Epochen – Themen – Methoden: Geschichtsschreibung in Schlesien vom späten 18. Jahrhundert bis 1914 [1 ed.] 9783412527075, 9783412523053


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Epochen – Themen – Methoden: Geschichtsschreibung in Schlesien vom späten 18. Jahrhundert bis 1914 [1 ed.]
 9783412527075, 9783412523053

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JOACHIM BAHLCKE, ROLAND GEHRKE (HG.)

EPOCHEN – THEMEN – METHODEN GESCHICHTSSCHREIBUNG IN SCHLESIEN VOM SPÄTEN 18. JAHRHUNDERT BIS 1914

NEUE FORSCHUNGEN ZUR SCHLESISCHEN GESCHICHTE

NEUE FORSCHUNGEN ZUR SCHLESISCHEN GESCHICHTE herausgegeben von JOACHIM BAHLCKE Band 30

EPOCHEN – THEMEN – METHODEN Geschichtsschreibung in Schlesien vom späten 18. Jahrhundert bis 1914

Herausgegeben von Joachim Bahlcke und Roland Gehrke

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit Unterstützung der Historischen Kommission für Schlesien und der Stiftung Kulturwerk Schlesien.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Wratislaviae Amici, Wrocław Satz: Oliver Rösch, Würzburg Umschlaggestaltung: Michael Haderer | GRAFIKDESIGN, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52707-5

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Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Joachim Bahlcke und Roland Gehrke Klio in Schlesien. Forschungsinteressen, Forschungsgegenstände und disziplinäre Zugänge der schlesischen Geschichtsschreibung vom späten 18. Jahrhundert bis 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Quellenerschließung als Grundlage mediävistischer Forschung Norbert Kersken Von individueller Themenvielfalt zu systematischer Methodenreflexion. Die Erschließung nichturkundlicher Quellen als Ausgangspunkt mediävistischer Forschung in Schlesien vor 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Tomasz Jurek Regionale Tradition und methodische Innovation. Die Erschließung der urkundlichen Überlieferung in Schlesien vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . 73 Ulrich Schmilewski Mediävistik als Ausgangspunkt. Forschungen zu den Historischen Hilfswissenschaften in Schlesien im langen 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 II. Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft Steffen Schlinker Ius teutonicum und ständische Tradition. Rechts- und verfassungsgeschichtliche Forschungen schlesischer Historiker vor 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Dietrich Meyer Historiographie im Spannungsfeld des konfessionellen Gegensatzes. Kirchengeschichtliche Forschungen in Schlesien vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . 165 Hans-Jürgen Bömelburg Landesgeschichte. Historische Forschungen während des langen 19. Jahrhunderts zur politischen Geschichte Schlesiens seit Beginn der Habsburgerherrschaft 1526 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

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Tomasz Przerwa Zwischen Nationalökonomie und Geschichtswissenschaft. Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte Schlesiens vor 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Wojciech Kunicki Von der „schlesischen Cultur“ zur schlesischen Kulturgeschichte. Zur Entwicklung der Kulturgeschichtsschreibung im Oderland während des langen 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 III. Historisch arbeitende Nachbarwissenschaften Sebastian Brather Prähistorische Archäologie in Schlesien im 19. Jahrhundert. Von der Altertumskunde zur Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Urszula Bończuk-Dawidziuk Beobachtungen zur Etablierung einer neuen wissenschaftlichen Disziplin. Kunsthistorische Forschungen in Schlesien vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . 267 Tobias Weger Ausgewählte volkskundliche Diskurse in Schlesien im langen 19. Jahrhundert . . . . . 299 IV. Räume – regionale und überregionale Forschungsinteressen Ryszard Kaczmarek Oberschlesien als Gegenstand historischer Forschung vor 1914. Themenschwerpunkte, zeitliche Präferenzen und methodische Zugriffe . . . . . . . . . . 321 Michael Hirschfeld Geschichtliche Forschungen zur Grafschaft Glatz vor 1914 zwischen Heimatkunde und professioneller Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Roland Gehrke Selbstverschuldeter oder fremdverschuldeter Niedergang? Der Blick der schlesischen Historiographie auf die Geschichte des Nachbarlandes Polen vor 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Joachim Bahlcke Gemeinsame Vergangenheit, selektive Erinnerung. Forschungen schlesischer Historiker zur böhmisch-mährischen Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . 383

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V. Wahrnehmung und Rezeption Gregor Ploch Die Bewertung der geschichtswissenschaftlichen Forschung in Schlesien vor 1914 in deutschen, österreichischen und polnischen Rezensionszeitschriften . . . . . 451 VI. Anhang Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521

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Vorwort der Herausgeber In einem mehrjährigen Forschungsprojekt widmete sich die 1921 in Breslau gegründete Historische Kommission für Schlesien in den vergangenen Jahren der ­Konstituierung der historischen Wissenschaften im Oderland während des langen 19. Jahrhunderts. Sie verfolgte damit auch die Absicht, die eigene Gründungsgeschichte in breitere Zusammenhänge zu stellen sowie Kontinuitäten und Brüche der landesgeschichtlichen Forschung schärfer als bisher in den Blick zu nehmen. Ein erster Zugang galt den Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung, spielten doch gerade in Schlesien Vereine, Museen, Bibliotheken und Archive neben den zentralen Bildungseinrichtungen eine wichtige Rolle im Prozess der Verwissenschaftlichung des historischen Diskurses. In einem zweiten Schritt wurden die akademischen Karriereverläufe schlesischer Geschichtsforscher sowie deren Einbindung in wissenschaftliche Schulen und regionale wie überregionale Netzwerke untersucht. Die Ergebnisse dieser Studien sind bereits in der Stuttgarter Schriftenreihe Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte als Band 26 und 28 veröffentlicht worden. Die dritte und abschließende Perspektive gilt nun dem inhaltlichen Ertrag der Geschichtsschreibung in Schlesien zwischen Spätaufklärung und Erstem Weltkrieg. Dies umfasst die editorische Grundlagenarbeit an den Quellen ebenso wie die Wahl der einzelnen Epochen und konkreten Forschungsgegenstände, mit denen sich professionelle Historiker, aber auch außerhalb von Universität, Archiven und Museen tätige Akademiker befassten. Die thematisch zusammenhängende Trilogie liefert so wichtige Bausteine für eine noch zu schreibende Gesamtdarstellung der schlesischen Historiographie. Die dritte internationale Fachtagung, deren Ergebnisse im vorliegenden Sammelband dokumentiert werden, wurde von der Historischen Kommission für ­Schlesien in Kooperation mit den Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale vom 26. bis 28. September 2019 durchgeführt. Für ihr großes Engagement bei der Organisation der Konferenz sind wir dem Direktor der Franckeschen Stiftungen, Prof. Dr. Thomas Müller-­ Bahlke, sowie Friederike Lippold und Dr. Claus Veltmann zu Dank ­verpflichtet. Ebenso konstruktiv war die Zusammenarbeit mit Dr. Andrea Thiele vom Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung. Die Operationalisierung des Forschungsprojekts und die Drucklegung dieses Buches wären ohne die ideelle und materielle Unterstützung mehrerer Institutionen nicht möglich gewesen. Wir danken besonders dem Vorstand der Historischen Kommission für Schlesien, der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie der Stiftung Kulturwerk Schlesien (Würzburg) für die großzügige Förderung des Vorhabens. Gedankt sei ferner den Mitarbeitern am Stuttgarter Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit für ihre vielfältige Unterstützung bei der Herstellung des Buchmanuskripts sowie Oliver Rösch M.A. (Würzburg) für die gewohnt zuverlässige Betreuung der Drucklegung. Stuttgart, im März 2021

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Klio in Schlesien. Forschungsinteressen, Forschungsgegenstände und disziplinäre Zugänge der schlesischen Geschichtsschreibung vom späten 18. Jahrhundert bis 1914 I. Die Bedeutung des zeitgleich mit der Universität Breslau im Jahr 1811 in der schlesischen Landeshauptstadt begründeten Provinzialarchivs (seit 1867 Staatsarchiv) für die regionale Historiographie kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das Archiv war nicht nur als wichtigster Aufbewahrungsort der historischen Überlieferung des Oderlandes bedeutsam, sondern auch als Forschungsstätte, von der vor dem Ersten Weltkrieg entscheidende Impulse für die landesgeschichtliche Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung ausgingen.1 Dies hing auch mit den institutionellen Rahmenbedingungen an der Universität zusammen. Die Landesgeschichte war dort bei Lichte besehen nur durch ein 1866 neu eingerichtetes Extraordinariat für „Historische Hilfswissenschaften und Provinzialgeschichte“ verankert. Die Stelle hatte das Preußische Kultusministerium Colmar Grünhagen übertragen, der sich 1855 in Breslau habilitiert hatte und unterdessen seit vier Jahren das Provinzialarchiv leitete. Beinahe vier Jahrzehnte lang prägte Grünhagen, der zudem in den örtlichen Geschichts- und Kultureinrichtungen eine führende Stelle einnahm, wie kein anderer Landeshistoriker und Archivar vor oder nach ihm die Entwicklung der heimatlichen Geschichtsschreibung.2 Dass in dieser Phase Archivare in Forschung und Lehre immer stärker hervortraten, hing freilich auch mit Überlegungen für eine historische Öffentlichkeitsarbeit zusammen, für die sich Heinrich von Sybel als Direktor der preußischen Staatsarchive in den Jahren 1875 bis 1895 einsetzte. Nach Sybels Überzeugung sollten die Archivare nicht nur für die Konservierung, sondern auch für die Erschließung ihrer Bestände Sorge tragen und diese in Editionen und Darstellungen einem breiteren Publikum bekannt ma1 Żerelik, Rościsław: Das „Königliche Akademische Provinzialarchiv“ zu Breslau. Geschichtspflege im Spiegel der Organisation des schlesischen Archivwesens im 19. Jahrhundert. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 381–392; Dereń, Andrzej: Zarys dziejów Archiwum Państwowego we Wrocławiu (z okazji 150. rocznicy założenia). In: Archeion. Czasopismo naukowe poświęcone sprawom archiwalnym 35 (1961) 75–88; Krusch, Bruno: Geschichte des Staatsarchivs zu Breslau. Leipzig 1908 (Mitteilungen der K. Preussischen Archivverwaltung 11). 2 Rüther, Andreas: Borussische Geschichtsforschung in Schlesien: Colmar Grünhagen (1828– 1911) – Werdegang, Schuleinflüsse und Wirkungskreise. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2019 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 28), 217–254.

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chen. Zu diesem Zweck begründete er im Jahr 1878 die Reihe „Publicationen aus den K. Preussischen Staatsarchiven“, die wissenschaftliche wie wissenschaftspolitische Ziele gleichermaßen verfolgte. Es gebe, so Sybel, „keine bessere Propaganda für das Ansehen Preussens in der Welt, als die authentische Kenntniss der Preussischen Geschichte“.3 Für den Umschlag des vorliegenden Sammelbandes, der die Ausdifferenzierung der Geschichtsschreibung im Oderland vor 1914 aus wechselnden Perspektiven in den Blick nimmt und dabei immer wieder die archivalische Quellenüberlieferung und -erschließung thematisiert, wurde daher bewusst eine Aufnahme aus dem Arbeitsalltag im Staatsarchiv Breslau ausgewählt. Die Aufnahme, eine der extrem seltenen Innenaufnahmen vor dem Ersten Weltkrieg, zeigt den Benutzersaal im Obergeschoss des 1906 übergebenen Neubaus des Königlichen Staatsarchivs Breslau in der Tiergartenstraße 13.4 Es handelt sich naturgemäß um keine spontane Darstellung einzelner Benutzer, die archivalische Materialien studierten oder die seitwärts stehende Handbibliothek benutzten, sondern um das Ergebnis einer fotographischen Inszenierung. Offenbar hatte man in erster Linie auf die Mitarbeiter des Staatsarchivs zurückgegriffen, um die verschiedenen Arbeitsvorgänge möglichst anschaulich zu arrangieren. In der vordersten Reihe links, am Fenster sitzend, ist Direktor Otto Meinardus zu sehen. Als Nachfolger von Grünhagen leitete er das Staatsarchiv von 1901 bis zu seinem Tod im Jahr 1918. Meinardus war nicht nur ein gut ausgebildeter und begabter Archivar, er war auch ein zupackender, wissenschaftsorganisatorisch erfahrener Historiker. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger in der Direktion des Staatsarchivs interessierte ihn die Methodendiskussion, die seit dem späten 19. Jahrhundert die deutsche Geschichtswissenschaft bewegte; anders als Grünhagen war er offen für neue Wege in der landesgeschichtlichen Forschung, wie sie von Karl Lamprecht in Leipzig und anderen Historikern, die sich gezielt von der Politik- und Diplomatiegeschichte älteren Schlages abwandten, angeregt wurden. Das hatte er bereits während seiner früheren Tätigkeit im Staatsarchiv Wiesbaden bewiesen. Dort war, und zwar maßgeblich von Meinardus vorangetrieben, 1897 aus einer Sektion des altehrwürdigen Vereins für Nassauische Alterthumskunde und Geschichtsforschung eine eigenständige Historische Kommission für Nassau gebildet worden.5 Dieses neue, in anderen deutschen Territorien bereits erprobte Organisations3 Sybel, Heinrich von: Prospect. In: Lehmann, Max (Hg.): Preussen und die katholische Kirche seit 1640. Nach den Acten des Geheimen Staatsarchives, Th. 1: Von 1640 bis 1740. Leipzig 1878 (Publicationen aus den K. Preussischen Staatsarchiven 1), V–X, hier VI. 4 Sokołowska, Dorota: Der neue Archivbau in Breslau 1906. In: Röpcke, Andreas (Hg.): Ein Haus für die Ewigkeit. Der Schweriner Archivbau und seine Familie. Schwerin 2011 (Findbücher, Inventare und kleine Schriften des Landeshauptarchivs Schwerin 16), 71–88; Meinardus, Otto/Martiny, Rudolf (Hg.): Das neue Dienstgebäude des Staatsarchivs zu Breslau und die Gliederung seiner Bestände. Leipzig 1909 (Mitteilungen der K. Preussischen Archivverwaltung 12). 5 Struck, Wolf-Heino: Neunzig Jahre Historische Kommission für Nassau. In: Nassauische Annalen. Jahrbuch des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung 98 (1987) 251–272; Schüler, Winfried: Bewahren – Erleben – Verstehen. 200 Jahre Verein für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung. Wiesbaden 2012; Braubach, Max: Landesgeschichtli-

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modell landesgeschichtlicher Forschung stand gewissermaßen für die Forderung nach einer Öffnung des Faches hin zu neuen, auch die Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte einbeziehenden Fragestellungen.6 Der aus dem ostfriesischen Jever stammende Meinardus kam allerdings nicht nur als Landfremder nach Schlesien, sondern auch als Reformierter in eine anderskonfessionelle Umgebung. Das machte es von Beginn an nicht leicht, sich im Oderland durchzusetzen. Wer den Nachruf auf den im Ersten Weltkrieg erkrankten und verstorbenen ­Staatsarchivdirektor liest, den zudem noch sein Nachfolger verfasst und in der Zeitschrift des Breslauer Geschichtsvereins veröffentlicht hatte, der erhält ein plastisches Bild von der Schärfe der Richtungskämpfe unter den einzelnen Geschichtsforschern, die Anfang des 20. Jahrhunderts auch in der schlesischen Provinzhauptstadt stattfanden. Meinardus sei, so wird in dem Nachruf in irritierender Offenheit vermerkt, an seiner neuen Wirkungsstätte in Schlesien schon bald auf Widerstände gestoßen. Er habe erfahren müssen, „daß lange bestehende, eingelebte und festverwurzelte Einrichtungen und Gebräuche nicht wie Neuland“ behandelt werden könnten, denn sonst drohten – und dieser Fall war offenbar mehr als einmal eingetreten – die „geplanten Neuerungen und Umwälzungen“ an „dem bereits Bestehenden und Gefestigten“ zu scheitern. Für Konrad Wutke, den Verfasser des Nachrufs, war der Vorgänger ein Neuerer, dessen „vorwärtsdrängender, leicht beweglicher Geist“ und „Feuereifer“ sich nicht nur auf dienstliche Aufgaben beschränkt, sondern auch Veränderungen „im schlesischen Geschichtsleben“ allgemein zum Ziel gehabt hatten.7 Über vergleichbare Kontroversen vor allem im universitären Umfeld, die über persönliche Befindlichkeiten und kollegiale Rivalitäten hinausgingen und eine tiefergehende Reflexion über die Ausrichtung der Geschichtsforschung im Oderland erkennen lassen, liegen für Breslau nur wenige Zeugnisse vor. Dies hängt auch mit dem Charakter der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zusammen, die für viele Dozenten nur eine typische Eingangs- und Durchgangsuniversität war.8 Nur exemplarisch sei hier che Bestrebungen und historische Vereine im Rheinland. Düsseldorf 1954 (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein, insbesondere das Alte Erzbistum Köln 8). 6 Reininghaus, Wilfried: Karl Lamprecht und die Historischen Kommissionen in Deutschland vor 1914. Zur „Konferenz der landesgeschichtlichen Publikationsorgane“ während der Deutschen Historikertage. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 83 (2011) 51–74; Pitz, Ernst: Zur Historiographie der Landesgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung von Historischen Kommissionen. In: Westfälische Forschungen 46 (1996) 33–48; Schaab, Meinrad: Der Beitrag der historischen Kommissionen zur geschichtlichen Landesforschung. In: Specker, Hans Eugen (Hg.): Aufgabe und Bedeutung historischer Vereine in unserer Zeit. Ulm 1992, 49–70. 7 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Wutke, Konrad: Otto Meinardus. Ein Lebensbild. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 53 (1919) 1–28, hier 18f., 21. Zu Wutke und seinem Aufstieg im Staatsarchiv Breslau vgl. Bruchmann, Karl G.: Konrad Wutke. Ein Leben für die Geschichte Schlesiens. In: Der Archivar. Mitteilungsblatt für deutsches Archivwesen 4 (1951) Sp. 88–96. 8 ����������������������������������������������������������������������������������������� Gehrke, Roland: Die Berufung von Historikern an die Universität Breslau (1848–1914): Auswahlkriterien, Durchsetzung, Personalfluktuation. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schu-

