation, besser gesagt: eine situative Erneuerung bedeutet. Mit den Übergängen zwischen funktionalen Bereichen als allgemeinem Thema der Logik springt nun vollends die systematische Nähe zu Cassirer ins Auge. Denn der Übergang einer (funktional eigenständigen) symbolischen Form in eine andere sowie die Übergänge innerhalb der Formen der Erkenntnis ist das zentrale Thema von Cassirers philosophischem Programm, dem die beschriebene Methode seiner Phänomenologie entspricht. Diese Methode zielt auf das offene Ganze der (wahrnehm-

 Vgl. hierzu Cassirers Überlegung zur Kategorien- und Begriffsbildung unter dem Stichwort der ‚radikalen Metapher‘ (ECW 16, S. 302). Von hier aus ergeben sich auch wichtige Berührungspunkte zu den pragmatistisch inspirierten Modellen der image schema und conceptual metaphors in der kognitiven Linguistik (vgl. Manjali 1996).

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enden) Erkenntnis, die in ihren einzelnen Akten stets ein „Differential“ darstellt, in dem das ‚Integral‘ der Erfahrung gefasst wird. Mit explizitem Bezug auf das Problem der Übergänge – und in (sicherlich unbewusster) Ergänzung von Deweys Formulierungen – heißt es dann bei Cassirer: „Soll diese Integration, diese Erfassung des Erfahrungsganzen von einem Einzelmomente aus, möglich und durchführbar sein: so bedarf es bestimmter Gesetze, die den Übergang vom einen zum anderen regeln“ (PSF 3, S. 232). Hier könnte anstatt von den ‚Gesetzen‘ genauso gut die Rede von der ‚Logik‘ sein, die den Übergang vom einen zum anderen regelt. Dieser systematische Berührungspunkt entspricht wiederum dem geteilten Verständnis von Philosophie überhaupt. So heißt es bei Dewey: Philosophy, defined as such a logic, makes no pretense to be an account of a closed and finished universe. Its business is not to secure and guarantee any particular reality or value. Per contra, it gets the significance of a method [!]. The right relationship and adjustment of the various typical phases of experience to one another is a problem felt in every department of life (EL, S. 61).

Dass Philosophie die Bedeutung einer Methode, besser gesagt: einer umfassenden Methodologie erlangt, und somit nicht mit der Geste der Begründung bestimmter Werte und Realitätsbereiche auftritt, entspricht sehr genau jener Umstellung, die auch die Philosophie der symbolischen Formen proklamiert: Das Ganze, auf das die philosophische Reflexion zielt, befindet sich immerzu im Prozesses der ‚Umbildung‘, sodass nur dieser Prozess in seiner Systematik (immer wieder aufs Neue) durchmessen, nicht aber abschließend begründet werden kann (vgl. PSF 3, S. 476 f.; vgl. auch die Einleitung in PSF 1). Eine solche Begründung im Sinn eines, wie Dewey sagt, ‚closed and finished universe‘ ist (oder war) das Ziel jener Systeme der Metaphysik, die selbst „zumeist nichts anderes als metaphysische Hypostasen eines bestimmten logischen oder ästhetischen oder religiösen Prinzips“ (PSF 1, S. 12) sind. Ein erkennbarer Unterschied zwischen Cassirer und Dewey – der aber gerade nicht als Widerspruch, sondern als wechselseitige Ergänzung und Präzisierung zu verstehen ist – wird in Bezug auf den Begriff der ‚Kritik‘ und der mit ihr verbundenen philosophischen Aufgabe deutlich. Für Cassirer bedeutet ‚Kritik‘ in erster Linie Erkenntniskritik, die im kantischen Sinn Unterscheidungen vornimmt und ein selbstreflexives Korrektiv darstellt. Auch Dewey versteht Philosophie als „a generalized theory of criticism“ (EN, S. xvi), doch ist ‚criticism‘ nicht im kantischen, sondern vielmehr in einem emanzipatorisch-praktischen Sinn gemeint, der auf die effektive Beurteilung von Werten zielt: „Its [= philosophy’s] ultimate value for life-experience is that it continuously provides instruments for the criticism of those values – whether of beliefs, institutions, actions or products – that are found in all aspects of experience“ (EN, S. xvi). Dieser bei Dewey sehr konkrete Wert der philosophischen Kritik ist bei

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Cassirer meist in wesentlich allgemeinerer Form – aber mit nicht weniger Pathos – als ‚Aufklärung‘ und ‚Selbsterkenntnis‘ des Menschen gefasst.²² Diese unterschiedlichen Stile von Kritik werden auch im jeweiligen Umgang mit anderen, zumal historischen Positionen deutlich. Cassirers philosophische Problemgeschichte setzt stets auf den kritischen Gang durch die Tradition(en), um so zu einem spezifischen Gedanken durchzudringen, der das vorläufige Ergebnis seiner eigenen Transformationen darstellt. Cassirers Didaktik folgt der Maxime, dass man an allen philosophischen Positionen etwas lernen kann, und dass ihr relativer Wert durch Integration erhalten bleibt. Dewey hingegen verfährt wesentlich rabiater mit der philosophischen Tradition und begreift sie, wenn auch aus methodischen Gründen, als überlieferte Vorurteile und erklärt deswegen: „philosophy is a critique of prejudices“ (EN, S. 37). Zugespitzt formuliert: Während Cassirer Kritik bevorzugt durch etwas betreibt, so betreibt Dewey Kritik stärker an etwas. Er verfolgt eine Didaktik der kontinuierlichen Emanzipation von problematischen, der aktuellen Situation nicht mehr angemessenen Positionen (was insbesondere die Emanzipation von der metaphysischen Suche nach Gewissheit betrifft; vgl. QC). Seine Kritik propagiert keinen Bruch, sondern geht davon aus, dass wir die kritisierten Vorurteile nun einmal mit uns führen, weswegen wir sie nicht einfach wegwischen können, sondern konfrontieren müssen, um vorangehen zu können. Das Potenzial der wechselseitigen Stärkung und komplementären Ergänzung von Cassirer und Dewey kommt insbesondere dort zum Tragen, wo es um Aufbau, Theorie oder Logik der Wissenschaften geht, das heißt um den Wert der philosophischen Kritik der Wissenschaften – nun also im doppelten Sinn von Kritik durch die und an den Wissenschaften. Beide betrachten die Wissenschaften als die elaboriertesten Formen von Forschung und Erkenntnis, die der philosophischen Reflexion nicht nur reiches Material liefern, sondern deren spezifischer Operationsmodus am besten Auskunft über die Strukturen der kontrollierten Erfahrung (Dewey) bzw. Wirklichkeitserkenntnis (Cassirer) im Allgemeinen geben kann. Orientiert an den verschiedenen Wissenschaften, können Erfahrung und Erkenntnis selbst forschend durchmessen werden, ohne sie zu transzendieren.²³

5 Zur Logik der Kulturforschung als Reflexion ihrer Praxis Wie bereits angedeutet, benötigt eine Kulturphilosophie, die sich auf das Material der Forschung stützen und zugleich selbstständige ‚Mitspielerin‘ und ‚Kritikerin‘ sein will, eine rekonstruktive Theorie der Forschung. Dewey hat eine solche Theorie entworfen

 Vgl. dazu den einschlägigen letzten Absatz im Essay on Man (ECW 23, S. 244). Vgl. auch die Einleitung zur Philosophie der Aufklärung (ECW 15, S. IXff.).  Zur Gegenüberstellung von ‚transzendieren‘ und ‚durchmessen‘ vgl. PSF 3 (S. 47).

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und sie schlicht als Logik bezeichnet. Die Aufgabe der Logik besteht für ihn in nichts anderem als der Artikulation der sich wandelnden Strukturen des forschend tätigen Denkens. Wenn nun die Wissenschaften als eine Form der forschenden Wirklichkeitserkenntnis neben anderen ausgewiesen werden, so erhalten sie dadurch ihren relativen – und zugleich relativ stabilen – Platz in der Dynamik des pluralistischen Konzerts der symbolischen Formen der Erfahrung und Erkenntnis. Wenn die Wissenschaften dennoch die methodisch artikuliertesten Ausformungen des Forschens sind, so tritt darin ihre besondere Bedeutung für die philosophische Rekonstruktion hervor: Man sollte sich, mit anderen Worten, an die Wissenschaften wenden, wenn man wissen will, was Forschung und Erkenntnis überhaupt bedeuten – eben weil die Wissenschaften der spezielle Fall sind, an dem das allgemeinere Prinzip von Forschung und Erkenntnis am deutlichsten hervortritt. Als kulturelle Form werden die Wissenschaften wiederum der Kulturforschung zum Gegenstand. Dass Erkenntnis eine Praxis in vielfältigen Formen ist, gilt insbesondere auch innerhalb der wissenschaftlichen Erkenntnisweise. Schon deswegen muss es neben der Theorie der exakten Wissenschaften auch eine Theorie jener Wissenschaften geben, die negativ bestimmt einfach die nicht-exakten (also die Nicht-Naturwissenschaften) sind, und die positiv, wenn auch noch keineswegs präzise, durch den Begriff der Kulturwissenschaften bezeichnet werden. Ansätze hierzu hat Cassirer insbesondere mit seinen Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften (ECW 24, S. 355 – 486) vorgelegt, hinzu kommt das aus dem Nachlass veröffentlichte Buch Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, speziell das Kapitel über „Kulturwissenschaft und Geschichtswissenschaft“ (ECN 2, S. 135 – 175). Die Notwendigkeit einer solchen Theorie der kulturwissenschaftlichen Forschung ergibt sich vor allem daraus, dass Wissenschaft selbst eine sich wandelnde kulturelle Form ist, die stets in eine historisch-kulturelle Situation eingebettet ist und diese entsprechend (mit) zum Ausdruck bringt. Genau das machen Cassirer und Dewey in ihren Studien auf je eigene Weise deutlich.²⁴ Wenn Wissenschaft also philosophisch reflektiert werden soll und dafür als ein kulturelles Formungsprinzip angesehen werden muss, so müssen zunächst die Mittel der Analyse kultureller Formung rekonstruiert, das heißt systematisch nachvollzogen und neu ausgerichtet werden. Das bedeutet nun nicht, dass die Kulturforschung damit jeder anderen Forschung vorgeordnet wird; es bedeutet lediglich, dass die rekonstruktive Logik der Forschung im Allgemeinen nicht auf die spezielle Logik der Kulturforschung verzichten kann, weil diese nicht einfach ein zusätzlicher, sondern ein konstitutiver Teil dieses Unternehmens ist: Erst mit der Rekonstruktion der Kulturforschung sind auch die hinreichenden Mittel zur Selbstreflexion der forschenden Erkenntnis erreicht. Erneut ist es nicht nur Cassirer, der dieser Einsicht in seinen Studien Rechnung trägt, sondern auch  Während man für Cassirer erneut exemplarisch auf die Bände zum Erkenntnisproblem verweisen kann, ist für Dewey besonders die aus seinen Gifford Lectures hervorgegangene Studie The Quest for Certainty zu nennen, die den Wandel wissenschaftlicher Erkenntnisse und speziell der damit verbundenen Gewissheiten vorführt.

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Dewey, der dies ausgiebig bedenkt, wenn er die ‚reale Grundlage der Forschung‘ sowohl in ihrer biologischen, als auch in ihrer kulturellen Dimension bestimmt.²⁵ Dass die Mittel zum Verständnis der kulturell geformten Forschung wiederum in der Kulturforschung selbst entdeckt werden, lässt zweifellos ein Moment von Zirkularität erkennen. Allerdings handelt es sich dabei keineswegs um einen bloßen Zirkelschluss, sondern um die unhintergehbare Zirkularität aller Forschung, die Edgar Wind als ‚zyklische Progression‘ ausgewiesen hat (vgl.Wind 2000, S. 70 – 73, 100 – 104, 254– 269). Sie entspricht schlicht dem Prinzip der Selbstreflexion: Die philosophische Erforschung der Forschung als Kritik kann nur aus sich selbst und innerhalb ihrer eigenen Grenzen erfolgen. Doch worauf richtet sich die Rekonstruktion der Logik der Kulturforschung, was gilt ihr als das ‚Material‘, aus dem sie ihre Synthese schafft? Zunächst einmal kann sie nicht „die“ Kulturforschung als solche adressieren, als ob es sich dabei um ein einheitliches Unternehmen handeln würde, sondern muss sich an die unterschiedlichen Brechungen halten, die diese in einzelnen Kulturwissenschaften erfährt. Sie muss sich mit anderen Worten auf die ‚Erkenntnispraxis‘²⁶ der kulturwissenschaftlichen Forschung richten, sie muss sich fragen, wie die Kulturwissenschaften arbeiten, das heißt, wie sie ihre spezifischen Probleme herausarbeiten, die sich in der Bildung ihrer Begriffe und Methoden artikulieren. Es geht dabei nicht um eine Rekapitulation partikularer Erkenntnistheorien und der aus ihnen zu ziehenden ‚Lehre‘, sondern um die Identifikation derjenigen Verfahren, in denen die jeweiligen Gegenstände als die spezifischen Probleme dieser Forschung gewissermaßen scharf gestellt werden. So wird das Was mit dem Wie in Verbindung gesetzt und diese Korrelation von Methode und (vorläufigem) Ergebnis ist philosophisch entscheidend, denn ihr Begriff verhindert, in völlige Abhängigkeit zu geraten. Nur aus dem praktischen Vollzug der Erkenntnis als Problembildung und Problemlösung lässt sich der Prozess der Forschung als ihre Logik rekonstruieren. Die Logik der Kulturforschung besteht folglich in der Synthese, die aus dem Nachvollzug der Erkenntnispraxis der einzelnen Kulturwissenschaften gebildet wird. Diese Synthese ist nicht abschließbar, sondern bleibt ein offener Prozess, weil auch das disziplinäre Set der Kulturwissenschaften nicht abschließbar ist und diese Disziplinen – im Sinn der sich dynamisch herausbildenden Praktiken der Erkenntnis – von der Philosophie nicht ‚begründet‘ werden (können), sondern von ihr als die praktischen Operationen vorausgesetzt werden (müssen), deren Prinzipien es zu rekonstruieren gilt. Cassirer und Dewey stehen gleichermaßen für eine solche Philosophie, die nicht im strengen Sinn begründen will, sondern operative Prinzipien

 Vgl. in Deweys Logic das Kapitel „The Existential Matrix of Inquiry, Cultural“ (L, S. 42– 59), dessen Titel Martin Suhr als „Die reale Grundlage der Forschung – kulturell“ übersetzt (Dewey 2008, S. 59 – 79).  Vgl. ECW 19 (S. 5), wo Cassirer diese Betrachtungsweise bereits für die (moderne) Physik vorgeführt hat.

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aufweist und korrelativ bestimmt (vgl. dazu bei Cassirer exemplarisch ECN 2, S. 22 und bei Dewey L, S. 534 f.) und dabei Wissenschaft als eine Form neben anderen begreift. Indem Dewey die kulturelle Grundlage und soziale Einbettung von Forschung überhaupt betont und entsprechend die reconstruction der Logik im Sinne des reformierenden Umbaus fordert – ein Umbau, der aus ihr also endlich eine rekonstruktive Theorie der Forschung machen soll – bietet er ein klares Programm, aber noch keine positive Beschreibung und Interpretation der Praxis der Erkenntnis von Kultur. Ganz anders Cassirer, der sein Programm in und durch jene Studien formuliert, die von Anfang an eine Rekonstruktion am Material vornehmen, das heißt einen interpretatorischen Nachvollzug der operativen Prinzipien der Kulturwissenschaften. Er findet diese Prinzipien im Prozess der Gegenstandskonstitution der Kulturwissenschaften, die über ihre eigene Methodenreflexion zu Strukturbegriffen finden, die nicht auf naturwissenschaftlich-physikalische, psychologische oder auch bloß ‚historische‘ (im Sinn einer Einschränkung „auf Erzählung des Gewesenen und Gewordenen“, ECW 24, S. 417) reduziert werden können, sondern echte ‚Kulturbegriffe‘ sind. Das spielt Cassirer insbesondere an der Sprachwissenschaft und der Kunstwissenschaft durch und verfolgt dort den Weg, den diese Forschungsbereiche über die bloße Inventarisierung von Einzelaspekten hinaus zur Formulierung ihrer spezifischen Probleme und Begriffe nehmen. Diese betreffen dann nicht die Beschaffenheit und Wahrnehmung von ‚Dingen‘ und deren Einordnung in einen durch Maß- und Gesetzesaussagen bestimmten Kausalzusammenhang; vielmehr betreffen sie die Hervorbringung und Auffassung von sinnhaftem ‚Ausdruck‘ und dessen Bestimmung durch die Artikulation der sinnerzeugenden Formungsprinzipien.Was die Kulturwissenschaften also auf je eigene Weise bilden, sind Formbegriffe (im Unterschied zu Kausalbegriffen), die beispielsweise in der Kunstwissenschaft als Stilbegriffe präzisiert werden, und die wiederum allgemein gesprochen allesamt Sinnbegriffe sind. Diese Sinnbegriffe, so sagt Cassirer, „charakterisieren zwar, aber sie determinieren nicht“ (ECW 24, S. 431), sie bieten also keine Ableitungskriterien, sondern das Ergebnis einer Deutung symbolischer Gestalten. Sie bleiben dadurch wesentlich stärker an die Konkretion ihres Materials gebunden, die sie nicht in gleicher Weise in Allgemeinheit überführen können, wie die Naturwissenschaften. Dennoch artikulieren die Sinnbegriffe die systematischen Beziehungen, das heißt die Synthesis eines bestimmten Forschungszusammenhangs und sind somit das objektivierte Ergebnis eines rekonstruktiven Aktes – was sie zugleich zum konstruktiven Gegenstand der rekonstruktiven Logik dieses Forschungsfelds und genuinen Wissensgebiets macht. Die Logik der Kulturforschung fragt nun nicht auf einer gleichsam ‚höheren‘ Ebene nach dem ‚Wesen‘ des so erschlossenen Sinns, sondern danach, welche Richtung er in der Dynamik des jeweiligen Forschungsgebiets nimmt oder nehmen kann. Das lässt dann auch die dezidiert kritische Aufgabe der logischen Rekonstruktion deutlich hervortreten: Psychologismus, Historismus, Physikalismus oder jede andere Art der vereinseitigenden Reduktion der empirischen Sinngehalte mit dem Ziel einer ultimativen oder absoluten Methode müssen vom Standpunkt der Logik aus zurückgewiesen und gewissermaßen korrigiert werden, ohne sich damit über den empirisch-

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methodischen oder auch nur den begriffsbildenden Ertrag eines bestimmten kulturwissenschaftlichen Ansatzes zu stellen. Exemplarisch nachvollziehen lässt sich das an Cassirers wiederholter Kritik an den Versuchen, die Sprachwissenschaft (aber auch andere kulturwissenschaftliche Gebiete) allein auf psychologische Prinzipien zu gründen (vgl. ECW 24, S. 422 ff.). Gerade um den Ertrag und das relative Recht der Psychologie würdigen zu können, muss sich die kulturphilosophische Perspektive gegen eine Tendenz zur durchgehenden Psychologisierung aller kulturellen Phänomene richten, die den überindividuellen Aspekt von sprachlichen, religiösen, künstlerischen etc. Strukturen verdecken. Noch deutlicher wird die Aufgabe logisch-kulturphilosophischer Kritik, wenn Cassirer der Reduktion der Erkenntnis auf Entstehungsfragen entgegentritt. Denn wenn es um die Frage geht, wie die fortlaufende Genese und Umformung von Bedeutung überhaupt entstanden ist, so gibt es hier nicht viel zu sagen: Der konkretmateriale Ursprung von Sprache, Kunst, Religion etc., kurzum: Die „Entstehung der Symbolfunktion“ (ECW 24, S. 459) kann aus prinzipiellen Gründen nicht geklärt werden, jedenfalls nicht mit wissenschaftlichen Mitteln. Bestenfalls können hier im formalen Vergleich relative Entstehungsbeziehungen benannt werden – wie etwa jene, dass Religion mythisches Denken und dieses bereits Strukturen rituellen Handelns voraussetzt.²⁷ Doch eine vergleichende Einordnung dieser Art bedeutet bereits den Übergang zu einer anderen Erkenntnismethode und macht somit klar, dass die Grenzen der Entstehungsfragen (sei es kausaler oder historischer Art) keineswegs auch die Grenzen der Erkenntnis überhaupt oder auch nur die Grenzen der kulturwissenschaftlichen Erkenntnis bedeuten (vgl. ECW 24, S. 459). Die Untersuchung eines bestimmten Bestands kultureller Formung und seiner inneren und äußeren Verhältnisse ist nicht darauf angewiesen, dass zuerst das Woher geklärt wird. So sehr die Frage nach Ursprüngen eine mögliche und sinnvolle ist, gibt es doch keinen logischen Primat des Ursprungs. Wo ein solcher behauptet wird, drückt sich lediglich ein metaphysischer bias aus, der aus methodologischen Gründen zurückgewiesen werden muss. In Deweys bereits zitierten Worten muss Philosophie dann als „critique of prejudices“ (EN, S. 37) einschreiten. Cassirer und Dewey stimmen in diesem pragmatischen Umgang mit vermeintlichen Erkenntnisschranken wie auch in der entsprechenden Kritik an metaphysischen Positionen überein, die solche Schranken als Mysterien zementieren oder gar ‚hinter den Spiegel‘ schauen wollen.²⁸ Mehr noch teilen hier der ‚Pragmatist‘ und der ‚symbolische Idealist‘ einen empirischen Realismus in Bezug auf den Gegenstand der logisch-kulturphilosophischen Rekonstruktion: „For the fact of human culture“, so sagt nicht etwa Dewey, sondern Cassirer, „is after all an empirical fact that has to be investigated according to empirical methods and principles. And all of us, I think, are

 Vgl. exemplarisch Cassirers kondensierte Darstellung in seinem Aufsatz Judaism and the Modern Political Myths (ECW 24, S. 197– 208, bes. S. 200).  Für eine entsprechende Formulierung bei Cassirer vgl. ECW 24 (S. 461).

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empirical Realists – whatever metaphysical or epistemological theory we may assume“ (ECN 7, S. 184). Das Interesse beider Denker für die Kulturforschung ist entsprechend der unterschiedlichen Kontexte unterschiedlich gelagert. Während Cassirer im Warburg-Kreis verkehrte, in dem die problemorientierte Synthese unterschiedlicher disziplinärer Zugänge explizit als Kulturwissenschaft praktiziert wurde (vgl. Freyberg 2017), war Dewey der führende Kopf eines Kreises amerikanischer Intellektueller, die sich um die Probleme des sozialen Lebens und der Bildung bemüht haben. Entsprechend hat sich Dewey, der unablässig die sozialen Bedingungen und sozialen Konsequenzen von Forschung betont hat, auch weit mehr mit der Theorie der Sozialforschung (social inquiry) befasst und ihr ein eigenes, wenn auch vergleichsweise kurzes Kapitel seiner Logik gewidmet. Leider verfährt ausgerechnet dieses Kapitel nicht so sehr rekonstruktiv, sondern eher präskriptiv, indem es nämlich die relative Rückständigkeit der Sozialwissenschaften beklagt und zum Anlass nimmt, um die bereits erkannten (und in den Naturwissenschaften funktionierenden) Kriterien schlicht zum Maßstab der sozialwissenschaftlichen Methoden-, Gegenstands-, und Begriffsentwicklung zu machen. Dewey versäumt es mit anderen Worten, sich exemplarisch auf das konkrete Vorgehen in diesem Forschungsbereich einzulassen – obwohl man genau das von seiner Theorie erwarten dürfte. Eben das hätte Dewey gewissermaßen von Cassirer lernen können. Andererseits fehlt bei Cassirer die Perspektive auf die Sozialwissenschaften gänzlich, was wiederum ein eklatantes Versäumnis darstellt, das im scharfen Kontrast zu der sachlichen Einheit steht, die die Logik der Kultur- und Sozialforschung für das Verständnis der menschlichen Welt bildet oder jedenfalls bilden sollte.²⁹ Die Bedeutung der kulturellen Formen für die Organisation des Sozialen wird bei Cassirer erst thematisch als er sich in seinem letzten (postum veröffentlichten) Buch mit The Function of Myth in Man’s Social Life (ECW 25, S. 39 – 51) befasst. Die logische Rekonstruktion (in) der Einheit von kultur-, geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung ist also die Aufgabe, die sich am Ende aus unserer Synthese von Cassirer und Dewey ergibt. Diese Einheit muss, entsprechend der kritischen Haltung der logisch-kulturphilosophischen Rekonstruktion, als integrativ-differenziertes Verhältnis der unterschiedlichen Forschungsbereiche aufgefasst werden. Das bedeutet vor allem, dass diese Einheit eine offene ist: Die Methoden, spezifischen Gegenstände sowie ganze Disziplinen der forschenden Erkenntnis der menschlichen Wirklichkeitsformung können nicht vorweggenommen und nicht abschließend inventarisiert werden. Die Rekonstruktion muss eine gewisse Geduld aufbringen, doch

 Eben diese Einheit haben Weber und Simmel, mit denen Cassirer bestens vertraut war, auf ihre je eigene Weise betont, weswegen ihre Ansätze und Beiträge auch zurecht kultur-soziologisch genannt werden. Obwohl Cassirer sich durchaus auf soziologische Literatur stützt und auch darüber hinaus anschließbar erscheint, arbeitete er seinem Selbstverständnis nach an Prolegomena, auf denen aufbauend es erst möglich würde soziologische Probleme (neu) zu begreifen.

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das bedeutet nicht auf die Möglichkeit zum Eulen- oder „Traumvogelflug“³⁰ zu warten. Die Möglichkeit zum Mitstreit ergibt sich aus der informierten Kontextualisierung, die der Intervention aus der Rekontextualisierung in Bezug auf allgemeinere oder weitere Zusammenhänge. Doch das setzt voraus, dass man die Forschungsdynamik zunächst einmal nachvollzieht. Der Kulturphilosophie ist das Neue nicht Selbstzweck. Dennoch – oder gerade deswegen – bleibt sie auf die Zukunft ausgerichtet, nur eben nicht als spekulativ-metaphysische Vision, sondern als strukturell offenes, rekonstruktives Projekt, dessen synthetischer Vermittlungscharakter es ihm erlaubt, eine kritische – gleichermaßen epistemologische wie politische – Funktion zu erfüllen.

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Basisphänomen und Leibapriori Überlegungen zu einem kulturphilosophischen Begriff dialektischer Praxis Abstract: Basephenomenon and A Priori of the Body. Reflections on a cultural-philosophical concept of dialectical practice. The paper focuses on the relation between critical reflection on culture and historical-practical orientation in the work of Ernst Cassirer. I want to argue that the latter has to be mediated under different transcendental conditions. Despite not mentioning a mediation of that kind, Cassirer gives hints of these conditions in his ‚basephenomena‘, or more specifically, in the phenomenon of Monas as the a priori referentiality of cultural life to an I. In this concept, Cassirer draws a close connection between the revelation of cultural world, symbolic function of expression and the unity of body and soul. A similar approach by Karl-Otto Apel points out the failure of eccentric theory to objectify the perspectivity of human bodily world intervention without investing a technical abstraction, leading him to a so called ‚Leibapriori‘ (‚a priori of the body‘). By paralleling Cassirer’s Basephenomena with the ‚Leibapriori‘, I will show that these conditions cannot be completely sublated in an eccentric dialectical thought. In conclusion, critical reflection of culture has to be remediated via a first-person-view practice in order to give orientation in the historical perspective. Keywords: a priori of the body, Ernst Cassirer, dialectical critique of culture, Karl-Otto Apel, monad

Einleitung Die folgende Skizze versteht sich als Beitrag zu einer in den letzten Jahren verstärkt entwickelten Sicht auf Ernst Cassirer als politisch-praktischem Denker und zielt darauf, den inhärent praktischen Anspruch von Cassirers Philosophie auszuformulieren und weiter zu präzisieren. Im Fokus soll dabei das Verhältnis von kulturkritischer Reflexion und der in geschichtlich-praktischer Hinsicht orientierenden Weltdeutung stehen. Insofern sich zeigen lässt, dass letztere anderen transzendentalen Bedingungen unterliegt als die kulturkritische Reflexion, auf der sie nichtsdestoweniger fußt, wird ein weiterer Vermittlungsschritt notwendig, der sich meines Erachtens im überlieferten Werk Cassirers nicht findet. Diese Bedingungen selbst hingegen kommen zum Teil bereits bei Cassirer in den im Nachlass entwickelten Basisphänomenen und hier speziell im Phänomen der Monas zum Ausdruck.Wenn Cassirer dort gewissermaßen die Bausteine liefert, die für eine Erweiterung in jene Richtung nötig sind, möchte ich mir eine interessante Parallele zwischen den Basisphänomenen und dem von Karl-Otto Apel in die Diskussion https://doi.org/10.1515/9783110549478-005

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eingeführten Leibapriori zu Nutze machen, um die Bedeutung der geschichtlichen Praxis für eine dialektische Kulturkritik herauszustellen. Der Aufbau wird sich in vier Stufen vollziehen. Zunächst (1.) möchte ich anhand von Cassirers Simmelkritik und dem Aufsatz Form und Technik eine Charakterisierung der kulturkritischen Reflexion und der Philosophie als dem logischen Gewissen der Kultur vornehmen, um auf die Stelle zu verweisen, an die sich besagter Vermittlungsschritt anschließen müsste. Darauffolgend (2.) werde ich auf die enge Verknüpfung der Konstitution der kulturellen Welt mit der Ausdrucksfunktion und der Einheit von Leib und Seele eingehen, die Cassirer im Basisphänomen der Monas als „Form der Ichheit“ (Ullrich 2010) einführt. Mich interessiert dabei besonders Cassirers Argumentation für die Unaufhebbarkeit der Basisphänomene, deren transzendentaler Charakter auf diese Weise hervorgehoben wird. Diese Linie soll (3.) in Apels Diskussion des sogenannten Leibapriori und der Perspektivität unseres irreversiblen Welteingriffs weiterverfolgt werden. Erhalten wir hier einen Einblick in den Umfang und Status des Basisphänomens der Monas im Bedingungsgefüge nicht nur der einzelwissenschaftlichen Theoriebildung, sondern auch der philosophischen Reflexion, kann im letzten Schritt (4.) nach den Implikationen für eine dialektische Kulturkritik gefragt werden, die den Anspruch auf eine praktische Deutung der historischen Situation erhebt.

1 Die Kritik als das logische Gewissen der Kultur Immer noch gilt Georg Simmels Rede von der ‚Tragödie der Kultur‘ als Musterbeispiel einer pessimistischen Kulturkritik. Unberührt dessen, ob diese Charakterisierung tatsächlich zutreffend ist, lässt sich im Ausgang der fünften Studie Zur Logik der Kulturwissenschaften, die als Antwort auf den klassischen Aufsatz Simmels verfasst wurde, Cassirers eigenes Modell einer kulturkritischen Dialektik veranschaulichen. Dabei stellt sich Cassirer zunächst in die kantische Traditionslinie, wenn er Formen der Kulturkritik zurückweist, deren Anklage sich gegen die Auswirkung der Kultur auf das menschliche Glücksempfinden richtet. Es ist nicht das Glück, das wir als Maßstab an die Kultur heranzutragen haben, sondern die Freiheit, verstanden als Autonomie: In der Kultur findet der Mensch seine Bestimmung in der – so das wiederkehrende Motiv bei Cassirer – moralischen Herrschaft über sich selbst. Mit dieser Verschiebung des Problemhorizonts lässt sich die eigentliche Verhandlung über den Fall der Kultur eröffnen: Ist es sicher, daß der Mensch in der Kultur und durch sie die Erfüllung seines eigentlichen ‚intelligiblen‘ Wesens finden kann, daß er hier zwar nicht zur Befriedigung all seiner Wünsche, wohl aber zur Entwicklung all seiner geistigen Kräfte und Anlagen gelangen wird? Dies wäre nur dann der Fall, wenn er die Schranke der Individualität überspringen, wenn er sein eigenes Ich zum Ganzen der Menschheit erweitern könnte. (ECW 24, S. 463)

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Genau hier habe Simmel angesetzt, als dieser die Frage stellte, ob mit der ansteigenden Masse an Gütern, die Erzeugnisse der Kultur nicht zu einem nur noch Objektiven würden, welches das Einzelindividuum nicht mehr beflügelt, sondern erdrückt, seine Spontaneität und Selbsttätigkeit abzuschneiden droht. Was Cassirers Skepsis an einer solchen „Tragödie“ hervorruft, ist gewissermaßen die Dramaturgie der beteiligten Rollen (vgl. Becker 2008, S. 168): Bildet gemäß der Einsicht der Philosophie der symbolischen Formen die Trennung von Ich, Welt und Du nicht Ausgangspunkt, sondern Zielpunkt der geistigen Entwicklung, so verbietet es sich, diese drei in starrer Isolierung und Substantialisierung zu betrachten. Dass sich ein ursprüngliches Ich in der Kultur verliert, scheint ausgeschlossen, da es doch die Formen der Kultur selbst sind, die die Voraussetzung abgeben, durch die sich das Ich erkennen und bestimmen kann (vgl. ECW 24, S. 466). Würde das Werk, auf der anderen Seite, als in sich ruhende Substanz aufgefasst, so bliebe es unverständlich, „wie diese Spur des Objekts, indem sie sich dem Ich einprägt, als solche gewußt werden könnte“ (ECW 24, S. 467). Es bliebe uns verwehrt, Kenntnis über den Vermittlungsprozess der repräsentativen Bedeutung zu erlangen. Die Vorstellung, dass sich mit dem Werk ein feststehender Inhalt im Bewusstsein manifestiere, genügt mithin nicht, zu erklären, wie ein Subjekt mit Hilfe dieses Werks von einem anderen wissen, es das Werk „als vom anderen ‚herrührend‘ deuten könnte“ (ECW 24, S. 467). Die explizite Fassung des Werkbegriffs mündet in Cassirers Hauptkritik an sensualistischen Positionen, nämlich, dass vom passiven Eindruck her das Phänomen des Ausdrucks unverständlich bleibt. Der Akt des Sinnverstehens im Ausdruck schließt stets schon eine eigene Spontaneität in sich, regt notwendig die Selbsttätigkeit des Subjekts als aktive Bezugnahme an, worin sich die eigentümliche Brückenfunktion des Werkes offenbart – an ihm, als potentieller Energie, entzündet sich die Tätigkeit des ‚Du‘, des Rezipienten. Eine Festigkeit und Begrenztheit kann somit nur dem Schöpfer der Werke selbst erscheinen; doch wäre es verfehlt, den Kulturprozess hier enden zu lassen. Natürlich liegt es auch Cassirer fern, neben der potentiellen Energie nicht auch den potentiellen Konflikt anzuerkennen, der im Kulturprozess beständig aufs Neue entbrennt. Cassirer liest ihn als den Konflikt zwischen Beharrung und Veränderung in und zwischen den Formen der Kultur (vgl. ECW 24, S. 471– 475). Während selbstverständlich jede neue Schöpfung darauf angewiesen ist, die in der Tradition bereitgestellten Techniken, Stilformen und Materialien als Bahnen zu nutzen, in denen sie wirken kann, hier also einen notwendigen Anknüpfungspunkt besitzt, betont Cassirer, dass eine tatsächliche Aneignung einer so verstandenen Tradition stets mit Veränderung einhergeht, die dem Überlieferten neues Leben einhaucht. Jeglicher Gebrauch, jede Anwendung der tradierten Formen vollzieht sich unter anderen Bedingungen, als zum Zeitpunkt der Entstehung jener Formen herrschten (vgl. ECW 24, S. 473), andere Individuen sind nun am Werk und verleihen den Werken je eine neue Prägung (vgl. ECW 24, S. 477). Es sind die großen Künstler, die diese Spielräume, diese oft nur unbewussten Abweichungen, sich zu Nutze machen, sie gestalten und erweitern. Aus dieser Warte heraus begreift Cassirer die Kulturentwicklung in Form von

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Pendelschlägen in die ein oder andere Richtung, aber dieses Hin und Her, dieses Drama, kennt weder endgültigen Sieg noch endgültige Niederlage (vgl. ECW 24, S. 482).¹ Mit dem Aufweis jener Beweglichkeit und Dauerhaftigkeit des Kulturellen zeigt sich nun auch die ganze Lösung, die Cassirer für diese Art der Kulturskepsis und Kulturkritik anbietet. In beiden Hinsichten überschreitet die Kultur das Verhältnis von Individuum und Gattung, wie es in der biologischen Naturentwicklung vorzufinden ist: Während die Veränderung (Beweglichkeit) hier nur die Gattung betrifft, da die Veränderung des Einzelexemplars ihrerseits nicht auf die Gattung zurückwirkt (Nichtvererbbarkeit erworbener Eigenschaften), überwindet die Kultur diese Schranke des Soma: „Der ‚Geist‘ hat geleistet, was dem ‚Leben‘ versagt blieb“ (ECW 24, S. 485). Die Kultur erzeugt „einen neuen Körper“ (ECW 24, S. 486), der die Individuen in ihrem „Werden und Wirken“ mit dem Ganzen verbindet, wenn sich diese zum kulturellen Werk formen. Das Werk vermag so selbst seine materielle Zerstörung zu überdauern (Dauerhaftigkeit), indem es sich in diesen Körper, im kollektiven Formgedächtnis, einund fortschreibt. Im Ausdrucksphänomen hat sich so der Mensch jeweils mit dem kollektiven Körper der Kultur verbunden und die Freiheit der aktiven Bildung gegenüber der passiven Umbildung der organischen Formen erlangt. Wo wiederum eine Bedrohung, eine Einschränkung der Freiheit aus diesem Körper selbst zu kommen scheint, ist es die Aufgabe der Kulturkritik, wie Cassirer sie begreift, Aufklärung zu leisten; denn es zeichnet den Geist aus, dass er keine dauerhafte „äußere Determination“ (ECW 17, S. 139) duldet. Er muss jene Kräfte durchdringen und seinerseits erfassen, um diese Bestimmung letztendlich wieder in Freiheit aufzuheben. Es obliegt der Philosophie, die Formen und Gebiete der Kultur auf ihren Sinn, ihr Recht, ihren Ursprung und ihre Geltung hin zu prüfen, in ‚kritischer Besinnung‘ die Frage nach dem quid juris im Sinne Kants zu stellen. Diese „Arbeit der ‚Kritik‘“ (ECW 17, S. 141) findet nun aber ihr Tätigkeitsfeld nicht nur im Bereich der Mathematik und Naturwissenschaft, sondern im Ganzen der Kultur. Um auf diese Weise die Eigenheit der jeweiligen symbolischen Formen herauszustellen, genügt es aber Cassirer zufolge nicht, diese einfach nebeneinander zu setzen. Die Formen stehen in einem dynamischen Verhältnis, verbinden sich miteinander und heben sich voneinander ab. So ist mit jeder Form der Horizont der menschlichen Existenz nicht nur einfach erweitert, als vielmehr „die Art des Sehens“ (ECW 17, S. 142) selbst verändert. Eine kritische Kulturphilosophie muss also darüber hinausgehen, jene Formen nur aufzuweisen, und stattdessen nach ihrem Konstitutionsgefüge und Möglichkeitsbedingungen in einem System der symbolischen Formen fragen – nur so kann es ihr gelingen, dem Anspruch zu genügen, „das logische Gewissen der Kultur“ (ECW 17, S. 142) zu sein.

 Ob dies im Falle von Simmels Tragödie anzunehmen ist, lässt sich allerdings bezweifeln. So hebt Simmel mit dem Terminus ‚Tragödie‘ doch in erster Linie darauf ab, dass der heraufbeschworene Konflikt aus dem Wesen der Entwicklung selbst stammt – und weniger auf den Ausgang des Konflikts.

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Im praktischen Vollzug führt diese Aufgabe die Philosophie von den unmittelbaren Werken hin zum „Prinzip des Werdens“, von der „forma formata zur forma formans“ (ECW 17, S. 142) – zum einen, da nur auf diese Weise sich die Schöpfungen der Kultur in ihrem Bezug zum Ganzen des Geistigen offenbaren, ihren Anschein des Isolierten und Angesammelten verlieren (vgl. ECW 17, S. 145), zum anderen, da die Aufklärung der eigenen Gesetzlichkeit der symbolischen Formen es erlaubt, die Wesensfrage zu beantworten. Cassirer plädiert mit Nachdruck dafür, diese Wesens- und Sinnfrage der Frage nach dem Wert und dem richtenden Urteil über die Gebiete der Kultur voranzustellen und nicht zu vermischen (vgl. ECW 17, S. 146). Nur dies bewahrt uns davor, individuelle und subjektive Maßstäbe von außen an die Kultur heranzutragen. Der Grund für eine objektive Beurteilung ist erst bereitet, wenn es gelingt, in die Gesetzlichkeit eines solchen Weltverhältnisses vorzudringen und von hier aus die objektive Norm der Bewertung zu entwickeln (vgl. ECW 17, S. 147 f.). Vor dem Hintergrund, dass wir es bei den Gebieten der Kultur mit jeweiligen Richtungen des Geistes zu tun haben, kann für Cassirer das Maß nur im Grad der Freiheit gegeben sein und damit in der Entfernung vom „naiv-triebhaften Glücksverlangen“ (ECW 17, S. 173). Doch zeigt sich mit dieser Bestimmung, dass die Kämpfe innerhalb der Kultur auch zwischen den Formen des Geistes selbst ausgefochten werden. Die symbolischen Formen streben je nach einer Absolutheit und drohen sich dabei gegenseitig zu verdrängen. Angesichts dieser Bedrohung der „Einheit der ‚Idee‘, der Einheit der Zielrichtung und Zielsetzung“ (ECW 17, S. 173) offenbart sich, dass die Definition der Philosophie als logisches Gewissen der Kultur tatsächlich ein reflexives wie auch praktisches Moment in der Kritik ausdrückt. Das System der symbolischen Formen ist in diesem Sinne nicht nur ein methodisches Postulat der Reflexion, sondern auch eine ethisch-praktische Aufgabe, die Durchsetzung „einer universellen Norm, die die Einzelnormen zugleich befriedigt und beschränkt“ (ECW 17, S. 173). In Form und Technik beschreibt Cassirer so exemplarisch das Verhältnis der Technik zu Sprache, Mythos, Wissenschaft und Kunst, legt dabei Verbindungen, Verwandtschaften und Sollbruchstellen offen. Zuletzt kommt Cassirer auf die Ethik zu sprechen, um die Technik nach ihrem „ethischen Recht“ und „ethischen Sinn [zu] befragen“ (ECW 17, S. 180). Wollte man aus diesen Ausführungen eine symbolische Form der Ethik herauslesen, träfe dies sicherlich nicht die Intention Cassirers. Worum es hier vielmehr geht, ist die grundlegend ethisch-praktische Dimension des ganzen Projekts der Cassirer’schen Kulturphilosophie: „Human culture taken as whole may be described as the process of man’s progressive self-liberation“ (ECW 23, S. 244). Damit es aber zu dieser Selbstbefreiung kommen kann, ist „der Einsatz neuer Willenskräfte“ vonnöten, der „Aufbau eines Reiches des Willens“, des „Reich[s] der Zwecke“ (ECW 17, S. 182). „In diesem Aufbau“ (ECW 17, S. 182; Hervorhebung O.H.) finden die Formen ihren jeweiligen Platz und ihre Funktion. Zeigt die Präposition ‚in‘ bereits an, dass wir es bei diesem Reich des Willens eben mit jener universellen Norm selbst zu tun haben und nicht mit einer singulären symbolischen Form ‚Ethik‘, verweist die Begrifflichkeit auf den kantischen Ursprung des Gedankens. „Reich“ meint in Kants Terminologie die „systematische Verbindung verschiedener vernünftige[r]

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Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze“ (Kant 1999, 433). Ein Reich der Zwecke ist sodann möglich, wenn man von dem Inhalt der Privatzwecke jener Wesen abstrahiert und die Form der Zwecke in ihrer Gültigkeit nach einem allgemeinen Prinzip denkt – bei Kant dem kategorischen Imperativ. Eine „Ethisierung der Technik“, die damit gleichzeitig eine „‚Entmaterialisierung‘“ darstellt, bedeutet dann, dass die Technik sich in diesem Reich beschränkt und gleichzeitig an seinem Aufbau mithilft, indem sie sich unter das „Ideal einer Solidarität der Arbeit“ stellt, „eine Art von Schicksalsgemeinschaft zwischen all denen, die an ihrem Werke tätig sind“ (ECW 17, S. 183), formt. Vermittels der bewussten Fassung des „Sachdienstgedankens“ kann die Technik dazu beitragen, den Arbeitswillen zu erziehen, und erst dann „wird sich das echte Verhältnis zwischen ‚Technik‘ und ‚Form‘ herstellen, wird sich ihre tiefste formbildende Kraft bewähren können“ (ECW 17, S. 183). Dass die „Form“ hier nicht nur für selbstbewusste geistige Energie des technischen Wirkens steht, sondern darüber hinaus sich diese Energie als spezifische Form im Rahmen einer ganzheitlichen Aufgabe, eines Reiches der Formen, begreift, ist nun offensichtlich. Cassirer gilt dieses Reich als die Humanitas, als kulturell geteilte, objektive Welt des Menschen zu deren Teilhabe der Mensch frei werden müsse. „Die humanitas ist keine feste oder substantielle Größe, sie ergibt sich aus dem menschlichen Zwecksetzungsvermögen in der kulturellen und geschichtlichen Selbstbesinnung – und wird damit zur leitenden Idee in der Ausbildung der kulturellen Formen“ (O. Müller 2012, S. 693). Gemäß dieser Idee gelte es, den „impliziten Sinn“ der Formen in ihrer funktionalen Stellung zueinander in einen „expliziten“ zu verwandeln, um damit die „chaotischen Kräfte im Menschen selbst“ zu bezwingen (ECW 17, S. 183). Wenn Ernst Wolfgang Orth den Begriff der symbolischen Form als operativen Begriff kennzeichnet, als intellektuelles Schema, das selbst nicht eindeutig fixiert wird und der Reflexion als „mediale Denkbahn“ (Orth 1996, S. 103 f.) und als Medium der Orientierung dient, dann hat dies offensichtlich auch eine praktisch-kulturkritische Dimension. So ist bereits mit dem kulturellen Sinnverstehen im Ausdruck, dessen schöpferische Spontaneität das Individuum mit dem Ganzen der Menschheit verbindet, der Impuls zur praktischen Selbstbestimmung verbunden (vgl. Recki 2004, S. 165 f.), den es in fortlaufender dialektisch-kulturkritischer Reflexion herauszuarbeiten gilt. Cassirer beteuert, dass dieser Forderung der geistigen Selbstbestimmung „keine bloß ‚ideelle‘ Bedeutung“ innewohnt, sondern aus „der Klarheit und Bestimmtheit des Sehens [ … ] eine neue Kraft des Wirkens“ (ECW 17, S. 139) ströme. Doch scheint mit der Verschmelzung von Autonomie und Spontaneität im reflektierten Gegenstandsbewusstsein (vgl. Recki 2004, S. 169) Cassirers Konzept der Kulturkritik in kritizistischen Grenzen zu verbleiben: Begriffe und Vorstellungen werden auf ihren Ursprung in einem jeweiligen Erkenntnisvermögen hin geprüft, Kategorien und Formungsprinzipien auf ihren Geltungsbereich und ihr Verhältnis in einem Bedingungsgefüge abgeklopft.Was an diesem Punkt ausbleibt, ist die Vermittlung vom Körper der Kultur, der Humanitas, zurück zum Individuum, das aus jener neuen Art des Sehens heraus eine dialektische Weltdeutung vornimmt und handelt. Kann dabei nachgewiesen werden, dass diese Vermittlung anderen Bedingungen der Möglichkeit als die kriti-

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sche Besinnung unterliegt – oder genauer gesagt sich diese Bedingungen der Möglichkeit in asymmetrischer Funktion darstellen –, so bedarf dieser Schritt einer gesonderten Reflexion.

2 Das Fenster zur Wirklichkeit Hinweise in jene Richtung bietet Cassirer allerdings selbst, wenn er im Basisphänomen der Monas eine enge Verknüpfung zwischen unserer Weltkonstitution, dem Ausdrucksphänomen und der Einheit von Leib und Seele herstellt. An den einschlägigen Stellen in dem Konvolut Über Basisphänomene und bereits zuvor im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen argumentiert Cassirer dafür, dass die Form der Bezogenheit des Ausdrucks auf das leiblich existierende Ich im geistigen Leben unhintergehbar und unaufhebbar ist. Dieser Spur soll im Folgenden nachgegangen werden, um zu prüfen, wie weit sich dieses Basisphänomen in das entfaltete Symbolbewusstsein hinein erstreckt. Die anschließenden Schritte werden sodann zeigen, dass die Bedingungen, die in dem Basisphänomen der Monas formuliert werden, um die Perspektivität des menschlichen Weltbezugs ergänzt werden müssen, und dies wiederum Folgen für die kulturkritische Reflexion mit sich bringt. Mit Blick auf die Frage nach der Objektivität unserer Weltkonstitution stellt Cassirer im Konvolut über die Basisphänomene (vgl. ECN 1, S. 113 f.) fest, dass weder für die Wahrheit der Wahrnehmung der Dinge der äußeren Gegenstandswelt („Dingwahrnehmung“) noch für die des sinnerfüllten Ausdrucks der inneren und kulturellen Welt („Ausdruckswahrnehmung“) ein formal-logischer Beweis erbracht werden kann. (Die Termini „Dingwahrnehmung“ und „Ausdruckswahrnehmung“ führt Cassirer in seiner zweiten Studie „Zur Logik der Kulturwissenschaften ein (ECW 24, S. 397).) Im Rahmen einer Syllogistik ist es nicht möglich, einen Wahrheitsgehalt zu erzeugen, sondern diesen lediglich gestützt auf hypothetische Sätze zu transferieren. Unsere assertorischen Sätze müssen demnach aus einer anderen Quelle stammen (vgl. ECN 1, S. 113 f.). Cassirers ‚kritische‘ Lösung dieses Problems sieht vor, die Prädikate ‚wahr‘/‚unwahr‘ statt auf die Totalität der Wahrnehmung, lediglich auf konkrete Einzelerfahrungen anzuwenden. „Ich kann so wenig die Wahrheitsfrage für das Ganze der Erfahr[ung] stellen, wie ich die Wo-Frage für das Ganze des Universums stellen kann“ (ECN 1, S. 115). Sie ist das Maß und nicht das Gemessene. Was in dieser relationalen Wahrheitsfindung als ‚Invariante‘ zu gelten hat, steht hierbei nicht zu Beginn fest, sondern ist im Rahmen wissenschaftlicher Forschung festzustellen und unterliegt damit als bewegliches „Gerüst“ (ECN 1, S. 118) des Geistes konstanter Veränderung. Auf höherer Stufe muss damit aber natürlich wieder eine Wahrheit unserer Wahrnehmung vorausgesetzt werden, die dann aber nicht im Sinne der Wahrheit prädikativer Sätze zu verstehen ist, sondern als grundlegender Wirklichkeitsbezug, präziser ausgedrückt: als Form des Eröffnens von Wirklichkeit (vgl. ECN 1, S. 118). Während auch hier ein grundsätzlicher Skeptizismus, der jenen Bezug absolut bestreitet, lo-

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gisch möglich ist, stellt er nichtsdestoweniger keine sinnvoll zu vertretende Position dar. Es gilt Schopenhauers Wort von der uneinnehmbaren Festung des Solipsisten, der aber doch nicht gefürchtet werden braucht, da es ihm selbst unmöglich ist, sie zu verlassen. Etwas anders verhält es sich mit dem Teilskeptizismus des Wiener Kreises. Auch die logischen Positivisten gründen im Postulat einer unabhängigen Basis in der Wahrnehmung, verengen diese aber physikalistisch auf das, was zuvor als ‚Dingwahrnehmung‘ bezeichnet wurde. Wird aber anerkannt, dass unsere Wahrnehmung die Wirklichkeit in basaler Form allererst aufschließt, so bedeutet der skeptische Verzicht auf eine Form dieser Wahrnehmung, dass uns bestimmte Bereiche der Wirklichkeit verschlossen und ihre Phänomene unerklärlich bleiben (vgl. ECN 1, S. 118), wie Cassirer bereits in der Philosophie der symbolischen Formen hervorhebt. Begrenzte sich die Wirklichkeit auf das in wissenschaftlich-physikalischer Form Feststellbare und bestünde so unsere Wahrnehmung aus isolierten Sinnesdaten, die jeweiligen Sinnesreizen entsprechen, oder wäre gemäß des theoretischen Wahrheitsbegriffes respektive der Ding-Eigenschafts-Kategorie schematisch vorgezeichnet, so müssten wir das mythische Bewusstsein, in dessen Welt wir keine solche Gliederung vorfinden, als bloße Pathologie werten, der die Wahrnehmung jederzeit widerspricht (vgl. PSF 3, S. 64– 67). Die phänomenologische Untersuchung der Wahrnehmung ergibt hier jedoch ein ganz anderes Bild: Bevor sich uns die Welt als Ganzes physikalischer Körper und Qualitäten darbietet, erscheint sie uns ursprünglich in Ausdruckscharaktären unmittelbar sinnbelebt, die in der einfachen Darlegung bereits ihre Auslegung finden (vgl. PSF 3, S. 105). Es wird nicht von der Erscheinung auf das Wesen hinter der Erscheinung geschlossen, keine begriffliche Interpretation vorgenommen, sondern in der Erscheinung ist das Wesen selbst gegeben (vgl. PSF 3, S. 75). Von der skeptischen Bestreitung des Ausdrucks wäre nicht nur die mythische Weltsicht betroffen, sondern der gesamte Bereich dessen, was uns als kulturelles Werk gegenübertritt und von uns sinnhaft gedeutet wird. Der physikalischen Sprache gelingt es hierbei nicht, den Gehalt kultureller Werke auszudrücken (vgl. ECN 5, S. 86). Auch das Wissen über das sogenannte Fremdpsychische kann nicht jenseits der Ausdruckswahrnehmung im theoretischen Gegenstandsbewusstsein hervorgebracht werden. Cassirer führt vor, wie sämtliche Theorien – die szientistischen ebenso wie die intuitionistischen –, die das Wissen vom anderen Subjekt vermittelt über die äußere, sachliche Wahrnehmung zu erklären suchen, dabei scheitern, an die Gewissheit heranzureichen, mit der das Phänomen im Ausdruck erlebt wird (vgl. PSF 3, S. 88 ff.). Die theoretische Deutung setzt erst nachträglich an diesem phänomenal gegebenen Bestand an. Vollzieht sich diese Deutung allerdings in Form von ontologischen Scheidungen des Seins, so zerreißt das Band, das die ursprüngliche phänomenologische Einheit umschloss: Wie sich das Seelische mit dem Körperlichen am fremden wie eigenen Subjekt verbindet, lässt sich dann nicht mehr ausdrücken. Hingegen: „Was in jedem schlichten Ausdrucksphänomen erlebt wird, ist eine unlösliche Korrelation, eine durchaus konkrete Synthese von Leiblichem und Seelischem“ (PSF 3, S. 110). Die Einheit von Leib und Seele, die der vergegenständlichenden Weltsicht ein

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unlösbares Rätsel bleibt, begreift Cassirer als symbolische Relation, mehr noch: „Das Verhältnis von Seele und Leib stellt das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt“ (PSF 3, S. 113). Es ist also nicht zu fragen, wie der Leib die Seele kausal hervorbringt oder die Seele umgekehrt auf den Leib einwirkt, sondern die Seele selbst stellt den Sinn des Leibes dar, so wie umgekehrt der Leib die Erscheinung der Seele bildet. In jenen Sinnverknüpfungen des Ausdrucks werden uns zunächst und zuerst die Dinge, andere Subjekte und die eigene, leibgebundene Existenz, sprich unsere gesamte Wirklichkeit, eröffnet. Der Ausdruck bildet so die „weltumspannende Funktion“ (PSF 3, S. 91), die der Differenzierung in die verschiedenen Formen und Ausgestaltungen des Bewusstseins vorausgeht. Auch die wissenschaftliche Erkenntnis findet damit ihre transzendental-genealogische Wurzel in dieser ursprünglichen Ausdruckswahrnehmung, aus der sich die Dingwahrnehmung erst langsam herausdifferenziert und die selbst noch überall die Spuren jener in sich trägt (vgl. PSF 3, S. 90). In einigen Gebieten können wir dieser Wurzel grundsätzlich nicht entbehren, wollen wir uns den Zugang zu ihnen nicht für immer verschließen. Wird diese Bedingtheit der theoretischen Weltsicht selbst anerkannt, so lässt sich die Ausdruckswahrnehmung nur noch kritisch begrenzen, jedoch nicht skeptisch aufheben oder gänzlich bestreiten (vgl. ECN 1, S. 120). Diese erkenntnistheoretische Vorrangstellung der Einheit von Leib und Seele, der Gedanke, dass der Mensch selbst stets die erste Manifestation der symbolischen Auseinandersetzung bildet, findet ihre systematische Stellung in der Theorie der Basisphänomene (vgl. Ullrich 2012, S. 51 f.). Unter diesem Oberbegriff will Cassirer den stufenförmigen Aufbau des Lebens in der „Art, wie es uns selbst und anderen erkennbar ist“ (ECN 1, S. 123) konzipieren, d. h. nach den Formen des Wissens. Unterteilt werden hierbei drei Stufen oder Dimensionen, die je nach eingenommener Perspektive mit unterschiedlichen Begriffen belegt werden und uns grundsätzlich bereits in den vorangegangenen Abschnitten begegnet sind: So können wir jene Trias als ‚Ich‘, ‚Du‘ und ‚Es‘ ebenso wie als ‚Fühlen‘, ‚Wollen‘ und ‚Denken‘ oder ‚Monas‘, ‚Wirken und Tun‘ und ‚Werke‘ auffassen. Sie markieren damit die „ursprünglichen Bezogenheitsformen“ (Ullrich 2012, S. 78), in denen sich geistiges Leben vollzieht und differenzieren terminologisch die verschiedenen Dimensionen unseres Wirklichkeitsbezuges aus, der uns zuerst im Phänomen des Ausdrucks gegeben ist und selbst nicht mehr in einem rational-logischen Akt erschlossen werden kann, sondern selbst „allem Denken und Schließen“ (ECN 1, S. 132) zugrunde liegt. Wir erkennen hieran bereits, dass unter den Basisphänomenen nichts verstanden werden soll, was uns gegenständlich gegenübertritt oder auch nur zu vergegenständlichen wäre, da sich menschlich-kulturelle Existenz in ihnen vollzieht (vgl. ECN 1, S. 127). Es geht hier um die „Modi der Vermittlung“, „sie sind selbst die Fenster der Wirkl[ichkeits]-Erk[enntnis] – das[,] wodurch wir uns der Wirkl[ichkeit] aufschließen“ (ECN 1, S. 132). Cassirer verfolgt also auch in den Basisphänomenen konsequent seinen transzendentalphilosophischen Ansatz. Die Unter-

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teilung der Basisphänomene liegt gewissermaßen quer zu jener der symbolischen Formen, sodass wir im Mythos, der Sprache oder auch der Erkenntnis jeweilige Weiterbestimmungen und Ausprägungen der Basisphänomene vor uns haben (vgl. Ullrich 2012, S. 79). Ohne dass Cassirer in dem Konvolut die Ankündigung einer Argumentation zur Vollständigkeit der beschriebenen Basisphänomene einlöst, können wir davon ausgehen, dass sie als Konstanten des menschlich-kulturellen Wirklichkeitserlebens begriffen werden. Dieses vollzieht sich stets in einer Gemeinschaft handelnder und miteinander agierender Subjekte („Du“, „Wollen“, „Wirken und Tun“), die vermittels objektivierter Formen („Es“, „Denken“, „Werk“) einander kenntlich werden und über die sie sich verständigen (vgl. Ullrich 2012, S. 77). Selbiges gilt aber auch von der Leiblichkeit des Menschen, dem Phänomen des ‚Ich‘, des ‚Fühlens‘ und ‚monadischen Seins‘. Auch wenn der Leib kulturell durch Haltungen, Eingriffe und Prägungen unterschiedlich ausgestaltet sein mag, so bleibt sein „Dass“ (Ullrich 2012, S. 77) bestehen. Zwar betont Cassirer, dass die Basisphänomene als Einheit zu fassen sind, die erst in der Reflexion voneinander geschieden werden; dessen ungeachtet werde ich mich im Rahmen dieser Skizze auf das letztgenannte Phänomen des ‚Ich‘ konzentrieren. Wesentliches Merkmal bildet für Cassirer hier die Form der „strömende[n] Bewegtheit“ (ECN 1, S. 133), die sich der Fixierung im Einzelzustand entzieht. Das monadische Sein erlebt sich als gegenwärtig, als gewesen und sein-werdend, erschließt sich so seine zeitliche Form in der „Totalität seiner Lebensmomente“ (ECN 1, S. 134). Wenn Ullrich aus dieser Bestimmung herausliest, dass wir es hier nicht mit einem objektstufigen, sondern mit einem Reflexionsbegriff zu tun haben (vgl. Ullrich 2012, S. 82 f.), dürfte er damit sicherlich Cassirers Intention treffen. Ein entsprechender Hinweis scheint mir in Cassirers eigenem Verweis auf Jonas Cohn (vgl. ECN 1, S. 121) vorzuliegen.Was Cohn nämlich an der entsprechenden Stelle darlegt, ist die Unmöglichkeit, das Leibphänomen (konsequent) zu objektivieren. Die Form der Objektivierung würde nicht nur, wie wir gesehen haben, die Einheit von Leib und Seele auseinanderreißen, sondern darüber hinaus sein wesentliches Merkmal, dass er als der ‚meinige‘ erlebt wird, zerstören. Diese „Meinheit“ (Cohn 1936, S. 66), das ‚Mein‘-Erlebnis, drückt dabei nicht einen prädikativen Inhalt, sondern eine spezifische, reflexive Verhältnisbestimmung des Lebensvollzuges aus. In diesem Sinne ist Ullrichs Charakterisierung des Basisphänomens der Monas als „Erscheinung des Lebens in der Form der Ichheit“ (Ullrich 2012, S. 82) zuzustimmen. Nun hatten wir bereits gesehen, dass auch die theoretische Weltsicht der Erkenntnis die Ausdruckswahrnehmung als transzendental-genealogische Basis anerkennen muss und bestimmte Bereiche der Wirklichkeit nicht ohne sie fassen kann. Darüberhinausgehend führt Cassirer an, dass selbst in der höchsten Stufe der physikalischen Erkenntnis das Basisphänomen der Monas eine konstitutive Rolle spielt. Zwar sind die ursprünglichen Bezogenheitsformen des geistigen Lebens so zu denken, dass sie in den symbolischen Formen weiterbestimmt und ausgebildet werden, doch gelingt es auch in der Entwicklung des „reinen Ich-Sinn[s]“ (ECN 1, S. 97), der die

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Sphäre „des ‚personalen‘ Seins“ (ECN 1, S. 109) transzendiert, nicht gänzlich, den Erlebnischarakter der Form der Ichheit aufzuheben. Interessanterweise findet Cassirer diese Einsicht in der Physik selbst vor. In seiner sogenannten Hypothese π formuliert Erwin Schrödinger die notwendige Anerkennung der Voraussetzung eines solchen Erlebnisbezuges nicht nur hinsichtlich des eigenen Ich, sondern auch dem Du gegenüber: Daß die ‚Data‘ der Physik ‚irgendwem‘ [und zwar mir sowie auch anderen; O.H.] gegeben sind, das ist ein genereller Charakter, der ihnen anhaftet, daher ein physikalisch bedeutungsloser (sich ‚von selbst verstehender‘) Charakter, der in allen physikal[ischen] Aussagen bei Seite gelassen (‚ausgeklammert‘) werden kann. (ECN 1, S. 122)

Auf diese Weise bleibt das Phänomen des eigenen Ich für die wissenschaftliche Skepsis unentbehrlich, wenngleich es niemals in seiner eigentlichen Bedeutung in physikalischer Sprache ausgedrückt werden kann: „es ist nicht möglich, mathemat[isch]-physikalisch zu beschreiben, zu ‚definieren‘, was das Wort ‚Ich‘ besagt“ (ECN 1, 121). Das Ich lässt sich auf diese Weise nicht in ein bloßes ‚Sehding‘ auflösen, entzieht sich der Vergegenständlichung. Insofern auch der Positivismus von sinnlichen Erlebnissen spricht, schließen diese je die Form eines Ich ein, deren Bedeutung gerade nicht physikalisch zu klären, „sondern nur als genereller ‚Bezugspunkt‘ definierbar ist“ (ECN 1, S. 122). Ein solcher Bezugspunkt steht dabei in einer völlig anderen Ordnungsebene wie seine erlebten ‚Data‘. Das „subjektive Beziehungscentrum“ (Natorp 1888, S. 13) der Erkenntnis lässt sich nicht auf die gleiche Art denken wie der Mittelpunkt eines Kreises, von dem die geometrische Form konstruiert wird, aber ansonsten ein Punkt wie jeder andere auf seiner Peripherie darstellt. Cassirer stützt sich hier auf Leibnizens Gedankenexperiment einer empfindungsund wahrnehmungsfähigen Maschine (vgl. Leibniz 2014, §17). Die genaue Kenntnis und Untersuchung der kausalen Prozesse in einer solchen Maschine vermag es nicht, die Perzeption selbst zu erklären. Die Form des Wahrnehmungserlebnisses, mit der sich Wirklichkeit offenbart, entzieht sich in diesem Sinne der wissenschaftlichen Objektivierung und kann nicht zum physikalischen Gegenstand gemacht werden – ohne aber, dass die wissenschaftliche Objektivierung das Wahrnehmungserlebnis in der für sie konstitutiven Bedeutung negieren kann.

3 Die Perspektivität des weltkonstituierenden Eingriffs Cassirer geht es also darum, die Ich-Bezogenheitsform unter Berücksichtigung der ihr eigenen Zeitlichkeit (s.a. ECN 1, S. 227 ff.) der Erlebnisse, bis hin zu dem Erleben der Beobachtungsdaten der Physik, als notwendige apriorische Voraussetzung der Weltoffenbarung zu erweisen. Demgegenüber stellt Apel, ebenfalls in Anschluss an

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Leibniz, die Frage nach dem Status der perspektivischen, nämlich leibzentrischen Weltvorstellung, d. h. der eigenen Weise der Räumlichkeit der Form der Ichheit. Verdeutlichen wir uns das, worum es Apel geht, noch einmal anhand des Gedankenexperiments: Kann die physikalische Analyse des Körpers die Perzeption nicht erklären, so kann sie auch kein sinnvoller Gegenstand der Physik werden, sondern bildet vielmehr, da die physikalische Betrachtung nicht gänzlich auf sie verzichten kann, eine der ungegenständlichen Voraussetzungen unserer Erkenntnis. Nun ließe sich dieser Befund auf Leibnizens kritische Ergänzung des sensualistischen Diktums „Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu“ um das „nisi ipse intellectus“ (Leibniz 1962, S. 111) übertragen (Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war – außer dem Verstand selbst). Die Frage, die sich im Anschluss daran stellt, lautet, ob wir die Perzeption dem ipse intellectus zurechnen können? Was hieran kontraintuitiv erscheint, ist, dass die Perspektivität jener Perzeption an die innerweltliche Stellung und Funktion der Sinnesorgane geknüpft ist, die ihrerseits doch unzweifelhaft etwas Körperliches darstellen. An welcher Stelle steht also in dieser Formel der ipse sensu qua Leiblichkeit? (vgl. Apel 1975, S. 65) Wollte man hier argumentieren, die Bedingung der Möglichkeit des Sehens ließe sich vom Auge² als körperliches Organ gewissermaßen ablösen und dem ipse intellectus zuschreiben, mithin die Formel so als vollständige Disjunktion zwischen Empirischem und Apriorischem unserer Erkenntnis auffassen, gerät man jedoch zurück zur cartesischen Subjekt-Objekt-Relation und dem ihr entsprechenden Dualismus von res cogitans und res extensa (vgl. Apel 1975, S. 264 f.). Gleichzeitig droht man damit hinter Cassirers Ansatz zurückzufallen, das Leibphänomen als ursprüngliches Ausdrucksphänomen der Vergegenständlichung in der theoretischen Weltsicht, sprich als der Scheidung in Subjekt und Objekt vorgängig zu betrachten. Müssen wir also nicht auch die Perspektivität der Wahrnehmung der Welt als transzendentale Bedingung dem Basisphänomen der Monas zugehörig betrachten? Auch wenn in der Monadologie zum ersten Mal die perspektivische Weltrepräsentation aus Sicht der Monade berücksichtigt wird, zieht Leibniz mit der Vorstellung der prästabilierten Harmonie und der daraus folgenden Leugnung einer gegenseitigen Beeinflussung von Körper und Seele nur die radikalste Schlussfolgerung aus der Erkenntnisrelation Descartes’ (vgl. Apel 1975, S. 266). Enthält die geistige Innenwelt der Monade das Ganze des mechanistischen Universums als innere Repräsentation in sich, muss sie wiederum auch den eigenen Leib, als Zentrum ihrer Perspektive, vorstellen, um sich die Welt überhaupt perspektivisch vorstellen zu können. Der Begriff der Vorstellung taucht hier in einem doppelten Sinne auf (vgl. Leibniz 2014, § 62): Einmal als perspektivische Vorstellung vom Blickpunkt des Leibes aus und einmal als die Vorstellung des eigenen Körpers selbst, d. h. ohne eine solche durch den Leib vermittelte Perspektive.

 Dass allerdings das Problem der Perspektive keineswegs an die Sehfähigkeit geknüpft ist, stellt Krois (2011, S. 214 f.) heraus.

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Die hierin verborgene Schwierigkeit besteht Apel zufolge darin, dass der Leib in der Funktion des perspektivischen Zentrums – d. h. als Bedingung der Möglichkeit einer bestimmten Vorstellungsart – einer sphärenmäßigen Aufteilung der cartesischen Subjekt-Objekt-Relation folgend selbst als vorfindbarer Teil der objektiven Körperwelt behandelt werden müsste. Legt man aber dabei wieder „den Begriff einer perspektivischen und insofern immer schon leibbedingten Weltvorstellung“ (Apel 1975, S. 268) zugrunde, so lässt sich das Verhältnis zum eigenen Leib nur unter einem regressus ad infinitum denken. Wir könnten in Folge dessen keine Trennung mehr zwischen dem Erkenntnissubjekt und seiner leiblichen Verfasstheit vornehmen. Apel resümiert: „Das Apriori des ‚intellectus‘ genügt nicht, wenn die menschliche Erkenntnis a priori perspektivisch ist, gefordert scheint vielmehr so etwas wie ein ‚Leibapriori‘“ (Apel 1975, S. 268). Ist es aber nicht wiederum möglich, ein solches Leibapriori mittels einer Reflexion auf den entsprechenden Leibstandort aufzuheben, sodass sich die in ihm formulierten transzendentalen Bedingungen aus dem ipse intellectus ableiten ließen? Als Basisphänomen bildete die Form der Ichheit in ihrem Dass eine Konstante, die in den symbolischen Formen ihre Ausgestaltung erfährt. Es wäre also zu überlegen, ob die zum Leib gehörende perspektivische Form der Wahrnehmung in dieses Dass eingeschlossen ist oder sich nicht gerade dieser Aspekt in der Entfaltung des Symbolbewusstseins aufheben lässt. Dafür spräche beispielsweise die von Cassirer immer wieder hervorgehobene Tendenz in der Entfaltung des Symbolbewusstseins, sich von der unmittelbaren Wahrnehmung zu entfernen (vgl. u. a. ECW 10, S. 111). Die Frage, die wir hier also zu diskutieren haben, lautet, welche Reichweite und welchen Umfang ein solches Leibapriori besitzt – und zuletzt, welche Bedeutung ihm im Folgenden für die philosophische Reflexion selbst zukommt. Wie Apel ausführt, findet sich bei Leibniz ein Gedanke in Richtung einer solchen Aufhebung, wenn dieser zwischen Perzeption als endlicher und leibvermittelter Weltvorstellung und Apperzeption als der „Teilhabe an den ‚ewigen Wahrheiten‘“ (Apel 1975, S. 268) unterscheidet. Als Ebenbild Gottes sei es dem Menschen vergönnt, den göttlichen Schöpfungsgedanken zu folgen, die das Beziehungsgefüge zwischen den Monaden stiften. Gott wird hierbei als unendlich große Kugel vorgestellt, die so ihren Mittelpunkt in jeder einzelnen Monade besitzt. Mit dieser Art der Vermittlung soll veranschaulicht werden, wie in einer exzentrisch gedachten Monadologie „sämtliche Perspektiven und Leibzentren aus einem idealen Beziehungsgefüge zu deduzieren“ und damit jegliches Leibapriori „zu einem innerweltlich vorkommenden Standort“ zu degradieren wären (Apel 1975, S. 269). Doch bleibt dieses Modell aufgrund der faktisch weiterbestehenden Bindung an einzelne Leibperspektiven auf der Ebene eines Gleichnisses, sodass Apel seinerseits die Frage stellt: „Inwieweit ist der Mensch tatsächlich in der Lage, exzentrisch gedachte und empirisch verifizierbare Relationstheorien aufzustellen, Theorien also, in denen sein eigener Standpunkt der Weltvorstellung in der Weise objektiv verfügbar gemacht ist, daß er zu einem möglichen empirischen Datum wird“ (Apel 1975, S. 269)?

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Als möglichen Fall einer solchermaßen exakt wissenschaftlichen, exzentrischen Monadologie diskutiert Apel zunächst die Einstein’sche Relativitätstheorie: Vermittelte bei Leibniz Gott als unendliche Kugel zwischen den perspektivischen Weltvorstellungen der Monaden, so ist es in der Relativitätstheorie die mathematische Funktion der Lorentz-Transformation, die es erlaubt, die verschiedenen Bezugssysteme über die Naturkonstante der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum als unabhängiges Maßinstrument ins Verhältnis zu setzen (vgl. Apel 1975, S. 270). So gedacht, könnte hier demonstriert werden, wie sich das Leibapriori in der Selbstentfaltung des Geistes zugunsten einer vollständigen Disjunktion zwischen geistigem Subjekt und innerweltlichen Objekten aufheben lässt. Allerdings fußt diese Aufhebung gerade darauf, dass die Relativitätstheorie die Voraussetzungen der traditionellen Subjekt-ObjektErkenntnisrelation unterläuft, indem sie präreflexiv die Vorstellbarkeit der Welt an die Identifikation des Erkenntnissubjekts mit der Leibvermittlung selbst knüpft. Der entscheidende Schritt ist hier, dass Einstein konsequent unsere anschaulich-schematisierbaren Begriffe (‚Vergangenheit‘, ‚Gegenwart‘, ‚Zukunft‘, ‚Gleichzeitigkeit‘) über mögliche Messungen zu definieren sucht. Apels Deutung zufolge schließt dies in sich, dass jene Begriffe, anstatt sie aus der Reflexion des exzentrischen Bewusstseins als reine Denknotwendigkeiten zu entwickeln, „in ihrem Sinn a priori über einen Eingriff des leibhaften Menschen in die Welt vermittelt sind“ (Apel 1975, S. 271). Denn auch der technisch gestützte Messvorgang der Physik gründet sich letzthin „in einem vorquantitativen ‚Sichmessen‘ des leibhaft existierenden Menschen mit der Welt“ (Apel 1975, S. 272).³ Eine entsprechende Rolle spricht Cassirer dem Leib bereits in den ersten beiden Bänden der Philosophie der symbolischen Formen zu. Der Leib erscheint hier als maßgebendes und ursprüngliches Gliederungsschema, stellt in dieser Funktion die Orientierungspunkte bereit, auf die räumliche Differenzierungen der Welt übertragen werden. Auch die Begrifflichkeiten der exakten Naturwissenschaften können auf diese qualitativen Schematisierungen nicht gänzlich verzichten, auch wenn die theoretische Weltsicht danach strebt, sich von dieser Grundlage zu emanzipieren (vgl. PSF 1, S. 157 ff.; PSF 2, S. 112 f.; s.a. Wiegerling 2008, S. 77 f.). In der Relativitätstheorie gelingt es damit dem menschlichen Geist, eine Monadologie zu formulieren, die alle möglichen Leibstandpunkte und ihre zugehörigen

 Am Beispiel des Begriffs der Gegenwart: Dem reinen Nachdenken eröffnet sich die Gegenwart als unendlich kleiner Zeitpunkt zwischen Zukunft und Vergangenheit. Als solcher ‚Zeitpunkt‘ steht der Begriff jedoch im Widerspruch zum anschaulich gegebenen und physiologisch bestimmten ‚Augenblick‘ als Zeitintervall. Auch wenn in der technikgestützten Messung über die physiologische Bestimmung hinausgegangen wird, bleibt sie doch abhängig von den Bedingungen leibvermittelter Erkenntnis. Vermittelt sich der Befund von Gleichzeitigkeit über die Naturkonstante der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum, also über das Wahrnehmungserlebnis des Lichtstrahls vom jeweiligen Bezugssystems aus in Abhängigkeit des Abstandes des Leibes vom zu beobachtenden Ereignis, dann stellt sich auch der physikalische Begriff der Gegenwart als Zeitintervall dar, dessen Ausdehnung nur im Falle kurzer Distanzen vernachlässigt werden kann (vgl. Apel 1975, S. 273 f.).

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Perspektiven in einer objektiven Theorie verfügbar macht; aber damit ist erstens alle „Vorstellbarkeit (d. h. alle anschauliche Schematisierbarkeit)“ aus der „Idee des theoretisch Objektiven“ verschwunden und zweitens ihre Konstitution selbst „a priori von der Identifizierung des Bewußtseins mit einer leibzentrischen Perspektive abhängig gemacht“ (Apel 1975, S. 276). Implizit beinhaltet damit die Konzeption der Relativitätstheorie die Anerkennung eines Leibapriori, wenn auch nur auf einer präreflexiven, aber dennoch weltkonstitutiven Stufe, die in der reflexionsvermittelten, exzentrischen Theoriebildung aufgehoben wird. Ohne dass mir hier der Raum zur Verfügung steht, Apels Interpretation der Relativitätstheorie mit Cassirers eigener zu vergleichen, scheint sie mit den dargestellten Ausführungen zu den Basisphänomenen vereinbar, mithin ihnen sogar entgegen zu kommen. Das Basisphänomen der Monas muss als transzendental-genealogische Basis der Erkenntnis anerkannt werden und kommt auf präreflexiver Stufe zur Geltung, während der Erlebnischarakter in seiner Bezugsform der Ichheit in den Beobachtungsdaten der Physik fortbesteht. Mehr noch: In beiden Konzeptionen wird die ursprüngliche Form der Weltoffenbarung und ihre konstitutive Bedeutung für die kulturellen Weltbezüge beschrieben. Verfolgt man die Spur des Leibapriori weiter, so fragt sich, ob nicht auf die gleiche Weise in sämtlichen Gebieten des Wissens die leibzentrische Weltkonstitution im Rahmen einer reflexionsvermittelten, exzentrischen Theoriebildung aufzuheben wäre, die ihrerseits in einem letzten Schritt der philosophischen Reflexion wieder eingeholt werde könnte, um so das Apriori der Erkenntnis rückwirkend auf den intellectus zu reduzieren (vgl. Apel 1975, S. 277). Denn dies wäre ja wiederum grundsätzlich jene Stufe, auf der sich eine Transzendentalphilosophie verorten würde, die von der Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur schreitet, die bestrebt ist, die kulturelle Welt des Menschen und ihre Erzeugnisse exzentrisch aus der Gesetzlichkeit des menschlichen Symbolbewusstseins heraus zu begreifen. Dabei gilt es aber zu bedenken, dass die Aufhebung jener Form, wie sie in der Relativitätstheorie vorliegt, nur möglich ist, weil es sich bei ihr um eine empirische Theorie handelt, in der tatsächlich jedes Bezugssystem mithilfe einer Transformationsformel verifizierbar als möglicher Fall in der Welt abgeleitet und somit vergegenständlicht werden kann, d. h. zum Objekt des ipse intellectus wird. Wohingegen es die philosophische Reflexion gewissermaßen nur mit einer „formale[n] Antizipation der Aufhebung des Konkreten im Allgemeinen“ (Apel 1975, S. 277) zu tun hat. Eine Ableitung anschaulicher Welterfahrung aus der Theorie heraus erscheint als wenig realistisches Ziel und würde überdies explizit dem Verhältnis von spontanem Akt des Weltverstehens und seiner Aufhebung in einem System der symbolischen Formen widersprechen, das eben den Fluchtpunkt der Reflexion und nicht den Ausgangspunkt einer Ableitung darstellt (vgl. PSF 1, S. 26 f.). Cassirer sieht es als Aufgabe der Philosophie der symbolischen Formen, die Theorie der Kultur, die ihre Grundlage in der Formanalyse der empirischen Kulturwissenschaften findet, in einer philosophischen Reflexion abzuschließen (vgl. ECW 24, S. 456). So knüpft die philosophischformale Reflexion an den von den Kulturwissenschaften aufbereiteten anschaulichen Weltgehalten an. Folglich müssen wir ein präreflexives Apriori des Leibes inklusive

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der leibzentrischen Perspektive als „unaufhebbare Bedingung der Möglichkeit allen materialen (anschaulich-bedeutsamen) Weltgehalts“ (Apel 1975, S. 277) gleichzeitig als Bedingung der Möglichkeit einer kulturkritischen Reflexion ansetzen. Weiterhin zu klären ist dann aber, in welchem Sinne das Leibapriori in der Kulturkritik aufgehoben wird, ferner, in welchem Verhältnis Leibapriori und das Apriori des intellectus in einer geschichtlich-praktischen Weltdeutung stehen. Apel argumentiert nun, dass sich die Aufhebung des Leibapriori in der Relativitätstheorie und der traditionellen Erkenntnistheorie letztlich einem Spezialfall technischer Verfügbarmachung in der Makrophysik verdankt und überrascht sodann mit dem Vorschlag, die Grundsituation des menschlichen Weltverstehens in einer Analogie zur Mikrophysik, d. h. zur Quantentheorie nach Heisenberg und Weizsäcker, zu modellieren. Denn hier zeige sich, dass der Verzicht auf die Identifikation des anschaulich Verstehund Vorstellbaren mit dem theoretisch Denkbaren nicht zu einer vollständigen Aufhebung sämtlich möglicher Beobachtungsperspektiven und Weltaspekte in einem mathematischen Transformationssystem führt (vgl. Apel 1975, S. 278). Beeinflusst in der Mikrophysik der einzelne Beobachtungsakt das Messergebnis, lässt sich dieses nur noch auf statistischer Ebene im Rahmen einer Wahrscheinlichkeitsfunktion erklären. Umgekehrt kann dann die mathematische Theorie die einzelnen Beobachtungsakte nicht mehr aus einem Formalismus ableiten wie noch in der Relativitätstheorie, sondern beschreibt nur noch „die quantitative Form einer objektiven Möglichkeit“ (Apel 1975, S. 279), die sich in der Beobachtung aktualisiert und auf die Wahrscheinlichkeitsfunktion zurückwirkt. Die Objektivität des Gegenstandes der Natur, die sich im mathematischen Formalismus ausdrückt, umfasst damit nicht länger das einzelne beobachtete Faktum. Die Beobachtung selbst ist ein eingreifender, weltkonstitutiver Handlungsakt, der selbst nicht mehr klar von seinem Gegenstand abgegrenzt werden kann (vgl. Apel 1975, S. 280). In der Quantentheorie bleibt damit neben der mathematischen Theorie des ipse intellectus das Apriori eines leibzentrischen Beobachtungsaktes nicht nur auf präreflexiver Stufe enthalten, was sich darin zeigt, dass die anschaulich-schematisierbare Begrifflichkeit in der Sprache des Experimentalphysikers neben der mathematischen Sprache des Theoretikers weiterbesteht (vgl. Apel 1975, S. 279). Ihr jeweiliges Verhältnis zueinander kommt in dem von Niels Bohr eingeführten Konzept der Komplementarität zum Ausdruck. Die einzelnen, leibvermittelten Beobachtungsakte konstituieren einander ausschließende Perspektiven, die in der mathematischen Theorie unter Verzicht auf anschauliche Vorstellbarkeit als sich gegenseitig ergänzende Aspekte der Welt synthetisiert werden können (vgl. Apel 1975, S. 281). Die Analogie zur Grundsituation des menschlichen Weltverstehens veranschaulicht Apel wiederum an einem Beispiel aus der leibnizschen Monadologie (vgl. Leibniz 2014, § 57). Richten wir unseren Blick von verschiedenen Standorten aus auf eine Stadt, so entstehen jeweils verschiedene Panoramen vor uns. Man wird geneigt sein, diese Panoramen als perspektivische Vervielfältigungen desselben Gegenstandes zu erachten, allerdings läge diesem Verständnis bereits die Konzeption eines mathematisch-physikalischen Objekts zugrunde, in dem wir von seinen technisch nicht-

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relevanten Hinsichten abstrahieren, um so die jeweiligen Aspekte in einem Kontinuum aufgehen zu lassen. Diese Aufhebung der leibzentrischen Standpunkte – wie wir sie auch in der Relativitätstheorie sehen konnten – gelingt nur, solange die Wahrnehmungsakte für uns nicht um ihrer selbst willen von Interesse sind. Denken wir jenes Panorama als den Blick einer Malerin, die mit ihrer Staffelei auf einem Hügel vor den Toren der Stadt steht, ist es wegen seiner Unvorhersehbarkeit und Einzigartigkeit nicht mehr möglich, dieses Bild als bloße Hinsicht auf einen Gegenstand zu fassen und in dieser Form abzuleiten. Sein Verständnis bleibt mit der Leibvermittlung des weltkonstitutiven Eingriffs verhaftet. Was es zeigt und was es verbirgt, ist grundsätzlich verschieden von dem Bild eines anderen Künstlers und steht zu einem solchen zumindest auf dieser Ebene in Widerspruch (vgl. Apel 1975, S. 283 f.). Was hier zum Ausdruck gelangt und zum Werk gerinnt, ist ein Inneres, „das Zeugnis einer individuellen Lebensform“ (ECW 17, S. 179). Doch greift auch die Behandlung als individuelle Lebensform noch zu kurz. Die weltkonstitutiven Akte, die im Fokus der Geisteswissenschaften stehen, sind in ihrer Leibvermittlung fortdauernd hermeneutisch-sozialgeschichtlich zu rekonstruieren. Denn trotz der logischen Vorgängigkeit des Leibphänomens kommen in den entsprechenden Akten Haltungen, Normierungen, Dispositionen und Rhythmisierungen zum Ausdruck – schlicht alles, was wir zur kulturellen Prägung des Leibes im Zuge der Traditionsvermittlung und den kontingenten materiellen Bedingungen rechnen können (vgl. Wiegerling 2008, S. 83 f.); freilich ohne dass jene Akte deswegen als Fall aus diesen Prägungen und Bedingungen strikt abzuleiten wären. Mit Cassirer gesprochen verbindet sich dieser spontane Akt der Weltkonstitution gleichzeitig mit dem Ganzen der Menschheit, prägt sich in den Körper der Kultur, oder ist, wie es Apel formuliert, geneigt, das Weltbild „in epochemachender Weise“ (Apel 1975, S. 285) zu verändern. Während diese Geschichtlichkeit des irreversiblen leibzentrischen Beobachtungsaktes in der Mikrophysik durch seine Betrachtung aus der exzentrischen mathematischen Theorie des ipse intellectus vernachlässigt werden kann (vgl. Apel 1975, S. 285), bildet dies genau das Thema einer Dialektik, die als Kulturkritik auftritt. Welche Schlüsse lassen sich hieraus für einen kulturphilosophischen Begriff der dialektischen Praxis ziehen?

4 Praxisvermittlung des dialektischen Blicks Wie gesehen setzt die Kulturkritik Cassirers bei den über die empirischen (Kultur‐) Wissenschaften vermittelten symbolischen Objektivationen und Akten an, um „von der Wirklichkeit des Faktums nach den ‚Bedingungen seiner Möglichkeit‘“ (PSF 2, S. 13 f.) zu fragen. Werden auf diese Art zunächst die konstitutiven Prinzipien der verschiedenen Formen des Weltverstehens – als deren Aktualisierungen die einzelnen symbolischen Akte begriffen werden – herausgehoben, so folgt in der philosophischen Reflexion die Synthese jener symbolischen Formen zu einem dynamischen

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System, in dem sich das Symbolbewusstsein seiner eigenen Formungskraft vergewissert. In der Mikrophysik vollzieht sich die Synthese der leibzentrischen Beobachtungsakte in deren quantitativen Form der Möglichkeit. Abstrahiert die dialektische Reflexion des Symbolbewusstseins von den materialen Inhalten, von den Zwecken und kontingenten Bedingungen kultureller Praktiken, um die Form(en) der Objektivierung in ihrer Gültigkeit nach allgemeinen Prinzipien zu bestimmen, können wir davon sprechen, dass der leibzentrische Welteingriff nur in seiner qualitativen Form der Möglichkeit aufgehoben wird. Anstatt die weltkonstituierenden Beobachtungsakte mathematisch mittels einer Wahrscheinlichkeitsfunktion zu beschreiben, sind hier einander ausschließende Weisen des Weltverstehens kritisch-transzendental in ein Verhältnis gesetzt, in dem sich Stand und Entwicklung des Symbolbewusstseins ausdrücken, mit anderen Worten: seine Geschichtlichkeit. Analog zur Komplementarität in der Quantentheorie erreicht der Geist in der dialektischen Kulturkritik aus exzentrischer Position heraus eine unanschauliche Synthese der nicht-ableitbaren leibzentrischen Welteingriffe. Der Kulturkritik geht es jedoch in dieser Selbstaufstufung des Symbolbewusstseins darum, eine veränderte Art des Sehens zu markieren, welche die emanzipatorischen Potentiale in einem Reich der Humanitas erkennt, eine Deutung, die mit der Reflexion auf die Geschichtlichkeit der Formungskraft per se auf den historischen Standpunkt relativiert ist. Die ‚Klarheit und Bestimmtheit des Sehens‘, von der Cassirer spricht, ist zunächst reflexiver Art, wenn sie auf die in den leibvermittelten Akten bestehenden Weltverhältnisse blickt und exzentrisch ein neues Verhältnis zu diesen hervorbringt. Da es nun aber nicht möglich ist, aus der kritisch bestimmten qualitativen Form der Möglichkeit heraus einen spontanen weltkonstitutiven Akt abzuleiten, muss sich – soll tatsächlich eine ‚neue Kraft des Wirkens‘ aus ihr hervorgehen – ein solcher symbolischer Akt erneut durch eine leibzentrische Perspektive vermitteln. Wir haben nun hier die bereits angedeutete asymmetrische Funktion der transzendentalen Bedingungen vor uns: Für die kulturkritische Reflexion bildet das Leibapriori konstitutive Bedingung, um die Form der menschlichen Weltverhältnisse exzentrisch zu bestimmen. Wo sich dieses emanzipatorische Potential dann aber wieder in einem Blick auf die Welt aktualisieren, wo es praktische Orientierung in der historischen Situation bieten soll, ist es notwendig, dass das aufgestufte Symbolbewusstsein unter die Bedingungen des Leibapriori zurückkehrt. Die „dialektische Sinndeutung“ verlangt neben dem historischen auch einen innerweltlichen Standpunkt, sie enthält „stets eine Stellungnahme zur Welt im Hinblick auf zukünftige Praxis“ (Apel 1973, S. 25). Wie die Dialektik ihren Gehalt erst aus den historischen, kulturellen Praktiken schöpfte, tritt sie auch erst dort in Widerspruch zum Bestehenden, wo der Geist seine Verleiblichung findet – und das heißt auch: seinen leibvermittelten Welteingriff. Mit dem Entwurf einer Praxis, die leibzentrisch anderen Praktiken unvereinbar gegenübersteht, entfaltet sich die neue Kraft des Wirkens als „‚Kraft des Negativen‘“ (Apel 1973, S. 24). Die Formungskraft des Symbolbewusstseins muss sich hier unter Einbezug von Interessen, Ressourcen,

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kontingenten materiellen Bedingungen und kulturellen Prägungen bewähren. Es handelt sich hierbei um das eidetisch Dunkle in der Konstitution von kulturellem Sinn (vgl. Apel 1973, S. 25), in einem jeden Akt von symbolischer Prägnanz, wie Cassirer sagen würde. Folglich ist es diese Verleiblichung, durch die eine historische Lage ihre Engführung zur Konfliktsituation erfährt. Das exzentrisch gedachte Reich der Humanitas nach gemeinschaftlichen Gesetzen kann den Entwurf einer solchen Praxis dann aber nicht mehr leisten, sondern ihm nur ein historisches Koordinatensystem des Symbolbewusstseins liefern. Der Entwurf selbst ist gerade nicht allgemeingültig, sondern abhängig vom innerweltlichen Standpunkt des individuellen oder kollektiven Subjekts der dialektischen Sinndeutung. Der Weg zur ‚Solidarität der Arbeit‘ führt über die Solidarität der Arbeiter.⁴ Ermöglicht wird dieser Entwurf erst aus dem Basisphänomen der Monas, insofern dieses, wie hier dargestellt, um die leibzentrische Perspektive auf die Welt erweitert wird. Zwar zeichnet es Cassirers kulturphilosophischen Ansatz im Speziellen aus, dass die Reflexion ihren Gehalt erst aus dem faktischen Weltverhalten des Menschen gewinnt, doch folgt in Cassirers Konzept der Dialektik der ‚Entmaterialisierung‘ kein Vorblick auf die ‚Rematerialisierung‘, auf die Verleiblichung des neugewonnenen Symbolbewusstseins. Es ist dieser weitere Vermittlungsschritt, den ein kulturphilosophischer Begriff dialektischer Praxis einzubeziehen hat, wenn er dem Anspruch, in der historischen Situation Orientierung zu bieten, gerecht werden will.

Literaturverzeichnis Apel, Karl-Otto (1973): „Reflexion und materielle Praxis: Zur erkenntnisanthropologischen Begründung der Dialektik zwischen Hegel und Marx“. In: Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie Bd. II, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 9 – 27. Apel, Karl-Otto (1975): „Das Leibapriori der Erkenntnis. Eine erkenntnistheoretische Betrachtung im Anschluß an Leibnizens Monadenlehre“. In: Hans-Georg Gadamer/Paul Vogler (Hrsg.): Neue Anthropologie, Bd. 7. München, Stuttgart: DTV, Thieme, S. 264 – 288. Becker, Ralf (2008): „Paradigmen zur Dramaturgie der Kultur. Cassirers Auseinandersetzung mit Simmels Kulturkritik im Licht der ‚Basisphänomene‘“. In: Reto Luzius Fetz/Sebastian Ullrich (Hrsg.): Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers „Nachgelassenen Manuskripten und Texten“. Hamburg: Felix Meiner, S. 161 – 177. Cohn, Jonas (1936): „Kritische Bemerkungen zur neupositivistischen Erkenntnislehre, besonders zu der Carnaps“. In: Philosophische Hefte 5/1, S. 51 – 74. Kant, Immanuel (1999): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hamburg: Felix Meiner. Krois, John Michael (2011): „Tastbilder. Zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen“. In: Horst Bredekamp/Marion Lauschke (Hrsg.): Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen. Berlin: Akademie, S. 211 – 231.

 Auf die Auffälligkeit, dass Cassirer von erster, aber nicht letzterer spricht, weist Jan Müller (2007) hin.

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Oliver Honer

Leibniz, Gottfried Wilhelm (1962): „Nouveaux Essais sur l’entendement humain“. In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Schriften. Berlin: Akademie, S. 39 – 527. Leibniz, Gottfried Wilhelm (2014): „Monadologie“. In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie und andere metaphysische Schriften. Discours de metaphysique. la monadologie. Principes de la nature et de la grâce fondés en raison. Ulrich Johannes (Hrsg.). Hamburg: Felix Meiner, S. 110 – 151. Müller, Jan (2007): „Entfremdung und Krise – ‚Bruchstellen‘ in der ‚Einheit der Kultur‘?“. In: Einheit in der Vielfalt? Zu Bestimmtheit und Zusammenhang von Wissensformen und Kulturformen, Interdisziplinäres Forschungskolloquium der Studienstiftung, Philipps-Universität Marburg. Müller, Oliver (2012): „Eine Frage des Stils. Ernst Cassirers anthropologische Fundierung seiner Kulturphilosophie in Absetzung von Martin Heidegger“. In: Birgit Recki (Hrsg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert. Hamburg: Felix Meiner, S. 675 – 700. Natorp, Paul (1888): Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode. Tübingen: Mohr. Orth, Ernst Wolfgang (1996): „Operative Begriffe in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen“. In: Ernst Wolfgang Orth: Von Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Würzburg: Königshausen & Neumann. Recki, Birgit (2004): Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Berlin, New York: de Gruyter. Ullrich, Sebastian (2012): Symbolischer Idealismus. Selbstverständnis und Geltungsanspruch von Ernst Cassirers Metaphysik des Symbolischen. Hamburg: Felix Meiner. Wiegerling, Klaus (2008): „Leib als symbolische Form und Ursprung von Medialität“. In: Reto Luzius Fetz/Sebastian Ullrich (Hrsg.): Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers „Nachgelassenen Manuskripten und Texten“. Hamburg: Felix Meiner, S. 77 – 92.

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Cassirers analytische Philosophie Abstract: Cassirer’s Analytic Philosophy. Cassirer’s Philosophy of Symbolic Forms is a systematic self-reflection of human intellectual capacities in culture. One of Cassirer’s crucial methodological devices is analysis. His Philosophy of Symbolic Forms starts with the acknowledgment of ‚the factum of culture‘: the fact that there is a variety of culturally established forms of symbol use and exchange in science, myth, religion, art, ethical life, and everyday discourse. Cassirer then analyses the factum of culture into its necessary transcendental conditions. This significantly resembles Strawson’s conception of a descriptive metaphysics of the human conceptual scheme, as developed in his 1959 book Individuals. This chapter examines the systematic parallels between Cassirer and Strawson. I will distinguish several different accounts of philosophical analysis in order to clarify the conception of analysis that is distinct to the Kantian projects of Cassirer and Strawson. The chapter aims at a novel appreciation of the systematic status of Cassirer’s Philosophy of Symbolic Forms and its argumentative potential. Keywords: Ernst Cassirer, Peter Strawson, analysis, analytic philosophy, symbolic forms

Einleitung Cassirer hat, im Gegensatz zu zahlreichen seiner Interpreten, die frühe analytische Philosophie, insbesondere Frege und Russell, intensiv rezipiert. Obwohl Cassirer seine Funktionstheorie des Begriffs in Substanzbegriff und Funktionsbegriff unabhängig von Frege entwickelt hat, hat er wesentliche Elemente der Semantik Freges und Russells in den dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen aufgenommen; seinen Zeitgenossen galt Cassirer zusammen mit Frege und Russell als Hauptvertreter der Funktionstheorie des Begriffs (vgl. Bauch 1914, S. 318; Burkamp 1927 (zu Frege und Russell S. 9, S. 185, S. 198 f.; zu Cassirer S. 115 f.); Marc-Wogau 1936, S. 184– 195). Cassirer hat Russells physikalistische Theorie des Geistes in The Analysis of Mind rezensiert und in der Kritik an Russell seine eigene, nicht-physikalistische Theorie der geistigen Repräsentation profiliert. Eingehend hat sich Cassirer auch mit der Wissenschaftstheorie des Wiener Kreises auseinandergesetzt. Auf all diesen systematischen Feldern bestand ein selbstverständlicher und lebendiger Austausch zwischen der Philosophie der symbolischen Formen und der analytischen Philosophie. Dieses Bild hat sich in der Cassirer-Interpretation der letzten Jahrzehnte grundlegend geändert. Die Diskussionen der Bezüge zu Frege, Russell und zum Wiener Kreis sind in Spezialabhandlungen delegiert worden. Die meisten systematischen Interpretationen der Philosophie der symbolischen Formen (wie des Neukantianismus insgesamt) ignorieren die historischen und sachlichen Verbindungen zur analytischen Philosohttps://doi.org/10.1515/9783110549478-006

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phie.¹ Die Cassirer-Interpretation betreibt ihren Gegenstand weitgehend anstelle von, und als dezidierte Alternative zu, analytischer Philosophie. Damit zementiert sie die strenge Dichotomie zwischen kontinentaler und analytischer Philosophie. Das ist nicht nur nicht im Geiste Cassirers gedacht, es missachtet insbesondere die der Philosophie der symbolischen Formen eigene Methode. Diese Methode ist eine bestimmte Form der Analyse. Die Philosophie der symbolischen Formen ist daher in einem wohlverstandenen Sinne selbst analytische Philosophie. Die folgenden Überlegungen sollen diese These präzisieren und begründen. Ich beginne mit einer kurzen Skizze von Cassirers analytischer Methode (1.), die ich dann anschließend gegen drei alternative, klassische Versionen von philosophischer Analyse abgrenze und als eigenständiges Modell der transzendentalen Analyse charakterisiere (2.). Die Hauptaufmerksamkeit meiner Überlegungen gilt dann einer klassischen Version der sprachanalytischen Philosophie, nämlich der deskriptiven Metaphysik Peter Strawsons (3. und 4.). Von ihr möchte ich zeigen, dass sie transzendentale Analyse im Sinne Cassirers ist. Umgekehrt ergibt sich, dass die Philosophie der symbolischen Formen analytische Philosophie im Sinne der deskriptiven Metaphysik ist.

