Ermutigung zum Aufbruch: Eine kritische Bilanz des Zweiten Vatikanischen Konzils 353426312X, 9783534263127

50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil fragen renommierte Theologinnen und Theologen in diesem Buch, was vom Auf

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German Pages [187] Year 2013

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort des Herausgebers
Die Entwicklung seit Papst Paul VI.
Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zusammenarbeit europäischer Bischöfe und Theologen
Die erste Frucht des Konzils: Die Bedeutung der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium für die Erneuerung des Gottesdienstes der Kirche
„Es gibt kein Jenseits der Medien“: Das Zweite Vatikanische Konzil und die Medien
„[…] geht die Kirche immerfort den Weg der Buße und Erneuerung“ (LG 8): Betrachtung eines zentralen Konzilstextes zum Selbstverständnis der Kirche
Weltpastoralkonstitution: Zukunftsweisende Orientierungen aus Gaudium et spes
Von der gehorsamen Herde zur eigenen Würde, Freiheit und Verantwortung der Laien! Was ist aus dieser kopernikanischen Wende geworden?
Das Zweite Vatikanische Konzil als Ausgangspunkt einer am Menschen orientierten Religionspädagogik
„Wir spielen immer die unvollendete Symphonie, und immer ist nur Generalprobe“
Gemeinsam auf dem Weg – Fünfzig Jahre Unitatis redintegratio
Das Zweite Vatikanische Konzil aus evangelischer Sicht
Nostra aetate: Ein Neuaufbruch in der Verhältnisbestimmung der Kirche zu den Religionen
„Der unterbrochene Frühling“: Erinnerung an das Weltkirche-Werden auf dem 2. Vatikanischen Konzil
Die eine Volkskirche und die vielen Völker: Implikationen konziliarer Ekklesiologie
Einige in ihrer Tragweite noch kaum erkannte Grundaussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils
Das verratene Konzil: Erinnerungen an eine verspielte Zukunft
Die Piusbruderschaft und das Zweite Vatikanische Konzil
Das Konzil – Wegweiser und Grundtext in neuen Zeiten
Das II. Vaticanum und seine Zukunft: Persönliche Erinnerungen und subjektive Randbemerkungen
Anhang
Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils
Autorinnen und Autoren
Informationen Zum Buch
Informationen Zum Autor
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Ermutigung zum Aufbruch: Eine kritische Bilanz des Zweiten Vatikanischen Konzils
 353426312X, 9783534263127

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Philipp Thull (Hrsg.)

Ermutigung zum Aufbruch Eine kritische Bilanz des Zweiten Vatikanischen Konzils

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2013 by WBG (Wissenschaft liche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Janß GmbH, Pfungstadt Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Einbandabbildung: Zweites Vatikanisches Konzil: Petersdom bei Nacht © picture alliance / ANSA Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-26312-7 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73778-9 eBook (epub): 978-3-534-73779-6

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Johannes Beutler SJ Die Entwicklung seit Papst Paul VI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Joachim Schmiedl ISch Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zusammenarbeit europäischer Bischöfe und Theologen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

Jürgen Bärsch Die erste Frucht des Konzils Die Bedeutung der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium für die Erneuerung des Gottesdienstes der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Erich Garhammer „Es gibt kein Jenseits der Medien“ Das Zweite Vatikanische Konzil und die Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Roman A. Siebenrock „[…] geht die Kirche immerfort den Weg der Buße und Erneuerung“ (LG 8) Betrachtung eines zentralen Konzilstextes zum Selbstverständnis der Kirche . .

48

Ingeborg Gabriel Weltpastoralkonstitution Zukunftsweisende Orientierungen aus Gaudium et spes . . . . . . . . . . . . . .

59

Sabine Demel Von der gehorsamen Herde zur eigenen Würde, Freiheit und Verantwortung der Laien! Was ist aus dieser kopernikanischen Wende geworden? . . . . . . . . . .

67

Joachim Theis Das Zweite Vatikanische Konzil als Ausgangspunkt einer am Menschen orientierten Religionspädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6

Inhaltsverzeichnis

Wunibald Müller „Wir spielen immer die unvollendete Symphonie, und immer ist nur Generalprobe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Philipp Thull Gemeinsam auf dem Weg – Fünfzig Jahre Unitatis redintegratio . . . . . . . . . . .

94

Walter Fleischmann-Bisten Das Zweite Vatikanische Konzil aus evangelischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . .

102

Klaus von Stosch Nostra aetate Ein Neuaufbruch in der Verhältnisbestimmung der Kirche zu den Religionen .

112

Margit Eckholt „Der unterbrochene Frühling“ Erinnerung an das Weltkirche-Werden auf dem 2. Vatikanischen Konzil . . . .

120

Christoph Böttigheimer Die eine Volkskirche und die vielen Völker Implikationen konziliarer Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

Peter Knauer SJ Einige in ihrer Tragweite noch kaum erkannte Grundaussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

138

Urs Baumann Das verratene Konzil Erinnerungen an eine verspielte Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147

Andreas R. Batlogg SJ / Nikolaus Klein SJ Die Piusbruderschaft und das Zweite Vatikanische Konzil . . . . . . . . . . . . . . .

156

Hans-Jochen Jaschke Das Konzil – Wegweiser und Grundtext in neuen Zeiten . . . . . . . . . . . . . . .

165

Gisbert Greshake Das II. Vaticanum und seine Zukunft Persönliche Erinnerungen und subjektive Randbemerkungen . . . . . . . . . . .

174

ANHANG Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort des Herausgebers

Vorwort des Herausgebers

Als Papst Johannes XXIII. der Weltkirche am 25. Januar 1959, am Fest der Bekehrung des Apostels Paulus, in der römischen Kirche St.  Paul vor den Mauern, „zitternd vor Bewegung, aber zugleich mit demütiger Entschlossenheit“1 ein neues ökumenisches Konzil ankündigte, da ahnte niemand, dass das Zweite Vatikanische Konzil zu einem der herausragenden Ereignisse der neueren Kirchengeschichte würde. Nicht wenige Bischöfe und Kardinäle zeigten sich ernüchtert, irritiert, verwundert, vielleicht gar verängstigt. Die Bedeutung erschloss sich den meisten wohl erst in den Tagen und Wochen danach. Die römische Kurie indes hüllte sich in eisiges Schweigen und suchte zu retten, was zu retten war. Das gläubige Kirchenvolk hingegen sah diesem Ereignis trotz unterschiedlicher Erwartungen mehrheitlich spannungs-, erwartungs-, ja hoff nungsvoll entgegen.2 Schon bald nach seiner Eröff nung am 11. Oktober 1962, dem Fest der Mutterschaft Mariens, offenbarte sich der zutiefst pastorale Charakter dieses Konzils. In einem freien und offenen Dialog sollte es sich all jenen Fragen widmen, die sich der gegenwärtigen Welt stellten. Aber nicht nur die alten und „ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie je die Herzen der Menschen im tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?“3, sondern auch die drängenden wirtschaft lichen und politischen Fragen der modernen Welt und die Lage des Christentums, das immer mehr von seiner prägenden Kraft eingebüßt hatte, verlangten nach einer klärenden Antwort. Es war seine väterliche Sorge um die Kirche und die Menschen seiner Zeit, die Papst Johannes XXIII. dazu bewegte, dieses Konzil einzuberufen. Was er sich versprach, war ein „Schritt vorwärts“4 ins Heute, eine neue Positionierung in der Welt, letztlich ein Aufbruch zu innerer Erneuerung und Reform der Kirche, ohne sich „von dem Schatz ihrer Wahrheit [zu] trennen, den sie von den Vätern ererbt hat“5. Anders als die vorangegangenen Konzilien, einschließlich des Ersten Vatikanischen Konzils (1869–1870) jedoch, verzichtete dieses Konzil darauf, die Verurteilung vermeintlicher Irrtümer in den Mittelpunkt zu stellen und wählte bewusst eine allgemeinverständliche, menschliche, von der Heiligen Schrift durchdrungene Sprache, um „Freude und Hoff nung, Trauer und Angst der Menschen“ 6 auf diese Weise wirklich gerecht werden zu können. Überblickt man nun die 72 im Vorfeld des Konzils erarbeiteten Entwürfe der Konzilsdekrete (Schemata) und die 16 während der vier Konzilssessionen unter Papst Paul VI.

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Vorwort des Herausgebers

verabschiedeten Konzilsdokumente, wird deutlich, mit welchem Mut die Konzilsväter ans Werk gegangen waren und wie entschieden sie einen Aufbruch anstrebten. Am Ende stand nicht nur ein erneuertes, von Triumphalismus und Klerikalismus gelöstes Selbstverständnis der Kirche und damit einhergehend ein Wandel ihrer inneren Lebensführung, sondern auch eine Neuausrichtung ihrer Sendung und neue Verhältnisbestimmung zu den getrennten nichtkatholischen Schwestern und Brüdern, zu den Nichtchristen und der modernen Welt von heute. Die Annahme im Vorfeld des Konzils, die heilige Versammlung werde nicht allzu lange dauern und die Bischöfe würden mit ihrer Stimme nur bestätigen und absegnen, was zuvor von der römischen Kurie ausgearbeitet wurde, widerlegten die Konzilsväter vom Zeitpunkt der ersten Sitzungsperiode bis zum Ende des Konzils als Trugschluss. Die Erklärungen des Liller Bischofs Achille Kardinal Liénart und des Kölner Erzbischofs Josef Kardinal Frings zur Wahl der Kommissionsmitglieder bleiben unvergessen. Der Applaus der Konzilsväter war ein Zeichen dafür, „dass das ganze Konzil derselben Meinung war“7 und „entschlossen, selbstständig zu handeln und sich nicht zum Vollstreckungsorgan der vorbereitenden Kommissionen zu degradieren.“8 Am Ende wurde durch den Willen zum Aufbruch „viel mehr erreicht, als am Anfang erwartet werden konnte.“9 Das Konzil war eine Ermutigung zum Aufbruch, es war der verheißungsvolle „Anfang eines Anfangs“10, wie Karl Rahner sagt, dessen Fortschreibung wesentlich davon abhängt, ob es der gegenwärtigen und künftigen Kirche zu gelingen vermag, dem Menschen jenes größere und unbegreiflich scheinende Geheimnis, welches wir Gott nennen, durch das Zeugnis der tätigen Liebe und in derart glaubhafter und verständlicher Sprache nahezubringen, dass Christus ihm tatsächlich als das alle Welt erhellende Licht erfahrbar wird und er das Mysterium des fleischgewordenen Wortes als die Antwort auf die drängenden, oft mals bedrängenden Fragen und Unwägbarkeiten seines Lebens aufzugreifen und anzunehmen bereit wird. Besonderer Dank gilt an dieser Stelle den Autorinnen und Autoren für die Ausarbeitung ihrer Beiträge, in denen der Wille zu jenem Aufbruch spürbar und mit Händen greifbar bleibt, zu dem das Zweite Vatikanische Konzil ermutigt hat sowie der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (WBG) für die Aufnahme dieses Buches in ihr Verlagsprogramm und die hervorragende Zusammenarbeit bei der Veröffentlichungsvorbereitung. Widmen möchte ich meine Arbeit an diesem Projekt Barbara Sophie Krämer sowie meiner verstorbenen Großmutter Margarethe Damm. Es liegt an uns, der Kirche von heute, die unverzichtbaren und wegweisenden Impulse der Konzilsväter aufzugreifen und ihnen im Dienst am Menschen zur größeren Ehre Gottes eine lebendige Gestalt zu verleihen. Dabei kommt es entscheidend darauf an, dass „die Kirche ihre Heilsbotschaft der in Not und Angst befindlichen Menschheit nicht von den Ballustraden eines Kirchturms herab verkündet, sondern inmitten dieser Menschheit stehend, ihre Nöte teilend, ihre Unsicherheit kennend, im Bewusstsein, dass wir alle gemeinsam auf der Suche und auf dem Weg zum Heil sind, von dem die Kirche glaubt, dass es nur in Jesus Christus, dem Sohn Gottes, unserem Herrn zu finden ist“11. In diesem Sinne sei dieser Band jeder Leserin und jedem Leser eine Einladung, sich vom Geist dieses Konzils,

Vorwort des Herausgebers

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der der Geist aller Konzilien, der Geist des Evangeliums ist, bewegen zu lassen und sich in seinem Sinne für eine von Glaube, Hoffnung und Liebe erfüllte Kirche einzusetzen, die sich unerschrocken, überzeugt und überzeugend ihren Weg in die Zukunft bahnen kann. Münster in Westfalen, im Februar 2013

Philipp Thull

Anmerkungen 1 Ansprache von Papst Johannes XXIII. zur Ankündigung einer Diözesansynode für Rom und des ökumenischen Konzils am 25. 1. 1959, in: Herder Korrespondenz 13 (1958 / 59), 387–388. 2 Vgl. Alberigo, G. u. K. Wittstadt (Hrsg.): Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959– 1965). Bd. I. Mainz (1997), 20 ff. 3 NA 1. 4 Ansprache von Papst Johannes XXIII. zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils am 11. 10. 1962, in: KNA-Sonderbericht II. Vatikanisches Konzil, Bd. I, Nr. 19, 11. 10. 1962, S. 1 ff.; in der Herder Korrespondenz 17 (1962 / 63), 85–88, ist vom „balzo innanzi“, wie es im Italienischen heißt, erstaunlicherweise keine Rede mehr. 5 Ebd. 6 GS 1. 7 Kardinal Frings, J.: Für die Menschen bestellt. Erinnerungen des Alterzbischofs von Köln. Köln (1973), 253. 8 Ratzinger, J.: Die erste Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils  – ein Rückblick. Köln (1963), 14. 9 Döpfner, J., Pressekonferenz zum Abschluss des Konzils, 10. Dezember 1965. 10 Rahner, K.: Das Konzil – ein neuer Beginn. Vortrag beim Festakt zum Abschluss des II. Vatikanischen Konzils im Herkulessaal der Residenz in München am 12. Dezember 1965. Freiburg– Basel–Wien (21966), 21. 11 Alfrink, B. J.: Kirche im Umbruch. München (1968), 74.

Johannes Beutler SJ

Die Entwicklung seit Papst Paul VI.

1. Der Papst des Konzilsabschlusses Beutler SJ Die EntwicklungJohannes seit Papst Paul VI.

Es war Papst Johannes XXIII. nur vergönnt, das Konzil einzuberufen und eine Sitzungsperiode lang zu leiten, bis er an Pfingsten 1963 sein Leben beschloss. Der große Aufbruch war gelungen. Zahlreiche kuriale Entwürfe von Dokumenten hatten neuen Platz gemacht, die die neueren Entwicklungen in Theologie und kirchlichem Leben in der Weltkirche berücksichtigten. Paul VI., am Fest Peter und Paul 1963 in sein Amt eingeführt, machte sich die Anliegen des Konzils zu eigen und führte die Kirchenversammlung kundig und geschickt am 8. Dezember 1965 zu ihrem Ende. Ihm bleibt das Verdienst, mit hohem persönlichem Einsatz gerade bei kontroversen Diskussionen auf eine möglichst breite Mehrheit bei den Schlussabstimmungen hingewirkt zu haben. Durch meine Bibelstudien im Herbst 1965 nach Rom geführt, konnte ich an der Abstimmung zur Konstitution Dei Verbum im Petersdom am 18. November 1965 und an der Abschlussfeier auf dem Petersplatz am 8. Dezember als Zuschauer teilnehmen. Ein Gefühl der Erleichterung, der Freude und der Dankbarkeit war überall zu spüren. So antwortete etwa der Schweizer reformierte Theologe Oscar Cullmann, der als Gast teilgenommen hatte, auf die Frage „Sind die Erwartungen erfüllt?“ ganz zustimmend, vor allem mit Bezug auf die Konstitution über das Wort Gottes, die er als großen Schritt nach vorne empfand. Die Katholische Kirche entdeckt hier neu die Bibel als Grundlage ihres Glaubens und Lebens.

2. Die Grenzen des Konzils Fünfzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils ist vielerorts Ernüchterung festzustellen. Gewiss, das Bild der Kirche hat sich seitdem in hohem Maße verändert. Die Liturgie ist von Grund auf erneuert. In Weltkirche, Bistümern und Gemeinden ist es zu mehr Teilnahme der Gläubigen an Beratungs- und Entscheidungsprozessen gekommen. Das Verhältnis der Kirche zum Judentum und zum Islam hat eine entscheidende Wende genommen. Die Kirche ist präsent in den großen ökumenischen Bewegungen und im weltweiten Bemühen um mehr Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Das erneuerte Kirchenrecht von 1983 geht im Anschluss an die Konzilskonstitution Lumen gentium nicht mehr von der Hierarchie, sondern vom Volk Gottes aus und zeigt so eine neue Perspektive, auch in vielen Einzelfragen.

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Johannes Beutler SJ

Und doch ist der Eindruck weit verbreitet, der konziliare Elan habe sich verflüchtigt. Nicht nur in Deutschland wird ein Reformstau festgestellt. So fand das Memorandum von rund dreihundert Theologieprofessoren und -professorinnen zur Krise der Katholischen Kirche vom 4. Februar 20111 Unterstützung auch über die Grenzen Deutschlands hinaus. Der Text mahnt die Freiheit als Grunddimension christlichen Glaubens und christlicher Kirche an und fordert ein Umdenken in den Bereichen von struktureller Beteiligung in der Kirche an Entscheidungsprozessen, Gemeinde und Gemeindeleitung, Rechtskultur, Gewissensfreiheit, Versöhnung und Gottesdienst. Im Bereich Gemeinde wird der gravierende Priestermangel festgestellt, der zu immer größeren, unpersönlicheren Gemeinden führt. Nach Auffassung der Unterzeichner sollte ernsthaft an verheiratete Männer und auch Frauen im Amt gedacht werden. Im Zusammenhang mit der Gewissensfreiheit wird mehr Achtung vor gleichgeschlechtlich orientierten bzw. lebenden Christen gefordert. Man mag denken, dass solche Forderungen Gedankenspiele von Theologinnen und Theologen vor allem aus dem deutschen Sprachraum darstellen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Kein geringerer als Kardinal Carlo Maria Martini (1927–2012), der langjährige Erzbischof von Mailand (1980–2002), hat in seinen „Jerusalemer Nachtgespräche(n)“2 mit Georg Sporschill (2008) ähnliche Gedanken geäußert. Das Buch ist inzwischen in sechster Auflage erschienen und auch in den wichtigsten Weltsprachen zugänglich. Durchgängig setzt sich der Kardinal für einen wahren Dialog der Kirche mit der Jugend3 auch in Fragen der Sexualmoral4 ein, bei dem die Kirche auch auf die Jugendlichen hört. Die durch die Enzyklika Humanae Vitae (1968) entstandenen Probleme werden nicht verschleiert.5 Der Kardinal tritt für ein neues Zugehen auf Homosexuelle6 ein und zeigt sich offen gegenüber neuen Zugängen zum Amt, auch für verheiratete Männer7 und für Frauen8. Damit sind schon fast alle „heißen Eisen“ genannt. Hinzu kam noch kurz vor dem Tode Martinis sein Interview vom 8. August 20129, das in vielen Zeitungen veröffentlicht wurde und in dem er u. a. zu einem neuen Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen aufforderte (ein Anliegen, das bereits 1993 die Oberrheinischen Bischöfe in einem Hirtenwort formuliert und begründet hatten). Es ist weit verbreitet, den angesprochenen Reformstau vor allem auf die Pontifi kate von Papst Johannes Paul II. (1978–2005) und Papst Benedikt XVI. (2005–2013) zurückzuführen, zumal der letztere Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre unter dem ersteren gewesen war. Es lässt sich jedoch zeigen, dass in den meisten der genannten Fragen schon früher Festlegungen getroffen worden waren, und zwar zur Regierungszeit von Papst Paul VI. Davon soll im Folgenden die Rede sein. Eine neu erschienene Biographie dieses Papstes aus der Hand des Kirchengeschichtlers an der Theologischen Hochschule Brixen kann dabei behilflich sein.10

Die Entwicklung seit Papst Paul VI.

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3. Die Rolle Papst Pauls VI. 3.1. Auf dem Konzil Papst Paul VI. war daran gelegen, den Texten des Konzils, auch den kontroversen, eine möglichst breite Mehrheit zu sichern. Die Diskussionen in der Konzilsaula zeigten bis zuletzt starke Reserven konservativer und kurialer Kreise, den Gedanken der Communio in den Mittelpunkt der Ekklesiologie zu stellen und auch auf das Verhältnis Papst – Bischöfe anzuwenden. Die Sorge bestand, den Papst einfach als Teil und Mitglied des Bischofskollegiums anzusehen, ohne seine Sonderrolle als Letztverantwortlicher für Lehre und Leben der Kirche zu wahren. Dies führte dazu, dass Papst Paul VI. bei der Theologischen Kommission eine Nota explicativa praevia, ein erklärendes Vorwort zur Kirchenkonstitution in Auftrag gab, das die Vorrangstellung des Papstes sichern sollte. Diese Vorbemerkung wurde dem Text von Lumen Gentium auf Wunsch des Papstes angefügt.11 Ein gewisses Unbehagen blieb, da hier ein Text der Konstitution angefügt wurde, der nicht in der Konzilsaula entstanden und abgestimmt worden war. Bei weiteren Gelegenheiten wurden dem Konzil Themen entzogen, die sich der Papst aufgrund ihres brisanten Charakters zur Entscheidung vorbehalten wollte. Hier ist die Frage der künstlichen Empfängnisverhütung zu nennen,12 die der Papst dann 1968 in seiner Enzyklika Humanae Vitae aufgreifen sollte. Hierhin gehört gleichfalls die Frage, ob es in der Kirche des Westens in Zukunft in begründeten Fällen möglich sein sollte, in Beruf und Familie „bewährte Männer“ (viri probati) zu den Höheren Weihen zuzulassen. Auch hier behielt sich der Papst vor, die Frage persönlich zu bedenken bzw. an einem anderen Ort zu besprechen und dann einer Entscheidung zuzuführen (s. u., 3.2). Den Schlusspunkt sollte hier die Römische Bischofssynode von 1971 bilden.

3.2. Von 1965 bis 1971 Einen Kulminations- und wohl auch Wendepunkt im Pontifi kat Papst Pauls VI. bildete die Veröffentlichung der Enzyklika Humanae Vitae am 25. Juli 1968.13 Um eine begründete Entscheidung vor allem in der Frage der Erlaubtheit der Verwendung von künstlichen Mitteln zur Empfängnisverhütung vorzubereiten, hatte der Papst eine Kommission eingesetzt, die ihn in dieser Frage beraten sollte. Die Entscheidung in der strittigen Frage sollte eingebettet sein in eine umfassende Behandlung der Sexualität und der Ehe in christlicher Sicht. Der Gesamtentwurf fand fast überall Anerkennung. Nicht zuletzt die Ausrichtung der Ehe auf Fortpflanzung, aber auch auf gelebte Partnerschaft (schon von Pius XII. hervorgehoben) kam in diesem Dokument überzeugend zum Ausdruck. Man hätte aus dieser doppelten Ausrichtung auch folgern können, dass es für die sittliche Bewertung der gelebten Geschlechtlichkeit ausgereicht hätte, wenn ein ganzes Eheleben auf Nachwuchs und Partnerschaft ausgerichtet bleibt, auch wenn nicht jeder Geschlechtsakt tatsächlich auf

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Johannes Beutler SJ

Zeugung ausgerichtet ist. Dies war die Meinung der Mehrheit der von Papst Paul VI. einberufenen Kommission. Die Minderheit sah dies anders. Um ihr mehr Geltung zu verschaffen, berief der Papst zusätzlich eine Kommission von zehn Theologen seines Vertrauens, die für eine Beibehaltung der bisherigen Regelung stimmte. Am Ende zog sich der Papst noch einmal nach Castelgandolfo ins Gebet zurück und entschied dann im Sinne des Endtextes von Humanae Vitae. Bis zuletzt standen sich hier zwei unterschiedliche Auffassungen des Naturrechts unversöhnt gegenüber und sie tun es bis zur Stunde. Das Echo auf die Enzyklika ließ nicht lange auf sich warten. In der Weltpresse zeigt sich wenig Verständnis für die Position und die Entscheidung des Papstes, und auch Bischofskonferenzen trafen sich zu Krisensitzungen. In Deutschland berief Kardinal Julius Döpfner als Vorsitzender der Bischofskonferenz eine Sondersitzung ein. Auf ihr machten sich die Bischöfe der Bundesrepublik Deutschland die Gedanken der sogenannten „Königsteiner Erklärung“ zu eigen, nach der auch in der Frage der Geburtenregelung für den Christen das eigene Gewissen die letzte Instanz bildet. Für die Stellung und das Ansehen des Papstes hatte Humanae Vitae eine doppelte schwerwiegende Folge. Auf der einen Seite sahen sich diejenigen bestätigt, die seit dem Aufkommen der empfängnisverhütenden Mittel den Eindruck hatten, kirchliche Lehre und verantwortungsvolles Handeln von Christen seien gerade im Bereich der Sexualmoral nicht mehr zur Deckung zu bringen. So wurden auch vorehelicher Verkehr und das Zusammenleben von Paaren, auch von Katholiken, vor der Hochzeit mehr und mehr zur Regel und sind es bis zur Stunde geblieben. Die andere Folge von Humanae Vitae war eine Erosion der päpstlichen, um nicht zu sagen kirchlichen Lehrautorität ganz allgemein. Die Kirche wurde zunehmend in ihren Äußerungen zum Zusammenleben von Menschen nicht mehr ernst genommen, wobei das Schicksalsjahr 1968 sicher auch eine Rolle spielte und die Enzyklika nicht die Alleinverantwortung trägt. Das andere Feld, auf dem Papst Paul VI. im Anschluss an das Konzil eine Entscheidung herbeiführte, die er auf dem Konzil nicht beraten und beschlossen sehen wollte, war die Frage der Zulassung verheirateter Männer zum Priesteramt. Eine entsprechende Forderung war bereits zur Konzilszeit laut geworden, doch zog Papst Paul VI. vor, die Frage andernorts zu entscheiden bzw. entscheiden zu lassen.14 So ließ er das Konzil durch Kardinal Tisserant wissen, man möge diese heikle Frage nicht in der Konzilsaula besprechen. Verschiedene Texte des Konzils bekräftigen die Beibehaltung des priesterlichen Zölibats und versuchen, ihn neu zu begründen.15 Doch damit sollten die Anfragen nicht verstummen. In der nachkonziliaren Phase kam die Diskussion um den Pflichtzölibat der Lateinischen Kirche nicht zur Ruhe, vor allem in den Ländern Westeuropas.16 Um solchen Infragestellungen entgegenzuwirken, veröffentlichte Papst Paul VI. am 24. Juni 1967 seine sechste Enzyklika Sacerdotalis Coelibatus, in der er versuchte, neueren Einwänden gegen die Opportunität des Pflichtzölibats entgegenzutreten und dessen Beibehaltung theologisch, pastoral und spirituell zu begründen. Auch hier blieb die allgemeine Akzeptanz vor allem in der nördlichen Hälfte Europas aus. Das Niederländische Pastoralkonzil (1966–70) sprach sich für eine Zulassung von in Beruf und Familie bewährten Männern zur Priester-

Die Entwicklung seit Papst Paul VI.

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weihe aus und das gleiche tat der Primas der Kirche in Belgien, Kardinal Suenens. So machte der Papst den priesterlichen Dienst und seine Lebensbedingungen zu einem der beiden Themen (neben dem der Gerechtigkeit) auf der zweiten regulären Römischen Bischofssynode 1971. Das Für und Wider in der Zölibatsfrage war bereits in den sogenannten Lineamenta den künftigen Teilnehmern der Synode zugeleitet worden. Die Diskussion in den zehn Sprachgruppen verlief durchaus kontrovers. In der Frage der Zölibatsverpflichtung in der Lateinischen Kirche gab es eine Abstimmung, deren Ergebnis auch veröffentlicht wurde.17 107 Mitglieder der Synode stimmten für die uneingeschränkte Fortdauer der Zölibatsverpflichtung, 87 waren dafür, dass der Papst bei gegebenen Umständen auch verheirateten Männern in reifem Alter und von unbescholtenem Lebenswandel die Weihe gestatten könne. Zwei Teilnehmer enthielten sich der Stimme. Angesichts der Tatsache, dass der Synode auch eine beträchtliche Zahl von Teilnehmern angehörten, die nicht aus den Ortskirchen stammten, sondern vom Papst ernannt worden waren, will die Abstimmungsmehrheit nicht voll überzeugen. So blieb die Frage denn auch nach dem römischen Votum weiter auf der Tagesordnung, wie oben bereits gezeigt wurde. Bereits auf der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (der sogenannten Würzburger Synode, 1972–75) kam das Problem des Pflichtzölibats im Zusammenhang der Beratungen über die Vorlage „Die pastoralen Dienste in der Gemeinde“ zur Sprache.18 Den Synodalen war klar, dass sie in dieser Frage aufgrund ihres weltkirchlichen Charakters keine Entscheidung würden fällen können. Dennoch fand der Wunsch, sie auf der Agenda zu behalten, die Mehrheit der Abstimmenden. So heißt es in dem entsprechenden Synodentext: „Darum bauen viele Mitglieder der Synode darauf, dass sich auch zukünftig genügend junge Männer für den zölibatären priesterlichen Dienst bereiterklären werden. Andererseits zwingt die gegenwärtige kirchliche Situation die Verantwortlichen, das Problem des ehelosen Priestertums unter dem leitenden Gesichtspunkt der Heilssorge zu prüfen.“19 Die Deutsche Bischofskonferenz lehnte es mit Mehrheitsbeschluss ab, die entsprechende Empfehlung der Synode an den Papst weiterzuleiten, wobei die Berufung auf die bereits in Rom erfolgte Entscheidung den Ausschlag gab.20 Man wird nicht sagen können, dass die Frage danach für alle Zeiten und Ortskirchen geklärt sei.

3.3. Von 1972 bis 1978 Humanae Vitae (1968) sollte die letzte Enzyklika von Papst Paul VI. bleiben. Sicher trug dazu auch die ausbleibende weltweite Akzeptanz bei, die dem Papst auch persönlich zusetzte. Eine Frage, die in den siebziger Jahren kontrovers erörtert wurde, war diejenige nach der Weihe von Frauen zu Diakoninnen. Hier hätte die Kirche auf eine Tradition seit dem Altertum zurückgreifen können.21 Im Bewusstsein, dass die Forderung der Zulassung von Frauen zum Priesteramt weltkirchlich nicht vermittelbar sein würde, befasste sich die Würzburger Synode mit der Frage des Diakonats der Frau und gab eine entsprechende Empfehlung ab. Auch diese sollte an den Papst weitergeleitet werden. Den entspre-

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Johannes Beutler SJ

chenden institutionellen Rahmen bildete erneut der Synodenbeschluss „Die pastoralen Dienste in der Gemeinde“. Hier wird von der Synode auf Vorläufer eines Diakonats der Frau in der Alten Kirche des Ostens wie des Westens und auf die Opportunität verwiesen, von Frauen heute tatsächlich ausgeübte Dienste auch sakramental einzubinden und dementsprechend anzuerkennen. Ein entsprechendes Votum wurde von der Synode an den Papst gesandt22 und fand offenbar in der Bischofskonferenz keinen Widerspruch. Freilich erfolgte aus Rom auf dieses Votum weder eine Empfangsbestätigung noch ein entsprechender Bescheid. Heikler sollte die Frage der Zulassung von Frauen zum Priesteramt sein. Zur Zeit des Konzils stand sie noch nicht auf der Tagesordnung, doch sie sollte innerhalb der Kirche im weiteren Verlauf der sechziger Jahre vor allem in Nordamerika und Westeuropa diskutiert werden. Schon die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes hatte 1965 die Diskriminierung von Frauen an erster Stelle unter heute erfahrenem Unrecht genannt.23 Hinzu kam nun auch eine gründlichere Beschäft igung mit der Rolle der Frau in der Heilsgeschichte und in der frühen christlichen Gemeinde nach der Bibel. Sicher spielte dabei auch eine Rolle, dass seit dem genannten Zeitabschnitt zunehmend christliche Kirchen des Westens die Frauenordination einführten, ohne darin einen Verstoß gegen die biblische Überlieferung zu sehen. Solche und ähnliche Überlegungen mögen Papst Paul VI. dazu bewogen haben, eine eigene Stellungnahme vorzubereiten. So beauftragte er die Päpstliche Bibelkommission, die Stellung der Frau in Kirche und Gesellschaft neu zu bedenken und dabei auch auf die Frage der möglichen Ordination der Frau einzugehen. Die Arbeit der Kommission dürfte an der Entstehung des dann folgenden Dokuments der Kongregation für die Katholische Glaubenslehre Inter Insigniores vom 15. Oktober 1976 kaum einen bedeutenderen Anteil gehabt haben, zumal ihr Text niemals offiziell bekannt gegeben und nur durch Indiskretion in den Vereinigten Staaten von Amerika veröffentlicht wurde. Er kann hier nur in seinen Ergebnissen dargestellt werden.24 Sie spiegeln sich in den Voten, die am Ende der Debatte über die mögliche Zulassung von Frauen zum priesterlichen Weiheamt in der Kommission durchgeführt wurden und die im genannten Dokument dokumentiert sind. Hier der Text nach der deutschen Übersetzung von Walter Groß: „(1) Einstimmiges Votum: Das Neue Testament entscheidet von sich aus nicht klar und ein für allemal, ob Frauen zu Priesterinnen geweiht werden können. (2) 12 zu 5-Votum: Aus der Schrift gewonnene Gründe allein genügen nicht, um die Möglichkeit, Frauen zu ordinieren, auszuschließen. (3) 12 zu 5-Votum: Die Kirche kann die Ämter der Eucharistie und der Buße Frauen anvertrauen, ohne gegen die Intentionen Jesu Christi zu verstoßen.“25

Bemerkenswert ist die Zusammensetzung der Päpstlichen Bibelkommission zu diesem Zeitpunkt. Zu den international anerkannten Forschern zählten zu ihr u. a. Jean-Dominique Barthélémy, Raymond E. Brown, Henri Cazelles, Alfons Deissler, Jacques Dupont, Joachim Gnilka, Pierre Grelot, Stanislas Lyonnet, Carlo Martini und David Stanley.26 Das bereits erwähnte Dokument der Kongregation für die Katholische Glaubenslehre

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Inter Insigniores vom 15. Oktober 1976 schließt die Ordination von Frauen zum Priesteramt unter Berufung auf die Praxis Jesu und der Kirche seit ihrer Gründung aus.27 Es bleibt dabei, dass Papst Paul VI. mit Inter Insigniores ähnlich wie schon bei der Frage des Pflichtzölibats ein abschließendes Wort sagen wollte, das der Tradition geltende Bedeutung zuschreiben sollte. Auch hier sollte freilich die Diskussion nicht endgültig zur Ruhe kommen, auch wenn Papst Paul VI. den weiteren Verlauf nicht mehr erleben sollte. Spätestens nach der Erklärung Ordinatio Sacerdotalis vom 22. Mai 1994 flammte sie erneut auf, zumal auch dort wieder der Verdacht entstand, biblischen Texten zur Kirchenstruktur, die zeitbedingt sein können, würde unmittelbar normative Kraft zugeschrieben.

4. Ergebnis Gerade das zuletzt genannte Beispiel zeigt, dass eine direkte Linie von Papst Paul VI. zu seinen Nachfolgern Johannes Paul II. und Benedikt XVI, führt. Joseph Kardinal Ratzinger war Präfekt der Kongregation für die Katholische Glaubenslehre und als solcher Autor der Erklärung Ordinatio Sacerdotalis in der Autorität von Papst Johannes Paul II., dessen Nachfolger er dann werden sollte. Die Frage des Diakonats der Frau wurde von der Internationalen Theologenkommission angesprochen, aber offen gelassen.28 An der Zölibatsgesetzgebung sollte sich nichts ändern. Damit erhärtet sich der Eindruck, dass die entscheidenden Weichenstellungen bei den innerkirchlichen Kontroversen der letzten Jahrzehnte bereits von Papst Paul VI. vorgenommen worden sind. Dies scheint bereits frühzeitig erfolgt zu sein, wie etwa der Blick auf die Entstehung der Nota explicative praevia zum Kirchenschema noch während des Konzils zeigt. Fragt man sich nach den Gründen für die vorsichtige Vorgehensweise von Papst Paul VI., so wird man mit persönlichen und strukturellen Gründen rechnen. Persönlich war Papst Paul VI. ein Mensch, der sich mit Entscheidungen schwer tat, sie aber dann doch sehr eigenständig fällte. Sein Biograph erwähnt das Amtsverständnis des Papstes, das von dem Bewusstsein geprägt war, zwischen Christus und der Kirche bzw. der Menschheit zu stehen. Dies konnte gelegentlich zu Alleingängen führen, die ihm dann Kritik eintrugen.29 Zu den persönlichen kommen freilich auch institutionelle Gründe. Das Verhältnis von bischöflicher Communio und päpstlichem Primat war auch auf dem Konzil nie ganz zur Zufriedenheit gelöst worden. Man hat hier von der „Quadratur des Kreises“ gesprochen.30 Wenn im Verlauf eines Konzils zu eben dieser Frage einem Dokument des Konzils vom Papst kraft seiner Autorität ein Text angefügt wird, scheint der Entscheidungsspielraum des Konzils eingeschränkt zu sein, auch wenn bei der Schlussabstimmung dann fast alle Konzilsväter ihrem Text im Lichte der „Nota“ zustimmen. Im Vergleich zum Pontifi kat Johannes XXIII. scheint die Kurie seit dem Beginn des Pontifi kats von Papst Paul VI. wieder größeren Spielraum gewonnen zu haben. Dies sollte sich erheblich in der Zeit nach dem Konzil verstärken. Der Kurie hatte Giovanni Montini

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eine lange Zeit seines Lebens angehört und so ist der verstärkte Einfluss nicht verwunderlich. In der Gegenwart wird der Ruf laut: „Zurück zur Zukunft“!31 Die Kirche ist eingeladen, den Impuls des Zweiten Vatikanischen Konzils noch einmal neu für sich zu entdecken und im Vertrauen auf den Beistand des Geistes diejenigen Fragen anzugehen, die das Konzil offen gelassen hatte.

Anmerkungen 1 Vgl. www.memorandum-freiheit.de 2 Vgl. Kardinal Martini, C. M. u. G. Sporschill: Jerusalemer Nachtgespräche. Über das Risiko des Glaubens. Freiburg–Basel–Wien (62012). 3 Vgl. ebd., 50–62, 70–76. 4 Vgl. ebd., 110–112. 5 Vgl. ebd., 106–109. 6 Vgl. ebd., 112 f. 7 Vgl. ebd., 114 f. 8 Vgl. ebd., 125. 9 Erstveröffentlichung des Interviews mit Georg Sporschill und Federica Radice Fossati Confalonieri im Corriere della Sera vom 1. 9. 2012, deutscher Text u. a. in Christ und Welt 37 vom 6. 9. 2012. 10 Vgl. Ernesti, J.: Paul VI. Der vergessene Papst. Freiburg–Basel–Wien (2012). 11 Vgl. dazu Ernesti (2012), 108. Ernesti nimmt rückblickend auf S. 123–126 Papst Paul VI. gegen den Vorwurf in Schutz, er sei der Konzilsminderheit zu weit entgegen gekommen, den die Schule von Giuseppe Alberigo erhoben hatte, vgl. Alberigo, G.: Transizione Epocale. Studi sul Vaticano II (Texti e ricerche di scienze religiose, NS 40). Bologna (2009), 766–859. Zur Nota explicativa praevia vgl. noch Tagle, L. A.: Die „Schwarze Woche des Konzils (14. bis 21. November 1964)“. In: Alberigo, G. u. G. Wassilowsky (Hrsg.): Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959–1965). Bd. IV. Mainz–Leuven (2006), 449–530: bes. 486–521; Hünermann, P.: Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen Gentium. In: HThKVat II, 2. Freiburg (2004) (Sonderausgabe 2009), 263–582: bes. 539–547: Die Nota explicativa praevia. 12 Vgl. Ernesti (2012), 218 f. 13 Vgl. ebd., 216–233. 14 Vgl. ebd., 204–207. 15 Vgl. LG 42, 29; OT 10. 16 Vgl. Ernesti (2012), 206. 17 Vgl. Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.): Die römische Bischofssynode 1971 – Der priesterliche Dienst – Gerechtigkeit in der Welt. Eingeleitet von Klaus Hemmerle und Wilhelm Weber. Trier (1972), 65. 18 Die pastoralen Dienste in der Gemeinde. Einleitung: Walter Kasper. In: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Beschlüsse der Vollversammlung. Offi zielle Gesamtausgabe I, Freiburg–Basel–Wien (1976), 581–636: bes. 590–592.

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19 Vgl. ebd., 629. 20 Vgl. ebd., 591. 21 Die Vorgeschichte der Frage ist aufgearbeitet bei Reininger, D.: Diakonat der Frau in der einen Kirche. Mit einem Geleitwort von Bischof Lehmann. Ostfildern (1999). 22 Vgl. Gemeinsame Synode (1976), 595 f., 616 f., 633 f. 23 Vgl. GS 29. 24 Die Erstveröffentlichung auf Englisch erfolgte in der Zeitschrift Origins 6, Nr. 6 (1. Juli 1976), 90–96 sowie in dem von Leonard Swidler und Arlene Swidler herausgegebenen Band Women Priests. Appendix II: Can Women Be Priests? New York u. a. (1977), 338–346; dazu vgl. dort auf S. 25–34 den Beitrag von R. Donahue: A Tale of Two Documents zum Text der Bibelkommission im Vergleich mit „Inter Insigniores“; deutscher Text des Beitrags der Bibelkommission gekürzt in: Groß, W. (Hrsg.): Frauenordination. Stand der Diskussion in der Katholischen Kirche. München (1996), 25–31. 25 Groß (1996), 26. 26 Vgl. Groß (1996), 25. 27 Text AAS XLIX (1977), 98–116; deutscher Text VAS 117. Kurze Einführung bei R. Donahue (s. Anm. 24). 28 Vgl. Commissione Teologica Internazionale, Il diaconato evoluzione e prospettive. CivCatt 1554, n° 3663, vol. I (2003). 253–336: bes. 336. 29 Vgl. Ernesti (2012), 71 f. 30 Vgl. Prügl, T.: Primat des Papstes und Kollegialität der Bischöfe – Konsensmodell oder Quadratur des Kreises? In: Tück, J.-H. (Hrsg.): Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil. Freiburg–Basel–Wien (2012), 268–282. 31 Vgl. den in der vorigen Anm. angeführten Sammelband.

Joachim Schmiedl ISch

Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zusammenarbeit europäischer Bischöfe und Theologen

Joachim Schmiedl ISch Das Zweite Vatikanische Konzil

Am 19. Oktober 1962 kamen auf Einladung des Mainzer Bischofs Hermann Volk in der Villa Mater Dei in der Viale delle Mure Aurelie 10 Bischöfe und Theologen aus dem mitteleuropäischen Raum zu einer Konferenz zusammen. Es ging um die Frage, mit welcher Haltung man den ersten von der Theologischen Kommission vorgelegten Schemata begegnen solle. Der Jesuit Otto Semmelroth berichtete darüber: „Nachmittags war dann um vier Uhr eine Zusammenkunft, bei der mehrere französische Bischöfe teilnehmen und auf deutscher Seite an Bischöfen außer Bischof Volk auch Erzbischof Bengsch und Weihbischof Reuß. Ich lernte eine Reihe von Theologen kennen, die ich bisher persönlich noch nicht kannte. P. Daniélou und P. de Lubac waren dabei. Msgr. Philips, den ich bisher nur von seinem Buch über die Laien kannte. Auch P. Congar, den ich wohl schon kannte, und von deutscher Seite noch Prof. Ratzinger und Küng. Zunächst legte Bischof Volk sein Exposèe [sic] dar, auf das man nachher mehrfach positiv zurückkam. Später wurde es ergänzt durch einen Vorschlag von P. Daniélou, der mit dem seinen eine große Ähnlichkeit hatte. Es wurde ernst und in sehr schönem Ton und mit hohem Niveau besprochen, wie am besten vorgegangen werde. Erfreulich, wie auch Wert darauf gelegt wurde, daß man nicht mit falschen und unchristlichen Attacken vorgehen solle, sondern in einem guten Klima, das Konzil haben und behalten müsse. Aber daß die bisherigen vier theologischen und moraltheologischen Schemata fallen müssen, darüber war man einer Meinung. Aber ebenso wurde betont, daß ein neues Schema ausgearbeitet werden müsse, das an die Stelle der bisherigen zu treten hatte. Man beschloß ein zunächst kleinstes Gremium von Theologen zu bilden, die einen ersten Entwurf vorbereiten sollen, der dann in dem größeren Gremium besprochen werden solle. Ich hoffe, daß in der Zwischenzeit auch P. Schüller einen moraltheologischen Entwurf einigermaßen fertig habe wird. Von P. Hirschmann und P. Fuchs scheint nicht allzu viel wirksame Hilfe zu bekommen. Sie geben wohl Ratschläge, die er auch schätzt. Aber die Formulierung und Ausarbeitung bleibt bei ihm. Am Montag muß er schon wieder fort. Hoffentlich kann er bis dahin Brauchbares fertigstellen.“1

In anderen Tagebuchnotizen, etwa von Edward Schillebeeckx oder Yves Congar, differieren die Namen der Teilnehmer. Im Ziel und der Vorgehensweise waren sich die Anwesenden jedoch einig: Die vorgelegten Schemata der Theologischen Kommission zu Schrift und Offenbarung sowie zur Kirche und zur Moralordnung sind zurückzuweisen und durch Alternativentwürfe zu ersetzen.

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Die Namen der Bischöfe und Theologen, die an der Nachmittagskonferenz vom 19. Oktober 1962 teilnahmen, repräsentieren den später so genannten „mitteleuropäischen Block“. Dass sie auf dem Konzil die Mehrheit stellen würden, war nach der ersten Konzilswoche noch nicht so klar. Wer gehörte dazu? Dass der Mainzer Bischof Volk die Leitung des Treffens innehatte, lag an seiner Einbindung in das Sekretariat für die Einheit der Christen, das sich unter der Leitung des badischen Kurienkardinals Augustin Bea zu einer Korrekturinstanz für die Theologische Kommission unter Leitung des Sekretärs des Heiligen Offiziums, Kardinal Alfredo Ottaviani, und des niederländischen Jesuiten Sebastian Tromp entwickelt hatte. Volk war aber auch ein guter Organisator und Kommunikator. In die Sitzung hatte er seinen Weihbischof Joseph Maria Reuss und den Berliner Bischof Alfred Bengsch mitgebracht. Im Zusammenhang mit der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute vertraten sie unterschiedliche Positionen. Während Reuss sich medienwirksam durch das Verteilen von Flugblättern vor der Konzilsaula für eine offene Empfängnisregelung in katholischen Ehen einsetzte und dadurch einen handfesten Zusammenstoß mit Kardinal Ottaviani provozierte, der ihn daran hindern wollte, gehörte Alfred Bengsch zu den wenigen, die auch in der feierlichen Schlussabstimmung Gaudium et spes ihre Zustimmung versagten – aus Furcht vor politischen Konsequenzen für die Kirchen hinter dem Eisernen Vorhang. Auf französischer Seite nahmen an der Konferenz am 19. Oktober 1962 der Bischof von Straßburg, Jean-Julien Weber, und sein Koadjutorbischof Léon-Arthur Elchinger teil, der während des Konzils die Kontakte zwischen dem deutschen und dem französischen Episkopat aufrecht halten sollte. Frankreich war zudem vertreten durch die Bischöfe von Metz (Paul-Joseph Schmitt), Toulouse (Gabriel-Marie Garrone, dem späteren Kurienkardinal) und Cambrai (Émile-Maurice Guerry, der sich vor allem in den Diskussionen um die Erneuerung der Liturgie profi lieren sollte). Außerdem war der Lyoner Weihbischof Alfred Ancel anwesend, ein früherer Arbeiterpriester. Unter den anwesenden deutschen Theologen stellten die Jesuiten aus Sankt Georgen die Mehrheit: Otto Semmelroth, Heinrich Bacht und Alois Grillmeier; hinzu kam Karl Rahner, dessen Teilnahme am Konzil erst durch die Berufung seitens des Wiener Kardinals König zu seinem persönlichen Peritus ermöglicht worden war. Neben dem Erfurter Dogmatiker Otfried Müller und dem Churer Dogmatiker Johannes Feiner waren die beiden theologischen Jungstars der deutschen Fakultäten anwesend, Hans Küng aus Tübingen und Joseph Ratzinger aus Bonn. Die Franzosen hatten die Riege ihrer theologischen Meister aus dem Jesuiten- und Dominikanerorden aufgeboten, die unter Pius XII. als Protagonisten der „Nouvelle théologie“ Sanktionen des Heiligen Offiziums unterworfen worden waren  – Lehrverbot, Schreibverbot, Verbannung und Vorzensur der Schriften. Im Einzelnen handelte es sich um die Jesuiten Henri de Lubac, Jean Daniélou und Henri Rodet sowie die Dominikaner Marie-Dominique Chenu, Michel Labourdette und Yves Congar. Und schließlich nahmen an der Versammlung noch drei Theologen aus den BeneluxLändern teil. Gérard Philips, der Löwener Professor, wurde im Lauf des Konzils zu einer

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Schlüsselfigur. Als Senator im Brüsseler Parlament konnte er politische Erfahrungen sammeln, die ihn prädestinierten, die beiden großen Konstitutionen über die Kirche und die Kirche in der Welt von heute so zu formulieren, dass sie einen fast einstimmigen Konsens erreichten. Die Löwener Fakultät war außerdem durch den Jesuiten Piet Fransen vertreten. Edward Schillebeeckx, belgischer Dominikaner, lehrte Dogmatik an der Universität Nijmegen. Wer sich ein wenig in der katholischen Theologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auskennt, kann die fachliche Qualität ermessen. Immerhin wurden von den Bischöfen, die sich am 19. Oktober 1962 versammelten, drei später in den Kardinalsrang erhoben. Noch deutlicher zeigt sich die päpstliche Wertschätzung bei den Theologen, von denen fünf Kardinäle wurden, Joseph Ratzinger schließlich Papst. Dass jedoch die theologischen Ansätze nicht unwidersprochen blieben, zeigen die Konflikte mit der nachkonziliaren Glaubenskongregation, von denen Edward Schillebeeckx betroffen war und die für Hans Küng 1979 mit dem Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis endeten. Bei aller inneren Differenzierung, die anzubringen wäre und die sich während des Konzils und vor allem danach zeigen sollte, prägten die mitteleuropäischen Bischöfe und Theologen dennoch die Kirchenversammlung so stark, dass der amerikanische Journalist Ralph Wiltgen sein Buch betiteln konnte: „Der Rhein fließt in den Tiber“. Andere mehr scherzhafte Bezeichnungen sprechen vom Vaticanum secundum, Lovaniense primum oder vom Concilium Lovaniense Romae celebratum. Die von exzellenten Theologen vorbereiteten Interventionen hatten auch deshalb eine große Chance, in die Endtexte vorzudringen,  weil sie von bedeutenden Kardinälen vorgetragen wurden: Frings, Döpfner, König, Liénart, Suenens und Alfrink, gegen Ende der ersten Session bei der Diskussion um das Kirchenschema sekundiert vom Mailänder Erzbischof Montini, der ein halbes Jahr später als Paul VI. zum Papst gewählt wurde.

Zusammenschlüsse auf dem Konzil Trotzdem war die Zusammenarbeit der mitteleuropäischen Bischöfe eher lose strukturiert. Zwar tagten die Bischofskonferenzen der deutschsprachigen Länder und Skandinaviens während des Konzils, auch zwischen den Sessionen, gemeinsam und gaben auch elf gemeinsame Stellungnahmen zu allen wichtigen Textvorlagen ab. Doch waren die Bischöfe deshalb noch lange nicht einheitlich einer Meinung. Denn europäische Bischöfe engagierten sich auch in anderen Gruppen, die sich auf dem Konzil bildeten. Eine dieser Gruppierungen war der konservative Coetus internationalis patrum. Gründer und Inspirator dieser Gruppe war der Erzbischof von Diamantina in Brasilien, Geraldo de Proença Sigaud, Mitglied der Steyler Missionsgesellschaft. Bereits in seinem Votum für das Konzil hatte er sich gegen die „Schüler Teilhards de Chardin“ und „Evolutionisten“ ausgesprochen. Am Ende der ersten Woche der ersten Sessio ergriff er die Initiative zur Sammlung konservativer Kräfte. Die wichtigste Unterstützung erfuhr er vom Generaloberen der Spiritaner und ehemaligen Erzbischof von Dakar (Senegal), Marcel

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Lefebvre. Im Coetus waren italienische Bischöfe aktiv, wie Luigi Carli (Bischof von Segni) und der Konzilssekretär Pericle Felici. Mit Kardinal Siri und Kardinal Ruffini war der Coetus in der wichtigen Koordinierungskommisison und im Präsidium des Konzils vertreten. Ruffini, einer der Vielredner des Konzils, reagierte denn auch regelmäßig auf die Vorgaben der Mitteleuropäer. Der Coetus war eine im Wesentlichen geschlossene Gruppe von knapp 20 Vätern, der seine Breitenwirkung vor allem durch den mit ihm in Verbindung stehenden Nachrichtendienst der Steyler Missionare, den Divine World News Service von Ralph Wiltgen erlangte. Ziemlich genau die entgegengesetzte theologische Richtung vertrat die Gruppe Jésus, l’Église et les Pauvres2. Entstanden war diese Gruppe aus dem Anliegen, den Impuls der Arbeiterpriester für die Kirche fruchtbar zu machen und den sozialen Problemen, besonders der Dritten Welt, ein Sprachrohr zu verschaffen. Inspirator war der ehemalige Arbeiterpriester Paul Gauthier. Er litt am Bruch zwischen der Kirche auf der einen und den Armen und Arbeitern auf der anderen Seite und setzte seine Hoffnung darauf, dass das Konzil diesen Riss im Leib Christi heilen könne. Von den Konzilsvätern waren es vor allem der Lyoner Kardinal Pierre Gerlier, dessen Weihbischof Alfred Ancel zu den prominentesten Arbeiterpriestern gehörte, der palästinensische Erzbischof von Akka und Nazareth, Georges Hakim und der melkitische Patriarch Maximos IV., die zu den Führern dieser informellen Gruppierung gehörten. Aus Deutschland war der Essener Weihbischof Julius Angerhausen dabei. Auch wenn diese Gruppe – 45 Väter zählten sich dazu – immer am Rand des Konzilsgeschehens blieb, beeinflusste sie doch das Gewissen der Konzilsväter und trug mit dazu bei, dass in der Verkündigung Pauls VI. die soziale Frage einen immer größeren Stellenwert einnahm. Aus ihren Reihen entstand gegen Ende des Konzils der so genannte „Katakombenpakt“, eine Selbstverpflichtung von Bischöfen zur gelebten Armut und Einfachheit.

Informelle Kontakte Bis jetzt war von Gruppierungen und Strukturen die Rede. Wer Rom, seinen Straßenverkehr und die Entfernungen in der Ewigen Stadt kennt, weiß, dass die Herstellung von Kontakten untereinander großer Anstrengungen bedurfte. Das Konzil bot in dieser Hinsicht einzigartige Möglichkeiten. Nie zuvor waren so viele Bischöfe und Theologen über eine so lange Zeit an einem Ort beisammen und arbeiteten am selben Projekt. Und dabei spielten „Spaghetti und Espresso“ eine wichtige Rolle.

„Bar Jona“ Im Unterschied zum Ersten Vatikanischen Konzil, an dem im Schnitt etwa 600 Personen teilnahmen und deshalb eine Bestuhlung in den Querschiffen von St. Peter ausreichend war, musste auf dem Zweiten Vaticanum Platz für 2500 Konzilsväter plus mehrere Hun-

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dert Beobachter, Theologen und Zuhörer geschaffen werden. Das war nur im Hauptschiff möglich. Im Querschiff wurde eine Cafeteria eingerichtet. Unter der Kuppelinschrift mit der Seligpreisung des Petrus war die „Bar Jona“ täglich ab 11.00 Uhr Treff punkt vieler Konzilsväter. In der Bar fanden viele geplante und zufällige Begegnungen statt. So berichtet der Münsteraner Weihbischof Heinrich Tenhumberg, bei dem sich nicht nur Informationen über die „Bar Jona“, sondern auch über die zweite Bar, die „Barrabbas“, finden, über Reaktionen nach Abstimmungen über die Kirchenkonstitution: „Ich treffe gerade nach dem Bekanntwerden des Ergebnisses der letzten Abstimmung von heute morgen Bischof Dr. Schröffer auf dem Wege von seinem Platz zur Bar Jona. Er strahlt förmlich, wie ich ihn selten gesehen habe.“3 Wenn ein Konzilsvater eine schlechte Rede vortrug oder diese wegen des landesspezifischen Akzents schwer zu verstehen war, leerten sich die Reihen der Zuhörer und die Warteschlangen vor der Bar wurden länger. Yves Congar weist des Öfteren darauf hin, dass die Bar „archi-plein“4 sei. Doch auch Ermahnungen zeigten ihre Wirkung, wie ein Beispiel aus der dritten Konzilssessio zeigt, niedergeschrieben von Otto Semmelroth: „Kurz vor zwölf Uhr ging ich mit P. Grillmeier in die Bar, und da zeigte sich die Wirksamkeit der eindringlichen Mahnung von Felici, dem Generalsekretär des Konzils: es war kein einziger Bischof in der Bar, und nur ein paar Periti. Felici hatte eindringlich gemahnt, daß die Väter auf ihren Plätzen bleiben möchten.“5

Römische Ristoranti Steht die „Bar Jona“ mehr für die informellen Begegnungen und Gespräche unter den Konzilsvätern bei einer Tasse Espresso oder bei einem Glas Coca-Cola, so wurden viele Kontakte geknüpft und vertieft, Wortmeldungen vorbereitet und Strategien abgesprochen bei gemeinsamen Mittag- oder Abendessen in einer der vielen Ristoranti in der Umgebung von St. Peter. Die Fähigkeit des Mainzer Bischofs Hermann Volk, Netzwerke aufzubauen, zeigte sich darin ganz besonders. Aus dem Tagebuch Otto Semmelroths seien einige Beispiele angeführt. Vor der Konzilseröffnung herrschte eine gespannte Stimmung. Am 10. Oktober 1962 notiert Semmelroth: „Kurz nach Zwölf Uhr kam Bischof Volk. Wir fahren zum Petersplatz, wo P. Rahner auf uns wartet und wir dann in der Nähe in einem Restaurant zu Mittag essen. Dabei besprechen wir einiges, was zu tun sein wird. Man kann nur gespannt sein, wie die Dinge sich entwickeln werden. Es sieht jedenfalls nach ziemlich Spannungen aus.“ Als sie gut zwei Wochen später wieder in dasselbe Restaurant gingen, hatte sich die Stimmung deutlich gebessert: „Bischof Volk lud P. Rahner, Prof. Ratzinger und mich dann zum Abendessen ein. Wir gingen in das Ristorante Piedonati in der Via della Conciliazione, wo wir am ersten Tag unserer Anwesenheit in Rom schon einmal gewesen waren.“ (28. Oktober 1962)

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Einen Monat später erweitert sich der Kreis: „Als ich dann nach Hause kam, hatte P. Grillmeier mich angerufen, um mir die Einladung des Bischofs Kempf zu einem Abendessen zu Ehren der Promotion von P. Lohfink mitzuteilen. Wir trafen uns am Obelisken vor dem Pantheon und gingen in ein nettes Restaurant. Es war ein gemütlicher Abend mit Bischof Kempf, P. Lohfink, P. Hirschmann und Grillmeier; etwas verspätet kam P. Rektor Buck noch, den man am Nachmittag nicht erreicht hatte, um ihm die Einladung zukommen zu lassen. Es wurde auch einiges übers Konzil besprochen. P. Hirschmann entschuldigte in erstaunlicher Weise Leute wie Parente. Ich glaube ja nun doch, daß seine Vorstellungen nicht immer realistisch genug sind.“ (25. November 1962)

Themen der Zusammenarbeit Personen und Orte der Zusammenarbeit auf europäischer Ebene während des Konzils müssen ergänzt werden durch die entsprechenden Themen. Die eingangs beschriebene Versammlung in der Villa Mater Dei war nicht die erste gemeinsame Aktion deutscher und französischer Konzilsväter gewesen. Drei Beispiele zeigen die Art und Weise der Zusammenarbeit zwischen den mitteleuropäischen Bischöfen und Theologen.

Gemeinsame Liste für die Kommissionen Ein erstes zentrales Thema der Mitteleuropäer war die Freiheit des Konzils. Das engagierte Eingreifen der beiden Mitglieder des Konzilspräsidiums, Kardinal Liénart von Lille und Kardinal Frings von Köln, hatte in der ersten Generalkongregation am 13. Oktober 1962 zur Vertagung der Abstimmung über die Zusammensetzung der Kommissionen geführt. Kardinal Döpfner notierte dazu in seinem Tagebuch: „Starker Widerhall in der Presse! Wird als symptomatisch gewertet für erstes Abzeichnen der Gruppierungen.“ 6 In den darauf folgenden Tagen wurden fieberhaft Kandidaten gesucht, welche die einseitig zusammengestellten Listen des Generalsekretariats, auf denen im wesentlichen die bereits den vorkonziliaren Kommissionen angehörenden Mitglieder standen, ergänzen sollten. In hektischer Aktivität wurden insgesamt 34 Listen erstellt. Lediglich die Hälfte davon enthielt Namensvorschläge für alle zehn Kommissionen; die übrigen begnügten sich mit Kandidaten für bestimmte Sachgebiete. Es gab Listen, auf denen exklusiv Väter aus den entsprechenden Regionen standen, die auch selbst die Liste aufgestellt hatten. Es gab aber auch Listen, bei deren Aufstellung man sich um eine gewisse Repräsentanz bemüht hatte, wie bei der Liste der mitteleuropäischen Bischöfe. Insgesamt brachten die drei Tage zwischen dem 13. und 16. Oktober 1962 eine wichtige Stärkung der Bischofskonferenzen. So traf sich das erste Mal in seiner Geschichte die gesamte italienische Bischofskonferenz! Im Ergebnis ließ sich die Mehrzahl der Gewählten einer gemäßigten theologischen Richtung zuordnen. Von den 160 Gewählten – ein weiteres Drittel wurde direkt vom Papst bestimmt – waren 22 Italiener, 16 Franzosen, 11 Deutsche und 10 Spanier. Die Lateiname-

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rikaner entsandten 27 in die Kommissionen, die Nordamerikaner 26. Aus Asien und Ozeanien waren 16 Kommissionsmitglieder, während Afrika mit nur sieben sehr wenig vertreten war. Das Konzil hatte seine Selbstständigkeit bewiesen.

Die Kirchenkonstitution Am 01. Dezember 1962 begann die Diskussion über das von der theologischen Vorbereitungskommission erarbeitete Kirchenschema. Obwohl nur noch fünf Generalkongregationen vor dem Ende der ersten Sessio zur Verfügung standen, entwickelte sich eine allgemeine Aussprache über das Schema, die im Rückblick zu den theologischen Höhepunkten des Konzils gerechnet werden muss. Kardinal Ottaviani nahm in seiner Relatio gewissermaßen das Ergebnis schon vorweg, als er darauf hinwies, er höre schon die Litaneien mancher Konzilsväter, die sagen werden, das Schema sei nicht ökumenisch, sondern scholastisch, es sei nicht pastoral, sondern negativ. Ottaviani bewies in diesem Punkt quasi hellseherische Qualitäten, denn bereits am ersten Tag setzte der Bischof von Brügge, De Smedt, zum Generalangriff gegen Triumphalismus, Klerikalismus und Juridismus an. Sein nordfranzösischer Kollege Gérard Huyghe von Arras sekundierte und verlangte vom Schema einen offenen und universalen, missionarischen und demütigen Geist. Wichtig für den weiteren Verlauf des Konzils wurden die Wortmeldungen der Kardinäle Suenens und Montini. Suenens legte einen Plan für die weitere Arbeit des Konzils vor. Die Versammlung müsse sich der Frage stellen, wie die Kirche nach innen (ecclesia ad intra) aussehe und wie sie sich nach außen (ecclesia ad extra) darzustellen habe. Aus dieser Intervention ging die fundamentale Aufteilung der Konzilsmaterie hervor, die sich schließlich um die beiden Dokumente Lumen gentium und Gaudium et spes gruppieren sollte. Nur wenige Redner aus den katholischen Ländern Italien und Spanien verteidigten das Schema, die meisten kritisierten es. Eine Neubearbeitung in der Intersessio zwischen Dezember 1962 und September 1963 stand an. Die Leitung der Theologischen Kommission versuchte zwar noch einmal, das alte Schema zu retten, aber zur Grundlage der weiteren Arbeit wurde ein Entwurf gewählt, der auf Veranlassung von Kardinal Suenens durch den Löwener Theologen Gérard Philips ausgearbeitet worden war. Philips galt als Vertreter einer mittleren Linie. Durch seine Tätigkeit als Senator im belgischen Parlament war er mit den Spielregeln des Suchens nach Kompromissformeln vertraut. In der Folge sollte Philips zur entscheidenden Persönlichkeit werden, was die Textgestalt der Dokumente anging. Sowohl Lumen gentium als auch Gaudium et spes verdanken ihre Endfassung dem belgischen Senator. Die gelungene, effektive Kooperation der mitteleuropäischen Bischöfe war für die Entstehung der Kirchenkonstitution ein entscheidender Schritt.

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Gaudium et spes Die Zusammenarbeit der mitteleuropäischen Bischöfe funktionierte über mehrere Schienen. Nach Frankreich hin war der Straßburger Koadjutor Elchinger ein wichtiger Vermittler. Die Theologen aus dem Jesuiten- und dem Dominikanerorden hatten ihre eigenen internationalen Kontakte und Seilschaften. In enger Zusammenarbeit mit den deutschen Theologen arbeiteten die Professoren aus Nijmegen und Leuven, die über das niederländische Dokumentationszentrum eine eigene Medienschiene bedienten, aus deren Fundus viele Konzilsväter ihre Informationen bezogen. Doch gute Zusammenarbeit bedeutet nicht Übereinstimmung in allen Fragen. Besonders bei der Erarbeitung der Pastoralkonstitution Gaudium et spes machten sich unterschiedliche Bewertungen zwischen den französischen und den deutschen Konzilsvätern und Theologen bemerkbar. Dem Text der Pastoralkonstitution wurde vor allem von deutscher Seite vorgeworfen, er sei zu optimistisch, was das Verhältnis zur Welt angehe. In den Worten des Kölner Kardinals Frings, auf dem Konzil vorgetragen in der Fassung seines Peritus Joseph Ratzinger: „Die Gedanken des Schemas 13 scheinen in einem gewissen Gegensatz zur ,Imitatio Christi‘, der Nachfolge Christi des Thomas von Kempen zu stehen, da der ehrwürdige Verfasser dieses Buches doch Weltverachtung und Weltentsagung predigte. Das Schema 13 predigt jedoch nicht Hingabe an die Welt, sondern nur Diskussion mit der Welt, Verkehr mit der Welt, Gespräch mit der Welt zu dem Zweck, die Welt für die Botschaft Christi zu öffnen und die weltlichen Bezirke mit christlichen Gedanken zu durchdringen. Das bringt natürlich gewisse Gefahren mit, die bei völliger Weltentsagung nicht vorhanden sind. Es besteht die Gefahr, daß derjenige, der sich berufen glaubt, die Welt zu verchristlichen, selber von der Welt dazu verführt wird, weltlich zu denken.“7 In den Entwürfen war den deutschen Bischöfen und Theologen die Sünde zu ungenügend dargestellt. Die Theologie des Kreuzes und die Eschatologie waren unzureichend ausgefaltet. Aber die französischen Theologen, die den Text entworfen hatten und von deren Gedankengut geprägt waren, entgegneten: „Wenn wir den Menschen von heute anreden wollen, können wir nicht unmittelbar mit den höchsten Gegebenheiten der Theologie und des Glaubens beginnen. Wir müssen vielmehr mit dem Gemeinsamen, allen Verständlichen und Zugänglichen anfangen und dann schrittweise vorwärtsgehen. Wir dürfen auch überhaupt nicht mit allzuviel Fachtheologie aufwarten, sondern müssen aus dem Getto der Fachlichkeit heraustretend uns ohne deren Schutz ganz einfach der Wirklichkeit stellen, vor deren Härte wir uns nicht selten in den festgefügten Fragen und Antworten unseres Fachwissens verbergen.“8

Die große Leistung von Gaudium et spes, den innertheologischen Standort verlassen zu haben und auf die Kirche von außen unter Berücksichtigung der Eigengesetzlichkeit der Lebens- und Sachbereiche zu blicken, führte zu einem Dissens zwischen deutschen und französischen Theologen. Innerkirchlich ist die Verschiedenheit des Blickwinkels bis heute spürbar. 50 Jahre nach dem Konzil hat die Memoria eine neue Dimension. Sie bezieht sich auf

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Joachim Schmiedl ISch

eine umfassende Rezeption aller Beschlüsse des Konzils, auf die Wiedergewinnung der Dynamik des Ereignischarakters dieser Kirchenversammlung, auf den „Geist“ einer ecclesia semper reformanda. Sie setzt die Bereitschaft zum Dialog, zum Knüpfen von Netzwerken, zum Aufeinander-Zugehen voraus. Was in den Jahren des Konzils geschehen ist, bleibt ein Lehrstück für die Art und Weise, Kirche zu sein.

Anmerkungen 1 Tagebuch Otto Semmelroth, 19. Oktober 1962. Günter Wassilowsky bereitet eine Edition dieses Tagebuchs vor. 2 Vgl. Tanner, N.: Kirche in der Welt: Ecclesia ad extra. In: Alberigo, G. u. G. Wassilowsky (Hrsg.): Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959–1965). Band IV. Mainz–Leuven (2006), S. 313–448: bes. 443–448. 3 Tagebuch Heinrich Tenhumberg, 22. September 1964. Archiv Priesterhaus Berg Moriah, Simmern. 4 Congar, Y.: Mon journal du Concile. Paris (2002), 31. Oktober 1962. 5 Tagebuch Otto Semmelroth, 15. September 1964. 6 Treffler, G. (Hrsg.): J. Kardinal Döpfner. Konzilstagebücher, Briefe und Notizen zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Schriften des Archivs des Erzbistums München und Freising 9, Regensburg (2005), 3. 7 Kardinal Frings, J.: Für die Menschen bestellt. Erinnerungen des Alterzbischofs von Köln. Köln (1973), 290. 8 Ratzinger, J.: Die letzte Sitzungsperiode des Konzils (Konzil 4). Köln (1966), 33.

Jürgen Bärsch

Die erste Frucht des Konzils Die Bedeutung der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium für die Erneuerung des Gottesdienstes der Kirche

Jürgen Bärsch Die erste Frucht des Konzils

Als am 11. Oktober 1962 die Bischöfe in Rom versammelt waren und Papst Johannes XXIII. (1958–1963) das Zweite Vatikanische Konzil eröffnete, war schnell klar, zunächst die Erneuerung der Liturgie auf die Tagesordnung zu setzen. Kein anderer Beratungsgegenstand des Konzils war so gut vorbereitet und verhieß, in absehbarer Zeit erfolgreich abgeschlossen zu werden. Die Gründe dafür lagen im Aufbruch der Liturgischen Bewegung, deren Anliegen nach dem Ersten Weltkrieg weite Kreise erreichte. Über viele Benediktinerabteien, die katholischen Jugendverbände und liturgisch aufgeschlossene Priester und Laien war ein neues Bild der Kirche und ihres Gottesdienstes gewachsen. Die intensivierte liturgiewissenschaftliche Forschung, eine breite pastoralliturgische Bildungsarbeit und die Erfahrung gemeinschaft licher Feiern ergänzten einander und strahlten auf die Kirche weltweit aus, so dass Papst Pius XII. (1939–1958) die Liturgische Bewegung gar als „Zeichen der göttlichen Vorsehung für die gegenwärtige Zeit“ und „Durchbruch des Heiligen Geistes in seiner Kirche“ bezeichnete.1 Mit seiner Liturgie-Enzyklika Mediator Dei (1947) und der Reform der Osternacht und der Heiligen Woche (1951 / 55) legte er selbst die Spur, die zur Liturgiekonstitution des Konzils führte. Als sie am 4. Dezember 1963 mit 2147 Stimmen und mit nur vier Gegenstimmen feierlich verabschiedet wurde, sprach sich der Weltepiskopat nahezu geschlossen für eine umfassende Erneuerung des Gottesdienstes aus.2

1. Sacrosanctum Concilium – Struktur der Liturgiekonstitution „Das Heilige Konzil hat sich zum Ziel gesetzt, das christliche Leben unter den Gläubigen mehr und mehr zu vertiefen […]“ (SC 1). Bereits Art. 1 bringt das pastorale Grundanliegen des Konzils zum Ausdruck. Um das christliche Leben zu vertiefen, bedarf die Liturgie einer Reform. Sie muss Maß nehmen an Gott und am Menschen. Das Anliegen der Liturgischen Bewegung, die Christen sollten aus der Quelle der Liturgie ihr Leben speisen, greift das Konzil nachdrücklich auf. Weil aber diese Quelle in vielfacher Hinsicht verstellt und unzugänglich geworden war, erschien eine umfassende Erneuerung des Gottesdienstes dringend geboten.