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Aloys Schulte genannt, der 1896 auf die katholische Geschichtsprofessur in Breslau berufen wurde. Im Jahr seiner Berufung hatte Schulte, der seit 1886 aktives Mitglied der Badischen Historischen Kommission war, die Schriftleitung eines der bedeutendsten regionalgeschichtlichen Organe inne, der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins. Noch wichtiger aber war die enge Freundschaft zu Karl Lamprecht, mit dem er sich bereits seit Anfang der 1880er Jahre regelmäßig über Fragen des Faches austauschte.9 Doch auch den gebürtigen Münsteraner, der sich in Breslau mit Nachdruck für eine Modernisierung des Faches einsetzte, hielt es nur wenige Jahre in Schlesien, das er 1902 bereits wieder verließ. Trotz aller Bemühungen, „die am Oberrhein erprobten landesgeschichtlichen Methoden auch in Schlesien einzuführen“,10 blieb sein Einfluss auf die örtlichen Institutionen und Gruppenbildungen begrenzt. Intensiver als an der Universität wurde an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert offenbar am Staatsarchiv Breslau – und hier erwies sich Meinardus als wichtiger Anreger und Förderer – über die Ausrichtung der heimischen Landesgeschichtsforschung nachgedacht. Wichtige Anstöße gingen dabei von einem anderen Archivar aus, der unter Meinardus am Staatsarchiv tätig war: Victor Loewe. Der gebürtige Oberschlesier hatte von 1890 bis 1894 in Breslau, Berlin und Freiburg im Breisgau Geschichte studiert und war nach der Ausbildung zum Archivar an verschiedenen Archiven tätig gewesen, bevor er 1909 im Alter von 38 Jahren an das Staatsarchiv Breslau versetzt wurde.11 Ähnlich wie sein Vorgesetzter versuchte auch Loewe Erfahrungen, die er mit der Ausdifferenzierung der Geschichtswissenschaft an anderen Orten gemacht hatte, an schlesische Geschichtsforscher weiterzugeben. Was Loewe vorschwebte, ist in kompakter Form seinem geradezu programmatischen Vortrag „Neue Wege und Ziele der landesgeschichtlichen Forschung in Deutschland“ zu entnehmen, den er erstmals 1903 veröffentlichte, in den folgenden Jahren aber noch mehrfach vor allem in den preußischen Ostprovinzen, auch in Schlesien, hielt. Bedauerlicherweise wurde er an entlegener Stelle publiziert, so dass er bis heute weitgehend unbeachtet blieb.12 Loewe lieferte in seinem Vortrag einen kenntnisreichen, ­engagierten

len – Netzwerke, 93–127; Bahlcke, Joachim: Das Historische Seminar der Universität Breslau 1811 bis 1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte [2012/13]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2016 (Forschungen zu Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3), 217–238. 19 Reininghaus: Karl Lamprecht und die Historischen Kommissionen, 62–71; Braubach, Max: Aloys Schulte und die rheinische Geschichte. Zum 100. Geburtstag des großen Bonner Historikers. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 22 (1957) 1–30; ders.: Zwei deutsche Historiker aus Westfalen. Briefe Heinrich Finkes an Aloys Schulte. In: Westfälische Zeitschrift 118 (1968) 9–113. 10 �������������������������������������������������������������������������������������������� Braubach, Max: Aloys Schulte. In: Steffens, Wilhelm/Zuhorn, Karl (Hg.): Westfälische Lebensbilder, Bd. 7. Münster Westfalen 1959, 158–180, hier 169. 11 Weiß, Peter Ulrich: Victor Loewe (1871–1933). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 13. Würzburg 2021, 181–192. 12 Loewe, Victor: Neue Wege und Ziele der landesgeschichtlichen Forschung in Deutschland. In: Sonntagsbeilage No. 45 zur Vossischen Zeitung No. 525 vom 8. Dezember 1903, 353–355. Dass

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Abriss über die Entwicklung „auf dem weiten Felde territorialgeschichtlicher Forschung“, die seiner Beobachtung nach in den letzten Jahren einen spürbaren „neuen Aufschwung“ erlebte. Dessen Ursachen seien vielfältiger Art, „kulturpolitischer nicht weniger wie wissenschaftlicher Natur“. „Die Möglichkeit einer neuen Blüte des Studiums der Territorialgeschichte ist nun aber durch die neue Richtung der Geschichtswissenschaft wieder gegeben worden; diese betrachtet die politische Geschichte, die man früher oft genug mit Geschichte überhaupt identifizierte, die Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen, der Kriege und der diplomatischen Verhandlungen nur als einen Ausschnitt und Teil des unendlich vielgestaltigen geschichtlichen Lebens, sie geht vielmehr darauf aus, das Leben des Volkes nach allen Richtungen zu ergründen, das Arbeitsfeld des Historikers dahin zu erweitern, daß sie auch die Pflege der Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte, der Bildungs- und Geistesgeschichte für seine Aufgabe erklärt.“ Loewe stellte nachfolgend die „Hauptträger“ dieser neuen, vielversprechenden Richtung der Geschichtswissenschaft vor und benannte die wichtigsten Arbeitsfelder, die vorrangig in Angriff zu nehmen seien.13 Dabei kam er auch auf die „Pflege der Historiographie“ zu sprechen, die aus landesgeschichtlicher Sicht ein Desiderat der ­Forschung darstelle. „Die einzige ausführliche Gesamtdarstellung der neueren deutschen Geschichtsschreibung, die wir besitzen, das Buch F[ranz] X[aver] v[on] Wegeles, ist doch in großen Partien dürftig und unzulänglich, und der schwierige Versuch, die deutsche Geschichtsschreibung von neuem darzustellen, wird mit besserem Gelingen erst dann wieder unternommen werden können, wenn die einzelnen größeren Territorien kritische und erschöpfende Darstellungen ihrer Historiographie, genaue Untersuchungen und bequeme Editionen des chronikalischen Materials und der lokalen Geschichtsschreibung besitzen werden.“14 Es ist im Grunde exakt diese Forderung, die verschiedenen ­Forschungsinteressen, Forschungsgegenstände und disziplinären Zugänge der Geschichtsschreibung zu skizzieren und in breitere Zusammenhänge der überregionalen Historiographie einzuordnen, der mit diesem Sammelband zumindest für einen begrenzten Zeitabschnitt – die Phase vom späten 18. Jahrhundert bis 1914 – in einer einzelnen Region, in Schlesien, nachgekommen werden soll. Denn man muss es in aller Offenheit bekennen: Eine moLoewe den Vortrag später anderorts vortrug, geht beispielsweise aus der Ankündigung zur Monatssitzung der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen am 8. Oktober 1907 hervor. Vgl. Historische Monatsblätter für die Provinz Posen 8 (1907) 160. 13 Zur Einordnung seiner Anregungen und Postulate in die breiteren landesgeschichtlichen Forschungsdebatten der Zeit vgl. Werner, Matthias: Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert. In: Moraw, Peter/Schieffer, Rudolf (Hg.): Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert. Ostfildern 2005 (Vorträge und Forschungen 62), 251–364. 14 Loewe: Neue Wege und Ziele der landesgeschichtlichen Forschung, 355. Loewe bezog sich hier auf das Werk von Wegele, Franz X. von: Geschichte der Deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus. München/Leipzig 1885 (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit 20).

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derne Geschichte der schlesischen Historiographie liegt auch ein Jahrhundert nach der Veröffentlichung von Loewes programmatischem Beitrag nicht vor. Selbst für eine erste Synthese, wie sie beispielsweise 1996 für Pommern vorgelegt wurde,15 fehlen mit Blick auf das Oderland unverändert wichtige Vorarbeiten. Noch einmal muss in diesem Zusammenhang an einen Archivar am Staatsarchiv Breslau erinnert werden: Es war der aus Hessen gebürtige Wilhelm Dersch,16 seit 1927 Amtsnachfolger Wutkes in der Leitung des Staatsarchivs, der sich in den folgenden Jahren mit beachtlichem Engagement in die Archivüberlieferung und Historiographie Schlesiens einarbeitete und zu diesen ihm bis dahin fremden Arbeitsfeldern mehrere gewichtige, problemorientierte Abrisse veröffentlichte.17 Dersch wäre der richtige Bearbeiter für eine „zusammenfassende Umschau“ gewesen, so seine eigene Bezeichnung für eine historiographiegeschichtliche Gesamtdarstellung. Eine solche Synthese sei besonders notwendig für die jüngere Geschichtsforschung, sei doch seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert „ein entscheidender Wendepunkt in der Pflege der schlesischen Geschichte“ feststellbar, der eng mit den Namen von Karl Lamprecht und Gustav Schmoller verbunden sei: „Gegenüber dem Bekenntnis zum Staat und zur Macht, wie es etwa Heinrich v[on] Treitschke betont, machen sich kulturgeschichtliche Forderungen geltend, die eine starke Berücksichtigung verfassungs- und rechtsgeschichtlicher sowie sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Fragen verlangen.“18 Dersch warf auch andere Fragen auf, die sein Gespür für die unterschiedlichen Akteure der landesgeschichtlichen Arbeit im Oderland und deren Konkurrenz untereinander bezeugen. Nur ein Beispiel, da das vor allem vor 1914 bestehende Spannungsverhältnis zwischen Staatsarchiv, Universität und Geschichtsverein bereits angesprochen wurde: „Es wäre reizvoll, einmal den Anteil der Universität an der Erforschung der schlesischen Landesgeschichte zusammenfassend durch das vergangene Jahrhundert hindurch zu behandeln.“19 Gleichsam als Bausteine für eine noch zu schreibende Gesamtdarstellung der schlesischen Historiographie sollen die hier vorgelegten Regionalstudien die zeitliche, thematische und methodische Ausdifferenzierung der Geschichtsschreibung nachzeichnen, die seit der Spätaufklärung auch im Oderland zu beobachten ist. Gezielt wird dabei die

15 Unterstell, Rembert: Klio in Pommern. Die Geschichte der pommerschen Historiographie 1815 bis 1945. Köln/Weimar/Wien 1996 (Mitteldeutsche Forschungen 113). 16 �������������������������������������������������������������������������������������������� Bier, Hermann: Wilhelm Dersch † [Nachruf ]. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 76 (1942) 137–138; Gutbier, Ewald: Wilhelm Dersch [Nachruf ]. In: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 63 (1952) 122. 17 Dersch, Wilhelm: Vierzig Jahre schlesische Geschichtsforschung. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 65 (1931) 1–53; ders.: Schlesische Archivpflege. In: Schlesische Geschichtsblätter. Mitteilungen des Vereins für Geschichte Schlesiens 1 (1933) 1–26; ders.: Quellen, Wege und Ziele der oberschlesischen Heimatforschung. In: Der Oberschlesier. Monatsschrift für das heimatliche Kulturleben 17 (1935) 22–33. 18 Ders.: Vierzig Jahre schlesische Geschichtsforschung, 1f. 19 Ebd., 7 (die kursivierten Satzteile im Original in Sperrdruck).

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historiographische Produktion in den Blick genommen, die nicht nur im universitären Umfeld Breslaus entstand, sondern auch an anderen Kultur- und Bildungsinstitutionen des Landes erarbeitet wurde. Dies umfasst die editorische Grundlagenarbeit an den Quellen ebenso wie die Wahl der einzelnen Epochen und konkreten Forschungsgegenstände, mit denen sich Geschichtsforscher, Archivare und Heimatkundler vor dem Ersten Weltkrieg beschäftigen. In ganz unterschiedlichen Teildisziplinen und Arbeitsfeldern wird deutlich, wie eng mitunter im langen 19. Jahrhundert wissenschaftliche Fragestellungen und politische Konstellationen miteinander verzahnt waren. So verstärkte etwa der preußisch-österreichische Antagonismus, aber auch die Nachbarschaft des Landes zum slawischen Sprach- und Kulturraum gerade in Schlesien das Entstehen konkurrierender Geschichtsbilder. Stets geht es dabei um das Verhältnis allgemeiner, auch in anderen Landschaften zu findender Entwicklungen, die sich aus der Verwissenschaftlichung der Geschichtsforschung und der Formierung besonderer thematischer Subdisziplinen ergeben, einerseits und spezifischer, in dieser Ausprägung mehr oder weniger singulärer Phänomene im Oderland andererseits. Es ist weder intendiert, eine angebliche, hauptsächlich von auswärtigen Universitätsdozenten kolportierte Rückständigkeit des gelehrten Lebens in Schlesien hervorzuheben, noch sollen umgekehrt vermeintliche, bisher übersehene Leistungen vorrangig in den Mittelpunkt gerückt werden. Mit verallgemeinernden Aussagen über die historiographische Produktion wird man ohnehin sehr behutsam umgehen müssen.

II. Historiographiegeschichte wird, gerade auch was die entscheidende Formierungsphase der Geschichtswissenschaft im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert anbelangt,20 in Deutschland bis heute vornehmlich als die Geschichte einer universitären Disziplin ge20 Aus der überreichen historiographiegeschichtlichen Forschungsliteratur vgl. exemplarisch Neugebauer, Wolfgang: Preußische Geschichte als gesellschaftliche Veranstaltung. Historiographie vom Mittelalter bis zum Jahr 2000. Paderborn 2018; Nordalm, Jens (Hg.): Historismus im 19.  Jahrhundert. Geschichtsschreibung von Niebuhr bis Meinecke. Stuttgart 2006; Cymorek, Hans: Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900. Stuttgart 1998 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 142); Hammerstein, Notker (Hg.): Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900. Stuttgart 1988; Kornbichler, Thomas: Deutsche Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert. Wilhelm Dilthey und die Begründung der modernen Geschichtswissenschaft. Pfaffenweiler 21986 (Reihe Geschichtswissenschaft 1); Faulenbach, ­Bernd: Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie ­zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. München 1980. Aus marxistischer Perspektive vgl. Streisand, Joachim (Hg.): Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft, Bd. 2: Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung von der Reichseinigung von oben bis zur Befreiung Deutschlands vom Faschismus. Berlin 1965 (Schriften des Instituts für Geschichte 21).

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schrieben. Will man zu einem stimmigen Gesamtbild gelangen, muss freilich, wie schon angedeutet, den außeruniversitären Produktionsstätten von Historiographie gerade in Schlesien eine ähnlich hohe Aufmerksamkeit gewidmet werden. Es unterstreicht die vorstehend bereits dargelegte Bedeutung des Breslauer Staatsarchivs für die Entwicklung der schlesischen Geschichtsschreibung noch einmal zusätzlich, wenn Hermann Markgraf im Blick auf die große historiographische „Schaffenskraft“ der vier nacheinander amtierenden Archivleiter Johann Gustav Gottlieb Büsching, Gustav Adolf Harald Stenzel, Wilhelm Wattenbach und Colmar Grünhagen apodiktisch feststellte: „Ist doch der Archivar von Schlesien der amtlich berufene Pfleger der Landesgeschichte.“21 In den Blick genommen werden müssen freilich ebenso die Bibliotheken, die historischen Museen und die diversen Geschichtsvereine in Schlesien, ferner die beiden großen Konfessionskirchen mit ihrer historiographisch tätigen Geistlichkeit und nicht zuletzt die verschiedenen Zirkel einer schlesisch-jüdischen Geschichtsschreibung – so wie dies in den beiden Vorgängerbänden dieses Sammelwerks geschehen ist.22 Ungeachtet ihrer großen thematischen Breite, die von der Quellenerschließung über die verschiedenen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft bis hin zu den gleichfalls historisch arbeitenden, aber disziplinär autonomen Nachbarfächern reicht, ­zielen die hier präsentierten Beiträge im Kern letztlich auf die Geschichtsschreibung in Schlesien über Schlesien. Sie widmen sich im Großen und Ganzen also der kritischen Aufarbeitung der Landesgeschichtsschreibung im Oderland – jener Disziplin, die sich unter dem Einfluss der Spätaufklärung von der engeren dynastisch-territorialen Orien-

21 Markgraf, Hermann: Die Entwickelung der schlesischen Geschichtsschreibung [1888]. In: ders.: Kleine Schriften zur Geschichte Schlesiens und Breslaus. Breslau 1915 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Staatsbibliothek zu Breslau 12), 1–29, hier 25. 22 Mrozowicz, Wojciech: Die Bibliotheken Schlesiens als Orte der Geschichtspflege vor dem Ersten Weltkrieg – unter besonderer Berücksichtigung der Universitäts- und Stadtbibliothek in Breslau. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 365–379; Bończuk-Dawidziuk, Urszula: Geschichtspflege im Breslauer Universitätsmuseum und in anderen Museen Schlesiens vor dem Ersten Weltkrieg. Ebd., 297–322; Zach, Franziska: Die „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur“ im 19. Jahrhundert. Ebd., 121–141; Kersken, Norbert: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung: Der „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“. Ebd., 87–120; Meyer, Dietrich: Der „Verein für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens“ und das Konsistorium in Breslau. Ein Beitrag zur Geschichtspflege und Erinnerungskultur der evangelischen Kirche in der Provinz Schlesien. Ebd., 143–182; Hirschfeld, Michael: Diözesanarchiv, Diözesanbibliothek und Diözesanmuseum in Breslau. Zum Beitrag der katholischen Kirche zur Geschichtsbewahrung und Kulturgutpflege in Schlesien vor dem Ersten Weltkrieg. Ebd., 393–405; ders.: Schlesische Priesterhistoriker vor dem Ersten Weltkrieg. Geschichtsschreibung zwischen institutionellen Anforderungen und individueller Schwerpunktsetzung. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 307– 329; Kalinowska-Wójcik, Barbara: Jüdische Geschichtsforscher im Schlesien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Jacob Caro (1835–1904), Markus Brann (1849–1920) und Ezechiel Zivier (1868–1925). Ebd., 331–365; Irgang, Winfried: „Wissenschaft ist das Herz des Judentums“. Wege schlesischer Rabbiner des 19. Jahrhunderts zur Geschichtsforschung. Ebd., 367–383.