1 Cassirers Idee einer rekonstruktiven Analyse Dass die Philosophie der symbolischen Formen analytische Philosophie ist, behauptet Cassirer an vielen Stellen.² Ich hebe zwei davon besonders hervor. In der Einleitung zum zweiten Band heißt es: [D]ie Methodik der kritischen Analyse […] muß […] überall vom „Gegebenen“, von den empirisch festgestellten und gesicherten Tatsachen des Kulturbewußtseins ausgehen; aber sie kann bei ihnen als einem bloß Gegebenen nicht stehenbleiben. Sie fragt von der Wirklichkeit des Faktums nach den „Bedingungen seiner Möglichkeit“ zurück. In ihnen sucht sie einen bestimmten Stufenbau, eine Über- und Unterordnung der Strukturgesetze des betreffenden Gebietes, einen Zusammenhang und eine wechselseitige Bestimmung der einzelnen gestaltenden Momente aufzuweisen. (ECW 12, S. 13 f.)

Im zentralen Methodenkapitel des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen behauptet Cassirer: Wir gehen vielmehr von den Problemen des „objektiven Geistes“, von den Gestalten, in denen er besteht und da ist, aus; aber wir bleiben bei ihnen nicht als bloßem Faktum stehen, sondern

 Eine Ausnahme davon ist die wegweisende Konfrontation von Cassirer mit Heidegger und Carnap in Friedman (2000). Zu den Möglichkeiten einer produktiven Diskussion von Neukantianismus und analytischer Philosophie vgl. exemplarisch Glock (2015).  Zum Hintergrund der folgenden knappen Rekonstruktion von Programm und Methode der Philosophie der symbolischen Formen vgl. ausführlich meine Überlegungen in Kreis (2010).

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versuchen, durch eine rekonstruktive Analyse, zu ihren elementaren Voraussetzungen, zu den „Bedingungen ihrer Möglichkeit“, zurückzudringen. (ECW 13, S. 63)

Cassirer sagt hier, dass die Philosophie der symbolischen Formen die Gestalten des ‚objektiven Geistes‘ als Faktum akzeptiere. Er sagt außerdem, dass dieser erste Schritt durch einen zweiten ergänzt werden müsse, der in der rekonstruktiven Analyse dieses Faktums bestehe. Cassirers Vokabular ist verschiedenen Traditionssträngen entlehnt. Die Rede von den ‚Bedingungen der Möglichkeit‘ ist Kants kritischer Transzendentalphilosophie entnommen, der auch die Bezeichnung ‚kritische Analyse‘ im ersten Zitat entlehnt ist. Der Terminus ‚objektiver Geist‘ stammt von Hegel; die damit gemeinte Sache war bereits von Herder und Humboldt gegen Kant ins Feld geführt worden. Die Formulierung vom ‚Faktum‘ und seiner ‚Analyse‘ nimmt Bezug auf die transzendentale Methode des Marburger Neukantianismus von Cohen und Natorp. Cassirer ordnet sich keiner dieser drei Traditionen einseitig unter; es wäre irreführend, ihn entweder zum Kantianer, Hegelianer oder Neukantianer zu machen. Alle Rubrizierungen dieser Art unterböten signifikant die intellektuelle Potenz, mit der Cassirer Argumentationsfiguren verschiedenster philosophischer Traditionen produktiv aufgreift. Es geht um die Festlegungen auf systematische Thesen und Argumentationsgänge, die erst zusammengenommen das Profil von Cassirers eigenem Ansatz ausmachen. Die Philosophie der symbolischen Formen beginnt wie bei Cohen und Natorp mit der Anerkennung eines Faktums, das aber in den Gestalten dessen besteht, was Hegel den objektiven Geist genannt hat, und das einer rekonstruktiven Analyse unterzogen wird, die sich zugleich als erweiterte Fortsetzung der Kantischen Transzendentalphilosophie versteht. Das ist das Programm der Philosophie der symbolischen Formen. Was genau ist damit gemeint? Cassirer akzeptiert die Gestalten des objektiven Geistes als eine gegebene Tatsache, deren Bestehen nicht noch einmal skeptisch hinterfragt wird. An der zuerst zitierten Stelle spricht Cassirer auch von den ‚Tatsachen des Kulturbewußtseins‘, an anderen Stellen vom ‚Faktum der Kultur‘ (vgl. bereits ECW 1, S. 411 (in Bezug auf Leibniz); ECW 16, S. 482 (in Bezug auf Cohen); ECW 24, S. 407; vgl. auch Cassirer/ Heidegger 1929, S. 294 f. („Faktum der Sprache“) und ECW 11, S. 9 („Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur“)). Im gesamten dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen ersetzt Cassirer den Ausdruck ‚Kultur‘ durch den technischen Terminus ‚objektiver Geist‘, um zu signalisieren, dass wir die damit gemeinte Sache nicht immer schon begriffen haben, sondern uns um deren theoretische Erfassung allererst bemühen müssen. Die Anerkennung der kulturellen Welt, in der wir leben, als einer gegebenen Tatsache geht also bereits im ersten Schritt mit der Entwicklung einer zur Erfassung dieser Tatsache angemessenen Terminologie und Methodik einher. Der Schlüsselbegriff ist derjenige der Gestalt, denn der objektive Geist besteht aus Gestalten. Beispiele dafür sind Aussagesätze der alltäglichen Rede, kultische Riten, Gemälde, handwerklich gefertigte Gebrauchsgegenstände – und so fort. Cassirer hebt eine Gemeinsamkeit aller dieser Gegenstände hervor. Sie besteht darin, dass sich in

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jedem von ihnen ein materieller, natürlicher oder physischer Aspekt mit einem nichtmateriellen, nicht-natürlichen und nicht-physischen Aspekt verbindet. Der dabei verwendete Naturbegriff ist zunächst derjenige der physischen Natur: derjenige Bereich, den die moderne Naturwissenschaft, in erster Linie die Physik, beschreibt. Gegenstände in diesem Bereich sind durch kausale Rollen im Spiel der Kräfte charakterisiert; physische Eigenschaften sind Eigenschaften, die sich durch die kausalen Relationen ergeben, in denen die Gegenstände stehen. Aussagesätze, Gemälde und Gebrauchsgegenstände lassen sich tatsächlich auch als physische Gegenstände in diesem Sinne beschreiben. Diese Beschreibung ist aber, wie Cassirer in der Studie über Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung aus dem Jahr 1942 betont, keinesfalls vollständig: Ein Kulturobjekt hat, wie jedes andere Objekt, […] sein Hier und Jetzt, es entsteht und vergeht. […] Auf der anderen Seite aber erscheint in ihm das Physische selbst in einer neuen Funktion. Es ‚ist‘ und ‚wird‘ nicht nur, sondern in diesem Sein und Werden ‚erscheint‘ ein anderes. Dieses Erscheinen eines ‚Sinnes‘, der nicht vom Physischen abgelöst ist, sondern an ihm und in ihm verkörpert ist, ist das gemeinsame Moment aller jener Inhalte, die wir mit dem Namen ‚Kultur‘ bezeichnen. (ECW 24, S. 399 f.)

Ein gesprochener Satz ist nicht lediglich physischer Schall (obwohl er auch das sein muss, um akustisch verstanden zu werden), sondern hat darüber hinaus auch einen Sinn, etwa den Gedanken, der in ihm ausgedrückt wird. Ein Gebrauchsgegenstand ist nicht lediglich ein physischer Gegenstand (obwohl er auch das sein muss, damit er sich überhaupt effektiv verwenden lässt), sondern hat darüber hinaus auch einen Verwendungszweck, zu dessen Erreichung er hergestellt worden ist. Der Gedanke und der Verwendungszweck werden vom Satz und vom Gebrauchsgegenstand ausgedrückt. Die Gestalten des objektiven Geistes sind daher Ausdrucksgestalten. Der Sinn ist in den physischen Aspekten der Gestalt ‚verkörpert‘,³ wie Cassirer sagt, daher nie ‚vom Physischen abgelöst‘, sondern immer an den Ausdruck im Physischen gebunden – das ist die zentrale These von der Ausdrucksgebundenheit des Geistes, die Cassirer in Erweiterung von Humboldts These von der Sprachgebundenheit des Denkens ausgeführt hat. Das macht auch verständlich, warum Cassirer den Bereich der Ausdrucksgestalten objektiven Geist nennt: Es handelt sich um den Bereich derjenigen Objekte, die in ihren physischen Eigenschaften einen geistigen Gehalt ausdrücken, und umgekehrt um denjenigen Bereich des Geistes, der an seine Verkörperung in materiellen Elementen gebunden ist. Für diese Objekte gilt, dass das Geistige gegenständlich und das Gegenständliche geistig ist – in diesem Sinne sind sie objektiver Geist. Damit ist allerdings noch nicht geklärt, was der Grund dafür ist, dass Ausdruckgestalten physische Gegenstände sind, die einen geistigen Gehalt ausdrücken. Er

 Aus dem Gedanken der Verkörperung des Geistes hat John Michael Krois ein Forschungsprogramm entwickelt, das Cassirers Ansatz produktiv fortführt; vgl. Krois (2011).

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muss nach Cassirer in der spezifischen Organisation der materiellen Aspekte der jeweiligen Gestalt gesucht werden. Wer einen Satz ausspricht, artikuliert und ordnet physischen Schall in der Weise, dass der intendierte Satz gebildet und der entsprechende Gedanke ausgedrückt werden kann. Das Beispiel zeigt sofort, dass es für diesen Ordnungsvorgang Regeln geben muss, die nicht auf den Einzelfall beschränkt sind – die grammatischen Regeln der jeweiligen Sprache. Nur wer einer Grammatik folgt, kann Schall so organisieren, dass das Resultat einen Gedanken ausdrückt. Ausdrucksgestalten sind in einer doppelten Weise normativ: Sie können korrekt oder inkorrekt gebildet sein, und mit ihrer Verwendung kann ein Anspruch auf Geltung – etwa ein Wahrheitsanspruch – verbunden werden. Das bedeutet aber, dass derartige Gestalten nur im sozialen Kontext jeweiliger Sprachgemeinschaften vorkommen können, innerhalb deren die grammatischen Regeln faktisch anerkannt sind. Das Beispiel der sprachlichen Ausdrücke hat Cassirer auf die Ausdrucksgestalten anderer Bereiche erweitert: Stets sind es grammatische Regeln im weiten Sinne (der auch nicht-sprachliche Grammatiken umfasst), die im Kontext bestimmter sozialer Gemeinschaften die Bildung und den Austausch von Ausdrucksgestalten ermöglichen. So lässt sich an der normativen Dimension der Ausdrucksgestalten der soziale Raum ihrer Existenz ablesen. Die Strukturlogik der Ausdrucksgestalten ist ein entscheidender Schritt zur Erfassung des Faktums des objektiven Geistes. Cassirer akzeptiert als eine gegebene Tatsache, dass es einen Bereich von Gestalten gibt, in denen ein materieller Körper einen geistigen Gehalt ausdrückt, wobei sich die Sinndimension der Ausdrucksgestalten ihrer spezifische Organisation verdankt; letztere ist das Resultat der Anwendung von Regeln, die selbst wiederum die Existenz einer Gemeinschaft von Verwendern von grammatischen Regeln voraussetzen. Diese allgemeine Beschreibung wird von Cassirer durch den Ausdrucksreichtum der symbolischen Formen konkretisiert. Dabei ist er von den Ergebnissen der kulturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen abhängig, die das empirische Material linguistisch, religions- und kunstwissenschaftlich, wissenschafts- und rechtshistorisch aufarbeiten und ordnen: Sie machen die jeweiligen Regelsysteme einer Sprache, einer Religion oder Kultordnung, einer Rechtstradition oder einer kunsthistorischen Epoche explizit. Auf der Basis dieser Erfassung des Faktums des objektiven Geistes beginnt der zweite Schritt der Philosophie der symbolischen Formen, den Cassirer in der zweiten der am Anfang zitierten Passagen eine ‚rekonstruktive Analyse‘ des Faktums genannt hatte. In Wahrheit ist natürlich bereits der Schritt der Erfassung durch die Idee der rekonstruktiven Analyse informiert, denn man muss bereits wissen, was genau am Faktum des objektiven Geistes man analysieren will, um dessen relevante Aspekte angemessen erfassen zu können. Der Begriff der rekonstruktiven Analyse verbindet drei Teilschritte: (i) die Zergliederung des Faktums in seine Aspekte, (ii) die Konzentration auf diejenigen dieser Aspekte, die für das Faktum konstitutiv sind, so dass sich dieses aus jenen aufbauen läßt, und schließlich (iii) die tatsächliche Rekonstruktion des Faktums aus ebendiesen konstitutiven Aspekten. Die beiden ersten Teilschritte sind durch Cassirers Strukturlogik der Ausdrucksgestalten realisiert. Das Faktum

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besteht in den Gestalten des objektiven Geistes. Die Ausdrucksgestalten differenzieren sich in die Aspekte eines materiellen Körpers, eines nicht-physischen Sinnes, eine je spezifische innere Organisation und die grammatischen Regeln ihrer Bildung aus. Cassirers normativitätstheoretische Beschreibung der Ausdrucksgestalten stellt den Umstand ins Zentrum, dass alle Ausdrucksgestalten mit den normativen Ansprüchen der Korrektheit (ihrer Gestaltung) und der Gültigkeit (ihrer kommunikativen Verwendung) gebraucht werden. Damit ist auch deutlich, auf welchem der Aspekte der Ausdrucksgestalten das Hauptgewicht in der Analyse liegt: Es sind die Regeln und Normensysteme (die ‚Grammatiken‘ im weiten Sinne), die für die Formierung physischen Materials jeweils verantwortlich sind, und deren Anwendung letzteres befähigt, einen Sinn auszudrücken. Cassirers Perspektive auf die Normativität ist aber nicht auf die Einzelgrammatiken beschränkt. Er ist auf der Suche nach den (im Großen und Ganzen) invarianten Regeln der Ordnung von Mannigfaltigem in der menschlichen geistigen Tätigkeit insgesamt, auf der Suche nach dem, was er die ‚Grundfunktionen‘ des menschlichen Geistes nennt. Invarianten dieser Art sind für Cassirer etwa die Ordnungen von Raum und Zeit, die ausnahmslos alle geistigen Gehalte in ein systematisches Neben- und Nacheinander von Hier- und Jetzt-Positionen einordnet, und die quantitative Ordnung der Zahl, die alle Einzeldinge in Verhältnissen der numerischen Identität und Differenz gliedert. Die Kategorie der Substanz ordnet die Mannigfaltigkeit der Einzelerscheinungen in Verhältnissen der (relativen) Persistenz und der Akzidentialität, so dass es für uns in unserer Erfahrungswelt relativ konstante, stabile Einzeldinge mit ihren Eigenschaften gibt. Die Kategorie der Kausalität dagegen ordnet die Vielzahl der Einzeldinge in geregelte wechselseitige Bedingungsverhältnisse. Es ist kein Zufall, dass sich hinter diesen Ordnungsfunktionen die Kategorien der philosophischen Tradition wiedererkennen lassen. Tatsächlich ist die Philosophie der symbolischen Formen Kategorientheorie. Sie ist an den Regelsystemen von Sprachen, Mythen, Religionen, Naturwissenschaft, Kunst-, Recht- und Technikformen deshalb interessiert, weil sie in ihnen die kategorialen Ordnungsstrukturen des menschlichen Geistes in der Weise, wie sie sich in den Ausdrucksmedien des Geistes ausprägen, also sozusagen vor Ort in der sozialen Lebenswirklichkeit, aufspüren will. Cassirer liest die grammatischen Regeln der Ausdrucksgestalten als Manifestation von Kategorien. So wie der Geist an seinen Ausdruck in materiellen natürlichen Gestalten in Raum und Zeit gebunden ist, so ist der Geist mitsamt seinen Grundstrukturen überall konkret. Cassirers Idee ist, das Grundgerüst der Kategorien nicht abstrakt vorzugeben und dann nachträglich die Vielfalt des konkreten geistigen Lebens aus ihm abzuleiten, sondern umgekehrt mit letzterem zu beginnen und dann kraft einer normativen Analyse der ihm zugrunde liegenden Regelsysteme die Kategorien Schritt für Schritt zu gewinnen. Diese Idee begreift eine prinzipielle Historisierung des Gehaltes jeder einzelnen Kategorie ein; so modifiziert sich zum Beispiel der Gehalt der Kausalitätskategorie mit der Einführung der Quantenphysik signifikant, obwohl zugleich eine allgemeine Grundstruktur der Kausalität – die Aufeinanderfolge von Ereignissen und Zuständen raumzeitlicher Objekte nach einer Regel – erhalten bleibt. Die Entschei-

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dung für die Kategorientheorie erklärt auch, warum eine rekonstruktive Analyse des Faktums des objektiven Geistes für Cassirer zu den ‚Bedingungen der Möglichkeit‘ der Erfahrung und der Formung einer sozialen Lebenswirklichkeit führt. Kant hatte in der Kritik der reinen Vernunft behauptet, dass die Kategorien als „Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung“ zugleich die „Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung“ sind (A 158/B 197). Cassirer führt diesen transzendentalphilosophischen Ansatz fort, obwohl er ihn um die Idee der mannigfaltigen Ausprägungstypen der Kategorien in den Ausdrucksmedien des Geistes erweitert. Die Kategorien, die grundlegenden Ordnungsstrukturen des menschlichen Geistes, bleiben aber auch für Cassirer die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung wie der Gegenstände der Wirklichkeit, in denen wir leben. Der zentrale Gedanke ist, dass die Anwendung grammatischer Regeln als solche auch eine Anwendung von Kategorien ist, die sich in der Grammatik ausprägen. Indem jeder Akt der Ausdrucksgestaltung als kategorialer Akt verstanden werden kann, wird er als integrales Moment der Gesamtordnung des Geistes verstehbar, die sich gerade mittels der Kategorien, der Grundordnungen des Geistes, realisiert. Der Geist zersplittert sich nicht in den unabsehbar vielfältigen, konkreten Akten der sozialen Welt, sondern bleibt in ihnen stets ein und derselbe numerisch identische und systematisch strukturierte Gesamtzusammenhang. Diese Systematisierung des Geistes durch seine Kategorien nachzuvollziehen, wird damit – nach der Erfassung des Faktums des objektiven Geistes und seiner normativen Analyse – zum dritten Methodenschritt der Philosophie der symbolischen Formen. In einem Manuskript zum geplanten vierten Band schreibt Cassirer: „So drängen sich hier wieder all die verschiedenen Probleme […] in Einen Brennpunkt zusammen: in die Frage nach den Funktionen, die uns ‚Wirklichkeit‘ überhaupt vermitteln und erschließen – in die Frage nach ihrer systematischen Gesamtheit und ihrer systematischen Gliederung.“ (Cassirer 1995, S. 149 f.) Erst der hier von Cassirer explizierte finale Methodenschritt macht den konkreten Aufbau und Zusammenhang der veröffentlichten Bände der Philosophie der symbolischen Formen verständlich. Im Zentrum steht für Cassirer eine Systematisierung der normativen Grundlagen der vielfältigen Ausdrucksformen zum System der symbolischen Formen. Seine Leitfrage ist die, in welcher je spezifischen Weise sich die Kategorien in den verschiedenen symbolischen Formen so ausprägen, dass sie sich insgesamt zu einem einheitlichen, lückenlosen und integrativen Gesamtsystem ergänzen, in dem jede symbolische Form ihre Stelle hat. Dabei sind nach Cassirer insbesondere die möglichen Diskontinuitäten zwischen einzelnen symbolischen Formen, konkret diejenige zwischen Mythos und Wissenschaft, als dialektische und daher integrationsfähige Strukturen des Systems zu berücksichtigen (vgl. ECW 13, S. 86 ff.). Es handelt sich um ein funktionales System des menschlichen Geistes, weil es die einzelnen Ausdrucksformen anhand ihrer Leistungen am Aufbau der Gesamterfahrung beschreibt und einander zuordnet, und weil Cassirer die Ausprägungstypen der Kategorien insgesamt als Inbegriff individueller (‚Ich-‘) und kollektiver (‚Wir‘‐) Subjektivität deutet.

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Aus den normativen Grundlagen – den Kategorien und ihren Ausprägungen – versucht Cassirer schließlich auch den logischen Aufbau der sozialen Erfahrungswelt, in der wir Menschen leben, zu rekonstruieren. Damit werden abschließend die Schritte der Erfassung, der Analyse und der Systematisierung des Faktums durch einen Syntheseschritt komplettiert. Hier steht die Rekonstruktion der Grundzüge der für die verschiedenen symbolischen Formen jeweils charakteristischen Wirklichkeitssphären im Mittelpunkt: die Alltagswelt der natürlichen Sprachen, die Wirklichkeit der Religion, der methodisch regulierte Extensionsbereich der wissenschaftlichen Theorien, die Wirklichkeit des Rechts, der Kunst usw., und zwar in ihrer sich ergänzenden, integrativen Einheit zur einen Wirklichkeit. Cassirers integratives Modell lässt sich insbesondere in Abgrenzung zur extrem relativistischen Idee vieler inkommensurabler Welten, wie sie prominent etwa von Nelson Goodman vertreten worden ist, plausibel machen (vgl. Goodman 1978, S. 109 – 120). Die Philosophie der symbolischen Formen ist damit insgesamt eine reflexive Selbstvergewisserung des menschlichen Geistes: Wir kommen in ihr zu uns selbst, und zwar in einer Weise, die weder der alltägliche noch der einzelwissenschaftliche Geist erreichen kann, nämlich in der kritischen Erfassung, Reflexion und Analyse der Entwicklung des menschlichen Geistes und in der synthetischen Rekonstruktion der Einheit unseres geistigen Tuns. Diese reflexive Selbstvergewisserung ist nach Cassirer eine revisionsabhängige und unabschließbare Aufgabe.

2 Vier Modelle philosophischer Analyse Dieser kurze Überblick sollte deutlich machen, welch zentrale Rolle die Methode der rekonstruktiven Analyse in der Philosophie der symbolischen Formen spielt. Um ihre Eigenart besser zu verstehen, werde ich im Folgenden zunächst drei verschiedene historisch einschlägige Modelle der Analyse unterscheiden, um dann anschließend Cassirers Verständnis von Analyse als ein alternatives viertes Modell zu profilieren, das sich außerdem durch den Rückbezug auf die Marburger transzendentale Methode einerseits und durch den Vorblick auf Peter Strawsons Version der analytischen Philosophie als deskriptive Metaphysik andererseits besser einordnen lässt. Zunächst zu den drei wichtigsten historischen Modellen der Analyse.⁴ In einem ersten Sinne ist Analyse Regression zu vorausliegenden Prinzipien; zusammen mit der Synthese gehört sie zu den beiden wichtigsten Beweisverfahren der antiken Geometrie. In den überlieferten Manuskripten der Elemente des Euklid findet sich eine Ergänzung zu den ersten fünf Lehrsätzen des dreizehnten Buches, die die kanonische Bestimmung von Analyse und Synthese enthält:

 Diese Unterscheidung übernehme ich aus Michael Beaneys Untersuchungen zum Analysebegriff; vgl. Beaney (2007, S. 197– 200) und Beaney (2003/2014) (mit Materialsammlung und Bibliographie).

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Eine Analysis ist die Zugrundelegung des Gesuchten als eines Anerkannten um der Folgerungen willen, die zu einem als wahr Anerkannten führen. Eine Synthesis ist die Zugrundelegung des Anerkannten um der Folgerungen willen, die zu dem Ende oder dem Ergreifen des Gesuchten führen. (Euklid 1969 – 73, Bd. IV, S. 198)⁵

Die Synthesis ist ein deduktives Verfahren, das von bereits bewiesenen Prinzipen ausgeht und durch regelkonforme Ableitungen einen zu beweisenden Satz etabliert. Die Analysis geht dagegen von einer Problemsituation aus, in der ein bestimmter Satz (etwa der Satz des Pythagoras) bewiesen werden soll, und zergliedert die Gegebenheiten so lange, bis sie auf vorausliegende Prinzipien (etwa Sätze über Winkelgrößen an sich schneidenden Geraden) stößt, aus denen der zu beweisende Satz sich herleiten läßt. Der Weg vom Gegebenen zu den Prinzipien ist die resolutio oder regressio. Pappos von Alexandrien beschreibt sie folgendermaßen: In der Analyse unterstellen wir als Hypothese, dass das Gesuchte bereits gegeben ist, und untersuchen, woraus es hervorgegangen ist, und so bei jedem wiederum, aus welcher Prämisse dieses hervorgegangen ist, bis wir derart rückwärts schreitend zu einem gelangen, das bereits gewußt ist oder zu den Prinzipien zählt. (Pappos 1877, Bd. II, S. 634)⁶

In einem komplementären Schritt, der Synthese, wird der zu beweisende Satz dann tatsächlich aus den aufgefundenen Prinzipien hergeleitet. Derjenige Satz, der am Anfang bloß als gültig angenommen wurde, wird auf diese Weise deduktiv bewiesen. In einem zweiten Sinne ist Analyse Dekomposition in Bestandteile oder Momente. Als solche ist sie bereits ein Teilschritt der regressiven Analyse, die stets damit beginnt, eine gegebene Problemsituation zu erfassen und in die vorhandenen Bestandteile zu zergliedern. Die Dekomposition kann sich aber auch vom Teilschritt zur eigenständigen Methode emanzipieren. In diesem Sinne führen Chemiker oder Physiker eine Analyse von Stoffen in ihre Elemente oder ein Sprachwissenschaftler eine Analyse von Sätzen in Phoneme durch. In der Philosophie begegnet eine Analyse in diesem Sinne zumeist in der Form einer Analyse von Begriffen in ihre Teilbegriffe, zum Beispiel im Interesse einer adäquaten Definition. Die begriffliche Zergliederung wird bei Platon Dihairesis, das Zusammennehmen der Bestandteile zur Definition Synagoge oder Synthesis genannt; beide Teilschritte machen nach Platon die Dialektik aus. In der frühen Neuzeit wird die Dekomposition die dominierende Form der Analyse. Bei Descartes ist sie mit dem Versuch verbunden, die Philosophie durch Übernahme der mathematischen Methode der Geometrie zu einer wissenschaftlichen Disziplin zu machen. Leibniz hat eine Theorie der universalen begrifflichen Analyse und Synthese entworfen, in der sich die Methode der Dekomposition mit einem logischen Atomismus und Fundamentalismus verbindet: Die Zergliederung soll in letzter Konsequenz

 Vgl. zur Synthesis-Definition den Kommentar von Heath in Euklid (1956, Bd. III, S. 442).  Zur Übersetzung vgl. Heath in Euklid (1956, Bd. I, S. 138). Zum Hintergrund ausführlich Hintikka/ Remes (1974).

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zu einfachen, nicht wiederum in Teilbegriffe zerlegbaren Begriffen führen, und die atomaren Begriffe werden als fundamentale Begriffe verstanden, aus denen sich das Gesamtsystem unserer Begriffe Schritt für Schritt aufbauen lässt (vgl. Leibniz 1992). In einem dritten Sinne ist Analyse die Transformation oder Übersetzung einer oberflächlichen, mehrdeutigen oder missverständlichen Erscheinung der Sprache, zum Beispiel eines Satzes unserer alltäglichen Kommunikation, in eine eindeutige und präzisierte Version, die die logische Tiefenstruktur des ursprünglichen Satzes explizit macht und uns auf diese Weise vor philosophischen Missverständnissen bewahrt. Es ist das Hauptverfahren der klassischen analytischen Philosophie bei Frege und Russell. Es soll uns vor irreführenden philosophischen Annahmen bewahren, die aufgrund der bloßen Oberflächenstruktur von Sätzen nahegelegt wird, in denen zum Beispiel die Prädikate ‚ist wahr‘ oder ‚existiert‘ vorkommen.⁷ Freges Analyse von Existenzaussagen oder Russells Analyse definiter Kennzeichnungen sind berühmte Beispiele dafür. Philosophische Analyse in diesem Sinne ist eine korrigierende Selbstaufklärung über unseren Sprachgebrauch. Carnap hat ihr in seinem Aufsatz über die Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache (vgl. Carnap 1931/32) explizit jene metaphysikkritische Programmatik gegeben, die für die klassische analytische Philosophie kennzeichnend ist. Wie ist vor dem Hintergrund dieser drei Versionen von Analyse Cassirers Modell der rekonstruktiven Analyse der Gestalten des objektiven Geistes einzuschätzen? Es enthält zwar einzelne Momente dieser drei Versionen, stellt ihnen gegenüber aber dennoch ein eigenständiges viertes Modell dar. Ich werde Cassirers Methode zunächst in diesem Abschnitt gegen das zweite der genannten Modelle abgrenzen, im abschließenden vierten Abschnitt dann gegen die beiden anderen. Klarerweise zergliedert Cassirer die Ausdrucksgestalten in ihre Einzelmomente, um sie anschließend in einem Syntheseschritt aus ihren Grundlagen wieder zusammenzusetzen – er wendet also ein bestimmtes Verfahren der Dekomposition und der Rekonstruktion an. Tatsächlich sind es auch grundlegende und allgemeine Begriffe, die den Zielpunkt dieser Analyse bilden, nämlich die Kategorien. Dennoch ist Cassirers Modell grundlegend von einer Dekomposition begrifflicher Gehalte unterschieden, und zudem gewiss weder Atomismus noch Fundamentalismus. Cassirers Analyse ist eine logische Zergliederung von Ausdrucksgestalten in ihre tragenden vier Momente: in (i) ihren materiellen Körper, (ii) ihren geistigen Sinn, (iii) ihre spezifische Organisation, und in (iv) die dieser Organisation zugrunde liegenden Regeln der Grammatik. Das ist weder eine Analyse eines Gegenstandes in seine materiellen Bestandteile (die zuletzt genannt genannten drei Momente sind nicht materiell), noch handelt es sich um die Analyse eines Begriffes in seine Teilbegriffe. Das Verhältnis der vier Momente zur Gesamtgestalt ist gar nicht durchgängig das des Enthaltenseins; eine Gestalt enthält zwar ihren materiellen Körper und ihre spezifische Organisation, kaum aber ihren Sinn (sie drückt ihn vielmehr aus) und gewiss

 Vgl. zur Darstellung und Kritik dieser Version von Analyse Strawson (1956, S. 31 ff.).

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nicht die ihr zugrunde liegenden grammatischen und kategorialen Regeln – sie wird vielmehr als das Resultat der Anwendung dieser Regeln interpretiert. Zudem sind die genannten vier Momente gar keine Teile, sondern eben Momente der Gestalt: Während ein Teil real abgetrennt werden kann und auch isoliert existenzfähig ist, weil er mit anderen Teilen lediglich ein Aggregat bildet (wie ein Sandkorn in einem Sandhaufen), kann ein Moment nur in der methodischen Reflexion, nicht aber real abgetrennt werden, weil es mit anderen Momenten ein organisches Ganzes bildet, in dem sich jedes Einzelmoment durch seine Funktion im Ganzen definiert (wie eine Lunge in einem Säugetier). Eine Gestalt ist als ein geistiges Ganzes von Funktionen nach Cassirer stets mehr als die bloße Summe von Teilen. Die Gestaltpsychologie hatte hier vom Prinzip der „Übersummativität“ (Ehrenfels 1890, S. 18 ff.) gesprochen;⁸ Cassirer hat die Ergebnisse der Gestaltpsychologie ausführlich diskutiert (vgl. ECW 13, S. 138 – 158, S. 173 – 177, sowie S. 257– 268 und S. 273 – 279). Schließlich sind die genannten vier Momente auch nicht irgendwelche Momente von Ausdrucksgestalten, sondern die tragenden. Cassirers leitende Fragestellung bei der Analyse ist die nach den ‚Bedingungen der Möglichkeit‘ der Ausdrucksgestalten. Unter den gefundenen vier notwendigen Bedingungen setzt er den (bedingungslogischen) Primat auf das Moment der zugrunde liegenden Regeln. Cassirers Methode ist also primär eine Analyse der Geltungsdimension von Ausdrucksgestalten. Die Gehalte der aufgefundenen Regeln lassen sich in begrifflicher Form angeben. Die Kategorien sind die grundlegenden und notwendigen Begriffe unserer Erfahrung und Wirklichkeit, denn ohne ihre Anwendung lässt sich kein einziger Fall der Bildung und Verwendung von Ausdrucksgestalten verständlich machen. Dennoch sind die Kategorien nicht atomar (der begriffliche Gehalt der Kausalkategorie etwa setzt andere Begriffe voraus); und sie sind auch nicht fundamental in dem Sinne, dass sich alle anderen Begriffe als Zusammensetzung dieser Kategorien verstehen ließen. Die Kategorien sind die unverzichtbaren und fundamentalen Funktionen der Ordnung in und zwischen allen Ausdrucksgestalten; sie sind nicht die atomaren Bestandteile, sondern die Ordnungsregeln des Aufbaus des geistigen Ganzen; sie leiten alle geistige Organisation an und sind daher auch in allen Fällen von Ausdrucksgestaltung präsent, aber die Gestalten bauen sich weder ihrem materiellen Körper noch ihrem geistigen Sinn nach einfach nur aus den Kategorien auf. Man kann dieses alternative Modell der Analyse transzendentale Analyse nennen.⁹ Cassirers direkter historischer Bezugspunkt war die Marburger transzendentale Methode, die Hermann Cohen sowohl für die Kant-Interpretation als auch für seinen eigenen systematischen Ansatz eingeführt und als ‚analytische Methode‘ präzisiert

 Nach Köhler (1920, S. 37) ist Übersummativität (neben Transponierbarkeit) eines der beiden ‚Ehrenfels-Kriterien‘ für Gestalten in der Sinneswahrnehmung.  Cassirer selbst hat auch von ‚kritischer Analyse‘ gesprochen; vgl. die zuerst zitierte Passage in diesem Beitrag (ECW 12, S. 13).

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hatte.¹⁰ Sie geht im ersten Schritt von der Anerkennung des Faktums der Erfahrung aus, das Cohen mit der formalsprachlich präzisierten Erkenntnis identifiziert, die in den mathematischen Naturwissenschaften vorliegt. Von der Analyse dieses ‚Faktums der Wissenschaft‘¹¹ hat Cohen eine klare Beschreibung in der dritten Auflage von Kants Theorie der Erfahrung gegeben. Er bestimmt dort die „transzendentale Methode“, […] deren Prinzip und Norm der schlichte Gedanke ist: solche Elemente des Bewusstseins seien Elemente des erkennenden Bewusstseins, welche hinreichend und notwendig sind, das Faktum der Wissenschaft zu begründen und zu festigen. Die Bestimmtheit der apriorischen Elemente richtet sich also nach dieser ihrer Beziehung und Kompetenz für die durch sie zu begründenden Tatsachen der wissenschaftlichen Erkenntnis. (Cohen 1885, S. 77)

Cohen fragt zum Beispiel nach den Bedingungen der objektiven Gültigkeit von naturwissenschaftlichen Aussagen über empirische Kausalbeziehungen und nach den Bedingungen, unter denen sich mit empirischen Gesetzesaussagen etwas ausdrücken lässt, das entweder wahr oder falsch ist. Zu diesen Bedingungen gehören zum Beispiel die fundamentalen geistigen Ordnungen von Raum und Zeit, in denen die Gegenstände, die eine jeweilige Einzelwissenschaft beschreibt, lokalisiert, identifiziert und reidentifiziert werden können. Eine andere dieser Bedingungen ist die Kategorie der Kausalität, auf der das Kausalprinzip beruht: Damit ich eine Gesetzesaussage über eine empirische Kausalbeziehung mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit artikulieren kann, ist es eine notwendige Bedingung, dass ich unterstellen darf, dass die Gegenstände der Wirklichkeit überhaupt in Kausalbeziehungen zueinanderstehen, denn andernfalls wäre die Behauptung einer Gesetzesaussage gegenstandslos. Das Ziel der transzendentalen Analyse sind also wie später bei Cassirer die Kategorien (Raum, Zeit, Kausalität und so fort, wobei Raum und Zeit – im Unterschied zu Kant – zu den Kategorien gezählt werden) und die Grundsätze des reinen Verstandes, die sich aus den Kategorien ergeben. Sie werden analytisch erschlossen als notwendige Bedingungen der Möglichkeit naturwissenschaftlicher Gesetzesaussagen. Wir sehen die Möglichkeit objektiv gültiger empirischer Gesetzesaussagen ein, wenn wir die objektive Geltung des Kausalprinzips eingesehen haben. Cassirer hat mehrfach betont, dass seine Philosophie der symbolischen Formen Cohens Idee der transzendentalen Methode folgt, sie allerdings auch in entscheidender Weise erweitert. Während Cassirer die Philosophie der symbolischen Formen im ersten Band als Übergang von der Kritik der Vernunft zur „Kritik der Kultur“ (ECW 11, S. 9) eingeführt hatte, stellt er im zweiten Band über Mythos und Religion – geistigen Bereichen also, die signifikant von Mathematik und Naturwissenschaften unterschieden sind – klar, dass auch deren Kritik als transzendentale Analyse durch Das Verhältnis von Cassirers Philosophie zur transzendentalen Methode Cohens diskutieren ausführlich Ferrari (2003, Kap. 7 und 10) und Luft (2015, vor allem S. 48 – 70 und S. 232– 236).  Dazu ausführlich Richardson (2006, S. 221– 225), der Cohens Bezug auf das Faktum der Wissenschaft im Kontext von Carnap und Cassirer diskutiert; vgl. zum Hintergrund Friedman (2000, Kap. 6).

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geführt werden soll: „Denn der Ausdruck der Kritik schließt seit Kant die Voraussetzung in sich, daß ein Faktum vorliegt, an das die philosophische Frage sich wendet […], um sodann auf die ‚Bedingungen seiner Möglichkeit‘ untersucht zu werden“ (ECW 12, S. ix). Die Durchführung der Kritik der Kultur als transzendentaler Analyse ist also keineswegs auf die Wissenschaft beschränkt. In der Davoser Debatte mit Heidegger hat Cassirer an einer oft zitierten Stelle sowohl die Übernahme als auch die Erweiterung der transzendentalen Methode betont: Ich bleibe bei der Kantischen Fragestellung des Transzendentalen stehen, wie sie Cohen immer wieder formuliert hat. Er sah das Wesentliche der transzendentalen Methode darin, daß diese Methode anfängt mit einem Faktum; nur hatte er […] [dieses] wieder verengt, indem er als das eigentlich Fragwürdige immer wieder die mathematische Naturwissenschaft hinstellte. […] Aber ich frage nach der Möglichkeit des Faktums Sprache. Wie kommt es, wie ist das denkbar, daß wir uns von Dasein zu Dasein in diesem Medium verständigen können? Wie ist es möglich, daß wir ein Kunstwerk als ein objektiv Bestimmtes, als objektiv Seiendes, als dieses Sinnvolle in seiner Ganzheit nun überhaupt sehen können? (Cassirer/Heidegger 1929, S. 294 f.)¹²

Cassirer kritisiert Cohen wegen dessen „Verengung“ der transzendentalen Analyse auf die mathematische Naturwissenschaft.¹³ Diese Kritik ist zwar insofern nicht unproblematisch, als Cohen die transzendentale Methode selbst auch auf die Grundlagen der Moral, der ästhetischen Erfahrung und der Religion angewendet hatte; allerdings kann Cassirer zu Recht darauf hinweisen, dass Cohen auch in diesen Untersuchungen seine transzendentale Analyse stets mit der Erfassung eines Faktums einer Wissenschaft beginnt, weil nur die Analyse wissenschaftlicher Behauptungen und Gesetzesaussagen nach Cohen überhaupt auf apriorische Bedingungen der Möglichkeit führen kann. So wechselt Cohen vom Faktum der Mathematik und Naturwissenschaft zu den Fakta der Rechtswissenschaft, der Kunstwissenschaft und der Religionswissenschaft. Dagegen ist es eine entscheidende Entdeckung Cassirers, dass der Bereich der objektiv gültigen geistigen Gehalte nicht auf die Behauptungen und Gesetzesaussagen der Natur- und Geisteswissenschaften beschränkt ist. Es gibt eine Fülle von Ausdrucksgestalten, die nicht im engeren Sinne wissenschaftlich sind, aber dennoch mit dem Anspruch auf objektive Geltung in ihrem jeweiligen sozialen Kontext artikuliert und ausgeführt werden – die ganze Fülle derjenigen Ausdrucksgestalten, die in den nicht der Wissenschaft gewidmeten Teilen der Philosophie der symbolischen Formen diskutiert werden. Sie werden von Cassirer in der Diskussion mit Heidegger unter der Rubrik ‚Sprache‘ zusammengefasst, in dem weiten Sinne, in dem es auch eine Sprache der Kunst, des Mythos, der Religion und so fort gibt. Denselben Gedanken hatte Cassirer ein Jahr vor der Davoser Disputation in seinen Überlegungen Zur Theorie des Begriffs vorgetragen:

 Vgl. zur Deutung dieser Passage und ihres Hintergrundes ausführlich Ferrari (2002).  Das ist die traditionelle Kritik an Cohen; ähnlich auch Luft (2015, S. 70 – 74).

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Die gesamte Sphäre der ‚exakten‘ Begriffe bildet […] nur eine besondere Provinz innerhalb der Region der theoretischen Bedeutung – und auch […] das Gebiet des spezifisch theoretischen ‚Sinnes‘ macht nicht das Ganze des Sinns überhaupt aus, sondern muß, […] um in seiner Eigenart begriffen und gewürdigt zu werden, anderen Formen der ‚Sinngebung‘ gegenübergestellt, mit ihnen verglichen und an ihnen gemessen werden. (ECW 17, S. 84)

Auf diese Weise kritisiert und erweitert Cassirer die Fixierung der transzendentalen Analyse auf das Faktum der Wissenschaft; er bricht also in einem wesentlichen Punkt mit Cohen. Es ist aber von entscheidender Bedeutung zu sehen, dass Cassirer in ebendiesem Schritt zugleich die Methode der transzendentalen Analyse beibehält, die sich nun als viel flexibler und weiter erweist als von Cohen ursprünglich angenommen. Im entscheidenden Verständnis der Methode folgt Cassirer dem kantianischen Modell der transzendentalen Analyse.¹⁴

3 Analytische Philosophie als transzendentale Analyse Peter Strawson hat in Individuals von 1959 das Programm einer deskriptiven Metaphysik vorgestellt und als eine sprachanalytische Untersuchung des menschlichen Begriffsschemas durchgeführt. Die Methode dieser Untersuchung weist auffällige Parallelen zur transzendentalen Analyse bei Cohen und Cassirer auf. Der Grund dafür liegt im gemeinsam geteilten Bezugspunkt, in Kant. In The Bounds of Sense von 1966 argumentiert Strawson, dass die Methode der Kritik der reinen Vernunft nichts anderes als eine Analyse unseres Begriffsschemas auf seine notwendigen Bedingungen hin sei (vgl. Strawson 1966, S. 15 – 19), und dass umgekehrt das System der kategorialen Strukturen, das in Individuals Schritt für Schritt entwickelt wird, eine sprachanalytisch vertretbare Version von Kants ursprünglicher Kategorienlehre sei (vgl. Strawson 1966, S. 82– 85), die nach Strawson allerdings durch das mentalistische Modell von Kants transzendentalem Idealismus unnötig verdunkelt worden sei (vgl. Strawson 1966, S. 19 – 24). Schließlich hat Strawson in Analysis and Metaphysics von 1992 sein eigenes Verständnis von sprachanalytischer Philosophie als deskriptiv metaphysische Analyse unseres Begriffsschemas charakterisiert (vgl. Strawson 1992, S. 1– 28). Die Methode, die Strawson in Kants Kritik gefunden und in Individuals durchgeführt hat, soll seiner Auffassung nach die Methode der sprachanalytischen Philosophie überhaupt sein. Cassirers Methode der transzendentalen Analyse ist damit, auf dem Umweg über den gemeinsamen Bezugspunkt Kant, zur Methode einer klassischen Variante der sprachanalytischen Philosophie geworden. In diesem Sinne ist es ganz

 Es ist das Verdienst der Studie von Sebastian Luft (2015), die Kontinuität des transzendentalanalytischen Ansatzes zwischen Cohen, Natorp und Cassirer detailliert aufgezeigt zu haben, ohne dabei die Divergenzen zu leugnen.

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unzweideutig und unmetaphorisch der Fall, dass die Philosophie der symbolischen Formen analytische Philosophie ist. Strawson charakterisiert eine „deskriptive“ Metaphysik in Individuals dadurch, dass wir zunächst als eine Tatsache akzeptieren, dass wir dasjenige Begriffsschema haben, das wir haben, und dann dessen Strukturen auf ihre notwendigen Bedingungen hin analysieren; wir verzichten dagegen darauf, die Grundstrukturen eines alternativen (zum Beispiel besseren, neuen, empfehlenswerten, spekulativ interessanten) Begriffsschemas aufzustellen; das wäre das Programm einer „revisionären“ Metaphysik (Strawson 1959, S. 9). Die deskriptive Metaphysik unseres Begriffsschemas beginnt mit der Erfassung einiger unkontroverser Tatsachen über unser alltägliches Sprachverhalten: Es ist zum Beispiel der Fall, dass wir in sprachlichen Kommunikationssituationen Einzeldinge identifizieren können, und zwar sowohl dann, wenn wir die fraglichen Einzeldinge wahrnehmen, als auch dann, wenn sie sich außerhalb des beobachtbaren Bereichs befinden. Strawson fragt sodann, welche Bedingungen notwendigerweise erfüllt sein müssen, damit wir Einzeldinge in dieser einfachen Weise identifizieren können. Ich rekapituliere exemplarisch drei Einzelschritte in Strawsons Argumentation. Wenn mein Gesprächspartner von einem Gegenstand spricht, den wir gemeinsam beobachten können, etwa von der Spinne dort am Fenster, dann bin ich in der Lage, den mit dem Ausdruck ‚die Spinne dort am Fenster‘ gemeinten Gegenstand zu identifizieren, indem ich den Gesten und Blicken meines Gesprächspartners bei der Verwendung dieses Ausdrucks folge. Das funktioniert freilich nicht, wenn wir über einen Gegenstand sprechen, den wir nicht gemeinsam beobachten können, etwa über die Kant-Büste, die gestern im Büro nebenan gestanden hat. Dennoch gelingt es uns normalerweise, auch in diesen Fällen den gemeinten Gegenstand eindeutig zu identifizieren – das ist eine fraglos bestehende Tatsache unserer Kommunikation. Aber wie ist das möglich? Strawson kommt zu dem Schluss, dass die Existenz eines einheitlichen und singulären Raum-Zeit-Systems eine notwendige Bedingung der Möglichkeit nicht-demonstrativer Identifikation ist (vgl. Strawson 1959, S. 24– 30). Dieses System ist singulär, insofern es genau einmal existiert; und es ist einheitlich, insofern in ihm jede Raumzeit-Position durchgängig mit allen anderen Raumzeit-Positionen verbunden ist. In unseren Gesprächssituationen nehmen wir mit Hilfe zeitlicher und räumlicher Ausdrücke (‚gestern‘, ‚im Büro nebenan‘) auf Positionen in diesem Raum-ZeitSystem Bezug und lokalisieren und identifizieren die gemeinten Gegenstände so auf eindeutige Weise. Die Existenz des Raum-Zeit-Systems ist für Wesen mit unserem Begriffsschema – für Wesen, die so auf beobachtbare und nicht-beobachtbare Gegenstände Bezug nehmen, wie wir es tatsächlich tun – nicht kontingent, sondern notwendig: Certainly it does not seem to be a contingent matter about empirical reality that it forms a single spatio-temporal system. […] We are dealing here with something that conditions our whole way of talking and thinking, and it is for this reason that we feel it to be non-contingent. (Strawson 1959, S. 29)

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Im nächsten Schritt fragt Strawson dann nach den Bedingungen, die notwendig erfüllt sein müssen, damit wir ein singuläres Raum-Zeit-System haben können. Eine dieser Bedingungen ist die Möglichkeit der Reidentifizierung von Einzeldingen (vgl. Strawson 1959, S. 31 ff.). So kann ich zum Beispiel mein Exemplar der Kritik der reinen Vernunft, das ich heute Morgen an einer bestimmten Position unseres Raum-ZeitSystems aufgegriffen habe, als genau dasjenige Exemplar reidentifizieren, das ich bereits gestern Abend verwendet habe. Dass Einzeldinge reidentifizierbar sind, bedeutet, dass wir über hinreichende Kriterien ihrer numerischen Identität verfügen. Wäre es mir prinzipiell, in allen Fällen, unmöglich, Einzeldinge zu reidentifizieren, dann müsste ich jedes Einzelding bei jeder Begegnung in einem eigenen Raum-ZeitSystem lokalisieren, was aber zur Folge hätte, dass jede neue Begegnung mit meinem Exemplar der Kritik der reinen Vernunft in einem anderen Raum-Zeit-System stattfinden müsste – was der Anforderung an ein singuläres Raum-Zeit-System widerspräche und in der Konsequenz nicht-demonstrative Identifikation unmöglich machte. Reidentifizierung in wenigstens einigen Fällen ist also ebenfalls eine notwendige Bedingung für unser Begriffssystem. Aber dafür, dass ich Einzeldinge erfolgreich reidentifizieren kann, ist es selbst wiederum eine notwendige Bedingung, dass sie wenigstens in relativer Weise in der Zeit persistieren, also wenigstens für eine gewisse Zeitspanne fortdauernd existieren (vgl. Strawson 1959, S. 34 f.). In normalen Alltagsabläufen kann ich darauf vertrauen, dass mein Exemplar der Kritik der reinen Vernunft, das ich am Morgen an der gewohnten Stelle im Regal aufgreife, tatsächlich auch dasselbe ist, das ich am Abend zuvor verwendet habe. Die Persistenzstruktur entspricht Kants kategorialer Struktur des (relativ) Beharrlichen in der Zeit: der Substantialität (vgl. Strawson 1966, S. 83). Auch sie ist eine notwendige Bedingung der Erfahrung. Das zeigt nach Strawson eine einfache kontrafaktische Überlegung: Wenn die Einzeldinge nicht wenigstens in einigen Fällen persistierten, dann wäre es unmöglich, wenigstens in einigen Fällen Einzeldinge zu reidentifizieren; aber dann wäre es unmöglich, wie die vorige Überlegung gezeigt hatte, dass wir über ein singuläres Raum-Zeit-System verfügen; und dann wäre es unmöglich, wie die erste Überlegung gezeigt hatte, dass wir nicht-beobachtbare Gegenstände erfolgreich identifizieren können – was aber in Widerspruch zu den nicht sinnvollerweise bestreitbaren Tatsachen unserer alltäglichen Kommunikation steht. Diese drei (argumentativ eng verknüpften) Beispiele sollen Strawsons Methode verdeutlichen: Er erfasst zunächst (einfache und unkontroverse) Tatsachen unseres Begriffsschemas, und analysiert alltägliche Gesprächssituationen dann anhand der leitenden Frage nach den notwendigen Bedingungen der Möglichkeit dieser Tatsachen. Das ist exakt die Frage, mit der Cohen und Cassirer ebenfalls ihre transzendentale Analyse durchgeführt hatten. Auch ist das Ergebnis der Analyse dasselbe: Strawson behauptet wie Cohen und Cassirer, dass zum Beispiel Raum, Zeit, numerische Identität und Persistenz (Substantialität) notwendige Strukturen unserer Erfahrung sind. Würde es sie nicht geben, dann wäre es unmöglich, dass wir dasjenige Begriffsschema hätten, das wir tatsächlich haben. Strawson führt also auf eine mo-

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difizierte, sprachanalytische Weise eine Wiederholung der transzendentalen Kategorientheorie durch. Seine deskriptive Metaphysik ist transzendentale Analyse. Selbstverständlich gibt es auch Unterschiede. Cohen hatte sich nahezu exklusiv auf das Faktum der mathematischen Naturwissenschaften bezogen und dessen Bedingungen analysiert. Demgegenüber sind die Ausgangstatsachen bei Cassirer und Strawson deutlich weniger speziell. Strawson hat sich explizit dagegen ausgesprochen, lediglich spezialwissenschaftliche Diskurse zum Ausgangspunkt zu machen (vgl. Strawson 1992, S. 10 – 16) und Sprachanalyse allgemein auf dasjenige menschliche Begriffsschema bezogen, in dem wir uns alle in unseren alltäglichen Sprechsituationen befinden: „the philosopher labours to produce a systematic account of the general conceptual structure of which our daily practice shows us to have a tacit and unconscious mastery“ (Strawson 1992, S. 7). Cassirer geht demgegenüber einen entscheidenden Schritt weiter und untersucht neben Naturwissenschaften und Alltagssprache noch eine Reihe weiterer Gestaltungsbereiche des objektiven Geistes, die er symbolische Formen nennt. Eine derart reichhaltige Philosophie des objektiven Geistes ist in Strawsons transzendentaler Sprachanalyse nicht zu finden. Dennoch: Cohen, Cassirer und Strawson gelangen, jeder auf seine Weise, zu einem System von kategorialen Grundstrukturen wie Zeit, Raum, numerische Identität und Persistenz (Substantialität), die als notwendige Bedingungen der Möglichkeit unserer Erfahrung festgehalten werden. Das qualifiziert sie als Vertreter des Modells der transzendentalen Analyse. Obwohl Strawson keine umfassende Analyse der verschiedenen Bereiche des objektiven Geistes durchgeführt hat, kennt und unterstellt er in seiner deskriptiven Metaphysik die Idee einer Philosophie des objektiven Geistes. Er verwendet für sie den Ausdruck social naturalism. Der Hintergrund, vor dem er diesen Begriff explizit eingeführt hat, ist die Debatte über die antiskeptische Kraft von Individuals, die Barry Stroud 1968 in einem Aufsatz über ‚transzendentale Argumente‘ eröffnet hatte: Nach Stroud kann Strawson auf der Grundlage der Analyse unseres Begriffsschemas bestenfalls zeigen, dass wir glauben müssen, dass (zum Beispiel) die Einzeldinge persistieren, nicht aber, dass die Einzeldinge in Wirklichkeit (unabhängig von unserem Begriffsschema) persistieren; eine vernünftige Skepsis in Bezug auf das Erfülltsein der von Strawson behaupteten Bedingungen kann nach Stroud also nicht ausgeräumt werden (vgl. Stroud 1968, S. 245 – 248). Strawson hat darauf mit seinen Vorlesungen über Skepticism and Naturalism (1985) in zwei Schritten reagiert; der erste Schritt ist ein Systemholismus der analysierten notwendigen Bedingungen unseres Begriffsschemas, der zweite Schritt dann der sogenannte soziale Naturalismus. Die deskriptive Metaphysik formuliert Argumente für das Erfülltsein bestimmter notwendiger Bedingungen für die Grundstrukturen unseres Begriffsschemas. Sowohl diese Argumente als auch diese notwendigen Bedingungen stehen, wie Strawson präzisiert, in einem systematischen Gesamtzusammenhang (vgl. Strawson 1985, S. 21 ff.). Wer als Skeptiker das Erfülltsein einer einzigen Bedingung (etwa der Persistenz der Einzeldinge) anzweifelt, muss (wie eben gesehen) auch das Erfülltsein anderer Bedingungen (die Möglichkeit der Reidentifikation, die Existenz eines sin-

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gulären Raum-Zeit-Systems, schließlich die Möglichkeit der Identifizierung nicht-beobachtbarer Einzeldinge) anzweifeln; die skeptische Infragestellung einer einzigen Bedingung läuft vor dem Hintergrund dieser systematischen Verknüpfung von Bedingungen auf die skeptische Infragestellung unseres gesamten Begriffsschemas hinaus. Das aber, so Strawson, ist unmöglich, denn unser Begriffsschema ist eingebettet in die genuin sozialen Hintergrundstrukturen unserer gemeinsam geteilten Wirklichkeit: Es gehört zu unserer kollektiven sozialen Natur, dasjenige Begriffsschema zu haben, das wir haben. Es steht daher in einem gewissen Sinne auch nicht zur unserer individuellen freien Verfügung: Wir können aus ihm nicht ausbrechen, selbst wenn wir es wollten, weil wir dann unsere gesamte Lebensform ändern müssten.Wer die Existenz unseres gesamten Begriffsschemas anzweifelt, begeht außerdem einen performativen Widerspruch, denn er bezweifelt, dass wir das Begriffsschema haben, das wir tatsächlich haben, und muss es doch zu diesem Zweck gerade benutzen, um seinen Zweifel im sozialen Kontext artikulieren zu können. Strawson charakterisiert diese Auffassung als „sozialen Naturalismus“ (Strawson 1985: 24). Im Hintergrund (vgl. Strawson 1985, S. 14– 21) steht Wittgensteins Idee, dass jeder menschliche Sprachgebrauch stets ein Element einer jeweiligen sozialen Lebensform ist, die als das (wie Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen sagt) „Hinzunehmende, Gegebene“ (Wittgenstein 1953, S. 572) und in diesem Sinne Natürliche anzuerkennen und der gegenüber jeder vernünftige Zweifel performativ erfolglos ist. Ob Strawsons antiskeptische Strategie tatsächlich erfolgreich ist, lasse ich offen, weil es hier nicht mein Thema ist. Entscheidend ist, dass Strawson mit dem sozialen Naturalismus eine wesentliche Annahme der Philosophie des objektiven Geistes teilt: Das Geistige ist ‚objektiv‘ in dem Sinne, dass es im normativ strukturierten sozialen Raum unserer jeweiligen Lebenswirklichkeit offen zutage und in deren Gestalten gegenständlich manifestiert vorliegt. Das Geistige ist nicht im Kopf, nicht ins private Gefängnis eines jeweiligen Geistes (einer mens oder eines mind) eingesperrt, sondern hat von vorneherein – anti-mentalistisch konzipiert – seinen Platz in unserer gemeinsam geteilten Wirklichkeit. Damit liegen auch die Gegenstände nicht in einem unerreichbaren Jenseits unserer vermeintlich rein mentalen Erlebnissphäre, sondern sind selbst integrale Momente unserer symbolischen Formen und unseres Begriffsschemas. Die analytische Philosophie hat also nicht erst mit McDowell und seinem Rückbezug auf Aristoteles, sondern bereits mit Strawson und unter Rückgriff auf die Spätphilosophie Wittgensteins eine Theorie des „externalisierten“ menschlichen Geistes entwickelt, die in systematischer Nachbarschaft zur Philosophie des objektiven Geistes von Herder und Humboldt über Hegel zu Cassirer steht.

4 Wozu transzendentale Analyse? Nach wie vor ungeklärt ist freilich, wozu eine transzendentale Analyse als Methode überhaupt gut sein soll – wofür diese Methode eine Methode ist. Was bezweckt eine philosophische Theorie, die die Wissenschaft, unser Begriffsschema, die Sprache oder

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die Gestalten des objektiven Geistes insgesamt auf deren notwendige Bedingungen der Möglichkeit hin analysiert und diese Bedingungen schließlich in den Kategorien findet? Eine klassische Antwort auf diese Frage liegt darin, die transzendentale Analyse rechtfertigungstheoretisch zu interpretieren: als eine Methode zur Begründung der Geltung der in Sprache, Wissenschaft und allen weiteren Gestalten des objektiven Geistes manifestierten Erfahrung durch die apriorischen Prinzipien dieser Erfahrung (die Kategorien) und der aus ihnen abgeleiteten philosophischen Grundsätze (etwa das Kausalprinzip). Versteht man die transzendentale Analyse auf diese Weise, dann gleicht man sie dem Modell der Analyse als Regression an – dem Modell des Zurückgehens in vorausliegende Prinzipien, aus denen sich ein gegebenes Problem ableiten und begründen läßt. Cohen hatte zweifellos in zahlreichen Passagen seiner Arbeiten zur transzendentalen Methode eine derartige Lesart nahegelegt, etwa an der zuvor bereits zitierten Stelle, an der er sagt, dass das Ziel der transzendentalen Analyse diejenigen „apriorischen Elemente“ „des erkennenden Bewußtseins“ seien, „welche hinreichend und notwendig sind, das Faktum der Wissenschaft zu begründen und zu festigen“ (Cohen 1885, S. 77). Versteht man ‚begründen‘ hier im Sinne von ‚rechtfertigen‘, dann ergibt sich folgendes Bild: Cohen beginnt mit der Erfassung des Faktums der Erkenntnis, etwa mit der Beschreibung von Kausalaussagen in den Naturwissenschaften; er analysiert sodann dieses Faktum anhand der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kausalaussagen; er gelangt zur Kategorie der Kausalität und dem korrespondieren Kausalprinzip; und als Resultat dieser Untersuchung wird festgehalten, dass das Kausalprinzip die (Möglichkeit von) Kausalaussagen in der empirischen Wissenschaft rechtfertigt. Diese Konstruktion ist aber problematisch. Die Schwächen der regressiven Analyse als Beweisverfahren sind seit ihrer Herkunft aus der antiken Geometrie bekannt (vgl. Baum 1986, S. 179 f.; Stolzenberg 1995, S. 32 ff.). Die durch regressive Analyse aufgefundenen Prinzipien können erstens falsch sein. Die regressive Analyse kann auf Prinzipien stoßen, aus denen das Gesuchte tatsächlich folgt, ohne dass die Prinzipien selbst wahr sein müssten. Denn aus falschen Prämissen folgt trivialerweise Beliebiges. Die durch die regressive Analyse aufgefundenen Prinzipien bedürfen daher zweitens eines separaten, unabhängigen Beweises. Die regressive Analyse ist alleine also gar nicht beweisfähig, sondern bestenfalls ein Hilfsmittel für Beweise. Die regressive Analyse kann drittens nicht ausschließen, dass es zu den aufgefundenen Prinzipien auch alternative Prinzipien gibt, aus denen sich das Faktum ebenfalls beweisen lässt. Denn dazu müsste gezeigt werden, dass es einzig diese und keine anderen Prinzipien sind, aus denen sich das Faktum erklären lässt. Die regressive Analysis steht schließlich viertens in der Gefahr, zirkulär zu sein: dann nämlich, wenn sie die Geltung der aufgefundenen Prinzipien genau dadurch begründet, dass sich aus ihnen das zu beweisende Faktum ableiten lässt. In diesem Fall wird dasjenige, was allererst zu beweisen wäre, bereits als gültig angenommen. Der Zirkelvorwurf ist der klassische Einwand gegen Cohens analytische Methode; er geht auf Friedrich Albert Lange zurück (vgl. Lange 1974, S. 577.) Dieselben Probleme würden analog nicht nur für Cohens

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Analyse des Faktums der Wissenschaft, sondern auch für Cassirers Analyse der Gestalten des objektiven Geistes und für Strawsons Analyse unseres Begriffsschemas gelten: Wäre die transzendentale Analyse tatsächlich regressive Analyse im rechtfertigungstheoretischen Sinne, dann stünden die Chancen für ihren Erfolg denkbar schlecht. Die Frage ist allerdings, ob man die transzendentale Analyse überhaupt in dieser Weise verstehen sollte. Die regressive Analyse stammt aus der Mathematik; für eine philosophische Theorie wäre sie nur dann relevant, wenn sich diese Theorie die mathematische Methode ausdrücklich zum wissenschaftlichen Vorbild machte (wie es etwa bei Descartes und Spinoza der Fall war). Die geometrische Methode folgt außerdem dem Modell des deduktiven Beweises und, allgemeiner, dem Modell des axiomatisch-deduktiven Systems. Aber weder das deduktive Beweismodell noch die Idee eines axiomatisch-deduktiven Systems lassen sich in den Arbeiten Cohens, Cassirers und Strawsons nachweisen. Das ist wenigstens ein Indiz dafür, dass es noch eine alternative Deutung des Zwecks der transzendentalen Analyse geben muss. Und das trifft auch zu. An die Stelle der deduktiven Rechtfertigung treten in der transzendentalen Analyse die Explikation der Grundlagen der Erfahrung und die Systematisierung dieser Grundlagen. Das läßt sich besonders klar an Strawsons Modell der deskriptiven Metaphysik zeigen. Die transzendentale Analyse ist eine Explikation dessen, was wir in der Alltagssprache bereits beherrschen, ohne dass wir dazu einer Begründung durch die Philosophie bedürften. So wie ein einheimischer Sprecher des Spanischen nicht einer Grammatik des Spanischen bedarf, um Spanisch sprechen zu können, so bedürfen wir als Akteure unserer sozialen Lebenswelten nicht der transzendentalen Analyse, um in ihnen handeln zu können (vgl. Strawson 1992, S. 5 – 9). Allerdings fehlt der impliziten Beherrschung der Regeln der Sprache (und des objektiven Geistes allgemein) ein ausdrückliches Bewusstsein über die Existenz und den Gehalt der zugrunde liegenden Regeln – und damit ein zentraler Aspekt des reflexiven Bewusstseins unserer selbst und unserer intellektuellen Fähigkeiten (inklusive ihrer Grenzen und Gefahren): „we […] add to our practical mastery something like a theoretical understanding of what we are doing when we exercise that mastery.“ (Strawson 1992, S. 9) Eine solche selbstreflexive Aufklärung aber ist für Strawson eine zentrale Aufgabe der Philosophie als selbständiger Disziplin: „to arrive at a clear understanding of the most general features of our conceptual structure, as it exists in fact […] is a sufficient task for any philosopher, however ambitious.“ (Strawson 1992, S. 27) Aber nicht nur dass es grundlegende normative Strukturen unserer Erfahrung, also die Kategorien, gibt, ist Gegenstand der deskriptiven Metaphysik, sondern darüber hinaus auch die Art und Weise, wie sie zusammenhängen: wie sie ineinandergreifen und erst zusammen genommen unsere alltägliche Erfahrung ermöglichen: „one of the principal philosophical drives is precisely to relate and connect our various intellectual and human concerns in some intelligible way.“ (Strawson 1992, S. 12) Im Fall der oben diskutierten drei Beispiele aus Individuals hatten wir gesehen, dass Persistenz eine notwendige Bedingung für Reidentifikation, diese eine notwendige

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Bedingung für die Existenz eines singulären Raum-Zeit-Systems, und dieses eine notwenige Bedingung für nicht-demonstrative Identifikation ist. Damit ist nach Strawson eine logische Hierarchie zwischen den Kategorien von Zeit, Raum, numerischer Identität und Persistenz (Substantialität) etabliert – und insofern die Systematisierung der Kategorien begonnen. Nicht nur die Abfolge dieser Kategorien gleicht der Disposition innerhalb der einzelnen Bände der Philosophie der symbolischen Formen (vgl. etwa PSF 1, Kap. 3; PSF 2, Teile II und III), auch Strawsons Projekt einer vergleichenden deskriptiven Metaphysik alltagssprachlicher und einzelwissenschaftlicher Anwendungen der Kategorien geht einen entscheidenden Schritt in die Richtung einer vergleichenden Analyse und integrierenden Systematisierung der symbolischen Formen: „it is precisely in giving such explanations and in bringing out the differences and resemblances between them that one can bring out also the relations which exist between the different departments of our intellectual and human life.“ (Strawson 1992, S. 13) Strawson gibt auch eine klare Antwort auf den Zirkularitätsvorwurf gegenüber der deskriptiven Metaphysik. Der Vorwurf ist nur haltbar, wenn man die Methode der Analyse im Sinne der (rechtfertigungstheoretischen) regressiven Analyse versteht. Wenn man dagegen das Ziel der Analyse in der Explikation und Systematisierung der Grundstrukturen unserer Erfahrung sieht, dann ist der Vorwurf gegenstandslos: let us consider a quite different model of philosophical analysis […], the model of an elaborate network, a system, of connected items, concepts, such that the function of each item, each concept, could, from the philosophical point of view, be properly understood only by grasping its connections with the others, its place in the system […]; then there will be no reason to be worried if, in the process of tracing connections from one point to another of the network, we find ourselves returning to, or passing through, our starting-point. We might find, for example, that we could not fully elucidate the concept of knowledge without reference to the concept of sense perception; and that we could not explain all the features of the concept of sense perception without reference to the concept of knowledge. But this might be an unworrying and unsurprising fact. So the general charge of circularity would lose its sting, for we might have moved in a wide, revealing, and illuminating circle. (Strawson 1992, S. 19 f.)

Die Zirkel der deskriptiven Metaphysik und der transzendentalen Analyse sind produktive Zirkel. Sie zeigen auf, wie die fundamentalen Elemente im menschlichen Begriffsschema zusammenhängen, sie beleuchten die logische Bedingungshierarchie zwischen diesen Elementen, und sie klären uns über Struktur und Reichweite unseres Begriffsschemas auf. Sie bedürfen keiner darüber hinaus gehenden Rechtfertigung, weil sie in unserem geistigen, sprachlichen und im weitesten Sinne symbolischen Umgang mit uns, den anderen und der Wirklichkeit immer schon in Geltung sind. Wir könnten nicht einmal den Gedanken artikulieren, dass sie möglicherweise ungerechtfertigt und daher nicht objektiv gültig sind, weil wir in diesem Gedankengang von ebenden Bedingungen Gebrauch machen müssten, deren Geltung wir anzweifeln. Das Programm einer letzten Begründung von Prinzipien im absoluten Nullpunkt der Geltung mag ein philosophisch kohärentes und interessantes Programm sein, es ist aber jedenfalls weder das Programm der Philosophie der Formen noch der deskrip-

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tiven Metaphysik. Die philosophische Analyse ist bei Cassirer und Strawson nicht Letztbegründung im rechtfertigungstheoretischen Sinne, sondern reflexive Vergewisserung der Grundlagen des menschlichen Geistes in ihrem systematischen Zusammenhang. Schließlich setzt sich Strawsons deskriptive Metaphysik auch noch von der dritten der oben diskutierten Analyseversionen, vom Modell der Analyse als metaphysikkritischer Transformation und Übersetzung, ab. Für Strawson ist die deskriptive Metaphysik diejenige Form von Philosophie, die die sprachanalytische Philosophie betreiben sollte. Damit setzt er sich von der metaphysikkritischen transformierenden Vorstellung von Analyse ab, die für die frühe analytische Philosophie wegweisend war. Die Aufklärung über die logische Tiefenstruktur hinter den Oberflächenerscheinungen der Sprache sollte uns insbesondere dazu führen, wie Carnap pointiert formuliert hatte, die Metaphysik zu überwinden. Weite Bereiche von Strawsons Werk, etwa der zweite Teil von Individuals, schließen mit der Analyse der Subjekt-PrädikatStruktur elementarer Aussagesätze an das Aufklärungsprogramm der klassischen Sprachanalyse an, auch wenn die Tiefenstruktur, die Strawson im Auge hat, die apriorische, kategoriale Grundstruktur der menschlichen Erfahrung ist. Aber der Sinn dieser Form von Sprachanalyse ist nicht mehr pauschal metaphysikkritisch, sondern opponiert nur gegen diejenigen Versionen der ‚revisionären‘ Metaphysik, die sich nicht darauf verpflichten, unsere faktische Erfahrung zu analysieren, sondern philosophische Fiktionen einer alternativen Erfahrung entwickeln. Bei Strawson steht die logische Analyse der Sprache zweifelsfrei im Dienste einer philosophischen Metaphysik, der deskriptiven Metaphysik unseres Begriffsschemas. Sein Ziel ist eine sprachanalytisch gerechtfertigte Basisontologie unserer Wirklichkeit, nach der die Gegenstände der Wirklichkeit stabil persistierende, numerisch identische materielle Gegenstände in Raum und Zeit sind. Die sprachanalytische Überwindung jeder Form von Metaphysik ist damit selbst explizit überwunden (falls sie es nicht implizit bereits bei Carnap war). Die signifikante methodische Nähe der Analysemodelle bei Cassirer und Strawson sollte, bei allen Differenzen in der konkreten Ausführung, deutlich geworden sein. Dabei wirft der zuletzt diskutierte Punkt einer Überwindung der Überwindung der Metaphysik schließlich auch ein Licht zurück auf das metaphysische Programm Cassirers. Für beide, für Strawson wie für Cassirer, sind die Grundstrukturen unseres Begriffsschemas (und unserer symbolischen Formen insgesamt) zugleich die Grundstrukturen der Wirklichkeit, in der wir leben. Damit sind beide, die deskriptive Metaphysik und die Philosophie der symbolischen Formen, Versionen einer transzendentalen Ontologie der symbolisch und sprachlich strukturierten sozialen Welt und ihrer Wirklichkeit.

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Der leibliche Grund der Symbolfunktion Über Spannungsbögen und „dynamische Bewegungseinheiten“ als Vermittlungsformen von Geist und Leben Abstract: The Bodily Basis of the Symbol Function. On Arcs of Tension and „Dynamic Unities of Movement“ as Mediating Forms of Mind and Life. This paper tries to locate points of departure within the philosophy of Ernst Cassirer that allow for an integration of bodily intentionality into the concept of consciousness and therefore also for a deeper understanding of the symbol function. Two sources of bodily mediated intentionality will be discussed: 1. Referring to Maurice Merleau-Ponty, the body schema will be introduced as a pre-reflective entity. The body schema facilitates orientation in space and the concentration of perceptions of expressions to Lebenszentren („centers of life“), for which a discrimination in space is necessary. 2. The „feeling of being alive“ is the second source of bodily mediated intentionality, which psychiatrist and philosopher Thomas Fuchs identifies as the turning point from life to experience (Leben to Erleben), from vital to psychological processes. Both sources can be conceived of as psychosomatic forms of consciousness through which it is possible to understand the perception of vitality of others as well as of oneself as forms of a continuous integrative consciousness. Both forms of bodily mediated consciousness open up possibilities to conceptualize transitional forms of consciousness, in which subject and object are not contrasted but interact in a mimetic way and appear with crescent levels of intensity from latency. Keywords: body schema, symbol function, movement, feeling, intentionality, perception of expression

Einleitung Spannung und Spannungsbögen gehören zu den wesentlichen Kennzeichen des Lebens. Denn Leben besteht in der permanenten Überwindung von Spannungen, durch die ein Organismus sich auf seine Umgebung hin überschreitet. „Life constitutes itself“, so der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs, „in delimitation from the constant processes of decay, the entropy of physical nature. It builds up an inner-outer difference that remains precarious, however, since it depends on the metabolic exchange with the environment.“ (Fuchs 2011, S. 157) Aber auch das geistige Leben ist durch Spannung gekennzeichnet. „Jeder noch so ,elementare‘ sinnliche Inhalt“, schreibt Ernst Cassirer, „ist schon von einer […] Spannung erfüllt“ (ECW 13, S. 143). Die primäre Differenz, die im Lebendigen durch Widerstand gegen die Entropie und den Selbsterhalt durch Interaktion mit der Umwelt entsteht, wiederholt sich im bewussten Leben: https://doi.org/10.1515/9783110549478-007

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So weit wir in den Gestaltungen des sinnlich-geistigen Bewußtseins auch hinabgehen mögen – niemals treffen wir dieses Bewußtsein als schlechthin Gegensatzloses, als ein absolut Einfaches, vor allen Scheidungen und Unterscheidungen, an. Immer erscheint es als ein Lebendiges, das sich in sich selber trennt. (ECW 13, S. 105)

„Spannungen“, fährt Cassirer wenig später fort, gehören „als solche schon dem einfachen Bestand des Bewußtseins“ an (ECW 13, S. 105). „Ohne diese Form des Strebens“, formuliert der Philosoph in Anlehnung an Leibniz, ist uns auch das, was wir als ‚Vorstellung‘, als aktuale Vergegenwärtigung eines Inhalts zu denken pflegen, niemals gegeben […] Das Bewußtsein ist nur dadurch, daß es nicht in sich beharrt, sondern ständig über sich selbst, über die gegebene Gegenwart, zum Nicht-Gegebenen hinausgreift. (ECW 13, S. 204 f.)

In diesem ‚Über-sich-Hinausgreifen‘, das nicht nur zeitlich zu verstehen ist, sondern Repräsentationsverhältnisse im Allgemeinen bezeichnet, entsteht der Spannungsbogen, den Cassirer ‚symbolische‘ Prägnanz nennt. Das Erlöschen der Spannung bedeutet den Tod sowohl des geistigen wie des biologischen Lebens, und die Spannungsgestaltung ist eine der Grundaufgaben des menschlichen Lebens. Dazu gehört ein an die Bewältigung der sich stellenden Aufgaben als auch an das eigene Wohlbefinden angepasster Rhythmus von Anspannung und Entspannung, dessen Störungen als Überspanntsein oder Abgespanntsein das Gefühl der Lebendigkeit unangenehm modulieren, genauso wie das Aushalten der durch Affekt- und Impulskontrolle entstehenden Spannungen, welches ein ethisches Leben erst ermöglicht. Psychische Störungen liegen, so der Psychiater Norbert Andersch, „im Einbruch der mit dem Milieu kreierten symbolbasierten Spannungsräume“ (Andersch 2014, S. 11) begründet, und eine der wichtigsten sozialen Funktionen, welche die symbolischen Formen über ihre Funktion für den Aufbau von Wissensformen hinaus erfüllen, ist die Spannungsgestaltung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft: Ihre Verschränkung von Intentionalität und sozialem Resonanzraum generiert zeitweilig stabile Spannungsfelder; eine matrixhafte Parallelität von Gestaltung, welche erst die Tanzfläche für Einzigartigkeit, Perspektive, Möglichkeitsgestaltung und Zukunft bieten – das sichernde Netz gegen die Fragilität und Vergeblichkeit vieler Alltagssituationen – das Verzögerungen, Fragmentierungen und Nichtgelingen akzeptabel macht (Andersch 2014, S. 28).

Die Vektorialität des Lebens ist in der Ausrichtung auf das Erreichen von Zielen und die Befriedigung von Bedürfnissen jeglicher Art, auf das Verstehen von Unverstandenem, auf den Ausdruck von Erlebtem als Lebendigkeit spürbar. Sowohl der Conatus des Lebendigen, zu dem Fuchs Trieb, Instinkt, Bedürfnis und Affekt zusammenfasst (vgl. Fuchs 2011, S. 152), als auch der „dumpfe[…] und unbewußte[…] Trieb zur Personifikation“ (ECW 13, S. 85), der, Cassirer zufolge, eine personal gegliederte Welt entstehen lässt, und der „Namenshunger“, d. h. der „ursprüngliche[…] Drang nach

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gegenständlicher Anschauung“ (ECW 13, S. 135) sind Urphänomene, die kausal nicht erklärbar sind. Ist es dennoch möglich, in den Phänomenen der ‚Spannung‘ und der ‚Vektorialität‘, die sowohl das geistige als auch das biologische Leben kennzeichnen, nicht nur eine faszinierende Parallelität, sondern ein Bindeglied von Geist und Leben zu entdecken? Das Ziel einer solchen Verbindung bestünde nicht darin, das eine auf das andere zurückzuführen, denn die Spannung, die beispielsweise zwischen einem Bedürfnis nach Nahrung und seiner Befriedigung entsteht, ist etwas grundsätzlich von dem ‚Trieb zur Personifikation‘ und vom ‚Namenshunger‘ Verschiedenes, die beide einem Bedürfnis nach Orientierung in der Welt und Ausdruck des Erlebten entstammen. Dennoch gibt es, so die in diesem Text vertretene These, im Cassirer’schen Denken Ansatzpunkte, von denen aus sich die leibliche und geistige Intentionalität vermitteln lassen. Diese aufzuzeigen, mit Cassirer der „tieferen Erkenntnis der Symbolfunktion“ (ECW 13, S. 253) nachzuforschen und ein Stück weit über ihn hinauszudenken, ist Anliegen dieses Textes. Cassirer konzipiert die Spannungsbögen zwischen jeder einzelnen bewussten Wahrnehmung und der symbolischen Form, auf die sie bezogen ist, horizontal. Es sind Einheiten geistiger Bewegung, „Strömungsmittelpunkte“ (ECW 13, S. 255), welche die Dynamik des Bewusstseinsstroms erzeugen. Der Begriff der „dynamischen Bewegungseinheiten“ (ECW 13, S. 255) soll hier jedoch in einem doppelten Sinne verwendet werden. Über die dynamische Spannung hinaus, durch die jede einzelne bewusste Wahrnehmung auf ein Sinnganzes hin orientiert ist, verweist er (der Verwendung Cassirers leicht entfremdet) auf „Bewegungsgestalten“ (ECW 13, S. 90), an deren Beispiel Cassirer die reine Ausdruckswahrnehmung erläutert. Diese ‚Bewegungsgestalten‘ stellen das Bindeglied dar, das eine vertikale Spannung der Wahrnehmungen ermöglicht, sie nicht nur in horizontaler Spannung zu geistigen Großformationen integriert, sondern durch welche sich ein leiblich vermitteltes Selbstbewusstsein formiert. Zwei Quellen der leiblich vermittelten Subjektivität sollen in diesem Text betrachtet werden: Erstens wird unter Bezug auf Maurice Merleau-Ponty die präreflexive Einheit des Körperschemas eingeführt. Das Körperschema ermöglicht die Orientierung im Raum und die Konzentration von Ausdruckswahrnehmungen auf „Lebenszentren“ (ECW 13, S. 100), für die eine räumliche Zuschreibung und Abgrenzung nötig ist. Es wird als Kandidat für den Hintergrund vorgeschlagen, vor dem die Raumformen der physiognomischen Ausdruckswahrnehmungen zugleich als „seelisches Leben“ (ECW 13, S. 228) wahrgenommen werden können. Die zweite Quelle der leiblich vermittelten Subjektivität stellt das „Gefühl der Lebendigkeit“ (Fuchs 2011, S. 149) dar, in dem Thomas Fuchs den Umschlagpunkt von Leben und Erleben, von vitalen und psychischen Prozessen erkennt. Das Gefühl der Lebendigkeit integriert den Zustand des gesamten Organismus in seinem kontinuierlichen Wandel. Es wird, ließe sich in einer Engführung von Cassirer und Fuchs formulieren, in „Bewegungsqualitäten und Raumformen“ (ECW 13, S. 90) symbolisiert. Als Beispiele führt Fuchs „ease or unease, relaxation or tension, restriction or expansion, freshness and vigour or tiredness and

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exhaustion“ (Fuchs 2011, S. 153) sowie „freedom, wideness and openness, or feelings of restriction or suffocation, feelings of vulnerability or protection, uncanniness or certainty, familiarity or estrangement, reality or unreality, and feeling alive or feeling dead“ (Fuchs 2011, S. 154) an. Sie erfassen den Organismus im Verhältnis zu seinem gefühlten Möglichkeitsraum (vgl. Fuchs 2011, S. 153). Cassirer bezeichnet das Verhältnis von Leib und Seele als das „Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation“ (ECW 13, S. 113). Im Ausdrucksphänomen ist „Seelisches auf Leibliches, Leibliches auf Seelisches bezogen“ (ECW 13, S. 116). Aber wie genau haben wir uns das Verhältnis beider zueinander im Ausdrucksphänomen vorzustellen? Anstelle eines Verweisungszusammenhangs, bei dem die singuläre Wahrnehmung als Repräsentation der symbolischen Form, in der sie steht, zu denken ist, verweist die Ausdruckswahrnehmung nicht, sondern sie verkörpert. Da Ausdruckswahrnehmung jedoch auch als prägnant gedacht werden muss, soll sie als bewusste Wahrnehmung gelten, und Prägnanz immer die Integration zu einem Ganzen bedeutet, stellen bei der Ausdruckswahrnehmung der Leib und die Seele jeweils ein Integral dar. Cassirer führt diesen Gedanken nicht aus, da er die symbolische Prägnanz am Beispiel der Dingwahrnehmung erläutert. Aus diesem Grund werden hier das Körperschema und das Gefühl der Lebendigkeit als Integrale jener ‚Bewegungsgestalten und Raumformen‘, in denen Leben zum Ausdruck kommt, eingeführt.

1 Strömung und Wirbel im Aufbau der Wahrnehmung Im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen, der parallel zu den beiden ersten Bänden des Werkes strukturiert zu sein scheint und daher erwarten lässt, dass Ernst Cassirer hier die Symbolfunktionen des Ausdrucks, der Darstellung und der reinen Bedeutung in Bezug auf die symbolische Form der wissenschaftlichen Erkenntnis untersucht, unternimmt der Philosoph den Versuch, zu einer vertieften Erkenntnis der Symbolfunktion im Aufbau der Ausdruckserlebnisse und der Dingwahrnehmungen zu gelangen. Die Lösung dieser Aufgabe stellt kein einfaches Unterfangen dar, denn die Frage, woher die Tatsache stammt, dass der Wahrnehmung ein Symbolcharakter eignet, könne nicht gestellt werden (vgl. ECW 13, S. 104). Die Ausdrucksfunktion und die Darstellungsfunktion betrachtet er als Urphänomene, die kausal nicht erklärbar sind. In dem nachgelassenen Text „Zur Metaphysik der symbolischen Formen“ von 1928 schreibt Cassirer: 1. „Wir können niemals zu dem Punkt zurückdringen, an dem der erste Strahl des geistigen Bewusstseins aus der Welt des Lebens hervorbricht“; und 2. „Keine Metaphysik und keine Empirie wird jemals imstande sein, uns den ‚Ursprung‘ dieser Gebilde [der symbolischen Formen] in dem Sinne zu erhellen, daß sie uns in ihren zeitlichen Ursprung zurückversetzt, daß sie uns unmittelbar ihre Entstehung

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belauschen läßt“ (ECN 1, S. 36). Und so steht der Versuch Cassirers, die Transformation der Unmittelbarkeit des Lebens durch Entzweiung oder Selbstgliederung zum Bewusstsein begrifflich zu fassen, vor erheblichen Darstellungsproblemen. Denn auf der einen Seite konstatiert er, dass es kein Bewusstsein „als ein schlechthin Gegensatzloses“ (ECW 13, S. 105) geben könne, auf der anderen Seite kennt Cassirer einen „einfachen Bestand des Bewußtseins“, den er mit der „Unmittelbarkeit des Lebens“ gleichsetzt (ECW 13, S. 105). Doch auch dieses ‚Bewusstsein‘ sei bereits durch Spannungen gekennzeichnet, auch wenn sie noch nicht zu einer reflexiven Entzweiung – einem Subjekt, das eine Vorstellung hat – geführt haben.Wie konzipiert Cassirer diese ‚Spannungen‘? Im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen setzt er zur Erklärung zweimal – im ersten und im zweiten Teil – an, unterschieden nach den Grundfunktionen des Ausdrucks und dem Aufbau der anschaulichen Welt.¹ Während Cassirer sich der „Grenzlinie“ (ECW 13, S. 320) zwischen der Welt der Vorstellung und der biologischen Sphäre hinsichtlich der Gegenstandswelt durch ihre Aufweichung in den Pathologien nähert, ist er dem reinen Ausdrucksphänomen über den Mythos auf der Spur. In beiden Teilen bedient er sich der Strömungsmetaphorik, um die Spannungsund Zentrenbildung im Bewusstsein zu beschreiben. Mit William James geht Cassirer von einem Strom des Bewusstseins aus, der seine Dynamik durch die „Antizipation gewisser Gedankenschemata“ (ECW 13, S. 206) erhält. Die symbolischen Formen, so könnte man übersetzen, bilden die Attraktoren, die den „Richtungsgefühlen“ (ECW 13, S. 206) den Resonanzraum bieten.² Erst durch die Bildung von Zentren innerhalb eines kontinuierlichen Lebensstromes entstehe menschliches Bewusstsein (ECW 13, S. 101). Von Max Scheler übernimmt Cassirer die Metapher der „Wirbel“, durch die der Strom sich gliedere und in Lebenszentren mit „Ausdruckstendenzen“, in „Ich und „Du“ auseinanderlege, und verwendet sie später auch zur Beschreibung der Gegenstandswahrnehmungen (Scheler 1948, S. 272). Doch auch bei Scheler findet sich das Paradoxon der Voraussetzung bei gleichzeitiger Verneinung eines ungegliederten Bewusstseinsstroms. „Es wäre also eine ganz irrige Vorstellung“, schreibt Scheler auf den letzten Seiten von Wesen und Formen der Sympathie, […] daß wir uns und unsere Erlebnisse zuerst einfach wahrnehmen, um dann in bloßer additiver Hinzufügung auch unsere Ausdruckstendenzen und -bewegungen und Handlungen sowie ihre Wirkung auf unsere Leibzustände zu erfahren. Eine solch rein ,innerseelische‘ Selbstwahrnehmung ist eine bloße Fiktion. (Scheler 1948, S. 272)

 Auch die dritte Symbolfunktion, die reine Bedeutungsfunktion, wird in diesem Band untersucht. Da sie aber nicht zur Konstitution des „natürlichen Weltbegriffs“ (ECW 13, S. 323) nötig ist, kann sie bei dem Versuch einer Vermittlung der Symbolfunktion mit den Spannungsbögen des Lebendigen außen vor gelassen werden.  Max Scheler formuliert parallel: „Schemanetze, in welche die gegebene Sprache unser Erleben gleichsam einfängt“ (Scheler 1948, S. 273).

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Und dennoch konzipiert er wenige Seiten zuvor einen ‚ungegliederte Strom von Erlebnissen‘.³ Bestätigend zitiert Cassirer in dem nachgelassenen Text Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ‚Wiener Kreis‘ Richard Hönigswald, dem zufolge auch Erleben „Relation-Erleben“ ist: „Ein unmittelbar-Erlebtes ist also eigentl[ich] eine contradictio in adjecto“ (ECN 4, S. 16); ein ungegliederter Bewusstseinsstrom folglich „kein Tatbestand, sondern eine (methodisch notwendige) Abstraktion“ (ECN 4, S. 15). Was zu der Annahme einer Bewusstseinsschicht vor der Gliederung in Wahrnehmungsphänomene verleite, sei die Variabilität der symbolischen Ordnungen, in denen Phänomene stehen können, sowie die verschiedenen Grundmodalitäten der Ausdrucks- und der Dingwahrnehmung (vgl. ECW 13, S. 228). Immer jedoch sei das Bewusstsein durch ein Spannungsverhältnis dynamisiert. Ein sinnlicher ‚Bestand‘ vor jeder symbolischen Einordnung sei phänomenologisch nicht nachweisbar und erkenntniskritisch nicht sinnvoll zu konzipieren. Als Kronzeugen führt Cassirer Kant an, der der Wahrnehmung die produktive Einbildungskraft als ‚notwendiges Ingrediens‘ beigibt, sowie Husserl, dem zufolge das Bewusstsein durch Intentionalität, d. h. einen Richtungscharakter gekennzeichnet sei. Nicht müde wird Cassirer zu wiederholen, dass die Kulturphilosophie den Ausgang von den Phänomenen der Kultur nehmen müsse, um auf dem Weg der Rekonstruktion zu tieferen Schichten zu gelangen. Will sie die Entstehung kultureller Formen verfolgen, kann sie nur deren Formenwandel untersuchen und von den Formen aus auf Formprozesse schließen. Um die Vektorialität des Bewusstseins zu untersuchen, hat der Philosoph jedoch die Möglichkeit, auf Pathologien der Symbolfunktion zurückzugreifen, bei denen die Spannung des Bewusstseins nicht gelöst, aber reduziert ist. „Der Aufbau der Wahrnehmungswelt“, schreibt Cassirer, […] ist an die Bedingung gebunden, daß die Gesamtheit der sinnlichen Phänomene sich in sich selbst gliedert: d. h. daß bestimmte Zentren geschaffen werden, auf die diese Gesamtheit bezogen wird und nach denen hin sie gleichsam orientiert und dirigiert wird […] Mitten in der Strömung selbst bilden sich einzelne Wirbel, deren Teile durch eine gemeinsame Bewegung miteinander verknüpft erscheinen. […] An welcher Stelle wir jetzt in den Strom des Bewußtseins eintauchen mögen: Immer stehen wir alsbald in bestimmten lebendigen Strömungsmittelpunkten, auf die alle Einzelbewegungen hinzielen. Jede besondere Wahrnehmung ist gerichtete Wahrnehmung: Sie besitzt, außer ihrem bloßen Inhalt, einen „Vektor“, der sie in einer bestimmten Hinsicht, in einem bestimmten „Sinne“ bedeutsam macht. (ECW 13, S. 254 f.)

Plastisch beschreibt Cassirer die dynamischen Spannungsverhältnisse, die zwischen den – als solchen nicht aufweisbaren – sinnlichen Phänomenen und ihrer darstellenden Funktion entstehen, in der sie nicht aufgehen, aber hinter der sie nahezu verschwinden können, es sei denn das „kategoriale Verhalten“ (ECW 13, S. 159) ist, wie

 „[Ei]n in Hinsicht auf Ich-Du indifferenter Strom der Erlebnisse fließt ,zunächst‘ dahin, der faktisch Eigenes und Fremdes ungeschieden und ineinandergemischt enthält“ (Scheler 1948, S. 265 f.; vgl. auch S. 270).

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z. B. in der Farbnamenamnesie, die er durch Arbeiten von Kurt Goldstein und Adhémar Gelb kennengelernt hat, gestört. Menschen, die unter Farbnamenamnesie leiden, haben zwar Farbwahrnehmungen, mitunter von großer Intensität, die Rubrizierung einzelner Farbwahrnehmungen als Nuancen unter die Kategorie einer Farbe, wie beispielsweise die Subsumierung eines Rottons unter die Kategorie „Rot“, ist ihnen nicht möglich. Während die Farbwahrnehmung des Gesunden immer in der Spannung zur entsprechenden Kategorie stehe und die einzelne Wahrnehmung dazu neige, nur noch als „Wegweiser“ oder „Bedeutungsvektor“ zu einem „theoretischen Bedeutungszentrum“ (ECW 13, S. 260 f.) benutzt zu werden, verharre der Kranke „in der Fülle individueller Umstände, die sich im sinnlich-gegenwärtigen Eindruck vorfinden“ (ECW 13, S. 260). Die Spannung zu den Kategorien verringere sich und die Wellen, die die Wirbel auslösen, werden kleiner.

2 Die Bipolarität der Ausdruckswahrnehmung und der Taktilität Anders gestaltet sich die Vektorialität des Bewusstseins in einer zweiten Modalität der Wahrnehmung, die Cassirer untersucht: der Ausdruckswahrnehmung. Im Unterschied zur Dingwahrnehmung, bei der das Wahrnehmungserlebnis durch einen Vektor auf eine Kategorie von Dingen hin gekennzeichnet ist, besitzt die Ausdruckswahrnehmung eine „Intention auf andere Lebenszentren“ (ECW 13, S. 102). Während Cassirer zur Erklärung der Entstehung der Dingwahrnehmung auf Pathologien wie Aphasien zurückgegriffen hat, zieht er den Mythos heran, um das Entstehen von Individualbewusstsein und der Wahrnehmung des Anderen zu erklären. Auch hier geht er mit Rekurs auf Scheler von ‚Wirbeln‘ aus, die sich im Bewusstseinsstrom bilden und sich erstens zu einzelnen Individuen verdichten (vgl. ECW 13, S. 101) und die sich zweitens zu relativ gleichbleibenden Ausdruckscharakteren stilisieren. Während die gegenständliche Wahrnehmung auf das kategoriale Verständnis der Dinge der Welt hin orientiert ist, dessen Formprozess im Akt der Setzung zum Abschluss kommt und ihm als Vorstellung gegenüber tritt, bleibt die Ausdruckswahrnehmung prozessual und in bipolarer Spannung zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen. Was sich in den Zuständlichkeiten des Fü hlens, Wollens und Gestimmtseins als Ausdruck erschließt, ist das lebendige Gegenü ber als ‚Du‘, das keinen Dingcharakter hat, und es sind Stimmungen, Atmosphären und Anmutungen – nicht ausschließlich von Personen –, die weder als Gegenstände betrachtet noch als Projektionen auf der Subjektseite verortet werden können. Cassirer fasst diese Phänomene, in denen „Inneres und Äußeres in einem“ sind, als „Wirksamkeit“ (ECW 13, S. 95). So ist fü r die Welt des Ausdrucks kennzeichnend, „daß ein bestimmtes, klar entwickeltes Ichbewußtsein ihr nicht von Anfang an eignet. […] Ausdruck ist zunächst nichts anderes als ein Erleiden; ist weit mehr ein Ergriffenwerden als ein Ergreifen“ (ECW 13, S. 83). Statt

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von einer reflexiven Entzweiung ließe sich von einer erzwungenen Mimesis sprechen, in der der Wahrnehmende in die Wirbel des Anderen gerät. Der Mythos ist nicht nach Ding und Eigenschaft gegliedert. Seine Gestaltungen haben keine festen Stellen in Raum und Zeit, sondern weisen eine fluide Gliederung auf (vgl. ECW 13, S. 67). Die mythischen Phänomene lassen sich nicht unter Kategorien subsumieren: In der Ausdruckswahrnehmung hat das jeweilige Phänomen „nirgend den Charakter bloß stellvertretender Repräsentation, sondern den Charakter echter Präsenz“ (ECW 13, S. 75). Physiognomische Charaktere von Bewegungen sind für Cassirer das paradigmatische Beispiel der Ausdruckswahrnehmung, das er unter Bezug auf Ludwig Klages thematisiert. An diesem Phänomen soll im Folgenden versucht werden, die „horizontale“ Relationalität der Dingwahrnehmung um eine leibliche Tiefenstruktur der Ausdruckswahrnehmung zu ergänzen. „Wer Bewegungsgestalten und Raumformen kennzeichnen will“, schreibt Cassirer, „findet sich unversehens in eine Kennzeichnung von Seeleneigenschaften verstrickt, weil Formen und Bewegungen als Seelenerscheinungen erlebt worden sind, ehe sie aus dem Gesichtspunkt der Gegenständlichkeit vom Verstande beurteilt werden“ (ECW 13, S. 90). „,Wucht‘, Hast‘, ,Gehemmtheit‘, ,Umständlichkeit‘, ,Übertriebenheit‘ sind ebensosehr Namen für Lebenszustände“ (ECW 13, S. 90) wie es Beschreibungen wahrgenommener Bewegungsqualitäten von Lebewesen sind. Bewegungsqualitäten erschließen das „Grundphänomen des Lebendigen“ (ECW 13, S. 99). Wer ‚Wucht‘ und ‚Hast‘ wahrnimmt, kommt nicht umhin, sie am eigenen Leib zu erleben. Ausdruckswahrnehmungen sind Formen der Resonanz, in denen Spannungen sich übertragen. Wie lassen sich derartige Ausdruckswahrnehmungen jedoch als ‚prägnant‘ verstehen? Auf welches Sinnganze hin sind sie gespannt? Welches ist das Integral, als dessen Differential Bewegungsqualitäten wahrgenommen werden? Da jede besondere Wahrnehmung, um überhaupt Element des Bewusstseins sein und als Gestalt vor einem Grund erkannt werden zu können, prägnante Wahrnehmung sein muss, muss auch die „Bewegungsform“ in einem Sinnganzen stehen. Es ist jedoch nicht der physikalische Raum, vor dessen Hintergrund sich die Bewegungsform der Ausdruckscharaktere abzeichnet: „Das Auf und Ab der Linien im Raume faßt eine innere Bewegtheit, ein dynamisches Anschwellen und Abschwellen, ein seelisches Sein und Leben in sich“ (ECW 13, S. 228), schreibt Cassirer im Zuge der Erklärung der symbolischen Prägnanz, in der er die Wahrnehmung von Bewegungsqualitäten wieder aufnimmt. Dass die Wahrnehmung der Bewegungsqualität vor dem Hintergrund des ‚seelischen Seins‘ und ‚seelischen Lebens‘ erfolge, klingt in den Ohren heutiger Leser befremdlich, und es schlägt an dieser Stelle möglicherweise die leibferne Verfasstheit der Gefühle bei Cassirer durch. Die Tastempfindungen, die wie die Ausdruckswahrnehmungen zwischen Zuständlichkeit und Gegenständlichkeit gespannt bleiben, können zur Erklärung herangezogen werden, denn hier bestimmt Cassirer den Leib als Hintergrund der Erfahrung:

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Wir können hier [in der Tasterfahrung] die Objekte nicht anders denn durch das Medium der Wahrnehmung des eigenen Leibes erfassen und sie von dieser Grundlage nicht loslösen. Die Tastphänomene bleiben daher in dem Sinne ‚bipolar‘, daß sich in ihnen unausweichlich eine ,subjektive‘, auf den Leib bezogene Komponente mit einer anderen, die auf Dinge und dingliche Eigenschaften geht, verbindet. (ECW 13, S. 145, Hervorhebung von mir)

3 Maurice Merleau-Ponty und das Körperschema als Integral der Ausdruckswahrnehmung Zu sehr ist Cassirer möglicherweise dem „Zug zur Objektivierung“ (ECW 13, S. 145) aufgesessen, um genügend Aufmerksamkeit für die Gegenrichtung – für den leiblichen Grund der Symbolfunktion – aufzubringen, der sich in der Konzeption der Bipolarität der Nahsinne des Körpers der Analyse anbietet und der auch zur Erklärung der Ausdruckswahrnehmung herangezogen werden kann. Die Schriften Henry Heads zur Aphasie, deren Lektüre in die Analyse der Pathologien des Symbolbewusstseins eingeflossen ist, die Cassirer jedoch erst nach Abfassung der ersten beiden Teile des Bandes bekannt geworden sind (vgl. ECW 13, S. 239 Anm. 153),⁴ bieten ein Konzept zur Erklärung an, das seit einigen Jahren im Bereich der Verkörperungsphilosophie eine Renaissance erlebt: Es ist das ‚Körperschema‘, eine Art vorreflexive Matrix, vor deren Hintergrund Bewegungswahrnehmungen wie Eigenbewegungen in ein dynamisches, sich beständig selbst aktualisierendes Modell integriert werden können. Das Körperschema soll im Folgenden als Integral oder Gesamthorizont der nicht zur Gegenstandswahrnehmung abstrahierten, sondern im Prozess befindlichen qualitativen physiognomischen Wahrnehmung vorschlagen werden.⁵ In der Phänomenologie der Wahrnehmung von Maurice Merleau-Ponty spielt das Körperschema eine prominente Rolle, und so soll dieses Werk ergänzend herangezogen werden, um die Vektorialität der Ausdruckswahrnehmung zu verstehen. Merleau-Ponty ist der ‚Zug zur Objektivierung‘ bei Cassirer, den er als ‚Idealisten‘ kritisiert, nicht verborgen geblieben. Er übersieht jedoch seinerseits die Ansätze einer somatischen Semantisierung bei Cassirer und reduziert die Symbolfunktion, die sich bei Cassirer in die Funktionen des Ausdrucks, der Darstellung und der reinen Bedeutung gliedert, auf die der Gegenstandswahrnehmung zugrunde liegenden ‚Kategorialfunktion‘ (vgl. Merleau-Ponty 1974, § 17, insbes. S. 156 f.) In der fluiden Ausdruckswahrnehmung, die das Wahrgenommene noch nicht als Vorstellung setzt, sondern prozessual mit ihm verbunden bleibt, beschreibt Cassirer ein von MerleauPonty intendiertes „Denken, das seinen Gegenstand in statu nascendi faßt“ (Merleau Im Pathologiekapitel erwähnt er das „kinästhetische Gedächtnisbild“ (ECW 13, S. 310) als Hintergrund, vor dem Bewegungen sich vollziehen.  Oliver Feron (2009) versucht Cassirer und Merleau-Ponty zu verbinden, indem er den Leib als Integral der Erfahrung erprobt, jedoch ohne Bezug auf das Körperschema. John Michael Krois (2011a; 2011b) diskutiert den Symbolismus des Körpers bei Cassirer, jedoch ohne Bezug auf Merleau-Ponty.