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Die Liturgiekonstitution setzte aber nicht unvermittelt bei einzelnen Reformmaßnahmen an, sondern legte zunächst Grundlagen einer Theologie der Liturgie. Erst aus der Vergewisserung, was ihr Wesen ausmacht, konnten Prinzipien für die Erneuerung des Gottesdienstes entwickelt werden. Dazu zählt als zentrales Reform- und Gestaltprinzip der Grundsatz, dass alle Gläubigen tätig und bewusst am Geschehen der Liturgie teilnehmen müssen. Aber auch andere Prinzipien haben konstitutive Bedeutung für die Liturgie: die Heilige Schrift als Ur-Kunde des Glaubens, die Vielfalt der liturgischen Dienste, der Vorrang gemeinschaft licher Feier, die Durchschaubarkeit der Riten oder die Anpassung der Liturgie an die kulturellen Gegebenheiten. Erst auf dem Hintergrund der theologischen Fundamente und der grundlegenden Reformprinzipien kommen die einzelnen Bereiche des gottesdienstlichen Lebens in den Blick: an erster Stelle die zentrale liturgische Feier, die Eucharistie, sodann die übrigen Sakramente und Sakramentalien, die Tagzeitenliturgie, das liturgische Jahr, schließlich Musik und Kunst. Aufbau der Liturgiekonstitution Liturgietheologische Grundlagen: Wesen der Liturgie – Bedeutung der Liturgie für das Leben der Kirche  Zentrales Reformprinzip: Volle, bewusste und tätige Teilnahme der Gläubigen an der Liturgie  Allgemeine Regeln zur Erneuerung der Liturgie: Bedeutung der Heiligen Schrift Liturgische Dienste Lateinische Sprache und Volkssprache                                                                   Eucharistie

Sakramente / Sakramentalien

Stundengebet

Liturgisches Jahr

Kirchenmusik

Sakrale Kunst

2. Theologische Schwerpunkte der Liturgiekonstitution 2.1 Liturgie ist Gedächtnisfeier des Pascha-Mysteriums Jesu Christi (SC 5–7) Bevor die Liturgiekonstitution vom Gottesdienst der Kirche handelt, lenkt sie den Blick auf Gottes Heilshandeln in der Geschichte. Schöpfung, Erlösung und Vollendung gipfeln im Leben und Wirken Jesu Christi, dessen Sendung auf Tod und Auferstehung zielt. Dieses Pascha-Mysterium Jesu Christi, das österliche Geschehen seines Leidens und Sterbens, seiner Auferweckung und Erhöhung wird in der Gedächtnisfeier der Liturgie je und je Gegenwart. Kraft des Heiligen Geistes ist der erhöhte Christus der Kirche gegenwärtig und schenkt ihr stets neu Anteil an seinem österlichen Heilswirken.3 Deshalb beschränkt

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sich die Gegenwart des Herrn nicht auf die Eucharistie, sie ereignet sich auch in den anderen Sakramenten, im Wort der Schrift und in der betenden Versammlung der Kirche. Insofern nimmt die Liturgie in all ihren Formen teil an der sakramentalen Dimension der Kirche (vgl. LG 1, 48; AG 2, 5; GS 45), die ihrerseits im Pascha-Mysterium Christi wurzelt. Die Liturgiekonstitution hat dem Gottesdienst eine vorrangig christozentrische Orientierung gegeben. Christus ist es, der in und auch mit der Kirche wirkt. Wann immer die Kirche sich zur Feier des Pascha-Mysteriums versammelt, wird sie hineingenommen in die biblisch bezeugte Heilsgeschichte, vergegenwärtigt sich in Lobpreis, Dank und Bitte das Christusheil. Es geht um eine Spiritualität, die am Pascha-Mysterium Maß nimmt und auf eine christusförmige Existenz der Christen wie der Kirche insgesamt zielt: Sich in der lebendigen Begegnung mit Christus, wie sie sich in der Liturgie ereignet, stets neu auf ihn auszurichten.4

2.2 Liturgie ist Dialog zwischen Gott und Mensch (SC 7) Lange Zeit hatte man den Gottesdienst fast ausschließlich als cultus debitus, als ein Gott geschuldetes Werk verstanden. Diese einseitige Sicht der Liturgie als kultisches Handeln der Menschen hat die Liturgiekonstitution nachdrücklich korrigiert. In Art. 7 spricht sie davon, dass in der Liturgie die Heiligung des Menschen bezeichnet und bewirkt, wie auch der gesamte öffentliche Kult vollzogen wird. Die Menschen können Gott nur verehren, wenn Gott sie zuvor zu seinem Lobpreis befähigt. Deshalb geht die Zuwendung Gottes zu den Menschen immer der Anbetung Gottes durch den Menschen voraus. Diese Begegnung zwischen Gott und Mensch ereignet sich vor allem in der Liturgie: Hier spricht Gott sein Wort und schenkt seine Gnade – die katabatisch-absteigende Dimension; hier gibt der Mensch Ant-Wort auf Gottes Anruf und lobt und dankt Gott – die anabatisch-aufsteigende Dimension. Beide Dimensionen gehören unabdingbar zusammen und bestimmen die Liturgie: göttliches Heil und menschliche Anbetung. Deshalb versteht die Liturgiekonstitution die Liturgie als einen Dialog zwischen Gott und Mensch.

2.3 Liturgie ist priesterliches Handeln Christi und seiner Kirche (SC 7) Der gottesdienstliche Dialog gründet in Jesus Christus, dem Mittler zwischen Gott und dem Menschen (vgl. 1 Tim 2,5). Deshalb kann die Konstitution die Liturgie als Vollzug des Priesteramtes Jesu Christi beschreiben, „als Werk Christi, des Priesters, und seines Leibes, der die Kirche ist“ (SC 7). Sie bestimmt Jesus Christus als das eigentliche Subjekt des Gottesdienstes der Kirche. Er ist der primär Handelnde, der in der Kraft Gottes den Menschen das Heil schenkt und die Gebete der Menschen vor das Angesicht Gottes trägt. Weil aber Christus, das Haupt, nicht ohne die Kirche, seinen Leib, handelt, ist auch sie Trägerin des Gottesdienstes. Die Gläubigen, die durch die Taufe zum priesterlichen Volk Gottes gehören, sind nicht stumme Zuschauer, sondern Mitwirkende am heiligen Geschehen (vgl.

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SC 48). Das heißt auch, alles priesterliche Handeln in der Kirche, das der Gläubigen wie das der geweihten Priester, muss Maß nehmen und verweisen auf den ewigen Hohenpriester Jesus Christus, den wahren Mittler zwischen Gott und Menschen.

3. Zentrales Reformprinzip – tätige Teilnahme der Gläubigen an der Liturgie (SC 14, 19, 21 u. ö.) Liturgie ist Sache der ganzen Kirche und nicht Sonderaufgabe des Klerus. Die Forderung, alle Gläubigen sollten tätig an der Liturgie teilnehmen, wurde darum zum tragenden Programm der liturgischen Erneuerung (vgl. SC 14). Die Konstitution entwickelt ihr Reformprinzip aus der theologischen Bestimmung der Liturgie. Demnach darf die tätige Teilnahme der Gläubigen am Gottesdienst der Kirche nicht als ein pastorales Zugeständnis oder eine bestimmte Seelsorgsmethode missverstanden werden. Denn nicht die Liturgie an sich, sondern die tätige Teilnahme an ihr begreift das Konzil als „erste und unentbehrliche Quelle“, aus der die Gläubigen schöpfen und ihr christliches Leben formen sollen. Folglich bestimmt diese Grundregel alle folgenden Kapitel der Liturgiekonstitution und wird zur durchgängigen Folie, das ganze gottesdienstliche Leben von der tätigen Teilnahme her zu erneuern.5

4. Grundperspektiven der liturgischen Erneuerung Aus der vertieften Einsicht in das Wesen der Liturgie und aus dem Gestaltprinzip der tätigen Teilnahme entwickelt die Liturgiekonstitution allgemeine Grundsätze, die für die gottesdienstliche Erneuerung maßgebend sein sollen. Genannt seien drei Beispiele.

4.1 Neubewertung der Heiligen Schrift Die heilsgeschichtlich-christologische Orientierung in der Wesensbestimmung der Liturgie führte zu einer auch ökumenisch bedeutsamen Aufwertung der Heiligen Schrift. Das ganze liturgische Handeln der Kirche, die Gebete, Gesänge und Riten sind gespeist von der biblischen Offenbarung und finden in der ersten Quelle des Glaubens ihren bleibenden Maßstab: „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ (SC 24).6 Der Wortgottesdienst der Messe, vorkonziliar als „Vormesse“ abqualifiziert, bildet nun den ersten Hauptteil (vgl. SC 56), auch in seiner rituellen Gestaltung.7 Die vorkonziliar schmalbrüstige Auswahl der Messperikopen wurde durch eine mehrjährige Leseordnung mit drei (an Sonn- und Festtagen) bzw. zwei (an Werktagen) Schrift lesungen ersetzt (vgl. SC 35,1; 51). Zur integrativen Gestalt aller sakramentlichen Feiern gehört heute ein unterschiedlich entfalteter Wortgottesdienst. Eigenständige Wort-Gottes-Feiern machen ernst mit der Aussage von der Gegenwart Christi, „wann immer die Heiligen Schriften in der

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Kirche gelesen werden“ (SC 7) und gehören heute zum gottesdienstlichen „Grundprogramm“ vieler Gemeinden an Werktagen wie an Sonntagen.8 Zugleich werden auch bestehende Defizite in der liturgischen Praxis bewusst. Erinnert sei etwa nur daran, dass in nicht wenigen sonntäglichen Gemeindemessen grundsätzlich vom Sonderrecht Gebrauch gemacht wird, sich „aus pastoralen Gründen“ auf die Verkündigung einer der beiden nichtevangelischen Lesungen zu beschränken, oft zum Schaden der alttestamentlichen Perikope. Auch der Antwortpsalm, als „wesentliches Element des Wortgottesdienstes“9, fällt oft zugunsten eines Kirchenlieds als „Zwischengesang“ weg. Es ließen sich weitere Aspekte nennen, die Praxis des Wortgottesdienstes der Messfeier zu optimieren.

4.2 Rollenprinzip der liturgischen Dienste Die Liturgie als Versammlung des priesterlichen Volkes Gottes macht die tätige Teilnahme aller Getauften erforderlich. Dabei „soll jeder, sei er Liturge oder Gläubiger, in der Ausübung seiner Aufgabe nur das und all das tun, was ihm aus der Natur der Sache und gemäß den liturgischen Regeln zukommt“ (SC 28).10 Dieses „Rollenprinzip“ bildet die Kirche als Communio und als Leib Jesu Christi ab und macht sie in ihrem Gottesdienst erfahrbar.11 Aus der gemeinsamen Teilhabe am Priestertum Christi erwächst die Differenzierung in verschiedene liturgische Dienste und Ämter. Deshalb konzentriert sich das liturgische Handeln nicht allein auf den priesterlichen Vorsteher. Unbeschadet seiner sakramentalen Bedeutung sind weitere Dienste tätig, so „Ministranten, Lektoren, Kommentatoren und die Mitglieder der Kirchenchöre“, die aufgrund ihrer Taufwürde einen „wahrhaft liturgischen Dienst“ vollziehen (SC 29). Später traten liturgische Dienste hinzu, wie etwa zur Mithilfe bei der Kommunionspendung oder zur Leitung von gottesdienstlichen Feiern.12 Auch wenn vielerorts die „Rollenverteilung“ nicht durchgängig beachtet wird, sind die liturgischen Dienste ein Gewinn für eine lebendige Feier des Gottesdienstes. Allerdings sieht SC 29 eine gediegene Einführung derer vor, die liturgische Aufgaben wahrnehmen. Wesentlich ist, dass die Träger dieser Dienste in den Geist der Liturgie selbst eingeführt werden, um ihren Dienst aus einem vertieften Verständnis des Gottesdienstes und seines spirituellen Reichtums zu tun. Wo es Bemühungen darum gibt, sind sie ein wichtiger Beitrag zu einer vom Konzil gewünschten liturgischen Frömmigkeit und zur Verbesserung der Feierkultur.

4.3 Öffnung zur volkssprachlichen Liturgie Aus der Forderung nach der participatio actuosa aller Gläubigen am gottesdienstlichen Geschehen ergab sich zwingend die Öffnung für die Volkssprachen. Denn nur wenn die Mitfeiernden nicht durch die lateinische Sprachbarriere gehindert sind, können sie be-

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wusst und tätig am Gottesdienst der Kirche teilnehmen. Der Gebrauch der Volkssprachen ist eine notwendige Konsequenz aus dem Bemühen, die Feier der Liturgie wieder als gemeinsames Handeln der Kirche erfahrbar werden zu lassen. Die Konzilsväter hielten zwar grundsätzlich an der lateinischen Sprache fest (vgl. SC 36 § 1) und sahen zunächst „vor allem in den Lesungen und Hinweisen und einigen Orationen und Gesängen“ die Verwendung der Volkssprache als „sehr nützlich“ an (SC 36 § 2), gemeint waren vor allem jene Teile, „die das Volk angehen“ (SC 54). Allerdings machte die nachkonziliare Reformarbeit schnell bewusst, dass es eigentlich kein Element der Liturgiefeier geben kann, an dem die Gläubigen nicht voll und bewusst teilnehmen sollen. Folgerichtig weitete sich die Volkssprache sukzessiv in der Liturgie aus, die nun vollständig volkssprachlich gefeiert werden kann.13 Neben die erneuerten lateinischen Liturgiebücher traten volkssprachliche Ausgaben, die nicht nur den Inhalt der lateinischen Texte zu übertragen, sondern zugleich eine Sprache zu finden hatten, die für den Vortrag geeignet ist und ihre Qualität auch bei regelmäßigem Hören nicht einbüßt. Die dafür entwickelten Kriterien wurden allerdings mit der 2001 publizierten Instruktion Liturgiam authenticam deutlich enger gefasst. Nunmehr sind alle lateinischen Liturgiebücher ganz vollständig und ganz genau (integerrime et peraccurate) zu übersetzen, ohne dass deshalb die Verständlichkeit eingeschränkt werden soll.14 Die Spannung zwischen den Prinzipien Texttreue und Verständlichkeit stellt aber eine immense Herausforderung dar. Die Gefahr ist groß, die Einheit des römischen Ritus vornehmlich über gleiche Wortformen und Satzkonstruktionen zu sichern, die Verständlichkeit und die Eignung für das Gemeindegebet hingegen eher auszublenden. Die Suche nach einer überzeugenden und angemessenen Liturgiesprache bestimmt deshalb den gegenwärtigen und künftigen Rezeptionsprozess der Liturgiereform.15

5. Herausforderungen und künftige Aufgaben nach fünfzig Jahren Liturgiekonstitution Die vom Konzil initiierte Reform des Gottesdienstes zielte aber auf eine umfassendere Erneuerung. Die Kirche soll immer mehr und tiefer aus dem Geist der Liturgie leben lernen. Insofern ist liturgische Erneuerung eine bleibende Aufgabe, die nicht mit bestimmten Aktionen und Programmen zu erledigen ist. Vielmehr bedarf die Feier des Gottesdienstes auf allen Ebenen der Kirche stets und immer neu Beachtung und braucht die ständige Auseinandersetzung mit dem, was sich im Vollzug der Liturgie ereignet. Es ist zu fragen, welche praktischen Reformimpulse und welche theologischen Anstöße fünfzig Jahre nach Veröffentlichung der Liturgiekonstitution Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen und müssen. Neben dem bereits Angesprochenen seien hier drei Aspekte exemplarisch genannt.16

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5.1 Verhältnis zwischen weltkirchlicher Einheit und ortskirchlicher Vielfalt Ausdrücklich hebt die Liturgiekonstitution hervor: „In den Dingen, die den Glauben oder das Allgemeinwohl nicht betreffen, wünscht die Kirche nicht eine starre Einheitlichkeit der Form zur Pflicht zu machen, nicht einmal in ihrem Gottesdienst“ (SC 37). Die Liturgie sollte keine Welteinheitsliturgie sein, vielmehr erschienen Anpassungen an die verschiedenen Kulturen und Gesellschaften dringend nötig (vgl. SC 38–40). Das Postulat der Inkulturation bezog sich nicht allein auf die Kirche in außereuropäischen Kontinenten, es griff auch, als mit dem „Direktorium für Kindermessen“ (1973) weitreichende Anpassungen an die Fassungskraft von Kindern vor der Pubertät ermöglicht wurden.17 Aber die Folgezeit war doch von einer deutlichen Einschränkung der Inkulturationsforderung geprägt. Die Instruktion Varietatis legitimae stellte 1994 klar, dass es nur „um Anpassungen im Rahmen des römischen Ritus“ gehen könne und für „die Länder mit alter christlich-abendländischer Tradition … die in den liturgischen Büchern vorgesehenen Anpassungsmaßnahmen […] insgesamt ausreichen“ müssten.18 Schließlich hat die Gottesdienstkongregation in der erwähnten Instruktion Liturgiam authenticam nachdrücklich unterstrichen, dass die Einheit des römischen Ritus vor allem auch durch eine möglichst wörtliche Übersetzung der volkssprachlichen Liturgiebücher garantiert werden müsse, die sich der Heilige Stuhl gegebenenfalls anzufertigen und zu approbieren vorbehält.19 Die nachkonziliare Entwicklung zeigt, dass das rechte Verhältnis von weltkirchlicher Einheit und ortskirchlicher Vielfalt, von Einheitlichkeit und legitimen Differenzen im gottesdienstlichen Leben ein Problem darstellt, um das weiterhin gerungen wird und das noch erst zu lösen ist.

5.2 Feier der Tagzeiten und Formen täglicher Gemeindeliturgie Lange galt die Stundenliturgie als Standesgebet der Priester und Ordensleute, erst im Zuge der Liturgischen Bewegung entdeckten die Gläubigen den Reichtum des kirchlichen Betens zu Christus und mit ihm zum Vater. Dies greift das Konzil auf, wenn es wünscht, „daß die Haupthoren, besonders die Vesper an Sonntagen und höheren Feste, in der Kirche gemeinsam gefeiert werden“ (SC 100). Allerdings hat das „öffentliche und gemeinsame Gebet des Volkes Gottes“20 nur wenig Resonanz in der gottesdienstlichen Praxis der Pfarrgemeinden gefunden. Das wirkt sich heute als äußerst problematisch aus. Denn nach dem Rückgang der volksnahen Andachten blieb die Messe der einzige täglich gefeierte Gottesdienst in den Gemeinden. Weil aber nun durch die geringer gewordene Zahl der Priester die tägliche Messe nicht mehr sicher gestellt werden kann, bedeutet ihr Ausfall das Ende der täglichen Gottesdienstfeier insgesamt. Dieses Defizit trifft in das Herz der Kirche. Denn die tägliche Feier von Gebet und Gottesdienst kennzeichnet die Kirche nicht nur seit apostolischer

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Zeit, als betende Kirche realisiert sie auch ganz ausdrücklich ihre unaufgebbare Verbindung mit Christus und damit ihr Kirche-Sein. Insofern lässt sich die Krise des Gottesdienstes nicht trennen von der Krise der Kirche wie des tradierten christlichen Glaubens überhaupt. Darum liegt im Anliegen der Liturgiekonstitution, Tagzeitenliturgie und Wort-GottesFeiern zu fördern und als täglichen Gottesdienst neben der Eucharistie in den Pfarrgemeinden zu etablieren, ein Impuls, der das Wesen der Kirche betrifft. Damit die Kirche ecclesia orans sein und bleiben kann, wird es wichtig, gemeindegerechte und zeitgemäße Formen dieser Feiern zu entwickeln und damit zu einer Schule des Betens und einer gemeindlichen Spiritualität beizutragen, denen zudem ökumenische Bedeutung zukommen und auch liturgieungewohnten und -ungeübten Menschen Zugang zur Feier des Glaubens zu eröffnen vermögen.21

5.3 Liturgische Bildung und mystagogische Erschließung Bereits das Konzil hat die Bedeutung der liturgischen Bildung für die Implementierung der gottesdienstlichen Erneuerung erkannt und entsprechende Maßnahmen gefordert (vgl. SC 14). So sollte die Liturgiewissenschaft zu den Hauptfächern der Theologie gerechnet werden (vgl. SC 16) und auch in der pastoralpraktischen Aus- und Fortbildung des Klerus erhielt das Fach eine deutliche Aufwertung (vgl. SC 17–18). Diese Bemühungen standen im Dienst der liturgischen Bildung der Gläubigen als notwendige Voraussetzung für deren tätige Teilnahme (vgl. SC 19), die Grundkenntnisse und Fertigkeiten voraussetzt. Liturgische Bildung soll dazu beitragen, die Feierfähigkeit (ars celebrandi) der ganzen Gemeinde zu verbessern und den Gläubigen zu helfen, die Liturgie voll und bewusst mitzufeiern und als zentralen Ort der Gottesbegegnung wahrzunehmen.22 Es bedarf eines vertieften Zugangs zu den Mysterien, die in der Liturgie gefeiert werden. Sicher wird viel davon abhängen, dass alle Verantwortlichen selbst „tiefer in den Geist der Liturgie eindringen und als Liturgiefeiernde von der Dynamik der gottesdienstlichen Feiern geprägt werden.“23

6. Schlussbemerkung Die Liturgiereform traf zumeist auf einen bereiteten Boden und wurde von den Gemeinden schnell und bereitwillig rezipiert. Das ist angesichts einer alle Bereiche des gottesdienstlichen Lebens tangierten Reform keineswegs selbstverständlich. Man darf dankbar resümieren, dass die erste Frucht des Konzils tatsächlich zur Erneuerung der Kirche und ihres Zeugnisses in einer pluralen Welt beigetragen hat.24 Zweifellos gab es auch mancherorts Übereifer, Eigenmächtigkeiten und Formunsicherheiten. Sie entsprangen aber wohl weniger klerikalem Ungehorsam als dem Versuch, der Erosion des Glaubens und seiner Gestalt in der Feier der Liturgie begegnen zu können und

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den mehr und mehr liturgieentwöhnten Menschen neue Zugänge zu schaffen. Darin sahen sich dann allerdings wiederum jene bestätigt, die von Anfang an skeptisch bis ablehnend der Reform gegenüberstanden und aus sehr unterschiedlichen Motiven die reale Ausführung der konziliaren Impulse und die Umsetzung in der liturgischen Praxis zum Teil massiv kritisierten. Mit der Entscheidung Papst Benedikts XVI., die vorkonziliare Gestalt der Liturgie als „außerordentliche Form“ des römischen Ritus wieder zuzulassen, verband sich die Hoffnung, die Kritiker der Liturgiereform mit der nachkonziliaren Kirche zu versöhnen.25 Ob diese Hoff nung berechtigt ist und ob der pastorale Entschluss des Papstes zur Erneuerung der Kirche beiträgt, für die die Konzilsväter doch eine Reform der Liturgie unerlässlich hielten, wird die Zukunft zeigen müssen. Dies zeigt aber einmal mehr: Die Erneuerung der Liturgie erschöpft sich nicht in Dokumenten, Lehrschreiben oder Liturgiebüchern. Es bleibt der Kirche stets aufgetragen, immer neu aus dem Geist der Liturgie zu leben. Ist sie doch „der Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt“ (SC 10).

Anmerkungen 1 Wagner, J. (Hrsg.): Erneuerung aus dem Geiste der Liturgie unter dem Pontifi kat Papst Pius XII. Trier 1957, 344. 2 Zur Entstehung und Bedeutung der Liturgiekonstitution vgl. u. a. Jungmann, J. A.: Konstitution über die heilige Liturgie. Einleitung und Kommentar. In: LThK Ergbd. I. Freiburg (1966), 9–109. 3 Vgl. Haunerland, W.: Mysterium paschale. Schlüsselbegriff liturgietheologischer Erneuerung. In: Augustin, G. u. K. Koch (Hrsg.): Liturgie als Mitte des christlichen Lebens. Freiburg–Basel– Wien (2012), 189–209. 4 Vgl. etwa SC 61, 104, 107; GS 22; AG 14; OT 8. 5 Vgl. Haunerland, W.: Participatio actuosa. Programmwort liturgischer Erneuerung. In: IKaZ 38 (2009), 585–595 (Lit.). 6 Vgl. Bärsch, J.: „Vom größten Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ (SC 24). Zur Bedeutung der Bibel im Kontext des Gottesdienstes. In: LJ 53 (2003), 222–241. 7 Vgl. Kranemann, B.: Wort – Buch – Verkündigungsort. Zur Ästhetik der Wortverkündigung im Gottesdienst. In: Klöckener, M. u. A. Join-Lambert (Hrsg.): Liturgia et Unitas. Liturgiewissenschaft liche und ökumenische Studien zur Eucharistie und zum gottesdienstlichen Leben in der Schweiz. In honorem Bruno Bürki. Fribourg-Genève (2001), 57–72. 8 Vgl. u. a. Liturgische Institute Deutschlands und Österreichs im Auft rag der Deutschen Bischofskonferenz, der Österreichischen Bischofskonferenz und des Erzbischofs von Luxemburg (Hrsg.): Wort-Gottes-Feier. Werkbuch für die Sonn- und Feiertage. Trier (2004). 9 Allgemeine Einführung in das Römische Messbuch 36; Grundordnung des Römischen Messbuchs 61. 10 Vgl. Haunerland, W.: Sensus ecclesialis und rollengerechte Liturgiefeier. Zur Geschichte und Bedeutung des Artikels 28 der Liturgiekonstitution. In: Reinhardt, H. J. F. (Hrsg.): Theologia et Jus Canonicum. FS Heribert Heinemann. Essen (1995), 85–98. 11 Vgl. Bärsch, J.: Populo congregato. Die Feier der Liturgie als Ausdrucksform der Ekklesiologie.

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Jürgen Bärsch In: Dennemarck, B. u. a. (Hrsg.): Von der Trennung zur Einheit. Das Bemühen um die PiusBruderschaft. Würzburg (2011), 111–142. Vgl. Zum gemeinsamen Dienst berufen. Die Leitung gottesdienstlicher Feiern. Rahmenordnung für die Zusammenarbeit von Priestern, Diakonen und Laien im Bereich der Liturgie. 8. Januar 1999 (Die deutschen Bischöfe 62). 7., korr. Auflage (2007). Vgl. Haunerland, W.: Lingua Vernacula. Zur Sprache der Liturgie nach dem II. Vatikanum. In: LJ 42 (1992), 219–238. Der Gebrauch der Volkssprache bei der Herausgabe der Bücher der römischen Liturgie Liturgiam authenticam. Fünfte Instruktion „zur ordnungsgemäßen Ausführung der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die heilige Liturgie“ (zu Art. 36 der Konstitution). 28. März 2001 (VAS 154). Vgl. Kranemann, B. u. S. Wahle (Hrsg.): „Ohren der Barmherzigkeit“. Über angemessene Liturgiesprache. Freiburg–Basel–Wien (2011). Vgl. u. a. Klöckener, M.: Die Zukunft der Liturgiereform – im Widerstreit von Konzilsauft rag, notwendiger Fortschreibung und „Reform der Reform“. In: Redtenbacher, A. (Hrsg.): Die Zukunft der Liturgie. Gottesdienst 40 Jahre nach dem Konzil. Innsbruck–Wien (2004), 70–118. Direktorium für Kindermessen. 1. 11. 1973. In: DEL 1, 3115–3169. Vgl. dazu Kaczynski, R.: Direktorium und Hochgebetstexte für Meßfeiern mit Kindern. In: LJ 29 (1979), 157–175. Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Instruktion Varietatis legitimae. 25. Januar 1994, Nr. 36 und 7 (VAS 114), 20, 7. Vgl. Instruktion Liturgiam authenticam Nr. 104 (wie Anm. 22), 89. Diese Aussage stellt eine prinzipielle Abweichung von SC 36 § 4 dar; vgl. auch SC 39. Allgemeine Einführung in das Stundengebet 1. Vgl. Klöckener, M. u. B. Bürki (Hrsg.): Tagzeitenliturgie. Ökumenische Erfahrungen und Perspektiven. Fribourg (2004); Budde, A.: Gemeinsame Tagzeiten. Motivation – Organisation – Gestaltung. (PTHe 96) Stuttgart (2013). Vgl. Haunerland, W. u. A. Saberschinsky (Hrsg.): Liturgie und Mystagogie. Trier (2007). Mitte und Höhepunkt des ganzen Lebens der christlichen Gemeinde. Impulse für eine lebendige Feier der Liturgie. 24. Juni 2003 (Die deutschen Bischöfe 74), 44. Vgl. Bärsch, J. u. W. Haunerland (Hrsg.): Liturgiereform vor Ort. Zur Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils in Bistum und Pfarrei (StPaLi 25). Regensburg (2010). Vgl. Papst Benedikt XVI.: Apostolisches Schreiben Summorum Pontificum. Brief des Heiligen Vaters an die Bischöfe anlässlich der Publikation. 7. Juli 2007 (VAS 178).

Erich Garhammer

„Es gibt kein Jenseits der Medien“

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Das Zweite Vatikanische Konzil und die Medien2

Erich der Garhammer „Es gibt kein Jenseits Medien“

Nach seinem überraschenden Rücktritt vom Papstamt, den er am 11. Februar 2013 für den 28. Februar um 20.00 Uhr ankündigte, traf sich Papst Benedikt XVI. zwei Tage später mit dem römischen Klerus, um sich von ihm zu verabschieden. Dabei hielt er eine frei formulierte Rede über seine Erkenntnisse zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Am Schluss stellte er fest, dass es zwei Konzilien gegeben habe: das wirkliche Konzil und das Konzil der Medien. Das virtuelle Konzil werde aber immer mehr an Bedeutung verlieren. Diese Ansprache zeigt wie im Brennglas das Bemühen von Papst Benedikt XVI., das Zweite Vatikanische Konzil in seinem Sinn zu interpretieren und seine Rezeption festzulegen. In seiner Ansprache vor dem Kardinalskollegium an Weihnachten 2005 hatte er dafür die Unterscheidung von zwei Hermeneutiken getroffen: einer Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches und einer Hermeneutik der Reform. Das Konzil habe keinen Auftrag gehabt, die Lehre der Tradition substanziell zu verändern, sondern sie lediglich für heute weiter zu schreiben. Für die Hermeneutik des Bruches machte der Papst vorwiegend diejenigen Theologen verantwortlich, die ohne bischöflichen Auftrag ein permanentes Konzil abhalten wollen und daneben die Journalisten, die nur unter der Optik der Innovation am Konzil interessiert gewesen seien. Der Papst möchte ein Konzil pur destillieren. Aber es gab das Konzil nur als ein mediales Ereignis. Genau dadurch ist es zum besonderen Zweiten Vatikanischen Konzil geworden.

Anfängliches Desinteresse der Konzilsväter an den Medien Ein Weltereignis wie das Konzil musste unweigerlich die Weltpresse anziehen. Teilweise waren es bis zu tausend Journalisten, die akkreditiert waren, bei der Eröffnungsfeier sogar 1200. Für einen solchen Journalistenansturm bedurfte es eines eigenen Pressebüros, das in der Vorbereitungsphase eingerichtet wurde. Es bestand allerdings ein Problem: Eine Institution mit der jahrhundertealten Tradition, alle wichtigen Entscheidungen hinter verschlossenen Türen zu treffen, mit ein paar Hintertürchen für Indiskretionen, war im Um-

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gang mit einer freien Presse nicht nur ohne jegliche Praxis, sondern geradezu hilflos. Zudem hatte der bereits ernannte Generalsekretär der Vorbereitungskommission, Kardinal Pericle Felici (1911–1982), ein mehr als gespanntes Verhältnis zu den Medien. Für ihn als Kurienbeamten waren sie störend und lästig. Was sich hinter den Mauern des Vatikans abspielte, ging in seinen Augen niemanden etwas an, außer die zuständigen Instanzen waren selber bereit, etwas öffentlich zu machen. Das Konzil hielt er für eine rein innerkirchliche Angelegenheit und war vom festen Willen beseelt, nichts davon nach außen dringen zu lassen. Erst wenn die Beschlüsse gefasst wären, sollte die Öffentlichkeit etwas davon erfahren und die Presse informiert werden. Nach diesen Grundsätzen behandelte Felici auch die Vertreter der Presse. Am 3. Dezember 1960 berief er die erste Pressekonferenz ein, bei der er die Einrichtung des Konzils-Pressebüros bekanntgab. Er hielt es für erforderlich, dass „die Berichterstattung – abgesehen von aller Rhetorik und journalistischer Aufmachung, die nicht immer erforderlich, aber gelegentlich recht nützlich ist – im Wesentlichen bei Fragen des Glaubens und der Sitten exakt ist und der Lehre der Kirche vollauf entspricht. Die Lücken, die man in der nicht katholischen oder einfachen Nachrichtenpresse hingehen lässt, können bei der katholischen Presse nicht geduldet werden. Darum ist der Kontakt mit den offiziellen oder wenigstens offiziösen Informationsorganen erforderlich. Ehe man eine sensationelle Neuigkeit weitergibt, muss man feststellen, was an ihr wahr ist … Ich wünsche, dass sich alle daran halten und ihr Verlangen nach dem Überraschenden und Sensationellen beherrschen. Besser eine Minute später mit einer wahren Nachricht, als eine Minute früher mit einer falschen …“

Er fuhr fort, das Pressebüro werde von Zeit zu Zeit nützliche und wahre Informationen mitteilen, die nach Möglichkeit den Bedürfnissen der Journalisten entsprächen. „Ich erinnere Sie, meine Herren, an das lateinische Sprichwort: ,Von Freunden verlangt man nur Ehrenhaftes‘. Dringen Sie nicht in Dinge ein, die für Sie verschlossen und Ihnen verwehrt sind. Nur unter dieser Voraussetzung werden wir gute Freunde sein.“3 Im Anschluss daran ermahnte er die Journalisten, ein integres Familienleben zu führen. Am 21. Mai 1961 wusste Felici zu berichten, dass das Pressebüro nach Bedarf organisiert werde. „Der Bedarf ist heute begrenzt, und daher ist die Tätigkeit des Büros eine begrenzte. Die Öffentlichkeit und die Journalisten müssen sich gedulden. Und wenn auch der Papst oft erklärt hat, dass es äußerst wünschenswert ist, wenn die Gläubigen dem Konzil ein lebhaftes Interesse entgegenbringen, so darf man doch nicht vergessen, dass das Konzil ein Akt der höchsten Lehr- und Regierungsgewalt der Nachfolger der Apostel unter der Autorität des Papstes ist. Alle müssen zu diesem mit ehrfürchtigem Schweigen aufschauen und den Heiligen Geist bitten, sie zu erleuchten …“4

Die Empörung der Weltpresse war vorauszusehen. Das Unverständnis wuchs nun auch auf der anderen Seite: knapp zwei Monate nach der ersten Pressekonferenz am 30. Januar 1961 distanzierte sich Kardinal König mehr als deutlich vom Verhalten Felicis:

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„Äußerlich erscheint das Konzil als eine Sache des Papstes und der Bischöfe; in Wirklichkeit ist es Sache der ganzen katholischen Kirche, das heißt aller Gläubigen. Von Ihnen, den katholischen Journalisten, hängt es zum guten Teil ab, ob es wirklich so sein wird … Ich denke hier vor allem an Journalisten, die nicht in der katholischen Presse schreiben … Es ist die Aufgabe der Journalisten, das öffentliche Gewissen der Katholiken zu sein. Wenn Sie etwas über das Konzil zu sagen haben, warten Sie nicht auf ein Wort des Bischofs, nicht auf Nachrichten aus Rom. Warnen Sie, so Sie glauben, warnen zu müssen; gehen Sie mutig voran, wo Sie glauben, voran gehen zu müssen; informieren Sie, sooft sich eine Gelegenheit bietet, die Welt über das Konzil zu informieren. Wenn Sie das Konzil zu Ihrer Sache machen, dann wird auch das Konzil die Sache aller Christen werden. Reden Sie auch von allem, was die öffentliche Meinung und die Gläubigen vom Konzil erwarten.“5

Angesichts dieser Turbulenzen sah sich der Papst selbst herausgefordert, eine eigene Rede vor der Auslandspresse zu halten. Am 24. Oktober 1961 äußerte Johannes XXIII. sein Verständnis für die Bedeutung der öffentlichen Meinung und das Anliegen der Journalisten und versprach einen Ausbau des Pressebüros. Das Konzil als öffentliches und weltpolitisches Ereignis war nun verstanden worden, aber es bedurfte weiterer Schritte. Im Mai 1962, bei einer erneuten Rede gegenüber der Auslandspresse, war ein neuer Ton spürbar. Die Presse sollte sich nicht nur als geduldet empfinden, sondern habe eine wichtige Aufgabe auf dem Konzil: „Wir zählen in der Tat auf Sie, meine Herren (!) und ganz besonders jetzt, beim Herannahen des Zweiten Ökumenischen Vatikanischen Konzils, jenes bedeutenden Ereignisses, von dem man hoffen kann, dass es auch über die Grenzen der Kirche hinaus auf alle Menschen guten Willens einen positiven Einfluß ausüben wird. Zur Erreichung dieses Zieles sind die Presseorgane heute nicht nur ein unentbehrliches Mittel.“ 6

Erstaunliches mediales Interesse am Konzil Während die Kurie sich vom Interesse der Medien gestört fühlte, war die Weltöffentlichkeit durch die Ankündigung des Zweiten Vatikanischen Konzils durch Papst Johannes XXIII. elektrisiert und verfolgte es mit Interesse und Spannung. Mit einer solchen Nachfrage hatten die Initiatoren des Konzils nicht gerechnet. Vor allem die großen, nichtkatholischen und liberal ausgerichteten Zeitungen zeigten das größte Interesse und scheuten keine Unkosten, um eigene Korrespondenten zu akkreditieren. Es waren dies in Deutschland die FAZ und Die Zeit, in der Schweiz Die Neue Zürcher Zeitung und die Nationalzeitung, in Frankreich Le Monde  – der Henri Fesquet das Privileg einräumte, dass keiner seiner langen Artikel gekürzt werden durfte –, in den USA die New York Times, in den Niederlanden Der Nieuwe Rotterdamsche Courant und in Italien, neben vielen anderen, der Corriere della Sera. In Spanien beschwerten sich sogar Leser, sie würden in der Berichterstattung auf Hungerration gesetzt. Allmählich zogen auch die katholischen Presseorgane nach. Neu gegründet wurden die Zeitschriften The Ecumenist, The Ecumenical Catholic Quarterly und Oecumene (vorher

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Het Schild), die unter neuem Titel von einer apologetischen, konfessionell ausgerichteten Zeitschrift zum Organ einer ökumenischen Zeitschrift mutierte. Als direkte Folge des Konzils mit ausschließlicher Konzilsthematik entstanden Concil Avin und Vaticanum Secundum. Letztere zählte vier Monate nach ihrem ersten Erscheinen 6000 Abonnenten. Die französische Tageszeitung La Croix gewann bei Eröff nung des Konzils durch die eigene ausführliche Konzilsberichterstattung 50 000 Abonnenten hinzu. Diesem Interesse der Weltöffentlichkeit stand die Informationspolitik der römischen Autoritäten gegenüber, die eine strenge Geheimhaltungspflicht vorsah, die den Konzilsvätern auferlegt wurde (vgl. Art. 26 des Konzilsreglements). Allerdings konnte diese Politik des Mauerns nicht durchgehalten werden. So wurde das offizielle Pressebüro aus der Abhängigkeit vom Generalsekretär des Konzils befreit. Dieser Vorgang begann mit der Vorlage eines langen Berichts de nuntiis dandis am 29. März 1963, der von Felici eingeleitet wurde. Das Dokument atmet einen Geist der Öff nung, der vom Generalsekretär so nicht zu erwarten war. Tatsächlich stammt der Bericht von Msgr. Fausto Vaillanc, seit 1961 Leiter des Pressebüros (Ufficio Stampa). Er spricht sich für eine Lockerung des Konzilsgeheimnisses aus, das durch mehr oder weniger autorisierte Indiskretion ohnehin suspendiert sei. Gemeint waren die Pressekonferenzen von Konzilsvätern, die Übermittlung von Abstimmungsergebnissen, der Abdruck kompletter Sitzungsprotokolle in diversen Zeitungen sowie Aktivitäten der nationalen Dokumentationszentren. Der Berichterstatter zeigte drei mögliche Lösungswege auf. Man könne eine Pressetribüne in der Konzilsaula einrichten oder einen Konzilsvater damit beauftragen, innerhalb seiner Sprechergruppe einen mündlichen Bericht abzugeben. Verwiesen wurde auf das Beispiel der amerikanischen „Panels“ in der ersten Sitzungsperiode 1962. Unter der Führung der Bischöfe aus den USA und insbesondere von Bischof John Joseph Wright von Pittsburgh wurden die Journalisten täglich um 15.00 Uhr in ein Gebäude an der Via della Conciliazione eingeladen, um die Ereignisse, besonders die Generalversammlung der Konzils kommentiert zu bekommen, die eine Stunde vorher geendet hatte. Dieses Treffen war die einzige Quelle für die Redakteure der englischsprachigen Tageszeitungen. Ohne diese täglichen Informationen wären die Journalisten längst abgereist. Als dritte Möglichkeit wurde vorgeschlagen, man könne einen oder mehrere Bischöfe ernennen, die die täglichen Pressekommuniques kommentieren könnten. Infolge des Todes von Papst Johannes XXIII. am 3. Juni 1963 konnte die Entscheidung darüber erst am 4. Juli 1963 bei der nächsten Sitzung der Kommission erfolgen. Es kam zum Vorschlag eines organismo centrale, der die maßgebliche Autorität über die Konzilsinformationen darstellen und das Konzil gegenüber der Presse vertreten sollte. Man wollte als Leiter einen Kardinal ernennen. Kardinal Döpfner schlug Kardinal König vor. Am 31. August 1963 wurde dann die Angelegenheit des Pressekomitees endgültig geregelt: Den Vorsitz erhielt Erzbischof Martin John O’Connor, der bereits Vizepräsident für die Konzilskommission des Laienapostolats war und als Fachmann für die sogenannten Sozialen Kommunikationsmittel galt. Nun sollte auch die Geheimhaltung nur noch für die Schemata der Konzilsbeschlüsse und die Kommissionsarbeiten gelten, für die Diskussionen in der Vollversammlung wurde auf die „nötige Diskretion“ gedrungen. Von erheb-

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licher Bedeutung war ferner, dass Pierre Haubtmann, der Sprecher der französischsprachigen Presse, die Redebeiträge der Konzilsväter namentlich identifi zieren konnte. Das neue Pressekomitee hatte es noch für angebracht gehalten, die Redebeiträge ohne Namen zu veröffentlichen. Die anderen Sprachgruppen konnten nun diesem Beispiel folgen: „Was die bedeutungslosen und gelegentlich sogar infantilen Pressekommuniques aus dem Jahr 1962 noch mit einem Schleier bedecken wollten, nämlich die unterschiedlichen Auffassungen in der Konzilsaula, war gerade das, was das neue Leben der katholischen Kirche, die zum Konzil zusammen gerufen war, zum Ausdruck brachte. Was die Verantwortlichen des Konzils in dessen Anfängen als intolerable und diffamierende Indiskretionen ansah, bildete in den Augen der Weltöffentlichkeit ein Motiv aufrichtiger Sympathie und unter den Christen einen Grund zur Hoffnung. So tief war der Graben zwischen den Sichtweisen gewisser konservativer, und keineswegs nur römischer, Milieus einerseits und der öffentlichen Meinung andererseits, zwischen einer klerikalen Tradition auf der einen Seite und den Perspektiven einer Erneuerung der Kirche auf der anderen. Diesen Graben versuchten die Journalisten auf dem Konzil mit ihren Mitteln zu überbrücken.“7

Das Dekret Inter Mirifica Dieses Dekret geht zurück auf die Vorarbeit des zu Pfingsten 1960 errichteten vatikanischen Sekretariats für Presse und Schauspiel. Dieses Sekretariat ging zwar zu Beginn des Konzils in die Kommission für das Laienapostolat auf, dennoch finden sich im Text viele Spuren von Presse und Theater. Die Debatte über den Text De instrumentis communicationis socialis wurde auf dem Konzil als Entspannung gegenüber der harten theologischen Arbeit an anderen Vorlagen bewertet. Sie hatte am 23., 24. und 26. November 1962 nur 360 Minuten in Anspruch genommen. Vor allem Länge und Wiederholungen des Schemas wurden bemängelt und es wurde der Wunsch geäußert, die Rolle der Laien stärker herauszuarbeiten sowie die Sorge um die Jugend zu profilieren. Bei der Abstimmung wurde dann über drei Punkte befunden: 1. Zustimmung zur Kernaussage des Schemas 2. Redaktion eines neuen, kürzeren Textes 3. Publikation einer Pastoralinstruktion Von 2160 Konzilsvätern stimmten 2138 dafür, 15 dagegen, 7 Stimmen waren ungültig. Das Schema war als Ganzes approbiert und wurde für die beschlossene Reduzierung an die zuständige Kommission zurückgegeben. Der Text wurde in der Zwischensessio gekürzt, ohne dass in die Substanz weiter eingegriffen worden wäre. Das Schema contractum gliedert sich nach einem kurzen Prooemium über den Sinn der Bezeichnung instrumenta communicationis socialis und die Zielrichtung des Dekrets (Nr. 1 u. 2) in zwei Kapitel. Kapitel I stellt die kirchliche Lehrmeinung zu verschiedenen Punkten dar (Nr. 3–12): Kirchliche Verantwortung, Beachtung des Moralgesetzes, Recht auf Information, Beziehung zwischen Kunst und Moral, öffentliche Meinung, Pflicht der

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Rezipienten, der Produzenten und der Autoren sowie der öffentlichen Gewalt. Kapitel II (Nr. 13–22) entfaltet das pastorale Handeln der Kirche: Verantwortlichkeit von Hirten und Gläubigen, Ausbildung von Produzenten, Autoren und Rezipienten, wirtschaft liche Unterstützung der Medien, Jahrestag und Welttag der Kommunikationsmittel, eigenes Büro beim Hl. Stuhl und in den Diözesen. Das Schlusswort (Nr. 23–24) spricht die zukünftige Pastoralinstruktion an und fordert alle Menschen guten Willens zu einer segensreichen Anwendung der sozialen Kommunikationsmittel auf. Am 14. November 1963 fand die Abstimmung ohne weitere Diskussion statt. Der Relator, Bischof René Stourm, wies auf die erfolgten Veränderungen hin: So sei den Laien mehr Platz eingeräumt und auch die Wachsamkeit und Aufsichtspflicht gegenüber den Jugendlichen eingearbeitet worden. Die Abstimmungen behandelten die beiden Kapitel des Dokuments: Prooemium und erstes Kapitel erhielten 1832 placet, 92 non placet, 243 placet iuxta modum und eine ungültige Stimme, beim zweiten Kapitel gab es 1893 placet, 103 non placet, 125 placet iuxta modum und fünf ungültige Stimmen. Die Moderatoren setzten dann fest, in der kommenden Woche noch einmal über das Schema insgesamt abzustimmen – und zwar nur noch mit placet und non placet. Der Termin sollte am 25. November stattfinden. In der Zwischenzeit formierte sich allerdings erheblicher Widerstand gegen den Text: Er strotze von Moral und Banalität. Von amerikanischen Journalisten kam eine Erklärung, die von vier Konzilsperiti unterzeichnet wurde und in der Tendenz besagte: das Dekret sei dazu angetan, die Unfähigkeit des Konzils zu dokumentieren, sich mit der Welt von heute adäquat auseinanderzusetzen. Jorge María Mejía, Direktor der argentinischen Zeitschrift Criterio, der die Erklärung ebenfalls unterzeichnet hatte, ließ einen Rundbrief mit dem Vermerk „urgente“ zirkulieren: „Verehrte Konzilsväter! Bei nochmaliger Lektüre des Schemas über die Kommunikationsmittel vor der endgültigen Abstimmung sind viele Konzilsväter der Meinung, dass der Text dieses Schemas für ein Konzilsdekret nicht geeignet ist. Die Konzilsväter werden deshalb gebeten, die Ratsamkeit einer negativen Stimmabgabe ernsthaft ins Auge zu fassen, da das Schema den Erwartungen der Christen nicht entspricht, besonders derer nicht, die in dieser Materie bewandert sind. Sollte es als Dekret promulgiert werden, so wird die Autorität des Konzils auf’s Spiel gesetzt.“8 Die Petition von Mejía wurde am Tag der Abstimmung auf Flugblättern außerhalb der Konzilsaula verteilt. Sie war in der Zwischenzeit von 25 Konzilsvätern unterschrieben worden. Als der Generalsekretär des Konzils das bemerkte, versuchte er die Aktion zu stoppen. Schließlich rief er die päpstliche Garde zu Hilfe. Bei dieser Verteilungsaktion waren auch der Mainzer Weihbischof Josef Maria Reuß und der Paderborner Weihbischof Paul Nordhues beteiligt. Über den Vorgang kursieren die unterschiedlichsten Berichte. Im Nachlass von Reuß findet sich eine Rekonstruktion der Ereignisse: „Rom, 25. November 1963: Rekonstruktion der Ereignisse, die sich am 25. November um 8.55 Uhr auf dem Petersplatz zutrugen. Seit etwa 8.30 waren einige Geistliche auf Weisung und unter Aufsicht von Exz. Weihbischof Reuß damit beschäft igt, innerhalb der abgesperrten Zone des Petersplatzes an die

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eintreffenden Konzilsväter eine Mitteilung, die das Presseschema betraf, zu verteilen. Die Väter nahmen die Mitteilung durchwegs mit Interesse und Wohlwollen auf. Der zu dieser Zeit wachhabende Beamte in Zivil ließ die Verteilung ohne seine weitere Einmischung geschehen, nachdem er über den Sinn der Vorgänge unterrichtet worden war. Gegen 8.55 Uhr kam Erzbischof Felici mit zwei uniformierten Polizisten auf die mit der Austeilung beschäftigten Geistlichen, unter denen sich auch Exz. Reuß befand, zu und sagte, dass eine derartige Verteilung auf dem Petersplatz verboten sei. Exz. Reuß erwiderte ihm darauf, dass doch er (Exz. Felici) selbst bekannt gegeben hätte, dass ein derartiges Verbot nur für die Konzilsaula bestünde. Dies verneinte Exz. Felici entschieden und wollte einem der Geistlichen das Schrift material aus der Hand nehmen. Exz. Reuß stellte sich schützend vor den Geistlichen, nahm diesem die Blätter aus der Hand und machte eine Wendung nach links, als wollte er das Material in seinem Auto sicherstellen. Da entriß Erzb. Felici dem Weihbischof Reuß die Blätter. Exz. Reuß protestierte dagegen und betonte in lateinischer Sprache, er habe das Recht, hier auf dem Petersplatz die Schriftstücke zu verteilen und Erzb. Felici könnte ihm die Ausübung dieses Rechtes nicht verbieten. Exz. Felici bestand darauf, dass es sowohl auf dem Petersplatz wie in der Aula verboten sei, Schriften zur Verteilung zu bringen und nahm auch den übrigen Geistlichen das zu verteilende Material ab.“9 Die Abstimmung am 25. November erbrachte schließlich 1598 placet, 503 non placet und elf ungültige Stimmen. Das Schema war also angenommen. Die feierliche Abstimmung fand am 4. Dezember statt: Hier gab es 1960 placet und immer noch 164 non placet Stimmen. Damit war dieses Dekret die Verlautbarung des Zweiten Vatikanischen Konzils mit den meisten Nein-Stimmen.

Das Konzil und die Medien Inter mirifica und seine Behandlung auf dem Konzil haben eine mehrfache Bedeutung: Das Dekret  – so bringt es Sander auf den Punkt  – beweist eindrücklich die Notwendigkeit des Zweiten Vatikanischen Konzils. Es zeigt, wie wenig die Kirche vor dem Konzil in der Lage war, die Welt als eine medial vermittelte Öffentlichkeit zu begreifen, geschweige denn zur Sprache zu bringen oder in die Welt des Glaubens zu integrieren.10 Die Kirche wird mit einer Ordnungslehre außerhalb der Welt thematisiert, nicht als Akteurin darin. Eine Medienkritik kann aber nur ernst genommen werden, wenn sie auf der Höhe der Probleme ist. Genau das war der Text von Inter mirifica nicht. Er tut so, als könne die Kirche die Öffentlichkeit als Basis für das Zusammenleben umgehen oder sie sich gar ersparen. Der Text zeigt, dass die Medien als Zeichen der Zeit nicht erkannt wurden. Dieses Defizit ist die unhintergehbare Lehre des Textes: In diesem Sinn ist er bleibend bedeutsam. Der eigentlich wegweisende Text zu den Medien wurde schließlich die in Inter mirifica angekündigte Pastoralinstruktion Communio et progressio (1971). Sie formuliert eine Medien-Ekklesiologie auf der Höhe der Zeit.11

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Erich Garhammer „Während seines Erdenwandels erwies sich Christus als Meister der Kommunikation. In der Menschwerdung nahm er die Natur derer an, die einmal die Botschaft, welche in seinen Worten und seinem ganzen Leben zum Ausdruck kam, empfangen sollten. Er sprach ihnen aus dem Herzen, ganz in ihrer Mitte stehend. Er verkündete die göttliche Botschaft verbindlich, mit Macht und ohne Kompromiß. Andererseits glich er sich ihnen in der Art und Weise des Redens und Denkens an, da er aus ihrer Situation heraus sprach. Tatsächlich ist Kommunikation mehr als nur Äußerung von Gedanken oder Ausdruck von Gefühlen; im tiefsten ist sie Mitteilung seiner selbst in Liebe. Die Kommunikation Christi ist Geist und Leben.“(CeP 11)

Aus dieser theologischen Grundlegung ergeben sich neue Standards für die kirchliche Medienarbeit. Es geht um Qualität gerade auch der kirchlichen Beiträge im Medienbereich. Sie müssen Maß nehmen an den Standards der Medien: „Bischöfe und Priester, Ordensleute und Laien, die irgendwie die Stimme der Kirche repräsentieren, werden immer häufiger aufgefordert, für Presse, Hörfunk, Fernsehen und Film Beiträge zu leisten. Solche Mitarbeit, zu der man sie im übrigen noch mehr anregen und ermutigen sollte, kann eine über Erwarten große Wirkung haben. Allerdings erfordert das Wesen der Kommunikationsmittel von jedem, der in ihnen tätig wird, Erfahrung im Schreiben, Sprechen und Auft reten; er muss sich in seinem Metier gründlich auskennen. Darum ist es Aufgabe der kirchlichen Hauptstellen und anderer fachlicher Einrichtungen, dafür zu sorgen, dass derzeitige und künft ige Mitarbeiter für die Medien sorgfältig ausgebildet und rechtzeitig vorbereitet werden.“ (CeP 106)

Kirchliche Beteiligung in den Medien darf die gewohnten Standards nicht unterschreiten: „Die heutigen Menschen sind von den Kommunikationsmitteln so sehr an perfekte Darstellung und gewinnenden Stil gewöhnt, daß sie niedriges Niveau bei öffentlichen Veranstaltungen kaum noch hinnehmen, schon gar nicht bei solchen mit religiösem Charakter wie liturgischen Feiern, Predigten oder christlicher Unterweisung.“ (CeP 130)

Ferner wird darauf hingewiesen, dass die Kirche selber der öffentlichen Meinung bedarf. Diese impliziert freie Rede und eine Kultur des Dialogs: „Dem Leben der Kirche würde etwas fehlen, wenn es in ihr an öffentlicher Meinung mangelte.“ (CeP 115) Die Forderung von Papst Benedikt XVI., ein Konzil der Medien von einem vermeintlich wahren Konzil zu trennen, ist auf diesem Hintergrund nichts anderes als der Rückweg von Communio et progressio zu Inter mirifica. Anders gesagt: der Weg zurück von der Kirche als Dialogpartnerin zur Ordnungsinstanz der Welt. Dieser Weg aber ist versperrt. Es gibt kein Jenseits der Medien.

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Anmerkungen 1 Vgl.: Bolz, N.: Theorie der Neuen Medien, München (1990). 2 Gewidmet Weihbischof Paul Nordhues, der mir während meiner Paderborner Jahre 1991–2000 stets die Dokumente der Bischofskonferenz weitergeleitet hat. Das Ereignis vom 25. November 1963 war für ihn bleibend lehrreich. 3 Pesch, O. H.: Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte-Verlauf-Ergebnisse-Nachgeschichte. Würzburg (1993), 85 f. 4 Ebd., 86. 5 Ebd., 87. 6 Zitiert nach: Sander, H.-J.: Theologischer Kommentar zum Dekret über die sozialen Kommunikationsmittel Inter mirifica. In: HThKVatII 2, Freiburg–Basel–Wien (2004), 230–261: bes. 241. 7 Grootaers, J.: Ebbe und Flut zwischen den Zeiten. In: Alberigo, G. u. K. Wittstadt (Hrsg.): Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959–1965). Bd. II. Mainz–Leuven (2000), 620– 677: bes. 670. 8 Zit. nach Famerée, J.: Bischöfe und Bistümer. In: Alberigo G. u. K. Wittstadt (Hrsg.): Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959–1965). Bd. III. Mainz–Leuven (2003), 139–225: bes. 214 f. 9 Zit. nach Walter, P.: „Responsibilitas urgenda est“ – „Verantwortung tut not“. Weihbischof Josef Maria Reuß und das Zweite Vatikanische Konzil. In: Reifenberg, P. u. A. Wiesheu: Weihbischof Josef Maria Reuß (1906–1985). Mainz (2007), 83–120: 109 f. Walter schildert auch die spätere Korrespondenz zwischen Reuß, Nordhues und Felici bis hin zur Beilegung des Konflikts anlässlich der Kardinalserhebung von Felici im Jahr 1967. 10 Vgl. Sander, H.-J.: Theologischer Kommentar zum Dekret über die sozialen Kommunikationsmittel Inter mirifica. In: HThKVatII 2, 230–261: 257. 11 Vgl. dazu: Spielberg, B.: Partys, Pandas, Pastoral. Oder: Wie kommen wir zu einer kirchlichen Dialogkultur? In: Wiemeyer, J.: Dialogprozesse in der katholischen Kirche. Begründungen  – Voraussetzungen – Formen. Paderborn (2012), 101–111.

Roman A. Siebenrock

„[…] geht die Kirche immerfort den Weg der Buße und Erneuerung“ (LG 8) Betrachtung eines zentralen Konzilstextes zum Selbstverständnis der Kirche

A. Siebenrock „[…] geht die Kirche immerfort den Weg der Buße undRoman Erneuerung“ (LG 8)

Mit diesem Beitrag möchte ich zu einem Experiment einladen. Anlass dieses Experiments ist meine Erfahrung, dass zu oft die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils verstümmelt zitiert und als Waffen im innerkirchlichen Gefecht verwendet werden. Damit verlieren wir nicht nur die Fülle des Konzils, sondern auch die Chance, einen tieferen Einblick in die Komplexität des Konzilsprozesses und dadurch in die bewundernswerte Arbeit dieser großen Generation von Theologen und Bischöfen zu gewinnen. Wie selten in der Kirchengeschichte war das Konzil eine Erfahrung der conspiratio von theologischem und pastoralem Lehramt, das sich tief verbunden wusste mit dem Leben der Kirche aller Zeiten.1 Denn nicht nur in ihrer Zeit waren die Teilnehmer, leider kaum Teilnehmerinnen, mit der Weltkirche in all ihren höchst gegensätzlichen Lebenssituationen verbunden, sondern die Teilnehmer waren zudem durch ihre Gelehrsamkeit in einem ständigen Dialog nicht nur mit der Kirche aller Zeiten, sondern ebenso mit der Geistesgeschichte Europas und anderer Kulturen, vor allem den unterschiedlichen religiösen Traditionen. Das Konzil stellt daher, natürlich ansatzhaft und im Fragment, die Verdichtung des Lebens der ganzen Menschheit in der Aula von St. Peter dar. So haben sich die versammelten Bischöfe selbst verstanden2, die sich zu Beginn ihrer Sitzungen stets als vom Geist versammelte Sünder bekannten.3 Die größte je von Menschen zusammengerufene und mit Entscheidungskompetenz ausgestattete Versammlung hat ja nicht nur vorgefasste Texte verabschiedet, sondern in den Texten um die Zukunft der Kirche und ihrer künftigen Verfasstheit in offenen und spannungsreichen Prozessen gerungen. In diesen Texten dokumentiert sich die bleibende Pluralität dieser Kirche nach innen, aber auch deren vom Konzil entschieden gewollten Beziehungsfähigkeit nach außen. Dass das Konzil angesichts dieser Herausforderung nicht gescheitert ist, kann nach menschlichem Ermessen auch daran liegen, dass es sich vor jenen Versuchungen in Acht genommen hat, die sie im Konzilsgebet sich vor Augen gestellt hatten: Unwissenheit, Beifall der Menschen, Bestechlichkeit und falsche Rücksichtnahme. In dieser liturgischen Qualifikation des Konzils wird die theologische Begründung auf folgende Frage gegeben: Wie kann die Kirche in ihrem Dienst den vielfältigen Gottesge-

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schichten der Menschen gerecht werden? Denn der universale Heilswille Gottes realisiert sich in der Geschichte in vielfältigen Heilsratschlüssen (NA 1), ja in jedem Menschen anders. Damit aber geben sie Zeugnis von einer Katholizität, die ihr Profil nicht durch Ausgrenzung und Negation erhält, sondern durch Anerkennung und Einladung entweder zum Glauben oder zur Mitarbeit an Jesu Projekt, dem Reich Gottes.4 Deshalb möchte ich dazu einladen, dieser Katholizität in einer theologischen Besinnung auf LG 8 auf die Spur zu kommen.

1. Lumen gentium 8: Eine praktische Vision von der einzigen Kirche Jesu Christi Das Musterbeispiel eines „ausgehungerten“ Textes scheint mir der achte Artikel der Kirchenkonstitution Lumen gentium zu sein. Vor allem der Streit um die Frage, ob die einzige Kirche Christi in der katholischen Kirche sei (est) oder in ihr subsistiere, beweist dies.5 Wagen wir also eine erste betrachtende Lektüre.6

1.1 Der Artikel im Gefüge der Konstitution Der Artikel schließt das erste Kapitel der Konstitution mit der Überschrift „Das Mysterium der Kirche“ ab und leitet zum zweiten Kapitel über, das dem Volk Gottes in seiner geschichtlichen Wirklichkeit gewidmet ist. Erst das dritte Kapitel spricht von der Hierarchie, dem Verhältnis des Kollegiums der Bischöfe mit und unter dem Papst.7 Der Artikel stellt eine prinzipielle Orientierung für diese Kirche dar, weil er den Übergang der Kirche von ihrer Herkunft aus dem Heilsratschluss Gottes (= Mysterium) zu ihrem Weg in der Geschichte darstellt. Dieser Heilsratschluss umfasst nicht die Kirche allein, sondern die ganze Schöpfung, die durch ein trinitarisch begründetes heilsgeschichtliches Konzept als Raum des Heilswirkens Gottes zu verstehen ist (LG 2–4). Welche Sendung aber ist dieser Kirche eigen, die ja schon vor Erschaff ung der Welt von Gott gewollt war (LG 2 in Bezug zu Eph 4) und daher die Kirche der Gerechten seit Abel darstellt? Sie wird als „Quasi-Sakrament“ bezeichnet. Das heißt sie ist Mittel und Werkzeug der innigsten Vereinigung mit Gott und der Menschen untereinander (LG 1). Sie stellt dar und ermöglicht in ihrer Dienstfunktion die geschichtliche Beziehung der Menschen zur Heilsvorgabe Gottes. Deshalb kann, auch wenn das Konzil die Rede vom Leib Christi hier (LG 7) und die Rede vom Volk Gottes in Kap II bevorzugt, von dieser Kirche nur in einer Vielfalt von Bildern gesprochen werden (LG 6). Diese Dynamik schließt unser Artikel ab und grundiert geradezu typologisch den Weg des Volkes Gottes durch die Geschichte. Daher sind und bleiben die in Artikel 8 genannten Merkmale die Erkennungszeichen der Kirche Christi auf ihrem ganzen Pilgerweg durch die Zeit. Deshalb werden die klassischen Kennzeichen (ein, heilig, katholisch und apostolisch) in Vollzüge umgesetzt. Man könnte von einer pragmatischen Definition sprechen, deren geschichtlichen Indizien den Augen aller Menschen zugänglich sind.8

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1.2 Eine nicht unbedeutende Analogie: die Menschwerdung des Wortes „Der einzige Mittler Christus hat seine heilige Kirche, die Gemeinschaft des Glaubens, der Hoff nung und der Liebe, hier auf Erden als sichtbares Gefüge verfasst und trägt sie als solches unablässig; so gießt er durch sie Wahrheit und Gnade auf alle aus.“9

Die Kirche wird charakterisiert durch eine doppelte Reihe von Attributen in ihrer Beziehung zu Christus, dessen unablässige Gegenwart die Kirche heiligt. Er trägt sie, weil – so die Sendung der Kirche – durch sie Wahrheit und Gnade auf alle ausgegossen wird. Wenn die universale Dimension „alle“ ernst genommen wird, dann wird hier Kirche in nicht näher bestimmter Weise verstanden als universale geschichtliche Gegenwart der Wahrheit und Gnade Christi. Das Konzil, so Peter Hünermann, vertritt einen analogen Kirchenbegriff. Das bedeutet, dass der Gebrauch des Begriffs „Kirche“ auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Zusammenhängen fein nuanciert wird. Die in Artikel 8 genannten Eigenschaften und Funktionen der Kirche jedoch bestimmen deren bleibende Bestimmung. So war es ja bereits in LG 2, in der vom Werden und der Vollendung der Kirche gesprochen wird, angedeutet. Aber nicht nur hier wird das Konzil ganz wesentlich von einer christologischen Matrix geprägt10, die nicht statisch aufgefasst, sondern als Dynamik der Heilsgeschichte ausgelegt wird. Das dürfte auch der feine Unterschied zu den in den Fußnoten zitierten lehramtlichen Referenzen in den Enzykliken von Leo XIII. und Pius XII. sein. Kirche lässt sich nur verstehen als Integration unterschiedlicher Qualifi kationsmerkmale. Die Doppelreihe, die die Kirche beschreibt, lese ich als Konkretion der Zwei-Naturenlehre von Chalkedon;  – mit einer Differenz. Die eine Reihe bestimmt die Kirche in ihrer geistlichen und damit eher eschatologischen Wirklichkeit, die andere in ihrer geschichtlichen Realität und konkreten Verfasstheit, die mit diesem Äon vergehen wird (LG 48). Als erstes, und diese Reihenfolge ist prinzipiell zu deuten, wird die Kirche als Gemeinschaft (communitas) bestimmt, die durch die drei göttlichen Tugenden geprägt wird. Die zweite Aussage nimmt ihre geschichtliche Erscheinung in den Blick. Der Begriff „sichtbares Gefüge“ (compago visibilis) spielt auf das Gerippe eines Körpers oder die Struktur eines Bauwerkes an. Weil der Begriff societas perfecta als Rivalitätsbegriff und Sicherung der Autonomie der Kirche gegen staatliche Eingriffe ausgearbeitet wurde, aber gerade mit dieser Bestimmung die Kirche zur Rivalin des Staates mutierte und nach seinem Modell vor allem juristisch gedacht wurde11, scheint mir die neue Begrifflichkeit nicht unbeabsichtigt zu sein, zumal das Konzil auf den Begriff societas perfecta12 verzichtet hat. Erst im zweiten Satz wird die traditionelle Begrifflichkeit in neuer Weise aufgenommen. Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft , die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu

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betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst.

Die geschichtliche Verfasstheit, nun Gesellschaft (societas) genannt, wird als mit hierarchischen Organen ausgestattet und so als sichtbare Versammlung (coetus) bestimmt. Die geistlichen Aspekte bezeichnen die Begriffe „Leib Christi“ und „geistliche Gemeinschaft“. Die irdische Kirche aber ist, mit himmlischen Gaben beschenkt, eine komplexe Realität die in ihrer Einheit immer wieder neu zusammenwächst. Damit wird für die Einheit der beiden Dimensionen kein statisches Verhältnis gewählt, sondern ein ständiger Prozess angedeutet. Deshalb ist sie in einer nicht unbedeutenden Analogie dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes ähnlich. Wie nämlich die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges, ihm unlöslich geeintes Heilsorgan dient, so dient auf eine ganz ähnliche Weise das gesellschaft liche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum seines Leibes (vgl. Eph 4,16).

Sehr vorsichtig wird die Vorstellung aufgenommen, die das Kirchenverständnisses seit dem 19. Jahrhundert prägte. Kirche ist die fortgesetzte Menschwerdung.13 Doppelt abgeschwächt führt unser Artikel diese Verständnis ein: „nicht unbedeutende Analogie“, „ähnlich“, und durch den Heiligen Geist als Lebenskraft begründet.14 Diese schwache Analogie besagt, dass die Kirche, so wie die angenommene Menschheit für das göttliche Wort ein Medium der Heilswirksamkeit Gottes ist. Damit ist nicht nur die grundlegende Sakramentalität der Kirche ausgesagt, sondern auch zugleich abgeschwächt. So sprach schon der erste Satz der Konstitution von einem „Quasi-Sakrament“ (veluti), das die Kirche darstelle (LG 1). Diese „Quasi-Sakramentalität“ der Kirche zeichnet zwei Dynamiken aus. Erstens die ständige Wirksamkeit des Geistes und das lebendige Wachsen seines Leibes. Heilsmedium ist die Kirche weder durch eigene Vollmacht, noch ist diese Heilsmedialität auf eine Gruppe beschränkt. Nein, der ganzen Kirche, belebt vom Heiligen Geist als einer Gemeinschaft des Glaubens, der Hoff nung und der Liebe ist, kommt solches als Gabe für alle Menschen zu.

1.3 Die einzige Kirche Christi „subsistiert“ … Dies ist die einzige Kirche Christi, die wir im Glaubensbekenntnis als die eine, heilige, katholische und apostolische bekennen. Sie zu weiden, hat unser Erlöser nach seiner Auferstehung dem Petrus übertragen (Joh 21,17), ihm und den übrigen Aposteln hat er ihre Ausbreitung und Leitung anvertraut (vgl. Mt 28,18 ff ), für immer hat er sie als „Säule und Feste der Wahrheit“ errichtet (1 Tim 3,15).

Das Demonstrativpronomen zu Beginn kann sich nur auf die Gesamtheit aller Aussagen zuvor beziehen; – aber mit der Priorität der Gegenwart Christi im Geist. Die einzige Kir-

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che Christi ist in ihrer sozial-geschichtlichen Ausprägung vom auferstandenen Christus dem Hirtendienst des Petrus zusammen mit den übrigen Aposteln anvertraut. Der Text spricht hier von der apostolischen Gründung der Kirche, die der Text nach Ostern ansiedelt. Damit entscheidet das Konzil die ganze Diskussion um die Kirchengründung beim historischen Jesus nicht. Doch, und das darf nicht verwischt werden, trägt das Konzil eine Differenz zwischen apostolischer Gründung und allen Realisierungsformen von Kirche in der Geschichte ein. Das ist schon deshalb notwendig, weil wir in der Gegenwart nur im Plural von Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften sprechen können, während Jesus Christus eine einzige Kirche gewollt hat. In dieser Differenz steckt der bleibende Stachel der ökumenischen Herausforderung, der sich das Konzil im Ökumenismusdekret gestellt hat. Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfaßt und geordnet, ist verwirklicht in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird. Das schließt nicht aus, dass außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen.