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tierung schrittweise zu emanzipieren begann.23 Gerade im Fall der zusammengesetzten Monarchie Preußens hieß das, dass die ältere Territorialgeschichte von einer neueren Provinzialgeschichte abgelöst wurde, die ihren spezifischen Referenzpunkt bis 1918 im preußischen Staat fand.24 Die maßgeblichen Träger dieses „prä-universitären“ landesgeschichtlichen Interesses waren die sich nach 1815 sukzessive konstituierenden historischen Vereine. Dass diese sich in aller Regel behördlichen Wohlwollens erfreuen konnten, lag nicht zuletzt an ihrer integrativen Funktion: Die mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 eingeleitete und auf dem Wiener Kongress 1815 vorerst ab­geschlossene territoriale Neuordnung Deutschlands führte in verschiedenen Regionen zu einer Divergenz zwischen staatlichem und historisch-gesellschaftlichem Bewusstsein und erzeugte somit zwangsläufig mentale Gegenbe­wegungen auf der substaatlichen Ebene, die von den Geschichtsvereinen aufgefangen und im Sinne eines erneuerten Regionalbewusstseins kanalisiert wurden.25 Dass gerade in solchen Regionen die geschichtliche Landesforschung eine frühe Blüte erlebte, erscheint vor diesem Hintergrund nachvollziehbar.26 Im Fall von Schlesien trat die über das 19. Jahrhundert hin-

23 Zur historischen Entwicklung und Methodik der Teildisziplin Landesgeschichte vgl. exemplarisch Bünz, Enno (Hg.): Deutsche Landesgeschichtsforschung im 19. und 20. Jahrhundert. In: John, Anke (Hg.): Köpfe. Institutionen. Bereiche. Mecklenburgische Landes- und Regionalgeschichte seit dem 19. Jahrhundert. Lübeck 2016 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Mecklenburg. Reihe B N. F. 5), 17–39; ders./Freitag, Werner (Hg.): Räume und Grenzen. Traditionen und Konzepte der Landesgeschichte. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 139/140 (2003/04) 145–266; Freitag, Werner: Die disziplinäre Matrix der Landesgeschichte. Ein Rückblick. In: Hirbodian, Sigrid/Jörg, Christian/Klapp, Sabine (Hg.): Methoden und Wege der Landesgeschichte. Ostfildern 2015 (Landesgeschichte 1), 15–27; Jordan, Stefan: Die Entstehung moderner Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert und ihr Verhältnis zu Land und Region. In: Holtz, Sabine/Lorenz, Sönke/Schmidt, Jürgen Michael (Hg.): Historiographie – Traditionsbildung, Identitätsstiftung und Raum. Südwestdeutschland als europäische Region. Ostfildern 2011 (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 71), 111–122; Speitkamp, Winfried: Erfindungen: Raum – Land – Landesgeschichte. In: Gräf, Holger Th./Jendorff, Alexander/­ Monnet, Pierre (Hg.): Land – Geschichte – Identität. Geschichtswahrnehmung und Geschichtskonstruktion im 19. und 20. Jahrhundert – eine historiographiekritische Bestandsaufnahme. Darmstadt/Marburg 2016 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 174), 11–30; Petry, Ludwig: In Grenzen unbegrenzt. Möglichkeiten und Wege der geschichtlichen Landeskunde [1961]. In: Fried, Pankraz (Hg.): Probleme und Methoden der Landesgeschichte. Darmstadt 1978 (Wege der Forschung 492), 280–304. 24 �������������������������������������������������������������������������������������������� Am mit Schlesien in mancherlei Hinsicht vergleichbaren Beispiel der preußischen Provinz Pommern vgl. Unterstell: Klio in Pommern, 21, 95. 25 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Gehrke, Roland: Zwischen ,vaterländischer‘ Geschichtsbegeisterung und wissenschaftlicher Professionalisierung: Das historische Vereinsweisen im deutschsprachigen Raum vor 1914. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 27–43, hier 32; Kunz, Georg: Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewußtsein in den deutschen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 138), 38–40. 26 Unterstell: Klio in Pommern, 8.

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weg zunehmende Selbstwahrnehmung als geographisch exponierter „Grenzraum“ im deutsch-slawischen Kontaktbereich noch hinzu. Zwar erfolgte die erwähnte Einrichtung des dann mit Colmar Grünhagen besetzten Extraordinariats für Provinzialgeschichte (in Verbindung mit den Historischen Hilfswissenschaften) an der Universität Breslau schon 1866, im Gesamtpanorama der sich entfaltenden deutschen Landesgeschichtsforschung also sogar relativ früh, doch blieb dieser Bereich an der Philosophischen Fakultät der Breslauer Alma mater auch in den folgenden Jahrzehnten eher randständig. Der vorstehend skizzierten außeruniversitären Forschungslandschaft kam in Schlesien bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges damit eine unverändert große Bedeutung zu. Wenn im Rahmen des vorliegenden Bandes der charakteristische Professionalisierungs-, Verwissenschaftlichungs- und fachliche Differenzierungsprozess also nicht nur der akademischen Forschung, sondern ebenso der Forschung im außeruniversitären Raum nachgezeichnet wird, so ist zu berücksichtigen, dass der zeitgenössisch viel kritisierte Dilettantismus der mit bürgerlichen Laien durchsetzten Geschichtsvereine dem wissenschaftlichen Image der Landesgeschichte noch lange abträglich blieb.27 Ihren wirklichen Durchbruch als eigene historische Disziplin erlebte die Landesgeschichtsforschung letztlich erst mit dem denkwürdigen „Lamprecht-Streit“ der Jahrhundertwende. In Abkehr von der zeitgenössisch dominierenden politisch-nationalgeschichtlichen Ausrichtung der Geschichtswissenschaft postulierte der seit 1891 an der Universität Leipzig lehrende Mediävist Karl Lamprecht eine neue Kulturgeschichte im Sinne einer umfassenden Verbindung nicht nur von Sozial-, Wirtschafts- und Literaturgeschichte, sondern auch unter Einbeziehung von Nachbardisziplinen wie der Kunstgeschichte, der Volkskunde sowie der Historischen Geographie und Demographie, die es zunächst im Blick auf die „kleineren Räume“ zu erproben galt. Eine solche kulturgeschichtliche Analyse der „heimischen Zustände“ konnte Lamprecht zufolge „nur in landesgeschichtlichen Studien eingehend und zuverlässig“ vorgenommen werden.28 Die von Lamprecht initiierte Gründung des später von seinem Schüler Rudolf Kötzschke geleiteten Leipziger „Seminars für Landesgeschichte und Siedlungsgeschichte“ im Jahr 27 Kunz: Verortete Geschichte, 69; Maschke, Erich: Landesgeschichtsschreibung und Historische Vereine. In: ders.: Städte und Menschen. Beiträge zur Geschichte der Stadt, der Wirtschaft und Gesellschaft 1959–1977. Wiesbaden 1980 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 68), 515–532, hier 525. Eine bereits zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem verbreiteten Vorwurf des Dilettantismus führt Bossert, Gustav: Die historischen Vereine vor dem Tribunal der Wissenschaft. Heilbronn 1883. 28 Zit. nach Werner, Matthias: Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert. In: Moraw, Peter/ Schieffer, Rudolf (Hg.): Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert. Ostfildern 2005 (Vorträge und Forschungen 62), 251–364, hier 263f. Vgl. Raphael, Lutz: Historikerkontroversen im Spannungsfeld zwischen Berufshabitus, Fächerkonkurrenz und sozialen Deutungsmustern. Lamprecht-Streit und französischer Methodenstreit in vergleichender Perspektive. In: Historische Zeitschrift 251 (1990) 325–363.

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1906 gilt gemeinhin als die Geburtsstunde einer methodisch neu definierten, von der älteren Territorial- und Provinzialgeschichte deutlich geschiedenen Landesgeschichtsforschung in Deutschland.29 Mochte die schlesische Historiographie an diesem Vorgang auch nicht unmittelbar beteiligt gewesen sein, so ist doch unabweisbar, dass das Oderland schon lange vor 1900 Schauplatz einer reichen und thematisch vielfältigen landesgeschichtlichen Produktion war. Wichtiger noch als der 1846 dauerhaft ins Leben gerufene schlesische Geschichtsverein war dessen Mitteilungsorgan, die seit 1855 erscheinende Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens.30 Ab 1881 erschien die Zeitschrift in Jahrgangsbänden von durchweg zwischen 300 und 500 Seiten Umfang und wurde damit zu einem der an Stetigkeit, Mitteilungsdichte und inhaltlicher Qualität führenden landesgeschichtlichen Organe in Deutschland. Ernst Maetschke, Vereinsvorsitzender zwischen 1913 und 1925, setzte den Erfolg der Zeitschrift anläßlich ihres 50. Jubiläums in einen direkten Zusammenhang mit den historischen Besonderheiten Schlesiens: „Der stark partikularistische Grundzug der schlesischen Geschichte, der einer erschöpfenden Gesamtdarstellung bis in die neueste Zeit große Schwierigkeiten in den Weg gelegt hat, begünstigt aber gerade die Entwicklung einer Zeitschrift, die der heimischen Geschichte dient, da in ihr naturgemäß nur kleinere Abschnitte behandelt werden und das reiche innere Leben des Landes dem Historiker, Philologen, Theologen und Juristen, ja auch manchem im praktischen Leben Stehenden Interesse abnötigt, so daß der Kreis der Mitarbeiter umfangreicher ist und die von ihnen behandelten Gebiete und Objekte mannigfaltiger sind, als in einer Landschaft, die sich einer solchen vielgestaltigen inneren Entwicklung nicht rühmen kann.“31 Die Beiträge in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte (und Alterthum) Schlesiens dienen für mehrere der hier versammelten Einzelsonden nicht nur als wertvolle Materialgrundlage, vielmehr bildet die Zeitschrift, die seit dem Weggang Wilhelm Wattenbachs nach Heidelberg 1862 für gut vier Jahrzehnte unter der redaktionellen Ägide Colmar Grünhagens stand, ihrerseits gleichsam so etwas wie eine Matrix der sich formierenden landesgeschichtlichen Forschung in Schlesien; anhand ihrer Schwerpunkt29 Bünz, Enno: Ein Landeshistoriker im 20. Jahrhundert. Rudolf Kötzschke (1867–1949) zwischen methodischer Innovation und Volksgeschichte. In: ders. (Hg.): 100 Jahre Landesgeschichte (1906–2006). Leipziger Leistungen, Verwicklungen und Wirkungen. Leipzig 2012 (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 38), 43–78, hier 44–46; Rödel, Volker: Von der Landesgeschichte zur geschichtlichen Landeskunde. Herausbildung und Werdegang einer historischen Spezialdisziplin. Ebd., 449–461; Buchholz, Werner: Vergleichende Landesgeschichte und Konzepte der Regionalgeschichte von Karl Lamprecht bis zur Wiedervereinigung im Jahre 1990. In: ders. (Hg.): Landesgeschichte in Deutschland. Bestandsaufnahme – Analyse – Perspektiven. Paderborn u. a. 1998, 11–60. 30 ������������������������������������������������������������������������������������������ Kersken: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung, 117f. Auf den Zusatz „Alterthum“ im Vereinsnamen – und damit auch im Zeitschriftentitel – wurde ab 1906 verzichtet. 31 Maetschke, E[rnst]: Die Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 1855–1905. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1907) 1–16, hier 3.

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setzungen lässt sich vieles exemplarisch aufzeigen, was auch diesen Sammelband inhaltlich bestimmt. Das gilt erstens für die schon früh zu beobachtende Verschiebung von den anfangs dominierenden Quellenpublikationen hin zur historiographischen Darstellung. Machten die Editionen bis zum siebten Band (1866) noch rund 40 Prozent des Umfangs aus, so schmolz dieser Anteil in den beiden Folgebänden (1867/69) bereits auf weniger als ein Drittel zusammen und pendelte sich ab Band 11 (1872) bei nur mehr gut zehn Prozent ein.32 Damit einher ging zweitens auch eine inhaltliche Akzentverschiebung, was die ­behandelten historischen Epochen betrifft. Das thematisch zunächst klar dominierende Mittelalter machte ab Band 18 (1884) stärker dem 16. und 17. Jahrhundert Platz (vertreten insbesondere durch Abhandlungen zum Dreißigjährigen Krieg), bevor ab Band 23 (1889) das 18. Jahrhundert – vornehmlich die friderizianische Epoche –, ab Band 30 (1896) dann auch das noch nicht beendete 19. Jahrhundert, also die schlesische Zeitgeschichte, in den Fokus rückte.33 Drittens lässt sich anhand der Zeitschrifteninhalte die sukzessive Verselbständigung der historischen Nachbarwissenschaften nachvollziehen. Die anfangs stark vertretene Kunstgeschichte etwa fiel nach anderthalb Jahrzehnten weitgehend weg, da sie mit der 1870 ins Leben gerufenen Zeitschrift Schlesiens Vorzeit in Wort und Bild ihr eigenes Forum gefunden hatte. In ähnlicher Weise wurden Themen der schlesischen Volkskunde ab 1894 in den Mitteilungen der schlesischen Gesellschaft für Volkskunde bedient.34 Viertens schließlich offenbart sich in der Vereinszeitschrift auch der im 19. Jahrhundert noch immer nicht völlig zugeschüttete konfessionelle Graben im Oderland. Bereits im zweiten Heft des ersten Bandes (1856) hatte der Vereinsvorsitzende Richard Roepell eine Besprechung abdrucken lassen, in der sich der vormalige Neisser Paulskirchen-Abgeordnete Theodor Paur mit August Kastners Geschichte der Stadt Neisse auseinandergesetzt hatte – in einer Weise, die von schlesischen Katholiken verbreitet als beleidigend empfunden wurde.35 Obwohl selbst eindeutig einem protestantisch-borussisch gefärbten Geschichtsbild verpflichtet, bemühte sich Grünhagen später stets um eine Integration des katholischen Elements in die Arbeit von Verein und Zeitschrift. Für den siebten Band etwa konnte er vier katholische Mitarbeiter gewinnen und warb für den

32 Ebd., 6. 33 �������������������������������������������������������������������������������������������� Kessler, Wolfgang: Der Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens und seine Veröffentlichungen 1846–1943. In: ders. (Bearb.): Zeitschrift des Vereins für Geschichte (und Alterthum) Schlesiens 1855–1943. Schlesische Geschichtsblätter 1908–1943. Gesamtinhaltsverzeichnis. Hannover 1984 (Schlesische Kulturpflege. Schriftenreihe der Stiftung Schlesien 1), V–XXII, hier XII. 34 Ebd.; Maetschke: Die Zeitschrift, 7. 35 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Bahlcke, Joachim: „Circel gebildeter, gelehrter Männer“. Zur Entwicklung, Struktur und inhaltlichen Ausrichtung aufgeklärter Sozietäten in Schlesien während des 18. Jahrhunderts. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 45–71, hier 51f.; Kersken: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung, 118f.

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Folgeband ganz demonstrativ auch vier von Deutsch-Österreichern verfasste Beiträge ein.36 Gegen Ende seiner langen Amtszeit als Vereinsvorsitzender vermochte Grünhagen es dennoch nicht zu verhindern, dass sich im katholisch geprägten und mittlerweile zunehmend von einem deutsch-polnischen Nationalitätenkonflikt erschütterten Oberschlesien ab 1902 ein konkurrierendes, von Breslau unabhängiges historisches Vereinsund Zeitschriftenwesen ausbildete.37 Den folgenschweren Paradigmenwechsel innerhalb der deutschen Landesgeschichtsforschung hatte Ernst Maetschke selbst schon explizit proklamiert, wenn er anlässlich des 50. Jubiläums der Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens stolz verkündete, diese habe „aber auch noch eine mehr als provinzielle Bedeutung. Sie zeigt in Hunderten von Fällen, wie deutscher Geist und deutscher Fleiß, für den sie selbst ein beredtes Zeugnis ablegt, dieses schöne Land durch schwere, jahrhundertelange Arbeit dem Deutschtum gewonnen hat.“38 Damit war die Richtung hin zur Adaption der Theorie eines deutschen „Kulturträgertums“ in Ostmitteleuropa und zu den Axiomen einer volkstumszentrierten Deutschen Ostforschung vorgegeben, die nun gleichsam die Kehrseite des jahrzehntelangen wissenschaftlichen Professionalisierungsprozesses bildeten.39 Im Ergebnis stand nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die Neukonzeption der Landesgeschichte als Integrationswissenschaft verschiedener regional spezifischer Fächer, die in der maßgeblich von Hermann Aubin postulierten „Volks- und Kulturbodenforschung“ ihr überwölbendes ideologisches Element fand.40 Damit sind wesentliche Paradigmen benannt, die die deutsche Schlesienforschung während der Weimarer Republik maßgeblich prägten und die in einem weiteren, thematisch anschließenden Sammelband thematisiert werden sollen. 36 Maetschke: Die Zeitschrift, 7. 37 �������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., 14–16; Kessler: Der Verein, XVIf.; Kaczmarek, Ryszard: Geschichtspflege und Vereinswesen im preußischen Oberschlesien vor dem Ersten Weltkrieg. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 215–227. 38 Maetschke: Die Zeitschrift, 16. 39 Unterstell: Klio in Pommern, 14, 101, 273. Aus der mittlerweile reichen Forschungsliteratur zum Phänomen „Volksgeschichte“ sei lediglich verwiesen auf die grundlegende Studie von Oberkrome, Willi: Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945. Göttingen 1993 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 101). 40 Mühle, Eduard: Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung. Düsseldorf 2005 (Schriften des Bundesarchivs 65). Vgl. ergänzend ders.: Die „Schlesische Schule der Ostforschung“. Hermann Aubin und sein Breslauer Arbeitskreis in den Jahren des Nationalsozialismus. In: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska Republika Uczonych – Schlesische Gelehrtenrepublik – Slezská vědecká obec, Bd. 1. Wrocław 2004, 568–607; ders.: „… einfach dem Instinkte nach vertraut“. Zum Wissenschaftsverständnis Hermann Aubins und seiner historischen Kulturraumforschung. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 139/140 (2006) 233–266; Volkmann, Hans-Erich: Historiker aus politischer Leidenschaft. Hermann Aubin als Volksgeschichts-, Kulturboden- und Ostforscher. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 49 (2001) 32–49.