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Ponty 1974, S. 147, vgl. auch S. 156). Merleau-Ponty wiederum entwirft mit der Verortung der Ausdrucksphänomene im Horizont des Leibes eine Räumlichkeit, die als Hintergrund für die ‚Bewegungsgestalten und Raumformen‘ der physiognomischen Ausdruckscharaktere dienen kann. Cassirer kann diese Räumlichkeit – so die hier vertretene These – nur ex negativo als von der physikalischen Räumlichkeit verschieden bestimmen, da der ‚Seele‘ als Organ der Bewegung, durch welche die wahrgenommene Dynamik in ihrer Bewegungsform (z. B. ‚auf und ab‘) sowie in ihrer Qualität wie z. B. ‚,Wucht‘, Hast‘, ,Gehemmtheit‘, ,Umständlichkeit‘, ,Übertriebenheit‘‘ realisiert werden, schlechterdings keine Räumlichkeit zukommt. Gefühle – und in diese Kategorie gehören die ‚Stimmungen‘ zum Ausdruck bringenden Bewegungen wohl am ehesten – werden von Cassirer zwar als Grundlage alles Geistigen gedacht (vgl. ECW 12, S. 112, 205), was aber nur dadurch möglich ist, dass er sie auf ihre mentale Komponente reduziert. Erst in seinem Spätwerk rezipiert Cassirer somatische Konzeptionen der Emotionen zögerlich.⁶ Merleau-Ponty hingegen sucht der Symbolfunktion ein somatisches Fundament zu geben, indem er die Motorik als „ursprüngliche Intentionalität“ (Merleau-Ponty 1974, S. 166) betrachtet. Die Bipolarität der Ausdruckscharaktere, die zugleich wahrgenommene Bewegungsgestalten und „Lebenszustände“ sind und die Cassirer einfühlungstheoretisch erklärt – „wir „fühlen“, schreibt er, „nicht nur unsere eigenen inneren Zustände in subjektiv-willkürlicher Weise in die räumliche Form hinein“⁷ – erklärt Merleau-Ponty durch den Leib (Merleau-Ponty 1974, S. 275). Der Leib ist „der Ort des Phänomens des Ausdrucks“ (Merleau-Ponty 1974, S. 275) und das „beständig mitanwesende dritte Moment in der Struktur Figur-Hintergrund, und eine jede Figur profiliert sich in dem doppelten Horizont von Außenraum und Innenraum“ (MerleauPonty 1974, S. 126). Unter Berufung auf Studien von Kurt Goldstein und Otto Rosenthal, Wolfgang Köhler und Heinz Werner schreibt Merleau-Ponty: Die Empfindungen bzw. ‚Sinnesqualitäten‘ reduzieren sich also keineswegs auf das Erleben gewisser unsagbarer Zustände oder eines bloßen quale, sie haben ihre motorische Physiognomie und eine sie umfassende lebensmäßige Bedeutung. Man weiß seit langem, daß Empfindungen ihre ‚motorischen Begleiterscheinungen‘ haben, daß Reize ‚Bewegungsansätze‘ auslösen, die sich den Empfindungen bzw. Qualitäten assoziieren und sie mit einem Hof umgeben. (Merleau-Ponty 1974, S. 246 f.)

Cassirer, der sich auf die Widerlegung des Sensualismus und dessen Annahme von vereinzelten Sinnesdaten als Ausgangsmaterial der Wahrnehmung konzentriert hatte,

 Vgl. Cassirers Rezeption der Emotionstheorien von Théodule Ribot, Carl Lange und William James in Myth of the State (ECW 25).  Siehe Cassirer (2002a, S. 228), obwohl er an anderer Stelle die Einfühlungstheorie kritisiert (ECW 13, S. 96).

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waren die Forschungen zur Sensomotorik, auf die sich Merleau-Ponty bezieht, möglicherweise entgangen. Wahrgenommene Sinnesreize sind nicht nur immer schon in einen Erfahrungskontext eingebettet und auf ihn hin gespannt, sondern auch auf präreflexive Weise mit dem Wahrnehmenden in einem Interaktionszusammenhang verbunden. Sie sind kinästhetisch als ein Bewegtwerden wahrnehmbar. Dem integrativen Modell des Bewusstseins und den ‚dynamischen Bewegungseinheiten‘ Cassirers fehlt die Motorik, und damit das Bindeglied, das der Symbolfunktion eine Fundierung im Körper hätte geben können. „[E]s ist“, schreibt der Entwicklungspsychologe Heinz Werner, der in den Hamburger Jahren ein Kollege Cassirers war, „eine körperliche Einstellung, eine adäquate, dynamische Spannung nötig, um das Bild zu strukturieren; der Mensch als dynamisch lebendige Totalität muß sich selbst gestalten, um dem optischen Feld als einem Teil seines psychophysischen Organismus Figur zu geben“ (Werner 1930, S. 231, zitiert nach Merleau-Ponty 1974, S. 276). Die durch die Wahrnehmung der Bewegungsformen ausgelösten Bewegungsdispositionen geben den Wahrnehmungen einen kinästhetischen Hintergrund (vgl. Merleau-Ponty 1974, S. 142), der nicht auf Projektion beruht, sondern durch die physiologische Kopplung von sinnlicher Wahrnehmung und Motorik entsteht. Das Körperschema ließe sich vor diesem Hintergrund als das gesuchte Integral der Ausdruckswahrnehmung verstehen. „Der Normale“, schreibt MerleauPonty. […] hat seinen Leib nicht bloß als ein System aktueller Positionen, sondern ebensosehr und in eins damit als offenes System einer Unendlichkeit gleichwertiger Stellungen in anderen Orientierungen. Was wir das Körperschema nannten, ist eben dieses System von Äquivalenzen, diese unmittelbar gegebene Invariante, auf Grund deren die verschiedensten Bewegungsaufgaben augenblicklicher Transposition fähig sind. Es ist also nicht alleine eine Erfahrung meines Leibes, sondern eine Erfahrung meines Leibes in der Welt. (Merleau-Ponty 1974, S. 171)

Wie jede symbolische Form prozessual zu verstehen ist und in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis mit den einzelnen Wahrnehmungsphänomenen steht, lässt sich auch das Körperschema als eine „Integration zum Ganzen“ (ECW 11, S. 42) begreifen. Ebenso wie das Bewusstsein ein gespanntes System ist, ist auch der Körper ständig orientiert. Diese Orientierung erfolgt unbewusst, kann jedoch jederzeit durch Störung des gewohnten Bewegungsflusses oder durch gezielte Umkehrung der distalen Fokussierung der Wahrnehmung auf kinästhetische Wahrnehmung bewusst werden. Die leibliche Intentionalität lässt sich als eine mimetische Form der Spannungsgestaltung verstehen. Merleau-Ponty erweitert die geschilderte Strömungslandschaft der Psychosomatik somit durch das Körperschema um „verworrene Regionen“ (Merleau-Ponty 1974, S. 158) latenter Wahrnehmungen, die nicht erst „den Durchgang durch ‚Vorstellungen‘ nehmen müssen“ (Merleau-Ponty 1974, S. 170), um wirksam zu werden. Er löst damit das Cassirer’sche Paradoxon des Lebensstroms, der durch Strukturierung zum Bewusstseinsstrom wird, durch eine Verzweigung im Leib und seinem Körperschema.

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Mit der Motorik und dem impliziten Handlungswissen liegt eine „elementare Sinngebung“ (Merleau-Ponty 1974, S. 171) vor, die Physiologisches und Psychologisches verbindet und damit, wie Merleau-Ponty emphatisch vertritt, einen „neuen Begriff von Intentionalität“ (Merleau-Ponty 1974, S. 284) schafft.

4 Vitalitätsformen und das Gefühl der Lebendigkeit als Integral der Selbstwahrnehmung Die dynamischen Formen, an denen Cassirer die Ausdruckswahrnehmung exemplifiziert, bieten sich jedoch nicht nur als Einsatzstelle für eine phänomenologische Vertiefung der Intentionalität in den Leib hinein und Verankerung im menschlichen Körperschema an, sondern ermöglichen es darüber hinaus, eine Verbindung zu einer integrativen Betrachtung des Lebens und zu einer naturalistischen Interpretation der Ausdruckswahrnehmung herzustellen. Eine Kulturphilosophie, die, wie diejenige Cassirers, von einem ‚Einbruch der Reflexion‘ in Lebensprozesse ausgeht − obwohl er keinen ontologischen Bruch, sondern nur einen radikalen Funktionswechsel konstatiert − droht ins Abseits metaphysischer Dualismen zu geraten, und darum soll im Folgenden 1. versucht werden, die Ausdruckswahrnehmung als präreflexive Form der Intentionalität für einen weiteren Versuch der Verbindung von Leben und geistigem Bewusstsein auszuloten und 2. das Gefühl der Lebendigkeit als Integral der Selbstwahrnehmungen zu verstehen. Durch die bipolare Gespanntheit der Ausdrucksphänomene als optische Gebilde, die wir „für uns aufbauen“, und als unsere „eigenen inneren Zustände“, in die wir durch den mimetischen Nachvollzug – beispielsweise einer Linie mit einer bestimmten Dynamik – geraten, erschließt Cassirer eine Spannungsgestaltung des Lebens vor jeder Setzung als „Vorstellung“ (ECW 13, S. 228). Die Ausdruckswahrnehmung ist eine Bewusstseinsform vor der Ausbildung von „Ichkonstanz“ und „Dingkonstanz“, in der es noch keine Setzungen, wohl aber Spannungen gibt (ECW 13, S. 86). Das Leben, das in diesen Formen zum Ausdruck kommt, erscheint „weit mehr als ein Gesamtleben, denn als individuell geformtes und individuell begrenztes Leben einzelner Subjekte“ (ECW 13, S. 86). Die ‚bewegende‘ Wahrnehmung von Ausdrucksphänomenen stellt eine Form des Erlebens dar, die weder Ich und Du noch Ausdruck von Ausgedrücktem trennt. Sie kennt „keine derartige Form der Entzweiung“ (ECW 13, S. 105). Cassirers Formenlehre des Geistes unterscheidet verschiedene Formen der Spannung, die das Bewusstsein bewegen. Als problematisch für eine tiefere Erkenntnis der Symbolfunktion und der Vermittlung von Geist und Leben stellen sich jedoch immer wieder die scharfen Entgegensetzungen dar, die er zuweilen vornimmt. Für die Welt des Ausdrucks gilt, so schreibt er,

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[…] daß ein bestimmtes, klar entwickeltes Ichbewußtsein ihr nicht von Anfang an eignet. Denn alles Erleben – Ausdruck ist zunächst nichts anderes als ein Erleiden; ist weit mehr ein Ergriffenwerden als ein Ergreifen – und ebendiese ‚Rezeptivität‘ steht zu jener Art der ‚Spontaneität‘ in der alles Selbstbewusstsein als solches sich gründet, im deutlichen Gegensatz. (ECW 13, S. 83 f.)

Gibt es Selbstbewusstsein nur als ‚klar entwickeltes Ichbewusstsein‘? Zumindest legt die Formulierung ein sich entwickelndes Ichbewusstsein und damit Übergangsformen nahe, und auch die Formulierung, dass die „Ausbildung des Gegensatzes selbst, die Spannung, die sich zwischen beiden Polen einstellt, […] erst innerhalb einer bestimmten ‚Höhenlage‘ des Geistes erreicht“ (ECW 13, S. 83) wird, schließt nicht aus, dass der Geist auch in den Tälern waltet. Über diese Übergangsformen soll im Folgenden die Vermittlung von Geist und Leben gesucht werden. 1. Die Entwicklungspsychologie kennt frühe Formen des Erlebens eines solchen ‚Gesamtlebens‘, in denen Ich und Du noch nicht gesetzt, wohl aber als ‚Interaffektivät‘ erlebt werden können. Als „Affektkonturen“ (Stern 2010, S. 8) oder dynamische Formen von Vitalität bezeichnet der Psychiater und Psychotherapeut Daniel Stern die grundlegenden dynamischen Formen der Wahrnehmung, die entscheidend dafür sind, dass uns jemand oder etwas als lebendig erscheint. Sie ermöglichen die Wahrnehmung der Affektivität anderer und stellen damit die, Stern zufolge, erste und grundlegende Form von Intersubjektivität dar. Vitalitätsformen sind Qualitäten von Bewegung – wie z. B. die Qualitäten ‚explodierend‘, ‚pulsierend‘, ‚ausschleichend‘ – die durch die Komponenten Kraft, Zeit, Raum und Intention bzw. Gerichtetheit beschrieben werden können. Es handelt es hierbei nicht um diskrete kategoriale Affekte wie ‚Freude‘, ‚Zorn‘ oder ‚Traurigkeit‘, sondern um deren dynamische Erscheinungsformen, die nicht nur an natürlichen Ausdrucksformen, sondern auch in den verschiedenen Künsten zu beobachten sind. Sie treten in verschiedenen Sinnesmodalitäten auf: in visuellen Formen, in Klangfolgen und Bewegungen. Hier zeigt sich eine faszinierende Parallele mit Cassirers Beschreibung der reinen Ausdrucksfunktion und des Lebens als ein „dynamisches Fließen, das sich erst ganz allmählich in sich selbst teilt und sich in einzelne Wellen absetzt“ (ECW 13, S. 79).⁸ Daniel Stern formuliert die Hypothese, dass diese qualitativen Verlaufsformen dynamischen Erlebens auf Aktivierungskurven des zentralen Nervensystems zurückzuführen sind. Vitalitätsformen und korrelierende Arousalprofile wären somit ein Beispiel für die resonierenden neuronalen und kulturellen Muster. Ob Arousalprofile als Ursachen für Vitalitätsformen betrachtet werden können, es sich also um eine Kausalität und nicht nur um eine faszinierende Isomorphie handelt, ist jedoch nicht ausgemacht: „Forms of vitality are not directly based on physical nature. Yet they correspond with realities in nature that may not exist independent of mind. […] they are psychological, subjective phenomena that emerge from the encounter with dynamic events.“ (Stern 2010, S. 30) Mit diesem Modell liegt – neben der Affizierung des  Auf eine mögliche Interpretation Cassirers im Hinblick auf die Vitalitätseffekte Daniel Sterns hat Martina Sauer (2015) hingewiesen.

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Körperschemas durch die motorischen Begleiterscheinungen exterozeptiver Wahrnehmungen – ein weiterer Versuch einer naturalistischen Erklärung für die im Körper des Wahrnehmenden resonierende Bewegungsdynamik vor. 2. Das Gefühl lebendig zu sein stellt Thomas Fuchs zufolge eine Verbindung zwischen den organischen Prozessen des Lebens und der subjektiven Erfahrung her und ermöglicht eine weitere Verankerung der Intentionalität im vorbewussten Bereich lebender Organismen. Während Cassirer ein integrales Konzept des Bewusstseins entwickelt, das nicht nur das propositionale Wissen der Dingwahrnehmung, sondern auch das prozessual-mimetische Erleben der Ausdruckswahrnehmung umfasst, operiert Thomas Fuchs mit einem integrativen Konzept des Lebens, das Bewusstsein als „Manifestation des Lebens eines Organismus als Ganzem“ (Fuchs 2011, S. 151) in seiner Beziehung zur Umwelt begreift. Im Unterschied zu Cassirer, der das Einsetzen der Reflexion als einen scharfen Schnitt betrachtet, argumentiert Fuchs für eine Kontinuität zwischen Leben und Erleben, deren Umschlagpunkt er im Gefühl der Lebendigkeit fasst. Damit votiert er nicht nur gegen einen solchen scharfen Schnitt, sondern er unterscheidet ein Hintergrunderleben von Bewusstsein nur durch Grade der Intensität: „Thus, self-experience does not arise de novo at a certain point, but rather takes up and continues the pre-reflective mineness of the feeling of life“ (Fuchs 2011, S. 159), wie er am Beispiel des Hungers erläutert: Der Mangel an Nahrung wird erst ab einem bestimmten Grad als „Hunger“ bewusst. „The cogito owes itself to a pre-reflective, obscure ‚becoming’ not to a clear and distinct perception“. (Fuchs 2011, S. 159) Im letzten Abschnitt soll nun versucht werden, Spannungsbögen des Lebendigen und des Geistigen über das „Gefühl der Lebendigkeit“, das Fuchs als die „Grundschicht des Erlebens, das den unbemerkten Hintergrund unseres bewussten Wahrnehmens, Fühlens und Handelns bildet“ (Fuchs 2011, S. 153) zu vermitteln. Das ‚Gefühl der Lebendigkeit‘ setzt sich Fuchs zufolge aus zwei Komponenten zusammen: erstens einem kontinuierlichen körperlichen Hintergrundgefühl, das er ‚Vitalität‘ oder ‚Befinden‘ nennt und das auch Stimmungen umfasst, die Cassirer durch die physiognomischen Charaktere der Ausdruckswahrnehmung vermittelt sah, sowie zweitens die Gesamtheit von Trieb, Instinkt, Bedürfnissen und Affekt, die er ‚Conation‘ nennt. Beide stellen ‚Integrationen des gesamten Organismus‘ dar und sind tief in vitalen Prozessen der Lebenserhaltung verwurzelt. In ihrem integrativen Charakter erfüllen sie die Bedingung, die für Cassirer erfüllt sein muss, damit eine Wahrnehmung als Erfahrung gelten kann: Erfahrungen sind nicht singulär, sondern bilden sich erst durch Relationalität. Jede einzelne Erfahrung ist Differential der gesamten Erfahrung als Integral. Das Gefühl der Lebendigkeit zeichnet sich als Zustand des Organismus in Hinsicht auf potentielle Interaktionen ab. Die Formen des Gefühls der Lebendigkeit stellen nicht nur Modalitäten des leiblichen Raum- und Zeitgefühls des Individuums dar, sie greifen auch bestimmend in die Raum- und Zeitwahrnehmungen des Subjekts ein. Die Vitalitätsformen, die Fuchs nennt, sind diffuse Leichtigkeit oder Behaglichkeit sowie Unbehaglichkeit, aber auch dynamischere Formen wie Entspannung und An-

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spannung, und primär räumlich wahrgenommene Formen wie ‚eingeengt sein‘ oder ‚sich entfalten können‘, Bewegungsqualitäten wie Frische oder Elan, Müdigkeit oder Erschöpfung. In der Bestimmung der Vitalitäts- bzw. Bewegungsformen als bipolar treffen sich Fuchs und Cassirer: Während für Cassirer die exterozeptiv wahrgenommenen Formen und Bewegungen unversehens auch als ‚Seelenerscheinungen erlebt werden‘, sind es bei Fuchs die auf den Organismus als Ganzen in Interaktion mit seiner Umgebung zurückgehenden Vitalitätsformen, die die Exterozeptionen grundieren und kolorieren.

Schluss Das tief in vitalen Lebensprozessen wurzelnde Gefühl der Lebendigkeit ist für Thomas Fuchs eines der wichtigsten Belege für die Verkörperung der Subjektivität, die Cassirer keinesfalls ablehnt, stellt doch die Verbindung von Körper und Seele den Prototyp der symbolischen Relation dar. Die Verkörperung des Sinns hat er jedoch vor allem an den Symbolkörpern kultureller Formen ausbuchstabiert und dabei die Körperlichkeit des Wahrnehmenden zu sehr vernachlässigt. In den Darlegungen zur symbolischen Prägnanz hat er vor allem gezeigt, wie die Wahrnehmung in Hinblick auf die gegenständliche Welt bestimmt wird. Die symbolische Prägnanz der Ausdruckswahrnehmung bleibt unterbestimmt. Nimmt man hingegen den Leib als Medium der Wahrnehmungen in den Blick, zeigen sich zwei Komponenten, die sich als die gesuchten Integrale anbieten: das Körperschema und Gefühl der Lebendigkeit. Beide lassen sich als psychosomatische Formen des Selbstbewusstseins fassen, die es erlauben, sowohl die Wahrnehmung der Lebendigkeit von anderen und anderem als auch die Selbstwahrnehmungen als Formen eines kontinuierlichen integrativen Bewusstseins zu fassen. Sie ermöglichen es darüber hinaus, Übergangsformen des Bewusstseins zu denken, in denen Subjekt und Objekt einander nicht entgegensetzt sind, sondern mimetisch oder resonierend miteinander interagieren und mit steigenden Intensitätsgraden aus der Latenz auftauchen. Beiden eignet die wechselseitige Bestimmung von Differential und Integral: So wie das Körperschema, durch das der Körper in den Raum eingespannt ist, sich fortlaufend aktualisiert und von einer Geschichte der Bewegungserfahrung zeugt, ist das Gefühl der Lebendigkeit relativ in Bezug auf Höhen und Tiefen und zeichnen sich Anspannung und Entspannung nur vor dem Hintergrund des jeweils anderen ab.Wäre die gegenwärtige Tönung des Gefühls der Lebendigkeit nicht eine Transformation der vorherigen könnte sie nicht als zugehörig zu einem kontinuierlichen Selbst betrachtet werden.

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Sebastian Luft

Mind als Geist in der Welt der Kultur Kulturphilosophie, „Naturalistische“ Transzendentalphilosophie und die Frage nach dem Raum der Kultur¹ Abstract: Mind as Spirit in the World of Culture. Philosophy of Culture, “Naturalistic” Transcendental Philosophy and the Question of the Space of Culture. In this essay I present Cassirer’s philosophy of culture as a special application of Kant’s transcendental philosophy. I then compare and contrast it to another tradition, namely the Pittsburgh School, especially McDowell. The starting point here is the Sellarsian concept of the ‚Space of reasons‘, which McDowell expands through his Aristotelian-inspired concept of ‚Second nature‘. By way of a rather peculiar interpretation of an early interpreter of Cassirer – Howe – I will attempt to bring ‚Marburg‘ and ‚Pittsburgh‘ into a conversation. The result will be a position mediating both traditions and which one could call, following Howe, a ‚Naturalistic idealism‘. In the end I will attempt to demonstrate the superiority of Cassirer’s position, which, however, does not necessitate a rejection or even refutation of McDowell’s. Keywords: mind, culture, naturalism, transcendental philosophy, John McDowell, Ernst Cassirer

Einleitung: Kultur und die Gefahr des Naturalismus Überall Kultur. So könnte man eine von manchen neuerdings vertretene Auffassung zum Ausdruck bringen.Wenn man unter ‚Kultur‘ nicht nur die okzidentale Hochkultur versteht; wenn man ‚Kultur‘ vielmehr als das versteht, was vom Menschen ‚gebaut, gepflegt, geehrt‘ wird (wie das Lateinwörterbuch uns unterrichtet), dann lässt sich diese Einschätzung so erläutern: Alles, was wir um uns herum sehen, ist vom Menschen gemacht: Gebäude, Autos, Straßen, weiterhin Institutionen wie der Oberste Gerichtshof in Karlsruhe oder der amerikanische Geheimdienst. Aber Kultur erstreckt sich auch auf Natur: Auch so etwas wie Wälder sind, wenn nicht vom Menschen ge-

 Siehe meine vorläufigen Bemerkungen, „Kultur als zweite Natur. Kulturphilosophie, ‚Naturalistische‘ Transzendentalphilosophie und die Frage nach dem Raum der Kultur“, in: H. Busche (Hrsg.), Kultur – interdisziplinäre Zugänge, Springer 2017. Der vorliegende Beitrag geht in vielerlei Hinsichten über den genannten Beitrag hinaus (v. a. im neu hinzugefügten Exkurs). Eine englische Version dieses Textes wurde sowohl auf einer Tagung bei Marquette University wie auch an der University of Lexington, Kentucky, im Frühjahr 2017 vorgetragen. Ich danke hier v. a. den folgenden Personen, die wichtige Fragen gestellt haben, auf die ich versucht habe, in dieser erweiterten Version des ursprünglichen Textes zu antworten: Holger Maaß; Pete Burgess, Andrew Cutrofello, James Dodd, D.J. Hobbs und Paul Livingston; weiterhin Brandon Look, Eric Sanday und Bob Sandmeyer. https://doi.org/10.1515/9783110549478-008

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macht, dann doch angelegt, eingehegt, kontrolliert; man denke etwa an den durch die Forstwirtschaft in der Frühneuzeit konstruierten Schwarzwald oder die Great Plains des Mittleren Westens der USA, der Kornkammer der Welt, die aus der Rodung der dort befindlichen Waldlandschaft durch die europäischen Siedler entstanden (eine Rodung übrigens, die die erste von Menschen gemachte Umweltkatastrophe – den Dust Bowl in Oklahoma – zur Folge hatte). Es wäre dies Natur, die unter der Wacht der Menschen wächst. ‚Unberührte Natur‘ gibt es auf diesem Globus nur noch selten (wie auch unberührte Kulturen). Begreift man Kultur also derart, dass sie auch die vom Menschen konstruierte Natur umfasst, so nimmt die Aufgabe einer Philosophie von der Kultur Gestalt an: Es ginge in ihr darum, verschiedene irreduzible und miteinander inkommensurable Formen von Kultur zu begreifen, philosophisch zu interpretieren und auf ihre Bedeutungen zu reflektieren. Freilich kann sie das nicht vom berühmten Lehnstuhl aus, sondern ist hierbei auf die empirischen Untersuchungen über Kultur verwiesen. Damit ist die Philosophie die Logik der – im Sinne einer philosophischen Reflexion über – Kultur, und da sie dies nicht ohne die entsprechenden Wissenschaften von der Kultur bewerkstelligen kann, wäre die Philosophie, genauer definiert, die Logik der Kulturwissenschaften. Damit hätte man in Kürze die Position Cassirers zusammengefasst. Interpretiert man das Verhältnis von Kultur und Natur dergestalt, dann heißt das, dass Kultur auf Natur superveniert und es keinen direkten, a-kulturellen Zugang zur Natur geben kann. Was ‚Natur‘ für uns bedeutet, kann nur durch einen kulturell vermittelten Zugang in Erfahrung gebracht werden. ‚Reine‘ Natur gibt es also – für uns kulturelle Wesen – nicht, und nicht nur deswegen, weil wir sie faktisch – in der Kontingenz des 21. Jahrhunderts, in dem wir uns befinden – in dieser Reinheit vernichtet haben, sondern auch aus systematischem Grund: Als immer nur vermittelt zugänglich, wäre sie höchstens als ein Endprodukt eines Abbaus kultureller Schichten rein abstraktiv freizulegen, in der Weise etwa, wie Husserl in Ideen II die ‚eine Natur‘ als abstraktes Resultat einer vollständigen ‚Abbauanalyse‘ darstellt (vgl. Husserl 1991). ‚Reine Natur‘ ist für Husserl bekanntlich nur eine Abstraktion von der immer von Kultur durchwobenen Lebenswelt; ist die Einstellung zur Lebenswelt die sog. natürliche Einstellung, erfordert die moderne Naturwissenschaft die naturalistische Einstellung, die genau diese ‚reine Natur‘ für primär nimmt (und sie der natürlichen Lebenswelt überstülpt, was Husserl in der Krisis analysiert) (vgl. Husserl 1976a und 1976b). Dieser Interpretation würde Cassirer, wie ich meine, zustimmen. Eine sich so situierende Kulturphilosophie wäre also von vornherein anti-naturalistisch, wenn man unter Naturalismus die These von der durchgängigen Naturhaftigkeit allen Seins versteht. Diese Definition von Naturalismus mag etwas krude sein, trifft aber als grundlegende Definition m. E. alle komplexeren Positionen, die sich unter diesem Oberbegriff sammeln.² Der Naturalismus wäre selbst als eine aus

 Es geht mir hier nicht darum, einen Beitrag zur Naturalismusdebatte zu liefern, sondern ‚Naturalismus‘ hat in meiner obigen Diskussion nur die Funktion, einen Kontrastbegriff zu dem von Cassirer

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einer kulturellen Form – der modernen Naturwissenschaft – hervorgegangene Kulturform ausgewiesen und damit gewissermaßen damit schon als eine selbstwidersprüchliche Position widerlegt. Der Naturalismus kann sich also nicht selbst naturalistisch begründen und kann damit nicht auf eigenen Beinen stehen. Die Kontrastposition, die ich eben als anti-naturalistisch bezeichnet habe, würde man dann – sit venia verbo – mit traditioneller Terminologie als Idealismus bezeichnen. Der Denker, der seine Kulturphilosophie eindeutig idealistisch interpretiert, ist wiederum Ernst Cassirer. Für ihn hängt die Ablehnung der naturalistischen Interpretation von Kultur unmittelbar davon ab, was er unter ‚Idealismus‘ versteht, eine Position, die er auch als ‚Humanismus‘ bezeichnet im Sinne einer ‚humanistischen‘ Begründung von Kulturphilosophie. Auf seine Ablehnung der naturalistischen Begründung wird zurückzukommen sein (vgl. Cassirer 2011, S. 135 ff.). Aber ist dem Naturalismus so einfach der Garaus zu machen? Wäre es so einfach, würde heute vermutlich keiner mehr einen Naturalismus vertreten, was aber (leider?) nicht der Fall ist. Naturalismen verschiedener Couleur werden heute durchaus von einigen Philosophen vertreten (viele Naturwissenschaftler nicht zu vergessen), denen man den Vorwurf der Naivität sicher nicht machen kann. Hier möchte ich auf eine besonders komplexe Position zu sprechen kommen, die sich v. a. auf die Kritik von Wilfried Sellars am Mythos des Gegebenen beruft. Der Denker in seiner Nachfolge, der diese Position in der Gegenwartsphilosophie am bekanntesten vertreten hat, ist John McDowell, der seine Position erstmals im epochemachenden Mind and World von 1994 vorgestellt hat. McDowells Position ist bekennendermaßen naturalistisch, aber in einem anderen Sinn als dem, den der (wie er es nennt) ‚glatzköpfige (bald) Naturalismus‘ vertritt, also einen naiven Naturalismus, der damit auch als platter Reduktionismus bezeichnet werden kann. Kann man also gegenüber einer idealistischen oder humanistischen Position, wie sie Cassirer vertritt, auch eine philosophisch plausibilisierte Position einnehmen, die auf naturalistische Weise das Verhältnis von Bewusstsein und Welt interpretiert? Und wie sähe diese Position gegenüber Cassirer aus? Kann man hier evtl. einen Vermittlungsversuch wagen? Mit dieser Fragestellung hat man Cassirers Position unmittelbar in die Gegenwartsphilosophie gebracht. Diese Konfrontation soll hier in Ansätzen vollzogen werden.³ Ein erster Teil wird Cassirers Position rekonstruieren, bevor in einem zweiten Teil die Position McDowells, von Sellars herstammend, dargestellt wird. Bevor ein Vergleich beider angestellt wird, wird in einem dritten Teil eine originelle, auf den ersten Blick jedoch unplausibel scheinende Interpretation Cassirers skizziert werden, und zwar des amerikanischen Philosophen (und eines der ersten Cassirer-Übersetzers) C.S. Howe, der Cassirers Position, wie sie im vom ihm übersetzten Werk Zur Logik der Kulturwissenschaften von 1942 vertreten wird, als ‚idealistischen Naturalismus‘ invertretenen ‚Kulturalismus‘ zur Verfügung zu stellen. Wie zu zeigen sein wird, ist dieser Kulturalismus selbst eine komplexe Form von Naturalismus.  Zu einem Vergleich von „Marburg und Pittsburgh“ vgl. auch Renz (2011), deren Vergleich sich allerdings eher auf Cohen und Brandom fokussiert.

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terpretiert. Diese Interpretation kann nicht von Sellars beeinflusst gewesen sein (sein Empiricism and the Philosophy of Mind erschien über ein Jahrzehnt später), sondern von einem anderen Denker, der in der Tradition des Pragmatismus steht, die auch durch Richard Rorty auf McDowell gewirkt hat, nämlich von John Dewey. Diese originelle Interpretation soll dargestellt und sodann beurteilt werden, bevor in einem Ausblick ein Vergleich von ‚Marburg‘ und ‚Pittsburgh‘ angestellt wird, wobei die Cassirer’sche Kulturphilosophie vor dem Hintergrund der Pittsburgh School profiliert werden soll. Es wird sich zeigen, dass Howes Interpretation als vermittelndes Glied zwischen beiden Traditionen angesehen werden kann. Es erweist sich hier eine tiefere Gemeinsamkeit, die sich auf den ersten Blick, von den verschiedenen Traditionen herkommend, nicht vermuten ließe. Diese tiefe Gemeinsamkeit soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich letzten Ende die Cassirer’sche Position für überlegen halte, wie ich im Schluss zu zeigen versuchen werde.

1 Cassirers Kulturphilosophie als Transzendentalphilosophie Cassirer konzipiert ab ovo seine Kulturphilosophie als eine Form von transzendentalem Idealismus, also als eine transzendental-philosophische Rekonstruktion der Kultur im Gefolge der Marburger Schule und der von Cohen ausgearbeiteten ‚transzendentalen Methode‘. Hierbei handelt es sich von vornherein um eine pluralistische Zugangsweise zur Kultur, die alle wesentlichen Formen der Kultur würdigen will. Diese Formen sind dem Menschen wesentlich, da sie sich in allen historischen Kulturformen aufweisen lassen: Sprache, Mythos, Erkenntnis bzw. Wissen, bzw. noch andere Formen, wie z. B. Technologie oder Wirtschaft.⁴ Da Cassirer diese verschiedenen Formen als ‚symbolisch‘ bezeichnet, so kann sein transzendentaler Idealismus auch als symbolischer Idealismus bezeichnet werden. Der Begriff ‚symbolisch‘ kann hier im Sinne Goethes verstanden werden, dahingehend, dass alle Erfahrung ‚symbolisch‘ ist insofern, als jede individuelle Erfahrung für etwas Allgemeines steht. Jedes Einzelding, das sich in einer wie auch immer zu bezeichnenden Weise gibt, steht damit für ein Symbolsystem, in dem es steht und aus dem heraus es allein Sinn ergibt. Es gibt also keine unvermittelte Erfahrung von Wirklichkeit, der sich dann ein Interpretationssystem ‚aufsetzen‘ würde, sondern alle Erfahrung ist vermittelt, also auch die Erfahrung des Naturwissenschaftlers, wenn er Natur erfährt; diese Erfahrung wäre etwa vermittelt durch das Verständnis der Natur als mathematisches Universum bzw.

 Cassirer behandelt in den drei veröffentlichten Bänden der Philosophie der symbolischen Formen Sprache, Mythos und Erkenntnis. Später erwähnt er die weiteren oberen Enumerierten. Inwiefern es sich hierbei um historische kontingente Formen der westlichen Welt im Spätkapitalismus handelt bzw. wie sich diese symbolischen Formen historisch entwickeln, diese Frage kann hier nur erwähnt werden.

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unter mathematischen Gesetzen stehend. Der symbolische Raum, obwohl plural strukturiert, ist also monistisch konzipiert. Sofern man „transzendental“ im Sinne Kants versteht, als Erkenntnis, „die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sind“ (KrV, B 25), befasst, so ist Cassirers Position von vornherein klar als transzendentale Untersuchung zu erkennen; denn es geht um unseren Zugang zu den Dingen, sofern er a priori möglich sein soll. Allerdings ist ebenso gleich einsehbar, dass Cassirers Ansatz viel weiter gefasst ist als Kants. Denn bei Cassirer geht es nicht um die Erkenntnisart von Gegenständen, sondern diese transzendentale Frage betrifft alle Formen von Erfahrung, die alle im oben beschriebenen Sinn symbolisch sind. Die Erkenntnis wäre dann nur eine, und zwar sehr abstrakte, Form von Erfahrung.⁵ Alle symbolischen Formen sind auf die ihnen zugrundeliegenden bzw. sie leitenden transzendentalen Möglichkeitsbedingungen zu befragen. Es ist daher verständlich, wie Cassirer seine Absicht präzisiert, wenn er sagt, „die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur“ (Cassirer 2010, S. 9), und er erläutert weiterhin: Sie [diese Kritik] sucht zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur, sofern er mehr als bloßer Einzelinhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat. Hierin erst findet die Grundthese des Idealismus ihre eigentliche und vollständige Bewährung. (Cassirer 2010, S. 9)

Was ist damit die ‚Grundthese des Idealismus‘, die hier unausgesprochen bleibt? In dieser Passage geht es Cassirer um die Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Kritik. Das Wichtige hierbei, was die idealistische Grundthese betrifft, spricht er nur nebenbei aus, wenn er bemerkt, dass die „Kraft der naiv-realistischen Weltansicht“ (Cassirer 2010, S. 9) gebrochen werden muss, die darin besteht zu meinen, dass der Gegenstand, nicht nur der Erkenntnis, sondern jeder Gegenstand schlechthin „als ein selbständiges Etwas verstanden und gegeben“ (Cassirer 2010, S. 9) sei. Der Realismus, der sich dem Idealismus entgegenstellt, geht also von der ‚selbständigen Existenz‘ von Gegenständen unabhängig von ihrer Auffassung durch den menschlichen Geist in seiner Tätlichkeit aus. Dieser Realismus muss gebrochen werden durch die Einsicht, dass jede mögliche Gegebenheitsweise eines Gegenstandes symbolisch vermittelt ist. Symbolische Vermittlung tritt also an die Stelle des Realismus, der an Dinge-an-sich glaubt.

 Dieser Erfahrungsbegriff, den Cohen im Zuge seiner Kantinterpretation eingeführt hat und der von Cassirer vom konzeptuellen Denken befreit wurde, ist in dieser Hinsicht auch ähnlich dem Erfahrungsbegriff der Phänomenologie, der am Evidenzbegriff orientiert ist. Erfahrung ist demzufolge alles, was sich in adäquater Evidenz gibt. Der Unterschied beider besteht in der Annahme, dass ‚Erfahrung‘ für Cassirer konstruiert ist, während ‚Evidenz‘ für Husserl als ‚leibhaft da‘ aufgefasst wird, das in Evidenz Gegebene ist konstituiert, nicht konstruiert. Allerdings finden sich in der Konstitution auch konstruktive Elemente, v. a. wenn man von der statischen zur genetischen Phänomenologie übergeht.

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Damit ist die kantische Transzendentalphilosophie in eine kritische Untersuchung der Kultur verwandelt worden. Sie ist kritisch, sofern sie ein Faktum hinnimmt und von ihm ausgeht, dieses ist nicht nur das Faktum der Vernunft oder der Freiheit oder – wie bei Cohen – der Wissenschaft, sondern – im Plural – Fakta der Kultur. Sie sind insofern Fakta, weil sie irreduzible Fakten der Kultur sind, ohne die Menschen nicht das sein können, was sie durch ihre eigene Tat realisieren können. Cassirer bleibt bei der ‚regressiven‘ Lesart der Aufgabe der Kritik, die Cohen – Kants Prolegomena – folgend, vorgegeben hatte: Die Fakta sind auf ihre transzendentalen Möglichkeitsbedingungen hin zu befragen. Diese Bedingungen der Möglichkeit sind aber nicht beschränkt auf die kantische Doppelstruktur von Sinnlichkeit und Verstand, sondern beim Transzendentalen handelt es sich um Konstitutionsprinzipien von Kulturformen, die sich nicht reduzieren lassen auf Anschaulichkeit und Denken. Dies wird auch deutlich durch Cassirers Beziehung auf den Begriff des Symbols, den er von Goethe übernimmt, welcher seinerseits hiermit auch auf den kantischen Dualismus kritisch Bezug nimmt: Das Symbol ist die Kraft, „die im Besonderen das Allgemeine und im Allgemeinen das Besondere darzustellen vermag“ (Goethe). Das Symbol transzendiert damit die Dualismen von Sinnlichkeit und Verstand, Einzelnem und Allgemeinem, Konkretem und Abstraktem. Das symbolische Universum ist plural strukturiert, aber es gibt kein ‚Außen‘ desselben. Damit ändert sich auch Cassirers Auffassung von ‚transzendental‘. Die Möglichkeitsbedingungen einer symbolischen Form sind nicht mehr ausschließlich begrifflich, wie im Fall der Wissenschaft, oder sinnlich (begriffslos) im Sinne der ‚reinen‘ Anschauung, sondern sind bestimmt als funktional. Es geht darum, in jeder symbolischen Form das Funktionsprinzip aufzuweisen, nach dem es seine interne Logik zum Ausdruck bringt. Die Logiken der Kultur sind damit wesentlich plural gefasst, da jede symbolische Form ihre eigene Logik hat, die nur in schwachem oder metaphorischen Sinn als ‚Logik‘ gefasst werden kann. Die Funktionsweise einer symbolischen Form ist damit auch nicht ein starres apriorisches Formgefüge, sondern dynamisch und in Interaktion zwischen Mensch und Kultur im historischen Entwicklungsgang. Der Mensch projiziert also seinen Geist auf die Kultur, sie damit formend; er ist damit aber auch auf die empirischen Bedingungen verwiesen, in denen er sich findet und die er nur zum Teil verändern kann. Wie bereits Herder, ein steter Gewährsmann Cassirers, betont hat, sind Boden, Klima, Land für die Entwicklung einer partikularen Kultur nicht unwesentlich. Sind wir damit doch wieder auf die Natur als factum brutum verwiesen? Nein, sofern es keine Konfrontation zwischen reiner Natur und geformter Natur geben kann; sondern sofern der Mensch lebt, hat er sich bereits ‚seine‘ Natur kulturell ein-geformt. Wir sind damit nicht Herrscher über die Natur, so dass wir etwa Umweltkatastrophen wie Stürme verhindern könnten (einmal abgesehen davon, dass diese Katastrophen möglicher Weise durch den Menschen selbst verursacht wurden!). Dennoch aber stellt Cassirer die Entwicklung von Kultur als zunehmende Emanzipation und Überwindung der Passivität gegenüber der Natur und dem ‚mythischen Leben‘ darin dar. Wie er es darstellt, der Mythos ist noch in einem naiven Animismus befangen, der der Natur

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mythische Kräfte zuteilt, aber schon dies ist eine erste Kulturleistung, die die absolute Passivität bereits überwunden hat. In diesem Sinne werden wir natürlich so etwas wie Erdbeben nicht verhindern können, aber vielleicht irgendwann einmal den Krebs oder AIDS. Durch die Einsicht in die Arbeit der Kultur, der wir uns anschließen können, können wir unsere Endlichkeit überwinden, wiederum nicht als factum brutum, sondern im Sinne der Teilhabe an der Unendlichkeit der Kulturentwicklung, die existiert, solange Menschen existieren. Dass das Transzendentale schließlich nicht starr aufgefasst wird, wird deutlich im Begriff des Apriori, wie ihn Cassirer von der Marburger Schule, v. a. Cohen, übernimmt. Transzendentale Möglichkeitsbedingungen sind nicht statisch-fixe Prinzipien, sondern diese wandeln sich im Laufe der Kultur mit. Sie sind dynamisch-konstitutiv, nicht normativ-regulativ. Das nahe liegende Beispiel hierfür ist der Strukturwandel und Paradigmenwechsel in den Wissenschaften. A priori ist hierbei nur der jeweilige Status quo der Wissenschaft, was seit Kuhn als ‚normale Wissenschaft‘ bezeichnet wird, der genau besehen nie fix und statisch, sondern stets im Flux ist. Die Formel hierfür ist für Cohen die ‚Gabe‘ der Wissenschaft, die damit immer auch ‚Aufgabe‘ ist: Jeder jeweilig erreichte Zustand von Wissenschaft ist die Antwort auf frühere Fragen, aber jede Antwort wirft neue Fragen auf, die zur Aufgabe der Wissenschaft der Zukunft wird. Diese von Cohen für die Wissenschaft aufgestellte Verlaufsstruktur gilt aber für Cassirer nun für Kultur schlechthin: Kultur ist ein emanzipatorischer Vorgang, demzufolge im Sinne Hegels der Fortschritt des Geistes einen Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit bedeutet. Allerdings gibt es keinen absoluten Geist, für Cassirer. Jede Gabe der Kultur ist Aufgabe für weitere Tätigkeiten des Geistes, in denen der menschliche Geist sich objektiviert und darin erkennt, im Bewusstsein, dass der Fortschritt endlos weitergehen wird und dass jeder einmal erreichte Zustand alte Fragen beantwortet, damit aber neue Fragen aufwirft. Kultur kann kein prinzipielles Ende kennen, höchstens Krisen erfahren, in denen die Kultur in den Zustand der Barbarei zurückfällt. Es gibt keine Garantie dafür, dass dies jemals ausgeschlossen werden könnte. Es ist daher die endlose Aufgabe, Kultur zu betreiben und in diesem ‚Betrieb‘ dafür zu kämpfen, dass die Feinden der Kultur keinen Sieg erringen können. Die Arbeit an der Kultur ist damit gleichzeitig immer ein Kampf gegen die Un-Kultur, gegen die Verrohung des Geistes und den Rückfall in die Barbarei.

2 Die Position McDowells: Der Ort der Gründe als zweite Natur In diesem Abschnitt soll zunächst die Position McDowells rekonstruiert werden, bevor im nächsten Teil der Vergleich mit Cassirers Position versucht werden soll, der durch die ‚naturalistische‘ Interpretation Howells vermittelt wird. McDowells Position, die er als erstes in seinem wichtigen Buch Mind and World von 1994 vorgestellt hat, lässt sich am besten verständlich machen als Weiterentwicklung der Position seines Lehrers

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Sellars, die sich als Kritik am Empirismus bezeichnen lässt. Während der Empirismus als eine Art von Naturalismus bezeichnet werden kann und damit als naiver Realismus, ist Sellars’ Position demgegenüber nicht naiv rationalistisch, sondern im weiteren Sinne Kantisch. Diese Position ist verknüpft mit dem, was Sellars bekanntlich the logical space of reasons nennt, und er definiert diesen ‚logischen Raum der Gründe‘ wie folgt (ich zitiere die berühmte Passage, die im Übrigen so gut wie die einzige Definition ist, die Sellars überhaupt gibt): In characterizing an episode or a state as that of knowing, we are not giving an empirical description of that episode or state; we are placing it in the logical space of reasons, of justifying and being able to justify what one says (Sellars 1956, S. 289 f.).⁶

Erst dieser Raum ermöglicht also Rechtfertigung von Urteilen, die den Anspruch auf begriffliche Erkenntnisaussagen machen können; denn begrifflich müssen sie sein, um erfassbar zu sein in diesem ‚logischen Raum‘. Und erst dieser Raum macht uns zu dem, was wir sind, rationale Kreaturen, die ihre Rationalität erweisen durch Begründungen, die wir uns gegenseitig schuldig sind. In diesem Raum wird erst möglich, was McDowells Pittsburgher Kollege Brandom auch ‚das gegenseitige Geben und Nehmen von Gründen‘ nennt. Brandoms Betonung des Gebens und Nehmens ist damit von vornherein ‚dialogischer‘ angelegt, aber damit mit McDowells Konzeption kompatibel bzw. darin impliziert.⁷ Diese Rechtfertigung mag funktionieren oder auch nicht – Menschen machen Fehler in verschiedenen (und durchaus originellen!) Weisen –, aber zumindest muss er anerkannt werden als normativ, d. h. bestimmend für unser Denken. Die Frage, bei der man mit McDowells Kritik ansetzen kann, betrifft die nach dem ‚Raum‘, aus dem man Erkenntnis in den Raum der Gründe platziert. Was ist also der Zustand, bzw. wo lässt er sich lokalisieren, bevor man im Raum der Gründe landet? Ist dieser ‚Prä-Ort‘ überhaupt schon ein ‚Raum‘? Die Kritik, mit der McDowell ansetzt, ist mit der bekannten Metapher des frictionless spinning in the void bezeichnet, also der Idee, dass mit dem Raum der Gründe nicht ein absoluter begrifflicher Idealismus gemeint sein kann, der sich ‚reibungslos im Abgrund dreht‘ und damit keine Berührung mit einer Wirklichkeit ‚draußen‘ haben kann, weil es ein solches nicht-begriffliches ‚Draußen‘ eben nicht geben kann. Die Annahme eines nicht-begrifflichen, reinem Gegebenen kritisiert bereits Sellars mit seiner Kritik am ‚Mythos des Gegebenen‘. McDowell versucht also ebenfalls, einen solchen Mythos zurückzuweisen und zu Interessanter Weise kommentiert McDowell diese Passage wie folgt – und dies wird im Folgenden für meine Lesart wichtig sein –: „I say that the space of concepts is at least part of the space of reasons [dies ist seine Hauptkritik an Sellars] in order to leave it open, for the moment, that the space of reasons may extend more widely than the space of concepts“ (McDowell 1994, S. 5 Anm. 4). Der Hauptpunkt, den ich mit Cassirer hier machen werde, besteht darin zu sagen, dass dieser Raum noch weiter als nur ein Raum von Begriffen sein wird.  Auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider ‚Pittsburgher Riesen‘ kann hier nicht eingegangen werden.

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gleich ein Szenario eines reibungslosen, in sich selbst abgekapselten Raums von Gründen abzuweisen. Wie charakterisiert McDowell also das Verhältnis – wie er es ausdrückt – von Vernunft und Natur? Ohne auf diese höchst komplizierte Position im Detail einzugehen, sei diese nur kurz rekonstruiert, wie sie v. a. in der vierten Vorlesung Reason and Nature dargestellt wird. Um die Stoßrichtung richtig zu verstehen, sollte man sich zunächst die allgemeine Wittgenstein’sche Absicht vor Augen führen, die McDowell leitet. Die Wittgenstein’sche Idee, wie sie von McDowells Lehrer Rorty ausgeführt wird, besteht in der Therapierung von Ängsten und Sorgen, die Philosophen umgetrieben haben, um diese Probleme, die fehlgeleitet oder aus den falschen Gründen zu Problemen geworden sind, nicht zu widerlegen, sondern sie durch Therapie unschädlich zu machen. Die Therapie nimmt sich also diesen Ängsten an, indem sie ihre Motive offenlegt und damit unschädlich macht. In diesem Fall handelt es sich um das alte Problem von Vermittlung von Subjekt und Objekt oder Vernunft und Natur.Wenn es gelingen sollte, diese philosophischen Ängste zurückzuweisen, hätte man in der Tat ein Stück ‚konstruktiver Philosophie‘ erlangt, die Rorty selbst hinter sich lassen wollte im Rahmen seiner Dekonstruktion von philosophischen Letztbegründungsphantasien. Man hätte, mit McDowell, „a hold that could not be shaken by any temptation to lapse back into ordinary philosophical worries about how to place minds in the world“ (McDowell 1994, S. 86) erreicht. McDowells Position ist damit nicht, wie die seines Lehrers Rorty, pragmatisch, sondern konstruktivistisch. Um seine Position darzulegen, rekurriert er auf Aristoteles’ Tugendethik und die darin implizierte Auffassung von Natur. Wo es bei Aristoteles’ Tugendethik um eine Habitualisierung von Verhaltensweisen handelt, die uns tugendhaft machen, interpretiert McDowell Aristoteles’ Begriff phronesis (die er mit practical wisdom übersetzt, vgl. McDowell 1994, S. 79) als eine besondere Ausdeutung einer weiteren philosophischen Position. „So ‚practical wisdom‘ is the right sort of thing to serve as a model for the understanding, the faculty that enables us to recognize and create the kind of intelligibility that is a matter of placement in the space of reasons.“ (McDowell 1994, S. 79). Der Vorgang der Selbst-Beherrschung und Habitualisierung von Verhaltensmustern, die wir dann eben ‚automatisch‘ tun, ist bereits eine Form von Intelligibilität, die die ‚Platzierung‘ in den Raum der Gründe leistet, nicht etwas, was über die Natur hinausgeht. Es geht also um die Auffassung der Natur. Hier unterscheidet McDowell den modernen Naturbegriff, der vom ‚glatzköpfigen Naturalismus‘ herstammt, vom antiken. Der moderne Naturalismus geht von einer ‚toten‘ und ‚entzauberten‘ (disenchanted) Natur aus. Eine solche Naturauffassung Aristoteles zuzuerteilen, hält der Aristoteles-Experte McDowell für eine ‚historische Monstrosität‘ (McDowell 1994, S. 79). Es geht nun aber nicht um eine historisch korrekte Deutung von Aristoteles, sondern darum, was daraus für McDowells Position folgt.⁸

 Es ist hier auch nicht entscheidend, wie McDowell den ‚glatzköpfigen Naturalismus‘ weiter beschreibt und kritisiert – er nennt ihn eine Form ‚primitiver Metaphysik‘ (McDowell 1994, S. 82) –; dies

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Es geht zunächst darum, Natur und Vernunft als zwei gegeneinander abgegrenzte Regionen zu verstehen, bzw. zu verstehen, wie es zu dieser Opposition kommen konnte, die es für die Griechen noch nicht geben konnte. Erst die wesentlich moderne Konzeption dieser Opposition kann die Angst generieren, die die Natur gegenüber der Vernunft als feindlich auffasst, welche zum Versuch führt, den Graben zu überbrücken. Es gibt, nach der antiken Auffassung, keine der Vernunft entgegengesetzte ‚Fakten der Natur‘, der sich die Naturwissenschaft widmen müsste. McDowell dreht die Sache herum, wenn er Natur als etwas begreift, worin sich – im Falle von Aristoteles’ Tugendethik – rationales Denken bewegt, sofern es sich kultiviert: „The idea of getting things right in one’s ethical thinking [in diesem spezifischen Fall] has a certain autonomy; we need not conceive it as pointing outside the sphere of ethical thinking itself.“ (McDowell 1994, S. 81) Es gibt also keinen Grund, „to succumb to the fantasy of an external validation“ (McDowell 1994, S. 82) unseres Denkens. Jede Rechtfertigung unseres Denkens, ob es angemessen sei, kann nur eine Selbstrechtfertigung sein. Diese Konzeption von Natur, in der wir existieren und in die hinein wir uns habitualisieren, nennt McDowell nun ‚zweite Natur‘. Diese Konzeption, die dem Begriff und der Sache nach (der Begriff taucht bei Aristoteles nicht auf) seine Auffassung der ethischen Selbstformung durch Habitualisierung trifft, gilt aber nun laut McDowell universal: The point is clearly not restricted to ethics. Moulding ethical character, which includes imposing a specific shape on the practical intellect, is a particular case of a general phenomenon: initiation into conceptual capacities, which includes responsiveness to other rational demands besides those of ethics. Such initiation is a normal part of what it is for a human being to come to maturity, and that is why, although the structure of the space if reasons is alien to the layout of nature conceived as the realm of law [wie im glatzköpfigen Naturalismus], it does not take on the remoteness from the human that rampant platonism envisages. If we generalize the way Aristotle conceives the moulding of ethical character, we arrive at the notion of having one’s eyes opened to reasons at large by acquiring a second nature. I cannot think of a good short English expression for this, but it is what figures in German philosophy as Bildung. (McDowell 1994, S. 84)

In diesem Sinn sind wir ‚immer schon‘ in der zweiten Natur im Moment, da wir anfangen uns zu habitualisieren und ‚responsiv zu anderen rationalen Ansprüchen‘ werden. Es gibt, in diesem Sinne, nicht eine erste Natur, die dann überformt würde, sondern es gibt nur eine Natur, in die wir durch rationales Verhalten, dem Geben und Nehmen von Gründen, immer weiter hineinwachsen. In McDowells Sinne könnte man also sagen: ‚Alles ist Natur!‘, wenn man Natur in diesem Sinne versteht. Auch dies läuft also auf einen ontologischen Monismus hinaus, der für die Antiken noch normal war (außer, vermutlich, Aristoteles’ Antipode Platon, sofern man ihn als rampant, Amok würde ein tieferes Eindringen in seine Position voraussetzen, die uns ein differenzierteres Bild seines Denkens geben würde, die für den vorstehenden Kontext zu weit führen würde. McDowell hat seine Position in den Jahren nach der Veröffentlichung von Mind and World in zahlreichen Studien weiter ausgebaut und verteidigt, aber auch weiter differenziert (vgl. etwa McDowell 2011).

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laufend, auffasst), der aber vom modernen naturalistischen Weltbild durch einen schicksalhaften Dualismus abgelöst wurde, der Natur nur noch als ‚kalt und tot‘ auffassen konnte und uns als feindlich gegenüber derselben als rationale Wesen, die sich aus der Natur erheben, einen unheilvollen Dualismus inaugurierend.

3 Der Ort der Kultur: Howes Interpretation der philosophischen Position Cassirers als „idealistischer Naturalismus“ Wir können nun einen Vergleich beider Positionen wagen, der aber über eine Interpretation Cassirers seitens eines seiner ersten Übersetzers Howe läuft, welcher eine interessante Lesart Cassirers vorschlägt; denn auf den ersten Blick ist erst einmal völlig unplausibel, wie der symbolische Idealismus und der ‚vollbehaarte Naturalismus‘ miteinander verglichen oder gar vermittelt werden könnten. Könnte man nicht auf den ersten Blick meinen, beide seien einander fundamental entgegengesetzt? Die Antwort wird ‚nein‘ lauten, und dies gelingt durch die Vermittlung von Howe. Wer war Howe? C.S. Howe war der erste Übersetzer von Cassirers fünfteiliger Studie Zur Logik der Kulturwissenschaften, die Cassirer aus dem schwedischen Exil im Jahre 1942, mitten im Krieg, veröffentlichte. Howe, der im Jahre 1960 an der Columbia University mit der Übersetzung (mit Einleitung) dieses Buches, das er mit The Logic of the Humanities übersetzte, promovierte (unter der Leitung von James Gutmann), veröffentlichte diese Arbeit im darauffolgenden Jahr.⁹ Ich beziehe mich hier auf die kurze Einleitung, die sehr suggestiv ist. Ein Teil der Einleitung ist der Klärung von Übersetzungsfragen gewidmet, etwa der (durchaus problematischen) Übersetzung von ‚Kulturwissenschaften‘ als Humanities.

Exkurs: Geisteswissenschaften, Kulturwissenschaften und die „Humanities“ Ein kurzer Exkurs mag dazu dienen, die Bedeutungsunterschiede der deutschen Begriffe ‚Geistes-‘ und ‚Kulturwissenschaften‘ gegenüber den englischen ‚Äquivalenten‘ ‚Humanities‘ bzw. ‚Cultural Sciences‘ zu klären. Diese kurze Diskussion wird deutlich machen, weshalb die englische Übersetzung von Howe als ‚Humanities‘ zwar unabweisbar scheint, aber letztlich die Cassirer’sche Intentionen nicht trifft, ja sogar seiner Absicht direkt entgegensteht. Die neue Übersetzung des Buches durch Steve Lofts mit

 Die Daten zu Howe sind in der Ausgabe der Review of Metaphysics aus dem Jahre 1960 aufgelistet (online verfügbar). Weitere Recherchenachfragen zu Howe bei dessen Heimatuniversität (Humboldt State University in Arcata, Kalifornien) blieben unbeantwortet.

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dem Titel The Logic of the Cultural Sciences (statt Howes On the Logic of the Humanities) von 2000 trifft Cassirers Intentionen besser, auch wenn es Folgeprobleme im englischsprachigen Kontext nach sich zieht. Diese Diskussion ist wichtig für das, was Cassirer mit ‚Kulturwissenschaften‘ intendiert, ist aber ein Seitenarm der vorstehenden Diskussion und soll daher in einem Exkurs dargestellt werden. Zunächst zum deutschen Begriffspaar. Der Grund, warum Cassirer den Begriff ‚Kulturwissenschaften‘ bevorzugt, liegt historisch gesehen auf der Hand.¹⁰ Cassirer stellt sich hier bewusst gegen die Tradition von Dilthey und den südwestdeutschen Neukantianern, die je auf ihre Weise den Versuch gemacht haben, den eigenen Wissenschaftsstatus derjenigen Wissenschaften zu begründen, die eben nicht die Natur, die wir vorfinden (und nicht selbst gemacht haben), behandeln, sondern die vom Menschen gemachten Dinge (Geist, Kultur, Geschichte). Dilthey und Windelband-Rickert tun dies auf verschiedene Weise. So lautet der Dilthey’sche Versuch, den Unterschied von Natur- und Geisteswissenschaften mit dem Begriffspaar Erklären – Verstehen zu markieren. Demgegenüber versucht Windelband (und in seiner Nachfolge Rickert, bei aller Differenz zu seinem Lehrer) das Unterscheidungskriterium methodologisch mit dem Begriffspaar nomothetisch – idiographisch zu definieren. Demgemäß gibt es also nicht zwei verschiedene Seinsregionen (Natur – Geist bzw. Kultur), sondern der Unterschied liegt in der Herangehensweise, die einmal das zu Behandelnde nach seinen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten betrachtet (nomothetisch), das andere Mal das gleiche ‚Material‘ nach seinen spezifischen Eigentümlichkeiten (idiographisch). Der Unterschied zwischen beiden Traditionen v. a. hinsichtlich der Methode ist also bedeutend; was sie aber trotz allem gegenüber Cassirer gemeinsam haben, ist, dass sie die Abgrenzung zu den Naturwissenschaften mit dem Begriff ‚Geist‘ anzeigen, was mehr als nur terminologisch ist. Denn beide gehen davon aus, dass ‚Geist‘ oder ‚das Geistige‘ etwas ist, was sich dem wie immer verstandenen Zugriff der Naturwissenschaften entzieht. Die geisteswissenschaftliche Herangehensweise, wie sie nun auch vorgehen soll, ist also von der Arbeitsweise der Naturwissenschaften radikal verschieden.¹¹ Wenn Cassirer hingegen bewusst den Begriff ‚Kulturwissenschaften‘ gegenüber dem der Geisteswissenschaften bevorzugt, so geht es ihm darum, die Unterscheidung zwischen ‚harten‘ und ‚weichen‘ Wissenschaften zurückzuweisen. Auch die Wissenschaften vom dem vom Menschen Gemachten (= Kultur im weitesten Sinne, in seinen verschiedenen, von Philosophen zu unterscheidenden symbolischen Formen) haben ihre eigenen Methoden und erreichen auf ihre Weise eine Form von Objektivität, die der jeweiligen symbolischen Form angemessen ist. Mit anderen Worten ist die vermeintliche Objektivität der Naturwissenschaften nur eine neben anderen, und die metabasis bestünde darin, alle anderen Wissenschaften mit diesem Maßstab zu messen oder, im

 Vgl. auch die Diskussion hierzu bei Makkreel (2010), der sich dem Begriff der Kulturwissenschaften von Dilthey her nähert.  Vgl. hierzu auch meine Darstellung in Luft (2016).

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Gegenzug, zuzugeben, dass sie diese Strenge nicht erreichen können. Diesem Vorurteil unterliegen sowohl Dilthey wie die Neukantianer. Eine Philosophie der symbolischen Formen kann, sagt, Cassirer, den Anspruch auf Einheit und Universalität festhalten, den die Metaphysik in ihrer dogmatischen Gestalt aufgeben musste. Sie kann nicht nur die verschiedenen Weisen und Richtungen der Welterkenntnis in sich vereinen, sondern darüber hinaus jedem Versuch des Weltverständnisses, jeder Auslegung der Welt, deren der menschliche Geist fähig ist, ihr Recht zuerkennen und sie in ihrer Eigentümlichkeit begreifen. Erst auf diese Weise wird das Problem der Objektivität in seiner ganzen Weite sichtbar, und, so gefasst, umspannt es nicht nur den Kosmos der Natur, sondern auch den der Kultur (Cassirer 2011, S. 22, Kursivierung ergänzt; vgl. auch S. 135 f.).

Während also der Begriff ‚Geisteswissenschaften‘ hier mehr das Humanistische betont und es gegenüber den (erklärenden bzw. nomothetischen) Naturwissenschaften zu verteidigen sucht, ist Cassirers bevorzugter Begriff der ‚Kulturwissenschaften‘ der modernere und eher ‚positivistischere‘ Begriff im nicht-reduktiven Sinn, wie er heutzutage etwa zur Bezeichnung von Fakultäten, die Disziplinen wie Soziologie, Geschichte und Anthropologie umfassen, verwendet wird. Cassirer wählt daher mit Bedacht den Begriff ‚Kulturwissenschaften‘ für seine Abhandlung, aus der zitiert wurde, um deutlich zu machen, dass von Objektivität in verschiedenen Weisen gesprochen wird. Diesen Begriff nun mit ‚Humanities‘ ins Englische zu übersetzen, ist missverständlich, und zwar aus mehreren Gründen. Zunächst scheint er eher als eine Übersetzung von ‚Geisteswissenschaften‘ und bringt Cassirer in die Nähe dessen, wovon er sich gerade distanzieren will. Weiterhin hat der Begriff ‚Humanities‘ im gegenwärtigen englischen akademischen Kontext genau dieselbe antiquierte Bedeutung, die ‚Geisteswissenschaften‘ im gegenwärtigen deutschen haben. Keiner redet heute mehr ernsthaft im deutschen Kontext von ‚Geist‘, auch nicht die traditionellsten aller ‚Geisteswissenschaften‘ wie die klassischen oder neusprachlichen Philologien. Im Gegenteil orientiert man sich hier auch eher am englischen Begriff ‚Classics‘ oder ‚Literary Criticism‘ und bevorzugt sogar die englischen Begriffe gegenüber den deutschen. Es geht hier nicht darum, in ein Lamento gegenüber dem Verlust des Deutschen als Wissenschaftssprache auszubrechen, sondern um die Beschreibung der gegenwärtigen Situation. Aber gerade angesichts der heutigen Situation kann der Cassirer’sche Begriff ‚Kulturwissenschaften‘ eher Anschluss bieten. Ein weiterer Grund, weshalb ‚Humanities‘ unpassend ist, liegt darin, dass er im Englischen die falschen Assoziationen weckt. Denn im Angloamerikanischen Raum ist dieser Begriff besetzt durch C.P. Snowes bekannte Unterscheidung in die ‚two cultures‘, die der ‚sciences‘ einer- und der ‚humanities‘ andererseits, die nicht passgenau die deutsche Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften trifft. Allein der Begriff ‚sciences‘ statt ‚natural sciences‘ (dass man also ‚natural‘ getrost nicht erwähnen muss) lässt auf ein engeres semantisches Feld als das deutsche Wort ‚Wissenschaft‘ schließen, was seit dem Deutschen Idealismus ein denkbar breites Spektrum hat und heute noch im Deutschen für Arbeit auf allen Feldern des Wissens

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hindeutet. Noch heute kann eine Philosophin von sich sagen, sie arbeite ‚wissenschaftlich‘ (im Gegensatz etwa zum Philosophieren in der Freizeit oder im Feuilleton), wohingegen kein Philosoph im Englischen ‚scientific research‘ tätigt und je getätigt hat. Allein der Unterschied zwischen Sciences und Naturwissenschaften und Humanities und Geistes- oder Kulturwissenschaften ist nicht das Entscheidende in Snows Darstellung; sein Impetus ist das Lamento darüber, dass Forscher auf beiden Seiten nicht mehr miteinander reden und ihre jeweiligen ‚Diskurse‘ für trocken und kalt (das sagen die Geisteswissenschaftler von den Naturwissenschaftlern) oder für spinnert und abgehoben (das Umgekehrte) halten. Damit hat er etwas durchaus Richtiges benannt, was die heutige Wissenschaftslandschaft nach wie vor dominiert, auch wenn die gegenwärtige Situation weitaus komplexer ist, aber es hat mit der Diskussion bezüglich der Unterscheidung beider Wissenschaftsarten, die er hiermit voraussetzt, nichts zu tun. Snows Two-Cultures-Analyse ist also eher eine Meta-Diskussion auf der Basis der Unterscheidung dieser zwei Typen von universitärem Diskurs. (Ende des Exkurses) Zurück zu Howes Interpretation Cassirers. Wichtig ist in seiner Darstellung nun die Verbindung, die Howe zwischen Cassirer und – überraschender Weise – Dewey herstellt. Dewey, bekanntlich ein weiterer Pragmatiker in der amerikanischen Tradition, ist insofern von Bedeutung, als Deweys wichtiger Begriff von Natur dem von McDowell täuschend ähnelt. Dies kann Howe 1961 freilich nicht antizipiert haben; umso mehr ein Grund, einen kurzen Blick auf Dewey zu richten. Ohne auf Dewey hier näher einzugehen, so kann er doch so viel zur Debatte beitragen, als Dewey einerseits beeinflusst war von Darwins Evolutionstheorie, er aber andererseits ebenso die Idee von der Natur als einer ‚toten‘ Materie ablehnte. Seine große Aufgabe in seinem Hauptwerk Experience and Nature (1925) besteht darin, Natur einen ‚bezauberten‘ (‚enchanted‘) Sinn zurückzugeben, wie eine nur kursorische Lektüre dieses Werks zeigt. In Kapitel 3 („Nature, Ends and Histories“) etwa zeigt Dewey, wie menschliche Rituale wie Arbeit, Feiern, Tanz, etc. eine direkte Erfahrung von Natur sind, die nicht deswegen einer ‚supernatürlichen‘ (Dewey 1958, S. 80) Kraft zugeschrieben werden müssen. Deweys Naturalismus ist also ein humanistischer Naturalismus. Die Verbindung von Cassirer und Dewey hat bereits Felix Kaufmann 1949 gesehen. Trotz aller Differenzen, die Kaufmann sieht, zitiert er eine bemerkenswerte Passage aus Deweys Logic von 1938, von der er – m. E. völlig richtig – sagt, dass Cassirer ihr sehr wahrscheinlich sehr positiv gegenüber gestanden hätte (vgl. Kaufmann 1958, S. 211); interessanter Weise ist die hier dargestellte Position fast wortwörtlich die McDowells: The term ‚naturalistic‘ has many meanings. As it is here employed it means, on one side, that there is no breach of continuity between operations of inquiry and biological operations and physical operations. ‚Continuity‘, on the other side, means that rational operations grow out

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of organic activities, without being identical with that from which they emerge. (Zitiert in Kaufmann 1958, S. 211)¹²

Dieses ‚Herauswachsen aus‘ ist die Kehrseite dessen, was McDowell als Hineinwachsen in unsere ‚zweite Natur‘ nennt. Und damit zurück zu Howe. Um Cassirers Projekt zu motivieren, sieht er es als Behandlung des metaphysischen Problems – und hier verweist er auf den bekannten Buchtitel von C.D. Broad von 1925 – „‚mind and its place in nature‘“¹³ und bezeichnet Cassirers Position als einen „perfectly consistent ‚idealistic naturalism‘“ (Howe 1961, S. X). Wie ist dies nun möglich, da Cassirers Sprache, wie Howe zugesteht, „comfortably idealistic“ (Howe 1961, S. X) ist? Howes Erklärung lautet, dass Cassirers Position ähnlich einer Reaktion mehrerer Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts auf den positivistischen Naturalismus ist – er zitiert hier Boutroux, Cohen, aber auch Mead, Peirce und James –, während eine Rückkehr zu Kantischen Dualismen nicht mehr möglich schien. Dieser Dualismus ist durch die Einsicht in diese Form von Naturalismus, für die Dewey stellvertretend ist, unmöglich geworden. Cassirer ist – wie Dewey auf der anderen Seite des Atlantik – bemüht, diese Tradition und damit einhergehende Ablehnung eines ‚kahlköpfigen Naturalismus‘ weiterzuführen. Zunächst ist Cassirers Position, „in his reluctance to translate his functional analysis [in Substanz- und Funktionsbegriff von 1910] of ‚mind, self, and culture‘ into metaphysical jargon“, eine „‚philosophy of idealistic naturalism‘ only by implication“ (Howe 1961, S. XII, Kursivierung ergänzt). Die Wendung zu einem expliziten idealistischen Naturalismus erfolgt in Cassirers Analysen dessen, was er – wie beschrieben – Kulturwissenschaften nennt. Bei Cassirer (in der Nachfolge Diltheys) sei es so, dass es sich bei der ‚Kultur‘, die diese Wissenschaften studieren, nicht um einen metaphysischen Geist handelt, sondern um konkrete soziale Gegebenheiten, die nicht innerhalb eines Kopfes stattfinden, sondern in konkreten Verhältnissen von Menschen untereinander, also nicht (wie Brandom sagt) ‚zwischen jemandes Ohren‘, sondern intersubjektiv. Alle persönliche, private Erfahrung kann nur Gegenstand dessen sein, was ein ‚subjektiver Idealismus‘ genannt werden könnte. Demgegenüber ist Cassirers ein ‚objektiver Idealismus‘ oder ein Idealismus des ‚objektiven Geistes‘ (vgl. Kreis 2013), der nichts anderes als ein ‚naturalistischer Idealismus‘ in Howes Sprache ist, wenn man Natur in der Tat als Natur im McDowell’schen und Dewey’schen Sinn auffasst: „For [Cassirer], all cognitive aspects of mind, all aspects concerned with meaning (rather than with those direct experiences which meadiate meanings) are social; and, if given lasting communicable form, they are cultural.“ (Howe 1961, S. XIII)¹⁴

 Der vollständige Titel des Werkes von 1938 lautet Logic: The Theory of Inquiry.  C.D. Broad (1887– 1971) war ein britischer Philosophiehistoriker und Wissenschaftstheoretiker. Das voluminöse The Mind and its Place in Nature von 1925 war ein damals viel rezipiertes Werk.  An diesem Punkt in seinem Text diskutiert Howe die weitere Bedeutung von Wissenschaft als das englische Science. Diese Diskussion ist in einer deutschsprachigen Präsentation zu vernachlässigen, ist

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Als solches ist Cassirers Philosophie der Kultur eine Analyse der Begriffe, die der Kunst, Geschichte und der menschlichen Natur in allen objektiv-kulturell vorliegenden Produkten zugrunde liegen und damit eine „logic of concrete universals“ (Howe 1961, S. XIV) gegenüber einer traditionellen Logik, die von abstrakten Universalien handelt, die in der modernen Naturwissenschaft vorherrschend ist (bereits Kants Konzeption einer ‚transzendentalen Logik‘ bricht mit dieser Tradition). Es ist – in diesem Sinne sehr ähnlich Husserls Phänomenologie von der Lebenswelt als Deskription von konkret-allgemeinen lebensweltlichen Typen (vgl. Husserl 2008) – eine „logic of style concepts“ (Howe 1961, S. XV). „The term ‚logic‘, then, is here to be taken as referring simply to a critical study of such type and style concepts and not to a supposed methodology of historical predictions or of formulas for artistic creation.“ (Howe 1961, S. XV) Kulturwissenschaften studieren in diesem Sinne die Akkulturierung der menschlichen Natur im Sinne des anti-positivistischen Naturbegriffs; damit erhebt sich der Mensch nicht über die Natur, sondern wird erst er selbst. Am Ende gelingt Cassirer diese Vision, sofern er die Skylla des ‚kahlköpfigen‘ Naturalismus einerseits, andererseits die Charybdis eines Existentialismus, der den Fokus auf den Menschen mit einem solchen auf das radikal vereinzelte Individuum verwechselt (cf. Howe 1961, S. XVII), erfolgreich umschifft, und Howe beschließt seine Interpretation mit dem Satz: „It is because of this treatment of thought and object of thought that I look upon Cassirer’s philosophical position as a fresh and perfectly consistent ‚idealistic naturalism‘.“ (Howe 1961, S. XVII) In diesem Sinne wären symbolischer Idealismus und idealistischer Naturalismus (oder naturalistischer Idealismus) die exakt gleiche Position unter verschiedenen Namen. ‚Idealismus‘ ist berechtigt, sofern man sich vom kahlköpfigen Naturalismus abgrenzt, und ‚Naturalismus‘ ist ebenso berechtigt, insofern Cassirer, wie McDowell, einen ‚vollbehaarten‘ Naturalismus gegenüber jenem vertritt. Dieser Naturalismus ist kompatibel mit Cassirers Idealismus. Die Plausibilität dieser Lesart kann man schließlich noch mit Verweis auf Cassirer selbst belegen. Im Text Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie von 1939 geht Cassirer mit dem Naturalismus und der naturalistischen Begründung der Kulturphilosophie ins Gericht. Nicht überraschend lehnt Cassirer eine naturalistische Begründung der Kultur ab, interessant ist dabei aber sein Verständnis von Naturalismus. Cassirer hängt den Naturalismus in erster und entscheidender Linie an der Annahme der durchgehenden Kausalität auf, die auf dem „Axiom des universellen Determinismus“ (Cassirer 2011, S. 141) beruht. In diesem Sinne macht eine naturalistische Begründung der Natur Freiheit unmöglich und ist daher abzulehnen. Dieses Paradigma verfolgt die moderne Naturwissenschaft. Es wird jedoch dann problematisch, wenn man versucht, diesen kausalistischen Mechanismus auch auf Kultur anzuwenden, wie dies etwa im 19. Jahrhundert bei Hippolyte Taine ge-

aber doch wichtig für den angloamerikanischen Kontext, der Science auf (kausalistische, positivistische) Naturwissenschaft verengt.

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schieht. Aber interessanter Weise verfällt diesem Naturalismus auch der Idealist Hegel: Hegels Philosophie will eine Philosophie der Freiheit sein. Und doch hat die Freiheitsidee des metaphysischen Idealismus, wie sie dem Hegelschen System zugrunde liegt, den Befreiungsprozess nur für das unendliche, nur für das absolute Subjekt, nicht aber für das endliche Subjekt vollzogen. […] So wird auch hier, gegenüber der Allmacht der sich selbst bewegenden Idee, der einzelne zur bloßen Marionette. (Cassirer 2011, S. 146 f.)¹⁵

Um diese etwas überraschende These richtig zu verstehen, muss man betonen, dass Cassirer Hegel hier keinen Naturalismus unterstellt, was wenig überzeugend wäre; vielmehr ist Cassirers Punkt, dass der Determinismus, der aus dem kausalistischmechanistischen Weltbild der modernen Naturwissenschaft stammt, von Hegel auf die Entwicklung des Geistes übertragen wird. Ob diese Lesart Hegels überzeugend ist, steht auf einem anderen Blatt, ist aber für den vorstehenden Gedankengang nicht entscheidend. In der Tat geht es eher um Cassirers Position – die humanistische Begründung der Kulturphilosophie –; diese sieht demgegenüber vor, „dass wir […] den Kreis des natürlichen Daseins durchbrechen und prinzipiell aus ihm heraustreten müssten“ (Cassirer 2011, S. 149, Kursivierung ergänzt). Cassirer charakterisiert seine Position wie folgt: Als der Grundzug allen menschlichen Daseins erscheint es, dass der Mensch in der Fülle der äußeren Eindrücke nicht einfach aufgeht, sondern dass er diese Fülle bändigt, indem er ihr eine bestimmte Form aufprägt, die letzten Endes aus ihm selbst, aus dem denkenden, fühlenden, wollenden Subjekt herstammt. (Cassirer 2011, S. 149)

Dem, welchem die Form aufgeprägt wird, ist, wenn ich mich nicht täusche, die Natur in dem Sinne, wie er gleichermaßen von Dewey, McDowell und Cassirer vertreten wird.

4 Schluss und Ausblick: Der Raum der Gründe – der Raum der Kultur. Konfrontation von Marburg und Pittsburgh Was ist nun das Resultat dieses Vergleichs? Ich hatte zunächst Cassirers Position des symbolischen Idealismus und sodann die Position McDowells dargestellt, die man als ‚offenen‘ Naturalismus bezeichnen könnte. Durch die Vermittlung von Howe habe ich zu zeigen versucht, dass beide Positionen in Grundzügen vermittelbar sind. Ein idealistischer Kulturphilosoph sollte m. E. keine Berührungsängste mit dem Begriff

 Anderswo würdigt Cassirer Hegel ausdrücklich und verwendet auch den Begriff Phänomenologie im Hegelschen Sinn in PSF 3; was er ablehnt (neben dem Determinismus in vorliegender Passage), ist allerdings Hegels Teleologie, die im absoluten Geist endet.

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Naturalismus haben, wenn man ihn im McDowell’schen Sinn versteht. Idealistisch ist Cassirers Position insofern, als es keinen unvermittelten Zugang zur Natur gibt, und dem müsste m. E. auch McDowell zustimmen können, sofern er diese Vermittlung begrifflich fasst. Außerdem ist für Cassirer der Raum der Kultur ein Raum der Freiheit; man kann nur in der Kultur frei sein. Der Raum der Kultur ist also nicht etwas, was unsere ‚uneigentliche‘ Lebensweise ausmacht (Heidegger); im Gegenteil ist der Raum der Kultur die Bedingung der Möglichkeit des Sich-Befreiens von der Endlichkeit und ‚Geworfenheit‘ der Existenz. Kultur ‚entfremdet‘ also nicht, wie es etwa Adornos Kulturkritik möchte, sondern ist erst das, was uns aus der Entfremdung durch Barbarei befreit. Ist diese Lesart beider Positionen und ihr Vermittlungsversuch generell richtig, hat man sie damit auf eine Grundlage gestellt, auf der sie verglichen und miteinander konfrontiert werden können. Denn schließlich ist meine Auffassung nicht nur, dass beide Positionen grundsätzlich vermittelbar sind, sondern dass Cassirers Position ihnen überlegen, weil weiter gefasst, ist. In Luft (2015, S. 240 – 243) habe ich das Buch mit einer kurzen Andeutung beendet, dass m. E. der Raum der Kultur weiter gefasst bzw. fassbar ist als der Raum der Gründe, es aber bei dieser Andeutung belassen. Ich komme nun hierauf zurück; das in diesem Aufsatz Geleistete sollte mich in die Position bringen, diese Behauptung näher zu begründen. Zum Teil ist dies bereits geschehen, sofern der hier angestellte Vermittlungsversuch erfolgreich war; aber es kann zudem in wenigen zusätzlichen Schritten weitergeführt werden, die noch kurz zu vollziehen sind. Der Hauptunterschied zwischen den Positionen Cassirers und McDowells liegt offensichtlich darin, dass es sich bei Cassirers Position um einen Pluralismus handelt, also um eine Pluralität von verschiedenen Formen von Kultur, die zu analysieren, aber auch philosophisch zu unterscheiden und voneinander abzugrenzen sind. Von einer philosophischen Reflexion auf die Vielzahl von kulturellen Leistungen ist, soweit ich sehen kann, bei McDowell keine Spur; dies soll keine Kritik sein, denn McDowells Interesse ist schlichtweg anders gelagert. Der Raum der Kultur ist bei Cassirer von vornherein plural angelegt, also ist dementsprechend die Logik der Kulturwissenschaften, genauer besehen, ein Oberbegriff für die verschiedenen Logiken, denen jede Kulturform auf ihre Weise untersteht. Vermieden werden muss dabei auch die Tendenz, die Logik einer Form auf eine andere anzuwenden und sie damit zu vermischen. Die Differenz zu McDowell und eine Kritik an ihm liegt von daher auf der Hand: Mit Cassirer müsste man sagen, dass der Raum der Gründe sicherlich ein Raum ist, in dem wir uns aufhalten können, aber nicht der einzige. Man könnte hier McDowell auch einen latenten kantischen Rationalismus vorwerfen, als ob es so wäre, dass man, um Mensch zu sein, allein den Raum der Gründe als zweite Natur einnehmen müsste; als ob, m.a.W. einzig die Platzierung in den Raum der Gründe unser Menschsein konstituiert. Cassirer bricht eindeutig mit dem Paradigma, dass das, was den Menschen ausmacht (im Gegensatz zu den Tieren) allein unsere Vernunft ist. Freilich, wenn es um Rechtfertigung von Meinungen, Handlungsmaximen und dem Entwerfen von Plänen und Ideen und die Weisen derer Umsetzbarkeit geht, wird man um ein Gespräch, worin man sich gegenseitig Gründe vorbringt und sich geben lässt, nicht

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herumkommen. Dass also explizite Rechtfertigung von kulturellen Handlungen sprachlich-begrifflich vor sich gehen muss, ist nicht zu bestreiten; bzw. um auf Brandom anzuspielen, die Rechtfertigung kann nur durch ein Explizitmachen impliziter Normen, die kulturelle Handlungen leiten, geschehen. Erst das, so wäre die These von Pittsburgh, macht uns zu rationalen Wesen. Diese Schule steht also eindeutig in der Tradition des Rationalismus. Für Cassirer wäre aber Vernunft nur eine der möglichen Weisen, Mensch zu sein, oder anders gesagt: Vernunft, wenn man diesen restriktiven Begriff überhaupt verwenden möchte, wird in vielfacher Weise zum Ausdruck gebracht, explizit gemacht – in allen Formen der Kultur. In der Tat, die Grundthese von Marburg lautet: Fundamentaler als rationale Wesen sind wir kulturelle Wesen, die sich in verschiedenen kulturellen Räumen aufhalten können und immer schon aufhalten und darin unsere Humanität leben, sei es in Religion, Kunst, Technik, und anderen (virtuellen) Räumen.Wir nehmen unsere zweite Natur ein in dem Moment, wo wir akkulturiert werden (ein Prozess, der mit der Geburt beginnt), und das rationale Geben und Nehmen von Argumenten ist hierbei einer, und noch dazu ein sehr abstrakter, sehr hoch angesetzter Raum, der möglicher Weise (auch das kann evtl. nicht mit Sicherheit gesagt werden) der höchste und höchstmögliche für uns ist. Aber auch dies – dass der Raum der Gründe der höchste in einer evtl. dialektischen Bewegung sei – wäre evtl. ein Hegelianismus, den man kritisch in Frage stellen könnte (wobei offengelassen werden soll, dass diese Kritik McDowell trifft). Wie Cassirer den Faschismus bekanntlich interpretiert, ist ein Rückfall in den Zustand der Unkultur immer möglich. Die Frage, ob der Raum des Begründens der höchste oder beste (oder was immer) wäre, ist jedoch für den grundsätzlichen Punkt, den ich hier mit Cassirer mache, nicht entscheidend. Wichtiger ist: Es besteht angesichts der Fülle der Kultur und der Tätigkeiten in der Kultur, deren wir fähig sind, kein Grund, ihn zu privilegieren oder als den einzigen anzusehen. Schließlich ein letzter Punkt, an dem sich das produktive und zeitgemäße Potenzial der Cassirer’schen Position zeigt, und auch hier in Abgrenzung gegen eine Pittsburgher Lesart. Hierfür gehe ich ein letztes Mal auf Sellars zurück, der in seiner bereits zitierten Besprechung von Cassirers Language and Myth eine Kritik äußert, die m. E. auf einem Missverständnis, allerdings einem instruktiven und weiterführenden, beruht. Sellars stellt ein paar rhetorische Fragen, auf die kurz im Sinne Cassirers zu antworten ist: Does not the conception of philosophy as a study of ‚symbolic forms‘ bring with it an obligation to distinguish between the philosophical and non-philosophical study of symbolism? If no fundamental distinction can be drawn (other than, perhaps, in degree of generality), does epistemology become an inductive science? Does Kant’s Copernican Revolution become a set of propositions in the inductive linguistics of sense-perception? (Sellars 1948/49)

Die Fragen unterstellen, dass die Philosophin der Kultur eine Entscheidung treffen muss, ob deren Untersuchung philosophisch oder unphilosophisch ist, in welchem Fall sie lediglich induktiv und nicht apriorisch wäre. Hierzu sei nur so viel gesagt, dass der Philosoph der Kultur im Sinne Cassirers nicht in dieses Entweder-Oder gezwungen

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wird. Und darin liegt noch eine weitere Stärke dieser Position. Der Grund, warum der Kulturphilosoph sowohl empirische Forschung und philosophische Reflexion betreiben kann (und auch sollte), liegt an Cassirers Auffassung des Apriori, welches er als dynamisch und historisch flexibel auffasst. Jede symbolische Form hat ihre Funktionsprinzipien, nach denen sie lebt, aber diese sind keine begrifflich gefasste Kategorientafeln, sondern historisch sich wandelnde Logiken, die zudem nicht auffindbar sind vom Lehnstuhl aus. Im Gegenteil ist hierfür der Philosoph auf empirische Forschung angewiesen. Die Unterscheidung zwischen empirisch und apriorisch ist somit keine schroffe, sondern fließend-gleitend. Es handelt sich dann um eine Philosophie der Kultur, sofern diese Logiken aufgewiesen, geordnet und auf sie reflektiert werden; es handelt sich um eine empirische, induktive Untersuchung der Kultur, die als eine philosophische Reflexion auf empirisches Beweismaterial angewiesen ist, das von Historikern, Anthropologen, Kunstwissenschaftlern, etc., beigebracht wird. Vor allem in diesem letzten Punkt liegt das Potenzial, dass eine so konzipierte Kulturphilosophie sowohl die Philosophie wieder näher an die Cultural Studies annähert und letztere dazu anregt, ihren antiphilosophischen Empirismus zu überwinden und sich mit Kulturphilosophen im Sinne einer gemeinsamen Aufgabe zusammentun: der Arbeit der Kultur und an der Kultur.

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Inkarnierter Sinn Zur Symbolik des Leibes bei Cassirer und Merleau-Ponty Abstract: Incarnated Sense. On the Symbolism of the Body in Cassirer and MerleauPonty. In this article, I argue that the paradigm of ‚sense‘ in Ernst Cassirer’s Philosophy of Symbolic Forms leads to an aporia in the dimension of the body or, more cautiously put, reveals a certain ‚unthought‘ (‚Ungedachtes‘) that Merleau-Ponty understood to be the key issue of his thinking. In a first step, following an introductory note on the notion of the body in modern philosophy, I reconstruct the way Cassirer manages to think the relation between soul and body as ‚a symbolic relation‘ by transferring it (and thereby limiting it) to the field of perception. Thus, Cassirer’s notion of ‚symbolic pregnance‘, originally elaborated to describe the immediate representation of meaning in perceptual experience, becomes synonymous with the way the body represents the soul. While the symbolic approach to the problem of body and soul (the soul being ‚the meaning of the body‘) indeed leads to an apt description of the perceptual phenomenon of the embodied ‚other‘ or the ‚You‘ (in the so-called ‚Du-Wahrnehmung‘), the aforementioned aporia arises when one tries to reconcile Cassirer’s conception of the ‚You‘ (as ‚incarnate meaning‘) with his conception of the ‚I‘ as time or time consciousness. This contradiction in Cassirer’s philosophy, stemming from the simple fact that every ‚You‘ is necessarily an ‚I‘ and every ‚I‘ is a ‚You‘ at the same time, is examined more closely in the second part of the article. In a third and last step, I outline how the notion of ‚flesh‘, i. e. the ‚chiasm‘ or ‚reversibility of the body‘, allows Merleau-Ponty to integrate both ‚bodies‘ (‚my own body‘ on the one hand and the same body as ‚body of the other‘ on the other hand) without losing sight of their respective differences. Keywords: incarnated sense, body, I, You, perception, Maurice Merleau-Ponty, Ernst Cassirer

1 Eine glückliche Begegnung: Merleau-Ponty liest Cassirer Aron Gurwitsch gab 1972, an der New School for Social Research in New York, ein Seminar zum dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen. Als „Sekundärliteratur“ (Krois 1988, S. 39) empfahl er seinen Studenten Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung. Gurwitsch besaß offenbar Humor, und man kann nur hoffen, dass die Studenten ihn als solchen auch zu nehmen wussten. Die Phänomenologie der Wahrnehmung ist eines der dichtesten und unzugänglichsten Werke der Philosophie des 20. Jahrhunderts und schon deshalb wenig geeignet, die Philosophie https://doi.org/10.1515/9783110549478-009

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eines anderen Autors zu erhellen, weil es alle Kraft kostet, Licht allererst in deren eigenes Dunkel zu bringen. Dagegen eignet sich wohl kein anderes Werk so vorzüglich dazu, in das Denken Merleau-Pontys einzuführen, wie Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Das mag in der Tat Gurwitschs didaktischer Hintergedanke gewesen sein; wir wissen es nicht, und es soll uns hier auch nicht weiter interessieren. Worauf es mir bei der Anekdote vielmehr ankommt, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Gurwitsch die Leibphänomenologie Merleau-Pontys in unmittelbare Nähe zur Kulturphilosophie Cassirers rückt, und zwar so nah, dass erstere nachgerade wie ein Kommentar, wie ‚Sekundärliteratur‘ zu letzterer erscheinen kann. Die sachliche wie methodische Affinität beider Denker ist in der Tat frappierend. Ihre grundlegende Übereinstimmung reicht von der Integration gestalttheoretischer Einsichten in eine umfassende Phänomenologie der Wahrnehmung bis hin zur Rehabilitierung der Lebenswelt bzw. des natürlichen Weltbegriffs, von der Kritik des empiristischen wie rationalistischen Unmittelbarkeitsdenkens im Namen symbolischer Prägnanz bis hin zur philosophischen Auseinandersetzung mit der Physiologie und Psychopathologie im allgemeinen wie dem ‚Fall Schneider‘ im Besonderen, von der genetisch-phänomenologischen Betrachtungsweise Hegelscher Provenienz bis hin zur Aufnahme lebensphilosophischer Einsichten in eine bis zur Unkenntlichkeit verwandelte Transzendentalphilosophie. Die Reihe ließe sich fortsetzen; sie hebt an mit der Kritik des Empfindungsbegriffs und gipfelt, wenn man so will, in der Auffassung der Kultur als ‚Ausdruckswelt‘, ‚Zeichengefüge‘ und ‚Symbolsystem‘ – allesamt Termini Merleau-Pontys (vgl. u. a. Merleau-Ponty 1953/2011, passim; 1952/2007, S. 56 f. u. ö.; 1951/2003, S. 109 u. ö.). Die Wahlverwandtschaft zwischen Cassirer und Merleau-Ponty ist gewiss kein Zufall. Es fragt sich allerdings, wie man sie zu deuten hat. 1938 schließt Merleau-Ponty die Arbeit an seinem ersten großen Werk, der Struktur des Verhaltens, ab, das 1942 das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Drei Jahre später folgt die Phänomenologie der Wahrnehmung, Hauptwerk und zweite Doktoratsthese in einem. In beiden Arbeiten nimmt Merleau-Ponty Bezug auf Cassirer, marginal in der Struktur des Verhaltens,¹ vermehrt dann in der Phänomenologie der Wahrnehmung (vgl. Merleau-Ponty 1945/ 1974, S. 49, 76, 152 f., 155, 178, 216, 227, 275, 337, 339), ohne dass von einer expliziten Auseinandersetzung die Rede sein könnte, wie sie Merleau-Ponty etwa mit Descartes,

 Vgl. Merleau-Ponty (1942/1976, S. 195) zum Verhältnis von Sprache und Wahrnehmungswelt und (S. 207) zur Unterscheidung von Substanz- und Funktionsbegriff. Dort verweist Merleau-Ponty auf Cassirers „Le langage et la construction du monde“, Journal de Psychologie 30 (1933), S. 18 – 44; hier auf „‚Geist‘ und ‚Leben‘ in der Philosophie der Gegenwart“, Die Neue Rundschau 16 (1930), S. 244– 264. Einen Hinweis darauf, dass Merleau-Ponty bereits zur Zeit der Abfassung von Die Struktur des Verhaltens den dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen kannte, gibt ein Klages-Zitat auf S. 242, das Cassirer im dritten Band mit denselben Auslassungen und in demselben Kontext verwendet (vgl. PSF 3, S. 112 f., Kap. „Die Ausdrucksfunktion und das Leib-Seele-Problem“). Das entsprechende Kapitel bei Merleau-Ponty trägt den Titel „Die Leib-Seele-Beziehungen und das Problem des Wahrnehmungsbewußtseins“.