Wenn die ersten Aussagen zur Kirche, ihre Komplexität, ihre schwache Analogizität zur Menschwerdung des Wortes und die Idee der apostolischen Gründung nicht im Ungefähren verharren sollten, muss jetzt die konkrete gegenwärtige Gestalt der getrennten Kirchen angesprochen und untereinander und zur apostolischen Gründung in Beziehung gesetzt werden. Hierfür hat das Konzil das traditionelle est (ist identisch mit) vermieden. Es spricht von subsistit, – und zwar präzise in Bezug auf die verfasste und geordnete Gesellschaft, nicht auf die geistliche Wirklichkeit Kirche. Natürlich wird diese Gesellschaft durch den Nachfolger Petri in Gemeinschaft mit den Bischöfen geleitet. Der lateinische Begriff für die Kollegialität lautet aber nun in communione.15 Mir scheint es aber nicht unwichtig zu sein, dass der ganze Text niemals von der „römisch-katholischen“ Kirche spricht. Damit wären nicht nur die anderen Kirchen ausgeblendet. Auch die unierten orientalischen Kirchen wäre übergangen worden. Der Text lässt an dieser Stelle die Frage offen, in welcher Weise dieser Dienst konkret ausgeübt wird. An dieser Stelle scheint es mir sogar so zu sein, dass der Text durch seine späteren Ausführungen es für notwendig erachtet, dass die ganze Kirche, auch die Ausgestaltung des Hirtendienstes, einer andauernden Erneuerung bedarf. Hier kann nicht einmal sporadisch die jüngere Diskussion um das subsistit dargestellt werden.16 Evident ist nach dem Text, und allen seinen ersten Kommentatoren, dass das Konzil nicht est sagen wollte, auch wenn philologisch kein so ein großer Unterschied sein sollte. Gerade dies verlangt aber eine nähere Bestimmung des Begriffs. Ich meine, dass das subsistit durch die nachfolgenden Aussagen geklärt wird.17 Zunächst wird, vielleicht zu zurückhaltend, gesagt, dass nicht ausgeschlossen sei, dass es außerhalb der sozialgeschichtlichen Gestalt der katholischen Kirche vielfältige Elemente der Wahrheit und Heiligkeit gäbe, die auf die katholische Einheit hindrängen würden.18 Das verweist nicht nur auf die innerchristliche ökumenische Dynamik. Von Elementen des Wahren und des Hei-

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ligen spricht das Konzil auch in Bezug auf die nichtchristlichen Religionen (NA 2). Wie fein das Konzil diese Beziehungen austariert, kann dem nächsten Kapitel entnommen werden. Alle sind grundsätzlich zum Reiche Gottes berufen (LG 13). In der Differenz von Kirche und Reich Gottes sind die Katholiken, ganz nach Bellarmin, in die Kirche inkorporiert (LG 14), während alle Getauften mit ihr verbunden sind (LG 15). Die anderen, die das Evangelium noch nicht empfangen haben, sind in unterschiedlicher Weise auf das Reich Gottes hingeordnet (LG 16). Juden als Kinder der Verheißung und Muslime, die mit uns den einen Gott anbeten, werden namentlich genannt.19 Allen aber ist ein Heilsweg eröffnet, den Gott allein kennt.20 Dieses Hindrängen lese ich als doppelte Bewegung, die nicht als Rückkehr zur sozialgesellschaft lichen Gestalt der katholischen Kirche zu einem bestimmten Zeitpunkt meinen kann, sondern immer ein Wachstum des Leibes Christi nach vorn bedeutet. Denn alle haben sich, so der nächste Abschnitt, immer neu zur apostolischen Gründung in der konkreten Fachfolgegestalt Jesu zu bekehren und immer muss diese Treue zur apostolischen Gründung ergänzt werden durch die Treue zum heute und morgen kommenden Christus, weil die Kirche auf die Parusie des Herrn zugeht und kein Museum für Altertümer darstellt.

1.4 Das Maß der Kirche: der arme Jesus und die machtlose Kirche der Armen Wie aber Christus das Werk der Erlösung in Armut und Verfolgung vollbrachte, so ist auch die Kirche berufen, den gleichen Weg einzuschlagen, um die Heilsfrucht den Menschen mitzuteilen. Christus Jesus hat, „obwohl er doch in Gottesgestalt war, […] sich selbst entäußert und Knechtsgestalt angenommen“ (Phil 2,6); um unseretwillen „ist er arm geworden, obgleich er doch reich war“ (2 Kor 8,9). So ist die Kirche, auch wenn sie zur Erfüllung ihrer Sendung menschlicher Mittel bedarf, nicht gegründet, um irdische Herrlichkeit zu suchen, sondern um Demut und Selbstverleugnung auch durch ihr Beispiel auszubreiten. Christus wurde vom Vater gesandt, „den Armen frohe Botschaft zu bringen, zu heilen, die bedrückten Herzens sind“ (Lk 4,18), „zu suchen und zu retten, was verloren war“ (Lk 19,10). In ähnlicher Weise umgibt die Kirche alle mit ihrer Liebe, die von menschlicher Schwachheit angefochten sind, ja in den Armen und Leidenden erkennt sie das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war. Sie müht sich, deren Not zu erleichtern, und sucht Christus in ihnen zu dienen.

Das entscheidende Kriterium der Kirche ist die realgeschichtliche Gestalt des armen Jesus von Nazareth. Kein Konzil zuvor hatte tatsächlich den Mut, die reale Gestalt Jesu als Kriterium aller Reform klar und deutlich zu benennen. Das bedeutet nicht „Entweltlichung“, sondern eine geschichtliche Sozialgestalt, die nicht auf irdische Vorteile aus ist, und die eine Option für die Armen, die real Armen in der jeweiligen Zeit und am konkreten Ort, lebt. Denn Christus ist in ihnen.21 Der Text greift dabei die uralte soteriologische Idee des wunderbaren Tauschs auf und konkretisiert sie als Auftrag der Kirche. In diesem

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kurzen Abschnitt ist nicht nur die „Kirche der Armen“ ausdrücklich genannt, die Johannes XXIII. so am Herzen lag, dieser Text ist auch die entscheidende Inspirationsquelle für den sogenannten Katakombenpakt vom November 1965.22 Dieser Abschnitt aber ist letztlich nicht zu kommentieren. Er ist so klar, dass er einfach zu Herzen genommen werden sollte.

1.5 Kirche Christi: stets zu erneuernde Gemeinschaft der Sünder Während aber Christus heilig, schuldlos, unbefleckt war (Hebr 7,26) und Sünde nicht kannte (2 Kor 5,21), sondern allein die Sünden des Volkes zu sühnen gekommen ist (vgl. Hebr 2,17), umfaßt die Kirche Sünder in ihrem eigenen Schoße. Sie ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürft ig, sie geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung.

Angesichts dieses Kriteriums, und das ist die notwendige Konsequenz der christologischen Matrix der Ekklesiologie, sieht sich die Kirche immer in Differenz zu ihrem Herrn. Die geschichtliche Differenz, die immer neu betrachtet und wahrgenommen werden muss, stellt eine prinzipiell soteriologische Differenz dar, die im Begriff „Sünde“ ausgedrückt wird. Alle sind auf die Gnade Gottes und die Kraft des Geistes angewiesen. Deshalb ist zunächst festzuhalten, dass die Kirche immer auch Sünder umfasse. Hier klingt der altkirchliche Streit mit den Donatisten nach. Doch auch später blieb die Versuchung bestehen, eine Kirche der Reinen in Ausschluss der Flecken zu gestalten. Der zweite Satz jedoch ist aufregender. Denn jetzt wird die Kirche als ganze heilig und der Reinigung bedürftig bezeichnet. Das Wort „sündig“ wird vermieden. Doch die Begriffe Reinigung, Buße und Erneuerung, die stets den Weg der Kirche prägen (der Satz ist präsentisch und indikativisch formuliert), lassen nur den Schluss zu, dass die Sünde die Kirche in allen ihren historischen Dimensionen prägt.23 Daher ist der Erneuerungsprozess das Zeichen der Kirche Christi in ihrer Pilgergestalt. Deshalb kann die Heiligkeit der Kirche allein an Ihrer Bereitschaft zur Umkehr abgelesen werden. Die Kirche „schreitet zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin“ (Augustinus, De civ. Dei, XVIII, 51,2: PL 41,614) und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er wiederkommt (vgl. 1 Kor 11,26). Von der Kraft des auferstandenen Herrn aber wird sie gestärkt, um ihre Trübsale und Mühen, innere gleichermaßen wie äußere, durch Geduld und Liebe zu besiegen und sein Mysterium, wenn auch schattenhaft, so doch getreu in der Welt zu enthüllen, bis es am Ende im vollen Lichte offenbar werden wird.

Der letzte Satz verweist auf das siebte Kapitel der Konstitution: die eschatologische Vollendung der Kirche. Pilgerin ist diese Kirche, immer hin und her geworfen von der Dramatik der Geschichte, nie ohne Trost, immer – innen wie außen – in Verlegenheit, doch gerade darin jenes Gefüge, das das Kreuz und den Tod des Herrn verkündet bis zur Parusie. Das verweist auf die Liturgie als jenem herausragenden Ort24, in der sie vom Auferstande-

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nen gestärkt, sich immer neu auf den Weg zu machen vermag. Allein so gereicht es ihr zur Ehre das Mysterium Christi getreu, wenn auch schattenhaft, zu enthüllen. Gerade die Treue Christi zur Gebrochenheit seiner kirchlichen Vergegenwärtigung ist ihre Hoffnung und prägt ihre Zuversicht. So kann jetzt schon aufleuchten, was einmal in vollem Licht erscheinen wird: ein neuer Himmel und eine neue Erde. Dorthin aber ist sie, solange Geschichte ist, immer unterwegs.

2. Wo also subsistiert die einzige Kirche Jesu Christi? Sie subsistiert nicht in einem Rechtssystem. Davon war im Text nicht die Rede. Sie subsistiert sicherlich in der von den Bischöfen in Gemeinschaft mit dem Nachfolger Petri geleiteten Kirche, zu deren Identität es gehört, Element des Katholischen außerhalb ihrer anzuerkennen und stets den Weg der Erneuerung am Maßstab des armen Jesus Christus zu gehen. Diese Erneuerung aber hat ihre konkrete Ausgestaltung in der Option einer Kirche, die keinerlei weltlichen Interessen verfolgt, für die Armen. Was könnte daher das subsistit bedeuten? Ich meine, dass es dynamisch gelesen werden muss in der Dramatik von Sünde und Erneuerung. Dann aber zeigt dieses subsistit eine Überraschung, ein Gabe an: Die Kirche Christi, gegen alle Erwartung, verharrt darin, weil Christus selbst treu zu ihr steht und sein Geist sie stets erneuert. Das subsistieren in der Kirche aber muss geweitet werden auf die Gegenwart Christi außerhalb ihrer, weil es ohne diese Präsenz Christi keine Elemente des Katholischen gäbe. Eine so verstandene Katholizität kann nicht als Waffe gegen andere eingesetzt werden. Vielmehr ist es auch für die Katholische Kirche eine Gabe, die sie auffordert, sich so zu erneuern, dass immer an ihr das Antlitz des armen Jesus Christus aufleuchtet. Wenn die Dynamik dieses Textes ignoriert wird, dann ist der ganze Text verloren. Es gehört zur höchst lehramtlichen Verweigerung des Konzils und der von ihm verkündeten normativen Gestalt der Katholizität, von der Kirche Jesu Christi zu sprechen, ohne das Kriterium des armen Jesus Christus zu erwähnen und einen ständigen Prozess der Buße und Erneuerung real erfahrbar zu leben. Wer sich über die Glaubenslosigkeit der Welt beklagt und ihren Relativismus anprangert, sollte sich immer zuerst des Balkens im eigenen Auge bewusst sein. Die säkulare, wenn auch bisweilen zynisch spottende Welt hat vollkommen Recht, wenn sie einer um ihre Macht und Einflusses besorgten Kirche nicht mehr traut. Wir sollten anfangen, die kritische Öffentlichkeit als konkreten Ruf des Geistes zur Umkehr an uns zu vernehmen. Denn wir sind der Brief Christi, bzw. Gottes an die Menschen unserer Gegenwart (2 Kor 3,3). Immer sind Kirchenkrise und Glaubens-, bzw. Gotteskrise miteinander verwickelt. Kirchenreform dient deshalb der Erkennbarkeit des Gottes Christi in den Vollzügen aller Glaubenden und der Kirche selbst; – bis hinein in ihre Regierungsform und ihren Umgang mit den Schwächen, Fehlern und dem Bösen in ihr selbst.

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Anmerkungen 1 Daher möchte ich keine Übersicht über die Konstitution bieten, sondern an einem Detail das Ganze zu sehen versuchen. 2 Siehe den ersten vom Konzil verabschiedeten Text: Wege zur Erneuerung der Kirche. Botschaft der Konzilsväter an die ganze Menschheit. In: Hünermann, P. u. B. Hilberath (Hrsg.): Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil: Texte, Kommentare, Zusammenschau. Sonderausgabe. Freiburg–Basel–Wien (22009), 491–494. 3 Das tägliche Gebet der Konzilsväter. In: ebd., 490–491. 4 Siehe: Bausenhart, G.: Die „communio hierarchica“. In der Verantwortung für die Katholizität der Kirche. In: ebd., 157–177. Eine klassische Formulierung von Katholizität lautet: „Der Katholizismus ist die Religion. Er ist die Form, die die Menschheit annehmen soll, um endlich sie selbst zu werden. Er ist die einzige Wirklichkeit, die, um zu sein, es nicht nötig hat, sich entgegenzusetzen, also alles andere als eine ,geschlossene Gesellschaft‘“ (Lubac, H. d.: Glauben aus der Liebe. Catholicisme. Einsiedeln (31992), 263). 5 Der ganze Artikel verwendet nie den Begriff „wahre Kirche“, wie es traditionell üblich war (siehe: Bellarmin, Anm. 11). Der Begriff Wahrheit wird gebraucht, um den Dienst der Kirche auszudrücken. Ich interpretiere dies als pragmatisches Kriterium der Kirche Christi. Aus ihren Früchten könnt Ihr jene Gemeinschaft erkennen, die mit Recht den Titel „Kirche Christi“ trägt. 6 Das Modell dieser Hermeneutik stellen für mich die Arbeiten von Christoph Theobald SJ dar (siehe: Theobald, C.: Die Kirchenkonstitution Lumen gentium. Programmatische Vision  – Kompromisstext – Ansatz für einen Paradigmenwechsel. In: Tück, J.-H. (Hrsg.): Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil. Freiburg–Basel–Wien (2012), 201–220). 7 Danach werden die Lebensformen der Kirche exemplarisch angesprochen (Kapitel 4: Über die Laien; Kapitel 6: Über das geweihte Leben). Kapitel 5 (Berufung zur Heiligkeit) wiederum drückt das gemeinsame und persönliche Ziel der Glaubenden aus, das in der eschatologischen Vollendung der Kirche (Kapitel 7) mündet. 8 Ich halte diesen Vorschlag durchaus in Übereinstimmung, wenn auch ohne die triumphalistischen Spitzen, mit den Aussagen des Vatikanum I (DH 3014; siehe hierzu meinen Aufsatz: Siebenrock, R. A.: Kirche als Glaubensmotiv. Überlegungen zu einer zeitgemäßen via empirica. In: Batlogg, A. R., Delgado, M., Siebenrock, R. A. (Hrsg.): Was den Glauben in Bewegung bringt. Fundamentaltheologie in der Spur Jesu Christi. Festschrift für Karl H. Neufeld SJ. Freiburg– Basel–Wien (2004), 246–263. 9 Zur besseren Unterscheidung von Text und Kommentar in der Lektüre werde ich den Konzilstext einrücken. Der Kommentar folgt unmittelbar daran. In der Dokumentation wird auf die Fußnoten verzichtet. In den Fußnoten des Artikels wird, neben klassischen Autoren, vor allem auf Enzykliken der Päpste Leo XIII. und Pius XII. verwiesen. Zur Interpretation der gesamten Konstitution siehe den Kommentar: Hünermann, P.: Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium. In: Hünermann, P. u. B. Hilberath (Hrsg.): Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil: Texte, Kommentare, Zusammenschau. Sonderausgabe. Bd. 2, Freiburg–Basel–Wien (22009), 263–582: bes. 365–371. 10 Für die Pastoralkonstitution siehe: Gertler, T.: Jesus Christus – die Antwort der Kirche auf die Frage nach dem Menschsein. Eine Untersuchung zu Funktion und Inhalt der Christologie im 1. Teil der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ des 2. Vatikanischen Konzils. Erfurter theologische Studien 52. Leipzig 1986.

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11 Das berühmteste Beispiel hierfür ist die Explikation von Kardinal Bellarmin: „Es gibt nur eine Kirche, nicht zwei, und jene eine und wahre [Kirche] ist ein Zusammenschluss von Menschen, der durch das Bekenntnis desselben christlichen Glaubens und durch die Gemeinschaft derselben Sakramente, unter der Leitung der legitimen Hirten, vor allem des einen Stellvertreters Christi auf Erden, des römischen Papstes, verbunden ist. … Denn die Kirche ist ein so sichtbarer und manifester Zusammenschluss von Menschen wie das Gemeinwesen des römischen Volkes oder das Königreich Frankreich oder die Republik Venedig“(Bellarmin, Robert, Controversiae generales: De conciliis III c. 2. In: Opera omnia Bd. II. Paris (1870), Nachdruck Frankfurt a. M. (1965), 317bf. Übersetzung von M. Volk, nach: Beinert, W. (Hrsg.): Texte zur Theologie. Dogmatik 5,2. Ekklesiologie II. Von der Reformation bis zur Gegenwart. Bearbeitet von Peter Neuner. Graz–Wien–Köln (1995), 97). 12 Siehe: Leo XIII. „Immortale Dei“ (1885; DH 3 165–3179, v. a. 3167). Die traditionelle Lehre konzipierte zwei vollkommene Gesellschaften, die aber sich wechselseitig durchdringen in ihrem Dienst am Menschen. Konflikte wurden aber dort immer festgestellt, wenn die irdische der himmlischen Berufung widersprachen. Hier liegt die theologische Begründung der Konkordatspolitik des Vatikans. Den bleibenden Gehalt dieses Begriffs sehe ich darin, dass die Kirche als eine autonome Körperschaft verstanden wird, die zu ihren Entscheidungen und Lebensvollzügen nicht die Mithilfe staatlicher oder gesellschaft licher Autoritäten benötigt und mit Recht den Freiheitsraum, den sie für ihre Sendung so einfordert, dass er ein Freiheitsraum aller Menschen wird. Die letzte Bestimmung ist die Konsequenz aus der Erklärung für die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ des Konzils. Diese Bestimmung schließt nicht aus, sondern ein, dass die Kirche, um die konkrete Gestalt ihrer Sendung zu fi nden, immer auf andere angewiesen bleibt. „Societas perfecta“ meint deshalb nicht Selbstgenügsamkeit, oder gar – das war auch früher nicht der Fall – moralische Supergesellschaft. 13 Wirkungsgeschichtlich mächtig, bis in die Details unseres Artikels hinein, war diese Idee in der Formulierung von J. A. Möhler: „So ist denn die sichtbare Kirche, von dem eben entwickelten Gesichtspunkte aus, der unter den Menschen in menschlicher Form fortwährend erscheinende, stets sich erneuernde, ewig sich verjüngende Sohn Gottes, die andauernde Fleischwerdung desselben, so wie denn auch die Gläubigen in der Heiligen Schrift der Leib Christi genannt werden. Hieraus leuchtet nun aber auch ein, daß die Kirche, obwohl sie aus Menschen besteht, doch nicht bloß menschlich sei. Vielmehr, wie in Christo Göttliches und Menschliches wohl zu unterscheiden, aber doch auch beides zur Einheit verbunden ist, so wird er auch in ungeteilter Ganzheit in der Kirche fortgesetzt. Die Kirche, seine bleibende Erscheinung, ist göttlich und menschlich zugleich, sie ist die Einheit von beidem. Er ist es, der in irdischen und menschlichen Gestalten verborgen in ihr wirkt; sie hat darum eine göttliche und eine menschliche Seite in ungeschiedener Weise, so daß das Göttliche nicht von dem Menschlichen und dieses nicht von jenem getrennt werden mag…“ (Geiselmann, J. R. (Hrsg.) u. J. A. Möhler: Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften (1832). Darmstadt (1958), 389). 14 Den pneumatologischen Aspekt der Ekklesiologie wird Gaudium et spes im ersten Artikel in einer durchkomponierten trinitarischen Sicht verstärken. Die abschließende konziliare Explikation der Kirche lautet: „Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist. Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden“ (GS 1). 15 Damit ist die vielfach geäußerte Meinung, dass das Konzil von einer „communio“ erst in der

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Roman A. Siebenrock nach der Verabschiedung der Konstitution von Papst Paul VI. hinzugefügten „nota previa“ sprechen würde, nicht zutreffend. Vielmehr verdichtet diese „nota“ nur, was die Konstitution schon zuvor gesagt hatte. Rainer, M. J.: „Dominus Jesus“. Anstößige Wahrheit oder anstößige Kirche? Dokumente, Hintergründe, Standpunkte und Folgerungen, (Wissenschaft liche Paperbacks 9). Münster (2001). Schon die vorausgehenden Aussagen mit ihrer Zurückhaltung lassen eine Identifi kation der wahren Kirche Jesu Christi, die nur die eschatologisch vollendete sein kann, mit irgendeiner geschichtlichen Kirchengestalt nicht zu. Das Konzil selbst hat ja die Ökumenische Bewegung, die außerhalb der katholischen Kirche begann, als Gabe des Heiligen Geistes bezeichnet (UR 1). Vertieft werden diese Aussagen in der Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“ Art. 3 und 4. GS 22 greift diese Aussage auf, formt sie aber trinitarisch um. Hier hätte das Konzil durchaus an die eschatologische Rede Jesu im Matthäusevangelium (25) verweisen können. Konkret ausgefaltet wird der Weg Jesu und seiner Apostel in einer kurzen narrativen Heilsgeschichte in: DH 11. Siehe das Konzilsbüchlein eines Mitunterzeichners dieses Versprechens, der damals Weihbischof von Kardinal Lercaro (Bologna) war: Bettazzi, L.: Das Zweite Vatikanum. Neustart der Kirche aus den Wurzeln des Glaubens. Übersetzt aus dem Italienischen von Barbara Häußler. Würzburg (2012). An dieser Stelle spricht das Konzil von Erneuerung („renovanda“), ein Begriff, den das Konzil in verschiedenen Zusammenhängen gerne verwendet, um seinen zentralen Reformgedanken zu konkretisieren. Vor allem im Ökumenedekret wird hingegen von der anhaltenden Reform („reformatio“) gesprochen (UR 4 und 6). Siehe: SC 10 und LG 26.

Ingeborg Gabriel

Weltpastoralkonstitution Zukunftsweisende Orientierungen aus Gaudium et spes

Ingeborg Gabriel Weltpastoralkonstitution

Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes ist nach dem Urteil führender Theologen das innovativste Konzilsdokument. Worin aber besteht die Bedeutung dieses Textes, der erst nach langem Ringen und vielfältigen Redaktionen fertig gestellt wurde und der bis heute keineswegs unumstritten ist? Das Dokument, das auf den ausdrücklichen Wunsch von Papst Johannes XXIII. zurückgeht und für das auf keinerlei Vorbilder aus der Geschichte zurückgegriffen werden konnte, erhielt den Titel Pastoralkonstitution. Damit ist jedoch  offenkundig nicht „Pastoral“ im herkömmlichen Sinne gemeint. Es ist vielmehr das deklarierte Ziel des Textes, das Wirken der katholischen Kirche nach außen (nach der berühmten Differenzierung des Konzils ad extra), also vor allem für die Nicht-Gläubigen, verständlich zu machen (so GS 2). Es geht hier demnach um eine Weltpastoral sui generis. Sie setzt bei einer soziologischen Analyse der Weltrealitäten an, um sie im „Lichte des Evangeliums“ zu deuten und so allen Menschen ethische Orientierungen unter dem Leitwert des Humanen zu vermitteln. Diese Ethik ist in eine heilsgeschichtlich fundierte christliche Theologie eingebettet. Damit kommt der Pastoralkonstitution zugleich ein Verkündigungscharakter zu. Der methodische Dreischritt von Empirie  – Ethik – Theologie wird in ihr unter dem einprägsamen Begriff der „Zeichen der Zeit“ zusammengefasst.1 Es handelt sich dabei keineswegs nur um eine Zeitanalyse, sondern um den zugegebenermaßen kühnen Versuch einer umfassenden Deutung der gegenwärtigen Weltwirklichkeit unter ethischem und unauflöslich damit verbunden unter theologischem Vorzeichen. Gerade gegen diesen Gegenwartsbezug richtet sich freilich auch die Kritik, da er vor die Frage stellt, ob die Pastoralkonstitution fast fünfzig Jahre nach ihrer Abfassung nicht hoff nungslos veraltet und damit weitgehend irrelevant sei.2 Eine genauere Lektüre bestätigt diesen Vorbehalt jedoch nicht. Sie zeigt vielmehr, dass hier bereits Phänomene ausführlich beschrieben wurden, die erst Jahrzehnte später zu Hauptsignaturen der Zeit avancierten: So unter anderem die Globalisierung, die in Gaudium et spes als socialisatio (u. a. GS 25) bezeichnet wird, aber auch ein wachsender weltweiter Pluralismus. Ein weiteres, schwerer zu entkräftendes weil höchst allgemeines Vorurteil besteht darin, dass Gaudium et spes einem heute so nicht mehr vertretbaren Optimismus huldigt.

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1. Waren die Konzilsväter zu optimistisch? Zum Streit um die Konzilsinterpretation Eine kircheninterne Kritik an Gaudium et spes relativiert das Dokument vielfach dadurch, dass man ihm vorwirft, den Optimismus der 1960er Jahre in Europa widerzuspiegeln. Nicht-katholische, ebenso wie konservative katholische Konzilskritiker kreiden dem Text an, dass er und mit ihm die katholische Kirche am Konzil dem Fluidum eines liberalen Zeitgeistes verfallen sei. Diese unheilige Allianz sollte stutzig machen. Sie ist zudem theologisch bedenklich und wenig schmeichelhaft für die höchsten Würdenträger der Kirche, da sie insinuiert, dass auch ein Konzil leicht dem Zeitgeist aufsitzen kann. Der Optimismusvorwurf krankt jedoch an einem beträchtlichen Maß an Oberflächlichkeit. Setzt man etwas tiefer an, so zeigt sich, dass die Auseinandersetzungen um das Konzil und seine Interpretation das Resultat von unterschiedlichen Bewertungen der Moderne, also „der Welt von heute“, darstellen. Der Streit um die Moderne bildet den zeitgeschichtlichen Boden, auf dem auch die (nach)konziliaren theologischen Debatten ausgetragen werden. Die Pastoralkonstitution geht methodisch davon aus, dass es vor jeder Bewertung gilt, die eigene Zeit möglichst unvoreingenommen in den Blick zu nehmen. Erst auf dieser Reflexionsbasis ist es möglich und geboten, das Wort Gottes in sie hinein zu verkündigen und auch ethische Weisungen zu formulieren. Mit diesem Versuch einer möglichst objektiven Zeitanalyse betritt Gaudium et spes neues Terrain.3 Keine zeitgenössische Theologie kommt um die Gretchenfrage herum: Wie hältst Du’s mit der Moderne? Da die „Welt in der wir leben“ uns immer nur begrenzt reflexiv zugänglich ist, ist ihre Beantwortung offenkundig alles andere als einfach. Sie wird dadurch zusätzlich erschwert, dass die Moderne ihrem Selbstverständnis nach durch eine inhärente Fortschrittsdynamik bestimmt ist. Sowohl ihre Ambivalenz als auch der für sie charakteristische rasche Wandel führen u. a. zu einer großen Ergebnisoffenheit. Der Text formuliert dies folgendermaßen: „die moderne Welt zugleich stark und schwach, in der Lage, das Beste oder das Schlimmste zu tun ( ). Für sie ist der Weg offen zu Freiheit oder Knechtschaft, Fortschritt oder Rückschritt, Brüderlichkeit oder Hass“ (GS 9) – dies gilt damals wie heute. Eine unvoreingenommene Lektüre der soziologischen Analyse von GS 4–11 bestätigt den Optimismusvorwurf demnach nicht. Er zeigt vielmehr durchgängig die grundsätzliche Ambivalenz der Moderne, die bereits in den Eingangsworten des Textes Gaudium et spes, luctus et angor zum Ausdruck kommt. Von einer Moderneeuphorie kann also keine Rede sein. Die gegenwärtige Zeit wird jedoch auch nicht als Epoche des Verfalls mit vor allem negativen Auswirkungen auf das soziale Leben abgetan, wie dies z. B. noch in Rerum novarum der Fall war.4 Eine derartig einseitige und ideologisierende Modernekritik war es vor allem auch, die Johannes XXIII. durch das Konzil überwinden wollte. Der österreichische Essayist Alfred Polgar hat einmal pointiert-bissig formuliert: Eine Weltanschauung haben die, die die Welt nicht anschauen. Die Konzilsväter wollten die „Welt von heute“ zuerst einmal anschauen. Sie verbanden damit das Ziel, Brücken der

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Solidarität zu bauen und der Welt dadurch zu dienen – ein Wunsch mit dem im Übrigen das Dokument schließt (GS 93). Wenn es einen Konzilsoptimismus gab, dann bestand dieser eher darin, dass man die bereits bestehende Kluft zwischen moderner Welt und Kirche gravierend unterschätzte. Die Gräben, die sich über Jahrhunderte erweitert hatten, ließen sich, wie wir fünfzig Jahre später wissen, nicht so einfach mit einem passo avanto überwinden. Durch diesen Sprung landete die Kirche vielmehr in einer für sie neuen, sich permanent verändernden Realität. Ihre christliche Deutung und Bewertung und damit jene der intellektuellen, politischen und sozialen in sich widersprüchlichen Entwicklungen der gegenwärtigen Zeit stellte und stellt sie vor gewaltige Herausforderungen und ist eine theologische und praktische Herkulesaufgabe. Dass die Theologie in der Folge des Konzils vielfach eher beschnitten und zurückgedrängt wurde, erwies sich von daher als höchst konterproduktiv. Dies und nicht eine grundsätzlich falsche Herangehensweise des Aggiornamento ist wohl der Grund für die vielen enttäuschten Erwartungen und auch eine gewisse nachkonziliare Ratlosigkeit. Die Unsicherheiten drückten sich darin aus, dass je nach Temperament die einen sich zu einem trotzigen Rückzug entschlossen, andere hingegen in eine oft wenig selbstbewusste Anpassung verfielen. Die vorkonziliare Kirche hatte als Bollwerk in einer Zeit ungeheurer geistiger und geschichtlicher Umbrüche vielen Halt geboten und damit eine Binnenstabilisierung erreicht, die jedoch auf Kosten der Zukunft ging. Das Konzil sah es als seine primäre Aufgabe an, die verlorene Zeitgenossenschaft wiederzugewinnen, um die christliche Offenbarung einschließlich ihrer Ethik in die Welt von heute hinein vermitteln zu können. Dies verlangte zuerst und vor allem eine entideologisierte Bewertung der Moderne und ihrer Ethik, vor allem der für sie zentralen Sozialstrukturenethik und verbunden damit die Bereitschaft zum ehrlichen Dialog. Dies sind dementsprechend auch Hauptziele der Pastoralkonstitution: sie will ethische Orientierungen anbieten, aber sie auch offen diskutieren, insofern „das Volk Gottes und die Menschheit, der es eingefügt ist, in gegenseitigem Dienst stehen, sodass die Sendung der Kirche sich als eine religiöse und gerade dadurch höchst humane erweist.“ (GS 11).

2. Hermeneutik der Anerkennung vs. Hermeneutik der Abgrenzung In seiner Radioansprache zur Ankündigung des Konzils gab Johannes XXIII. einen wichtigen Schlüssel für seine Deutung: Man müsse die Zeichen der Zeit erkennen, um „inmitten so vieler Finsternisse die nicht wenigen Anzeichen zu entdecken, die sehr wohl hoffen lassen.“5 Es ging dem Konzil in Gaudium et spes demnach nicht nur um eine Zeitanalyse, sondern ebenso um eine Zeitdeutung unter dem Leitmotiv der Hoff nung. Diese soll nach Gaudium et spes (vgl. GS 31) gestärkt werden, indem das Gute in der Welt anerkannt und gefördert wird – wo immer es sich findet. Eine derartige Hermeneutik der Anerkennung findet sich sowohl in der Pastoralkonstitution als auch in anderen Konzilsdokumenten. Sie kann als eines seiner wesentlichen Charakteristika bezeichnet werden, da damit in der Tat eine neue Ausrichtung lehramtlicher Rede vorgegeben wurde. Demnach geht es nicht nur

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und vor allem um eine dogmatische Grenzsicherung gegenüber dem Falschen und Unwahren, sondern mindestens ebenso und primär um eine Anerkennung des Guten, Wahren und Gerechten, innerhalb und außerhalb der Kirche. So erklärte das Konzil feierlich: „Mit großer Achtung blickt das Konzil auf alles Wahre, Gute und Gerechte, das sich die Menschheit in den verschiedenen Institutionen geschaffen hat und immer neu schafft. Es erklärt auch, dass die Kirche alle diese Einrichtungen unterstützen und fördern will, soweit es von ihr abhängt und sich mit ihrer Sendung vereinbaren lässt.“ (GS 42). Was für die modernen Institutionen gilt, zu denen auch die Religionsfreiheit gehört (vgl. DH), trifft ebenso auf die anderen christlichen Kirchen (UR), sowie die anderen Religionen (vgl. NA 1) zu. Das erklärte Ziel und die Hoffnungsperspektive, die sich daraus ergibt, ist die Inklusion der Anderen, nicht ihre Exklusion. Anerkennung meint dabei weder prinzipielle Ablehnung noch kritiklose Akzeptanz. Sie setzt jedoch ein positives Sich-In-Beziehung-Setzen zum Anderen voraus, seine Sicht sozusagen „mit guten Augen“, die nicht zuerst Mängel kritisiert sondern die in anderen Positionen enthaltenen Wahrheiten benennt. Eine derartige Anerkennung schließt Kritik keinesfalls aus, geht ihr aber insofern voraus, als sich Kritik ja immer nur gegen bestimmte Merkmale oder Missstände richtet, nicht aber gegen ganze Epochen, christliche Konfessionen oder Religionen. Die anzuerkennenden Anderen als die getrennten christlichen Brüder und Schwestern, die Gläubigen anderer Religionen und eben auch jene nicht-gläubigen Zeitgenossen, die an humanen Grundwerten festhalten, sie weiter entwickeln und in der Praxis verwirklichen, vertreten ja immer auch Wahres, Gutes und Gerechtes. Für jede spezifische Gruppe gilt es dann zu klären, welcher überlappende Konsens mit ihr besteht. Diese Arbeit der Unterscheidung der Geister soll in einem Geist der Großzügigkeit erfolgen. Denn ihr Ziel ist die Grundlegung und Verwirklichung jener Einheit, deren „Sakrament und Werkzeug“ die Kirche ist (LG 1), einer Einheit, die in der Ethik des Evangeliums begründet sein muss, die zur Gerechtigkeit und Liebe, bis hin zur Feindesliebe, verpflichtet (vgl. GS 28). Welteinheit meint dabei offenkundig nicht Einförmigkeit. Von daher ist auch der Dialog, den Paul VI. in seiner Antrittsenzyklika Ecclesiam suam ins Zentrum stellte, die logische Konsequenz einer derartigen konziliaren Hermeneutik der Anerkennung.

3. Die brennenden Themen der Zeit: Sozial-Ethik als Brücke zur Moderne Die Moderne bzw. Aufk lärung ist als Ganze von einem ethisch-normativen Grundimpuls bestimmt, der zusammen mit dem Fortschrittsglauben ihr wichtigstes Merkmal ausmacht6. Sie basiert auf einer Ethik, deren Grundanliegen die Verminderung menschlichen Leids darstellt, vor allem durch die Schaff ung gerechterer Sozialstrukturen. Von daher ist die moderne Ethik primär Rechts- und Institutionenethik. Gaudium et spes stellt konsequenterweise an den Anfang des Kapitels über die Anthropologie ein humanistisch-ethisches Credo: „Es ist die fast einmütige Auffassung der

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Gläubigen und der Nichtgläubigen, daß alles auf Erden auf den Menschen als seinen Mittel- und Höhepunkt hinzuordnen ist“ (GS 12).7 Dies stellt einen Brückenschlag zwischen dem immanenten Humanismus der Moderne und einem christlichen Humanismus dar, der zugleich den Grund für den Dialog zwischen Kirche und moderner Welt legt, die beide den Menschen in den Mittelpunkt stellen und als Zielrichtung haben, „die Zukunft des Menschen gelingen zu lassen“8. Aufgrund dieser Anerkennung der normativen Elemente der Moderne wurde Gaudium et spes auch als „Charta des christlichen Humanismus“ bezeichnet.9 Sein Fundament bildet eine Individualethik, insofern „alle Ungleichgewichte der gegenwärtigen Zeit im Herzen des Menschen ihren Ursprung haben“ (GS 10). Diese Aussage wird nicht weiter in einer Norm- oder Tugendethik entfaltet, wohl aber spirituell vertieft, wenn es u. a. heißt, dass „wer Christus, dem vollkommenen Menschen nachfolgt, auch selbst mehr Mensch wird“ (GS 41). Das (sozial)ethische erste Kapitel beginnt mit einer theologischen Anthropologie in GS 13–18 (19–21)10. In GS 22–44 wird dann eine christliche Sozialethik grundgelegt. Besondere Bedeutung kommt dabei dem für die Moderne wichtigen Thema der Arbeit respektive des menschlichen Schaffens zu, das in seinem Eigenwert und Beitrag zu Weltgestaltung vorbehaltslos anerkannt wird. An diesen ersten Abschnitt schließen die Kapitel des zweiten Teils über Ehe und Familie (47–52), Kultur (53–62), Wirtschaft (63–72), Politik (73–76) und internationale Ordnung (77–90) an. Der Fokus des Dokuments liegt so, moderne Prioritätensetzungen aufgreifend, auf der Sozialethik.11 Die Pastoralkonstitution bettet diese Ethik jedoch in eine dichte heilsgeschichtlich begründete Theologie ein, die die Aussagen theologisch vertieft und ihnen damit eine neue Begründung und Ausrichtung gibt. Diese Grundintention kommt in einer dichten Textstelle zum Ausdruck, die daher ausführlich zitiert werden soll: „Im Glauben daran, daß es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind. Der Glaube erhellt nämlich alles mit einem neuen Licht, enthüllt den göttlichen Ratschluss hinsichtlich der integralen Berufung des Menschen und orientiert daher den Geist (mens) auf wirklich humane Lösungen hin“ (GS 11).

Der Text geht von einer doppelten Bewegung aus: der Hl. Geist führt die Kirche, wirkt aber auch in der Welt (orbis terrarum), ja erfüllt sie. In diesem Geist soll das Volk Gottes in den Ereignissen wie auch den geistigen und intellektuellen Bestrebungen jeder Epoche erkennen, was der Absicht (consilium) Gottes in ihr und für sie entspricht – unabhängig vom Ort seiner Genese. So soll die Kirche allen Menschen ihre Berufung auf Gott hin bewusst machen und gemeinsam mit ihnen humane Lösungen für die anstehenden Weltprobleme erarbeiten. Ein derartiger auf Zukunft hin gerichteter pneumatologischer (und trinitarischer) Ansatz eröffnet dem Handeln neue Horizonte, da der geschichtliche Wandel zum Besseren wie zum Schlechteren hin offen ist, d. h. auch neue und bessere Formen menschlichen Zusammenlebens hervorbringen kann (so auch DH 9). Dies erhöht die menschliche

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Verantwortung. Zudem begreift Gaudium et spes ethische Einsichten nicht als Einbahnstraße von der Kirche zur Welt hin, sondern als wechselseitige Lernprozesse (so GS 44). In diesem Zusammenhang stellt die Pastoralkonstitution auch die Frage nach der ekklesiologischen Relevanz der modernen Sozialethik, die auf die kirchlichen Strukturen rückwirken soll und kann: „Da die Kirche eine sichtbare gesellschaft liche Struktur hat, das Zeichen ihrer Einheit in Christus, sind für sie auch Möglichkeit und Tatsache einer Bereicherung durch die Entwicklung des gesellschaft lichen Lebens gegeben, nicht als ob in ihrer von Christus gegebenen Verfassung etwas fehlte, sondern weil sie so tiefer erkannt, besser zur Erscheinung gebracht und zeitgemäßer gestaltet werden“ (GS 44). Eine fundierte Behandlung dieses Themas, das Walter Kasper einmal auf die einprägsame theologische Formel gebracht hat, dass der Geheimnischarakter der Kirche den Sozialcharakter nicht aufhebt12, ist freilich bisher Desiderat geblieben. Gaudium et spes spricht sich zudem für einen legitimen innerkirchlichen Pluralismus, gerade auch in ethischen Fragen, aus, insofern Katholiken „bei gleicher Gewissenhaftigkeit in der gleichen Frage zu einem anderen Urteil kommen können.“ Derartige Differenzen verlangen einen offenen Dialog in gegenseitiger Liebe, um sich in der Klärung der offenen Frage gegenseitig zu helfen (GS 43).

4. Zukunftsperspektiven aus Gaudium et spes: Hoffnung jenseits von Optimismus und Pessimismus Die Weltlage hat sich in den fast fünfzig Jahren seit dem Erscheinen von Gaudium et spes vielfach geändert. Dennoch erweist sich die Konstitution sowohl hinsichtlich ihrer Methode als auch ihrer inhaltlichen Grundaussagen als überraschend aktuell. In ihrer Tiefenschicht unterscheidet sich die „Welt von heute“ mit ihren sozialen und gesellschaft lichen Problemen und Defiziten demnach weniger von der damaligen als man aufs Erste annehmen würde. Die in Gaudium et spes thematisierten Spannungen bestehen weiter, ja sie haben sich verschärft und globalisiert. Thematisch gab es freilich Verschiebungen: So spürt man bei der Lektüre die damalige Angst vor einem neuen Atomkrieg. Hunger, Armut, Analphabetismus und die Benachteiligung von Frauen, Minderheiten und Randgruppen waren demgegenüber damals wie heute zentrale Themen. Neu kam seit den 1970er Jahren die Umweltkrise hinzu.13 Diese Ähnlichkeit der Probleme ist freilich auch bedrückend, zeigt sie doch, dass es nur wenige wirkliche Fortschritte gab, wohl ein Grund für die tatsächlich um einiges pessimistischere Weltsicht der Gegenwart. Gleichfalls stimmt nachdenklich, dass das kirchliche Engagement für soziale Fragen nicht zuletzt aufgrund innerkirchlicher Querelen nie jenes Niveau erreicht hat, das man erhofft und erwartet hatte. Um ein Beispiel zu nennen: Gaudium et spes hatte weitsichtig eine eigene päpstliche Kommission für globale soziale Fragen vorgesehen, die unter dem Namen Iustitia et pax von Paul VI. 1976 gegründet wurde. In der Folge entstanden in vielen Ländern nationale Iustitia et Pax - Kommissionen der Bischofskonferenzen.14 Beide blieben jedoch verhältnismäßig unbedeutend. Trotz Myriaden von teils beeindruckenden Einzelinitiativen auf globaler und nationaler Ebene, schöpft die Weltkirche ihr Potential als global player im

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Dienst an allen Menschen bisher nur begrenzt aus. Sie könnte dies viel umfassender tun und so ihre Rolle als Hoffnung gebende moralische Autorität wahrnehmen. Dies würde jedoch u. a. diese größere Bereitschaft zur Anerkennung der Tätigkeit von Laien in der Kirche voraussetzen. Abschließend möchte ich das Zukunftsweisende an Gaudium et spes abschließend mit drei Begriffen beschreiben: Vermittlung, Versöhnung und Verheißung. Vermittlung: Die katholische Kirche als größte institutionell verfasste christliche Kirche ist in der einmaligen Lage, eine vermittelnde Rolle im sozialen und politischen Bereich einzunehmen und so Frieden und Gerechtigkeit weltweit zu fördern. Eine derartige dialogische Vermittlung auf der Basis von Gaudium et spes ad intra et ad extra könnte wesentlich zu mehr Menschlichkeit in der heutigen Welt beitragen. Durch eine stärkere Positionierung in globalen ethischen Fragen u. a. in ökumenischen und interreligiösen Dialogen, ebenso wie durch ihre aktive Mitwirkung in internationalen Gremien und Institutionen könnten und sollten katholische Organisationen in vielen Bereichen zu geistgewirkten humanen Lösungen beitragen. Dies ist nicht, wie manchmal insinuiert wird, ein sozialer Aktivismus, sondern eine zutiefst im Evangelium begründete Haltung, und wohl auch eine praeparatio evangelii. Versöhnung (re-conciliatio): Ein wesentliches Ziel von Gaudium et spes war es, zur Versöhnung mit der modernen säkularen Gesellschaft beizutragen unter Anerkennung ihrer humanistischen Potentiale und Werte. Dies bleibt ein wichtiger Auftrag, z. B. im Menschenrechtsbereich. Es handelt sich dabei nicht um ein profilloses oder gar die eigene Identität verleugnendes Entgegenkommen, sondern um eine gar nicht so einfache Haltung, die frei von ideologischen Vorurteilen das Gute bei den Anderen anerkennen kann und es vom trinitarischen Heilsmysterium her zu deuten weiß (s. GS 11). Verheißung: Das Konzil hat Entideologisierung und Öffnung der Kirche hin zur Welt signalisiert – und wurde so zu einem Hoffnungszeichen für viele Menschen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die bei der Eröffnung von Johannes XXIII. kritisierten Unheilspropheten heute inner- und außerkirchlich wieder auf dem Vormarsch sind. Dies ist insofern bedenklich, als nur ein „Glaube, der die Erde liebt“ Hoff nung zu geben vermag und von daher auch glaubwürdig und zukunftsweisend ist (GS 31). Christlicher Glaube und christliches Tun stehen letztlich jenseits von Optimismus oder Pessimismus. Ihr Ziel ist die Mitwirkung an der Neuschöpfung einer Welt, die Gott gut geschaffen hat, in der festen Hoffnung auf ihre verheißene Vollendung. Dazu bedarf es der Anerkennung des Guten, wo immer es sich findet, ebenso wie der demütigen Bereitschaft von Anderen zu lernen, um „den guten Willen der vielen zu stützen, die sich um Verbesserungen bemühen“ (GS 82) und so gemeinsam das Böse und Negative durch das Gute zu überwinden. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die wachsende Einheit der Christen (GS 92), die ja die gottgewollte Einheit der Menschheit glaubwürdig verkündigen sollen, sodass die Kirche tatsächlich „zur Keimzelle von Einheit, Hoffnung und Heil“ für die Welt werden kann (LG 9).

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Anmerkungen 1 Zum Stand der Debatte vgl. Gabriel, I.: Christliche Sozialethik in der Moderne. Der kaum rezipierte Ansatz von Gaudium et spes. In: Tück, J.-H. (Hrsg.): Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil. Freiburg–Basel–Wien (2012), 537–553. 2 Das Dokument betont auch seine eigene Unabgeschlossenheit (GS 91). 3 Vgl. dazu die neueren Studien u. a. von Kreutzer, A.: Kritische Zeitgenossenschaft . Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes modernisierungstheoretisch gedeutet und systematisch-theologisch entfaltet. Innsbruck (2006); Sander, H.-J.: Theologischer Kommentar über die Kirche in der Welt von heute. In: Hünermann, P. (Hrsg.), Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Band 4. Freiburg (2005), 581–869. 4 Dies ist z. B. der Unterschied zur gemäßigt anti-modernen Gründungsenzyklika der katholischen Soziallehre Rerum novarum (1891), deren erster Satz programmatisch den „Geist der Neuerung“ als politisch wie wirtschaft lich verderblich verurteilt (RN 1). 5 Zit. Alberigo, G.: Die Fenster öff nen: Die Abenteuer des Zweiten Vatikanischen Konzils. Zürich (2006), 21. 6 „Unter den als moralisch anerkannten Forderungen betreffen die vielleicht dringendsten und überzeugendsten die Achtung vor dem Leben, der Integrität und dem Wohlergehen – ja, dem Gedeihen – der anderen.“ Taylor, C.: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt (1994), 17. 7 Der Artikel war heiß umstritten, da „hier die Entscheidung über den theologischen Ansatz und so über die Struktur des ganzen Textes fiel.“ Ratzinger, J.: Gaudium et spes. Kommentar zum I. Kapitel. In: LThK. Das Zweite Vatikanische Konzil. Band III. Freiburg (1968), 313–354: 316. 8 Congar, Y.: Gaudium et spes. Kommentar zum IV. Kapitel. In: LThK Das Zweite Vatikanische Konzil. Band III. Freiburg (1968), 397–422: 400. 9 Vgl. Maritain, J.: Christlicher Humanismus – politische und geistige Fragen einer neuen Christenheit. Heidelberg (1950). 10 Dem Abschnitt über den Atheismus GS 19–21 kommt so eine ideologiekritische Scharnierfunktion zu. 11 Vgl. Taylor, C.: A Secular Age, Cambridge (2007). 12 Kasper, W.: Der Geheimnischarakter der Kirche hebt den Sozialcharakter nicht auf. In: Herder Korrespondenz 41 (1987), 232–236. 13 „De Iustitia in Mundo“, das Dokument der Bischofsynode von 1971, hat früh einen klaren Akzent gesetzt, seither wurde dieses Thema, das mit der Armutsproblematik in engem Zusammenhang steht, weltkirchlich jedoch eher vernachlässigt, Vgl. Vogt, M.: Den Schrei der Schöpfung hören. Das ökologische Bewusstsein als Zeichen der Zeit. In: Hünermann, P. (Hrsg.): Das Zweite Vatikanische Konzil (Anm. 1), 122–145. 14 Vgl. Gabriel, I. u. L. Schwarz (Hrsg.): Weltordnungspolitik in der Krise. Perspektiven globaler Gerechtigkeit. Paderborn (2011).

Sabine Demel

Von der gehorsamen Herde zur eigenen Würde, Freiheit und Verantwortung der Laien! Was ist aus dieser kopernikanischen Wende geworden?

Sabine Von der gehorsamen Herde zur eigenen Würde, Freiheit und Verantwortung der Demel Laien!

Was wäre die Kirche ohne die Laien? Nahezu zwei Jahrtausende lang hätte wohl die Antwort darauf geheißen: Dann hätten ja die Kleriker niemanden mehr, der ihren Anordnungen gehorcht und der für ihre finanzielle Absicherung sorgt. Denn bereits am Ende des dritten Jahrhunderts etabliert sich die Auffassung, dass es in der Kirche zwei Arten von Christen gibt, die Kleriker und die Laien. Und es wird im Laufe der Jahrhunderte zunehmend betont, dass es sich hierbei um zwei ungleiche Personenstände handelt, weil die Kleriker die Kirche bilden und deshalb die Befehlenden sind, während die Laien das minderberechtigte Volk sind und als Untertanen zu gehorchen haben. Ganz in dieser Tradition verhaftet bringt schließlich Papst Pius X. zu Beginn des 20. Jahrhunderts das herrschende Kirchenverständnis auf den Punkt, wenn er auch noch 1906 in einer Enzyklika problemlos erklären kann: „Nur die Versammlung der Hirten hat das Recht und die Autorität, zu lenken und zu regieren. Die Masse hat kein anderes Recht, als sich regieren zu lassen, als eine gehorsame Herde, die ihrem Hirten folgt.“1

Was wäre die Kirche ohne die Laien? Das II. Vatikanische Konzil hat hierauf eine ganz neuartige Antwort gegeben: Ohne die Laien könnte die Kirche gar nicht existieren! Denn die Hirten brauchen die Erfahrung der Laien und ihre Unterstützung in kirchlichen und weltlichen Angelegenheiten. So heißt es nun in der dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium von 1964: „Die heiligen Hirten haben nämlich wohl erkannt, wie viel die Laien zum Wohl der ganzen Kirche beitragen. Die Hirten wissen nämlich, dass sie von Christus nicht eingesetzt sind, um die ganze heilmachende Sendung der Kirche gegenüber der Welt alleine auf sich zu nehmen, sondern dass es ihre vornehmliche Aufgabe ist, die Gläubigen so zu weiden und ihre Dienstleistungen und Gnadengaben so zu prüfen, dass alle auf ihre Weise zum gemeinsamen Werk einmütig zusammenwirken“ (LG 30,1). „Die Hirten der Kirche sollen, dem Beispiel des Herrn folgend, sich gegenseitig und den anderen Gläubigen dienen, diese aber sollen eifrig den Hirten und Lehrern ihre gemeinsame Bemühung zur Verfügung stellen.“ (LG 32, 3).

Nicht mehr von „weltlichem“ Bereich hier und „geistlichem“ Bereich dort, nicht mehr vom „Regieren“ der Einen und vom „Gehorchen“ der Anderen ist die Rede, sondern vom „Wis-

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sen“ der Hirten über den „Beitrag der Laien zum Wohl der Kirche“ und vom „Zusammenwirken“ der Laien und Kleriker, ja sogar davon, dass „die Hirten den anderen Gläubigen dienen sollen“. Was für eine kopernikanische Wende! Aus den Laien als Sprachrohr der kirchlichen Autorität sind Laien mit einer eigenen Berufung und Stimme in der Kirche geworden. Waren die Laien zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch von päpstlicher Seite ermahnt worden, dass sie sich führen zu lassen und als gehorsame Herde ihren Hirten zu folgen haben,2 so wird nun den Hirten gesagt, dass sie die Würde, Freiheit und Verantwortung der Laien in der Kirche anzuerkennen und zu fördern haben.

1. Die grundsätzlichen Aussagen zum Laienapostolat auf dem II. Vatikanischen Konzil Der neuen Stellung der Laien als aktive und mündige Glieder in der Kirche entsprechend wird gleich zu Beginn des Laiendekretes Apostolicam actuositatem erklärt: „Das Apostolat der Laien, das in deren christlicher Berufung selbst seinen Ursprung hat, kann in der Kirche niemals fehlen“ (AA 1). Hier wird eine wuchtige Grundaussage, gleichsam eine unaufgebbare Prämisse formuliert: Das Laienapostolat kann in der Kirche niemals fehlen! Die Mitwirkung der Laien an der Sendung der Kirche ist also unverzichtbar! War der Begriff „Apostolat“ als Ausdruck für die Sendung der Kirche über Jahrhunderte ausschließlich den Klerikern reserviert, wird er nun auch auf die Laien angewendet. Sie werden dadurch zu aktiven Gliedern in der Kirche, deren apostolische Tätigkeit auf der gleichen Stufe steht wie die apostolische Tätigkeit der Kleriker. Insofern sind die Begriffe „Laienapostolat“ und „Apostolat“ der Kleriker synonym und umschreiben alle Bemühungen, die christliche Botschaft in Kirche und Gesellschaft präsent zu machen und sind damit wiederum Synonyme für den Ausdruck „Evangelisierung“. Ein zweiter Aspekt ist hervorzuheben: Das Apostolat der Laien hat nach den Aussagen des II. Vatikanischen Konzils „seinen Ursprung“ in ihrer „christlichen Berufung selbst“. Mit dieser Formulierung wird bereits angedeutet, was im Dekret noch mehrmals in aller Klarheit hervorgehoben wird: Das Laienapostolat ist nicht (mehr wie früher angenommen und gelehrt) von den Klerikern als den Inhabern des geweihten Amtes abzuleiten, sondern direkt von Christus bzw. von der Vereinigung der Laien „mit Christus, dem Haupt“, und ist „Teilnahme an der Heilssendung der Kirche selbst“ (AA 2; vgl. auch AA 3). Mit Recht ist hieraus die Schlussfolgerung zu ziehen: Darin „darf man die pointiertesten Aussagen des Dekretes zum Apostolat sehen. Offener und universaler kann dieses nicht mehr werden, keines der Glieder der Kirche kann nun mehr davon ausgeschlossen werden oder sich davon dispensiert fühlen.“3 Mit der neuen Sicht des Laienapostolats hatten die Konzilsväter auch die Aufgabe, den Kurs der Kirche neu auszurichten und dabei die Mitte zu halten zwischen der Skylla zu weitgehender Autonomie der Laien in ihrem Apostolat und der Charybdis zu großer

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Abhängigkeit der Laien von der kirchlichen Autorität.4 Das war kein leichtes Unterfangen; sie mussten der Eigenständigkeit des Laienapostolats auf der einen Seite und dessen Einordnung ins Gesamt der Kirche auf der anderen Seite Rechnung tragen. Diese doppelte Perspektive sahen sie dadurch gewährleistet, dass sie die geweihten Amtsträger in die Pflicht nehmen, das Laienapostolat zu fördern und zu unterstützen sowie angemessen zu ordnen und zu koordinieren (AA 23–25). Der Spannungsbogen von selbständigem Engagement der Laien einerseits und Leitung dieses Engagements durch die kirchliche Autorität andererseits wird treffend wie folgt umschrieben: „Es ist die Aufgabe der Hierarchie, das Apostolat der Laien zu fördern, Grundsätze und geistliche Hilfen zu geben, seine Ausübung auf das kirchliche Gemeinwohl hinzuordnen und darüber zu wachen, dass Lehre und Ordnung gewahrt bleiben. Freilich lässt das Apostolat der Laien, je nach seinen verschiedenen Formen und Inhalten, verschiedenartige Beziehungen zur Hierarchie zu. In der Kirche gibt es nämlich sehr viele apostolische Werke, die durch freie Entschließung der Laien zustande kommen und auch nach ihrem klugen Urteil geleitet werden. Durch solche Werke kann die Sendung der Kirche unter bestimmten Umständen sogar besser erfüllt werden.“ (AA 24).

Der vom II. Vatikanischen Konzil vollzogene Perspektivenwechsel im Selbstverständnis der katholischen Kirche wird gerne schlagwortartig umschrieben als Wandel vom sogenannten Hierarchiemodell zum Communio-Modell. Das Hierarchiemodell steht für das Kirchenbild, wie es auf dem I. Vatikanischen Konzil (1870) vertreten wurde, das Communio-Modell dagegen als Versuch des II. Vatikanischen Konzils, die Einseitigkeiten des Hierarchiemodells durch die Rückbesinnung auf die biblische und urkirchliche Tradition von der Kirche als Gemeinschaft und als Volk Gottes aufzubrechen und zu korrigieren. Was sind die zentralen Gedanken dieser beiden Modelle? Im sogenannten Hierarchie-Modell des I. Vatikanischen Konzils ist der Papst der absolute Bezugspunkt für die kirchliche Gemeinschaft und ausschließlich die geweihten Amtsträger sind die alleinigen Akteure in der Kirche, während die übrigen Gläubigen reine Statisten sind, ganz und gar von den Aktionen und Entscheidungen der Akteure abhängig. Im Gegensatz dazu gibt es im neuen Kirchenbild, dem sogenannten Communio-Modell des II. Vatikanischen Konzils keine Statisten, sondern alle, die geweihten Amtsträger wie die Gläubigen, sind Akteure, die in einer lebendigen und wechselseitigen Beziehung zuund miteinander stehen, so dass die Entscheidungen des Papstes wie auch alle weiteren Entscheidungen der geweihten Amtsträger nicht im Alleingang, sondern in Rückbindung an die Gemeinschaft und im Bemühen um einen Konsens getroffen werden. Wie ist diese neue Sichtweise des II. Vatikanischen Konzils in das kirchliche Gesetzbuch eingegangen, das im Geist des II. Vatikanischen Konzils überarbeitet worden ist und 1983 in dieser überarbeiteten Fassung in Kraft getreten ist?

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2. Das Laienapostolat im kirchlichen Alltag Wird die Lehre des II. Vatikanischen Konzils über das Laienapostolat, also über die eigene Verantwortung und Sendung der Laien in der Kirche wirklich ernst genommen, dann folgt daraus die Notwendigkeit, unser kirchliches Leben grundlegend umzugestalten: Aus unserem klerikerzentrierten Kirchenalltag muss ein laienorientierter Kirchenalltag werden. Wir müssen die Vorstellung überwinden lernen, nur das als kirchlich relevant anzusehen und zu akzeptieren, was von den Priestern, Pfarrern und Bischöfen gesagt und getan wird. Denn „kirchlich“ ist eben nicht nur das, was weiheamtlich oder bischöflich gesetzt oder anerkannt ist, sondern auch jedes Handeln von Katholikinnen und Katholiken, das sozusagen „nur“ aus der christlich-katholischen Verantwortung kraft Taufe und Firmung heraus erfolgt. Auch das, was von den Laien geredet und getan wird, ist als „kirchlich“ und als „kirchliches Handeln“ zu bewerten. Die Grundlage dafür ist die Tatsache, dass nicht nur die Kleriker, namentlich die Bischöfe, kraft ihrer Weihe an der Vollmacht Christi teilhaben, sondern auch alle Gläubigen kraft Taufe und Firmung in abgestufter Form ebenso daran teilhaben. Deshalb umfasst „kirchliches Handeln“ drei verschiedene Formen: a) Kirchliches Handeln im Allgemeinen: kraft Taufe und Firmung (Allgemeine Teilhabe an der Vollmacht Christi). b) Kirchliches Handeln im Namen und Auftrag der Kirche: kraft Taufe, Firmung und kirchenamtlicher Sendung (autoritative Teilhabe an der Vollmacht Christi). c) Kirchliches Handeln in der Person Jesu Christi, des Hauptes der Kirche: kraft Taufe, Firmung und Weihe zusammen mit einer kirchenamtlichen Sendung (Fülle der Teilhabe an der Vollmacht Christi). Dieses gestufte kirchliche Handeln als theologische Konsequenz aus den Lehren des II. Vatikanischen Konzils über die Kirche ist aber bis heute immer noch nicht hinreichend, zum Teil sogar noch überhaupt nicht im Bewusstsein vieler Katholikinnen und Katholiken angekommen. Nahezu 50 Jahre nach Abschluss des Konzils ist bei Klerikern wie Laien so gut wie gar nicht präsent, welches Recht, aber auch welche Pflicht, welches Maß an Freiheit, aber auch Verantwortung für die Sendung der Kirche den Laien mit der Lehre des Laienapostolats zukommt. Eine Hauptursache dafür ist zweifelsohne in der Tatsache zu sehen, dass die Lehre vom Laienapostolat nur bruchstückhaft in das kirchliche Recht eingegangen ist, wie es uns im kirchlichen Gesetzbuch von 1983 vorliegt.

3. Die mangelhafte Rezeption der Lehre über das Laienapostolat im kirchlichen Gesetzbuch von 1983 Bereits 1959 bei der Ankündigung des II. Vatikanischen Konzils hatte Papst Johannes XXIII. mitgeteilt, dass auch eine den Erkenntnissen des Konzils entsprechende Reform des Kirchenrechts erfolgt, mit der die Arbeit des Konzils „gekrönt“ wird!5 Ebenso hat mehr als

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20 Jahre später Papst Johannes Paul II. bei der Veröffentlichung des im Geist des II. Vaticanums überarbeiteten Gesetzbuches 1983 erklärt, dass der neue Codex „als ein großes Bemühen aufgefasst werden kann, die konziliare Ekklesiologie in die kanonistische Sprache zu übersetzen.“ 6 Inwieweit ist dies dem kirchlichen Gesetzbuch von 1983 bei der Lehre über das Laienapostolat gelungen? Macht man sich im kirchlichen Gesetzbuch von 1983 auf die Suche nach Aussagen über das Laienapostolat, so kann man zunächst die positive Feststellung treffen: Es ist tatsächlich an mehreren Stellen genannt und wird im Sinne des II. Vatikanischen Konzils verstanden. So wird in c. 225 § 1 CIC / 1983 explizit festgestellt: „Da die Laien wie alle Gläubigen zum Apostolat von Gott durch die Taufe und die Firmung bestimmt sind, haben sie die allgemeine Pflicht und das Recht, sei es als einzelne oder in Vereinigungen, mitzuhelfen, dass die göttliche Heilsbotschaft von allen Menschen überall auf der Welt erkannt und angenommen wird. …“ Und gleichsam zur Absicherung des Laienapostolats wird innerhalb der „Pflichten und Rechte der Kleriker“ (cc. 273–289), also durchaus an exponierter Stelle, kurz und prägnant als Rechtspflicht formuliert:„Die Kleriker haben die Sendung anzuerkennen und zu fördern, welche die Laien, jeder zu seinem Teil, in Kirche und Welt ausüben“ (c. 275 § 2). Was hier als grundsätzliche Pflicht für alle Kleriker normiert ist, wird nochmals eigens an entsprechender Stelle für den Bischof und für den Pfarrer gleichsam wiederholt und konkretisiert (vgl. cc. 394; 529 § 2). Zusammen mit der Tatsache, dass es im CIC zum ersten Mal einen eigenen Abschnitt über „Pflichten und Rechte der Laien“ (cc. 224–231) gibt, zu dem die rechtliche Aussage über das Laienapostolat des c. 225 gehört, ist dieser Befund rundum positiv zu würdigen. Wendet man sich aber von diesen programmatischen Aussagen hin zu den konkreten rechtlichen Ausgestaltungen der verschiedenen Dienste und Ämter in der Kirche, so scheinen die grundsätzlichen Aussagen über das Laienapostolat gänzlich aus dem Blick geraten zu sein. Denn hier bei den konkreten Regelungen zeigt sich deutlich, dass die alten Einseitigkeiten des Hierarchiemodells keineswegs überwunden sind, sondern durchaus weiter bestehen. Mehrere Belege können dafür angeführt werden: 1. Fast alle Dienste und Ämter sind auf die Kleriker ausgerichtet und stehen nur in Ausnahmefällen – vor allem in Zeiten des Priestermangels – den Laien offen, wie z. B. die Predigt, die Beerdigung, die Leitung von priesterlosen Sonntagsgottesdiensten, die Spendung der Krankenkommunion, die Vorbereitung auf den Sakramentenempfang oder das Amt des kirchlichen Richters, der Theologieprofessorin und des Leiters des katholischen Büros. 2. Auch die sogenannten Gremien der Mitverantwortung des ganzen Gottesvolkes sind rechtlich unzureichend konzipiert. Die bekanntesten davon sind jene auf der Pfarr- und Bistumsebene wie der Pfarrpastoralrat (c. 536), der Diözesanpastoralrat (cc. 511 ff.) und die Diözesansynode (cc. 460 ff.). Sie sind im Anschluss an das II. Vatikanische Konzil als institutioneller Raum geschaffen worden, in dem sich die Teilhabe des ganzen Gottesvolkes an der Sendung der Kirche artikulieren soll und kann. Sinn und Zweck dieser Gremien ist es, den Beitrag der vielen zu bündeln und repräsentativ zu vertreten. Doch

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in der rechtlichen Ausgestaltung ist für alle diese repräsentativen Einrichtungen des Volkes Gottes speziell für die Laien ausschließlich eine Mitwirkung in der Form der Beratung vorgesehen; es ist also keinerlei Mitentscheidungskompetenz der Laien rechtlich verankert. 3. Ebenso kommt das Laienapostolat fast überhaupt nicht bei der Besetzung wichtiger Ämter in der Kirche zum Tragen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Entscheidung über die Besetzung so bedeutender Ämter wie des Amtes eines Pfarrers, Bischofs und Papstes nahezu im Alleingang der geweihten Amtsträger geschieht und den Laien höchstens eine beratende Rolle zugewiesen ist. Gerade bei solchen Schlüsselpositionen müsste dem Laienapostolat dadurch Rechnung getragen werden, dass möglichst viele repräsentativ bestellte Laien am Verfahren der Auswahl beteiligt werden.

4. Von der kleruszentrierten zur laienorientierten Kirche als rechtliches Gebot der Stunde Kirche als Gemeinschaft des Volkes Gottes und die Lehre vom Laienapostolat im Sinne des II. Vatikanischen Konzils heißt, dass die jeweils unterschiedlichen Begabungen, Dienste und Ämter sich gegenseitig fordern, fördern und ergänzen und durch diese Wechselbeziehung zusammenwirken. Damit dies nicht nur in der abstrakten Theorie gelehrt, sondern auch bei den konkreten kirchlichen Lebensvollzügen Wirklichkeit wird, muss allen Laien – ob Mann oder Frau – künftig durchgängig mehr Beteiligung an allen kirchlichen Vollzügen, Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen zukommen, und zwar nicht nur im Sinne eines Zugeständnisses der kirchlichen Autorität, sondern rechtlich garantiert aufgrund der ihnen von Gott in der Taufe verliehenen Würde, Autorität und Teilhabe an seinem dreifachen Amt des Lehrens, Heiligens und Leitens der Kirche. Dazu sind grundlegende Rechtsänderungen notwendig:

4.1. Mehr Ausübungsrechte der Laien Laien sind rechtlich wesentlich mehr kirchliche Aufgaben, Dienste und Ämter zu eröffnen als bisher. Viele davon sollten sie nicht nur in der Notsituation des Klerikermangels oder mit Ausnahmegenehmigung wahrnehmen können, sondern prinzipiell und unabhängig vom klerikalen Personalbestand, wie z. B.: Predigt in der Eucharistiefeier, Beerdigungsdienst, Richteramt in einem kirchlichen Gericht, Amt einer Caritasdirektorin, Leitung des katholischen Büros.

Von der gehorsamen Herde zur eigenen Würde, Freiheit und Verantwortung der Laien!

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4.2. Mehr Mitspracherechte der Laien Laien muss auf allen kirchlichen Ebenen und in allen zentralen Rechtsbereichen das Recht der Mitsprache zukommen. Das betrifft alle wichtigen Personalentscheidungen, Fragen der Gestaltung und Organisation des liturgischen Lebens, der pastoralen Schwerpunktsetzung und der ökumenischen Arbeit wie auch alle finanziellen Angelegenheiten. Verwirklicht werden sollte dieses durchgängige Mitspracherecht mit Hilfe des Instituts des Beispruchsrechts, das die Anhörung oder Zustimmung bestimmter Personen zur Gültigkeit der Amtshandlung verpflichtend vorschreibt (c. 127). Konkret: Die schon bestehenden Vertretungsorgane auf den verschiedenen kirchlichen Ebenen wie Pfarrpastoralrat (c. 536) bzw. Pfarrgemeinderat und Diözesanpastoralrat (cc. 511 ff.) werden so mit Anhörungsund Zustimmungsrechten ausgestattet, dass die Taufsendung der Laien ebenso deutlich zum Tragen kommt wie die Letztverantwortung der Kleriker.

4.3. Mehr Mitentscheidungsrechte der Laien Laien sollten auch das Recht der aktiven Mitbestimmung bzw. Mitgestaltung erhalten, indem (1.) der Anteil der Repräsentanten der Laien bei den verschiedenen Versammlungsformen der Kirche erhöht wird; (2.) alle dort versammelten Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit dem gleichen entscheidendem Stimmrecht ausgestattet und (3.) die Einspruchsrechte der zuständigen kirchlichen Autorität auf ein notwendiges Mindestmaß beschränkt werden. Eine konkrete Umsetzung dieses Gedankens stellten bereits die Regelungen über die Beschlussfassung und Gesetzgebung der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (1971–1975) dar. Denn erstens waren hier die Laien in einem zahlenmäßig adäquaten Verhältnis vertreten, da nicht nur eine Minderheit von Laien teilnehmen durfte, sondern die Vielfalt des ganzen Gottesvolkes repräsentativ vertreten war. Zweitens hatten alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer gleiches beschließendes Stimmrecht bei der Beschlussfassung. Drittens war für die Beschlussfassung nicht die Einmütigkeit notwendig, sondern bereits eine Zweidrittelmehrheit ausreichend. Viertens mussten die Bischöfe den Beschlüssen der Synodalen in einem zusätzlichen Akt explizit zustimmen, damit diese verbindliche Normen wurden; allerdings durfte diese Zustimmung nur dann verweigert werden, wenn Glaubens- und Sittengründe oder tragende Rechtsverletzungen geltend gemacht werden konnten. In der Konzeption der Würzburger Synode war durch die Anzahl der Laien wie auch durch deren Stimmrecht eine wirkliche Teilhabe des ganzen Gottesvolkes am Leitungsamt der Kirche ebenso gewährleistet wie die besondere Verantwortung der Kleriker gewahrt war, da letztere ein besonderes Vetorecht hatten.