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III. Der erste thematische Block („Quellenerschließung als Grundlage mediävistischer Forschung“) umfasst drei Beiträge, die in zeitlicher und sachlicher Hinsicht einen weiten Zugriff wählen. Alle drei Einzelstudien gelten einem Arbeitsfeld, dem im Zuge der Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der Geschichtsforschung seit dem späten 18. Jahrhundert zentrale Bedeutung zukam: dem wissenschaftlichen Umgang mit den Quellen und Methoden ihrer Erschließung. Dahinter stand die Überzeugung, dass die geschichtliche Quelle selbst das maßgebliche Mittel historischer Erkenntnis sei. Dass bei diesen Fragen die mediävistische Forschung im Mittelpunkt steht, ist zunächst kein regionales Spezifikum, sondern der Überlieferung als solcher und der romantisch-patriotischen Begeisterung für das Mittelalter im frühen 19. Jahrhundert geschuldet, die sich institutionell an der Begründung der Monumenta Germaniae Historica im Jahr 1819 ablesen lässt. Die Intensität allerdings, mit der man im Oderland vor 1914 gerade Aspekten der mittelalterlichen Entwicklung des Landes nachspürte, ist auch und vor allem mit der Wahrnehmung einer besonderen Lage und Stellung der schlesischen Territorien im östlichen Mitteleuropa zu erklären. Die drei einleitenden Beiträge stellen damit zugleich einen wichtigen epochalen Schwerpunkt der schlesischen landesgeschichtlichen Forschung im 19. Jahrhundert vor. In seinem bewusst als Überblick angelegten, die Vielgestaltigkeit der ­mediävistischen Landesgeschichtsforschung skizzierenden Beitrag zur Erschließung nichturkundlicher Quellen in Schlesien zeichnet Norbert Kersken eine allgemeine Entwicklungstendenz nach, die, wie es thesenhaft bereits durch den Obertitel zugespitzt wird, von individueller Themenvielfalt zu systematischer Methodenreflexion führte. Es wird deutlich, wie stark die Wahl des jeweiligen Forschungsfeldes auch von den individuellen und institutionellen Arbeitsbedingungen abhing. Dies ist ein Grund für die fehlende Abstimmung bei der Edition nichturkundlicher Quellen, die bei Lichte besehen weder einem längerfristigen Arbeitsprogramm noch einem strukturierten Zugriff folgte. Auffallend ist, dass Texten des 13. und 14. Jahrhunderts und damit den polnischen Bezügen der älteren schlesischen Geschichte deutlich geringere Aufmerksamkeit gewidmet wurde als Überlieferungen anderer Zeitabschnitte. Der Erschließung der urkundlichen Überlieferung, der in Schlesien allein schon in quantitativer Hinsicht herausragende Bedeutung zukommt, widmet sich im Anschluss Tomasz Jurek. Der Grund für den ungewöhnlich großen Urkundenbestand, der vom Hoch- zum Spätmittelalter rasch an Umfang zunahm, erklärt sich nicht zuletzt durch die pluralistische Verfassungsstruktur des Oderlandes und die guten Ausgangsbedingungen für die Pflege und Aufbewahrung der schriftlichen Zeugnisse an ganz verschiedenen Orten. Nach einem Blick auf die Anfänge der schlesischen Diplomatik während der Frühen Neuzeit werden die einschlägigen in Breslau, aber auch an kleineren Archiven erarbeiteten Editionen bis zum frühen 20. Jahrhundert und die Bemühungen um eine Systematisierung dieses Arbeitsfeldes vorgestellt. Die wichtigsten Projekte entstanden bezeichnenderweise nicht im universitären Milieu, sondern lagen in der Verantwortung des Staatsarchivs und des Geschichtsvereins in der Provinzhauptstadt.

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Aus der Notwendigkeit, das mittelalterliche Urkundenmaterial und andere Quellen hinsichtlich Schreibmaterial, Schrift und Beglaubigungsmittel zu überprüfen, entwickelten sich die historischen Hilfs- oder Grundwissenschaften. Den in Schlesien vor dem Weltkrieg geleisteten Arbeiten speziell zur Aktenkunde, Heraldik, Sphragistik, Genealogie, Numismatik, Chronologie und Historischen Geographie widmet sich Ulrich Schmilewski. In Schlesien konnten vor allem auf dem Gebiet der Numismatik eigenständige methodische Standards entwickelt werden, in der Regel jedoch wurden Anregungen und Methoden von anderen Zentren im Oderland übernommen. Ein zweiter thematischer Block stellt ausgewählte Teildisziplinen der schlesischen Geschichtswissenschaft vor, die teilweise bereits auf eine längere Forschungsgeschichte zurückblicken können, teilweise aber auch erst nach 1800 größere Aufmerksamkeit erfuhren. Der klassische Forschertypus des Historikers und Archivars steht dabei zwar unverändert im Zentrum, doch müssen auch Angehörige anderer Fachkulturen – ­Staatswissenschaftler, Juristen, Nationalökonomen und Theologen – einbezogen werden. Die vier Studien dieses Themenblocks zeugen insofern auch von der zunehmenden Ausdifferenzierung der Geschichtswissenschaft, die sich allerorts im deutschsprachigen Raum während des 19. Jahrhunderts beobachten lässt. Die rechts- und verfassungsgeschichtlichen Forschungen schlesischer Historiker vor 1914 stellt Steffen Schlinker vor. Nach einem Blick auf die verschiedenen Editionen historischer Rechtsquellen konzentriert er sich schwerpunktmäßig auf die Arbeiten zu drei großen Themenfeldern: der verfassungsrechtlichen Ordnung, der Stadtverfassung sowie den bäuerlichen und grundherrlichen Rechtsverhältnissen. Besonders bei Abhandlungen zur Problematik der Stände sowie der bäuerlichen Rechtsstellung ist ein direkter Bezug zur zeitgenössischen Politik unübersehbar. Auch bei der Themenwahl lassen sich Querbezüge zum politisch-konfessionellen Gegensatz zwischen Preußen und Österreich einerseits, zum Neben- und Gegeneinander deutscher und polnischer Kultur und Herrschaft im Oderland andererseits konstatieren. Dennoch können die Arbeiten für den Bereich der Rechts- und Verfassungsgeschichte, vor allem die Aussagen und Forschungsergebnisse zur rechtlichen Ausgestaltung des Landesausbaus, zur Ausbreitung des deutschen Rechts, zur städtischen Rechtsordnung, bäuerlichen Rechtslage und Ständeverfassung, zum größeren Teil bis in die Gegenwart hinein Gültigkeit beanspruchen. Für die kirchengeschichtliche Forschung stellte die Neugründung der bikonfessionell angelegten Universität Breslau mit ihren zwei Theologischen Fakultäten im Jahr 1811 eine wichtige Zäsur dar. Die Darstellung des historischen Stoffes wurde fortan weitgehend ihres bisherigen heilsgeschichtlichen Rahmens entkleidet und im Sinne des Historismus nach den allgemeinen Regeln historischer Forschung behandelt, wie Dietrich Meyer in seinem Beitrag „Historiographie im Spannungsfeld des konfessionellen Gegensatzes“ herausarbeitet. Unabhängig davon, dass die kontroverstheologischen Spannungen auch im Jahrhundert nach der Universitätsgründung noch immer Gewicht besaßen, wurden in dieser Phase doch in beiden Konfessionen beachtliche Forschungsleistungen erzielt. Dies gilt beispielsweise für die Studien zur Geschichte der Frömmigkeit, auf katholischer Seite bevorzugt liturgiewissenschaftliche Untersuchungen, auf evangelischer Seite hymnologische Forschungen zu einzelnen Liederdichtern und Lied-

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ausgaben. Der Autor würdigt allerdings nicht nur diese oft unterschätzten Leistungen, sondern weist auch kenntnisreich auf die Forschungslücken und methodischen Defizite der kirchengeschichtlichen Forschung hin. Die Probleme einer eigenständigen Landesgeschichte stellten sich in Schlesien, das in seiner Vergangenheit stets Teil einer zusammengesetzten Monarchie war, während des 19. Jahrhunderts anders dar als in Landschaften in der Mitte und im Westen Deutschlands. Die politischen Verflechtungen des Landes, das kulturhistorisch eine Übergangsregion zwischen Polen, der Krone Böhmen und den deutschen Territorien bildete, wurden zudem noch vielfältig konfessionell überformt. Der Frage, wie schlesische Historiker vor dem Ersten Weltkrieg die ältere Landesgeschichte seit Beginn der Habsburgerherrschaft 1526 bearbeiteten und darstellten, widmet sich Hans-Jürgen Bömelburg. Dabei geht es einerseits um den konzeptionellen Umgang mit den wichtigeren Zäsuren und Räumen der Landesgeschichte. Andererseits wird herausgearbeitet, welche Konsequenzen sich aus der zunehmenden Verwissenschaftlichung der historischen Forschung für die Landeshistoriographie ergaben. Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte erlebten seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in ganz Deutschland einen spürbaren Aufschwung. Diese Dynamik, die sich vor dem Hintergrund des ökonomischen Aufschwungs im Kaiserreich, der zunehmenden Urbanisierung und der Umgestaltung der sozialen Strukturen vollzog, ist auch an der institutionellen Verselbständigung der Teildisziplin zu erkennen, an der erstaunlich raschen Begründung einschlägiger Institute, Periodika und Zusammenkünfte. Was für die in Schlesien erarbeiteten wirtschaftsgeschichtlichen Studien gilt, konnte, wie ­Tomasz Przerwa aufzeigt, schon bei der Entwicklung der Historischen Hilfswissenschaften beobachtet werden: Die wichtigeren Anstöße und Impulse kamen von außen. Man verfolgte aufmerksam die Fachdebatten und methodischen Diskurse an anderen Orten und bemühte sich darum, die neuen Fragestellungen auch gegen erkennbare Widerstände im Oderland aufzugreifen und zu übernehmen. Letztlich aber blieben diese Forschungsbemühungen punktuell, entsprechende Studien waren zur Gänze individuellen Schwerpunkten geschuldet. Eine nachhaltige Institutionalisierung der schlesischen Wirtschaftshistoriographie, die dann auch eine andere Systematik der Arbeitsvorhaben zur Folge hatte, erfolgte erst nach dem Ersten Weltkrieg. Eine besondere, weil definitorisch nur schwer fassbare und diverse andere historische Teildisziplinen oder Nachbarwissenschaften berührende Rolle spielt traditionell die Kulturgeschichtsschreibung. Ausgehend von dem zeitgenössischen Begriff der „vaterländischen Cultur“, der implizit ein vielfältiges wissenschaftliches Interesse an den Belangen der Provinz voraussetzt, entscheidet sich Wojciech Kunicki für eine weite Definition, die die Vernetzung der gebildeten Welt, die Kommunikation der Bildungselite Schlesiens und namentlich Breslaus mit den wissenschaftlichen Zirkeln der deutschen und europäischen Metropolen umfasst. In diesem Sinne zeichnet der Autor ein facettenreiches Bild, das von der noch romantisch inspirierten vergleichenden Mythenforschung über die hegelianisch geprägte Geschichte der poetischen Literatur bis hin zu dem um die Jahrhundertwende in der Literaturgeschichte etablierten positivistischen

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Ansatz reicht. Von einem dabei evidenten Interesse auch an Formen der Unterhaltungsliteratur – insbesondere dem zeitgenössisch populären Genre der Mundartdichtung – wird der Bogen zur Volkskunde geschlagen, die als ein interdisziplinäres Projekt sukzessive nationalisiert und damit politisiert wurde. Getrennt von den Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft sind die gleichfalls historisch arbeitenden Nachbarwissenschaften zu betrachten, die erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihre eigene disziplinäre Gestalt annahmen und sich so auch in Schlesien als autonome universitäre Fächer etablieren konnten. Dass diese Fächer bis dahin ihrerseits einen längeren Prozess der Professionalisierung und Verwissenschaftlichung durchliefen, der im Oderland durchaus einige Besonderheiten aufwies, wird in den drei Einzelstudien des dritten Themenblocks aufgezeigt. Besonders lang und von Rückschlägen geprägt gestaltete sich dabei der von Sebastian Brather nachgezeichnete Weg der prähistorischen Archäologie in Schlesien hin zur anerkannten Fachwissenschaft. Zwar hatte Johann Gustav Gottlieb Büsching bereits in den 1820er Jahren Anschluss an die Debatte um eine ,richtige‘ Datierung und Einordnung prähistorischer Bodenfunde gewonnen, doch fand er an der Universität Breslau keinen Nachfolger, der dieses archäologische Interesse nach seinem frühen Tod 1829 weiterverfolgt hätte. Diesem Defizit ist es zuzuschreiben, dass Schlesien an der Diskussion und Durchsetzung des sogenannten „Drei-Perioden-Systems“ – also der bis heute gängigen Unterteilung in Stein-, Bronze- und Eisenzeit – keinen Anteil hatte. Mit dem Direktor des Breslauer Museums schlesischer Alterthümer Hans Seger konnte dieser Rückstand ab der Jahrhundertwende dann allerdings sukzessive aufgeholt werden – auch wenn die endgültige Akademisierung der Prähistorie erst in den 1920er Jahren erfolgte. Umgekehrt waren Archäologen in Schlesien um die Jahrhundertwende auch im Bereich der kunstgeschichtlichen Forschung engagiert – und wandten sich damit einem Forschungsfeld zu, das bereits das ganze 19. Jahrhundert hindurch eine wichtige Rolle gespielt hatte, aber auch zuvor stets von Vertretern anderer Disziplinen, also gleichsam „nebenher“ bearbeitet worden war. Am Beginn standen insbesondere Altphilologen, deren Augenmerk sich auf die künstlerischen Hinterlassenschaften der Antike richtete. Erst mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der schlesischen Museumslandschaft bildeten sich Netzwerke dort tätiger Forscher aus, die sämtliche Epochen der Kunstgeschichte bis hin zur Moderne in den Blick nahmen und dabei gerade auch die heimische, schlesische Kunst zum Gegenstand ihres Interesses machten. Urszula BończukDawidziuk beschreibt detailreich, wie diese Forscher an der Schnittstelle verschiedener wissenschaftlicher Fachbereiche zusammenwirkten und damit ein hohes Maß an Interdisziplinarität ermöglichten, das für die schlesische Kunstgeschichte charakteristisch blieb – auch als diese sich an der Universität Breslau dann doch als eigenständiges Fach etabliert hatte. Auch der Begriff „Volkskunde“ war in Schlesien bereits in aller Munde und taucht seit Mitte des 19. Jahrhunderts in diversen Publikationstiteln auf, bevor erst kurz nach Ende des Untersuchungszeitraums von der akademischen Verankerung der gleichnamigen Fachdisziplin gesprochen werden kann. In ähnlicher Weise wie im Bereich der

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Kunstgeschichte wurden nach heutigem Verständnis der Volkskunde zugerechnete Arbeitsbereiche noch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch von Vertretern benachbarter Fächer – etwa von Statistikern oder Geographen – oder auch von wissenschaftlichen Laien abgedeckt. Mit seinem wissenschaftskritischen Beitrag beabsichtigt Tobias ­Weger keine Gesamtdarstellung, sondern möchte anhand exemplarischer Querschnitte die Vielfalt der Zugänge in der regional, ethnisch und konfessionell stark differenzierten Provinz Schlesien aufzeigen. Dabei wird deutlich, dass die verhängnisvolle Metamorphose der Volkskunde in eine „völkische“ Wissenschaft während der Zwischenkriegszeit keinesfalls anknüpfungslos erfolgte; vielmehr lässt sich die dieser Entwicklung zugrunde liegende Verabsolutierung des „Volks“-Begriffs schon für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts konstatieren. Der vierte Themenblock verlässt die Fixierung auf einzelne Fächer beziehungsweise disziplinäre Zugriffe und folgt stattdessen einer räumlichen Perspektive. Dies gilt zunächst für zwei „Sonderregionen“ innerhalb des Oderlandes: zum einen für die dem schlesischen Provinzialverband erst nach dem Wiener Kongress zugeschlagene Grafschaft Glatz, zum anderen für das sowohl konfessionell als auch sprachlich vom ­übrigen Oderland deutlich abweichende Oberschlesien, dessen teilweise polnischer Charakter die Region ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zudem in den Fokus der sich formierenden polnischen Nationalbewegung rücken ließ. Damit gerät zugleich die ­historiographische Beschäftigung mit den slawischen Nachbarländern Schlesiens ins Blickfeld: dem geteilten Polen ebenso wie dem in die imperialen Strukturen des Habsburgerreiches eingebundenen Böhmen. In der Tat war das polnische Interesse an Oberschlesien im Untersuchungszeitraum fast ausschließlich nationalpolitischer Natur, während die im engeren Sinne historische Forschung zu Oberschlesien bis zum Ersten Weltkrieg der deutschen Geschichtsschreibung vorbehalten blieb. Anhand einer Auswertung des Leitorgans der schlesischen Historiographie – der Zeitschrift des Vereins für Geschichte (und Alterthum) Schlesiens – kann Ryszard Kaczmarek aufzeigen, dass spezifisch oberschlesische Themen als eigenständiges, vom übrigen Schlesien losgekoppeltes Forschungsfeld freilich auch auf schlesisch-deutscher Seite nur eine marginale Rolle spielten. Gerade aufgrund seines ethnolinguistisch zum Großteil „nichtdeutschen“ Charakters erschien Oberschlesien allerdings umso wichtiger, wenn es galt, die historisch-politische Bedeutung der Zugehörigkeit des Oderlandes zum preußischen Machtstaat aufzuzeigen – eine von den borussischen Historikern geprägte Sichtweise, der eine Gruppe oberschlesisch-katholischer Geschichtsforscher um die Jahrhundertwende ihr eigenes Bild von der Vergangenheit entgegenzusetzen begann. Wenn in verschiedenen Beiträgen des vorliegenden Bandes immer wieder der Gegensatz zwischen universitärer Geschichtsforschung einerseits und der historiographischen Produktion von „Laien“ andererseits aufscheint, so macht Michael Hirschfeld es sich zur Aufgabe, die These einer vermeintlich „unprofessionellen“, von katholischen Geistlichen oder Pädagogen getragenen Geschichtsforschung am Beispiel der Grafschaft Glatz kritisch zu überprüfen. Zwar hätten Forscher wie Joseph Kögler und Franz