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Kant oder Husserl geführt hat. Die Vermutung liegt gleichwohl nahe, dass zwischen der Cassirer-Rezeption Merleau-Pontys und der erstaunlichen sachlichen Konvergenz ihres Denkens, um das mindeste zu sagen, ein Zusammenhang besteht. Immerhin beherrschten beide, Cassirer nicht weniger als Merleau-Ponty, die große Kunst, die Spuren derer zu verwischen, die ihnen philosophisch am nächsten standen: MerleauPonty verhält sich zu Cassirer wie Cassirer zu Dilthey. Dennoch, meine ich, sind Zweifel angebracht, ob das Verhältnis hier wie dort in der Begrifflichkeit von ‚Einfluss‘ resp. ‚Wirkung‘ adäquat zu erfassen ist, und zwar aus wenigstens zwei Gründen: zum einen, weil sich das Gesamtwerk Merleau-Pontys, von den frühesten Anträgen auf finanzielle Unterstützung für sein Dissertationsvorhaben (1933/34) bis zu den letzten Notizen kurz vor seinem plötzlichen Tod (1961) – Notizen, die Eingang finden sollten in Das Sichtbare und das Unsichtbare – durch eine innere Geschlossenheit auszeichnet, die weder Brüche noch Kehren noch Verwerfungen kennt. Sein Denkweg stellt sich rückblickend als eine einzige, bestechend konsequente Entfaltung seines Grundgedankens dar, und was Merleau-Ponty von der Kunst des Malers sagt, gilt a fortiori für seine eigene Arbeit: Es geht immer nur darum, dieselbe schon offene Furche weiterzuziehen, einen Akzent wieder aufzugreifen und zu verallgemeinern, der schon im Winkel eines früheren Gemäldes oder in irgendeinem Augenblick seiner Erfahrung aufgetaucht war, ohne daß der Maler selbst jemals sagen könnte – da diese Unterscheidung keinen Sinn hat –, was von ihm und was von den Dingen stammt, was das neue Werk den alten hinzufügt, was er von den anderen entnommen hat und was ihm gehört. (Merleau-Ponty 1952/2007, S. 80)

Auf diesen letzten Punkt – dass der Maler resp. Philosoph niemals zu sagen vermag, was von ihm und was von anderen stammt – kommen wir noch zurück. Zunächst gilt es festzuhalten, dass die Philosophie Merleau-Pontys zu jener Zeit, da Cassirer für ihn philosophische Bedeutung erlangte, d. h. während der Arbeit an der Phänomenologie der Wahrnehmung, bereits eine Richtung eingeschlagen hatte, von der er bis zu seinem Tod kein Jota mehr abweichen sollte. Noch aus einem anderen, dem ersten nur scheinbar widersprechenden Grund tue ich mich schwer, von einem Einfluss Cassirers auf Merleau-Ponty zu sprechen. Merleau-Ponty war, wie Cassirer auch, ein hochgradig synthetischer Denker. Nicht nur verstand er seine Philosophie als eine Art geistiges Milieu, aus dem heraus die Widersprüche des Idealismus und Realismus als einseitige Abstraktionen begriffen werden konnten, wohlwissend, dass „zwei Abstraktionen […] zusammen noch keine konkrete Beschreibung aus[machen]“ (Merleau-Ponty 1942/1976, S. 189); auch übernahm er – und dies führt uns zum Kern unserer Problematik – freimütig die Begriffe anderer Autoren, wenn sie ein Phänomen, das er umkreiste, prägnant zum Ausdruck brachten, wenn sie ihn in der Richtung, in die er dachte, ein Stück weit voranbrachten. Merleau-Pontys Texte sind bis an den Rand gefüllt mit fremden Beiträgen. Die Assimilationskraft seiner Philosophie hat, hält man sich an das 20. Jahrhundert, nur in der Cassirers ihresgleichen.

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Das sind in der Tat, sollte man meinen, beste Voraussetzungen für eine Wirkungsgeschichte. Dem ist jedoch – zum Glück – nicht so, denn eingegliedert in das „Zeichengefüge“² der neuen Philosophie verschiebt sich der Sinn, den die Begriffe in ihrem vormaligen Kontext hatten; sie unterliegen, wie Merleau-Ponty mit Malraux sagt (der darunter freilich etwas anderes verstand), einer ‚kohärenten Deformierung‘ (vgl. Merleau-Ponty 1952/2007, S. 74, 75, 108, 113). Es sind buchstäblich nicht mehr dieselben, wenn sich auch unmöglich angeben lässt, worin eigentlich die Bedeutungsdifferenz besteht, solange man nicht zugleich das neue Ganze berücksichtigt, dessen organische Teile sie geworden sind. Merleau-Ponty war sich dieser Sinnverschiebungen wohl bewusst, er sah in ihnen jedoch keine Eigentümlichkeit seines eigenen Philosophierens, sondern eine Wesensnotwendigkeit der menschlichen Kultur überhaupt: Es ist offenbar ein Gesetz der Kultur, daß sie immer nur auf Umwegen fortschreitet; jede neue Idee, die von jemandem gestiftet wurde, wird zu etwas anderem, als sie ursprünglich bei ihm war. Der Mensch kann kein Erbe von Ideen antreten, ohne sie eben dadurch umzuwandeln, daß er von ihnen Kenntnis nimmt, ohne seine eigene – und immer andere – Seinsweise in sie hineinzulegen. Sobald sie entstehen, setzt eine unermüdliche Redseligkeit die Ideen in Bewegung […].Wie könnte man also verbürgte Ideen aufzählen, wo sie doch, selbst wenn sie sich fast allgemein durchgesetzt haben, eben dadurch auch immer andere werden, als sie waren? (Merleau-Ponty 1952b/2007, S. 333)

Die Cassirer-Rezeption Merleau-Pontys nachzuzeichnen, gestaltet sich mithin schwieriger als angenommen. Wir können von Glück sagen, dass Merleau-Ponty uns mit dieser Aufgabe nicht gänzlich allein lässt. In einer Fußnote des ersten Teils der Phänomenologie der Wahrnehmung gibt er äußerst bündig darüber Auskunft, was ihn mit Cassirer verbindet und worin sie sich letztlich doch unterscheiden. Konkreter Anlass der Auseinandersetzung ist die philosophische Deutung des pathologischen Falls ‚Schneider‘, genauer: die Frage, wie der „Bezug zwischen dem sprachlichen, perzeptiven und motorischen Inhalt und der ihm gegebenen Form bzw. der ihn beseelenden Symbolfunktion“ (Merleau-Ponty 1945/1974, S. 144) philosophisch zu denken sei, will man dem zugleich physischen wie metaphysischen, körperlichen wie geistigen Leiden Schneiders gerecht werden. Merleau-Pontys eigene Deutung, die ins Herz seiner Phänomenologie führt, lassen wir zunächst außer acht und sehen uns die längere Fußnote zu Cassirer genauer an: E. Cassirer verfolgt offenbar ein ähnliches Ziel, wenn er gegen Kant den Vorwurf erhebt, er habe zum größten Teile nur eine „intellektuelle ‚Sublimierung‘ der Erfahrung“ analysiert (Philosophie

 „Jede Philosophie ist auch ein Zeichengefüge; sie konstituiert sich in einem engen Verhältnis zu anderen Formen des Austauschs, die das soziale und geschichtliche Leben ausmachen. Die Philosophie steht inmitten der Geschichte; niemals ist sie vom geschichtlichen Geschehen unabhängig.“ (Merleau-Ponty 1953/2003, S. 217)

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der symbolischen Formen, III, S. 14)³, wenn er im Begriff der symbolischen Prägnanz der absoluten Simultaneität von Materie und Form Ausdruck zu geben sucht und endlich, wenn er sich das Hegel-Wort zueigen macht, der Geist bewahre die Vergangenheit in seiner gegenwärtigen Tiefe. Doch die Beziehungen zwischen den verschiedenen symbolischen Formen bleiben bei Cassirer zweideutig. Stets fragt man sich wieder, ob die Darstellungsfunktion ein Moment im Rückgang eines ewigen Bewußtseins auf sich selbst und somit der Schatten der Bedeutungsfunktion oder im Gegenteil die Bedeutungsfunktion eine unvorhersehbare Erweiterung der ersten konstitutiven „Welle“ ist. Wenn Cassirer die Kantische Formulierung übernimmt, der gemäß das Bewußtsein nichts zu analysieren vermöchte, wovon es nicht selbst die Synthese hergestellt hat,⁴ so fällt er offenbar auf einen Intellektualismus zurück –, trotz all der phänomenologischen, ja existentiellen Analysen, an denen sein Werk reich ist und deren wir uns noch verschiedentlich zu bedienen haben werden. (Merleau-Ponty 1945/1974, S. 155)

Die Fußnote hält sich nicht mit Details auf, sie geht aufs Ganze. Die Übereinstimmungen, die Merleau-Ponty nennt, zählen zu den Grundpfeilern seines Denkens: erstens die Restitution eines vor-reflexiven Wahrnehmungslebens wie korrelativ einer vor- und außerwissenschaftlichen Lebenswelt, deren „sekundärer Ausdruck“ (Merleau-Ponty 1945/1974, S. 4) die Wissenschaft und ihr Erfahrungsbegriff notwendig bleiben; zweitens die Kritik am Idealismus der Formgebung wie am Empirismus des formlosen Materials, und zwar im Namen jener wahrnehmungsphänomenologischen Einsicht, dass „jede Empfindung schon mit einem Sinn schwanger (prégnante) geht“ (Merleau-Ponty 1945/1974, S. 345); und schließlich, drittens, die Hegel entlehnte, doch gegen Hegel gewendete Idee, dass jede neue Form und jede neue Funktion die jeweils ältere nicht auslöscht, sondern, je nach Perspektive, in sich (als integraler Bestandteil), neben sich (als selbständige Richtung) oder unter sich (als Fundament) bewahrt. Während sich Merleau-Ponty in diesem letzten Punkt, der Bewahrung der Vergangenheit in der Gegenwart, noch mit Cassirer einig weiß, meldet er Zweifel an, wo es um die entgegengesetzte Richtung der Formgenese geht, die Überschreitung der Gegenwart auf die Zukunft hin, mithin die Bereicherung eines gegenwärtigen Formen- und

 Vgl. Cassirer (1929/2002, S. 12): „Und die transzendentale Kritik darf sich, wenn sie die Struktur der Gegenstandserkenntnis aufdecken will, nicht auf jene intellektuelle ‚Sublimierung‘ der Erfahrung, nicht auf den Oberbau der theoretischen Wissenschaft beschränken, sondern sie muß ebensowohl den Unterbau, sie muß die Welt der ‚sinnlichen‘ Wahrnehmung als ein spezifisch bestimmtes und spezifisch gegliedertes Gefüge, als einen geistigen Kosmos sui generis, verstehen lernen.“  Merleau-Ponty bezieht sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf eine Passage aus „Le langage et la construction du monde“, die in der deutschen Fassung wie folgt lautet: „Die ‚Verbindung […] eines Mannigfaltigen‘, so zeigt Kant in entscheidenden Erörterungen der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, kann niemals durch die Sinne in uns kommen – sie ist vielmehr ‚ein Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft‘. Diesem Aktus will er den Namen ‚Synthesis‘ beilegen: ‚um dadurch zugleich bemerklich zu machen, daß wir uns nichts als im Objekt verbunden vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die Verbindung die einzige ist, die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Aktus seiner Selbsttätigkeit ist.‘ Eine solche ‚Synthesis‘ und demgemäß einen solchen ‚Aktus der Selbsttätigkeit‘ müssen wir, nicht minder als für die theoretische Erkenntnis, für jeden Modus und jede Grundrichtung der geistigen Formung voraussetzen.“ (ECW 18, S. 111 f.)

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Funktionsganzen durch eine neue Form und eine neue Funktion. Cassirer schwankt, so könnte man Merleau-Pontys Vorwurf reformulieren, zwischen einer modernen und einer vor-modernen Auffassung der menschlichen Poiesis; er schwankt, überspitzt gesagt, zwischen einem Hegelschen Geist, der im Schaffen für sich wird, was er an sich je schon gewesen ist, und einem Nietzscheanischen Willen, der auf unvorhersehbare Weise, d. h. schöpferisch, über sich hinaus schafft. Welcher Auffassung MerleauPonty – bei aller Sympathie für den frühen Hegel – zuneigt, bedarf keiner weiteren Erwähnung. Der zweite und zugleich letzte Kritikpunkt betrifft Cassirers Kantianismus, genauer: die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit von symbolischer Formung (als aktive Synthesis) und symbolischer Prägnanz (als intuitive, jede Form diskursiver Erkenntnis allererst ermöglichende Einheit⁵). Wie man sich auch zu diesem in der Tat fundamentalen Problem verhalten mag, ob man es für lösbar hält oder nicht – niemand, der die Philosophie der symbolischen Formen studiert hat, wird wohl bestreiten wollen, dass mit der Lehre von der symbolischen Prägnanz eine ungeheure Spannung in Cassirers Werk Eingang findet. Auf eine Diskussion über Recht und Unrecht der Kritik Merleau-Pontys sei an dieser Stelle verzichtet. Stattdessen möchte ich auf den versöhnlichen Schluss der Fußnote hinweisen, der mir zugleich als eine, wenn auch nicht unproblematische Rechtfertigung für mein eigenes Unterfangen dienen soll, die Cassirer-Rezeption Merleau-Pontys zu rekonstruieren. Durch die Übernahme des Kantischen Synthesisbegriffs und seiner Implikationen, so lautet also der Vorwurf Merleau-Pontys, falle Cassirer in den ‚Intellektualismus‘ zurück – ‚trotz all der phänomenologischen, ja existentiellen Analysen, […] deren wir uns noch verschiedentlich zu bedienen haben werden‘. Die Ankündigung auf Seite 155 von 518 der Phänomenologie der Wahrnehmung weckt Erwartungen für die 363 Seiten, die da noch folgen sollen. Die Erwartungen aber werden enttäuscht. Hier ein Verweis auf das Raum-Kapitel der Philosophie der symbolischen Formen, dort eine Anspielung auf Cassirers Unterscheidung von Ausdruck, Darstellung und Bedeutung – nichts, was auf eine nachhaltige ‚Wirkung‘ hindeuten würde. Nur ein einziger Satz, der durch sein Gewicht zugleich für das Fehlen anderer Spuren entschädigt, zeugt von der Ausnahmestellung, die das Werk Cassirers in dem verschlungenen Rezeptionsgefüge einnimmt, als das sich uns Merleau-Pontys Philosophie darstellt. „Es gilt“, so heißt es an entscheidender Stelle der Phänomenologie der Wahrnehmung,

 Vgl. Cassirer (1929/2002, S. 277): „Denn die ‚prägnante‘ Wahrnehmung führt stets zu einer assertorischen Setzung, während die ‚diskursive‘ bei einer problematischen stehenzubleiben pflegt. Jene schließt eine Intuition des Ganzen in sich – diese führt im günstigsten Falle zu einer richtigen Kombination von Merkmalen; jene ist symbolisch-bedeutsam, während diese nur symptomatisch-anzeigend ist.“ Vgl. auch Cassirer (2011, S. 69): „wir ‚haben‘ die ‚Bedeutung‘ in der Anschauung selbst, brauchen sie nicht erst zu ‚erschliessen‘; wir haben sie ‚intuitiv‘, nicht ‚diskursiv‘ [.] / Bei patholog[ischen] Störungen der ‚Praegnanz‘ (symbol[ische] Funktion) zeigt sich auch hier die Trennung: / das intuitive Beisammen von ‚Inhalt‘ u[nd] ‚Bedeutung‘ geht in ein bloss ‚diskursives‘ Nebeneinander über“.

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[…] allen bedeutungsgebenden Akten des thetischen und theoretischen Denkens vorgängig, die Ausdruckserlebnisse, als allem Zeichen-Sinn vorgängig den Ausdrucks-Sinn, als aller Subsumtion von Inhalten unter Formen vorgängig die symbolische „Prägnanz“ der Form im Inhalt zu erkennen. (Merleau-Ponty 1945/1974, S. 338 f.)

Cassirers Erinnerung an die symbolische Prägnanz hat Merleau-Ponty aus keinem wie auch immer gearteten Schlummer erweckt. Der Gedanke selbst trägt dessen eigene Philosophie von Anfang an, und statt von einer ‚Wirkung‘ oder einem ‚Einfluss‘ sollte man vielleicht besser von dem Kreuzen zweier Denkwege sprechen, von einer glücklichen Begegnung, die das Denken des einen, statt ihn von seinem Weg abzubringen, in der Richtung, die er bereits eingeschlagen hatte, bestätigt. Das ist, in der Philosophie zumal, keine Kleinigkeit. Doch, so müssen wir nun fragen, erschöpft sich denn wirklich die Rezeption Cassirers durch Merleau-Ponty in der Zustimmung zu diesem und der Ablehnung von jenem? Hält man sich allein an die Auskünfte, die MerleauPonty selbst gegeben hat, wie an die unkommentierten Spuren, die Cassirer in seinem Werk hinterlassen hat, muss man diese Frage wohl oder übel bejahen. Mir scheint allerdings noch ein anderer Weg gangbar zu sein. Im Folgenden möchte ich die These entwickeln – wohlwissend, dass es sich um eine Konstruktion handelt (eine Konstruktion allerdings, die, wie ich hoffe, zu einem besseren Verständnis beiträgt) –, dass Cassirers konsequente Ausweitung des Sinnparadigmas auf alle Problemfelder der Philosophie in der Dimension des Leibes auf eine Aporie führt oder, vorsichtiger ausgedrückt, ein ‚Ungedachtes‘ zum Vorschein bringt, das MerleauPonty bis in sein Spätwerk hinein als Angelpunkt seines Denkens begriffen hat. Um dieser Konstruktion sachlichen Rückhalt zu geben, werde ich, nach einer kurzen Vorbemerkung zum Begriff des Leibes in der Moderne, in einem ersten Schritt zeigen, wie Cassirer das Verhältnis von Leib und Seele als symbolische Relation neu zu denken vermag, indem er es auf den Boden der Wahrnehmung versetzt. Dass zwischen dem ‚ontologischen‘ Leib-Seele-Problem und dem ‚erkenntnistheoretischen‘ Materie-Form-Problem ein innerer Zusammenhang besteht, hat Cassirer selbst in seiner Kritik an Descartes einerseits, an Husserl andererseits deutlich gemacht: Der metaphysische Dualismus Descartes’ wurzelt letzten Endes in diesem seinem methodischen Dualismus [von Erkenntnismaterie und Erkenntnisform]: Die Lehre von der absoluten Scheidung zwischen der ausgedehnten und der denkenden Substanz ist nur der metaphysische Ausdruck für einen Gegensatz, der bei ihm schon in der Darstellung der reinen Bewußtseinsfunktion selbst sichtbar wird. (ECW 11, S. 37 f.)

Während der metaphysische Dualismus von Leib und Seele bei Descartes als Folge des erkenntnistheoretischen Dualismus von Materie und Form erscheint, lässt ihn Cassirer in Husserls Fall als dessen Grund fungieren: Gibt es hier noch zwei „Schichten“, von denen die eine als bloß stoffliche Schicht zu bezeichnen wäre? Oder liegt nicht vielmehr in der Rede von den beseelenden Akten, die den Stoff der Empfindung beleben, die ihn erst mit einem bestimmten Sinn erfüllen, noch ein Rest jenes

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Dualismus, der „Physisches“ und „Psychisches“ auseinanderreißt – der „Leib“ und „Seele“, statt als korrelativ aufeinander bezogen, als substantiell verschieden ansieht? (PSF 3, S. 226)

Der Begriff der symbolischen Prägnanz, so können wir die Kritik Cassirers positiv wenden und auf ihn selbst übertragen, führt auf einen neuen Begriff des Leibes, wie auch umgekehrt die symbolische Deutung der Leib-Seele-Beziehung ein neues Verständnis der Wahrnehmung nach sich zieht. Cassirers Ausgang von der Wahrnehmung führt allerdings, wie bereits angekündigt, auf eine Aporie, der wir uns in einem zweiten Schritt zuwenden. Sie ergibt sich aus der zunächst nicht weiter erstaunlichen Tatsache, dass jedes wahrgenommene Du, das sich in seinem Leib und durch seinen Leib unmittelbar ausdrückt, auch – und zwar notwendig – ein Ich ist, und jedes Ich, das die Welt wahrnimmt, ebenso notwendig ein mögliches oder wirkliches Du für ein anderes Ich ist. Das Du aber ist für Cassirer wesentlich Sinn, nämlich der Ausdruckssinn seines Leibes, das lebendige Ich hingegen, die „rotierende Bewegung der Monas um sich selbst“ (ECN 1, S. 264), ursprünglich Zeit. Wie die Zeit als Zeit teilhaben kann an einer symbolischen Relation, deren anderes Moment der eigene, wahrnehmbare oder wahrgenommene Leib wäre, wie also das Ich, das nicht Sinn ist, überhaupt einen Leib bewohnen können soll, ist unter den Voraussetzungen der Philosophie der symbolischen Formen schwer nachzuvollziehen. Soweit ich sehe, hat sich Cassirer mit der Frage nach dem Eigenleib auch an keiner Stelle seines Werks auseinandergesetzt. In einem dritten und letzten Schritt werde ich schließlich skizzieren, wie MerleauPonty die Identität und Differenz von Du und Ich, von Sinn und Zeit, im Begriff der Reversibilität des Leibes zu denken sucht. Da es sich hierbei um Grundprobleme der Phänomenologie Merleau-Pontys handelt, denen ich in diesem Rahmen unmöglich gerecht werden kann, beschränke ich mich darauf, den prägnanten Punkt zu bezeichnen, von dem aus Merleau-Ponty neue Wege geht, und schließlich die Richtung anzudeuten, in die sie ihn führen.

Vorbemerkung: Der Begriff des Leibes in der Moderne Die Entdeckung des Leibes ist keine Errungenschaft der Moderne. Der Vorwurf der Leibvergessenheit, der seit Schopenhauer und Feuerbach und bis heute in zunehmender Schärfe gegen die metaphysische Tradition erhoben wird, beruht auf einem Missverständnis. Platon und Aristoteles, Augustinus und Thomas, Descartes und Hegel haben selbstverständlich einen Begriff vom Leib, und nicht selten erreicht hier die Tradition einen Grad an Differenziertheit, hinter dem das moderne Pathos, die reine Emphase des Leibes weit zurückbleibt. Wahr ist allerdings, dass die Philosophie der Moderne den Leib anders denkt und diese Differenzen im Denken einer Entdeckung durchaus gleichkommen. Ich hebe, mit Blick auf Cassirer und Merleau-Ponty, nur zwei dieser Differenzen hervor: Zum einen spricht die Philosophie seit Feuerbach nicht mehr – oder doch weitaus seltener – von dem Leib (bzw. der Seele), gleichsam

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von nirgendwo gesehen, sondern von deinem und meinem Leib, d. h. vom Leib, nicht wie er an sich selbst ist, sondern wie wir ihn unmittelbar erleben. Das Problem des Anderen, das die Moderne wie kein anderes beunruhigt, ist ohne die Entdeckung dieser Relationalität, d. h. des Leibes ‚in Beziehung‘, nicht zu verstehen. Zum anderen fügt sich der moderne Begriff des Leibes nahtlos in das übergeordnete Projekt der Moderne ein, den Dualismus von Geist und Körper, von res cogitans und res extensa zu unterlaufen. Wenn Nietzsche in Also sprach Zarathustra schreibt: „Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem“ (Nietzsche 1999, S. 39), dann handelt es sich nicht um den kruden Versuch, das Bewusstseinsleben auf materielle Prozesse des Organismus zu reduzieren, sondern um die Etablierung einer dritten Instanz, einer lebendigen Spontaneität, die dem Körper wie dem Geist gleichermaßen vorausgeht und zugrunde liegt. Eben in diesem Sinne heißt es in einem Brief Nietzsches an Franz Overbeck aus der Zeit der Abfassung von Also sprach Zarathustra: „Ich bin nun einmal nicht Geist und nicht Körper, sondern etwas drittes.“ (Nietzsche 1986, S. 313; Brief vom 31.12.1882). Wenn ich recht sehe, ist Merleau-Ponty der einzige moderne Autor, der beide Entdeckungen, die Entdeckung des relationalen Leibes (als Eigenleib und Leib des Anderen) wie die Entdeckung des Leibes als lebendige Spontaneität (im Gegensatz zum trägen Körper-Ding), in seinem Denken vereint. Cassirer hingegen thematisiert den Leib vornehmlich, wenn nicht ausschließlich als Leib für uns, und auch diesen wiederum nur in Gestalt des Anderen, des Du. Ob der Leib als Spontaneität darüber hinaus implizit eine Rolle für seine Philosophie spielt (man könnte etwa an die Funktion der produktiven Einbildungskraft denken), dürfen wir hier dahingestellt sein lassen.

2 „Ausdruckswahrnehmung“. Der Leib des Anderen als Paradigma der Kultur Cassirer entwickelt seine Philosophie des Anderen in der Auseinandersetzung mit den zwei klassischen Ansätzen in der Frage nach dem Wissen vom fremden Ich: mit der Analogieschluss- und der Einfühlungsthese.⁶ Beide Ansätze kommen darüber ein, dass allein die Tatsachen des eigenen Bewusstseins dem Ich unmittelbar gegeben sind, während das Denken, Fühlen und Wollen des Anderen, das sogenannte Fremdseelische, uns prinzipiell verborgen ist. Der einzige Gegenstand, der uns dazu dienen kann, über das fremde Ich überhaupt etwas zu erfahren, von seiner bloßen Existenz bis hin zu den Inhalten seines Bewusstseins, ist sein Körper, der freilich ‚sein‘ Körper noch nicht heißen darf und entsprechend auch den Namen ‚Leib‘ (noch) nicht

 Vgl. für das Folgende die Kapitel „Das Ausdrucksphänomen als Grundmoment des Wahrnehmungsbewußtseins“ und „Die Ausdrucksfunktion und das Leib-Seele-Problem“ in Cassirer (1929/2002, S. 64– 103, 104– 118).

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verdient. Was wir wahrnehmen, sind die Bewegungen und Veränderungen eines Körpers, der weitgehende Ähnlichkeit mit unserem Körper aufweist. Da ich an mir selbst feststellen kann, dass der Körper, den ich den meinen nenne, gewisse wiederkehrende Bewegungen ausführt und gewissen wiederkehrenden Veränderungen unterliegt, sobald ich dieses oder jenes denke, dieses oder jenes fühle, dieses oder jenes will, kann ich, wenn ich dieselben Bewegungen oder Veränderungen an einem anderen Körper wahrnehme, davon ausgehen, dass auch dieser Körper mit einem Ich verbunden ist. Um ein im strengen Sinne fremdes Ich handelt es sich dabei allerdings nicht, denn alle Bewusstseinszustände und seelischen Eigenschaften, auf die ich beim Anderen per analogiam schließe oder die ich in ihn hineinfühle, sind meine eigenen: meine eigenen Gedanken, meine eigenen Gefühle, meine eigenen Willensbestrebungen. Der Andere – das bin ich noch einmal. Cassirers Kritik an der Analogieschluss- wie an der Einfühlungsthese, die, nebenbei bemerkt, in der gegenwärtigen Neurophilosophie fröhliche Urständ feiern, begnügt sich nicht damit, auf der Unmittelbarkeit des Wissens vom Fremdseelischen zu insistieren; sie setzt den Hebel tiefer, nämlich bei den unhinterfragten Prämissen an, von denen beide Ansätze wie selbstverständlich ausgehen. Cassirer weist nach, erstens, dass die „Form des ‚Du‘“ intentionalgenetisch „den Vorrang vor der Form des ‚Es‘“ hat (PSF 3, S. 69), mithin der bloße, unbeseelte Körper des Anderen erst zum Vorschein kommt, wenn wir von der Form des Du abzusehen lernen; zweitens, dass sich auch die Form des Ich später entwickelt als die Form des Du, mithin das Ich und dessen Zustände, die wir dem Anderen vermeintlich einlegen, diesem allererst abgerungen sind (vgl. PSF 3, S. 99 – 101); und schließlich drittens, dass der Akt der kognitiven oder affektiven Vergegenwärtigung des Anderen in der perzeptiven Gegenwart des Anderen fundiert ist, mithin die Wahrnehmung des Du die Vorstellung des Anderen als ‚Ich in einem Es‘ zugleich möglich wie auch überflüssig macht. „Fremdpsychisches“, schreibt Cassirer in einer Nachlassnotiz, „muss unmittelbar ‚gegenwärtig‘ (praesent) sein – oder es ist überhaupt nicht nachweisbar“ (ECN 4, S. 200). Cassirers Kritik, so berechtigt sie angesichts der Schwächen von Analogieschluss und Einfühlung erscheinen möchte, hinge in der Luft, wenn sie ihrerseits unbestimmt ließe, wie uns denn Fremdseelisches ‚unmittelbar ‚gegenwärtig‘‘ sein kann. Die cogitatio tritt dem Anderen ja nicht aus dem Leib wie Schweiß aus seinen Poren. Die res cogitans als solche ist res privata, nicht res publica. Darin wird der Cartesianismus für immer recht behalten. Die Gegenwart aber, die Cassirer meint, ist auch eine durchaus andere: die Gegenwart nicht von Erlebnissen, sondern von Sinn – eines Sinns, der im Leib und den Verhaltungen des Anderen unmittelbar zum Ausdruck gelangt. „Diese ‚Praesenz‘ ([‚]symbol[ische] Praesenz[‘])“, heißt es an der soeben zitierten Stelle weiter, „eignet allein der Ausdrucksfunktion“ (ECN 4, S. 200). In der Ausdruckswahrnehmung, die Cassirer darum auch Du-Wahrnehmung nennen kann, ist der Andere „leibhaft gegenwärtig“ (PSF 3, S. 277), in unüberbietbarer und gleichwohl vermittelter Präsenz.

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Anstatt den Dualismus von Psychischem und Physischem in einem substantiellen Monismus der einen oder anderen Spielart aufzuheben, denkt Cassirer ihn neu als konkrete Dualität von Sinn und Sinnlichem, ursprünglich geeint in dem ‚Ur-‘ bzw. ‚Basisphänomen‘ des Du (vgl. ECN 1, S. 113 – 198), das der Scheidung von Ich und Es zugleich vorausliegt und sich in irreduzibler Selbständigkeit gegen sie behauptet. Doch Cassirers Konzeption einer hermeneutisch-ästhesiologischen Differenz (im einheitlichen Phänomen des Ausdrucks) leistet noch mehr. Nicht nur erlaubt sie es, ein Ich zu denken, das, ohne über seinen eigenen Schatten springen zu müssen, einem Anderen unmittelbar begegnen kann. Jenseits des Wissens vom fremden Ich macht sie zudem begreiflich, wie das Verhältnis von Leib und Seele überhaupt begriffen werden muss, nämlich nicht als äußerlicher Zusammenhang zweier Substanzen, sondern als „eine rein symbolische Relation“ (PSF 3, S. 113) auf dem Boden der Wahrnehmung. Die Seele ist, wie Cassirer mit Klages sagt, „der Sinn des Leibes“ (PSF 3, S. 113), wie umgekehrt der Leib „der schlichte Ausdruck“, „die unmittelbare Manifestation des Seelischen“ (PSF 3, S. 115) ist. Der Leib verhüllt die Seele nicht, sondern enthüllt sie. Inkarnation ist hier, wie stets bei Cassirer, ‚Offenbarung‘ (vgl. ECN 4, S. 6 – 10). Auf dem Boden der Ausdruckswahrnehmung verstehen wir in eins und zumal, wie das Du dem Ich und wie die Seele im Leib ‚leibhaft‘, nämlich symbolisch prägnant, gegenwärtig sein kann. Wer nach den ersten zwei Bänden der Philosophie der symbolischen Formen auf das Kapitel „Die Ausdrucksfunktion und das Leib-Seele-Problem“ im dritten Band stößt, wird schwerlich überrascht sein, dass Cassirer nun auch noch das Verhältnis von Leib und Seele in den Phänomenbestand des Symbolischen eingliedert, mithin das Leib-Seele-Problem als einen besonderen Fall des allgemeinen Symbolproblems begreift. Um einen besonderen, nämlich ausgezeichneten Fall handelt es sich auch in der Tat: Das Verhältnis von Seele und Leib stellt das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt. Hier gibt es ursprünglich weder ein Innen und Außen noch ein Vorher oder Nachher, ein Wirkendes oder ein Bewirktes; hier waltet eine Verknüpfung, die nicht aus getrennten Elementen erst zusammengefügt zu werden braucht, sondern die primär ein sinnerfülltes Ganze ist, das sich selbst interpretiert – das sich in eine Doppelheit von Momenten auseinanderlegt, um sich in ihnen „auszulegen“. (PSF 3, S. 113)

Cassirers Rede vom ‚ersten Vorbild und Musterbild‘ unterläuft die Erwartung seiner Leser, ja sie verkehrt den Sinn, in dem wir seine Ausführungen zu verstehen können glaubten, in ihr Gegenteil. Nicht ist das Leib-Seele-Verhältnis ein besonderer Fall des Symbolischen, ein Fall unter anderen, sondern, umgekehrt, die ganze Vielfalt symbolischer Phänomene ist eine einzige Variation über das Thema ‚Leib und Seele‘. Wo auch immer wir symbolischen Verhältnissen begegnen, haben wir es mit Spielarten, um nicht zu sagen: mit Abbildern des Leib-Seele-Verhältnisses zu tun. Dass Cassirer diese Konsequenz tatsächlich gezogen hat, zeigt aufs Deutlichste eine Nachlassnotiz aus dem 1930er Jahren:

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Alle Kultur ist „Chiffreschrift“ – nicht eines absoluten göttlichen Geistes, einer allgemeinen „Weltseele“ (Schell[ing]) und Weltvernunft (Hegel)[,] sondern der menschlichen Seele, die sich hier ihren adaequaten Ausdruck schafft, die sich in der Sprache, in der Religion, in der Kunst ihren Leib giebt – Diese „Harmonie“ zwischen Leib und Seele zu erkennen: das ist die wahre Aufgabe der Kulturwissenschaft – (ECN 5, S. 184).

Wenn aber das Verhältnis von Leib und Seele selbst ein symbolisches ist und darüber hinaus als das ‚Vorbild und Musterbild‘ für jedes weitere Verhältnis fungiert, dann verbietet es sich offenbar, Textstellen wie diese metaphorisch zu lesen. Das Werk der Kultur ist eine Variation, eine Spielart des prototypischen Leibes; es ist der Leib in einer gewissen Abweichung zu unserem eigenen. Zu sagen, das Werk verkörpere den Sinn so oder so ähnlich wie der Leib die Seele, heißt nicht nur übersehen, dass der Satz sich auch problemlos umkehren lässt – der Leib verkörpert die Seele wie das Werk seinen Sinn –, sondern vor allem auch, dass die Relation hier wie dort buchstäblich dieselbe ist. Die Seele ist der Sinn des Leibes, der Sinn ist die Seele des Werkes. Leib und Werk sind symbolisch prägnant. Nimmt man Cassirers Ausführungen in diesem Sinne ernst, dann erscheint auch die vermeintlich metaphorische Bestimmung dessen, was er unter ‚Symbol‘ verstanden wissen will, in einem neuen Licht: Wir versuchten mit ihm das Ganze jener Phänomene zu umfassen, in denen überhaupt eine wie immer geartete „Sinnerfüllung“ des Sinnlichen sich darstellt – in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und Soseins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt. (PSF 3, S. 105)

Was Cassirers Bestimmung des Symbols an Rätselhaftem verliert, das gewinnt sie an Geheimnisvollem. Denn jetzt wissen wir, wie die Sinnerfüllung des Sinnlichen mit der Inkarnation der Seele im Leib innerlich zusammenhängt, und die Formel ‚Inkarnation eines Sinnes‘ – „Verkörperung des Logos“ (PSF 3, S. 124) sagt Cassirer an anderer Stelle – ist nicht mehr nur ein gelungenes Bild, sondern drückt die Sache selbst aus. Geheimnisvoll bleibt sie dennoch, weil uns im Verhältnis von Leib und Seele eben dasselbe „Wunder“ (ECW 11, S. 25), das Wunder der symbolischen Prägnanz, noch einmal begegnet.

3 Sinn und Zeitlichkeit. Eine Aporie in Cassirers Phänomenologie des Leib-Seele-Verhältnisses Die Aporie, auf die Cassirers Phänomenologie des Leib-Seele-Verhältnisses unweigerlich führt, ist kein Mangel, der behoben werden müsste oder auch nur behoben werden könnte. Ihre Kraft zieht sie gerade aus der Wahrheit dessen, was Cassirer als symbolische Prägnanz beschrieben hat. Um zu verdeutlichen, was es mit dieser Aporie auf sich hat,

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bietet es sich an,von jener berühmten Passage aus dem Prägnanz-Kapitel auszugehen, in der Cassirer seinen Gedanken anhand eines Linienzugs veranschaulicht: Wir können ein optisches Gebilde, wie etwa einen einfachen Linienzug, nach seinem reinen Ausdruckssinn nehmen. Indem wir uns in die zeichnerische Gestaltung versenken und sie für uns aufbauen, spricht uns in ihr zugleich ein eigener physiognomischer „Charakter“ an. In der rein räumlichen Bestimmtheit prägt sich eine eigentümliche „Stimmung“ aus: Das Auf und Ab der Linien im Raume faßt eine innere Bewegtheit, ein dynamisches Anschwellen und Abschwellen, ein seelisches Sein und seelisches Leben in sich. Und hierbei fühlen wir nicht nur unsere eigenen inneren Zustände in subjektiv-willkürlicher Weise in die räumliche Form hinein: Sondern sie selbst gibt sich uns als beseelte Ganzheit, als selbständige Lebensäußerung. Ihr stetes und ruhiges Dahingleiten oder ihr unvermitteltes Abbrechen, ihre Rundung und Geschlossenheit oder ihre Sprunghaftigkeit, ihre Härte oder Weichheit: das alles tritt an ihr selbst, als Bestimmung ihres eigenen Seins, ihrer objektiven „Natur“, heraus. (PSF 3, S. 228)

In der Ausdruckswahrnehmung ist uns der Linienzug nicht mehr nur als optisches Gebilde gegenwärtig (wenn er es denn überhaupt je war), sondern in eins und zumal, nämlich symbolisch prägnant, als ‚ein seelisches Sein und seelisches Leben‘, als ‚beseelte Ganzheit‘ und ‚selbständige Lebensäußerung‘. Cassirers pointierte Beschreibung erinnert nicht nur von Ferne an seine wegweisenden Ausführungen zu Beginn des Kapitels über „Die Ausdrucksfunktion und das Leib-Seele-Problem“; sie stimmt mit ihnen vollkommen überein: In dem reinen Phänomen des Ausdrucks, in der Tatsache, daß eine bestimmte Erscheinung in ihrer einfachen „Gegebenheit“ und Sichtbarkeit sich zugleich als ein innerlich Beseeltes zu erkennen gibt, stellt sich uns die Art, wie das Bewußtsein, rein in sich selbst verbleibend, zugleich eine andere Wirklichkeit erfaßt, zuerst und unmittelbar dar. (PSF 3, S. 104)

Der Ausdruckssinn, heißt das, verwandelt den Linienzug in „etwas ‚Unseresgleichen‘“ (ECW 24, S. 396), in ein Gebilde, das der Dimension des Du oder doch wenigstens des Lebens angehört, und zwar, wie Cassirer versichert, ohne dass wir ‚unsere eigenen inneren Zustände in subjektiv-willkürlicher Weise in die räumliche Form hinein[fühlen]‘ müssten. Die Beschreibung trifft den Sachverhalt der Anschauung genau und bereitet doch eben darum dem Verständnis größte Schwierigkeiten. Denn wäre der Linienzug wahrhaft beseelt, ein wirkliches Du, wie der Mensch für den Menschen ein Du ist, dann müsste er seinerseits, als ein Ich, mich, als ein Du, wahrnehmen können. Das aber vermag der Linienzug nicht; er ist, wenn man so will, ein Beseeltes ohne Seele, ein Du ohne Ich. Ich gebe, um die Problematik zu verdeutlichen, noch ein weiteres Beispiel. Ein Musikstück kann beschwingt oder schwermütig sein, sorglos und verspielt, ernst und getragen, pathetisch, wild und stürmisch oder trostlos, kalt und hart. Die Musik selbst erlebt davon nichts, und die Frage, wie es sich wohl anfühlen mag, eine Melodie zu sein, ist offenkundig sinnlos. Das heißt im Umkehrschluss allerdings nicht, dass wir in ihr nur unsere eigenen Gefühle wahrnehmen würden. Ein beschwingtes, launiges Liedchen, gespielt vor einer Trauergemeinde, behält gleichwohl seine Ausdrucks-

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charakteristik und wird gerade um ihretwillen bei den Versammelten für Empörung sorgen. Der Ausdruck muss also von seiner Wirkung (dem ‚Eindruck‘, den er macht) unterschieden werden, ohne damit zugleich auszuschließen, dass bei entsprechender Resonanz unser Erleben mit dem Sinn des Ausdrucks mitschwingt, wir von dem Ernst oder der Heiterkeit des Stücks ‚angesteckt‘ werden und ein heiteres Stück uns auch tatsächlich erheitert. Von den Werken der Kultur unterscheidet sich der Mensch mithin dadurch, dass er nicht nur ein Du ist, d. h. Ausdruckssinn für ein wahrnehmendes Ich, auch nicht nur ein wahrnehmendes Ich, dem Seinesgleichen in der Welt begegnet, sondern untrennbar Ich und Du in Personalunion. Ich und Du aber sind für Cassirer wesensverschieden und aufgrund dieser Wesensdifferenz unmöglich zur Deckung zu bringen. Das Du ist der Ausdruckssinn seines Leibes und als solcher Gegenstand der Wahrnehmung: Es gibt keine Wahrnehmung, die nicht einen bestimmten „Gegenstand“ meint und auf ihn gerichtet ist. […] Immer besteht in der Wahrnehmung eine Auseinanderhaltung des Ichpoles vom Gegenstandspol. […] [D]ie Welt, die dem Ich gegenübertritt, ist in dem einen Falle eine Dingwelt, in dem anderen Falle eine Welt von Personen. Die Andersheit [von Ichpol und Gegenstandspol] bleibt in beiden Fällen bestehen […]. (ECW 24, S. 396)

Während der Ausdruckssinn, wie jede Form des Sinns, Gegenstand ist für ein Ich, kann das Ich schon deshalb niemals zum Gegenstand werden, weil es reine Funktion ist: sinnbildende Spontaneität im Medium der Zeit. Zwar überschreitet sich das tätige Ich hin auf seine Gegenstände, und nur auf dem Umweg über die Werke seines Wirkens, die Gebilde seines Bildens, die Gestalten seiner Gestaltung gelangt es zum Bewusstsein seiner selbst. Doch die „ursprüngliche Zeitstruktur des Ich“ (PSF 3, S. 192) – „die Form des Zeitbewußtseins“ (PSF 3, S. 193)⁷ – vereitelt jeden Versuch, das Ich als Ich unter die Gegenstände, auf die es sich richtet, einzureihen: Aller geistige Inhalt ist für uns notwendig an die Form des Bewußtseins und somit (!) an die Form der Zeit gebunden. Er ist nur, sofern er sich in der Zeit erzeugt, und er scheint sich nicht anders erzeugen zu können als dadurch, daß er sogleich wieder verschwindet, um der Erzeugung eines anderen neuen Raum zu geben. So steht alles Bewußtsein unter dem Heraklitischen Gesetz des Werdens. […] Es besitzt kein anderes Sein als das der freien Tätigkeit, als das Sein des Prozesses. […] Es kann sich von der Zeitform als solcher nicht befreien, denn in ihr besteht und auf ihr beruht seine eigene charakteristische Wesenheit. (ECW 16, S. 80 f.)

Die ‚Andersheit‘ von Ich und Du ist, mit einem Wort, die ‚Andersheit‘ von Zeit und Sinn. Dieser Unterschied im Wesen von Ich und Du ist und bleibt irreduzibel. Ein Ich, das nicht an die Form des Zeitbewusstseins gebunden wäre, können wir uns ebenso  „Und mit der spezifischen Form des Zeitbewußtseins wäre jetzt auch die des Ichbewußtseins vernichtet. Denn beide bedingen einander wechselseitig: Das Ich findet und weiß sich nur in der dreifachen Form des Zeitbewußtseins, während andererseits die drei Phasen der Zeit sich nur im Ich und kraft des Ich zur Einheit zusammenschließen.“ (PSF 3, S. 193)

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wenig denken, wie ein Du, das nicht als Ausdruckssinn seines Leibes Gestalt fände. Und doch ist jedes Du, das nur wahrhaft Du ist, ein Ich; und jedes Ich, das nur wahrhaft Ich ist, ein Du. Das Ich ist sichtbar in der Welt, die es wahrnimmt, das Du nimmt die Welt wahr, in der es sichtbar ist. Diese Aporie, die in Cassirers Philosophie zum Vorschein kommt, ohne dass er sie je thematisiert hätte, leben wir, und sie gilt es zu verstehen.

4 Leib und Zeit. Merleau-Pontys Bewusstseinsphilosophie des Leibes Die Frage, mit der uns Cassirer aus seiner Philosophie entlässt, wie nämlich der Mensch in eins und zumal als Ich und als Du, als Funktion und als Gegenstand, als Zeit und als Sinn existieren kann, markiert zugleich den Angelpunkt, um den das Denken Merleau-Pontys unablässig kreist. Seine Philosophie ist ein einziger großer Versuch, diese Frage, wenn nicht zu beantworten, so doch erheblich zu vertiefen. Nun liegt mir der Anspruch fern, diesem Versuch, der eben kein Spezialproblem behandelt, auf wenigen Seiten gerecht werden zu wollen. Stattdessen beschränke ich mich darauf, die allgemeine Richtung anzuzeigen, in die Merleau-Pontys Denken aufbricht, und gleichsam einen Leitfaden an die Hand zu geben, der im Dickicht seiner phänomenologischen Beschreibungen hier und dort für Orientierung sorgen kann. Als ein solcher Leitfaden bietet sich die Frage an, wie jenes Ich adäquat zu denken sei, das eine symbolisch prägnante Welt wahrnehmen, insbesondere aber den Leib eines Anderen, seine Mimik und Gestik, kurz: sein Verhalten wahrnehmend verstehen kann. Dieses Ich der Ausdruckswahrnehmung kann unmöglich reines oder absolutes Bewusstsein, transzendentales Selbstbewusstsein in dem Sinne sein, wie es die neuzeitliche Philosophie als Bedingung der Möglichkeit jeder Form der objektiven Gegenstandserkenntnis konzipiert hat. Wenn das Ich der Wahrnehmung im Leib des Anderen Seinesgleichen erblicken können soll, muss es dem Du buchstäblich auf Augenhöhe begegnen: Es muss Leib sein. „Der Leib“, so lautet die fundamentale These der Phänomenologie Merleau-Pontys, ist „das Subjekt der Wahrnehmung“ (Merleau-Ponty 1945/1974, S. 243) – und „Subjektivität, auf dem Niveau der Wahrnehmung, [ist] nichts anderes als Zeitlichkeit“ (Merleau-Ponty 1945/1974, S. 279; Übers. N.M.).⁸ Die These bliebe unverständlich, ja widersinnig, wenn das Ich als Ich in demselben Sinne Leib wäre, wie das Du als Du Leib ist. Der Leib des Anderen ist sichtbar, nicht sehend, und Merleau-Ponty ist Cassirer vielleicht an keiner Stelle so nahe gekommen wie in der Charakterisierung dieses sichtbaren Leibes als das prototypische Werk der Kultur: „Der erste aller Kulturgegenstände, derjenige, dem alle anderen ihr  Vgl. auch Merleau-Ponty (1945/1974, S. 480): „Wir müssen die Zeit als Subjekt, das Subjekt als Zeit begreifen.“

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Dasein erst verdanken, ist der Leib des Anderen als Träger eines Verhaltens.“ (Merleau-Ponty 1945/1974, S. 400) Ein Kulturgegenstand aber, und sei es auch der erste, dem alle anderen ihr Dasein verdanken, kann als solcher niemals einen anderen Kulturgegenstand wahrnehmen. Ein Roman liest nicht in einem anderen, eine Symphonie lauscht nicht einer anderen. Die Aporie von Sinn und Zeitlichkeit, in die sich die Kulturphilosophie Cassirers manövriert hatte, droht auch in Merleau-Pontys Phänomenologie wieder aufzubrechen. Das Subjekt der Wahrnehmung existiert wesentlich zeitlich, der Leib aber, und hier zunächst der Leib des Anderen (als Gegenstand der Kultur), ist „Ausdruck der gesamten Existenz, nicht als deren äußere Begleiterscheinung, sondern weil sie in ihm sich realisiert. Dieser inkarnierte Sinn ist das zentrale Phänomen, dessen abstrakte Momente Körper und Geist, Zeichen und Bedeutung sind.“ (Merleau-Ponty 1945/1974, S. 198; Übers. N.M.) Das Ich, das Zeit ist, versteht den ‚inkarnierten Sinn‘ des Anderen unmittelbar dadurch, dass es ihn wahrnimmt. Das Verhältnis von Zeit und Sinn lässt sich jedoch nicht ohne weiteres umkehren. Ein Sinn, und mag er noch so inkarniert sein, sieht, hört und fühlt nichts – am allerwenigsten ein Ich, das Zeit ist. Gewiss, im Ausdrucksverhalten des Anderen wohnt das Ich der Wahrnehmung „dem Schauspiel eines Geistes“ bei, „der auf die Welt kommt“ (Merleau-Ponty 1942/1976, S. 242). Doch ein solcher Geist, der vor unseren Augen das Licht der Welt erblickt, ist eben kein subjektiver, sondern, wie die Gegenstände der Kultur auch, objektiver Geist (vgl. MerleauPonty 1945/1974, S. 44). Die Aporie ist mit Händen zu greifen. Um zu verstehen, wie Merleau-Ponty sie löst, wie er also begreiflich machen kann, dass der objektive Geist des Leibes, im Unterschied zum objektiven Geist der Kultur, zugleich subjektiver Geist ist, müssen wir den Sinn seiner These – der Leib sei das Subjekt der Wahrnehmung – im Folgenden näher zu präzisieren suchen. Seit Platon im Theaitetos dargelegt hat, dass die Augen des Leibes nicht das sind, ‚womit‘ (ᾧ), sondern nur „vermittelst dessen“ (ἢ δι᾽ οὗ) wir sehen, die Ohren nicht das, womit, sondern nur vermittelst dessen wir hören (vgl. Platon 2005, S. 131; 184c), gibt es auf die Frage, wer es denn eigentlich sei, der wahrnimmt, nur eine einzige verbindliche Antwort: nicht der Leib – denn: Arg wäre es auch, Sohn, wenn diese mancherlei Wahrnehmungen wie im hölzernen Pferde in uns nebeneinanderlägen, und nicht alle in irgendeiner einheitlichen Form, du magst es nun Seele oder wie sonst immer nennen, zusammenliefen, mit der wir dann mittels jener, daß ich so sage, Werkzeuge (ὄργανων) wahrnehmen, was nur wahrnehmbar ist. (Platon 2005, S. 131; 184b)

Es wäre nun allerdings ein grobes Missverständnis, wollte man dem Phänomenologen Merleau-Ponty, nur weil er Platon in dieser Frage die Gefolgschaft verweigert, die Antithese unterschieben, Wahrnehmung sei ein ‚organischer‘ Prozess im physiologischen Sinne des Wortes. Auch für Merleau-Ponty ist die Seele bzw. das, was aus der Seele im Laufe der Philosophiegeschichte geworden ist, nämlich das Bewusstsein, das Subjekt der Wahrnehmung. Die grundstürzende Frage aber, die er an die neuere Philosophie von Descartes bis Husserl richtet, ist die folgende: Von wessen Bewusst-

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sein sprechen wir, wenn wir sagen: ich nehme wahr? Das Ich der Wahrnehmung, so Merleau-Ponty, entstammt weder der Dimension des Denkens, des Selbstbewusstseins, der transzendentalen Einheit der Apperzeption, noch trägt es einen Namen wie jenes Ich, mit dem wir uns gemeinhin identifizieren, das eine Geschichte zu verantworten hat, das Person ist und sich als Person weiß: Ich kann nicht in demselben Sinne sagen, ich sehe das Blau des Himmels, wie ich sage, ich verstehe dieses Buch, oder ich entschließe mich, mein Leben der Mathematik zu widmen. […] Durch die Empfindung erfasse ich am Rande meines personalen Lebens und meiner eigentlichen Akte ein gegebenes Bewußtseinsleben, aus dem jene erst auftauchen, das Leben meiner Augen, meiner Hände, meiner Ohren, die ebensoviele natürliche Ich sind. Bei jeder Erfahrung einer Empfindung erfahre ich, daß sie nicht eigentlich mein eigenes Sein angeht, dasjenige, wofür ich verantwortlich bin und worüber ich entscheide, sondern ein anderes Ich, das sich je schon der Welt übereignet, gewissen unter ihren Aspekten erschlossen und mit ihnen synchronisiert hat. Zwischen mir und meiner Empfindung liegt die Dichte eines ursprünglichen Erwerbs, die mir eine gänzlich sich selber klare Erfahrung verweigert. (Merleau-Ponty 1945/1974, S. 253)

Das vor-reflexive (lebendige) wie vor-personale (anonyme) Wahrnehmungsbewusstsein ist das Bewusstsein des Leibes: genitivus subiectivus. Merleau-Pontys Phänomenologie des Leibes ist Bewusstseinsphilosophie.⁹ Doch selbst wenn man bereit ist zuzugestehen, dass „ich“, als Subjekt der Wahrnehmung, „voll natürlicher Vermögen“ bin, „über die ich selbst“, als Person oder Subjekt der Reflexion, „als Erster erstaunt bin“, so liegt doch noch ein ganzes Stück Weg zwischen der Einsicht in diese innere Dualität des Bewusstseins und der Identifikation des anonymen Bewusstseinslebens mit dem Leben des Leibes (MerleauPonty 1945/1974, S. 252). Zwar können Augen, Ohren und Hände, unsere eignen wie die der anderen, zu Gegenständen unseres Bewusstseins werden, aber „natürliche Ich“, „kleine Subjektivitäten“ oder „Bewußtseine von…“ zeigt uns das Bewusstsein des Leibes (genitivus obiectivus) gerade nicht (Merleau-Ponty 2004, S. 186). Das Sehen sitzt nicht in den Augen, das Hören nicht in den Ohren und das Tasten nicht in den  Zur Verteidigung des Bewusstseinsbegriffs vgl. Merleau-Ponty (1945/1974, S. 12): „Die Wiener Schule hält bekanntlich dafür, daß wir überhaupt immer nur mit Bedeutungen zu tun haben. ‚Bewußtsein‘ z. B. ist demnach nicht etwa das, was wir sind. Es ist eine abgeleitete, komplizierte Bedeutung, von der nur mit größter Umsicht und nach Auseinanderlegung der vielen Bedeutungen Gebrauch gemacht werden kann, die im Laufe der Sinngeschichte des Wortes zu seiner Bestimmung beigetragen haben. […] Welche Sinnverschiebungen auch immer es waren, die endlich Wort und Begriff des Bewußtseins uns als Spracherwerb überliefert haben, wir haben ein Mittel direkten Zugangs zu dem, was es heißt: wir haben die Erfahrung von uns selbst, von dem Bewußtsein, das wir selber sind, und an dieser Erfahrung müssen letztlich alle sprachlichen Bedeutungen sich messen, denn sie ist es, der alles Sprechen es verdankt, uns überhaupt etwas sagen zu können.“ Vgl. auch Merleau-Ponty (1945/2000, S. 106): „Kein Mensch kann das Cogito zurückweisen und das Bewußtsein leugnen, bei Strafe, nicht mehr zu wissen, was er sagt, und auf jede, sogar eine materialistische, Aussage zu verzichten.“ Zur notwendigen „Neufassung des Bewußtseinsbegriffs“ vgl. bereits Merleau-Ponty (1942/1976, S. 194). Noch in Das Sichtbare und das Unsichtbare spricht Merleau-Ponty von einer „Reform des ‚Bewußtseins‘“ – nicht von dessen Abschaffung (vgl. Merleau-Ponty 2004, S. 302).

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Händen. Hier gibt es nichts wahrzunehmen als „mit Organen vollgestopfte Dunkelheiten“ (Merleau-Ponty 1993, S. 150); „ein sich in diesem Stück blutigen Fleisches verbergendes Bewußtsein erschiene als die absurdeste aller okkulten Qualitäten“ (Merleau-Ponty 1945/1974, S. 400). Der sichtbare Leib ist weder, wie man gemeinhin sagt, ‚beseelt‘, noch ‚hat‘ er eine Seele, wie die Seele einen Leib ‚hat‘. Wie aber, wenn nicht in diesem Sinne, sollen wir dann Merleau-Pontys Rede vom ‚Bewußtseinsleben meiner Augen, meiner Hände, meiner Ohren‘ verstehen?

5 „Innen und Außen, die sich umeinander drehen“. Zur Reversibilität des Leibes mit Blick auf Sinn und Zeitlichkeit Es sei hier noch einmal daran erinnert, dass die Philosophie der Moderne den Leib aus den Erfahrungen zu begreifen sucht, in denen er uns gegeben ist. Eine dieser Erfahrungen, deren Bedeutung für die Philosophie Merleau-Ponty gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, ist die Selbstwahrnehmung des Leibes. Als Ur-Szene einer solchen Selbstwahrnehmung dient Merleau-Ponty die wechselseitige Berührung der Hände.¹⁰ An ihr lässt sich exemplarisch studieren, was es mit dem Bewusstsein des Leibes, in der Doppelung von genitivus subiectivus und obiectivus, auf sich hat. Solange ich meine Hände nur beobachte, mögen sie mir in der Tat wie Gegenstände im Raum vorkommen. Ich kann die optische Beschaffenheit meiner Hände in demselben Sinne untersuchen wie die Arbeitsfläche des Tisches, auf der sie ruhen. Wende ich mich dagegen der Arbeitsfläche zu, wie sie mir speziell in der Tastwahrnehmung gegeben ist, verschwinden allem Anschein nach meine eben noch gegenständlichen Hände zugunsten eines reinen Tastbewusstseins ‚von‘ dem Tisch. Will ich beide Erfahrungen zusammenbringen – die Hände, die ich sehe, auf der einen und die Tastwahrnehmungen auf der anderen Seite –, bleibt mir offenbar nichts anderes übrig als mit Platon den Schluss zu ziehen: Ich fühle, berühre und taste ‚vermittelst‘ meiner Hände; die Hände meines Leibes sind die ‚Werkzeuge‘ (ὄργανα) meiner wahrnehmenden Seele. Diese Schlussfolgerung einmal vorausgesetzt, müsste sich im Fall der wechselseitigen Berührung meiner Hände folgende Konstellation ergeben: Auf der noetischen Seite (im Sinne Husserls) stünden die Tastwahrnehmungen, wie sie uns die linke bzw. die rechte Hand vermitteln, auf der noematischen Seite die linke bzw. die rechte Hand als gegenständliche Korrelate derselben Tastwahrnehmungen. Eine solche Konstellation ist durchaus widerspruchsfrei denkbar, sie wird von der Erfahrung aber nicht gedeckt: „Drücke ich beide Hände zusammen, so erfahre ich nicht etwa

 Vgl. für das Folgende Merleau-Ponty (1945/1974, S. 118; 1959/2007, S. 243 – 250; 2004, S. 24, 176 f., 185 u.ö.). Die phänomenologische Inszenierung sich wechselseitig berührender Hände findet sich bereits bei Husserl (1952, S. 145).

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zweierlei Empfindungen in eins, so wie ich zwei nebeneinanderliegende Gegenstände wahrnehme, sondern eine zweideutige Organisation, in der beide Hände in der Funktion der ‚berührten‘ oder ‚berührenden‘ zu alternieren vermögen.“ (MerleauPonty 1945/1974, S. 118) Die berechtigte Erwartung, beide Hände würden in ein und demselben Augenblick Gegenstand des Wahrnehmungsbewusstseins sein und zugleich als vermittelndes Werkzeug der Wahrnehmung der jeweils anderen Hand fungieren, erfüllt sich nicht. Obwohl beide Hände, von außen gesehen, ‚einander‘ berühren, ist jeweils nur eine Hand die ‚berührte Hand‘ und somit Gegenstand der Wahrnehmung. Zwar kann die Wahl schon im nächsten Moment auf die andere Hand fallen und statt der linken die rechte Hand zur berührten werden, doch nur um den Preis, dass jene ihrerseits den Charakter als Gegenstand verliert. Um nachzuweisen, dass hinter diesem Phänomen mehr steckt als eine Kuriosität der psychophysischen Ausstattung des Menschen, dass vielmehr ein Wesen, das Leib ist, diesen Leib unmöglich zur Gänze vor sich bringen und entfalten kann, genügt es indessen nicht, den Blick nur auf das negative Resultat des Selbstversuchs zu richten. Die Dynamik des Widerstreits reicht über den Ausschluss einander gleichzeitig berührender Hände hinaus. Wenn ich, eben noch meine linke Hand berührend, dazu übergehe, meine rechte zu berühren, so verschwindet meine linke Hand nicht sang- und klanglos, sobald meine rechte Hand zur berührten wird. Vielmehr kann ich „im Übergang von einer Funktion zur anderen die jetzt berührte [linke] Hand als dieselbe erkennen […], die gleich darauf die berührende sein wird“ (Merleau-Ponty 1945/1974, S. 118; Übers. u. Hervorh. N.M.), wie ich auch umgekehrt die jetzt berührende rechte Hand als dieselbe erkennen kann, die gleich darauf die berührte sein wird. Solange die berührenden Hände nicht sich selbst, sondern den Dingen der Welt zugewandt sind, mag es immerhin vorkommen, dass sie sich als ein einziges, hand-, leib- und weltloses, kurz: als absolutes, weltkonstituierendes Wahrnehmungsbewusstsein missverstehen. Zieht sich aber die eine Hand aus ihren Weltgeschäften zurück, um die andere, die ihren eigenen derweil noch hingegeben ist, zu berühren, hat es mit der idealistischen Selbstverkennung ein Ende. Die berührende Hand versetzt ihre Partnerin, als berührte, unter dieselben Dinge, welche diese eben noch perzeptiv zu beherrschen glaubte. Die Berührung der Dinge vollzieht sich von nun an inmitten der Dinge, und die berührend-berührte Hand ist eines von ihnen. Was für die eine Hand gilt, kann schon im nächsten Moment für die andere gelten. Die jetzt noch berührte Hand zahlt es der berührenden mit gleicher Münze heim, wenn sie ihrerseits zur berührenden wird und dem Herrschaftsanspruch der anderen ein Ende bereitet. Diese ‚Reversibilität‘ der Funktionen (‚berührend-berührt‘, ‚sehend-sichtbar‘) ein und desselben Leibes nennt Merleau-Ponty auch ‚Chiasmus‘ (vgl. Merleau-Ponty 2004, S. 187– 190 u.ö) oder, einigermaßen missverständlich, ‚Fleisch‘.¹¹ Als Fleisch ist der

 Vgl. Merleau-Ponty (2004, S. 189): „Die Reversibilität, die das Fleisch definiert“; vgl. auch Merleau-

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Leib für sich selbst sichtbar und berührbar in derselben Welt, die er wahrnimmt: „Die Wahrnehmung der Welt entsteht in der Welt“, und der Leib, der die Dinge wahrnimmt, ist „eines von ihnen“ (Merleau-Ponty 2004, S. 319).¹² Die Frage, weshalb Merleau-Ponty das präreflexive, vorpersonale Bewusstseinsleben nicht auf sich beruhen lässt, sondern näherhin als Bewusstsein des Leibes (genitivus subiectivus) spezifizieren muss, findet also ihre hinreichende Antwort nicht schon in diesem selbst, sondern erst in der deskriptiv erschlossenen Erfahrung der Reversibilität. Die „Reflexion des Leibes auf sich selbst“ (Merleau-Ponty 2004, S. 24) konstituiert den Leib als das Subjekt der Wahrnehmung, als „ein Selbst, […] das zwischen die Dinge gerät“ (Merleau-Ponty 1961/2003, S. 280). Dass es sich hierbei, wie wir gesehen haben, stets nur „um eine immerzu bevorstehende und niemals tatsächlich verwirklichte Reversibilität handelt“ (Merleau-Ponty 2004, S. 193), widerspricht der These von der Ipseität des Leibes nicht nur nicht, sondern bestätigt sie allererst. Während die Identität des Selbstbewusstseins auf der Homogenität seiner Bezugsmomente beruht (cogito me cogitare), alles von sich ausschließend, was nicht cogitatio ist (an erster Stelle den Leib), vollzieht sich die Selbstheit des Leibes im Gegenteil unter Einschluss seiner Andersheit. Der Leib ist, mit Hegel gesprochen, bei sich selbst im Anderen (seiner selbst), wenngleich er – und darin unterscheidet sich der Leib vom Geist – nicht hoffen darf, dieses Andere je in ‚sich‘ aufzuheben oder ‚sich‘ im Anderen gänzlich zu entäußern. Die Identität des Leibes ist „Identität in der Differenz“ (Merleau-Ponty 2004, S. 286), die Selbstheit „eines zweiseitigen Wesens“ (MerleauPonty 2004, S. 180; Übers. N.M.), dessen Seiten (berührend/berührbar, sehend/ sichtbar) zwar niemals zur Deckung gelangen, einander aber gleichwohl in der Verwandlung der einen in die andere wiedererkennen: Die rechte berührende Hand erkennt die berührte linke Hand ‚als dieselbe, die gleich darauf die berührende sein wird‘. Das Bewusstsein des Leibes, so Merleau-Pontys äußerste Zuspitzung der Reversibilitätsthese, ist die „Kehrseite“ seiner Sichtbarkeit: sein „Innen“; die Sichtbarkeit des Leibes ist die „Vorderseite“ seines Bewusstseins: sein „Außen“ (Merleau-Ponty 2004, S. 157, 181, 295 u. ö.). – Sieht man einmal davon ab, dass Merleau-Ponty die Begriffe ‚Innen‘ und ‚Außen‘ zur Charakterisierung des Leibes (statt des Menschen) verwendet, deutet doch alles darauf hin, dass im Verhältnis zur metaphysischen Tradition ein Umbau an den Begriffen selbst nicht stattgefunden hat. Das ‚Innen‘ bezeichnet auch weiterhin die (unsichtbare) Seele, das ‚Außen‘ den (sichtbaren) Körper. Von Platon bis Hegel ist diese erste Korrelation allerdings bis zur Ununterscheidbarkeit mit einer zweiten Korrelation verwoben, die das ‚Innen‘ nicht nur mit der Seele, sondern auch mit der Idee oder dem Wesen der Dinge, neuzeitlich gePonty (2004, S. 339): „Das Fleisch = die Tatsache, daß mein Leib passiv-aktiv (sichtbar-sehend) ist, Masse an sich und Geste.“  Merleau-Ponty (2004, S. 180 f.): „Denn ist der Leib Ding unter Dingen, so in einem stärkeren und tieferen Sinne als diese: weil er, wie wir sagten, eines von ihnen ist, und das heißt, daß er sich von ihnen abhebt und sich solchermaßen von ihnen ablöst.“

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sprochen: mit ihrem Begriff identifiziert, das ‚Außen‘ entsprechend, über den Leib hinaus, mit der sinnlichen Erscheinung der Dinge. Diese beiden Korrelationen (Innen = Seele und Innen = Begriff) behalten auch dann noch ihre Wirkmächtigkeit, wenn sich der spekulative Begriff, wie im 19. und 20. Jahrhundert geschehen, mehr und mehr in den hermeneutischen Sinn verwandelt. Von der Hartnäckigkeit, mit der sich diese Zweideutigkeit des Innen-Außen-Paradigmas noch in der Moderne am Leben erhält, legt kein Ausdruck derart pointiert Zeugnis ab wie der Ausdruck ‚Ausdruck‘ selbst. Indem wir uns ausdrücken, so lautet die gängige Formel, geben wir Anderen zu verstehen, was wir denken, fühlen und wollen, kurz und mit einem Ausdruck Diltheys, der über Husserl in das Werk MerleauPontys Eingang gefunden hat: was wir erleben. Soll der Andere aber verstehen, was wir ihm qua Ausdruck an Seelischem zu verstehen geben, muss, was innen erlebt war, als Innen auch im Außen fortexistieren. Dieses zum Außen gehörige Innen, das Innen des Körpers oder der Sprache (wie auch der Kultur insgesamt), nennt die Philosophie seit Dilthey eben: ‚Sinn‘, ‚Bedeutung‘ oder auch ‚Signifikat‘. Die Formel vom ‚inkarnierten Sinn‘ hat hier ihren Ort; für sie gelten in der Tat die Verse aus Goethes Epirrhema: ‚Nichts ist drinnen, nichts ist draußen; / Denn was innen, das ist außen.‘ Solange die moderne Philosophie in der Tradition Platos das Innen des Bewusstseins mit dem Innen des Sinns identifiziert, umgrenzt der Begriff des Ausdrucks das Feld von Fragen, die unter Voraussetzung der Nicht-Unterbietung des philosophisch erreichten Reflexionsniveaus an das Verhältnis von Leib und Seele gestellt werden können. Darüber hinaus gibt es, salopp gesagt, nichts zu verstehen. Dass es sich in weiten Teilen um dieselben Fragen handelt, die das Faszinosum der Moderne par excellence aufwirft, das Faszinosum des Anderen, ist, wie wir gesehen haben, alles andere als ein Zufall. Indessen wird die Wahlverwandtschaft von ‚Leib‘ und ‚Anderem‘, von ‚Anderem‘ und ‚Sinn‘ erheblich auf die Probe gestellt, wenn das andere große Faszinosum der Moderne in deren Mitte tritt: die Zeit. Ist das Bewusstsein erst als Zeitbewusstsein, die ursprüngliche Zeitlichkeit als Bewusstseinszeit erkannt (und das ist seit Bergson und Husserl unwiderruflich der Fall), entflieht das Innen des Sinns – und mit ihm der Leib des Anderen – dem Innen der Zeit auf die intentional gegenüberliegende Seite der gezeitigten, sei es transzendental-konstituierten, sei es hermeneutisch-verstandenen Gegenstände des Bewusstseins.¹³ Zwischen Sinn und Zeitlichkeit, zwischen ‚Innen‘ und ‚Innen‘, waltet fortan die untilgbare Differenz der Intentionalität. Die Unsichtbarkeit der Seele hat sich, als Unsichtbarkeit der Zeit, aus ihrer metaphysischen Identität mit der Unsichtbarkeit der Ideen gelöst. Die doppelte gnostische Gefahr, die mit dieser Emanzipation des ‚inneren‘ Zeitbewusstseins sowohl vom Leib-Welt-Außen als auch vom Sinn-Innen verbunden ist, scheint Merleau-Ponty durch den Nachweis der Reversibilität des Leibes – „Innen und

 Mit aller nur wünschenswerten Klarheit hat Ralf Becker (2003) diesen Gedanken in seinen Vergleichenden Studien zum Problem der Konstitution von Sinn durch die Zeit bei Husserl, Heidegger und Bloch herausgearbeitet.

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Außen, die sich umeinander drehen“ (Merleau-Ponty 2004, S. 331) – erfolgreich gebannt zu haben. Der sehende Leib, der Zeit ist, sieht sich selbst in der Welt des Sichtbaren. Und wie er sich selbst wahrnimmt, so nimmt er, sollte man meinen, auch die Anderen wahr: sichtbar in der Welt ‚einerseits‘, die sie ‚andererseits‘ sehen. Das trifft einerseits sicherlich zu. Die Reversibilität erstreckt sich notwendig auf jeden Leib, der als ein Selbst in der Welt figuriert. Andererseits steht hier nicht der Leib, den ‚ein jeder‘ sein Eigen nennt, zur Diskussion, sondern der Leib des Anderen und dessen Reversibilität. Auch dieser Leib hat zweifellos ein Innen: das Innen sichtbarer Gesten, die er inmitten der Dinge an mich und meine Welt richtet – das Innen des Sinns im Außen des Ausdrucks. Reversibel ist dieses Verhältnis von Innen und Außen aber schon deshalb nicht, weil beide – Sinn wie Ausdruck – unselbständige Momente ein und derselben Vorderseite sind. Deren Kehrseite wäre die Zeit des Anderen als das Bewusstsein seines Leibes, doch was auch immer wir tun und wie genau wir auch hinschauen mögen, das Innen der Zeit des Anderen kehrt sich niemals nach vorn. Das Wahrnehmen und Erleben dieses Leibes dort drüben ist für mich „ein absolut Unerkennbares“ (Merleau-Ponty 1945/1974, S. 260): „Das Erleben des Anderen selbst ist mir nicht in seinem Verhalten gegeben. Um einen Zugang zu ihm zu haben, müßte ich er selber sein.“ (Merleau-Ponty 1959/2007, S. 251) Die Differenz von Zeit (Erleben des Anderen) und Sinn (Verhalten des Anderen), auf der Merleau-Ponty an dieser wie an anderen Stellen insistiert, bereitet den Boden für das abgründige Problem der „Gleichzeitigkeit“ (Merleau-Ponty 1961/2003, S. 313) in der Koexistenz, der „Verquickung meiner eigenen Dauer mit der Dauer der Anderen“ (Merleau-Ponty 2004, S. 73) durch das „Fleisch der Zeit“ (Merleau-Ponty 2004, S. 150). Um auch nur ein wenig Licht in dessen Dunkel zu bringen, wäre es nötig, Merleau-Pontys Begriff der Zeit näher zu entfalten, was ich hier allerdings nicht leisten kann. Bedeutsam ist die Differenz von Zeit und Sinn allerdings noch in einer anderen Hinsicht. Sie erlaubt es, eine kulturphilosophische Einsicht leibphänomenologisch zu bestätigen, die mit der (post‐)strukturalistischen Kritik an der Hermeneutik des Autorsubjekts weithin in Misskredit, wenn nicht in Vergessenheit geraten ist: dass es nicht Zeichen sind, die andere Zeichen hervorbringen, sondern jeder menschliche Ausdruck, und sei er noch so ephemer, auf eine „Bewegung des Ausdrückens“ (Merleau-Ponty 1945/1974, S. 176) zurückgeht, die in ihm kulminiert. Der Leib als Ganzes ist für Merleau-Ponty diese schwere Spontaneität inmitten der Dinge, der fortwährende Übergang von ‚Innen‘ nach ‚Innen-Außen‘, das Gerinnen der Zeit zu inkarniertem Sinn. „Was innen ist, muß heraus“, schreibt Feuerbach einmal (Feuerbach 1846/1990, S. 137). „Was verborgen war, muß öffentlich und beinahe sichtbar werden“ (Merleau-Ponty 1961/2007, S. 25 f.), sekundiert Merleau-Ponty. Wie aber der Übergang von Innen nach Außen angemessen zu beschreiben ist, worin sich die Spontaneität von der Reversibilität des Leibes unterscheidet und ob beide Bewegungen miteinander vereinbar sind – diese Fragen müssen einer weiteren Untersuchung vorbehalten sein.

Inkarnierter Sinn

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Nikolai Mähl

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Oliver Müller

„Werkzeug-Denken“ Ernst Cassirers Theorie der ‚Entechnisierung‘ des Selbst- und Weltverhältnisses Abstract: „Tool-Thinking“. Ernst Cassirer’s Theory of the ‚En-technologization‘ of Self- and World-Relation. In my paper, I discuss Ernst Cassirer’s philosophy of technology from a new perspective. By coining the neologism ‚En-technisierung‘ (‚entechnologization‘), I want to demonstrate that Cassirer understands technology as a very basic form of human self-externalization and engagement with the world. Therefore, I firstly trace the notion of technology in different contexts of Cassirer’s philosophy: his ideas regarding how ‚mind‘ evolves from life; his theory of human expression as the basis for the development of symbolic forms; and his studies on apraxia. Secondly, I draw on the relevant passages of the second volume of Philosophie der symbolischen Formen, on Form und Technik, and on some of his literary remains, in order to identify the main traits of technology as a symbolic form, such as its capability to reveal objectivity and to open a horizon of possibilities that essentially shape the technical relation between man and world. Finally, I will provide some comments on the connection between ‚Entechnisierung‘ and ‚enactivism‘ (or 4E cognition). Keywords: en-technologization, 4E cognition, expression, live, mind, Ernst Cassirer

Einleitung Als „new method of life“ (ECN 6, S. 251) ist die Technik für Cassirer nicht nur im Rahmen seiner Technikphilosophie von Relevanz.¹ Ausprägung und Entwicklung der (Werkzeug‐)Technik dienen Cassirer auch als Imaginationsmomente, anhand deren er die elementare (symbolphilosophische) Funktionsweise des ‚Geistigen‘ überhaupt verdeutlicht (analog zu den anderen symbolischen Formen) sowie Dynamiken der Entstehung von Selbst- und Weltverhältnissen anschaulich macht. Nicht von ungefähr taucht der Begriff der Technik in seinem Werk immer wieder im Kontext von Fragen auf, die die Begriffe des Lebens und des Selbst behandeln, überall dort also, wo Cassirer die Entstehung des Geistigen aus dem Lebendigen und die Verquickung von Geist und Leben zu verstehen sucht. Um der fundamentalen Bedeutung der Technik in Cassirers Anthropologie gerecht zu werden, soll in Anspielung an englische Begriffsbildungen wie enactivism und enculturation der Neologismus ‚Entechnisierung‘ in Anschlag gebracht werden,

 Auch wenn die Formel aus einem anderen Text stammt: der Sache nach wird die Technik auch in Form und Technik als eine solche neue Methode des Lebens beschrieben. https://doi.org/10.1515/9783110549478-010

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der das aktiv-welteinwirkende und gleichzeitig das das Selbst selbst ausprägende Moment des Technikbegriffs erfassen kann (auch wenn man diesen mit entechnization oder entechnologization nur holprig und eher ungelenk ins Englische zurückübersetzen würde). Der Neologismus mag Vorbehalte hervorrufen, kann etymologisch aber durch das griechische Adjektiv entechnos gestützt werden, wie es etwa auch Platon im Protagoras verwendet, wenn dort von der entechnos sophia die Rede ist (vgl. Protagoras 321d). Im Protagoras findet sich bekanntlich eine Variante des Mythos des Prometheus, der den hilflosen, protohumanen Kreaturen im Prozess der Menschenschöpfung nicht nur das Feuer, sondern auch die zum Umgang mit dem Feuer notwendige entechnos sophia bringt. Dies könnte man an dieser Stelle (zugegebenermaßen etwas unschön, jedoch recht präzise) mit ‚die mit und durch Technik einzuübenden Formen des Wissens und die entsprechenden Anwendungskompetenzen‘ übersetzen. Die Vorsilbe en- umfasst im Griechischen neben zeitlichen und örtlichen Bestimmungen auch die Bedeutungshorizonte von ‚in‘, ‚bei‘, ‚mit‘. So wird mit entechnos die Involviertheit technischer Kompetenz in die Produktion technischer Gegenstände und das entsprechende ‚In-der-Welt-Sein‘ (mit Heidegger gesprochen) zum Ausdruck gebracht: Entechnisierung wäre also ein Begriff, der die Weltbildung (im Sinne von der Herstellung von Artefakten in einem BewandtnisZusammenhang) und Selbstausbildung im technischen Tun zu erfassen sucht. Diese Bestimmung kann man mit der (starken) These in Verbindung bringen, dass es Selbst und Welt ohne Formen von Entechnisierung nicht in der Form geben würde, wie wir sie kennen – der Bedeutung der Sprache und dem Ich-sagen-Können zum Trotz (vgl. Tugendhat 2007).² Im Folgenden soll Cassirers Philosophie der Technik auch deshalb vor dem Hintergrund dieser Begriffsbildung rekonstruiert und gedeutet werden, weil dessen Ausführungen zur Technik in mancher Hinsicht auch unbefriedigend bleiben. Ein Hauptgrund hierfür ist der unklare Status der Technik im Konzert der symbolischen Formen (neben insbesondere Sprache, Mythos, Wissenschaft, Kunst und Religion). Denn obwohl Cassirer das Thema der Technik in den 1920er und 1930er Jahren entdeckt und durchaus wegweisend bearbeitet hatte, findet die Technik im Essay on Man (ECW 23), der späten Kondensierung und Anthropologisierung seiner Kulturphilosophie kaum Beachtung. Das ist durchaus überraschend, denn man hätte erwartet, dass Cassirer der Technik ein eigenes Kapitel gewidmet hätte. Denn sowohl die Passagen des Mythos-Bandes der Philosophie der symbolischen Formen (ECW 12, S. 249 ff.) als auch der eigens der Technik gewidmete Aufsatz Form und Technik (ECW 17, S. 139 – 183) sowie die Analysen des Technikbegriffs in den nachgelassenen Notizen zum vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen (ECN 1, S. 256 ff.) deuten darauf hin,  Ernst Tugendhat nimmt in seiner Anthropologie eine solche Engführung auf die Sprache vor und ignoriert dabei die Technik – falls es sich bei seiner Theorie überhaupt um eine Philosophische Anthropologie im Sinne von Joachim Fischers „Denkrichtung“ (s. Fischer 2008) oder um eine philosophische Anthropologie (mit kleinem p – also die gesamte Tradition philosophischen Nachdenkens über den Menschen bezeichnet) handelt.

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dass die Technik für Cassirer nicht nur als eine eigene symbolische Form von großem Interesse geworden ist – immer wieder unterstreicht er, dass die Technik in der Anthropologie ebenso bedeutsam sei wie die Sprache³ –, sondern dass die Technik sogar auch modellhaft für eine Grundfunktion des menschlichen Geistes stehen kann – was sich vor allem in Cassirers Begriff des „Werkzeug-Denkens“ (ECW 13, S. 321; ECW 1, S. 57) verdichtet (dazu später mehr). So kann Cassirer im Blick auf die Bedeutung der Technik für die Anthropologie sagen: „Es ergiebt [sic!] sich schon aus diesem einen Beispiel [der Technik, O.M.], was die Analyse der einzelnen symbolischen Formen für die Aufgabe einer ‚philosophischen Anthropologie‘ zu leisten vermag.“ (ECN 1, S. 40) Vor diesem Hintergrund kann man die späte Vernachlässigung der Technik auch folgendermaßen interpretieren: Die Technik wird nicht mehr als eigene Form diskutiert, weil die gesamte Konzeption der Cassirer’schen Kulturphilosophie ‚technischer‘ geworden ist (vgl. Müller 2014, S. 96 ff.). Diese Deutung geht noch über John Michael Krois’ These hinaus, der unterstrichen hatte, dass man am Beispiel der Technik das „gesamtphilosophische Anliegen“ (Krois 1983, S. 68) Cassirers besonders gut erkennen könne. Bemerkenswert ist auch, dass sich am Phänomen der Technik zeigt, welche Vielfalt der Disziplinen Cassirer zu integrieren sucht – gewissermaßen als eine frühe Ausprägung einer interdisziplinären Anthropologie –, um die Technik umfassend zu verstehen. So sind hier mindestens biophilosophische, kulturwissenschaftliche (im Sinne Aby Warburgs), neuropathologische, leibphilosophische, phänomenologische und gegenwartsdiagnostische Ansätze zu nennen. Hinzu kommt, dass Cassirer in seiner Anthropologie versucht, neue technikphilosophische Begriffe mit klassischen Konzeptionen zu verbinden. In seinem Seminar on Symbolism and Philosophy of Language in Yale 1941/42 setzt sich Cassirer mit dem Konflikt der ‚alten‘ Definition des Menschen als animal rationale und den neueren Versuchen, den Menschen als tool-making animal oder homo faber zu verstehen, auseinander. Seine Symboltheorie soll die rationalistische und pragmatistische Tradition zusammenführen. Cassirers Technikphilosophie wurde in der Forschung bereits unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert (vgl. Krois 1983, S. 68 – 93; Orth 1996; Falkenburg 2012; Bermes 2012; Gerhardt 2012). Der Grund für eine erneute Beschäftigung mit Cassirers Technikphilosophie liegt darin, dass mithilfe des Begriffs der Entechnisiserung ein neuer Weg eingeschlagen werden soll, um die Bedeutung der Technik für Cassirers philosophischen Ansatz herauszuarbeiten und um auf diese Weise eine neue Deutungsperspektive auf Cassirers Anthropologie zu entwickeln. Um die Überlegungen zu strukturieren, sollen analog zu den drei Funktionen der symbolischen Formen – Ausdrucks-, Darstellungs-, und Bedeutungsfunktion – drei aufeinander bezogene und ineinander verschränkte Dimensionen von Entechnisierung unterschieden werden,  Siehe besonders prägnant: „Also hier zwei neue Momente – / Der Mensch als technisches Wesen, / – als homo faber / der Mensch als sprechendes Wesen – / Die Antwort auf die Frage, was er [der Mensch, O.M.] ist, mussten wir also nicht allein der Logik, Physik und Ethik [,] sondern der Philosophie der Technik u[nd] der Sprachphilosophie entnehmen.“ (ECN 6, S. 6)

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die sich in dieser Form nicht direkt bei Cassirer finden, die aber als eine Binnendifferenzierung des Technikbegriffes verstanden werden, mit der das ganze Potential von Cassirers Ansatz ausgeschöpft werden kann. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden erstens Impuls und Ausdruck der Technik, zweitens Medialität und Möglichkeit der Technik, und drittens Kompetenz und Kultur der Technik expliziert werden. Viertens soll abschließend kurz skizziert werden, welche Relevanz der Begriff der Entechnisierung für Theoriebildungen im Feld des enactivism und der 4E cognition haben könnte.

1 Impuls und Ausdruck der Technik 1.1 Der Impuls zur Technik kommt aus dem Leben selbst Der Lebensbegriff durchzieht das gesamte Werk Cassirers, wobei er den Begriff des Lebens in verschiedenen Kontexten und auf unterschiedlichen Ebenen behandelt (vgl. Möckel 2005). Die Frage, wie das Geistige aus dem Lebendigen entstehen kann, umreißt eines seiner zentralen philosophischen Anliegen. Es sei geradezu die Grundaufgabe der philosophischen Anthropologie, die Entstehung des Geistigen aus dem Lebendigen verstehbar zu machen. Dabei zieht Cassirer insbesondere gewisse Dichotomisierungen, die Leben und Geist einander entgegensetzten, in Zweifel,⁴ wie er sie auch bei Max Scheler findet (vgl. ECW 17, S. 1991 ff.). Scheler würde, so Cassirer, dem ontologischen Missverständnis aufsitzen, dass der Geist eine andere ‚Seinsform‘ als das Leben habe. Mit den Begriffen von Cassirers Erkenntnistheorie formuliert, würde fälschlicherweise ein funktionaler Unterschied zu einem substantiellen gemacht (vgl. ECW 17, S. 201). Das ist auch der Hintergrund, warum Cassirer in den Jahren nach der Auseinandersetzung mit Scheler über einen „critical monism“ (ECN 6, S. 254) nachdenkt, der diesen ontologischen Dualismus vermeiden soll (vgl. Hartung 2003, S. 313 ff.). Das Verhältnis von Geist und Leben mag rätselhaft bleiben, doch können wir, so Cassirer, immerhin wissen, dass das Geistige aus dem Lebendigen entstanden sein muss, auch wenn wir keinen genauen Zeitpunkt für diese Entstehung in Kulturgenese oder Evolution angeben können.⁵ Komplexer werdendes Lebendiges entwickelt den Impuls, sich selbst zu erfassen, wozu es „Form“ als geistiges Moment benötigt: „Eine Selbsterfassung des Lebens ist nur möglich, wenn es nicht schlechthin

 „Wir treffen so wenig auf ein schlechthin formloses Leben, wie wir auf eine schlechthin leblose Form treffen.“ (ECN 1, S. 15)  „Wir können niemals zu dem Punkte zurückdringen, an dem der erste Strahl des geistigen Bewusstseins aus der Welt des Lebens hervorbricht; wir können nicht den Finger auf die Stelle legen, an der die Sprache oder der Mythos, die Kunst oder die Erkenntnis ‚wird‘ […]. Was uns übrig bleibt, ist der Rückgang von den relativ komplexeren Gestalten einer bestimmten Formwelt auf relativ einfachere – aber in jeder noch so einfachen Gestalt ist bereits das Gesetz der Formung als Ganzes gegenwärtig und wirksam.“ (ECN 1, S. 36 f.)

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in sich selbst verbleibt. Es muß sich selber Form geben.“ (ECW 13, S. 45)⁶ Entsprechend dieser Hypothese kann Cassirer seine Philosophie der symbolischen Formen lebensphilosophisch rückbinden: „We must try to follow up, step by step, the gradual evolution that leads from the first dawnings of symbolic thought to its achievement, to its most perfect and refined forms.“ (ECN 6, S. 251) Dieses „erste Dämmern symbolischen Denkens“ lässt sich besonders gut am Werkzeuggebrauch zeigen, da Geistiges nach Cassirer immer auch an die „technische Formgebung“ (ECW 17, S. 150) geknüpft ist. Schon im ‚rohesten Werkzeuggebrauch‘ zeige sich die ‚Kluft‘ zum ‚bloß tierischen Verhalten‘. Cassirer kennt natürlich Wolfgang Köhlers Untersuchungen zum Werkzeuggebrauch von Schimpansen, denen er immerhin auch eine „Kunst des Umwegs“ (ECN 17, S. 197) zutraut.⁷ Gleichwohl sieht er, dass sich aus der von Menschen verwendeten Technik eine neue Dimension des Geistigen entwickelt haben muss. Die „Lebensnotwendigkeit“ (Meuter 2006, S. 301 ff.) der Technik und die instinktive Verwendung und Entwicklung von Werkzeugen von Tieren, stützt Cassirers These, dass die Impulse für die technische Formgebung als Moment des Geistigen aus dem Leben selbst kommen. Man könnte man sagen, dass tierischer Werkzeuggebrauch aufgrund einer Art ‚Mittelbedürfnis‘ in der Umwelteinpassung entsteht, die sich bei Menschen immer deutlicher als eine methodisch genutzte und zunehmend reflektierte Medialisierungspraktik zeigt, die den aus den lebendigen Prozessen kommenden technischen Impuls (der sich eben auch bei anderen Tieren findet) aufnimmt, produktiv macht und weiterentwickelt. Der Impuls zur technischen Formgebung ruft nämlich, in Cassirers suchenden Worten, eine neue, den Menschen „eigentümliche Blickrichtung“ (ECW 17, S. 159) hervor, die eine komplexere und kreativere Verwendung der Technik ermöglicht. Dabei ist die neue Blickrichtung selbst wiederum die Ermöglichungsbedingung des Werkzeuggebrauchs: neue Blickrichtung und Werkzeuggebrauch bedingen sich gegenseitig. Zentral ist hier das Moment des „Wirkens“: Die ‚Form‘ der Welt wird vom Menschen weder im Sprechen noch im Wirken einfach empfangen und hingenommen, sondern sie muss von ihm ‚gebildet‘ werden. Denken und Tun sind insofern ursprünglich geeint, als sie beide aus dieser gemeinsamen Wurzel des bildenden Gestaltens stammen und sich aus ihr erst allmählich entfalten und abzweigen. (ECW 17, S. 150)

Technik entsteht, wie andere geistige Formen, aus dem aktiven Wirkimpuls des Lebendigen. Insofern ist geistige Tätigkeit auch als „Vollendung“ (ECW 13, S. 43) der organischen Tätigkeit zu verstehen. Der Begriff der Entechnisierung soll eben dies

 Siehe auch „Das Leben kann rein aus sich heraus, als bloßes frei dahinströmendes Leben, keine Form erzeugen; es muß sich zusammenfassen und sich gewissermaßen in einen bestimmten Punkt zusammennehmen, um der Form teilhaftig zu werden.“ (ECW 22, S. 155)  Noch ausführlicher setzt sich Cassirer mit Köhler im Essay on Man auseinander (etwa ECW 23, S. 34– 39; s.a. ECN 6, S. 6; ECN 6, S. 251).

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zum Ausdruck bringen: schon auf einer elementaren Stufe des Lebendigen liegt das Potential zum Technischen. In Form und Technik formuliert Cassirer die entechnische Dimension seiner Anthropologie im Rückgriff auf ein Goethe-Zitat wie folgt: „Der Mensch erfährt und genießt nichts, ohne zugleich productiv zu werden.“ (ECW 17, S. 162) Entsprechend sind „geistige[s] Tun“ und „work“ zentrale Begriffe seiner funktionsbegrifflich konzipierten Kulturanthropologie (ECN 1, S. 36): „Man’s outstanding characteristic, his distinguishing mark, is not his metaphysical or physical nature – but his work.“ (ECW 23, S. 76) Kultur kann daher insgesamt als etwas „Gewirktes“ (ECN 1, S. 155) gelten. Diesen Gedanken finden wir auch in Cassirers Überlegungen zu den Basis-Phänomenen wieder. Neben dem „Ich-Phaenomen“ kennt er auch das „Wirkens-Phaenomen“ und das „Werk-Phaenomen“ (ECN 1, S. 137). Wir begreifen das Sein nicht als etwas von uns Abgelöstes, das völlig außer uns wäre, es ist uns vielmehr im „Medium des Werks“ (ECN 1, S. 137) gegeben. Cassirer nennt in einem ähnlichen Kontext nicht von ungefähr das technische Werkzeug als Beispiel für ein solches Werk und verweist interessanterweise auf Heideggers Überlegungen zum Hantieren mit dem ‚Zeug‘.⁸ So ist das „Sein“ der Technik nur in der Tätigkeit, in der „Energie“ zu verstehen, nicht das „tote Erzeugnis“ der Technik sei zu untersuchen, sondern das Erzeugen selbst (ECW 17, S. 147 f.).

1.2 Die menschliche Ausdrucksfähigkeit prägt die Technik aus Dass der Ausdruck einer der zentralen Begriffe in Cassirers Philosophie ist, bestätigt jüngst noch einmal die Studie von Arno Schubbach, in dessen Anhang sich Faksimile und Transkription von Cassirers ‚allgemeiner Disposition‘ einer ‚Philosophie des Symbolischen‘ von 1917 finden. Dort heißt es gleich zu Beginn skizzenhaft-thetisch: „A) Allgemeines – Das Problem des ‚Ausdrucks‘ – Das ‚Innere‘ und das ‚Äussere‘ – Der falsche Dualismus zwischen Innen und Aussen: Die Ausdrucksfunktion als notwendige Funktion; als konstitutiv für den ‚Bestand‘ des Psychischen selbst“ (Schubbach 2016, S. 371). ‚Innen‘ und ‚Außen‘ sind im Ausdruck miteinander verschränkt. Jede „Erregung des Inneren“ drückt sich in einer „leiblichen Bewegung“ aus (ECW 11, S. 124). Das eine ist ohne das andere nicht zu denken. Daher ist der Ausdruck ein Schlüsselbegriff zum Verständnis dessen, wie das Geistige aus dem Lebendigen heraus zu verstehen ist. Denn: „Jede elementare Ausdrucksbewegung bildet in der Tat insofern eine erste Grenzscheide der geistigen Entwicklung, als sie auch völlig in der

 Das verdeutlicht eine Fußnote im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen, in der Cassirer Heideggers Konzeption der Räumlichkeit diskutiert und unterstreicht, dass er die Analysen der Zuhandenheit plausibel findet, auch wenn er eine weitergehende Raumkonzeption entwickelt (vgl. ECW 13, S. 167, FN 66). Interessanterweise verweist Cassirer auf das ‚vorhandene Zeug‘, auch wenn das Zeug für Heidegger ja vor allem durch das Zuhandensein charakterisiert ist. Heideggers pragmatistischen Zugang zu Welt und ‚Objektivität‘ in Sein und Zeit scheint Cassirer weitgehend zu teilen.

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Unmittelbarkeit des sinnlichen Lebens steht und doch andererseits über diese bereits hinausgeht“ (ECW 11, S. 125). Menschliche Expressivität ist hier nicht nur instinktive Reaktion („animal reaction“), sondern schon Antwort („human response“) (ECW 23, S. 32 ff.). Damit ist der Mensch in nuce bereits als ein sich selbst interpretierendes Tier verstanden (vgl. Taylor 1975): „Die einfache Darlegung des Phänomens [des Ausdrucks, O.M.] ist zugleich seine Auslegung“ (ECW 13, S. 105). Insofern ist die Philosophie der symbolischen Formen insgesamt auch eine „allgemeine Theorie der geistigen Ausdrucksformen“ (ECW 11, S. VII). Das Ausdrucksphänomen als solches ist vielschichtig (vgl. Meuter 2006; Jung 2009). In diesem Kontext ist es wichtig, dass wir im Ausdruck bereits rudimentäre Formen von Handlungen erkennen können, wie insbesondere im Greifen, Zeigen, Hindeuten. Schon Helmuth Plessner hat gezeigt, dass Expressivität als „Ausdrücklichkeit menschlicher Lebensäußerungen“ (Plessner 1975, S. 324) nicht nur Gefühlsäußerungen, sondern auch schon jene Protohandlungen umfasst: „Der schöpferische Griff ist eine Ausdrucksleistung.“ (Plessner 1975, S. 322) Greifvorgänge und Nutzung von Werkzeugen werden ausdifferenziert, weil wir Menschen uns mit und in diesen ‚auszudrücken‘ lernen können. Cassirer spricht an einer Stelle vom „Ausdruck einer bestimmten Verrichtung“ (ECW 17, S. 161). Ausdrucksverhalten und Werkzeuggebrauch finden sich in rudimentärer Form schon bei Tieren. Mit Merlin Donald können wir im Fall des tierischen Werkzeuggebrauchs sogar von einer „episodischen Kultur“ (Donald 2001, S. 159 ff.) sprechen. Doch die Technik des Menschen geht über die Unmittelbarkeit des tierischen Ausdrucks hinaus, wird zur vermittelten Unmittelbarkeit (in Plessners Formel) und damit als Medium reflektierbar, ausdifferenzierbar, optimierbar. Der Begriff der Entechnisierung soll diese Form von Expressivität erfassen. Technik wird in einem Ausdrucksverhalten entwickelt, das mit der Umwelt direkt interagiert. Um die Ausbildung von Entechnisierungsvorgängen deutlich zu machen, kann man an Cassirers Kritik der ‚kausalisierenden‘ und ‚ontologisierenden‘ Fehldeutung des Leib-Seele-Problems in der Philosophie der symbolischen Formen erinnern (vgl. ECW 13, S. 106 ff.). Man versteht die ‚Entstehung‘ der Technik nicht, wenn man die Kausalkategorie bemüht: Das Bewusstsein (oder eine andere Instanz) ist nicht ‚Ursache‘ eines Werkzeuges. Der Werkzeuggebrauch ist als leiblich-seelische Ausdruckform zu verstehen, die zu Protohandlungen, wie zum Greifen und Hantieren mit einem Werkzeug, führt. Genau aus diesem Grund muss auch die ontologisierende Deutungsperspektive scheitern, in welcher Leib und Seele in der Entwicklung und Verwendung von Werkzeugen getrennt werden. Das ‚Geistige‘ findet sich gewissermaßen in die Funktionsweisen des Körpers eingeschrieben, wie insbesondere in diejenigen der Hand. Zudem ist Technik immer schon Einverleibung in dem Sinne, dass sie aus der Einpassung in den ‚Leibraum‘ konkret geformt wird. Wir dürfen also bei der Ausbildung von Technik bzw. bei der Rekonstruktion des ‚Ursprungs‘ der Technik, weder von einem kausalen Vorher und Nachher, noch von einem ontologischen Innen und Außen sprechen.