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Sabine Demel

5. Bischöfliche Selbstbindung an die Mitspracheund Mitentscheidungsrechte der Laien als erste Schritte Im Mai 2010 ist in den Medien gemeldet worden, dass der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick vor dem Hintergrund der Missbrauchsskandale in der Kirche ein Umdenken fordere. „Die Kirche müsse offener werden. Dazu gehöre auch eine größere Mitwirkung von Laien in Entscheidungsgremien sowie mehr Verantwortung für die Frauen in der Kirche.“7 Der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode hat betont, dass es um „ein neues Miteinander in der Kirche [gehe]: von Priestern und Laien, von Männern und Frauen.“8 Und im September 2010 hat der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Erzbischof Robert Zollitsch bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz erklärt: „Ohne Zweifel brauchen wir in unserer Kirche eine vertiefte Sensibilisierung und eine neue Wertschätzung des Miteinanders.“9 Und im Anschluss daran wird von Erzbischof Zollitsch Papst Benedikt XVI. zitiert, der bei der Eröffnung der Pastoraltagung der Diözese Rom zum Thema „Kirchliche Zugehörigkeit und pastorale Mitverantwortung“ im Mai 2009 verkündet hat: „Es bedarf einer Änderung der Mentalität besonders in Bezug auf die Laien, die nicht mehr nur als ,Mitarbeiter‘ des Klerus betrachtet werden dürfen, sondern als wirklich ,mitverantwortlich‘ für das Sein und Handeln der Kirche erkannt werden müssen.“10 Der Inhalt dieser Aussagen ist nicht neu. Schon lange wird in der katholischen Kirche ein neues Miteinander von Klerikern und Laien gefordert, das dem Selbstverständnis der katholischen Kirche seit dem II. Vatikanischen Konzil entspricht. Neu ist nur die Tatsache, dass diese Forderung nicht mehr nur von Seiten der Laien, sondern jetzt auch von bischöflicher und sogar päpstlicher Seite erhoben wird. Sofern das nicht nur bischöfliche und päpstliche Lippenbekenntnisse ohne Konsequenzen sein sollen, drängt die Zeit, diese Ankündigungen einzulösen und erste Schritte der Umsetzung einzuleiten. Denn Enttäuschung und Resignation sind unter den Laien in vollem Gange, wie die seit einiger Zeit anhaltend hohen Kirchenaustrittszahlen zumindest im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz belegen. Umso glücklicher können sich die Bischöfe schätzen, dass ihnen ein relativ einfaches Instrument zur Verfügung steht, um ihrer Ankündigung zügig erste konkrete Schritte folgen zu lassen. Ziel dieses Instrumentes ist es, die langwierigen Prozesse, die gesamtkirchliche Reformen, vor allem rechtlicher Art, mit sich bringen, zu überbrücken. Sein Kerngehalt kann als eine Art vorauseilender Gehorsam in der Form einer freiwilligen Selbstbindung bezeichnet werden. In der Frage der Mitsprache- und Mitentscheidungsrechte der Laien auf den kirchlichen Ebenen der Diözese und der Pfarreien kann ein solcher vorauseilender Gehorsam in der Form einer freiwilligen Selbstbindung des Diözesanbischofs geschehen: Der Diözesanbischof bindet sich selbst an den repräsentativ erteilten Rat des diözesanen Gottesvolkes, indem er das beratende Stimmrecht der Mitglieder in den verschiedenen Einrichtungen auf Diözesanebene wie z. B. des Diözesanpastoralrates wie auch der Diözesansynode zu einem entscheidenden Stimmrecht erhebt und analog auch für die Pfarrebene vorschreibt,

Von der gehorsamen Herde zur eigenen Würde, Freiheit und Verantwortung der Laien!

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dass dem Pfarrgemeinderat auch in seiner Funktion als Pfarrpastoralrat entscheidendes Stimmrecht zukommt. Als einziger Gesetzgeber in der Diözese kann der Diözesanbischof zwar von niemandem dazu gezwungen, aber auch von niemandem daran gehindert werden. Der freiwillige Verzicht auf bestimmte Rechtspositionen in Form einer freiwilligen Selbstbindung steht jedem Rechtsträger offen. Konkret auf die diözesanen und pfarrlichen Versammlungsformen bezogen könnte die rechtliche Selbstbindung des Bischofs in der Ordnung festgeschrieben sein, die er für die Einrichtung des Diözesanpastoralrates und des Pfarrgemeinderates und für die Durchführung der Diözesansynode oder der anderen Versammlungsformen zu erlassen hat. Mit einer solchen bischöflichen Selbstbindung an die Beschlüsse der Konsultationsprozesse wären diese repräsentativ besetzten Versammlungsformen des diözesanen und pfarrlichen Gottesvolkes relativ einfach von unverbindlichen Gesprächskreisen zu wirklichen Mitwirkungsorganen im Sinne des kirchlichen Selbstverständnisses des Volkes Gottes und des Laienapostolats umgestaltet. Darüber hinaus hätte dadurch die bewährte Rechtsordnung der Gemeinsamen Synode zumindest im diözesanen Bereich eine gewisse Fortsetzung erfahren, die nicht erst gesamtkirchlich verankert werden müsste, sondern schon jetzt in jeder Diözese durch den Diözesanbischof verwirklicht werden kann.

Anmerkungen 1 Pius X.: „Vehementer nos“ vom 11. 02. 1906. In: ASS 29 (1906), 3–16, 8 f. 2 Pius X.: Vehementer nos. In: AAS 29 (1906), 8 f. 3 Bausenhart, G.: Theologischer Kommentar zum Dekret über das Apostolat der Laien Apostolicam actuositatem. In: Hilberath, P. u. B. J. Hünermann: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Bd. 4. Freiburg (2005), 1–123: 44. 4 Vgl. ebd., 84. 5 Vgl. Herder Korrespondenz 13 (1958 / 59), 387 f. 6 Apostolische Konstitution „Sacrae disciplinae leges“, abgedruckt in: CIC / 1983, lat.-dt., VIII– XXVII, XIX. 7 Newsletter von Radio Vatikan vom 8. 5. 2010 8 Newsletter von Radio Vatikan vom 31. 5. 2010. 9 Zugänglich auf: http: / / www.dbk.de / fi leadmin / redaktion / diverse_downloads / presse / 2010144-Eroeff nungsreferat.pdf [24. 04. 2013], hier: S. 13. 10 Ebd.

Joachim Theis

Das Zweite Vatikanische Konzil als Ausgangspunkt einer am Menschen orientierten Religionspädagogik

Joachim Theis Ausgangspunkt einer am Menschen orientierten Religionspädagogik

„Wer ist das eigentlich, Gott?“ Diese Frage wird heute immer häufiger gestellt und immer seltener beantwortet. „Wer heute über die Sache des christlichen Glaubens zu reden versucht, die nicht nur durch Beruf oder Konvention im Innern des kirchlichen Redens und Denkens angesiedelt sind, wird sehr bald das Fremde und befremdliche eines solchen Unterfangens verspüren.“1 Er wird nach Bedingungen und Möglichkeiten der Rede von Gott und katechetischer Einführung in den Glauben fragen müssen. Manchmal scheint es, als lebten die Menschen heute ohne Gott. Sind seine Spuren verweht? Entscheidend ist, ob Gott in meinem Leben zur Wirklichkeit wird. „Kann man Glauben lernen?“ fragte K. E. Nipkow und beantwortete die Frage selbst: „Das innere Leben des Glaubens“, sein theologisch unverfügbares „Ergriffensein“ von der Christus-Wahrheit: nein; von „der äußeren Seite, der Sprache und den Vorstellungsinhalten des Glaubens“, von der „Hinführung zum Glauben“ her: ja. Innere und äußere Seite können „nur unterschieden“, „aber nicht getrennt werden, sonst zerreißen wir den Menschen wie den Glauben“.2 Schon Matthäus kündet im Schlussabschnitt seines Evangeliums davon, wie wir Gott kennenlernen (Mt 16, 16–20): „Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern. Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch gesagt habe.“ Zuerst sollen Menschen zu Jüngern und Jüngerinnen gemacht, dann getauft werden, anschließend in die Schule Jesu eintreten. Die Lehre Jesu folgt damit dem Eintritt in die Gemeinde, als Ort der Verkündigung und Schule Jesu, in der ich Gott kennen lernen und erfahren kann. Die Taufe ist der Beginn des Lernens bzw. der Auseinandersetzung mit der Verkündigung und dem Leben Jesu. Offensichtlich ist es Ziel der Missionsverkündigung, die Praxis der christlichen Gemeinde als der Schule Jesu in das Blickfeld der jungen christlichen Gemeinde zu rücken3.

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Das Zweite Vatikanische Konzil – Ein Neubeginn in der religiösen Vermittlung Religionspädagogik beschäftigt sich mit einer Dimension kirchlichen Handelns, die es immer gab und durch das Konzil in einem „epochalen Übergang“4 neu ausgerichtet wurde. „Den Glauben neu buchstabieren, ihn neu sagen“, war der Leitgedanke, der im Aggiornamento von Johannes XXIII. bei der Ankündigung zum Konzil deutlich wird.5 Dennoch steht die Vermittlung heute vor enormen Herausforderungen. Es ist schwer darzulegen, was derzeit in Religionsunterricht und Katechese geschieht. Theologiestudierende sind an konzeptionellen und theologisch grundsätzlichen Fragen kaum interessiert, „Referendarinnen und Referendare argumentieren bei der Planung und Begründung ihres Unterrichts kaum einmal auf konzeptioneller Ebene.“ 6 Auch Gemeindekatechesen erwecken den Eindruck, als erfinde jede Gemeinde die Firm- bzw. Kommunionkatechese jährlich neu, indem fieberhaft nach neuen und ansprechenden Mappen, Methoden und Vermittlungsmodellen gesucht wird. Sind praktisch-theologische Überlegungen für die Debatten im universitären Bereich reserviert und gedankliches Spielmaterial für religionspädagogische Theoretiker? Diskussionen über fundamentale Vermittlungsmodelle begründen unterschiedliche Erziehungskonzepte, bestimmen den Umgang mit Kindern und Jugendlichen in Religionsunterricht und Katechese und hinterfragen Vorstellungen, welche hinter Methoden und Medien stehen und diese begründen. Nicht ohne Grund hat sich das Konzil spezifisch mit christlicher Erziehung in seiner Sorge um den Menschen und um das Kind7 in seiner Erklärung über die christliche Erziehung Gravissimum educationis beschäft igt. Es machte zuvörderst deutlich, dass Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer Menschenrechte ein Eigenrecht auf Erziehung haben. „Denn die Menschen sind sich der eigenen Würde und Aufgabe voller bewusst und verlangen immer mehr nach einer aktiveren Teilnahme am gesellschaft lichen und besonders am wirtschaft lichen und politischen Leben.“8 Was aber sind die Konstanten in diesem Wechselspiel der Vermittlungstheorien und Konzepte? Alle Modelle fragen, wie die biblischen Glaubenszeugnisse, die theologische Systematik der Tradition und die Wahrnehmung der empirisch verfassten Wirklichkeit zusammen gedacht werden können. Genau darin finden sich die entscheidenden Qualitätsmerkmale, um entscheiden zu können, was ein guter Religionsunterricht und eine gelungene Gemeindekatechese ist. Trotz einer Vielfalt konkreter Programme mit Kompetenzen, Zielen, Inhalten und Methoden ist das „Vermittlungsproblem“ eine entscheidende Herausforderung der aktuellen Religionspädagogik. In Auseinandersetzung mit einem anthropologisch und gesellschaft lich eingegrenzten Feld wird sie in doppelter Weise mehr denn je mit dem Vermittlungsproblem konfrontiert: a) Wie kann der kirchlich-konfessionelle Religionsunterricht verantwortlich seinen Beitrag in kooperativer bzw. subsidiärer Funktion im System der öffentlichen Schulen leisten? b) Wie kann er Lernprozesse im kirchlichen Raum veranlassen?

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Es geht darum, den lebenslangen Prozess des Glauben-Lernens zu initiieren und zu begleiten. Innerhalb des sozialen Wandels und der ständigen gesellschaft lichen Herausforderung bedarf es dabei einer Konstante, an der sich die Theorien und Modelle messen lassen müssen. Was aber sind die Paradigmen in diesen Wechselspielen? An welchen Eckwerten kann man sich orientieren?9

Eckwerte des Konzils zu einer theologischen Anthropologie Die Konzilsväter stellen klar, dass es „nichts wahrhaft Menschliches“ gibt, das nicht im Leben und Arbeiten der Jünger Christi „seinen Widerhall fände“ (GS 1). Die Kirche will sich der „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ aller Menschen stellen. Sie entwickeln eine Pastoral, die den Menschen zum Weg der Kirche macht und verpflichten sich, sich „zum Nächsten schlechthin eines jeden Menschen zu machen und ihm, wo immer er uns begegnet, tatkräftig zu helfen“ (GS 27). Formen der Glaubensvermittlung, die den Menschen mit all seinen Stärken und Schwächen nicht in den Mittelpunkt stellen, werden in Frage gestellt und als Ideologien entlarvt.

Christologische Begründung Die Konzilsväter begnügen sich nicht mit pastoralen Appellen, wenn sie sich den Menschenrechten und der Religionsfreiheit zuwenden. „Die Würde der menschlichen Person kommt den Menschen unserer Zeit immer mehr zum Bewußtsein, und es wächst die Zahl derer, die den Anspruch erheben, daß die Menschen bei ihrem Tun ihr eigenes Urteil und eine verantwortliche Freiheit besitzen und davon Gebrauch machen sollen, nicht unter Zwang, sondern vom Bewusstsein der Pflicht geleitet.“ (DH 1) Im 18. und 19. Jahrhundert verwarf die Kirche die Idee der Menschenrechte noch als gefährliche Erfindung eines kirchenfeindlichen Liberalismus. Das Zweite Vatikanische Konzil aber wagte auch hier einen Durchbruch zu neuem, christologisch begründetem Denken: „Wer Christus, dem vollkommenen Menschen, folgt, wird auch selbst mehr Mensch“ (GS 41,I), d. h. „kraft des ihr anvertrauten Evangeliums verkündet die Kirche die Rechte des Menschen, und sie anerkennt und schätzt die Dynamik der Gegenwart, die diese Rechte überall fördert.“ (GS 41,3)

Rahmenbedingungen einer anthropologisch gewendeten Theologie Dass „das Vatikanische Konzil erklärt, dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat“ (DH 2), führt zu Konsequenzen für die praktische Theologie; der Syllabus wird abgelöst.10 Die Konzilsväter besinnen sich zur Freiheit des Glaubensaktes: „Gott ruft die Menschen zu seinem Dienst im Geist und in der Wahrheit, und sie werden deshalb

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durch diesen Ruf im Gewissen verpflichtet, aber nicht gezwungen. Denn er nimmt Rücksicht auf die Würde der von ihm geschaffenen menschlichen Person, die nach eigener Entscheidung in Freiheit leben soll.“ (DH 1) Die entscheidende Botschaft ist die Personenwürde des heutigen Menschen, das MitSein der Menschen und ihr Schaffen.11 Hier wird von einem Lernprozess zwischen Glauben und Lebensorientierung bzw. zwischen Kirche und Gesellschaft gesprochen (GS 40– 45) und von einer „ganzheitlichen Berufung des Menschen in der Geschichte“ (GS 11) ausgegangen. Weil es die Würde des Menschen als personale Verantwortlichkeit neu bestimmt hat und die Freiheit von Zwang als Grundlage für den Vollzug der Gottesbeziehung im Glaubensakt gesehen wird, kommt das Konzil zu dieser Lehrauffassung. Ausdrücklich bestätigt es „das Recht auf religiöse Freiheit“ auch für diejenigen, „die ihrer Pflicht, die Wahrheit zu suchen und daran festzuhalten, nicht nachkommen“ (DH 2). Dies bedeutet eine Neuausrichtung auch im Hinblick auf das kirchliche Verständnis von Erziehung und Schule. Nachdrücklich stellt die Kirche in GS 36 „Die Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“ heraus. Diese Perspektive ist durch die in der Erziehungsenzyklika Gravissimum educationis (GE 1) vorgenommene Würdigung der menschlichen Erziehung ermöglicht worden. „Eine Wendung hat das Konzil hiermit auf zweierlei Weise vollzogen: erstens weitet es die Perspektive hin auf das allgemeine Menschenrecht, das dem spezifischen Recht auf eine christliche Erziehung vorausgeht und zweitens stellt es das Erziehungssubjekt vor den Erziehungsträgern in den Mittelpunkt.“12 Damit geht eine Neuausrichtung katholischer Erziehung einher: Nicht mehr ausschließlich das Seelenheil ist das Ziel, sondern auch die persönliche und gemeinschaftsbezogene Entfaltung des Menschen. In GE 2 gründet das Recht auf Erziehung in der Würde der Person, das Recht auf christliche Erziehung in der Taufe. Der Mensch ist das Subjekt der Erziehung, die zur persönlichen wie religiösen Reife führen soll. Das Konzil hat so das Prinzip der Korrelation zwischen Leben und Glaube vorbereitet. „Wer Christus, dem vollkommenen Menschen, folgt, wird auch selbst mehr Mensch.“ (GS 41,1) Dies wird zum Leitmotiv der modernen Religionspädagogik werden. Dieser Grundsatz muss auch für die Formen der Glaubensvermittlung innerhalb der Kirche selbst gelten. Das Kriterium der Wahrheitssuche, das hier angesprochen und begründet wird, ist die „Würde des Menschen“. Der erste Schritt zur Achtung der „Würde der menschlichen Person“ beginnt mit einem neuen „Sehen“. Die Theologie ist herausgefordert, sich mit den Lebensbedingungen des heutigen Menschen auseinanderzusetzen!

Zum Erziehungsauftrag der Kirche Zur Verdeutlichung der konziliaren Neuorientierung lohnt der Blick in den CIC / 1917 und die Enzyklika Divini illius magistri von 1929. Die dortigen Normen zur Bestimmung der katholischen Erziehung und des Verhältnisses der Kirche zum Schulwesen bündeln kirchliche Stellungnahmen, die zuvor ein positives Einflussrecht auf alles gefordert haben, was die religiös-sittliche Erziehung betrifft und ein negatives auf die gesamte religiöse Unter-

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weisung und mit Vehemenz den Leitungsanspruch der Kirche auch auf das Schulwesen vertraten. Der CIC / 1917 stellt heraus, dass der Getaufte Anspruch auf eine katholische Erziehung hat, die alles ,Schädliche‘ abwehrt und die die katholische Religion im Erziehungsgeschehen bedenkt. Nachdrücklich ist eine erzieherische Vormacht der Kirche und im Elternrecht des Vaters erkennbar. Diese apologetische Grundhaltung fi ndet sich auch in der Enzyklika Divini illius magistri von Pius XI. (1929).13 Die Enzyklika würdigt das Elternrecht und schützt es gegenüber den Übergriffen des Staates. Zwar erkennt sie, dass das Kind ein Recht auf Erziehung und Bildung hat, sieht es aber nicht als Subjekt der Erziehung. Erst das II. Vaticanum brachte eine Neubesinnung: Die Eltern sind verpflichtet, ihre Kinder zur Mündigkeit zu erziehen (GS 48,3). Den staatlichen Einrichtungen kommt für die Erziehung der Kinder und Jugend dabei eine wichtige Rolle zu. Die Kirche hält an der Wurzel ihrer Erziehungsaufgabe, dem Sendungsauftrag Christi einerseits und der mit der Taufe übernommenen Rolle der Mutter andererseits (GE 3,3) fest.

„Der Mensch als Weg der Kirche“ (Johannes Paul II.) Mit der Feststellung, dass „der Mensch der Weg der Kirche ist, der Weg ihres täglichen Lebens und Erlebens, ihrer Aufgaben und Mühen“ (RH 6), gibt die Kirche ihre machtorientierte Rolle auf und reiht sich unter die Menschen. Theologie und Religionspädagogik müssen die Situation des Menschen fortan zur Kenntnis nehmen, „so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft erkannt wird.“ (DH 2) Damit sind jedoch noch nicht die Vermittlungsprobleme gelöst. Weil damit aber nicht alle Vermittlungsprobleme gelöst sind, greift Ratzinger ein Gleichnis Kierkegaards über einen Clown und ein brennendes Dorf auf. „Diese Geschichte sagt, dass ein Reisezirkus in Dänemark in Brand geraten war. Der Direktor schickte daraufhin den Clown … in das benachbarte Dorf, um Hilfe zu holen, zumal die Gefahr bestand, dass über die abgearbeiteten, ausgetrockneten Felder das Feuer auch auf das Dorf übergreifen würde. Der Clown eilte in das Dorf und bat die Bewohner, sie möchten eiligst zu dem brennenden Zirkus kommen und löschen helfen. Aber die Dörfler hielten das Geschrei des Clowns lediglich für einen ausgezeichneten Werbetrick  …; sie applaudierten und lachten bis zu Tränen. Dem Clown war mehr zum Weinen als zum Lachen zumute; er versuchte vergebens, die Menschen zu beschwören, ihnen klarzumachen, … es brenne wirklich. Sein Flehen steigerte nur das Gelächter … bis schließlich in der Tat das Feuer auf das Dorf übergegriffen hatte und jede Hilfe zu spät kam, so dass Dorf und Zirkus gleichermaßen verbrannten.“14

Die Geschichte, so Ratzinger, ist Beispiel für die Menschen, die sich wie ein Clown vorkommen. So wie er kommen sich auch diejenigen vor, die von ihrem Glauben erzählen, sich jedoch nicht ernst genommen fühlen. Daneben werden durch sie „die Dinge vereinfacht“15. Es gehe nicht nur um eine „Krise der Gewänder“. Nicht eine Form, „in denen die

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Theologie einherschreitet“16 muss bedacht werden, sondern die „Ungeborgenheit“ des eigenen Glaubens und die Erkenntnis, dass sich die eigene Situation gar nicht so sehr von den „Dorfbewohnern“17 unterscheidet. Mit Recht weist er darauf hin, dass nicht Medien, Methodenwahl oder „Dolmetschung“18 entscheidend sind, sondern die Herausforderung durch die Botschaft.

Die Trennung von göttlicher Offenbarung und menschlichem Leben Der Clown scheint als ,Feuermelder‘ nicht glaubwürdig. Damit kommt die personenbezogene Seite der Glaubwürdigkeit ebenso in den Blick wie ein differenziert bedachtes Reden am spezifischen Lernort oder Handlungsfeld. Glaubensvermittlung darf nicht auf die theologische Inhaltsdimension reduziert werden. Heute empfinden viele Menschen den Inhalt der Offenbarung als unglaubwürdig19 und können sich mit gelernten Glaubenssätzen immer weniger identifizieren. Eine der Hauptursachen sieht Karl Rahner in der neuscholastischen Trennung von Natur und Übernatur, also göttlicher Offenbarung und menschlichem Leben. Das neuscholastische Offenbarungsverständnis degradiert den Menschen zum Befehlsempfänger von Normen und Wahrheiten. Dabei lässt sich das Christentum, nicht in der gleichen Art und Weise indoktrinieren, „wie wenn man Schulkindern beibringt, dass es Australien gibt, indem man ihnen sagt: Ihr selbst seid zwar noch nicht dort gewesen, aber andere haben die Reise gemacht, und Geographen haben es nachgeprüft. Wollte man christlichen Glauben in dieser Weise von außen nahebringen unter Hinweis auf die formale Autorität der Kirche oder einer gesellschaft lichen Selbstverständlichkeit, dann wäre die christliche Botschaft Gottes nicht so verkündet, wie es heute nötig ist.“20

Glaube „wird nicht in der Weise erweckt, wie man jemandem von außen die Existenz eines seiner Erfahrung völlig unzugänglichen Gegenstandes mitteilt. Immer ist Einführung in den Glauben … ein Verstehenlassen dessen, was im Grunde des Daseins als Gnade […] schon erfahren ist.“21 Erfahrene Gnadenerfahrung ist für ihn identisch mit der Selbstmitteilung Gottes in der das konkrete geschichtliche Handeln des Menschen „schon als tragender Grund und finalisierendes Ziel gegenwärtig“22 ist. Rahner denkt die menschliche Lebenswelt bis in ihre metaphysischen Sphären substantiell begnadet. Die aktuellen Vollzüge der Geschichte sind daher von der sie ermöglichenden begnadeten Geschichtlichkeit zu verstehen. Für die Frage einer subjekt- und sachgerechten Weitergabe des Glaubens ist „die Aufdeckung solcher Zusammenhänge zwischen dem Inhalt der dogmatischen Sätze und der menschlichen Selbsterfahrung unabdingbar.“23 Die Dorfbewohner wissen, dass es die Aufgabe des Clowns ist, Menschen zu unterhalten. Die Dramatik erkennen sie dabei nicht. Es geht nicht um die ,Botschaft an sich‘ sondern um die ,Botschaft für mich‘! Der Clown aber müsste wissen, was in ihnen vorgeht,

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was sie traurig macht, und was sie froh stimmt. Warum nur weiß er jetzt nicht, wie er eigentlich handeln müsste?

Fazit – Religiöse Bildung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und ernst nimmt Im Blick auf die religiöse Vermittlung heute, scheint es Ähnliches zu geben. Kirchlichkeit und Glauben scheinen keine Selbstverständlichkeit mehr zu sein. Die Situation der Menschen ist durch offene Unverbindlichkeit sowie eine wachsende Kirchendistanz charakterisiert. Entkonfessionalisierung und die Abkehr von der Kirche kennzeichnen weite Gebiete Europas24, was Religionsunterricht und Katechese vor große Herausforderungen stellt. Die Shell-Jugendstudie 2010 konstatiert, dass sich ein großer Teil der Jugendlichen vom tradierten Glauben an einen persönlichen, kirchlich-religiösen Gott abgewandt hat und kritisch gegenüber diesen Vorstellungen eingestellt ist.25 Die Veränderungen der Konfessionsbindungen wie der Glaubensidentitäten stellen eine enorme Herausforderung für die Religionspädagogik dar. Der Rückgang an christlich-religiösem Basiswissen und Formen christlicher Sozialisation ist unübersehbar. Aber „es gibt keine Flucht aus dem Dilemma des Menschseins. Wer der Ungewißheit des Glaubens entfliehen will, wird die Ungewißheit des Unglaubens erfahren müssen“26 und wer die Gewissheit des Glaubens entdecken möchte, muss sich der Suche nach der Fremdheit des eigenen Glaubens stellen. „Niemand kann dem andern Gott und sein Reich auf den Tisch legen, auch der Glaubende sich selbst nicht.“27 Vielleicht kann der Blick auf den Anderen und seine Situation vor der Gottesfrage helfen, mit ihm ins Gespräch über den Glauben zu kommen. Was heißt das „ich glaube“? Was ich unter christlicher Existenz verstehe, wird erst verständlich, wenn ich mich mit meinem Leben ,in‘ dieser Welt auseinandersetze, es ernst nehme und ehrlich gestalte. Dabei spielt das System der Regeln und Riten einer Religion nicht die entscheidende Rolle28, sondern die Entscheidung zur eigenen Existenz und die Entscheidung dafür, dass „im Innersten der menschlichen Existenz ein Punkt ist, der nicht aus dem Sichtbaren und Greifbaren gespeist und getragen werden kann, sondern an das nicht zu Sehende stößt, so dass es ihm berührbar wird und sich als Notwendigkeit für seine Existenz erweist.“29 Eine solche Haltung kann man nur erreichen, wenn man sich dem eigenen Menschsein und den Mitmenschen zuwendet. Für heutige Menschen ist zudem die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft auch an die „Glaubenshaltung ihrer Zeugen“30 gebunden. „Glaubwürdig von Gott reden“31 zielt nicht nur auf Inhalte, Aufgabenstellung und Zielsetzung der religiösen Vermittlung in Religionsunterricht und Katechese, sondern muss als ,das‘ Kennzeichen der vermittelnden Institutionen und Personen angesehen werden. Es geht „um den Versuch einer Renovation des Gesamtgebäudes der Kirche und ihrer Theologie“, durch den die Theologie durch „das geschichtliche und anthropozentrische Denken“32 auf ein neues Fundament gestellt wird. Fragen bleiben vielleicht deshalb offen, weil sich das Konzil Problemen aller Menschheit stellen musste und wollte. Es konnte

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nicht regional, teilkirchlich und gruppenspezifisch durchbuchstabieren, was dieses Programm in konkreter geschichtlicher und pastoraler Situation bedeutet. Dieser vorgegebene Weg, der die Kirche als Lerngemeinschaft und ihren Dienst als Dienst am Menschen definiert, darf nicht in den Hintergrund treten oder in Frage gestellt werden. Es ist eine beeindruckende denkerische Leistung, was die Theologie seitdem zur Klärung der Konstitutionsbedingungen religiöser Subjektwerdung geleistet hat. Der „Bruch zwischen Evangelium und Kultur“, den Papst Paul VI. in Evangelii Nuntiandi „ohne Zweifel“ als „das Drama unserer Zeitepoche“ (EN 20)33 bezeichnet hat, wurde in der nachkonziliaren Theologie in Arbeit genommen. In der Katechese und vor allem im Religionsunterricht sind viele Versuche unternommen worden, die Aufgabe, die das Zweite Vatikanische Konzil gestellt hat, zu bearbeiten. Dabei ist ihnen der Weg vorgezeichnet: Die Konzentration auf die personale Würde des Menschen und die Aufmerksamkeit auf die Konditionen menschlichen Lebens. In diesem Lernprozess muss das bewältigt werden, was Paul VI. als „innere Erneuerung der Kulturen“ bezeichnet hat.

Anmerkungen 1 Ratzinger, J.: Einführung in das Christentum. München (1968), 17. 2 Nipkow, K. E.: Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung. Gütersloh (1990), 264 ff. 3 Vgl. Theis, J.: Ein Auft rag an die Jünger Jesu (Mt 28,16–20). In: Niehl, F. W. (Hrsg.): Leben lernen mit der Bibel. Der Textkommentar zu Meine Schulbibel. München (2002), 269–271; Ebener, M. u. S. Schreiber: Einleitung in das Neue Testament. Stuttgart (2008), 144 f. 4 Hünermann, P.: Die Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils für die Religionspädagogik. In: Rendle, L. (Hrsg.): „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“. Religionsunterricht in einer Kirche im Lernprozess. München (2011), 12–34: 12. 5 Ansprache von Papst Johannes XXIII. zur Ankündigung einer Diözesansynode für Rom und des ökumenischen Konzils am 25. 1. 1959. In: Herder Korrespondenz 13 (1958 / 59), 387–388. 6 Englert, R.: Bloß Modem oder mehr? In: KatBl 136(296–303), 296. 7 Vgl. Einleitung zur Erklärung über die christliche Erziehung „Gravissimum educationis“. In: Rahner, K. u. H. Vorgrimmler: Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums mit Einführungen und ausführlichem Sachregister. Freiburg–Basel–Wien (1968), 331–335: 335. 8 Die Konzilstexte werden nach Rahner / Vorgrimmler (1968), (Anm. 7) zitiert. 9 Leitend ist dabei die Suche nach einer Begründung des Religionsunterrichts sowohl aus kirchlicher als auch aus gesellschaft licher (staatlicher) Perspektive. 10 Vgl. Pavan, P.: Einleitung und Kommentar zur Erklärung über die Religionsfreiheit. In: LThK. Das Zweite Vatikanische Konzil. Bd. XIII. Freiburg–Basel–Wien (21986), 703–748: 740 11 Vgl. Hünermann (2011), 26 ff. 12 Schmitz-Stuhlträger, K.: Das Recht auf christliche Erziehung im Kontext der Katholischen Schule. Eine kanonistische Untersuchung unter Berücksichtigung der weltlichen Rechtslage. Berlin (2009), 320. 13 Vgl. ebd., 279. 14 Ratzinger (1968), 17; vgl. Cox, H.: Stadt ohne Gott?. Stuttgart-Berlin (21967), 265.

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Joachim Theis Ebd., 18. Ebd., 19. Ebd., 19. Ebd., 18. Vgl. Langer, M.: Religionspädagogik im Horizont transzendentaler Theologie: Karl Rahners Beitrag zu Grundproblemen religiöser Sozialisation. In: Konrad Baumgartner (Hrsg.): Glauben lernen – Leben lernen. St. Ottilien (1985), 45–77; Eppe, P.: Karl Rahner zwischen Theologie und Philosophie. Aufbruch oder Abbruch? Münster (2008), 146 ff. Rahner, K.: Glaubensbegründung heute. In: Rahner, K.: Schriften zur Theologie. Zürich–Einsiedeln–Köln (1975), 17–40: 26. Interview mit Karl Rahner, zitiert nach: Langer (1985), 62. Gmainer-Pranzl, F.: Glaube und Geschichte bei Karl Rahner und Gerhard Ebeling. Ein Vergleich transzendentaler und hermeneutischer Theologie. Innsbruck–Wien (1996), 352. Langer (1985), 61. Im Folgenden wird auf die offiziellen Internetseiten mit Statistiken der großen christlichen Kirchen in Deutschland zurückgegriffen: Katholische Kirche (http: / / www.dbk.de / zahlen-fakten / kirchliche-statistik / ) und Evangelische Kirche in Deutschland (http: / / www.ekd.de / statistik / ) [04. 01. 2013]. Vgl. Shell Deutschland Holding GmbH (Hrsg.): 16. Shell Jugendstudie. Jugend 2010. Frankfurt am Main (2010). 15; 204 ff. Ratzinger, (1968), 22 f. Ebd., 23. Vgl. ebd., 26 ff. Ebd., 27 f. Sekretariat der DBK (Hrsg.): Handreichung der Kommission für Erziehung und Schule: Zur Spiritualität des Religionslehrers (6). 1. September 1987, 12. So auch der Buchtitel von Jörns, K.-P.: Glaubwürdig von Gott reden. Gründe für eine theologische Kritik der Bibel. Stuttgart (2009). Gertler, T.: Jesus Christus – Die Antwort der Kirche auf die Frage nach dem Menschsein. Eine Untersuchung zu Funktion und Inhalt der Christologie im ersten Teil der Pastoralkonstitution ›Gaudium et Spes‹ des Zweiten Vatikanischen Konzils (Erfurter Theologische Studien, Bd. 5). Leipzig (1986), 394. http: / / www.vatican.va / holy_father / paul_vi / apost_exhortations / documents / hf_p-vi_ exh_19751208_evangelii-nuntiandi_ge.html [05. 01. 2013]

Wunibald Müller

„Wir spielen immer die unvollendete Symphonie, und immer ist nur Generalprobe“1

Sich von den Texten des II. Vaticanums anregen und provozieren lassen Wunibald Müller „Wir spielen immer die unvollendete Symphonie, und immer ist nur Generalprobe“

Karmeliterkirche in München. Ein heller Raum mit vor allem in Rot gehaltenen Tafeln empfängt den Besucher der Sonderausstellung des Erzbischöflichen Archivs anlässlich 50 Jahre II. Vatikanisches Konzil. Die Fotos, die Texte von Kardinal Döpfner, Karl Rahner, Joseph Ratzinger und vielen anderen nehmen einen mit sich und lassen in einem für eine Weile etwas von der Aufbruchstimmung aufkommen, als vor 50 Jahren das Konzil begann. Was ist nach einem halben Jahrhundert von der damaligen Aufbruchstimmung geblieben? Man ist zunächst geneigt zu sagen: Nichts. Scheint doch die augenblickliche Stimmung in der Kirche von Resignation und Gleichgültigkeit geprägt zu sein, die Luft, die wir in der Kirche atmen, stickig geworden zu sein, die Enge, die wir allenthalben spüren, zunehmend unerträglich zu werden. Das Fenster, das Papst Johannes XXIII. damals öffnete, scheint längst geschlossen worden zu sein. Doch die Beschlüsse des II. Vaticanums können nicht einfach auf die Seite geschoben werden, so sehr das manche auch versuchen, indem sie ihre Bedeutung bagatellisieren oder uminterpretieren. Sie sind uns erhalten geblieben und mit ihnen der Geist, ja der Heilige Geist, der sich in ihnen niedergeschlagen hat und der sich nicht vertreiben lässt. Es lohnt sich daher, diese Texte immer wieder zu lesen, sich von ihnen anregen, herausfordern, provozieren zu lassen, vor allem aber sie – wieder – ernst zu nehmen. Im Folgenden soll dies anhand der Dekrete Perfectae Caritatis, Presbyterorum Ordinis und Optatam Totius geschehen.

Berücksichtigung der psychologischen Aspekte bei der Ausbildung Als ich im Jahr 2011 beim Ökumenischen Kirchentag darauf aufmerksam machte, dass es bei dem Thema Zölibat auch darum geht, noch einmal genauer hinzuschauen, ob die Kandidaten wirklich die entsprechende Reife für ein zölibatäres Leben mitbringen, berichtete mir ein Bischof, dass man in den vergangenen Jahren in diesem Bereich doch sehr vieles getan habe und ich meine, er hat Recht. Tatsächlich hat man in vielen Priesterseminaren

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weit mehr als das früher der Fall war den psychologischen Aspekten der Ausbildung Aufmerksamkeit geschenkt. Standen früher in Form des Theologie- und Philosophiestudiums vor allem die intellektuelle und die spirituelle Ausbildung und Begleitung im Vordergrund, so bezog man bei der Formation jetzt auch die psychische Situation und Ausbildung des Kandidaten mit ein. Das zeigte sich schon darin, dass man in vielen Priesterseminaren pastoralpsychologische Ausbildungselemente anbot und es auch Priesterseminare gab, die eigens einen Pastoralpsychologen anstellten. Damit wurde deutlich gemacht, dass neben der intellektuellen und spirituellen Ausbildung und Formation auch die menschliche Formation von Bedeutung ist. Dies bedurfte manchmal noch einiger Überzeugungsarbeit. So erinnere ich mich an einen Bischof, der meinte, lieber stelle er einen Fußballtrainer als einen Pastoralpsychologen ein, was ihn allerdings nicht daran hinderte, einige Jahre später tatsächlich einen Pastoralpsychologen einzustellen. Bei den pastoralpsychologischen Angeboten ging und geht es auch, wie im Dekret über die Ausbildung der Priester Optatam totius gefordert, um psychologische Wissensvermittlung, vor allem aber um die Erlangung der Kompetenz, personenbezogen kommunizieren zu können, „anderen zuzuhören und im Geist der Liebe sich seelisch den verschiedenen menschlichen Situationen zu öff nen?“, wie es im Dekret über die Priesterausbildung (OT 19) heißt. Darüber hinaus versteht sich die pastoralpsychologische Ausbildung als Hilfe für die persönliche Auseinandersetzung im psychischen Wachstumsprozess. Über sie sollen unter anderem auch Themen wie Sexualität und der rechte Umgang mit Nähe und Distanz in die Formation eingebracht werden.

Unzureichende Ausführungen zum zölibatären Lebensstil Gerade im Licht des Missbrauchsskandals des Jahres 2011, der immer wieder dazu veranlasste, einen Blick darauf zu richten, wie es um die Formation der zukünft igen Priester bestellt ist, zeigen die Ausführungen des Dekrets über die Priesterausbildung, dass vieles, was als Defizit in der Ausbildung kritisiert oder als notwendige Ergänzung gefordert wurde, bereits vom II. Vatikanischen Konzil gefordert wurde. Ich schreibe bewusst vieles, denn es gibt auch Bereiche, die im Dekret zu allgemein gehalten werden, so auch die Ausführungen zum Thema Zölibat. Hat man das Dekret über die Priesterausbildung über Jahre nicht mehr gelesen, so ist man erstaunt, darin zu lesen, dass die angehenden Priester um die Pflichten und die Würde der christlichen Ehe gebührend wissen sollten, „sie sollen aber klar den Vorrang der Christus geweihten Jungfräulichkeit erkennen“ (OT 10). Dann wird auf die Gefahren hingewiesen, „die ihrer Keuschheit besonders in der gegenwärtigen Gesellschaft drohen“ (OT 10). Weiter heißt es: „Sie müssen lernen, sich durch geeignete göttliche und menschliche Hilfsmittel zu schützen und den Verzicht auf die Ehe so in ihr Dasein zu integrieren, dass sie in ihrem Leben und in ihrer Wirksamkeit vom Zölibat her nicht nur keinen Schaden nehmen, vielmehr eine vollkommenere Herrschaft über Leib und Seele und eine höhere menschliche

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Reife gewinnen und die Seligkeit des Evangeliums tiefer erfahren“ (OT 10). Das erinnert doch sehr an die Exhorten, mit denen die angehenden Priesterseminaristen auf den Zölibat vorbereitet wurden, die, wie mir von vielen Priestern berichtet wurde, als völlig ungenügend als Einführung in die Lebensform des Zölibats empfunden wurden. Die Priesteramtskandidaten sollten, so heißt es in dem Dekret weiter „unter der väterlichen Leitung der Oberen und durch entsprechende Mitarbeit der Eltern“ (OT 3) ein Leben führen, „wie es zu Alter, Sinnesart und Entwicklung der jungen Menschen passt und mit den Grundsätzen einer gesunden Psychologie in Einklang steht. Eine hinreichende Lebenserfahrung und der Umgang mit der eigenen Familie dürfen nicht fehlen“ (OT 3). Das sind schöne Worte, die wir dann auch im Dekret über das Leben der Priester entdecken, wenn es dort über das Zölibat heißt: „Durch die Jungfräulichkeit und die Ehelosigkeit um des Himmelsreiches willen werden die Priester in neuer und vorzüglicher Weise Christus geweiht; sie hangen ihm leichter ungeteilten Herzens an, schenken sich freier in ihm und durch ihn in dem Dienst für Gott und die Menschen, dienen ungehinderter seinem Reich und dem Werk der Wiedergeburt aus Gott und werden so noch mehr befähigt, die Vaterschaft in Christus tiefer zu verstehen“ (PO 16).

Doch wie kann das umgesetzt werden? Hier kamen und kommen Priesteramtsanwärter und dann auch Priester an ihre Grenzen. Wie beispielsweise soll Intimität eingeübt werden, wenn ein zölibatäres Leben eingefordert wird?

Die Bedeutung tiefer, inniger Beziehungen für zölibatär Lebende Hier ist man erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten dafür sensibel geworden, wie wichtig es ist, dass angehende Priester eingeführt und angeleitet werden, Lebensformen zu entwickeln, die es ihnen auch als zölibatär Lebende möglich machen, zufrieden zu leben. Dabei spielen das Leben in Gemeinschaften und das Eingebundensein in tiefe, bedeutungsvolle und innige Beziehungen eine große Rolle. Der normale Kontext in dem die meisten Menschen Intimität erfahren und in ihr wachsen, ist die Ehe oder eine Partnerschaft. Die Entscheidung, lebenslang zölibatär zu leben, kann daher bezogen auf die Hinführung und Befähigung zur Intimität problematisch sein, schreibt Sandra Schneiders2. Denn mit dieser Entscheidung gibt man den normalen Kontext auf, in dem dieser schwierige Entwicklungsschritt hin zur Intimitätsfähigkeit vollzogen wird. „Wer ehelos lebt, setzt sich“, so Sandra Schneiders, „auf sehr reale Weise dem Risiko aus, niemals einer echten Intimität fähig zu werden.“3 Das aber heißt, auch für die Person, die vorhat, ehelos zu leben, ist es wichtig, sich dem emotionalen Reifungsprozess, der zur Beziehungsfähigkeit führt, zu stellen. Es kann nicht angehen, dass jemand, der ehelos leben will, solche Prozesse zwischendurch stoppt, abkürzt oder nicht zulässt. Die Person, die ehelos leben will, bedarf genauso wie diejenige, die in einer Partnerschaft leben möchte, der Auseinandersetzung mit den Prozessen, die zur Erlangung der Intimitätsfähigkeit notwendig sind.

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Darüber hinaus müssen Priester und Ordensleute für sich Formen entwickeln, in denen sie ihr natürliches Verlangen nach emotionaler Intimität in Beziehungen erfahren können. Sehr stark finde ich daher folgende Aussage in dem Dekret über das Ordensleben, wonach „die Keuschheit sicherer bewahrt wird, wenn in der Gemeinschaft wahre Liebe herrscht und alle miteinander verbindet“ (PC 12). Wem die Nahrung, die eine gute zwischenmenschliche Beziehung schenkt, vorenthalten wird, wird versuchen, die Nahrung, nach der er verlangt, durch Erfolg, Arbeit und vieles andere mehr zu bekommen oder er wird resignieren und sich noch mehr zurückziehen. Wie für die psychische Gesundheit der Partner in einer ehelichen Beziehung eine tiefe, innige Beziehung notwendig ist, ist es auch für die psychische Gesundheit von Priestern und den Mitgliedern einer religiösen Gemeinschaft notwendig, zu einigen Menschen eine tiefe, innige Beziehung zu unterhalten. Auch ist es für die Priester wichtig, zu ihrem Bischof und zu den Mitbrüdern eine echte Beziehung zu unterhalten. Die Bischöfe sollen, so im Dekret über das Leben der Priester, „die Priester als ihre Brüder und Freunde betrachten“ (PO 7). Über die Gemeinschaft der Priester ist zu lesen: „Die einzelnen Priester sind (…) mit ihren Mitbrüdern durch das Band der Liebe, des Gebetes und der allseitigen Zusammenarbeit verbunden.“ (PO 8). Hier wird freilich ein sehr ideales Bild über die Communio der Priester gezeichnet, das der Realität nicht Stand hält. So ist in den letzten Jahren nach meiner Einschätzung zunehmend zu beobachten, dass diese Communio oft nicht mehr ist als eine theologische Floskel; Brüderlichkeit, Liebe, Zeit haben füreinander sind oft nicht mehr als ein frommer Wunsch.

Von der Heiligkeit der Priester Deutliche Worte findet das Dekret über die Priesterausbildung zum Thema Dienst. Da heißt es: „Die Alumnen müssen mit voller Klarheit verstehen, dass sie nicht zum Herrschen und Regieren bestimmt sind, sondern sich ganz dem Dienst Gottes und der Seelsorge widmen sollen“ (OT 9). Das ist eine starke Aussage, die ganz klar als eine Absage zu verstehen ist an alles, was an klerikales Gehabe erinnert. Auf der anderen Seite, so könnte man das zumindest sehen, fördert das Konzil im Dekret über den Dienst und das Leben der Priester sicher ungewollt ein solches Verhalten, etwa, wenn von den Christen erwartet wird, dass sie den Priestern „als ihren Hirten und Vätern in Kindesliebe verbunden sein“ (PO 9) sollen. An einer anderen Stelle liest man: „Das Weihesakrament macht die Priester Christus dem Priester gleichförmig“ (OT 12). Oder: „Die Heiligkeit der Priester  … trägt im höchsten Maß zur größeren Fruchtbarkeit ihres besonderen Dienstes bei“ (PO 12). Wenn man solche Aussagen vor dem Hintergrund des Missbrauchsskandals liest, muss man an manchen Stellen tief durchatmen. Auch wenn das Triumphalistische, das mit Kirche und Katholizismus verbunden war und das auch im Zusammenhang mit Priestertum in Erscheinung trat, zurückgegangen ist, – in den Herzen mancher Priester hat eine wirk-

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liche Kehrtwende, bei der deutlich wird, dass die Zeit des Herrschens vorbei ist und es wirklich um das Dienen geht, nicht stattgefunden. Das zeigt sich vornehmlich auch bei den Priestern, die in gehobenen Positionen in der Kirche zu fi nden sind, darunter auch Bischöfe. Das Ausmaß an Anspruchsdenken, an dem Gefühl, etwas Besonderes zu sein und daher auf Privilegien Anspruch zu haben, ist nach wie vor stark vorhanden. Auch ließ sich der Verzicht auf jegliche Form von Ehrenbezeichnungen letztlich nicht durchhalten. Es kam immer wieder zu Bemühungen, Titel wie Monsignore oder geistlicher Rat abzuschaffen. Sie tauchen aber irgendwann doch wieder auf. Offenbar ist dieses Verlangen nach Ehrerweisungen in uns stark vorhanden, so sehr es offensichtlich ist, dass es von der eigentlichen Aufgabe wegführen kann. Ich meine, in der jüngsten Zeit gerade bei jüngeren Geistlichen ein Zunehmen an klerikalem Verhalten und Gehabe feststellen zu können. Dazu kommt, dass die angehenden Priester sich zunehmend als Vorsteher der Liturgie verstehen und dabei andere Bereiche – man denke zum Beispiel an die caritative Dimension des priesterlichen Dienstes, die sich im selbstlosen Dasein und im Einsatz für andere zeigt oder die therapeutische Seite, die sich in den Fähigkeiten für ein einfühlendes, von bedingungsloser Akzeptanz und Echtheit gekennzeichnetes Gespräch mit andern niederschlägt – zu kurz kommen.

Sorgfältige Auswahl bei der Zulassung zum Priesteramt Im Dekret über die Priesterausbildung wird eindrücklich darauf hingewiesen, es bei der Auslese und Prüfung der Kandidaten auch dann nicht an der nötigen geistigen Festigkeit fehlen zu lassen, wenn Priestermangel zu beklagen ist. Kandidaten sollen „nur nach wirklich ausreichender Prüfung und nach Erlangung der erforderlichen psychologischen und affektiven Reife zum Gelöbnis der Keuschheit hinzutreten und zugelassen werden“ (PC 12). Meine Erfahrung ist, dass viele Priesterseminare sich daran gehalten haben und gerade der Missbrauchsskandal hier die Verantwortlichen noch sensibler gemacht hat. Auf der anderen Seite war aber auch zu beobachten, dass es manche Diözesen gab, in denen jene Interessenten für das Priesteramt aufgenommen wurden, die anderswo abgelehnt wurden. Auch wurden Konflikte zwischen Bischöfen und Verantwortlichen des Priesterseminars erst bekannt, wenn Bischöfe versuchten, an den Verantwortlichen der Priesterseminare vorbei ihre Kandidaten „durchzudrücken“. Die augenblickliche Situation, die bezüglich des Priesternachwuchses als katastrophal bezeichnet werden kann, birgt die Gefahr in sich, dass man hier wieder nachlässiger wird.

Wie eine Braut für ihren Mann geschmückt Im Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens Perfectae caritatis heißt es am Anfang etwas blumig ausgedrückt: „So erwuchs nach göttlichem Ratschluss eine wunderbare Vielfalt von Ordensgemeinschaften, die sehr dazu beitrug, dass die Kirche nicht

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nur zu jedem guten Werk gerüstet und für den Dienst im Aufbau des Leibes Christi bereit ist, sondern auch mit den mannigfachen Gnadengaben ihrer Kinder wie eine Braut für ihren Mann geschmückt dasteht und die vielgestaltige Weisheit Gottes kundtut“ (PC 1). Will man heute in den Orden diese Braut, geschmückt für ihren Mann, entdecken, muss man manchmal wirklich lange suchen. Vielfach begegnet uns doch ein eher tristes Erscheinungsbild, wenn es um die Orden geht. Allenthalben ist die Rede von der Überalterung der Orden, den Nachwuchssorgen, den Zusammenlegungen kleinerer Gemeinschaften, dem Zerfall der Gemeinschaften, der Abwesenheit echter Erfahrung von Innigkeit und Intimität in klösterlichen Gemeinschaften und so weiter. Doch dann gibt es auch jene Gemeinschaften in Deutschland oder auch in den USA, bei denen man den Eindruck gewinnt, dass sie den vom Konzil ausgehenden Erneuerungen Rechnung getragen haben, indem sie unter die Menschen gegangen sind. So heißt es in dem Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens: „Die Institute sollen dafür sorgen, dass ihre Mitglieder die Lebensverhältnisse der Menschen, die Zeitlage sowie die Erfordernisse der Kirche wirklich kennen, damit sie die heutige Welt im Licht des Glaubens richtig beurteilen und den Menschen mit lebendigen apostolischem Eifer wirksamer helfen können.“ (PC 2d) Die im Jahre 2012 bekannt gewordenen Konflikte zwischen den US-amerikanischen Ordensfrauen und dem Vatikan zeigen die Gratwanderung, die entsteht, wenn Ordensleute wirklich unter die Menschen gehen wollen. Sie zeigen aber auch, dass es in der Tat Orden gelungen ist, in die Welt hineinzuwirken, bei den Menschen zu sein, vor allem auch bei denen, die von der Gesellschaft vergessen worden sind und Ordensleute damit zur Verwirklichung von Gottes zugesagter Liebe beitragen.

Die körperliche und die psychische Gesundheit der Ordensleute Im Dekret über die Erneuerung des Ordenslebens ist weiter die Rede davon, dass die Lebensweise, das Gebet und die Arbeit „den körperlichen und seelischen Voraussetzungen der Menschen von heute“ (PC 3) entsprechen müssen. Hier haben nach meinen Erfahrungen entscheidende Veränderungen stattgefunden, die dazu führten, dass manche wirklich ungesunde Lebensformen in den Klöstern zugunsten einer lebensnahen und an der sowohl seelischen wie auch der körperlichen Gesundheit orientierten Lebensweise gewichen sind. Das zeigt sich unter anderem darin, dass Ordensleuten Urlaub zugestanden wird, ihnen, wenn sie in einem tätigen Orden leben, ein freier Tag eingeräumt wird, ihnen Zugang zu kulturellen und musischen Erfahrungen ermöglicht wird. Auf der anderen Seite gibt es nach wie vor Orden, vor allem Frauengemeinschaften, in denen auf die körperliche und psychische Begrenzung der einzelnen Ordensmitglieder nicht angemessen Rücksicht genommen wird. Dort ist es den Mitgliedern des Ordens nicht gestattet, an einem freien Tag Kraft zu schöpfen. Auch wird nicht auf eine angemessene Weise Rücksicht darauf genommen, dass die Arbeit zum Beispiel in einem Krankenhaus und das Leben in einer klösterlichen Gemeinschaft so miteinander koordiniert wer-

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den, dass die Betreffenden ihrem Dienst angemessen nachkommen, zugleich aber auch ihrer Berufung als Ordensfrau durch ein entsprechendes Leben in der Gemeinschaft gerecht werden. Die psychische Gesundheit eines Ordensmitgliedes hängt auch von der Spiritualität eines Ordens ab. Handelt es sich um eine Spiritualität, die die psychische, körperliche und spirituelle Gesundheit ihrer Mitglieder berücksichtigt, ist für die Verantwortlichen das persönliche Wohl des einzelnen Ordensmitgliedes genauso wichtig wie ihr Dienst für andere. Ist das nicht der Fall, wird körperlicher und seelischer Raubbau mit den Mitgliedern einer Gemeinschaft betrieben und das zum Teil aus angeblich spirituellen, manchmal auch finanziellen Gründen. Von der „Zier der Kirche“, die „himmlische Gnaden“ (PC 7) verströmt, wie es im Dekret heißt, ist da dann wenig zu sehen.

Einer trage des anderen Last Richtig warm wird es einem ums Herz, wenn man im Dekret über die Erneuerung des Ordenslebens liest: „Das Leben in Gemeinschaft nach dem Beispiel der Urkirche, in der die Menge der Gläubigen ein Herz und eine Seele waren, soll, genährt durch die Lehre des Evangeliums, durch die heilige Liturgie, vor allem die Eucharistie, in Gebet und Gemeinsamkeit des Geistes beharrlich geprägt werden. Die Ordensleute sollen als Glieder Christi im brüderlichen Umgang einander mit Achtung zuvorkommen; einer trage des andern Last. Denn durch die Liebe Gottes, die durch den heiligen Geist in den Herzen ausgegossen ist, erfreut sich eine Gemeinschaft , die wie eine wahre Familie im Namen des Herrn beisammen ist, seiner Gegenwart“ (PC 15).

Es wäre natürlich schön, wenn eine klösterliche Gemeinschaft so wäre. Da wird ein sehr ideales Bild von Gemeinschaft gezeichnet, das in der Regel vor der Wirklichkeit keinen Bestand hat, was nicht ausschließt, dass es auch solche Ordensgemeinschaften gibt. Die Wirklichkeit sieht aber oft anders aus. Ihre Beziehungen untereinander bleiben oft oberflächlich. Man weiß nicht wirklich voneinander. Man mag sich tagtäglich begegnen, jeden Tag sogar öfters miteinander beten, doch letztlich läuft man aneinander vorbei und es kommt nicht zu einer wirklichen Verbindung miteinander, bei der man mit der anderen Person tatsächlich in Kontakt tritt. Dabei übersehe ich nicht die vielen Bemühungen von Ordensoberen und von Gemeinschaften, die Gemeinschaft und das Gemeinschaftsleben ernst zu nehmen, auf die Interessen der einzelnen zu hören und zu versuchen, sie zu berücksichtigen. Es gibt es, das Eingehen auf die Nöte der einzelnen, die Sorge füreinander. Auf der anderen Seite gewinnt man bei nicht wenigen Gemeinschaften den Eindruck, dass die Arbeit im Vordergrund steht und manchmal auch das Beten im Grunde genommen als Arbeit verstanden wird. Zeit haben füreinander, das Interesse aneinander, die wichtig sind, um voneinander zu wissen und sich zu kennen, fehlen oft, mit dem Ergebnis, dass nicht wenige Ordensmitglieder sich in ihrer Gemeinschaft nicht wohlfühlen, sie dort nicht die Familiarität, die

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Intimität erfahren, die für sie so wichtig wäre und die für viele einmal eine wichtige Motivation war, sich für das Leben in einer Gemeinschaft zu entscheiden.

Über die Armut Über die Armut heißt es im Dekret über das Ordensleben: „Im Erwerb aber dessen, was zu ihrem Lebensunterhalt und für ihre Aufgaben notwendig ist, sollen sie alle unangebrachte Sorge von sich weisen und sich der Vorsehung des himmlischen Vaters anheimgeben“ (PC 13). Hier bleiben die Orden oft hinter dem zurück, was das Konzil ihnen nahe legt. Sie befinden sich dabei in guter Gesellschaft mit so manchen Diözesanpriestern, die im Dekret über Dienst und Leben der Priester zur „freiwilligen Armut“ (PO 17) aufgerufen und ermuntert werden, „in der sie Christus sichtbarer ähnlich und zum heiligen Dienst verfügbarer werden“ (ebd.). Die Priester und Bischöfe, die in herrschaft lichen Häusern wohnen, die ihre Räume mit Stilmöbeln ausgestattet haben, an deren Zimmerwänden teure Gemälde hängen, deren Räume manchmal den Eindruck eines Museums erwecken, werden an dieser Stelle tief durchschnaufen müssen. Ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich sehe, wie viele Priester tatsächlich einfach leben, einfach essen, sich einfach kleiden. Freilich gibt es auch Ausnahmen. Es setzt mich zum Beispiel in Erstaunen, welches Auto mancher Priester fährt oder wie oft er sich auf den Spuren irgendeines Heiligen im Ausland aufhält, sich Erholungsurlaube und Ayurveda-Behandlungen über viele Wochen in Indien gönnt, also einen Lebensstil pflegt, der sich deutlich unterscheidet von dem eines Durchschnittsbürgers mit mittlerem Einkommen oder darunter. Es sind, wenn man ehrlich ist, nur wenige Priester, die sich an den Worten des Dekretes über das Leben der Priester orientieren, in armer Lebensweise leben, bereit sind, auf erlaubte, aber unnötige Dinge freiwillig zu verzichten, um dem gekreuzigten Christus ähnlich zu sein.

Alles Kirchliche als Hilfestellung für Glaube, Hoffnung und Liebe in den Herzen aller Menschen Als ich gestern am späten Abend die Jesuitenkirche in Innsbruck besuchte, ging ich zunächst in die Krypta, in der Karl Rahner bestattet ist. Alles war in ein fahles Licht eingetaucht, die Totentafeln nur zu erahnen. Ich schloss die Augen und dachte an Karl Rahner, dem ich mich innerlich schon immer sehr verbunden fühlte. Ich verharrte für eine Weile, offen dafür, dass ein Wort, ein Gedanke, ein bestimmtes Gefühl in mir auftaucht. Ich vernahm nichts. Ich ging nach oben in die Kirche, in der einige Menschen sitzend oder kniend beteten. Die betenden Menschen in der Jesuitenkirche erinnern mich, um es mit den Worten von Karl Rahner wenige Tage nach Abschluss des Konzils4 zu sagen, an das Eigentliche, das ganz Einfache und geradezu unbegreiflich Schwere und Selige, um das es bei allem Kirchlichen geht: Hilfestellung zu sein für Glaube, Hoffnung und Liebe im Herzen der

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Menschen. Dann aber werde ich nachdenklich und vor meinem geistigen Auge tauchen die unzähligen Priester und Ordensleute auf, denen ich bisher begegnet bin oder von denen mir berichtet wurde. Ich sehe ihr Bemühen, ihren Idealen entsprechend zu leben. Ich sehe die vielen ernsthaften Versuche, den Geist des Konzils umzusetzen, die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, die Veränderungen, die manche überfordern. Ich sehe Erfolge und Scheitern. Vor allem aber sehe ich, wenn ich genauer hinschaue und mich nicht durch äußere Unzulänglichkeiten davon ablenken lasse, ja wenn es mir gar gelingt, in die Herzen zu schauen – und als Therapeut darf ich das ja manchmal – Glaube, Hoff nung und Liebe in ihrem Herzen. Welche Rolle dabei das II. Vaticanum spielt, ist dann sekundär. Entscheidend ist, dass Glaube, Hoffnung und Liebe immer wieder die Oberhand gewinnen, sie, wenn sie auch vorübergehend abgetaucht zu sein scheinen, dann doch wieder auftauchen in all der Unvollkommenheit wie sie einer „Kirche der Sünder, der Schwachen und Elenden“5 eigen ist. Ich vergesse dann nicht: „Wir spielen immer die unvollendete Symphonie, und immer ist nur Generalprobe. Aber darum ist alle Mühe, alle immer unvollendete und unvollendenbare Reformation nicht umsonst, nicht sinnlos“ 6 – auch was die Priesterausbildung, den Dienst und das Leben der Priesters und das Ordensleben betrifft.

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6

Rahner, K.: Das Konzil – ein neuer Beginn. Freiburg (2012), 51. Schneiders, S.: New Wineskins. Re-imagining Religious Life Today. New York (1986), 207 f. Ebd. Vgl. Rahner (2012), 52. Rahner (2012), 51. Ebd.

Philipp Thull

Gemeinsam auf dem Weg – Fünfzig Jahre Unitatis redintegratio

Thull Gemeinsam auf demUnitatis Weg – Philipp Fünfzig Jahre redintegratio

Als Angelo Guiseppe Roncalli am 28. Oktober 1958 im Alter von 76 Jahren zum Papst gewählt wurde, glaubte kaum jemand daran, dass das Pontifi kat des Bergamasker Bauernsohnes einmal als reich an Jahren, geschweige denn Bedeutung in die Kirchengeschichte eingehen würde. Die meisten hielten Johannes XXIII. nur für einen ,Übergangspapst‘. Dass er am 25. Januar 1959, nur 90 Tage nach seiner Wahl, den im Kapitelsaal in Sankt Paul vor den Mauern versammelten Kurienkardinälen „ein wenig zitternd vor Bewegung, aber zugleich mit demütiger Entschlossenheit“1 die Einberufung eines Ökumenischen Konzils ankündigte, „wirkte wie ein Fanfarenstoß, innerhalb und fast noch stärker außerhalb der Kirche“2. Während sich die römische Kurie wenig begeistert, eher verhalten bis zynisch zeigte3, weckte die Ankündigung eines Ökumenischen Konzils insgesamt positive Erwartungen und Hoff nungen beim gläubigen Kirchenvolk. Auch die „Einladung an die Gläubigen der getrennten Gemeinschaften“, sich dem „Suchen der Einheit“4 anzuschließen, klang grundsätzlich wie die Verheißung eines nahenden Fortschritts in der ökumenischen Bewegung, rief bei den nichtkatholischen Gemeinschaften angesichts der Erfahrungen, die man in der Vergangenheit mit Rom gemacht hatte, jedoch zunächst Unglauben und Skepsis hervor. Erst die Eröff nungsrede Papst Johannes’ XXIII. und die Teilnahme der nichtkatholischen Beobachter am gesamten Konzilsgeschehen bedeutete eine gewisse Ermutigung zum begonnenen Dialog. Und obgleich allen bewusst war, dass die Einheit erst nach einem langen und beschwerlichen Marsch zu erreichen wäre, sahen doch die meisten, wie es der anglikanische Beobachter Bischof John Moorman ins Wort gefasst hatte, auf jener „Berliner Mauer“5, die jetzt noch voneinander trennte, genug Platz, die Ellenbogen aufzustützen und miteinander zu reden. Nur 34 Jahre nach Mortalium animos und zwanzig Jahre nach Mystici corporis, hatte sich das Verhältnis der katholischen Kirche zu den getrennten Schwestern und Brüdern auf heilsame Weise gewandelt. Entscheidenden Anteil an dieser „folgenreichen Wende“ 6 hatten vor allem die beiden Konzilspäpste Johannes XXIII. und sein Nachfolger Paul VI., die auch durch äußere Zeichen, wie die Einladung der nichtkatholischen Beobachter zum Konzil und die Einrichtung des Sekretariates zur Förderung der Einheit der Christen im Jahre 1960 sowie die Begegnung mit Patriarch Athenagoras im Jahre 1964 in Jerusalem und schließlich die Aufhebung der gegenseitigen Exkommunikation zwischen Ost- und Westkirche am 7. Dezember 1965 zu überzeugen wussten.

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1. Auftrag und Zielbestimmung des Konzils In Anknüpfung an das Bestreben Papst Johannes’ XXIII., der die Einheit bereits in seiner ersten Enzyklika Ad Petri Cathedram aus dem Jahre 1959 als eines der Ziele des Konzils feierte7, erklärten die Konzilsväter die „Einheit aller Christen wiederherstellen zu helfen“ in dem zum Ende der Dritten Sitzungsperiode, am 21. November 1964 (2137 placet – 11 non placet), beschlossenen und von Paul VI. promulgierten Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio angesichts der Spaltung, die „ein Ärgernis für die Welt und ein Schaden für die heilige Sache der Verkündigung des Evangeliums vor allen Geschöpfen“ ist, zu einer der „Hauptaufgaben“ (UR 1;4) des Zweiten Vatikanischen Konzils. Selbst Kritiker mussten eingestehen, dass das Dekret „in Sprache und Mentalität ein Fortschritt innerhalb einer seit Gründung des Weltrates der Kirchen angebahnten Entwicklung“8 darstellte. Weitere wesentliche Aussagen zur Ökumene finden sich in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche und über die Offenbarung, der Pastoral- und Liturgiekonstitution sowie den Dekreten über die Ostkirchen, die nichtchristlichen Religionen, die Mission, die Religionsfreiheit und das Apostolat der Laien. Die Konzilsväter verstanden das Konzil mehrheitlich – so darf man vielleicht feststellen – nicht mehr nur als ökumenisches Konzil der Kirche über die Kirche, sondern auch als ein an der „ganz offenbar dem Willen Christi“ zuwiderstrebenden „Spaltung“ leidendes, von „ernste[r] Reue und Sehnsucht nach Einheit“ (UR 1) ergriffenes und vom ökumenischen Geist wahrhaft durchdrungenes Konzil, das die katholische Kirche fortan für die seit der Weltmissionskonferenz zu Edinburgh 1910 lebendige Ökumenische Bewegung verpflichtete und der Forderung einer Rückkehr-Ökumene ein Ende bereitete. Allerdings – und das mag enttäuschend sein – hat das Konzil keine klaren Vorgaben für den Weg in eine gemeinsame ökumenische Zukunft gewiesen, noch eine geschlossene theologische Lehre zur Einheit der Kirche vorgelegt, geschweige denn die Einheit schon herbeizuführen beabsichtigt.

2. Die katholischen Prinzipien des Ökumenismus Dass die Konzilsväter an die bestehende, „unter dem Wehen der Gnade des Heiligen Geistes“ (UR 4) entstandene Ökumenische Bewegung anzuknüpfen und keine katholische Gegenreaktion zu gründen suchten, beweist schon die Änderung der Überschrift des ersten Schemas zum ersten Teil des Dekretes von „Die Grundsätze des katholischen Ökumenismus“ in „Die katholischen Prinzipien des Ökumenismus“. Diesem Streben „zu einer einen, sichtbaren Kirche Gottes, die in Wahrheit allumfassend und zur ganzen Welt gesandt ist, damit sich die Welt zum Evangelium bekehre und so ihr Heil finde zur Ehre Gottes“ (UR 1), will sich auch die katholische Kirche ein für allemal verpflichten. Ohne ihr eigenes Verständnis von Kirche aufgeben und die Schuld der Spaltungen allein den nichtkatholischen Christen aufbürden zu wollen, sprechen die Konzilsväter in Achtung als „Brüder, in Verehrung und Liebe“ und kraft der Taufe als „Brüder im Herrn“

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von ihnen und sehen gerade jene Gemeinschaften, die „viele und bedeutende Elemente und Güter, aus denen insgesamt die Kirche erbaut wird und ihr Leben gewinnt“ bewahrt haben, als „nicht ohne Bedeutung und Gewicht im Geheimnis des Heiles […] als Mittel des Heiles […] in einer gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche“ (UR 3). Dieses Ziel der Einheit zu erreichen, ermutigten die Konzilsväter dazu, „alles Bemühen zur Ausmerzung aller Worte, Urteile und Taten, die der Lage der getrennten Brüder nach Gerechtigkeit und Wahrheit nicht entsprechen und dadurch die gegenseitigen Beziehungen mit ihnen erschweren“ (UR 4), den Dialog, eine stärkere Zusammenarbeit für das Gemeinwohl und das gemeinsame Gebet zu fördern.

3. Die praktische Verwirklichung des Ökumenismus Hatte Mortalium animos Katholiken von der Teilnahme an der ökumenischen Bewegung noch ausgeschlossen, Humani generis ökumenische Bestrebungen als gottlos verworfen und der CIC / 1917 jede aktive Beteiligung an nichtkatholischen Gottesdiensten in c. 1258 noch ausdrücklich untersagt, erlegte das Konzil „der ganzen Kirche“, Gläubigen und ihren Hirten, die Förderung der Einheit im zweiten Teil des Ökumenismusdekrets gar als eine Pflicht auf. „Die Sorge um die Wiederherstellung der Einheit […] geht einen jeden an, je nach seiner Fähigkeit, sowohl in seinem täglichen christlichen Leben wie auch bei theologischen und historischen Untersuchungen“ (UR 5). Dass die Gläubigen noch vor den Hirten genannt werden, ist sicherlich dem Umstand geschuldet, dass gerade sie sich im alltäglichen Leben in stetem Kontakt zu den getrennten Schwestern und Brüdern wissen. Es ist aber auch ein Hinweis darauf, dass die Ökumene nicht allein bischöflicher Hirtensorge oder theologischer Erkenntnis obliegt, sondern in nicht geringerem Maße auch dem gläubigen Gottesvolk, das durch gelebten Glauben zum Wachsen der Einheit beizutragen berufen ist. Von ökumenischer Bedeutung erscheint den Konzilsvätern nicht nur, dass die Kirche sich als pilgerndes Volk Gottes immer wieder auch einer erneuernden Reform und der Bekehrung des Herzens unterzieht, im sittlichen Leben, in der Kirchenzucht und der Art der Lehrverkündigung (vgl. UR 6) und jetzt und fortan in aller Demut für die geschlagenen Wunden der Einheit „Gott und die getrennten Brüder um Verzeihung“ (UR 7) bittet. Auch das Streben jedes Einzelnen nach einem immer innigeren Verhältnis zu Christus und einem Leben, das des Evangeliums würdig erscheint, fördere die geschwisterliche Liebe und damit die Einheit untereinander (vgl. UR 7;8). Es ist damit gerade die Verwurzelung des gläubigen Menschen, das Hineinwachsen in die immer tiefere Verbindung mit Christus selbst gemeint, die uns die Einheit untereinander schenkt. Die Einheit der Kirche, sie findet ihren Ursprung nicht erst in womöglich langatmigen Konsenspapieren, sondern ganz gewiss schon im Herzen jedes Einzelnen. Zu der vom Konzil geforderten Bußfertigkeit gehört aber auch, dass sich die Annäherung der Dialogpartner in Liebe zur Wahrheit und gegenseitiger Wertschätzung, in ehr-

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licher und sprachlich korrekter Weise unter Achtung der „Hierachie der Wahrheiten“ (UR 11) vollzieht. Hatte man anfangs noch mit dem Gedanken an eine Rückkehr-Ökumene geliebäugelt, wurde spätestens mit der Rede des Erzbischofs von Görz, Andrea Pangrazio, mit dieser, erst im letzten Moment vor der Promulgation in das Dekret eingefügten Wendung aus einer „glaubenspsychologischen-pädagogischen Deutung der hierarchia veritatum, die die ,getrennten Brüder‘ nur mit Entrüstung hätten zurückweisen können, […] eine objektiv-theologische Deutung“9, die es, entgegen einer rein quantitativen Aufzählung der außerhalb der römisch-katholischen Kirche existierenden ekklesialen Elemente, vor allem auf das gemeinsame christliche Fundament aller Christen in Jesus Christus ankommen lassen wollte. Die Konzilsväter waren überzeugt, dass analog zur Hierarchie der göttlichen Gebote, die in ihrer Geltung nach einer werthaften Unterscheidung verlangen, auch die Wahrheiten der katholischen Lehre nicht undifferenziert auf einer Stufe stehen, sondern eine heilige Rangordnung dogmatischer Lehrsätze bilden, je nach ihrer zentralen oder weniger zentralen Bedeutung und Wichtigkeit für den Glauben. Für das ökumenische Bestreben im Zugehen auf die Einheit heißt dies, dass es nicht darum gehen kann und muss, in allen Fragen einen Konsens zu erzielen, sondern, dass es „zur Wiederherstellung oder Erhaltung der Gemeinschaft und Einheit notwendig [ist], ,keine Lasten aufzuerlegen, die über das Notwendige hinausgehen‘ (Apg 15,28)“ (UR 18).