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Volkmer durch ihre Veröffentlichungen zur Stadt- und Kirchengeschichte, die sich in aller Regel an ein breiteres Lesepublikum richteten, zu einer Popularisierung des Geschichtsbildes beigetragen, doch müsse gerade angesichts der Abgelegenheit des Glatzer Landes von den universitären Zentren von einer erstaunlichen und zudem der quellenkritischen Methode verpflichteten Produktionsfülle gesprochen werden. Im Ergebnis charakterisiert der Autor die Glatzer Geschichtsforschung vor 1914 sowohl hinsichtlich ihrer Themenschwerpunkte als auch ihrer Methodik als ausgesprochen innovativ. Dass die historiographische Beschäftigung mit dem Nachbarland Polen während des 19. Jahrhunderts in Schlesien und auch darüber hinaus als eher randständig, ja mitunter sogar als ausgesprochenes Karrierehemmnis galt, zeigt der Beitrag von Roland Gehrke. Entsprechend war das Interesse wichtiger schlesischer Historiker – Gustav Adolf Harald Stenzel, Wilhelm Wattenbach oder Colmar Grünhagen – an der Vergangenheit und Kultur Polens oft kein originäres, sondern ein aus anderen, insbesondere um die mittelalterliche deutsche Ostsiedlung kreisenden Fragestellungen bloß abgeleitetes. Erst mit Richard Roepell und etwas später mit Jacob Caro betraten zwei Forscherpersönlichkeiten die Bühne, die selbst enge Kontakte zu polnischen Historikern unterhielten und sich eingehend mit den Triebkräften und Besonderheiten der polnischen Geschichte seit dem Mittelalter befassten. Mit unterschiedlichen Nuancen und Facetten deuteten sie diese Geschichte allerdings aus in einer zutiefst „pessimistischen“ Perspektive heraus, der zufolge den Polen die Schuld am historischen Niedergang ihrer Nation letztlich selbst zufiel. Die vereinzelt auf Caro, vor allem jedoch auf Roepell gemünzte Charakterisierung als „Polenfreund“ bedarf vor diesem Hintergrund dringend der Relativierung. Im Gegensatz zur älteren Geschichte Polens fand die Geschichte der seit 1804 zum Kaisertum Österreich gehörenden böhmischen Länder in Schlesien – trotz der jahrhundertelangen Zugehörigkeit des Landes zur Böhmischen Krone – in der Zeit der preußischen Monarchie und später des Kaiserreichs kaum Interesse bei schlesischen Historikern. Auffallend ist zudem, wie Joachim Bahlcke betont, dass die Frage, was ­eigentlich den Gegenstand der Geschichte Schlesiens ausmache und wie dessen mit den slawischen Nachbarreichen in besonderer Weise verflochtene Geschichte darstellbar sei, um 1800 weitaus stärker reflektiert wurde als um 1900. Zur Erklärung dieser Beobachtungen sind mehrere Aspekte zu berücksichtigen, wissenschaftliche wie außerwissenschaftliche. Dabei spielen die Rahmenbedingungen für geistes- und kulturgeschichtliche Forschungen zu den böhmischen Ländern, die sich in Breslau erst nach Einrichtung einer Professur für Slawistik Anfang der 1840er Jahre allmählich verbesserten, ebenso eine Rolle wie die nationalpolitisch aufgeladenen Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit der Vergangenheit im ostmitteleuropäischen Raum. Inhaltlich hatte dies zur Folge, dass eine mannigfache Kontaktgeschichte vielfach auf eine bloße Konfliktgeschichte reduziert wurde. Der nationale Blick auf die jeweilige historiographische Produktion bei den Nachbarn ist natürlich auch in umgekehrter Weise von Interesse. Entsprechend unternimmt es der letzte Beitrag, die Rezeption und Bewertung der Geschichtsforschung in Schlesien nicht nur im übrigen Deutschland, sondern ebenso in Österreich und in Polen her-

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auszuarbeiten. In diesem Sinne hat Gregor Ploch die schlesienbezogenen Rezensionen in den jeweiligen nationalen Leitorganen der Geschichtswissenschaft ausgewertet: der ­Historischen Zeitschrift, den Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung sowie dem Kwartalnik Historyczny. Dabei zeigt sich, dass – über ein Jahrhundert nach dem Frieden von Hubertusburg – das Interesse der österreichischen Historiographie an der Vergangenheit Schlesiens nur noch marginal ausgeprägt war, während die Besprechungen schlesienkundlicher Literatur in Deutschland in vielen Fällen ein nationalpolitisches Interesse erkennen lassen: die Vereinnahmung der Geschichte Schlesiens für den deutschen Kulturraum. Auf polnischer Seite wiederum ist zwar das Bestreben erkennbar, gegebenenfalls die polnischen Bezüge schlesischer Themen herauszustreichen, doch verraten die überwiegend sachlich gehaltenen Besprechungen im Kwartalnik Historyczny – die bezeichnenderweise zum Großteil von einem Deutschen verfasst wurden – eine hohe Aufgeschlossenheit gegenüber der deutschen Schlesienforschung.

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I. Quellenerschließung als Grundlage mediävistischer Forschung

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Von individueller Themenvielfalt zu systematischer Methodenreflexion. Die Erschließung nichturkundlicher Quellen als Ausgangspunkt mediävistischer Forschung in Schlesien vor 1914 Die schlesische landesgeschichtliche Forschung war im Jahrhundert vor 1914 in hohem Maße die Erforschung des schlesischen Mittelalters – die Mittelalterforschung auf landesgeschichtlicher Ebene wiederum war von Erfassung, Erschließung und Präsentation der schriftlichen Quellen geprägt. Die Landesgeschichte entwickelte sich in Breslau – wie auch außerhalb des Oderlandes1 – in enger Verbindung mit der Ausbildung der historischen Mittelalterforschung, war also bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg mediävistisch geprägt. Auf territorialer Ebene verband sich die Einführung der quellenkritischen Methode mit kritischer landesgeschichtlicher Faktographie, der Überprüfung der älteren landes- und ortsgeschichtlichen Erzählungen aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert. Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, mediävistische und quellenkundliche Forschungen in einem Zugriff zu präsentieren.

1. Mediävistische Forschungen Die Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte Schlesiens betreffen neben Bemühungen zur Erschließung der schriftlichen Überlieferung die verschiedenen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Im Folgenden sollen Forschungen thematisch in vier große, sich vielfach überlappende Bereiche der politischen Geschichte, der Kirchengeschichte, der Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte sowie der Stadt- und Siedlungsgeschichte unterschieden werden. 1.1 Politische Geschichte Landesgeschichtliche Synthesen referieren den jeweiligen Forschungsstand und sind ihrerseits Ausgangspunkt für methodisch und inhaltlich neue Forschungen. Solche wissenschaftlichen Orientierungen boten die Überblicksdarstellungen von Gustav ­Adolf Harald Stenzel2– sein Werk reichte allerdings nur bis zur Mitte des 14. Jahrhun1 ������������������������������������������������������������������������������������������� Werner, Matthias: Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert. In: Moraw, Peter/Schieffer, Rudolf (Hg.): Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert. Ostfildern 2005 (Vorträge und Forschungen 62), 251–364, hier 294f. 2 Stenzel, Gustav Adolf: Geschichte Schlesiens, Bd. 1: Von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1355. Breslau 1853.

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derts – und von Colmar Grünhagen.3 Entsprechende Überblicke wurden seit dem frühen 19. Jahrhundert auch für mehrere schlesische Teilgebiete publiziert, etwa für das Herzogtum Teschen,4 das Herzogtum Ratibor5 und die Grafschaft Glatz6 sowie für die Fürstentümer Oels,7 Sagan8 und Glogau.9 Die dynastische Geschichte der schlesischen Piasten fand erst seit den 1870er Jahren wissenschaftliches Interesse. Zwar hatte Friedrich Wilhelm von Sommersberg schon 1723 ein genealogisches Übersichtswerk erstellt;10 eine dem erweiterten Kenntnisstand entsprechende neue Zusammenschau wagte aber erst 150 Jahre später ein Historiker, der nicht aus Schlesien stammte: Hermann Grotefend legte in seinen vier Wirkungsjahren am Breslauer Staatsarchiv nicht nur eine Reihe von Spezialstudien vor, sondern erarbeitete auch einen Tafel- und Erläuterungsband zu den schlesischen Fürsten,11 der von Konrad Wutke später überarbeitet und neu herausgegeben wurde.12 Bemerkenswert ist, dass die einzelnen schlesischen Herzöge fast keinerlei historiographische Aufmerksamkeit erlangen konnten: Grünhagen widmete den ersten schle-

13 Grünhagen, Colmar: Geschichte Schlesiens, Bd. 1: Bis zum Eintritt der habsburgischen Herrschaft 1527. Mit einem Bändchen Quellennachweisungen. Gotha 1884 (Allgemeine Staatengeschichte, Abt. 3: Deutsche Landesgeschichten) [ND Osnabrück 1979]. 14 Heinrich, Albin: Versuch über die Geschichte des Herzogthums Teschen, von den ältesten bis auf gegenwärtige Zeiten. Teschen 1818; Biermann, Gottlieb: Geschichte des Herzogthums Teschen. Teschen 1863. 15 Pinzger, Gustav: Beiträge zur Geschichte Oberschlesiens unter den Piasten, besonders der Piastischen Herzoge von Ratibor. In: Allgemeines Archiv für die Geschichtskunde des preußischen Staates 2 (1830) 193–251. 16 ������������������������������������������������������������������������������������������� Wedekind, Eduard Ludwig: Geschichte der Grafschaft Glatz. Chronik der Städte, Flecken, Dörfer, Kolonien, Schlösser etc. dieser souveränen Grafschaft von der frühesten Vergangenheit bis auf die Gegenwart. Neurode 1855; Nürnberger, August: Beiträge zur Geschichte der Grafschaft Glatz in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 13 (1876) 507–521; 14 (1878) 215–223; 15 (1880) 214–234. 17 ������������������������������������������������������������������������������������������� Haeusler, Wilhelm: Geschichte des Fürstenthums Oels bis zum Aussterben der Piastischen Herzogslinie. Breslau 1883. 18 Heinrich, Arthur: Geschichte des Fürstentums Sagan, Tl. 1: bis zum Ende der sächsischen Herrschaft im J. 1549. Sagan 1911. 19 Matuszkiewicz, Felix: Die mittelalterliche Gerichtsverfassung des Fürstentums Glogau. Breslau 1911 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 13). 10 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Sommersberg, Friedrich Wilhelm von: Tabulae genealogicae ducum Superioris et Inferioris Silesiae. Wratislaviae 21724 [11723]. 11 Grotefend, Hermann: Stammtafeln der schlesischen Fürsten bis zum Jahre 1740. Breslau 1875. Unter Berücksichtigung von Neustadt, Louis: Beiträge zur Genealogie schlesischer Fürsten. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 22 (1888) 194–248, erschien eine zweite verbesserte Auflage Breslau 1889. 12 ������������������������������������������������������������������������������������������� Wutke, Konrad: Stamm- und Übersichtstafeln der Schlesischen Fürsten. Auf Grund v. H. Grotefends Stammtafeln der Schlesischen Fürsten bis zum 1740. Breslau 1911. Balzer, Oswald: Genealogia Piastów. Kraków 1895 [ND Warszawa 1980, Kraków 2005], berücksichtigte die schlesischen Piasten nicht.

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sischen Piasten, Władysław dem Vertriebenen und Bolesław dem Langen13 sowie Heinrich III.14 biographische Studien. Mit Heinrich IV.15 befassten sich Theodor Löschke und Hugo Jäkel sowie Wladimir Milkowicz in Wien, während Heinrich I. der Bärtige nur das Interesse junger polnischer Historiker – Stanisław Smolka, Marian Łodyński – hervorrief.16 Auch die dynastische Heiratspolitik der schlesischen Piasten fand keine größere Beachtung, sondern regte allenfalls zu kleineren Mitteilungen an.17 Die spätmittelalterlichen schlesischen Adelsfamilien und ihre Besitzungen sind nicht zum Thema der Breslauer landesgeschichtlichen Forschung geworden. Die hier zu nennenden Studien zu den Herrschaften Hummel,18 Fürstenstein19 und Tost-Peiskretscham20 verfolgen eine ausschließlich ortsgeschichtliche Perspektive. 13 Grünhagen, Colmar: Die Vertreibung Wladyslaws II. von Polen und die Blendung Peter Wlasts. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1874) 77–97; ders.: Boleslaw der Lange, Herzog von Schlesien (1163–1201). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 11 (1872) 300–415; Łodyński, Marian: Udział książąt śląskich w zamachu z r. 1177 (Przyczynek do dziejów Bolesława Wysokiego i Mieszka Raciborskiego). In: Kwartalnik Historyczny 22 (1908) 16–45. 14 Grünhagen, Colmar: Die Zeit Herzog Heinrichs III. von Schlesien-Breslau 1241–1266. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 16 (1882) 1–32. 15 Löschke, Theodor: Zur Frage über den Regierungsantritt Heinrich IV. von Breslau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1874) 64–76; Jäkel, Hugo: Zum urkundlichen Itinerar Herzog Heinrichs IV. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 19 (1885) 354–369; ders.: Zur Geschichte Hedwigs von Breslau und der Landgrafen Heinrich von Altenburg und Friedrich ohne Land. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 21 (1887) 219–238; Milkowitsch, Wladimir: Heinrichs IV. Aufenthalt bei König Ottokar von Böhmen in der Zeit nach 1266. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 18 (1884) 243–252; ders.: Heinrich IV. und Boleslaw II. 1277. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 19 (1885) 370–385. 16 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Smolka, Stanisław: Henryk Brodaty. Ustęp z dziejów epoki Piastowskiej. Lwów 1872; ders.: Herzog Heinrichs des Bärtigen auswärtige Beziehungen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1874) 98–135; Łodyński, Marian: Polityka Henryka Brodatego i jego syna w latach 1232–1241. In: Przegląd Historyczny 14 (1912) 1–25, 141–163, 273–294; ders.: Heinrich der Bärtige zum zweitenmal Herzog von Krakau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 52 (1918) 58–65. 17 ������������������������������������������������������������������������������������������ Ulanowski, Bolesław: Über die Zeit der Vermählung Heinrichs IV. mit Mechtilde von Brandenburg. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 16 (1882) 98–110; Wutke, Konrad: Herzog Heinrichs II. (IV.) von Glogau Vermählung mit Mechthild von Brandenburg. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 37 (1903) 335– 337; Pfotenhauer, Paul: Eine schlesische Prinzessin als ungarische Königsbraut. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 25 (1891) 331–340. 18 Perlbach, Max: Reinerz und die Burg Landfried (Hummelsburg) bis zum Jahre 1471. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1868) 270–293; ders.: Die Herren von Kauffung auf dem Hummelschlosse. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 10 (1870) 34–86. 19 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Kerber, P[aul]: Geschichte des Schlosses und der freien Standesherrschaft Fürstenstein in Schlesien. Breslau 1885. 20 Chrząszcz, Johannes: Geschichte der Toster Burg und der Herrschaft Tost-Peiskretscham in

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Die vielgestaltigen Außenbeziehungen Schlesiens – zu den polnischen Ländern und den Territorien des römischen-deutschen Reichs – wurden nur mit Blick auf die Beziehungen zu Böhmen im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert beachtet.21 In diesem Zusammenhang ist auch auf eine ausgreifende Studie zur Organisation der schlesischen Landesverteidigung zu erwähnen, die sich auf das 15. Jahrhundert, konkret auf die Hussitenkämpfe, bezieht.22 Bei der Analyse einzelner historischer Ereignisse oder Problemfelder lassen sich klare zeitliche Schwerpunkte des Forschungsinteresses erkennen. Im Zentrum steht eindeutig das späte Mittelalter, während das frühere Mittelalter, abgesehen von siedlungsgeschichtlichen Forschungen zur Epoche des Landesausbaus, deutlich zurücksteht. Zu erwähnen sind freilich zwei Studien Robert Holtzmanns zu den Anfängen der schlesischen Geschichte und zum Engagement Barbarossas für Władysław den Vertriebenen.23 Im 14. Jahrhundert fanden die schlesischen Bezüge in der Politik Karls IV. Beachtung.24 Für das 15. Jahrhundert lassen sich mehrere Problemkreise benennen, die zu Publikationen anregten. Die Hussitenzeit in Schlesien fand eine monographische Bearbeitung durch Colmar Grünhagen.25 Weitere Themen waren die besondere Situa-

Oberschlesien bis zum Anfange des 16. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 34 (1900) 181–196; 35 (1901) 218–240. 21 Doebner, Richard: Über Schlesiens auswärtige Beziehungen vom Tode Herzog Heinrich IV. bis zum Aussterben der Přemysliden in Böhmen (1290–1306). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 13 (1876) 343–367; Löschke, Theodor: Die Politik König Ottokars II. gegenüber Schlesien und Polen, namentlich in den letzten Jahren seiner Regierung. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 20 (1886) 97–120; Hoffmann, Leon: Die Beziehungen des Königs Przemysl Ottokar II. von Böhmen zu Schlesien und Polen. In: XII. Jahresbericht des k. k. zweiten Staatsgymnasiums in Czernowitz. Czernowitz 1909, 3–43; Milkowicz, Wladimir: Über die Zeit des gütlichen Übereinkommens zwischen König Joh. v. Böhmen und Herzog Joh. v. Steinau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 19 (1885) 307–315. 22 ����������������������������������������������������������������������������������������� Palm, Hermann: Schlesiens Landesdefension im XV., XVI. und XVII. Jahrhundert. In: Abhandlungen der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur, philos.-hist. Abth. Breslau 1869, 71–101. 23 ������������������������������������������������������������������������������������������ Holtzmann, Robert: Böhmen und Polen im 10. Jahrhundert. Eine Untersuchung zur ältesten Geschichte Schlesiens. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 52 (1918) 1–37; ders.: Über den Polenfeldzug Friedrich Barbarossas vom Jahre 1157 und die Begründung der schlesischen Herzogtümer. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 56 (1922) 42–55. 24 Herquet, Karl: Beiträge zum Itinerar Karls IV. und zu seinem Aufenthalt in Schlesien mit dem König von Cypern im Jahre 1364. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 14 (1878) 521–527; Grünhagen, Colmar: Schlesien unter Kaiser Karl IV. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 17 (1883) 1–43. 25 Grünhagen, Colmar: Die Hussitenkämpfe der Schlesier 1420–1435. Breslau 1872; Kopetzky, Franz: Die Gefangennahme der hussitischen Gesandten in Ratibor 1421. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1868) 209–217; Wiese, Hugo von: Das Glatzer

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tion in der „königlosen“ Zeit nach dem Tod Sigismunds von Luxemburg26 sowie die Zeit unter Matthias Corvinus.27 Zudem fanden verschiedene innerschlesische Konfliktkonstellationen eine wissenschaftliche Bearbeitung.28 1.2 Kirchengeschichte Forschungen zur mittelalterlichen Kirchen- und Religionsgeschichte des Oderlandes richteten sich überwiegend auf die Geschichte des Bistums Breslau und seiner Bischöfe. Ein Merkmal der kirchengeschichtlichen Forschungen des mittleren 19. Jahrhunderts war zunächst die Sicherung und Präsentation des überlieferten Wissens durch umfassende, oftmals durch Quellenanhänge ergänzte Gesamtdarstellungen. Für das Bistum Breslau ist hier die große Bistumsgeschichte des Domherrn und Dombibliothekars Johann Heyne zu nennen.29 Überblicksdarstellungen wurden auch für einzelne Klöster wie das

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Land im Hussitenkrieg. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 15 (1880) 357–434. Ermisch, Hubert: Mittel- und Niederschlesien während der königslosen Zeit 1440–1452. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 13 (1876) 1–72, 291–342; Markgraf, Hermann: Geschichte Schlesiens und besonders Breslaus unter König Ladislaus Posthumus. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 11 (1872) 235–274. Wendt, Heinrich: Schlesien im Kampf des Königs Matthias mit dem Kaiser, 1482. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 31 (1897) 231–242; ders.: Die Stände des Fürstenthums Breslau im Kampfe mit König Matthias Corvinus, 1469–1490. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 32 (1898) 157–176. Markgraf, Hermann: Der Liegnitzer Lehnsstreit. 1449–1469. In: Abhandlungen der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur, philos.-hist. Abt. Breslau 1869, 25–70; Priebatsch, Felix: Der Glogauer Erbfolgestreit. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 33 (1899) 67–106; Markgraf, Hermann: Die Gewalttat auf dem Neisser Landtage von 1497. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 22 (1888) 296–309. Heyne, Johann: Dokumentirte Geschichte des Bistums und Hochstifts Breslau. Aus Urkunden, Aktenstücken, älteren Chronisten und neueren Geschichtsschreibern, Bd. 1: Denkwürdigkeiten aus der Kirchen- und Diözesan-Geschichte Schlesiens von der Einführung des Christenthums in Schlesien bis zur böhmischen Oberherrschaft über dieses Land (966–1355); Bd. 2: Denkwürdigkeiten aus der Geschichte der katholischen Kirche Schlesiens von der Mitte des 14. bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts im Entwicklungsgang der kirchengeschichtlichen Tatsachen urkundlich dargestellt; Bd. 3: Denkwürdigkeiten aus der Geschichte der katholischen Kirche Schlesiens. Von der ersten Hälfte des 15. bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts (1418–1648) im Entwicklungsgang der kirchlichen Tatsachen und Zustände urkundlich dargestellt. Breslau 1860–1868 [ND Aalen 1969]. Heyne schließt an die unvollendet gebliebene Darstellung des Breslauer Kirchenhistorikers Ritter, Joseph Ignaz: Geschichte der Diöcese Breslau, Bd. 1: Von der Pflanzung des Christenthums in Schlesien bis zum Jahre 1290. Breslau 1845, an.