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Cassirer macht deutlich, dass er Ernst Kapps Theorie der Organprojektion (vgl. Kapp 2015), die ebenfalls diese dualistischen Probleme zu vermeiden sucht, im Grunde überzeugend findet (vgl. ECW 12, S. 253). Doch bleibe sie in mancher Hinsicht verengt. Eine Philosophie der symbolischen Formen könne mit ihrem zentralen Begriff der „geistigen Ausdrucksfunktion“ das Phänomen der Technik viel umfassender beschreiben. Wertvoll für die Philosophie der Technik bleibt für Cassirer aber Kapps Ansatzpunkt bei den „unmittelbaren und mittelbaren sinnlich-leiblichen Organen“ (ECW 12, S. 255). Denn er unterstreicht, wie die Verwendung und Entwicklung von Technik an die Funktionsweise des leiblichen Organismus geknüpft ist, und das nicht nur in Bezug auf die Hand, als das ‚Organ der Organe‘, sondern in Bezug auf die Leiblichkeit unserer Existenz überhaupt. Die elementare Weise körperlich-leiblichen Tuns ist mit dem Geistigen eng verwoben: Das Geistige ist ohne das Leibliche nicht zu verstehen – und umgekehrt (vgl. Krois 2004, S. 14– 33). Gerade weil auch andere Tiere in der Lage sind, Werkzeuge zu benutzen, können wir zeigen, wie Menschen aus dieser ‚Naturanlage‘ (um Kants Ausdruck zu verwenden) Möglichkeiten entwickeln, die wir bei anderen Tieren nicht finden. Der tierische Werkzeuggebrauch ist also kein Argument gegen eine Anthropologie der Technik, sondern bestätigt vielmehr die besondere Rolle von Werkzeugen für das Verstehen dessen, was Menschen charakterisiert. Man kann sogar sagen: Weil Ausdrucksformen in der Natur angelegt sind, können sich kulturelle Formen überhaupt erst entwickeln, die über die Natur hinausgehen. Der Entgegensetzung von Technik und Natur ist irreführend, denn Technik kommt aus der lebendigen Natur: „Here begins that methodical use of instruments that is, so to speak, a new method of life“ (ECW 6, S. 251).

1.3 Apraxie als Atechnie Diese ‚neue Methode des Lebens‘ spiegelt sich nun in Cassirers Begriff des ‚WerkzeugDenkens‘ wider. Diesen Begriff verwendet Cassirer bemerkenswerterweise im Kontext der „Pathologie des Symbolbewusstseins“ (ECW 13, S. 234– 322) im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen. Cassirer diskutiert in diesem Kapitel neben der Aphasie (einer neurologischen Sprachstörung) auch die „Apraxie“, ein das Tun und Handeln betreffendes Krankheitsbild, an dem er ex negativo die elementare Bedeutung des Greifens für die menschliche Existenz verdeutlicht: Um die Bedeutung der pathologischen Erfahrungen für die tiefere Erkenntnis der Symbolfunktion richtig zu ermessen, dürfen wir nicht in dem engeren Kreis der reinen Sprachstörungen stehenbleiben. Die klinische Beobachtung hat seit langem gezeigt, daß eine nahe Verwandtschaft zwischen den im engeren Sinne aphasischen Störungen und Störungen anderer Art besteht, die man als ‚agnostische‘ oder ‚apraktische‘ zu bezeichnen pflegt (ECW 13, S. 253).

Entsprechend widmet Cassirer den pathologischen Störungen des Handelns ein eigenes Unterkapitel. In diesem Kontext beschreibt er die bekannten Fälle der neurologischen Forschung seiner Zeit, insbesondere derjenigen von Kurt Goldstein, einem

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Cousin Cassirers. Während seiner Arbeit an der Philosophie der symbolischen Formen hat Cassirer sowohl die neurologische Abteilung des Krankenhauses HamburgBarmbek besucht als auch die neurologische Klinik in Frankfurt am Main und das Frankfurter Institut für die Erforschung der Folgeerscheinungen von Hirnverletzungen, deren Direktor Goldstein war. Dort hat er offenbar auch den in der Neurologie viel diskutierten Patienten ‚Schneider‘ getroffen (Métraux 1999). In der Philosophie der symbolischen Formen beschreibt Cassirer das Krankheitsbild eines anderen Patienten Goldsteins, der alltägliche Tätigkeiten nur dann ausführen konnte, sobald er in direktem Kontakt mit den Gegenständen kommt. Jede von den Gegenständen losgelöste, „abstrakte“ (ein zentraler Begriff Goldsteins, s. Goldstein 2014; Goldstein 1963, S. 68 ff.) Leistung ist hingegen nicht mehr möglich. Dies ist von Bedeutung, weil Cassirer häufig den Zusammenhang von ‚Greifen‘ und ‚Begreifen‘ unterstreicht (vgl. ECW 13, S. 321) und von dem „doppelte[n] Akt des Fassens“ (ECW 17, S. 150) spricht. Das haptische Fassen korrespondiert mit dem intellektuellen ‚Erfassen‘. Nicht von ungefähr erwähnt Cassirer den Gebrauch eines Hammers: Ebenso vermochte der Kranke einen Nagel einzuschlagen, wenn er, den Hammer in der Hand haltend, unmittelbar vor der Wand stand; aber sobald ihm der Nagel genommen wurde und er die Bewegungen des Einschlagens bloß anzeigen sollte, stockte er oder machte höchstens eine unbestimmte Bewegung, die sich von den zuvor ausgeführten unverkennbar unterschied (ECW 13, S. 307).

Dieses Beispiel erinnert an die Passagen in Sein und Zeit, in denen Heidegger anhand des Hammers seine pragmatistisch-hermeneutische Theorie des In-der-Welt-Seins expliziert (vgl. Heidegger 1993, S. 66 ff.). Im Umgang mit Werkzeugen wie dem Hammer erschließen wir uns die Welt. Auch für Cassirer bedeutet die Verwendung von Technik das „Herausstellen der eigenen ‚Natur‘ der Dinge“ (ECN 1, S. 256). An der Apraxie erkennt Cassirer bemerkenswerterweise nun die Bedeutung des „Werkzeug-Denkens“ (ECW 13, S. 321). Für Cassirer ist die Apraxie interessant, weil sie sich auch als eine, wie man sagen könnte, Atechnie zeigt, an der wir erkennen können, wie zentral das Werkzeug-Denken für den Menschen ist. Das Geistige zeigt sich nach Cassirer auch in seiner Instrumentalität (vgl. ECW 17, S. 150). In der Einschränkung, die die Patienten erleiden, erkennt Cassirer, wie der Geist des Menschen überhaupt ‚arbeitet‘, der in Distanz zu der Unmittelbarkeit der Lebensvollzüge treten können muss. Cassirer deutet die psychopathologischen Befunde anthropologisch – ähnlich wie Goldstein, der ebenfalls aus den Erkenntnissen der Psychopathologie Deutungsperspektiven auf den Menschen entwickelt und daher seine William James Lectures Human Nature in the Light of Psychopathology betitelt. Für Cassirer ist das Werkzeug-Denken ein grundlegendes anthropologisches Phänomen. Menschen entwickeln Denkformen im Umgang mit Werkzeugen. Aus den Vorgängen des Greifens und der Handhabung entstehen Formen medialen Denkens, das an Materialität und Widerständigkeit der Dinge und Dingzusammenhänge geknüpft ist. Das „WerkzeugDenken“, das Cassirer in seinen Analysen der Neuropathologien entdeckt, beschäftigt ihn auch in Form und Technik, wo er an diesen Gedanken anschließt und schreibt:

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„Abermals zeigt sich hier eine durchgängige und überraschende Analogie zwischen der technischen und der sprachlichen Funktion: Zwischen dem ‚Geist des Werkzeugs‘ und dem ‚Werkzeug des Geistes‘“ (ECW 17, S. 169).

2 Medialität und Möglichkeit der Technik 2.1 Neue Selbstverhältnisse durch Technik Für das Verständnis, wie sich die Technik herausgebildet hat, sind Magie und Mythos von besonderer Bedeutung.⁹ Denn vor dem Hintergrund des mythischen Selbst- und Weltverhältnisses kann Cassirer die ‚Neuerung‘ beschreiben, die mit der Verwendung der ersten Werkzeuge einhergeht. Es kommt zunehmend zur Herausbildung eines konturierten ‚Selbst‘, das sich von den Seelen- und Ichvorstellungen des Mythos unterscheidet. Auch hier gibt es kein kausales Vorher und Nachher, es kann nur von wechselseitigen Bedingungsverhältnissen die Rede sein. Technik ist nur möglich, weil sich ein Selbst herausgebildet hat – und dieses Selbst ist nur möglich, weil Menschen beginnen, Werkzeuge auf eine neue Art zu verwenden. Der Mythos steht für ein narratives, bildhaftes, unmittelbares, unreflektiertes Selbst- und Weltverhältnis, das aber doch auf seine Weise ‚rational‘ ist und sinnhafte Orientierung bietet (siehe zur transzendentalen Bedeutung des Mythos-Begriffs: Pedersen 2012). Der Mythos hat in Cassirers Philosophie eine besondere Funktion: Er spricht bekanntlich einmal vom Mythos als einem „Mutterboden“ (ECW 16, S. 266), aus dem sich alle anderen symbolischen Formen entwickeln und ausdifferenzieren. Dies ist zunächst einmal kulturgenetisch zu verstehen: In der Entwicklung der menschlichen Kultur gab es immer wieder „Krisen“ – „innere Krisis“ (ECW 12, S. 252), wie Cassirer im Blick auf die Etymologie des altgriechischen Wortes krisis für ‚Scheidung‘ und ‚Entscheidung‘ sagt –, die bestimmte Formen des ‚Geistigen‘ hervorgebracht haben. Cassirer beschreibt eine solche Krise auch beim Übergang vom Homo divinans zum Homo faber (ECW 17, S. 152 ff.). Schon die Verehrung der ersten Werkzeuge, auch wenn man ihnen eine eigene magische Kraft zuschreibt, sei der „Keim und Ausgangspunkt einer neuen Gesamtsicht, die der Mensch von der Außenwelt und die er von sich selbst gewinnt“ (ECN 1, S. 40). Doch auch über die kulturgenetische Deutung hinaus kann man sagen, dass mythisches Denken das menschliche Selbst- und Weltverhältnis immer (noch) mitprägt. Nicht nur in entwicklungspsychologisch oder ontogenetisch lösen wir uns peu à peu von Selbst- und Weltverhältnissen, die an mythische und magische Denkformen erinnern. Auch viele sprachlichen Benennungen tragen einen Rest von Magie in sich und unsere Weltbilder sind meist von einer an Mythen erinnernden Selbstverständlichkeit durchsetzt. Auch die Verwendung von Technologien ist durch einen

 Cassirers Mythos-Begriff seiner Abhandlung The Myth of the State (ECW 25) soll hier aus systematischen Gründen nicht berücksichtigt werden.

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Mehrwert charakterisiert, der nicht selten magische Dimensionen hat (vgl. Gehlen 1957; Bloch 1979, S. 731 ff.). Unser ‚Geist‘ löst sich gewissermaßen tagtäglich von mythenähnlichen und magiegestaltigen Anschauungs- und Lebensformen. Wenn Cassirer schreibt, dass es im mythischen Bewusstsein keine klaren Vorstellungen in Bezug auf die Unterscheidung von Ich, Seele oder Persönlichkeit gebe und damit die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich verwischt sei (vgl. ECW 12, S. 181 ff.), dann charakterisiert dies die vorphilosophische Gemengelage, die sich mit Rätseln über das Verhältnis von Körper, Geist, Leib und Seele verbindet (vgl. ECW 12, S. 190). Als ein Beispiel dafür, wie sich Cassirers kulturgenetische Überlegungen auch ontogenetisch und entwicklungspsychologisch lesen lassen, mag folgende Passage dienen: Das Ich gelangt erst dadurch zu sich selbst, daß es diese Grenzen für sich setzt, daß es somit die unbedingte Kausalität, die es sich anfangs gegenüber der Welt und der Dinge zuschrieb, sukzessive einschränkt. Indem der Affekt und der Wille den gewollten Gegenstand nicht mehr unmittelbar zu ergreifen und in ihren Kreis zu ziehen suchen, sondern indem sich zwischen den bloßen Wunsch und sein Ziel immer mehr und immer klarer erfaßte Mittelglieder einschreiben, gewinnen damit die Objekte auf der einen, das Ich auf der anderen Seite einen selbständigen Eigenwert: Die Bestimmung beider wird erst durch diese Form der Vermittlung erreicht (ECW 12, S. 184 f.).

Cassirer hat seinen Ansatz allerdings meist kulturgenetisch formuliert: So wenig sich jedoch Magie und Technik rein genetisch voneinander sondern lassen, so wenig sich ein bestimmter Zeitpunkt in der Entwicklung der Menschheit angeben läßt, an dem sie von der magischen zur technischen Beherrschung der Natur übergeht, so schließt doch der Gebrauch des Werkzeugs als solcher schon eine entscheidende Wendung im Fortgang und im Aufbau des geistigen Selbstbewußtseins ein (ECW 12, S. 251).

Dieser ‚Aufbau des geistigen Selbstbewusstseins‘ hat sicher auch ontogenetische und entwicklungspsychologische Einschlüsse. In diesem Punkt gibt es eine Parallele zu den „symbolic technologies“, die Merlin Donald (2011, S. 305 ff.) beschreibt, um die Entstehung des menschlichen Bewusstseins (consciousness) zu erklären. Donald wendet sich mit dieser Begriffsbildung gegen Ansätze, die Geist und Selbstbewusstsein ‚im‘ Gehirn verorten. Bewusstsein entsteht mit der Ausbildung von Symbolsystemen. Dass Donald hier den Begriff der technology wählt, verdeutlicht die fundamentale Bedeutung der Entechnisierung: Nach ‚außen‘ wirkende Technik ist gleichzeitig immer auch ‚innere‘ Formung des Geistigen. Über den Werkzeuggebrauch erlangen Menschen Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis, weil sie mit Technik nicht nur nach außen wirken, sondern auch sich selbst begegnen: „Jedes neue Werkzeug, das der Mensch findet, bedeutet demgemäß einen neuen Schritt nicht nur zur Formung der Außenwelt, sondern zur Formung seines Selbstbewußtseins“ (ECW 12, S. 254), schreibt Cassirer in affirmativem Bezug zu Ernst Kapp. Dieser Vorgang, dass der Mensch sich im technischen Herstellen selbst hervorbringt, soll mit dem Begriff der Entechnisierung erfasst werden. In Entechnisierungsprozessen sind Werkzeuggebrauch und Selbstformung miteinander ver-

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schränkt. In der Ausbildung von Selbstbewusstseinsformen gewinnt der Mensch Freiheitsgrade, Freiheitsspielräume, die auch im Sinne von Schillers Spielbegriff zu verstehen sind, auf den Cassirer gerne verweist (vgl. ECW 17, S. 165 f.). In dieser Hinsicht findet sich im Nachlassband zu Schiller eine aufschlussreiche Notiz. Cassirer vermerkt dort: „Autonomie der Technik, Freiheit in der Kunstmässigkeit“ (ECN 12, S. 35). Mit diesen Formeln würde Schiller die Fruchtbarkeit der Kantischen Philosophie zu erfassen suchen. Diesen geistesgeschichtlichen Echoraum muss man im Hinterkopf haben, um Cassirers Verbindung von Technik und Freiheit verstehen. Um diese These zu plausibilisieren, verweist Cassirer auf eine Passage in Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Religion, in denen Hegel das Werkzeug als Möglichkeit des Menschen beschreibt, „in sich frey“ zu sein, also eine „Selbständigkeit“ gegenüber der Natur, der Außenwelt und anderen Menschen zu erlangen (ECW 12, S. 252). Erst wenn der Mensch in dieser Hinsicht frei geworden ist, gelangt er zu einem neuen, technischen Verhältnis zur Wirklichkeit. Cassirer spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Peripetie, „die sich im geistigen Sein des Menschen vollzieht, sobald er in die Sphaere des Werkzeugs und des Werkzeug-Denkens eintritt“ (ECN 1, S. 57). Die Ausbildung des technischen Selbst erinnert an Freudianische Formen der Triebkontrolle, wenn auch nicht mehr ein „vorwärtsstürmender Impuls“ (ECW 17, S. 156) die Technikentwicklung bestimmt, sondern das in die Ferne-Rücken des Zieles, die „Kunst des Umwegs“ (ECW 17, S. 197), die Distanz. Auf den ersten Blick scheint die Technik (nur) der Nutzbarkeit „verfallen“ zu sein, doch ist sie vielmehr ein „Grundmittel“, sich selbst „mit dem Sein der Natur“ zu verbinden – was „der eigentliche Anfang der Selbstbefreiung des Geistes“ sei (ECN 1, S. 40).

2.2 Technische Medialität als ‚Logik‘ der Technik Es ist charakteristisch für Menschen, Formen von Vermittlung, von Medialität, auszubilden, die an die spezifische Leib-Körperlichkeit des Menschen zurückgebunden sind (vgl. Wiegerling 2008). Menschen sind Medialität reflektierende Wesen (vgl. Hubig 2006). Wenn Cassirer in Bezug auf Kleists Text Ueber das Marionettentheater sagt, Menschen seien für immer aus dem „Paradies der Unmittelbarkeit“ (ECW 17, S. 186) vertrieben worden, versteht er Medialität (und die Reflexion von Medialität) als eine conditio humana. In Anlehnung an Hegels Begriff des Mittelbaren (vgl. Schwemmer 2001) verdeutlicht Cassirer die ‚Logik‘ des Werkzeuges folgendermaßen: In der Weise des mittelbaren Handelns, die jetzt gewonnen ist, gründet und festigt sich erst jene Art von Mittelbarkeit, die zum Wesen des Denkens gehört. Alles Denken ist seiner reinen logischen Form nach mittelbar – ist auf die Entdeckung und Gewinnung von Mittelgliedern angewiesen, die den Anfang und das Ende, den Obersatz und den Schlußsatz einer Schlußkette miteinander verknüpfen. Das Werkzeug erfüllt die gleiche Funktion, die sich hier in der Sphäre des Logischen darstellt, in der gegenständlichen Sphäre: Es ist gleichsam der in gegenständlicher Anschauung, nicht im bloßen Denken erfasste ‚terminus medius‘ (ECW 17, S. 158).

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Diese Logik des Mittels schiebt sich als ein „trennendes Medium“ (ECW 12, S. 250) zwischen Selbst und Wirklichkeit, in denen technische Mittel zu bestimmten Zwecken als solche erkannt werden. Die technische Medialisierung ermöglicht Distanzierungsvorgänge. Im Gegensatz zur magischen Einwirkung durch Wünsche wird der Gegenstand technisch nutzbar, wenn man zunächst von ihm abrückt, um ihn als ‚Objekt‘ zu verstehen und nutzbar zu machen (vgl. ECW 12, S. 252). Cassirer betrachtet die Wirklichkeit als ein „charakteristisches ‚Gefüge‘“ (das sich z. B. durch Technik erschließt), auch die Natur wird durch Werkzeuggebrauch „entdeckt“ (ECW 17, S. 157). Über die Technik lernt der Mensch die Naturgesetze zu akzeptieren (im Vergleich zum magischen und mythischen Denken), um sie nutzen zu lernen (vgl. ECW 17, S. 175). In diesem Distanzierungsvorgang werden ‚subjektive‘ und ‚objektive‘ Sphäre immer klarer voneinander getrennt.

2.3 Entdeckung des Möglichkeitshorizonts durch Technik Über die technische Medialität wird ‚Objektivität‘ ebenso erschlossen wie kausale Strukturzusammenhänge. Vor allem aber wird das Potential des technisch Möglichen entdeckt und damit das Potential des Möglichen überhaupt. Das Werkzeug könne „erst dort entstehen, wo der Geist fähig geworden ist, ein ‚mögliches‘ Objekt zu ergreifen und zu konzipieren, statt sich direkt an ein wirkliches hinzugeben und an dasselbe zu verlieren“ (ECN 1, S. 40). Technisches Denken bedeutet die Erschließung des Raums des Möglichen. Pointiert gesagt: Der Techniker fragt nicht, was ist, sondern was sein kann. Die Entwicklung von Technologien verlange, dass wir ständig vom ‚Wirklichen‘ in ein Reich des ‚Möglichen‘ zurückgehen und das Wirkliche selbst unter dem Bilde des Möglichen erblicken. Die Gewinnung dieses Blicks- und Richtpunkts bedeutet, in rein theoretischer Hinsicht, vielleicht die größte und denkwürdigste Leistung der Technik. Mitten im Gebiet des Notwendigen stehend und in der Anschauung des Notwendigen verharrend, entdeckt sie einen Umkreis freier Möglichkeiten (ECW 17, S. 176).

Und diese Möglichkeiten sind nicht bloß ‚subjektiv‘, sondern ‚objektiv‘, weil sie mit den Notwendigkeitsstrukturen der Naturgesetze abgeglichen werden. Mit der Technik entstehen neue Dinge und Dingkontexte, indem sie aus dem Möglichkeitstraum in die Wirklichkeit überführt werden. Durch die Technik lernen Menschen, dass „der Umkreis des ‚Objektiven‘, des durch feste und allgemeine Gesetze Bestimmten, keineswegs mit dem Umkreis des Vorhandenen, des sinnlich Verwirklichten zusammenfällt“ (ECW 17, S. 176). Damit ist Technik immer ein Vorgriff auf Möglichkeiten, das Ausloten des Potentiellen, um das Wirkliche zu verändern.

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3 Technische Kompetenz und technische Kultur 3.1 Technische Kompetenz als Wissensform Orientiert an Cassirers triadischem Modell der Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion der symbolischen Formen, könnte man die Bedeutungsfunktion der Technik darin sehen, dass die Technik bewusst als Kompetenz verstanden wird, um gezielt Technologien zu entwickeln, die z. B. die Arbeit erleichtern, Wegstrecken schneller bewältigen lassen, Kommunikation ermöglichen oder Kriegsgeräte verbessern, Technologien, die heilen, beschleunigen, schützen, kontrollieren, vernichten. Technik wird zu einem gezielt genutzten, gelernten, gelehrten, geübten Herstellungswissen, sie wird zur Technik des Technikers, wie José Ortega y Gasset (1949) es formuliert hat. Nicht ohne Grund verwendet Cassirer nicht nur das Begriffsfeld von Entdeckung, Aufdeckung, Erfassen, sondern auch das „Sichzueigenmachen“ (ECW 17, S. 157). Erst, wenn die Technik als Kompetenz ergriffen wird, kann sie zum „Moment und Durchgangspunkt des Verstehens“ (ECN 1, S. 256) werden. Auffällig ist, dass Cassirer in diesem Kontext häufig optische Begriffe und Metaphern verwendet, um die epistemologische Dimension der Technik zu beschreiben. Schon oben war davon die Rede, dass Menschen nicht mehr gebannt auf den Gegenstand schauen, sondern eine neue „Blickrichtung“ (ECW 17, S. 159) entwickeln, die über die tierische Geschicklichkeit hinausgeht. So beschreibt Cassirer eine technische „Ab-Sicht“, die zur „Voraus-Sicht“ wird: „In der Hervorbringung des Werkzeugs und in seinem Gebrauch stellte sich uns eine bestimmte Form und Richtung der ‚Sicht‘, der Voraus-Sicht, dar“ (ECN 1, S. 57). Cassirer versteht das theoretische ‚Schauen‘ sogar als etwas, was sich zuerst in der Anwendung von Technik zeigt. Wie Platon sieht er die Technik als eine Form des Wissens (sehr wahrscheinlich kannte Cassirer die Arbeiten des Hamburger Gräzisten Bruno Snell, siehe etwa Snell 1924), doch würde er die techne nicht kategorisch von Wissensformen wie episteme oder nous trennen. Er sagt sogar: „Nirgends stellt sich dies [die Verwurzelung des Theoretischen im Praktischen, O.M.] vielleicht so deutlich dar, als im Rahmen des ‚technischen‘ Wirkens selber“ (ECN 1, S. 39). Dies bezeichnet Cassirer auch als „Weltwende der Erkenntnis“ (ECW 17, S. 158). Da Cassirers Technikphilosophie explizit leibphilosophische Einschlüsse hat (vgl. ECN 1, S. 63), ändert die Weltwende der Erkenntnis auch das epistemische Verhältnis zum eigenen Körper: „[W]ir erkennen den eigenen Körper erst, indem wir ihn technisch aufbauen – Auch alle Physio-Logie ist an das Bilden, an das technische Erkennen gebunden“ (ECN 1, S. 256). Als eigenständige Wissensform kann sich die Technik aber auch immer weiter reichende Erfindungs- und Anwendungsformen ermöglichen, die über das Organprojektionsmodell Kapps und die leibliche Rückbindung der Werkzeuge hinausgeht. Im Rückgriff auf Marx spricht Cassirer von der ‚Emanzipation von der Organischen Schranke‘, allerdings scheint er über die Maschinentheorie von Marx hinauszuge-

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hen,¹⁰ da er insbesondere die epistemologische Trennung von dem Vorbild des Organischen in der Entwicklung einer eigenen Logik der Technik unterstreicht: Was die Instrumente der vollentwickelten Technik von den primitiven Werkzeugen trennt, ist ebendies, daß sie sich von dem Vorbild, das ihnen die Natur unmittelbar zu bieten vermag, freigemacht und gewissermaßen losgesagt haben. Erst auf Grund dieses ‚Lossagens’ tritt das, was sie selbst zu sagen und zu leisten haben, tritt ihr selbständiger Sinn und ihre autonome Funktion vollständig zutage (ECW 17, S. 169).

‚Autonome Funktion‘ bedeutet, dass sich zunehmend eine eigene technische Logik entwickelt, aus der heraus Lösungen gesucht werden, die immer weniger mit der Einpassung in eine naturnahe Handwerkswelt zu tun haben. Technische Kompetenz und Kreativität zeigen sich in der Technik als hochkomplexe Wissensform, in der sich naturgesetzliche, materialwissenschaftliche, energiewissenschaftliche, produktionsund nutzenorientierte und ökonomische Zusammenhänge verbinden. Wenn die Technik zunehmend als eine Kompetenz verstanden wird, die man aktiv ergreifen und nutzen kann, dann kann man mit Hans Blumenberg auch von einer „neuen Qualität des Bewusstseins“ (Blumenberg 1988, S. 152) sprechen. Denn: „Es ist etwas anderes, ob der Mensch unter dem Druck der Notwendigkeiten seiner Existenz technisches Verhalten entwickelt oder ob er die Technizität wahrnimmt und ergreift als Thema und Signatur seiner Selbstdeutung und Selbstverwirklichung“ (Blumenberg 2009, S. 102). Cassirer scheint mit der Autonomisierung der technischen Leistungssphäre genau diesen Vorgang zu beschreiben, der eine Dynamisierung und Beschleunigung hervorruft, die die Technik zum zentrale Faktor (moderner) Kulturen macht, in der Lebensstil und Lebensform der Menschen technisch geprägt sind.

3.2 Technik als Kultur und Lebensform Am Ende von Form und Technik behandelt Cassirer die technische Kultur vor dem Hintergrund der Frage, ob es einen technischen Determinismus gibt, der uns Menschen zunehmend unfrei macht (vgl. ECW 17, S. 180). Zuvor hatte er bereits beschrieben, wie sich die Technik aus der ‚organischen‘ Einheit zwischen Mensch und Werkzeug löst, in der der menschliche Organismus mit dem Werkzeug „verwächst“ (ECW 17, S. 171). Denn zunehmend würde das „harte[…] Gesetz der technischen Arbeit“ (ECW 17, S. 170) und das „Gesetz der Dingwelt“ (ECW 17, S. 171) in der Mensch-TechnikInteraktion deutlich werden. Technisierung scheint die Arbeits- und Produktionsbe-

 Bei Marx liest sich das folgendermaßen: „Nachdem erst die Werkzeuge aus Werkzeugen des menschlichen Organismus in Werkzeuge eines menschlichen Apparats, der Werkzeugmaschine, verwandelt, erhielt nun auch die Bewegungsmaschine eine selbständige, von den Schranken menschlicher Kraft völlig emanzipierte Form.“ (Marx 1974, S. 398) Und: „Die Anzahl der Werkzeuge, womit dieselbe Werkzeugmaschine gleichzeitig spielt, ist von vornherein emanzipiert von der organischen Schranke, wodurch das Handwerkszeug eines Arbeiters beengt wird.“ (Marx 1974, S. 394)

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dingungen immer stärker vorzugeben. Insofern geht Cassirer davon aus, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die Technik Lebensweise und Lebensstil umfänglich prägt. Cassirer gibt immer wieder Hinweise, dass der Begriff des objektiven Geistes (durchaus im Sinne Hegels) für seinen Ansatz von großer Bedeutung ist, etwa auch in der berühmten Davoser Disputation mit Martin Heidegger. Dort sagt er: „Und darum gehe ich von der Objektivität der symbolischen Formen aus, weil hier das Unbegreifliche getan ist […]. Vom Dasein aus spinnt sich der Faden, der durch das Medium eines solchen objektiven Geistes uns wieder mit anderem Dasein verknüpft“ (Heidegger 1991, S. 293). Auch die Technik als symbolische Form wird zu objektivem Geist, der unsere Kultur durchherrscht. Allerdings zeigt sich Cassirer gegenüber der Kulturkritik rousseauistischer Provenienz ebenso skeptisch wie gegenüber Simmels Diktum von der ‚Tragödie der Kultur‘, mit dem er sich immer wieder auseinandergesetzt hat (vgl. ECW 17, S. 172; ECW 24, S. 468 ff.). Cassirer argumentiert gegen Simmel (und andere), dass man mit einer Entgegensetzung von Technik und (ursprünglichem, authentischen, kreativen usw.) Leben das ‚Problem‘ der Technik nicht erfassen könne. Die Technik sei nur im Blick auf ihr Verhältnis zu den anderen kulturellen Formen des Geistes zu bewerten. Die Technik dürfe die anderen kulturellen Formen nicht dominieren, müsse (und könne) „ethisiert“ (ECW 17, S. 182) werden. In einem der Nachlass-Texte finden wir die der Theodizee nachgebildete Formel von der „Logodizee des Technischen“ (ECN 1, S. 256). Die Technik soll angesichts der durch Technik verursachten Übel in der Welt in ihrer Vernünftigkeit verteidigt werden. Diese ‚Logodizee des Technischen‘ hängt eng mit der Entechnisierung zusammen. Denn bei aller berechtigten Kritik an der Dominanz der Technik und der durch sie verursachten Schäden, sei die Technik nicht per se schlecht und grundsätzlich zu rechtfertigen, weil sie so fundamental mit dem menschlichen Selbst- und Weltverhältnis zusammenhängt. Wir ‚sind‘ nur durch Technik. Die Aufgabe einer Ethisierung der Technik kann keine grundsätzliche Ablehnung sein, sondern nur eine aktive Gestaltung der technischen Kultur. So überzeugend seine Argumentation ist, scheint es mir ein Desiderat zu sein, Form und Technik in diesem Punkt weiterzudenken, um Perspektiven auf eine Kritik der Technik entwickeln zu können, die der anthropologischen Ausrichtung von Cassirers Technikphilosophie Rechnung trägt – also nicht in eine Theorie des ‚Gestells‘ im Sinne Heideggers übergehen muss – und doch der anthropologisch motivierten Logodizee des Technischen auch Perspektiven für eine Technikkritik hinzufügt. Eine Idee könnte es sein, eine solche Technikkritik anhand des Begriffs der ‚Lebensform‘ auszubuchstabieren. Cassirer würde sicher zustimmen, dass wir die Technik als Lebensform (etwa im Sinne Alfred Nordmanns, 2008, S. 15) beschreiben können. Im Anschluss an Rahel Jaeggis Kritik von Lebensformen (Jaeggi 2014) könnte man Ansätze einer Technikkritik entwickeln (im Sinne von ‚Daseinsformen‘ und ‚Existenzbestimmungen‘ bei Marx), die dem Phänomen der Entechnisierung Rechnung trägt und gleichzeitig Entfremdungserfahrungen formulieren kann, die innerhalb einer Hermeneutik der technischen Welt in kritische Deutungsmuster überführt werden können (vgl. Müller 2014).

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4 Schlussbemerkungen 4.1 Der Begriff der Entechnisierung In Auseinandersetzung mit Cassirer sollte gezeigt werden, dass der Begriff der Entechnisierung präziser als die Begriffe ‚Technik‘ und ‚Technisierung‘ erfassen kann, dass das ‚Bedürfnis‘ nach Technik aus dem Lebendigen selbst kommt und sich im Ausdrucksverhalten ausbildet. Zudem kann mit dem Begriff der Entechnisierung Rechnung getragen werden, dass in das technische Wirken immer auch Selbstformungsvorgänge eingeschrieben sind, bis hin zur Freiheit durch Distanzierung, die neue Möglichkeitshorizonte entdecken lässt. Damit führt Entechnisierung zu Technik und Technisierung im ‚klassischen‘ Sinne, zu einer technischen Lebensform in einer technisch geprägten Kultur.

4.2 Entechnisierung und 4E cognition Seit etwa zwei Jahrzehnten werden verschiedene Spielarten der embodied, embedded, enacted, extended cognition (neuerdings auch als 4E cognition gebündelt) in verschiedenen Hinsichten diskutiert und phänomenologisch, sprachanalytisch, verkörperungsanthropologisch, kognitions- und neurowissenschaftlich ausdifferenziert (siehe als Überblick Menary 2010).¹¹ Damit wird – so könnte man philosophiehistorisch zugespitzt sagen – ein Programm umgesetzt und weiterentwickelt, das Ernst Cassirer in Ansätzen und mit anderen Akzenten zwischen den 1920er und 1940er Jahren verfolgt hat. Schaut man sich die Arbeiten von Cassirer im Blick auf die aktuellen Fragestellungen und Diskussionen in diesem Feld an, ist man überrascht, wie aktuell seine anthropologischen Überlegungen sind. Der Ansatz bei dem Phänomen des Ausdrucks, die Verschränkung von Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit, die Bedeutung von Verkörperung und Artikulation für den ‚Geist‘ sowie die exemplarische Einbeziehung neuropathologischer Funde machen Cassirers Texte bis heute attraktiv und methodologisch instruktiv. Insbesondere seine Versuche, das ‚Geistige‘ aus dem Lebendigen heraus zu verstehen, rücken ihn in von seinem Anspruch her die Nähe von Studien wie Mind in Life (2007) von Evan Thompson – auch wenn Cassirer in vieler Hinsicht gänzlich anders vorgeht und andere Begrifflichkeiten verwendet. Die Aufnahme Cassirers in den ‚Kanon‘ der klassischen Texte, die die Akteurinnen und Akteure der 4E cognition, des enactivism oder auch der Neurophänomenologie in ihre Theoriebildung miteinbeziehen – wie es bereits bei Husserl und Merleau-Ponty der

 Demnächst zu erwarten ist Albert Newen, Leon de Bruin und Shaun Gallagher (Hrsg.), The Oxford Handbook of 4E Cognition. Oxford (in Vorbereitung).

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Fall ist –, ist ein dringendes Desiderat.¹² Und entsprechend kann es wiederum für die Cassirer-Forschung sehr fruchtbar sein, die Verwandtschaften, Parallelen, Nähen von Cassirers Ansätzen zu dem neuen und dynamischen Forschungsfeld der 4E cognition und des enactivism zu untersuchen, um Cassirers philosophisches Potential und Anschlussfähigkeit (neu) zu entdecken (vgl. Krois et al. 2007). Ebenso fruchtbar ist es selbstverständlich, die Unterschiede und Differenzen aufzudecken. Nicht zuletzt sind Cassirers Beiträge daher von Bedeutung, weil sie die Philosophie der Verkörperung nicht nur vorwegnimmt, sondern mit dem Symbolbegriff die Fragestellungen deutlich erweitert. So kann mit Blick auf die obigen Ausführungen gesagt werden: Die embodied, embedded, enacted, extended cognition ist auch entechnisch. Die genannten Ansätze, die durchaus auch eine enculturation einschließen, könnten mit Cassirers Theorie der Entechnisierung bereichert werden, weil er das spezifisch Technische im menschlichen Selbst- und Weltbezug in hochdifferenzierter Weise herausarbeitet.

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Formwerdung und Formlosigkeit der Form Die Beiträge von Ernst Cassirer und Nishida Kitarō zur Lebensphilosophie Abstract: The Becoming of Form and the Formlessness of Form. Contributions to the Philosophy of Life by Ernst Cassirer and Nishida Kitarō. In this paper, I argue that Ernst Cassirer and Nishida Kitarō – despite having seemingly opposing views on form – share a common philosophical aim: to strike a balance between academic theory and the imminence of life. I elucidate their respective projects regarding contributions to the discourse on the philosophy of life that took place in the German speaking academia in the early 20th century. The paper begins with a historical account of Cassirer’s and Nishida’s (non‐)meeting and the influence of German philosophy in Japan. The main task is to delineate their respective concepts of life based on their critiques of the philosophy of life. I conclude with a summary of the shared aspects of their views based on similarities between their concepts of form, which open a horizon for further investigation into the identity and difference between these two philosophers from Germany and Japan. Keywords: Nishida Kitarō, Ernst Cassirer, philosophy of life, Neo-Kantianism, Japanese philosophy, history of philosophy, form of life

Einleitung: Der Diskurs um die Lebensphilosophie Die sogenannte Lebensphilosophie rückt Anfang des 20. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum in den Fokus des intellektuellen und dann auch akademischen Diskurses. Unter Lebensphilosophie wird in diesen Diskursen ein Denken verstanden, das dem Prinzip nach nicht ein Anderes des Lebens annimmt, sondern das Leben aus dem Leben heraus zu erfassen versucht. Dabei ist aus Sicht der damaligen akademischen Philosophie problematisch, dass das Leben als etwas kaum rational Begreifliches, Fließendes beschrieben wird, das sich einem Denken mit systematisch-wissenschaftlichem Anspruch wesentlich entziehen muss. Der Lebensbegriff wird dabei in einer Reihe von Dichotomien entfaltet: Leben wird in einen Gegensatz gerückt primär zu ‚Form‘, aber auch zu ‚Geist‘ und ‚Begriff‘, zur Logik und letztlich zur Philosophie schlechthin.¹ Innerhalb der akademischen  Eine prominente Kritik an der Lebensphilosophie stammt von Heinrich Rickert (1863 – 1936) und geht vom Begriff der Form aus. Er diagnostiziert einen dem Projekt einer Philosophie des Lebens inhärenten Widerspruch: „Sie [die Lebensphilosophie] braucht die Lebensform, um Philosophie des Lebens zu sein, und sie muß jede feste Form ablehnen, um Philosophie des Lebens zu bleiben. Es geht weder mit der Form noch ohne sie“ (1920, S. 64). – Kritisch differenzierend reagiert Max Frischeisenhttps://doi.org/10.1515/9783110549478-011

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Auseinandersetzung waren lebensphilosophische Ansätze oft gegen die Idee einer systematischen und wissenschaftlichen Philosophie gerichtet, deren Hauptvertreter zumeist vom Neukantianismus beeinflusst waren. Es verwundert daher nicht, dass die Beiträge von Ernst Cassirer (1874– 1945) und des japanischen Philosophen Nishida Kitarō (1870 – 1945), die beide zumindest durch diese Richtung beeinflusst, wenn nicht geprägt wurden, normalerweise nicht beachtet werden, wenn es um die Fragen der Lebensphilosophie geht. Der folgende Aufsatz setzt sich aber genau das zum Ziel: Mit Cassirer und Nishida kommen zwei Stimmen zu Wort, die sich im Anschluss an den Neukantianismus mit der Lebensphilosophie beschäftigen. Dabei werden ihre Beiträge sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht behandelt, da sie vom Ansatz her einen Mittelweg zwischen Neukantianismus und Lebensphilosophie einschlagen. Der Ausgangspunkt der beiden so unterschiedlichen Denker besteht darin, die Beziehung von Lebens- und Formbegriff als konkretes Verhältnis dialektisch zu begreifen. Die im Folgenden vertretene These lautet, dass ihr Ansatz auf eine Gemeinsamkeit verweist, deren Ausdruck im Formbegriff Gestalt annimmt, obwohl ihre unterschiedlichen Konzeptionen des Begriffs sich zu widersprechen scheinen. Die Unterschiedlichkeit der Perspektiven des „Philosoph[en] der europäischen Moderne“ (Schwemmer 1997) aus Hamburg und des Begründers einer eigenständigen japanischen philosophischen Tradition (der sogenannten Kyōto-Schule) können durch die jeweiligen kulturellen Kontexte erklärt werden, auch wenn sie dadurch nicht einfach determiniert sind. Die unterschiedlichen Perspektiven werden also keinesfalls umstandslos als Ausdruck zweier ‚Kulturkreise‘ angesehen.Vielmehr ist es,

Köhler auf Rickerts Kritik in seiner Rezension von 1921, die auch für Cassirers Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie richtungsweisend ist. Er stellt die zentrale Grundannahme Rickerts in Frage: „Wollen wirklich ihre namhaftesten Vertreter [der Lebensphilosophie] beim Philosophieren über das Leben allein mit dem Leben auskommen“ (1921, S. 120)? Diese und andere Stellungnahmen zur Lebensphilosophie bilden den Diskurs um die Lebensphilosophie, der u. a. in den Jahren 1926, 1929 und 1932 durch Beiträge von Georg Misch (1878 – 1965) („Die Idee der Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissenschaften“), Fritz Heinemann (1889 – 1970) (Neue Wege der Philosophie. Geist, Leben, Existenz. Eine Einführung in die Philosophie der Gegenwart) und Philipp Lersch (1898 – 1972) (Lebensphilosophie der Gegenwart) getragen wird. – Mit seiner Überblicksdarstellung Versuch über eine Philosophie des Lebens von 1913 gehört Max Scheler (1874– 1928) zu den ersten Lehrstuhlinhabern, die das lebensphilosophische Denken sachlich würdigen. Zu den Autoren, die bei Scheler unter dem gemeinsamen Label der Lebensphilosophie firmieren, gehören vor allem die drei Denker Wilhelm Dilthey (1833 – 1911), Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844– 1900) und Henri Bergson (1859 – 1941). – Von einer Philosophie des Lebens ist bereits in der Romantik die Rede. Diese erhebt aber zunächst nur den Anspruch, dem praktischen Leben einer Orientierung zu geben. Die Strömung der Lebensphilosophie zum Ende des 19. Jahrhunderts geht darüber deutlich hinaus. Die Autoren dieser modernen Strömung setzen sich kritisch mit der neuzeitlichen Erkenntnistheorie und Ontologie auseinander und versuchen, einen systematischen Standpunkt zu gewinnen. Gemeinsam ist ihnen die negative Abgrenzung gegen eine rationalistische und szientifische Philosophie. – Natürlich ist der Begriff des Lebens bereits seit der griechischen Antike ein philosophisches Thema in den verschiedensten Bereichen (vgl. Artikel ‚Leben‘, in: Ritter (1980, Bd. 5, S. 52– 97)).

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methodisch betrachtet, notwendig, durch die Unterschiede der Positionen, die Gemeinsamkeiten zunächst negieren, hindurchzugehen, um auf dem Weg ihre grundsätzliche Nähe erst deutlich machen zu können. Der Vergleich der beiden Philosophen, deren Verhältnis sowohl historisch als auch systematisch bislang unerforscht ist, gliedert sich in drei Teile: Der Aufsatz beginnt mit der Frage nach Kontakten zwischen den beiden Philosophen und mit einer historischen Verortung des lebensphilosophischen Diskurses in Japan (1). Im Zentrum steht dann eine Gegenüberstellung der Positionen Cassirers und Nishidas zur Lebensphilosophie. Cassirers Argumentation lässt sich mit dem Ausdruck ‚Leben als Werden zur Form‘ zuspitzen, während Nishidas Argumentation – scheinbar diametral entgegengesetzt – in dem Ausdruck ‚Leben als formlose Form‘ treffend artikuliert werden kann (2). Abschließend werden durch den Vergleich Perspektiven für eine primär werkimmanente Gegenüberstellung der beiden Denker skizziert, die über den engen Horizont des lebensphilosophischen Diskurses hinausgehen.

1 Deutsch-japanische Geschichte: Lebensphilosophie versus Neukantianismus Obwohl bekannt ist, dass sich in der Meiji-Zeit (1868 – 1912), welche das japanische Reich massiv westlichen Einflüssen öffnete, die akademischen und wissenschaftlichen Institutionen insbesondere an deutschen Vorbildern orientierten, und auch die akademische Disziplin ‚Philosophie‘ dementsprechend gelehrt wurde, fehlt bislang – sicherlich auch aus historischen Gründen – eine umfassende Darstellung der deutschjapanischen Philosophiegeschichte. Auch gibt es kaum Beiträge, die die Wechselseitigkeit der philosophischen und wissenschaftlichen Kontakte in den Blick nehmen. Das wird hier in Hinsicht auf mögliche Verbindungslinien zwischen Cassirer und Nishida unternommen, und zwar, um den Vergleich ihrer Positionen zu unterstützen. Von der Jahrhundertwende bis in die 1920er Jahre ist der Neukantianer Heinrich Rickert (1863 – 1936) der bekannteste deutsche Philosoph in Japan (vgl. Miki 1923). Über Cassirers Rolle in den deutsch-japanischen Kontakten weiß man trotz der akademischen Rezeption des Neukantianismus dieser Zeit sehr wenig. Und obwohl auch Cassirers Substanzbegriff und Funktionsbegriff vereinzelt wahrgenommen wird, bleibt er zunächst nur als Herausgeber der Werkausgabe Immanuel Kants im Gedächtnis. Als sich später die Aufmerksamkeit auf andere philosophische Strömungen richtet, wird seine Rezeption wiederum gerade durch die Assoziation mit dem Neukantianismus behindert; eine Situation, die sich bis heute kaum verändert hat. Anders verhält es sich bekanntermaßen mit Cassirers fünfzehn Jahre jüngeren Kollegen Martin Heidegger (1889 – 1976), der Rickert in seiner Rolle ablöste und bis weit in die Nachkriegszeit hinein wirksam war. Heidegger wird sehr schnell als eigenständiger oder origineller Denker erkannt und seit 1922 rezipiert (vgl. Ōhashi 1989, der die frühe Heidegger-Rezeption auf die Jahre 1922– 1935 datiert). In der Folge do-

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miniert die Betonung der Affinität zur Phänomenologie das Verhältnis zur deutschsprachigen Philosophie. Ein Grund für den Anschluss speziell an Heidegger liegt in seiner vermeintlichen Nähe zum kulturellen Erbe des Buddhismus, wie es von einigen seiner – im westlichen Sinn akademisch ausgebildeten – Kollegen aus Japan vertreten wurde.² Bei genauerer Betrachtung ist diese Nähe aber weniger offensichtlich, als sie oftmals dargestellt wird. Nishida gilt gemeinhin als Begründer der Kyōto-Schule, die sich durch eben diesen Versuch, der Verbindung von japanischem und westlichen Denken, charakterisieren und als Schöpfung einer originären Philosophie aus Japan verstehen lässt. Aber gerade Nishida hat jedoch die Philosophie Heideggers zeitlebens kaum in gleicher Weise als Anregung verstanden wie etwa diejenige Bergsons, Fichtes oder Rickerts. Stattdessen stellt er fest: „Ich respektiere Heideggers Werk, aber es kann nicht die tiefgründigen Fragen der Realität und des menschlichen Lebens beantworten“ (nkz 21, S. 204, Brief Nr. 1879 v. 19.12.1933).³ In Nishidas veröffentlichtem Werk findet sich allerdings auch kein einziges Zitat und nur sehr wenige namentliche Erwähnungen von Cassirer. Das Fehlen von Zitaten schließt aus damaliger wie heutiger Sicht einen Bezug und Kontakt zwischen den beiden natürlich nicht aus. Denn tatsächlich lassen sich, die systematische Perspektive zunächst ausklammernd, auf philosophiehistorischer und auch persönlicher Ebene Verbindungslinien zwischen Hamburg und Kyōto ziehen, obwohl sich die beiden Denker niemals direkt begegnet sind.⁴ Betrachtet man zunächst einmal die deutsch-japanische Philosophiegeschichte als Hintergrund des folgenden Vergleichs, zeigen sich einige Parallelen zwischen

 Wie Tanabe Hajime (1885 – 1962) bereits 1924 bemerkt, rückt Heidegger seinerzeit den Begriff des Todes in eine für sein philosophisches Werk systematisch bedeutsame Stellung. Auch deshalb gilt Heideggers Denken als affin zum Buddhismus, wie im Anschluss an Tanabe verschiedentlich bemerkt worden ist. Die Anthologie Heidegger und Japan (Buchner 1989), die neben Tanabes Artikel weitere Texte zur deutsch-japanischen Philosophiegeschichte zusammenstellt, repräsentiert dem Titel zum Trotz vielmehr Heideggers Verhältnis zu Autoren der Kyōto-Schule als zum Ganzen der japanischen Philosophiegeschichte.  Vgl. Rigsby (2010) für eine umfassende Darstellung der Sicht Nishidas auf Heidegger. Zunächst stellt Rigsby mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte kritisch fest: „One of the most dramatic discontinuities between East-Asian thought and Heidegger is revealed through an investigation of Kitarō Nishida’s own vigorous criticism of Heidegger. Ironically, more than one study of Heidegger and East-Asian thought has submitted that Nishida is that representative of East-Asian thought whose philosophy most closely resembles Heideggerian thought“ (S. 511). Dann heißt es zu Nishidas Urteil über Heidegger: „Nishida’s overall assessment of Heidegger was overwhelmingly negative. Indeed, given a broader picture of Nishida’s view of Heidegger, it can be said that Nishida’s overall assessment of Heidegger can be summarized bluntly in the uninhibited statement made by the father of the Kyoto School to the young Takizawa in October 1933: ‚Heidegger is not worth your time.‘“ (S. 526)  Nishida verlässt Japan zeitlebens nicht, und während beispielsweise Karl Löwith (1897– 1973) von Rom über Japan in die USA emigriert, hält sich Cassirer wegen der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland bekanntermaßen zunächst in Großbritannien und Schweden auf, bevor er Europa in Richtung New York verlässt.

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Cassirer und Nishida, die nicht zuletzt aus der angesprochenen Orientierung Japans an der deutschen akademischen Bildung resultieren und im vorliegenden Kontext in der Prägung durch den Neukantianismus bestehen.⁵ Im Fall von Cassirer ist das ganz deutlich. Er entwickelt sein Werk im Umkreis des Marburger Neukantianismus, wobei dieser zusammen mit der Südwestdeutschen Schule um die Jahrhundertwende den akademischen Mainstream in Deutschland darstellt. Sieht man von seinen philosophiegeschichtlichen Arbeiten ab, wird seine systematische Position bis in die Entwicklung seines philosophischen Hauptwerks bis Ende der 1920er Jahre hinein lange Zeit dem Neukantianismus zugeschlagen. Allerdings ist diese neukantianische Sichtweise auf Cassirer einseitig. Denn stellt man seine intellektuelle Herkunft in Rechnung, zeigt sich von Anbeginn ein viel weiterer Horizont, als der mit dem Neukantianismus gegeben zu sein scheint: Zu Cassirers Lehrern gehört z. B. auch Georg Simmel (1858 – 1918). Vollends sichtbar wird Cassirers philosophisches Interesse aber erst dann, wenn man an die Zeit seines Lebens fortwährende Beschäftigung mit Goethe erinnert. Goethes dichterisches Werk öffnet dem Denken Cassirers den Blick für das Thema des Lebens, das bis in seine erkenntnistheoretischen Texte hinein wirksam ist. Nishidas Werk entwickelt sich ebenfalls in dieser Doppelstellung: Es ist motiviert durch die lebensphilosophischen Fragen einerseits, orientiert sich aber andererseits an dem neukantianischen Verständnis einer wissenschaftlichen Philosophie. Allerdings setzt sich dieses letztere Verständnis erst durch, als Nishida bereits an der Universität unterrichtet. Die lebensphilosophischen Motive hingegen reichen bis an den Anfang seines Philosophiestudiums zurück, das er 1891 in Tokio beginnt. Raphael von Koeber (1848 – 1923), der ab 1893 an der Kaiserlichen Universität zu unterrichten beginnt, macht ihn mit der Philosophie Arthur Schopenhauers und so mit lebensphilosophischen Motiven bekannt. Die Lektüre von Bergsons Essai sur les donées immédiates de la conscience (1889) wiederum fällt in das Jahr 1908, also vor der Veröffentlichung seines Erstlingswerks Über das Gute von 1911. Diese biographische wie auch wirkungsgeschichtlich frühe Lektüre kann der außerakademischen Rezeption der Lebensphilosophie zugerechnet werden. Die Bedeutung Bergsons für Nishida kann man daran ermessen, dass er dessen Philosophie als wesentliche Entstehungsbedingung seines Erstlingswerks Über das Gute (1911) würdigt, auch wenn Bergson darin nicht zitiert wird (vgl. Yusa 2002, S. 96 f.). Nishidas akademische, wissenschaftlich-systematische Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie folgt erst nach der Abfassung seines Erstlingswerks, als er

 Nach der Wende ins 20. Jahrhundert verdrängte die deutsche Philosophie andere Traditionen, weil sie als staatstragend galt und damit dem Regime der Meiji-Zeit genehm war. Ab den 1910er Jahren etablierte sich insbesondere der Neukantianismus an den japanischen Universitäten als dominierende Strömung (vgl. Piovesana 1997, S. 60 – 84, das Kapitel „Individualism, Pragmatism, and Kantianism 1901– 1925“.

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anfängt, sich auch mit dem Neukantianismus intensiver zu beschäftigen,⁶ der bis in die 1920er Jahren hinein den Mainstream an den Universitäten in Tōkyō und Kyōto repräsentiert. So blickt Nishida um 1915 zurück auf die eben vergangenen Jahre: Dieses Buch [Denken und Erleben] versammelt […] alles, was ich seit meiner Zeit [ab 1910] in Kyōto geschrieben habe. […] In Kyōto wurde mein Denken anfangs von den Thesen der sogenannten Schule der reinen Logik [i. e. des Neukantianismus], z. B. von Rickert, und der Theorie der reinen Dauer von Bergson bewegt. Weil ich mit diesem sympathisierte und von jenen her reflektierte, konnte ich von beiden großartig profitieren. Aber weder glaube ich einfach Bergson, noch halte ich wiederum die Ansichten Rickerts für unproblematisch; vielmehr meine ich, dass das Erfordernis der gegenwärtigen Philosophie in der Synthese dieser beiden Denkweisen liegt (nkz 1, S. 166; dt. Nishida 1999, S. 24).

Deutlicher als Cassirer positioniert sich Nishida zwischen Neukantianismus und Lebensphilosophie. Der Neukantianismus ist damals auch in Japan der Inbegriff eines wissenschaftlichen, weil systematischen Denkens und gilt zugleich als akademisch und lebensfern. Im Kontrast dazu steht die Lebensphilosophie, die auch in Japan zunächst primär außerakademisch rezipiert wird, dann aber auch die Schulphilosophie motiviert, scholastische Tendenzen des Mainstreams aufzubrechen.⁷ Nishida versteht die Entgegensetzung von Neukantianismus und Lebensphilosophie als Her-

 Die ersten Texte, die Nishida ab 1910 zu Bergson veröffentlicht, können als der Beginn des akademischen Diskurses zur Lebensphilosophie in Japan gelten, der zwar erst in den 1920er Jahren an Fahrt gewinnt, damit aber der Entwicklung in Deutschland auf den Fuß folgt. Selbst Rickerts ‚Streitschrift‘ zur Lebensphilosophie von 1920 wird bereits 1923, also mit nur drei Jahren Abstand ins Japanische übertragen. In die akademische Phase seiner Beschäftigung mit der Lebensphilosophie fällt auch, wie Nishida 1918 in einem Vorwort zur Übersetzung von Erlebnis und Dichtung schreibt, die verspätete Lektüre Diltheys (vgl. nkz 11: 252 ff.). Die explizite Würdigung Dilthey findet sich auch noch an späterer Stelle wie in dem bereits erwähnten Vorwort für Schinzinger aus dem Jahr 1936 (vgl. nkz 11, S. 290). Nishida nutzt das Abfassen eines Lexikon-Artikels zum Begriff ‚Erlebnis‘, um sein Grundkonzept der „reinen Erfahrung“ von Dilthey abzugrenzen (vgl. nkz 11, S. 151).  Eine repräsentative Darstellung der damals in Japan verbreiteten Philosophie findet sich mit der mehrbändigen Reihe Philosophie von heute des Iwanami-Verlags aus den Jahren 1931– 1933. Die Reihe setzt ein mit einem Abriss des Neukantianismus in seinen verschiedenen Strömungen, dargestellt von Kōsaka Masaaki (1900 – 1969). Mit dieser Stellung und auch durch den Umfang gegenüber den anderen dargestellten Strömungen macht die Reihe deutlich, welchen großen Vorrang dem Neukantianismus zukommt. Dann folgt die ganze Bandbreite der damals in Europa vertretenen Positionen von der NeuScholastik bis zum Marxismus. – An vierter Stelle folgt ein Abriss zur Lebensphilosophie, der von Tanikawa Tetsuzō (1895 – 1989) geschrieben worden ist. Dass Tanikawa, der lange Zeit künstlerisch und journalistisch tätig war, mit der Aufgabe betraut wurde, unterstreicht, dass der Rezeptionsweg der Lebensphilosophie auch in Japan zunächst außerakademisch (jap. zaiya) geprägt ist. Wird der Neukantianismus frühzeitig, politisch motiviert, durch die staatlichen Einrichtungen gefördert, verläuft die Rezeption der Lebensphilosophie unterhalb der staatlichen Sphäre. – Die Lebensphilosophie traf auf individueller Ebene vor allem deshalb auf großen Zuspruch, weil er gegenüber der radikalen Veränderungen seit der Öffnung zum Westen eine existentielle Orientierung gegenüber der rapiden Technisierung und Modernisierung des Landes verspricht. – Für eine Fallstudie zur Rezeption der Lebensphilosophie in Japan vgl. die Abhandlung zur Wirkungsgeschichte Nietzsches von Becker (1983).

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ausforderung und sucht einen Mittelweg. In der Folge nimmt er gegenüber seinem Frühwerk eine zunehmend kritische Haltung ein, bezichtigt sich selbst des Psychologismus, hält aber am Begriff des Lebens und der Ausrichtung seines Forschens auf die Unmittelbarkeit des Lebendigen fest. Wie hier angedeutet, bietet die Lebensphilosophie in Deutschland wie in Japan, bei Nishida wie bei Cassirer eine Folie für die Kritik und Revision der vorherrschenden Schulphilosophie aus dem Wunsch heraus, nicht nur wie Rickert näher am Leben zu philosophieren, sondern den Begriff des Lebens philosophisch zu erschließen. Anders als in vielen der übrigen Beiträge zum Diskurs um die Lebensphilosophie kritisieren beide die Annahme eines bloßen Antagonismus von Leben und Form und argumentieren für ein Verständnis von Philosophie, das der Offenheit des Lebens gerecht wird, ohne auf ein systematisch-wissenschaftliches Begreifen zu verzichten. Die persönlichen Verbindungen von Cassirer und Nishida sind vermittelt über Dritte. Sie fallen in die Jahre um 1930, also in die Zeit, zu der die Lebensphilosophie für beide ein wichtiges Thema ist, und sie ergeben sich durch zwei Schüler und Kollegen der beiden: durch den Philosophen und Kunsthistoriker Yura Tetsuji (1897– 1979) und den Pädagogen und Philosophen Robert Schinzinger (1898 – 1988): Yura reist 1928 (nach einem Studium der Philosophie bei Nishida) nach Deutschland und lernt in Berlin die deutsche Sprache. Er beginnt dann in Hamburg sein Philosophiestudium, um 1931 bei Cassirer mit der Arbeit Geisteswissenschaft und Willensgesetz: kritische Untersuchung der Methodenlehre der Geisteswissenschaft in der Badischen, Marburger und Dilthey-Schule zu promovieren.⁸ Wie Yuras Briefwechsel dokumentiert, hält er während seiner Zeit in Deutschland Kontakt zu seinem Lehrer aus Kyōto. In einigen dieser Briefe findet Cassirer direkt Erwähnung; Nishida bezieht sich direkt auf ihn, als es um die Frage geht, wie die Übersetzung einer seiner Abhandlungen in Deutschland rezipiert werden würde.⁹  In der Promotionskommission sitzt neben Cassirer auch der Kunsthistoriker Erwin Panofsky (1892– 1968). – Yura hat die Rektoratsrede Cassirers übersetzt, in der letzterer die Weimarer Verfassung und den Rechtsstaat als ein Erbe der Philosophie in Deutschland verteidigt. In einem unvollständig datierten Brief an Cassirer (vom 21. August 1930 oder 1931) bittet Yura (undatiert) um einen Termin, um Cassirer die frisch gebundene Übersetzung überreichen zu dürfen. – Die persönliche Bekanntschaft mit und Verbundenheit zu seinem jüdischen Lehrer steht in einem Kontrast zu Yuras völkischen und nationalistischen Publikationen der 1940er Jahre, in denen er Hitler-Deutschland zum Modell für Japan erklärt und antisemitische Vorurteile aufgreift.  Bis auf die Erwähnung von Cassirers Leibniz-Buch in einem kurzen Aufsatz zu Bertrand Russell (1872– 1970) (vgl. nkz 11, S. 133) finden sich in Nishidas veröffentlichten Werken keine expliziten Referenzen auf seinen Hamburger Kollegen. – In einem geschichtsphilosophischen Aufsatz aus dem Jahr 1934 lässt sich ein Bezug auf Cassirers Band über den Mythos aus PsF (vgl. ecw 12, S. 205), wo Nishida dazu übergeht, die Ich-Du-Relation um das Er zu erweitern (vgl. nkz 6, S. 164). Immerhin figuriert Cassirer als eigenständiger Denker in Nishidas Vorlesungen zu „Die Philosophie des Idealismus heute“ vom Herbst 1916 (vgl. nkz 12, S. 52) und in einer Vorlesung zu „Die Philosophie Cohens“ von 1925. Dort stellt Nishida Cassirer – nach dem Tod von Hermann Cohen (1842– 1918) und Paul Natorp (1854– 1924) – so dar, dass er als einzig verbliebender Vertreter der Marburger-Schule anerkannt ist, obwohl er als „Professor der neugegründeteten Universität Hamburg“ „überhaupt nicht zur Marburger-Schule

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Schinzinger hat ebenfalls in Hamburg Philosophie studiert und 1922 bei Cassirer promoviert (über die sogenannte Arnauld-Malebranche-Kontroverse). Er geht bereits 1923 nach Japan, wo er lange Zeit als Deutsch-Lektor in Ōsaka, also ganz in der Nähe von Kyōto tätig ist. In den Jahren ergeben sich immer wieder persönliche Begegnungen mit Nishida. Nishida schreibt ein Vorwort zu Schinzingers Die Stellung der Philosophie im deutschen Geistesleben der Gegenwart von 1929, Schinzinger schenkt Nishida 1933 den Text Sinn und Sein. Studie zum Problem der Ontologie, in dem Cassirer eine wichtige Rolle einnimmt; schließlich verantwortet Schinzinger die erste Übersetzung in deutscher Sprache von Abhandlungen seines Kollegen aus Kyōto.¹⁰ Wie die knappe Skizze der Verbindungslinien zwischen Cassirer und Nishida beispielhaft deutlich macht, sind die Verflechtungen der deutschen und japanischen Philosophiegeschichte dichter als gemeinhin bekannt ist. Die Kenntnis dieser Verbindungslinien, die in Teilen auch durch Institutionen vermittelt sind, hilft, die Entwicklungen der philosophischen Ideen und Diskussionen zwischen Deutschland und Japan zu verstehen, wie im Folgenden im Fall der Lebensphilosophie gezeigt werden kann.

2 Die systematischen Bezüge: Formwerdung versus Formlosigkeit der Form? Ausgangspunkt der Gegenüberstellung, und im Übrigen der eigentliche Anlass des vorliegenden Beitrags ist der Umstand, dass sich, wie angedeutet, beide Denker als Teil des Diskurses um die Lebensphilosophie verstehen lassen. Beispielhaft sollen hier zwei Texte genauer betrachtet werden. Cassirer veröffentlicht 1930 „‚Geist‘ und ‚Leben‘ in der Philosophie der Gegenwart“ und Nishida zwei Jahre später „Über die Philosophie des Lebens“ (nkz 5, S. 335 – 353; dt. Nishida [1932] (2017)). Dass Cassirers Artikel zu diesem Diskurs gezählt werden kann, ergibt sich aus mehreren Gründen.¹¹ Erstens nimmt er – wenigstens implizit – die Kritik seines Kol-

gehört“ (nkz 12, S. 132). An späterer Stelle der gleichen Vorlesung konstatiert er, dass weder Natorps noch Cassirers Arbeiten über die „Logistik“ Cohens hinausgingen, allein der Stoff aus Mathematik und Physik wären neu (vgl. nkz 12, S. 167 f.). Nishida nimmt die Autorität Cassirers dennoch zum Anlass, Yura die Veröffentlichung der Übersetzung des dann einige Jahre später von Schinzinger mit dem Titel Die intelligible Welt auf Deutsch veröffentlichten Texts zu untersagen (vgl. den Brief Nr. 1402 in nkz 20, S. 426 f. an Yura nach Deutschland vom 19.12.1930).  Der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger (1882– 1963), der 1936 für Vorträge nach Japan reist, schlägt Schinzinger für die Übersetzung von Nishidas Aufsätzen vor. Es entstehen in den Folgejahren drei Übersetzungen, die endlich 1943 gemeinsam unter dem Titel des Aufsatzes Die intelligible Welt erscheinen.  Für eine umfassende Darstellung vgl. Möckel (2005). Möckel macht deutlich, dass es in Cassirers Werk keine Wende hin zur Lebensphilosophie gibt. Ebenso wenig kann davon die Rede sein, dass er die Lebensphilosophie ignoriert oder schlechthin abgelehnt hat. Vielmehr zeigt sich, dass Cassirers sys-

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legen Rickert (s.o. die Angaben in Fn. 1) auf und grenzt sich von ihr ab. Zweitens finden sich in seinem Hauptwerk Die Philosophie der symbolischen Formen über die Jahre hinweg verstreut immer wieder Kommentare und Argumentationen zu Grundgedanken der Lebensphilosophie, die auf eine gebündelte Behandlung durch Cassirer gewartet haben. Drittens ist seine zeitgeschichtliche Einschätzung der Lebensphilosophie relevant: Cassirer betrachtet die Lebensphilosophie als letzte Entwicklungsstufe der überkommenen Metaphysik und somit als die wichtigste Strömung seiner Zeit. Zu dieser möchte er sich aus dem Horizont der PSF heraus positionieren (vgl. ecn 1, S. 52– 109). Dass sich Nishidas Artikel ebenfalls als Beitrag zur Debatte um die Lebensphilosophie verstehen lässt, wurde bereits dargestellt und wird auch durch den Titel seines Aufsatzes sowie die zeitliche Nähe zum deutschsprachigen Diskurs deutlich. Der Einfluss Rickerts auf Nishida ist bis in die späten 1920er Jahre nachweisbar, ohne dass die Nähe und Distanz zur Lebensphilosophie wie zum Neukantianismus endgültig bestimmt wäre. Beispielhaft dafür ist, dass sich Nishida nach der langjährigen Beschäftigung mit dem Neukantianismus nicht wieder Bergson, der zuvor so bedeutsam gewesen ist, zuwendet, sondern sich bis in die 1930er Jahre hinein mit Dilthey beschäftigen wird. Worin besteht nun der Beitrag Nishidas und Cassirers zur Lebensphilosophie? Wie navigieren sie zwischen Lebensphilosophie und neukantianischer Schulphilosophie? Wie denken sie den in den Debatten immer wieder evozierten Dualismus von Geist und Leben? Und wie genau zeigen sich Gemeinsamkeiten und Differenzen in der Verwendung des Begriffs der Form?

2.1 Leben als Werden zur Form In seinem Artikel zur Lebensphilosophie von 1930 behandelt Cassirer vor allem Scheler, der zwar wie Ludwig Klages (1872– 1956) einen Dualismus von Geist und Leben annimmt, diesen aber aus Klages‘ „magisch-mythischen Bannkreis“ (Cassirer [1930], S. 34) befreit. Anders als Klages beschreibt Scheler das Verhältnis von Natur und Bewusstsein und trifft auf einen anthropologischen Dualismus, den er, so Cassirer, „in keiner Weise zu überwinden oder zu versöhnen sucht“ (Cassirer [1930], S. 35). Nach Cassirer trenne Scheler von der „traditionelle[n] abendländische[n] Metaphysik“ (Cassirer [1930], S. 35) Zweierlei: Auf der einen Seite lehnt [Scheler] jeden Versuch einer monistischen Identitätsphilosophie – mag sie nun spekulativ oder mag sie empirisch-wissenschaftlich gerichtet sein – unbedingt ab. Es gibt

tematischer Ansatz – bei aller Kritik an der Lebensphilosophie – immer schon auf den Begriff des Lebens hin geöffnet ist.

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nach Scheler keine Entwicklung, die vom bloßen Leben zum Geist hinführt; es gibt kein allmähliches Hervorgehen der letzteren Sphäre aus der ersteren (Cassirer [1930], S. 35).

Diesen Antagonismus zwischen Geist und Leben sehe Scheler, so Cassirer, vor allem darin begründet, dass mit ‚Geist‘ „nicht eine einfache Weiterführung der Lebensfunktionen als solche, […] sondern eine entschiedene Umwendung ihrer Grundrichtung gegeben ist“ (Cassirer [1930], S. 36). Der Geist stelle dem Prinzip nach eine „Hemmung“ (Cassirer [1930], S. 36) des rein triebhaften Lebens dar. Das dem Leben Formgebende sei damit nur wirksam, insofern es den Fluss des Lebens aufhält, unterbricht und aus seiner Unmittelbarkeit herausbricht. Der zweite Unterschied zur herkömmlichen Metaphysik liege darin, dass Scheler zwar nicht grundsätzlich die Überlegenheit des Geistes gegenüber der Natur infrage stelle, aber diese Überlegenheit als eine normative, nicht als eine faktische begreife (vgl. Cassirer [1930], S. 38). Cassirer schreibt: Der Geist, wie Scheler ihn faßt, ist demnach ursprünglich schlechthin machtlos. Alles, was er im Kampf mit dem Leben an Kraft einzusetzen hat, stammt nicht aus ihm selbst, sondern er muß es, auf einem eigentümlichen Umwege, durch eben jenen Akt der Askese, der Triebverdrängung, dem Bereich des Lebens selber Schritt für Schritt abgewinnen (Cassirer [1930], S. 39).

Cassirers Kritik an Scheler richtet sich auf diesen Punkt: Wie es ist denkbar, dass der Geist zwar machtlos ist und doch als eine Hemmung auf den Drang des Lebens zu wirken vermag? Wie ist es also unter Annahme einer dualistischen Konzeption möglich, „daß [Leben und Geist] nichtsdestoweniger eine durchaus einheitliche Leistung vollziehen, daß sie im Aufbau der spezifisch-menschlichen Welt, der Welt des ‚Sinnes‘, zusammenwirken und ineinandergreifen“ (Cassirer [1930], S. 40)? Darauf finde sich bei Scheler keine Antwort, ohne entgegen dem eigenen Anspruch doch „auf die Einheit des metaphysischen Weltgrundes zurück[zu]greifen“ (Cassirer [1930], S. 41). Auch wenn bereits eingangs durch das Beispiel Klages Unterschiede innerhalb der Lebensphilosophie angedeutet werden konnten, ist die Problematik, die hier zum Tragen kommt, paradigmatisch: eine zum Geist, ergo zur Philosophie antagonistische Konzeption des Lebens. Im Anschluss an Rickert kommt darin die Entgegensetzung von Form und Leben zum Ausdruck. Genau am Formbegriff setzt Cassirer an, um den Antagonismus in eine Vermittlung zu überführen, was aus einer anderen Richtung später von Nishida ebenfalls unternommen wird. Der Weg zu einer Antwort liegt für Cassirer darin, anders als Scheler den Gegensatz von Geist und Leben als „rein funktionale[n] Gegensatz“ zu fassen und ihn nicht „in einen substantiellen um[zu] deute[n]“ (Cassirer [1930], S. 52). Denn das, was Scheler als Askese fasse, sei keine absolute, sondern eine relative Umkehr des menschlichen Geistes, so Cassirer: „Sie ist nicht Abkehr vom Leben schlechthin, sondern sie ist eine innere Wandlung und Umkehr, die das Leben in sich selbst erfährt“ (Cassirer [1930], S. 51). Und Cassirer ergänzt, dass auf diesem Weg allererst ein Übergang „von der bloßen Tastbarkeit […] zur Sichtbarkeit“ (Cassirer [1930], S. 51) der Welt gegeben ist.

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Im Horizont der Konzeption der PSF kann Cassirer Schelers anthropologische Beschreibung entsprechend umdeuten: Der Mensch wirkt nicht wie das Tier unmittelbar auf die Welt, sondern schafft sich ein Zwischenreich: „Der menschliche Geist kehrt sich hier nicht direkt gegen die Dinge, sondern er spinnt sich in eine eigene Welt, in eine Welt der Zeichen, der Symbole, der Bedeutungen“ (Cassirer [1930], S. 45). Damit stellt sich aber das Verhältnis von Geist und Leben neu dar. Wie Cassirer an anderer Stelle (aus dem Nachlass) schreibt, „bewegt sich“ „[u]nsere Betrachtung […] ganz außerhalb dieses Gegensatzes“ (ecn 1, S. 266) von Geist und Leben und „kann durch ihn nicht erfasst“ (ecn 1, S. 266) werden. „[D]enn das ‚Symbolische‘, wie wir es fassen, ist vielmehr die eigentliche Vermittlung dieses Scheingegensatzes“ (ecn 1, S. 266). Cassirer stellt das Verhältnis von Geist und Leben also nicht nur als eine antagonistische Polarität dar, sondern als ein dynamisches Verhältnis, das sich in der Vermittlung als eine Dialektik erweist. Die Dialektik ergibt sich aus der Umkehr des Verhältnisses von Geist und Leben. Der Geist steht nicht bloß im Bann des Lebens, sondern kann sich zu diesem verhalten und aus der Unmittelbarkeit heraustreten: Die Welt des Geistes entsteht immer erst dann, wenn die Flut des Lebens nicht mehr bloß dahinströmt, sondern wenn sie an bestimmten Punkten angehalten wird – wenn das Leben statt aus sich selber unablässig neues Leben zu gebären und sich in seinen eigenen Geburten zu verzehren, sich zu dauernden Gestalten zusammennimmt und diese aus sich heraus und vor sich hinstellt (Cassirer [1930], S. 45 f.).

In dieser Perspektive erweisen sich, wie Cassirer schreibt, „[d]ie modernen Theorien des ‚Lebens‘ [als] völlig ungenügend, weil sie am Leben vielmehr nur das negative, das bloss Naturhafte, das biologische Element herauslösen“ (ecn 1, S. 266). Cassirer dreht, wie deutlich geworden ist, die Perspektive um und erklärt, dass das Leben erst durch den Geist eine Stimme verliehen bekommt. Deshalb heißt es: „Der Geist gewinnt die Form des Lebens, indem er sich von seiner blossen Unmittelbarkeit löst“ (ecn 1, S. 267).¹² Dieser Umkehr der quasi-anthropologischen Sichtweise auf das Geist-Leben-Verhältnis liegt ein Formbegriff zugrunde. Die Form wird zum Medium der dynamischen Vermittlung der beiden Pole dieser Relation. Die Form wird prozessual gedacht und ist charakterisiert durch „de[n] Umstand, daß sie immer nur dadurch ist, daß sie sich ständig aufs neue erzeugt“ (Cassirer [1930], S. 46). Der Formbegriff, den Cassirer verwendet, ist dabei eine in sich gegliederte Ganzheit, da „jede Form in sich selbst antithetisch“ ist und in sich „ein ständiges Wechselspiel der Kräfte der Anziehung und der Abstoßung, der Attraktion und der Repulsion“ einschließt (Cassirer [1930], S. 46).

 Es ist dabei wichtig zu betonen, dass Cassirer darum bemüht ist, die biologische Dimension des Lebens nicht reduktionistisch zu behandeln, wie Möckel schreibt: „Mit der in PsF III erstmals ausformulierten Theorie der emotionalen Ausdruckswahrnehmung bzw. dem physiognomischen Wahrnehmungserlebnis als unterster Stufe, als subjektiver Quelle des objektivierenden Bewusstseins hatte sich Cassirer nämlich einem wichtigen Ansatz solcher Lebensphilosophen wie Scheler, Klages oder Spengler angenähert“ (2005, S. 188).

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Allerdings macht die dialektische Bewegung eine entscheidende Modifikation des Formbegriffs nötig: Die Form wird nur in einem dynamischen Sinn als ein Werden zur Form begreifbar, und zwar insofern in dem Prozess der Formung zugleich ein zerstörerisches und ein schöpferisches Moment liegen. Denn die Ausbildung von Formen geht Hand in Hand mit dem Neuschöpfen von Formen. Damit umfasst das Werden zur Form auch die Polarität von Einheit und Differenz. Wie nun zu zeigen ist, liegt genau darin der Schlüssel zum Verständnis vom Leben als ‚Werden zur Form‘.¹³ Cassirer interpretiert das Werden zur Form als eine „Metaphysik des Prozesses“, die dem „Aufbau u. Sinn der Kultur“, also dem geistigen Leben des Menschen zugrunde liegt. Dieser Prozess der Formwerdung lässt sich dabei so charakterisieren: Der Prozess vereint „schlechthin-Unvereinbares“, und die Vereinigung von Unvereinbarem ist das „Geheimnis des sich erzeugenden, sich in Gegensätzen entwickelnden Geistes selbst“ (ecn 1, S. 240). „Die Metaphysik spricht das nur aus“ (Möckel 2005, S. 251). Obwohl Cassirer, wie bereits angedeutet, gegenüber der Lebensphilosophie von Metaphysik nur in einem kritischen Sinn spricht, wendet er hier den Begriff der Form in eine grundlegende Betrachtung. Bei Cassirer ist also durchaus eine metaphysische Perspektive angelegt, doch sieht er sich veranlasst, ihre traditionellen Ansprüche einzuschränken: Da sich uns das Warum des Lebens entzieht, ist das Leben bloß als ein Urphänomen anzuerkennen. Entgegen der überkommenen Metaphysik gilt es also, sich dem Anspruch von Zugänglichkeit und Erklärbarkeit zu enthalten. Und das hat Folgendes zur Konsequenz: Uns löst sich „[d]as ‚Absolute‘, das ‚Sein‘, soweit es für uns überhaupt fassbar ist“, in das „Urphänomen des Lebens“ (ebd.) auf, da wir hinter das lebendig-geistige Gestalten von Welt, das wir durch die symbolischen Medien hindurch vollziehen, nicht zurückkönnen (ecn 1, S. 264). Diese Würdigung des Lebensbegriffs bei gleichzeitiger Kritik der Lebensphilosophie im Horizont des symboltheoretischen Ansatzes ist weniger überraschend, wenn man daran erinnert, dass der Aufsatz „‚Geist‘ und ‚Leben‘ in der Philosophie der Gegenwart“ Teil des vierten Bandes der PSF werden sollte.¹⁴

 Der Formbegriff verweist hier in aller Deutlichkeit auf Goethe. Cassirer schlägt an späterer Stelle außerdem eine Bogen zum Begriff des Lebens, um gleichzeitig die Distanz Goethes zu einem bloß philosophischen Begriffszusammenhang zu betonen: „Es giebt in Goethes Werk eine reine Philosophie der Form – es giebt tiefe und reiche, rein theoretische Entwicklungen über ihren Sinn u[nd] ihre Bedeutung – Aber wie überall dürfen wir diese ‚Philosophie‘ nicht lediglich in abstrakten Begriffen vorstellen und vortragen – wir müssen sie aus dem spezifisch Goetheschen LebensgefühI verstehen u[nd] deuten – Polarität in Goethes Stellung zur Philosophie[;] bisweilen scheint er sie schroff abzulehnen“ (ecn 10, S. 16 f.).  Mit diesem vierten Band verändert sich die systematische Fragestellung, insofern Cassirer sozusagen auf den Unterbau der Funktion der symbolischen Formen schaut. Widmet sich der dritte Band der Dynamik der Formwerdung und ihrer Strukturierung (anhand der Trias von Ausdrucks- und Darstellungs- und Bedeutungsfunktion der symbolischen Formen), geht es in der Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie nun um den Grund der prozessualen Pluralität der kulturellen Objektivationen. So erklärt sich auch der Titel der Manuskripte zum vierten Band: Metaphysik der symbolischen

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Die Erweiterung seines philosophischen Ansatzes in Richtung auf eine neue Metaphysik geht damit einher, dass nun der Formungsprozess der Kultur und die Idee einer lebendigen Form in den Mittelpunkt rücken. Die Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie dient dazu, deutlich zu machen, wie sich aus dem Formbegriff her Leben verstehen lässt. Leben wird damit nicht im Widerspruch zur Form gedacht, sondern die Form als Medium des Lebens. Damit geht Cassirer auf Distanz zu Rickerts Diagnose zur Lebensphilosophie, da er den Dualismus nicht für denknotwendig erachtet, sondern für einen Denkfehler der kritisierten Autoren hält, insofern die Polarität von Geist und Leben durch eine Hypostasierung der Pole stillgestellt wird. Genauer gesagt, Cassirer betrachtet den von Rickert diagnostizierten Antagonismus als ein Scheinproblem, zumindest auf der Ebene, auf der der Antagonismus bei der Lebensphilosophie lokalisiert wird. Weil Cassirer den Hiatus durch die dialektische Bewegung hingegen für vermittelt und in diesem Sinn für überwunden hält, sieht er in den Lebensphilosophen nicht nur die Mahner, die an die Faktizität des Lebens erinnern. Vielmehr ist er davon überzeugt, dass sie zurecht im Begriff des Lebens selbst ein originäres Thema der Philosophie sehen, das inhaltlich erschlossen werden muss.

2.2 Leben als formlose Form In seinem Text zur Lebensphilosophie, der zwei Jahre nach dem Cassirers erscheint, geht Nishida nicht auf die Lebensphilosophie ganz allgemein ein, sondern richtet seine Kritik wie sein deutscher Kollege exemplarisch auf konkrete Autoren, nämlich auf Bergson und Dilthey. Steht bei Cassirer die Kritik im Kontext der philosophischen Anthropologie Schelers, stellt Nishida seine Auseinandersetzung mit den Lebensphilosophen in den Kontext der geschichtlichen Realität des Lebens und der Geschichtswissenschaften. Er spricht in seiner Kritik nicht explizit von einem Antagonismus in der Konzeption der Lebensphilosophie, wohl aber von einer Einseitigkeit im Denken, die korrigiert werden müsse, um das Leben wahrhaft zu begreifen. Dem Leben ist, so kann man mit Nishida sagen, eine Dialektik eigen, die in den Begriff des Lebens eingehen muss.

Formen. Dieser Titel ist affirmativ gemeint, auch wenn Cassirer gegenüber der Lebensphilosophie vor allem im kritischen Sinn von metaphysischem Denken spricht. Schwemmer betont: „Tatsächlich gibt es bei Cassirer […] den affirmativen Bezug auf Metaphysik, wenn diese nämlich nur eine umfassende Theorie unserer Erfahrung und des in ihr ausgebildeten Welt- und Selbstverständnisses sein will, ohne sich dogmatisch auf nur eine begriffliche oder phänomenale Unmittelbarkeit zu stützen“ (1997, S. 204). In diesem Sinn muss betont werden, dass Cassirer keinesfalls ein lebensphilosophisches Totalitätsdenken übernimmt, das er in einer kritischen Wendung des Begriffs als eine „Metaphysik des Lebens“ bezeichnet, sondern „die kritische Beleuchtung der Möglichkeiten des Totalitätsbegriffs in seiner systematischen Anwendung innerhalb der Kulturphilosophie“ (Bösch 2004, S. 188).

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Nishida macht deutlich, dass er die Lebensphilosophie wertschätzt, aber die einseitige Orientierung am Begriff des Lebens, genauer gesagt, eine einseitige Konzeptualisierung des Lebensbegriffs als problematisch betrachtet. Das kann Nishida zunächst am Beispiel Bergsons deutlich machen: Mit der Idee der ‚reinen Dauer‘ sei es Bergson durchaus gelungen, das Leben nicht bloß als Äußerliches, sondern aus der Innerlichkeit zu begreifen und so als Leben des Selbst tiefergehend zu durchdenken. Die Rede von ‚Selbst‘ geht dabei von der Subjektphilosophie des deutschen Idealismus aus und interpretiert es im Unterschied zum erkenntnistheoretischen Subjekt als die reflexive Existenz des Menschen. In der Innerlichkeit des Selbst liege zugleich, so Nishida, auch die Grenze von Bergsons Konzeption. Er schreibt: „Das ‚Selbst‘ Bergsons ist bloßes, intuitives Selbst“ (Nishida [1932], S. 309). Damit sagt Nishida, Bergsons ‚Selbst‘ gründe auf der einfachen und unmittelbaren Gewissheit des Selbst und verharre dabei in der reinen Immanenz. Doch ohne eine Vermittlung des Selbst mit seinem Außen, das heißt, ohne „wahrhafte Objektivität“ gibt es „kein wahrhaft lebendiges […] Selbst“ (Nishida [1932], S. 309). Diese geforderte Objektivität besteht darin, dass „unser wahres Selbst in der Geschichte geboren werden und in die Geschichte wirken“ (Nishida [1932], S. 309) muss. Ohne diese geschichtliche Vermittlung kann es „in Bergsons Selbst […] keinen ‚Tod‘“ (Nishida [1932], S. 309) geben. Und ohne Tod als korrelativen Begriff sei es, so Nishida, unmöglich, Leben wahrhaft zu denken. Im Fall Diltheys begründet Nishida seine Kritik anders. Denn Dilthey kann durchaus in Anspruch nehmen, das Leben auf die Geschichte zu beziehen. Im Zentrum steht dabei das Subjekt des Verstehens, das sich in seinem Verstehen auf die Geschichte als geschichtlich geformte Lebenswelt richtet. Die Konzeption des existentiellen Selbst bleibe aber einseitig, da nur die Relation des Subjekts zur Geschichte, aber nicht das Selbstverhältnis des Subjekts gedacht werde, wie Nishida betont. Durch diese einseitige Ausrichtung auf die Geschichte gehe, so Nishida, das Moment der Intuition verloren: Doch „was als Inhalt des Erlebens unseres individuellen Selbst gedacht wird, muss einerseits als der Inhalt des Verstehens [der Geschichte] und zugleich andererseits als der Inhalt der Intuition gedacht werden, es muss im Ich unmittelbar evident sein“ (Nishida [1932], S. 310 f.). Allerdings ist das nicht das einzige Problem in der Konzeption des verstehenden Subjekts. Denn auch das bloß intellektuelle Gerichtetsein auf die Geschichte ist noch nicht das ursprüngliche Verhältnis zur geschichtlichen Realität, um das Subjekt wahrhaft als lebendiges Selbst zu denken: „Das heißt, als eine Seite der Selbstbestimmung des persönlichen Selbst wird vielleicht die Bedeutung des geschichtlichen Erkenntnissubjekts gedacht, aber das Bestimmen der Geschichte geht daraus nicht hervor“ (Nishida [1932], S. 313). Das Subjekt aus der Geschichte her zu denken, heißt, nicht nur eine quasi passive Haltung zur Geschichte als Subjekt des Verstehens zu denken, sondern es auch als ein handelndes Subjekt zu begreifen. Es geht dabei nicht nur darum, zwei Seiten des Subjekts zu begreifen, sondern das Verstehen auf das für das Selbst konstitutive Moment zurückzuführen: „Auch ‚Verstehen‘ muss als Selbst-

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bestimmung des handelnden Selbst die Bedeutung des in der Geschichte Handelns besitzen“ (Nishida [1932], S. 313). Was heißt es, das Subjekt des Verstehens als handelndes Selbst zu denken und damit das Leben aus seiner Geschichtlichkeit her zu begreifen? Nishida sieht den Grund des Subjekts nicht bloß in seiner Innerlichkeit, sondern sieht im Grund des Subjekts eine umfassendere Struktur angelegt, und zwar den objektiven Geist: „Man kann sich […] etwas wie den ‚objektiven Geist‘ als Grund des Selbstgewahrens unseres handelnden Selbst denken“ (Nishida [1932], S. 302). In der Dimension des objektiven Geistes wird die intuitive Gewissheit des Selbst überschritten und seine bloße Innerlichkeit durchbrochen. Nishida schreibt: „Im Grund der Selbstbestimmung des handelnden Selbst muss es unbedingt etwas geben, das das Selbst übersteigt, muss es das Irrationale geben“ (Nishida [1932], S. 302). Allerdings liegt diese Irrationalität nicht in der blinden Entwicklung der Natur: Nicht an der stumpfen Unförmigkeit des natürlichen Lebens, wie es dem Menschen diesseits und jenseits schöner Erscheinungen entgegensteht, ‚stößt‘ sich der Mensch, sondern an der Formlosigkeit geistigen Lebens, die er in der Begegnung mit anderen Menschen erfährt. Das handelnde Selbst gründet im objektiven Geist und damit in einem Irrationalen, insofern das Handeln des Subjekts sich nur im Horizont des ihm letztlich Unverfügbaren realisieren kann. Handeln heißt, „dass ‚wir in unserem Grund überall den Anderen sehen‘“ (Nishida [1932], S. 302). Von der handelnden Person aus gesprochen, bedeutet es, „dass wir im Selbst das Du sehen“ (Nishida [1932], S. 303). Aus der Begegnung von Selbst und Anderem geht das hervor, was Nishida als Geschichte bezeichnet. Er schreibt: „Die Geschichte […] entsteht durch die ‚zufällige Begegnung von Ich und Du‘“ (Nishida [1932], S. 304). Das Selbst als geschichtliche Realität des objektiven Geistes erwächst aus der dialektischen Bewegung zwischen Ich und Du. Das Selbstgewahren konstituiert sich also nicht aus einer reinen Innerlichkeit, sondern aus dem handelnden Selbst als Sehen des Anderen im doppelten Sinn: Der Handelnde sieht und wird gesehen, der Mensch sieht im Handeln sein Gegenüber und sieht im Gegenüber sich selbst. Damit klärt sich, auf welcher Grundlage Nishida das denkt, was er als das wahre Leben bezeichnet. Bekanntermaßen geht Nishida im Anschluss an Fichte von einem bewusstseinsphilosophischen Ansatz aus. Aber er gibt diesem Ansatz eine neue Wendung, da er das Selbstgewahren aus der Perspektive der handelnden Person heraus begreift. Er schreibt: Ich meine, dass das ‚wahre Leben allein vom Selbstgewahren unseres persönlichen Selbst her gedacht wird. Ohne ‚ich‘ gibt es kein ‚wahres Leben‘, ohne das ‚Persönliche‘ gibt es kein ‚wahres Ich‘. Das ‚wahre Leben‘ kann nicht noematisch, sondern muss noetisch erkannt werden (Nishida [1932], S. 300).

Und es noetisch zu erkennen, bedeutet, im eigenen Handeln den Anderen als Person zu sehen und sich selbst als Handelnden zu begreifen. Worin besteht nun die Formlosigkeit des geistigen Lebens und wodurch hebt es sich ab von der Unförmigkeit der

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Natur? Die Geschichtlichkeit des Selbst schließt zwar die Dimension der Natur mit ein, ist aber grundsätzlich vermittelt durch den Anderen als Person. Leben konstituiert sich primär in der geistigen Dimension des Personseins, insofern man im Handeln den Anderen und im Anderen die Person sieht. Die Formlosigkeit ergibt sich insofern, als sich im Handeln die geschichtliche Realität des Selbst als ein Nichts erweist. Das Nichts ist schlechthin „die Form der Existenz“ (nkz 5, S. 8; Nishida 1999, S. 50), weil die Konstitution des Selbst im Selbstgewahren durch den Anderen als Du vermittelt ist. Genauer gesagt, es muss deshalb als Nichts verstanden werden, weil es die absolute Negation des Selbst durch den Anderen bedeutet (vgl. Nishida [1932], S. 304 f.). Dadurch, dass Nishida das Nichts als die Grundlegung des Selbst und des Selbstgewahrens begreift, interpretiert er die Selbstbestimmung des Selbst im Sehen des Anderen als ein Bestimmen des Selbst ohne Bestimmendes. Er wendet sich damit gegen eine Hypostasierung des Selbst zu einer metaphysischen Entität. Die Grundlegung des Selbst durch das Nichts bedeutet keinesfalls, alle Existenz in ihrem Formhaben schlechthin zu negieren. Anders gesagt, die Konstitution des Selbst wird nicht als bloße Formlosigkeit im Sinn einer realen Leere gedacht. Im Gegenteil, die Konstitution des Selbst kommt durch eine dialektische Bewegung zwischen Form und Formlosigkeit zustande, wodurch die bloße Kontinuität der reinen Innerlichkeit, wie bereits angedeutet, überwunden wird: Das eigentliche Leben kommt in diesem komplexeren Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität zwischen Form und Formlosigkeit zustande. Damit lehnt Nishida sein Verständnis letztlich an der ostasiatischen Tradition an, wie er schreibt: „Liegt aber nicht im Wurzelgrund der östlichen Kultur […] etwas verborgen, das man das Sehen der Form des Formlosen und das Hören der Stimme des Stimmlosen heißt“ (nkz 3, S. 255; dt. Nishida 1999, S. 42)? Was genau meint dieser Hinweis auf die Form des Formlosen? Nishidas weitere Bestimmung dessen schwankt zwischen evokativer Beispielgebung einerseits, seinem philosophischen und immer mit neuen Begriffen ansetzenden Duktus des allmählichen Einkreisens andererseits. So gibt Nishida zeitnah zum Lebensphilosophie-Aufsatz eine kulturmorphologische Veranschaulichung und betont, die Form des Formlosen sei „symbolisch“: „Die gefühlsmäßige Kultur ist Form des Formlosen, Stimme des Stimmlosen. […] Die formlose Kultur des Gefühls […] entwickelt sich wie das Leben. Sie nimmt die verschiedensten Formen an und gibt ihnen zugleich immer eine Art Ausdruck“ (nkz 6, S. 347; Nishida [1934], S. 14). Im vorliegenden Kontext, begrifflich gefasst, zeigt sich das Leben als Fließendes, das aber nicht gänzlich ohne Konturen ist, sondern gerade aus der Dynamizität des Werdens nicht nur darauf verweist, als was es wird und welche Form es annimmt, sondern auch, wie es wird. In der Frage nach dem Wie kommt die Dialektik der Bewegung zwischen Form und Formlosigkeit in den Blick, aber nicht nur in Hinsicht auf das Entstehen und Vergehen der Form, sondern auch in Hinsicht auf das Worin des Werdens der Form: Dieses Worin ist die Formlosigkeit. Aus Nishidas Perspektive bestimmt sich das Leben primär als das an sich Formlose, das sich in die Form entlässt

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und sich so Gestalt gibt.Was sich dabei als Gestalt herausbildet, ist aber nicht das rein biologische Leben, sondern das geistige Leben. Das geistige Leben liegt nun nicht in der bloßen Selbstheit des abstrakten Subjekts, sondern im Handeln der Person. Damit wird der hier für die Lebensphilosophie fruchtbar gemachte Ansatz Fichtes modifiziert und, wie gesagt, personalistisch gewendet. Das wahre Leben der Person bedeutet, das Selbst wirklich von der Relationalität und Alterität her zu denken und den höchten Moment der Lebendigkeit als Form des Selbstgewahrens zu begreifen.¹⁵

Schluss: Werden zur Form als formlose Form? Wie von Beginn an angedeutet, liegen der Entgegensetzung von Nishida und Cassirer wesentliche Gemeinsamkeiten zugrunde, welche sich dennoch aus unterschiedlichen Geistestraditionen speisen. Die Nähe zwischen den beiden Positionen kann ausgehend von einer abschließenden Betrachtung zu Hegel skizziert werden. Was also zeigen die Beiträge Cassirers und Nishidas zur Lebensphilosophie? Und worin liegen ihre Gemeinsamkeiten? Ihr Ausgangspunkt liegt darin zu behaupten, dass zwischen Form und Leben kein bloßer Gegensatz besteht. Cassirer versteht die dialektische Vermittlung zwischen den beiden Begriffen immanent aus dem Begriff der Form heraus: Leben ist ein Werden zur Form. Das heißt, die Form wird zum Medium des Lebens, aber selbst nur insofern, als der Begriff der Form dynamisiert wird: Die Lebendigkeit des Lebens kann nur in der Oszillation von Formentstehung und ihrer Zerstörung begriffen werden. Nishida seinerseits sprengt den Begriff der Form. Anders als Cassirer sieht er die Form des Lebens in der formlosen Form und betont damit die Entstehung der Form aus dem Nichts, anders gesagt, aus der Formlosigkeit als dem Ort, worin die Form entsteht. Cassirer, Nishida und die Lebensphilosophie zur Wende ins 20. Jahrhundert haben aber eine Motivation gemein: das kantianische Erbe, d. h. die mangelnde Vermittlung, mithin den Dualismus von Geist und Leben zu überwinden. Der akademi-

 Nishida geht gleich zu Beginn seines Aufsatzes zurück auf die Grundintuition der Lebensphilosophie und entwickelt von daher ein bewusstseinsphilosophisches Argument. Das Selbstgewahren in noetischer Richtung, das heißt, aus dem Handeln heraus, ist intrinsisch an die Praxis der Philosophie gebunden: „Es gibt nichts, das von alters her Philosophie genannt wird, das nicht in irgendeinem Sinn aus dem Verlangen eines tiefgründigen Lebens entsteht“ (Nishida [1932], S. 299). Diese immanente Verbundenheit von Philosophie und Leben wird getragen, so Nishida, von einer epistemischen Relation, weshalb er behauptet, „dass es wohl niemanden gibt, von dem das Leben als unmittelbare Tatsache nicht erkannt wird“ (Nishida [1932], S. 299). Daraus ergibt sich die eigentliche Aufgabe der Philosophie: dieser Intuition nicht nur zu folgen, sondern der Philosophie gemäß wissenschaftlich und d. h. systematisch aufzuarbeiten. Die Philosophie will das Leben in seiner Logik begreifen und damit die begriffliche Vermittlung rekonstruieren (vgl. Nishida [1932], S. 299). Eben diesen Anspruch an das philosophische Forschen hat die Lebensphilosophie aus Nishidas Sicht aufgegeben oder zumindest noch nicht eingelöst.

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sche Mainstream soll im Rekurs auf Hegel überwunden werden. Doch damit endet auch schon die Übereinstimmung der beiden Philosophen mit der lebensphilosophischen Haltung zur Philosophiegeschichte. Denn es ist zu beachten, dass gerade die Tendenz zum Biologismus in der Lebensphilosophie mit einer umfassenden Ablehnung der hegelschen Geistphilosophie Hand in Hand geht, da sie angeblich den Antagonismus von Geist und Leben zugunsten des Geistes radikalisiert. Beide, Cassirer und Nishida, sehen in Hegel vielmehr den geforderten Ansatz zur Vermittlung der beiden Pole von Geist und Leben.¹⁶ Nichtsdestotrotz grenzen sich beide deutlich von Hegel ab, und zwar in Hinsicht auf die Grenzen der Vermittlung: Sie arbeiten zwar heraus, dass in der Beziehung der Pole zueinander eine Dynamik liegt, argumentieren aber gegen die Konsequenz einer Stillstellung der als dialektischen Bewegung gefassten Dynamik durch eine finale Synthese in einem totalen System.¹⁷ Auch wenn Cassirer und Nishida unterschiedliche Akzente setzen, indem der eine in Richtung auf das fortwährende Werden der Form und der andere in Richtung auf das Entstehen der Form aus der Formlosigkeit argumentiert, zielen sie auf einen ähnlichen Gedanken, und zwar auf die Offenheit des geistigen Lebens in seiner Bewegtheit und Bewegung ohne eine letzte Aufhebung. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Nishida und Cassirer erklärt sich aus der abermals affirmativen Haltung zu Hegel: Beide interpretieren das Leben primär als geistiges Leben, ohne dieses in einem bloßen Antagonismus zum biologischen Leben zu sehen. Denn aus der Kritik an der Scheler’schen Anthropologie, wie im Vorherigen deutlich gemacht worden ist, interpretiert Cassirer Leben primär als geistiges Leben, das jedoch in die tiefen Schichten des organischen Lebens hinreicht. Die Lebendigkeit des Lebens würde an einer statischen Form immer nur zerschellen, weshalb Cassirer, wie erwähnt, Leben als das Werden zur Form begreift, das sich fortwährend im

 Demgegenüber gehen sowohl Cassirer als auch Nishida positiv auf Hegel ein und betonen, dass doch gerade er die Vermittlung von Geist und Leben zumindest im Ansatz treffend denkt. Nishida schreibt: „Vielleicht sollte [man] die Philosophie Hegels nicht zur sogenannten ‚Lebensphilosophie‘ zählen, aber es ist wohl in diesem Sinn umgekehrt denkbar, dass [die Philosophie Hegels] die Bedeutung der wahren Philosophie des Lebens hat“ (Nishida [1932], S. 300). Cassirer schreibt dazu analog: „Diesen Sinn des ‚Lebens‘ haben tiefer als die ‚Modernen‘, Fichte, Schelling, Hegel erkannt[;] Sie überwinden die Antithese Leben – Denken (Fichte); Leben – Vernunft (Schelling) durch den neuen idealist[ischen] Begriff des Geistes“ (ecn 1, S. 266). Zu Hegel schreibt Cassirer schon im Aufsatz über ‚Geist‘ und ‚Leben‘: „Die Polarität zwischen [Geist und Leben] bleibt [bei Hegel] bestehen, aber sie verliert den Schein der absoluten Entfremdung“ (Cassirer [1930], S. 53).  Nishida formuliert das explizit, wenn er den Standpunkt Hegels kritisiert: „Indessen man kann auch sagen, dass Hegel, der grundsätzlich am Standort des Idealismus stand, wohl die wahre Bedeutung der Dialektik nicht begreifen konnte und er zugleich das Leben nicht wahrhaftig in logischer Weise begreifen konnte“ (Nishida [1932], S. 300). Damit deutet sich schon an, dass auch Nishida das Leben nicht gegen die Logik und den Begriff oder allgemeiner gegen den Geist ausspielen will und nicht von einer ‚stumpfen‘ Unmittelbarkeit des Lebens ausgeht, sondern entgegen dem bloßen Antagonismus von Geist und Leben eine Vermittlung denken will. Das Leben kann nicht in seiner Unmittelbarkeit philosophisch zur Darstellung kommen, sondern nur in seiner Geformtheit, die sich aus der Vermittlung von Geist und Leben ergibt.