4. Die getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften Zum Schluss richten die Konzilsväter ihren Blick im dritten und letzten Teil des Ökumenismusdekrets auf die beiden großen Kirchenspaltungen mit den „Orientalischen Kirchen“ sowie den „Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften im Abendland“. Ohne eine Unterscheidung zwischen den nicht-chalcedonischen bzw. den altorientalischen Kirchen des Ersten Jahrtausends und den Orthodoxen Kirchen nach dem Morgenländischen Schisma von 1054 vorzunehmen, würdigt das Konzil im Abschnitt über die Orientalischen Kirchen in positiver Form das „ganze geistliche und liturgische, disziplinäre und theologische Erbe“, das „zur vollen Katholizität und Apostoliziät gehört“ (UR 17) und stellt damit fest, dass es sich bei diesen Kirchen wahrhaft um Kirchen im ekklesiologischen Sinne handelt. Es ist diese enge Verbindung zwischen Ost- und Westkirche, die eine „gewisse Gottesdienstgemeinschaft […] nicht nur möglich, sondern auch ratsam“ (UR 15) erscheinen lässt. Fruchtbar war diese Anregung des Konzils, die sich ausführlich nochmals in Nr. 26 bis 29 des Ostkirchendekretes findet, aber nicht. Die 1969 mit dem Patriarchat von Moskau getroffene Übereinkunft zur Zulassung der Glieder beider Kirchen zum gegenseitigen Empfang der Sakramente der Eucharistie, Buße und Krankensalbung wurde schon 1986 von Moskau wieder aufgehoben.10 Nicht ohne Kritik blieb auch die im Ökumenismusdekret enthaltene Formulierung über die auch den Orientalischen Kirchen anhaftenden Mängel und die Behauptung einer „Trennung recht großer Gemeinschaften von der vollen Gemeinschaft der katholischen Kirche“ (UR 3). Zur „ganzen Fülle der Heilsmittel“ (ebd.) fehle diesen Kirchen im Letzten

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noch die Verbindung zu dem für die Kirche konstitutiven Element des Petrusdienstes. Darin aber besteht, wie Paul VI. wusste, „das schwierigste Problem auf dem Weg des Ökumenismus“11, das es noch gemeinsam zu lösen gilt. Kaum zu positiven Ergebnissen hat auch der im Ostkirchendekret (vgl. Nr. 24 OE) enthaltene und in c. 903 CCEO / 1990 berücksichtigte Auftrag des Konzils an die katholischen Ostkirchen zu einem Dialog mit den getrennten Orientalischen Kirchen geführt. Denn gerade sie sehen sich in der orthodoxen Welt dem Vorwurf der Abspaltung und des Uniatismus ausgesetzt. Nicht weniger problematisch erscheint daneben auch Nr. 25 OE, der in orthodoxen Augen den Verdacht des Proselytismus erweckt hat. Soll die Annäherung zu den orthodox-orientalischen Kirchen weitergehen, wird es auch darauf ankommen, das Verhältnis der lateinischen Kirche zu den katholischen Ostkirchen zu verbessern, sich für ihren Reichtum zu öffnen und auch deren eigene Traditionen anzuerkennen. Was ist beispielsweise geworden aus der Behauptung Kardinal Ratzingers, es dürfe „vom Osten nicht mehr an Primatslehre“ gefordert werden, „als auch im ersten Jahrtausend formuliert und gelebt wurde“?12 Weitaus schwieriger gestaltete sich die Verhältnisbestimmung zu den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die aus der Reformation hervorgegangen waren. Bereits die Überschrift dieses Abschnitts zeugt von der sachlichen Schwierigkeit einer Ausdifferenzierung dieser Gemeinschaften. Obwohl zunächst unklar war, inwieweit man von nichtkatholischen Gemeinschaften überhaupt als ,Kirche‘ sprechen konnte, plädierten die Konzilsväter auf Anraten Kardinal Königs, entgegen eines rein juridischen Kirchenbegriffs und unter Würdigung aller ekklesialen Elemente außerhalb der römisch-katholischen Kirche, bewusst für die Bezeichnung als Kirchen und kirchliche Gemeinschaften, um damit einerseits dem je eigenen Selbstverständnis dieser Gemeinschaften Rechnung zu tragen, andererseits kein Mitglied des Ökumenischen Rates der Kirchen auszublenden. Aber diesen Gemeinschaften, die „die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit (substantia) des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben“ (UR 22), haften ebenfalls Mängel an, wie die Konzilsväter formulierten. Bei allen situativen und positionellen Differenzen auch innerhalb der reformierten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften sowie der weitaus größeren Schwierigkeit, zur Einheit zu finden als dies zwischen römischer Kirche und den orientalischen Kirchen möglich erscheint, wird, neben der Frage nach dem Petrusdienst, dem Kirchenverständnis und der Katholizität und Apostolizität der Kirche, „die Lehre vom Abendmahl des Herrn, von den übrigen Sakramenten, von der Liturgie und von den Dienstämtern der Kirche notwendig Gegenstand des Dialogs sein“ (ebd.). Um die Tatsache der Existenz kirchlicher Elemente außerhalb der römisch-katholischen Kirche nicht ins Leere laufen zu lassen, differenzierten die Konzilsväter die zuletzt in Mystici corporis gebrauchte Formulierung, die römische Kirche sei (est) die Kirche Jesu Christi. Mit der Aussage, die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche des Glaubensbekenntnisses subsistiere in der katholischen Kirche (subsistit in), d. h. sei in ihr verwirklicht (vgl. LG 8), hoben die Konzilsväter die Vorstellung der einen, real und konkret existierenden Kirche Christi in der Welt nicht auf, erkannten gleichsam aber an, dass es auch jenseits der Grenzen der römisch-katholischen Kirche christliche Gemeinschaften

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mit eigenen Traditionen gibt, in denen die eine Kirche Jesu Christi aufgehoben und gegenwärtig ist und Menschen „nicht, wie bisher allgemein gedacht, trotz ihrer Mitgliedschaft in den nicht-katholischen Kirchen, sondern in ihnen“13 zum Heil gelangen.

5. Wie geht es weiter? „Quanta est nobis via?“14, so mag man heute, 50 Jahre nach Promulgation des Ökumenismusdekrets mit Papst Johannes Paul II. fragen und zugleich jenen sehnsuchtsvollen Schmerz nach Einheit verspüren, der schon damals die Herzen der Menschen ergriff. Auch wenn die Konzilsväter nicht alle Fragen zu beantworten wussten und uns den noch zu gehenden Weg nicht detailgetreu vorzeichneten – „das Dekret war nicht als abschließende Erklärung, sondern eher als Botschaft konzipiert worden“15 –, haben sie uns doch zu einem Aufbruch und neuer Hoff nung ermutigt. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die römisch-katholische Kirche zu einem Sinnenswandel bewegt, sich konstruktiv am geschwisterlichen Dialog der Konfessionen zu beteiligen. Von Bedeutung dafür war nicht nur das Ökumenismusdekret, sondern auch die anderen, eingangs genannten Konzilsdokumente. Kurz vor, während und im Anschluss an das Konzil hat es immer wieder brüderliche Gesten der Versöhnung gegeben. Was folgte waren unzählige Ökumenische Arbeitskreise und Gemeinsame Konvergenzerklärungen und Konsensdokumente, die mittlerweile eine Fülle erreicht haben, die kaum ein einzelner Theologe noch zu überblicken vermag. Viel Gutes und Heilvolles ist bereits erreicht worden auf unserem gemeinsamen Weg und doch hinterlässt das Ökumensimusdekret auch 50 Jahre nach seiner Promulgation noch viele offene Fragen. Dabei scheint der nun erreichte „Wendepunkt“16 die Ökumene in eine Sackgasse zu führen, an deren Ende uns, trotz der zahlreichen Gespräche und Konsenspapiere der vergangenen Jahrzehnte und des damit verbundenen Fortschreitens im interkonfessionellen Dialog, in einem Spiegel, den wir hinter dem Erreichten erblicken, immer wieder das fratzenhafte Lächeln eines zweiten, janusköpfigen Gesichtes entgegen grinst. Es sind die unterschiedlichen konfessionellen Vorstellungen von der zu erzielenden Einheit17 und eigenartige Lesarten der konziliaren Dokumente, die den Weg in die Zukunft zusehends erschweren. Trotz Überwindung bestehender Missverständnisse und den Divergenzen in gewissen Fragen, machen uns gerade die komplexen Kernfragen wie beispielsweise jene nach dem gemeinsamen Herrenmahl, nach dem Wesen der Kirche und ihrer Ämter, nach dem Papstamt bzw. Petrusdienst deutlich, dass der gemeinsame Weg zur sichtbaren Einheit noch einen weiten und anstrengenden Marsch von uns verlangt. Hinzu kommen einerseits die beiden Erklärungen der Glaubenskongregation aus den Jahren 2000 und 200718, die aufgrund ihrer Aussagen, die Kirchen und Kirchlichen Gemeinschaften, die aus der Reformation hervorgegeangen sind, seien nicht Kirchen im eigentlichen Sinn sowie ihrer Bekräft igung der unsanften Aussage des Ökumenismusdekretes, auch den Orthodoxen Kirchen hafteten immer noch Mängel an (vgl. UR 3), andererseits unglückliche Äußerungen auf protestantischer oder orthodoxer Seite, die auf

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katholischer wie nichtkatholischer Seite gleichermaßen immer wieder zu erheblicher Ernüchterung geführt haben. Gewisse kirchliche Kreise erwecken zuweilen immer wieder auch den Eindruck, es gehe weniger um eine zu erstrebende Wiederherstellung der Einheit und um ein Niederreißen aller bestehenden Grenzen, als vielmehr um ein zwecks eigener Profi lierung und Abgrenzung notwendiges Wiederaufrüsten und verstärken jener Mauer, von der anfangs die Rede war. Um der Bitte des Herrn, von der sich das Konzil leiten ließ, „dass alle eins seien“ (Joh 17,21), wirklich gerecht zu werden und es nicht bei dem bestehenden konfessionellen ,Bratkartoffelverhältnis‘ bewenden zu lassen, bedarf es auch weiterhin eines großen Maßes an Mut für das Ungewisse, Mut, „um aus der Mitte der Kirche alles zu entfernen, was nicht evangelisch ist, alles Allzumenschliche, allen Staub, der sich im Laufe der Jahrhunderte angesammelt hat. Wir müssen den Mut haben, über die Wasser zu gehen und Hindernissen zu begegnen, die schwierig zu bewältigen oder gar unüberwindlich scheinen.“19 Zweifellos sind „nicht gedeckte Schecks in der Ökumene besonders gefährlich, weil nach ihrer Entlarvung die Enttäuschung bei den Menschen besonders groß ist.“20 Dennoch darf die tatkräftige Förderung dessen, was eint, nicht abbrechen, jenes zugleich aber, was trennt, nicht auf künstliche Weise überbewertet werden. Nur wenn wir es wagen, den begonnenen Dialog par cum pari, „auf der Ebene der Gleichheit“ (UR 9), „ohne Unterordnung unter ein einziges Verwaltungsschema“21, wie es der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel gefordert hat, fortzusetzen und die Einheit immer wieder voll tatkräft iger Liebe und im Gebet und in der Wahrheit zu erstreben, d. h. ausdauernd, beharrlich und mutig, wird eines Tages wahrlich ein neuer Morgen anbrechen, der uns die sichtbare Einheit der Kirche vor Augen stellt, die wiederherzustellen uns das Konzil ermutigt, ja verpflichtet hat und werden wir „das eigentliche Ziel aller ökumenischen Bemühungen“, „den Plural der voneinander getrennten Konfessionskirchen in den Plural von Ortskirchen umzuwandeln, die in ihrer Vielgestaltigkeit real eine Kirche sind“22, erreichen.

Anmerkungen 1 Ansprache von Papst Johannes XXIII. Zur Ankündigung einer Diözesansynode für Rom und des ökumenischen Konzils am 25. 1. 1959, in: Herder Korrespondenz 13 (1958 / 59), 387–388. 2 Jedin, H.: Kleine Konzilsgeschichte. Mit einem Bericht über das Zweite Vatikanische Konzil. Freiburg (81978), 104, 3 Vgl. Alberigo, G. u. K. Wittstadt (Hrsg.): Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959– 1965). Bd. I. Mainz–Leuven (1997), 20 ff. 4 Ansprache von Papst Johannes XXIII. (s. Anm. 1). 5 Moorman, J., epd 14. 11. 1962, zitiert nach: Herder Korrespondenz 17 (1962 / 63), 157. 6 Kasper, W.: Kircheneinheit und Kirchengemeinschaft in katholischer Perspektive. Eine Problemskizze. In: Hillenbrand, K. u. H. Niederschlag (Hrsg.): Glaube und Gemeinschaft (FS P.-W. Scheele). Würzburg (2000), 102. 7 Vgl. Johannes XXIII. Ad petri cathedram, Nr. 2, 3, 31 ff.

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8 Rahner, K. u. H. Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums mit Einführungen und ausführlichem Sachregister. Freiburg–Basel–Wien (1966), 218. 9 Pesch, O. H.: „Hierarchie der Wahrheiten“  – und die ökumenische Praxis. In: Concilium 37 (2001) 298–211: 302. 10 Vgl. Gahbauer, F.: Das Dekret über die katholischen Ostkirchen. In: Bischof, F. X. u. S. Leimgruber: Vierzig Jahre II. Vatikanum. Zur Wirkungsgeschichte der Konzilstexte. Würzburg (2004), 98–116: 113. 11 Ansprache Pauls VI. bei der Jahresversammlung des Sekretariats für die Einheit der Christen (28. 4. 1967), ISPCU 2 (1967), 4 f. 12 Vgl. Ratzinger, J.: Prognosen für die Zukunft des Ökumenismus. In: Pro Oriente 4: Ökumene, Konzil, Unfehlbarkeit. Innsbruck u. a. (1979), 212. 13 Pesch, O.-H.: Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Nachgeschichte. Würzburg (2001), 234; Vgl. Johannes Paul II.: Enzyklika Ut unum sint über den Einsatz für die Ökumene (1995), Nr. 11. 14 Johannes Paul II., (Anm. 13), Nr. 25. 15 Vischer, L.: 40 Jahre nach Konzilsende – Ökumenische Anfragen an Unitatis redintegratio. In: Hünermann, P.: Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen der Zeit heute, 417–426: 417. 16 Kasper, W.: Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe. In: Pulsfort, E. u. R. Hanusch: Von der gemeinsamen Erklärung zum gemeinsamen Herrenmahl? Perspektiven der Ökumene im 21. Jahrhundert. Regensburg (2002), 217–238: 233. 17 Vgl. Hintzen, G. u. W. Thönissen: Kirchengemeinschaft möglich? Einheitsverständnis und Einheitskonzepte in der Diskussion. Paderborn (2001). 18 Vgl. Erklärung Dominus Iesus: Über die Einigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche, Rom (2000); Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche, Rom (2007). 19 Suenens, L.-J. In: de Broucker, J.: Das Dossier Suenens. Diagnose einer Krise. Graz u. a. (1970), 224. 20 Lehmann, K.: Was bedeutet Ökumene der Profi le? In: Brosseder, J. u. M. Wriedt: Kein Anlass zur Verwerfung: Studien zur Hermeneutik des ökumenischen Gesprächs. (FS Pesch). Frankfurt a. M. (2007), 411–421: 413. 21 Ansprache des Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. am 29. 4. 2004, 9. 22 Ratzinger, J.: Luther und die Einheit der Kirchen. Ein Gespräch mit der Internationalen Zeitschrift ,Communio‘. In: Ders.: Kirche, Ökumene und Politik. Neue Versuche zur Ekklesiologie. Einsiedeln (1987), 97–115: 114.

Walter Fleischmann-Bisten

Das Zweite Vatikanische Konzil aus evangelischer Sicht

Walter Das Zweite Vatikanische Konzil ausFleischmann-Bisten evangelischer Sicht

Bekanntlich sind Vergleiche in der Geschichte immer ein Problem. Aber ich wage trotzdem die Behauptung: So wie die ersten 50 Jahre nach 1517 bzw. nach 1530 die westliche Kirche durch die Reformation entscheidend verändert haben – u. a. dadurch, dass auch die römisch-katholische Kirche als Konfessionskirche entstanden ist –, so stark hat sich diese selbst in den letzten 50 Jahren verändert. Meine Beobachtungen, Ergebnisse und Perspektiven stammen aus evangelischer Sicht. Während eine Fülle von Literatur zu diesem Thema bereits von katholischer Seite aus vorliegt,1 kenne ich nur wenige aktuelle Verlautbarungen aus evangelischer Sicht.2 Ich werde zunächst evangelische Zeitzeugen des Konzils zu ihrem Urteil aus der Zeit vor etwa 50 Jahren befragen.3 Dann werde ich am Beispiel eines evangelischen Memorandums zu zeigen versuchen, dass bis heute das Zweite Vatikanische Konzil keine Lösung für zentrale Kontroversen und die damit verbundenen Probleme für die Ökumene am Ort gebracht hat. Zuletzt werde ich thesenartig eine persönliche Zusammenfassung formulieren mit Anregungen für die nötige Weiterarbeit an diesem Themenkomplex.

1. Das Konzil aus der Sicht evangelischer Zeitzeugen 1.1 Karl Barth: Konversion zu Christus – nicht zu einer anderen Kirche Der Schweizer Theologe Karl Barth (1886–1968) hat sich für die römisch-katholische Kirche (wie er im Alter schrieb) schon „von jeher interessiert“. Da er gesundheitsbedingt der Einladung aus dem Vatikan, als persönlicher Beobachter an den beiden letzten Konzilssessionen teilzunehmen, nicht folgen konnte, hat er auf dem „Krankenlager außer Goethe, Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller und anderen guten Autoren“ die Konzilstexte und Nachrichten dazu zur Kenntnis genommen. Daraus entstand dann „schlussendlich“ ein einwöchiger privater Aufenthalt in Rom mit Gesprächen bei kurialen Behörden, mit Kardinälen und Theologieprofessoren  – und mit einer Audienz bei Papst Paul VI. In einer seiner letzten Veröffentlichungen hat Barth die Ergebnisse dieser durch eine Auflistung von „Verständnisfragen“ und „Kritische(n) Fragen“ gut vorbereiteten Reise festgehalten: Ad limina Apostolorum – zu den Apostelgräbern. Persönlicher und freundlicher als früher beschreibt er darin sein Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche und hält seine Ein-

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schätzung über deren Entwicklung durch das Konzil so fest: Durch eine Erneuerung in der „Gestalt von ,Konversion‘ – nicht zu einer anderen Kirche, sondern zu Jesus Christus, dem Herrn der einen katholischen und apostolischen Kirche“ sei man gestartet.4 Schon 1963 hatte Barth daher einen katholischen Religionslehrer vor einer Konversion zum Protestantismus gewarnt, weil durch Papst Johannes XXIII. das Papsttum „ein überraschend neues Gesicht bekommen“ und damit eine neue Epoche begonnen habe. Trotz der verschiedenen älteren und neueren Dogmen bezeichnet Barth „die gegenwärtige Lage im römischen Katholizismus“ als nicht „aussichtslos“. Im Gefolge des Konzils dürfte es „zu wichtigen inneren Wandlungen kommen“, die es „wohl als aussichtsreich erscheinen lassen könnten, gerade als römisch-katholischer Christ dabeizusein“.5 Es ist auff ällig, dass Karl Barth in seinem offiziellen Konzilsrückblick vorsichtiger formuliert als in Briefen an Freunde und Kollegen. So vermeidet er es, in Ad liminia apostolorum die Entscheidungen des Ersten Vatikanischen Konzils kritisch zu hinterfragen und kommt zu dem Ergebnis, der Papst sei nicht mehr der „Antichrist“ und er fährt vorsichtig fort: „Alle Optimismen im Blick auf die Zukunft verbieten sich von selbst.“ 6 An anderer Stelle bilanziert er sogar fast prophetisch, der nachkonziliare Katholizismus könne sich in die richtige Richtung hin entwickeln, da er auf eine Lehre von der „Vorherrschaft der Heiligen Schrift in Kirche und Theologie“ tendiere.7 Gegenüber seinem Freund Ernst Wolf macht er deutlich, dass ihn vor allem die vor der Romreise eigens zugesicherte „Diskretion“ daran gehindert habe, in größerer Offenheit zu berichten.8 Am deutlichsten wird er in einem Schreiben an Edmund Schlink und warnt ganz nüchtern und in fast schon ironischer Diktion vor allzu großen Hoffnungen auf Veränderungen, denen ein „nach wie vor solenn in Kraft“ stehender Dogmenkomplex entgegensteht: „Natürlich können sie nichts von dem von früheren Päpsten und Konzilien Proklamierten zurücknehmen. Sie haben aber nach dem, was ich von ihnen weiß und neulich in Rom in den verschiedensten Gremien bestätigt fand, die wunderbare Fähigkeit, diese ehrwürdigen Reliquien entweder (1) bis zur Unkenntlichkeit zu deuten, oder sie (2) an den Rand dessen, was sie jetzt eigentlich denken und sagen wollen, zu schieben, oder sie (3) nur eben mit tiefen Verbeugungen zu kommemorieren, oder endlich (4) sie ebenso feierlich zu beschweigen.“9

1.2 Edmund Schlink: Aufbruch gebremst – Visionen bleiben Der EKD-Konzilsbeobachter Edmund Schlink (1905–1984)10 erkannte rasch den Einfluss der progressiven und konservativen Konzilsväter, der sich in den Ergebnissen des Konzils niederschlug. Er spricht von einer eigentümlichen Dialektik in den Konzilsdokumenten, wo „dem Verständnis der Kircheneinigung als wechselseitiger Versöhnung“ unvermindert „der Anspruch auf Unterordnung der nichtrömischen Kirchen unter das Papsttum gegenüber“ stehe. Das Selbstverständnis Roms „als der allein wahren Kirche wurde wieder stärker betont“ und der ökumenische Aufbruch wurde „von manchen sogar für eine Gefährdung der römischen Kirche gehalten“ – sehr zum Schaden für die „Glaubwürdigkeit der Kirche vor der Welt“.11

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Schlink verortet die von ihm erhoffte neue dogmatische Position des Papstamtes mit Hilfe des vom Konzil im Ökumenismusdekret geprägten Begriffs von der „Ordnung bzw. ,Hierarchie‘ der Wahrheiten der katholischen Lehre“ (UR 11). Während dort keine untergeordneten Wahrheiten benannt sind, sondern „Wahrheitsliebe, Liebe und Demut“ als Leitbegriffe des ökumenischen Dialogs, unterscheidet Schlink selbst folgende fünf Rangstufen: Trinität, Christologie, Gottes Heilstaten in Wort und Sakrament, die kirchlichen Ämter der Ortskirchen und zuletzt das Papstamt. Erst nach einem Konsens über die Anerkennung der kirchlichen Ämter im Allgemeinen sei eine Übereinstimmung in der Frage eines universalen Leitungsamtes zu erwarten.12 Einen möglichen Zugang dazu sieht Schlink bei der erhofften „Buße des Papstes“, was er in seinem originellen Büchlein „Die Vision des Papstes“ zunächst unter dem Pseudonym „Sebastian Knecht“ entfaltet hat.13 Mit dieser visionären Erzählung weist Schlink zunächst auf die unveränderte Macht des Papstes und der Kurie hin. Dazu erfi ndet er aber einen charismatischen Papst, der in ökumenischer Unruhe die anderen Kirchen kennenlernen will, an deren Gottesdiensten inkognito teilnimmt und entgegen aller Verhinderungstaktik des Vatikans zu einer Wiedervereinigungsfeier auf die Insel Patmos einlädt. So gelangt Schlink auch im Gegenüber zur Methode der bisherigen Konfessionskunde in seiner ökumenischen Dogmatik zu folgender Strategie: Die Konfessionen sollen nicht mehr vom Standpunkt der eigenen Konfession aus vergleichend gesehen werden, sondern sich und die anderen am Christuszeugnis messen lassen. D. h. für ihn in der Ökumene jene kopernikanische Wende zu vollziehen, weg von den konzentrischen Kreisen, in denen das Konzil das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zu den anderen Kirchen und Gemeinschaften beschrieben hatte.14 Es muss auch erinnert werden, dass Schlinks Beurteilung der Konzilsergebnisse freilich Eingang in seinen ausführlichen Bericht fand, den er bei der EKD-Synode 1966 in BerlinSpandau hielt – zeitgleich zum Bericht Ulrich Kühns (1932–2012) vor der Synode der östlichen Gliedkirchen in Potsdam-Babelsberg.15 Das Schlüsselwort Aggiornamento war für Schlink „mehr als nur die Anpassung an die veränderte Umweltsituation“, sondern auch ein neues Fragen nach Gottes Auftrag für seine Kirche in der Gegenwart. Das vom Konzil übernommene reformatorische Leitbild ecclesia semper reformanda meinte „etwas anderes als in den Reformationskirchen selbst“. Denn im Unterschied zur Reformation des 16. Jahrhunderts habe sich die römisch-katholische Kirche auf dem Konzil „nicht einer umfassenden Kritik durch die geschichtliche apostolische Botschaft  … unterworfen, sondern ihre dogmatischen, kirchenrechtlichen und anderen Traditionen davon im wesentlichen ausgenommen“. Denn die vom Konzil erstmals umfassend formulierte Ekklesiologie habe in einer systematischen „Strenge den Abstand zwischen der römischen Kirche und den Reformationskirchen sogar vermehrt“. Auch wenn das Konzil kein neues Dogma kreiert habe, wurden doch das Unfehlbarkeitsdogma von 1870 und die Mariendogmen von 1854 und 1950 ausdrücklich bestätigt. Und selbst das insgesamt wegen der klaren „Zuwendung zu den anderen Kirchen“ zu würdigende Ökumenismusdekret lasse deutlich die Differenz zu den Einheitsmodellen der Kirchen erkennen, die im Weltkirchenrat zusammengeschlossen seien. Im Ergebnis kommt Schlink zu folgender Einschätzung:

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앫 Das Konzil müsse „auch als kritische Frage“ an die Adresse der evangelischen und anderen Kirchen verstanden werden. Der durch die Konzilsdebatten und Schlussabstimmungen erreichte „differenzierte und nunmehr als verpflichtet geltender Konsensus“ sei vorbildlich für theologische Klärungsprozesse. 앫 Ernstzunehmen sei eine in Teilen des Protestantismus spürbare Angst, „von der römischen Kirche erdrückt zu werden und in ihrer ökumenischen Umarmung zu ersticken“. Es sei aber gerade deshalb die Pflicht der Kirchen der Reformation, das Trennende und Gemeinsame klar zu benennen, da sonst „der besondere Auft rag der Reformationskirchen an der übrigen Christenheit nicht verwirklicht werden“ könne. 앫 Durch das Konzil sei trotz der nüchternen inhaltlichen Beurteilung der einzelnen Dokumente eher eine „Erneuerungsbewegung“ ins Rollen gekommen, „die weiter reicht als die einzelnen Beschlüsse“ selbst. Schlinks Position wird dann auch in der Entschließung der EKD-Synode vom 18. März 1966 deutlich.16 Darin findet sich eine deutliche Kritik an der vom Konzil ja selbst noch nicht veränderten Mischehenpraxis, der Wunsch der Synode zum regelmäßigen Austausch zwischen EKD und DBK und der Aufruf zu einem intensiven Studium der Konzilstexte, deren Inhalt mit Lehre und Ordnung der evangelischen Kirchen und den Beschlüssen des Ökumenischen Rates der Kirchen verglichen werden soll.

1.3 Gottfried Maron – Der Katholizismus ist evangelischer, katholischer und römischer geworden Der Kirchenhistoriker und Konfessionskundler Gottfried Maron (1928–2010) gehörte als Konzilsberichterstatter zu den profunden Kennern des Katholizismus in Geschichte und Gegenwart.17 Schon seine „grünen Briefe aus Rom“ hatten ihn weit über den deutschen Protestantismus hinaus bekannt gemacht.18 Er hat oft darauf hingewiesen, dass infolge der Dogmen von 1870 nicht mehr mit einem Konzil der römisch-katholischen Kirche gerechnet werden konnte. Deshalb hat er eindrucksvoll die charismatische Gestalt Papst Johannes’ XXIII. und dessen Ankündigung und Eröffnung eines pastoralen Konzils vor Augen geführt.19 In einer schon 1966 erschienenen Analyse machte er deutlich, weshalb aus seiner Sicht durch das Konzil der Katholizismus zugleich evangelischer, katholischer und römischer wurde.20 Evangelischer vor allem deshalb, weil das Konzil der Bibel und deren Bedeutung im gottesdienstlichen Leben Bereiche geöff net habe, die durch die Katholische Reform und Maßnahmen der Gegenreformation „mehr oder weniger ferngerückt und verschlossen“ waren. Dazu zählen die Öff nung zu biblisch geprägter Frömmigkeit, der Aufruf zur Bibellektüre und die neue Stellung der Bibel im Gottesdienst, der sich durch die Landessprache und biblisch orientierte Predigten veränderte. Hinzu kommt die Öffnung zur ökumenischen Christenheit und die „Anerkennung der getrennten Gemeinschaften als kirchliche“, was für Maron „um der Christlichkeit der römischen Kirche willen“ unumgänglich war. Schließlich werden die neue Sicht der Laien und das biblische Verständnis der Kirche als

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Volk Gottes genannt. Das reformatorische Prinzip ecclesia semper reformanda gelte aber nicht in dem Sinne, dass sich die Kirche „ständig reinigen und auf ihren Ursprung besinnen“ müsse; vielmehr sei damit verbunden: „die Kirche darf sich nicht verhärten und auf einem Punkt still stehen, sie muß ständig weiterwachsen und für jede Entwicklung offen sein.“21 Als Beispiele dafür, dass das Konzil den Katholizismus „katholischer“ gemacht habe, erinnert Maron zuerst an die liturgische und theologische Vielfalt, wie sie schon bei den „in allen nur möglichen Riten“ zelebrierten Konzilsgottesdiensten spürbar wurde, „um auf diese Weise die gottesdienstliche Katholizität der römischen Kirche sinnenfällig vor Augen zu führen“. Das entsprechende Dekret über die katholischen Ostkirchen habe dies bestätigt. Dann zählen in diese Kategorie für Maron das Verständnis der Kollegialität im Bischofsamt, der Blick auf die anderen Religionen mit der Errichtung eines eigenen Sekretariats und einer entsprechenden Erklärung des Konzils mit neuen Akzenten in der Missionsarbeit und Wahrnehmung der vielfältigen Probleme der „Dritten Welt“. Maron macht deutlich, dass diese „neue Katholizität“ „nicht vom Himmel gefallen“ sei, sondern vom Konzil damit die theologischen Aufbrüche gewürdigt und legitimiert wurden, die von Vertretern des Reformkatholizismus und Modernismus seit etwa 1900 entwickelt worden waren.22 Dass aber „eine solche Erhebung des katholischen Gesamtbewußtseins“ auf dem Konzil gelingen konnte, hängt für Maron an zwei Tatsachen, die nun ihrerseits erkennen lassen, dass der Katholizismus auch römischer geworden sei: Einmal an der Akzeptanz des Dogmas von der leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel (1950), „das nicht primär aus Schrift und Tradition, sondern aus dem lebendigen Glaubensbewußtsein der Gesamtkirche erhoben worden ist“ und zweitens an der unbestrittenen Geltung des Unfehlbarkeitsdogmas von 1870. Nur die Anerkennung der theologischen und kirchenrechtlichen Vorrangstellung des Papstamtes ermöglichte „gleicherweise auch eine größere Lockerheit und bessere Gewichtsverteilung“: Das beim Konzil vorherrschende „kollegial-synodale Prinzip“ konnte praktiziert werden, weil kein Zweifel mehr darüber bestand, dass „diese Kollegialität primatial abgesichert ist“. Ebenso konnte der Verlust des Kirchenstaates „als Gewinn gebucht werden“, da Rom als geistliches Weltimperium nicht mehr nur Zentrum der kirchlichen Organisation und Verwaltung war, „sondern der Einheitspunkt einer universalen katholischen Kirche“. Der Auft ritt Papst Pauls VI. vor der UNO machte vor aller Welt deutlich, dass Rom inzwischen der Inbegriff für das Humanum schlechthin wurde, „vor allem in einer breiten Öffnung hin zur modernen Welt“. Nur so gelang es dem Konzil, keine neuen Dogmen oder Verdammungen auszusprechen, sondern mit der Aussöhnung zwischen dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel und Rom „eine fundamentale Verschiebung hin zur Einheit“ zu vollziehen. Primär war nicht die Frage nach der Wahrheit, sondern „die Frage nach der Einheit in Mannigfaltigkeit“.23 Aus seiner gründlichen Analyse der Konzilstexte, die er immer mit der Gesamtsicht eines neu positionierten Katholizismus verbindet, kommt Maron letztlich zu einem kritischen Urteil: Das Konzil habe „das System der Katholizität vervollkommnet und weiter ausgebaut“, aber dabei dem Evangelium nicht „den ihm zukommenden Platz verschafft“

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und „zur Herrschaft verholfen“. Vor allem in der Offenbarungskonstitution zeige sich eine, wenn auch veränderte „Stellung der Heiligen Schrift im katholischen System“. Denn: „Weniger als jemals hat die römische Kirche die Hl. Schrift in reformatorischem Sinne als kritisches Gegenüber und als Norm für ihre Lehrentwicklung anerkannt.“24

2. Mehr ökumenische Gemeinschaft? – Bleibende Fragen seit 1980 Im Vorfeld des ersten Deutschlandbesuchs Papst Johannes Pauls II. 1980 haben Reinhard Frieling (Jg. 1936) und Martin Stöhr (Jg. 1932) unter dem Titel „Mehr ökumenische Gemeinschaft“ ein Memorandum verfasst, dem von zahlreichen evangelischen Persönlichkeiten aus Akademien, Universitäten, Fachhochschulen, Publizistik und kirchlichen Verbänden zugestimmt wurde.25 Darin wurden genau 15 Jahre nach dem Ende des Konzils diejenigen Anfragen und Forderungen an die römisch-katholische Kirche formuliert, von denen man bis dahin vergeblich eine Antwort aus Rom erwartete und als Frucht der nachkonziliaren Lehrentscheidungen erhofft hatte. Für die heutige Beurteilung des Konzils aus evangelischer Sicht greife ich im Folgenden die Themen heraus, die bis heute trotz zahlreicher zwischenkirchlicher Verständigungsbemühungen und Lösungsvorschläge in ökumenischen Dialogpapieren keine Erleichterungen für die Ökumene am Ort gebracht haben und in konfessionskundlicher Sicht die Existenz (auch unterschiedlicher) reformatorischer Kirchen neben der römisch-katholischen Kirche erklären. Unter den Überschriften „Gemeinschaft im Glauben“ und „Gemeinschaft mit, nicht unter dem Papst“ (Nr. 2–10) wird an die Bedeutung der „Übereinstimmung in zentralen Glaubenswahrheiten“ im „Land der Reformation“ erinnert. Gewürdigt werden entsprechende Äußerungen des Papstes zum 400. Jahrestag der Übergabe der Confessio Augustana im Jahr 1980 und der in ökumenischer Verbundenheit mögliche und nötige Einsatz „für Gerechtigkeit und Versöhnung, für Liebe und Freiheit, für Menschenwürde und Frieden“. Kritisiert wird, dass „der Papst und seine Behörden Voten der Gemeinsamen Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland ablehnten“, die man „als Früchte des ökumenischen Dialogs“ erkannt habe, und ebenso der Entzug der Lehrerlaubnis für Hans Küng. Immerhin hatte die „Würzburger Synode“ (1975) eine Einigung der Konfessionen in der Weise für möglich gehalten, dass „eine Kirche die Tradition der andern als zulässige Entfaltung der Offenbarung respektieren und anerkennen kann, auch wenn sie diese für sich selbst nicht übernehmen will“ (Nr. 4). Im Blick auf die damals innerkatholische Euphorie um eine Erneuerung des Papstamtes wurde zum Ausdruck gebracht, dass es schon „jenseits der Alternative ,Unterwerfung unter den Papst‘ oder ,Abschaff ung des Papsttums‘ durchaus Ansätze zu einer Verständigung gibt“. Im Blick auf die Lehrentscheidungen des Ersten Vaticanums wurde gefragt, ob der Papst um der kirchlichen Einheit willen „nicht auf historisch gewachsene Rechte verzichten und eine ökumenische Entwicklung einleiten“ könne, die „von den nicht-römisch-katholischen Christen keine Anerkennung des Unfehlbarkeitsdogmas und des Jurisdiktionsprimats“ fordern könnte (Nr. 11). Heute weiß man, dass alle ökumenischen Dialogbemühungen letztlich keine positive Antwort dazu

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aus Rom bekommen konnten und alle noch so gut gemeinten Vermittlungsvorschläge scheitern mussten.26 Bei den evangelischen Fragen zum Thema „Gemeinschaft im Gottesdienst“ (Nr. 12–22) ging es um die Genehmigung ökumenischer Gottesdienste „an Sonntagvormittagen zur üblichen Gottesdienstzeit“ und um die Anerkennung der Erfüllung des Sonntagsgebots bei Besuch eines evangelischen oder ökumenischen Gottesdienstes. Bekanntlich hat auch hier das Zweite Ökumenische Direktorium (1993)27 keinen spürbaren Fortschritt gebracht und die in Deutschland seitens der DBK erlassenen Ausführungsbestimmungen können durch die inzwischen tendenziell rigidere Handhabung der Ausnahmeanträge de facto als nur geringer Fortschritt gewürdigt werden. Gleiches gilt für die damals gemachten Vorschläge zu Ausnahmen bei der Gewährung eucharistischer Gastbereitschaft in konfessionsverschiedenen Familien, wofür von verschiedener Seite zuletzt – und leider auch vergeblich – im Zusammenhang des Besuchs Papst Benedikts XVI. im September 2011 neue Weichenstellungen erwartet wurden. Genau so verhält es sich mit der im Abschnitt „Gemeinschaft in der Familie“ (Nr. 23–31) erhobenen Forderung, der Papst möge die Formpflicht für den Bereich der DBK ganz aufheben oder diese „sollte wenigstens eine Generaldispens erlassen, welche die öffentlich-rechtliche Konsensabgabe konfessionsverschiedener Paare als kirchenrechtlich gültig erklärt, sofern keine Ehehindernisse dem entgegenstehen“ (Nr. 27). Nun ist es einerseits richtig: Infolge dieses Memorandums und noch mehr der deutlichen Bitte des damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Eduard Lohse, es möge bald mehr ökumenische Offenheit in der Mischehenfrage, bei ökumenischen Gottesdiensten und bei der Abendmahlsgemeinschaft möglich sein, wurde eine „Gemeinsame Ökumenische Kommission“ (GÖK) eingesetzt. Diese hat mit Hilfe des „Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen“ von 1981 und 1986 die Themen Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Blick auf die Lehrverurteilungen im 16. Jahrhundert und deren heutige kirchentrennende Bedeutung behandelt. Themen wie die Einheit der Kirche oder die katholischen Dogmen des 19. und 20. Jahrhunderts zum Papstamt und zu Maria wurden ausgeklammert. Andererseits steht ebenso fest, dass diese Ergebnisse der GÖK zwar von evangelischen Synoden ratifiziert wurden, nicht jedoch durch den Vatikan wegen einer Reihe grundsätzlicher Bedenken.28 Lediglich der Komplex der Rechtfertigungslehre kam auf abenteuerlichen Umwegen mit der Ratifizierung der „Gemeinsamen Erklärung“ 1999 zu einem guten Ergebnis, wobei auch die erwarteten ökumenischen Konsequenzen insgesamt noch ausstehen.

3. Zusammenfassung und Perspektiven – Sieben Thesen 1. Die Ankündigung und Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils durch Papst Johannes XXIII. war ein unerwarteter Paukenschlag. Er sprach vom Aggiornamento seiner Kirche, wofür er ein großes Fenster geöff net hat. Sein nicht einmal fünf Jahre dauernder Pontifi kat hatte nicht nur erhebliche Folgen für Leben und Lehre des Katholizismus, sondern für die Beziehungen zwischen allen Konfessionsfamilien.

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2. Mit den 16 Konzilstexten ist der römische Katholizismus zugleich evangelischer, katholischer und römischer geworden. Dieser These des Konzilsberichterstatters Gottfried Maron ist auch heute voll und ganz zuzustimmen. Jedoch mit dem Hinweis, dass es nicht nur während des Konzils selbst, sondern auch danach immer wieder Versuche evangelischer- und katholischerseits gegeben hat, die auf Kompromissen beruhenden Lehrentscheidungen des Konzils einseitig auszulegen. Allein dadurch mussten eine Reihe ökumenischer Erwartungen und Hoffnungen unerfüllt bleiben. Heute besteht die Gefahr, dass die in 50 Jahren mühsam erreichten ökumenischen Fortschritte bald nicht mehr als Früchte erkennbar sein könnten. 3. Eine Analyse der Kirchenkonstitution und des Ökumenismusdekrets macht den ökumenischen Aufbruch durch das Konzil deutlich, aber auch die klaren Grenzen des damit neuen römischen Ökumenemodells. Das 40 Jahre alte evangelische Ökumenemodell der Leuenberger Konkordie (1973) ist mit den ökumenischen Einheits- und Zielvorstellungen Roms nicht kompatibel. 4. Das Ringen um die Auslegung der Konzilstexte macht deutlich, dass immer wieder konservative Kräfte innerhalb der römisch-katholischen Kirche versuchen, den ökumenischen Fortschritt zu bremsen. Der umstrittenen Ratifizierung der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (1999) durch den Lutherischen Weltbund und Rom folgte nicht von ungefähr ein Jahr später die vatikanische Erklärung Dominus Iesus. Dort wurden die klaren Vorgaben des Lehramts gegen die Anerkennung der reformatorischen Kirchen als gleichberechtigter Teil der Kirche Jesu Christi in Erinnerung gerufen. Ein nicht genug zu würdigender neuer Weg wurde mit der umstrittenen Erklärung des Konzils über die Religionsfreiheit eingeschlagen. 5. Auch das vom Konzil neu bewertete Verhältnis von Schrift und Tradition kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Forderungen der Reformation bis heute durch die römisch-katholische Kirche nicht erfüllt werden können. Und solange es eine wesensmäßige Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen Priestertum der Gläubigen und einem hierarchischen Weihepriestertum gibt (LG 10) oder – wie bis heute praktiziert – immer noch „Ablässe“ zu bestimmten Zeiten unter besonderen Bedingungen, 29 wird es kritische evangelische Nachfragen geben müssen. Hier muss noch ein weites Feld ökumenischer Aufk lärungs- und Dialogarbeit bearbeitet werden. 6. Die unterschiedlichen ökumenischen Zielvorstellungen und das nachkonziliare römische Kirchenrecht erschweren im Gespräch mit Rom die für die Ökumene am Ort dringend nötigen Öff nungen vor allem in einer Gesellschaft, wo konfessionelle Differenzen immer weniger verständlich sind. Dass trotz der Aussagen des Konzils über die Taufe als sakramentales Einheitsband (UR 22) und trotz der jedenfalls in Deutschland 2007 erklärten gegenseitigen Taufanerkennung weiterhin eucharistische Gastbereitschaft einseitig verweigert wird, fördert auch Säkularisierungstendenzen und erschwert den Dialog mit anderen Religionen.30 7. Es darf aber nicht erwartet werden, dass 50 Jahre nach dem Konzil die römisch-katholische Kirche evangelisch wird und auf die für sie unverzichtbare Autorität und Gestalt des Papsttums zu verzichten bereit sein wird. Doch mit Papst Johannes Paul II. kann

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betont werden: „Das, was uns verbindet, ist viel stärker als das, was uns trennt“ (Ut unum sint 1995, Nr. 20). Für die Zukunft des ökumenischen Miteinanders und mit Blick auf das gemeinsame Datum 2017 bleibt die Hoffnung, endlich den ökumenischen Charakter der Reformation zu verstehen. Dazu zählt auch die Aufarbeitung von gegenseitigen Verletzungen, die nicht nur für die Gemeindebasis ein wichtiges Signal sein könnte. Noch gilt die auch 50 Jahre alte evangelische Einschätzung der Konzilsergebnisse durch Wolfgang Sucker (1905–1968): „Eine neue Gemeinschaft evangelischer und katholischer Christen ist im Wachsen. Wir sind damit noch im Anfange …“.31

Anmerkungen 1 Wichtig sind mir vor allem: Pesch, O. H.: Das Zweite Vatikanische Konzil. Kevelaer (42012); Bischof, F. X. (Hrsg.): Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965). Stuttgart (2012) und Schneider, T.: Die aufgegebene Reform. Ostfi ldern (2012). 2 So etwa Metzger, P.: „Die Fenster öff nen“. Das Zweite Vatikanische Konzil aus evangelischer Sicht, In: Wingolfblätter 131 (2012), 144–150 und Wolfgang Hubers Beitrag (Theologie und Kirche der Zukunft) beim Symposium im Okt. 2012, das von der Diözese Mainz u. a. veranstaltet wurde, in: KNA-ÖKI 42 v. 16. 10. 2012, I–V. 3 Vgl. Fleischmann-Bisten, W.: Das Papstamt in heutiger evangelischer Sicht. In: Ders. (Hrsg.): Papstamt – pro und contra. Göttingen (2011), 153–174. 4 Ad limina Apostolorum. Zürich (1967), 9 ff. 5 Brief „An einen römisch-katholischen Religionslehrer im Rheinland“. In: Barth-Gesamtausgabe V. Briefe 1961–1968. Zürich (1979), 173–174. 6 Ad limina Apostolorum (Anm. 4), 18. 7 Ebd., 58. 8 Brief vom 3. 10. 1966. In: Barth-Briefe 1961–1968 (Anm. 5), 356–358. 9 Brief vom 21. 10. 1966. In: ebd., 363–364. 10 Zu dessen Position und bisher nur in Umrissen bekannten Funktion für die Konzilsrezeption im deutschsprachigen Protestantismus vgl. die kurz vor dem Abschluss stehende Bonner Habilitationsschrift von Margarethe Hopf. 11 Auf dem Weg des Konzils fortschreiten. In: Denzler, G. (Hrsg.): Papsttum heute und morgen. 57 Antworten auf eine Umfrage. Regensburg (1975), 182–185. 12 Vgl. Eber, J.: Einheit der Kirche als dogmatisches Problem bei Edmund Schlink. Göttingen (1993), bes. 193–197. 13 Graz–Göttingen (1975); unter Schlinks Namen erst mehr als 20 Jahre später veröffentlicht in der „Edition Zeitzeugen“. Karlsruhe (1997). Vgl. dazu meine Rez. in: MdKI 49, 1998, 39. 14 Schlink, E.: Ökumenische Dogmatik. Grundzüge. Göttingen (21984), 696. 15 Auszüge aus beiden Referaten. In: KiJb 93 (1966), 15–29 und 29–35. 16 Ebd., 35 f. 17 Vgl. zu Leben und Werk die Nachrufe Harry Oelkes (Kirchliches Jahrbuch 137 (2010), 221–229) und Walter Fleischmann-Bistens (Evangelische Orientierung 1 (2010), 15). 18 Gesammelt als „Evangelischer Bericht vom Konzil“. Göttingen (1964, 1965 und 1966). 19 Zum Tode Johannes’ XXIII. In: Ders.: Zum Gespräch mit Rom. Göttingen (1988), 236–248. 20 Der römische Katholizismus nach dem Konzil. In: Ebd., 252–273.

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Ebd., 253–256. Ebd., 257–261. Ebd., 261–266. Ebd., 271. Es muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass Marons Untersuchung über den Stellenwert der Rechtfertigungslehre in den Konzilstexten (Kirche und Rechtfertigung, Göttingen 1969) von dem katholischen Lutherforscher Otto Hermann Pesch so verstanden wurde, als wolle er dem Konzil „den Prozeß machen“. Pesch bemühte sich, Marons Kritik zu würdigen und zu verstehen, formulierte aber, dass er „das Konzil an Luthers Rechtfertigungslehre gemessen und nicht an der vorkonziliaren katholischen Theologie“ und nur ein bestimmtes Spektrum von Luthertexten ausgewertet habe. Pesch vertritt die These, Luther wäre den Grundanliegen des Konzils offener gegenüber gestanden „als Maron zugeben möchte“ (Das Zweite Vatikanische Konzil [Anm. 4], 196–203). Ein Memorandum evangelischer Christen anlässlich des Papstbesuchs in Deutschland v. 7. 10. 1980, als Dokumentation u. a. In: MdKI 31 (1980), Beilage zu H. 5; zitiert wird nach den Abschnittsziffern. Deutlich wurde dies etwa bei der Kritik der Ergebnisse der bilateralen Arbeitsgruppe der DBK und der VELKD „Communio Sanctorum“ v. 4. 9. 2000; vgl. dazu Beatus Brenner. In: MdKI 51 (2000), 89–93. Vgl. Erich Geldbach, Zwischen ökumenischer Vorsicht und katholischer Eindeutigkeit, in: MdKI 44 (1993), 63–66. Vgl. die Stellungnahme der DBK zur Studie „Lehrverurteilungen kirchentrennend?“ v. 21. 6. 1994 (Die deutschen Bischöfe Nr. 52). Vgl. dazu aus neuester Zeit die Übersicht „Jahr des Glaubens: Vatikan gibt Details zum Ablass bekannt“. In: kathweb Nachrichten v. 11. 10. 2012 der Kath. Presseagentur Österreich. Vgl. Institute für ökumenische Forschung in Strassburg und Tübingen und vom Konfessionskundlichen Institut Bensheim (Hrsg.): Abendmahlsgemeinschaft ist möglich. Thesen zur Eucharistischen Gastfreundschaft. Frankfurt a. M. (22007). Vgl. dazu Fleischmann-Bisten, W.: „Eine neue Gemeinschaft evangelischer und katholischer Christen ist im Wachsen“: Wolfgang Suckers ökumenische Impulse. In: MdKI 56 (2005), 74–77.

Klaus von Stosch

Nostra aetate Ein Neuaufbruch in der Verhältnisbestimmung der Kirche zu den Religionen

Klaus von Stosch Nostra aetate

Meistens wird versucht, die Position des Zweiten Vatikanischen Konzils als Durchbruch der Kirche zu einem religionstheologischen Inklusivismus zu verstehen, so dass dem Konzil unterstellt wird, dass es zwar nichtchristliche Religionen nicht mehr grundsätzlich ablehnt, wohl aber in einer hierarchischen Verhältnisbestimmung zu allem Nichtchrist lichen befangen bleibt. In meinem folgenden Beitrag will ich versuchen zu zeigen, dass gerade Nostra aetate Potenziale enthält, die über eine inklusivistische Denkstruktur hinausweisen, so dass diese Erklärung auch 50 Jahre nach dem Konzil immer noch brandaktuell ist und unabgegoltene Potenziale in sich birgt.

1. Chancen und Grenzen eines religionstheologischen Inklusivismus Bevor ich diese These ausführen kann, will ich wenigstens holzschnittartig deutlich machen, was ich unter einem religionstheologischen Inklusivismus verstehe und warum ich diese Position für fragwürdig halte.1 Dies soll durch eine kurze Skizze der These vom anonymen Christentum bei Karl Rahner geschehen, die normalerweise als Paradebeispiel einer inklusivistischen Theoriebildung gilt. Rahners Ausgangspunkt besteht darin, dass die katholische Dogmatik aus christologischen Gründen nicht darauf verzichten kann, die Endgültigkeit und Normativität des in ihm bezeugten Logos gegenüber allen anderen Wahrheitsansprüchen zu bekennen. Die Treue zum Bekenntnis zu Jesus als dem Christus schließe es aus, andere Heilswege als den in Christus verbürgten als gleichwertig anzuerkennen. Andererseits ist für Rahner völlig klar, dass es mit der christlich unverzichtbaren Vorstellung eines bedingungslos liebenden Gottes schlechterdings unvereinbar ist, dass dieser Gott solche Menschen vom Heil ausschließt, die nie mit der Botschaft des Christentums konfrontiert worden sind. Ihn treibt die Sorge um die Menschen um, die vor Jesu Geburt gelebt haben oder die nie in authentischer Weise vom Christentum gehört haben. Sollte man wirklich glauben müssen, dass diese weniger nachhaltig oder gar nicht von Gottes in Christus erwiesener Menschenfreundlichkeit berührt werden können? Rahner versucht

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diese Sorge durch die Einsicht zu besänftigen, dass der biblisch bezeugte allgemeine Heilswille Gottes (1 Tim 2,4) dazu führen muss, dass alle Menschen auch unabhängig von ihrem Glauben in geschichtlich konkreter Weise mit dem Heilsangebot Gottes in Kontakt kommen. Denn der Wille Gottes kann nicht nur ein frommer Wunsch sein, sondern muss als eine die Wirklichkeit verändernde Tatsache anerkannt werden. Wenn es aber Heil nur in Christus gibt und es andererseits auch außerhalb der sichtbaren Grenzen des Bekenntnisses zu Jesus als dem Christus Heil geben muss, muss man annehmen, dass Menschen auch ohne explizites Bekenntnis zu Christus bzw. ohne Wissen von ihm durch ihn ihr Heil wirken können. Karl Rahner nennt diese Menschen „anonyme Christen“, weil sie nicht wissen, dass sie ihr Heil in Christus wirken. So überzeugend diese Position auf den ersten Blick zu sein scheint und so wohltuend sie sich auch von jeder exklusiven Verhältnisbestimmung zu den nichtchristlichen Religionen abhebt, die alles Nichtchristliche auf dem direkten Weg zur Hölle wähnt, so sehr ist sie doch in der zeitgenössischen Theologie in die Kritik geraten. Vielen geht die von Rahner vorgenommene Form von Anerkennung anderer Religionen nicht weit genug und erscheint ihnen als Vereinnahmung. Der Hauptkritikpunkt besteht dabei meistens darin, dass die Logik inklusiven Denkens immer nur dasjenige am Anderen anzuerkennen vermag, was im Eigenen bereits angelegt ist. Das, was beim Anderen wirklich anders ist, kann von diesem Ansatz her nicht gewürdigt werden. Es wird eben nur das anerkannt, was als christusförmig erkannt wird bzw. was dem an Christus gewonnen Kriterium interreligiösen Urteilens zumindest nicht widerspricht. Diese Position ist insbesondere aus zwei Gründen in die Kritik geraten. Zum einen kann man fragen, ob die christlich gebotene Liebe zum Nächsten möglich ist, wenn ich so etwas Zentrales wie den religiösen Glauben des Nichtchristen abwerte und a priori nicht anzuerkennen in der Lage bin. Außerdem lässt sich aus der Sicht der Trinitätstheologie der Gedanke stark machen, dass es in Gott gerade die Andersheit als Andersheit ist, die Einheit und damit Liebe und Anerkennung ermöglicht. Wenn in Gott aber bleibende Verschiedenheit der Grund von Liebe und Einheit ist, ist es befremdlich, die Verschiedenheit des religiös Anderen als Grund für seine Abwertung in Stellung zu bringen. Natürlich leistet diese Überlegung keine strikte Widerlegung des Inklusivismus. Aber sie macht deutlich, warum die inklusive Denkstruktur in der zeitgenössischen Dogmatik nicht mehr unumstritten ist, auch wenn allgemein anerkannt wird, dass ein inklusives Denken gewichtige Vorteile gegenüber einer exklusivistischen Denktradition hat. Von daher ist es schon einmal ein bedeutsamer Schritt, dass sich das Zweite Vatikanische Konzil in seiner dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen Gentium ausdrücklich von einem umfassenden religionstheologischen Exklusivismus abgrenzt, wenn es festhält: „Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott jedoch aufrichtigen Herzens sucht und seinen durch den Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluss der Gnade in den Taten zu erfüllen versucht, kann das ewige Heil erlangen.“ (LG 16) Damit ist verdeutlicht, dass jeder Mensch auch außerhalb des christlichen Glaubens zum Heil finden kann. Allerdings lässt der Text offen, ob die nichtchristlichen Religionen selbst in diesem Zusammenhang eine positive Rolle spielen. Überhaupt fehlt der Versuch einer

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positiven Würdigung anderer Religionen, es wird vielmehr – wie bereits in der Lehrtradition vor dem Konzil – nur auf den einzelnen nicht-christlichen Menschen geschaut. Hier geht die Erklärung über das Verhältnis bzw. die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate einen entscheidenden Schritt weiter.

2. Der theologische Neuaufbruch in Nostra aetate Ich will an dieser Stelle nicht noch einmal die Vorgeschichte zu Nostra aetate und das Ringen um seinen Textentwurf skizzieren. Es ist inzwischen oft genug herausgearbeitet worden, wie sich diese Erläuterung der Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen erst aus der Dynamik des Konzils heraus entwickelt hat. Zunächst geplant war eine Erklärung der Haltung der Kirche gegenüber dem Judentum, die unmissverständlich den Antisemitismus verurteilen und Israel als Wurzel der Kirche theologisch würdigen sollte – ein Anliegen, das insbesondere Johannes XXIII. persönlich wichtig war.2 Aufgrund von diplomatischen Interventionen arabischer Staaten und von Protesten von Bischöfen aus der arabischen Welt geriet das Konzil unter Druck und entschloss sich die geplante „Judenerklärung“ zu einer allgemeineren Verhältnisbestimmung zu weiten, die den Eindruck einer Verabredung der Kirche mit Israel in Konfrontation zum Islam zu vermeiden suchte. Herausgekommen ist ein Dokument, das zum ersten Mal in der Geschichte der Kirche die nichtchristlichen Religionen zum Thema der Kirche macht. Während sonst in lehramtlichen Texten allenfalls von nichtchristlichen Einzelpersonen die Rede ist – und zwar jeweils mit dem Ziel der Bekehrung –, geht es jetzt darum, die eigene Haltung (habitudo) zu den anderen Religionen deutlich zu machen.3 Anlass der Beschäftigung mit den anderen Religionen ist offenkundig weder das Thema der Mission noch die Wahrheitsfrage, sondern einfach die Globalisierung und die neuen Beziehungen der Religionen untereinander (vgl. NA 1). Die Kirche sieht es dabei als ihre Aufgabe an, „Einheit und Liebe unter den Menschen und damit auch unter den Völkern zu fördern“ (NA 1). Kirche versteht ihre Aufgabe also so, dass durch sie und mit ihr das Reich Gottes in der Welt erfahrbar wird, ohne dass sie sich ein Urteil darüber anmaßt, ob und wie andere Religionen zu dieser Sendung beitragen können. Deshalb fasst sie „vor allem das ins Auge, was den Menschen gemeinsam ist und sie zur Gemeinschaft untereinander führt“ (NA 1) und würdigt erstmals die Einheit der Menschheitsfamilie und der Geschwisterlichkeit aller Menschen.4 Von daher scheint mir die Interpretation von Nostra aetate vor dem Hintergrund des religionstheologischen Inklusivismus schon vom Grundanliegen der Erklärung her fragwürdig zu sein. Besonders spannend ist, dass Nostra aetate – ähnlich wie die Komparative Theologie5 – Religionen als Antwortversuche auf ähnliche Fragen zu würdigen versucht6 und die Angehörigen unterschiedlicher Religionen dazu ermutigt, gemeinsam an den drängenden Problemen der Menschen zu arbeiten.7 Dabei wird deutlich, dass das Konzil davon ausgeht, dass sich auch in den nichtchristlichen Religionen förderungs- und anerkennungswürdige ethische Werte und geistliche Güter finden. Auff ällig ist, dass es dabei auf eine hierarchische Relationierung der Religionen verzichtet, zugleich aber immer wie-

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der darauf besteht, dass Jesus Christus die Fülle des religiösen Lebens ist, durch die Gott die Welt mit sich versöhnt hat. So heißt es in der Erklärung wörtlich: „Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet. Unablässig aber verkündet sie und muß sie verkündigen Christus, der ist „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat (2 Kor 5,18f).“ (NA 2)

Schaut man sich diese Einschätzung genau an, so wird deutlich, dass sie jede religionstheologische Bewertung anderer Religionen vermeidet. So bleibt beispielsweise offen, ob die Strahlen der Wahrheit, die in den nichtchristlichen Religionen wahr und heilig sind, mit diesen Religionen zu tun haben oder gar auf sie zurückzuführen sind oder ob Wahrheit in den nichtchristlichen Religionen selbst zu fi nden ist. So war beispielsweise Jean Daniélou sehr befriedigt, dass aus dem ursprünglichen Entwurf von Nostra aetate ein Satz eliminiert wurde, der nichtchristliche Religionen ausdrücklich als Heilswege würdigt.8 Und auch in der deutschsprachigen Rezeption des Zweiten Vaticanums gab es schon früh Widerspruch gegen die durch Karl Rahner und Heinz Robert Schlette eingeleitete Aufwertung der nichtchristlichen Religionen zu „legitimen“ oder sogar „ordentlichen“ Heilswegen. Und in der Tat hat sich das Konzil an dieser Stelle nicht festgelegt und verzichtet offenkundig ganz bewusst auf eine religionstheologische Positionsbestimmung. Doch sollte man diese Offenheit nicht als abgrenzende oder herabwürdigende Grundhaltung missverstehen. Denn auch ohne eine Relationierung der Religionen im Blick auf die Heils- und Wahrheitsfrage vorzunehmen, gelingt Nostra aetate eine erste Würdigung und positive Rezeption nichtchristlicher Religionen. Bereits in der recht knappen Charakterisierung von Hinduismus und Buddhismus fällt auf, dass diese sehr wohlwollend beschrieben werden, jedenfalls „ohne dass versucht wird, sie zu bewerten.“9 Noch auff älliger ist die ausnahmslos positive Würdigung der Muslime wegen des Glaubens an den alleinigen Gott unter Nennung des gemeinsamen Stammvaters Abraham (NA 3). Dem Konzil gelingt hier eine unerwartet deutliche Würdigung der muslimischen „Haltung der Hingabe, die Achtung verdient.“10 Die aus der Sicht des Konzils unklaren Punkte und offenen Fragen – etwa zur Person Muhammads und der Bedeutung des Korans – werden einfach übergangen11, weil die Klärung dieser theologisch bedeutsamen Fragen nicht erforderlich ist, um Christen und Muslime in eine produktives Miteinander zu bringen. Entsprechend mahnt das Konzil: „Da es jedoch im Lauf der Jahrhunderte zu manchen Zwistigkeiten und Feindschaften zwischen Christen und Muslimen kam, ermahnt die Heilige Synode alle, das Vergangene beiseite zu lassen, sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen und gemeinsam einzutreten für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen.“ (NA 3) Am ausführlichsten und gründlichsten fällt in Nostra aetate die theologische Würdigung des Judentums aus. Man merkt der Erklärung an, dass diese Verhältnisbestimmung

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das eigentliche theologische Ziel der Erklärung ist und in dieser Hinsicht die meisten Vorarbeiten geleistet worden sind. Das Judentum wird als Wurzel des christlichen Glaubens gewürdigt und es wird ausdrücklich festgehalten, dass die Juden auch heute noch „von Gott geliebt sind um der Väter willen; sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich“ (NA 4 unter Verweis auf Röm 11,28 f.). Ausdrücklich zurückgewiesen wird der in der Christentumsgeschichte immer wieder erhobene, unheilvolle Pauschalvorwurf an die Juden, für die Ermordung Jesu verantwortlich zu sein, sowie die nicht minder unheilvoll folgenträchtige Behauptung der Verwerfung der Juden durch Gott (NA 4). Sicher hätte man sich noch deutlichere Worte gewünscht, und man fragt sich, ob es wirklich genug ist, wenn die Kirche den Antisemitismus nur beklagt (NA 4) und nicht auch ein ausdrückliches Schuldeingeständnis formuliert. Dennoch liegt mit Nostra aetate ein deutliches Bekenntnis zum besonderen Verhältnis von Judentum und Christentum vor, so dass das Konzil ummissverständlich deutlich macht, dass es christlicherseits keine Theologie der Religionen mehr ohne Israeltheologie geben darf.12 Freilich beschäft igt das Konzil auch hier nicht die theologische Frage, ob und inwiefern man christlicherseits das Judentum als gleichwertig anerkennen kann. Vielmehr geht es ihm um die gemeinsame Verantwortung von Juden und Christen für diese Welt, die eben durch ihr versöhntes Miteinander zum Segen für diese Welt werden können und sollen. „Papst Johannes Paul II. wiederholte diesen Gedanken über die Jahre seines Pontifikats hinweg. Juden und Christen sind Erben des Segens Abrahams. Zuerst müssen sie einander ein Segen werden – und dann können sie ein Segen für die ganze Menschheit werden.“13 So wie die Einbettung der Verhältnisbestimmung der Kirche zum Judentum in die Haltung der Kirche zur Welt der Religionen deutlich macht, dass diese gemeinsame Sendung nicht gegen die anderen Religionen gerichtet ist, sondern zur gemeinsamen Verantwortung der Religionen für die Welt sensibilisiert, ist es Nostra aetate wichtig, auch nichtreligiöse Menschen in ihrem Nachdenken einzubeziehen. Auch die Atheisten werden aufgerufen, sich mit der Kirche und den Religionen „gemeinsam für Gerechtigkeit, Sittlichkeit, Frieden und Freiheit einzusetzen“14, so dass deutlich wird, dass es dem Konzil nicht um eine Ökumene der Religionen gegen die säkulare Welt oder gar die Atheisten geht, sondern darum, alle Menschen zum Aufbau einer besseren Welt einzuladen – immer im Bewusstsein, dass diese Welt letztlich nur von Gott her ermöglicht werden kann, der seinen guten Willen nicht anders als mit den Menschen verwirklichen will.

3. Zur Theologie der Religionen nach dem Konzil Durch die eigene Stimmenthaltung in der Frage einer religionstheologischen Verhältnisbestimmung der Religionen will das Konzil natürlich nicht einem Verzicht auf die Wahrheitsfrage in der Theologie das Wort reden. Theologen sind durchaus aufgerufen, die vorsichtigen Schritte des Konzils weiterzugehen und sich Kompetenzen anzueignen, die die Väter des Konzils noch nicht hatten. Nicht umsonst löste Nostra aetate ja „einen wahren Schub wissenschaft lich-theologischer Bemühungen um die Weltreligionen aus“15. Zugleich

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macht die Stoßrichtung der Erklärung aber deutlich, dass es nicht die Aufgabe der Kirchenleitung ist, eine solche Theologie der Religionen zu entwickeln und andere Religionen umfassend zu bewerten. Vielmehr muss es Kirche darum gehen, die unbedingte Selbstzusage Gottes in Christus ohne Abstriche zu bezeugen, ohne deshalb die religiös anderen zurückzuweisen oder abzuwerten. Die Treue zum Eigenen muss eben keine Abwertung der anderen zur Folge haben. Der Fokus auf die gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben macht deutlich, dass Kirche und Theologie einen Dienst an dieser Welt und für diese Welt zu verrichten haben, der für das Handeln der Kirche wichtiger ist als eine Bewertung anderer Religionen. Trotzdem fragt man sich natürlich schon, wie genau man die Vorgaben des Konzils in einer zeitgemäßen Theologie der Religionen umsetzen kann. Sicher wird man die Spannungen auf dem Feld der Religionstheologie nicht einfach durch die pauschale Behauptung der Gleichwertigkeit aller Religionen lösen können. Diese pluralistische Hypothese wirft so viele zusätzliche Probleme auf, dass sie zumindest in der katholischen Dogmatik eigentlich von niemandem vertreten wird  – vor allem, weil bisher nicht gezeigt werden konnte, wie die pluralistische Hypothese ohne unzumutbare Revisionen des christlichen Glaubensbekenntnisses formuliert werden kann.16 Wie kann man also angesichts der offenkundigen Probleme eines inklusiven Denkens und angesichts der Unangemessenheit eines exklusivistischen oder pluralistischen Ansatzes das Verhältnis der katholischen Kirche zu den anderen Religionen religionstheologisch bestimmen? Eine Antwort auf diese Frage scheint mir alles andere als einfach zu sein und sie ist in der gegenwärtigen Diskussion auch höchst umstritten. Vielleicht kann man so weit gehen zu sagen, dass die Frage nach einer überzeugenden Neubestimmung des Verhältnisses des Christentums zu den anderen Religionen die größte Herausforderung für die katholische Dogmatik der Gegenwart ist. Will sie diese Herausforderung bestehen, scheinen mir zwei Dinge vordringlich, die beide von Nostra aetate ausgehend weitergedacht werden können. Zunächst einmal ist es an der Zeit, sich gründlicher als bisher den einzelnen nichtchristlichen Religionen zuzuwenden und den theologischen Dialog mit Gelehrten aus diesen Traditionen zu suchen. Nur ein dezidiert theologischer Dialog mit den unterschiedlichsten Strömungen der verschiedenen Religionen kann der katholischen Theologie die Erkenntnisse vermitteln, die ihr ein angemessenes Verhältnis zu den anderen Religionen ermöglicht. Dabei ist die spannende Frage, inwiefern die anderen Religionen auch als Erkenntnisorte für das eigene Denken anerkannt werden können und die eingehende Beschäft igung mit ihnen auch zu grundlegenden Revisionen in Architektur und Methodik der eigenen Denkbewegungen zwingen. Bejaht man diese Frage, müsste das Ziel der Forschung der nächsten Jahrzehnte die Neuentwicklung einer katholischen Dogmatik sein, die sich in den Verästelungen all ihrer Einzelprobleme in den Dialog mit den anderen Religionen begibt und dadurch einen völlig neuen Zuschnitt erhält. Voraussetzung für diese Forschungsbemühung wären Theologen, die sprachfähig in anderen religiösen Traditionen werden und die diese nicht nur wie bisher aus der religionswissenschaft lichen Außensicht betrachten, sondern sich auf das Abenteuer einlassen, die Theologie des Anderen

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mitzudenken und ihre Entwicklung solidarisch zu begleiten – eine epochale Herausforderung, der man sich im deutschen Sprachraum allenfalls in ersten Ansätzen gewahr wird und die nur in ökumenischer Zusammenarbeit bestanden werden kann.17 Zentral für das Gelingen dieser Forschungsbemühungen ist ein zweiter Punkt. Die Frage nach einer Kriteriologie interreligiöser Urteilsbildung muss mit mehr Nachdruck verfolgt werden. Dieses Bemühen wird dadurch erschwert, dass sich die christliche Dogmatik und Fundamentaltheologie in zahllosen Ansätzen verfranst haben und dadurch kaum mehr in der Lage sind, gemeinsame wissenschaft liche Standards zu benennen oder auch nur eine von allen verstandene gemeinsame Sprache zu verwenden. Diese Unübersichtlichkeit erschwert einerseits die Herausforderung zum interreligiösen Gespräch, weil eine Verständigung auf gemeinsame Kriterien zwischen den Religionen unrealistisch ist, wenn diese nicht einmal im Binnendiskurs gelingt. Andererseits eröffnen sich an den Rändern der Theologien hochinteressante neue Gesprächsmöglichkeiten, die noch viel zu zaghaft ergriffen werden. Wenn die vielfältige Landschaft der Theologie dazu führen würde, die jeweils unterschiedlichen Zugänge zum christlichen Glauben zu nutzen, um in verschiedenen Denktraditionen mit anderen religiösen Denkbewegungen ins Gespräch zu kommen, könnte auch jetzt schon vielversprechende Pionierarbeit geleistet werden. Aber leider ist bisher noch kein breit angelegter Neuaufbruch zum Erlernen des notwendigen theologischen Handwerkszeugs der nichtchristlichen Theologien in der deutschsprachigen Dogmatik zu erkennen. Von einem lehramtlichen Dokument kann man sicher weder die Bereitstellung einer interreligiösen Kriteriologie noch Vorlagen für eine entsprechende Komparative Theologie erwarten. Allerdings kann man das positive Zugehen von Nostra aetate auf die anderen Religionen und seine Christozentrik als Ermutigung verstehen, um sich nicht in einen religionstheologischen Inklusivismus zu verschanzen, sondern in kooperativer und produktiver Weise auf andersreligiöse Menschen zuzugehen, um mit ihnen gemeinsam diese Welt und unsere Theologien fortzuentwickeln, ohne dabei die eigenen Wahrheitsansprüche in unzulässiger Weise zu relativieren.