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Prämonstratenserstift St. Vinzenz in Breslau,30 die Zisterzienserklöster Kamenz31 und Trebnitz32 sowie einzelne Pfarrkirchen33 vorgelegt. Bei den Forschungsbestrebungen zeichnen sich drei Interessengebiete ab. Es ging zum einen um die Verfassung und Struktur des Bistums. Die Rekonstruktion der ­Bistumsstruktur der Archidiakonate, Archipresbyterate und Pfarreien, zum Teil mit den jeweiligen Amtsinhabern, gelang anhand der im Zuge der Zehntzahlungen an den Heiligen Stuhl entstandenen Dokumente zu den Jahren 1318 und 133534 sowie zu 1399/1400.35 Die fortbestehende Zugehörigkeit des Bistums Breslau zum Gnesener Metropolitanverband auch nach dem Übergang der schlesischen Herzogtümer an die Krone Böhmen betonte gegen andere Forschungsmeinungen Lambert (Wilhelm) Schulte.36 Er prüfte auch die Darstellung der Breslauer Bischofswahlen und die Porträts der Breslauer Bischöfe im Catalogus episcoporum Wratislaviensium, den Jan Długosz dem Breslauer Oberhirten Rudolf von Rüdesheim gewidmet hatte.37 Beachtung fanden in diesem Zusammenhang ferner der Ablauf der Bischofswahlen anhand von dokumentierten Beispielen aus dem 15. Jahrhundert, während das Fehlen prosopographischer Studien zur schlesischen Geistlichkeit, vor allem zum Domkapitel, bemängelt wurde.38

30 Görlich, Franz Xaver: Die Prämonstratenser und ihre Abtei zum heiligen Vinzenz, Bd. 1: Urkundliche Geschichte der Prämonstratenser und ihrer Abtei zum heiligen Vinzenz vor Breslau; Bd. 2: Urkundliche Geschichte der Prämonstratenser und ihrer Abtei zum heiligen Vinzenz innerhalb der Stadt Breslau. Breslau 1836–1841. 31 Frömrich, Gregor: Kurze Geschichte der ehemaligen Cistercienser Abtey Kamenz in Schlesien. Glatz 1817. 32 Bach, Aloys: Geschichte und Beschreibung des fürstlichen jungfräulichen Klosterstiftes des ­Cistercienser Ordens in Trebnitz. Hg. v. Aug[ust] Kastner. Neisse 1859 (Archiv für die Geschichte des Bisthums Breslau 2). 33 Vgl. exemplarisch Görlich, Franz Xaver: Versuch einer Geschichte der Pfarrkirche zu Schweidnitz. Ein Beitrag zur Schlesischen Kirchengeschichte. Schweidnitz 1830; Wernicke, Ewald: Baugeschichte der katholischen Pfarrkirche zu Schweidnitz. Breslau 1874; Kopietz, Johannes Athanasius: Kirchengeschichte des Fürstentums Münsterberg und des Weichbildes Frankenstein. Frankenstein 1885. 34 Schade, Aloys: Eintheilung des Bisthums Breslau in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 7 (1866) 285–302. 35 Jungnitz, Joseph: Beiträge zur mittelalterlichen Statistik des Bisthums Breslau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 33 (1899) 385–402. 36 Schulte, Lambert: Die Exemtion des Breslauer Bistums. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 51 (1917) 1–29. 37 Długosz, Jan: Catalogus episcoporum Wratislaviensium. In: Przezdiecki, Aleksander (Hg.): Joannis Dlugossi Senioris Canonici opera omnia, Bd. 1. Lipsiae 1887, 439–477; Schulte, Lambert: Dlugossiana. Die Breslauer Bischofswahlen bis 1200. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 49 (1915) 126–143; ders.: Neue Dlugossiana. Ebd., 144–191. 38 Seppelt, Franz Xaver: Die Anfänge der Wahlkapitulationen der Breslauer Bischöfe. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 49 (1915) 192–222.

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Zwar lag eine Zusammenstellung der Inhaber der sieben Prälaturen beim Domkapitel vor,39 eingehendere Studien wurden aber erst später vorgelegt.40 Auch die schlesischen Weihbischöfe fanden später als in anderen Regionen wissenschaftliches Interesse.41 Gestalt und Wirken einzelner Bischöfe wurden nur in wenigen Fällen eingehender behandelt. Wilhelm Levison, Mitarbeiter von Bruno Krusch in Breslau, wies auf eine unbeachtete Quelle hin, die die Herkunft Bischof Walters von Breslau aus Malonne bei Namur in Lothringen nachwies.42 Aufmerksamkeit fanden die beiden prägenden Bischöfe aus der Zeit des Landesausbaus im 13. Jahrhundert, Thomas I. und Thomas II.,43 sowie in monographischer Form der im frühen 14. Jahrhundert wirkende Heinrich von Würben.44 Schließlich wurden einzelne Aspekte der Pontifikate des Konrad von Oels45 und des Jost von Rosenberg46 in den Fokus gerückt. Als drittes thematisches Feld betrachtete man die Beziehungen des schlesischen ­Bistums zum Papsttum. Bernhard Maydorn lieferte in seiner Dissertation einen Abriss der Beziehungen während des 13. Jahrhunderts, konkret vom Pontifikat Innozenz’ III. bis zum Pontifikat Nikolaus IV.;47 ergänzt wurden diese Studien durch Arbeiten zur Zahlung des Peterspfennigs in Schlesien.48 39 Härtel, Richard: Die Prälaten des Breslauer Domstiftes bis zum Jahre 1500. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 24 (1890) 279–290. 40 ���������������������������������������������������������������������������������������� Samulski, Robert: Untersuchungen über die persönliche Zusammensetzung des Breslauer Domkapitels im Mittelalter bis zum Tode des Bischofs Nanker (1341). Weimar 1940 (Historisch-diplomatische Forschungen 6); Zimmermann, Gerhard: Das Breslauer Domkapitel im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation (1500–1600). Verfassungsgeschichtliche Entwicklung und persönliche Zusammensetzung. Weimar 1938 (Historisch-diplomatische Forschungen 2). 41 Pfotenhauer, Paul: Zur Geschichte der Weihbischöfe des Bisthums Breslau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 23 (1889) 241–275; Jungnitz, Joseph: Die ­Breslauer Weihbischöfe. Breslau 1914. 42 Levison, Wilhelm: Zur Geschichte des Bischofs Walter von Breslau (1149–1169). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 35 (1901) 353–357. 43 Schulte, Wilhelm: Das Ende des Kirchenstreites zwischen dem Breslauer Bischof Thomas II. und dem Herzog Heinrich IV. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 39 (1905) 199–225; Heydebrand und der Lasa, Fedor von: Die Herkunft der Breslauer Bischöfe Thomas I. und Thomas II. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 51 (1917) 134–163. 44 Hoffmann, Paul: Heinrich I. von Würben, Bischof von Breslau. Breslau 1904. 45 Wutke, Konrad: Zur Geschichte des Herzogs Konrad IV. Senior von Öls, Bischofs von Breslau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 44 (1910) 248–252; Schulte, Lambert: Bischof Konrad von Breslau und sein Verhältnis zum römischen Stuhle und zum Baseler Konzile. In: Seppelt, Franz Xaver (Hg.): Kirchengeschichtliche Festgabe. Anton de Waal zum goldenen Priester-Jubiläum (11. Oktober 1912) dargebracht. Freiburg i. Br. 1913 (Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte. Suppl.-Heft 20), 403–460. 46 Seppelt, Franz Xaver: Des Bischofs Jodocus von Breslau (1456–1467) Romfahrt. In: ders. (Hg.): Kirchengeschichtliche Festgabe, 270–285. 47 Maydorn, Bernhard: Die Beziehungen der Päpste zu Schlesien im 13. Jahrhundert. Breslau 1882. 48 Ders.: Der Peterspfennig in Schlesien bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 17 (1883) 44–62; Markgraf, Hermann: Die Rech-

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Ein in landesgeschichtlicher Hinsicht und in seiner kirchen- und kulturgeschichtlichen Bedeutung wichtiges Element der kirchlichen Infrastruktur waren die Kollegiatstifte oder Kanonikerstifte.49 Von den – abgesehenen von den Breslauer Stiften – acht schlesischen Kollegiatstiften fanden nur die Gemeinschaften in Glogau,50 Ottmachau beziehungsweise Neisse,51 Oberglogau52 und Oppeln53 eingehende wissenschaftliche Bearbeitung. Neben diesen Arbeiten zur kirchlichen Verfassungs- und Institutionengeschichte stießen Fragen nach der kirchlichen und religiösen Praxis, zur Glaubens- und Theologiegeschichte auf wenig Interesse. Geringen Stellenwert hatte die Erforschung der mittelalterlichen Heiligenverehrung. Im Mittelpunkt stand die heilige Hedwig.54 Daneben fanden die oberschlesischen Landespatrone um den heiligen Hyacinth Beachtung.55 Die Bedeutung der Universität Prag für die schlesische Wissenschaftsgeschichte wurde durch eine Studie zu zwei aus Schlesien stammenden Theologen beleuchtet, die um die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert als Theologen in Prag gewirkt hatten.56 Die bahnbrechenden Forschungen von Nikolaus Paulus zum Ablasswesen57 sowie zu den

nung über den Peterspfennig im Archidiakonat Oppeln 1447. Mit einem Anhang von W. Schulte. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 27 (1893) 356–403. 49 Wendehorst, Alfred/Benz, Stefan: Verzeichnis der Säkularkanonikerstifte der Reichskirche. Neustadt a. d. Aisch 21997 (Schriften des Zentralinstituts für Fränkische Landeskunde und Allgemeine Regionalforschung an der Universität Erlangen-Nürnberg 35). 50 Schulte, Lambert: Die Gründung des Kollegiatstifts Unser Lieben Frau in Groß Glogau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 48 (1914) 19–33. 51 Kopietz, Johannes Athansius: Das Collegiatstift von St. Nikolaus in Ottmachau (1386–1477). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 26 (1892) 131–163. 52 Weltzel, Augustin Bogislaus: Das Kollegiatstift zum hl. Bartholomäus in Ober-Glogau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 30 (1896) 165–190; Vávrá, Joseph: Das Kollegiatstift St. Bartholomaei in Oberglogau. In: Oberschlesische Heimat 9 (1913) 89–96, 133–146. 53 Schramek, Emil: Das Kollegiatstift zum hl. Kreuz in Oppeln. In: Oberschlesische Heimat 11 (1915) 1–18, 49–66, 97–109, 145–160; 12 (1916) 1–22, 49–67. 54 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Milkowitsch, Wladimir: Ein Beitrag zur Chronologie des Hedwigsfestes. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 18 (1884) 296–299; Schulte, Wilhelm: Die Translation der hl. Hedwig. In: ders.: Kleine Schriften. Breslau 1918 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 23), 160–180. 55 Swientek, Augustin: Beiträge zur Biographie des oberschlesischen Heiligen Hyacinth. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 15 (1880) 501–510; Chrząszcz, Johannes: Drei schlesische Landesheilige. Der heil. Hyacinth, der selige Ceslaus und die selige Bronislawa. Breslau 1897; Blasel, Carl: Der selige Ceslaus. Sein Leben, seine Verehrung, seine Grabstätte. Breslau 1909. 56 Franz, Adolph: Matthias von Liegnitz und Nicolaus Stör von Schweidnitz. Zwei schlesische ­Theologen aus dem 14./15. Jahrhundert. In: Der Katholik 78 (1898) 1–25. 57 Seine einschlägigen Publikationen hierzu setzten 1899. Sie wurden zusammengefasst bei Paulus, Nikolaus: Geschichte des Ablasses im Mittelalter vom Ursprung bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Bd. 1–3. Paderborn 1922–1923 [ND Darmstadt 2000].

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römischen Jubeljahren58 griff Ernst Laslowski aus schlesischer Perspektive auf.59 Ergänzend sei festgehalten, dass die Geschichte der Juden nur geringe Aufmerksamkeit fand; einige wenige Publikationen entstanden in den 1860er Jahren.60 1.3 Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte Seit den frühen 1880er Jahren leistete die landesgeschichtliche Forschung in Schlesien wichtige Beiträge zur mittelalterlichen Schul-, Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte, wobei auffällt, dass dieses Arbeitsfeld von der universitären Forschung zugleich vernachlässigt wurde. Einen systematischen Überblick über die Entwicklung des Schulwesens aus der Pfarreiorganisation seit dem mittleren 13. Jahrhundert stellte Wilhelm Schulte zusammen.61 Die mittelalterliche Schulgeschichte einzelner Orte wurde für Steinau an der Oder,62 Schweidnitz,63 Liegnitz64 und Breslau65 dargestellt; ihre Krönung fanden diese Arbeiten in der zweibändigen Studie Gustav Bauchs zum älteren Breslauer 58 Ders.: Aufhebung der Ablässe im Jubeljahre. In: Zeitschrift für katholische Theologie 25 (1901) 382–384. 59 Laslowski, Ernst: Die Breslauer und der Kreuzablaß gegen Georg Podiebrad von Böhmen, 1467– 1470. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 55 (1921) 93–109; ders.: Die römischen Jubeljahre in ihren Beziehungen zu Schlesien. In: Historisches Jahrbuch 45 (1925) 219– 240; ders.: Der Breslauer St. Johannes-Ablaß 1460–1471. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 60 (1926) 18–51; ders.: Beiträge zur Geschichte des spätmittelalterlichen Ablaßwesens nach schlesischen Quellen mit neuen urkundlichen Beilagen. Breslau 1929 (Breslauer Studien zur historischen Theologie 11). 60 Oelsner, Ludwig: Schlesische Urkunden zur Geschichte der Juden im Mittelalter. In: Archiv für österreichische Geschichte 31 (1864) 57–144; Sammter, Ascher: Eine Breslauer Juden-Urkunde vom Jahre 1451. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1868) 121–128. 61 Schulte, Wilhelm: Die Entwicklung der Parochial-Verfassung und des höheren Schulwesens Schlesiens im Mittelalter. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 36 (1902) 388–404; ders.: Urkundliche Beiträge zur Geschichte des schlesischen Schulwesens im Mittelalter. Glatz 1902 (Wissenschaftliche Beilage zum Programm des Kgl. Kathol. Gymnasiums zu Glatz 1902); ders.: Urkundliche Beiträge zur Geschichte des schlesischen Schulwesens im Mittelalter. Nachträge. Glatz 1905 (Wissenschaftliche Beilage zum Programm des Kgl. Kathol. Gymnasiums zu Glatz 1905). 62 Schubert, Heinrich: Die Schule zu Steinau a. d. Oder zur Zeit der Piasten. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 17 (1883) 151–176. 63 Ders.: Gelehrte Bildung in Schweidnitz im 15. und 16. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 37 (1903) 169–202. 64 Bauch, Gustav: Zur älteren Liegnitzer Schulgeschichte. In: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 18 (1908) 96–135. 65 Rudkowski, Wilhelm: Die Stiftungen des Elisabet-Gymnasiums, Tl. 1: 1293–1500. Breslau 1899 (Beilage zum Jahresbericht des Elisabet-Gymnasiums 1899); Bauch, Gustav: Protokoll über die Stellung des Rektors der Pfarrschule zu St. Elisabet in Breslau zu dem Domscholastikus. 1368. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 9 (1899) 229–238;

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Schulwesen66 und zur Schule in Goldberg.67 Universitäre Bildung konnten die Schlesier hingegen nur außerhalb erwerben. Die Identifizierung dieses Personenkreises aufgrund der jeweiligen Universitätsmatrikel ist als eine Voraussetzung für die Konturierung der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte Schlesiens im Spätmittealter anzusehen. Entsprechendes Datenmaterial wurde für die Universitäten Leipzig,68 Bologna,69 Erfurt70 und Krakau71 erschlossen. Ein besonderes Arbeitsfeld war die Erforschung des schlesischen Renaissance-Humanismus des 15./16. Jahrhunderts, das fast ausschließlich durch die Forschungen von Gustav Bauch repräsentiert ist. Bauch wirkte nach seiner Göttinger Promotion als Lehrer in Breslau und widmete sich seit 1880 intensiv der Erforschung des deutschen Humanismus, wobei er sich keineswegs auf Schlesien beschränkte.72 Er publizierte eine entsprechende Bibliographie73 sowie biographische Abrisse zu Persönlichkeiten, die aus Schlesien stammten oder dort wirkten: Bartholomäus Stein,74 Rudolphus Agricola Junior,75



Schulte, Wilhelm: Zur Geschichte des mittelalterlichen Schulwesens in Breslau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 36 (1902) 72–90. 66 Bauch, Gustav: Geschichte des Breslauer Schulwesens vor der Reformation. Breslau 1909 (Codex diplomaticus Silesiae 25); ders.: Geschichte des Breslauer Schulwesens in der Zeit der Reformation. Breslau 1911 (Codex diplomaticus Silesiae 26). 67 Ders.: Valentin Trozendorf und die Goldberger Schule. Berlin 1921 (Monumenta Germaniae paedagogica 57). 68 Pfotenhauer, Paul: Schlesier als Rectoren der Universität Leipzig in dem ersten Jahrhundert ihres Bestehens. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 17 (1883) 177–229. 69 ��������������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Schlesier auf der Universität Bologna. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 28 (1894) 433–446; 29 (1895) 268–278. 70 ����������������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Schlesier auf der Universität Erfurt im Mittelalter. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 30 (1896) 307–317; Bauch, Gustav: In Erfurt als Artisten promovierte Schlesier (1450–1521). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 40 (1906) 325–332. 71 Bauch, Gustav: Deutsche Scholaren in Krakau in der Zeit der Renaissance 1460–1520. Breslau 1901; ders.: Schlesien und die Universität Krakau im 15. und 16. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1907) 99–180. 72 Schwarzer, Otfried: Gustav Bauch. Ein Lebensbild. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 59 (1925) 180–187 (Schriftenverzeichnis 184–187). 73 ������������������������������������������������������������������������������������������� Bauch, Gustav: Bibliographie der schlesischen Renaissance (1475–1521). In: Silesiaca. Festschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens zum 70. Geburtstag seines Präses Colmar Grünhagen. Breslau 1898, 145–186. 74 Ders.: Bartholomäus Stenus. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 26 (1892) 225–238. Zu Stein vgl. auch Brier, Josef: Zur Lebensgeschichte des Breslauer Humanisten Barthel Stein (1477–1521). In: Schlesische Geschichtsblätter 2–3 (1922) 23–29. 75 Bauch, Gustav: Rudolphus Agricola Junior.  Ein Beitrag zur Geschichte des Humanismus im deutsch-polnisch-ungarischen Osten. Breslau 1892 ( Jahresbericht der Städtischen Evangelischen Höheren Bürgerschule 2 zu Breslau über das Schuljahr 1891/92).