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Übergang zwischen Formschöpfungs- und Formzerstörungsprozesse ereignet. Und auch Nishida geht von einem geistigen Leben aus, ohne im Überschreiten der Innerlichkeit auf die Objektivität der Geschichte die materielle Dimension des Lebens einschließlich der biologischen Verfasstheit menschlichen Lebens auszublenden. In dieser Wendung des Lebensbegriffs in Richtung auf die geistige Dimension und in der Fassung der Lebendigkeit des Lebens als eine Dynamik im Werden zur Form korrespondiert Cassirer also mit Nishida. Im vorliegenden Text spricht Nishida vom geistigen Leben als Selbstgewahren. Dieses Selbstgewahren wird zwar nicht wörtlich als ein Formbildungsprozess beschrieben, hat aber eine dem Werden zur Form ganz ähnliche Grundstruktur: Es wird gefasst als „Selbstbestimmung ohne Bestimmendes“ (Nishida [1932], S. 301) oder als „die Bestimmung des Nichts“ (Nishida [1932], S. 314). Diese paradoxal anmutende Formulierung lässt sich parallelisieren mit der als grundsätzlich offen gedachten Dynamik der symbolischen Form, wie sie Cassirer (letztlich im Anschluss an die scholastische Metaphysik) im Übergang von der forma formata zur forma formans denkt. Genau in dieser Grundstruktur der Realität des geistigen Lebens als dynamischem und offenem Prozess besteht die Analogie zwischen den beiden Ansätzen, auch wenn sie jeweils unterschiedlich akzentuiert sind. Diese erste Annäherung zwischen Nishida und Cassirer über den Lebensphilosophie-Diskurs eröffnet den Horizont auf einen werkimmanenten Vergleich, da die Beiträge zur und die Kritik an der Lebensphilosophie eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen, die aus den jeweiligen Grundbegriffen erwachsen. Eine weitergehende Klärung verlangt auf Seiten Nishidas vor allem der Begriff des Nichts, der als Substantiv ebenso zur Hypostasierung einlädt wie der Begriff des Seins in der europäischen Tradition. Ein werkimmantener Vergleich hat sich darüber hinaus der Aufgabe zu stellen, vorschnelle Parallelisierungen, die sich aus Nishidas buddhistischem Erbe zum Platonismus ergeben könnten, ebenso zu vermeiden wie eine Überidentifizierung mit Cassirer. Dabei legt die Art und Weise, wie beide den Formbegriff denken, die Richtung des ersten Schritts zu einem werkimmanenten Vergleich nah: Ihr jeweiliger Formbegriff verweist auf einen Autor, den beide sehr geschätzt haben, nämlich auf Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832). Ihre Interpretation Goethes und des auf ihn zurückgehenden Formbegriffs kann den Ansatz dazu bieten, eine Gegenüberstellung der beiden philosophischen Werke aus ihrem Eigenverständnis zu leisten: als Kulturphilosophie im Fall Cassirers und als Religionsphilosophie im Fall Nishidas.

Literaturverzeichnis Werke von Ernst Cassirer Cassirer, Ernst [1930]: „‚Geist‘ und ‚Leben‘ in der Philosophie der Gegenwart“. In: Ernst Wolfgang Orth (1993): Ernst Cassirer. Geist und Leben. Leipzig: Reclam, S. 32 – 60.

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Formwerdung und Formlosigkeit der Form

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Viola Nordsieck

Transformation oder Deformation des Subjekts? Ernst Cassirer und die Kritische Theorie Abstract: Transformation or Deformation of the Subject? Ernst Cassirer and Critical Theory. Critical Theory has been concerned, since its foundations in the 1920s, with the pathological conditions of society. Although reason alone is considered sufficient to alter these conditions, its very sovereignty is supposed to be at the root of the problem. While Critical Theory’s concept of subjectivity tends to separate the subject, with its active elements and its structure of sovereignty, from passive nature which it casts in the role of material, Ernst Cassirer’s philosophy of culture has a more sophisticated and even more critical concept of subjectivity. Following Kant’s aesthetics, Herder, Goethe, and Humboldt, Cassirer sketches a different context for the individual and its society: the context of the living form, which reminds us of an organism in its reflexive interaction with its surroundings, but which differs from the organic scheme by its faculties of design and configuration. This article claims that the project Critical Theory is still pursuing today might benefit from a synthesis with Cassirer’s concept of the individual, of the role of reason, and its possible influence on the conditions of our life. Keywords: transformation, critical theory, Ernst Cassirer, subjectivity, reason, life

Einleitung Es gibt verschiedene Weisen, die Philosophie Ernst Cassirers in Beziehungen zu derjenigen anderer Denker zu sehen. Schon die Gewohnheit Cassirers, sein eigenes Denken stets aus der Perspektive des Kommentars zu artikulieren, setzt seine Philosophie in zunächst scheinbar kontingente Verhältnisse, die methodisch zu Beziehungen systematischer Natur umgestaltet werden. Mit dem Erscheinen der Gesamtausgabe und des Nachlasses sowie einer an Umfang rasch wachsenden CassirerForschung wird er mittlerweile als „Klassiker“ (Recki 2004, S. 15) gelesen. Einen medialen Klassiker könnten wir ihn in zweierlei Hinsicht nennen: Einerseits, weil er durch Kommentar und Reflexion das Denken Anderer referiert und vermittelt, andererseits, weil er Kommentar und Reflexion als kulturphilosophische Methoden nutzt, die das Prinzip der Transformation in den Mittelpunkt seines Werkes stellen. Dieses Prinzip der Transformation kann, so lässt sich Cassirers Werk im Ganzen deuten, an die Stelle eines metaphysischen Prinzips treten. Die Metaphysik, wie sie von Cassirer konsistent als allzu naive Ontologisierung kritisiert wird, orientiert sich am Substanzbegriff und damit an einer Hypostasierung des Seienden, einer fixiehttps://doi.org/10.1515/9783110549478-012

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renden Betrachtung der inneren Zusammenhänge von letztlich als wesenhaft gedachten Strukturen. Cassirers eigene Philosophie ist hingegen immer darauf ausgerichtet, die Prozesse des Werdens zu verstehen, die zu diesen Strukturen geführt haben und die von ihnen wiederum ausgelöst werden können. So gesehen, ist der Begriff der Form bei Cassirer ein Konzept, das für ihn immer dann philosophisch interessant ist, wenn es die Transformationsprozesse reflektieren kann, die zu einer Form geführt haben. Im Nachlass taucht in aller Kürze die Möglichkeit einer anderen Metaphysik auf, einer ‚Metaphysik des Symbolischen‘ (vgl. Cassirer, ECN 1). Diese müsste sich jedoch als eine Metaphysik verstehen, die nicht nach Gegebenheiten sucht, sondern die Struktur zu einem Verständnis des Wirklichen in den prozessualen Relationen und Konfigurationen finden will, die zur Gestaltung dieses Wirklichen beigetragen haben. Dementsprechend lässt sich auch Cassirers Denken sinnvoll in Beziehung setzen zu anderen Denkern, die er selbst gerade nicht kommentiert, mit denen ihn jedoch Themen, Tendenzen und gemeinsame Hintergründe verbinden. Dieser Beitrag geht auf die Frage ein, inwieweit sich ein solcher gemeinsamer Hintergrund sowie thematische Übereinstimmungen finden und formulieren lassen zwischen Ernst Cassirer und den Vordenkern der Kritischen Theorie, die zur Weimarer Zeit das Institut für Sozialforschung gründeten und durch die sogenannte ‚Machtergreifung‘ der Nationalsozialisten ebenso wie Cassirer ins Exil gezwungen wurden: Max Horkheimer, Friedrich Pollock, Erich Fromm, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno. Dabei wird in erster Linie auf einzelne Schriften Horkheimers und Adornos Bezug genommen, da es natürlich in diesem Rahmen unmöglich ist, der Kritischen Theorie im Ganzen in irgendeiner Form gerecht zu werden. Dennoch soll versucht werden, auch eine systematische Position zu erfassen, die die Kritik der Vernunft im Denken der Kritischen Theorie einnimmt (vgl. Benhabib 1992, S. 79 – 110). Denn sie tendiert dazu, einen Weg für das Denken einer emanzipatorischen Subjektivität zu verstellen, den eine Konstellation mit dem Denken Cassirers vielleicht wieder öffnen würde. Die sehr unterschiedlichen Weisen, in denen Cassirer einerseits und die Denker der Kritischen Theorie andererseits versuchen, eine solche emanzipatorische Subjektivität zu denken, sollen hier als die Hauptursache jener Gegensätzlichkeit in ihrem Denken benannt werden, die das „Projekt der Aufklärung“ (Krois 2012, S. 89) betrifft. Zwar verstehen sie dieses Projekt gleichermaßen als ein noch unabgeschlossenes, dessen noch ausstehende und wichtigste Aufgabe das philosophische Ziel der Emanzipation wäre, verstanden als eine Forderung nach Freiheit und Autonomie, gesellschaftlicher Teilhabe und lebendiger Entwicklung des Selbst für alle Menschen. Doch gehen ihre Haltungen deutlich auseinander in der Frage, ob und wie dieses emanzipatorische Projekt zu verwirklichen wäre. Über Perspektiven lässt sich in einen Dialog treten. Gehen wir davon aus, dass das Projekt der Aufklärung als Emanzipation der Einzelnen, also Gewinn an Freiheit und Selbstbestimmung, für Cassirer und die Kritische Theorie ein gemeinsames Anliegen ist, so können wir versuchen, einen möglichen Dialog zum Stand dieses Projektes zu skizzieren. In erster Linie unterscheiden sie sich bekanntermaßen in ihrer Vorstellung

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dessen, was die eigentliche Grundrichtung des Denkens der Aufklärung sei, wie sich diese etwa zum Mythos verhalte und welche zerstörerischen Elemente sie selbst schon beinhalte. Die eher affirmative Haltung Cassirers zur Philosophie der Aufklärung und die kritische Tendenz Horkheimers und Adornos, die in den Dynamiken dieser Philosophie selbst die Dialektik ihrer Gefährdung sehen, hängt mit einer unterschiedlichen Interpretation dessen zusammen, was diese Philosophie eigentlich ausmache. Im Zentrum dieser unterschiedlichen Interpretationen steht ein unterschiedlicher Begriff vom Subjekt. Im Folgenden soll daher die Möglichkeit einer Konstellation entwickelt werden, die Cassirers Reflexionen auf die Individualität im Kontext des Formbegriffs in eine Beziehung setzt zu der „pathologischen Verformung“ (Honneth 2007, S. 7) der Vernunft, wie sie Axel Honneth als Grundproblem der Kritischen Theorie beschreibt.

1 Die „Verformung“ der Vernunftfähigkeiten In seiner Vorrede zu einer Aufsatzsammlung, die er Pathologien der Vernunft betitelt, beschreibt Axel Honneth die Kritische Theorie als geleitet durch „die Idee, daß die Lebensbedingungen der modernen, kapitalistischen Gesellschaften soziale Praktiken, Einstellungen oder Persönlichkeitsstrukturen erzeugen, die sich in einer pathologischen Verformung unserer Vernunftfähigkeiten niederschlagen“ (Honneth 2007, S. 7). Diese Verformung der Vernunftfähigkeiten ist für Honneth der Kern der gesellschaftlichen Kritik, um welche die Kritische Theorie sich bemüht. In dieser Beschreibung liegt das uneinholbare Defizit des Subjekts, das nicht zu sich kommen, nicht es selbst werden kann, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse es nicht zulassen. Stets werden dabei, wie Honneth deutlich macht, diese Verhältnisse auf einen komplexen, aber doch letztlich einheitlichen Zusammenhang zurückgeführt, der ein Erbe des idealistischen Vernunftbegriffs ist. In Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft wie auch in Adornos Reflexion auf das Nichtidentische lassen sich Varianten auf die Allgemeinheit des Begriffs sehen, die das Subjekt zum aktiven Teilelement identifizierender Herrschaftsstrukturen macht und die Natur zu ihrem unterdrückten Anderen. In jedem Fall bleibt der Vernunft, auch wenn sie mit Habermas als pragmatische Entwicklung moralischer und dialogischer Rationalität gedacht wird, ein „quasi-transzendentale[r] Status“ (Benhabib 1992, S. 157), auf den das Verständnis der Subjektivität angewiesen ist. Honneth betont, dass die Argumentation einer einheitlichen, historisch wirksamen Vernunft veraltet sei (vgl. Honneth 2004, S. 10), dass sie jedoch das Alleinstellungsmerkmal der Kritischen Theorie darstelle. Was ihre verschiedenen Ausprägungen gemeinsam haben, schreibt er, sei eine Wahrnehmung der gesellschaftlichen Situation als „Negativität“, die sich „an Verletzung der Bedingungen guten oder gelingenden Lebens bemessen soll“ (Honneth 2004, S. 11). „Alle genannten Autoren gehen davon aus, dass die Ursache für den defizitären Zustand der Gesellschaft in einem Defizit an sozialer Vernunft gesehen werden muss; zwischen den pathologi-

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schen Verhältnissen und der Verfassung gesellschaftlicher Rationalität behaupten sie einen internen Zusammenhang“ (Honneth 2004, S. 12). Darin geht, so Honneth, die Kritische Theorie auch dort, wo sie ihn kritisiert, auf Hegel zurück.

2 Cassirer und die Kritische Theorie Tobias Bevc hat 2005 eine umfassende Studie vorgelegt, die ihn zu dem Schluss bringt, dass „es einerseits zwischen der Kulturphilosophie Cassirers und der Kritischen Theorie erstaunliche Übereinstimmungen gibt, andererseits ein echtes Komplementaritätsverhältnis zwischen beiden besteht“ (Bevc 2005, S. 11). Er setzt einen Schwerpunkt auf die Untersuchungen zum Nationalsozialismus, die Cassirer in Der Mythos des Staates und Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung aus dem Exil in den USA heraus vorlegen. Beide sehen im Kern ihrer Analyse des Nationalsozialismus eine Dynamik von Mythos und Aufklärung wirksam, wenn sie auch diese Dynamik auf sehr unterschiedliche Weise deuten (s.u.). Darüber hinaus setzt Bevc aber auch die Struktur der Philosophie der symbolischen Formen insgesamt ins Verhältnis zu einer „Kulturgenese als Dialektik von Mythos und Vernunft“, die er aus Texten der Vertreter der Kritischen Theorie herausarbeitet und dabei, parallel zu den symbolischen Formen, „Ordnungs- und Wahrnehmungsstrukturen der Kritischen Theorie“ unterscheidet (Bevc 2005, S. 211). Beseelt von eben dem sympathischen Geist der Konzilianz, für den Cassirer bekannt war, richtet Bevc seine Arbeit auf Übereinstimmungen zwischen den Denkern aus. Darin geht er jedoch insofern zu weit, als er bemüht ist, die Tendenzen der Kritischen Theorie nicht als aporetisch zu deuten, was die Chancen auf emanzipatorische Subjektivität betrifft. „Das heißt, daß die Kritische Theorie doch einen positiven Aufklärungsbegriff besitzt und nicht in einem Totalwerden der Kritik gefangen bleibt.“ (Bevc 2005, S. 13 f.) Er widerspricht an dieser Stelle nicht nur Adorno und Horkheimer selbst, sondern auch der Interpretation von Jürgen Habermas, der besagte Aporie konstatiert und sie dem Mangel an herrschaftsfreien Vernunftmöglichkeiten zugeschrieben hatte, um zur Lösung der Aporie und Aufhebung der instrumentellen die kommunikative Vernunft einzuführen (vgl. Benhabib 1992, S. 147). Seine Kritiker weisen zu Recht darauf hin, dass diese Lesart der Kritischen Theorie wohl doch zuviel Optimismus unterstellt. So schreibt Nicolaas Clingan in seiner Rezension von Bevcs Buch: Bevc projects too much of Cassirer’s trust in the culturally spontaneous individual onto the guarded hopes of Critical Theory. […] While the Frankfurt School shared Cassirer’s critical view of Heidegger, the implied target, their point of departure was not the creative, self-realizing subject, whose categories of understanding had only to be properly reset in order to produce a harmonious world. (Clingan 2010)

Eben dieses Verständnis vom Subjekt scheint es zu sein, das hier die Geister scheidet. Die Frage nach dem möglichen Gelingen subjektiver Emanzipation ist ebenso ein

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gemeinsames Anliegen, wie das Verständnis der Möglichkeiten dieser Emanzipation unterschiedlich ist. Dies ist nicht allein eine philosophische Frage, wie auch Bevc deutlich macht, sondern eine Frage der philosophisch-politischen Ausrichtung. Cassirer ist ein liberaler Humanist, das Institut für Sozialforschung hingegen tritt an zur „Überwindung der Krise des Marxismus vermittels der Durchdringung von Sozialphilosophie und empirischen Sozialwissenschaften“ (Wiggershaus 1988, S. 49). Bei Übernahme des Instituts 1930 arbeitet Horkheimer gerade an einer Untersuchung zu den Anfängen der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Als ‚konformistisches‘¹ Element einer bürgerlich-liberalen, philosophisch humanistischen, politisch kapitalistischen Ordnung sehen Adorno und Horkheimer das Denken Ernst Cassirers. Es ist klar, dass diese Sichtweise Cassirer nicht gerecht wird. Gerade der Vorwurf des Konformismus ist für den Philosophen der symbolischen Formen völlig unangemessen, insofern er ein unreflektiertes, bewusstloses Sich-Angleichen an einen philosophischen Mainstream impliziert sowie ein gleichermaßen bewusst- und daher kritikloses Aufgehen in der bürgerlichen Gesellschaft. Cassirer äußert sich selten zu ökonomischen Problemen und besteht darauf, dass Katastrophen wie die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten nicht auf wirtschaftliche Faktoren zu reduzieren sind. Doch existiert durchaus eine kritische Auseinandersetzung mit der „bestehende[n] Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“, die […] schlicht kein Interesse daran [hatte], dem [sic] Einzelnen seine individuelle Freiheit, die Existenz einer universellen Humanität, erkennen zu lassen […]. Aus diesem Grund fordert Cassirer eine andere Wirtschaftsordnung, um jedem das Wissen über seine individuelle Freiheit und die universelle Humanität zu ermöglichen. (Bevc 2005, S. 140).

Cassirer kritisiert also die Gesellschaftsordnung als Ganze und die ökonomische Zurichtung des Einzelnen. Dabei liegt es ihm fern, diese kritikwürdigen Zustände in irgendeiner Weise als Notwendigkeit zu reflektieren. Gerade weil sie sich historisch entwickelt haben, sieht Cassirer in ihnen eine Kontingenz, die nichts mit Zufälligkeit, sondern mit einer Flexibilität des lebendigen Geistes zu tun hat. Sie wird realisiert in der Dynamik der Kultur und lässt sich in derselben Dynamik auch wieder verändern. Es ist zu vermuten, dass die Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, deren Theoriearbeit „ohne großen Einfluß in der Weimarer Republik“ (Jay 1981, S. 23) blieb, die Philosophie des damals bekannten Cassirer als Teil des bürgerlich Etablierten nicht zum Anlass für eine echte Auseinandersetzung nahmen. Zudem hielten sie ihn  Konformistisch nennt Adorno Cassirer in einem Brief aus Oxford vom 2. November 1934 an Horkheimer, wobei er ihn zugleich als Trottel beschimpft. Wie Bevc (2005, S. 20 f., Fußnote) betont, ist es Adorno, nicht Horkheimer, der Cassirer schmäht. Doch scheinen sie sich in ihrer Einschätzung recht einig: Voraus ging ein Brief Horkheimers, in dem dieser sich beleidigt zeigt, dass Adorno sich im englischen Exil ausgerechnet an Cassirer um Hilfe gewandt habe. Cassirer musste Adorno sagen, dass er in England nur habilitiert auf eine Anstellung hoffen dürfe, was mutmaßlich dazu beitrug, seinen Zorn auf sich zu ziehen – trotz der Empfehlungsbriefe, die Cassirer für ihn schrieb (vgl. Adorno/ Horkheimer 2003, S. 18 – 26).

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vermutlich eher für einen Philosophiehistoriker; ob sie Schriften wie Substanzbegriff und Funktionsbegriff oder Freiheit und Form zur Kenntnis genommen haben, ist fraglich. Dabei blieb es auch in den Jahren nach dem Exil. Die Kritische Theorie erlangte in Deutschland Einfluss und Bedeutung, während die Philosophie des 1945 in den USA verstorbenen Cassirer bis in die späten 1980er Jahre quasi vollständig aus der deutschsprachigen Rezeptionsgeschichte gestrichen und auch durch die Kritische Theorie niemals aufgegriffen wurde.

3 Konstellation als Konfiguration Heute wird einerseits das Werk und die philosophische Bedeutung Cassirers endlich in weiterem Umfang erschlossen und zeigt sich als überaus einsatzfähig für die aktuellsten philosophischen Fragen, während die Kritische Theorie andererseits, wie Honneth diagnostiziert (s.o.), in mancher Hinsicht als ‚veraltet‘ gilt. Dabei ist natürlich die kritische Reflexion der Strukturen und Sozialformen der Gesellschaft, um die sich die Kritische Theorie von Beginn an bemüht, ein Anliegen, das an Relevanz und Dringlichkeit gewiss nicht abgenommen hat. Es wäre darum eine echte Bereicherung, mit Bevc ein ‚Komplementaritätsverhältnis‘ zwischen den beiden philosophischen Richtungen zu denken.² Dazu lässt sich sinnvoll von einem systematischen Widerspruch ausgehen: Pessimismus in Bezug auf das emanzipatorische Potential der Subjekte auf Seiten der Kritischen Theorie und ein humanistischer Optimismus auf Seiten Cassirers. Hier soll argumentiert werden, dass beide Tendenzen von einer je unterschiedlichen Interpretation der Philosophie des Subjekts und ihrer Implikationen herrühren. Als Ergänzung ließe sich denken, dass das Anliegen der Kritischen Theorie neu umgesetzt werden könnte durch die differenziertere und tatsächlich auch kritischere Lesart, die Cassirer an die Subjektphilosophie heranträgt. Gerade der als bürgerlich geltende und damit von den Denkern der Kritischen Theorie niemals allzu ernst genommene Cassirer hat in seinen sorgfältigen Studien zur Geistesgeschichte die Bedeutung des Formbegriffs für die Philosophie des Subjekts auf eine Weise analysiert und kritisiert, die so in der Kritischen Theorie nicht zu finden ist. Kann also eine Konstellation mit Cassirer als Ergänzung dem Denken der Kritischen Theorie nützen und zu ihrer emanzipatorischen Zielsetzung beitragen? Adorno beschreibt die von Walter Benjamin inspirierte Methode der Konstellation als eine ‚Methode, die keine ist‘, als eine Verweigerung identifizierender Zuordnung von Innen und Außen. Er sucht die Konstellation einzusetzen als eine Arbeit mit Begriffen, die jedoch die identifizierende Allgemeinheit des Begriffs unterbricht durch eine Sprache, die „Darstellung wird durch das Verhältnis, in das sie die Begriffe, zentriert um eine

 In der französischen Philosophie hat eine solche Ergänzung inhaltlich längst stattgefunden: in verschiedenen Formen finden wir sie bei Foucault, Deleuze und Badiou.

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Sache, setzt“; so kann es gelingen, zu „repräsentieren, von außen, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat“ (Adorno 1966, S. 164), das Innere immerhin zu „bestimmen […] potentiell“ (Adorno 1966, S. 165). Dieses ‚Innere‘ ist das Einzelne, Individuelle oder Konkrete, das an dieser Stelle der Negativen Dialektik thematisiert wird. Die Konstellation öffnet für Adorno die vielleicht einzige Möglichkeit, dieses Individuelle eben doch zu denken, ohne es denkend und begrifflich zu identifizieren: nämlich nur, indem die scharf gesetzte Grenze zwischen Innen und Außen aufgehoben wird. „Das Innere des Nichtidentischen ist sein Verhältnis zu dem, was es nicht selber ist […]: die Möglichkeit zur Versenkung ins Innere bedarf jenes Äußeren. […] Erkenntnis des Gegenstands in seiner Konstellation ist die des Prozesses, den er in sich aufspeichert.“ (Adorno 1966, S. 165 f.) Während andere bedeutende Denker der Kritischen Theorie wie Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Georg Lukácz sich über Cassirer durchaus respektvoll äußerten, begegnete Adorno Cassirers Person und Werk mit Verachtung (vgl. Bevc 2005, S. 20 f.). Gerade Adorno hätte jedoch, nehmen wir die oben zitierten Reflexionen aus der Negativen Dialektik als Hinweis, in der Philosophie Cassirers jene Dynamik erkennen können, die eine prozessuale Struktur des zu bestimmenden, individuellen ‚Inneren‘ mit den ebenfalls prozessual gedachten Begriffen des identifizierenden, aber mehrdimensionalen ‚Äußeren‘ entwickelt. Und gerade Adorno sieht auch in diesen Reflexionen die Möglichkeit, das Individuelle zu denken, was er an anderer Stelle für eine emanzipatorische Entwicklung des Menschen in der Gesellschaft für so bedeutend hält: Der Druck des herrschenden Allgemeinen auf alles Besondere, die einzelnen Menschen und die einzelnen Institutionen, hat eine Tendenz, das Besondere und Einzelne samt seiner Widerstandskraft zu zertrümmern. Mit ihrer Identität und ihrer Widerstandskraft büßen die Menschen auch die Qualitäten ein, kraft deren sie es vermöchten, sich dem entgegenzustemmen, was zu irgendeiner Zeit wieder zur Untat lockt. (Adorno 1977b, S. 677)

Es ist dieses ‚Besondere und Einzelne‘ mit seiner qualitativen Identität, das nicht vorkommt in einem Zusammenhang, der als kohärent gedacht wird durch seine Rückführung auf ein rationales Prinzip. In Cassirers Metaphysik der symbolischen Formen gibt es einen Weg, qualitative Individualität zu denken, ohne auf das rationale Prinzip zu verzichten. Adornos eben zitierte ‚Erkenntnis des Gegenstands in seiner Konstellation‘ als ‚die des Prozesses, den er in sich aufspeichert‘ würde mit Cassirer von der Konstellation zur Konfiguration. Während die Konstellation eher mit der Position eines Himmelskörpers vergleichbar ist, welcher in dynamischen Prozessen zu einem perspektivischen und daher statischen Bild steht, ist eine Konfiguration die prozessuale Entwicklung der verschiedenen Faktoren, die zu einer solchen Position geführt haben. In dieser Weise soll versucht werden, Adornos pessimistisch formulierte Desiderata zur Lebendigkeit des Besonderen mit Cassirer anders zu reflektieren, indem das Allgemeine nicht als eine strukturelle Deformation des Subjekts gedacht wird, sondern vielmehr als eine situative Transformation. Diese Überlegung soll jedoch nicht an Stelle einer Kritik von Strukturen treten, sondern soll diesen zu kriti-

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sierenden Strukturen nur jenen Absolutheitscharakter nehmen, der die Kritik sonst aporetisch erscheinen lässt.

4 Das Projekt der Aufklärung 4.1 Mythischer Schicksalsbegriff und mechanistisches Aufklärungsdenken Sowohl Adorno und Horkheimer als auch Cassirer kritisieren am Denken der Aufklärung den Ausschluss des Irrationalen. Davon abgesehen, ist jedoch sowohl ihr Begriff des Mythos als auch der der Aufklärung gänzlich verschieden. In der Dialektik der Aufklärung wird die systemische Allgemeinheit, die sich die Natur zu ihrem Material zurichtet, in der Form der instrumentellen Rationalität nach Max Weber betrachtet, wobei diese instrumentelle Rationalität als aufklärerisches Denken gefasst wird, das sein emanzipatorisches Ideal verfolgt. Da jedoch die Vernunft in dieser Weise zur reinen Struktur und damit zur Form der Herrschaft wird, ist Aufklärung „totalitär“ (Adorno/Horkheimer 2001, S. 12). Hinter dem Rücken einer so gesetzten Ordnung vollzieht sich die Unterdrückung der Einzelnen, legitimiert als Element eines angeblich harmonischen Ganzen. Die Emanzipation des Subjektes wandelt sich in der entzauberten Welt zum „totalen Betrug der Massen um“ (Adorno/ Horkheimer 2001, S. 49), der Zwang zu Herrschaft und Fortschritt ist selbst ebenso mythisch, wie der Mythos von Beginn an eine Form von Aufklärung war. Cassirers Mythen hingegen, die sich technisch ebenso konstruieren lassen, wie sie organisch aus Gesellschaftsstrukturen erwachsen können, haben ihre eigenen Gestaltungsprinzipien. Um das zu begreifen, muss man allerdings Cassirers Philosophie der symbolischen Formen voraussetzen und dem Mythos seine eigene Logik zugestehen. Mythisches Denken ist ebenso gestaltend und prägend wie rationales Denken. Mehr noch, beides schließt einander nicht aus, sondern existiert gemeinsam. Gelingt es einem Mythos, wie dem der Nationalsozialisten, durch vollen technischen und propagandistischen Einsatz die weltanschauliche Dominanz zu erlangen, so führt dies zu einer Transformation der Gesellschaftsstrukturen, die zerstörerischen Charakter hat. Doch es ist nicht die Vernunftfähigkeit, die nach Cassirer dabei leidet. Es sind die basaleren Bereiche von Wahrnehmung, Gefühl und Ausdruck. Und diese entscheiden letztlich über die Deutungsstrukturen, die das Leben und das Handeln prägen. Kurz gesagt: Grausamkeit ist nicht unvernünftig, sie ist grausam; beschädigt ist nicht die Vernunft, sondern das Leben bzw. die Reflexionsmöglichkeiten des Lebens, die Cassirer ‚Geist‘ nennt. Wenn Cassirer noch am Leben gewesen wäre, um die Dialektik der Aufklärung zu lesen, so vermutet Krois, hätte er sie parallel zu Spenglers Untergang des Abendlandes als „Wahrsagerei“ kritisiert: als eine „große[…] historische[…] Erzählung“, die einen schicksalhaften, berechenbaren und vor allem tragisch notwendigen Verlauf der Geschichte erfindet (Krois 2012, S. 96). Man könne die Geschichte gar nicht wissen-

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schaftlich behandeln, behauptet Spengler, sondern müsse sie dichten. „Und so dichtet er denn […] seine Tragödie vom Untergang des Abendlandes“ (ECW 22, S. 151), schreibt Cassirer dazu ungewohnt bissig. „Like Spengler’s book, Adorno and Horkheimer’s ignored the fact that history, like culture, depends upon symbolic processes, so that the prediction of historical development required the predication of symbolic processes as if they were mechanistic in nature.“ (Krois 2012, S. 96) Im Gegensatz zu Spengler ist natürlich die kritische Arbeit der Dialektik der Aufklärung eine solche, die sich sehr wohl als wissenschaftlich versteht und die weder in ihrer Motivation, noch in ihrem Ethos fairerweise mit Spengler gleichgesetzt werden könnte. Trotz dieser überzogenen Parallele, die der Kritischen Theorie weder in ihrem Anliegen noch in ihrer Methode gerecht wird, ist es dennoch ein zentrales Argument, das Cassirer hier von John Michael Krois gewissermaßen untergeschoben wird. Die Absolutheit der zerstörerischen Tendenz, die der Dialektik der Aufklärung innewohnt, verflacht die Beschreibung der wirkenden Prozesse auf eine Reihe von Mechanismen, die etwas Unausweichliches erhalten. Hier leidet das Buch zwar auch unter seiner Polemik, das eine unaufhörliche Folge von Formulierungen enthält wie die folgenden: „Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit. […] Alle Massenkultur unterm Monopol ist identisch“ (Adorno/Horkheimer 2001, S. 128); „[i] ndem aber Rationalität […] dies Recht wahrnimmt, tritt sie zwangshaft in den Zusammenhang des Unrechts ein“ (Adorno/Horkheimer 2001, S. 70); „so wurde inzwischen der ganze Mensch zum Subjekt-Objekt der Repression“ (Adorno/Horkheimer 2001, S. 213). Doch ist dies nicht Polemik alleine, nicht der bloße Versuch, das Ausmaß der Katastrophe durch äußerste textliche Schärfe zum Ausdruck zu bringen. Es ist das absolute Prinzip, das als Verursacher der Katastrophe identifiziert wird. Alle Kultur ist identisch, Rationalität tritt zwanghaft ins Unrecht, der ganze Mensch ist nur noch ein sich selbst perpetuierender Prozess der Repression: diese drei iterierenden Feststellungen, die das ganze Buch durchziehen, beschreiben determinierte, zwanghaft verlaufende, nicht mehr aufzusprengende Bewegungen von totalitärem Charakter, die durch ihre innere Geschlossenheit der Ursachen für den Einzelnen etwas Schicksalhaftes erhalten. Die fiktive Kritik daran, die Krois vermutet für den Fall, dass Cassirer das Buch noch habe lesen können, hätte also durchaus diese beiden Punkte betreffen können: Die Verkennung des zutiefst mythischen Schicksalsbegriffes als dialektische Bewegung, und die mechanistische Deutung eben jener Bewegung als notwendigen Verlauf. Cassirer kritisiert als ‚metaphysisches Denken‘ eine Ontologisierung von Prinzipien oder Wesenheiten, die sich auch in einer Annahme notwendig fatal verlaufender, determinierter Prozesse zeigt. Denn determinierte Prozesse gehören in den Bereich des Mechanischen, was für Cassirer weder für Natur noch für Objektivität ein Paradigma darstellt. Notwendigkeit gibt es nur relativ zu einem symbolischen Schema, dessen innerer Logik sie entsprechen mag, das jedoch niemals absolute Gültigkeit beanspruchen kann. Es ist gerade die Aufgabe der Wissenschaft und der Philosophie, diese Schemata mitsamt ihren Widersprüchen zusammen zu denken.

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Mechanistisches Denken dieses Typs warf Cassirer auch den Politikern der Weimarer Republik vor: Sie hätten die reale Gefahr nicht sehen können, die von den politischen Mythen des Nationalsozialismus ausginge, weil sie nur in ökonomischen Zusammenhängen dächten. Ihr Technikbegriff sei dementsprechend mechanistisch und nicht geeignet, die technische Konstruktion nationalsozialistischer Mythen zu verstehen, die durchaus nicht mechanistisch, sondern allein gemäß einem ihnen jeweils eigenen Effizienzprinzip konstruiert waren. „For one of the first steps of the new political theory“, schreibt Cassirer, „was to deny and destroy the very concept of ‚truth‘ […]. All it had to do was to put the political myths into action and to show their constructive or destructive power.“ (ECN 9, S. 270)

4.2 Dialektische und symbolische Logik Für Cassirer, den begeisterten Kant-Leser, der den Geist des deutschen Idealismus bei Humboldt und Herder, Leibniz und Goethe sucht, ist das Projekt der Aufklärung eines der wichtigsten philosophischen und gesellschaftlichen Anliegen. Aber er sieht in der Philosophie des 18. Jahrhunderts keinen Abschluss dieses Projektes. Eine der wichtigsten Errungenschaften der Philosophie der Aufklärung ist für ihn die Dynamisierung des Schemas durch den systematischen Geist, bezogen auf d’Alemberts Unterscheidung von ésprit systématique und ésprit de système, mit dem sich das 18. Jahrhundert von den Systemen des 17. Jahrhunderts abgrenzt (vgl. ECW 15, S. 4 ff.). In dieser Dynamik sieht er die Relationalität als Basis des Bestimmbaren: das Schema des zu Bestimmenden wandelt sich mit der Erforschung des Gegenstandes. Subjekt und Gegenstand treten so erstmals in die für Cassirer entscheidende Korrelation. Darum aber sieht er in der Philosophie der Aufklärung das Denken des 18. Jahrhunderts nicht, wie sonst üblich, als mechanistisch an. „It was not necessary to wait for quantum theory, let alone self-organisation conceptions to come along in order to realize that nature is not mechanistic and determinism not a reality.“ (Krois 2012, S. 96) Vielmehr sieht er in der „Logik der Tatsachen“ (ECW 15, S. 8) eine Weiterentwicklung der Form des Denkens, die mit Leibniz’ Philosophie des ‚pluralistischen Universums‘ begonnen hatte und intellektuelle Systeme nicht als starr, sondern als flexibel und beweglich entwirft. Das geschlossene System soll sich wandeln zu einer Vielfalt offener Systeme, und dieser Wandel geschieht durch die kulturelle Vermittlung dynamischer Schemata.³ Naturbeherrschung durch instrumentelle Rationalität als System der Vernunft entspricht für Cassirer also überhaupt nicht dem Geist der Aufklärung, allein schon, weil er diesem kein geschlossenes System der Vernunft zuschreiben würde. Schon zu Beginn der Philosophie der Aufklärung betont er, was Honneth 2007 konstatiert: dass

 Eine intensivere Ausarbeitung dieser philosophiegeschichtlichen Deutung Cassirers, mit der er zugleich seine eigene Philosophie ausführt, findet sich bei Nordsieck (2015, Kap. 6, S. 225 – 269).

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der Begriff der Vernunft seine Eindeutigkeit längst verloren habe und historisch zu vielen Wandlungen unterworfen sei, als dass man sie irgend allgemein setzen könnte (vgl. Cassirer, ECW 15, S. 5). Es wird also in Cassirers Denken niemals die Allgemeinheit der Vernunft sein, die totalitarisierende Funktionen hervorbringen kann, allein schon weil diese Allgemeinheit der Vernunft ohnehin in seinen Augen überschätzt wird: Sie ist allgemein, insofern sie allgemeine Gesetzmäßigkeiten von Prozessen reflektieren und verknüpfen kann, niemals jedoch als ein in sich statisches System. Totalisierende Funktionen sind vielmehr die jeweiligen Wirkmächte oder Kräfte, im Sinne einer aristotelischen energeia, die übermächtig werden, die andere Formzusammenhänge erfassen, durchdringen, transformieren. Gezielte Propaganda ist eine solche Funktion, eine Art von mythischem Denken, das mit den Mitteln der Technik konzipiert und prozessualisiert wird. Darum kritisiert Cassirer eine Haltung, die er auch der Philosophie der Aufklärung zuschreibt: die Tendenz, das Irrationale als ihr Anderes aus sich auszuschließen. Irrationale, beispielsweise mythische Zusammenhänge nicht zu reflektieren, kann nur dazu führen, sie zu übersehen, sie nicht zu verstehen und ihnen darum nichts entgegen setzen zu können. Doch das Irrationale kann wirksam sein und eigene symbolische Kontexte aufbauen, und darum ist es gerade die dynamische Flexibilität der Vernunft, die jeweils so verändert werden muss, dass sie diese Kontexte verstehen kann. Die Autoren der Dialektik der Aufklärung kritisieren ebenfalls den Ausschluss des Irrationalen; doch verstehen sie diesen Ausschluss in erster Linie als eine Abspaltung des Subjekts von seiner Natur. Auf die Schwierigkeiten dieser Konzeption wird im Folgenden noch kurz einzugehen sein. Betrachten wir zunächst Cassirers Kritik am Ausschluss des Irrationalen, so müssen wir konstatieren, dass sie die Dialektik der Aufklärung ebenfalls trifft. Denn die unausweichliche Identität von Aufklärung und Mythos, die uns das Wechselspiel der dialektischen Logik demonstriert, setzt den Mythos zwar als Anderes der Rationalität, doch setzt beide zugleich als nur scheinbar unterschiedliche Ausprägungen eines einzigen Prinzips der Allgemeinheit. Was hier verloren geht, ist die Möglichkeit, jegliche symbolische Formung des Geistigen, das immer auch ein Allgemeines beinhaltet, noch zu denken, ohne sie in einen totalitären Anspruch zu überführen, dem sich nichts mehr entgegensetzen ließe. Darin liegt das Determinierte, Schicksalhafte, das dem dialektischen Wechselspiel zugeschrieben wird: Die Subsumtion des Tatsächlichen, sei es unter die sagenhafte Vorgeschichte, sei es unter den mathematischen Formalismus, die symbolische Beziehung des Gegenwärtigen auf den mythischen Vorgang im Ritus oder auf die abstrakte Kategorie in der Wissenschaft läßt das Neue als Vorbestimmtes erscheinen, das somit in Wahrheit das Alte ist. (Adorno/Horkheimer 2001, S. 34)

So scharf der Ausschluss alles Naturhaften aus der Selbstvergewisserung aufklärerischen Denkens von Adorno und Horkheimer kritisiert wird, so wenig weichen sie doch

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selbst letztlich von einer Variante dieser Selbstvergewisserung ab. Schon indem sie die Struktur der instrumentellen Vernunft als notwendige Weiterentwicklung der Philosophie des Subjekts und ihrer gesellschaftlichen Umsetzung akzeptieren und damit den Fortschritt als mechanisches „Schicksal“ verstehen, der „die Selbstentäußerung der Individuen [erzwingt], die sich an Leib und Seele nach der technischen Apparatur zu formen haben“, haben sie gewissermaßen aufgegeben, eine alternative Philosophie des Subjekts zu entwerfen (Adorno/Horkheimer 2001, S. 36). Darin liegt der wichtigste Unterschied zwischen ihrer Anschauung und der Cassirers. Sie erkennen damit an, dass die Herrschaft des Begriffes so unvermeidlich sei wie die der technischen Systeme. Während sie an derselben Stelle noch den Verlust der „Vieldeutigkeit des mythischen Denkens“ beklagen, von dem das Subjekt nun so frei sei „wie von allem Bedeuten überhaupt“, erkennen sie die Notwendigkeit und auch die Möglichkeit von Cassirers Unternehmen nicht an, auf eben diese Vieldeutigkeit und die Entstehung des Bedeutens zu reflektieren, ohne dabei die logischen Errungenschaften der Philosophie des Subjekts zu verlieren (Adorno/Horkheimer 2001, S. 36).

4.3 Die „dämonisierende Theorie“ Als Georg Simmel, der neben Max Weber zu den bedeutenden soziologischen Einflüssen auf die Kritische Theorie gehört, in einem Aufsatz von 1912 die Tragödie der Kultur konstatiert, beschreibt er eine Dualität von Subjekt und Objekt, in der das Subjekt nicht länger nur der objektiven Natur gegenübersteht, sondern auch den Gebilden des Geistes. „Mitten in diesem Dualismus wohnt die Idee der Kultur.“ (Simmel 2001, S. 194) Ihre Tragödie ist eine „in der Teilung und Spezialisierung der Arbeit entspringende Tendenz zur Verselbständigung der Werke gegen die Menschen“ (Recki 2015, S. 43), wobei […] sich mit [d]er Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat […]; eben damit ist jenes integrierende, kulturbedingende Element zu einer Eigenentwicklung prädeterminiert. (Simmel 2001, S. 219)

Diese prädeterminierende Struktur ist eine frühe Form jener ‚Verformung der Vernunftfähigkeiten‘, die Honneth beschreibt, und weist als Tendenz zur Verselbständigung der Werke, die in der Arbeitsteilung entspringt, auch eine deutliche Parallele zu Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft auf. Auch bei Simmel findet sich also ein Zusammenhang der Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit, der später immer wieder in den Argumenten der Kritischen Theorie auftaucht. Und in diesem Fall haben wir einen Kommentar von Cassirer, der 1942 in dem Aufsatz Zur Logik der Kulturwissenschaften Simmels ‚Tragödie‘ der Kultur aufgreift und Gegenargumente liefert. Birgit Recki hat die beiden Positionen kürzlich

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in der Zeitschrift für Kulturphilosophie vorgestellt und dabei herausgearbeitet, dass es für Cassirer „das Ideal der Einheit von Ich und äußerer Welt [sei], das zu jener Dämonisierung führe“, und zwar die der „in objektivistischem Gestus dämonisierende[n] Theorie“, die „in der Unterschätzung der elementaren Wechselwirkung, der kommunikativen Dynamik der Kultur, jene Verdinglichung [zeitigt], die sie den Verhältnissen als ihre Ausweglosigkeit vorhält“ (Recki 2015, S. 45). Auch hier läuft die Kritik Cassirers und die Horkheimers und Adornos wieder in einem gewissen Sinne parallel, nur sind die Lösungstendenzen ganz gegenläufig. Horkheimer und Adorno sehen in dem sich katastrophal auswirkenden Zwang zur Einheit von Ich und äußerer Welt, der zum Verlust möglicher Individualität und Freiheit des Subjekts führt, die Vernunft selbst in ihrer Struktur der Herrschaft. Als Alternative zur Affirmation bleibt folgerichtig nur die negative Dialektik. Cassirer aber sieht in diesem Zwang nicht die Vernunft, deren Allgemeinheit ohnehin überschätzt wird, wie er meint. Er sieht darin die objektiv behauptende Theorie selbst, die sich für allgemeine Vernunft hält und doch nur eine reine Setzung ist, die selbst die Verdinglichung hervorbringt, die sie beklagt. Das Konzept einer Pathologisierung der Vernunft und der daraus folgenden Deformation der Subjekte, die von jener Vernunft ihrer Struktur nach vollständig abhängen, ist problematisch. Der Begriff der Pathologisierung setzt zunächst natürlich das Konzept der Normalität voraus. Eine gesunde Vernunft würde also ihre Wirkmacht, die sie ja als absolut Allgemeines über jeden von ihr ausgehenden Prozess ausüben müsste, gemäß einer Norm ausüben, die als unanfechtbar gälte. Worauf übt die Vernunft als verwirklichtes System Wirkmacht aus? Auf ihr Anderes, die Natur. Imaginiert wird also zumindest die Möglichkeit eines Anspruchs, diese absolute Macht über die Natur könnte auch nicht pathologisch, sondern normal funktionieren, ihre Ausübung könnte nicht deformierend oder zerstörerisch, sondern verwirklichend sein – im Sinne Hegels. Doch liegt es gerade in der Argumentation der Kritischen Theorie, dass die Absolutheit der Macht selbst ihre zerstörerische Tendenz sei. Eine nicht pathologische Vernunft wäre damit schon ausgeschlossen. Wir haben bereits gesagt, dass Cassirer eine solche Allgemeinheit der Vernunft weder für wirklich, noch für bedeutsam hält. Sein Verständnis vom Subjekt ist, wie wir gleich sehen werden, ein anderes als das Subjekt der Kritischen Theorie. Betrachten wir kurz die subjekttheoretische Geschichte der Kritischen Theorie und ihrer Identifikation des Subjekts mit der Allgemeinheit der Vernunft.

5 Die Freiheit der Form 5.1 Die Kritische Theorie: Subjekt und Natur Subjektivität ist im Denken der Kritischen Theorie in erster Linie keine Individualität. Sie kann es einerseits noch gar nicht sein, da ihre Vernunft, und das heißt das Allgemeine, das Subjektivität als solche ausmacht, beschädigt ist und sich im gesamt-

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gesellschaftlichen Prozess nicht realisieren kann, bzw. durch diese Realisierung gerade zur Deformation einer möglichen Individualität führt. Sie kann es andererseits auch nicht werden, da es auf Grund der Einheitlichkeit des gesellschaftlichen Zusammenhangs keinen Begriff von lebendiger Individualität gibt, dem nicht das naturhafte Andere anhinge. Was einheitlich und allgemein ist, ist die Vernunft, sei sie auch deformiert und zerstörend. Das lebendige Individuum wird von ihr geprägt und gebildet, bestimmt und verwaltet. Doch was an ihm nicht Vernunft ist, kann sich umgekehrt nicht auf die Strukturen auswirken, die den Gesamtzusammenhang prägen. Darum besteht nach Honneth, wie oben schon zitiert, für die Kritische Theorie der „interne[…] Zusammenhang“ zwischen „den pathologischen Verhältnissen und der Verfassung gesellschaftlicher Rationalität“ (Honneth 2004, S. 12). Auch die dialektische Bewegung löst dieses Problem nicht, da sie eine Bewegung der Vernunft, letztlich also eines Absoluten ist. Das endliche Subjekt hingegen, das ein Individuum sein könnte, kann nichts sein, nichts tun und nichts leisten, was nicht schon Teil der absoluten Idee wäre. Woher stammt die Dichotomie von Subjekt und Natur, die dem „quasi-transzendentalen Status der Vernunft“ (Benhabib 1992, S. 157) notwendig angehört? Sie liegt in einer Auslegung der Subjektphilosophie, die zwar Kant folgt, doch nicht alle seine subjektphilosophischen Wendungen mitdenkt. Diese Auslegung trennt das aktive Subjekt scharf von dem passiven Bewegt-Werden, das künftig der Natur zugeschrieben wird. Das Subjekt wird in dieser cartesisch-kantischen Tradition in erster Linie verstanden als das „Ich denke“, das „alle meine Vorstellungen begleiten können [muss]“ (KrV, B 132). Mit dieser „notwendige[n] Beziehung“ aller mannigfaltigen Anschauungen auf das „Ich denke“, die das Subjekt der reinen Apperzeption ausmacht, ist dieses Subjekt definiert als „Actus der Spontaneität“ (KrV, B 132). In Folge dieser Definition wird als Basis der Subjektivität dieser Akt des Auffassens verstanden: die Aktivität selbst. Das Selbst, das nach der methodischen Ausmerzung aller natürlichen Spuren als mythologischer weder Körper noch Blut noch Seele und sogar natürliches Ich mehr sein sollte, bildete zum transzendentalen oder logischen Subjekt sublimiert den Bezugspunkt der Vernunft, der gesetzgebenden Instanz des Handelns. (Adorno/Horkheimer 2001, S. 36)

Diese ‚methodische Ausmerzung‘ hat ihre Grundlage in der Entwicklung des Subjektbegriffes, der bei Descartes und Leibniz den Substanzbegriff als dauerhafte, mit sich selbst gleichbleibende Einheit ersetzt. Das ist nur möglich, indem das Subjekt zum Träger von Funktionen wird. Was einmal dynamis war, die passive Seite untrennbar verflochtener, aktiv-passiver Wirkrelationen, wird dabei zunehmend als subjektive Vermögen reflektiert. Dynamis konnte eine Kraft bedeuten, eine Möglichkeit, Disposition oder Potentialität. Als Vermögen des Subjektes aber werden alle diese passiven Relationen, auch die sinnliche Wahrnehmung, mehr und mehr zu subjektiven Aktivitäten: energeia. Bei Kant ist dann der Punkt erreicht, an dem das Subjekt selbst nichts anderes mehr ist als die aktive Anwendung der Urteilskategorien.

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Von der passiven Seite können wir nichts mehr wissen, denn klare und deutliche Gewissheit können wir nur über die subjektive Reflexion erlangen. Die aktive Seite, die energeia, wird zu der einzigen Eigenschaft, durch die sich das Subjekt definiert. Sie ist als synthetische Einheit des Bewusstseins Vorbedingung für die Vorstellung der Identität des Subjekts (vgl. KrV, B 134). In Abhängigkeit von dieser Konzeption des Subjekts wird die energeia nicht länger als wirkendes Teilelement von Prozessen gedacht, sondern als davon losgelöste Spontaneität, als spontaner Akt oder reine Setzung, sowie als die Summe der subjektiven Vermögen. Die ‚Vernunftfähigkeiten‘ lassen sich in diesem Sinne als Vermögen des Subjekts lesen, die sich mit der Deutung der Erkenntnis als auffassende Tätigkeit statt passiver Rezeption von der potentia zur facultas, zur Fähigkeit entwickeln. Daraus ergibt sich die komplementäre Rolle der Passivität, die einmal dynamis war. Aktivität wird Macht zur Formung und damit auch Macht zur Deutung, denn seit sie dem Subjekt als definierendes Merkmal zugeordnet wurde, ist sie frei von der Verflechtung mit dem Passiven. Ihre eigene Form verändert sich nicht: aus ihr zieht die Vernunft ihre Allgemeinheit. Ihr Anderes hingegen verliert die dynamische Kraft, auf das Subjekt gestaltend zu wirken. Es wird zur Materie ohne dynamis, also zum bloßen Material, das wahrgenommen und geformt, gedeutet und beschrieben wird, zeitlich, körperlich und vergänglich ist. Ein Subjekt aber, das nicht mehr gestaltet werden kann, verliert als Einzelnes seine Individualität, die notwendigerweise passiv ist. Denn Individualität kann nur durch Entwicklung und Veränderung entstehen, kann also nicht dem Reich des NichtVeränderbaren angehören. Durch die absolute Identifikation des Subjekts mit der allgemeinen Vernunft gehört dieses dem Nicht-Veränderbaren an und wird damit selbst prozessuales Element der allgemeinen Gewaltherrschaft. Das Individuelle hingegen, das dem einzelnen Menschen angehört in seiner Emotionalität und Zufälligkeit, seiner Verletzlichkeit und Veränderbarkeit, wurde als Folge der Identifikation des Subjekts als aktives Element der Vernunftmaschinerie der Seite der Natur zugeschlagen und verwandelt sich in rein passives Material, weder rational steuerbar, noch aktiv zu gestalten, ohne dass dies zur zerstörerischen Zumutung würde. Es ist dieser Verlust, den Adorno beklagt. Das ‚Besondere und Einzelne samt seiner Widerstandskraft‘, also die qualitative Individualität und ihre gestaltende Wirkmacht, ist unmöglich zu erhalten unter dem Druck dieser Allgemeinheit, sie wird zerdrückt oder kann gar nicht erst entfaltet werden. Diese qualitative Individualität würde allerdings auch erfordern, dass nicht allein auf die ‚Vernunftfähigkeiten‘ reflektiert würde, sondern auf das lebendige Ganze: die Ausdruckswahrnehmung, die Emotionalität, die Ordnungssysteme der Weltanschauungen. So wenig sich diese verschiedenen Gestaltungsprinzipien auf Vernunftfähigkeiten reduzieren lassen, so bedeutend sind sie für das Handeln der Menschen. Ohne eine Versöhnung des Subjektbegriffes mit dem Individuellen, das als solches wieder denk- und reflexionsfähig würde, bleibt Adorno nur der Versuch, die absolute Unbestimmtheit des Individuellen zu verteidigen, wie es in der Negativen

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Dialektik bei den Reflexionen auf das Nichtidentische geschieht. In der Ästhetischen Theorie arbeitet er die Möglichkeit der Versöhnung in der Kunst aus, doch die Wirklichkeit bleibt dabei notwendigerweise unversöhnt: Eine gelingende Praxis kann es nicht geben.

5.2 Cassirer: Subjekt als Individuum Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen kann zwar am ehesten als eine Kulturphilosophie beschrieben werden, doch enthält sie den Anspruch gelingender Praxis gerade in ihrer spezifischen Versöhnung des Besonderen und des Allgemeinen, das für ihn schon in jedem noch so basalen Verhältnis von Subjekt und Welt liegt. Dabei ist Cassirer bekanntermaßen Kantianer, zieht seinen Begriff vom Subjekt jedoch nicht aus einer Setzung des aktiven Prinzips, sondern greift zur Vermeidung eines rein funktionalen Subjekts sowohl auf Herders Geschichtsphilosophie als auch auf die Kritik der Urteilskraft zurück. Die erste kritische Reaktion auf Kants Kritik der reinen Vernunft setzte unmittelbar durch Herder ein, der auf der Notwendigkeit einer Reflexion auf die passiv-sinnlichen Elemente der Erfahrung bestand. Er kann auch als einer der ersten Kritiker eines allzu systematischen Aufklärungsgedankens gelten. Doch auch Kant selbst nimmt in der Kritik der Urteilskraft eine Erweiterung und vor allem eine Dynamisierung des Konzeptes von Subjektivität vor. Cassirer stützt sich auf beide Strömungen, wenn er den Zusammenhang von Subjektphilosophie und Funktionsbegriff in Substanzbegriff und Funktionsbegriff analysiert. Hegel hingegen betrachtet er in diesem Kontext mit einer gewissen Vorsicht. Denn Hegels Philosophie will eine Philosophie der Freiheit sein. Und doch hat die Freiheitsidee des metaphysischen Idealismus, wie sie dem Hegelschen System zugrunde liegt, den Befreiungsprozeß nur für das unendliche, nur für das absolute Subjekt, nicht aber für das endliche Subjekt vollzogen. Das letztere bleibt nach wie vor streng gebunden, denn es ist nichts anderes als ein bloßer Durchgangspunkt des Weltgeschehens […]. Das endliche Subjekt ist nur scheinbar der Täter seiner Taten; was es ist und was es leistet, trägt es vielmehr von der absoluten Idee zu Lehen. Diese ist es, die ihm seine Rolle zuweist und ihm seinen Wirkungskreis bestimmt. (ECW 22, S. 151)

Eine Gesellschaft, deren Selbstverständnis von den Werten der Aufklärung bestimmt ist, muss sich allerdings als eine Gesellschaft von Individuen verstehen. Denn die Freiheit, das Denken, die Erkenntnis und die Rechte sollen universal sein und allgemein gültig, also an keine Gruppen, Interessen oder Stellungen in der Welt geknüpft, sondern an die Ausübung durch die Einzelnen gebunden und ausschließlich auf diese bezogen sein. Das Projekt der Aufklärung kann also nicht funktionieren, wenn die Aktivität des Subjekts ausschließlich in dem allgemeinen Strukturprinzip aufgeht. Eben das ‚Handeln‘ und das ‚Leisten‘ der Subjekte, im Sinne realer, durch sie bewirkter Veränderungen, würde ihre qualitative Individualität ausmachen.

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Cassirer hielt 1932 einen Vortrag für die reformpädagogisch geleitete Stiftung des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht, eines der wichtigeren Fortbildungsinstitute der Weimarer Republik. Er sprach anlässlich einer Feier im Goethejahr 1932, in welchem er auch die Aufsatzsammlung Goethe und die geschichtliche Welt herausgab, über Goethes Idee der Bildung und Erziehung (vgl. ECW 18, S. 127– 147). Im selben Jahr erschien seine Philosophie der Aufklärung. Cassirers publizistische Tätigkeit schloss zu jener Zeit, wie Thomas Meyer betont, den Versuch ein, die politischen Ereignisse aus kulturphilosophischer Sicht zu beeinflussen (vgl. Meyer 2007, S. 201 ff.). Er bemüht sich um die aufs äußerste bedrohte Republik, indem er zu vermitteln sucht, wie das Individuum zu seiner Bildung im Sinne Goethes kommt, also auch zu seiner demokratischen Reife, überhaupt zu seinem Leben in Kultur und Gesellschaft. Nicht das Subjekt als allgemeines Prinzip der Identität könne hier zu gelingender Vermittlung dienen, so argumentiert Cassirer, sondern allein das Individuum als Prinzip der Kontinuität einer lebendigen Form. Denn dieses Individuum sei zwar ein Einzelnes, doch nicht vereinzelt, zwar selbst ein eigenständiges Ganzes, aber doch intensiv verbunden mit einem größeren Ganzen. Diese intensive Verknüpfung kann nicht durch naturalistische oder gar völkische Blutsbande gedacht werden, sondern durch eine symbolische Artikulation, die im und durch den Austausch erst geschaffen wird. Den erwähnten Vortrag beginnt Cassirer mit einer Begründung, warum man überhaupt weiter von Goethe sprechen sollte, nachdem schon so viel über ihn gesprochen worden sei. Goethes Werk ermögliche es nämlich, „dem Fluch der Vereinzelung und Zersplitterung“ zu entgehen. „Denn hier besitzen wir in jeder noch so unscheinbaren Einzelheit das Ganze.“ (ECW 18, S. 127) Die Bildung und Erziehung des Individuums, so referiert Cassirer hier Goethe gewiss auch im reformpädagogischen Sinne seines Publikums, bedeutet letztlich eine Förderung der freien Entwicklung des Individuums. Dieses soll zu sich selbst kommen, es selbst werden, es soll also nicht nur Fremdes kopieren, sondern Eigenes entwickeln. Das sei aber nur möglich im Austausch mit dem Ganzen, wobei Cassirer mit Goethe den Austausch des Individuums mit seiner Kultur in ähnlicher Weise begreift wie den des Organismus mit seiner Natur. Die Lebendigkeit, die beide auszeichnet, markiert Cassirer hier in der Betonung von Goethes Selbstverständnis als ‚Weltkind‘ und als ‚Liebhaber‘, der also durch die Welt selbst geboren und gebildet wird sowie sich ihr zwar mit Erkenntnisinteresse, doch stets in einer persönlichen, individuellen und auch natürlichen Beziehung nähert, ohne diese jemals gegen eine vollständige Systematisierung eintauschen zu wollen. Geben wir die Identifikation von Vernunft, Herrschaft und Notwendigkeit auf, so können wir die bestehenden Strukturen der Unterdrückung als relative, nicht absolute Zwangsmechanismen denken, die einer kulturellen Dynamik entstammen und damit veränderbar sind. Kultur und Individuum stehen in einer ‚elementaren Wechselwirkung‘, der Kategorie des Medialen, die in Cassirers Philosophie die prozessuale Basis liefert für jeden Vorgang der Subjektivierung und der Objektivierung. Diese beiden Prozesse sind immer medial vermittelt. Im Sinne einer Kulturphilosophie sind sie

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vermittelt durch das gemeinsame Leben im kulturellen Kontext, durch soziale und kulturelle Praxen, Bereiche, Medien und Werke. Dabei geht es nie um das Werk selbst, sondern immer um das „andere Subjekt, das dieses Werk empfängt, um es in sein eigenes Leben einzubeziehen“ (ECW 24, S. 468), wobei es nicht darum geht, dass ein „fertige[r] Gehalt“ sich „überträgt“, sondern dass „sich an der Tätigkeit des einen die des anderen entzündet“ (ECW 24, S. 469). „Der Lebensprozeß der Kultur besteht eben darin, daß sie in der Schaffung derartiger Vermittlungen und Übergänge unerschöpflich ist.“ (ECW 24, S. 469) Cassirer sieht Individualität, verstanden als eine Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit, als eine wichtige Bedingung für die Entwicklung der Urteilskraft als Fähigkeit. Diese Urteilskraft ist mit Kant nicht als ein Vermögen des Subjekts oder eine Vernunftfähigkeit anzusehen, sondern hat einen dynamischen Schematismus, der unabgeschlossen ist. Individualität wäre in diesem Sinne die komplexere Subjektivität, die sich in diesem dynamischen Schematismus verändern kann, die also mehr ist als ein reines Prinzip der Apperzeption. Die aristotelische energeia wird wieder neu aufgenommen, nicht mehr als instantaner Akt, der dem auffassenden Subjekt angehört und für die Kohärenz der logischen Struktur und die Identität der Person sorgt, sondern darüber hinaus als ‚Energien des Geistes‘. Das heißt: als wirkende Kräfte, die Teil dynamischer Prozesse sind, ohne diese in ihrem Ausgang zu determinieren. Mit einem solchen Verständnis des Geistes befinden wir uns wieder in einem Prozess der Formung, der eher durch Dynamik als durch Dialektik gestaltet wird. Jener Akt der „Apperzeption“, in dem wir unser Ich zuerst finden, erschließt uns zugleich eine neue Form der Gewißheit […] und einen neuen Inbegriff von Erkenntnismitteln, kraft deren wir fortschreitend die Welt des Wirklichen als einen Organismus der Vernunft entdecken und umfassen. (ECW 7, S. 51)

„Form“, schreibt Krois, „means ‚continuity in development‘, so that individuality and generality are no longer opposites“ (Krois 2012, S. 95). Er beschreibt hier Cassirers Blick auf Leibniz’ Philosophie, weist aber auch darauf hin, dass er dabei einen wesentlichen Zug von Cassirers eigenem Denken herausstellt. Im Gegensatz zu Adorno, der das qualitativ Individuelle zwar gern erhalten würde, sich aber durch die Allgemeinheit des Begriffs genötigt sieht, es aufzugeben, geht für Cassirer in Leibniz’ Philosophie dieses qualitativ Individuelle zum ersten Mal (und daher sieht er in ihm den Beginn des deutschen Idealismus) eine reflektierte Einheit mit dem Allgemeinen ein. Diese Einheit ist die des schöpferischen Gestaltens. „Es ist dies eine Einheit, die für uns nur in der Verschiedenheit ihrer Wirkungen bzw. Werke faßbar ist, und damit eine Einheit, die sich aller theoretischen Systematisierung entzieht.“ (Schwemmer 1997, S. 41)

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5.3 Die Freiheit der Individuen Form ist also für Cassirer niemals reine Form, so dass weder Subjektivität reine Setzung noch Herrschaft reine Funktion werden kann. Form ist lebendig, dynamisch, ist „innere Form“ im Sinne Humboldts, was bedeutet, dass ein Schema wie etwa die Sprache „seine eigentliche Aktualität nur in der Mannigfaltigkeit der wechselnden und sich stets erneuernden Akte der Sprachbildung [hat]“ (ECN 1, S. 15). Das Prinzip der individuellen Handlungsfähigkeit wäre also mit einer solchen Subjektphilosophie etabliert; der praktischen Umsetzung sieht Cassirer allerdings auch mit Skepsis entgegen. Denn auch wenn die „eigentlich großen, [die] wahrhaft produktiven Individuen“ das „Suchen und Schaffen“ leisten können, so sind doch die Einzelnen in erster Linie ihren kulturellen Medien ausgesetzt, die ihre Handlungsfähigkeit begrenzen, indem sie ihre Wahrnehmung und Deutung prägen und bestimmen (ECW 22, S. 166). Alle unsere geistigen und seelischen Fähigkeiten sind schon diversen Gestaltungsund Entwicklungsprozessen unterworfen, die zwar eine relative Allgemeinheit von Sinn und Bedeutung zulassen, doch diese in der übergeordneten Kontinuität des Individuums immer wieder transformieren. Dennoch vollendet sich „[d]er Begriff des Selbstbewußtseins […] im Begriff der sittlichen Persönlichkeit“ (ECW 7, S. 51). In der Glosse über Persönlichkeit, einem kurzen Text in Kulturkritik und Gesellschaft II (Adorno 1977a), beklagt Adorno bitter, dass gerade der Begriff der Persönlichkeit so heruntergekommen sei, dass man ihn kaum noch gebrauchen könne. Die Individualität, die bei Humboldt oder Goethe noch darin gelegen hätte, sei verloren, denn „[i]hnen allen kommt das Subjekt zu sich selbst nicht durch die narzißtisch auf es zurückbezogene Pflege seines Fürsichseins, sondern durch Entäußerung, durch Hingabe an das, was es nicht selbst ist“. Und er zitiert Humboldt: „sucht er, soviel Welt als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden“ (Adorno 1977a, S. 643). Doch meint Adorno, gerade der bürgerliche Kult des Individuums habe dessen Widerständigkeit zerstört: Das Kriterium von Persönlichkeit ist im allgemeinen Gewalt und Macht; Herrschaft über Menschen […] Stärke als Fähigkeit, andere sich gefügig zu machen, […] Im Ideal der Persönlichkeit verhimmelte die Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts ihr eigenes falsches Prinzip: richtiger Mensch sei, wer es ihr gleichtut, in sich organisiert nach dem Gesetz, das die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. (Adorno 1977a, S. 641)

Wieder ist es hier die Herrschaft als allgemeines Prinzip, die für Adorno die ‚Stärke‘ der Individuen, verehrt in einem durchaus fragwürdigen Kult ‚großer Persönlichkeiten‘, darstellt. Darüber hinaus könne man ohnehin niemandem mehr zumuten, eine Persönlichkeit zu werden: „ein derartiges Verlangen war einer Putzfrau gegenüber stets schon unverschämt“ (Adorno 1977a, S. 642). Gerade an diesem Satz lässt sich ein zentrales (Selbst‐)Missverständnis ausmachen, das mit der Einschätzung des Individuums zu tun hat. Ein derartiges Verlangen, nämlich dass sie eine Persönlichkeit werde, sei der Putzfrau gegenüber unverschämt. Warum? Gemeint ist natürlich, dass ein arbeitender Mensch ohne Zugang zu den

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entsprechenden Ressourcen kein universales Bildungsideal erreichen kann. Doch dieser Satz, der die Rechte der Putzfrauen auf ihre Unbildung verteidigen soll, klingt in Wahrheit verachtungsvoll. Individualität setzt keine gehobene Bildung voraus. Cassirer bezieht Humboldts Bildungsideal, also den schöpferischen Beitrag zu symbolischen Formen, auf alle Ebenen des menschlichen Daseins. Der Mensch, jeder Mensch, bewegt sich individuell in diversen symbolischen Bereichen. Die reale Diskriminierung und Beschränkung, die Adornos Putzfrau erfährt, lässt sich nicht einfach auf die allgemeine Misere der Gesellschaft oder des Herrschaftsprinzips der Vernunft zurückführen. Ebenso wie ihre Stärke und ihre Persönlichkeit in je eigenen symbolischen Artikulationen hervortreten, werden auch diese Diskriminierungen und Beschränkungen jeweils in symbolischen Artikulationen erfahren. Auch darum brauchen wir Cassirers Begriff von Individualität: um diese symbolischen Artikulationen reflektieren und beeinflussen zu können. Wie die Freiheit der Individuen nun zu realisieren sei, dazu hat Cassirer keine Hilfestellung gegeben. Seine Bedeutung für diese Frage liegt darin, dass es möglich ist, sie zu denken. Darüber hinaus gibt es noch einige Hinweise, die eine behutsam skizzierte Möglichkeit zum politischen Philosophieren in Cassirers Werk betreffen. In seinem Text Das Pathos der Vernunft. Cassirers Philosophie zwischen Demokratie und politischem Mythos arbeitet Pellegrino Favuzzi (2016) die Konstellation von Mythos, Vernunft und Emotionalität heraus, in der Cassirer sich um die Weimarer Republik bemüht bzw. nachträglich die Diagnose ihrer Zerstörung stellt. Dabei betont er, dass Cassirer zwar eine vernunftgeleitete Politik im Sinne eines weltbürgerlichen Gemeinsinns fordert, diese Politik jedoch nur auf einer Basis der gemeinsamen Emotionalität möglich sieht, eines Gemeinsinns also im wörtlichen Sinn. In The Myth of the State gibt Cassirer zudem zwei Beispiele für Emotionen, die der Vernunft näher sind als dem Mythos, die also mit einer gezielten Selbsterziehung und sittlichen Entwicklung zu tun haben: Stärke, fortitude, und Großmut, generosity (vgl. Favuzzi 2016, S. 203 ff.). Beide Begriffe stammen von Spinoza, der, wie Cassirer betont, trotz Rationalismus nicht der Meinung ist, man könne jemals eine emotionale Tendenz durch ein rein rationales Argument umwenden. Wir können also sagen, dass es für Cassirer nicht nur die Urteilskraft ist, die erst das Individuum entwickeln kann, sondern dass es auch Emotionen oder, genauer, emotionale Dispositionen gibt, die nur im Rahmen einer individuellen Kontinuität der Form entfaltet werden können. Cassirers fortitude bedeutet, mit Kant, den Mut zum eigenen Leben und eigenen Standpunkt: den Mut also zur Individualität selbst. Dieses Eigene aber findet das Individuum erst, indem es sich etwas zu eigen macht, und zwar nicht in der Aneignung, die Unterwerfung bedeutet, sondern in einem Kontext der Interpretation. Ein solches Aneignen wäre ein symbolisches und bedarf dazu eines gewissen Grades an Allgemeinheit, relativ zu einer symbolischen Sphäre oder Gruppe. Dazu braucht das Individuum eine Gemeinschaft, die sich über die Emotionalität des Gemeinschaftsgefühls entwickelt. Die Großmut (generosity) schließt die Entwicklung

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von Empathie ein, das Teilen von Besitz und Kommunikation und ein Verständnis von Menschenwürde. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse zeigen, dass Vielfalt und nicht Einheit des Systems eine der Haupteigenschaften kapitalistischer Verwertungszusammenhänge ist. Die Logik symbolischer Formung ist notwendig, um die Vielfalt dieser Zusammenhänge zu denken und zu verstehen, so dass im Sinne der Kritischen Theorie auch die Macht- und Ausbeutungsverhältnisse sichtbar gemacht werden können. Den Mythos als eigenes Gestaltungsprinzip zu verstehen, das überdies technisch konstruiert und (re‐)produziert werden kann, ist eine Analyse Cassirers, die sich nicht nur auf politische Propaganda anwenden lässt, sondern ebenso auf alle Arten technischer Medien, auf Produktwerbung, auf alle kulturellen Strategien, die Identitäten stiften. Wie frei das Individuum in seinen jeweiligen Kontexten wirklich ist, bleibt fraglich. Doch gerade die Art der Unterdrückung, Beschneidung und Zurichtung, die Individuen erfahren, lässt sich mit dem Begriff des Individuums in Cassirers Sinne weit besser reflektieren als mit einem als universal imaginierten Unterdrückungszusammenhang, der es kaum zulässt, verschiedene Faktoren und Perspektiven realer Unterdrückung in den Blick zu nehmen.

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Martina Sauer

Ästhetik versus Kunstgeschichte? Ernst Cassirer als Vermittler in einer bis heute offenen Kontroverse zur Relevanz der Kunst für das Leben Abstract: Aesthetics versus Art History? Ernst Cassirer as Mediator in an ongoing Controversy on the Relevance of Art for Life. Against the background of Ernst Cassirer’s cultural philosophy, art studies are to be classified as cultural studies. Central to this is Cassirer’s philosophy as the basis for answering a question that has been posed by the methods of formal aesthetics and iconology since the 19th century but is still unanswered today, namely the question of the relevance of the arts for life. In this way, aesthetics/Kunstwissenschaft and art history gain a new meaning as cultural science beyond their achievements in the humanities and in epistemology. Keywords: aesthetics, art history, cultural studies, iconology, formal aesthetics, life, Ernst Cassirer

Einleitung Ausgerechnet den Philosophen und Kulturanthropologen Ernst Cassirer als einen Vermittler zwischen Ästhetik und Kunstgeschichte vorzustellen, wie es mit diesem Beitrag erfolgen soll, erscheint wohl zu Recht bemerkenswert, wenn nicht gar fragwürdig. Denn obwohl Cassirer spätestens seit seinen Hamburger Jahren 1919 – 33 über den Austausch u. a. mit Aby M. Warburg, Fritz Saxl, Erwin Panofsky und Edgar Wind mit den aktuellen Fragestellungen in der Kunstgeschichte vertraut war, realisierte Cassirer bekanntermaßen dennoch nicht seinen als vierten Band in der Reihe der Philosophie der symbolischen Formen geplante Schrift zur Kunst. Versuche sich Cassirers Ansatz in diesem Feld anzunähern, erweisen sich bis heute als schwierig (vgl. hierzu den Forschungstand zusammenfassend insb. Lauschke 2007). An ausdrücklicher Brisanz gewinnen die verschiedenen Hinweise und Ausarbeitungen Cassirers dazu jedoch aus kunsthistorischer Perspektive. Von dort aus, also aus meiner eigenen Position heraus, erscheinen die Aussagen Cassirers sehr viel klarer und eindeutiger, denn sie treffen auf offene Fragestellungen innerhalb des Fachs, die die Relevanz von formalästhetischen im Gegensatz zu historischen Herangehensweisen an die Kunst betreffen (vgl. hierzu u. a. Sauer 2008; 2012; 2014; 2015a; 2016).¹ Einen Widerhall findet  Weiterführend gehören in diesen Zusammenhang auch die Beiträge einerseits für den Glossar für Bildphilosophie zum Stichwort Formale Ästhetik (2018) und anderseits zum Stichwort Spekulative Ästhetik versus Ästhetik als Formwissenschaft (1830 – 1870) für den Grundriss der Geschichte der Philosophie, Bd. 1/1– 3, Die Philosophie des 19. Jahrhunderts: Deutschland, Hrsg. Gerald Hartung, Schwabe: Basel (2018). https://doi.org/10.1515/9783110549478-013

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dieser Gegensatz bis heute in der Ausdifferenzierung des Fachs in eher kunstgeschichtliche oder kunstwissenschaftliche Fachbereiche. Wobei Cassirer selbst an diesem Prozess, so scheint es zumindest, keinen unerheblichen Anteil hatte, denn gemeinsam mit Aby M. Warburg gilt er als einer der Begründer der sogenannten Ikonologie, auf der Erwin Panofsky 1932 aufbauend ein methodisches Gerüst vorstellte, das für die Kunstgeschichte bis heute grundlegend ist (vgl. Panofsky 1984 [1969/1932]; ferner 1984 [1955/1939]). Dass für Cassirers Grundverständnis historischer Prozesse zudem die Voraussetzungen wie sie die Ästhetik als Formwissenschaften erarbeiteten wesentlich wurden, gilt es mit dem vorliegenden Beitrag deutlich zu machen. Denn in der Verbindung beider Aspekte, historischer und formalästhetischer, liegt, so die hier verfolgte These, das Vermittlungspotential von Cassirers Ansatz. Ihre Zusammenführung wirkt sich entsprechend in beide Richtungen aus. Neben dem historischen und ästhetischen eröffnet sich über die Vermittlung Cassirers als missing link das kommunikative Potential von Bildern. Die Frage nach der Relevanz der Kunst für das Leben stellt sich damit neu. Vor dem Hintergrund der weitreichenden Konsequenzen erscheint es mir für deren Herleitung wesentlich, zunächst zurückzublicken, denn rückblickend betrachtet ist es – wie es hier als Leitgedanke verfolgt und verdeutlicht werden soll – der Geschichtsbegriff der Kunstgeschichte, dessen Relevanz bereits im 19. Jahrhundert zur Diskussion stand, der schließlich nach dessen Ausdifferenzierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert durch Panofsky zu Kontroversen im Hinblick auf das ästhetische Verständnis von Werken der Kunst führte, die bis heute das Fach Kunstgeschichte bzw. das der Kunstwissenschaft prägen. Im ersten Abschnitt des Beitrags gilt es von daher die Ursprünge der Kontroverse, wie sie das aufkommende Geschichtsverständnis der sogenannten spekulativen Ästhetik, die für die Kunstgeschichte grundlegend wurde, näher in den Blick zu nehmen. (1.) Deren Selbstverständnis wurde im Wesentlichen durch die empirisch-logischen und damit ahistorisch argumentierenden Forschungen der Ästhetik als Formwissenschaften bzw. der sogenannten formalen Ästhetik infrage gestellt. Wobei die Grundzüge eines eigenen Geschichtsverständnisses innerhalb der formalen Ästhetik erst im 20. Jahrhundert entwickelt wurden. Sie sollen nachfolgend, im zweiten Teil näher vorgestellt werden. (2.) Im Anschluss an die spekulative Ästhetik bzw. die Kunstgeschichte, wie sie in Hamburg vertreten wurde, gilt es im dritten und letzten Teil schließlich den Beitrag Cassirers zur Frage nach dem Sinn der Kunst für das Leben und damit deren mögliche geschichtliche Bedeutung vorzustellen. Dafür gilt es herauszuarbeiten, inwiefern darin formwissenschaftliche Aspekte zur Geltung kommen, sodass über die Verbindung beider Aspekte das kommunikative Potential der Bilder deutlich werden kann. (3.).

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1 Zum Auslöser der Kontroverse im 19. Jahrhundert: Spekulative Ästhetik versus Ästhetik als Formwissenschaft Ein wichtiger Ausgangspunkt für die Kontroverse zwischen Ästhetik und Kunstgeschichte bildete im Anschluss an die Rezeption mittelalterlicher, neuzeitlicher und damit auch antiker Positionen im 19. Jahrhundert die Frage nach der Stellung und Funktion des Schönen und damit der Ästhetik. Grundlegend für die Auseinandersetzung wurde schließlich Kant, der dem Schönen einen hohen Stellenwert beimaß, indem er die für ihr Erfassen notwendige, ästhetisch reflektierte Urteilskraft in Analogie zum Sittlich Guten sah. Das Schöne gewann damit einen außerordentlichen Stellenwert, da es über das Sittlich-Gute in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gottesbild gebracht werden konnte (vgl. Kant 1991 [1790], § 59, S. 308 – 310, und 1989 [1788], Einleitung bis § 8 inkl. Anm. I und II, S. 27– 71). Aus dieser unmittelbaren Nähe zu göttlichen Bestimmungen wird verständlich, warum dem Schönen als höchster Wert bzw. der Ästhetik als dessen wissenschaftlicher Erkenntnis in den Diskussionen und philosophischen Entwürfen des 19. Jahrhunderts eine außerordentliche Bedeutung zukam. Die Grundlagen der spekulativen Ästhetik, wie sie sehr prominent von Friedrich Theodor Vischer (1846; 1866) vertreten wurde, beruhen darauf. So betonte Vischer in der Nachfolge Hegels in den Kritischen Berichten 5 von 1866 ausdrücklich, dass die Grundlage der Ästhetik die Anschauung sei. Von der bloßen Wahrnehmung unterscheidet sie sich dadurch, dass sie sich in einem ästhetischen Wohlgefallen äußere, da das Angeschaute im Einklang mit der absoluten Idee stehe. Nach seinem Verständnis ist die ästhetische Anschauung ein Act, woran das ganze Seelen- und Geistesleben des Menschen so Theil nimmt, daß die Sinnlichkeit – denn dieser gehört doch die Anschauung zunächst an – in eine Bedeutung tritt, die ihr bei keiner anderen Art ihres Verhaltens zukommt. Zwar wäre der Mensch nicht Mensch, wenn nicht jede receptive und active Function seiner Sinnlichkeit mit geistigen Thätigkeiten sich verknüpfte, und die Anschauung überhaupt hat durch die tiefere Theilnahme der Innerlichkeit an der äußeren Auffassung den so eben genannten Vorrang vor der Wahrnehmung; im ästhetischen Gebiete aber tritt eine Verschmelzung des ganzen und vollen geistigen Lebens mit der Sinnlichkeit ein; sie ist noch Sinnlichkeit und sie ist keine mehr, hier fungirt die Sinnlichkeit wie fühlende Seele, Leidenschaft, Wille, Gedanke, der sehende, hörende Nerv empfindet nicht nur, fühlt wie Gemüth, denkt wie Verstand und Vernunft. (Vischer 1866, S. 24 f.)

Insofern handle es sich bei der ästhetischen Anschauung, wie sie Vischer versteht, sowohl um einen sinnlichen als auch geistig inhaltsvollen Act. Das Empfinden des Wohlgefallens ist dafür ausschlaggebend. Dieses beschreibt er als einen ganz besonderen Zustand,

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ein solcher nämlich, das einen Charakter der Unendlichkeit trägt, der unbedingten, der absoluten, der idealen Luft. Dies kann keinen anderen Grund haben, als den, daß nicht nur dieser oder jener Inhalt, sondern der höchste Inhalt, die Harmonie des Weltalls in die Erscheinung hinein-, aus der der Erscheinung herausgeschaut wird. Die Coincidenz der Gegensätze ist also eine volle, nicht nur eine Seite des Geistes, der Geist in seiner höchsten Bedeutung, der wahrhaft das Allgemeine Erfassende Geist tritt über in das entgegengesetzte Extrem, in die Organe, durch die wir sonst nur mit dem Einzelnen uns vermitteln, Einzelnes erfassen, Einzelnes genießen. (Vischer 1866, S. 26)

Die Wahrheit der Einheit von Sinnlichkeit und Geist gedanklich zu ergreifen, sei zwingend, so Vischer, obwohl es keinen Erfahrungsbeweis dafür gebe und obwohl die Wahrheit nie ein Einzelnes werden kann. Doch der denkende Geist ‚muss sie denken und behaupten, weil er Einheit denken und behaupten muss‘. Punktuell wirklich und damit ergriffen werde sie für uns in der ästhetischen Erfahrung. Durch ihre zeitliche und örtliche Begrenzung könne sie jedoch ‚nur‘ als Schein verstanden werden. Insofern zeichne sich der Schein dadurch aus, dass […] auf einem einzelnen Punkte des Raums und der Zeit, in einem begrenzten Einzelnen wirklich sei, was nur im unendlichen Weltverlaufe, in der ewigen Wechselergänzung und Wechselarbeit aller Wesen wirklich ist, dieser Schein als ob zum Gegenstand der Erfahrung werde, was nie Gegenstand der Erfahrung sein kann. (Vischer 1866, S. 27)

Zugleich sei er aber „nicht leerer, sondern inhaltsvoller Schein oder Erscheinung: ein Schein, durch den die Wahrheit leuchtet, dass die Welt als Ganzes und Ewiges vollkommen ist.“ (Vischer 1866, S. 27, vgl. hierzu ergänzend 1846, § 13) Mit scharfer Kritik wandte sich in der Folge der Mathematiker und Philosoph Robert Zimmermann, der im Anschluss an Herbart argumentierte, gegen Vischers Ansatz. In seinem viel beachteten Artikel in der Beilage der wöchentlich erscheinenden Zeitschrift Die Wiener Zeitung über die Speculative Aesthetik und ihre Kritik vom Montag, den 2. Februar 1854 arbeitete er heraus, dass die spekulative Ästhetik, gerade weil sie sich auf das höhere Eine beruft, keine konkrete Antwort auf die Frage zu geben vermag, warum gerade dieses eine Werk, das von einem bestimmten Künstler in einem bestimmten Zeitraum und an einem konkreten Ort geschaffen wurde, als schön angesehen und beurteilt werden kann, ein anderes hingegen nicht. Hierzu fehlen ihr die notwendigen Kriterien. Denn mit der konkreten Untersuchung von Zeit und Ort der Werke der Kunst werden zwar deren jeweiliger historischer Rang und geschichtliche Bedeutung herausgearbeitet, die historische Analyse erlaube jedoch nicht eine Aussage darüber zu machen, was denn das Schöne bzw. die ästhetische Erfahrung als solche gerade jetzt und hier ausmache. Mit unmissverständlicher Klarheit erkannte Zimmermann, wohin sich die Ästhetik unter diesen Prämissen entwickeln würde, nämlich zu dem, was sie heute auch ist, zum Fach Kunstgeschichte:

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Für die spekulative Philosophie ist die Aesthetik, wie jede andere Wissenschaft nichts als der dialektische, d.i. genetische Prozeß, der ihr eigenen Idee, der Idee des Schönen. Die Geschichte des Schönen ist daher die eigentliche Wissenschaft davon; die Ästhetik verwandelt sich in Kunstgeschichte. Der historisch-spekulativen Auffassung zufolge repräsentiert jede einzelne Form, die die Kunstproduktion im Lauf der Ereignisse angenommen hat, eine Stufe der Idee in ihrer absoluten Gestaltung. Als Solche hat sie ihr Recht, aufs Ganze bezogen Unrecht. Jeder einzelne Künstler erscheint nur als Träger der Idee, hat als solcher sein Recht, und aufs Ganze bezogen Unrecht. Ebenso hat jedes Kunstwerk als jeweilige Form der absoluten Idee als Solche ihr Recht, auf die Erscheinung der ganzen Idee bezogen aber Unrecht. Die Folge ist: jede Subjektivität hat als Solche ihr Recht; Jeder ist sein eigenes Gesetz und sein eigener Richter und zugleich Keiner Gesetz und Keiner Richter, das ästhetische Gesetz ist zur Gesetzlosigkeit, die Kritik zur Anarchie geworden. (Zimmermann 1854, S. 39, Spalte 2/3)

Und tatsächlich spielen Fragen zur Ästhetik in der kunsthistorischen Praxis bis heute nur am Rande eine Rolle. Mitverantwortlich lässt sich dafür, weiter zurückblickend, erneut Kant machen, der mit der Ausrichtung des ästhetisch reflektierten Urteils an höheren Ideen zugleich auf den Geschmack verwies, in dem diese sich äußern. Damit hat bereits Kant der ästhetischen Erfahrung den Boden für eine objektive Beurteilung entzogen. Denn tatsächlich lässt sich dasjenige, was schön ist, weder aus der nicht weiter präzisierbaren Idee des Schönen noch aus dem allgemeinen Geschmack einer Epoche oder Einzelner ableiten, sondern letztlich nur rückblickend aus dem geschichtlichen Werden des Schönen aufzeigen. Wobei die Auswahl dessen, was dazu gehört, wie bereits von Zimmermann herausgestellt, nicht objektiv geklärt werden kann. Heute wird die Frage in der Regel – erneut indirekt mit Bezug auf Kant – mit Verweis auf das (historische) Genie und ergänzend die Kennerschaft der Fachvertreter beantwortet. Die Etablierung der Ikonologie als Methode der Kunstgeschichte durch Erwin Panofsky seit den 1930er Jahren spiegelt diese Entwicklung wider, indem sie mit sehr viel Gewinn die Bedeutungszusammenhänge und den Kontext von Werken der Kunst herausarbeitet, wobei die Frage nach dem Schönen bzw. der ästhetischen Erfahrung dabei entsprechend mehr oder weniger unberührt bleibt (vgl. Panofsky 1984 [1964/1932]; 1984 [1955/1939]). Mit der Etablierung der historisch-analytischen Methoden grenzt sich das Fach damit bis heute grundlegend von den formanalytischen Methoden ab, wie sie im Anschluss an die erste Kritik an Vischer 1854 Robert Zimmermann in seiner Ästhetik ausarbeitete (vgl. Zimmermann 1862). Wie von Zimmermann bereits als Defizit benannt, ging es ihm in seinem Ansatz, um eine analytische Aufarbeitung dessen, was das Schöne bzw. die ästhetische Erfahrung ausmacht, in der sich das Schöne und damit die Harmonie äußert (vgl. Zimmermann 1862, S. 316, vgl. historisch begründend S. 347 f.). Dafür gelte es, grundlegend die ästhetischen Regeln zu analysieren. Sie seien der alleinige Maßstab, nach dem die allgemeine Kunstwissenschaft bzw. die Ästhetik als ‚exacte‘, empirische Wissenschaft bzw. als reine Formwissenschaft – im Gegensatz bzw. anstelle der Kunstgeschichte – etabliert werden könne (vgl. Zimmermann 1862, S. 309, 355, Anm. 1 und bereits zuvor 1854, S. 39, Spalte 2/3). Denn die ästhetischen Regeln beruhen, wie Zimmermann konkret mit Bezug auf Herbart betont, darauf,

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„dass alles Gefallende oder Missfallende nur Formen seien und dass die Gründe des ersteren nur in der Beschaffenheit der letzteren gesucht werden können.“ (Zimmermann 1862, S. 346) Der Begriff der Form sei nach Zimmermann insofern dem mathematischen Begriff der Form ähnlich, da er ein Verhältnis beschreibt, „dass zwischen Gliedern, die auf die verschiedene Weise benannt sind, stattfinden kann“, dass diesem jedoch auch unähnlich sei, da „dass Vorstellen desselben (des Verhältnisses, M.S.) kein dem Gemüth des Betrachters indifferentes bleibt, sondern in einem unwillkürlichen Lust- oder Unlustgefühl seitens desselben seinen unausbleiblichen Effekt hat“ (Zimmermann 1862, S. 346). Insofern liegt im Erleben des harmonischen Verhältnisses der Formen untereinander der eigentliche ästhetische Gehalt. Hierin stimmen die bildnerischen mit den musikalischen Verhältnissen überein, denn ihr Verhältnis wird gleichermaßen von einer Logik bestimmt (vgl. Zimmermann 1862, S. 351). Sie beruht auf einer spezifischen Spannung der Formen, deren Ausdruck das Lust- und Unlustgefühl sei (vgl. Zimmermann 1862, S. 353). So werden etwa Terz und Quinte ebenso wie Violett und Gelb in einem solchen Verhältnis, dass „im Subjekte die Entstehung eines Beifalls“ (Zimmermann 1862, 318) auslöse, beurteilt, während etwa Prime und Sekunde, Grün und Gelb als disharmonisch gelten. Dieser Darstellung der Ästhetik Zimmermanns als von den Spannungen der Formen bestimmte wirft im Gegenzug Vischer vor, sie sei inhaltsleer bzw. reine Form. Form, so Vischer, sei vielmehr das ‚Äußere eines Inneren‘ bzw. dessen Einheit. Eine bloße Form ist für Vischer nicht vorstellbar, „denn Form ist die durch eine qualitative Kraft, ein inwohnendes Dynamisches, auf höherer Stufe Geistiges so oder so gebildete und bewegte Materie; Form ist Ausfluß, daher Ausdruck des Inneren“ (Vischer 1866, S. 85 f., vgl. ergänzend die ‚Streitschrift‘ in der Monatsschrift des wissenschaftlichen Vereins, Zürich 1858). Dem ästhetischen Formalismus fehle insofern der Bezug zum Inhalt und damit zum Leben. So wie Zimmermann zuvor die Entwicklung der spekulativen Ästhetik hin zur Kunstgeschichte kritisch hinterfragte, so brachte Vischer im Gegenzug eine Kritik ein, die bis heute die Formwissenschaft bzw. Kunstwissenschaft im Kern betrifft. Denn verliert sie als Relationenlogik verstanden nicht tatsächlich den Bezug zum Leben, wie es Vischer bereits kritisierte? Umgekehrt lässt sich auch mit Bezug zur spekulativen Ästhetik bzw. zur Kunstgeschichte heute fragen: Hat sie durch die Historisierung der Kunst nicht ebenfalls den Bezug zum Leben verloren? Bemerkenswerterweise lässt sich für diese Entwicklung, wie es im Anschluss an Cassirer deutlich zu machen gilt und wie es zuvor bereits Zimmermann herausstellte, vor allem ihr Absehen von der ursprünglich in Anschlag gebrachten ästhetischen Erfahrung bzw. von dem Erleben als Basis des Schönen ausmachen.

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2 Antworten der Formalen Ästhetik im 20. Jahrhundert Trafen im 19. Jahrhundert, wie zuvor deutlich werden sollte, die unterschiedlichen Ansätze noch unmittelbar aufeinander und entluden sich entsprechend in Zeitschriftenorganen und Streitschriften, lassen sich in der Folge im 20. Jahrhundert beide Stränge als eigenständige Forschungsrichtungen aufzeigen. Wobei die Methoden bis zur Mitte des 20. Jahrhundert zunächst von der formalen Ästhetik dominiert wurden. Wesentlich dafür können die Forschungen von Alois Riegl und nachfolgend von Heinrich Wölfflin angesehen werden. Sie weiteten das Untersuchungsfeld in entscheidender Hinsicht aus, indem sie die Relationenlogik nicht nur innerhalb eines Werkes, sondern im Vergleich zu anderen anwendeten. So vermochte über die Ausdehnung der formwissenschaftlichen Methode der noch von Vischer reklamierte fehlende Bezug zur geschichtlichen Entwicklung der Künste hergestellt und zugleich im Sinne Zimmermanns die Formanalyse als Methode der Kunstwissenschaft etabliert werden. Grundlegend wurden dafür die beiden Schriften Riegls zu Stilfragen von 1893 und der erste Band über Die spätrömische Kunstindustrie nach den Funden in ÖsterreichUngarn von 1901. Deren Grundgedanken wurden von Wölfflin durch die Veröffentlichung Kunsthistorische Grundbegriffe 1915 entscheidend vertieft. Wesentlich für beide Forscher wird, dass die von formalen Elementen geprägten Bildstrukturen, deren relationales Gefüge Zimmermann als grundlegend für die ästhetische Erfahrung herausstellte, nicht als Träger höherer, absoluter Ideen zu verstehen sind, sondern den Anschauungsformen des Menschen entsprechen. Demnach ist es weniger ein höheres Geistiges als vielmehr das Kunstwollen einer Epoche, wie es Riegl als geflügeltes Wort einführte, das die Gestaltungsweisen bestimme. Ersichtlich wurde Riegl dieser Zusammenhang durch die vergleichende Untersuchung der ästhetischen Regeln in unterschiedlichen Epochen. Gemäß dem Kunstwollen, seien die ästhetischen Regeln von unterschiedlichen Präferenzen bestimmt, entweder von haptischen und damit nahsichtigen oder optischen und damit fernsichtigen Wahrnehmungsweisen von Welt. Wenn dem zugestimmt werden kann, so schlussfolgerte daran anschließend Heinrich Wölfflin, dann muss zwischen den Wahrnehmungsweisen und Darstellungsweisen eine Analogie bestehen. Dieser Annahme zufolge lasse die „Oberfläche des Bildes“, wie es Lambert Wiesing in seiner Geschichte der formalen Ästhetik herausstellt, „Strukturzusammenhänge sichtbar werden, die auch als Prinzipien des Sehens aufgefasst werde können“ (Wiesing 2008 [1997], S. 18). Am Beispiel der Darstellungsweisen in der Renaissance im Kontrast zum Barock arbeitete Wölfflin die jeweiligen Charakteristika heraus. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie zunächst von linearen (Renaissance), dann von malerischen Gestaltungsweisen (Barock) dominiert werden. Nach dem Krieg griff insbesondere Max Imdahl diesen Grundgedanken der formalen Ästhetik wieder auf.Vor dem Hintergrund der Annahme, dass die Anschauungsweisen des Menschen eher von gegenständlichen (haptischen) oder dynamischen (maleri-

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schen) Aspekten angesprochen werden, unterschied Imdahl in seinem als Ikonik (Imdahl 1979) in die Kunstwissenschaft eingegangenen Ansatz entsprechend zwischen einem sehenden und wiedererkennenden Sehen (vgl. Imdahl 1974; 1963). Die geschichtliche Entwicklung der Stile, so verdeutlicht es Imdahl, entspricht diesen Interessen (vgl. Imdahl 1974, S. 325; 1996 [1987], S. 14– 18). Diesem Ansatz folgte zuletzt Gottfried Boehm nach, wenn er im Anschluss an Imdahl von Wahrnehmungsprozessen spricht, die von Simultaneität (dynamischen Prozessen) und Sukzession (gegenstandsorientierten Prozessen) geprägt seien (vgl. hierzu ergänzend auch die Herausgabe der Schriften Imdahls durch Boehm 1996). Dabei ordnet er ihnen jedoch keine eindeutigen Darstellungsweisen, seien es lineare oder malerische, zu (vgl. Boehm 1985 [1978], S. 458; 1980, S. 122– 130). Insofern schließt sich Boehm auch nicht dem historischen Verständnis an, wie es Imdahl aufzeigt. Nach der geschichtlichen Auffassung, die hier innerhalb dieser Linie der formalen Ästhetik erkennbar wird, ist der Wandel der Formen (Darstellungsweisen) durch unterschiedliche Präferenzen geprägt. Sie entsprechen je unterschiedlichen Anschauungsweisen. So entspricht die Formenwahl entweder eher einer linearen (haptischen, gegenständlich orientierten) oder einer malerischen (optischen, dynamischen) Weltauffassung. Vor diesem Hintergrund können, formalgeschichtlich betrachtet, die wechselnden Stile als Ausdruck einer sich wandelnden Mentalitätsgeschichte bewertet werden. Doch auch wenn mit diesem Ansatz, wie erkennbar wird, der Bezug zur Geschichte zumindest der Formen hergestellt wird, erschließt sich damit noch nicht der bereits von Vischer angemahnte tiefere Sinn der von ihnen herausgestellten Stilgeschichte. Es ist, wie sich zeigt, diese offene Frage, die nachfolgend für die weitere Forschung innerhalb der formalen Ästhetik leitend wird. Entsprechend fragt sie nach dem Ursprung der einen oder anderen Präferenz in den Darstellungsweisen. Mit ihr rückt die Frage nach dem Sinn bzw. der Auswirkung der ein oder anderen Darstellungsweise auf die Auslegung der Motive in den Vordergrund. Ausgangsbasis dafür ist, dass über die formal organisierte Struktur und der ästhetischen Erfahrung, die sie auslöst, die Wirkung der Motive gesteigert wird. Diese Überlegung veranlasste zu der Schlussfolgerung, dass über die Wirklichkeit, die den Motiven zugrunde liegt, mittels der unterschiedlichen Darstellungsweisen etwas je Neues, zugleich aber auch etwas Wesentliches ausgesagt werde. Insofern werden über die formale Struktur grundsätzlich je keine neuen Welten vorgestellt, sondern jeweils sehr verschiedene und zugleich grundlegende Aspekte bzw. Sichtweisen der einen Welt aufgezeigt. Vor diesem Hintergrund ermöglicht auch die Kunst, Erkenntnisse über die Welt zu erschließen und zwar von Sichtweisen derselben, die sich je nach Epoche und Künstler/in verändern. Auch in diesem Fall lässt sich von einer Mentalitätsgeschichte sprechen, die über die unterschiedlichen Präferenzen der Darstellungsweisen, die jeweilige Deutung von Welt in den Blick nimmt. Doch genau besehen bleibt auch diese Ausrichtung die Antwort auf die Frage nach der Relevanz des je Neuen für das Leben schuldig.