Anmerkungen 1 Zu einer ausführlichen Auseinandersetzung vgl. Stosch, K. v.: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen. Paderborn u. a. (2012), 87–107. Die nachfolgenden Ausführungen in diesem Kapitel folgen weitgehend: Stosch, K. v.: Erkenntnisorte für das eigene Denken. Die katholische Dogmatik und die anderen Religionen. In: Herder Korrespondenz Spezial 2 (2010), 5–9. 2 Vgl. Pesch, O. H.: Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Wirkungsgeschichte. Kevelaer (32011), 292 f. 3 Vgl. Siebenrock, R.: Zum Dienst an der Gottesbeziehung aller Geschöpfe gerufen. Nostra aetate als Ausdruck einer evangeliumsgemäßen Bestimmung von Identität und Sendung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen. In: Sinkovits, J. u. U. Winkler (Hrsg.): Weltkirche und

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Weltreligionen. Die Brisanz des Zweiten Vatikanischen Konzils 40 Jahre nach Nostra aetate. (Salzburger Theologische Studien; 28). Innsbruck–Wien (2007), 67–89: 77. Vgl. Fitzgerald, M. J.: Die Erklärung Nostra aetate. Die Achtung religiöser Werte durch die Kirche. In: Sinkovits, J. u. U. Winkler (Hrsg.), Weltkirche und Weltreligionen. Die Brisanz des Zweiten Vatikanischen Konzils 40 Jahre nach Nostra aetate. (Salzburger Theologische Studien; 28). Innsbruck–Wien (2007), 29–43: 42 f. Vgl. Stosch (2012), 199–203. Vgl. NA 1: „Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen der Menschen im tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Was ist der Weg zum wahren Glück?“ Vgl. NA 2: „Deshalb mahnt sie (die Kirche; Vf.) ihre Söhne, daß sie mit KIugheit und Liebe, durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Bekennern anderer Religionen sowie durch ihr Zeugnis des christlichen Glaubens und Lebens jene geistlichen und sittlichen Güter und auch die sozial-kulturellen Werte, die sich bei ihnen fi nden, anerkennen, wahren und fördern.“ Vgl. Sparks, A.: The fulfi lment theology of Jean Daniélou, Karl Rahner and Jacques Dupuis. In: NBl 89 (2008), 633–656: 654 Fn. 135. Fitzgerald (2007), 34. Ebd., 37. Vgl. Siebenrock (2007), 78. Vgl. ebd., 80. Signer, M. A.: 40 Jahre nach Nostra aetate. Gibt es im Dialog neue Inhalte? In: Sinkovits, J. u. U. Winkler (Hrsg.): Weltkirche und Weltreligionen. Die Brisanz des Zweiten Vatikanischen Konzils 40 Jahre nach Nostra aetate. (Salzburger Theologische Studien; 28). Innsbruck–Wien (2007), 97–113: 110. Siebenrock (2007), 78. Pesch (2011), 304. Zur Auseinandersetzung mit dem außerhalb des Katholizismus zunehmend vertretenen Pluralismus vgl. Stosch (2012), 22–61. Vgl. zur Sondierung des hier möglicherweise weiterführenden Ansatzes Komparativer Theologie Bernhardt, R. u. K. v. Stosch (Hrsg.): Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie (Beiträge zu einer Theologie der Religionen; 7). Zürich (2009).

Margit Eckholt

„Der unterbrochene Frühling“ Erinnerung an das Weltkirche-Werden auf dem 2. Vatikanischen Konzil

Einführung: Der „unterbrochene Frühling“ – ein Blick aus nachkonziliarer Perspektive auf den Weg der Konzilskirche Margit Eckholt „Der unterbrochene Frühling“

In keiner anderen Ortskirche ist es zu einer vergleichbar kreativen Rezeption des 2. Vatikanischen Konzils gekommen wie in der lateinamerikanischen.1 Wie in kaum einem anderen Kontext wurde in Lateinamerika von Anfang an die ekklesiologische Relevanz der Pastoralkonstitution Gaudium et spes und die Verortung der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden an der Seite aller Menschen erkannt. Die 2. Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Medellín (1968) wurde Ausgangspunkt für die Erneuerung der Kirche als Zeugin des Reiches Gottes in Solidarität mit den Armen und als Dienerin der lateinamerikanischen Völker sowie für die neuen theologischen Impulse, die sich bereits zehn Jahre nach Eröff nung des Konzils unter dem gemeinsamen Leitbegriff der „Theologie der Befreiung“ sammelten. Die Konferenz von Medellín war nicht eine „bloße Anwendung oder Verlängerung des Konzils“2, sondern Zeichen für den kreativen Prozess der Umsetzung des Konzils, zu dem die lateinamerikanische Ortskirche gefunden hat und der gerade deutlich macht, was für ein innovatives Potential das „Ereignis“ des Konzils und vor allem die auf ihm verabschiedeten Dokumente in sich bergen.3 Dieser Prozess des Werdens der Konzilskirche hat zu einer neuen Gestalt der Weltkirche und der Zusammenarbeit der Ortskirchen geführt. Aber der mit dem Konzil angebrochene „Frühling“ wurde bereits in den 70er Jahren unterbrochen, dann erneut in den 80er Jahren in der Zuspitzung der Auseinandersetzungen zwischen dem Lehramt, der Glaubenskongregation und den lateinamerikanischen Ortskirchen und ihren neuen Formen einer Sozialpastoral, einer inkulturierten Katechese und vor allem der Befreiungstheologien.4 Der immer stärkere „Ekklesiozentrismus“, von dem Ende der 70er Jahre bereits Karl Rahner gesprochen hatte5, führte und führt zu einem Akzeptanzverlust der katholischen Kirche in Lateinamerika und einer bis heute nicht abgeschwächten Polarisierung zwischen Hierarchie und kirchlicher Basis, zwischen einer auf der einen Seite nordatlantisch und römisch ausgerichteten und auf der anderen Seite befreiungstheologisch und von den unterschiedlichen Praxisformen der Volks- und Basisbewegungen geprägten Theologie. Das

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schlägt sich in den letzten Jahren im „Aufbrechen“ des Katholizismus und einer massiven Pluralisierung des religiösen Feldes in Lateinamerika nieder, in den Neugründungen von evangelikalen, teilweise synkretistisch geprägten Kirchen.6 Ist in der deutschen Ortskirche nicht vieles ähnlich? Legt nicht ein „Memorandum“7 der Theologen und Theologinnen den Finger in die Wunde, die dadurch geschlagen wurde, dass der Aufbruch des Konzils, für den in der deutschen Ortskirche vor allem die Würzburger Synode und die auf ihr verhandelten Fragen stehen, nicht nur gebremst ist, sondern abgebrochen zu sein scheint? Die Grundfragen kristallisieren sich heraus in der Verhältnisbestimmung von Kirche und Welt. Das ist kein Thema neben anderen, sondern das Kirche-Welt-Verhältnis hat Auswirkungen auf die Neuorientierungen, die das Konzil der Kirche gegeben hat.

1. Das Konzil – der „erste amtliche Selbstvollzug der Kirche als Weltkirche“ (Karl Rahner) Das Konzil ist, so Rahner, der „erste amtliche Selbstvollzug der Kirche als Weltkirche“8. Die Kirche beginnt mit dem Konzil „anfanghaft“ „lehrmäßig als Weltkirche zu handeln“. „Es macht sich, wenn man so sagen darf, unter dem noch weithin bestehenden Phänotyp einer europäischen und nordamerikanischen Kirche der Genotyp einer Weltkirche als solcher bemerkbar.“9 Rahner unterscheidet zwischen dem, wie die Kirche nach außen erscheint, das ist der Phänotyp, und wie sie sich selbst in ihrer Identität bestimmt. Und hier entstehe mit dem Konzil Neues, ein Welt-Kirche-Werden, zwar noch anfanghaft; in vielem ist die Kirche zutiefst europäisch und nordatlantisch geprägt, aber ein entscheidender neuer Impuls ist gesetzt, den die nachkonziliaren neuen ortskirchlichen Entwicklungen in den Ländern des Südens dann bewahrheiten werden. War die katholische Kirche nicht immer „Weltkirche“? Rahner ist dies bewusst, aber er weist mit seiner These darauf hin, dass gerade diese Weltkirche vor allem seit der Moderne und der sich in ihr ausgeprägten barockscholastischen Ekklesiologie einer societas perfecta in Genotyp und Phänotyp eurozentrisch geprägt war. Es gab nur wenig gelungene Gestalten einer wirklichen „Inkulturation“ christlichen Glaubens in fremde Kulturen; die großen „Experimente“ der Jesuiten in China oder in den Reduktionen Lateinamerikas, die zu einem neuen Phänotyp der Kirche geführt haben, wurden angesichts der konfl iktiven Konstellationen von Politik und Kirche und den Differenzen zwischen Ordensgemeinschaften und theologischen Ansätzen unterbunden.10 Viele dieser Geschichten von encuentro und desencuentro ließen sich erzählen. Die katholische Kirche blieb in den Zeiten der Missionsbewegungen des 2. Jahrtausends, der Eroberungs- und Entdeckungsprozesse im 16. und 17. Jahrhundert und der Kolonialisierungsbestrebungen im 19. Jahrhundert, in ihrer institutionellen Gestalt europäisch geprägt. Genau dieser Eurozentrismus und die Abhängigkeit der Kirchen in den sogenannten Missionsländern von Rom brechen mit dem 2. Vatikanischen Konzil auf, weil die katholische Kirche selbst beginnt, ihre Identität neu zu bestimmen – im Rückbezug auf das Christusereignis und den Leitgedanken des Volkes Gottes, das aus und in der

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Vielfalt der Völker wächst und den Weg auf das Reich Gottes hin geht. Diese neue Identitätsbestimmung bedeutet die Abkehr von einem ekklesiologischen „Exklusivismus“ und die Entdeckung der vielen „Anderen“, mit denen Christen und Christinnen unterwegs sind. Mission bedeutet infolgedessen, so die Reflexionen des indischen Theologen Michael Amaladoss zum 2. Vatikanischen Konzil, „Dialog“. „Das Ziel der Mission heute ist das Reich Gottes und die Kirche sein Symbol und Diener. In der Perspektive der Mission Gottes werden die anderen Religionen als ,Co-Pilger‘ betrachtet, die zusammen mit der Kirche auf dem Weg zum Reich Gottes sind. Die Kirche allein hat nicht und wird sehr wahrscheinlich auch nicht die gesamte Menschheit erreichen. Selbst wenn die Kirche die frohe Botschaft verkündet, hat die Kirche die anderen Manifestationen Gottes gegenüber den Menschen zu berücksichtigen. Verkündigung selbst wird dann dialogisch.“11 Nur im Dialog, in der Anerkennung der Anderen, als in die Welt inkarnierte Kirche kann Kirche ihre Identität bestimmen. Mit dem Konzil tritt die katholische Kirche in eine neue Epoche der Kirchengeschichte ein; die Sozialgestalt der Gemeinschaft der Christen und Christinnen hat sich neu zu definieren. Das ist ein Prozess, den das Konzil angestoßen hat, eine „Ekklesiogenesis“, wie Leonardo Boff den Neuaufbruch in den Basisgemeinden Lateinamerikas bezeichnet.12 Die Kirche in ihrer westlich-abendländischen institutionellen Ausprägung erfährt sich als partikulare Gestalt eines Christentums in der Vielfalt der Kulturen und in der Begegnung mit anderen Religionen. Damit beginnt ein Epochenumbruch, wie er im Grunde nur mit dem Übergang vom Judenchristentum zum Christentum in der römisch-hellenischen Kultur vergleichbar ist.13 Erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil bricht diese Gestalt auf, beginnt die Epoche einer wirklichen Weltkirche. Welt und Kirche stehen sich nicht gegenüber, sondern Kirche kann sich immer nur „in Welt“ ausprägen. Ganz neu wird hier definiert, was „Mission“ ist: nicht mehr die Bekehrung der anderen, sondern auch „SelbstEvangelisierung“. Die Kirche selbst hat sich immer neu zu bekehren und zu den Quellen des Evangeliums zurückzukehren. Die Wirkungsgeschichte des Konzils in den Ortskirchen des Südens, die Ausbildung ortskirchlicher Strukturen und kontextueller Theologien, die neuen Dialoge in den Kirchen des Nordens bewahrheiten dieses Werden der „Welt-Kirche“ auf dem 2. Vatikanischen Konzil: Eine Kirche, für die Dialog und Begegnung mit dem „Fremden“ konstitutiv für das eigene Selbstverständnis werden, wird sich auf eine ganz neue Weise als Kirche in der Welt verstehen, die im Rückgang zu den Quellen des Glaubens die „Zeichen der Zeit“ des jeweiligen Kontextes interpretiert und auf den vielen Wegen der Welt Kirche Jesu Christi wird. Mit dem Konzil hat dieses Welt-Kirche-Werden „anfanghaft“ eingesetzt, das ist Rahners These, und er selbst wusste genau um die Konfliktivität, die ein solcher Weg impliziert. Das wird heute in Zeiten vieler Umbrüche und Anfragen an die Kirche noch stärker bewusst, aber gleichzeitig erfahren wir noch einmal mehr die Notwendigkeit, das Weltkirche-Werden weiter zu bedenken und zu realisieren. Die Diskussionen, die im Anschluss an den Deutschlandbesuch Benedikts XVI. 2011 und seiner Rede in Freiburg angesichts der Formulierung der „Entweltlichung“ geführt worden sind, sind symptomatisch für dieses krisengeschüttelte Welt-Kirche-Werden.14 Kirche muß wirklich Welt-Kirche

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werden, eine in die Vielfalt der Lebenskontexte „inkulturierte“ bzw. inkarnierte Kirche; genau das bedeutet weder „Ent-“ noch „Verweltlichung“.

2. Das Welt-Kirche-Werden auf dem 2. Vatikanischen Konzil: ein Blick auf leitende Konzilstexte Die Anerkennung der Religionsfreiheit, Ökumenismus und Dialog der Religionen auf dem Konzil zeichnen in ganz neuer Weise eine Kirche aus, die sich als „Welt-Kirche“ versteht. Welt wird zu einem „Konstitutivum“ des Kirche-Seins.15 Dass Kirche sich vom „anderen“ ihrer selbst neu verstehen lernt, dass Welt und Geschichte, Gesellschaft und Kultur für das Selbstverständnis der Kirche und die Ausgestaltung der Ekklesiologie von Wichtigkeit werden, ist dabei in der christologischen Tiefendimension der Identitätsbestimmung von Kirche grundgelegt, zu dem die Konzilsväter neu gefunden haben. Offenbarungs-, Kirchen- und Pastoralkonstitution bauen auf dem „Realismus der Inkarnation auf, daß Gott in die Geschichte eingegangen ist“.16 Aus der lebendigen Erinnerung an das Fundament christlichen Glaubens erneuert sich die Ekklesiologie, und das ist das noch weiterhin einzulösende Fundament der neuen Verhältnisbestimmung von Kirche und Welt und die theologische Tiefendimension für das „Welt-Kirche-Werden“ auf dem 2. Vatikanischen Konzil. Das heißt, dass die Kirche ihrem Wesen nach missionarisch ist. Sie hat je neu aufzubrechen auf das Wort Gottes hin und auf diesen Wegen alle Realitäten des Menschen zu durchdringen und sich hier zu „inkarnieren“ und zu „inkulturieren“. Mission und Dialog, Anerkennung der Anderen, sind in dieser christologischen Tiefe aufeinander bezogen.

2.1. Die Kirche stammt von Jesus Christus her und hat ihr Ziel in den Menschen. Sie wird als „Sakrament der Völker“ bestimmt. In Lumen gentium hat das Konzil zu einer Bestimmung der Kirche als „universales Heilssakrament“ gefunden. Es wurde Abschied genommen von der societas-perfecta-Ekklesiologie und der Weg für eine Ekklesiologie eröff net, die die Kirche als wanderndes Volk Gottes und „Sakrament der Völker“ bestimmt. „Christus ist das Licht der Völker. Darum ist es der dringende Wunsch dieser im Heiligen Geist versammelten Heiligen Synode, alle Menschen durch seine Herrlichkeit, die auf dem Anlitz der Kirche widerscheint, zu erleuchten, indem sie das Evangelium allen Geschöpfen verkündet. Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“17 Dies ist der Beginn der „Verfassungsakte“ für eine Kirche, die Gott und den Menschen nah sein will. Karl Rahner hat dazu geschrieben: „Ein erster Satz, der das Herz des künft igen Christen treffen wird, ist der Satz, daß die Kirche das Sakrament des Heiles der Welt sei. Das steht schon in der Einleitung, wenn es auch durch die letzten Textredaktionen unklarer geworden ist als in der vorausgehenden Fassung des Textes.“18 Der Konzilstext selbst besteht aus „Kompro-

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missformeln“. Die Spannungen zwischen einer hierarchisch geprägten Ekklesiologie und einer Ekklesiologie des Volkes Gottes einer Kirche, als universales Sakrament des Heils sind in den Texten selbst wiederzufinden und sie haben den Rezeptionsprozess dieses Textes geprägt. Die Ambivalenzen und auch Rückschritte in nachkonziliaren kirchlichen Stellungnahmen wie Christifideles laici oder die neuen Diskussionen um das Verhältnis zwischen gemeinsamem und besonderem Priestertum stehen dafür. In ihrer Bestimmung als Volk Gottes (LG 2), mit Gott und miteinander eins zu werden, verdichtet sich der „sakramentale Charakter“ der Kirche. Aus dem Geschenk der Gnade Gottes, der Bezeugung der Versöhnung Gottes mit den Menschen kann Kirche die Menschen zur Gemeinschaft untereinander und mit Gott führen. In dieser ekklesiologischen Tiefe ist der entscheidende Auftrag der Kirche, zur Humanisierung der Welt beizutragen angesetzt. Dabei kann das Wirken der Kirche nur als Wirken im Horizont von Freiheit verstanden werden: Glaube setzt die Freiheit voraus, von daher die Anerkennung der Religionsfreiheit und das Eintreten der Kirche für die Menschenrechte. Dieser Weg der Kirche geschieht in der Nachfolge Jesu Christi, auf dem Weg des Kreuzes in den Spuren des armen Jesus: „Christus wurde vom Vater gesandt, den Armen die frohe Botschaft zu bringen, zu heilen, die bedrückten Herzens sind (Lk 19,10). In ähnlicher Weise umgibt die Kirche alle mit ihrer Liebe, die von menschlicher Schwachheit angefochten sind, ja in den Armen und Leidenden erkennt sie das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war. Sie müht sich, deren Not zu erleichtern, und sucht Christus in ihnen zu dienen.“ (LG 8) Ein solcher Weg bedeutet Einsicht in eigene und fremde Grenzen: zum einen Widerspruch zur Welt, Aufdeckung ihrer Sünde, ein Weg der Entäußerung und Erniedrigung; zum anderen die Einsicht in die eigene Erlösungsbedürft igkeit und in die eigene Sünde (LG 8), die Bereitschaft, vom Anderen und Fremden zu lernen und sich in der Begegnung mit dem Anderen herausfordern zu lassen.19 In LG 8 wird in besonderer Weise der Paradigmenwechsel der Ekklesiologie des Konzils deutlich. Die Kirche ist nicht „societas perfecta“, sondern Kirche in den Spuren Jesu Christi. Im Dasein als „diakonische Kirche“ findet sie zu ihrer Identität und ihrer geschichtlichen Berechtigung.

2.2 Die Kirche ist auf dem Weg in die Welt auf dem Weg zu sich selbst.20 Sie wird so als Welt-Kirche bestimmt. „In der eigentümlichen Logik einer Gewissenserforschung“, so Chenu, „fragt die Kirche bei der Suche nach sich selbst nach der Welt, um sie selbst zu sein.“21 Welt-Kirche bedeutet: Die verschiedenen Lebensfelder, in denen der Mensch Welt gestaltet, sind für die Kirche bei der Rückfrage nach sich selbst konstitutiv. „Welt-Kirche-Werden“ heißt, dass Welt und Kultur für die Selbstbestimmung und Identitätsfindung der Kirche konstitutiv werden. Ermöglicht wird dies durch die Anerkennung der Welt in ihrer Eigenständigkeit und Säkularität; in Gaudium et spes ist von der „Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“ die Rede (GS 36). Die Kirche ist Kirche in der Welt von heute und es entfalten sich vielfältige Beziehungen zwi-

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schen Kirche und Welt. Die Kirche wird sich immer mehr dessen bewußt, „wieviel sie selbst der Geschichte und Entwicklung der Menschheit verdankt“ (GS 44). „Daß die Kirche sich nunmehr nicht mehr als Gegenüber (oder besser: ,Oberhalb‘) zur ,Welt‘, sondern selbst als an der Geschichte der Menschen teilhabende, sie bald beeinflussende, bald erleidende Größe versteht, bedeutet einen Perspektivenwechsel, der durchaus mit der Kopernikanischen Wende vergleichbar ist.“22 Kirche und Welt sind so ineinander verwoben, daß Kirche nicht nur die „magistra“ der Welt ist, nicht nur die die Welt „Erleidende“ ist, sondern die von ihr Lernende und an ihr Wachsende.23 In Gaudium et spes wird auf unterschiedlichen Ebenen die innere Verwobenheit und Aufeinanderbezogenheit von Kirche und Welt deutlich. Welt und Kirche, Kultur und Kirche sind so aufeinander bezogen, dass im Blick auf die Bestimmung der Aufgaben der Kirche auch von Welt und Kultur ausgegangen werden kann. Was sich an neuen Fragen und Herausforderungen aus dem Dialog der Religionen oder der Ökumene ergibt, hat Konsequenzen für die Ausgestaltung einer „inkulturierten“ Ekklesiologie. Die Impulse für eine weltoffene und diakonische Kirche setzen hier an: Gaudium et spes kommt insofern ein entscheidender ekklesiologischer Charakter zu. Das ist ein theologisches Feld, das in der Nachkonzilszeit sicher zu wenig beackert worden ist. Auf die neuen Herausforderungen am Beginn des 21. Jahrhunderts kann nur auf diesem Weg entsprechend geantwortet werden. Die Methode ist eine je neue und in einem Prozess der „Unterscheidung der Geister“ durchzuführende Interpretation der „Zeichen der Zeit“ (vgl. GS 4; 11). Es ist interessant, dass die ekklesiologischen Impulse von Gaudium et spes eher in den Kirchen des Südens rezipiert worden sind. Auf dem lateinamerikanischen Kontinent z. B. kam es in den Jahren nach dem Konzil zu einer solchen Interpretation der „Zeichen der Zeit“; die Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Medellín (1968) hatte in beeindruckender Weise die vielfältige Gewalt durch Armut und durch politische Unterdrückung kritisiert; das war der Anstoß für die Entfaltung der „Theologie der Befreiung“. Dabei sind diese Zeichen als Strukturprinzip für die mutua relatio von Welt und Kirche zu lesen. Es geht darum, den christlichen Glauben gerade in den Konflikten um die Menschwerdung des Menschen zu bestimmen.24 In neuen Basisbewegungen und kirchlichen Basisgemeinschaften wächst Kirche in ihr von Jesus Christus eröffnetes Wesen hinein, hier geschieht „Ekklesiogenesis“. Das ereignet sich in gleicher Weise in den Kirchen des Nordens, wenn neue Formen von Gemeinschaft entstehen und sich die europäische Kirche in einem neuen Sinn als „missionarisch“ versteht.25 „Die Praxis des Reiches Gottes“, so Fuchs, „übersteigt die Grenzen der Kirche in erlebbarer Weise an eben diesen Übergängen. Die Kirchebildung ereignet sich dann hoffentlich im Zentrum der über sie hinausgehenden Vergeschichtlichung des Reiches Gottes, wofür sie sich ihrerseits selbst in den Dienst stellt. […] Solche Kirchenbildungen werden zu analogen Zeichen der Liebe Gottes unter den Menschen, weil sie darstellen, was sie benennen.“26 Genau das ist dann keine Kirche, die sich abschließt, sondern die in der immer wieder neuen „Entgrenzung“27 nach außen und nach innen, der Öff nung auf „Anderes“, auf „Fremdes“, in ihr Eigenes wächst. Denn in den vielen Begegnungen entdeckt Kirche den Gott des Lebens, Jesus Christus.

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3. Eine welt-offene Kirche – Desiderat unserer Zeit. Plädoyer für eine geistliche Rezeption des Konzils in weltkirchlicher Perspektive Die Ausgangsfrage meiner Überlegungen war die nach dem neuen Kirche-Welt-Verhältnis. Nicht „Ver“- oder „Entweltlichung“ ist angesagt. Kirche muss sich vielmehr je neu in die konkreten Lebensverhältnisse des Menschen inkarnieren, Kirche kann gar nicht anders als Welt-Kirche sein, und so geht es heute darum, wie die „Welthaftigkeit“ von Kirche wachsen kann, wie sich die konkreten Gestalten und Lebensformen, die „Selbstvollzüge“, die wir Kirche nennen, im komplexen Gefüge dieser Weltgesellschaft ausbilden können. In den Ortskirchen der Länder des Südens sind beeindruckende neue Formen dieses KircheSeins entstanden, und sie werden – auf unterschiedlichen Ebenen – auch weiter entwickelt. Sicher müssen auf dem Hintergrund der konkreten Situation der deutschen Ortskirche unsere pastoralen und theologischen Impulse erarbeitet werden; aber dabei kann der Dialog der Weltkirche helfen. In den neuen ortskirchlichen Gestalten von Pastoral und Theologie in Lateinamerika, Afrika und Asien sind ekklesiologische Überlegungen vorgelegt worden, die die Kirchen- und die Pastoralkonstitution verknüpfen und so Anregungen für eine Ekklesiologie der Welt-Kirche auch im europäischen und deutschsprachigen Kontext geben können. Sie tragen zu einer Inkulturation christlichen Glaubens bei, so dass Kirche Gott und den Menschen nahe sein kann. Eine „neue Evangelisierung“, der Impuls der Bischofssynode, die in Erinnerung an die Eröffnung des 2. Vatikanischen Konzils vor fünfzig Jahren in Rom im Oktober 2012 tagte, ist nur auf diesen Wegen möglich.28 In den Kirchen des Südens hat das „Ereignis“ Konzil eine eigene Geschichte der Rezeption gezeitigt, die geistliche und strukturelle Erneuerung miteinander verbunden und erste Pisten ausgelegt hat, die ekklesiologischen Impulse des 2. Vatikanums zum Werden der Welt-Kirche zu konkretisieren. Das „Neue“ hat bereits begonnen und es gilt heute, diesen „Kairos“ nicht verstreichen zu lassen. Der Frühling lässt sich nicht aufhalten, aber er darf auch nicht zu lange unterbrochen werden.29

Anmerkungen 1 Die einführenden Überlegungen beziehen sich auf: Eckholt, M.: Nahe bei Gott und nahe bei den Armen. Das Konzilsjubiläum in Lateinamerika. In: Herder Korrespondenz 67 (2013), 24–29. 2 Sobrino, J.: Der „Kirche der Armen“ war auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil kein Erfolg beschieden. Von Medellin gefördert, verwirklichte sie wesentliche Elemente des Konzils. In: Concilium 48 (2012), 296–305: 304. 3 Vgl. die Publikation des Kongresses: Fundación Amerindia (Hrsg.): Congreso Continental de teología. La teología de la liberación en prospective. Tomos I y II, Montevideo (2012), z. B. die Beiträge: Arens, E.: Algunos principios hermenéuticos para la correcta lectura del Concilio Vaticano II (Tomo I), 323–332; Dabezies Antía, P.: Hermenéuticas del Concilio Vaticano I (Tomo II), 263–276.

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4 Vgl. da Silva Moreira, A., Ramminger, M. u. A. M. Ligorio Soares (Hrsg.): A primavera interrompida. O projeto Vaticano II num impasse. Libros Digitales Koinonia (2006). 5 Vgl. u. a. Überlegungen in Rahner, K.: Strukturwandel der Kirche als Chance und Aufgabe. Neuausgabe mit einer Einführung von J. B. Metz. Freiburg–Basel–Wien (1989), z. B. 112 ff. 6 Vgl. Susin, L. C.: Jesus: ein „Ort“, um zu leben. In: Bünker, A. (Hrsg.): Gerechtigkeit und Pfi ngsten. Viele Christentümer und die Aufgabe einer Missionswissenschaft. Ostfi ldern (2010), 113–131. 7 Vgl. dazu: Heimbach-Steins, M., Kruip, G. u. S.  Wendel: Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch: Argumente zum Memorandum. Freiburg (2011). 8 Rahner, K.: Theologische Grundinterpretation des II. Vatikanischen Konzils. In: Schriften zur Theologie. Bd. 14. Zürich–Einsiedeln–Köln (1980), 287–302: 287. 9 Rahner (1980), 293. 10 Vgl. zur Geschichte der Mission: Sievernich, M.: Die christliche Mission. Geschichte und Gegenwart. Darmstadt (2009). 11 Amaladoss, M.: Das Konzil fordert uns heraus – bis heute! Eine indische / asiatische Perspektive. In: Forum Weltkirche 6 (2012), 19–23: 23. 12 Vgl. Boff, L.: Und die Kirche ist Volk geworden. Ekklesiogenesis. Düsseldorf (1982). 13 Vgl. Rahner (1980), 297. – Aus afrikanischer Perspektive vgl. Kukah, M.: Gott ist Afrikaner geworden! Die Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils aus afrikanischer Perspektive. In: Forum Weltkirche 6 (2012), 13–18. 14 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg 22.–25. September 2011. Predigten, Ansprachen und Grußworte. Bonn (2011), (VAS 189). 15 Vgl. Eckholt, M.: Das Welt-Kirche-Werden auf dem II. Vatikanum: Aufbruch zu einer „neuen Katholizität“. In: Edith-Stein-Jahrbuch 6 (2000), 378–390. 16 Chenu, M.-D.: Une école de théologie: le Saulchoir. Préface de René Rémond. Paris (1985), Postscriptum, 175 / 6. Deutsche Ausgabe: Chenu, M.-D.: Le Saulchoir: eine Schule der Theologie. Berlin (2003). 17 LG1; vgl. Hünermann, P.: Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche. In: Hünermann, P. u. B.  Hilberath (Hrsg.): Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Band 2. Freiburg (2005), 263–563. 18 Zitiert nach Wassilowsky, G.: Universales Heilssakrament Kirche. Karl Rahners Beitrag zur Ekklesiologie des II. Vatikanums. Innsbruck (2001), 79. 19 Anknüpfend an Peter Hünermann, z. B. Hünermann, P.: Ekklesiologie im Präsens. Perspektiven. Münster (1995). 20 Vgl. Chenu, M. D.: Volk Gottes in der Welt. Paderborn (1968), 13. 21 Chenu (1968), 13. 22 Kaufmann, F.-X.: Zur Einführung: Probleme und Wege einer historischen Einschätzung des II. Vatikanischen Konzils. In: Kaufmann, F.-X. u. A. Zingerle (Hrsg.): Vatikanum II und Modernisierung. Historische, theologische und soziologische Perspektiven. Paderborn u. a. (1996), 28. 23 Vgl. GS 42 / 44; GS 45. 24 Vgl. Sander, H.-J.: Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes. In: Hünermann, P. u. B. J. Hilberath (Hrsg.): Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Bd. 4. Freiburg–Basel–Wien (2005), 581–869: z. B. 717; 868. 25 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Den Glauben anbieten in der heutigen Gesellschaft. Brief an die Katholiken Frankreichs von 1996 (Stimmen der Weltkirche 37),

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Margit Eckholt Bonn (2000); Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): „Zeit zur Aussaat.“ Missionarisch Kirche sein (Die deutschen Bischöfe 68), Bonn (2000). Aus pastoraltheologischer Perspektive weist Ottmar Fuchs darauf hin: Fuchs, O.: Diakonia: Option für die Armen. In: Konferenz der bayerischen Pastoraltheologen (Hrsg.): Das Handeln der Kirche in der Welt von heute. Ein pastoraltheologischer Grundriß. München (1994), 114– 144: 139 / 140. Ebd. 144. Vgl. Bischofssynode, XIII. Ordentliche Generalversammlung. Die neue Evangelisierung für die Weitergabe des Glaubens. Lineamenta, Rom 07. 03. 2012. ht tp://w w w.vat ica n.va /roma n _curia /sy nod/docu ments/rc _ sy nod _doc _ 20110202 _ lineament_a-xiii-assembly_ge.html [8.9.2013] Bischofssynode, XIII. Ordentliche Generalversammlung. Die neue Evangelisierung für die Weitergabe des Glaubens. Instrumentum Laboris, Rom 19. Juni 2012. http://www.dbk.de/fi leadmin/redaktion/diverse_downloads/Dossiers/Bischofssynode2012_ INSTRUMENTUM_LABORIS.pdf [8.9.2013] Der Aufsatz wurde vor der Wahl von Papst Franziskus (13.3.2013) abgefasst. Gerade in befreiungstheologischer Perspektive wird in den ersten Wochen des neuen Pontifi kats mehrfach auf die Metapher des Frühlings angespielt. Mit Franziskus, so der brasilianische Theologe Leonardo Boff, sei „der Frühling zurückgekehrt“ (vgl. z. B. http://noticias.terra.com.ar/sociedad/ papa-trae-nueva-primavera-a-la-iglesia-dice-teologo-leonardo-boff,d48a3207cea00410VgnCL D2000000ec6eb0aRCRD.html [9.8.2013]).

Christoph Böttigheimer

Die eine Volkskirche und die vielen Völker Implikationen konziliarer Ekklesiologie

Christoph Die eine Volkskirche und die Böttigheimer vielen Völker

Fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist weder die Konzilsrezeption noch die Konzilshermeneutik abgeschlossen. Infolgedessen werden die theologischen Akzente innerhalb der umfangreichen Konzilsdokumente unterschiedlich bestimmt und gewichtet. Dies trifft insbesondere auf die „Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute“ – kurz Gaudium et spes zu. Sie ist nach Otto Hermann Pesch das wichtigste und „,gelungenste‘ Dokument“1 des Zweiten Vatikanischen Konzils. Auch Elmar Klinger betont, dass sie „das prinzipiell Neue“ darstelle und „der Schlüssel zur Interpretation des Ganzen“ sei.2 Das sind nur zwei Stimmen von vielen. Ihnen ist insofern zuzustimmen, als die Pastoralkonstitution vorgibt, wie in der heutigen Zeit Glaubensrechenschaft zu erfolgen und die Kirche ihrem missionarischen Auftrag nachzukommen hat. So sehr sich das Zweite Vaticanum für die Welt öffnete und ihr Weltverhältnis neu bestimmte, so intensiv hat es sich andererseits mit der Kirche selbst befasst, so dass es zu einem Konzil der Kirche über die Kirche wurde. Dies war wohl unverzichtbar, ist doch ein erneuertes kirchliches Selbstverständnis Grundvoraussetzung für ein neues Weltverhältnis, wie nachfolgend zu zeigen sein wird. Anhand des Bildes der Kirche als Volk Gottes sollen zunächst verschiedene Aspekte der ekklesiologischen Neuorientierung, wie sie das Konzil vornahm, benannt und sodann deren Konsequenzen hinsichtlich des Verhältnisses der Kirche zur Welt bzw. zu den anderen Kulturen und Religionen angesprochen werden, genauer: hinsichtlich des Missionsauft rags der Kirche und ihrer Haltung zur Gewissensund Religionsfreiheit.

Kirche als Volk Gottes Als Ausdruck kirchlichen Selbstverständnisses und zur Bezeichnung der innergeschichtlichen Verfasstheit der Kirche griff das Zweite Vatikanische Konzil den alttestamentlichen Begriff „Volk Gottes“ neu auf und machte ihn zu einem leitenden Begriff konziliarer Ekklesiologie: Gott hat „sich aus Juden und Heiden ein Volk berufen, das nicht dem Fleische nach, sondern im Geiste zur Einheit zusammenwachsen und das neue Gottesvolk bilden sollte.“ (LG 9). Die Kirche ist also mehr als eine bloß menschliche Organisation. Sie ist ein

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von Gott selbst gerufenes Volk, das durch den Heiligen Geist zusammenwächst. Das Haupt dieses Gottesvolkes ist Christus; wer mit ihm durch die Taufe verbunden ist, dem kommt die Würde und Freiheit der Kinder Gottes ebenso zu wie die Gaben des Heiligen Geistes. Weil die Kirche Gottes Volk ist, darum entscheiden im Gegensatz zu weltlichen Völkergemeinschaften nicht Abstammung oder Herkunft über die Zugehörigkeit zur christlichen Kirche, vielmehr verdankt sich jede Gliedschaft der Wiedergeburt in der Taufe, d. h. dem zuvorkommenden Heilshandeln Gottes. In der Taufe kommt Gott dem Täufling mit seiner Gnade entgegen und schenkt ihm Anteil an Jesus Christus; im Tod Jesu Christi stirbt der Mensch für die Sünde und in der Auferstehung Christi lebt er für Gott (1 Joh 3,14; Röm 6,8). Im Sakrament der Taufe empfängt der Mensch eine neue, alles andere überbietende Identität; er wird aus Wasser und Geist zum Leben Christi wiedergeboren und Glied des Volkes Gottes, d. h. er gehört zu jenem heiligen Volk, das Gott aus allen Getauften zusammenführt, indem er sie durch seinen Geist untereinander verbindet. Die Taufgnade und die Initiation in das Volk Gottes beruhen auf keinem Tun oder Verdienst des Menschen, sondern sind ausschließlich freie, unverdiente Gaben Gottes. „Gott ist es, der gerecht macht“ (Röm 8,33), er heiligt den Menschen und nimmt ihn auf in sein heiliges Volk, nicht aufgrund menschlicher Vorleistungen, sondern allein dank seiner zuvorkommenden Zuwendung. Im Taufsakrament, insbesondere in der ab dem 2. Jahrhundert sich durchsetzenden Taufe unmündiger Kinder, gewinnt das unaufhebbare pro nobis göttlichen Offenbarungswirkens seine höchste Ausdrucksgestalt und damit verbunden die voraussetzungslose Rechtfertigung des Sünders durch den zuvorkommenden Gott seine Zuspitzung: Gott, der „uns zuerst geliebt hat“ (1 Joh 4,19), kommt mit seiner Gnade allen menschlichen Bemühungen zuvor. „Nicht darin besteht die Liebe, daß wir Gott geliebt haben, sondern daß er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat“ (1 Joh 4,10). Im Sakrament der Taufe wird dem Menschen durch Jesus Christus, den „Urheber des Heils“ (LG 9), göttliches Heil zuteil; Gott schenkt ihm Anteil an seinem Leben und rechtfertigt ihn durch die Grundlegung des Glaubens  – aus reiner Gnade um Christi willen, ohne menschliche Verdienste, Kräfte oder Werke (Röm 3,28). Indem sich die christliche Kirche als Volk Gottes bezeichnet, bringt sie zum Ausdruck, dass sie ihren Entstehungsgrund nicht in sich selbst hat, sondern sich der Erwählung des sich selbst mitteilenden Gottes verdankt. Weil angesichts dieses Gottes jede menschliche Ungleichheit ihre Gültigkeit einbüßt, kennt dieses Volk keine nationalen, ethnischen, gesellschaft lichen oder geschlechtsspezifischen Grenzen; einziges Kriterium ist der Glaube an das Evangelium. „Ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. … Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ,einer‘ in Christus Jesus“ (Gal 3,26ff; vgl. 4,4ff; 1 Kor 12,13). Wie der Apostel Paulus immer wieder deutlich hervorhebt, dass für das Volk Gottes nationale Abstammung und religiöse Herkunft irrelevant sind, es Heiden und Juden gleichermaßen umfasst, sofern sie sich nur zu Jesus dem Christus bekennen, so betonen auch die Konzilsväter, dass das Volk Gottes „aus allen Stämmen, Sprachen, Völkern und Nationen erkauft (vgl. Offb 5,9)“ ist (LG 50). Die Trennung verläuft jetzt nicht mehr zwischen Heiden und Juden, sondern zwischen Getauften und Nicht-Getauften, zwischen solchen, die sich zu

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Gottes Volk zusammenfügen und solchen, die sich nicht eingliedern lassen. „Ich werde als mein Volk berufen, was nicht mein Volk war, und als Geliebte jene, die nicht geliebt war. Und dort, wo ihnen gesagt wurde: ihr seid nicht mein Volk, dort werden sie Söhne des lebendigen Gottes genannt werden“ (Röm 9,25f). Mit der Bezeichnung Volk Gottes verbindet sich die Vorstellung einer Kirche, die wahrhaft Volk und wahrhaft Gemeinschaft (Communio) ohne Unterschiede ist. Wurde im Alten Testament aus dem profanen Begriff „laós“ (Volk, Volksmenge) ein religiöser Begriff zur Bezeichnung des von Gott auserwählten Volkes Israels, so ist im Neuen Testament eine Begriffsübertragung auf die Kirche als ganze auszumachen, ohne dass damit irgendwelche standesmäßigen Differenzierungen zwischen dem einfachen Volk („Laien“) und seinen Führern („Klerikern“) verbunden gewesen wäre. Alle, die zum Volk Gottes gehören, haben teil am priesterlichen, königlichen sowie prophetischen Amt Christi (LG 10– 12) und tragen gemeinsame Verantwortung für die Sendung der Kirche. Weil sich die Kirche nicht nur auf eine bestimmte nationale oder konfessionelle Volksgruppe beschränkt, sondern grundsätzlich allen Völkern offensteht, wird sie zu Recht als Volkskirche bezeichnet: Die Kirche ist als Volk Gottes keine volkstümliche, national-begrenzte Kirche, sondern eine Kirche aller Völker, eine internationale Gemeinschaft aller Getauften. Als Volk Gottes kennt sie nur das Kriterium der Christuszugehörigkeit und als solche lebt sie in allen Völkern; sie ist eine ökumenische Völkerkirche. Mit dem bundestheologischen Begriff „Volk Gottes“ haben die Konzilsväter der Katholizität der Kirche neuen Ausdruck verliehen wie auch die Einheit und Gleichheit der von Gott Auserwählten und damit den biblischen Gleichheitsgrundsatz aller Getauften wieder neu zur Geltung gebracht: Allen ist dieselbe Würde verliehen. Die fundamentale Einheit und Egalität des Gottesvolkes wurde durch das Zweite Vaticanum nicht nur wiederentdeckt, sondern zugleich stärker gewichtet als alle hierarchischen Unterschiede. Die Änderung „von einer Klerikerkirche zur Kirche des Volkes Gottes … ist das, was man einen Paradigmenwechsel nennen könnte. … Aus dieser Sicht müssen viele Dinge in der Kirche neu bewertet werden“3, insbesondere die Subjekthaftigkeit der sogenannten Laien und ihre Stellung innerhalb der Kirche. Auf dem Hintergrund des „gemeinsame[n] Priestertum[s] der Gläubigen“ (LG 10) verbietet es sich, die Kirche in verschiedene Stände zu untergliedern: Kleriker und Laien brauchen sich gegenseitig, erst gemeinsam bilden sie das eine Volk Gottes. Die Kirche ist keine Angelegenheit der kirchlichen Hierarchie allein, sie ist Sache des Gottesvolkes in seiner Gesamtheit; sie ist Volkskirche: Kirche des Volkes und Kirche durch das Volk.

Volkskirche als evangelisierende Kirche Als das pilgernde Volk Gottes ist die Kirche in die Pflicht genommen, das bedingungslos ergehende Wort Gottes „zu allen Völkern“ zu tragen (Mt 28,19), „bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8). Der Missionsgedanke zieht sich durch das gesamte Neue Testament (1 Petr 2,9). Demgemäß betonen die Konzilsväter in ihrem Missionsdekret Ad gentes, dass „die pilgernde Kirche … ihrem Wesen nach ,missionarisch‘ (d. h. als Gesandte unterwegs)“ sei

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(AG 2). Trotz seiner neuen, inklusivistischen Religionstheologie hält das Konzil an der missionarischen Sendung, die von der Sendung Jesu Christi hergeleitet wird, als einer unerlässlichen Aufgabe der Gesamtkirche fest (AG 29; 35–37). Auch unter dem Gesichtspunkt dieses konstitutiven Verkündigungsauftrages darf sich die Kirche wahrhaft als Volkskirche, als Kirche der Völker verstehen: Sie hat sich unterschiedslos an alle Menschen einer jeden Volksgemeinschaft zu richten und ihnen die Botschaft von Jesus Christus entsprechend dem Kontext der jeweiligen Zeit lebensnah zu verkünden, indem sie „nach den Zeichen der Zeit“ forscht „und sie im Licht des Evangeliums“ deutet (GS 4). Während die Kirchenkonstitution Lumen gentium im Lichte der Volk-Gottes-Theologie die christliche Mission dem ganzen Gottesvolk überträgt (LG 17) und den Bischöfen die Leitung und Ordnung der missionarischen Tätigkeiten zuweist (LG 20), wird im Missionsdekret der Auftrag zur Mission „zuerst und unmittelbar“ den Bischöfen mit und unter dem Papst zugesprochen (AG 38) und die kirchliche Sendung ausgehend von der Hierarchie entwickelt (AG 1; 5; 6; 20). Diese hierarchische Engführung, gemäß der den Gläubigen lediglich eine mittelbare Mitwirkung an der Mission zukommt, wird mit dem expliziten Missionsauftrag Jesu an die Apostel (Mt 28,19f; Mk 16,15) und damit an deren Nachfolger, die Bischöfe begründet (AG 5). Bei diesem „Modell einer Sendungshierarchie“4 wird aber die Differenzierung zwischen der Sendung der Apostel und den Aufgaben ihrer Nachfolger, wie sie in Lumen gentium beachtet wird (LG 20), vernachlässigt und zudem die missionarische Initiative der Laien im 19. Jahrhundert zu wenig bedacht.5 Indem primär die Bischöfe und nicht das ganze Volk Gottes für die Mission zuständig sein sollen, „repräsentiert das Missionsdekret eine Ekklesiologie, die zwischen der hierarchologisch ausgerichteten Ekklesiologie des vorbereiteten Kirchenschemas und der Ekklesiologie von Lumen gentium liegt. Es wird an diesem Geschehen deutlich, wie die neue, differenzierte Sicht der Ekklesiologie, die auf die Patristik zurückgreift, nur zögerlich aufgegriffen und rezipiert wird.“ 6 Weil die Volkskirche aufgrund ihres Öffentlichkeitsauftrags und ihrer -präsenz in gesellschaft liche Prozesse involviert ist, an ihnen partizipiert und so Mitverantwortung für sie trägt, kann es nicht überraschen, dass die Charakteristika neuzeitlich-postmoderner Gesellschaften auch die volkskirchliche Situation beeinflussen und so im Zuge des gesellschaft lichen Differenzierungsprozesses eine Pluralisierung innerhalb einer Kirche gefordert wird. Dies ist allerdings kein Grund zur Beunruhigung, ist doch der Pluralismus selbst ein Strukturprinzip der Kirche, insofern das Prinzip der Katholizität Vielfalt in der Einheit besagt (LG 13): Zum Wesen der Kirche gehört es, die Vielfalt in der Einheit zu ermöglichen und die Einheit in der Vielfalt zu bewahren. Meinungspluralismus ist darum nicht nur ein Charakteristikum einer öffentlichen und offenen Volkskirche inmitten eines offenen demokratischen Gesellschaftssystems, sondern ist zugleich als eine theologische Chance zu begreifen, in der Auseinandersetzung pluraler Meinungen die Fülle des schöpferisch wirkenden Gottesgeistes bzw. der geistgewirkten Glaubenserkenntnisse zu entdecken. Darum haben die Laien „die Möglichkeit, bisweilen auch die Pflicht, ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, zu erklären“ (LG 37). Das zentrale Anliegen des Zweiten Vaticanums war die Öffnung der Kirche zur Welt. Die Kirche darf sich nicht in eine abgegrenzte, nach außen hin abgeschottete Gesell-

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schaftsnische zurückziehen, sondern steht in der Pflicht, ihre Gestaltwerdung, das Aggiornamento, innerhalb eines konkreten geschichtlichen Kontextes je neu zu vollziehen. Sie hat sich analog zur Inkarnation Jesu Christi in den verschiedenen Völkern zu inkulturieren, indem sie bei der Verkündigung des Evangeliums den unterschiedlichen kulturellen Kontexten Rechnung trägt und kulturell verschiedenartige Ausgestaltungen von Kircheund Christsein ermöglicht. „Inkulturation meint … einen osmotischen Prozess, bei dem es um die Integration der christlichen Erfahrung in die Kultur des jeweiligen Volkes geht, und zwar so, dass diese Erfahrung sich nicht nur in Elementen der eigenen Kultur ausdrückt, sondern eine Kraft wird, die diese Kultur belebt, orientiert und erneuert, und auf diese Weise eine neue Einheit und Gemeinschaft geschaffen wird, nicht nur innerhalb der betreffenden Kultur, sondern auch als eine Bereicherung der Gesamtkirche.“7

Wird die Weltmission der Kirche als Inkulturation des Evangeliums verstanden, wird die Kirche selbst zu einer „Lerngemeinschaft“8 und zu einer Gemeinschaft kulturell unterschiedlich geprägter Ortskirchen. Mit einem binnenkirchlichen Pluralismus korrespondiert so eine Vielfalt an Formen kirchlicher Inkulturation. Möchte die Botschaft vom Reich Gottes universal sein, muss sie sich auch in einer multikulturellen Situation behaupten können und inkulturieren lassen. Wenn der Kirche nach Ansicht der Konzilväter ein dynamischer Drang eingestiftet ist, unter allen Völkern das Evangelium zu verkünden und so die Kirche in den Völkern bzw. Gruppen, in denen sie noch nicht verwurzelt ist (AG 6), einzupflanzen, so ist damit keine quantitative Ausdehnung der Kirche angezielt, sondern ein jeweiliges Neuwerden der Kirche als Volk Gottes in jedem Volk. Weil die Kirche nicht um ihrer selbst willen existiert, ist es ihre Sendung, alle Menschen und Völker zur vollen Teilhabe am Christusgeheimnis zu führen und durch gelebtes Zeugnis und Verkündigung, durch sakramentales Tun und missionarisches Wirken Zeichen und Werkzeug des Reiches Gottes zu sein (LG 1). In seinem Apostolischen Lehrschreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975) versteht Papst Paul Vl. unter dem Begriff „Evangelisierung“ die Synthese aus Glaube und Wirklichkeit: Evangelisation bedeute, durch die Verkündigung des Evangeliums der Freiheit und Liebe „das persönliche und kollektive Bewußtsein der Menschen, die Tätigkeit, in der sie sich engagieren, ihr konkretes Leben und jeweiliges Milieu umzuwandeln“.9 Mission bedeutet die Inkulturierung des Evangeliums. „Es gilt […] die Kultur und die Kulturen des Menschen […] mit dem Evangelium zu durchdringen“.10 Diese christliche Umwandlung der Kultur hat dabei nicht eine geographische Expansion der Kirche bzw. das Gewinnen neuer Mitglieder im Blick, sondern den Menschen: Evangelisieren besagt „die Menschheit selbst zu erneuern“11, was freilich auf die Kirche zurückwirkt. Denn die missionierten Völker sind gemäß den Ausführungen des Missionsdekrets, „wenn sie das Christentum annehmen, nicht nur Empfänger des christlichen Heils von der Kirche her …, sondern [werden] selbst aus der von ihrem eigenen Wesen her entstehenden Eigenart dieser Teilkirchen einen positiven Beitrag zur aktuellen Fülle der Kirche selbst leisten (Nr. 7–9; 11; 15; 19–22).“12

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Fremde Kulturen mit dem Evangelium zu durchdringen bzw. zu transformieren bedeutet nicht, sie auszurotten, wie dies in der Vergangenheit im Zuge kirchlicher Missionierung nicht selten der Fall war und die christliche Mission heute noch, wie die sogenannte Würzburger Synode offen einräumte13, in einem negativen Licht erscheinen lässt. Im Gegensatz dazu betonen die Konzilsväter: „Was immer aber an Wahrheit und Gnade schon bei den Heiden sich durch eine Art von verborgener Gegenwart Gottes findet, befreit sie [die missionarische Tätigkeit der Kirche] von der Ansteckung durch das Böse und gibt es ihrem Urheber Christus zurück. … Was an Gutem in Herz und Sinn der Menschen oder auch in den jeweiligen Riten und Kulturen der Völker sich findet, wird folglich nicht bloß nicht zerstört, sondern gesund gemacht, über sich hinausgehoben und vollendet zur Herrlichkeit Gottes“ (AG 9). Entsprechend kann Gott „überall … eine Tür für das Wort auft un, das Geheimnis Christi zu verkündigen“ (AG 13). Wiederholt wird darauf hingewiesen, dass Priester und Missionare auf den „Dialog mit den nichtchristlichen Religionen und Kulturen“ vorzubereiten sind und entsprechend Missiologie, Ethnologie und Sprachkunde, Religionsgeschichte und Religionswissenschaft und anderes mehr zu studieren haben (AG 16; 34; 41; vgl. OT 16).

Kirche und Religionsfreiheit Entgegen aller Anfragen, Bedenken und Einwände hielten die Konzilsväter am missionarischen Auftrag der Kirche als Volk Gottes fest und bestimmten diesen theologisch neu, indem sie ihn unmittelbar im Heilsplan Gottes verankerten. „Missionarische Tätigkeit ist nichts anderes und nichts weniger als Kundgabe oder Epiphanie und Erfüllung des Planes Gottes in der Welt und ihrer Geschichte, in der Gott durch die Mission die Heilsgeschichte sichtbar vollzieht.“ (AG 9) Christliche Mission bedeutet nunmehr, Menschen durch eine selbstaufopfernde, durch die Option für die Armen geprägte Evangeliumsverkündigung (AG 12) zum wahren Menschsein zu befreien und ihre Kulturen so umzuwandeln, dass der christliche Glaube sie von innen her formt, ohne dass dadurch das vorfindbare Gute verdrängt würde. Mission im Sinne der Inkulturation des Evangeliums impliziert notwendigerweise eine werbende Einladung zur Befreiung in Christus und damit verbunden den Willen zum Dialog. „Deshalb mahnt sie ihre Söhne, daß sie mit Klugheit und Liebe, durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Bekennern anderer Religionen sowie durch ihr Zeugnis des christlichen Glaubens und Lebens jene geistlichen und sittlichen Güter und auch die sozial-kulturellen Werte, die sich bei ihnen finden, anerkennen, wahren und fördern.“ (NA 2) Der Dialog ist gemäß des Zweiten Vatikanischen Konzils die einzig evangeliumsgemäße Methode, den Menschen das Evangelium zu verkünden. Das bedeutet, Evangelisierung sieht von jeglichen Zwangsmaßnahmen ab und respektiert die Würde und Freiheit eines jeden Menschen. Mission versteht sich so als eine dialogische Einladung, aus Überzeugung und aufgrund einer freien Entscheidung dem Evangelium Jesu Christi zuzustimmen und sich in die Gemeinschaft des Volkes Gottes eingliedern zu lassen.

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Zu einer Kirche des Dialogs gehört notwendigerweise die Anerkennung der Freiheit des Anderen – auch in religiösen Dingen. Ausdrücklich heißt es im Missionsdekret: „Die Kirche verbietet streng, daß jemand zur Annahme des Glaubens gezwungen oder durch ungehörige Mittel beeinflußt oder angelockt werde, wie sie umgekehrt auch mit Nachdruck für das Recht eintritt, daß niemand durch üble Druckmittel vom Glauben abgehalten werde“ (AG 13). Betonte die Kirche zwar stets die Freiheit des Glaubensaktes, wenngleich die missionarische Praxis nicht selten anders aussah, so war es bis zur Anerkennung der Gewissens- und Religionsfreiheit dennoch ein langer und schmerzlicher Weg. Noch im 19. Jahrhundert wurde das Recht auf Religionsfreiheit heftig bestritten, da der Wahrheit der Primat gegenüber der Freiheit zukomme. Erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil bekannte sich die Kirche nach langem Ringen zur Gewissens- und Religionsfreiheit als einem grundlegenden Menschenrecht. Dabei machten die Konzilsväter gleich zu Beginn der Erklärung Dignitatis humanae deutlich, dass durch die Religionsfreiheit der Wahrheitsanspruch der Kirche nicht tangiert würde (DH 1). Zugleich wird aber die moralische Verpflichtung, die jedes Gewissen bindet, hervorgehoben, nämlich die Wahrheit zu suchen. Das Konzil hat mit der Erklärung zur Religionsfreiheit jenen Freiraum geschaffen, in dem sich der Mensch ungehindert und mit ganzer Kraft dem Anspruch der Wahrheit stellen kann. Bei der Frage der Religionsfreiheit geht es nicht um eine Gleichwertigkeit der verschiedenen Religionen auf sachlich-inhaltlicher Ebene, nicht um die Wahrheitsfrage. Stattdessen handelt sie von der gesellschaft lich-rechtlichen Gleichstellung religiöser und weltanschaulicher Positionen, wobei das Konzil einem möglichen Missbrauch vorbeugend immer wieder einschränkend ergänzt: „wenn nur die gerechte öffentliche Ordnung gewahrt bleibt“ (DH 2; 3; 4). Auf der gesellschaft lichen Ebene ist das Recht der menschlichen Person auf Gewissens- und Religionsfreiheit angesiedelt. Religionsfreiheit besteht darin, „daß im religiösen Bereich niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch darin gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen innerhalb der gebührenden Grenzen nach seinem Gewissen zu handeln“ (DH 2). Dieses Recht wird mit der Würde der menschlichen Person begründet. Weil das Recht auf religiöse Freiheit in der menschlichen Natur gründe, komme es allen Menschen gleichermaßen zu, gleich welcher Religion sie angehören. Es bleibt selbst jenen erhalten, die sich keiner Religion zugehörig fühlen und nicht nach der Wahrheit suchen (DH 2). Weil die Religionsausübung in einem inneren, willentlichen und freien Akt des Menschen gründet, kann sie von außen weder befohlen noch unterbunden werden (DH 3). Das Recht auf religiöse Freiheit gelte für Einzelne wie auch für religiöse Gemeinschaften (DH 4) und was für die in einem bestimmten Land vorherrschende Religion in Anspruch genommen würde, sei so zu verstehen, „daß zugleich das Recht auf Freiheit in religiösen Dingen für alle Bürger und religiösen Gemeinschaften anerkannt und gewahrt wird“ (DH 6). Vor dem Gesetz sei also die Gleichheit der Bürger zu gewährleisten, so dass niemand zum Bekenntnis oder zur Ablehnung einer Religion gezwungen werden dürfe (DH 6 f.).

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Ausblick Das Zweite Vatikanische Konzil hat das Verhältnis der Kirche zu den nicht-christlichen Religionen neu bestimmt, ohne die Missionsidee preiszugeben. Gleichwohl wurde diese neu gefasst: Mission, die für das Wesen der Kirche konstitutiv ist, wird als Inkulturation des Evangeliums bzw. kulturelle Einpflanzung der Kirche verstanden, was Dialog und Religionsfreiheit grundlegend voraussetzt. Die Methode des Dialogs gründet dabei letztlich in der dialogischen Struktur der Offenbarung: Wenn Gott sich dem Menschen selbst dadurch mitteilt, dass er ihm sein Wort schenkt, kann seine Botschaft nicht anders als worthaft, d. h. dialogisch verkündet werden. Mission ist also kein monologischer, einseitiger Vorgang, sondern ein auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelter dialogischer Prozess, in welchem das pilgernde Volk Gottes in Respekt vor dem Anderen, seiner Freiheit und Subjekthaft igkeit sowie in einfühlendem Verständnis für seine Kultur für die Botschaft Jesu vom Reich Gottes eintritt und ihr in den unterschiedlichsten Lebenskontexten lebendigen Ausdruck verleiht.

Anmerkungen 1 Pesch, O. H.: Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Nachgeschichte. Würzburg (1993), 348. 2 Klinger, E.: Kirche – die Praxis des Volkes Gottes. In: Fuchs, G. u. A. Lienkamp (Hrsg.): Visionen des Konzils. 30 Jahre Pastoralkonstitution „Die Kirche in der Welt von heute“. Münster (1997), 74–83: 76 f. 3 Leuninger, E.: Wir sind das Volk Gottes! Frankfurt a. M. (1992), 66. 4 Müller, Ch.: Das Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad gentes. In: Bischof, F. X. u. S. Leimgruber (Hrsg.): Vierzig Jahre II. Vatikanum. Zur Wirkungsgeschichte der Konzilstexte. Würzburg (2004), 316–333: 323. 5 Hünermann, P.: Theologischer Kommentar zum Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad gentes. In: Hünermann, P. u. B. J. Hilberath (Hrsg.): Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Bd. 4. Freiburg–Basel–Wien (2005), 219–336: 315. 6 Ebd., 251. 7 Sievernich, M.: Missionarisch Welt-Kirche sein. Konturen des heutigen Missionsverständnisses. In: zur debatte 7 (2004), 21 f.: 22. 8 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Die deutschen Bischöfe. Allen Völkern Sein Heil. Die Mission der Weltkirche. Bonn (2004), 55–57. 9 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Papst Paul VI.: Apostolisches Schreiben „Evangelii nuntiandi“. Über die Evangelisierung in der Welt von heute (8. Dezember 1975) (VapSt 102). Bonn (1975), Nr. 18. 10 Ebd., Nr. 20. 11 Ebd., Nr. 18. 12 Rahner, K.: Grundprinzipien zur heutigen Mission der Kirche. In: Arnold, F. X. u. K. Rahner (Hrsg.): Handbuch der Pastoraltheologie. Bd. II / 2. Freiburg (1971), 46–80: 70.

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13 Beschluss: Missionarischer Dienst an der Welt 0.2. In: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Beschlüsse der Vollversammlung. Offizielle Gesamtausgabe I. Freiburg (1976), 819–846: 821.

Peter Knauer SJ

Einige in ihrer Tragweite noch kaum erkannte Grundaussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils

Knauer SJ Einige in ihrer Tragweite noch kaum erkannte Grundaussagen desPeter II. Vaticanums

Im Folgenden soll begründet werden, dass das II. Vaticanum wegen der von ihm begründeten dritten und abschließenden dogmatischen Grundformel an Rang dem trinitarischen Konzil von Nizäa (325) und dem christologischen Konzil von Chalkedon (451) gleichkommt. Dann sollen einige ökumenische und weltweite Implikationen dieser Grundformel erläutert werden.

Die dritte dogmatische Grundformel Eine der theologisch bedeutendsten Aussagen des II. Vaticanums steht in einem Nebensatz. In der Kirchenkonstitution heißt es in n. 7,6: „Damit wir aber in ihm [Christus] unablässig erneuert werden (vgl. Eph 4,23), gab er uns von seinem Geist, der als ein und derselbe in Haupt und Gliedern besteht und den ganzen Leib so belebt, eint und bewegt, dass seine Aufgabe von den heiligen Vätern mit dem Amt verglichen werden konnte, welches das Lebensprinzip oder die Seele im menschlichen Leib ausübt.“

Dies begründet eine dritte dogmatische Grundformel neben der trinitarischen Formel seit dem Konzil von Nizäa und der christologischen im Anschluss an das Konzil von Chalkedon. Man könnte sie die „pneumatologisch-ekklesiologische Grundformel“ nennen. Es geht in diesen Grundformeln um die Verstehensbedingung für den Anspruch der christlichen Botschaft, Wort Gottes zu sein. Die trinitarische dogmatische Grundformel lautet: „Drei Personen in einer Natur“. Es gibt in Gott drei voneinander verschiedene Selbstpräsenzen ein und derselben göttlichen Wirklichkeit. Es geht darum, Gemeinschaft mit Gott verstehbar auszusagen: Sie besteht darin, dass wir in eine Relation Gottes zu Gott aufgenommen sind, die selbst Gott ist. Der Heilige Geist als die Liebe zwischen Vater und Sohn ist auch die Liebe, mit der er uns zugewandt ist. Eine andere reale Beziehung Gottes zur Welt als eine solche, die selber Gott ist, ist nicht aussagbar. Es ist unmöglich, dass die Welt das konstituierende Woraufhin einer Relation Gottes zu ihr oder das Maß der Liebe Gottes zu ihr wäre. Denn Geschaffensein besteht darin, dass die Welt und alles in ihr in allem, worin sie sich vom Nichts unterscheiden, in einem restlosen „Bezogensein auf … / in restloser Ver-

Einige in ihrer Tragweite noch kaum erkannte Grundaussagen des II. Vaticanums

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schiedenheit von  …“ aufgeht. Das Woraufhin dieses Bezogenseins nennen wir „Gott“. Diese Relation des Geschaffenen auf Gott ist eine vollkommen einseitige reale Relation. Keine geschöpfliche Qualität kann deshalb jemals ausreichen, um Gemeinschaft mit Gott (im Unterschied zu der nur einseitigen Relation des Geschaffenen auf Gott) zu begründen. Nur auf diesem „dunklen“ Hintergrund ist die „helle“ Schrift der christlichen Botschaft überhaupt lesbar. Aber wenn Gottes Liebe zur Welt ihr Maß nicht an der Welt hat und deshalb auch nicht an der Welt abgelesen werden kann, wie soll sie dann erkannt werden können? Die christliche Botschaft verweist zur Antwort auf die Menschwerdung des Sohnes. Diese ermöglicht „Wort Gottes“ im eigentlichen Sinn. Wort ist seinem Wesen nach Kommunikation unter Menschen. Wie kann man Gott ein menschliches Wort zuschreiben? Muss dann nicht Gott selbst als Mensch begegnen? Die christologische Grundformel spricht von Jesus Christus als „einer Person in zwei Naturen“. Denn Jesus ist „wahrer Gott und wahrer Mensch ohne Vermischung und ohne Trennung“. „Ohne Vermischung“ bedeutet: Gottsein und Menschsein sind und bleiben voneinander verschieden. Das unterscheidet das christliche Verständnis von Mythologie, die immer auf Vermischung von Gott und Welt hinausläuft. Doch sind Gottsein und Menschsein auch nicht voneinander „getrennt“: Sie sind durch die zweite Relation der göttlichen Selbstpräsenz, die wir den Sohn nennen, miteinander verbunden. Wir sprechen deshalb von „hypostatischer Union“, also der Verbindung von Gottsein und Menschsein durch die Person (Hypostase) des Sohnes, durch die göttliche Selbstpräsenz, die der Sohn ist. Allein von diesem Menschen kann ein Wort ursprünglich ausgehen, dessen Wahrheit göttlich ist. An Jesus Christus als den Sohn Gottes glauben bedeutet deshalb, aufgrund seines Wortes gewiss zu sein, in die Liebe des Vaters zu ihm aufgenommen zu sein. Dies bedeutet, dass man sich im Letzten geborgen weiß und nicht mehr unter der Macht der Angst um sich selber leben muss. Doch stellt sich noch die weitere Frage: Wie können wir Menschen ein menschliches Wort tatsächlich als Gottes Wort erkennen? Kann man nicht Gottes Gnade nur so annehmen, dass auch diese Annahme selbst bereits Gnade ist? In der Tat müssen wir bereits „in Christus“ geschaffen sein, um diese dann verkündete Wirklichkeit im Glauben annehmen zu können. Und wir nehmen ja im Glauben nichts anderes als eben diese Wirklichkeit an. Es ist nicht möglich, von außerhalb des Bereichs der Gnade Gottes in diesen hineinzugelangen. Man muss bereits in der Gnade Gottes stehen, um ihre Verkündigung tatsächlich im Sinn des Glaubens annehmen zu können. Dass die christliche Botschaft nur im Glauben selbst als wahr erkannt werden kann, bedeutet, dass dieser Glaube das Erfülltsein vom Heiligen Geist ist. „Niemand kann sagen, Jesus ist Herr, außer im Heiligen Geist.“ (1 Kor 12,3). Gerade darauf bezieht sich die neue pneumatologosch-ekklesiologische Formel des II. Vaticanums, wonach der Heilige Geist „eine Person in vielen Person“ ist. Als die gegenseitige Liebe zwischen Vater und Sohn ist er bereits in Gott eine Person, die Personen miteinander verbindet. Er geht vom Vater und dem Sohn zugleich aus. Da aber der Sohn alles, was er ist oder hat, vom Vater allein hat (vgl. DH 1 331a), hat er auch dies vom Vater allein, Mitursprung des Heiligen Geistes zu sein. Der Heilige Geist geht vom Vater aus,

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und allein vom Vater her auch durch den Sohn. Die westkirchliche Aussage, dass der Heilige Geist zugleich vom Vater und vom Sohn ausgeht (filioque) steht deshalb in keinem Gegensatz zu der ostkirchlichen Aussage, dass der Vater der alleinige Letztursprung auch des Heiligen Geistes ist. Wie der Heilige Geist in Gott eine Person ist, die den Vater und den Sohn als ihre gegenseitige ewige Liebe miteinander verbindet, so ist er in Entsprechung dazu auch in seiner Sendung in die Schöpfung „eine Person in vielen Personen“. In Gal 4,4–6 spricht Paulus sowohl von der Sendung des Sohnes in die Welt, die in seiner Menschwerdung besteht, wie von der Sendung des Heiligen Geistes in die Herzen der Glaubenden: „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen. Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater.“

Das Neue Testament gebraucht für die Kirche drei untereinander sehr verschiedene Grundbilder: Sie ist der „Leib Christi“, das „Volk Gottes“, aber auch die „Braut Christi“. Man könnte auf den ersten Blick meinen, dass es für diese so verschiedenen Bilder keinen gemeinsamen Nenner gibt. Aber aus der Tatsache, dass der Heilige Geist „ein und derselbe in Haupt und Gliedern“ also in Christus und den Christen ist, erklären sich diese scheinbar so heterogenen Bilder: Die Kirche wird „Leib Christi“ genannt, weil der Heilige Geist ein und derselbe in den vielen ist. Er ist das einende Grundprinzip für die vielen Glieder, so wie die Seele die Einheit der Glieder in einem Leib als sein Lebensprinzip begründet. „Volk Gottes“ dagegen wird die Kirche genannt, weil der Heilige Geist ein und derselbe in den vielen ist. Die aus vielen Gliedern bestehende Kirche ist deshalb – im Unterschied etwa zu einem bloßen Kollektiv oder einem nur aus vielen Einzelstücken zusammengesetzten Ganzen – ein „Volk“, weil jedes ihrer Glieder seine eigene persönliche Verantwortung bewahrt und sie zum Wohl aller einsetzt. Weil der Heilige Geist anders in Christus als seinem Ursprung ist und anders in den Christen, denen er von Christus mitgeteilt wird, steht die Kirche Christus als seine „Braut“ gegenüber. Diese neue dogmatische Grundformel führt zu einer weiteren Hauptaussage des II. Vaticanums und macht sie verständlich. In der Dogmatischen Konstitution über die Kirche wird das Geheimnis der Kirche mit dem der Menschwerdung des Sohnes verglichen: „Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft , die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst. Deshalb ist sie in einer nicht unbedeutenden Analogie dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes ähnlich. Wie nämlich die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges Organ des Heils, das ihm unlöslich geeint ist, dient,

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so dient auf eine ganz ähnliche Weise das gesellschaft liche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum seines Leibes (vgl. Eph 4,16).“ (LG 8,1)

Die Sendung des Sohnes besteht darin, dass die individuelle Menschennatur Jesu vom Anfang ihrer Existenz an aufgenommen ist in die Selbstpräsenz Gottes, die der Sohn ist. Die Sendung des Heiligen Geistes besteht darin, sich ein „gesellschaft liches Gefüge (compago socialis)“, also die Gemeinschaft von Menschen untereinander, zu erfüllen. Diese Formulierung läuft darauf hinaus, dass man analog zur Rede von der „Menschwerdung des Sohnes“ von einer „Kirchewerdung des Heiligen Geistes“ sprechen kann. Das Geheimnis der Kirche besteht eben darin, das ein und derselbe Heilige Geist die Vielen mit dem Vater und mit Christus und untereinander vereint. Deshalb ist die Kirche selbst um der auf sie hin geschehenden Selbstmitteilung Gottes willen Glaubensgegenstand. Insofern die Kirche das fortdauernde Geschehen der Weitergabe des Wortes Gottes und damit des Glaubens als des Erfülltseins vom Heiligen Geist ist, kann man an sie glauben (pist0zein eXw). Von hier aus wird auch die traditionelle Unterscheidung zwischen der Sichtbarkeit und der Unsichtbarkeit der Kirche leicht verständlich. Das Konzil spricht von einer Zusammensetzung der Kirche aus einer sichtbaren geschaffenen Wirklichkeit und der unsichtbaren, ewigen Wirklichkeit Gottes. Sichtbar an der Kirche, das heißt historischer und damit Vernunfterkenntnis zugänglich, ist an ihr die Weitergabe einer Botschaft, die beansprucht, Wort Gottes zu sein. Dass sie tatsächlich das ist, was sie zu sein beansprucht, ist jedoch allein der Glaubenserkenntnis zugänglich und keiner bloßen Vernunfterkenntnis. Zwar lassen sich alle Vernunfteinwände gegen den Glauben auf dem Feld der Vernunft selbst beantworten, es ist jedoch niemals möglich, die Wahrheit des Glaubens mit der Vernunft zu beweisen oder zu begründen, ja nicht einmal „plausibel“ zu machen. Geglaubt werden kann nur, was keiner anderen Erkenntnisweise als der des Glaubens als wahr zugänglich ist. Zwar kann nichts geglaubt werden, was der Vernunft widerspricht; es kann aber auch nichts geglaubt werden, was sich auf Vernunft zurückführen lässt. Die Kategorien des Konzils von Chalkedon, die das Gottsein und das Menschsein Jesu als weder miteinander vermischt noch voneinander getrennt aussagen, sind auch auf die Kirche anzuwenden. Es gibt auch bei ihr keine Vermischung von göttlicher und geschöpflicher Wirklichkeit, aber ebenso wenig eine Trennung. Sie bleiben voneinander verschieden und sind in keiner Weise miteinander identisch, sie sind aber durch die Relation der göttlichen Selbstpräsenz, die der Heilige Geist ist, miteinander verbunden. So hat also Christus die Kirche dadurch gegründet, dass er anderen Menschen den Heiligen Geist mitgeteilt hat (LG 7,1), der durch sich selbst (LG 7,3) die Glaubenden miteinander verbindet.