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Georg Sauermann,76 Laurentius Corvinus,77 Johann Hess,78 George von Logau79 und Antonius Niger.80 Seine Forschungen fasste er in einer achtteiligen Artikelserie zusammen, die mehr als dreißig Vertreter des schlesischen Humanismus und deren literarisches Schaffen resümierte.81 1.4 Stadt- und Siedlungsgeschichte Stadtgeschichtliche Arbeiten richteten sich, in unterschiedlicher Forschungs- und Quellenbasierung, zunächst auf stadtgeschichtliche Einzelsynthesen, wie sie im 19. Jahrhundert für zahlreiche Orte abgefasst wurden.82 Übergreifende vergleichende stadtgeschichtliche Zugriffe wurden noch selten erprobt, etwa für die Stadtbefestigungen83 oder die Leprosorien.84 Die überwiegende Zahl der stadtgeschichtlichen Forschungen bezog sich freilich auf die Metropole des Landes, auf Breslau. Die Arbeiten entstanden fast durchweg als akademische Qualifikationsschriften oder als Studien von Mitarbeitern des Stadtarchivs beziehungsweise der Stadtbibliothek. Thematisch standen Fragen der Breslauer Topographie und Verwaltung im Zentrum. So gab Alwin Schultz einen Überblick über die Straßen und Häuser der Stadt und ihre Bewohner im 15. Jahrhundert,85 76 Ders.: Ritter Georg Sauermann, der erste adelige Vorfahr der Grafen Saurma-Jeltsch. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesien 19 (1885) 146–181. 77 Ders.: Laurentius Corvinus, der Breslauer Stadtschreiber und Humanist. Sein Leben und seine Schriften. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesien 17 (1883) 230–302. 78 Ders.: Johann Thurzo und Johann Heß. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 36 (1902) 193–224; ders.: Analekten zur Biographie des Johann Heß. In: Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 8 (1903) 161–185; 9 (1904) 34–64. 79 Ders.: Der humanistische Dichter George von Logau. In: 73. Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur, Abt. 3. Breslau 1895, 5–33. 80 Ders.: Das Leben des Humanisten Antonius Niger. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 16 (1882) 180–219. 81 Ders.: Beiträge zur Litteraturgeschichte des schlesischen Humanismus. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 26 (1892) 213–248; 30 (1896) 127–164; 31 (1897) 123–164; 32 (1898) 49–104; 37 (1903) 120–168; 38 (1904) 292–342; 39 (1905) 156–198; 40 (1906) 140–184. 82 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Anstelle der Einzelnachweise sei hier verwiesen auf das entsprechende Kapitel bei Loewe, Viktor: Schlesische Bibliographie, Bd. 1: Bibliographie der schlesischen Geschichte. Breslau 1927, 375–516. 83 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Schönaich, Gustav: Die Entstehung der schlesischen Stadtbefestigungen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1907) 17–36. 84 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Wattenbach, Wilhelm: Spitäler für Aussätzige in Schlesien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 3 (1860) 44–58, 216–220. 85 Schultz, Alwin: Topographie Breslaus im 14. und 15. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 10 (1870) 239–293.

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während Hermann Markgraf eine systematische Übersicht über die einzelnen Straßen und deren Geschichte bot.86 Die Zusammenstellung der Ratsmitglieder in chronologischer und alphabetischer Ordnung durch Markgraf und dessen Mitarbeiter Otto Frenzel87 bildete die Grundlage für die Erforschung der städtischen Führungsschichten.88 Das städtische Schuldenwesen sowie die städtischen Besitzungen außerhalb der Stadt wurden von Otto Beyer und Heinrich Wendt dargestellt.89 Größere Beachtung fanden die Organisation der städtischen Wirtschaft90 und des innerstädtischen Handels91 sowie der Fernhandel.92 Die Stellung Breslaus als Landeszentrale wurde anhand der Erfassung und Beschreibung der landesherrlichen Besuche und mit Blick auf das Verhältnis zu den Landesherren hervorgehoben,93 wobei Richard Koebner mit seiner 86 ������������������������������������������������������������������������������������������� Markgraf, Hermann: Der Breslauer Ring und seine Bedeutung für die Stadt. Breslau 1894 (Mittheilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau 1); ders.: Die Straßen Breslaus nach ihrer Geschichte und ihren Namen. Breslau 1896 (Mittheilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau 2). 87 Frenzel, Otto/Markgraf, Hermann: Breslauer Stadtbuch enthaltend die Rathslinie von 1287 ab und Urkunden zur Verfassungsgeschichte der Stadt. Breslau 1882 (Codex diplomaticus Silesiae 11). 88 Grünhagen, Colmar: Die Herren von Reste. Ein Beitrag zur Geschichte des Breslauer Patriziats im 14. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 7 (1866) 35–55; Prittwitz und Gaffron, Hans von: Breslauer Rathsfamilien. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift. Zeitschrift des Vereins für das Museum Schlesischer Altertümer 3 (1875/81) 391–403. 89 Beyer, Otto: Schuldenwesen der Stadt Breslau im 14. und 15. Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung der Verschuldung durch Rentenverkauf. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 35 (1901) 68–143; Wendt, Heinrich: Die Breslauer Stadt- und Hospital-Landgüter. Breslau 1899 (Mittheilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau 4). 90 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Eulenburg, Franz: Über Innungen der Stadt Breslau vom 13. bis 15. Jahrhundert. Phil. Diss. Berlin 1892. 91 Markgraf, Hermann: Die öffentlichen Verkaufsstätten Breslaus (Kammern, Bänke, Krame, Bauden). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesien 18 (1884) 171–208; ders.: Zur Geschichte des Breslauer Kaufhauses. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 22 (1888) 249–280. 92 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Zum ersten Mal wurde das Thema in einer erst fünfzig Jahre später publizierten Skizze aufgeworfen von Wattenbach, Wilhelm: Die Handelsstraßen Oberschlesiens [1859]. In: Schlesische Geschichtsblätter 2 (1908) 25–30; Rauprich, Max: Zur Handelspolitik Breslaus beim Ausgange des Mittelalters. Breslau 1891; ders.: Breslaus Handelslage am Ausgange des Mittelalters. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 26 (1892) 1–26; ders.: Der Streit um die Breslauer Niederlage, 1490–1515. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 27 (1893) 54–116. Für den Südosthandel vgl. Wendt, Heinrich: Schlesien und der Orient. Ein geschichtlicher Rückblick. Breslau 1916 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 21), 6–64. Für den Salzhandel vgl. Wutke, Konrad: Die Versorgung Schlesiens mit Salz während des Mittelalters. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 27 (1893) 238–290. 93 Fink, Erich: Geschichte der landesherrlichen Besuche in Breslau. Breslau 1897 (Mittheilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau 3); Grünhagen, Colmar: Breslau und die

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Untersuchung der Politik Breslaus gegenüber Georg von Podiebrad einen wichtigen Einzelbefund beisteuerte.94 Ein großes Thema der mittelalterlichen Geschichte Schlesiens war der Prozess des hochmittelalterlichen Landesausbaus, der im 19./20. Jahrhundert vielfach begrifflich als „deutsche Besiedlung“ oder „deutsche Kolonisation“ verkürzt wurde. Als Vorläufer dieser Entwicklung machte Grünhagen schon 1867 auf Siedler aus Lothringen in der Mitte des 12. Jahrhunderts aufmerksam.95 Ausgangspunkt für alle siedlungsgeschichtlichen Forschungen war bis zur Publikation des Schlesischen Urkundenbuchs die Urkundensammlung von Stenzel und Tzschoppe.96 Die systematische Bearbeitung dieser Vorgänge setzte erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ein. Eine registerartige Zusammenstellung der Quellenbelege für Ansiedlungen nach deutschem Recht bis 1258, geordnet nach den jeweiligen Siedlungsträgern, ermöglichte eine Vorstellung von Dichte und Verschiedenartigkeit der Siedlung.97 Der Breslauer Germanist Karl Weinhold98 sowie die Historiker Rudolf Kötzschke in Leipzig99 und Wilhelm Schulte in Breslau100 legten Bestandsaufnahmen des Forschungsstands zum Landesausbau vor und markierten mit ihrem methodischen Zugriff, der Kombination von Siedlungskunde und Landesgeschichte, die Verbindung mit der sich zur gleichen Zeit in Leipzig formierenden modernen Landesgeschichtsforschung.101 Im Anschluss daran zeichnet sich eine methodische Präzisierung der Forschungen in dreierlei Hinsicht ab. Erstens wurden lokal begrenzte Studien publiziert, etwa zu Löwenberg102 oder zum Kloster Leubus, der ältesten Zisterzienserniederlassung in Schle-



Landesfürsten, Tl. 1: Während des Mittelalters. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 36 (1902) 1–28. 194 Koebner, Richard: Der Widerstand Breslaus gegen Georg von Podiebrad. Breslau 1916 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 22). 195 ���������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar: Les colonies walonnes en Silésie, particulièrement ������������������ à Breslau. In: Mémoires de l’Académie royale de Belgique 33 (1867) 3–21. 196 Tzschoppe, Gustav Adolf/Stenzel, Gustav Adolf (Hg.): Urkundensammlung zur Geschichte des Ursprungs der Städte und der Einführung und Verbreitung deutscher Kolonisten und ­Rechte in Schlesien und der Oberlausitz. Hamburg 1832. 197 Neuling, Hermann: Aussetzungen zu deutschem Rechte bis zum Jahre 1258. Aus den Regesten zusammengestellt. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1874) 155–162. 198 Weinhold, Karl: Die Verbreitung und die Herkunft der Deutschen in Schlesien. Stuttgart 1887 (Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde 2/3). 199 Kötzschke, Richard: Das Unternehmertum in der ostdeutschen Kolonisation des Mittelalters. Bautzen 1894 (zu Schlesien vgl. 37–47). 100 Schulte, Wilhelm: Die Anfänge der deutschen Kolonisation in Schlesien. In: Silesiaca, 35–82; ders.: Deutsche Städtegründungen und Stadtanlagen in Schlesien. In: Zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens der Philomathie in Glatz. Glatz 1903, 25–46. 101 Zum Kontext vgl. Werner: Politische Begrenzung, 271–275. 102 Schulte, Wilhelm: Beiträge zur Geschichte der ältesten deutschen Besiedlung in Schlesien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 34 (1900) 289–314.

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sien.103 Zweitens legte man zeitlich umfassende siedlungsgeschichtliche Studien vor, um die Siedlung nach deutschem Recht zu kontextualisieren.104 Drittens schließlich wurden die deutsche und die slawische Sprachwissenschaft herangezogen, um die Ortsnamen als Quelle für Alter und Veränderung von Siedlungsprozessen auswerten zu können.105 Die rechts- und verfassungsgeschichtliche Seite des hochmittelalterlichen Landesausbaus wird in der Rezeption des Magdeburger Rechts in Schlesien fassbar. Nach den grundlegenden Studien des Breslauer Rechtshistorikers Ernst Theodor Gaupp106 fanden diese Fragen erst nach 1910 neuerliches Interesse. Otto Meinardus edierte das ­Rechtsbuch der Stadt Neumarkt aus dem 14. Jahrhundert und vertrat die Datierung des Haller Schöffenbriefs für Neumarkt auf das Jahr 1181,107 was schon zeitgenössisch auf Widerspruch stieß.108

2. Quellenkundliche Studien Der Zugriff auf die nichturkundlichen Quellen zur schlesischen Geschichte erfordert angesichts der Sperrigkeit des Sammelbegriffs eine Erläuterung und Strukturierung. In 103 Seidel, Viktor: Der Beginn der deutschen Besiedlung Schlesiens. Breslau 1913 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 17). 104 Treblin, Martin: Beiträge zur Siedlungskunde im ehemaligen Fürstentum Schweidnitz. Breslau 1908 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 6); Treblin, Martin/Fedee, Konrad: Zur Geschichte der Wüstungen in Schlesien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1907) 375–383. 105 Weinhold, Karl: Zur Entwicklungsgeschichte der Ortsnamen im deutschen Schlesien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 21 (1887) 239–296; Nehring, Władysław: Schlesische Ortsnamenforschung. In: Archiv für slavische Philologie 11 (1887) 143–148; Schulte, Johann Wilhelm: Ujazd und Lgota. Ein Beitrag zur schlesischen Ortsnamenforschung. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 25 (1891) 211–235; Drzażdżyński, Stanislaus: Die slavischen Ortsnamen Schlesiens, Tl. 1: Kreis Leobschütz. Leobschütz 1896 (Beilage zum Jahresbericht des Königlichen katholischen Gymnasiums zu Leobschütz 1895/96); ders.: Die slavischen Ortsnamen Schlesiens, Tl. 2: Kreis Ratibor. Festschrift zur Feier des hundertundfünfzigjährigen Bestehens des Königlichen katholischen Gymnasiums zu Leobschütz. Leobschütz 1902, 133–180. 106 Gaupp, Ernst Theodor: Das alte Magdeburgische und Hallische Recht. Ein Beitrag zur deutschen Rechtsgeschichte. Breslau 1826; ders.: Das schlesische Landrecht oder eigentlich Landrecht des Fürstenthums Breslau von 1356, an sich und in seinem Verhältnis zum Sachsenspiegel dargestellt. Leipzig 1828 [ND Aalen 1966]. 107 Meinardus, Otto: Das Neumarkter Rechtsbuch und andere Neumarkter Rechtsquellen. Breslau 1906 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 2); ders.: Das Halle-Neumarkter Recht von 1181. Breslau 1909 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 8); ders.: Weitere Handschriften des Halle-Neumarkter Rechts. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 46 (1912) 202–217. 108 ����������������������������������������������������������������������������������������� Kötzschke, Rudolf: Der Hallische Schöffenbrief für Neumarkt i. Schl. und das älteste Neumarkter Recht. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germ. Abt. 31 (1910) 146–182; zum Stand der Forschung vgl. Munzel-Everling, Dietlinde: Neumarkter Rechtsbuch. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3. Berlin 22017, 1889–1890.

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der systematischen Reflexion über die Merkmale und die verschiedenen Aspekte historischer Quellen, die auf den Konzepten von Johann Gustav Droysen und später von Ernst Bernheim beruht, wird zwischen Überrest und Tradition unterschieden. Ohne auf die vertiefenden Einblicke in die Fragen der historischen Quellen, die die Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert entwickelt hat,109 näher einzugehen, wird für die vorliegende Frage ein Gesichtspunkt zu betonen sein, auf den schon Droysen hingewiesen hatte: die Intentionalität historischer Überlieferung.110 Die Themenstellung weist darauf hin, dass hier zwei Fragen und Ansätze zusammenzuführen sind: zum einen eine Strukturierung der landesgeschichtlichen Forschung in Schlesien nach inhaltlichen Gesichtspunkten, wofür mit dem institutionen- und dem personengeschichtlichen Zugriff zwei wichtige Voraussetzungen vorliegen; zum anderen die Bezugnahme auf einen Teil der schriftlichen Quellen der schlesischen Landesgeschichte. Das macht es erforderlich, die Gesamtheit der hier in Frage kommenden Quellen in einem überzeugenden Zugriff zu strukturieren. Die Ordnung der Quellen war für den in Rede stehenden Zeitraum, die gesamte Vormoderne vom 13. bis zum 18.  Jahrhundert, hier eigens zu entwickeln. Bei manchen Schriftzeugnissen ist auch eine andere Einordnung möglich. Diese Problematik ist hier aber nachgeordnet, weil es primär um einen Zugriff auf Perspektiven, Praktiken und Leistungen der schlesischen landesgeschichtlichen Forschung im langen 19. Jahrhundert geht. Unter „Erschließung“ wird hier einerseits die Bereitstellung von Texten durch Publizierung, andererseits deren wissenschaftliche Kommentierung und Analyse verstanden. Die nichturkundlichen Quellen sollen im Folgenden in drei Hauptgruppen vorgestellt werden: erstens die erzählenden Quellen, im wesentlichen chronikalische Aufzeichnungen; zweitens die dokumentarischen Quellen, hier allerdings mit Ausnahme der gesondert behandelten Urkunden, und drittens die Selbstzeugnisse. 2.1 Erzählende Quellen In der Gruppe der erzählenden Quellen werden hier die annalistischen und chronikalischen – also im weitesten Sinne die historiographischen – Texte sowie die hagiographischen Texte unterschieden. Die historiographischen Texte gehören für die ältere Zeit neben den Urkunden zur wichtigsten Quellengruppe, weisen die größte Zahl an Einzelquellen auf und haben ­dementsprechend auch die größte Aufmerksamkeit der Forschung hervorgerufen.111

109 Oexle, Otto Gerhard: Was ist eine historische Quelle? In: Die Musikforschung 57 (2004) 332–350. 110 Gehrke, Hans-Joachim: Geschichte als Element antiker Kultur. Die Griechen und ihre Geschichte(n). Berlin u. a. 2014 (Münchner Vorlesungen zu Antiken Welten 2), 9–36. 111 ������������������������������������������������������������������������������������������� Kersken, Norbert: Historiographiegeschichte. In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Historische Schlesienforschung. Themen, Methoden und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichts-