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Als einer der ersten, bei dem diese erkenntnistheoretisch orientierte Tendenz zum Ende des 19. Jahrhunderts erkennbar wird, ist Konrad Fiedler. Denn Fiedler zufolge sei es gerade den Künstler/innen möglich in einer ursprünglicheren Weise, in einer „Ausdrucksbeziehung zur Natur“ (Fiedler 1991 [1887], S. 173, vgl. zur Schriftensammlung Boehm 1991 [1971]) diese zu erfassen und in ein Werk umzusetzen. Methodisch findet dieser Ansatz in der Strukturanalyse, wie sie von der Sedlmayr-Schule Anfang des 20. Jahrhunderts begründet wurde, ihren Widerhall. Statt dem Subjekt bzw. dessen Wahrnehmungsweisen, ist es das Werk bzw. das Objekt und damit dasjenige, was jeweils von der Welt dargestellt wird, dessen formale Struktur im Hinblick auf ihren Aussagewert hin untersucht wird. Sehr klar hat diesen Zusammenhang ein Vertreter der Schule, Guido Kaschnitz-Weinberg, in Abgrenzung zu Riegl formuliert. So stehe in der Strukturanalyse die […] stete Verbundenheit mit dem zu erforschenden Objekt, das beständige Ausgehen vom gegebenen Kunstwerk selbst und nicht vom Subjekt oder von dessen Verhältnis zum Objekt wie bisher und insofern der innere Wandel der Struktur von Körper- und Raumdarstellung im Hinblick auf das Wesen im Vordergrund. (Kaschnitz-Weinberg 1963 [1929], S. 34)

Probleme eröffnen sich unter diesen Prämissen jedoch in dem Moment, wenn die mehr oder weniger normativen Vorstellungen des Analysten vom zu erforschenden Wesen einer Sache mit den Darstellungsweisen der Künstler/innen nicht übereinstimmen. Mit Blick auf die geschichtliche Entwicklung hat sich gezeigt, dass es die Tendenzen der Moderne sind, an denen sich diese Vorstellungen reiben. Als Beispiel können dafür etwa die Irritationen genannt werden, die bereits 1784 die Entwürfe für Gebäude in Kugelform von Etienne-Louis Boullée auslösten. Denn in ihnen stimmt die Form nicht länger mit dem Inhalt bzw. der Vorstellung von dem, was ein Gebäude auszeichnen sollte, überein. Doch von was zeugen diese Entwürfe dann? Doch nur von einem Verfall, wie es der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr 1948 in seiner vielfach aufgelegten Schrift zum Verlust der Mitte, so auch der Titel der Arbeit, herausstellte. Die Entwürfe Boullées werden von Sedlmayr schließlich als Beleg für einen Verfallsprozess aufgeführt, der nicht nur in der Architektur, sondern in allen Gattungen der Kunst der Moderne zu beobachten sei (vgl. Sedlmayr 1985 [1948], S. 10). Eine Neuaufnahme und zugleich Neuausrichtung nicht nur mit Blick auf die Funktion der formalen Strukturen, sondern auch deren inhaltliche Bedeutung erfährt die Formale Ästhetik in Deutschland nach dem Krieg seit den 1960er Jahren. Internationale Bedeutung gewinnen sie im Anschluss an Imdahl durch den Kunstwissenschaftler und Philosophen Gottfried Boehm mit dem Ausruf des iconic turn in den 1990er Jahren und der Etablierung des Forschungszentrums Eikones in Basel seit 2006. Kritik an diesem Ansatz werden in jüngerer Zeit vor allem von den Visual Studies geübt, die sich an der nach wie vor tendenziell essentialistischen Auslegung entzündet (vgl. hierzu u. a. Frank 2008, S. 477– 487; Schade/Wenk 2011, S. 35 – 53; Elkins et al. 2015, S. 81– 108). Als Anlass für diese Kritik lässt sich erneut das der formalen Ästhetik als Bewegung zugrundeliegende Verständnis der Stilgeschichte als Menta-

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litätsgeschichte heranziehen, der Boehm im Kern nachfolgt. Sie konkretisiert sich immer wieder neu in dem unterstellten mangelnden Bezug zum Leben, auf den schon Vischer hinwies. Bei Boehm zeigt sich das darin, dass er davon ausgeht, dass wir mit den Bildern hindurchblicken können auf eine Welt, in der wir uns schon immer bewegen und von der wir schon immer wissen – im Sinn einer „primordialen Welthabe“ (Boehm 2008, S. 21, vgl. hierzu grundlegend Boehm 1985 [1978], S. 454). Demnach wählen die Künstler/innen von der Fülle von Eindrücken, die der Erfahrungsgrund bietet, von der jeweiligen historischen Situation geprägt, sehend immer nur bestimmte Aspekte aus. Der Wandel in den Darstellungsweisen bzw. der Stile lasse sich entsprechend als eine „Geschichte des Sehens“ (Boehm 1985 [1978], S. 466; 1992, S. 54 f., 58 – 61) verstehen. So vermag über die Darstellungsweisen der Künste jeweils etwas Neues, noch nie Gesehenes in die Welt gebracht werden: „In einem ganz bestimmten historischen Moment formuliert, steigt aus einem Grund der Unbestimmtheit ein Sinn auf und stellt sich gerade jetzt und auf diese Weise vor Augen.“ (Boehm 2008, S. 39) Als „gemachte Evidenz“ entspricht dasjenige, was daraus hervorgeht, nicht der Wahrheit, sondern vermag „nur“ als „Ideal der Wahrscheinlichkeit“ verstanden werden (Boehm 2008, S. 25). Sie gibt gemäß den jeweiligen Interessen am Sein – jedoch nicht der Wahrnehmungsweisen wie noch bei Riegl, Wölfflin und Imdahl – Auskunft über das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als grundlegend bzw. wesentlich angesehen wurde.

3 Ästhetik und Kunstgeschichte: Ernst Cassirer als Vermittler bzw. zur Relevanz der Kunst für das Leben Inwiefern gerade Cassirer als Vermittler zwischen einer an der Historie ausgerichteten Kunstgeschichte und einer an der ästhetischen Erfahrung orientierten Formwissenschaft als empirischen Kunstwissenschaft vorgestellt werden kann, hängt mit dem engen Kontakt zusammen, den Cassirer seit seinen Hamburger Jahren zwischen 1919 und 1933 mit der Kunstgeschichte pflegte. Insbesondere der Einfluss und der Austausch mit dem Kunst- und Kulturwissenschaftler Aby M. Warburg kann dafür als zentral angesehen werden. Gerade der Zugang zu dessen im Aufbau befindlichen Bibliothek (K.B.W.), deren Ausrichtung Cassirer bereits bei seinem ersten Besuch 1921 erfasste und in der Folgezeit intensiv nutzte und durch Anschaffungsvorschläge auch bereicherte, kann dafür zunächst als ein wichtiger Impulsgeber verstanden werden. So spiegeln bereits die Sammlungsschwerpunkte der Bibliothek bis heute auf bemerkenswerte Weise Cassirers eigene Forschungsinteressen wider (vgl. Capeillères 2008, S. 77– 86). Die Parallelen zwischen Warburg und Cassirer reichen im Kern jedoch sehr viel weiter bis hin zu gemeinsamen Forschungsfragen, die durch den gegenseitigen Austausch von Schriften und der Planung gemeinsamer Projekte vertieft werden sollten, jedoch durch den frühen Tod Warburgs 1929 nicht realisiert werden

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konnten (vgl. Krois 2008). Doch statt sich konkret mit Problemen der Form oder der geschichtlichen Bedeutung der Werke der Kunst auseinanderzusetzten, wie sie in der Kunstgeschichte und den Formwissenschaften diskutiert wurden, interessierten sich beide zunächst viel mehr für die Frage, wie dem Menschen die Welt überhaupt verständlich wird und inwiefern die Werke des Menschen und damit auch solche der Kunst zur Lösung der Frage beitragen können (vgl. hierzu vertiefend Hartung 2004). So gehen beide grundlegend mit Blick auf diese Frage davon aus, dass dafür unser Empfindungsvermögen zentral sei. In Bildern, so setzte bereits Warburg in seiner Doktorarbeit (1893) an, werde dieser Zusammenhang offensichtlich. Viel später, im Jahr 1923, nach einer Reise in die USA, kam Warburg schließlich in seinem berühmten Aufsatz zum Schlangenritual der Hopi-Indianer zu dem Schluss, dass die leidenschaftlichen Erregungen, von der die Begegnungen des Menschen mit der Welt geprägt seien, abgestuft in drei Schritten zunächst in Ritualen, dann in Bildern und schließlich in abstrakten Zeichen aktiv vom Menschen verarbeitet werden können (vgl. Warburg 1992 [1923] und grundlegend zu Warburgs Ansatz Böhme 1997). Dieser Grundgedanke prägt auch das Denken Cassirers, der ebenfalls davon ausgeht, dass sich kulturelle Prozesse als solche der Entäußerung verstehen lassen, in der sich der Mensch von den ihn betreffenden Empfindungen distanziert. So gelten seine Forschungen in erster Linie der Grundüberlegung, wie er es zusammenfassend im dritten Band zur Philosophie der symbolischen Formen, darlegt, diese Urschichten der Empfindungen aufzudecken (vgl. Cassirer 1964 [1929], S. 1– 49, bes. 18). Doch weder die Sprache, deren Untersuchung Cassirer im ersten Band vornahm (1923), noch das mythischen Denken, dem er den zweiten Band widmete (1924– 25) und noch weniger die begriffliche Erkenntnis, der er sich im dritten Band zuwandte (1929), vermag uns diese Urschichten nach Cassirer zu erschießen (vgl. Cassirer 1964 [1929], S. 21). Hierzu hält er wegweisend als Frage und zugleich Antwort fest: Wenn wir fragen, ob für das Denken irgendeine Möglichkeit besteht, die Schicht des bloß Symbolischen und Signifikativen zu durchstoßen, um hinter ihr die „unmittelbare“, die entschleierte Wirklichkeit zu erfassen – so ergibt sich von selbst, dass dieses Ziel, wenn überhaupt, so keinesfalls auf dem Wege der „äußeren“ Erfahrung erreicht sein wird. […] So müssen wir uns der Führung der „inneren“ Erfahrung, statt der äußeren überlassen, wenn wir die Wirklichkeit selber, frei von allen brechenden Medien, erblicken wollen. Das wahrhaft einfache, das letzte Element aller Wirklichkeit, finden wir niemals in den Dingen; wohl aber muß es in unserm Bewußtsein auffindbar sein. (Cassirer 1964 [1929], S. 27)

Der Ausarbeitung dieser Frage und des Antworthorizonts, den er hier bereits aufzeigt, widmet Cassirer das nachfolgende Kapitel (vgl. Cassirer 1964 [1929], S. 51– 121). Wobei in der Überschrift des zweiten Abschnitts dazu seine Antwort bereits vorformuliert wird: Das Ausdrucksphänomen als Grundmoment des Wahrnehmungsbewusstseins (vgl. Cassirer 1964 [1929], S. 68 – 107). Demnach sei der Zugang zur Welt, wie Cassirer im Folgenden deutlich macht – und hierin wird zudem die Nähe zu Warburg erkennbar – von einer Wahrnehmungsweise durchdrungen, die ganz von Ausdrucks-

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erlebnissen bestimmt werde. In dieser Welt des Ausdrucks gebe es kein eigenes Ichbewusstsein, vielmehr sei der Zugang zur ihr von einem Erleben und Erleiden geprägt: Denn alles Erleben – Ausdruck ist zunächst nichts anderes als ein Erleiden; ist weit mehr ein Ergriffenwerden als ein Ergreifen – und eben diese Rezeptivität steht zu jener Art der „Spontanität“, in der alles Selbstbewußtsein als solches sich gründet, im deutlichen Gegensatz. (Cassirer 1964 [1929], S. 88, kursive Wörter im Original gesperrt)

Bemerkenswert für den Unterschied des Menschen zum Tier zeigt Cassirer im Verlauf der Diskussion dazu auf, dass der Mensch diese Erlebnisse in jedem Moment immer schon auslegt. Das heißt, statt das Erfahrene nur auf sich zu beziehen und allein als Anweisung für ein Verhalten aufzufassen, wie etwa zur Flucht oder zum Angriff, reagiert der Mensch auf das eigene Erleben und bezieht es auf das, woran sich seine Empfindungen entzünden zurück, indem er es in spezifischer Weise deutet. Noch im mythischen Denken verhaftet deutet er dieses andere als ein lebendiges ‚Du‘, im sprachlich-anschaulichen Bewusstsein gibt er diesem anderen eine eigene Gestalt und einen Namen und versteht es insofern als ein ‚Es‘, bevor dieses andere schließlich in einem letzten Schritt unter wissenschaftlichen Vorzeichen in Begriffen und Zeichen von allem Vorausgehenden mehr oder weniger abstrahiert wird. Rückwärts betrachtet bedeutet das: Je weiter wir die Wahrnehmung zurückverfolgen, um so mehr gewinnt in ihr die Form des „Du“ den Vorrang vor der Form des „Es“; um so deutlicher überwiegt ihr reiner Ausdruckscharakter den Sach- und Dingcharakter. Das „Verstehen von Ausdruck“ ist wesentlich früher als das „Wissen von Dingen“. (Cassirer 1964 [1929], S. 73 f.)

Dennoch, so hält es Cassirer für diesen für den Menschen grundlegenden symbolbildenden Prozess fest, bleibt diese ursprüngliche Erfahrungsweise in allen Prozessen der Entäußerung von ihr präsent: Ihre Sicherheit und ihre „Wahrheit“ ist sozusagen eine noch vor-mythische, vor-logische und vorästhetische; bildet sie doch den gemeinsamen Boden, dem alle jene Gestaltungen in irgendeiner Weise entsprossen sind und dem sie verhaftet bleiben. (Cassirer 1964 [1929], S. 95)

Der Mensch, so wird es Cassirer sehr viel später treffend zusammenfassen, reagiert nicht nur auf die Erlebnisse mit der Welt, sondern antworte. Insofern könne er als ein „animal symbolicum“ (Cassirer 2007 [1944], S. 51) aufgefasst werden. Den Sinn, den der Mensch damit in jedem Moment den Erlebnissen der Welt abringt, bringt er insofern ständig selbst hervor. Mit Blick auf diese den Menschen prägenden symbolbildenden Prozesse spricht Cassirer entsprechend von einer Bildkraft und Tatkraft, die den Menschen auszeichne. Über ihr Wechselverhältnis beschreibt Cassirer nochmals auf einer anderen, das zeitliche Bewusstsein betreffenden Ebene, die Konsequenzen aus seinem Ansatz. Für den Fragezusammenhang in diesem Beitrag wesentlich, vermag Cassirer darüber in neuer Weise das geschichtliche Bewusstsein zu beschreiben,

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das sich durch ein Leben „im Sinn“ (Cassirer 2007 [1944], S. 235) auszeichne. So beruht nach Cassirer das geschichtliche Bewusstsein auf einem Ineinander und einer Wechselwirkung von Tatkraft und Bildkraft: „auf der Klarheit und Sicherheit, mit der das Ich imstande ist, ein zukünftiges Sein im Bilde vor sich hinzustellen und alles einzelne Tun auf dieses Bild zu richten.“ (Cassirer 1964 [1929], S. 189 – 221, hier 212, kursive Wörter im Original gesperrt) In diesem Zusammenhang von einem zukünftigen Sein zu sprechen, erscheint sinnvoll, da die Erlebnisse über die Wahrnehmung ihres Ausdrucks hinaus immer schon einen ersten Sinn vermitteln, an dem sich schließlich das Tun des Menschen ausrichtet. Die Wahrnehmung des Ausdrucks von der Welt geht insofern dem Handeln voraus. Letzteres orientiert sich an ersterem. Im Kern lässt sich das Auslegen der Erlebnisse als Ausdruck bereits als ein solches Tun herausstellen. Daher gilt für Cassirer: „das Schauen nährt sich aus dem, wie sich das Wirken aus dem Schauen nährt.“ (Cassirer 1964 [1929], S. 212) Über das Moment des Schauens, in dem sowohl die Hinwendung zur Welt als auch die Wahrnehmung ihres Ausdrucks erlebt und zugleich ausgelegt wird, wird zugleich verständlich, warum Cassirer hier den Bildbegriff einführt. In ihm trifft sich das Schauen als Wahrnehmen des Erlebten mit der Auslegung des Erlebten als lebendige Vorstellung davon. Weiterführend verdeutlicht dieser Zusammenhang schließlich, warum der in solcher Weise geprägte Bildbegriff, wie ihn Cassirer hier entwickelt, so wichtig für den Kunstbegriff werden kann. Wesentlich für die von einem Künstler gestalteten Bilder wird es nämlich – und hier wird zugleich erneut die Nähe zu Warburg erkennbar –, dass diese als Brennpunkte verstanden werden können, in denen einerseits sowohl die dauernde Gestalt und damit das Ausdruckserlebnis als Symbol als auch dessen ursprüngliche Wirkkraft erfahrbar wird. Cassirer schreibt dazu sehr viel später in seiner Spätschrift An Essay on Man, die als Zusammenfassung der drei Bände zur Philosophie der symbolischen Formen für ein englischsprachiges Publikum gilt: Wir durchleben unsere Leidenschaften, empfinden sie in ihrer ganzen Wucht und ihrer höchsten Spannung, aber hinter uns lassen wir, wenn wir die Schwelle der Kunst überschreiten, den lastenden Druck, das Zwanghafte unserer inneren Regungen. Der tragische Dichter ist nicht Sklave, sondern Herr seiner Gefühle; und er ist in der Lage, diese Beherrschung auf die Zuschauer zu übertragen. (Cassirer 2007 [1944], S. 228)

Grundlegend schließt sich hieran wie selbstverständlich die Frage an, woran sich eigentlich die Erfahrung des Erlebens entzündet, die schließlich sowohl für das Verständnis der Welt aber auch in neuer Weise in den Künsten bedeutsam wird. Noch im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen widmet sich Cassirer dieser Frage. Dort stellt er heraus, dass sich dieses Erleben wohl kaum an der gegenständlichen Erscheinungsweise der Welt entfacht, wie sie uns parallel das anschauliche Bewusstsein repräsentiert. Daneben gründet die Erfahrung des Erlebens jedoch auch nicht auf dem mythischen Bewusstsein, das das Erlebte bereits als ein konkretes ‚Du‘ ausgelegt hat. Die Wahrnehmungsweise muss sich an etwas orientieren, wie Cassirer betont, dass ursprünglicher als beide Auslegungsweisen ist. Vor dem Hintergrund

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dieser Feststellungen verweist Cassirer auf universelle, abstrakte ‚Bewegungsgestalten und Raumformen‘, deren Erscheinungsweisen von uns schon immer als lebendige ausgelegt werden. Zusammenfassend schreibt er hierzu: In Wahrheit bedeutet, innerhalb dieses Horizontes, die Ausdrucks-Wahrnehmung gegenüber der Ding-Wahrnehmung nicht nur das psychologisch-Frühere […]. Sie hat ihre spezifische Form, ihre eigene ‚Wesenheit‘, die sich nicht durch Kategorien, die für die Bestimmung ganz anderer Seinsund Sinnregionen gelten, beschreiben, geschweige durch sie ersetzen läßt. […] im Spiegel der Sprache [ … ] läßt sich zumeist noch unmittelbar erkennen, wie alle Wahrnehmung eines ‚Objektiven‘ ursprünglich von der Erfassung und Unterscheidung gewisser ‚physiognomischer‘ Charaktere ausgeht, und wie sie mit diesen gleichsam gesättigt bleibt. Die sprachliche Bezeichnung einer bestimmten Bewegung etwa birgt fast durchweg dieses Moment in sich: statt die Form der Bewegung als solche, als Form eines objektiven raum-zeitlichen Geschehens, zu beschreiben, wird vielmehr der Zustand genannt und sprachlich fixiert, von dem die betreffende Bewegung der Ausdruck ist. „‚Raschheit‘, ‚Langsamkeit‘ und zur Not noch ‚Eckigkeit‘, so heißt es bei Klages […]‚ mögen rein mathematisch verstanden werden; dagegen ‚Wucht‘, ‚Hast‘, ‚Gehemmtheit‘, ‚Umständlichkeit‘, ‚Übertriebenheit‘ sind ebenso sehr Namen für Lebenszustände wie für Bewegungsweisen und beschreiben in Wahrheit diese durch Angabe ihrer Charaktere. Wer Bewegungsgestalten und Raumformen kennzeichnen will, findet sich unversehens in eine Kennzeichnung von Seeleneigenschaften verstrickt, weil Formen und Bewegungen als Seelenerscheinungen erlebt worden sind, ehe sie aus dem Gesichtspunkt der Gegenständlichkeit vom Verstande beurteilt werden, und weil die sprachliche Verlautbarung der Sachbegriffe nur durch Vermittlung von Eindruckserlebnissen stattfindet. (Cassirer 1964 [1929], S. 94, kursive Wörter im Original gesperrt)

Die Nähe zur Kunst lässt sich genau besehen aus dieser von Cassirer formulierten Annahme bereits herleiten. Denn auch die Künstler/innen arbeiten nach Cassirer mit abstrakten Formen, eben Farben und Linien, die von uns parallel zur Wahrnehmung von Welt erneut als „lebendige Formen“ (Sauer 2008) ausgelegt werden. Konkret aufgegriffen, jedoch nicht weiter vertieft, wird dieser Zusammenhang von Cassirer in der eben bereits erwähnten Spätschrift. Dort wird diese Analogie zwischen dem Erleben der Welt und dem Erleben des Bildes vor dem Hintergrund einer vergleichbaren Formensprache von ihm anschaulich angesichts eines Landschaftsbildes vorgestellt: Ich fange an ein Bild von ihr (der Landschaft, M.S.) zu formen. Damit habe ich ein neues Terrain betreten, das Feld nicht der lebendigen Dinge, sondern der ‚lebendigen Formen‘. Nicht mehr in der unmittelbaren Wirklichkeit der Dinge stehend, bewege ich mich nun im Rhythmus der räumlichen Formen, in der Harmonie und im Kontrast der Farben, im Gleichgewicht von Licht und Schatten. Der Eintritt in die Dynamik der Form begründet das ästhetische Erlebnis. (Cassirer 2007 [1944], S. 233 f.)

Bemerkenswerterweise lassen sich genau in dieser Verbindung der Wahrnehmungsweise von Welt und derjenigen von Kunst, zugleich die Parallelen zu den Formwissenschaften herstellen. Denn auch Cassirer geht hier, ohne dies an dieser Stelle explizit zu thematisieren, von einer universellen und damit nicht historisch gebundenen Formensprache aus, die es den Künstler/innen ermöglichen je nach Erfahrungen mit der Welt, diese in ein Bild umzusetzen. Die von Cassirer angenommene Analogie

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beruht demnach jedoch nicht, wie es noch die Formwissenschaften unterstellen, auf vom Kunstwollen gelenkten Anschauungsweisen, sondern sie basiert auf anthropologischen Voraussetzungen. Cassirer spricht in diesem Zusammenhang von einer „starken triebhaften Unterschicht“ (Cassirer 1964 [1929], S. 78), die für die lebendige Wahrnehmungsweise von Welt grundlegend sei. Denn der Mensch sieht schon immer die Formen der Welt und schließlich auch die der künstlerischen Bilder als lebendig bewegt. Hierin trifft er sich erneut mit den Vorstellungen Warburgs, mit dem er sich, wie er es 1926 in einem Brief an ihn formulierte, nicht nur in „wirklicher Freundschaft“, sondern vor allem auch „ideell“ verbunden fühle (Brief vom 11.6.1926: Raio 2008, Nr. 4). Bereits zuvor brachte Warburg selbst deren gemeinsamen Ansatz sehr treffend auf den Punkt, in dem er in einem Brief formulierte, dass er sich mit Cassirer auf dem Weg sehe, „eine gemeinsame Kulturwissenschaft als Lehre vom bewegten Menschen“ (Brief vom 15.04.1924: Raio 2008, Nr. 3) zu begründen. Der neue Ansatz in der Kunstgeschichte, wie er sich im Anschluss an Warburg und Cassirer als Vordenker etablierte und als Ikonologie bis heute fortwirkt, baut auf dieser Grundüberlegung einer Kulturwissenschaft vom bewegten Menschen auf. Sie beruht auf einem Geschichtsverständnis, demzufolge, wie von Cassirer aufgezeigt, die historischen „Dokumente“ (Cassirer 1964 [1929], S. 222– 237) der Zeit als Formen selbsterzeugten Sinns zu verstehen sind. Zu ihnen zählen entsprechend auch die Bilder. Auf diesem Grundgedanken aufbauend entwickelt Erwin Panofsky in zwei Aufsätzen, die 1932 und 1939 erstmals erschienen, ein methodisches Verfahren, das gezielt der Analyse von Kunst dienen sollte. Wobei es Panofsky dabei weniger darum ging, den angenommenen unterschwelligen, primären und natürlichen Gehalt der Werke zu ermitteln, eine Aufgabe die Cassirer anging, als diesen Gehalt an den Werken aufzuzeigen. Ausgangspunkt für die Analyse war es insofern, jedes Werk als ‚Manifestationen‘ dieses Prozesses zu verstehen. Entsprechend gelte es mit dem neuen methodischen Verfahren, das er in Anlehnung an Warburg Ikonologie nannte, die Werke mit Cassirer als ‚symbolisch‘ bedeutsam zu interpretieren: „Indem wir so reine Formen, Motive, Bilder, Anekdoten und Allegorien als Manifestationen zugrundeliegender Prinzipien auffassen, interpretieren wir alle diese Elemente als etwas, das Ernst Cassirer ‚symbolische‘ Werke genannt hat.“ (Panofsky 1984 [1964/1932], S. 212) Zur Umsetzung dieser Aufgabe gelte es entsprechend, wie Panofsky es in seinem ersten Aufsatz annähert, in einem ersten Schritt zwischen dem Benennbaren und Charakteristischen dessen, was sich uns im Werk zeigt, zu unterscheiden. Auf diese Weise erschließe sich der „Sach-Sinn“ und der „Ausdrucks-Sinn“ des Gegebenen (Panofsky 1984 [1964/1932], S. 187).² Diesen Grundgedanken aufgreifend zeigt er in seinem zweiten späteren Aufsatz, wie man konkret zwischen ‚Tatsachenhaftem‘ und ‚Ausdruckshaftem‘ unterscheiden könne:  Wobei für Panofsky die Frage nach dem Kunstwollen (Riegl) bzw. insbesondere des Haptischen und Optischen als apriorische Bedingungen sehr wohl eine Bedeutung hatten (ders. 1920 und 1925) und nachfolgend insb. in der dritten ikonologischen Analyse einen Widerhall finden.Vgl. hierzu Lorenz/Jaś 2008.

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[…] indem man reine Formen identifiziert, nämlich: gewisse Konfigurationen von Linie und Farbe oder gewisse eigentümliche geformte Bronze- oder Steinstücke als Darstellungen natürlicher Gegenstände wie menschlicher Wesen, Tiere, Pflanzen, Häuser, Werkzeuge und so fort; indem man ihre gegenseitigen Beziehungen als Ereignisse identifiziert; und indem man solche ausdruckshaften Eigenschaften wie den schmerzlichen Charakter einer Pose oder einer Geste oder die heimelige und friedliche Atmosphäre eines Innenraums wahrnimmt. (Panofsky 1984 [1955/1939], S. 210)

Deutlich lassen sich in diesen Formulierungen die Bezugspunkte zu Cassirer und Warburg aufzeigen, dennoch weicht Panofsky mit seinem methodischen Ansatz von deren Auffassung in entscheidender Hinsicht ab. Erkennbar wird das im nachfolgenden Satz, in dem er den Akzent von der Erlebnis- auf die Sachebene verschiebt. So hält er mit Blick auf das methodische Vorgehen fest: „Die Welt reiner Formen, die dergestalt als Träger primärer oder natürlicher Bedeutungen erkannt werden, mag die Welt der künstlerischen Motive heißen. Eine Aufzählung dieser Motive wäre eine vorikonographische Beschreibung des Kunstwerks.“ (Panofsky 1984 [1955/1939], S. 210, Hervorhebung M.S.) Die Möglichkeit, die Erlebnisebene als solche näher zu untersuchen und herauszuarbeiten, schließt das Verfahren damit im Keim aus. Entsprechend sieht er auch von einer formalen Betrachtungsweise ab, „deren Analyse uns hier nicht weiter beschäftigen kann“ (Panofsky 1984 [1964/1932], S. 187). Schlussfolgernd für sein Verständnis, dass es sich bei den Bildern um Manifestationen des von Cassirer und Warburg beschriebenen Prozesses handelt, fordert Panofsky stattdessen in einem nächsten Schritt ein, die konventionellen, das heißt, die den Motiven zugeschriebenen Bedeutungen zu identifizieren. In Erweiterung der vorikonographischen Analyse solle diese Aufgabe die ikonographische Untersuchung übernehmen (vgl. Panofsky 1984 [1955/1939], S. 210 f.). Schließlich verschiebt Panofsky abschließend auch mit seinem letzten, sogenannten ikonologischen Analyseverfahren den Akzent hin zu einer reinen historischen Untersuchung des Kontexts eines Werks. Darüber sollen die Grundeinstellungen einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen oder philosophischen Überzeugung enthüllt werden, die durch die Künstlerpersönlichkeit modifiziert und in einem Werk verdichtet zum Vorschein kommen (vgl. Panofsky 1984 [1955/1939], S. 211). Obwohl Panofsky, wie es hier deutlich wird, mit seinem methodischen Ansatz sowohl die Grundidee als auch zumindest prinzipiell das dreigliedrige System der Entäußerung der Erlebnisse, wie sie Cassirer und Warburg aufzeigen, aufgreift, entfernt er sich letztlich von beidem. Das hängt grundlegend damit zusammen, dass es ihm letztlich nicht, wie bereits erwähnt, um die Herleitung und das Aufzeigen der Formen der Entäußerung geht, wie es Cassirer und Warburg verfolgen. Stattdessen liegt sein Akzent auf der Interpretation der aus den Prozessen hervorgegangen symbolischen Formen, die er als Manifestationen dieses Vorgangs sieht. Letztlich führt dieses Vorgehen im Ergebnis dahin, dass die ikonologische Methode zur rein historischen Analyse verflacht. Auffällig an diesem Befund ist, dass die Ikonologie damit in bemerkenswerter Weise – wenn auch unter neuen Vorzeichen – an die Tradition der spekulativen Äs-

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thetik anschließt. Vergleichbar dem Umstand, dass sich die höheren Ideen der spekulativen Ästhetik als ungreifbar herausstellten, erweist sich auch der Aufweis des Erlebens als Grundlage für die Bildproduktion, wie sie die Ikonologie verfolgt, als schwierig. So wie die spekulative Ästhetik an dem Problem scheitert, die metaphysischen Ursprünge ihres Ansatzes aufzuzeigen, so gelingt es auch der Ikonologie nicht, deren anthropologischen Voraussetzungen offenzulegen. Beide reagieren darauf äußerst pragmatisch, indem sie die Werke entsprechend der jeweiligen politisch, sozial oder religiös motivierten Beweggründe und den Konventionen, zu denen sie veranlassen, interpretieren. Sowohl das Erleben des Schönen (spekulative Ästhetik) als auch das Erleben der Welt (Ikonologie), die ursprünglich als Motor für die als symbolisch bedeutsamen formbildenden Prozesse angesehen wurden, verlieren damit an Boden. Die prompte Kritik zunächst von Zimmermann und sehr viel später von Imdahl und Boehm entzündet sich vor allem daran. Denn es ist gerade die formale Ästhetik, die dem entgegen an dem Moment des Erlebens festhält (vgl. Imdahl 1979, S. 14 f.; Boehm 1985 [1978], S. 452 f.). Wobei sie dabei tendenziell, wie sich zeigte, zugleich den Bezug zur Historie bzw. zum Sinn verlieren, wie es zuvor bereits Vischer und dann eben auch Panofsky und Wind als Kritikpunkte vorbringen (vgl.Wind 1931, S. 163 – 178, hier S. 164 f.; Panofsky 1984 [1955/1932], S. 187; vgl. hierzu zudem Prange 2004, S. 174– 215, insb. S. 214 f.). Vor diesem Hintergrund eröffnet der von Cassirer formulierte Ansatz, wie es hier deutlich zu machen gilt, neue Perspektiven. Denn mit dem, was Cassirer ausgearbeitet hat, verbindet er beide Positionen. Grundlage für diese Annahme ist, wie oben aufgezeigt, dass bereits Cassirer, ebenso wie die formale Ästhetik von einer universellen, auf abstrakten Prinzipien beruhenden Formensprache ausgeht, sodass zwischen den Wahrnehmungs- und Darstellungsweisen eine Analogie unterstellt werden kann (vgl. hierzu ergänzend Cassirer 1971 [1942], S. 56 – 86). Cassirer begründet diesen Zusammenhang jedoch anders. Er beruht nicht auf Prinzipien des Sehens, sondern auf der Fähigkeit zu erleben und das, was wir erleben, zugleich auszulegen. Angesichts der Kunst entzündet sich dieses ‚Tun‘ entsprechend, wie in der Welt auch, an den Formen (vgl. zum Technikverständnis Cassirers Sauer 2015b). Vergleichbar dem Zugang zur Welt wird das Erleben auch angesichts der Werke entscheidend für den Formbildungsund zugleich Sinnbildungsprozess. Dasjenige, was von der Wirklichkeit zur Darstellung kommt, erfährt damit einen spezifischen Ausdruck: „Kunst ist Intensivierung von Wirklichkeit“ (Cassirer 2007 [1944], S. 221), in der diese neu entdeckt werde. Bemerkenswerterweise nähert sich Cassirer mit diesem Fazit, wie er es in seinem Spätwerk vorstellt, auch inhaltlich, so scheint es, dem Kunstverständnis der formalen Ästhetik an, wie es vor allem Gottfried Boehm vertritt. Denn Boehm kommt, wie sich zeigte, vor dem Hintergrund der Annahme, dass die Evidenz des Bildes erst aus dem Wahrnehmungsprozess (simultan und sukzessiv) hervorgeht, zu vergleichbaren Ergebnissen wie Cassirer. So betont auch Boehm, dass über die (ästhetische) Erfahrung der Wirklichkeitseindruck gesteigert wird. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Cassirer zu diesem Ergebnis auf der Grundlage ganz anderer Voraussetzungen gelangt. Denn im Unterschied zu Boehm geht Cassirer nicht davon aus, dass sich

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damit über das Bild in neuer Weise etwas zeige, von dem wir schon immer wissen. Die Vorstellung eines Ur-Grundes, dessen mögliche Erscheinungsweisen über das Kunstwollen einer Zeit durch das Setzen und Erleben von Bildern vermittelt wird, entspricht nicht dem Ansatz Cassirers. Solch eine Überlegung stellt sich Cassirer erst gar nicht, denn im Unterschied zur formalen Ästhetik und damit auch zu Boehm ist für ihn weniger das jeweilige Kunstwollen ausschlaggebend, gemäß dem die jeweiligen Bilder der Welt geschaffen werden (Stichwort Mentalitätsgeschichte), sondern das Erleben der Welt und der Bilder. So ist es die Fähigkeit zu erleben und das Erlebte als Ausdruck zu greifen, das für Cassirer als grundlegend angesehen werden muss; diese Fähigkeit ist der Motor der symbolbildenden Prozesse und ist damit verantwortlich für den jeweiligen Ausdruck im Werk. Das Konzept, von Willensprozessen Einzelner oder von Gemeinschaften auszugehen, spielt insofern für Cassirer keine Rolle; sein Ansatz gründet stattdessen auf anthropologischen Voraussetzungen. Denn für Cassirer ist es das Subjekt, das erlebt und seinen Erlebnissen über ein Werk einen Ausdruck verleihen kann. Für den hier aufzuzeigenden Zusammenhang weiterreichend schlussfolgert Cassirer hieraus, dass dasjenige, was sich im Bild zeigt, von dem je anderen, dem Betrachter, auf vergleichbare Weise empfangen werden kann. Denn so wie der Künstler die Welt, so erlebt der Betrachter das Bild und damit dasjenige, was ihm ein anderer zeigt bzw. zeigen will. Den Vorgang, den Cassirer damit aufzeigt, lässt sich im Kern als einen der Kommunikation festhalten. Wobei in dem Austausch zwischen den zwei Polen, wie ihn Cassirer stark macht, der eingangs erwähnte missing link erkennbar wird. Denn erst die Verbindung beider eröffnet die Möglichkeit, auch die Künste als relevant für das Leben anzusehen. So steht am Ende des Weges, den Cassirer aufzeichnet und in seiner Schrift Zur Logik der Kulturwissenschaften 1942 prägnant beschreibt, […] nicht das Werk, in dessen beharrender Existenz der schöpferische Prozeß erstarrt, sondern das „Du“, das andere Subjekt, das dieses Werk empfängt, um es in sein eigenes Leben einzubeziehen und es damit wieder in das Medium zurückzuverwandeln, dem es ursprünglich entstammt. […] Denn so bedeutsam, so gehaltvoll, so fest in sich selbst und in seinem eigenen Mittelpunkt ruhend ein Werk auch sein mag: es ist und bleibt doch nur ein Durchgangspunkt. Es ist kein „Absolutes“, an welches das Ich anstößt, sondern es ist die Brücke, die von einem Ich-Pol zum anderen hinüberführt. Hierin liegt seine eigentliche und wichtigste Funktion. Der Lebensprozeß der Kultur besteht eben darin, daß sie in der Schaffung derartiger Vermittlungen und Übergänge unerschöpflich ist. (Cassirer 1971 [1942], S. 110, kursive Wörter im Original gesperrt)

So gibt Cassirer erst mit der Betonung der Begegnung zwischen einem ‚Du‘ und ‚Ich‘ über das Werk, die für eine Neubewertung der Künste notwendigen Argumente zur Hand. Denn die Relevanz der Kunst für das Leben, die in dieser Konzeption aufscheint, liegt darin, dass auch Bilder Prozesse anzustoßen vermögen, so dass dasjenige, was ein anderer uns zeigt, nicht nur erfasst und als Wissen angeeignet, sondern auch zu eigener Tätigkeit anzuregen vermag (vgl. hierzu Sauer 2018 [2012]). Die Bildkraft und Tatkraft, wie sie Cassirer für den geschichtlichen Prozess als wesentlich

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herausstellt, bekommen vor diesem weitreichenden Hintergrund einen herausragenden Stellenwert: Denn sie erst ermöglichen, wie es Cassirer bereits in der Philosophie der symbolischen Formen deutlich macht, den Austausch zwischen dem ‚Du‘ und dem ‚Ich‘. So verstanden bilden sie die Voraussetzung für eine Dialektik der Kultur, auf die Cassirer abhebt, und damit für Kommunikation (vgl. hierzu vertiefend Cassirer 1971 [1942], S. 103 – 127, hier S. 111). Abschließend gilt es vor diesem Hintergrund als Fazit festzuhalten: Die Fundierung des Lebens auf dem Erleben und die Möglichkeit, unsere Erlebnisse bzw. Schlussfolgerungen daraus in Werken der Kunst anderen zu vermitteln, wie es Cassirer nahelegt, ermöglicht eine neue Sicht auf die Künste. Als Teil der Lebensprozesse haben die Künste dann Teil an der Formung derselben. Die künstlerischen Schöpfungen, wie sie Cassirer bespricht, lassen sich insofern weder nur als Werke (Manifestationen) und damit als Dokumente einer Zeit (Kunstgeschichte), noch allein als Impulsgeber von Erlebnismomenten bzw. von ästhetischer Erfahrung, die uns die Welt je neu vorstellen (Formale Ästhetik/Kunstwissenschaft), verstehen. Indem Cassirer beide Aspekte zusammenführt und dem Erleben eine neue sinnstiftende und kommunikative Bedeutung zuschreibt, gewinnen auch die symbolischen Formen bzw. die Werke, die daraus hervorgehen, einen neuen Sinn: Sie sind Teil des Lebens und formen und gestalten es in jedem Moment mit. Cassirer als möglichen Vermittler zwischen Ästhetik und Kunstgeschichte vorzustellen, liegt genau darin.³

Literaturverzeichnis Boehm, Gottfried (1985 [1978]): „Zu einer Hermeneutik des Bildes“. In: Hans-Georg Gadamer/Gottfried Boehm (Hrsg.): Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 444 – 471. Boehm, Gottfried (1980): „Bildsinn und Sinnesorgane“. In: Neue Hefte für Philosophie 18/19, S. 118 – 132. Boehm, Gottfried (1991 [1987]): „Bild und Zeit“. In: Hannelore Pfaflik (Hrsg.): Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft. Weinheim: VCH, S. 1 – 23. Boehm, Gottfried (Hrsg.) (1991 [1971]): Konrad Fiedler, Schriften zur Kunst, 2. Bde. München: Wilhelm Fink. Boehm, Gottfried (1992): „Sehen. Hermeneutische Reflexionen“. In: Internationale Zeitschrift für Hermeneutik 1, S. 50 – 67. Boehm, Gottfried (Hrsg.) (1996): Max Imdahl: Gesammelte Schriften, 3 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Boehm, Gottfried (2008): „Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz“. In: Gottfried Boehm/Birgit Mersmann/Christian Spies (Hrsg.): Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt. München: Wilhelm Fink, S. 15 – 43.

 Wobei Cassirer damit, aus der von mir herausgearbeiteten Perspektive heraus, zu einer Neuausrichtung des Selbstverständnisses der mit künstlerischen Artefakten befassten Fächer im Sinn einer Bildwissenschaft innerhalb der Kulturwissenschaft anregt.

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Cassirer und die Verhaltensbiologie Abstract: Cassirer and Behavioural Biology. Regarding the question of the „anthropological difference“ between humans and (other) animals, many biologists emphasize evolutionary continuity, whereas philosophers of culture claim a fundamental discontinuity of life-forms. In my article, I argue that Cassirer, despite appearing at first sight like a typical representative of the „discontinuous“ view, is better understood as making an effort to integrate both perspectives into a consistent theory of our natural-cultural existence. Tracing this line of thought from Cassirer’s early commitment to functionalism through his late Essay on Man, I show how he repeatedly refers to empirical findings which are nowadays recognized as pioneering works in behavioural biology. I conclude with a critical reassessment of Cassirer’s conception of the anthropological difference in light of current developments in behavioural biology. Keywords: anthropological difference, Ernst Cassirer, behavioural biology, nature, culture

Einleitung Vor einigen Jahren hat John Michael Krois (2004) darauf hingewiesen, dass Ernst Cassirers Philosophie der Biologie sowohl für das Verständnis seiner eigenen kulturphilosophischen Position relevant als auch per se von systematischem Interesse ist. Krois verband diese Feststellung damals mit der Hoffnung, dass die Publikation aller einschlägigen Texte, von denen viele damals noch unveröffentlicht waren, mit der Zeit zu einer stärkeren Beachtung dieser Thematik in der Forschung führen würde. Inzwischen sind alle von Krois genannten Schriften erschienen, doch stoßen Cassirers biophilosophische Positionen immer noch auf vergleichsweise geringes Interesse. Ich möchte in meinem Beitrag für diesen Bereich des Cassirer’schen Denkens eine Lanze brechen und die Aufmerksamkeit besonders auf einen Aspekt lenken, der meines Wissens bislang noch überhaupt nicht gewürdigt wurde: Ich möchte zeigen, wie Cassirer sich mit seinen biophilosophischen Reflexionen zur ‚Welt des Organischen‘ und seinen anthropologischen Überlegungen zum Verhältnis von Mensch und Tier einer seinerzeit ganz neuen Richtung des biologischen Denkens annähert, die heute als Ethologie oder biologische Verhaltensforschung bekannt ist. Die Verhaltensbiologie ist ein vergleichsweise junger Forschungszweig, der erst in Cassirers letzten Lebensjahren Gestalt anzunehmen begann. Seine Entstehungsgeschichte verläuft zunächst in zwei voneinander getrennten Bahnen: Während in Europa das Erscheinen von Konrad Lorenz’ Beiträgen zur Ethologie sozialer Corviden (1931) den Beginn der sogenannten klassischen Ethologie markiert, dominierte in den USA lange die experimentelle Tierpsychologie. Typisch für die Lorenz-Schule waren vor allem aufwendige Langzeitbeobachtungen des Verhaltens unter natürlichen oder https://doi.org/10.1515/9783110549478-014

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zumindest naturnahen Bedingungen; die amerikanischen Forscher setzten dagegen hauptsächlich auf Versuche im Labor, was nicht zuletzt mit anderen Schwerpunkten in der Auswahl der untersuchten Tierarten einherging. Erst in den fünfziger Jahren kam es infolge einer vielbeachteten Grundsatzkritik der Lorenz’schen Instinkttheorie durch Daniel Lehrman (1953) und die darauf folgenden Vermittlungsversuche des Lorenz-Schülers Niko Tinbergen zum Austausch und schließlich zu einer allmählichen Annäherung der Standpunkte, aus der etwa in den 1970er Jahren die heutige Verhaltensbiologie hervorging.¹ Diese Entwicklungen der Nachkriegszeit konnte Cassirer, der bekanntlich 1945 starb, nicht mehr reflektieren. Die besonderen Bedingungen seiner Biographie brachten es jedoch mit sich, dass Cassirer auf beiden Seiten des Atlantiks mit wichtigen ‚Gründervätern‘ der Verhaltensbiologie in sachlichen und zum Teil persönlichen Kontakt kam, der sich auch in seinen Texten niederschlug. Schon zur Zeit der Abfassung seiner Philosophie der symbolischen Formen war Cassirer mit Befunden der klassischen deutschen Tierpsychologie vertraut, darunter Hans Volkelts Spinnenversuche und Wolfgang Köhlers ‚Intelligenzprüfungen‘ an Schimpansen. Große Bedeutung erlangte für Cassirer seine persönliche Bekanntschaft mit dem Biologen Jakob von Uexküll, der mit seiner ‚Umweltlehre‘ nicht nur zentrale Fragestellungen der heutigen Verhaltensökologie vorwegnahm, sondern auch indirekt weiter wirkte, indem er den Lorenz’schen Forschungsansatz methodologisch beeinflusste.² Zu einer direkten Begegnung oder auch theoretischen Auseinandersetzung Cassirers mit Lorenz kam es nicht mehr:Von Lorenz’ Schriften der dreißiger und vierziger Jahre scheint der bereits 1933 ins Exil gegangene Cassirer keine Notiz mehr genommen zu haben.³ Dafür traf Cassirer gegen Ende seines Lebens in Yale mit dem komparativen Psychologen Robert Yerkes zusammen, neben Köhler einem der Begründer der modernen Primatologie, dem Cassirer wichtige neue Einsichten zu Sozialverhalten und Zeichengebrauch bei Schimpansen verdankte.

1 Vom Funktionalismus zur Verhaltensforschung Um die systematische Stellung dieser Bezüge für Cassirers Philosophie richtig einzuschätzen, bietet es sich an, mit demjenigen Zug in seinem Denken zu beginnen, der als sein ‚Funktionalismus‘ bekannt ist. Ich schlage vor, in loser Anlehnung an Cassirers Denkentwicklung drei Nuancen von Funktionalismus bei ihm zu unterscheiden: eine epistemologische, eine praxeologische und eine anthropologische Nuance.

 Einen guten Überblick über diese Entwicklung vermittelt ein von Gerhard Roth (1974) herausgegebener Sammelband, der viele der seinerzeit relevanten Stimmen vereint.  Vgl. besonders Lorenz’ frühe, Uexküll gewidmete Abhandlung Der Kumpan in der Umwelt des Vogels (1935).  In seinem seit etwa 1935 geschriebenen vierten Band des Erkenntnisproblems, das ein umfangreiches Kapitel zur Biologie enthält, fehlt jeder Hinweis auf Lorenz; auch ein Briefwechsel ist nicht bezeugt.

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Cassirers epistemologischer Funktionalismus zeichnet sich schon im ersten Band des Erkenntnisproblems ab, wenn er die „Geschichte des Erkenntnisproblems“ zur Geschichte eines „allgemeinen Fortschritt[s] von der Substanz zur Funktion“ erklärt (ECW 2, S. 335 f.). Sein frühes wissenschaftsphilosophisches Hauptwerk Substanzbegriff und Funktionsbegriff (ECW 6) leistet dann eine Systematisierung der damit bezeichneten philosophischen Position, die in allen späteren Werken im Grundsatz bestehen bleibt. Cassirers Ansatz ist, Wissen konsequent als Funktion des menschlichen Lebens und seiner Produktivkräfte aufzufassen: Wir wissen nur, was wir begrifflich erzeugen und im Kontext größerer Wissensbestände (früherer Erzeugnisse) organisieren können, und wir wissen nur, indem wir die dazu notwendigen geistigen Verarbeitungsprozesse immer wieder selbst aktiv in Gang setzen. Daraus erklärt sich, weshalb der frühe Cassirer (wie schon Kant) das mathematische Wissen als exemplarisch ansieht: gerade weil sich die Mathematik nicht unmittelbar auf Gegenstände der äußeren Erfahrung, sondern ‚nur‘ auf ihre eigenen, idealen Konstruktionen bezieht, liefert sie zugleich das angemessenste Modell und die methodisch-verlässlichste Basis auch für alles empirische Wissen um reale Weltverhältnisse, das, als wissenschaftliches, für Cassirer notwendig mittelbares Wissen ist.⁴ Am damit fixierten Grundgedanken des „‚Primats‘ der Funktion vor dem Gegenstand“ (ECW 11, S. 9) in Fragen der Erkenntnis hält erklärtermaßen auch die ab 1923 erschienene Philosophie der symbolischen Formen fest, bzw. kehrt „auf einem anderen Wege“ (ECW 13, S. VIII) zu ihm zurück. Allerdings geht Cassirers kulturphilosophischer Neuansatz mit einer deutlichen Schärfung des handlungstheoretischen Profils einher: Indem seine „Kritik der Kultur“ nun gegenüber der Einseitigkeit ‚bloßer‘ Erkenntniskritik die Vielfalt und Vielgestaltigkeit des kulturellen „Tun[s]“ des Menschen betont, würdigt sie insbesondere auch seine sinnlich-körperliche Dimension viel entschiedener, als ein Leser von Substanzbegriff und Funktionsbegriff das noch hätte erwarten können (ECW 11, S. 9). Anhand einer Vielzahl von Einzelbeispielen weist Cassirer nun nach, wie sich die einzelnen Kulturformen und ihre charakteristischen Leistungen sukzessive aus den geistig-leiblichen Interaktionen des Menschen mit Seinesgleichen entwickeln – und wie ihm umgekehrt erst auf dem Wege der Kulturentwicklung allmählich ein Bewusstsein von seiner eigenen psychophysiologischen Daseinsstruktur entsteht (vgl. ECW 11, S. 123 ff.; ECW 12, S. 235 ff.; ECW 17, S. 167 f.; ECN 1, S. 60 ff., 75 f.). Cassirers Funktionalismus läuft also im kulturphilosophischen

 Cassirers epistemischer Funktionalismus lässt sich im Ganzen als ein Versuch lesen, Kants ‚kopernikanische Wende‘ in der Erkenntnistheorie unter den Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts wissenschaftstheoretisch auszubuchstabieren. Als das eigentliche praktische Grundmotiv hinter Cassirers Bevorzugung des Funktions- vor dem Substanzbegriff auch und gerade in unserer mathematischen Erkenntnis der Wirklichkeit erweist sich mithin seine klassisch-idealistische Überzeugung, dass die Grenzen des theoretisch Erkennbaren nicht mit den kontingenten Grenzen unseres geschichtlichen Erfahrungsstands zusammenfallen, sondern dass umgekehrt erst die Entwicklung der reinen Theorie einen Horizont von Denkmöglichkeiten eröffnet, mit Blick auf den dann die Empirie ihre Befunde immer wieder neu bewerten und den weiteren Gang der Forschung selbst bestimmen muss.

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Kontext auf die These hinaus, dass Kultur wesentlich Handeln und die einzelnen Kulturformen einschließlich der Wissenschaft ideale Richtungen der kollektiven Selbstbestimmung des handelnden Menschen sind; eine Einsicht, für die auch seine häufig wiederholte, an Wilhelm von Humboldt angelehnte Begriffsbestimmung der symbolischen Form als ‚Energie des Geistes‘ steht (vgl. besonders ECW 16, S. 79). Etwa ab 1927– 28 beginnt Cassirer dann eine Auseinandersetzung mit Befunden der zeitgenössischen Biologie und Tierpsychologie und verlängert spätestens damit seinen Funktionalismus der Kultur bis an die Grenze der anthropologischen Grundfrage nach dem Verhältnis des Menschen zur übrigen belebten Natur. Eine philosophische Neubestimmung dieses Verhältnisses lag damals in der Luft – 1928 erscheinen mit Max Schelers Stellung des Menschen im Kosmos und Helmuth Plessners Stufen des Organischen und der Mensch zwei grundlegende Schriften der philosophischen Anthropologie, die Cassirer mit großem Interesse rezipierte.⁵ Mir kommt es hier aber darauf an festzuhalten, dass Cassirers Funktionsbegriff der Kultur von sich aus zu einer ganz bestimmten Fassung der Frage nach der „anthropologischen Differenz“ tendiert, die eben dem verhaltensbiologischen Ansatz nahe steht. Deutlich wird das etwa in einem systematisch wichtigen Aufsatz Cassirers von 1930 mit dem Titel ‚Geist‘ und ‚Leben‘ in der Philosophie der Gegenwart (ECW 17, S. 185 – 205). Der Aufsatz besteht im Wesentlichen in einer Auseinandersetzung mit Scheler, dem Cassirer ausdrücklich entgegenhält, durch das Festhalten an einer bestimmten „Sprache der realistischen Metaphysik“ den „rein funktionale[n] Gegensatz“ zwischen den Attributen des Geistes und des Lebens „in einen substantiellen umgedeutet“ zu haben (ECW 17, S. 201):⁶ Faßt man statt dessen Leben und Geist nicht als einander entgegengesetzte substantielle Wesenheiten, sondern nimmt man beide in ihrem reinen Vollzugssinn, so gewinnt die Antithese zwischen beiden alsbald eine andere Bedeutung. Der Geist braucht nicht mehr als ein allem Leben fremdes oder feindliches Prinzip betrachtet, sondern er kann als eine Wendung und Umkehr des Lebens selbst verstanden werden – eine Wandlung, die es in sich selbst erfährt, in dem Maße, als es aus dem Kreise des bloß organischen Bildens und Gestaltens in den Kreis der „Form“, der ideellen Gestaltung, eintritt. (ECW 17, S. 201, Hervorhebungen im Original)

Es ist nicht zufällig der Rekurs auf einen der Pioniere der modernen Verhaltensforschung, nämlich Wolfgang Köhler, der Cassirer einige Seiten zuvor zu präzisieren erlaubt, was er mit einer solchen ‚Wendung und Umkehr des Lebens selbst‘ im Sinn hat. Köhler, der auch zu den Mitbegründern der Gestaltpsychologie gehört, hatte zwischen 1914 und 1920 auf Teneriffa diverse Experimente mit Schimpansen durchgeführt, um das Potential unserer nächsten tierischen Verwandten zu ‚einsichtigem‘

 Vgl. dazu das nachgelassene „Schlusskapitel“ zur Philosophie der symbolischen Formen in ECN 1 (S. 3 – 109, insb. S. 35 ff.); ferner den im Folgenden besprochenen Aufsatz zu ‚Geist‘ und ‚Leben‘ von 1930.  Wunsch (2011) hat allerdings sehr überzeugend dafür argumentiert, dass Cassirers Kritik an Scheler an dessen anthropologischer Konzeption und ihren ontologischen Grundlagen vorbeigeht. Ungeachtet dessen bleibt der Aufsatz von 1930 für das Verständnis von Cassirers eigener Position aufschlussreich.

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Verhalten zu bemessen. Dazu wurden die einzelnen Tiere systematisch vor verschiedene Probleme gestellt, die von einfachsten Versteck-Situationen bis hin zu technisch anspruchsvollen Aufgaben ein breites Spektrum an Schwierigkeitsgraden abdeckten. Das Ziel der Experimentatoren war, durch geschickte und reproduzierbare Versuchsanordnungen sowohl Zufallslösungen auszuschließen als auch solche Lösungen, die bloß auf ziellosem Herumprobieren und dem Lerneffekt des einfachen Ausschlussverfahrens (Versuch und Irrtum) beruhten. Köhlers Ansatz, um von solchen PseudoLösungen Fälle echt intelligenten Verhaltens zu unterscheiden, war der Gedanke, dass sich die im letzteren Fall vom Tier ausgeführten Bewegungsabläufe wie beim Menschen durch eine spezifische Gestaltqualität auszeichnen, die ihnen das Ansehen eines gezielten Einschlagens von Umwegen gebe.⁷ Diesen Gedanken greift Cassirer in seinem Aufsatz auf – und überträgt ihn unmittelbar auf seine eigene Theorie der Kultur: Köhler hat […] gezeigt, daß die vielleicht höchste Leistung, die dem Tiere zugemutet werden kann, die Kunst des „Umwegs“ ist – und daß auch die höchststehenden Tiere diese Kunst nur mühsam und nur in sehr beschränktem Maße erlernen. Demgegenüber bedeutet die Welt des menschlichen Geistes […] nichts anderes als die ständige, stets erweiterte und verfeinerte „Kunst des Umwegs“. Mehr und mehr lernt der Mensch, sich die Welt zu beseitigen, um die Welt an sich zu ziehen – und mehr und mehr verschmelzen ihm diese beiden einander entgegengesetzten Grundrichtungen des Wirkens zu einer einzigen, in sich einheitlichen Tätigkeit, deren beide Seiten, wie Ein- und Ausatmen, einander wechselseitig bedingen. (ECW 17, S. 197)

Die Selbstverständlichkeit, mit der Cassirer hier mithilfe der Umwegs-Metapher die Kultur des Menschen als direkte Verlängerung von bei Schimpansen beobachtbaren Verhaltensweisen darstellt, mag überraschen, wenn man sie gewissen Passagen des Spätwerks (vgl. besonders VM, S. 110 f.) gegenüberstellt, in denen Cassirer eher den Advokaten einer prinzipiellen Differenz zwischen Mensch und Tier und einer im Zweifel auch gegen die Naturperspektive verteidigten ‚kulturalistischen‘ Bestimmung des Menschen geben zu wollen scheint. Tatsächlich zeigt sich an dieser Stelle jedoch ein Leitmotiv von Cassirers Auseinandersetzung mit der (Verhaltens‐)Biologie, das sich durch alle seine einschlägigen Texte (auch die späteren) zieht: Weil sein funktionaler Kulturbegriff, der ihn die ‚Welt des menschlichen Geistes‘ als komplexes System vielfach verschränkter und aufeinander aufbauender Leistungen begreifen lässt, an seiner ‚unteren‘ Grenze fließend in einen wiederum funktionalen Begriff des natürlichen Handelns übergeht, ist sein Gedanke von der geistigen ‚Wendung und Umkehr des Lebens selbst‘ (s.o.) ganz wörtlich als „Umkehrung der natürlichen

 Vgl. Köhler (1921, S. 3): „Die Erfahrung zeigt, daß wir von einsichtigem Verhalten dann noch nicht zu sprechen geneigt sind, wenn Mensch oder Tier ein Ziel auf direktem, ihrer Organisation nach gar nicht fraglichem Wege erreichen; wohl aber pflegt der Eindruck von Einsicht zu entstehen, wenn die Umstände einen solchen, uns selbstverständlich erscheinenden Weg versperren, dagegen indirekte Verfahren möglich lassen, und nun Mensch oder Tier diesen der Situation entsprechenden ‚Umweg‘ einschlagen.“

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Verhaltensrichtung“ (ECW 13, S. 321, Anm. 271) zu verstehen und schließt damit die Möglichkeit ein, dass es auch beim Lebewesen Mensch ein ‚Vor‘ dieser Wendung gab und gibt, in dem unsere Verhaltensweisen sich von denen anderer, insbesondere phylogenetisch nahe verwandter Spezies wenig oder höchstens graduell unterscheiden. Cassirers These von der qualitativen Diskontinuität im respektiven Leistungsverlauf von Tier und Mensch ist also mit der Anerkennung weitgehender Kontinuität an der Leistungsbasis durchaus kompatibel, und dass er mit seiner philosophisch-anthropologischen Systematik in der Tat versucht, beidem gleichermaßen gerecht zu werden, zeigt sich vor allem auf drei Feldern, die ich im nächsten Abschnitt kurz umreißen möchte.

2 Das Mensch-Tier-Verhältnis zwischen Kontinuität und Diskontinuität Sehen wir hier von Cassirers Überlegungen zur Genese einzelner symbolischer Formen ab und konzentrieren uns auf die systematisch übergreifenden Theoreme seiner philosophischen Anthropologie, dann werden seine Bemühungen, im Dienste einer konsistenten Kultur- und Naturtheorie des Menschen Kontinuitäts- und Diskontinuitätsperspektiven systematisch zu verbinden, besonders an den folgenden drei Oppositionen deutlich: 1. ‚Ausdrucks-‘ versus ‚Dingwahrnehmung‘; 2. unmittelbar-natürliches versus mittelbar-symbolisches Ausdrucksverhalten; 3. situativ-affektives Agieren versus distanziert-reflektiertes Handeln. Mit Blick auf den ersten Punkt warnt Cassirer etwa im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen ausdrücklich davor, dass eine habituelle Leugnung des tierischen Bewusstseins, wie sie im klassischen Behaviorismus praktiziert wurde, zugleich „ein großes Gebiet und sozusagen eine ganze Provinz des menschlichen Bewußtseins zu vergessen und zu verleugnen“ (ECW 13, S. 71, Hervorhebung F. S.) drohe – eben das Gebiet der Ausdruckswahrnehmung, die er in späteren Texten auch als ‚physiognomische‘ Wahrnehmung anspricht (vgl. ECW 23, S. 85) und die nach seiner Einsicht auch beim Menschen die bleibende Grundlage für alle komplexeren Wahrnehmungs- und Verstehensvorgänge bildet. Cassirer vergleicht an dieser Stelle gestalttheoretische Überlegungen aus Wolfgang Köhlers Zur Psychologie des Schimpansen mit Beobachtungen Kurt Koffkas zur Psychologie des Kindes und äußert die Überzeugung, dass in den Phänomenen der Ausdruckswahrnehmung eine mögliche Theoriebasis für die Untersuchung der psychischen Kontinuitäten zwischen Tier und Mensch gegeben sein könnte: „Erst von […] der Anerkennung des […] ursprünglichen Charakters der reinen Ausdruckserlebnisse, läßt sich, wenn überhaupt, eine Brücke zu den Phänomenen des tierischen Bewußtseins schlagen.“ (ECW 13, 72, Hervorhebung im Original) Dass Cassirer mit solchen vorsichtigen Formulierungen operiert (‚wenn überhaupt‘), scheint mir wiederum damit zu tun zu haben, dass er an dieser Stelle darauf

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bedacht ist, die Möglichkeit einer solchen ‚Brücke‘ zum ‚tierischen Bewusstsein‘ strikt auf die (nach seiner Meinung) organisch angelegten Leistungen der Sinneswahrnehmung zu begrenzen. So hält er es für nötig, sich gleich im Anschluss gegen eine von Tito Vignoli vertretene These zu wenden, derzufolge auch Tiere über eine Art von ‚mythischem Bewusstsein‘ verfügen würden. Eine solche Zuschreibung beruht nach Cassirer auf einem pars pro toto, das über der Betonung des „Primats der Ausdrucksfunktion“ die objektivierende Leistung des Mythos als Kulturform übersieht: Die in den mythischen Göttergestalten geleistete „Erhebung zum Sein“ bleibt für Cassirer „ein Akt sui generis, – eine selbständige geistige Tathandlung, die als solche weit über die Grenzen des tierischen ‚Bewusstseins‘ hinausliegt“ (ECN 1, S. 67). Gerade der Mythos zählt für ihn zu den spezifisch menschlichen Kulturleistungen, weil er uns durch seine immanente Entwicklung als symbolische Form den Übergang zur Dingwahrnehmung vermittelt und so einen unverzichtbaren Beitrag zu jener „Wendung zur Gegenständlichkeit“ (ECN 1, S. 60) leistet, die nach Cassirer für den Menschen charakteristisch ist. Damit aber eröffnet sich dem Menschen gleich eine Reihe weiterer Optionen, die den Tieren nach Cassirers Überzeugung prinzipiell verschlossen bleiben, nicht zuletzt die Option, die „Erfahrung von der relativen Konstanz jenes empirischen Objekts, das wir den eigenen Leib nennen“ (ECN 1, S. 63) zu machen und so ein Bewusstsein der eigenen Existenz zu entwickeln. In ähnlicher Intention vertritt er mit Blick auf den zweiten und dritten Punkt schon in Sprache und Mythos (1924) die Ansicht, dass die Entstehung von Mythos und Sprache ihrer psychologischen Wurzel nach auf einem besonderen „Bemerken“ stark affektbesetzter Erlebnisse beruht, wie wir es „ohne Zweifel schon dem Tiere zuschreiben“ müssen (ECW 16, S. 261). Ein Spezifikum des Menschen sieht Cassirer auch hier nicht in dieser naturgewachsenen Funktion selbst, sondern vielmehr darin, dass nur der Mensch sie zum Anlass nehme, die fokussierten Ereignisse zu objektiven Symbolen weiterzuverarbeiten und damit auch eine erste Distanz zur eigenen Wahrnehmungs- und Gefühlswelt zu schaffen. In seinem letzten Buch, dem Myth of the State, wird Cassirer dann beide Einsichten zu der prägnanten Bestimmung verbinden, dass der Mythos „Gefühl in Bild gewandelt“ (MS, S. 60, im Original „emotion turned into an image“, ECW 25, S. 45) sei, und ausführen: If a man answers an insult by knitting his brows or clenching his fist he acts precisely in the same way an animal does when it shows its teeth in the presence of an enemy. But, generally speaking, human responses belong to quite a different type. […] Man has discovered a new mode of expression: symbolic expression. […] Linguistic symbolism leads to an objectification of sense-impressions; mythical symbolism leads to an objectification of feelings. (ECW 25, S. 46 f.; dt. Übers. MS, S. 63 f.)

Die hier in Cassirers letztem Buch ziemlich deutlich artikulierte Anerkennung eines bleibenden tierischen Erbes im Menschen ist nicht nur für sich genommen interessant. Sie macht auch seinen (keineswegs erst im Mythus des Staates vertretenen, hier aber besonders stark und für die Theorie der Politik fruchtbar gemachten) Gedanken, dass der Mythos, auch wenn er im Gesamtgefüge moderner Kultur gelegentlich als obsolet

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erscheinen mag, niemals vollständig überwunden werden könne, erst eigentlich verständlich: Der letzte Grund für die Persistenz des mythischen Denkens und Fühlens wäre demnach darin zu sehen, dass es a) einen Bereich unserer Existenz markiert, in dem sich die Kultur erst aus unseren psychophysiologischen Naturanlagen herausentwickelt – einen Bereich, in dem wir uns noch so verhalten, ‚wie es ein Tier tut‘, und schon mit ersten Objektivationen unserer flüchtigen Wahrnehmungen und Gefühlslagen begonnen haben; dass ein solcher erst beginnender Objektivierungsprozess b) erfordert, das biologisch schon Angelegte zunächst nicht in jeder Hinsicht hinter sich zu lassen, sondern die ihm eigene Mischung aus Starre und Verlässlichkeit selbst für die neuen (kulturellen) Zwecke nutzbar zu machen; und dass c) dieser ganze Prozess der ‚Menschwerdung‘⁸ in jedem neuen Individuum gewissermaßen wieder von vorn beginnen muss, sodass es wohl Fortschritte, eine Garantie des Fortschritts in Richtung einer kulturellen Selbstbeherrschung unserer Natur aber schlicht nicht geben kann. Wie weit diese Rückbindung aller Kulturentwicklung an das Individuum und seine immer auch biologische Existenz bei Cassirer reicht, erkennt man daran, dass Cassirer auch nicht vor der Konsequenz zurückschreckt, die Fähigkeit zur Kultur direkt an die besondere organische Konstitution des Einzelnen zu knüpfen. So vergleicht er im Kapitel zur „Pathologie des Symbolbewußtseins“ im dritten Band das Verhalten von Patienten mit bestimmten, zumeist auf Läsionen des Gehirns zurückzuführenden Symptomen der „Apraxie“ mit gewissen „‚Handlungsbilder[n]‘ des Tieres“, wobei er sich auf Hans Volkelts „tierpsychologische“ Verhaltensexperimente mit Wirbellosen beruft: Wir erinnern an das Verhalten der Radspinne, die, während sie über eine Mücke oder Fliege, die in gewohnter Weise in ihr Netz einfliegt, sofort herfällt, sich vor ihr wie vor einem Feind zurückzieht, sobald sie ihr unter ungewohnten Umständen begegnet. Wenn ferner die Sandwespe [eine bestimmte Verhaltensweise] […] dreißig- oder vierzigmal wiederholt, sobald [die] gewohnte Handlungsfolge durch einen äußeren Eingriff unterbrochen wird – so haben wir auch hier wieder ein Beispiel jener starren, stereotypen Handlungsfolgen vor uns, wie sie sich bei den Kranken beobachten lassen. In beiden Fällen ist das Vorstellen wie das Handeln gewissermaßen in feste Bahnen gezwängt, aus denen es nicht heraustreten kann […]. Es scheint, als wäre der aphasische und apraktische Kranke auf diesem Wege [zum mittelbaren Verhalten, F. S.], den die Menschheit sich langsam und stetig bahnen mußte, um eine Stufe zurückgeworfen. Alles bloß Mittelbare ist ihm irgendwie unverständlich geworden; alles nicht Handgreifliche, nicht direkt Daseiende entzieht sich seinem Denken wie seinem Wollen. (ECW 13, S. 320 f.)

Es gibt kaum einen deutlicheren Beleg für Cassirers Überzeugung, dass die kulturell errungene „Vergeistigung“ (ECW 13, S. 322) des Menschen ihm nie ein völliges Hintersichlassen seiner organischen Natur erlaubt, sondern vielmehr nach Art einer

 In ECN 1 (S. 65) spricht Cassirer explizit von der „Anthropogonie“, deren „einzelne Phasen“ nur eine systematische Gegenüberstellung der verschiedenen symbolischen Formen der Kultur auseinanderlegen könne.

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‚emergenten Evolution‘⁹ jederzeit auf dieser Naturbasis als ihrer relativ-unveränderlichen Grundlage aufzubauen hat. Wo die Funktionen ganz oder teilweise ausfallen, deren komplexes Zusammenspiel dem Menschen in seinem alltäglichen Handeln den für ihn typischen, vom unmittelbar „Handgreiflichen“ sich emanzipierenden Weltzugang erst erschließt, da wird sein Leben sofort „zurückgeworfen“ auf eine „relativ einfacher[e] biologisch[e] Schicht“ des Verhaltens (ECW 13, S. 320).

3 Ein nicht-naturalistischer Begriff der menschlichen Natur Angesichts der angeführten Textstellen dürfte klar sein, dass Cassirer sich bemüht, zwischen der Feststellung einer evolutionär bedingten Kontinuität zwischen Mensch und Tier und der Behauptung einer qualitativen Diskontinuität der Lebensmodelle einen dritten Weg der Anthropologie zu finden. Warum aber legt er überhaupt so großes Gewicht auf die ‚diskontinuierliche‘ Perspektive? Hätte er nicht mit einem eindeutigen Bekenntnis zur Kontinuitätstheorie des Menschen der naturwissenschaftlichen Sichtweise auf das Problem näher bleiben und so womöglich seine philosophische Anthropologie insgesamt in der Öffentlichkeit besser positionieren können? Ich meine, dass die Antwort auf die Frage, warum eine solche klare Parteinahme für Cassirer offensichtlich nicht infrage kommt, in seiner Kritik am Naturalismus zu suchen ist – und dass darin zugleich ein Schlüssel liegen könnte zum Verständnis seiner eigenen biophilosophischen Position, die ich andernorts (Schwarz 2016) als einen ‚Antinaturalismus des Lebens‘¹⁰ bezeichnet habe. Cassirer weist den Naturalismus an einigen Stellen aus ethischen, an anderen aus methodologischen Erwägungen zurück; nie allerdings aus jener fundamentaloppositionellen Haltung gegenüber den Naturwissenschaften und ihrem Wahrheitsanspruch, wie wir sie etwa von Martin Heidegger kennen. Deshalb tendiert Cassirers ‚Antinaturalismus‘ auch  Cassirer übernimmt diesen Terminus von Lloyd Morgan in seinem in Yale gehaltenen Seminar on Symbolism and Philosophy of Language (vgl. ECN 6, S. 189 – 343, hier: S. 259).  Recki sieht in (manchen von) Cassirers Texten Ansätze zu einem „nichtreduktionistischen Naturalismus der Freiheit“ (Recki 2010, S. 107), der dazu beitragen könne, die teils verfahrenen Naturalismus-Debatten der Gegenwart produktiv zu überwinden. In der Sache stimme ich dieser Einschätzung völlig zu, sehe aber eine gewisse Schwierigkeit darin, dass Cassirer selbst keinen Naturalismusbegriff in positiver Bedeutung kennt, sondern im Naturalismus immer nur den geraden methodischen Gegensatz zum eigenen transzendental-rekonstruktiven Ansatz sieht. Wenn ich infolgedessen von seinem ‚Antinaturalismus‘ gesprochen habe, so ging es mir aber in der Hauptsache immer darum zu zeigen, dass (insbesondere im Kontext des Lebendigen) die Natur selbst in seiner Philosophie des Menschen eine sehr viel wichtigere Rolle spielt als es gelegentlich gesehen wird: In diesem Sinne kann man Cassirer der Sache nach durchaus als einen „Naturalisten im Geiste“ ansehen – allerdings als einen solchen, der sich den Begriff des Naturalismus aus im Folgenden erläuterten Gründen wohl kaum zu eigen gemacht hätte.

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nicht, wie man bei flüchtigem Hinsehen meinen könnte, zu einer rein geisteswissenschaftlichen Begründung der Anthropologie, sondern vielmehr zur Bevorzugung einer ganz bestimmten Richtung biologischer Theorie, in der sich im Rückblick eben der Beginn des verhaltensbiologischen Paradigmas erkennen lässt. Ein nicht unwichtiger Faktor mag dabei gewesen sein, dass Cassirers ethisches Hauptargument gegen den Naturalismus und sein methodologisches Argument zu divergierenden Forderungen an eine biologische Theorie des Menschen und in der Folge auch der Tiere führen. Die ethische Perspektive, die vor allem in seinem 1939 erschienenen Aufsatz Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie (ECW 22, S. 140 – 166) zum Ausdruck kommt, rückt die individuelle Spontaneität und Verantwortlichkeit des Menschen ins Zentrum und verteidigt sie gegen das naturalistische „Axiom des universellen Determinismus“, in dem der „Organismus […] nur unter der Bedingung geduldet [wird], daß er sich, in letzter Analyse, auf den Mechanismus zurückführen und vollständig in ihn auflösen läßt“ (ECW 22, S. 146). Was einem solchen Determinismus im Namen der Natur nach Cassirer völlig abgeht, ist die Anerkennung der subjektiven Eigenperspektive des Lebens; erst diese Perspektive erlaube es aber dem Einzelnen, sein Verhalten als „Handeln […] aus eigener Kraft und aus eigener Verantwortung“ (ECW 22, S. 166) zu begreifen; und so arbeite der Naturalismus, indem er sie aus seinem Weltbild weitgehend ausschließe, im Effekt an einer „Auflösung des personalen Daseins“ (ECW 22, S. 144)¹¹ und Selbstbewusstseins. Auf der anderen Seite misst Cassirers methodologisches Argument, das sich in der dritten Studie „Zur Logik der Kulturwissenschaften“ und im Essay on Man niedergeschlagen hat, naturalistische Theorien an ihren eigenen objektiven Erkenntnisansprüchen und kritisiert sie für den „eigentümliche[n] Kontrast zwischen dem, was sie uns versprechen, und dem, was sie tatsächlich leisten“ (VM, S. 107, im Original „the striking contrast between what they promise and what they actually give us“, ECW 23, S. 74; vgl. auch ECW 24, S. 435 ff.). Cassirer unterschreibt nämlich durchaus die naturalistische Forderung nach strenger Objektivität naturwissenschaftlicher Erkenntnis: Wenn eine rein naturwissenschaftliche Theorie des Menschen möglich wäre, dann hätte sie auch nach seiner Überzeugung gänzlich objektiv zu verfahren und sich im schrittweisen Aufbau von der mathematischen Physik über die Chemie, Biologie und Psychologie schließlich auch der Sozial- und Kulturwissenschaft anzunähern (vgl. ECW 24, S. 438; außerdem ECN 5, S. 63). Gerade weil Cassirer dieses Wissensideal des Naturalismus grundsätzlich teilt, wird bei ihm aus seinem Befund, dass die konsequente Durchführung dieses Programms auch den entschiedensten Naturalisten nicht gelingt, unmittelbar ein Argument für die Notwendigkeit eines alternativen Ansatzes, als den er bekanntlich seine „kulturphilosophische Bestimmung des Menschen“ empfiehlt – und gerade weil es sich dabei nicht um eine Positionierung gegen die Naturerkenntnis des Menschen als solche handelt, liegt es für ihn „auf der Hand, daß

 Cassirer zitiert hier aus Theodor Litts Individuum und Gemeinschaft (1924).

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wir bei der Bewältigung dieser Aufgabe“ unter anderem immer auch die „Methoden […] der biologischen Beobachtung“ einbeziehen müssen (VM, S. 110; ECW 23, S. 76). Mit seiner Kritik an der mechanistischen Verkürzung des Lebens auf der einen und seiner gleichzeitigen Verteidigung größtmöglicher Objektivität als Fundament empirischer Wissenschaft auf der anderen Seite begibt sich Cassirer mitten hinein in einen Grundsatzstreit, der die Biologie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bestimmte: den Streit zwischen Mechanismus und Vitalismus. Dabei gibt es in seinen Augen einen Biologen, dem in besonderer Weise der Spagat gelingt, ein „methodischer Vitalist [zu sein], ohne metaph[ysischer] Vitalist zu sein“ (ECN 5, S. 162) und so den unfruchtbaren und teils mit großer Schärfe geführten Streit zugunsten einer grundsätzlichen Neukonzeption der Lebenswissenschaft zu überwinden: Jakob von Uexküll, der Cassirer als Leiter des von jenem gegründeten Hamburger Instituts für Umweltforschung persönlich bekannt war.¹² Tatsächlich versucht Uexküll in seiner Forschung, zwischen der Rücksicht auf die objektiv-feststellbaren anatomischen Gegebenheiten der betrachteten Lebensformen und einem grundsätzlich ‚innerlichen‘ Verständnis ihres beobachtbaren Verhaltens möglichst die Waage zu halten. Dazu schlägt Uexküll vor, dieses Verhalten als Ausdruck tierischer ‚Subjekte‘ zu begreifen, deren spezifische ‚Innenwelt‘ es zu verstehen gelte, und stellt seine Beobachtung unter die Prämisse, dass zwischen dem sensomotorischen Apparat einer Art als Grundlage ihres Welterlebens und der ‚Umwelt‘ (eine Uexküll’sche Begriffsprägung), an der sich das Verhalten der Lebensform orientiert, eine weitreichende Korrelation bestehe: So müssen wir nach einer prägnanten Formulierung, die Cassirer in den Essay on Man übernimmt, davon ausgehen, dass es „[i]n der Welt einer Fliege […] nur ‚Fliegen-Dinge‘; in der Welt eines Seeigels nur ‚Seeigel-Dinge‘“ (VM, S. 47 f.; ECW 23, S. 28; vgl. Uexküll 1921 und Uexküll/Kriszat 1934) gibt, die für die entsprechenden Tierarten als Auslöser oder Hemmer ganz bestimmter angepasster Verhaltensweisen fungieren. Aufgrund dieser Anschauung stellt Uexküll als erster ein allgemeines RegelkreisModell des Lebens auf, das er als Funktionskreis bezeichnet: Die sensorisch wahrnehmbare Umwelt des Organismus (‚Merknetz‘) und motorische Verhaltensreaktionen (‚Wirknetz‘) sind darin so präzise aufeinander abgestimmt, dass sie bei vergleichsweise einfach strukturierten Lebensformen zu einer nahezu vollständigen Verhaltenskontrolle führen. Später verallgemeinert Uexküll diese zunächst an Wirbellosen gewonnene Funktionstheorie auch auf die sogenannten ‚höheren‘ Arten, indem er davon ausgeht, dass auch ein breiteres Spektrum verfügbarer Verhaltensoptionen und höhere Grade von Flexibilität und ‚Wahlfreiheit‘ an der grundsätzlichen Umweltgebundenheit des tierischen Verhaltens nichts ändern: Der Funktionskreis des Lebewesens wird dadurch zwar graduell verkompliziert – eine Tatsache, der Uexküll

 Krois betrachtet angesichts dieser Hochschätzung Cassirers Spätwerk als „deeply indebted to Jakob von Uexküll“ (Krois 2004, S. 279).

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theoretisch durch den Übergang zu einem ganzen Netzwerk verschiedener, untereinander verschränkter Funktionskreise (‚Beutekreis‘, ‚Geschlechtskreis‘ etc.) Rechnung trägt –; er wird aber auch bei den ‚höheren Tieren‘ nirgends prinzipiell durchbrochen – bis hin zum Menschen, den Uexküll mit Blick auf die besondere Struktur unserer Physiologie ebenfalls in sein Schema zu integrieren versucht. Man muss sich an diesem Punkt klarmachen, dass auch dann, wenn man Cassirer in seiner Einschätzung folgt und Uexkülls Funktionstheorie des Lebens als einen gelungenen Vorstoß zur Auflösung des Mechanismus-Vitalismus-Konflikts ansieht, die Naturalismusgefahr damit noch keineswegs gebannt ist. Es drängt sich das Beispiel Konrad Lorenz’ auf, den sein Bekenntnis zur Uexküll’schen Umwelttheorie nicht davon abhalten konnte, zu einem der einflussreichsten Verfechter einer weitgehenden Prädetermination des Verhaltens zu werden. Und während sich über die Einzelheiten von Lorenz’ Theorien des ‚Instinkts‘, der ‚Trieb-Dressur-Verschränkung‘ usf. zumindest mit Blick auf die tatsächlich von ihm beobachteten Tierarten (Raben- und Entenvögel) lange streiten ließ, so offenbarten seine mit der Zeit immer häufigeren (und in Deutschland auf fruchtbaren Boden fallenden) Übertragungen dieser Lehren auf den Menschen unweigerlich die ethische Fragwürdigkeit des damit verbundenen Subjektivitätsbegriffs – und zugleich einen entscheidenden Unterschied zu Uexkülls Umwelttheorie: Indem Uexküll das Innenleben seiner ‚Tiersubjekte‘ als etwas grundsätzlich Individuelles ansieht, kann er für das ‚Problem‘ der Diversität menschlicher Verhaltensweisen wenigstens noch eine naive, aber harmlose Lösung vorschlagen und die Perspektiven des Astrophysikers, des Biologen, des Künstlers etc. als ebenso viele mögliche ‚Umwelten‘ des Menschen ins Auge fassen (vgl. Uexküll/ Kriszat 1934). Lorenz hingegen, der als Biologe das Psychische vor allem auf der Ebene der Gattung ansiedelt und von dieser Auffassung aus umstandslos zur Aufstellung seines ‚psychohydraulischen Instinktmodells‘ (der Name ist Programm) fortschreitet, misst mit scheinbarer Folgerichtigkeit auch das menschliche Verhalten immerzu an diesem Maßstab ‚artgemäßer‘ Normalität und landet damit am Ende bei einem ausgeprägten Kulturpessimismus.¹³ Cassirer könnten solche Konsequenzen nicht ferner liegen; er begegnet der naturalistischen Herausforderung dadurch, dass er die Übertragbarkeit eines biologischen Verhaltensmodells, auch des Uexküll’schen, auf den Menschen prinzipiell bestreitet. Schon um 1927/28 hatte er klargestellt, dass für ihn eine Eigenart der kulturellen Leistungen darin besteht, dass sie sich „keineswegs einfach am ‚Bauplan‘ des Menschen, etwa am Bauplan des Gehirns und des Nervensystems ablesen“ (ECN 1, S. 41) lassen. Im Essay on Man zieht Cassirer daraus, die Uexküll’sche Terminologie in heuristischer Absicht übernehmend, die Konsequenz, dass der „‚Funktionskreis‘ […] beim Menschen nicht nur quantitativ erweitert [ist]; er hat sich auch qualitativ ge-

 Es überrascht deshalb nicht, dass Lorenz’ eigene Ansichten zum Menschen in der Moderne ihn bewusst die Nähe zu Arnold Gehlens philosophischer Anthropologie suchen lassen (vgl. besonders Lorenz 1950).

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wandelt“ (VM, S. 49; „The functional circle of man is not only quantitively enlarged; it has also undergone a qualitative change“, ECW 23, S. 29). Interessanterweise nimmt Cassirer diese Feststellung aber nicht zum Anlass, Uexkülls Modell für den Menschen rundheraus zu verwerfen; vielmehr bekräftigt er auch im Essay seine Auffassung, dass der Mensch „[o]ffensichtlich […] keine Ausnahme von den biologischen Grundprinzipien“ darstellen könne, und versucht den Widerstreit beider Aspekte durch die Einführung eines „dritten Verbindungsglied[s]“ im Funktionskreis des Lebens aufzulösen, nämlich des zwischen Merk- und Wirknetz vermittelnden „Symbolnetz[es]“ der Kultur (VM, S. 49). Aber bedeutet nicht gerade diese unvermittelte Erweiterung, die den Sinn der Uexküll’schen Umweltlehre völlig auf den Kopf stellt, und die ausdrückliche Versetzung des Menschen in eine ganz „neu[e] Dimension der Wirklichkeit“ (VM, S. 49; ECW 23, S. 29), dass bei Cassirer zuletzt doch die Perspektive der Diskontinuität die Oberhand gewinnt? Er begegnet diesem naheliegenden Verdacht gleich darauf mit dem ziemlich überraschenden Hinweis, dass es auch gewisse „Arten symbolischen Verhaltens […] im Tierreich“ gebe, von denen die „Haltung des Menschen zum Symbol“ erst noch im Einzelnen unterschieden werden müsse (VM, S. 53; „to contradistinguish [the symbolic attitude of man] from other modes of symbolic behavior found throughout the animal kingdom“, ECW 23, S. 32). In diesem Sinne will er auch seine vom Uexküll-Schema aus entwickelte Bestimmung des Menschen als animal symbolicum nur als einen „ersten Ausgangspunkt“ (VM, S. 52; „our first point of departure for further investigations“, ECW 23, S. 32) verstanden wissen, um die Frage nach seiner spezifischen Differenz überhaupt philosophisch anzugehen. Dieser Dreischritt aus prinzipieller Anlehnung an Uexkülls biologisches Modell, seiner radikalen Abänderung im Sinne einer Betonung der Diskontinuität zwischen Tier- und Menschenwelt und schließlicher Rückkehr zur Kontinuitätsperspektive – dieser Dreischritt bezeichnet genau die gedankliche Linie, der Cassirer in seiner Grundlegung einer nicht-naturalistischen Theorie des Menschen folgt: Bei ihm ist die Zurückweisung des Naturalismus nicht das Ende, sondern erst der Beginn einer Auseinandersetzung mit den vielfältigen Fäden, die den Menschen mit der übrigen belebten Natur verbinden; und so bleibt Cassirer auch bei seiner einstweiligen Entgegensetzung des ‚mittelbar‘-menschlichen und des ‚unmittelbar‘-tierischen Verhaltens nicht stehen, sondern begreift sie als Ansporn, in direkter Gegenrichtung zum naturalistischen Programm seine in der Analyse der Kultur gewonnene Symboltheorie sukzessive in Richtung einer Naturtheorie der Mittelbarkeit zu verlängern. Eine wichtige Rolle spielt dabei Cassirers Begegnung mit den ethologischen Forschungen des Leiters der Yale Universitätslaboratorien für Primatenbiologie, Robert M. Yerkes. Texte beider Forscher zeugen von einem fruchtbaren theoretischen Austausch, wobei im Nachhinein nicht ohne Weiteres zu rekonstruieren ist, in welche Richtung die Beeinflussung verlief. So hielt Cassirer 1941/42 in Yale ein Seminar on Language and Symbolism (ECN 6, S. 189 – 243), das eine wichtige Vorarbeit zum späteren Essay on Man darstellt, während Yerkes’ bahnbrechende Monographie Chim-

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panzees (1943) ein Kapitel mit demselben Titel „Language and Symbolism“ umfasst, auf das sich wiederum der Essay wiederholt beruft. Konkret verweist Cassirer auf bei Yerkes diskutierte Versuche John B. Wolfes, der gezeigt hatte, dass Schimpansen nicht nur Futter-, sondern nach entsprechendem Training auch arbiträre ‚Zeichenbelohnungen‘ (token rewards) akzeptieren, die unmittelbar ohne biologischen Nutzen für den Organismus sind. Cassirer sieht darin einen Beleg, der es „außer Zweifel“ stelle, dass auch Tiere zu einer „indirekten Reaktion fähig sind“, und zitiert Yerkes mit der Vermutung, dass solche Verhaltensweisen „sehr bald als Vorläufer der symbolischen Prozesse beim Menschen identifiziert werden“ (VM, S. 53 f.; ECW 23, S. 33; vgl. Yerkes 1943, S. 189). Ohne als Philosoph mit „irgendwelche[n] Voraussagen über die künftige Entwicklung dieses Problems“ der empirischen Forschung vorgreifen zu wollen, meint er doch dazu beitragen zu können, „bestimmt[e] Grundkonzept[e]“ zu klären, damit „das empirische Material Früchte tragen kann“ (VM, S. 54; ECW 23, S. 33). Dabei konzentriert er sich zunächst auf das Problem der „sogenannten Tiersprache“, bei dem er auf der Folie seiner eigenen kulturphilosophischen Erkenntnisse auf dem Unterschied zwischen „propositionaler […] und emotionaler Sprache“ als „eigentliche[r] Grenze zwischen Menschenund Tierwelt“ besteht (VM, S. 56; „[t]he difference between propositional language and emotional language is the real landmark between the human and the animal world“, ECW 23, S. 34 f.). Auch hierzu kann er wieder Yerkes zitieren, der zwar der Ansicht war, im basalen Kommunikationsverhalten von Schimpanse respektive Mensch „möglicherweise auf eine frühe phylogenetische Stufe in der Entwicklung des Symbolprozesses gestoßen“ (VM, S. 56; ECW 23, S. 35) zu sein, der sich aber im direkten Vergleich mit dem Menschen doch auch zu der Bemerkung veranlasst sah, dass alle über momentane Gefühlsbekundungen hinausgehenden Äußerungen der Menschenaffen „äußerst rudimentär, einfach und von begrenztem Nutzen“ (VM, S. 57; ECW 23, S. 35; vgl. Yerkes 1943, S. 189) im Gattungsleben seien. Daraus zieht Cassirer seinerseits den systematischen Schluss, dass „sorgfältig“ zwischen Zeichen (signs) und Symbolen (symbols) zu unterscheiden sei: „bloße Signale“, die zwar im tierischen Leben eine wichtige Rolle spielten, seien aber, so Cassirer, „der Eigenart des symbolischen Denkens […] sogar entgegengesetzt“, denn „Signale haben, selbst wenn man sie als solche versteht und gebraucht, gleichwohl einen physikalischen oder substantiellen Gehalt; Symbole haben bloß einen Funktionswert“ (VM, S. 57 f.; ECW 23, S. 36 f.). Ich habe diese Passagen aus dem Essay on Man so ausführlich zitiert, weil es aufschlussreich ist, sie mit den Ausführungen bei Yerkes abzugleichen. Liest man nur Cassirers Text, so entsteht nämlich leicht der Eindruck, Cassirer wolle trotz der von Köhler und Yerkes aufgewiesenen Kontinuität der verstehenden und kommunikativen Verhaltensweisen bei Tier und Mensch auf einer prinzipiellen Differenz beharren, für die er dann seine terminologische Unterscheidung zwischen Zeichen und Symbolen vorschlägt. In Wahrheit ist es aber so, dass auch Yerkes im Anschluss an seine Diskussion der Wolfe’schen Experimente einen funktionellen Unterschied zwischen signs und symbols einfordert – nur dass er ihn, dem anders gelagerten Interesse seiner

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Forschung entsprechend, nicht von vornherein mit den Gattungsgrenzen zusammenfallen lässt: Whereas the sign is an experience-act which implies and requires as its justification in terms of utility a succeeding experience-act, the symbol […] represents and may function instead of whatever is represented. The sign […] loses its meaning apart from its context; the symbol does not. The sign is not a substitute for the original experience-act, whereas the symbol may be. (Yerkes 1943, S. 177)

Man sieht, dass diese Gegenüberstellung, die vor allem auf die Funktion der Repräsentation als Charakteristikum echt-symbolischen Verhaltens abhebt, ebenso gut bei Cassirer hätte stehen können und vielleicht sollen: bleibt doch dessen schematische Zuordnung der Zeichen zur ‚physikalischen oder substantiellen‘ (!), der Symbole zur funktionalen ‚Bedeutungswelt‘ des Menschen im Grunde weit hinter den eigenen systematischen Einsichten zurück. Bei Yerkes andererseits führt die Bemühung, die beiden semiotischen Klassen experimentell unterscheidbar zu machen, zur Entwicklung innovativer Verfahren, mit denen sich eine kontextuelle Trennung zwischen ‚Hinweis‘ und ‚Ergebnis‘ (Erfolg oder Misserfolg) kontrolliert herbeiführen und mit Blick auf verschiedene mögliche Formen dieser Trennung variieren ließ. Zu Yerkes’ auf diesem Wege erzielten Forschungsergebnissen, die Cassirer schon in Chimpanzees nachlesen konnte, gehört, dass die Wahrnehmung von Schimpansen ungleich stärker als die von erwachsenen Menschen an räumlichen Strukturen orientiert ist; dass die Tiere jedoch mithilfe speziellen Trainings dazu in die Lage versetzt werden können, ihre Entscheidungen stattdessen von dinglichen Merkmalen abhängig zu machen; und dass sie diese dann als Hinweis für eine zeitlich getrennte Situation verwenden können, solange die dabei zu überbrückende Zeitspanne relativ begrenzt ist. Dabei lässt Yerkes keinen Zweifel daran, worauf die dabei zu Tage tretenden Schwierigkeiten für die Anthropoiden nach seiner Meinung sämtlich zurückzuführen sind: [In humans, t]he spoken or written word “green” functions as substitute for the actual visual experience. […] [It] functions not in advance of the experience of green but following its disappearance and as representative of it. […] our subjects either failed to perceive the essential visual cue, or were unable to hold it in mind because they lacked a symbol or representative process comparable with our word “green”. (Yerkes 1943, S. 178 f.)

Aus dem Essay und den unmittelbar vorangehenden Schriften Cassirers lässt sich nicht rekonstruieren, wie aufmerksam Cassirer die Details von Yerkes’ Forschungen verfolgt hat. Seine eigenen Aussagen, dass das Dazwischentreten des „Symbolnetzes“ im menschlichen Funktionskreis auf eine ‚Verzögerung‘ der Antwortreaktion „durch einen langsamen, komplexen Denkprozeß“ (VM, S. 49; „a slow and complicated process of thought“, ECW 23, S. 29) hinauslaufe; dass Menschenaffen echte Gedächtnisleistungen zeigten, die weit über die „mnemischen“ (VM, S. 85; ECW 23, S. 57 f.) Funktionen einfacher Organismen hinausgehen und ohne die Annahme von Vorstellungsprozessen kaum zu erklären sind; dass das, was bei diesen Tieren dem Aufbau eigener Formen der Kultur konkret entgegenstehe, eigentlich nur das Fehlen

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der „unschätzbare[n] und tatsächlich unabdingbare[n] Unterstützung durch die menschliche Sprache, durch ein Symbolsystem“ (VM, S. 69; „that invaluable and indeed indispensable aid of human speech, of a system of symbols“, ECW 23, S. 45) sei, was aber auf der Ebene der Gattung fatalerweise dazu führe, dass selbst ihre fortgeschrittene „Individualisierung“ und die damit gegebene Möglichkeit „individuelle[r] ‚Erfindungen‘“ für das Gesamtleben der Gattung ganz folgenlos und deshalb „irrelevant“ bleibe (VM, S. 338 f.): Alle diese Aussagen zeigen Cassirer in so weitgehender Übereinstimmung mit dem Stand der (verhaltens‐)biologischen Forschung seiner Zeit, dass sich Yerkes’ zusammenfassende Einschätzung, dass „the ape is at the beginning of a road on which man has advanced far, although slowly and haltingly“ (Yerkes 1943, S. 195), und Cassirers Interpretation, dass die Anthropoiden „in der Entwicklung bestimmter Symbolprozesse […] gleichsam in eine Sackgasse geraten“ (VM, S. 57; ECW 23, S. 36) seien, sich eher als zwei konvergierende Perspektiven auf denselben Sachverhalt denn als Ausdruck eines prinzipiellen Gegensatzes lesen lassen.