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Ökumenische Implikationen In der Dogmatischen Konstitution über die Kirche werden in n. 15 viele „Elemente“ aufgeführt, welche die katholische Kirche mit anderen Kirchen oder kirchlichen Gemeinschaften gemeinsam hat (u. a. Heilige Schrift, Sakramente, Amt). Dann heißt es: „Dazu kommt die Gemeinschaft im Gebet und in anderen geistlichen Gütern; ja sogar eine wahre Verbindung im Heiligen Geiste, der in Gaben und Gnaden auch in ihnen mit seiner heiligenden Kraft wirksam ist und manche von ihnen bis zur Vergießung des Blutes gestärkt hat.“

Die diesem Satz vorausgehende Aufzählung könnte den Eindruck erwecken, der christliche Glaube setze sich aus vielen einzelnen Elementen additiv zusammen. Den „vollen Glauben“ würden dann diejenigen nicht bekennen, die nicht alle diese Elemente annehmen. Zu meinen, dass der Glaube als solcher tatsächlich additiv zusammengesetzt sei, stellt in Wirklichkeit den Balken in unserem eigenen Auge dar, der die Anerkennung der Einheit aller an Jesus Christus im Sinn seiner Gottessohnschaft Glaubenden verhindert. So lautet als Beispiel für diese wohl eher unzutreffende Meinung der seit einigen Jahren in unserer Kirche vorgeschriebene Amtseid: „Ich, N. N., glaube fest und bekenne alles und jedes, was im Glaubensbekenntnis enthalten ist: Ich glaube an den einen Gott, den Vater den Allmächtigen, … und das Leben der kommenden Welt. Fest glaube ich auch (quoque) alles, was im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes enthalten ist und von der Kirche als von Gott geoffenbart zu glauben vorgelegt wird, sei es durch feierliches Urteil, sei es durch das ordentliche und allgemeine Lehramt. Mit Festigkeit erkenne ich auch (etiam) an und halte an allem und jedem fest, was bezüglich der Lehre des Glaubens und der Sitten von der Kirche endgültig vorgelegt wird. Außerdem (insuper) hange ich mit religiösem Gehorsam des Willens und des Verstandes den Lehren an, die der Papst oder das Bischofskollegium vorlegen, wenn sie ihr authentisches Lehramt ausüben, auch wenn sie nicht beabsichtigen, diese in einem endgültigen Akt zu verkünden.“

Man braucht jedoch nur in der Aufzählung von LG 15 diese eine Formulierung näher zu bedenken: Es gebe zwischen allen an Jesus Christus Glaubenden „eine wahre Verbindung im Heiligen Geist“. Die ursprüngliche Formulierung des Textentwurfes hatte gelautet „quaedam coniunctio in Spiritu Sancto“; daraus wurde im endgültigen Text: „vera quaedam coniunctio in Spiritu Sancto“. Das einigende Band ist der Heilige Geist selbst. Es gibt keine nur „partielle“ Mitteilung des Heiligen Geistes (vgl. Joh 3,34). Eine solche Verbindung kann nicht unvollkommen sein; nur ihre Anerkennung kann unvollkommen sein. Das Konzil erklärt in LG 12,1: „Die Gesamtheit der Gläubigen (universitas fidelium), welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 Joh 2,20.27), kann im Glauben nicht irren (in credendo falli nequit).“ Was ergibt sich, wenn man mit dieser Aussage die von UR 3,1 verbindet, wo es auch von anderen Christen heißt:

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„Nichtsdestoweniger sind sie durch den Glauben in der Taufe gerechtfertigt und Christus eingegliedert (iustificati ex fide in baptismate, Christo incorporantur), darum gebührt ihnen der Ehrenname des Christen (christiano nomine iure decorantur), und mit Recht werden sie von den Söhnen und Töchtern der katholischen Kirche als Brüder und Schwestern im Herrn anerkannt (ut fratres in Domino merito agnoscuntur).“

Wenn anerkannt wird, dass andere Christen „Glaubende“ seien, dann gehören sie offenbar zur Gesamtheit der Glaubenden, die auf eine Wirklichkeit vertrauen, auf die schlechthin Verlass ist: unser Hineingenommensein in die Liebe des Vaters zum Sohn, die der Heilige Geist ist. Niemand kann mehr und niemand kann weniger glauben, wenn es sich denn überhaupt um Glauben an Jesus Christus im Sinn seiner Gottessohnschaft handelt und unter Glauben das Erfülltsein vom Heiligen Geist verstanden wird. Bereits Irenäus von Lyon schrieb: „Da der Glaube ein und derselbe ist, hat keiner mehr, der viel über ihn sagen kann, und keiner hat weniger, der wenig über ihn sagen kann.“1 Für ihn bestand Häresie nicht darin, einen Teil der Glaubensaussagen wegzulassen, sondern das Ganze zu verfälschen. Jemand zerstört ein Mosaik, das einen König darstellt, und benutzt die Steine zur Darstellung eines Hundes, die er dann als das ursprüngliche Portrait ausgibt.2 Mit wirklicher Häresie in diesem Sinne könnte es keinen „Ökumenismus“ geben. In LG 26,1 heißt es von der Kirche des Glaubensbekenntnisses: „Diese Kirche Christi ist in allen rechtmäßigen Ortsgemeinschaften der Gläubigen wahrhaft anwesend (vere adest in omnibus legitimis fidelium congregationibus localibus), die in der Verbundenheit mit ihren Hirten im Neuen Testament auch selbst Kirchen heißen.“ Wenn andere Christen „mit Recht“ (UR 3,1) als solche bezeichnet werden und wenn der Heilige Geist ihre Versammlungen als „Mittel des Heils“ gebraucht (UR 3,4), dann wird man auch ihre Versammlungen durchaus als rechtmäßig anerkennen müssen. In LG 8,2 hat das Konzil formuliert: „Dies ist die einzige Kirche Christi, die wir im Glaubensbekenntnis als die eine, heilige, katholische und apostolische bekennen. […] Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, ist voll gegenwärtig in der katholischen Kirche (Haec Ecclesia, in hoc mundo ut societas constituta et ordinata, subsistit in Ecclesia catholica), die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird. Das schließt nicht aus, dass außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu fi nden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen.“

Im Entwurf dieses Textes hatte es einfach geheißen: „Dies ist die einzige Kirche Christi, die wir im Glaubensbekenntnis als die eine, heilige, katholische und apostolische bekennen. […] Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, ist die katholischen Kirche […].“ Indem das est durch ein subsistit in ersetzt wurde, bekommt die zweifache Nennung der „katholischen Kirche“ unvermeidlich eine unterschiedliche Bedeutung: Die Kirche des Glaubensbekenntnisses ist die Kirche als solche, und von ihr wird ausgesagt, sie sei in unserer römisch katholischen Kirche als einer Einzelkirche voll gegenwärtig. Die offizielle

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deutsche Übersetzung gibt das subsistit in nicht ganz sachgemäß mit „ist verwirklicht in“ wieder, als wäre die Kirche des Glaubensbekenntnisses zuvor nur eine noch abstrakte Idee. Sie ist aber in Wirklichkeit von vornherein eine konkrete gesellschaft lich existierende Größe (in hoc mundo ut societas constituta et ordinata), dies nach dem Text noch im voraus zur Betrachtung ihrer Subsistenz in der katholischen Kirche. Wir sagen, dass die eine Kirche Jesu Christi, von der im Glaubensbekenntnis die Rede ist, in unserer römisch-katholischen Kirche voll gegenwärtig ist. Subsisitit in bedeutet faktisch dasselbe wie „vere adest in“3. Die Gegenwart der einen und einzigen Kirche des Glaubensbekenntnisses in unserer römisch-katholischen Kirche schließt aber keineswegs aus, dass sie auch in anderen christlichen Gemeinschaften ebenso gegenwärtig sein kann. Wenn es heißt, dass sich auch „außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und Wahrheit fänden“, scheint wieder das Vorverständnis vom Glauben als einer additiv zusammengesetzten Größe durch. Aber dieser Satz kann nur auf die zuletzt genannte „römisch-katholische Kirche“ bezogen werden, keineswegs auf die zuerst genannte katholische Kirche des Glaubensbekenntnisses. Denn außerhalb von dieser gibt es keinen christlichen Glauben noch Elemente des christlichen Glaubens, wenn anders diese Kirche das fortdauernde Geschehen der Weitergabe des Wortes Gottes ist. Umgekehrt ist sinnvoll nur auf diese Kirche des Glaubensbekenntnisses die Aussage des Konzils zu beziehen: „Denn nur durch die katholische Kirche Christi (per solam enim catholicam Christi Ecclesiam), die das allgemeine Hilfsmittel des Heils ist, kann man Zutritt zu der ganzen Fülle der Heilsmittel haben.“ (UR 3,5). Als ein Haupthindernis für die Anerkennung der Einheit der Glaubenden gilt in unserer römisch-katholischen Kirche, dass in anderen christlichen Gemeinschaften die Fülle des Amtes verloren gegangen sei. Aber wie verhält sich diese Auffassung zu ihrer eigenen Aussage: „Der Heilige Geist bewahrt die von Christus dem Herrn in seiner Kirche eingesetzte Form der Leitung unverlierbar (indefectibiliter)?“ (LG 27,2) Diese Unverlierbarkeit des Amtes ist darin begründet, dass „der Glaube von der gehörten Botschaft kommt, die gehörte Botschaft aber vom Wort Christi.“ (Röm 10,17). Niemand kann den Glauben aus sich selbst haben, sondern man kann ihn nur aus der Überlieferung des Glaubens empfangen. Das Amt in der Kirche drückt aus, dass der Glaube auch für die Gemeinschaft als solche noch immer „vom Hören kommt“. Jeder Christ, der den Glauben weitergibt, tut dies in der Autorität Christi: in persona Christi. Die Amtsträger aber handeln in persona Christi capitis (PO 2,3), in der Person Christi als Haupt, nämlich gegenüber der Gemeinde als ganzer. Die notwendige Möglichkeit eines Amtes in der Kirche ist mit dem Glauben selbst tatsächlich unverlierbar verbunden. Die Diagnose, einer christlichen Gemeinschaft sei das Amt verloren gegangen, kann deshalb nicht zutreffen. Die Tatsache, dass die römisch-katholische Kirche nach dem Konzil von Trient ungefähr vierhundert Jahre lang kein Konzil gefeiert hat, bedeutet ja auch nicht, dass sie damit ihre Konziliarität verloren habe. Aber gehört nicht die Anerkennung des Papstes wesentlich zum Kirchesein? Man mag hier auf den Unterschied zwischen Lk 9,50 („Wer nicht gegen euch ist, der ist für euch“) und Mt 12,30 („Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich“) verweisen, oder auf 1 Kor 1,12–

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13. Wer immer tatsächlich an Jesus Christus glaubt, ist nicht gegen den Papst als Sprecher des Glaubens, sondern allenfalls dagegen, dass er gelegentlich auch zum Sprecher bloßer Menschengedanken werden kann (vgl. Mt 16,22 f.). Wenn es in UR 4,9 heißt, es werde durch die Spaltungen der Christen „auch für die Kirche selber schwieriger, die Fülle der Katholizität unter jedem Aspekt der Wirklichkeit auszuprägen (difficilius fit plenitudinem catholicitatis sub omni respectu in ipsa vitae realitate exprimere)“, bezieht sich diese Formulierung nicht auf die Kirche des Glaubensbekenntnisses, sondern auf unsere römisch-katholische Einzelkirche.

Die Einheit der Menschheit Der zweite Satz der Kirchenkonstitution des II. Vaticanums lautet: „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit (sacramentum seu signum et instrumentum intimae cum Deo unionis totiusque generis humani unitatis)“ (LG 1,1).

Dieser Satz stellt das Gegenteil des üblichen Verständnisses des traditionellen Wortes dar, es gebe außerhalb der Kirche kein Heil. Alle wären vom Heil ausgeschlossen, die sich nicht der Kirche anschließen. In Wirklichkeit gilt zwar, dass es kein anderes Heil als das von der Kirche verkündete gibt, aber dieses Heil bezieht sich auf alle Menschen. Denn Gott hat die Welt mit sich versöhnt (2 Kor 5,19). Das Heil besteht letztlich darin, dass alle Menschen in Christus geschaffen sind. Und wie könnte die Kirche das Zeichen und Werkzeug für die Einheit der ganzen Menschheit sein, wenn wir damit nicht Hoffnung für das Heil überhaupt aller Menschen hätten. Gott wird alle Menschen von ihrer Sünde trennen. „Wie fern der Aufgang vom Untergang ist, entfernt er von uns die Schuld.“ (Ps 103,4) Dies ist keineswegs eine Bestreitung der Freiheit des Menschen. Aber kein Mensch ist in der Lage, wissentlich Gottes Gnade zurückzuweisen. Denn niemand kann Gottes Gnade auf andere Weise erkennen als im Glauben allein, der als solcher in der Annahme der Gnade besteht. Außerhalb des Glaubens bleibt Gott gnädig entzogen. Man weiß nicht wirklich, dass man in der christlichen Botschaft Gottes eigenes Wort zurückweist. Deshalb heißt es in der Passion Jesu: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34). Beachtenswert ist schließlich, dass sich in der Konzilskonstitution über die Kirche in der Welt im Kapitel über die Bewahrung des Friedens ein Abschnitt fi ndet, in dem sich die katholische Kirche mit allen Menschen in ein und dasselbe „Wir“ fasst, vielleicht in einer lehramtlichen Aussage zum ersten Mal in der ganzen Geschichte der Kirche: „Gewarnt vor Katastrophen, die das Menschengeschlecht heute möglich macht, wollen wir die Frist, die uns noch von oben gewährt wurde, nützen, um mit geschärftem Verantwortungsbewusstsein Methoden zu fi nden, unsere Meinungsverschiedenheiten auf eine Art und

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Weise zu lösen, die des Menschen würdiger ist. Die göttliche Vorsehung fordert dringend von uns, dass wir uns von der alten Knechtschaft des Krieges befreien. Wohin uns der verhängnisvolle Weg, den wir beschritten haben, führen mag, falls wir nicht diesen Versuch zur Umkehr machen, das wissen wir nicht. […] Es ist also deutlich, dass wir mit all unseren Kräften jene Zeit vorbereiten müssen, in der auf der Basis einer Übereinkunft zwischen allen Nationen jeglicher Krieg absolut geächtet werden kann.“ (GS 81,4–82,1)

Anmerkungen 1 Contra haereses, I, 10, 2 (PG 7553A). 2 Vgl. ebd., I, 8, 1 (PG 7, 521AB). 3 Vgl. die Formulierung des Relators zu diesem Abschnitt: „Die Kirche ist eine einzige, und hier auf Erden ist sie gegenwärtig in [adest in] der katholischen Kirche, mag man auch außerhalb ihrer kirchliche Elemente finden.“ (ASSCOV 3,1; 176).

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Das verratene Konzil Erinnerungen an eine verspielte Zukunft

Urs Baumann Das verratene Konzil

Warum ein Zweites Vatikanisches Konzil? Ruhte nicht die römisch-katholische Kirche auf festen, unverrückbaren Fundamenten? War nicht alles wohl geordnet, Modernismus, Liberalismus und Sozialismus in die Schranken gewiesen? Hatte nicht die christliche Theologie mit der Neuscholastik ihre definitive Form gefunden? Warum also ein Konzil? Tatsache ist, dass die Sicherheit, in der sich der römische Katholizismus gefiel, mehr als trügerisch war. Die „feste Burg“ der Kirche hatte längst Risse bekommen. Schon damals waren viele Katholikinnen und Katholiken nicht mehr bereit, blind zu glauben, was ,die Kirche‘ zu glauben vorschrieb, selbst wenn sie davon nicht überzeugt waren. In der Tat befand sich die Kirche nach dem Tod Papst Pius’ XII. in einer schweren spirituellen und theologischen Krise. Noch einmal hatte Pius XII. mit seiner Enzyklika Humani generis die Herausforderung des traditionalistischen Katholizismus durch Wissenschaft, Ökumene und theologische Forschung mit kirchlichen Sanktionen zu unterdrücken versucht. Sein Nachfolger Johannes XXIII., ein Papst mit offenem Blick für die kulturelle und religiöse Situation der Menschen an der Schwelle zur Postmoderne, erkannte: Nur durch einen gemeinsamen konziliaren Kraftakt konnte die katholische Kirche ihre Stagnation überwinden und langfristig dem Christentum in der westlichen Gesellschaft eine neue Richtung und Zukunft geben. Ohne das Zweite Vatikanische Konzil wäre ein großer Teil auch der älteren Generation wahrscheinlich aus der Kirche ausgetreten  – ich selbst vermutlich auch – und dieser Beitrag wäre nie geschrieben worden.

Frühe Erfahrungen Ich gebe damit auch das Unbehagen wieder, in dem sich die meisten von uns 1961 am Beginn des Theologiestudiums befanden. Wir waren jung, waren idealistisch, wir wollten Priester werden, weil wir in der Jugendarbeit junge, überzeugende Vikare oder Kapläne erlebt hatten. Wir erlebten Eucharistie in einer Weite und Tiefe, die unvergeßlich blieb. Wir waren umso mehr frustriert von der neuscholastischen Philosophie und Theologie, die uns mit unseren Fragen allein ließ. Es war die Hoff nung auf das Konzil und dann die große Erwartung, ja Euphorie, welche die erste Session weckte, die manche von uns davon

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abhielt, ein anderes Studium zu wählen. Wir fingen an, uns selbstständig theologisch zu orientieren, lasen, was immer uns an „neuer Theologie“ in die Hände kam und diskutierten und diskutierten. Natürlich erwarteten wir vom Konzil mehr, als es dann brachte: eine wirkliche Reform an Haupt und Gliedern. Für die meisten von uns war der Pfl ichtzölibat ein Problem. Wir waren aber zunächst bereit, ihn als notwendiges Übel auf uns zu nehmen, in der sicheren Erwartung, dass das Konzil dieses Problem für uns lösen würde. Was uns überzeugte, war das ,neue‘ Kirchenbild des Konzils: Kirche als Volk Gottes, das kirchliche Amt nicht mehr als abgehobene Priesterkaste, sondern als ein ,normaler‘ Beruf im Dienste der Menschen; kirchlicher Dienst als selbstgewählte Aufgabe, Menschen aus der Enge der zur Festung versteinerten Kirche in die Freiheit der Kinder Gottes zu führen. Wir arbeiteten an neuen Formen des Eucharistiefeierns, die den Menschen eine persönliche Erfahrung dieser Freiheit vor Gott und in der Kirche ermöglichen sollten. Erstaunlicherweise waren wir aber weder ökumenisch besonders interessiert noch war der interreligiöse Dialog ein Thema. Religionsfreiheit und Toleranz kamen im Studium gar nicht vor, umso mehr Stichworte wie Modernismus, Rationalismus und Sozialismus. Dann schieden sich unsere Wege. Ich wurde zur Promotion in Tübingen freigestellt und lernte dort bei Hans Küng, Herbert Haag und Gotthold Hasenhüttl eine Theologie kennen, die kritisch, wissenschaft lich solide, ökumenisch und weltoffen war. Es war die Theologie, die auch viele Konzilsväter in Rom sich zu eigen machten. Ihre Spuren lassen sich in den Konzilstexten überall finden. Auch Joseph Ratzinger empfanden wir damals als offenen, der Zukunft zugewandten theologischen Lehrer. 1969 beendete ich meine Promotion und ging zurück in meine Heimatdiözese, das Bistum Basel. Die meisten meiner Kurskollegen waren inzwischen ordiniert und taten als Vikare ihren Dienst; einige von ihnen waren nach Lateinamerika gegangen und lernten dort die Theologie der Befreiung und das Konzept der Basisgemeinden kennen. Ich selbst hatte mich während meiner Promotionszeit entschlossen, nicht Priester zu werden, sondern als verheirateter ,Laienseelsorger‘ – so lautete damals die Berufsbezeichnung – in den kirchlichen Dienst zu treten. Ein nie erlebter Frühling schien die Kirche zu durchwehen. Es schien als würde die „Kirche für das Volk“ tatsächlich zu einer „Kirche des Volkes“ werden. Heute ist mir klar, dass von Anfang an nicht wenige mit diesem Reformkurs nicht einverstanden waren. Die Una Voce-Bewegung wollte die lateinische Messe wieder haben, eine „Weiße Gebetsarmee“ betete namentlich für die konziliaren Ketzer und bombardierte Bischof und römische Glaubenskongregation mit Briefen und Predigtnachschriften. Zeitschriften wie die „Deutsche Tagespost“ oder „Das neue Volk“ in der Schweiz starteten eine Hetzkampagne nach der anderen. Wir haben das alles kaum ernst genommen, denn tatsächlich repräsentierten sie ja nur eine kleine Minderheit von Ewig-Gestrigen, die ohnehin unbelehrbar waren und die man eben gewähren lassen mußte.

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Die Kirche vom Kopf auf die Füße stellen Eine der entscheidenden Weichenstellungen der Konzilsväter war die Wiederentdeckung der Laien in der Kirche, verbunden mit der Einsicht, dass kirchliche Ämter nicht zur Herrschaft sondern zum Dienst an der Glaubensgemeinschaft verliehen werden, auch wenn damit Leitungsaufgaben verbunden sein können. Aus der Vorstellung der Kirche als „Volk Gottes“ ergab sich die Notwendigkeit, Kirche nicht mehr von oben nach unten zu sehen, sondern von der Basis her zu denken und zu planen: die Gesamtkirche also verstanden als ein subsidiäres System, in dem die je höhere Ebene ihre Aufgabe darin sieht, die Gläubigen an der Basis zu befähigen, selbstverantwortlich Kirche zu sein. Dazu kam der Quantensprung der katholischen Theologie. Exegetisch und dogmengeschichtlich betrachtet erwies sich: Die Ämterordnung der katholischen Kirche ist durchaus nicht so unabänderlich, wie die neuscholastische Ideologie behauptet. Alternative Formen auch des Priesterberufs wurden damals offen diskutiert: verheiratete Priester (viri probati), Priestertum auf Zeit, Teilzeitpriester, hauptberufliche Diakone schienen ideal für den Aufbau von Basisgemeinden; Laientheologinnen und Laientheologen sollten je nach den pastoralen Erfordernissen ordiniert werden können. Eine „Kirche von unten“ also, subsidiär, kompetent, solidarisch angeleitet und begleitet durch eine Kirchenleitung, die sich nicht als „heilige Herrschaft“ aufspielt. Kirchenträume? Nein durchaus nicht! Das große Ereignis der Schweizer Kirche in den 1970er Jahren, das uns diese Zuversicht gab, war die Synode 72. Die Synode sollte die nachkonziliaren Aufbrüche, die überall stattfanden, bündeln und die gemeinsame Marschrichtung in die Zukunft festlegen. Im Ergebnis waren es dieselben Sorgen, Fragen und Forderungen, die heute 40 Jahre (!) später – wieder und immer noch – die katholischen Christinnen und Christen umtreiben: die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion, die Problematik der konfessionsverbindenden Ehepaare, Aufhebung des Zölibatszwangs für Priester, Zulassung verheirateter Männer und Frauen zur Ordination, gegenseitige eucharistische Gastfreundschaft zwischen den Konfessionen, Revision der verqueren Sexualmoral, Neubewertung von Empfängnisverhütung, nichtehelichen Partnerschaften und der Situation homosexueller Menschen usw. 10 Sachkommissionen wurden gebildet. Ich selbst wurde zum Präsidenten der Sachkommission 3 (Kirchlicher Dienst und Ordenswesen) gewählt. Die Synode – so eindeutig ihr Wille nach einer entschiedenen Reform der Schweizer Kirche „an Haupt und Gliedern“ war  – bemühte sich redlich um ein einvernehmliches Verhältnis mit der römischen Zentrale. Trotz der Enzyklika Humanae vitae traute man Papst Paul VI. immer noch eine gewisse Offenheit für das Anliegen der Kirchenreform zu. Wichtige Entscheidungen, die gesamtkirchliche Belange betrafen, wurden deshalb als „Empfehlungen“ der Schweizerischen Bischofskonferenz zur Weiterleitung an den Papst übergeben. Wir vertrauten darauf, dass sich die römische Kurie einem offenen und gleichberechtigten Dialog mit den Schweizer Bischöfen nicht verweigern würden. Aber mitten in die Synodenvorbereitung hinein fielen die ersten Verfahren der römischen Glaubenskongregation gegen zwei Theologen, deren Bücher für die Synode maßgeb-

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lich waren: den Sozialethiker Stephan Pfürtner1 und den Dogmatiker Hans Küng2. Pfürtners Beiträge zur Sexualethik bildeten die anthropologische Grundlage für das Dokument VI. „Ehe und Familie im Wandel unserer Gesellschaft“; Küngs Buch „Die Kirche“3 enthielt faktisch das Kirchenverständnis, von dem die Synode ausging. Die Synode 72 war damit durch die römischen Lehrzuchtverfahren unmittelbar in ihrem eigenen Selbstverständnis mit betroffen. Es erwies sich, dass die zuständige kirchliche Behörde, dem Konzil zum Trotz, nach den alten Methoden der Inquisition zu verfahren gedachte. Die Synode forderte deshalb dezidiert, was seither in jeder Auseinandersetzung in Lehrfragen ebenso regelmäßig wie erfolglos gefordert wird: das Recht auf Anhörung, das Recht auf einen Verteidiger eigener Wahl, Akteneinsicht, Einbezug des zuständigen Bischofs, Konsultation und Zusammenarbeit mit der theologischen Kommission der Bischofskonferenz.4 Die Sachkommission IV, die sich mit der damaligen Situation und Wahrnehmung der Schweizerkirche befasste, brachte das Anliegen so zur Sprache: Glaubwürdig könne Kirche nur sein, wenn sie eine „Offene und dialogfähige Gemeinschaft“ sei. Solche Offenheit setze allerdings Offenheit innerhalb der Kirche voraus. Deshalb forderte die Synode: „Vor allem … das kirchliche Lehramt müsse offen sein gegenüber der öffentlichen Meinung in der Kirche, den Anliegen von Priestern und Laien und der Arbeit der Theologen.“5 Daraus folgt konsequenterweise: „Kirchliche Autorität hat ihre Entscheide sachgemäß zu begründen. Sie muß dabei die Erkenntnisse der Theologie und anderer Wissenschaften“ miteinbeziehen.6 Da schon damals der Priestermangel absehbar war, obwohl sich niemand vorstellen konnte, dass sich die Lage so dramatisch entwickeln würde, sah sich die Synode veranlasst, daran zu erinnern, „daß jede Gemeinde die Möglichkeit haben muß, am Sonntag Eucharistie zu feiern“7. Deshalb müsse die Bischofskonferenz das Nötige unternehmen, „daß neue Amtsformen und neue Formen des priesterlichen Dienstes anerkannt werden“8. Die Sachkommission III (Kirchlicher Dienst) präzisierte: jede Gemeinde habe einen grundsätzlichen Anspruch „auf den vollen priesterlichen Leitungsdienst“, der Bischof habe diesen Anspruch „mit allem Nachdruck vor der Gesamtkirche [zu] vertreten“9. Die Kommission setzte sich dafür ein, sowohl ehelose als auch verheiratete Männer zu Diakonen und Priestern zu ordinieren, verheiratete Priester wieder als Priester in Dienst zu nehmen und konsequent darauf hinzuarbeiten, dass auch Frauen zum Priesteramt zugelassen werden.10 Von besonderer Bedeutung für die katholische Kirche in der Schweiz war die Forderung der Synode, analog zur Bischofskonferenz einen „Gesamtschweizerischen Pastoralrat“ zu schaffen.11 Der Rat sollte eine ,echte‘ Beratungs- und Mitverantwortungsstruktur erhalten. Dazu gehört auch das Thema, der Mitwirkung der ortskirchlichen Gremien bei der Bischofswahl. Das Bistum Basel hat sich als einzige Diözese der katholischen Kirche das Bischofswahlrecht bewahren können: freie Wahl des Bischofs aus einer vom Domkapitel selbst aufgestellten Kandidatenliste unter Beteiligung der synodalen Gremien. Dieses Bischofswahlrecht sollte in der Schweiz in allen Diözesen wieder in Kraft gesetzt werden.12 Kirche als „offene und dialogfähige Gemeinde“ muß in einer auch religiös pluralistischen Gesellschaft eine ökumenisch offene Kirche sein. Ein großer Teil der in der Diözese

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Basel geschlossenen Ehen waren schon damals konfessionsverbindende Ehen. Eine gemeinsame ökumenische Mischehenseelsorge sollte deshalb entwickelt werden, frei von jeder Form gegenseitiger Diskriminierung. Die Kirchen sollten den Paaren gegenseitige eucharistische Gastfreundschaft anbieten und damit ihren gemeinsam gelebten Glauben als Zeugen kommender ökumenischer Einheit anerkennen. Der katholische Teil sollte seine ,Sonntagspflicht‘ auch durch die Teilnahme am Gottesdienst der anderen Kirche erfüllen können. Als Eltern sollten sie allein darüber entscheiden dürfen, in welcher Konfession sie ihre Kinder beheimaten wollen. Das Ehehindernis der Bekenntnisverschiedenheit müsse „beseitigt“, die „nicht-katholische kirchliche Trauung als gültige Eheschließung anerkannt“ werden. „Im Fall einer bloßen Ziviltrauung bekenntnisverschiedener Ehepartner, welche ihrer Kirche entfremdet sind“, soll die Kirche „den Ehewillen dieser Brautleute […] grundsätzlich respektieren.“13 Im Zusammenhang von Ehe und Familie, Sexualität und Partnerschaft waren zwei Postulate der Synode schließlich besonders wichtig: die freie Wahl der Methode zur „Familienplanung und Empfängnisregelung“ und die „Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten“.14 Nach der allgemeinen Empörung über die Enzyklika Humanae vitae Pauls VI., in der er mit Hinweis auf das ordentliche Lehramt jede Form der Empfängnisverhütung verbot, war es der Synode wichtig, unmissverständlich die Autonomie des Gewissens der Ehepartner klarzustellen. Außerdem müsse die Kirche auf der Grundlage der anthropologischen Forschung eine theologische Neubewertung des Verständnisses der menschlichen Sexualität, der Sexualmoral und ihrer Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe vornehmen. Dies sei vor allem im Blick auf Sexualerziehung, Sexualität Jugendlicher, voreheliche bzw. nichteheliche Sexualität und Homosexualität notwendig.

Die große Enttäuschung Vielleicht war es naiv, zu glauben, dass mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Zeit einer ernsthaften Reform der römisch-katholischen Kirche angebrochen sei, denn in der Tat waren die Konzilstexte an nicht wenigen Stellen ambivalent. Die römische Kurie und dann Papst Paul VI. hatten mit sogenannten Notae praeviae immer wieder traditionalistische ,Korrekturen‘ in die Konzilsdokumente eingeschoben. Das beeindruckte damals nicht sehr, weil ja die Intention des Konzils klar schien: eine substantielle Reform der Kirche. Keine Revolution, gewiss, aber – so lautete die Vorgabe Johannes XXIII. – ein Aggiornamento, ein wieder An-den-Tag-Bringen der Guten Nachricht Jesu. Tatsächlich hatten die Anhänger der ,alten Ordnung‘ im Vatikan aber von Anfang an eine starke und mächtige Lobby. Sie setzte insgeheim eine langfristige Strategie in Gang. Mit den traditionellen Mitteln der Repression und Inquisition, durch konsequente Besetzung freiwerdender Bischofsstühle mit systemkonformen Kandidaten und die diskrete Förderung konzilskritischer Gruppen und Organisationen versuchte man die Reform ins Leere laufen zu lassen. Wir sahen zwar damals die dunklen Wolken aufziehen, aber wir waren sicher, die überfällige Reform würde nicht mehr aufzuhalten sein. Es kam anders.

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Von den 12 Postulaten der schweizerischen Bischofskonferenz wurde kein einziges positiv beschieden. Was man nicht gleich verbot, schob man auf die lange Bank oder nahm es gar nicht erst zur Kenntnis. Der Ruf nach Reform der kirchlichen Ämter wurde als laikaler Angriff auf den Herrschaftsanspruch der römischen Beamtenkirche ausgelegt, der Konsens der theologischen Forschung als „Modernismus“ abgetan. Der priesterliche Zwangszölibat wird trotz aller Skandale bis heute als besonderes Zeichen absoluter Hingabe und Freiheit für Gott gefeiert. Verheiratete im priesterlichen Dienst sind trotz des katastrophalen Priestermangels kein Grund für die Kirchenleitung, ihren ideologischen Standpunkt in Frage zu stellen. Nachdem nun die Reform nicht kam, nahmen Zehntausende von Priestern weltweit, als Papst Paul VI. die Bedingungen für die Rückversetzung in den Laienstand lockerte, die Gelegenheit wahr, um sich laisieren zu lassen und zu heiraten. Von Frauen als Diakoninnen oder Priesterinnen wollte schon Paul VI. nichts hören. Frauen könnten deshalb nicht Priesterinnen werden, weil der Priester in der Eucharistie Christus repräsentiere. Und: In einer Frau würde man „schwerlich das Abbild Christi erblicken. Christus selbst war und bleibt nämlich ein Mann.“15 Sollte also Gottes Wort gar nicht Mensch, sondern lediglich Mann geworden sein? Trotzdem die Argumente gegen die Frauenordination dürft ig sind, hatte Papst Johannes Paul II. keine Bedenken seine gesamte Autorität als oberster Lehrer der Kirche aufs Spiel zu setzen, indem er den Ausschluß der Frauen vom Priesteramt „kraft seines Amtes“ zu einem Quasidogma erklärte.16 Vergeblich verhallte auch der Ruf der Synode 72 nach Offenheit in der Kirche. Statt Rechenschaft über die kuriale Amtsführung abzulegen – wie das jede Regierung gegenüber dem Souverän zu tun hat – oder Beschlüsse und Gesetze mit aller Sorgfalt zu begründen, fordert die römische Kirchenleitung weiterhin blinden Gehorsam. Kritik an der ,Obrigkeit‘ steht den einfachen Gläubigen nicht zu. Die Erwartung, die Kongregation für die Glaubenslehre würde ihre Verfahren an rechtsstaatliche Prinzipien anpassen, war eine glatte Illusion. Das Verhältnis zwischen den Theologen und dem Lehramt entwickelte sich in der Folge zu einer Tragödie für die gesamte Kirche. Das eigentliche Drama begann 1968 mit der Enzyklika Humanae vitae – „Über die rechte Ordnung der Weitergabe menschlichen Lebens“. Gegen die große Mehrheit seiner Kommission hatte sich Papst Paul VI. für das Gegengutachten einer kleinen Minderheit entschieden, die Empfängnisverhütung prinzipiell verbot. Die Enzyklika irritierte nicht nur das Kirchenvolk. Der Episkopat bemühte sich weltweit um Schadensbegrenzung. Der Grund war  – wie Hans Küng mit sicherem Blick diagnostizierte  – das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes, das diesen und mit ihm die ganze Kirche seit 1870 in einen peinlichen Zustand „selbstgewählter Unmündigkeit“ stürzte, der es verunmöglichte, die kirchliche Sexualmoral kritisch auf den Prüfstand zu heben. Hans Küngs Buch „Unfehlbar? Eine Anfrage“17 von 1970 war also keineswegs aus einer Laune heraus geschrieben, sondern betraf eine Angelegenheit, die bei katholischen Intellektuellen schon lange nur noch Kopfschütteln hervorrief. „Unfehlbar?“ entfesselte eine erbitterte theologische Debatte. Die Bilanz: Es gibt für die Lehre der päpstlichen Irrtumsfreiheit in Fragen der Lehre und Moral keine exegetische Grundlage; die dogmenge-

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schichtliche Situation ist zwiespältig; die Annahme, dass dogmatische Formeln nicht dem geschichtlichen Wandel unterworfen seien, absurd.18 1973 reagierte Paul VI., indem er von der Glaubenskongregation die Erklärung Mysterium ecclesiae veröffentlichen ließ. Das Schreiben verurteilte unmissverständlich die im Buch „Die Kirche“ und in „Unfehlbar?“ vertretene Ekklesiologie. 1975 stellte die Glaubenskongregation das Verfahren unter der Auflage „solche Lehrmeinungen nicht weiter zu vertreten“ ein.19 Aber Küng ließ sich den Mund nicht verbieten. Am 15. Dezember 1979 entzog Papst Johannes Paul II. Küng die Berechtigung „als katholischer Theologe [zu] lehren“.20 Eine weltweite Welle der Empörung, aber gleichzeitig auch überwältigender Solidarität mit dem Gemaßregelten ging durch die Welt. Papst Johannes Paul II., der als der große Kommunikator in die Geschichte einging, erwies sich als gesprächsunfähig, sobald es um Reformen in der Kirche ging. Seine ökumenischen Gesten, seine Begegnungen mit Vertretern des Judentums und des Islam blieben folgenlos. Mit seinem Pontifi kat beginnt eine Ära des Reformstaus, der Stagnation in der Ökumene, der Knebelung der Theologie, einer desaströsen Personalpolitik, der Verweigerung jedes Entgegenkommens in der Frage der Empfängnisverhütung, der Ehescheidung, der Sexualmoral. Der seltsame Kurs einer ,neo-konservativen‘ bzw. ,neu-traditionalistischen‘ Wende hat die katholische Kirche tief gespalten. Um die Restauration durchzusetzen, erhielten Gemeinschaften wie das sogenannte Opus Dei einen kirchlichen Sonderstatus  – trotz teils faschistoider Einstellungen  –, während der volksnahen lateinamerikanischen Theologie der Befreiung der Todesstoß versetzt werden sollte. Die Situation der Ökumene ist nicht weniger paradox: Das ökumenische Gespräch der 1970er und 1980er Jahre war weithin eine Erfolgsgeschichte. Das Abendmahlsgespräch mit der anglikanischen Kirche wie auch die Einigung mit den Lutheranern im Dokument „Das Herrenmahl“21, ebenso die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (2001) führten zu weitgehenden Übereinstimmungen im theologischen Verständnis. Aber statt die eucharistische Gastfreundschaft zu erleichtern, errichtete man neue Hürden. Das Lehrschreiben Dominus Jesus (17) verkürzte den Kirchenbegriff gegen die Intention des Zweiten Vaticanums wieder auf die römisch-katholische Konfession; die Enzyklika Ecclesia de Eucharistia (45 f.) bestätigte zwar die Einzelfallregelungen des CIC / 1983 für die Gewährung eucharistischer Gastfreundschaft, verschärfte aber die ohnehin restriktive Praxis. Dasselbe gilt auch von der Instruktion Redemptionis sacramentum (84 f.). Die Folge ist, dass übereifrige Priester neuerdings evangelischen Mitchristen die Kommunion verweigern.

Die Zukunft des Konzils liegt in unseren Händen Was bleibt 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil an Hoff nung für die Zukunft der katholischen Kirche? Wir haben einen beschwerlichen Weg zurückgelegt: von der Zeit begeisterter Aufbrüche über eine Zeit wachsender Ernüchterung bis zur Einsicht, dass gegenwärtig – jedenfalls nach menschlichem Ermessen – eine Reform dieser Kirche nicht zu erwarten steht. Die Kirchenleitung hat in den letzten Jahrzehnten auf dramatische Weise

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den Kontakt zum Volk Gottes verloren und das Vertrauen und die Langmut der Menschen verspielt. Kirchliche Schreiben und Erlasse fallen in den bibel- und geschichtsvergessenen Jargon traditionalistischer Neuscholastik zurück. Ideologie ersetzt Theologie! Auch von den Bischöfen kann – trotz des jüngst in Gang gesetzten ,Dialogprozesses‘ – kaum Hilfe erwartet werden, wenn es darum ginge, „um Gottes willen etwas Tapferes“ zu tun (Ulrich Zwingli). Die Reform der Kirche, muß von den Gemeinden ausgehen. Sie müssen das im Konzil Erreichte durchsetzen und weiterführen. Hier ist die Lage durchaus nicht hoffnungslos, denn in vielen Gemeinden wird vieles gelebt, was die Amtskirche noch zu verhindern sucht. Seit Jahren bemühen sich Institutionen, wie die „KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche“ oder neuerdings ,Ungehorsams-Initiativen‘ wie die österreichische „Pfarrer-Initiative“ mit ihrem „Aufruf zum Ungehorsam“ oder die „Pfarreiinitiative Schweiz“, unermüdlich, mit der Kirchenleitung ins Gespräch zu kommen. Die Reform von unten ist auf dem Weg, sich weltweit zu vernetzen. Gewiss ist dieser Weg nicht ohne Risiken. Denn: Sollte es nicht gelingen, zwischen den verfeindeten Gruppen in der katholischen Kirche einen Weg versöhnungsbereiter Verschiedenheit zu finden und die Bischöfe als Supervisoren und Begleiter des Reformprozesses mit ins Boot zu holen, könnte die Einheit der Kirche in Gefahr kommen. Das wird dann nicht der Fall sein, wenn Basis und Kirchenleitung einander mit Respekt und in kritischer Loyalität begegnen. In Wirklichkeit geht es in Europa schon lange nicht mehr nur um den Bestand der römisch-katholischen Kirche. Die große Frage ist, ob und wie das Christentum überlebt. Das Zweite Vatikanische Konzil hat vor 50 Jahren weit über den Rand der katholischen Kirche hinaus dem Christentum neue Impulse gegeben. Heute geht es darum, in gemeinsamer ökumenischer Anstrengung den Menschen die atemberaubende Freiheit neu anzusagen, die sie gewinnen können, wenn Jesus Christus „der Weg und die Wahrheit und das Leben“ ist (Joh 14,6), an dem sie sich orientieren. Es geht heute aber nicht mehr darum, ob eine Kirche überlebt, sondern ob Menschen sich wieder dafür begeistern können, sich im Namen Jesu zusammenzufinden und aus seiner Botschaft zu leben. Hinter dieser Aufgabe verblasst vieles, was heute den Protagonisten von oben und von unten noch so unaufgebbar wichtig vorkommt.

Anmerkungen 1 Umfassende Dokumation des Vorgangs: Kaufmann, L.: Ein ungelöster Kirchenkonfl ikt. Dokumente und zeitgeschichtliche Analysen. Der Fall Pfürtner. Fribourg (1987). 2 Zu den beiden Phasen im „Fall Küng“ wurden zwei umfassende Dokumentationen herausgegeben, die auch alle relevanten kirchlichen Verlautbarungen enthalten: Jens, W. (Hrsg.): Um nichts als die Wahrheit. Deutsche Bischofskonferenz contra Hans Küng. Eine Dokumentation. München–Zürich (1978); Greinacher, N. u. H. Haag (Hrsg.): Der Fall Küng. Eine Dokumentation. München-Zürich (1980). 3 Küng, H.: Die Kirche. Freiburg–Basel–Wien (1967).

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Synode 72, I / 14.3.1–2. Synode 72, IV / 7.6. Ebd., 9.8. Synode 72, II / 12.2.5. Ebd. Synode 72, III / 6.2.3. Synode 72, III / 3.6. Synode 72, III / 5.5.2. Synode 72, IX / 4.5.3. Synode 72, V / 11.4.–8. Synode 72, VI / 7.9; 7.8. Kongregation für die Glaubenslehre: Inter insigniores. Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zur Frage der Zulassung der Frauen zum Priesteramt. (1976), 5. Papst Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben Ordinatio sacerdotalis über die nur den Männern vorbehaltene Priesterweihe. (1994), 4. Küng, H.: Unfehlbar? Eine Anfrage. Zürich–Einsiedeln–Köln (1970). Vgl. Küng, H. (Hrsg.): Fehlbar? Eine Bilanz. Zürich–Einsiedeln–Köln (1973). Nachweise und Dokumente in: Jens (1978), 23–139. S. Fn. 2. Greinacher / Haag (1980), 90. S. Fn. 2. Texte siehe: Meyer, H. et al. (Hrsg.): Dokumente wachsender Übereinstimmung. Bd. 1. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene 1931–1982. Paderborn–Frankfurt (1983).

Andreas R. Batlogg SJ / Nikolaus Klein SJ

Die Piusbruderschaft und das Zweite Vatikanische Konzil

Andreas Batlogg / Nikolaus Klein SJ Die Piusbruderschaft und R. das ZweiteSJVatikanische Konzil

Piusbrüder und Konzil – das ist eine Endlos-, ja sogar eine Skandalgeschichte. Nach außen hin feststellbar ist eine schier unbegrenzte Geduld des Vatikans mit den Schismatikern, die seit Jahrzehnten hohe und höchste Autoritäten der römisch-katholischen Kirche auf Trab halten. Längst ist der Eindruck entstanden, um das Zweite Vatikanische Konzil dürfe gefeilscht werden, es könne Abstriche in der Verbindlichkeit geben.1 Wieder und wieder gibt es Angebote seitens des Vatikans, Ultimaten, die verstreichen, Beschwichtigungen, neue Provokationen – und so ist der Eindruck entstanden, eine relativ kleine, aber lautstarke Gruppe könne einen mächtigen Apparat vor sich her treiben. „Liturgie“ ist dabei gar nicht der Knackpunkt, sondern eher ein Nebenkriegsschauplatz, ein Anwendungsfall. Im Grunde geht es um katholischen Hardcore: das Kirchenverständnis, wie es in Lumen gentium und in Gaudium et spes festgehalten ist, um Religionsfreiheit (Dignitatis humanae) und das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen (Nostra aetate). Das letzte Konzil, das für Franz Schmidberger, bis Sommer 2013 deutscher Distriktsoberer der Bruderschaft, „das größte Unglück dieses Jahrhunderts“2 war, ist für die Piusbrüder ein Verrat an der Tradition. Sie fühlen sich als die wahren Katholiken.

Der Coetus Internationalis Patrum In seiner Rede von 1989 fasste Schmidberger die Konzilskritik des Gründers der Piusbruderschaft, Erzbischof Marcel Lefebvre (1905–1991), zusammen. Dieser war das prominenteste und profi lierteste Mitglied einer Minderheitengruppe auf dem Zweiten Vaticanum, die sich im Coetus Internationalis Patrum organisierte. Vom Erzbischof von Diamantina (Brasilien), Géraldo de Proençao Sigaud SVD (1909–1999), noch während der ersten Sitzungsperiode gegründet, war sie zwar zahlenmäßig klein (rund 15 Mitglieder); sie konnte aber bei kontroversen Einzelfragen mit einer mehr oder weniger großen Gruppe von Sympathisanten rechnen.3 Der Coetus vertrat eine kohärente Position. Seine Angriffspunkte: die Lehre von der Kollegialität der Bischöfe, Religionsfreiheit, Ökumene, die Beziehung zu den nichtchristlichen Religionen und das Projekt der Pastoralkonstitution. Darüber hinaus war er, in der Person seines Begründers, mit politischen Bewegungen der Rechten in Brasilien und Lateinamerika verbunden. Hier zeigte sich eine Verknüpfung von Glaube und Politik, die in der nachkonziliaren Entwicklung von Lefebvre immer deutlicher erkennbar wurde.

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Kritik am neuen Römischen Messbuch In den nachkonziliaren Konflikten ist Lefebvre zuerst als Kritiker am neuen Römischen Messbuch bekannt geworden. Für unvoreingenommene Beobachter zielte er mit seinen Vorbehalten auf einige Details der Liturgiereform, wie zum Beispiel der Gebrauch der Volkssprache. Zumindest wurden seine Einwände von vielen Gläubigen, die von der Priesterbruderschaft angebotene Eucharistiefeiern besuchten, so verstanden. Lefebvre selbst hatte schon vor der Promulgierung eine grundlegende kritische Stellungnahme zum Novus Ordo Missae verfasst.4 Darin warf er der Reform vor, sie stelle einen Bruch mit der Tradition des katholischen Verständnisses der Eucharistie dar, weil sie die Messe nur als Mahl deute und ihren Opfercharakter leugne. Auf Lefebvres Vorwürfe antwortete die Gottesdienstkongregation am 18. November 1969 mit einer Erklärung: Die „Allgemeine Einführung in das Römische Missale“ sei auf der Grundlage der in der Liturgiekonstitution breit entfalteten Lehre der Kirche über die Eucharistie zu verstehen. Zusätzlich wurde der siebte Abschnitt der „Allgemeinen Einführung“, auf den sich Lefebvre in seiner Kritik ausdrücklich bezogen hatte, für die endgültige Promulgierung ergänzt. Papst Paul VI. selbst schaltete sich indirekt in die Kontroverse ein: Im November 1969 verteidigte er zweimal die Arbeit der Reformkommission und damit auch die von dieser vorgenommenen und von ihm approbierten Reform des Römischen Messbuches. Dies alles vermochte Lefebvre nicht zu beeindrucken. Er unterschied fortan das Missale Pauls VI. vom rechtgläubigen Missale Pius’ V. und die neue Messe von der traditionellen Messe.

Die Gründung der Priesterbruderschaft St. Pius X. Marcel Lefebvre musste 1969 seine Funktion als Generaloberer der Spiritaner zurücklegen, nachdem er die Entscheidung seiner Kongregation für eine Reform gemäß den Konzilsbeschlüssen nicht teilte. Ohne amtliche Funktion und aufgrund seiner Ablehnung des Konzils stand er innerhalb des französischen Episkopats isoliert da. Er suchte Mittel und Wege, um das Projekt einer traditionellen Priesterausbildung auf den Weg zu bringen; eine Gruppe traditionalistisch eingestellter Priesteramtskandidaten hatte ihn darum gebeten. Von François Charrière, dem Bischof von Fribourg-Lausanne-Genf, erhielt er im Juni 1969 die Erlaubnis, in Fribourg ein „Internationales Konvikt St. Pius X.“ zu errichten. Zu diesem Zweck errichtete er mit der Billigung von Charrière (ad experimentum) am 1. November 1970 die „Priesterbruderschaft St. Pius X.“ in der vom kanonischen Recht vorgesehenen Gestalt einer „frommen Vereinigung“ (Pia Unio). Mit Zustimmung von Bischof Nestor Adam (Sitten) eröff nete Lefebvre im darauffolgenden Jahr in Ecône ein Studienhaus der Priesterbruderschaft zur „Einführung“ in das Theologiestudium. Die reguläre Ausbildung sollte anschließend an der Universität Fribourg

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stattfinden. Ohne Information des Sittener Bischofs wurde das Studienhaus in kurzer Zeit zu einem Priesterseminar umgewandelt. Bedeutete dies schon eine Verletzung des kanonischen Rechts, so galt das noch mehr für die Priesterweihen, die Lefebvre seit 1971 Absolventen von Ecône spendete. Denn eine Pia Unio ersetzt nicht die für eine rechtmäßige Priesterweihe vorgeschriebene Eingliederung der Kandidaten in eine Diözese (Inkardinierung). Durch seine Missachtung der kirchlichen Gesetze geriet Lefebvre mit den Bischöfen von Fribourg und Sitten in Konflikt. 1974 prüfte eine Kardinalskommission das Seminar in Ecône. Im Rahmen dieser Visitation formulierte Lefebvre einen Text, der als „Glaubenserklärung“ bekannt wurde: „Wir halten mit ganzem Herzen und ganzer Seele fest an der katholischen Kirche Roms, der Hüterin des katholischen Glaubens und der Traditionen, die zu dessen Bestand unerlässlich sind, an der ewigen Kirche Roms, der Lehrerin der Weisheit und Wahrheit. Aber wir lehnen es ab und haben es immer abgelehnt, der neo-modernistischen und neo-protestantischen Richtung zu folgen, die sich in Rom ganz klar im Zweiten Vatikanischen Konzil und in den daraus hervorgegangenen Reformen gezeigt hat. Alle diese Reformen waren schuld und sind heute noch schuld an der Zerstörung der Kirche, am Niedergang des Priestertums, an der Vernichtung des Opfers und der Sakramente, am Verschwinden des religiösen Lebens, an den naturalistischen und teilhardistischen Lehren an den Universitäten, in den Seminaren und in der Katechese, Lehren, die dem Liberalismus und Protestantismus entstammen und schon mehrere Male vom Lehramt der Kirche feierlich verurteilt worden sind. Keine Autorität, selbst nicht die höchste in der Hierarchie, kann uns zwingen, von unserem katholischen Glauben, wie er seit 19 Jahrhunderten vom Lehramt der Kirche erklärt und gelehrt wurde, abzuweichen oder denselben abzuschwächen.“5

Radikale Kritik am Konzil Was Lefebvre an den Entscheidungen und Texten des Konzils im einzelnen kritisierte, hat er mehrfach formuliert. Vor allem drei Themen waren es, die er direkt mit Forderungen der Französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) identifizierte und als Verrat an der Tradition ablehnte. So verwarf er die „Erklärung über die Religionsfreiheit“, denn „die religiöse Freiheit entspricht dem Begriff ,liberté‘ in der Französischen Revolution; es ist ein analoger Begriff, dessen sich der Teufel gerne bedient.“ 6 In gleicher Weise sah er in der Kollegialität der Bischöfe das revolutionäre Postulat der Gleichheit und in der Ökumene das der Brüderlichkeit zum Zuge kommen. Diese Position formulierte Lefebve auch gegenüber Papst Paul VI. So schrieb er am 17. Juli 1976: „Möge Eure Heiligkeit doch dieses verhängnisvolle Unternehmen des Kompromisses mit den Ideen des modernen Menschen aufgeben, ein Unternehmen, das aus dem geheimen Einvernehmen zwischen hohen Würdenträgern der Kirche und solchen der Freimaurerlogen, das schon vor dem Konzil bestand, herrührt.“7 Diese öffentliche Globalkritik am Zweiten Vatikanum und die Missachtung kirchlicher Gesetze führten dazu, dass Bischof Pierre Mamie, der Nachfolger von François Charrière, nach Rücksprache mit römischen Behörden am 6. Mai 1975 der Piusbruderschaft die

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Approbation entzog. Damit war ihre Existenz rechtlich beendet. Lefebvre spendete aber weiterhin die Priesterweihe und errichtete neue Priorate der Bruderschaft. Nach wiederholten Mahnungen wurde er schließlich am 22. Juli 1976 vom Heiligen Stuhl mit der Strafe der Suspensio a divinis belegt: Jede Amtshandlung als Seelsorger und Bischof war ihm damit verboten.

Die Position von Paul VI. Trotz dieser aussichtslosen Situation hielt Paul VI. weiterhin an der Möglichkeit einer Versöhnung fest. Er empfing Lefebvre am 11. September 1976 zu einem Gespräch und schrieb ihm am 11. Oktober einen umfangreichen Brief, in welchem er ihm die päpstliche Position in den strittigen Lehrfragen darlegte und gleichzeitig den Weg beschrieb, wie eine Bewältigung des Konflikts möglich sei.8 Von Bedeutung sind in diesem Brief des Papstes die Darlegungen zum Konzil und zum Traditionsbegriff. „Die Tradition“, so Paul VI., „ist nicht eine erstarrte oder tote Gegebenheit, eine im gewissen Sinne statische Tatsache, die in einem bestimmten Augenblick der Geschichte das Leben des aktiven Organismus, den die Kirche, d. h. der mystische Leib Christi darstellt, blockieren würde.“ Daraus zog Paul VI. den Schluss: „Es ist Aufgabe des Papstes und der Konzilien, zu unterscheiden, was an dem der Kirche anvertrauten Glaubensgut unveränderlich ist. Wer es leugnet, wird dem Herrn Jesus Christus und dem Heiligen Geist untreu. Es ist aber auch Aufgabe des Papstes und der Konzilien zu unterscheiden, was den veränderten Zeitumständen angepasst werden muss, damit das Gebet und das Apostolat der Kirche, den sich wandelnden Gegebenheiten von Zeit und Ort entsprechend, besser ermöglicht werden und die Botschaft Gottes lebendiger und in den heutigen Sprachgebrauch übersetzt und, ohne alle denkbaren Zweideutigkeiten, vermittelt wird.“9 Im Detail weist der Papst dann nach, dass die kritisierten Konzilstexte im Rahmen der von ihm formulierten „lebendigen Tradition“ zu akzeptieren sind und bittet Lefebvre, mögliche Zweifel nicht als grundsätzliche Ablehnung des Konzils zu formulieren. Abschließend formuliert Paul VI. mehrere Bedingungen, unter denen Lefebvre die Aufhebung der über ihn verfügten Suspendierung erwarten kann. An erster Stelle nennt er die Anerkennung des Konzils „in all seinen Dokumenten“ und zwar „genau in dem Sinn, in dem sie von der Konzilsvätern erstellt“ und vom Papst promulgiert worden sind.

Das Protokoll vom Mai 1988 Der Brief Pauls VI. gab den Rahmen ab, innerhalb dessen auch in den ersten Jahren des Pontifi kats Johannes Pauls II. die Verhandlungen mit Lefebvre geführt wurden. Aber da dieser nie bereit war, die Rechtmäßigkeit der nachkonziliaren Liturgiereform anzuerkennen, scheiterten alle Einigungsversuche. Zusätzlich musste Lefebvre im Verlaufe der Jahre erkennen, dass Johannes Paul II. sein Amt in einer Weise verstand, die er nicht billigen konnte. Vor

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allem lehnte er dessen Besuch in der Hauptsynagoge von Rom am 13. April 1986 und das Interreligiöse Friedenstreffen von Assisi am 28. Oktober im selben Jahr ab. In seiner Schrift „Ils l’ont découronné“ vom Juni 1978 widerholte er noch einmal seine massive Kritik am Konzil. Im gleichen Monat kündigte er an, dass er Bischöfe weihen werde, damit „diese seine Nachfolge übernehmen können, da Rom sich ja in der Finsternis bewegt“10. Das alarmierte Rom. In der Folge kam es zu mehreren Verhandlungen zwischen Lefebvre und dem Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger. Rom wollte damit Lefebvre zu einem Verzicht auf die Bischofsweihen bewegen. Am 5. Mai 1988 wurde ein „Protokoll“ (Accordo) ausgehandelt und unterzeichnet, das „eine Erklärung lehrmäßiger Art und den Entwurf einer juridischen Anordnung ebenso wie die Maßnahmen (enthielt), die dazu bestimmt waren, die kanonische Lage der Bruderschaft und der Personen, die mit ihr verbunden sind, zu ordnen“. Im Einzelnen sollte sich die Bruderschaft auf fünf Forderungen verpflichten: Treue gegenüber der katholischen Kirche und dem Papst in Rom als dem Haupt des Bischofskollegiums; Annahme der in Lumen gentium Nr. 25 entfalteten Lehre über das kirchliche Lehramt und über den ihm geschuldeten Gehorsam; das Versprechen, jede Polemik gegenüber Rom zu vermeiden und die strittigen Punkte, die das Zweite Vatikanum betreffen, im Gespräch mit Rom zu klären; die Anerkennung der von Paul VI. und Johannes Paul II. approbierten liturgischen Bücher; die Einhaltung der kirchlichen Gesetze.11 Diesen Verpflichtungen standen Zugeständnisse Roms gegenüber, für die Lefebvre jahrelang erfolglos gekämpft hatte und die ihm nun gewährt wurden: die Anerkennung der Priesterbruderschaft als einer Gesellschaft apostolischen Lebens; die Erlaubnis, die liturgischen Bücher zu verwenden, die vor der Liturgiereform zugelassen waren; die Weihe eines Bischofs aus dem Kreis der Priesterbruderschaft; die Errichtung einer eigenen Schlichtungskommission für künftige Streitfälle. Neben diesem Ungleichgewicht zwischen einzugehenden Verpflichtungen und gewährten Zugeständnissen brachte das „Protokoll“ für Erzbischof Lefebvre noch einen bedeutsamen Gewinn: Es sah keine Zustimmung zum Konzil „in all seinen Texten“ vor, wie es Paul VI. im Oktober 1976 gefordert hatte. Im Endeffekt verpflichtete das „Protokoll“ vom 5. Mai 1988 einerseits zu einer globalen formalen Gehorsamsverpflichtung und erklärte anderseits die bisher zwischen Lefebvre und dem Heiligen Stuhl strittigen Texte des Konzils zu Gegenständen künftiger Verhandlungen. Nachdem Lefebvre am 5. Mai 1988 seine Zustimmung schrift lich erklärt hatte, zog er diese am nächsten Tag zurück und gab bekannt, dass er an den Bischofsweihen am 30. Juni 1988 festhalten würde. An diesem Tag weihte er in Ecône Richard Williamson, Bernard Tisier de Mallerais, Alfonso de Galarreta und Bernard Fellay zu Bischöfen.12

Bischofsweihe und Exkommunikation Rom reagierte rasch. Am 1. Juli 1988 wurde das Exkommunikationsdekret für Lefebvre, den mitweihenden Bischof Antonio de Castro Mayer (emeritierter Bischof von Cam-

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pos / Brasilien) und für die vier neu geweihten Bischöfe veröffentlicht.13 Johannes Paul II. begründete tags darauf in einem Motu proprio Ecclesia Dei die Exkommunikation.14 Ausdrücklich verwies er dabei auf einen „widersprüchlichen Traditionsbegriff “ von Lefebvre: „Denn niemand kann der Tradition treu bleiben, der die Bande zerschneidet, die ihn an jenen binden, dem Christus selbst in der Person des Apostels Petrus den Dienst an der Einheit in seiner Kirche anvertraute.“ Des weiteren enthielt das Motu Proprio Bestimmungen, unter welchen Bedingungen ehemalige Mitglieder der Priesterbruderschaft St. Pius X. wieder in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche aufgenommen werden können. Dafür sollte eine Päpstliche Kommission mit dem Namen Ecclesia Dei errichtet werden. Für die Rückkehrwilligen um Josef Bisig errichtete sie die Priesterbruderschaft St. Petrus als einer klerikale Gesellschaft des Apostolischen Lebens päpstlichen Rechtes. Von der neuen Bruderschaft wurden die im Protokoll vom 5. Mai 1988 festgehaltenen Bedingungen verlangt.15

Die Politik der Kommission Ecclesia Dei Auf der Basis des Motu Proprio vom 2. Juli 1988 wurde in den folgenden Jahren von der Kommission Ecclesia Dei eine Reihe von Klerikergemeinschaften zugelassen. Damit schuf der Heilige Stuhl weitreichende Sonderbestimmungen für einzelne Gruppierungen innerhalb der Kirche.16 Gleichzeitig schränkte er den eigenen Spielraum für Verhandlungen mit der Piusbruderschaft ein. Denn mit gutem Recht konnten deren Mitglieder erwarten, dass von ihnen nicht mehr gefordert werde als von den anderen inzwischen anerkannten Gemeinschaften. Diese Vorgeschichte wirkte sich auch in den Verhandlungen aus, welche die Kommission Ecclesia Dei über Jahre hinweg mit den Oberen der Priesterbruderschaft St. Pius X. führte. Schließlich lieferte sie auch die entscheidende Grundlage für die Aufhebung der Exkommunikation im Januar 2009.17 Im Dekret der Bischofskongregation vom 21. Januar 2009 wird nämlich die Aufhebung der Strafe mit dem Hinweis auf einen Brief von Bischof Bernard Fellay vom 15. Dezember 2008 begründet. Darin erklärte dieser in seinem und im Namen seiner drei Mitbischöfe gegenüber der Kommission Ecclesia Dei: „Wir sind stets willens und fest entschlossen, katholisch zu bleiben und alle unsere Kräfte in den Dienst der Kirche Unseres Herrn Jesus Christus zu stellen, die die römisch-katholische Kirche ist. Wir nehmen ihre Lehren in kindlichem Gehorsam an. Wir glauben fest an den Primat Petri und an seine Vorrechte. Und darum leiden wir sehr unter der gegenwärtigen Situation.“ Diese Formulierung wird zwar nicht dem Sinn von Lumen gentium 25 gerecht; sie bewegt sich aber in jenem Rahmen eines formalen Begriffs der Glaubenszustimmung, wie er von der Kommission Ecclesia Dei bislang gefordert wurde.

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Die Aufhebung der Exkommunikation Die Veröffentlichung des Aufhebungsdekrets am 24. Januar 2009 schlug wie eine Bombe ein. Dabei provozierte nicht nur die Tatsache, dass sich unter den vier Bischöfen mit Richard Williamson ein notorischer Holocaustleugner befand, weltweite Proteste. Verstörend war ebenso die Tatsache, dass im Dekret nur eine formale Zustimmung zum päpstlichen Lehramt als Grund für die Aufhebung der Exkommunikation genannt wurde. In welchem Ausmaß auch eine Zustimmung zu den Beschlüssen des Konzils gefordert wurde bzw. bei weiteren Verhandlungen verlangt werden würde, blieb dabei unklar.18 Eine vorläufige Klärung in dieser Debatte brachte der Brief von Benedikt XVI. an die Bischöfe der katholischen Kirche vom 10. März 2009.19 Darin schrieb er, für die Aufhebung der Exkommunikation sei die Unterscheidung zwischen einer „disziplinären Ebene“ und einem „doktrinären Bereich“ entscheidend gewesen. In Zukunft gehe es um Fragen lehrmäßiger Natur: um „die Annahme des II. Vatikanischen Konzils und des nachkonziliaren Lehramtes der Päpste“. Gleichzeitig kündigte der Papst an, dass die Kommission Ecclesia Dei der Glaubenskongregation eingegliedert und unter die unmittelbare Verantwortung von deren Präfekt gestellt würde.

Immer neue Verhandlungsrunden Auf dieser rechtlichen Grundlage wurden vom Oktober 2009 bis April 2011 Verhandlungen geführt. Am 14. September 2011 teilte das Vatikanische Presseamt mit, der Priesterbruderschaft sei eine „lehramtliche Präambel“ übergeben worden, von deren Annahme die kanonische Anerkennung der Priesterbruderschaft abhängig sei.20 Deren Inhalt wurde nicht veröffentlicht, sondern nur allgemein umschrieben: „Diese lehrmäßige Erklärung zählt einige Lehrprinzipien und Interpretationskriterien der katholischen Kirche auf, die notwendig sind, um die Treue zum Lehramt der Kirche und das ,sentire cum ecclesia‘ (,Fühlen mit der Kirche‘) zu garantieren.“ Seitdem ziehen sich die Beratungen innerhalb der Priesterbruderschaft hin, wieweit sie die Präambel annehmen kann. Am 6. September 2012 erklärte sie gegenüber der Kommission Ecclesia Dei, sie brauche noch Zeit für weitere Beratungen. Am 27. Oktober 2012 verdeutlichte die Kommission, dass sie noch immer auf eine Antwort der Priesterbruderschaft warte. „Nach dreißig Jahren der Trennung ist es verständlich, dass es Zeit braucht, um die Bedeutung dieser jüngeren Entwicklung zu verarbeiten.“21 Ergänzend zu dieser Erklärung sind im Januar 2013 Passagen eines Briefes des Vizepräsident der Kommission, Erzbischof Augustine Di Noia OP, an die Bruderschaft bekannt geworden.22 Bemerkenswert daran ist nicht nur die Tatsache, dass Di Noia die Erklärung vom Oktober 2012 wiederholt, in der der Piusbruderschaft „ausreichend Zeit“ für die Beratungen gewährt wird. Gleichzeitig erinnert er daran, dass immer noch die gleichen Streitpunkte bezüglich des Konzils wie in den 1970er Jahren bestehen. Wörtlich heißt es: „Die drei

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Jahre der doktrinären Gespräche, die kürzlich abgeschlossen wurden, haben diese Situation nicht grundlegend geändert.“ Ob der Ende Februar 2013 wirksam gewordene Amtsverzicht von Benedikt XVI., der der Piusbruderschaft weit entgegengekommen ist, dabei hilft oder nicht, bleibt abzuwarten.

Anmerkungen 1 Vgl. Batlogg, A. R.: Ist das Zweite Vatikanum Verhandlungsmasse?. In: StZ 227 (2009), 649– 650; Tück, J.-H.: Ein „reines Pastoralkonzil“? Zur Verbindlichkeit des Vatikanum II. In: IKaZ 41 (2012), 441–457; ders.: Postkonziliare Interpretationskonfl ikte. Nachtrag zur Debatte um die Verbindlichkeit des Konzils. In: StZ 231 (2013), 579–586. 2 Schmidberger, F.: Die Zeitbomben des Zweiten Vatikanischen Konzils. Vortrag gehalten in Mainz am 9. April 1989 („Lehret sie alles halten“, Nr. 8). Jaidhof (1997), 4. 3 Vgl. Raguer, H.: Das früheste Gepräge der Versammlung. In: Alberigo, G. u. K. Wittstadt (Hrsg.): Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959–1965). Bd. 2. Mainz–Leuven (2000), 201–272: 232–237; Famerée, J.: Bischöfe und Bistümer (5. November  – 15. November 1963). In: Alberigo, G. u. K. Wittstadt (Hrsg.): Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959–1965). Bd. 3. Mainz–Leuven (2002), 139–222: 200–205. 4 Vgl. Senèze, N.: La crise intégriste. Vingt ans après le schisme de Mgr Lefebvre. Paris (2008), 73–83; Bischof, F. X.: Widerstand und Verweigerung  – Die Priesterbruderschaft St.  Pius X. Chronologie eines Schismas. In: MTh Z 60 (2009), 234–246. 5 „Glaubenserklärung“ von Erzbischof Lefebvre vom 21. 11. 1974, in: Congar, Y.: Der Fall Lefebvre. Schisma in der Kirche? Freiburg (21977), 99–101: 99. – Zusätzlich zu Congars Ausführungen (ebd. 51–65) seien erwähnt: Schulz, M.: Das Zweite Vatikanische Konzil in der Einschätzung der Pius-Bruderschaft. In: IKaZ 38 (2009), 206–216; Schockenhoff, E.: Versöhnung mit der Piusbruderschaft? Der Streit um die authentische Interpretation des Konzils. In: StZ 228 (2010), 219–228. 6 Zit. nach Congar (1977), 24. – Hinter solchen Analogien zeigt sich die Herkunft von Lefebvre aus dem Milieu des katholischen Traditionalismus Frankreichs, die im Gefolge der „Action française“ die Maximen der Französischen Revolution als verwerflich ansah; vgl. Congar, Y.: Erzbischof Lefebvre Lehrmeister der „Tradition“? Die notwendigen Unterscheidungen. In: Conc(D) 14 (1978), 619–624; Damberg, W.: Die Priesterbruderschaft St. Pius X. (FSSPX) und ihr politisch-geistesgeschichtlicher Hintergrund. In: Hünermann, P. (Hrsg.): Exkommunikation oder Kommunikation? Der Weg der Kirche nach dem II. Vatikanum und die Piusbrüder (QD 236). Freiburg (2009), 69–122; Sander, H.-J.: Der andere Gallikanismus. Ein Freiheitsproblem der Gegenwart. In: StZ 231 (2013), 14–20. 7 Zit. nach Congar (1977), 137 f. Anm. 14. 8 Dokumentation in: ebd., 117–133. 9 Beide Zitate: ebd. 123. 10 Senèze (2008), 177. 11 Vgl. Müller, L.: Der Fall Lefebvre. Chronik eines Schismas. In: Ahlers, R. u. P. Krämer (Hrsg.): Das Bleibende im Wandel. Theologische Beiträge zum Schisma von Marcel Lefebvre. Paderborn (1990), 11–34: bes. 25–29.