4 Cassirers Theorie der anthropologischen Differenz aus gegenwärtiger Sicht Stellt man Cassirer Naturtheorie des Menschen den immensen Fortschritten gegenüber, die die Wissenschaften vom Verhalten seit 1945 gemacht haben, dann sticht im Rückblick vor allem heraus, wie zielsicher er mit seiner Bestimmung der menschlichen Spezifik durch Symbolgebrauch und Kulturentwicklung gerade die Begriffe ins Zentrum gerückt hat, die die Debatte bis heute bestimmen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass wir heute beides nicht mehr pauschal als Prärogativen des Menschen begreifen können. Besonders die Primatologie hat hier in den letzten fünfzig Jahren¹⁴ die Grenzen in einer Weise verschoben, von der wohl selbst Yerkes überrascht wäre. Die bahnbrechenden Feldforschungen Jane Goodalls (1971) zum Werkzeuggebrauch wildlebender Schimpansen haben einen grundlegenden Paradigmenwechsel mit Blick auf die ‚Kulturfähigkeit‘ von Tieren eingeläutet. So gilt es heute als eine gesicherte Tatsache, dass große Menschenaffen nicht nur zur Erfindung von Werkzeugen in der Lage sind, sondern auch zur traditionellen Weitergabe des Wissens an nachfolgende Generationen. Über die schon von Cassirer eingeräumte „praktische Phantasie und Intelligenz“ (VM, S. 60) hinaus müsste er heute konsequenterweise anerkennen, dass – entgegen dem damaligen Forschungsstand – alle wesentlichen Grundbestimmungen der Technik als Kulturform, die er 1930 in Form und Technik getroffen hatte, auch auf die Anthropoiden anwendbar sind. Vor allem die Schimpansen verfügen, wie wir heute wissen, auch nach Cassirers strengen Kriterien über eine relativ fortgeschrittene ‚technische Kultur‘, mit Blick auf die man unseren  Einen nicht mehr ganz aktuellen, aber im Wesentlichen noch immer repräsentativen Überblick bietet der lange maßgebliche Sammelband Chimpanzee Cultures (Wrangham et al. 1996).

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nächsten tierischen Verwandten auch ein gegenständliches Bewusstsein nicht länger absprechen kann. Nichtsdestoweniger macht es Cassirers im Technikaufsatz begegnender Andeutung einer Strukturanalogie zwischen Technik und Sprache (vgl. ECW 17, S. 148 ff.) alle Ehre, wenn ein führender Primatologe wie Tetsurō Matsuzawa (2001, S. 13 ff.) in Übertragung einer linguistischen Methode die Baumstrukturanalyse des anthropoiden Werkzeuggebrauchs vorschlägt, wobei die dabei unterschiedenen ‚Stufen‘ 1, 2, …, n jeweils dem Übergang von der unzusammenhängenden Behandlung von n+1 Dingen zu ihrer Einbindung in ein verschachteltes (und dabei technisch sinnvolles) Relationengefüge sequentieller Handlungsschritte entsprechen.¹⁵ Mit Blick auf den Symbolgebrauch im engeren Sinne hat uns die Forschung in noch radikalerer Weise zum Umdenken gezwungen. Berühmt geworden sind die erstaunlich erfolgreichen Versuche von Rumbaugh und Savage-Rumbaugh in den 1970er und 1980er Jahren, Schimpansen und Bonobo mithilfe einer computergestützten Lexigrammtafel das ‚Sprechen‘ beizubringen.¹⁶ Entgegen allen früheren Annahmen haben diese Versuchsreihen zweifelsfrei nachweisen können, dass beide Spezies der Gattung pan über eine beachtliche Disposition sowohl zum Verständnis als auch zur spontanen Bildung propositionaler Sätze verfügen. Wie beim Menschen bestehen dabei große Unterschiede zwischen den Individuen, und wie bei uns hängt die Aktivierung ihres jeweiligen Potenzials entscheidend von Entwicklungen in der frühen Kindheit ab: Bezeichnenderweise musste der Anthropoide, der es bisher in dieser Disziplin am weitesten gebracht hat, der Bonobo Kanzi mit einem aktiven Wortschatz von etwa 500 Vokabeln (und einem noch weit differenzierteren passiven Verständnis von gesprochenem Englisch), nicht erst durch künstliches Training dazu gebracht werden, sondern entwickelte sein anfängliches Symbolverständnis fast wie ein menschliches Kind aus der spontanen Imitation der weniger erfolgreichen Bemühungen seiner Adoptivmutter heraus (vgl. Savage-Rumbaugh 1994). An diesem beeindruckenden Fall von Lernen in zweiter Generation – mittlerweile beherrscht Kanzi nicht nur die Bedienung von Alltagsgeräten wie Fernseher und Mikrowelle, sondern mit dem Feuer auch ein weiteres vermeintliches Spezialgebiet des Menschen – zeichnet sich aber auch ein ungeahnter Tiefensinn der ‚Sackgasse‘ ab, in die die Menschenaffen nach Cassirers Einschätzung geraten sind: Die menschliche Kultur in der ganzen Breite ihrer verschiedenen symbolischen Formen beruht auf einem so komplexen und vor allem über unzählige Generationen hinweg sich selbst verstärkenden Entwicklungsprozess – zurecht hat sich heute die Rede von der ‚na-

 Matsuzawas Beispiel für den beobachteten Fall eines Werkzeuggebrauchs der dritten Stufe durch wilde Schimpansen ist der gezielte Aufbau eines flachen Steins mit schräger Oberseite als Amboss (1), eines quadrischen Steins (2) als „Rand“, um die durch den ersten Stein erzeugte schiefe Ebene nach unten zu begrenzen, eines dritten, spitzen Steins als Fausthammer (3) und schließlich einer Nuss (4), die sich mit diesem komplexen Aufbau öffnen ließ.  Anatomische Unterschiede verhindern zwar bei diesen Arten eine verbale Artikulation von vergleichbarer Differenziertheit wie beim Menschen; allerdings gilt es zu bedenken, dass auch nicht alle menschlichen Sprachen auf akustischer Zeichenübertragung beruhen.

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türlich-kulturellen Koevolution‘ des Menschen eingebürgert –, dass auch derart ‚menschlich‘ anmutende Leistungen eines überdurchschnittlich begabten Individuums immer zugleich den Abstand betonen müssen, der nach Millionen Jahren getrennter Stammesgeschichte zwischen den künstlichen Laborbedingungen friedlicher Mensch-Tier-Koexistenz und den ‚natürlichen‘ Verhaltensweisen von Anthropoiden in der sogenannten freien Wildbahn besteht. Konsequenterweise konzentriert sich die Forschung heute mehr und mehr darauf, die Ontogenese der verschiedenen Spezies miteinander zu vergleichen. Für Michael Tomasello (2014), der seit vielen Jahren diesen Ansatz verfolgt, macht eine unter den Primaten beispiellose Form von systematischem Altruismus den Menschen zum ‚ultra-sozialen Tier‘; nicht zuletzt äußere sich das in einer natürlichen Anlage zu Instruktion und instruiertem Lernen, die andere Primatenarten nicht kennen. In einer seiner jüngsten Veröffentlichungen äußert Tomasello die Vermutung, dass ein Spezifikum des Menschen in der Rolle liegen könnte, die soziale Normen in der geistigen Entwicklung der Kinder spielen: „human children do not just culturally learn useful instrumental activities and information, they conform to the normative expectations of the cultural group and even contribute themselves to the creation of such normative expectations“ (Tomasello 2016). Auch hier bleibt Cassirer, der vor allem in seiner Sprachphilosophie die Rolle der Normativität für die Menschwerdung hervorgehoben hat (vgl. SAG), unvermindert anschlussfähig. Indessen unternimmt es Matsuzawa (2007) in bester Uexküll-Tradition, Überlegungen zu den psychosozialen Aspekten der conditio humana mit Einzelanalysen verschiedenster morphologisch-physiologischer Besonderheiten unserer Spezies zu verbinden – so etwa im Umfeld der Tatsache, dass, obwohl wir die Dauer der Abhängigkeit unserer Säuglinge von der elterlichen Fürsorge als außerordentlich lang anzusehen pflegen, wir im Vergleich mit anderen Primatenarten eher zu den ‚Nestflüchtern‘ zu gehören scheinen. Wenn Matsuzawa als Aspekte dieser Einzigartigkeit des Menschen unter den Primaten z. B. die Fähigkeit des Säuglings zur stabilen Rückenlage nennt, die nur menschlichen Müttern/Betreuungspersonen ein relativ gefahrloses Ablegen ihrer Kinder ermögliche, und einen Zusammenhang mit der nur beim Menschensäugling anzutreffenden Funktion des weinenden Rufens erkennt, der für das solchermaßen isolierte Kind die einzige Möglichkeit darstelle, sich wirksam bemerkbar zu machen, so schließt sich hier mittlerweile auch der Kreis zu den Universalien des Verhaltens, die die in der Nachfolge Lorenz’ von Irenäus Eibl-Eibesfeldt (1984) begründete Disziplin ‚Humanethologie‘ in zahllosen Feldstudien ermittelt hat. So drängt sich der Gedanke einer spezifischen Naturanlage des Menschen zur lautlichen Kommunikation auf, deren Beginn durch die offenbar kulturunabhängige Disposition der Kinder zum Weinruf, der Eltern zur fast immer auch verbal unterstützten Beschwichtigung gesichert würde: wiederum ein Gedanke, der mit Cassirers Würdigung der Rolle von Rufen und In-die-Ferne-Greifen für die Sprachentwicklung (vgl. ECW 11, S. 258 ff., 126 ff.) fruchtbar zu kombinieren wäre. Viele dieser jüngeren Entwicklungen scheinen dazu angetan, Cassirers Funktionsbestimmung des Menschen aus den „Großbuchstaben“ (VM, S. 103; ECW 23, S. 71)

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der Kultur durch die immer zahlreicheren ‚Kleinbuchstaben‘ zu ergänzen und zu berichtigen, die die Naturwissenschaft uns heute liefert. Aber auch umgekehrt könnte die Besinnung auf Cassirers philosophische Anthropologie für viele naturwissenschaftlich arbeitende oder interessierte Zeitgenossen einen Gewinn darstellen – nicht trotz, sondern gerade wegen ihres dezidiert nicht-naturalistischen Programms. So scheint mir die merkwürdige Tatsache, dass man sich bis heute glaubt entscheiden zu müssen zwischen einem anthropomorphen Hineinversetzen in das tierische Bewusstsein und der ‚verleugnenden‘ Gegenposition, die Frans de Waal (2006) als anthropodenial bezeichnet und mit guten Gründen kritisiert hat, mit der unseligen Tradition reduktionistisch-naturalistischer Theorien des Lebens zusammenzuhängen. Solange die Alternative lautet: äußere oder innere Heteronomie, ‚Behaviorismus‘ oder ‚Nativismus‘, weist man lieber jegliche Naturbezogenheit des menschlichen Verhaltens von sich als sich von Naturwissenschaftlern erklären zu lassen, was die ‚eigentlichen‘ Motive dahinter seien. Cassirers nicht erst¹⁷ im Essay on Man erkennbar ins Spiel gebrachte Option eines rückprojizierenden Gebrauchs von „Kulturbegriffen“ (ECW 24, S. 435) zum Verständnis tierischer Verhaltensweisen weisen hier einen dritten Weg, den Cassirer selbst gelegentlich als ‚kritischen Anthropomorphismus‘ bezeichnet hat (vgl. Becker 2012). Es gibt vielleicht keinen besseren Beleg für die unverminderte Aktualität seines Ansatzes als die Tatsache, dass die empirische Verhaltensforschung den ‚kritischen Anthropomorphismus‘ inzwischen selbst für sich entdeckt und zu einer eigenständigen Methode der Objektivitätssicherung weiterentwickelt hat.¹⁸

Literaturverzeichnis Werke von Ernst Cassirer: MS:

Cassirer, Ernst (2002): Vom Mythus des Staates. Übers. von Franz Stoessl. Hamburg: Felix Meiner. SAG: Cassirer, Ernst (2009): „Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt“. In: Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen. Hamburg: Felix Meiner, S. 191 – 217. VM: Cassirer, Ernst (2007): Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Übers. von Reinhard Kaiser. Hamburg: Felix Meiner.

 Noch deutlicher spricht sich der Nachlass der Jahre 1928/29 aus (vgl. ECN 1, S. 51 ff.).  Mithilfe dieser Methode gelingt z. B. Weiss et al. (2012) ein quantitativer Nachweis individueller Charakterzüge bei Menschenaffen, aufgrund dessen die Forscher in durchaus nicht naiver Weise von ‚Persönlichkeitsunterschieden‘ der Tiere sprechen können.

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Andere Werke: Becker, Ralf (2012): „Dublette Mensch? Ernst Cassirers Plädoyer für einen kritischen Anthropomorphismus.“ In: Birgit Recki (Hrsg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert. Hamburg: Felix Meiner, S. 421 – 436. Eibl-Eibesfeldt, Irenäus (1984): Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie. München: Piper. Goodall, Jane (1971): In the Shadow of Man. London: Collins. Köhler, Wolfgang (1921): Intelligenzprüfungen an Menschenaffen. Berlin: Springer. Krois, John Michael (2004): „Ernst Cassirer’s philosophy of biology“. In: Sign Systems Studies 1 – 2, S. 277 – 295. Lehrman, Daniel (1953): „A Critique of Konrad Lorenz’s Theory of Instinctive Behavior“. In: The Quarterly Review of Biology 28/4, S. 337 – 359. Lorenz, Konrad (1931): „Beiträge zur Ethologie sozialer Corviden“. In: Konrad Lorenz: Über tierisches und menschliches Verhalten. Gesammelte Abhandlungen. Bd. 1. München/Zürich 1984: Piper, S. 13 – 69. Lorenz, Konrad (1935): „Der Kumpan in der Umwelt des Vogels“. In: Konrad Lorenz: Über tierisches und menschliches Verhalten. Gesammelte Abhandlungen. Bd. 1. München/Zürich 1984: Piper, S. 115 – 282. Lorenz, Konrad (1950): „Ganzheit und Teil in der tierischen und menschlichen Gemeinschaft“. In: Konrad Lorenz: Über tierisches und menschliches Verhalten. Gesammelte Abhandlungen. Bd. 2. München/Zürich 1984: Piper, S. 114 – 200. Matsuzawa, Tetsurō (Hrsg.) (2001): Primate Origins of Human Cognition and Behavior. Tokio: Springer. Matsuzawa, Tetsurō (2007): „Comparative cognitive development“. In: Developmental Science 10/1, S. 97 – 103. Recki, Birgit (2010): „Zwischen Kantischem Kompatibilismus und Naturalismus. Ernst Cassirers Begriff der Freiheit“. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 4, S. 95 – 110. Roth, Gerhard (Hrsg.) (1974): Kritik der Verhaltensforschung. Konrad Lorenz und seine Schule. München: C. H. Beck. Savage-Rumbaugh, E. Sue (1994): Kanzi: The Ape at the Brink of the Human Mind. New York: Wiley. Schwarz, Felix (2016): „Cassirers Antinaturalismus des Lebens und die Biologie des animal symbolicum“. In: Tobias Endres/Pellegrino Favuzzi/Timo Klattenhoff (Hrsg.): Philosophie der Kultur- und Wissensformen. Ernst Cassirer neu lesen. Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 137 – 162. Tomasello, Michael (2014): „The ultra-social animal“. In: European Journal of Social Psychology 44, S. 187 – 194. Tomasello, Michael (2016): „Cultural Learning Redux“. In: Child Development 87/3, S. 643 – 653. Uexküll, Johann Jakob von (1921): Umwelt und Innenwelt der Tiere. Florian Mildenberger/Bernd Herrmann (Hrsg.). Berlin/Heidelberg 2014: Springer. Uexküll, Johann Jakob von/Kriszat, Georg (1934): Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Berlin: Springer. Waal, Frans de (2006): Primates and Philosophers. How Morality Evolved. Princeton: Princeton University Press. Weiss, Alexander/Inoue-Murayama, Miho/King, James E./Matsuzawa, Tetsurō (2012): „All too human? Chimpanzee and orang-utan personalities are not anthropomorphic projections.“ In: Animal Behaviour 83, S. 1355 – 1365. Wunsch, Matthias (2011): „Zur Standardkritik an Max Schelers Anthropologie und ihren Grenzen. Ein Plä doyer fü r Nicolai Hartmanns Kategorienlehre“. XXII. Deutscher Kongress fü r Philosophie, 11.–15. 09. 2011, Mü nchen (http://epub.ub.uni-muenchen.de/12502/).

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Wrangham, Richard W./McGrew, W. C./de Waal, Frans B. M./Heltne, Paul G. (Hrsg.) (1996): Chimpanzee Cultures. Cambridge: Harvard University Press. Yerkes, Robert (1943): Chimpanzees. A laboratory colony. New Haven: Yale University Press.

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Michel Foucault als Leser Ernst Cassirers Abstract: Michel Foucault as a Reader of Ernst Cassirer. This paper sheds light on the relation between Cassirer and his reader Foucault, showing the continuity between the philosophy of culture and the archeology of knowledge. This continuity concerns, firstly, Foucault’s ethics, which is in line with the overall task of Cassirer’s project. It is argued, secondly, that Foucault’s logic of the humanities can be enriched in epistemological terms through Cassirer’s work. Thirdly, the study of Cassirer helps interpreting Foucault’s method as much as his political commitment. Though for the most part, this paper argues for the mutual benefit of reading Foucault and Cassirer in light of each other, stylistic differences will nevertheless be considered, and even more so the decisive shifts in moving from the logic of cultural sciences to the archeology of the humanities. Keywords: Michel Foucault, Ernst Cassirer, ethics, archeology, logic, philosophy of culture

Einleitung 1966 schreibt Michel Foucault (vgl. 1996, S. 3 f.) eine Rezension zu Cassirers Philosophie der Aufklärung – es handelt sich um das erste Werk überhaupt von Cassirer, das ins Französische übersetzt wurde. Foucault zeigt sich darin erstaunt darüber, dass Cassirer in Frankreich noch immer nicht als großer Philosoph anerkannt ist, obwohl er doch viel und von den maßgeblichen Autoren gelesen werde,¹ ob es sich dabei nun um Merleau-Ponty² oder auch um Bourdieu³ handele. In dieser Rezension wirft Foucault eine Frage mit nietzscheanischen Anklängen auf: Wer also hat in Frankreich ein Interesse an dem „Vergessen“ dieses Autors? Und eben diese ironische Frage könnte auch eine noch politischere Gestalt annehmen: Was hält uns davon ab, Cassirer unter die großen politischen Denker des 20. Jahrhunderts zu zählen? Sollte es etwa das unmissverständliche Urteil sein, das Martin Heidegger ihm gegenüber insbesondere

 Den genannten Autoren kann man – neben vielen anderen – noch Jean Piaget, Émile Meyerson und Éric Weil hinzufügen.  Vgl. z. B. die Cassirer-Bezüge in Merleau-Ponty 1966, S. 155, Anm. 63 u. ö.  Vgl. Bourdieu 2001, S. 198: „Das Unheil besteht darin, dass die französischen Philosophen zwischen Heidegger und Cassirer zum allergrößten Teil Heidegger gewählt haben. Die enzyklopädische Bildung, die den Schülern der École Normale eigentlich gefallen haben müsste, flößte hingegen Angst ein, da sie wirklich enzyklopädisch und äußerst streng war. Cassirer war der Herausgeber von Leibniz, von Kant […]. Er schrieb über Einstein und die moderne Mathematik. Er war ein wahrhafter Spezialist in vielen, vielen Dingen. Auf eben dieses Ideal beruft sich auch das französische System, es wird jedoch nur äußerst selten verwirklicht.“ https://doi.org/10.1515/9783110549478-015

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anlässlich der Davoser Disputation geäußert hat (vgl. dazu Kaegi/Rudolph 2002)? Jean-Paul Sartre bezieht sich mit Sicherheit eher auf Heidegger als auf seinen Antipoden Cassirer, wenn er die Philosophie der Freiheit begründet, die sodann das Fundament seines intellektuellen wie auch politischen Engagements bilden wird; und viele französische Denker folgen ihm in der Nachkriegszeit auf dem Weg eines Existenzialismus, der auf einem Begriff der Freiheit beruht, wie er sich deutlich von dem von Cassirer vorgeschlagenen unterscheidet.⁴ Während nämlich Sartre die Freiheit auf eine absolute und sozusagen metaphysische Weise denkt, als eine absolute Wahlfreiheit, die das Subjekt in letzter Instanz auf seine eigene Subjektivität verweist, wird Freiheit nach Cassirer vielmehr auf eine relative Weise als ein schrittweiser Prozess der Befreiung von den unterschiedlichen Formen des Determinismus verstanden, und zwar durch verschiedene Vermittlungen hindurch und gemäß unterschiedlicher symbolischer Funktionen. Dieser Prozess, der eine Anstrengung voraussetzt, wird durch individuelle Bildung ermöglicht, durch eine Art von Erziehung, die als Erhebung zur Kultur bestimmt wird. Nun stellen Bildung und Kultur bei Sartre sowie generell nach dem Zweiten Weltkrieg keine zentralen Begriffe mehr dar; der Idee einer Kulturphilosophie kommt nicht mehr der Sinn zu, den sie bei Cassirer noch beanspruchen konnte. Ist es nicht aber auch gleichfalls die von Adorno und Horkheimer betriebene Kritik der Aufklärungsphilosophie gewesen (vgl. Horkheimer/Adorno 1969), die dazu hat einladen können, die dichten Seiten Cassirers allzu schnell umzublättern? Sein Denken wird darin nämlich als potentiell abhängig von einem Humanismus vorgestellt, der aufgrund seiner allzu ‚bürgerlichen‘ und konservativen Aspekte kritisiert wird. Die Frage, ob man weiterhin Humanist bleiben könne oder eben nicht, hat sich – in Frankreich wie in Deutschland – um diesen Punkt herum kristallisiert, bis hin zu einer Verdunkelung der wirklichen Position Cassirers. Die allgemeine heutige Sicht auf Cassirer könnte sich jedoch tiefgreifend verändert zeigen, wenn die Relevanz der Philosophie der symbolischen Formen (1964 [1923 – 29]) aktualisiert würde, um damit sodann die Philosophie Foucaults auszuleuchten, was die Kommentatoren bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt überwiegend versäumt haben.⁵ Durch das Prisma des Foucault’schen Denkens hindurch können wir eine neue Lesart Cassirers stützen und zugleich die Kritiken hinter uns lassen, die seine Lektüre in der Vergangenheit so nachdrücklich verhindert haben. Und umgekehrt kann eine gegenseitige Annäherung von Cassirer und Foucault auch den Ansatz verändern, den man von letzterem ausgehend traditionell entwickelt. Genau das möchten wir uns auf der systematischen Linie im Folgenden vornehmen und dabei nicht zuletzt auch die Kontinuitäten zwischen der deutschen Kulturphilosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der französischen Archäologie des Wissens der zweiten Jahrhunderthälfte hervorheben.

 Zu den Kontinuitäten und Brüchen zwischen Sartre und Heidegger vgl. z. B. Caeymaex 2008.  Einige wenige Studien nähern sich Foucault als einem ‚Schüler Cassirers‘; vgl. Macey 1993, 215.

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Wir werden zunächst zeigen, dass die von Foucault vertretene Ethik, d. h. die von ihr verfolgte Aufgabe, in eine Kontinuität mit der von Cassirer entwickelten Kulturphilosophie gestellt werden kann. Zweitens werden wir dafür argumentieren, dass das Studium Cassirers die Epistemologie der Humanwissenschaften erhellen kann, die Foucault als ihre Logik angeht. Und schließlich behaupten wir drittens, dass das Studium Cassirers zur Interpretation der Methode Foucaults beitragen kann sowie nicht zuletzt auch zu derjenigen seines politischen Einsatzes. Dabei bleiben jedoch unhintergehbare Stildifferenzen zwischen der Kulturphilosophie Cassirers und der Foucault’schen Archäologie des Wissens bestehen. Was hat sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges grundlegend geändert? Wir werden in fine zeigen, welche bedeutsamen Verschiebungen auftreten, wenn man von der Logik der Kulturwissenschaften Cassirers zu einer Archäologie der Humanwissenschaften im Sinne Foucaults übergeht, um nicht den Eindruck zu erwecken, die unleugbaren Differenzen verharmlosen zu wollen, die zwischen den beiden Autoren auch fortan bestehen bleiben.

1 Die Ethik Cassirers und Foucaults: Die Pflicht, aus dem Zustand der Unmündigkeit auszutreten und sich vom Determinismus zu befreien Zunächst ist daran zu erinnern, an welchem Punkt sich Foucault ernstzunehmend auf den berühmten Aufsatz Kants mit dem Titel Was ist Aufklärung? (1984) bezieht, eine Bezugnahme, die man retrospektiv als einen guten Ausgangspunkt dafür ansehen kann, das Gesamtwerk des französischen Philosophen auszuleuchten. Ausgehend von diesem Versuch über Kant wird es nämlich möglich, die Wurzeln, den Sinn und die allgemeine Ausrichtung der Foucault’schen Archäologie des Wissens freizulegen. Welche These vertritt Foucault in diesem seinem wohlbekannten kantischen Versuch? Die Befreiung von jeder Art von Determinismus ist als die Aufgabe zu bestimmen, der jeder Mensch verpflichtet ist, und diese Befreiung setzt voraus, innerhalb der besonderen Wissenskonstellationen die Diskurse zu artikulieren, die uns – vollständig oder teilweise – in unserem Handeln, unserem Sprachgebrauch sowie unserem Denken determinieren. Der Ausgang aus dem Zustand der Unmündigkeit, der für jene Befreiung kennzeichnend ist, wird von Kant „als eine Tatsache, einen im Ablauf befindlichen Prozess [charakterisiert]; aber er stellt ihn auch als eine Aufgabe und eine Pflicht dar.“ (Foucault 1984, S. 690) Wie bei Kant, den Neukantianern und sodann auch bei Cassirer wird Kultur von Foucault nicht als ein gegebenes Objekt betrachtet, das uns äußerlich wäre, sondern als eine Aufgabe, die uns mit einbegreift. Die Kultur muss als eine Praxis erlebt werden – um einen Ausdruck wiederaufzunehmen, mit dem Birgit Recki (2003) die Position Cassirers charakterisiert –, und diese Praxis besteht in einer Befreiung vom Determinismus: „Die Aufklärung [ist] zugleich

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ein Prozess, an dem die Menschen kollektiv beteiligt sind, und ein Akt des Mutes, den jeder persönlich vollbringen muss.“ (Foucault 1984, 690) Foucault interpretiert Kant jedoch neu, indem er die Ideengeschichte für eine kritische Diagnostik öffnet, die ein Engagement gegenüber der Aktualität bedeutet. Er identifiziert Kants kleinen Aufsatz dabei als ein Symptom einer Wende innerhalb der kritischen Philosophie. Nach Foucault bildet dieser Aufsatz nämlich das Scharnier zwischen einer rein transzendentalen Konzeption und einer Auffassung der Kritik als eine Genealogie der Konstitution der unterschiedlichen Diskurse, die sich in einem gegebenen geschichtlichen Moment zu einer Konstellation zusammenschließen. Und genau diese Genealogie entwickelt Foucault weiter, um die Besonderheit der Aktualität erfassen zu können: [D]ie Kritik [wird] nicht mehr in der Suche nach formalen Strukturen von universalem Wert praktiziert, sondern als historische Untersuchung, welche die Ereignisse durchläuft, die uns dazu veranlasst haben, uns als Subjekte dessen, was wir tun, denken und sagen, zu konstituieren und zu erkennen. In diesem Sinne ist diese Kritik nicht transzendental und hat nicht zum Ziel, eine Metaphysik möglich zu machen: Sie ist genalogisch in ihrer Finalität und archäologisch in ihrer Methode. (Foucault 1984, S. 702; Herv. M. v. V.)

Nun ist bereits bei Cassirer eine ähnliche Verschiebung zu registrieren, die von der kantischen Vernunftkritik hin zu seiner eigenen Kulturphilosophie führt. Weit mehr als Kant würdigt Cassirer die historischen Aspekte derjenigen Formen, durch die man handelt, spricht und denkt, sowie auch den sprachlichen Aspekt dieser Formen, die allesamt in erster Linie diskursive Formen sind. Während die Verstandesbegriffe und Vernunftgesetze von Kant als universal, notwendig und sozusagen außerzeitlich angesehen werden, kann die Aufklärung bei Cassirer als ‚kontingent‘ betrachtet werden, da sie nur im Inneren spezifischer Wissenskonstellationen zutage treten kann, die unterschiedliche Formen der Erkenntnis im weiten Sinne umfassen und dabei besonderen geschichtlichen Momenten sowie spezifischen kulturellen Bereichen entsprechen. Aufgrund einer solchen Historisierung der Aufklärung durch Cassirer gibt es ihm zufolge im Übrigen auch eine Pluralität von an ihr teilhabenden Momenten:⁶ nicht eine einmalige Epoche oder eine einzige Form und Funktion von Aufklärung also, sondern Aufklärungen und sogar Renaissancen (vgl. Rudolph 2012). Das Universale wird pluralisiert. Das, was Cassirer das ,mythische Denken‘ nennt, erlaubt tatsächlich bereits eine Befreiung, da es von der Sinnfunktion des Ausdrucks begleitet wird, einer Urteilung zwischen Heiligem und Profanem, die eine erste befreiende Distanz zwischen dem Individuum und seiner Umwelt einsetzt, und das bereits von den Gesellschaften der Antike wie den Griechen an oder auch bei nicht-westlichen, auf die Praktik magischer Rituale zentrierter Völker wie den Cora-Indianern. Seit der Re-

 Vgl. Cassirer 1961, S. 111: „Jede ,Renaissance‘ einer vergangenen Kultur kann uns ein Beispiel hierfür liefern.“

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naissance haben bereits ‚Aufklärungen‘ im eigentlichen Sinne stattgefunden, zu denen man insbesondere durch die Kunst gelangte. Die Aufklärung tritt nicht ausschließlich im 18. Jahrhundert auf. Und wir können und müssen sie noch immer und allerorten von Neuem herbeiführen, da sie sich erschöpft, wenn sich die Individuen nicht mehr bilden, indem sie sich über und durch die Kultur der Vergangenheit unterrichten, um die von ihr transportierten Werte neu zu erschaffen. Die Kultur stellt ein einzigartiges Drama dar, das ausgehend von unserer Aktualität unaufhörlich von Neuem aufzuführen und auszuspielen ist. Nach Kant entspricht die Aufklärung dem Ausgang aus der Unmündigkeit. Nun ist das Individuum aber selbst verantwortlich für den Zustand der Unmündigkeit, in dem es sich befindet: Und deswegen kann es auch nur durch eine Veränderung einen Ausgang aus ihr finden, die es selbst an sich selbst zu vollziehen hat (vgl. Foucault 1984, S. 690). ‚Sapere aude‘ (‚Wage es, weise zu sein‘) klingt in der Tat wie das Motto, das es dem Menschen erlaubt, sich den anderen als solcher zu erkennen zu geben. Die Individuen sind demnach auf paradoxe Weise zugleich Elemente wie Akteure dieses Befreiungsprozesses. Foucault bemerkt, dass Kant die beiden Bedingungen näher bestimmt, die einen solchen Prozess ermöglichen. Die erste besteht in der Unterscheidung zwischen den Situationen, die von uns Gehorsam erfordern, und solchen, die des Vernunftgebrauchs bedürfen (vgl. Foucault 1984, S. 691). Der Zustand der Unmündigkeit wird als reiner Gehorsam bestimmt; die Beschäftigung des Räsonierens und die Möglichkeit, Befehle zu hinterfragen, sind daraus verbannt. Nun befreit sich die Menschheit nicht etwa dann aus diesem Zustand, wenn sie aufhört, zu gehorchen, sondern wenn sie gehorchen wird und dabei genauso frei bleibt, zu räsonieren, so viel sie will. Der Privatgebrauch der Vernunft muss deshalb klar von ihrem öffentlichen Gebrauch unterschieden werden (vgl. Foucault 1984, S. 692). Die Vernunft hat in ihrem öffentlichen Gebrauch frei und in ihrem Privatgebrauch eingeschränkt zu sein. Wenn das Individuum eine gesellschaftliche Rolle zu spielen hat, macht es einen Privatgebrauch von seiner Vernunft, die in diesem Fall von den Umständen und dem Umfeld bestimmt wird (Regeln des Marktes, an den jeweiligen Beruf gebundene deontologische Richtlinien usw.). Unter diesem Blickwinkel spielt das Individuum die Rolle eines rein mechanischen Rädchens der Gesellschaft, das handelt, damit diese funktioniert.Wenn der Mensch jedoch von seiner Vernunft Gebrauch macht, um zu räsonieren, wenn er als vernunftfähiges Wesen räsoniert und nicht mehr bloß als Teil der sozialen Maschine, dann räsoniert er als Mitglied der vernunftfähigen Menschheit überhaupt, und der Gebrauch der Vernunft muss in diesem Falle frei und öffentlich sein. Die Aufklärung ist folglich nicht allein der Prozess, durch den sich die Menschen ihrer persönlichen Freiheit versichern können. Tatsächlich findet sie nur von dem Augenblick an statt, in dem der universelle, der freie sowie der öffentliche Vernunftgebrauch zur Deckung kommen (vgl. Foucault 1984, S. 692). Wie aber lässt sich ein solcher öffentlicher Vernunftgebrauch gewährleisten? Die Aufklärung stellt sich – Foucault zufolge – für Kant als ein wesentlich politisches Problem dar. Wie kann der Mut zu wissen einerseits gefördert werden, wenn die

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Menschheit andererseits so genau wie möglich gehorchen muss? An dieser Stelle wird die Kritik unabdingbar, welche die Bedingungen eines rechtmäßigen Vernunftgebrauchs zu bestimmen hat. Die Aufklärung eröffnet damit das Zeitalter der Kritik. Nach Foucault gibt es eine Verbindung zwischen diesem der Aufklärung gewidmeten Text und jenem anderen, den Kant der Geschichte gewidmet hat, nämlich der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Der Versuch über die Aufklärung ist genau zwischen dem transzendentalen Projekt der drei Kritiken und der Wiederaufwertung der Geschichte gegen Ende seines Werkes zu verorten: Er spielt die Rolle eines Scharniers (vgl. Foucault 1984, S. 694). Der Text zur Aufklärung stellt nach Foucault eine Reflexion über die Aktualität von Kants Gesamtunternehmen dar.Welcher Sinn kommt diesem in dem einzigartigen Moment zu, in dem er schreibt? Es handelt sich um eine Reflexion über die Besonderheit der Gegenwart. Und darin liegt auch der Grund dafür beschlossen, warum Foucault diesen Text als Eintritt in die Modernität ansieht. Wie auch die für sie charakteristische Aufklärung ist die Modernität weder eine Epoche noch die Gesamtheit verschiedener charakteristischer Merkmale einer Epoche. Sie ist vielmehr als eine Einstellung und nicht als eine Geschichtsperiode anzusehen. Und diese Einstellung wiederum setzt eine bestimmte Beziehung zur Gegenwart voraus. Sie entspricht zugleich einer von bestimmten Individuen verwirklichten Wahl sowie einer Art und Weise, zu denken und zu fühlen, die eine Zugehörigkeit sowie auch eine gemeinsame Aufgabe zum Ausdruck bringt (vgl. Foucault 1984, S. 695). Foucault behandelt die Aufklärung folglich nicht als ein Zeitalter der Vergangenheit, sondern als ein Ereignis, das noch immer – zumindest teilweise – für das bestimmend ist, was wir heute sind, denken und tun. Die ‚moderne‘ Philosophie versucht genau auf diese Frage zu antworten: Was ist Aufklärung? Welcher Unterschied besteht zwischen dem Heute und dem Gestern? Eben dies ist die zu wiederholende Frage, um den Zustand der Unmündigkeit zu verlassen. Um diese Analyse zu vertiefen, bezieht sich Foucault auf Baudelaire: Modern sein bedeutet, eine bestimmte Einstellung gegenüber der Veränderung seines Zeitalters einzunehmen (vgl. Foucault 1984, S. 695 f.). Diese Einstellung ist Foucault zufolge jedoch äußerst schwierig beizubehalten: Damit ist nämlich das Allgemeine wiederzuergreifen, und zwar „nicht jenseits des gegenwärtigen Augenblicks noch hinter ihm, sondern in ihm.“ (Foucault 1984, S. 696; Herv. M. v. V.) Durch diese Einstellung scheint ein Wille hindurch, „die Gegenwart zu ,heroisieren‘“ (Foucault 1984, S. 696). Der moderne Mensch übt sich in aktiver Einbildungskraft, um sich die Gegenwart anders zu erträumen als sie ist. Wir haben die Gegenwart zu verändern: und zwar nicht, indem wir sie zerschlagen und zerstören, sondern indem „man sie in dem, was ist, erfasst.“ (Foucault 1984, S. 697; Übers. abgeändert) Der moderne Mensch versucht, ein reflexives Verständnis auszubilden, das es ihm erlaubt, sich selbst zu bilden und zu formen. In der Aufklärung ist nach Foucault eine Art des philosophischen Fragens verwurzelt, die zugleich die Beziehung zur Gegenwart, die geschichtliche Seinsweise sowie die Konstitution seiner selbst als autonom problematisiert (vgl. Foucault 1984,

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S. 698 f.). Dabei ist nicht die Treue zu den Elementen einer Lehre anzustreben, sondern die permanente Reaktivierung einer Einstellung. Foucault stellt sodann die Frage nach der Beziehung zwischen Aufklärung und Humanismus. Ihm zufolge existiert zwischen Aufklärung und Humanismus eher eine Spannung als eine schlichte Identität (vgl. Foucault 1984, S. 701), da unter dem Etikett des Humanismus mitunter widersprüchliche Thesen untergebracht werden konnten. Um das näher auszuführen, muss der von dieser Aufklärung geforderte ethos expliziert werden. Zuallererst muss dieser ethos als ein Versuch gedacht werden, sich an die Grenzen zu halten, sich an ihnen aufzuhalten. Die Kritik stellt die Analyse der Grenzen sowie die Reflexion über sie dar, um gegebenenfalls ihre Überschreitung zu ermöglichen (vgl. Foucault 1984, S. 702). Im Unterschied zu Kant versucht Foucault nicht, formale und nicht-zeitgebundene Strukturen der Vernunft aufzudecken, sondern zieht es vor, ausgehend von der Kontingenz des uns bestimmenden Diskurses die Möglichkeit zu entbinden, morgen anders zu handeln, zu sprechen und zu denken als wir noch gestern gehandelt, gesprochen und gedacht haben. Er nimmt damit eine experimentelle Haltung ein (vgl. Foucault 1984, S. 703). Die Reflexion auf die im Geschichtsverlauf unterschiedlichen Problematisierungsweisen besteht darin, allgemeine Fragen in ihrer besonderen historischen Form zu behandeln (vgl. Foucault 1984, S. 706). Foucault plädiert weit radikaler als Cassirer für eine Abkehr von der transzendentalen Konzeption von Kritik und fordert stattdessen eine historisch-kritische Reflexion, die sich anhand ihrer Konfrontierung mit der Praxis, den konkreten Handlungen, zu bestätigen hat. Während Cassirer sich damit zufriedengibt, eine ewig erneuerte schöpferische Interpretation der Kultur zu begünstigen, geht Foucault einen Schritt weiter: Er erwartet von ihr eine ständige Überschreitung der aktuellen Grenzen unseres Diskurses. Sein Tonfall ist radikaler und revolutionärer als der Cassirers, der in der Nachkommenschaft der um den Bildungsbegriff zentrierten traditionellen deutschen Kulturphilosophie verbleibt.

2 Die Logik Cassirers und Foucaults: Paradigmen ausfindig machen, um die Geisteswissenschaften denken zu können Kommen wir nun zur Geschichte der Epistemologie der Geisteswissenschaften als Problemgeschichte. Auf der logischen Ebene handelt es sich darum, die Ausrichtung des Gesamtfeldes der Erkenntnis zu prüfen, die hier im breiten Wortsinne verstanden wird und nicht einfach rein als Wissenschaft. Foucaults Rezension der ersten französischen Cassirer-Übersetzung erschien im selben Jahr wie seine ‚Archäologie der Humanwissenschaften‘, nämlich 1966. Dieses Buch, Les mots et les choses, liegt in deutscher Übersetzung unter dem Titel Die Ordnung der Dinge (1971) vor, ein Titel, den Foucault anfänglich auch für die franzö-

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sische Ausgabe vorgeschlagen hatte. Foucault geht darin von Prämissen aus, die denen Cassirers ähneln, der die Geschichte der Epistemologie der Kulturwissenschaften in Zur Logik der Kulturwissenschaften in Gestalt einer Problemgeschichte entfaltet, wenn er dabei auch einen radikal neuen Stil einführt.⁷ Foucault behandelt jede Wissenskonstellation, jede Epistémè, als eine gemeinsame Fläche, auf die eine Vielfalt von Diskursen projiziert wird: künstlerische, ökonomische, biologische, mathematische usw. Ein solches Vorgehen knüpft an die Einleitung des Werkes Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte an, wo Cassirer es unternimmt, „gleichsam eine gemeinsame Beziehungsfläche [zu bestimmen], auf welche die religiöse, die philosophische, die literarische Entwicklung gleichmäßig projiziert wurden, um damit ebensowohl das Spezifische ihrer eigentümlichen Gesetze, wie den universalen Zusammenhang, in welchem sie stehen, hervortreten zu lassen.“ (Cassirer 1916, S. VIIIf.) Um die Ideengeschichte verstehen zu können, hat man es zu vermeiden, Wissen einzig und allein auf wissenschaftliche Urteile zu reduzieren. Begriffe entstehen und transformieren sich in anderen Arten von Wissenschaften wie der Linguistik, der Ethnologie, der Kunstwissenschaft, d. h. den ‚Kulturwissenschaften‘. Bestimmte Verschiebungen, die schrittweise zu Krisen sowie zum Umschwenken von einer Epistémè zur anderen führen, können im Bereich der Kunst, der Technik oder der Sprache auftreten, die in die Zuständigkeit jener Kulturwissenschaften fallen. Keine symbolische Form unbeachtet zu lassen, entspricht der einzigen Art und Weise, die unterschiedlichen Wissenskonstellationen freizulegen. Welche sind das nun? Genau wie Cassirer in Individuum und Kosmos (1927) beginnt Foucault seine Archäologie des Wissens mit der Renaissance (vgl. Foucault 1971, Kap. 2: „Die prosaische Welt“, S. 46 ff.). Unsere Moderne hebt bereits dort an und nicht etwa mit dem klassischen Zeitalter. Sie wird so als eine erste Befreiung gegenüber dem Determinismus aufgewertet. Ausgehend von der Analyse der Renaissance untersucht Foucault, wie das klassische Zeitalter entstehen konnte und was es im Gegensatz zur Renaissance ausmacht, was es eröffnet und was es verschließt: In der Tat hatte man sich gefragt, wie man erkennen soll, dass ein Zeichen genau das bezeichnete, was es bedeutete.Vom siebzehnten Jahrhundert an wird man sich fragen, wie ein Zeichen mit dem verbunden sein kann, was es bedeutet. Auf diese Frage wird das klassische Zeitalter durch die Analyse der Repräsentation antworten. (Foucault 1971, S. 75; Herv. M. v. V.)

Das 17. Jahrhundert lässt sich durch die Zuversicht charakterisieren, gemäß dem cartesischen Ideal der mathesis universalis ein klare, transparente und vollständige Repräsentation der Welt zu entwickeln. Der Gebrauch der Sprache wir dabei aber nicht problematisiert: „Die Existenz der Sprache im klassischen Zeitalter ist gleichzeitig unumschränkt und zurückhaltend.“ (Foucault 1971, S. 114) Descartes bemerkt  Vgl. van Vliet 2013, S. 191: „Von Cassirer zu Foucault: Von den ,heimatlosen‘ Humanwissenschaften“.

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nicht, dass die unterschiedlichen Sprachen je nach ihrer jeweiligen Besonderheit auch einen spezifischen Einfluss auf das Handeln und das Denken ausüben: Denn in ihnen bilden sich Handeln und Denken aus. Die klassische Sprache wird dadurch, „wenigstens beinahe, unsichtbar. Auf jeden Fall ist sie für die Repräsentation so transparent geworden, dass ihre Existenz nicht länger ein Problem ist.“ (Foucault 1971, S. 115) Im Gegensatz zum 16. Jahrhundert, in dem man vor dem factum brutum der Sprache Halt machte und in dem ihre ‚massive und intrigierende Existenz‘ offenbar wurde, hat das 17. Jahrhundert dieses Problem vollständig ausradiert. Wahrheit wird von Descartes im Zeichen der Evidenz, der Ewigkeit und der Allgemeinheit gedacht. Nun gerät alles ins Wanken, insofern Kultur ab dem 19. Jahrhundert stufenweise als ein vor allem linguistisches und historisches Phänomen betrachtet wird. Auf die „Analyse der Repräsentation“ des klassischen Zeitalters wird die „Analyse des Sinnes und der Bedeutung“ des 19. Jahrhunderts antworten (Foucault 1971, S. 75). Die Humanwissenschaften gefährden die klassische Doktrin der klaren, transparenten, homogenen und potentiell vollständigen Vorstellung (représentation). Unsere Diskurse, sogar auch noch die wissenschaftlichsten, sind von den Sprachen abhängig, die wir sprechen, von den unterschiedlichen Kulturen, in denen wir leben, von den durch kollektive Rituale weitergegebenen Werten usw. „Die tiefe Zusammengehörigkeit der Sprache und der Welt wird dadurch aufgelöst. […] Die Sachen und die Wörter werden sich trennen.“ (Foucault 1971, S. 75 f.) Foucault beschreibt sodann die verschiedenen Paradigmen, die im Laufe der Gründung und Neubegründung der Humanwissenschaften im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufeinander gefolgt sind (vgl. Foucault 1971, Kap. 10: I. „Das Triëder des Wissens“). Im Verlauf dieser Archäologie ist es die Psychologie (vgl. Foucault 1971, S. 414), die zunächst das erste Modell dafür zur Verfügung gestellt hat. Dieser Befund knüpft an die Analysen Cassirers zu den ersten Schriften Diltheys an. In Zur Logik der Kulturwissenschaften zeigt er, dass jenes psychologische Modell, das die geistige Dimension der kulturellen Werke hervorhebt und für die Einführung der Kulturwissenschaften bestimmend ist, selber eine Gefahr birgt. Wenn man die Objekte der Kulturwissenschaften nämlich ausschließlich in ihrem psychologischen oder geistigen Aspekt betrachtet, vergisst man darüber leicht, dass jene Objekte gleichfalls eine konkrete und materielle Dimension haben müssen, um diese Aspekte überhaupt manifestieren zu können. Der Geist muss sich materiell ausdrücken, damit man Zugang zu ihm gewinnen kann. Es gilt mithin, die Klippe des Psychologismus zu umschiffen. Jedes Kulturobjekt besitzt notwendig psychologische Dimensionen, jedoch gleichfalls auch physische (vgl. Cassirer 1961, S. 57 f.). Eines der von Cassirer zu Illustrationszwecken gewählten Beispiele ist dem Bereich der Kunst entnommen: „Das Gemälde haftet an der Leinwand, die Statue am Marmor, die historische Urkunde an Schriftzeichen, die wir auf Pergament oder Papier geschrieben finden. Nur in Dokumenten und Monumenten dieser Art stellt sich uns eine vergangene Kultur dar.“ (Cassirer 1961, S. 57) Die Gefahr liegt darin, eine der Dimensionen von Kulturobjekten zum Nachteil der anderen zu hypostasieren. Eine gute und angemessene Interpreta-

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tion sollte hingegen alle Kulturdimensionen in ausgewogener Art und Weise in einem „Totalbild“⁸ integrieren. Hernach ist die Soziologie als zweites Modell der Geschichte des Aufbaus der Humanwissenschaften vorherrschend (vgl. Foucault 1971, S. 426). Foucault betont jedoch, dass es zunehmend wichtig schien, sowohl gegen den Soziologismus als auch gegen den Historismus vorzugehen (vgl. Foucault 1971, S. 415). In Zur Logik der Kulturwissenschaften spricht sich Cassirer seinerseits gegen die Reduzierung der kulturwissenschaftlichen Objekte auf reine Werte aus. Das führt ihn in eine straffe Auseinandersetzung mit Windelband und Rickert. Wenn man die Objekte der Kulturwissenschaft als reine Werte betrachtet, wird man nach Cassirer dahin geführt, willkürlich Sein und Sollen voneinander abzutrennen. Eine solche Abtrennung ist jedoch zu vermeiden (vgl. Cassirer 1961, S. 63). Mit dem Strukturalismus werden schließlich drei neue Modelle in den Rang von Paradigmen erhoben, und diese Wende wird es sodann erlauben, eine bestimmte Anzahl unglücklicher Dualismen zu unterlaufen (Materie/Geist, Sein/Sein-Sollen, Empfindung/Sinn). Diese drei Modelle sind die literarische Forschung, die Ethnologie sowie die Geschichte. Auch bei Cassirer werden diese drei Bereiche paradigmatisch entfaltet, und zwar sukzessive in Idee und Gestalt (1921), in Das mythische Denken (1925) sowie in seinen Vorlesungen zur Geschichte (1988). Jedes von Foucault entschlüsselte Modell bezieht sich jeweils auf eine Wissenschaft, die mathematisches Denken auf die Natur anwendet. Die Psychologie bezieht sich auf die Biologie (auf das Begriffspaar Funktion/Norm); die Soziologie bezieht sich auf die Ökonomie (Konflikt/Regel) und die letztgenannten drei Modelle – d. h. die literarische Forschung, die Ethnologie sowie die Geschichte – beziehen sich ihrerseits auf die Philologie (Sinn/Strukturen). Die Humanwissenschaften projizieren jene Wissenschaften der Biologie, der Ökonomie und der Philologie in die Sphäre der Repräsentation (vgl. Foucault 1971, 415 f.). Die Psychologie entsteht, wenn die Beziehung, welche die Biologie zwischen Funktion und Norm ansetzt, in die Sphäre der Repräsentation projiziert wird; die Soziologie, wenn die Beziehung, welche die Ökonomie zwischen Konflikt und Regel annimmt, eben dorthinein projiziert wird; und die literarische Forschung, die Ethnologie und die Geschichte schließlich, wenn die von der Philologie angesetzte Beziehung von Sinn und System in die Repräsentationssphäre versetzt wird. Foucault bemerkt außerdem, dass sich der Akzent im Laufe der Genealogie der Humanwissenschaften zum Nachteil des ersten (Funktion, Konflikt, Sinn) nach und nach auf den zweiten Pol eines jeden Begriffspaars verlagert hat (Norm, Regel, System) (vgl. Foucault 1971, 428 f.). Nach Cassirer, der in diesem Punkt das Vermächtnis Diltheys aufnimmt, sind die Kulturwissenschaften heimatlos, da sich ihre Funktionsweise durch Verschiebungen

 Cassirer 1961, S. 57 f.: „Der physikalische, der psychologische, der historische Aspekt ist als solcher notwendig; aber keiner von ihnen vermag uns das Totalbild zu geben, nach dem wir in den Kulturwissenschaften streben.“

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und Verlagerungen auszeichnet: „Blickt man dagegen auf die Grundbegriffe der Sprachwissenschaft, der Kunstwissenschaft, der Religionswissenschaft hin, so wird man zu seiner Verwunderung gewahr, dass sie gewissermaßen noch immer heimatlos sind: sie haben im System der Logik ihren ,natürlichen Ort‘ noch nicht gefunden.“ (Cassirer 1961, S. 58; Herv. M. v. V.) Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften können die Kulturwissenschaften es niemals akzeptieren, an nur einem einzigen Ort des Wissensfeldes angeordnet zu werden. Indem sie von einer kontinuierlichen wechselseitigen Öffnung ohne feststehende Hierarchie zeugen, trägt eine jede von ihnen dazu bei, den lebendigen Organismus, den sie zusammengenommen bilden, in Bewegung zu versetzen. Ihre Anordnung lässt eine „wolkenartige Aufteilung“ (Foucault 1971, S. 417) erkennen, schreibt Foucault: „So überkreuzen sich alle Humanwissenschaften und können sich stets gegenseitig interpretieren, verwischen sich ihre Grenzen.“ (Foucault 1971, 429) „Die Humanwissenschaften [bringen] kein bereits vorgezeichnetes Gebiet als Erbschaft mit.“ (Foucault 1971, 413) Und eben diese Tatsache, „die ihrer Lokalisierung im erkenntnistheoretischen Gebiet ihre unaufhebbare Unsicherheit gibt“ (Foucault 1971, 417), lässt sie zugleich potentiell gefährlich für die anderen Wissenschaften werden, die sich nacheinander von einem Psychologismus, Soziologismus, Historismus usw. bedroht sehen, wie sie auch diese selbst in Gefahr bringt, da eine jede von ihnen dem Verdacht anheimfallen kann, nicht wirklich eine Wissenschaft zu sein, die feste Begrifflichkeiten hervorbringt. Die Hypostasierung eines einzigen Aspekts der Kulturwissenschaften (des psychologischen, sozialen oder historischen) führt in Sackgassen, die sowohl Cassirer als auch Foucault vermeiden möchten. Beide stellen der Reihe nach die Klippen des Psychologismus, des Soziologismus, des Historismus sowie auch des Naturalismus heraus, der seinerseits dazu führt, den Humanwissenschaften jedwede Spezifität abzusprechen und sie den mechanischen Naturwissenschaften einzugliedern. Beide schlagen etwa in der Mitte des 20. Jahrhunderts vor, die strukturale Linguistik als ein letztes Paradigma aufzubauen, das es erlaubt, die Kulturwissenschaften zu denken (vgl. Cassirer 1961, 59). Wie auch Cassirer in seinen Texten zur Biologie bezieht sich Foucault in Die Ordnung der Dinge auf Cuvier und Lamarck. Für das Verständnis der Sprache greift er gleichfalls auf Humboldt zurück. Im Kapitel über Bopp greift er dessen Definition von Sprache nicht nur als ergon, sondern auch als energeia auf (vgl. Foucault 1971, 353 f.), was als ein Beleg seines Interesses für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen betrachtet werden kann, insofern Humboldt – wie bekannt – die zentrale Bezugsfigur für Cassirers Reflexion über die Sprache darstellt. Die Humanwissenschaften sind entstanden, stellt Foucault fest, als wir verstanden haben, dass der Raum der Repräsentation eine Inkorporation voraussetzt, eine wechselseitige Verflechtung von Sinnlichem und Sinn (vgl. Foucault 1971, 377). Nun ist diese Metapher der Verflechtung genau dieselbe, die auch Cassirer gebraucht, wenn er das Phänomen der symbolischen Prägnanz bestimmt, welches jegliche auf die umgebende Welt bezogene Sinngebung seitens des Subjekts bezeichnet.

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Wenn Foucault Cassirer in Die Ordnung der Dinge auch nicht explizit erwähnt, so räumt er dessen Philosophie der symbolischen Formen dennoch einen fundamentalen Stellenwert innerhalb des „Triëders des Wissens“ (Foucault 1971, 413) ein, demjenigen Raum also, innerhalb dessen sich die Humanwissenschaften grundsätzlich bewegen. Die erste Dimension des Triëders entspricht der Mathematik und der Physik, d. h. all den Wissenschaften, in denen eine lineare Deduktion möglich ist. Die zweite Dimension entspricht denjenigen Wissenschaften, die wie die Wissenschaften von Sprache, Leben und ökonomischer Produktion Beziehungen zwischen Elementen bestimmen, um ursächliche Verknüpfungen mit den sie vereinigenden Wirkungen hervorzuheben. Die dritte Dimension des Triëders entspricht sodann der Philosophie. Diese entwirft zusammen mit der Linguistik, der Biologie und der Ökonomie eine gemeinsame Ebene: Auf ihr sind jeweils die „Philosophie der symbolischen Formen“, die „Lebensphilosophie“ sowie die „Philosophie des entfremdeten Menschen“ erschienen, teilt uns Foucault auf recht elliptische Art und Weise mit (vgl. Foucault 1971, 416). Was die Humanwissenschaften anbetrifft, so verschieben auch sie sich kontinuierlich in den von diesem Triëder des Wissens aufgespannten Raum. Warum aber erwähnt Foucault Cassirer nicht, wenn er auf die Philosophie der symbolischen Formen Bezug nimmt, und das an einer derart entscheidenden Stelle seines Werkes, welche die Schlussfolgerung eines zur Erhellung der Logik der Humanwissenschaften geschaffenen großen Freskos darstellt? Welches sind die anderen Autoren, an die er denkt, wenn er von ‚Lebensphilosophie‘ und der ‚Philosophie des entfremdeten Menschen‘ spricht? Was Letztere anbelangt, hat er unzweifelhaft Karl Marx im Auge, was jedoch die Lebensphilosophie angeht: Denkt er bei ihr an Dilthey oder eher an Simmel, Nietzsche oder Canguilhem? Es ist unstrittig, dass sich Foucault auf Cassirer bezieht, wenn er von der Philosophie der symbolischen Formen spricht, jedoch ergeben sich nach dem Zweiten Weltkrieg tiefgreifende Verschiebungen. Foucault spricht nun nicht mehr wie Cassirer von einer Logik der Kulturwissenschaften, sondern bezeichnenderweise eher von einer Archäologie der Humanwissenschaften. Er hebt den Stellenwert des Unbewussten, des Ungedachten (vgl. Foucault 1971, 433) hervor, und sein Diskurs ist von der Psychoanalyse geprägt, während das bei Cassirer nicht der Fall ist. Ein weiterer großer Unterschied zwischen Cassirer und Foucault bezieht sich auf die Differenz zwischen ihren jeweiligen politischen Einstellungen und Haltungen. Cassirer kann den politischen Ereignissen gegenüber als ein ‚Olympier‘ angesehen werden, während Foucault sein Denken sowie seine kritischen Diagnostiken stets an der brennendsten Aktualität orientiert, indem er selbst sich dabei engagiert. Kann jedoch wirklich behauptet werden, dass Cassirer kein engagierter Denker gewesen sei? Und wie geht Foucault an die Politik heran? Vielleicht doch wie Cassirer und d. h. auf vermittelte und schrägstehende Weise, über unerwartete Umwege?

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3 Politische Probleme bei Cassirer und Foucault: Die Integration der Politik in die Kultur und das Engagement in der ersten Person Foucault vertritt eine bestimmte Konzeption von politischer Philosophie. Um eine gewisse Wirksamkeit auf das politische Feld ausüben zu können, reicht es nicht aus, sein Augenmerk allein auf politische Ideen zu richten. Ganz im Gegenteil, es ist zutage zu fördern, wie sich verborgene Modifikationen in der Denkweise des Verhältnisses von Individuellem zum Allgemeinen, des Individuums zum Kosmos sowie zur Gesellschaft unmerklich und leise im Inneren aller möglichen symbolischen Formen vollziehen. Um wahrhaft etwas über sie aussagen zu können, nähert sich Foucault der Politik paradoxerweise nicht auf direkte Art und Weise, sondern nimmt den langen Anlauf eines Umwegs, der mit Analysen derjenigen Formen – wie der Kunst, der Sprache, der Architektur usw. – gespickt ist, in denen sich Verhältnisse verbergen, deren Echo sodann auf der politischen Ebene vernehmbar wird. Oftmals ist eine strenge kritische Diagnostik der Gegenwart in den Schriften Foucaults nur zwischen den Zeilen wahrnehmbar. Cassirer teilt dieses Gefühl: Um Wirksamkeit auf der politischen Ebene zu erzielen, ist diese Ebene auf einem Umweg und nicht etwa frontal anzugehen. Als Cassirer 1932 Die Philosophie der Aufklärung veröffentlichte, war die Zeit vom Aufstieg des Nationalismus gezeichnet (vgl. Cassirer 1932, S. 263 ff.). Gegen diesen versuchte er zu zeigen, dass sich die Bewegung der Aufklärung nur durch die enge Zusammenarbeit aller europäischen Völker ohne jede Ausnahme formieren konnte. Es ist von Interesse, in diesem Buch festzustellen, wo genau sich das Kapitel über „Recht, Staat und Gesellschaft“ verorten lässt. Erst als alle anderen symbolischen Formen geduldig untersucht worden sind, kann es seine volle Mächtigkeit gewinnen. Ebenso verhält es sich in Freiheit und Form, dessen Kapitel über „Freiheitsidee und Staatsidee“ (Cassirer 1916, Kap. 6, S. 475 ff.) seine Tiefe aus den langen ästhetischen und literarischen Interpretationen bezieht, die ihm vorangehen. In The Myth of the State (1946), am Ausgang des Zweiten Weltkriegs erschienen, analysiert Cassirer, wie dem ersten Anschein nach harmlose Modifikationen der Art und Weise, Mythen und Rituale zu betrachten, sowie scheinbar geringfügige Veränderungen auf der Ebene des Wortschatzes und der Redewendungen, wie sie von den Nazis herbeigeführt und genutzt wurden (vgl. Cassirer 1946, S. 284), es diesen erlaubten, das mythische Denken zu instrumentalisieren und eine große Faszinationskraft auf die Bevölkerung auszuüben. Der Mythos, so wie er auf der Ebene des primitiven mythischen Denkens ausgearbeitet worden ist, stellt eine zum Teil unreflektierte Antwort auf die Angst dar. Er ist

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dazu bestimmt, auf eine lokalisierte⁹ Weise Schwierigkeiten aufzulösen, auf die der Mensch im Angesicht des natürlichen Determinismus stößt, und bildet so einen Raum des Lebens und Denkens aus, in dem diese Ängste durch die Zwischenschaltung von Symbolen und magischen Ritualen auf Abstand gebracht werden können. Der Mensch des primitiven mythischen Denkens tritt vom Mythos zurück, sobald Techniken aufkommen, die von ihm besser beherrschbar sind; der „homo magus“ lässt dann gerne dem „homo faber“ den Vortritt (Cassirer 1946, S. 279 ff.). E contrario macht sich das von den totalitären Führern aktivierte mythische Denken bewusst und auf reflektierte Weise die Angst eines Volkes zunutze und setzt den Mythos sowie die Sprache als technische Werkzeuge ein, die es erlauben, im Menschen die Fähigkeit zur kritischen Distanznahme in Bezug auf eine bestimmte Gruppe zu zerstören, indem sie ihn glauben machen, dass es für ihn keine andere Wahl gibt, als sich von einem Volk, einer Kultur auferlegten Schicksal bestimmen zu lassen.Vom totalitaristischen Führer aus gesehen, der den homo magus mit dem homo faber verschmilzt, wird demnach nichts dem Zufall überlassen.¹⁰ Indem sie neue Mythen und Rituale erfinden, setzen die totalitären Führer nicht den positiven Aspekt der produktiven symbolischen Einbildungskraft ins Werk, sondern eine kaltblütige Technik, Mechanik und Strategie, deren Ziel genau darin besteht, die Fähigkeit der Untergebenen zu unterbinden, ihre eigene schöpferische Imagination zu betätigen, ihre Fähigkeit zu entfalten, den Abstand gegenüber der Wirklichkeit von Kräfteverhältnissen wiederherzustellen, in die eingetaucht sie leben.¹¹ Die Untertanen totalitärer Herrschaft ‚kleben‘ dann daran, ‚was der Fall ist‘, und zwar genauso, wie Tiere oder die Opfer von Pathologien der symbolischen Funktion im Übermaß am Sinnlichen ‚haften‘ und keine anderen Möglichkeiten mehr imaginieren können, als das, was ist.¹² Mythen werden demnach fabriziert wie Waffen. Sie werden verfertigt wie Kriegsflugzeuge. Derart, dass die effektive Wiederbewaffnung nicht etwa mit der militärischen Wiederaufrüstung begonnen hat, die nur ein Oberflächenphänomen darstellt, sondern mit der Geburt und

 Vgl. Cassirer 1946, S. 278: Auch in primitiven Gesellschaften ist der Rekurs auf Magie lokal, insofern stets eine säkulare Sphäre bestehen bleibt.  Vgl. Cassirer 1946, S. 282: „Nothing is left to chance, every step is well prepared and premeditated. It is this strange combination that is one of the most striking features of our political myths. Myth has always been described as the result of an unconscious activity and as a free product of imagination. But here we find myth made according to plan.“  Vgl. Cassirer 1946, S. 282: „They [modern political myths] are artificial things fabricated by very skillful and cunning artisans.“  Cassirer analysiert die Phänomene einer Ent-Symbolisierung sowie die Pathologie der Symbolfunktion als Unfähigkeit, die symbolische Prägnanz erfassen zu können. Vgl. dazu Cassirer 1929, S. 264 f.: Wird die Symbolfunktion außer Kraft gesetzt, „so lebt und webt er [der Mensch] im augenblicklichen Eindruck, aber er bleibt auch in ihm verhaftet und verstrickt“, während „es eine Grundfähigkeit des normalen Wahrnehmungsbewusstseins [ist], dass es nicht nur mit bestimmten ,Bedeutungsvektoren‘ erfüllt und durchsetzt ist, sondern dass es dieselben im allgemeinen auch frei zu variieren vermag.“

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dem Anwachsen politischer Mythen, d. h. mit einer untergründigen ‚mentalen Wiederbewaffnung‘.¹³ Sich auf eine linguistische Arbeit zu den von den Nazis geprägten Ausdrücken stützend, analysiert Cassirer die tiefgreifende affektive Verlagerung, die sich mit einer einfachen Modifizierung einiger Buchstaben eines Wortes einstellt, wenn die Nazis in ihren Propagandadiskursen etwa absichtlich mit der unmerklichen Abweichung spielen, wie sie sich zwischen Siegfriede und Siegerfriede feststellen lässt.¹⁴ Während der erste Ausdruck auf einen Sieg der Nazis verweist, bezieht sich der zweite auf den Sieg ihrer Gegner und bezeichnet damit das exakte Gegenteil. Diese Diskrepanz ausnutzend, schaffen die Nazis anlässlich ihrer Propagandareden eine besondere „emotionale Atmosphäre“.¹⁵ Diese unscheinbaren Modifikationen im Gebrauch der Mythen zu erfassen, wie sie die von den Nazis ins Werk gesetzte Propaganda sowie die unmerkliche Transformation des Wortschatzes befördern, erlaubt es Cassirer, einen Abstand zur Gegenwart zu erlangen. Es handelt sich darum, die Möglichkeitsbedingungen bestimmter Arten von Diskursen aufzuzeigen, um dadurch eine systematische Wiederbegründung des menschlichen Selbstverstehens zu ermöglichen. Um das Wesen der Totalitarismen herauszustellen, begnügt sich Cassirer nicht damit, die theoretischen Ansätze zu kommentieren, wie sie aus streng philosophischen oder politischen Schriften herauszulesen sind. Er erwägt desgleichen die feinen Veränderungen auf der affektiven, und d. h. „ästhetischen“ Ebene, im Wandel des von den totalitären Führern angelegten Menschenbildes. Und selbst wenn er philosophische oder politische Schriften analysiert, denen eine tragende Rolle zukommt, so spricht er ihnen niemals den Stellenwert von determinierenden Ursachen zu, sondern stets und ausschließlich den Status von Möglichkeitsbedingungen für die Emergenz politischer Wirklichkeiten, für welche die Akteure vollumfänglich verantwortlich bleiben (vgl. Cassirer 1946, S. 293). Noch mehr Sorgfalt verwendet er darauf, die Leitideen der Nazis zeitlich weit zurückzuverfolgen und so zu zeigen, dass sie ihre Quellen nicht allein in Deutschland besitzen, womit er jedwede Theorie eines deutschen Sonderwegs entschieden zurückweist, wonach die Deutschen notwendig dazu bestimmt gewesen seien, aufgrund von Besonderheiten ihrer eigenen Kultur den Nazismus anzunehmen. Das schließt natürlich nicht aus, dass der von Hegel betriebene Staatskult, aber auch der von Carlyle vertretene Heroenkult sowie der von Gobineau verteidigte Rassenkult die Individuen zusammengenommen dafür empfänglich machen konnten, den Nazi-Diskurs im 20. Jahrhundert bereitwillig aufzunehmen und sich ihm aus freien Stücken anzuschließen.

 Vgl. Cassirer 1946, S. 282: „The real rearmament began with the origin and rise of the political myths. The later military rearmament was only an accessory after the fact.“  Cassirer bezieht sich dabei auf Paechter et al. 1944.  Vgl. Cassirer 1946, S. 283: Cassirer hebt die Unmöglichkeit hervor, die „emotionale Atmosphäre“, die diese Ausdrücke umhüllt, restlos auf Englisch wiederzugeben.

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Cassirer vertritt demnach zugleich, dass eine große Anzahl kleiner Abweichungen, die sich in anderen Registern als dem der Politik vollzogen haben, dennoch eine Wichtigkeit für und eine untergründige Wirksamkeit auf die Politik gehabt haben, sowie auch, dass die Nazis und ihre Anhänger in ihrer Wahl vollkommen frei gewesen sind. Indem er erklärt, wie die Totalitarismen möglich wurden, negiert er weder die Verantwortlichkeit der Führer noch die ihrer Wähler oder auch der Philosophen – sich selbst eingeschlossen –, die die ganze Gefahr nicht rechtzeitig erkannt und es demnach nicht unternommen haben, auf diese zu reagieren, als sie dazu noch die Zeit gehabt hätten.¹⁶ Darin liegt die ganze Stärke der Interpretation, die Cassirer liefert, und deshalb auch ist seine politische Ideengeschichte der Vergangenheit und Gegenwart stets auch eine kritische Diagnostik, die dazu bestimmt ist, seinen Leser über sein zukünftiges Engagement als Bürger reflektieren zu lassen. In diesem Punkt kann man Cassirer als einen der großen ,politischen Moralisten‘ des 20. Jahrhunderts betrachten. Nach Cassirer ist die Politik nicht als ein abgetrennter oder abtrennbarer Bereich anzusehen, und die politischen Motive im engeren Sinne sind nie die einzigen, die zu berücksichtigen sind. Wie auch bei Foucault, erscheint Politik als diffus und komplex. Religion, Kunst, Wissenschaft, Technik, Architektur, Sprache usw. treten mit dem politischen Feld in ein Verhältnis und polarisieren es. Jede symbolische Handlung, die sich im kulturellen Feld entfaltet, kann auch auf ethischer und politischer Ebene gelesen werden. Man kann keine politische Ideengeschichte betreiben, ohne eine umfassende Anthropologie aufzustellen, die wiederum die Analyse aller symbolischen Formen voraussetzt, auch wenn diese auf den ersten Blick weit entfernt vom politischen Feld erscheinen und augenscheinlich nichts mit diesem zu tun haben. In Individuum und Kosmos beschreibt Cassirer z. B. – vermittelt durch Kunstwerke – die Art und Weise, wie die jeweilige Beziehung, die das Individuum mit der Gesellschaft sowie Freiheit und Notwendigkeit miteinander verbindet, zwischen Mittelalter und Renaissance eine tiefgreifende Wandlung erfahren konnte. Er untersucht die „Wandlungen des Fortuna-Symbols in der bildenden Kunst der Renaissance“ (Cassirer 1927, S. 80), um sodann die sozialen und politischen Folgen dieser ästhetischen Umbrüche ausmachen zu können. Auch Foucault befragt Politik und Gesellschaft in einer indirekten Modalität. Um z. B. eine kritische Diagnostik der Gefängnissysteme seiner Zeit entwerfen zu können, untersucht er in Überwachen und Strafen (1977) geduldig die Pläne der Erziehungsinstitute des 17. und 18. Jahrhunderts, um sie mit den zur selben Zeit – als Antwort auf die Anforderung, Strafen zu rationalisieren – entstehenden Gefängnisarchitekturen (vgl. Foucault 1977, Abb. 16) vergleichen zu können. Auf äußerst erstaunliche Art und Weise gliedert er seinem Gedankengang etwa Analysen zur Schrifthaltung und zum

 Vgl. Cassirer 1946, S. 296: Cassirer bedauert es, dass er und andere Philosophen zu der Zeit, als sie zum ersten Mal von modernen politischen Mythen hörten, diese nicht ernst nahmen. Er beklagt dies als einen großen Fehler und fordert dazu auf, einen solchen nicht ein weiteres Mal zu begehen.

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Schriftverlauf (vgl. Foucault 1977, 195 f.) ein und projiziert damit alle symbolischen Formen auf ein und dieselbe Beziehungsfläche, um aufzeigen zu können, wie das klassische Zeitalter und das 18. Jahrhundert auf allen Ebenen zur Herausbildung der Gefängnissysteme beigetragen haben. Er lenkt unseren Blick damit auf Orte, die uns sicherlich vertraut sind, die uns jedoch ohne diese Genealogie verborgen blieben. Es ist diese Genealogie, die eine auf die Gegenwart ausgeweitete kritische Diagnostik sowie ein Engagement in der ersten Person ermöglicht. Zum Abschluss lässt sich das Gesagte dahingehend zusammenfassen, dass es durchaus möglich ist, Cassirer und Foucault miteinander zu vergleichen, insofern beide die kantische Ethik aufgreifen und dabei die Kritik der Vernunft auf eine Anthropologie der Kultur hin öffnen. Beide versuchen, die unterschiedlichen Wissenschaften auf der logischen Ebene zu klassifizieren und zu ordnen, um Ordnung in die Diskurse zu bringen, die uns bestimmt haben oder uns weiterhin bestimmen. Beide berücksichtigen, dass sie an der durch die Aufklärung vermittelten Aufgabe der Befreiung partizipieren und historisieren dabei jedoch auch das Verständnis von ihr: Weit eher als um eine lange zurückliegende geschichtliche Epoche, handelt es sich bei der Aufklärung um eine stets zu erneuernde Einstellung. Beide versuchen, die Kulturwissenschaften aufzuwerten, ohne dabei jedoch die Naturwissenschaften herabzuwürdigen, in Wechselwirkung mit denen sie sich schließlich erst herausbilden. Das epistemologische Unternehmen einer Begründung der Humanwissenschaften ist ihnen ein gemeinsames Anliegen. Diese Epistemologie versucht auf beiden Seiten gegen verschiedene Engführungen anzukämpfen, handelt es sich bei diesen nun um den Psychologismus, den Historismus, Soziologismus oder den Naturalismus und Positivismus. Die strukturalistischen Paradigmen erfahren von beiden Seiten eine freie und originelle Interpretation. Die Linguistik spielt bei beiden Autoren eine aufschlussreiche Rolle, insofern es sich jeweils um mehrere Diskurse handelt, die es zu verknüpfen und zu charakterisieren gilt, um eine Problemgeschichte zu entwerfen, die sie trotz ihrer irreduziblen Verschiedenheit miteinander verbinden kann. Eine solche Geschichte zu konstruieren, führt bei beiden dazu, dass sie zwischen den Zeilen durchaus gewagte politische und soziale Engagements zum Ausdruck bringen. Gleichwohl bleiben trotz dieser Gemeinsamkeiten auch Stildifferenzen bestehen: Einerseits scheint bei Foucault – als ein Nachklang von Marx – ein stärker revolutionärer Akzent hindurch als bei Cassirer. Und andererseits macht er sich ein aus der Psychoanalyse bezogenes Vokabular sowie die Hypothese des Unbewussten zu eigen, die bei Cassirer nicht eigens profiliert werden. Foucault verortet die Philosophie der symbolischen Formen Cassirers innerhalb einer Konstellation, die diese mit der Philosophie des entfremdeten Menschen nach Marx und den Lebensphilosophien seiner Zeit ergänzt. Bei ihm finden sich die ökonomischen und sozialen Aspekte der kulturellen Phänomene stärker entwickelt als bei Cassirer. Und schließlich wendet sich Foucault von einer bestimmten geschlossenen Form von Humanismus ab, und zwar zugunsten einer kontinuierlichen Aufforderung zum Durchbrechen von Grenzen. Gleichfalls die Kreativität der Einbildungskraft würdigend und hervorhebend, bleibt Cassirer in seiner Verteidigung des Humanismus gewissermaßen klassischer und

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weniger revolutionär, treibt dabei jedoch einen Humanismus voran, der sich ebenso offen und letztlich wenig konservativ ausgestaltet. [Aus dem Französischen übersetzt von Daniel Creutz]

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Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1998). Text und Anmerkungen bearbeitet von Marcel Simon. Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band (1999). Text und Anmerkungen bearbeitet von Tobias Berben. Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band (1999). Text und Anmerkungen bearbeitet von Dagmar Vogel. Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band (2000). Text und Anmerkungen bearbeitet von Marcel Simon. Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band (2000). Text und Anmerkungen bearbeitet von Tobias Berben und Dagmar Vogel. Substanzbegriff und Funktionsbegriff (2000). Text und Anmerkungen bearbeitet von Reinold Schmücker. Freiheit und Form (2001). Text und Anmerkungen bearbeitet von Reinold Schmücker. Kants Leben und Lehre (2001). Text und Anmerkungen bearbeitet von Tobias Berben. Aufsätze und kleine Schriften 1902 – 1921 (2001). Text und Anmerkungen bearbeitet von Marcel Simon. Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (2001). Text und Anmerkungen bearbeitet von Reinold Schmücker. Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil. Die Sprache (= PSF 1) (2001). Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz. Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken (= PSF 2) (2002). Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz. Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis (= PSF 3) (2002). Text und Anmerkungen bearbeitet von Julia Clemens. Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (2002). Text und Anmerkungen bearbeitet von Friederike Plaga und Claus Rosenkranz. Die Philosophie der Aufklärung (2003). Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz. Aufsätze und kleine Schriften (1922 – 1926) (2003). Text und Anmerkungen bearbeitet von Julia Clemens. Aufsätze und kleine Schriften (1927 – 1931) (2004). Text und Anmerkungen bearbeitet von Tobias Berben. Aufsätze und kleine Schriften (1932 – 1935) (2004). Text und Anmerkungen bearbeitet von Ralf Becker. Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik. Historische und systematische Studien zum Kausalproblem (2004). Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz. Descartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung (2005). Text und Anmerkungen bearbeitet von Tobias Berben.

https://doi.org/10.1515/9783110549478-016

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Siglenverzeichnis

ECW 21: Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart. Thorilds Stellung in der Geistesgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts (2005). Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz. ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften (1936 – 1940) (2006). Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz. ECW 23: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (2006). Text und Anmerkungen bearbeitet von Maureen Lukay. ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften (1941 – 1946) (2007). Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz. ECW 25: The Myth of the State (2007). Text und Anmerkungen bearbeitet von Maureen Lukay.

Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte (ECN). Begründet von Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois und Oswald Schwemmer. Herausgegeben von Christian Möckel. Hamburg: Felix Meiner. ECN 1:

ECN 2: ECN 3: ECN 4: ECN 5: ECN 6: ECN 7: ECN 8: ECN 9: ECN 10: ECN 11: ECN 12: ECN 13: ECN 14:

ECN 15: ECN 16: ECN 17: ECN 18:

Zur Metaphysik der symbolischen Formen. John Michael Krois / Oswald Schwemmer (Hrsg.) (1995). Unter Mitwirkung von Anne Appelbaum, Rainer A. Bast, Klaus Christian Köhnke und Oswald Schwemmer. Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis. Klaus Christian Köhnke / John Michael Krois (Hrsg.) (1999). Geschichte. Mythos. Klaus Christian Köhnke / Herbert Kopp-Oberstebrink / Rüdiger Kramme (Hrsg.) (2002). Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ‚Wiener Kreis‘. Christian Möckel (Hrsg.) (2011). Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929 – 1941. Rüdiger Kramme (Hrsg.) (2004). Unter Mitarbeit von Jörg Fingerhut. Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie. Gerald Hartung / Herbert Kopp-Oberstebrink (Hrsg.) (2005). Unter Mitwirkung von Jutta Faehndrich. Mythos, Sprache und Kunst. Jörn Bohr / Gerald Hartung (Hrsg.) (2011). Vorlesungen und Vorträge zu philosophischen Problemen der Wissenschaften. Jörg Fingerhut / Gerald Hartung / Rüdiger Kramme (Hrsg.) (2010). Zu Philosophie und Politik. John Michael Krois / Christian Möckel (Hrsg.) (2008). Kleinere Schriften zu Goethe und zur Geistesgeschichte. Barbara Naumann (Hrsg.) (2006). Herausgegeben in Zusammenarbeit mit Simon Zumsteg. Goethe-Vorlesungen (1940 – 1941). John Michael Krois (Hrsg.) (2003). Schillers philosophische Weltansicht. Jörg Fingerhut (Hrsg.) (2015). Unter Mitarbeit von Paolo Rubini. Zur Philosophie der Renaissance. Dominic Kaegi / Enno Rudolph (Hrsg.) (erscheint 2018). Descartes, Leibniz, Spinoza. Paolo Rubini / Christian Möckel (Hrsg.) (2018). Unter Mitwirkung von Gideon Freudenthal, Dominic Kaegi, John Michael Krois und Alberto Guillermo Ranea. Vorlesungen und Vorträge zu Kant. Christian Möckel (Hrsg.) (2016). Vorlesungen zu Hegels Philosophie der Moral, des Staates und der Geschichte. Christian Möckel (Hrsg.) (2013). Davoser Vorträge. Vorträge über Hermann Cohen. Jörn Bohr / Klaus Christian Köhnke (Hrsg.) (2014). Ausgewählter wissenschaftlicher Briefwechsel. John Michael Krois (Hrsg.) (2009).

Personenregister Adorno, Theodor W. 146, 218–225, 227–231, 234–236, 284, 300 Andermatt, Alois 8 f., 15, 23 Andersch, Norbert 114 Anscombe, Elizabeth 32 Antonucci, Elio 7 Apel, Karl-Otto 3, 11, 23, 69 f., 79–87 Appelbaum, Anne 304 Aristoteles 106, 137 f., 158 Armstrong, David 32, 44 Arteaga, Alex 24 Augustinus 158 Austin, John 29, 44 Ayer, Alfred 31, 34–36, 44 Badiou, Alain 222 Barnouw, Jeffrey 23 Barr Clingan, Nicolaas P. 237 Bast, Rainer A. 304 Bauch, Bruno 89, 111 Baudelaire, Charles 288 Baum, Manfred 107, 111 Beaney, Michael 96, 111 Becker, Hans-Joachim 214 Becker, Ralf 71, 87, 171, 173, 201, 279, 280, 303 Benhabib, Seyla 218–220, 230, 237 Benjamin, Walter 222 Bentley, Arthur 51 Berben, Tobias 303 Bergson, Henri 171, 196, 198–200, 203, 207 f., 238 Bermes, Christian 173, 177, 192 Bevc, Tobias 220–223, 237 Biemel, Walter 148, 173 Bischoff, Michael 300 Bloch, Ernst 171, 173, 185, 192 Blumenberg, Hans 189, 192 Boehm, Gottfried 246–248, 255 f., 257-259 Böhme, Hartmut 249, 258 Bohr, Jörn 84, 304 Bopp, Franz 293 Bösch, Michael 207, 214 Boullées, Etienne-Louis 247 Bourdieu, Pierre 283, 300 Boutroux, Émile 143 Brandom, Robert 35, 44, 131, 136, 143, 147 Braun, Hans-Jürg 173 https://doi.org/10.1515/9783110549478-017

Bredekamp, Horst 24, 87, 128 Breyer, Thiemo 1, 5, 26 Broad, C.D. 143 Bruin, Leon de 191 Bubner, Rüdiger 194 Buchner, Hartmut 198, 214 f. Burgess, Peter 129 Burkamp, Wilhelm 89, 111 Busche, Hubertus 129 Caeymaex, Florence 284, 300 Canguilhem, Georges 294 Capeillères, Fabien 248, 258, 300 Carlyle, Thomas 297 Carnap, Rudolf 24, 44, 87, 90, 98, 100, 110 f. Cassirer, Ernst 1–5, 7–11, 13–24, 25–27, 33– 35, 37–45, 47–83, 85–96, 98–102, 104– 106, 108, 110, 111, 113–136, 139–149, 151– 166, 173, 175–207, 211–215, 217–229, 232– 240, 244, 248–259, 261–280, 283–286, 289–304 Chiesa, Curzio 68 Clemens, Julia 303 Clingan, Nicolaas 220, 237 Cohen, Hermann 55, 91, 99–102, 104 f., 107 f., 131–135, 143 f., 148, 201 f., 304 Cohn, Jonas 78, 87 Crane, Tim 3, 25, 27–34, 39, 43 f. Creutz, Daniel 300 Cutrofello, Andrew 129 d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 226 Damböck, C. 149 Dancy, Jonathan 45 Darwin, Charles 11, 142 Davids, Johanna 5 Deen, Philip 50 Deleuze, Gilles 67, 222 Descartes, René 80, 97, 108, 152, 157 f., 166, 230, 290 f., 303 f. Dewey, John 3, 47–54, 56–58, 60–68, 132, 142 f., 145, 148 Dilthey, Wilhelm 140 f., 143, 149, 153, 171, 196, 200 f., 203, 207 f., 291 f., 294 Dodd, James 129 Donald, Merlin 181, 185, 192 Dzwiza, Erik Norman 5

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Personenregister

Ehrenfels, Christian von 99, 111 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus 278, 280 Elberfeld, Rolf 214 Elkins, James 247, 258 Endres, Tobias 3-5, 25 f., 38 f., 44, 237, 280 Engel, Franz 67 Esposito, L. Joseph 19, 23 Euklid 96 f., 111 Faehndrich, Julia 304 Falkenburg, Brigitte 177, 192 Favuzzi, Pellegrino 4 f., 236 f., 280 Fellmann, Ferdinand 214 Feron, Oliver 121, 128 Ferrari, Massimo 9 f., 23, 51, 67, 100 f., 111 Fetz, L. Reto 14 f., 23, 87 f., 194 Feuerbach, Ludwig 158, 172 f. Fichte, Johann Gottlieb 19, 198, 209, 211 f. Fiedler, Konrad 247, 257 f. Filieri, Luigi 4 f. Fingerhut, Jörg 128, 304 Fisch, Max 9, 22 f. Fischer, Joachim 176, 192, 237 Fish, William 27, 44 Foucault, Michel 4, 222, 283–295, 298-300 Frank, Gustav 247, 258 Frege, Friedrich L. G. 89, 98 French, Craig 27, 44 Freud, Sigmund 186 Freudenthal, Gideon 304 Freyberg, Sascha 3, 47, 51, 53, 66 f. Friedman, Michael 44, 90, 100, 111 f. Friedman, Tyler 4, 26, 45 Frischeisen-Köhler, Max 214 Fromm, Erich 218 Fuchs, Thomas 4, 44, 113–116, 126-128 Fumi, Tanahashi 214 Gadamer, Hans-Georg 87, 257 Gallagher, Shaun 191 Gava, Gabriele 10, 23 Gehlen, Arnold 185, 192, 272 Gelb, Adhémar 119, 244 Gerhardt, Volker 177, 192 Geyer, Carl-Friedrich 50, 67 f. Glock, Hans-Johann 90, 111 Gobineau, Arthur de 297 Gödde, Christoph 237

Goethe, Johann Wolfgang von 7, 13, 20–24, 54, 132, 134,148, 171, 180, 199, 206, 213 f., 217, 226, 233, 235, 304 Goldenweiser, Alexander A. 48, 68 Goldstein, Kurt 51, 119, 122, 182 f., 192 f. Gondek, Hans-Dieter 300 Goodall, Jane 276, 280 Goodman, Nelson 96, 111 Gordon, Peter 26, 44 Grice, Paul 30, 44 Grouls, Niklas 5 Grüne, Niels 128, 259 Grünkorn, Gertrud 5 Gurwitsch, Aron 151 f. Habermas, Jürgen 42, 44, 219 f. Hajime, Tanabe 198 Halbig, Christoph 238 Hampe, Michael 68 Hartung, Gerald 178, 193, 239, 249, 258, 304 Head, Henry 121 Heath, Joseph 97, 111 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 15, 48, 53, 55 f., 68, 87, 91, 106, 135, 145, 147, 152, 155 f., 158, 162, 170, 186, 190, 194, 211 f., 220, 229, 232, 241, 297, 304 Heiberg, Johann Ludvig 111 Heidegger, Martin 44, 88, 90 f., 101, 111, 146, 171, 173, 176, 180, 183, 190, 193, 197 f., 214 f., 220, 269, 283 f., 300 Heinemann, Fritz 196 Heisenberg, Werner 84 Hellmann, Bertha 300 Heltne, Paul G. 281 Herbart, Johann Friedrich 242 f. Herder, Johann Gottfried 91, 106, 134, 217, 226, 232 Herrmann, Bernd 280 Hintikka, Jaakko 97, 111 Hinton, John 32, 44 Hobbs, D.J. 129 Holzhey, Helmut 173 Honer, Oliver 3, 69 Hönigswald, Richard 118 Honneth, Axel 219 f., 222, 226, 228, 230, 238 Horkheimer, Max 218–221, 223–225, 227– 230, 237, 284, 300 Howe, Clarence Smith 129, 131 f., 139 f., 142– 145, 148 Hubig, Christoph 186, 193

Personenregister

307

Hügli, Anton 68 Hultsch, Friedrich Otto 112 Humboldt, Wilhelm von 19, 24, 91 f., 106, 139, 217, 226, 235 f., 264, 293 Husserl, Edmund 18, 118, 130, 133, 144, 148, 153, 157, 166, 168, 171, 173, 191

Krijnen, Christian 111, 193 Kristensen, Stefan 173 Krois, John Michael 7 f., 10 f., 23 f., 80, 87, 92, 111, 121, 128, 151, 173, 177, 182, 192 f., 218, 224–226, 234, 238, 249, 258 f., 261, 271, 280, 304

Imdahl, Max 245–248, 255, 257 f. Inoue-Murayama, Miho 280

Lange, Carl 122 Lange, Friedrich August 107 Lauschke, Marion 1, 4, 24, 87, 113, 128, 239, 258 Lefort, Claude 173 Lehrman, Daniel 262, 280, Leibniz, Gottfried Wilhelm 9, 23, 79–82, 84, 87, 88, 91, 97 f., 111, 114, 201, 226, 230, 234, 283, 303 f. Lersch, Philipp 196 Lessing, H.-U. 149 Litt, Theodor 270 Livingston, Paul 129 Lofts, Steve 139 Lonitz, Henri 237 Look, Brandon 129 Lorenz, Konrad 253, 258, 261 f., 272, 278, 280 Lotter, Maria-Sibylla 49, 51, 68 Lovejoy, Arthur O. 51, 68 Löwenthal, Leo 218 Löwith, Karl 198 Luft, Sebastian 1, 3-5, 10, 23, 26, 45, 100– 102, 111, 129, 140, 146, 148 f., 160, 242 Lukácz, Georg 223 Lukay, Maureen 304

Jaeggi, Rahel 190, 193 James, William 51, 117, 122, 143, 183 Jay, Martin 221, 238 Joas, Hans 51, 68 Jung, Matthias 181, 192 f. Kaegi, Dominic 284, 304 Kaemmerling, Ekkehard 258 f. Kaiser, Reinhard 258, 279 Kant, Immanuel 2, 9-11., 18 f., 21, 23 f., 33, 35–37, 40, 45, 47, 51, 53, 55, 60, 68, 70, 72–74, 87, 89, 91, 95, 99–104, 111, 118, 129, 133 f., 141, 143 f., 146-149, 153–156, 182, 186, 193, 195 -197, 199-210, 203, 212, 214, 217, 226, 230, 232, 234, 236, 238, 241, 243, 258, 263, 280, 283, 285–289, 299, 303 f. Kapp, Ernst 182, 185, 188, 193 Kaschnitz-Weinberg, Guido 247, 258 Kaufmann, Felix 142 f., 148 Ketner, L. Kenneth 23 King, James E. 280 Kirchner, Anna 44 Klages, Ludwig 21, 120, 152, 161, 203–205, 252 Klattenhof, Timo 4 f., 44, 237, 280 Koeber, Raphael von 199 Koffka, Kurt 266 Köhler, Wolfgang 40, 45, 99, 111, 122, 179, 196, 214, 262, 264–266, 274, 280 Köhnke, Klaus Christian 304 Konersmann, Ralf 68 Kopp-Oberstebrink, Herbert 304 Köppen, Ulrich 300 Kosaka, Masaaki 200, 214 Kramme, Rüdiger 238, 304 Krausser, Peter 18 Kreis, Guido 1, 3, 42 f., 45, 66, 76, 79, 89 f., 111, 118, 143, 145, 148, 182, 185, 264, 278, 304

Maaß, Holger 129 Macey, David 284, 300 Mackie, John 34–36, 39 Mähl, Nikolai 3, 151 Makkreel, Rudolf A. 23, 140, 149 Malraux, André 154 Malsch, Wilfried 23 Manghani, Sunil 258 Manjali, Franson Davis 59, 68 Marc-Wogau, Konrad 89, 112 Marcuse, Herbert 218, 223 Marienberg, Sabine 67, 128 Marx, Karl 87, 188–190, 193, 200, 215, 221, 294, 299 Matsuzawa, Tetsuro 277 f., 280 McDowell, John 3, 27, 35, 41, 45, 106, 129, 131 f., 135–138, 142–147, 149

308

Personenregister

McGrew, W. C. 281 Mead, George Herbert 143 Meland, Ingmar 18, 23, 26, 45 Menary, Richard A. 191, 193 Merleau-Ponty, Maurice 3 f., 29, 40, 113, 115, 121–124, 128, 151–159, 165–173, 191, 283, 300 Mersch, Walter 194 Mersmann, Birgit 257 Métraux, Alexandre 183, 193 Meuter, Norbert 179, 181, 193 Meyer, Thomas 233, 238 Michaels, Alexis 258 Miki, Kiyoshi 197, 215 Mildenberger, Florian 280 Mill, J. S. 10 Misch, Georg 196 Möckel, Christian 8, 13–16, 21, 24, 178, 193, 203, 205 f., 215, 304 Moore, George 31, 33, 45 Morgan, Lloyd 269 Morgenbesser, Sidney 50, 68 Müller, Jan 87 f. Müller, Oliver 4, 32, 74, 175, 177, 190, 193 Müller, Ralf 4, 195, 214 Natorp, Paul 41, 45, 53, 56, 79, 88, 91, 102, 111, 148, 202 Naumann, Barbara 24, 304 Newen, Albert 191 Nietzsche, Friedrich 67 f., 156, 159, 173, 196, 201, 214, 283, 294 Niklas, Stefan 1, 3, 5, 26, 47, 51, 67 Nishida, Kitaro 4, 195–204, 207–215 Noe, Ava 44 Nordmann, Alfred 112, 190, 193 Nordsieck, Viola 1, 4, 217, 226, 238 Oberhauser, Claus 128, 259 Oehler, K. 8 Ohashi, Ryosuke 197, 215 Ortega y Gsset, José 188, 193 Orth, Ernst Wolfgang 74, 88, 173, 177, 193, 214 Paechter, Hedwig 297, 300 Paechter, Heinz 297, 300 Paetel, Karl O. 300 Paetzold, H. 8

Panofsky, Erwin 201, 239 f., 243, 253–255, 258 f. Pappos 97, 112 Pätzold, Detlev 111 Pedersen, Esther Oluffa 184, 193 Peirce, Charles S. 3, 7–13, 15–24, 51, 68, 193 Pfaflik, Hannelore 257 Piovesana, Gino K. 199, 215 Pitcher, George 32, 45 Platon 97, 138, 158, 166, 168, 170, 174, 176, 188, 194, 213, 303 Plessner, Helmuth 181, 193, 264 Pollock, Anne 4 f. Pollock, Friedrich 218 Pörtner, Peter 214 Prange, Regine 255, 259 Putnam, Hilary 32, 45 Quante, Michael 238 Quillet, Pierre 300 Rabinow, Paul 300 Raio, Guilio 253, 259 Rammstedt, Angela 238 Ranea, Alberto Guillermo 304 Ratcliffe, Matthew 29, 45 Raulff, Ulrich 259 Recki, Birgit 20, 24, 74, 88, 192 f., 217, 228 f., 238, 259, 269, 280, 285, 300, 303 Remes, Unto 97, 111 Renz, Ursula 131, 149 Ribot, Théodule 122 Richardson, Alan 100, 112 Richter, Jürgen 4, 243 Rickert, Heinrich 140, 195–198, 200 f., 203 f., 207, 214 f., 292 Riegl, Alois 245, 247 f., 253, 258 f. Rigsby, Curtis A. 198, 215 Ritter, Joachim 196 Rölli, Marc 48 Rorty, Richard 132, 137 Rosengren, Mats 193 Rosenkranz, Claus 303 f. Rosensohn, L. William 8, 16, 18, 20, 24 Rosenthal, Otto 122 Roth, Gerhard 262, 280 Rubini, Paolo 304 Rudolph, Enno 23, 284, 286, 300 f., 304 Rumbaugh, Duane. M. 277 Russel, Bertrand 31, 33, 45, 89, 89, 201

Personenregister

Saint Aubert, Emmanuel de 173 Sanday, Eric 129 Sandkühler, Hans J. 23 Sandmeyer, Bob 129 Sartre, Jean-Paul 284, 300 Sauer, Martina 4, 125, 128, 239, 252, 255 f., 259 Savage-Rumbaugh, E. Sue 277, 280 Saxl, Fritz 239 Schade, Sigrid 247, 259 Scheler, Max 14, 117–119, 128, 178, 196, 203– 205, 207, 213, 264, 280 Schelling, Friedrich W. J. 55, 212 Schiller, Friedrich 7, 18–21, 23 f., 186, 304 Schilpp, Paul A. 51 f., 68 Schinzinger, Robert 200–202, 214 f. Schlette, Magnus 44 Schmitz, Alexander 192 Schmücker, Reinold 303 Schopenhauer, Arthur 31, 45, 76, 158, 199 Schrimpf, Joachim 258 Schubbach, Arno 180, 193 Schuffenhauer, Werner 173 Schuhmann, Karl 148 Schwarz, Felix 4, 261, 269, 280 Schwemmer, Oswald 186, 194, 196, 207, 215, 234, 238, 304 Searle, John 32, 45 Sedlmayr, Hans 247, 258 f. Seitter, Walter 300 Sellars, Wilfried 35, 129, 131 f., 136, 147, 149 Short, Thomas 18, 21, 24 Simmel, Georg 66, 70–72, 87, 190, 199, 228, 238, 294 Simon, Marcel 303 Snell, Bruno 188, 194 Snow, Charles Percy 141 f. Sowa, Rochus 148 Speer, Andreas 4 Sperber, Carina 5 Spies, Christian 257 Spranger, Eduard 202 Staiti, Andrea 23, 111 Stamatis, E.S. 111 Staudacher, Alexander 27, 45 Steidele, Angela 193 Stern, Daniel 125, 128 Stiegler, Bernd 192 Stjernfelt, Frederik 8, 24 Stoessl, Franz 279

309

Stolzenberg, Jürgen 107, 112 Strawson, Peter 3, 25, 33–37, 39, 41–43, 45, 89 f., 96, 98, 102–106, 108–110, 112 Stroud, Barry 105, 112 Suhr, Martin 57, 63, 67 Taine, Hippolyte 144 Tanikawa, Tetsuzo 200, 215 Taylor, Charles 181, 194 Tetsuji, Yura 201, 215 Thomas 158 Thompson, Evan 44, 191, 194 Tinbergen, Niko 262 Tomasello, Michael 278, 280 Topa, Alessandro 8, 11, 18 f., 24 Tugendhat, Ernst 176, 194 Tuinen, Sjoerd 67 Uexküll, Jakob von 51, 262, 271–273, 278, 280 Ullrich, Sebastian 11, 23 f., 70, 77 f., 87 f., 194 Vignoli, Tito 267 Viola, Tullio 19, 24 Vischer, Friedrich Theodor 241–246, 248, 255, 259 Vliet, Muriel van 1, 4 f., 67, 283, 290, 301 Vogel, Dagmar 303 Vogler, Paul 87 Volkelt, Hans 262, 268 Waal, Frans de 279-281 Warburg, Aby M. 44, 66-68., 177, 239 f., 248 f., 251, 253 f., 258 f. Warren, Nicolas de 23, 111 Weber, Julia 22 Weinhandl, Ferdinand 111 Weiss, Alexander 279 f. Wenk, Silke 247, 259 Werner, Heinz 122 f., 128 Westerkamp, Dirk 193 Whitehead, Alfred North 53, 67, 238 Wiegerling, Klaus 82, 85, 88, 186, 194 Wiesing, Lambert 245, 259 Wiggershaus, Rolf 221, 238 Wind, Edgar 63, 67 f., 239, 255, 259 Windelband, Wilhelm 140, 292 Wittgenstein, Ludwig 106, 112, 137 Wolfe, John B. 274 Wölfflin, Heinrich 245, 248, 260 Wrangham, Richard W. 276, 281

310

Personenregister

Wunsch, Matthias 48, 264, 280 Wyrwich, Thomas 48, 68 Yerkes, Robert M. 262, 273–276, 281 Yusa, Michiko 199, 215

Zepke, Stephen 67 Zimmermann, Robert 242–245, 255, 260 Zumsteg, Simon 304