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12 Vgl. Lefebvre, M.: „Mandatum apostolicum“ vom 30. 6. 1988. In: Ahlers / Krämer (1990), 121. 13 Vgl. Kongregation für die Bischöfe. Dekret vom 1. Juli 1988. In: Ahlers / Krämer (1990), 122. 14 Vgl. Papst Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben Motu Proprio „Ecclesia Dei“ vom 2. Juli 1988 In: Ahlers / Krämer (1990), 122–126. 15 Vgl. Päpstliche Kommission „Ecclesia Dei“. Dekret zur Errichtung der Priesterbruderschaft St. Petrus vom 5. November 1988. In: Ahlers / Krämer (1990), 126 f. 16 Vgl. Sesboüé, B.: L’Institut du Bon Pasteur. Espoir ou équivoque? In: Études 406 (2007), 779– 792. 17 Vgl. Kongregation für die Bischöfe. Dekret: Aufhebung der Exkommunikation von vier Bischöfen der Bruderschaft „St.  Pius“ (21. Januar 1009). In: Beinert, W. (Hrsg.): Vatikan und PiusBrüder. Anatomie einer Krise. Freiburg (2009), 232 f. 18 Vgl. dazu Pesch, O. H.: Zur Aufhebung der Exkommunikation der Bischöfe der PriesterBruderschaft St. Pius X. In: Ders.: Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Wirkungsgeschichte. Kevelaer (32011), 387–390. 19 Vgl. Benedikt XVI.: Brief an die Bischöfe der Katholischen Kirche in Sachen Aufhebung der Exkommunikation der vier von Erzbischof Lefebvre geweihten Bischöfe (10. März 2009). In: Beinert (2009), 249–256. 20 Vgl. Batlogg, A. R.: Das Konzil vor dem Ausverkauf? In: StZ 229 (2011), 721–722; Miccoli, G.: La Chiesa dell’anticoncilio. I tradizionalistia all riconquista di Roma. Rom (2011), 3–7. 21 Piusbrüder vom Zeitdruck befreit. In: KNA Informationsdienst Nr. 44 (31. 10. 2012), 3. 22 Der Brief wurde in Auszügen veröffentlicht in: KNA Informationsdienst Nr. 4 (23. 1. 2013), 10; vgl. Hünermann, P.: Am Ende der Gespräche? Anmerkungen zum Verhältnis Vatikan – Piusbruderschaft. In: WuA 54 (2013), 28–33.

Hans-Jochen Jaschke

Das Konzil – Wegweiser und Grundtext in neuen Zeiten

Hans-Jochen Das Konzil – Wegweiser und Grundtext in neuenJaschke Zeiten

„In der Zeit eines neuen Advents“ (Johannes Paul II.) Die Antrittsenzyklika von Johannes Paul II. Redemptor hominis vom 04. 03. 1979 setzt ein mit der Ansage, dass das Ende des zweiten Jahrtausends für die Kirche, wie für die Menschheitsgeschichte ein großes Datum darstellt. „Wir befinden uns in gewisser Weise in der Zeit eines neuen Advents, in einer Zeit der Erwartung“ (RH 1). Der neue Papst trägt bewusst den Namen seines Vorgängers Johannes Paul I. und damit auch die großen Namen von Johannes XXIII. und Paul VI. Der Erstere hat das Konzil einberufen, der Zweite es abgeschlossen mit der Aufgabe, es im Leben der Kirche zu verwirklichen – unter der Aussicht, „dass der Geist der Kirche heute durch das Konzil sagt, was er in dieser Kirche allen Kirchen sagt“ (RH 3). Johannes Paul II. hebt die Wiederentdeckung des Prinzips der Kollegialität und die Sendung zum Apostolat hervor (RH 5). Er stellt das dringende Mühen „um die universale Einheit der Christen“ mit der Frage „ist es erlaubt, untätig zu bleiben? (RH 5)“, heraus und macht nachdrücklich den Dialog der Religionen zur Pfl icht (RH 6). Das Konzil hat das Grundprinzip der Kirche und ihres Lebens, das Geheimnis der Erlösung, ins Zentrum gestellt. „Christus der Erlöser ist … in einzigartiger und unwiederholbarer Weise in das Geheimnis des Menschen und in sein Herz eingetreten“ (RH 8). In ihrer „tiefen Analyse der Welt von heute“, dem „wundervollen Text des kirchlichen Lehramtes“ hat die Pastoralkonstitution es ins Bewusstsein gerufen: „Da in ihm die menschliche Natur angenommen wurde, ohne dabei verschlungen zu werden, ist sie dadurch auch schon in uns zu einer erhabenen Würde erhöht worden. Denn Er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt“ (RH 8; GS 22). Das Zweite Vatikanische Konzil hat so den Grund und den Auftrag der Kirche bestimmt: Sie ist zu allen Menschen gesandt, die ihr Gewissen und ihre Freiheit erfahren dürfen, zu den Menschen mit ihren Erfahrungen von Fortschritt und Bedrohung, im Einsatz für die unverletzlichen Menschenrechte (RH 16–18). „Alle Wege der Kirche führen zum Menschen“ (RH 14). Die Kirche steht im prophetischen Dienst. Von ihrem Grund her „jedem Menschen eng verbunden“, steht sie, – Papst, Bischöfe und das ganze Volk Gottes mit seinem „besonderen Glaubenssinn“ (RH 19) – in der „Verantwortung … für die Wahrheit“, in der Verkündigung, in der Katechese und im Dialog der Wissenschaften (RH 19).

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Sie wird als priesterliches Volk nicht nur der Lehre nach, sondern in „existenzieller“ Weise durch die Eucharistie aufgebaut (LG 11). Sie lebt in Umkehr und Buße. Sie muss als „Kirche des neuen Advents die Kirche der Eucharistie und der Buße sein“ (RH 20). In der Teilnahme am königlichen Amt Christi schließlich lässt sie sich gemäß der in Christus gegebenen „ontologischen“ Gemeinschaft dazu einladen, dass die Jünger und Gläubigen auch „menschlich“ eine Gemeinschaft werden müssen, die sich ihres eigenen Lebens und Wirkens bewusst ist (RH 21). „Diese Treue zur Berufung, die wir durch Christus durch Gott empfangen haben, bringt jene solidarische Verantwortung für die Kirche mit sich, zu der das Zweite Vatikanische Konzil alle Christen erziehen will“.1 So macht Johannes Paul II. das Konzil in seiner auf die Menschheit ausgreifenden Dynamik zum Programm für seinen Pontifi kat, ganz in Entsprechung zu den Sätzen der Predigt bei seiner Amtseinführung am 22. Oktober 1979: „Brüder und Schwestern! Habt keine Angst, Christus aufzunehmen und seine Herrschergewalt anzuerkennen! Helft dem Papst und allen, die Christus und mit der Herrschaft Christi den Menschen und der ganzen Menschheit dienen wollen! Habt keine Angst! Öff net, ja reißt die Tore weit auf für Christus! Öffnet die Grenzen der Staaten, die wirtschaft lichen und politischen Systeme, die weiten Bereiche der Kultur, der Zivilisation und des Fortschritts seiner rettenden Macht! Habt keine Angst! Christus weiß, was im Innern des Menschen ist. Er allein weiß es!“2.

15 Jahre später, am 10. November 1994 wendet sich Johannes Paul II. mit seinem Schreiben Tertio millennio adveniente zur Vorbereitung auf das Jubeljahr 2000 mit der Versicherung an die Kirche, „dass das Zweite Vatikanische Konzil ein Ereignis der Vorsehung darstellt, durch das die Kirche die unmittelbare Vorbereitung auf das Jubiläum des Jahres 2000 in Gang gesetzt hat. Es handelt sich um ein Konzil, das zwar den früheren Konzilien ähnlich und doch sehr andersartig ist; ein Konzil, das sich auf das Geheimnis Christi und seiner Kirche konzentriert und zugleich offen ist für die Welt“. Hat der Papst in seiner Antrittsenzyklika das Bild vom neuen Advent gebraucht, so spricht er jetzt von der „Vorbereitung jenes neuen Frühlings christlichen Leben“, die mit dem Konzil eingesetzt hat.3 Die innere Logik des Schreibens zum Jahr 2000 entspricht der Intuition von Redemptor Hominis. Da das Konzil das Geheimnis ins Zentrum stellt, dass Gott sich in Christus mit jedem Menschen verbindet, ist die Kirche von ihrem Wesen her Kirche bei den Menschen und auf dem Weg zu ihnen. Die Öff nung auf die Welt hin holt dies ein. „Eine enorme Fülle von Inhalten und ein neuer, bis dahin nicht gekannter Ton bei der Vorlage dieser Inhalte beim Konzil stellen gleichsam eine Ankündigung neuer Zeiten dar“.4 Für die Gewissensprüfung, vor dem großen Jubeljahr, sind die Erinnerungen und Weisungen des Konzils ein klarer Maßstab.5 Das Heilige Jahr 2000 ist in einem komplexen Prozess begangen worden. An seinem Abschluss steht wieder ein großes Schreiben, das der Papst unter die Weisung Jesu Duc in altum – fahr auf den weiten See hinaus“ (Lk 5,4), stellt.6 Das Jahr 2000 sollte 35 Jahre nach dem Konzil eine Einladung an die Kirche sein, „sich die Frage nach ihrer Erneuerung zu stellen, um mit neuem Schwung ihren Evangelisierungsauft rag anzugehen“.7 Die Erneue-

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rung besteht in der Begegnung mit Christus, im Eintreten der Kirche in die „Bewegung der Inkarnation selbst“, indem sie erfährt, was der Geist Gottes ihr sagen will.8 Sie beginnt mit der „Reinigung des Gedächtnisses“ und führt in die Erfahrungen des Glaubens und des Zeugnisses, dass Christus, der neue Mensch, das „echte Antlitz des Menschen“ offenbart, „dem Menschen den Menschen selbst voll kund“ macht.9 In der Logik der Inkarnation weiß sich die Kirche in der Pflicht, „Geschichte aufzubauen“.10 Der ökumenische Einsatz und der interreligiöse Dialog müssen weitergehen.11 Der Papst spricht von der „demütigen und zugleich vertrauensvollen Öff nung“ des Konzils für die „Zeichen der Zeit“, seiner „Haltung der Öffnung und zugleich sorgfältiger Unterscheidung“.12 Gehe die Kirche auf die „Straßen der Welt“, fahre sie hinaus auf den „weiten Ozean“.13 Die Intuitionen Johannes Pauls II. beeindrucken in ihrer Sicherheit, als kraft voller und sympathischer Gestus. Gott ist offenbar und den Menschen nahe. Die Kirche darf sich – in aller menschlichen Erbärmlichkeit  – als von Gott berührte, geheiligte Wirklichkeit, als Mysterium – Sakrament erfahren.

Erfahrungen nach dem Konzil 50 Jahre nach dem Konzil, 12 Jahre nach der Feier des Jahres 2000, fragen viele, wo die Hochgefühle geblieben sind. Die von Johannes Paul II. ausgesprochene Aufforderung zu „einer Prüfung der Annahme des Konzils“14 ermutigt zu Anmerkungen und Fragen. Die Jüngeren sind mit dem Konzil aufgewachsen oder nach ihm geboren, die Älteren haben es als Aufbruch in die Weite erfahren. Konzilstheologen wie Joseph Ratzinger und Karl Rahner konnten der Gestalt des Glaubens so Ausdruck geben, dass sie leuchten, und Leidenschaft wecken konnte, Lust zum Dialog mit den Geistern der Zeit. Nicht zu vergessen sind die kritischen Ereignisse. Das Konzil (GS 51, Anm. 14) hatte beim Thema Familienplanung und Empfängnisregelung eine Entscheidung über die Methoden offen gelassen. Am 25. Juli 1968 hat dann Papst Paul VI. mit der Enzyklika Humanae vitae die Festlegung getroffen, dass Methoden einer „künstlichen“ Verhütung abzulehnen sind, da sie die Einheit von ehelicher Liebe und Offenheit für neues Leben zerstören. Die deutschen Bischöfe (ähnlich die österreichischen) haben die seelsorgliche Hilfe zu geben versucht, dass die Gläubigen im Ernstnehmen der päpstlichen Entscheidung selbst zu einem verantwortlichen Gewissensurteil finden müssen. Bis heute belastet der Konflikt die Gewissen und die kirchlichen Autoritäten. Schmerzvoll bleibt die Erinnerung an das Schicksal der Befreiungstheologie, einer kraft vollen Frucht des Konzils: an der Seite der Armen, mit der Reflexion der strukturellen Bedingungen der Armut, mit den Erfahrungen von Kirche in den Basisgemeinden. Die Sorge vor marxistischen Überfremdungen und das Eingreifen der Glaubenkongregation haben eine Entmutigung und Schwächung zur Folge. Die „Option für die Armen“ und die theologische Erkenntnis von „Strukturen der Sünde“ dürfen nicht verloren gehen. Die Kirche in Deutschland blickt auf die Würzburger Synode zurück, berufen zur „Verwirklichung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils“. Die Voten an den Heili-

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gen Stuhl haben ihre eigene, nicht abgeschlossene Geschichte. Kardinal Döpfner hält in seinem Geleitwort vom 21. Juli 1976 – am 24. Juli 1976 ist er verstorben – fest: „Das Wagnis hat sich gelohnt. Nicht die Pessimisten haben Recht behalten, sondern jene, die auf das offene, wenn nötig auch harte Gespräch vertraut haben. Die wirkliche Arbeit, nämlich das, was in Würzburg beraten und beschlossen wurde, mit Geist und Leben zu erfüllen, liegt noch vor uns“.15 Auf dem Feld der nachkonziliaren Erfahrungen spielen Personen ihre eigene Rolle. Hans Küng mit seinem Opus, mit seiner Fähigkeit, über enge Kreise hinaus Menschen anzusprechen, auch mit der Attitüde des unbeugsamen Protestierers, steht für auch öffentlich geführte Auseinandersetzungen. Die deutschen Bischöfe und Rom haben Korrekturen angemahnt und mit dem Entzug der Lehrerlaubnis eine Entscheidung getroffen. Zum Glück ist es gelungen, einen Bruch zu vermeiden – Hans Küng bleibt ein Mann der Kirche –, aber der „Fall Küng“ beschwert die Kirche in Deutschland. Nicht vergessen werden dürfen Kränkungen, die mit Person und Werk von Eugen Drewermann verbunden sind. Drewermann hat die Seelen vieler berührt, auf Fehlhaltungen aufmerksam gemacht und den biblischen Glauben mit Erfahrungen der Tiefenpsychologie zusammengebracht. Er macht es sich zur Aufgabe, Glaubensaussagen von der Biologie, der Kosmologie und der Neurologie her zu erschließen. Der Bruch mit ihm, bedingt durch Verhärtungen, auch durch Drewermanns Distanzierung von der Glaubensgestalt des Christentums müssen die Kirche belasten. Die große Zahl der Gläubigen hat die Wirkungen des Zweiten Vatikanischen Konzils in der Feier der Liturgie erfahren. Es hat sich eine als selbstverständlich erlebte Form durchgesetzt, die in der Kontinuität des Katholischen erfahren wird. Eine gewisse Befriedung ist durch die Entscheidung erfolgt, dem vorkonziliaren Ritus sein Recht zu geben. Unglücklich bleibt die neue lateinische Fassung der Karfreitagsfürbitte im tridentinischen Ritus. Sie wollte nicht tragbare Härten des alten Ritus aus dem Weg räumen, hat aber unnötige Ärgernisse provoziert. Der Rückgang der liturgischen Praxis in Deutschland hat komplexe Gründe. Für eine katholische Praxis im Sinne des Konzils müssen an erster Stelle die Leidenschaft für die Eucharistie und ihre sonntägliche Feier stehen. Die aktuellen Gefährdungen durch den sich verschärfenden Mangel an Priestern, aber auch durch ein sich veränderndes Bewusstsein müssen als die größte, im wahrsten Sinne des Wortes, lebensbedrohende Herausforderung für die Kirche in Deutschland erfahren werden.

Das unabgeschlossene Konzil Die Kirche in Deutschland erlebt glanzvolle Höhepunkte wie die Katholiken- und Kirchentage, den Weltjugendtag in Köln mit dem Papst, den eucharistischen Weltkongress in Köln, die Papstbesuche mit eindrucksvollen Begegnungen. Das alltägliche Leben der Kirche und der Gemeinden ist in weiten Teilen des Landes immer noch tief verwurzelt, verwoben mit den ökumenischen Nachbarn und der Gesellschaft. Das Glaubenszeugnis von

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vielen Millionen Christen bildet eine starke und prägende Realität. Aber die bedenklichen, freudlosen, kritischen Töne sind überdeutlich. Menschen erfahren die Neustrukturierungsprozesse in der Seelsorge, die Schließung und Profanierung von Kirchen, die Aufgabe kirchlicher Einrichtungen. Der Priestermangel trübt den Blick in die Zukunft. Auch die anderen kirchlichen Berufe sind im Rückgang. Vor allem muss die seit Jahren steigende, überaus hohe Zahl von Kirchenaustritten die Christen in Deutschland zutiefst beunruhigen. Es kann nur als zynisch empfunden werden, wenn hier von Prozessen des Gesundschrumpfens gesprochen wird. Besonders ins Mark getroffen wird auch die Kirche in Deutschland durch den Skandal des Missbrauchs. Die Opfer mussten das Gegenteil von dem erleiden, was die Kirche ihrem Wesen nach ist: ein Raum der Liebe und des Schutzes. Auch wenn die kirchlichen Opfer im Vergleich zu anderen gesellschaft lichen Bereichen nur eine sehr geringe Zahl bilden, auch wenn sich die Kirche unter dem Druck der Öffentlichkeit und zur Hilfe verpflichtet, bleiben die kritischen Blicke auf sie gerichtet. In diesen gemischten und bedrohlichen Situationen finden Stimmen zur Reform offene Ohren, oft vermischt mit dem Nebenton, die Katholische Kirche müsse endlich die Reformation einholen. Das Konzil in diesem Sinne zu verstehen wäre freilich eine grobe Verfälschung seiner Absichten. Die immer neu notwendige Reform der Kirche, Suchbewegungen, Einsichten, das Finden der richtigen Wegmarken in neuen Zeiten sind in ihrem Grund nicht die Folge kirchenpolitischer, von öffentlichem Druck begleiteter Forderungen. Sie ereignen sich im Geist der Bekehrung, der zur Vertiefung des Glaubens führt, im authentischen Zeugnis für die Weisung Jesu, im Hören auf sein Wort heute, in der Bereitschaft, den sensus ecclesiae zu wahren und neu zu gewinnen. So sind ja auch evangelische Christen dabei, im Blick auf das Jahr 2017 das „Eigentliche“ der Reformation zu suchen. Es wird sich nicht in populären Schlagworten wie „protestantische Freiheit“, „Priesterehe“, „Frauen im Pastorenamt“ erschöpfen. Auch Formen eines „Kulturchristentums“ oder eines den gesellschaft lichen Plausibilitäten folgenden „Christentum light“ können nicht das Wesen des Christentums sein. Papst Benedikts Diagnose von der Glaubenskrise unserer Zeit verdient Beachtung und Sorge. Freilich bildet die Krise ein Syndrom mit vielen Elementen: Enttäuschung, Verbitterung, Kränkung, Erfahrungen von Enge und Erstarrung, Härte und Unbeugsamkeit, auch im kirchlichen Alltag. Eine Glaubenskrise ereignet sich in vielen Wechselwirkungen. Eine Therapie muss diese beachten, heilen oder zu beruhigen versuchen. Die notwendige Erneuerung der Kirche geschieht von der Mitte des Glaubens her und auf sie hin, in der immer jungen Kraft und Begeisterung für Jesus Christus, in Umkehr und Bekehrung. Sie ist verbunden mit dem Mut zu neuen Schritten auf den Menschen hin, mit dem Mut zur Reform der Kirche. Der vom Konzil eröff nete Weg bleibt zukunftsweisend. Die Wegmarken gehören nicht ins Museum. Neu justiert und ergänzt bilden sie Markierungen für Felder, Gebiete, Situationen der Kirche und des Glaubens. Leitend für eine wahrhaftige Konzilshermeneutik muss die einladende Geste bleiben: Die Kirche ist ganz Kirche Jesu Christi, wenn sie sich den Menschen in der Welt öffnet. Diese Geste muss die Praxis, wie die Theologie bestimmen.

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Bei einer solchen Einladung geht es nicht um eine Taktik eines religiösen Managements. Ihr Grund ist Glaubensgewissheit, dass der unendliche Gott offenbar ist. Gott bleibt die Mitte allen kirchlichen Zeugnisses. Um ihn geht es, um die Leidenschaft und Begeisterung für ihn, die Kunst und das Wachsein einer Theologie, die Rechenschaft von ihm gibt, nicht in der Wiederholung der dogmatischen Formeln und Sätze, immer im Gespräch mit den Erfahrungen und dem Wissen heute. Die Konzilskonstitution über die göttliche Offenbarung ruft zur Fortschreibung und weiteren Vertiefung auf. Das Konzil wollte dem Glauben dienen, und immer die einzelnen Menschen zu ihm einladen. Der Glaube als Geschenk Gottes, das aus der Öffnung für ihn, aus Bereitschaft und Umkehr erwächst, berührt und bewegt die Person. Als Beziehungsgeschehen zwischen dem unendlich größeren Gott mit dem einzelnen Menschen entzieht er sich der Objektivierung und der Beurteilung von außen. Aber der biblisch-christliche Glaube gewinnt, in den Glaubenzeugnissen der Schrift, und dann in den Bekenntnissen der Kirche Gestalt. Wege einer neuen Evangelisierung und Katechese werden die Inhalte des Glaubens – Bibel, kirchliche Zeugnisse, auch Texte wie den Katechismus der Katholischen Kirche oder den vom Papst empfohlenen Jugendkatechismus – im Blick haben. Aber sie wollen zu einem Glauben einladen, der von dem unsagbaren Geheimnis Gottes berührt wird. Das Konzil hat das Geheimnis der Kirche neu erschlossen. Die Begeisterung ist heute eher einer Ernüchterung gewichen, auch bedingt durch Erfahrungen in der Praxis der Kollegialität und in der Wahrnehmung des Volkes Gottes als des gemeinsamen menschlichen Grundes der Kirche. Dies ist eine Herausforderung für wechselseitige Lernbereitschaft im Geist der Communio, in Theologie und Praxis. Nicht abgeschlossen bleibt das Kapitel über die Frau in der Kirche. Das Konzil hat zu seiner Zeit Wegweisendes gesagt. Johannes Paul II. hat mit dem apostolischen Schreiben Mulieris dignitatem von 1988 das Thema fortgeschrieben und mit dem Schreiben Christifidelis laici von 1889 die Sendung der Laien herausgestellt. Aber es ist nicht gelungen, den Dienst der Frau in der Kirche, in der Praxis wie in der Theorie, so zu entdecken und zu definieren, dass dies dem Grund des Christseins in katholischer Wahrnehmung entspricht und in der Einheit des Katholischen weltweit und die Zeiten hindurch bestehen kann. Die Mitte der konziliaren Vergewisserung bildet die Aussage über die Sakramentalität der Kirche (LG 8). Als Geheimnis Gottes ist die Kirche eine sakramentale Realität, sichtbar, irdisch, menschlich und zugleich die himmlische Kirche, die „eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst.“ Diese Gewissheit theologisch weiter zu entwickeln, bleibt eine große Aufgabe. Sie muss im Leben und im Bewusstsein der Kirche deutlich werden. Sie steht konträr zu einem Zeitgeist, der die Kirche ganz unter andere gesellschaft liche Einrichtungen einreihen und sie mit ihnen gleichsetzen will. Sie verklärt nicht kirchliche Fehlhaltungen, entschuldigt nicht das Ausbleiben notwendiger Reformen. Aber sie gibt den eigenen, unerhörten Wert der Kirche an, anstößig, weil die ganz andere Realität Gottes in der Kirche in diese Welt hineinleuchtet, und wirklich heilsam, da die Kirche nicht nur ein Raum von Deutungen und Interpretationen ist, sondern Raum des Heiligen, Raum „realer Gegenwart“ (George Steiner).

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In vieler Hinsicht interpretationsbedürftig bleibt die Konzilsaussage, dass die Kirche Christi in der katholischen Kirche in Einheit mit dem Papst und den Bischöfen „verwirklicht“ ist (LG 18). Zusammen mit dem Wort der Glaubenskongregation Dominus Jesus aus dem Jahre 2000, das das Herz vieler Christen in der evangelischen Kirche verletzt hat, stellt der Konzilstext die Theologie vor unerledigte Aufgaben. Der Einsatz für die Ökumene gehört zu den zentralen Themen des Konzils. Er prägt die gesamte nachkonziliare Entwicklung und hat viele Früchte getragen. Aber der Weg bleibt mühsam. Auch wenn die katholische Kirche den Weg zur Einheit nicht mehr als Rückkehr zur Kirche Roms versteht, so sieht sie ihn doch als Eintreten in die Fülle des Katholischen, die der Kirche noch fehlt. Auch die Rede von „Elementen“ des Katholischen in anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften wird als wenig einladend verstanden. Aus den Verhärtungen herauszugelangen, die Kirchlichkeit der Anderen positiv zu füllen, die grundlegenden Gemeinsamkeiten zu erfahren, die wichtigen Elemente so zu entdecken, dass sie sich in einem differenzierten Konsens zusammenfügen, bleibt einer Christenheit aufgegeben, die an den Trennungen leiden muss. Ein Problem für die Ökumene bilden sich ändernde Sichten, unter denen Einheit als Vielfalt angesehen wird, die der gegenseitigen Anerkennung bedarf, aber in ihrer Unterschiedenheit bestehen bleiben kann. Ein solches Paradigma mag Erwartungen des Zeitgeistes entsprechen, bedeutet aber eine Kapitulation vor der Wahrheitsfrage, die der christlichen Ökumene ihren Ernst geben muss. Auf dem Weg zu einer sichtbaren Einheit als Ziel für die getrennte Christenheit zu bleiben, Etappenziele zu entdecken und mit ihren Konsequenzen ernst zu nehmen, muss der besondere Dienst sein, den die katholische Kirche leistet.

Zwei Päpste Zur Eröffnung des Konzils, am 11. Oktober 1962 hat Johannes XXIII. seine bis heute berührende Predigt gehalten, erfüllt von der Zuversicht des Glaubens und geprägt von einem kraft vollen Optimismus. „… In der täglichen Ausübung unseres apostolischen Hirtenamtes geschieht es oft , dass bisweilen Stimmen solcher Personen unser Ohr betrüben, die zwar von religiösem Eifer brennen, aber nicht genügend Sinn für die rechte Beurteilung der Dinge, noch ein kluges Urteil walten lassen. Sie meinen nämlich, in den heutigen Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft nur Untergang und Unheil zu erkennen … Wir aber sind völlig anderer Meinung als die Unglückspropheten, die immer das Unheil voraussagen, als ob die Welt vor dem Untergang stünde. In der gegenwärtigen Entwicklung der menschlichen Ereignisse, durch welche die Menschheit in eine neue Ordnung einzutreten scheint, muss man viel eher einen verborgenen Plan der göttlichen Vorsehung anerkennen … Am Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils ist es so klar wie jemals, dass die Wahrheit des Herrn in Ewigkeit gilt. Wir beobachten ja wie im Lauf der Zeiten die ungewissen Meinungen der Menschen einander ablösen; und die Irrtümer erheben sich oft wie ein Morgennebel den bald die Sonne verscheucht. Die Kirche hat diesen Irrtümern zu allen Zeiten widerstanden, oft hat sie sie auch verurteilt, manch-

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mal mit großer Strenge. Heute dagegen möchte die Braut Christi lieber das Heilmittel der Barmherzigkeit anwenden als die Waffe der Strenge erheben. Sie glaubt, es sei den heutigen Notwendigkeiten angemessener, die Kraft ihrer Lehre ausgiebig zu erklären als zu verurteilen …“16

An den Anfang des neuen Jahrtausends stellt Johannes Paul II. seine Einladung, die als Vermächtnis gelten kann: „dankbar der Vergangenheit zu gedenken, leidenschaft lich in der Gegenwart zu leben und uns vertrauensvoll der Zukunft zu öffnen“. „Welchen Reichtum, liebe Brüder und Schwestern, bergen die Weisungen, die uns das Zweite Vatikanische Konzil gegeben hat! […] Während die Jahre vergehen, verlieren jene Texte weder ihren Wert noch ihren Glanz … Zum Abschluss des Jubiläums fühle ich mich mehr denn je dazu verpflichtet, auf das Konzil als die große Gnade hinzuweisen, in deren Genuss die Kirche im 20. Jahrhundert gekommen ist. In ihm ist uns ein sicherer Kompass geboten worden, um uns auf den Weg des jetzt beginnenden Jahrhunderts zu orientieren.“17

Beide Zitate spannen einen leuchtenden Bogen. Die Worte des Konzils bilden die Grundlage, sie eröffnen den Horizont. Das konkrete Leben freilich entwickelt sich in der Zeit und ist auch von ihren eigenen Gegebenheiten bestimmt. Die Aufgabe der Umsetzung der großen Ziele muss zu Korrekturen, Veränderungen, Reformen führen, die in komplexen Prozessen im Raum der Kirche gefunden und auch erstritten werden müssen. Das Leben ist an den Worten und Absichten zu messen. Aber auch die Worte müssen sich bewähren, als Worte im Gefüge des Katholischen die Zeiten hindurch und an allen Orten bestehen können. Als prophetisches Wort in den aktuellen Erfahrungen und Befindlichkeiten der Kirche wird zweifellos die Verpflichtung des Konzilspapstes auf die „Heilmittel der Barmherzigkeit“ gelten.

Anmerkungen 1 s. Weigel, G.: Zeuge der Hoff nung. Paderborn (2002), S. 274. 2 Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.): Apostolisches Schreiben (TMA) Tertio millenio adveniente vom 10. 11. 1994. Verlautbarungen des apostolischen Stuhls (Nr. 119), Nr. 17–19. 3 TMA Nr. 18. 4 TMA Nr. 19, 20. 5 TMA Nr. 36. 6 Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.): Apostolisches Schreiben (NMI) Novo Millenio ineunte vom 06. 01. 2001, Nr. 2. Verlautbarungen des apostolischen Stuhls, Nr. 51. 7 NMI Nr. 3. 8 NMI Nr. 7. 9 NMI Nr. 23, GS Nr. 22. 10 NMI Nr. 52, GS Nr. 34. 11 NMI NR. 48. 55. 12 NMI Nr. 56, GS Nr. 4.

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NMI 58. NMI Nr. 57. Siehe die Neuausgabe der offiziellen Gesamtausgabe, Freiburg (2012), S. 8. Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Bd. 5. Freiburg (2006), S. 484, 487. 17 NMI Nr. 58.

Gisbert Greshake

Das II. Vaticanum und seine Zukunft Persönliche Erinnerungen und subjektive Randbemerkungen1

1. Ein mühsamer Anfang Gisbert Das II. Vaticanum und seineGreshake Zukunft

Als Papst Johannes XXIII. 1960 das II. Vaticanum ausrief, studierte ich in Rom. Uns traf die Ankündigung wie ein Schlag. Es war gerade mal zwei Jahre her, dass wir in der Ekklesiologie-Vorlesung an der Päpstlichen Universität Gregoriana gehört hatten: Nach dem I. Vaticanum mit seinen Entscheidungen über die uneingeschränkte päpstliche Lehr- und Leitungsvollmacht in der Kirche werde es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit kein Konzil mehr geben. Denn alles, was künftig zur Entscheidung anstünde, könne der Papst allein entscheiden. Was solle da noch der „Umweg“ über ein Konzil? Und jetzt dennoch: Die Ankündigung eines Konzils! Und dazu noch von einem Papst, den wir zwar als ausgesprochen sympathisch, originell und humorvoll erlebten, der sich aber bisher in Fragen des Glaubens und der kirchlichen Ordnung als äußerst konservativ erwiesen hatte. Heute wird dieser Papst meist als „fortschrittlich“ hochgejubelt. In Wirklichkeit war er das nicht. So gab er z. B. kurz vor Beginn des Konzils (im Frühjahr 1962) die Enzyklika Veterum Sapientia heraus mit der Anweisung, in Zukunft Theologie weltweit nur noch in lateinischer Sprache zu dozieren, was damals schon völlig absurd war, da die allermeisten Theologiestudenten, vor allem in der Dritten Welt, kein Latein mehr beherrschten. Oder ein anderes Beispiel: Gleichzeitig mit dem Konzil kündigte der Papst eine Römische Diözesansynode an, die dann völlig „hirnrissige“ Beschlüsse fasste, etwa das Verbot für Kleriker, Kinos und Opern zu besuchen; sie sollten sich auch nicht in Restaurants sehen lassen und keineswegs mit einer Frau allein im Auto fahren. Überdies – und da waren auch wir als Seminaristen betroffen – sollten sie immer einen klerikalen Schlapphut tragen. Johannes fand diese Beschlüsse alle ganz großartig. Er verschenkte die publizierte Dokumentation der Synode mit ihren anachronistischen Beschlüssen sehr oft und lobte sie dabei über alle Maßen. Wie kam der Papst auf die Idee, ein Konzil einzuberufen? Er sagte ausdrücklich, dieser Gedanke habe ihn spontan überfallen wie eine Inspiration des Heiligen Geistes. Das ist jedoch eine objektiv nicht zutreffende Selbstinterpretation. In Wirklichkeit hatte er diese Idee schon lange mit sich herumgetragen und mit Vertrauten durchdiskutiert. Wie übrigens auch sein Vorgänger Pius XII. schon Gutachter befragt hatte, ob es sinnvoll sein

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könne, ein Konzil einzuberufen, um offene Fragen zu klären. Pius XII. scheute aber dann vor dem Risiko eines Konzils zurück. Denn – und das sehen wir heute ja wieder deutlich – es hat kaum ein Konzil gegeben, das danach nicht ein Schisma oder eine Kirchenspaltung ausgelöst hat oder damit in Zusammenhang stand. Man denke nur an das erste Konzil in Nizäa mit dem Entstehen arianischer Regionen, an das Konzil von Chalzedon mit der Abspaltung monophysitischer Kirchen, an Trient und die reformatorischen Kirchen, an das I. Vaticanum und die Altkatholiken. Und heute sind da die Piusbrüder! Während also Pius XII. das Risiko eines Konzils scheute, ging Johannes das Wagnis ein. Wozu? Was war sein Ziel? In der Neuzeit hatten sich – um es sehr abgekürzt und holzschnittartig zu sagen – Kirche und Gesellschaft immer weiter auseinanderentwickelt. Die Kirche hatte sich gewissermaßen in eine in sich geschlossene „Welt“, die mit der normalen Alltagswelt wenig zu tun hatte, zurückgezogen und lebte darin ihr selbstgenügsames binnenkirchliches „Leben“ (societas perfecta). Grundpositionen der neuzeitlichen Welt waren mit dem Christsein nur schwer oder gar nicht in Übereinstimmung zu bringen. Nach dem 2. Weltkrieg gab es zwar kurz ein Aufblühen der Kirche, weil diese sich als nahezu einzige moralische Instanz nach dem Chaos der Vergangenheit anbot, doch wurde etwa ab Mitte der Fünfziger Jahre die Schere zwischen Kirche und Welt immer größer. Angesichts dieser Situation sah Johannes XXIII. die Chance für ein Konzil. Er hatte von Anfang kaum klare Vorstellungen darüber, was es bringen könnte, aber er wollte – pauschal gesagt – durch die Erneuerung des Glaubens Kirche und Welt wieder in ein positive(re)s Verhältnis zueinander bringen. Wie das genau geschehen sollte, wusste auch er nicht. Er meinte aber, das geplante Konzil werde nicht sehr aufwendig sein. Nach einer einzigen Sitzungsperiode, also nach gut drei Monaten, werde man es beenden können. Die Römische Kurie sollte, nachdem sie aus der Weltkirche Anregungen für aktuelle Themen empfangen habe, entsprechende Texte vorbereiten und diese könnten dann vom Konzil sehr schnell durchgesprochen und „abgesegnet“ werden. Da bei dieser Vorbereitungsarbeit die Römische Kurie die Federführung hatte und diese darauf bedacht war, gegen alle Tendenzen zur Öffnung bisheriger Glaubensformulierungen und –praxen die eigene hierarchische Position auf Teufel heraus zu verteidigen, lief das Ganze sehr schlecht an. Ich war damals Seelsorger in einer kleinen italienischen Gemeinde bei Rom, in dem es ein Schwesternhaus gab, wo sich regelmäßig Kuriale zur Konzilsvorbereitung trafen. Darunter war auch einer meiner Lehrer, der berühmte konservative Theologe P. Sebastian Tromp SJ, dem ich gelegentlich begegnete. Als ich ihn einmal fragte, wie die Vorbereitungen liefen, antwortete er zuversichtlich: „Wir werden all den Rahners, Balthasars und Teilhard de Chardins eins auf den Finger geben!“ Ein bezeichnender Ausdruck! In der Perspektive der Kurie und anderer konservativer Kräfte sollte das Konzil allen „Neuerern“ und „neueren Tendenzen“, die an der Überwindung des Auseinanderdriftens von Kirche und Welt arbeiteten, Einhalt gebieten! Genau in diesem Geist waren die 69 Vorbereitungstexte verfasst. Und auch hier noch einmal: Johannes XXIII. fand diese total restaurativen Texte sehr gut! Wir wissen das von Randbemerkungen (z. B. valde bene!), die er selbst schrift lich in die vorbereiteten Texte eintrug. Er lobte sie überschwänglich!

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Und dann kam doch alles ganz anders! Und zwar deswegen, weil die auf dem Konzil versammelten Bischöfe, großteils von exzellenten Theologen beraten, ein eigenes Selbstbewusstsein gegen die von der Kurie vorbereiteten Texte entwickelten und selbst die Initiative zu einer großen Öffnung der Kirche, ihres Glaubens und ihrer Praxis, entwickelten. In diesem kollegialen Auftreten der Mehrheit der Bischöfe auf dem Konzil sah Johannes XXIII. ein Zeichen des Heiligen Geistes und dessen Wirken. Er stellte sich voll hinter den Trend der Mehrheit und unterstützte sie. So wurde er der große Konzilspapst. Das Konzil begann seine inhaltliche Arbeit mit der Liturgiekonstitution. Doch wichtiger als dieser inhaltliche Beginn war das, was sich formal im Vollzug der konziliaren Arbeit von Anfang an abspielte, nämlich eine gelebte, praktizierte bischöfliche Kollegialität, die in vielen Fällen gegen den bisherigen römischen Zentralismus ausgerichtet war. Und dies ist die 1. „Randbemerkung“, die ich etwas ausführlicher herausstellen möchte: Die Idee der Kollegialität und damit die des Vielfältigen in der Kirche.

2. Zur Frage der Kollegialität und Kirchenstruktur Wie schon vermerkt wurde die Kollegialität der Bischöfe gegen eine zentralistische Uniformität der Kirche zunächst einmal konkret im Konzil praktiziert. Später, im Zusammenhang mit der Kirchenkonstitution und dem Dekret über die Bischöfe, war sie dann auch Inhalt der Konzilsarbeit und -lehre. Darin wurde klargestellt, dass die auf dem I. Vaticanum getroffenen Aussagen über den Primat des Papstes zwar zutreffen, aber – wegen des vorzeitigen Abbruchs des damaligen Konzils – nur eine Teilwahrheit sind: Nicht der Papst allein hat die höchste Lehr- und Leitungskompetenz in der Kirche, sondern zusammen mit den Bischöfen und die Bischöfe zusammen mit ihm. Das Bischofskollegium mit seinem „Haupt“, dem Bischof von Rom, ist das eine höchste Leitungsgremium der Kirche. Das bedeutet nicht, dass der Papst nur zusammen mit den Bischöfen handlungsfähig ist oder die Bischöfe nur zusammen mit dem Papst, sondern, dass auch dann, wenn eine Instanz allein handelt (vielleicht handeln muss), diese immer verbunden ist mit der andern. Sie muss sich also dessen bewusst sein, dass sie in Übereinstimmung und Einklang mit der andern steht und zu stehen hat. Diese Struktur ergibt sich aus dem Wesen der Kirche: Diese ist nämlich – wie das Konzil ausdrücklich lehrt – im ersten Ansatz Ortskirche, d. h. (im Sinne des Konzils:) Bischofskirche. Ortskirchen sind – so damals ausdrücklich Joseph Ratzinger – nicht „Teilstücke eines größeren Verwaltungskörpers“ und erst recht nicht „Verwaltungsstellen eines großen Apparates, sondern die lebendigen Zellen, in deren jeder das ganze Lebensgeheimnis des einen Leibes der Kirche anwesend ist.“2 Unter einer Bedingung freilich, dass die einzelne Ortskirche sich nicht in sich selbst verschließt und von anderen absondert, sondern in Communio, in Gemeinschaft, mit den übrigen Kirchen Gottes steht. Deswegen sagt das II. Vaticanum über die Ortskirchen: „In ihnen und aus ihnen besteht die eine und einzige katholische Kirche“ (LG 23). M. a. W.: Die eine universale Kirche verwirklicht sich konkret in der Vielfalt von Ortskirchen und ihrem gegenseitigen Beziehungsnetz. Als Einheit in

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und aus Vielheit, als Vielheit in und auf Einheit hin ist sie ihrer Struktur nach ein corpus Ecclesiarum, eine Gemeinschaft von Kirchen (LG 23). Mit dieser Sicht des Konzils wurde das bis dahin vorherrschende Bild einer zentralistischen Kirche aufgebrochen. Die eine katholische Kirche ist nicht ein kompakt-uniformistisches Gebilde, sondern ein corpus Ecclesiarum. Von daher bestimmt sich auch das Verhältnis Papst – Bischöfe. Während die einzelnen Bischöfe im collegium episcoporum die Vielfalt ihrer Ortskirchen repräsentieren, ist der Papst – als Bischof von Rom ein Mitglied des Collegium und als Nachfolger des Petrus zugleich dessen Haupt  – als eben dieses Haupt Zeichen und Instrument der Einheit des die kirchliche Vielfalt repräsentierenden Bischofskollegiums. Der Papst besitzt also seine besondere Stellung und Vollmacht darin, dass er, an der Spitze des Bischofskollegiums stehend, wirksames Organ und Prinzip von dessen Einheit und damit der gesamtkirchlichen Einheit ist. Das Petrusamt ist also Dienstamt am Miteinander der vielen Ortskirchen, ist Dienst an der Communio. Bischöfliches und päpstliches Amt sind damit wechselseitig strikt aufeinander hingeordnet. Nur so kann Communio sein und werden: Vielfalt auf Einheit hin, Einheit in Vielfalt. Hier darf kein Pol den anderen verdrängen oder beeinträchtigen. Der Papst ist nicht Delegierter des Bischofskollegiums und die Bischöfe sind nicht Delegierte und Hilfskräfte des Papstes. Der Episkopat bedarf des Dienstes der Einheit seines Hauptes, aber das Petrusamt bedarf auch des Episkopats, um selbst in das Kommunikationsnetz der Kirche eingebunden zu bleiben und die Fülle des Katholischen nicht zugunsten uniformer Gleichtönigkeit und zentralistischer Verarmung zu verlieren.3 So hat das Bischofskollegium zusammen mit seinem Haupt die eine höchste kirchliche Autorität inne, die sich infolgedessen nicht monarchisch-zentralistisch allein im Papst verwirklicht, sondern eine kollegiale Gestalt aufweist. Warum hat diese, vom Konzil vertretene Kirchengestalt bisher keine Zukunft gehabt? Warum hat sie sich nicht durchgesetzt und ist im Gegenteil die vorkonziliare „monarchistische“ Gestalt gestärkt worden? Denn vermutlich war die Kirche in ihren äußeren Strukturen noch nie so zentralisiert wie gegenwärtig.4 Zwar lag die „Theorie“ für eine totale Zentralisierung der Kirche seit den Lehraussagen des I. Vaticanum bereit, sie konnte sich aber in der Praxis nie völlig realisieren, schon allein wegen der zeitaufwendigen Kommunikations- und Verkehrswege nicht. Dies hat sich gründlich geändert. Heute kann mithilfe gegenwärtiger Kommunikationsmittel und einiger weniger ortsansässiger Mittelsmänner vom römischen Zentrum aus die Weltkirche zentral administriert werden: durch zentrale Bischofsernennungen, die sehr oft an ortskirchlichen Erfordernissen vorbeigehen, durch allgemeingeltende liturgische Vorschriften, die sich nicht selten über regionale Wünsche und Anliegen hinwegsetzen, durch eine disziplinierende Moralisierung des Glaubens, die über wichtige Züge des Evangeliums hinwegsieht, durch eine mikroskopische Glaubensadministration, die den Glauben vornehmlich als ein System von vorgeschriebenen Sätzen sieht, deren Einhalten vor allem bei der Nihil-obstat-Erteilung für Theologieprofessoren und bei der Publikationen theologischer Literatur von einer „Glaubensbehörde“ peinlich überwacht wird. Demgegenüber hat die gegen solchen Zentralismus vom II. Vaticanum konzipierte Kollegialität der Bischöfe zu keiner neuen kirchlichen Praxis geführt. Die römische Kurie

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wurde nicht – wie vom Konzil gefordert – wirklich erneuert, und die römischen Bischofssynoden sind Alibi-Veranstaltungen ohne Gewicht. Kuriale Zentralisierung des kirchlichen Lebens, eine Ultra-Institutionalisierung des Glaubens wie auch Legalismus und Dogmatismus bestimmen weiterhin das Bild. Warum ist die „Zukunft des Konzils“ in diesem Punkt im Sande verlaufen? Wir stoßen hier auf einen wichtigen Faktor zum Verständnis des gesamten Konzils, also auch anderer Themenbereiche. Darum hole ich ein wenig weiter aus. Eben war schon davon die Rede, dass sich gleich zu Beginn des Konzils eine Mehrheit von Bischöfen gegen die kuriale Mentalität, wie sie aus den Vorbereitungstexten hervorging, richtete. Aber auch die Kurialen hatten ihnen ergebene Bischöfe und stellten eine Reihe von einflussreichen Theologen, vor allem aber verfügten sie über den institutionellen Apparat des römischen Zentrums, der ihnen einen ungeheuren Vorteil brachte. Bei einer Teilnahme von gut 2000 Bischöfen am Konzil rechnete man mit ca. 300 Bischöfen, also einem guten Siebtel, das eher rückwärts gewandte Anliegen vertrat. Da man nun auf Konzilien nicht einfach nach Mehrheiten abstimmt (im Sinne von: eine Stimme Mehrheit ist Mehrheit und damit ggf. ausschlaggebend), sondern nach „moralischer Einmütigkeit“ (die Gegenstimmen nicht ausschließt, aber doch eine überwältigende Mehrheit beinhalten muss), bemühte man sich seitens der Konzilsmehrheit darum, die verbleibende Minderheit so weit wie möglich zu gewinnen. Und man tat das, indem man außer den eigenen Anliegen auch die der Minderheit berücksichtigte. Konkret für das Thema Kollegialität: Man unterstrich noch einmal ganz stark die päpstliche Leitungskompetenz und Sonderstellung und stellte dann gewissermaßen „daneben“ die Lehre von der Kollegialität. Damit nahm die Mehrheit bewusst gewisse Widersprüchlichkeiten bzw. Unausgeglichenheiten in den verabschiedeten Texten in Kauf. Otto H. Pesch spricht sogar von einem „kontradiktorischen Pluralismus“5, der manche Passagen bestimmt. Das war die eine Weise taktischen Kompromisses. Die zweite damit verbundene „Taktik“ der Konzilsmehrheit bestand darin, neuere Ideen nur anzudeuten oder anfanghaft vorzulegen in der Hoff nung, dass sich in der nachkonziliaren Dynamik dieser kleine Anfang durchsetzen würde wie ein Grashalm, der, wenn er sich den Weg durch eine Betonschicht gebahnt hat, unweigerlich weiterwachsen wird. Dass diese Methode im Einzelfall aufging, zeigt das Thema der lateinischen Liturgiesprache. Die Mehrheit der Konzilsväter gab sich  – übrigens gegen eine massive Abwehrhaltung der kurialen Minderheit – mit dem Beschluss zufrieden: „Der Gebrauch der lateinischen Sprache soll in den lateinischen Riten erhalten bleiben. […] Da aber bei der Messe, bei der Sakramentenspendung und in den anderen Bereichen der Liturgie nicht selten der Gebrauch der Muttersprache für das Volk sehr nützlich sein kann, soll es gestattet sein, ihr einen weiteren Raum zuzubilligen […]“ (SC 36). Über diese sehr eingeschränkte Aussage ist tatsächlich die nachkonziliare Dynamik hinweggegangen und hat das Latein faktisch hinweggefegt, nicht nur aus der Liturgie, sondern weithin auch aus der kirchlichen „Umgangssprache“. Hier hat tatsächlich eine „neue Zukunft“ angefangen. Eine ähnliche Dynamik erwartete die Konzilsmehrheit auch für viele andere Themen. Man begnügte sich mit einem kleinen Anfang in der Hoff nung, dass dieser sich schon durchsetzen werde.

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Eine dritte taktische Methode bestand darin, es in einigen Fällen bei zweideutigen oder ungenauen Formulierungen zu belassen. Insgesamt wird man sogar sagen müssen: Das II. Vaticanum ist vielleicht dasjenige Konzil, dessen Texte am wenigsten präzise durchgearbeitet und nach allen Seiten hin abgesichert sind. Man konnte sich damit umso eher abfinden, als sich immer mehr die Auffassung durchsetzte, das II. Vaticanum sei ein Pastoralkonzil, d. h. es ginge hier mehr um die Praxis der kirchlichen Glaubens, besser: um das Zeugnis der Kirche in der modernen Welt als um theoretische Theologie. Diese Auffassung fand auf dem Konzil auch deswegen ein breites Echo, weil die konservative Minderheit mit der Qualifizierung „Pastoralkonzil“ den neueren theologischen Ideen das Gewicht nehmen („Ist ja nur eine pastorale Aussage!“), die Progressiven dagegen mit dem Programmwort „Pastoralkonzil“ die Stimmen der Konservativen gewinnen wollten. Für beide Seiten war also der Schlachtruf „Pastoralkonzil“ ein taktisches Mittel. Und das ist es ja bis heute geblieben, da etwa die Piusbrüder sagen: Was ist schon, gemessen an den anderen Konzilien, das Gewicht des II. Vaticanum, das ja „nur“ ein Pastoralkonzil war! Karl Rahner hat mir einmal gesagt, er wisse sehr wohl, dass manche Konzilstexte ziemlich unpräzise und mehrdeutig seien, aber er hoffe auf die Präzisierung in der Zukunft des Konzils. Warum ist es so nicht gekommen? Mit der Hoff nung auf die nachkonziliare Dynamik hat man etwas übersehen, was man von früheren Konzilien hätte lernen können: Zur Durchsetzung von Ideen bedarf es wirksamer Institutionen, welche deren Realisierung in die Hand nehmen. Genau diese fehlten. Nachdem das Konzil auseinandergegangen war, gab es als Institution nur noch die römische Kurie, die alles daran setzte, so viel wie möglich rückgängig zu machen bzw. zu relativieren. Ebenso war es schon nach dem Trienter Konzil und nach dem I. Vaticanum ergangen, wo man die Konzilsbeschlüsse sehr einseitig im Sinne der Kurie auslegte oder auszulegen versuchte. So auch jetzt. Es bildeten sich zwei Gruppen, die bis heute bestehen. Bei der einen („progressiven“) wurde und wird das Konzil „als Auftaktveranstaltung zu einem offenen Prozess der modernen Dauerreform verstanden“, bei den andern („restaurativen“) „als möglichst bald zu überwindender Ausrutscher, der die bewährte Ordnung der Kirche nicht wirklich in Frage stellen darf“.6 Deswegen wollten Letztere auf keinen Fall Institutionen, die das Konzil perennieren könnten! Dem einzigen Faktor, den man auf dem Konzil als institutionelles Instrument beschlossen hatte, nämlich regelmäßige Bischofssynoden einzuberufen, wurde nachkonziliar sofort der Zahn gezogen, da man dekretierte: Die Bischofssynode hat nur eine Beratungsfunktion, sie untersteht direkt und unmittelbar der Autorität des Papstes. Sogar das, was sie selbst als Ratschläge vorträgt, darf sie nicht selbst veröffentlichen, sondern wird von der römischen Kurie publiziert, wie es dieser behagt. Das heißt: Beratungsgegenstände werden in der späteren, von der Kurie vorgenommenen Dokumentation ggf. auch unterdrückt oder mit anderen Schwerpunkten versehen. So ist das synodale Moment, das auf dem Konzil so groß hervortrat und herausgestellt wurde, heute mittlerweile faktisch verschwunden. Durch entsprechende Bischofsernennungen wird verhindert, dass irgendetwas „passieren“ kann, was der zentralistischen Ideologie zuwiderläuft.

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So ist das Thema Kollegialität ein lehrreiches Beispiel dafür, was mit dem konziliaren Durchbruch nach dem Konzil geschah. Nehmen wir ungleich kürzer noch zwei weitere Konzilsthemen7 und deren Zukunft in den Blick.

3. Glaube und Offenbarung Beginnen wir dieses Thema mit einer aktuellen Beobachtung: In vielen Gesprächen, in denen vom Islam und der zunehmenden Zahl der Konversionen zu ihm die Rede ist, kann man Folgendes hören: Die Stärke des Glaubens der Muslime sei dessen Einfachheit: ein schlichtes, ganz einfaches Glaubensbekenntnis und klare, einfache religiöse Verpflichtungen. Demgegenüber sei der christliche Glaube etwas sehr Kompliziertes und Komplexes, zu dessen Verständnis man eigentlich Theologie studiert haben müsse. Kein Wunder, dass sich Christen im Austausch ihres Glaubens auch oft so schwer tun, da sie sich selbst über die „essentials“ ihres Glaubens nicht sicher sind. Auch was diesen Problemkreis angeht, hat das Konzil, von vielen bis heute fast unbemerkt, neue-alte Dimensionen herausgestellt, und zwar in dreifacher Hinsicht. (1) Die sogenannte Offenbarungskonstitution des Konzils nimmt Abschied von einem – wie es genannt wird  – „instruktionstheoretischen Verständnis“ der Offenbarung. Das heißt: Die Offenbarung Gottes besteht nicht darin, dass Gott uns über dies und das und noch tausend andere Dinge „instruiert“ hat, sondern dass er, wie es in DV 2 heißt, „aus überströmender Liebe die Menschen wie Freunde anredet und mit ihnen verkehrt, um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen“. Anders gesagt: Offenbarung ist wesentlich persönliche Selbstmitteilung Gottes, Mitteilung seiner Liebe. Und das ist im Grunde etwas sehr Einfaches. Als Christ glaube ich, dass Gott mich zum Freund haben möchte, dass er auf immer Gemeinschaft mit mir haben will, dass er mich unbedingt liebt. An diesem schlichten Zentrum der Offenbarung ist alles andere zu messen und ggf. auch zu relativieren. Sie darf nicht erscheinen wie ein Wald, in dem man vor lauter dogmatischen Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Sie und damit der Glaube hat eine Mitte. Deshalb braucht man als Christ nicht viel zu „wissen“ oder gar „herumzuspekulieren“, sondern es gilt, dieses „Zentrum“ von Herzen entgegenzunehmen und nachzuvollziehen. Mit den Worten von Rahner: „Ein Charakteristikum der heutigen Gestalt des Glaubens ist seine radikale Einfachheit“. Manchmal wäre es besser, „ein Christ wüsste von gewissen Details des katholischen Katechismus weniger und hätte die letzten entscheidenden Fragen […] wirklich einmal in einer echten und ursprünglichen Weise realisiert“.8 (2) Diese Konzentration der Offenbarung auf eine Mitte wurde in anderer Weise nochmals im Ökumenismusdekret aufgegriffen, und zwar in der Idee von der „Hierarchie der Wahrheiten“. Damit will das Konzil daran erinnern, „dass es eine Rangordnung oder ,Hierarchie‘ der Wahrheiten innerhalb der katholischen Lehre gibt, je nach der verschiedenen Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen Glaubens“ (UR 11). Dieses Fundament ist nun zweifellos  – wie eben skizziert  – der Glaube an die persönliche Selbstmitteilung Gottes an den Menschen. Alles andere, was man sonst noch im Glauben

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zu sagen oder zu verwirklichen hat, steht mit diesem Fundament in einem engeren oder vielleicht auch nur sehr, sehr lockeren Zusammenhang und ist nur von da her richtig zu verstehen. Man kann also nicht einfach sagen: Das ist ein Dogma und jenes ist ein Dogma, und beides ist zu glauben, sondern man hat zu fragen: Was bedeutet diese oder jene Glaubensaussage vom Zentrum her? So wird der Glaube etwas sehr Einfaches. (3) Noch in dritter Hinsicht bringt das Konzil bezüglich Offenbarung und Glaube eine neue und zwar ganz neue Perspektive. Es ist die Idee von den „Zeichen der Zeit“. Von ihnen heißt es in GS 4: Die Kirche hat die Pflicht, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“. Es geht darum – so in GS 11 –, „in den Ereignissen“ der Zeit die „Absicht Gottes“ und die „Berufung des Menschen“ zu erkennen. M. a. W.: Der Glaube an die Selbstmitteilung Gottes, dieser wichtigste Punkt der Wahrheitshierarchie, ist nicht einfach etwas Überzeitliches, eine „ewige Wahrheit“, die man zur Kenntnis zu nehmen hat, sondern Gott macht sein freundschaft liches Zugehen auf den Menschen je neu erkennbar, konkret, anschaulich in den „Zeichen der Zeit“, also in Ereignissen, Zuständen, weltanschaulichen Bewegungen usw., von denen eine Zeit bestimmt wird. Glaube hat also immer einen Zeitindex, ist etwas Heutiges und damit zugleich auch immer etwas sehr Konkretes. Was ist nach dem Konzil aus diesen neuen Perspektiven geworden? Leider muss man kurz und bündig antworten: Gar nichts! Im Gegenteil: Ein wichtiges Ereignis der Nachkonzilszeit war die Herausgabe des Weltkatechismus, der zwar die genannten neuen Perspektiven des Konzils enthält, aber selbst überhaupt nicht danach strukturiert ist. Stattdessen besteht er aus einer Ansammlung von 2665 Glaubenswahrheiten, -einsichten und -praktiken, ohne dass diese ständig auf die vom Konzil herausgestellte Mitte bezogen sind, ohne dass hier etwas von einer Rangordnung der Wahrheiten deutlich und deren zeitlicher Kontext erörtert wird. Warum? Ich weiß es nicht. Befürchtete man eine daraus sich ergebende Relativierung der hochkomplexen „Glaubenswelt“? Oder wollte man die herrschaft liche Interpretationsgewalt über einen hochkompliziert formulierten Glauben nicht aufgeben? Hätte die konzentrierende Vereinfachung des Glaubens die allgegenwärtige Kompetenz des Lehramtes beschnitten oder relativiert? Auch in diesem Punkt bleiben die Vorgaben des Konzils bislang nicht eingelöst.

4. Das Christentum und die Welt der Religionen Die letzte „Randbemerkung“ zu den konziliaren Impulsen, auf die ich eingehen möchte, wird vielleicht erstaunen, weil das Thema zunächst eher randständig zu sein scheint. Als ich in den Jahren nach dem Konzil fast 2 Jahre lang mit Rahner zusammenlebte, fragte ich ihn einmal, was für ihn das eigentlich Überraschende des Konzils gewesen sei. Er antwortete: Das eigentliche Wunder des Konzils sei für ihn die neue Einstellung zu den nichtchristlichen Religionen gewesen. Diese habe sich ohne größere Diskussionen und Auseinandersetzungen fast wie von selbst ergeben. In der Tat: Man muss einmal bedenken, welche Position das Christentum zu den – wie man sagte – heidnischen Religionen zuvor

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eingenommen hatte. Man denke nur an die dogmatische Erklärung des Konzils von Florenz: „Niemand, der außerhalb der katholischen Kirche lebt […], kann des ewigen Lebens teilhaftig werden“ (DH 1351). Zwar hatte man daneben immer zugegeben, dass, wenn jemand nach seinem Gewissen lebt, er das Heil von Gott erwarten dürfe, aber er als einzelner, als Individuum. Dagegen galt die Institution der heidnischen Religion selbst als böse, teuflisch, unheilig. Nun sagt das Konzil in der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate: „Die Kirche lehnt nichts von alle dem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist“. Denn deren Lehren und Vorschriften „lassen nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen, die alle Menschen erleuchtet“ (NA 2). Damit ist klar, dass diese neue Positionierung keine Relativierung des Christlichen bedeutet, weil nach kirchlicher Lehre in Christus nicht nur ein Strahl der Wahrheit, sondern die Wahrheit selbst erschienen ist. Freilich ist damit keineswegs gesagt, dass die Christen diese Wahrheit, die ER in Person ist, auch ganz auf- und annehmen und in die Praxis ihres Lebens umsetzen. Auch in der Kirche kann die Wahrheit Christi verdunkelt sein, so dass in der Begegnung mit jenen Strahlen der Wahrheit, die in den anderen Religionen aufleuchten, auch die Kirche lernen und zur größeren Wahrheit Christi geführt werden kann. Deswegen ist in der neuen konziliaren Einstellung zu den Religionen auch der Dialog mit ihnen grundgelegt. Mission und Bezeugung des christlichen Glaubens sind keine Einbahnstraßen mehr. Jeder kann vom anderen lernen und tiefer in die Wahrheit eingeführt werden. So dürfte Rahner Recht damit haben, dass in diesem Punkt das Konzil eine neue Perspektive eröffnet hat. Und dieses Neue fiel – im Unterschied zu manchen anderen Themenkreisen – auch nach dem Konzil nicht unter den Tisch. Sie hat wirklich Zukunft eröffnet. Es gibt seit dem Konzil eine Reihe großartiger kirchlicher Dokumente über den interreligiösen Dialog. Nicht zuletzt war das gemeinsame Assisi-Gebet der Päpste mit den nichtchristlichen Religionen ein Ausdruck der neuen Haltung, ganz zu schweigen vom Kuss des Koran durch Papst Johannes Paul II.! Wie „neu“ all das ist, zeigt sich auch darin, dass diese neuen Ansätze die wohl wichtigsten Streitpunkte mit den Pius-Brüdern und den Konzilsverweigerern darstellen.

5. Summa In vielen Punkten hat das Konzil neue Horizonte eröffnet (von denen hier nur ganz wenige erwähnt wurden), die aber zu einem großen Teil noch nicht abgegolten und eingelöst sind. Stattdessen findet heute eine neue Diskussion über die Hermeneutik der Konzilstexte statt. Berühmt ist die wiederholte Einschärfung Benedikts XVI., das Konzil sei zu verstehen in einer „Hermeneutik der Kontinuität“, d. h. auf der Linie der bisherigen Glaubenstradition. Wenn er dies exklusiv verstehen sollte, hat er damit auch in diesem Punkt eigenen früheren Positionen widersprochen, da auch er zur Konzilszeit „auf die zukünft ige (!) Entfaltung und Entwicklung (!)“ der Konzilstexte gesetzt hatte.9 Gewiss ist an einer „Hermeneutik der Kontinuität“ richtig, dass kein Konzil und keine Glaubensaussage gegen die

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bisherige Glaubenstradition verstanden werden darf. Der legitime kirchliche Glaube beginnt nicht erst mit dem II. Vaticanum. Und doch hat dieses Konzil eine neue Zukunft eröffnet, die nicht nur die Verlängerung des Bisherigen ist. Deshalb sind die Konzilstexte nicht einfach unter den Begriff der Kontinuität zu bringen. Man muss gemäß der nachweisbaren Einstellung der Konzilsmehrheit die Konzilstexte auch nach vorn hin lesen. Und in diesem Sinn hat die (gewiss oft leichtfertige) Rede vom „Geist des Konzils“, der für die Interpretation maßgebend sein soll, doch auch ein Quäntchen Wahrheit für sich. Wie wird es mit dem II. Vaticanum weitergehen? Was ist seine Zukunft? Die Frage ist heute mehr denn je berechtigt, da es maßgebliche Kreise und kirchliche Instanzen gibt, die das Konzil am liebsten vergessen machen möchten. Wird Kardinal Siri Recht behalten, der während des Konzils sagte: „Die Kirche wird 50 Jahre brauchen, um sich von den Irrwegen Johannes’ XXIII. zu erholen“.10 Sind wir dabei, uns zu erholen? Oder hat die Zukunftsvision Rahners noch Geltung, der 1965 schrieb, es werde „lange dauern, bis die Kirche, der ein II. Vatikanisches Konzil geschenkt wurde, die Kirche des II. Vatikanischen Konzils sein wird“11. Denn – so Rahner – sie wird einen Überschritt zu tun haben in die 3. Epoche ihrer Existenz. In ihrer 1. Epoche war sie die Kirche der Judenchristenheit in Palästina; in ihrer 2. eroberte sie die abendländische Welt; in ihrer 3. hat sie sich zur wirklichen Weltkirche auszuweiten. Ich möchte diesen Gedanken sogar noch verschärfen: Werden die Impulse des Konzils eingelöst, stehen wir (vielleicht endlich!) am Ende der Zeit der Urkirche, gemäß dem Wort von H. U. v. Balthasar: „Das Christliche steht vielleicht in seinen ersten Anfängen“.12 Dem schloss sich Kardinal Lustiger an: „Das Christentum fängt erst an. Es steigt gerade aus den Kinderschuhen. Es beginnt überhaupt erst. Es hatte noch keine Chance, sich zu entwickeln“.13

Anmerkungen 1 Diesem Beitrag lag ein mündlicher Vortrag zu Grunde. Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten, ebenso die persönlichen Bemerkungen. 2 Ratzinger, J.: Das neue Volk Gottes. Düsseldorf (1969), 205. 3 Von daher schrieb der Theologe Ratzinger vor Jahren zu Recht, dass das Wort und Wirken des Papstes „faktisch von dem Glaubensvollzug der gesamten Kirche“ lebt, d. h. der Papst „ist auf die Vielfalt der Kirchen verwiesen, die jeweils im Bischof ihre Mitte haben“. A. a. O., 168 f. 4 So beurteilt es noch jüngst der Philosoph Charles Taylor in: Formen religiösen Lebens. In: Zur Debatte 3 (2012), 17–18, hier: 18: „Es gibt jetzt eine Zentralisierung der Autorität in Rom, bis zu einem Punkt, den man in der Geschichte noch nicht gesehen hat. Das geht weit über die Situation im Mittelalter hinaus. Im Mittelalter gab es immer unabhängige Autoritäten, und es gab auch ein Gegengewicht zwischen der Zentrale und den Einzelnen. In der heutigen Situation bewegen wir uns nicht im Mittelalter, sondern eher im aufgeklärten Despotismus“. 5 Pesch, O. H.: Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte-Verlauf-Ergebnisse-Nachgeschichte. Würzburg (1993), S. 151. 6 Miggelbrink, R.: 50 Jahre nach dem Konzil. Paderborn u. a. (2012), 31. 7 Aus Platzgründen war es nicht möglich, hier das wichtige zukunftsträchtige Thema „Laie“ zu behandeln.

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Gisbert Greshake Rahner, K.: Grundkurs des Glaubens, Freiburg (31976), 371. Vgl. Pesch (1993),160. zit. bei Pesch (1993), 351. Ebd. Balthasar, H. U. v.: Spiritus Creator. Einsiedeln (1967), 140. zit. Nach Körner, R.: Die Zeit ist reif. Leipzig (2005), 8.

Anhang

Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils

Die Dokumente des Zweiten VatikanischenAnhang Konzils

Zweite Sitzungsperiode (29. September bis 4. Dezember 1963): SC Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium IM Dekret über die sozialen Kommunikationsmittel Inter Mirifica verabschiedet am 4. Dezember 1963. Dritte Sitzungsperiode (14. September bis 21. November 1964) LG Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium UR Dekret über den Ökumenismus Unitatis Redintegratio OE Dekret über die katholischen Ostkirchen Orientalium Ecclesiarum verabschiedet am 21. November 1964. Vierte Sitzungsperiode (14. September bis 8. Dezember 1965) PC Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens Perfectae Caritatis NA Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra Aetate OT Dekret über die Ausbildung der Priester Optatam Totius CD Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe in der Kirche Christus Dominus verabschiedet am 28. Oktober 1965. DV Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum AA Dekret über das Laienapostolat Apostolicam Actuositatem verabschiedet am 18. Nobvember 1965. PO Dekret über Dienst und Leben der Priester Presbyterorum Ordinis GE Erklärung über die christliche Erziehung Gravissimum Educationis AG Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad Gentes DH Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis Humanae GS Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes verabschiedet am 7. Dezember 1965

Autorinnen und Autoren

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Bärsch, Jürgen, geb. 1959, ist Professor für Liturgiewissenschaft an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Batlogg SJ, Andreas R., geb. 1962, ist Chefredakteur der ‹Stimmen der Zeit› und Wissenschaft licher Leiter des Karl-Rahner-Archivs in München. Baumann, Urs, geb. 1941, ist Professor für Ökumenische Theologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Beutler SJ, Johannes, geb. 1933, war Professor an der Päpstlichen Universität Gregoriana und am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom tätig. Böttigheimer, Christoph, geb. 1960, ist Professor für Fundamentaltheologie an der KU EichstättIngolstadt. Demel, Sabine, geb. 1962, ist Professorin für Kirchenrecht an der Universität Regensburg. Eckholt, Margit, geb. 1960, ist Professorin für Dogmatik an der Universität Osnabrück. Fleischmann-Bisten, Walter, geb. 1950, ist Geschäftsführer des Evangelischen Bundes und des Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim. Gabriel, Ingeborg, geb. 1952, ist Professorin für Christliche Gesellschaftslehre und Sozialethik an der Universität Wien. Garhammer, Erich, geb. 1951, ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Greshake, Gisbert, geb. 1933, war Professor für Dogmatik und ökumenische Theologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Jaschke, Hans-Jochen, geb. 1941, ist Weihbischof im Erzbistum Hamburg und u. a. bischöfl. Beauftragter für die Seelsorge in der Bundespolizei. Klein SJ, Nikolaus, geb. 1947, war Chefredakteur der 2009 eingestellten Zeitschrift „Orientierung“ (Zürich) und 2011–2013 Mitglied der Redaktion der „Stimmen der Zeit“. Knauer SJ, Peter, geb. 1935, war Professor für Fundamentaltheologie an der Phil.-Theol. Hochschule St. Georgen in Frankfurt / Main. Müller, Wunibald, geb. 1950, ist Leiter des Recollectio-Hauses in Münsterschwarzach. Schmiedl ISch, Joachim, geb. 1958, ist Professor für Kirchengeschichte an der Phil.-Theol. Hochschule Vallendar. Siebenrock, Roman A., geb. 1957, ist Professor für Dogmatik an der Universität Innsbruck. Stosch, Klaus von, geb. 1971, ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Paderborn. Theis, Joachim, geb. 1955, ist Professor für Religionspädagogik mit Katechetik an der Theologischen Fakultät Trier. Thull, Philipp, geb. 1987, Dipl. Theol. Lic. iur. can. Derzeit Studium der Rechtswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie Promotionsstudium.

Informationen Zum Buch Inmitten einer Kirchenkrise geschieht das Unglaubliche: Mit Mut und Entschlossenheit kündigt Papst Johannes XXIII. im Jahre 1959 das Zweite Vatikanische Konzil an. Er weiß, dass die Kirche ihre Botschaft den Menschen von heute nur noch dann vermitteln könne, wenn sie sich öffne, alle Fenster aufreiße und »einen Schritt vorwärts« wage. Das Zweite Vatikanische Konzil wird schließlich zu einem der herausragenden Ereignisse der modernen Kirchengeschichte. Angeleitet vom Heiligen Geist, begründen die Konzilsväter in einer von Milde und Demut, Weisheit und Menschlichkeit geprägten Sprache den Aufbruch in eine neue Zukunft. Es ist der Anfang eines notwendigen Aufbruchs, der der Kirche zu neuer Blüte verhelfen soll. 50 Jahre nach dem Konzil fragen renommierte Theologinnen und Theologen, was vom Aufbruch bleibt. Dieses Buch führt den Leser in die wichtigsten Konzilsdokumente ein, gibt ihm damit ein Gespür für ihre Bedeutung, verdeutlicht ihm gleichsam, welche Beschlüsse bereits umgesetzt sind, welche noch zu voller Entfaltung zu bringen und welche Aufgaben der Kirche in heutiger Zeit damit noch gestellt sind.

Informationen Zum Autor Philipp Thull, geb. 1987, ist Diplom-Theologe und Lizentiat des Kanonischen Rechts, zur Zeit Studierender der Rechtswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie Promovend im Fach Kirchenrecht.