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Seit dem späten 16. Jahrhundert ergriffen verschiedene späthumanistische Gelehrte die Initiative zu größeren Sammeleditionen älterer chronikalischer Texte. Zu nennen sind hier Simon Schard, Johann Pistorius, Marquard Freher, Melchior Goldast und ­André Duchesne, wobei die Editionsarbeit von Goldast erstmals auch eine landschaftliche Ausrichtung hatte.112 In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es dann zu mehreren Quellenausgaben mit einer regional- oder landesgeschichtlichen Ausrichtung. Am Beginn stand in Hannover Gottfried Wilhelm Leibniz mit seiner dreibändigen Quellensammlung zur Geschichte der Welfen, den Scriptores Rerum Brunsvicensium (1707/11).113 In den 1720er Jahren wurden an mehreren Orten zudem umfangreiche landschaftliche Quelleneditionen publiziert. Der aus Lauban stammende Jurist und Historiker Christian Gottfried Hoffmann, Professor in Leipzig, veröffentlichte 1719 in Leipzig und Bautzen vier Bände mit Texten zur Geschichte der Oberlausitz.114 Der Melker Benediktiner Hieronymus Pez gab drei Sammelbände zur österreichischen Geschichte heraus,115 während Georg Christian Joannis in Zweibrücken Quellen zur Mainzer Geschichte veröffentlichte.116 In diesem zeitlichen Zusammenhang werden auch die ersten Anstrengungen einer umfassenden Edition aller Texte zur schlesischen Geschichte verzeichnet. Ferdinand Ludwig von Bressler und Aschenburg entwickelte ab etwa 1716 in Breslau den Plan einer Edition schlesischer Geschichtsquellen.117 Seine Sammlung fand zwischen 1729

schreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2005 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 11), 93–124. 112 ����������������������������������������������������������������������������������������� Suevicarum rerum scriptores aliquot veteres. Francofurti 1605; Alamannicarum rerum scriptores aliquot veteres, Bd. 1–3. Francofurti 1606; Baade, Anne A.: Melchior Goldast von Haiminsfeld. Collector, commentator and editor. New York u. a. 1992 (Studies in Old Germanic languages and literature 2), 117–159. 113 Leibniz, Gottfried Wilhelm (Hg.): Scriptores Rerum Brunsvicensium, Bd. 1–3. Hanoverae 1707–1711; Eckert, Horst: Gottfried Wilhelm Leibniz’ Scriptores rerum Brunsvicensium. Entstehung und historiographische Bedeutung. Frankfurt am Main 1971 (Veröffentlichungen des Leibniz-Archivs 3); Gädeke, Nora: Im Vorfeld des Spanischen Erbfolgekrieges: Leibniz bringt seine historischen Kollektaneen zum Einsatz. In: Wallnig, Thomas u. a. (Hg.): Europäische Geschichtskulturen um 1700 zwischen Gelehrsamkeit, Politik und Konfession. Berlin u. a. 2012, 447–484, hier 491f. 114 Hoffmann, Christian Gottfried (Hg.): Scriptores rerum Lusaticarum antiqui et recentiores, Bd. 1–4. Lipsiae/Budissae 1719; Jecht, Richard: Die Oberlausitzische Geschichtsforschung in und um Görlitz und Lauban vornehmlich von 1700–1780. In: Neues Lausitzisches Magazin 94 (1918) 1–160, hier 14–20. 115 Pez, Bernhard (Hg.): Scriptores rerum austriacarum veteres ac genuini, Bd. 1–3. Lipsiae 1721– 1745. 116 Joannis, Georg Christian: Volumen [Primum, Secundum] Rerum Moguntiacarum. Francofurti ad Moenum 1722–1727, Bd. 3: Scriptorum Historiae Moguntinensi Cum Maxime Inservientium Tomus Novus. Francofurti ad Moenum 1727; Hörner, Klaus: Georg Christian Joannis. Meisenheim/Glan 1960 (Mainzer Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 5). 117 Wallnig, Thomas: Ferdinand Ludwig von Bressler und Aschenburg (1681–1722). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 12. Würzburg 2017, 101–115, hier 108.

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und 1732 Eingang in die drei Foliobände Scriptores rerum Silesiacarum, die der Breslauer Ratsherr Friedrich Wilhelm von Sommersberg herausgab.118 Neben dieser unverändert zu benutzenden, wenn auch unkritischen Edition – dies freilich nach Maßstäben, die erst ein Jahrhundert später entwickelt wurden – bemühte sich schon Sommersbergs Zeitgenosse Christian Runge, Prorektor am Magdalenengymnasium in Breslau, trotz der noch willkürlichen Erfassung um eine systematische Quellenkunde der schlesischen Geschichtsquellen. Die in lateinischer Sprache verfasste, sorgfältig gegliederte Quellenübersicht Notitia historicorum et historiae gentis Silesiacae erschien freilich, besorgt durch Samuel Benjamin Klose, erst 1775.119 Den ersten systematischen, im Grunde bis heute nicht ersetzten Überblick über die schlesischen Schriftquellen des Mittelalters erstellte Heinrich Zeißberg in Wien 1873 im Rahmen eines Überblicks über die polnische Geschichtsschreibung des Mittelalters.120 Daran schloss Ottokar Lorenz, ebenfalls aus Wiener Perspektive, in seinem Gesamtabriss der deutschen Geschichtsschreibung des Spätmittelalters an.121 Aus genuin schlesischer Sicht liegt die Übersicht von Colmar Grünhagen von 1875 beziehungsweise 1889 vor, die aber, ohne jedes Bemühen um eine kontextualisierende Darstellung, ein reines Verzeichnis ist. Das hinderte Grünhagen freilich nicht daran, es Zeißberg als „ein Überschreiten seiner Aufgabe“ vorzuhalten, „auch die Schriftsteller, welche gegen Ende des Mittelalters bei uns auf ausschließlich deutschem Boden und ausserhalb jeder Einwirkung des slavischen Nachbarlandes auftreten“, einbezogen zu haben.122 Nach 1815 kam es zu neuen Initiativen für die Edition schlesischer Geschichtsquellen, angestoßen durch Johann Gustav Gottlieb Büsching, der Ende 1818 zur Gründung eines Vereins aufrief, um „Zeitbücher, Urkundensammlungen, Beschreibungen von Alterthümern und Kunstsachen [...] abdrucken zu lassen“. In seiner Editionstätigkeit fühlte er sich der 1819 in Frankfurt gegründeten Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde und ihrem großen Editionsvorhaben, den Monumenta Germaniae Historica, verbunden.123 Büschings nur in Ansätzen geplante und koordinierte Edi118 Scriptores rerum Silesicarum, Bd. 1–3. Leipzig 1729–1732; Markgraf: Die Entwicklung, 14. 119 Runge, Christian: Notitia historicorum et historiae gentis Silesiacae. Vratislaviae 1775. 120 Zeißberg, Heinrich von: Die polnische Geschichtsschreibung des Mittelalters. Leipzig 1873 (Fürstlich Jablonowski’sche Gesellschaft zu Leipzig. Preisschriften 17) [ND Leipzig 1968], 107–156. 121 ������������������������������������������������������������������������������������������� Lorenz, Ottokar: Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter seit der Mitte des 13. Jahrhunderts. Berlin 31886 [ND Graz 1966], 233–251 (§ 20. Schlesien und Polen). 122 Grünhagen, Colmar: Wegweiser durch die schlesischen Geschichtsquellen bis zum Jahre 1550. Breslau 21889 (Zitat III). 123 ������������������������������������������������������������������������������������������ Kersken, Norbert: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung: Der „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 87–120, hier 88; ders.: Die Begründung institutionalisierter landesgeschichtlicher Forschung im frühen 19. Jahrhundert: Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829) im Kontext der zeitgenössischen schlesischen Historiographie. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Gelehr-

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tionsbemühungen konzentrierten sich auf große spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Erzähltexte: auf Peter Eschenloer, Hans von Schweinichen und Nikolaus Pol.124 Gustav Adolf Harald Stenzel, seit 1820/21 Professor an der Breslauer Universität und Direktor des schlesischen Provinzialarchivs,125 griff Büschings Editionsplan zu Beginn der 1830er Jahre systematisch auf. Er veröffentlichte von 1835 bis 1851 fünf Bände Scriptores rerum Silesiacarum oder Sammlung schlesischer Geschichtschreiber, die er namens der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur beziehungsweise des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens veröffentlichte.126 Die starke Bindung des Unternehmens an die Person Stenzels hatte freilich zur Folge, dass die Editionstätigkeit erst 1871, nach zwanzigjähriger Unterbrechung, von Grünhagen und Markgraf erneut aufgegriffen wurde. Bis 1902 erschienen zwölf weitere Bände. Außerhalb dieser Editionsreihe erschienen nur wenige Texte in selbständiger Form, während eine ganze Reihe meist kürzerer annalistischer oder chronikalischer Texte in der Vereinszeitschrift ediert wurde. Ferner edierte Wilhelm Arndt, Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica, in Band 19 der Scriptores 13 meist kürzere annalistische Texte schlesischer Provenienz.127 Zu nennen ist hier zunächst die Edition der ältesten in Schlesien entstandenen Chronik, des sogenannten Heinrichauer Gründungsbuchs (Liber fundacionis claustrii sancte Marie virginis in Heinrichow), angelegt und verfasst um 1270 zunächst vom dritten Abt Peter. Dessen sorgfältige Edition konnte Stenzel noch unmittelbar vor seinem Tod im Dezember 1853 abschließen.128 Es fällt jedoch auf, dass diese Edition im folgenden halben Jahrhundert die landesgeschichtliche Forschung zu keiner weiteren Vertiefung angeregt hat; erst Wilhelm Schulte veröffentlichte 1900 die einzige quellenkundliche Studie hierzu.129 Das wichtigste weitere Editionsprojekt nach Stenzels Tod und vor der Weiterführung der Scriptores ist die Edition der aus dem Kloster Leubus stammenden Aufzeichnungen – zwei kurzen annalistischen Texten

te – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert. Wien/ Köln/Weimar 2019 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 28), 131–158. 124 Ders.: Die Begründung institutionalisierter landesgeschichtlicher Forschung, 145f. 125 Żerelik, Rościsław: Das „Königliche Akademische Provinzialarchiv“ zu Breslau. Geschichtspflege im Spiegel der Organisation des schlesischen Archivwesens im 19. Jahrhundert. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 381–392, hier 385–387. 126 Kersken: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung, 89. 127 Arndt, Wilhelm (Hg.): Annales Silesiae. In: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores, Bd.  19. Hannoverae 1866, 526–570. Zu Arndt vgl. Bresslau, Harry: Geschichte der Monumenta Germaniae Historica. Hannover 1921 [ND 1976], 374f., 455f. 128 Stenzel, Gustav Adolf (Hg.): Liber fundationis claustri Sanctae Mariae Virginis in Heinrichow. Oder: Gründungsbuch des Klosters Heinrichau. Breslau 1854. 129 ���������������������������������������������������������������������������������������� Schulte, Wilhelm (Hg.): Das Heinrichauer Gründungsbuch nach seiner Bedeutung für die Geschichte des Urkundenwesens in Schlesien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 34 (1900) 343–370.

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und eines Nekrologs – durch Wilhelm Wattenbach, dem Nachfolger Stenzels als Leiter des Provinzialarchivs in Breslau.130 Zwei weitere herausragende Chroniken des schlesischen Mittelalters sind hier anzusprechen. Eine Chronik aus dem Zisterzienserkloster Leubus aus den 1280er Jahren, das sogenannte Chronicon Polono-Silesiacum (auch Chronica Polonorum), ist zwar von Sommersberg und von Stenzel jeweils im ersten Band ihrer Scriptores ediert worden – und später abermals von Wilhelm Arndt 1866 in den Monumenta Germaniae Historica sowie von Ludwik Ćwikliński 1878 in den Monumenta Poloniae Historica –, doch fand sie in der Folgezeit keine weitere Beachtung;131 in der Zeitschrift des Breslauer Geschichtsvereins erschien 1874 lediglich eine kodikologische Beobachtung zu einer Handschrift aus der Feder des Lemberger Historikers Stanisław Smolka.132 Auch die um 1395 am Kollegiatstift in Brieg verfasste Chronica principum Poloniae fand trotz der Edition durch Stenzel – und später, 1878, nochmals in den Monumenta Poloniae Historica133 – nur durch die monographische Studie von Wilhelm Schulte von 1906 Beachtung.134 Auf dieser Chronik basierte wiederum die Cronica ducum Slesie des Breslauer Augustiner-Chorherrn Benedikt von Posen von 1518, auf die Richard Roepell 1858 aufmerksam machte und aus der er Auszüge veröffentlichte.135 Das geringe Interesse für diese drei ältesten erzählenden Quellen der schlesischen Geschichte regt zur Nachfrage an; möglicherweise war der von Grünhagen angesprochene Umstand, dass „die älteste schles[ische] Quellenliteratur sich kaum anders als im Zusammenhange mit den polnischen Chronisten darstellen lässt“,136 Ursache für diese Zurückhaltung, die für jüngere Texte ab dem 15. Jahrhundert dann nicht mehr zu beobachten ist.

130 ������������������������������������������������������������������������������������� Wattenbach, Wilhelm (Hg.): Monumenta Lubensia. Breslau 1861; ders.: Nachträgliche Bemerkungen zu einigen Stellen der Mon. Lub. und des Cod. dipl. Sil. V. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 5 (1863) 116–117. 131 Sommersberg, Friedrich Wilhelm von (Hg.): Silesiacarum rerum Scriptores, Bd. 1. Lipsiae 1729, 1–13; Stenzel, Gustav Adolf (Hg.): Scriptores rerum Silesiacarum, Bd. 1. Breslau 1835, 1–32; Arndt (Hg.): Annales Silesiae, 553–570; Ćwikliński, Ludwik (Hg.): Kronika polska. In: Monumenta Poloniae Historica, Bd. 3. Lwów 1878, 578–656. 132 ���������������������������������������������������������������������������������������� Smolka, Stanisław: Über eine bisher unbenutzte Königsberger Handschrift des Chron. Polono-Silesiacum. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1874) 454–462. 133 Stenzel (Hg.): Scriptores, Bd. 1, 38–172; Węclewski, Zygmunt (Hg.): Kronika książąt polskich. In: Monumenta Poloniae Historica, Bd. 3. Lwów 1878, 423–578. 134 Schulte, Wilhelm: Die politische Tendenz der Cronica principum Poloniae. Breslau 1906 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 1); ders.: Zur Cronica principum Poloniae. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 42 (1908) 323–330. 135 Roepell, Richard: Benedict’s von Posen Chronik der Herzöge von Schlesien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 2 (1858) 402–417; Semkowicz, Aleksander (Hg.): Kronika śląska skrócona (Cronica Silesiae abbreviata). In: Monumenta Poloniae Historica, Bd. 3. Lwów 1878, 718–731. 136 Grünhagen: Wegweiser durch die schlesischen Geschichtsquellen, III.

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Die Wiederaufnahme der Reihe der Scriptores rerum silesiacarum begann Grünhagen 1871 mit einem thematischen Band zu Quellen zu den Hussitenkriegen in Schlesien, in dem er neben Briefen und Urkunden auch Auszüge aus verschiedenen chronikalischen Aufzeichnungen publizierte.137 Von den Scriptores-Bänden 6 bis 17 behandelten allein acht Bände das 15. Jahrhundert. Franz Wachter, langjähriger Mitarbeiter am Staatsarchiv Breslau, veröffentlichte 1883 im Band Geschichtsschreiber Schlesiens des XV. Jahrhunderts acht einschlägige kleinere Chroniken. Hervorzuheben ist die Chronik des Bolkenhainer Kaufmanns und Ratsherrn Martin von Bolkenhain, auch Martin von Kotbus, der die Hussitenzüge nach Schlesien beschreibt;138 Auszüge nahm Gustav Freytag in seine Bilder aus der deutschen Vergangenheit auf. Hermann Markgraf edierte zudem Glogauer Annalen aus dem späten 15. Jahrhundert, als deren Autor der Glogauer Lehrer Paul Knötel wenig später den Vikar am örtlichen Kollegiatstift ­Caspar Borgeni nachweisen konnte.139 Neben diesen großen Editionsvorhaben wurden mehrere annalistische Texte in den 1850er bis 1870er Jahren im Rahmen der Vereinszeitschrift publiziert. Hierzu gehören die Annalen von Grüssau, die Roepell 1856 abdrucken ließ,140 die sogenannte Ratiborer Chronik, das einzige mittelalterliche Annalenwerk aus Oberschlesien,141 Franziskanerannalen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts aus Löwenberg142 sowie annalistische, ebenfalls aus dieser Zeit stammende Notizen, die den Innenseiten des Pergamentumschlags des Breslauer Stadtbuchs entnommen worden waren.143 Eine dezidiert städtische Geschichtsschreibung indes bildete sich in Schlesien erst seit dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts aus. Der soziale Ort dieser Aufzeichnungen war das Stadtschreiberamt. Überall im Oderland waren die Anfänge städtischer Geschichtsschreibung mit der Funktion des Stadtschreibers und der Führung des Stadt137 Ders. (Hg.): Geschichtsquellen der Husssitenkriege. Breslau 1871 (Scriptores rerum silesiacarum 6). 138 Chronik des Martin von Bolkenhain. In: Wachter, Franz (Hg.): Geschichtsschreiber Schlesiens des XV. Jahrhunderts. Breslau 1883 (Scriptores rerum Silesiacarum 12), 1–18; Krusch, Bruno: Krämer Martinus Kotbus, der Chronist von Bolkenhain. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 37 (1903) 310–320; Langer, Paul: Martin von Bolkenhain. In: Bolkenhainer Heimats-Blätter 2 (1913) 26–34. 139 Markgraf, Hermann (Hrsg.). Annales Glogovienses bis zum Jahre 1493, nebst urkundlichen Beilagen. Breslau 1877 (Scriptores rerum silesiacarum 10); Knötel, Paul: Der Verfasser der „annales Glogovienses“. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 22 (1888) 94–108. 140 Roepell, Richard: Annales Grussavienses 1230–1306. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1 (1856) 200–212. 141 ������������������������������������������������������������������������������������������� Weltzel, Augustin: Ratiborer Chronik. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 4 (1862) 114–126. 142 ���������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar: Kurze Annalen der Franciskaner zu Löwenberg. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 11 (1872) 209–210. 143 Schultz, Alwin/Grünhagen, Colmar: Annalistische Nachlese, 1449–1500. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1868) 373–388.

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buchs verbunden. Aus dieser Konstellation entstanden aus bloßen annalistischen Notizen und Einfügungen erste Stadtbuchchroniken.144 Die ältesten Breslauer annalistischen Aufzeichnungen aus dem frühen 14. Jahrhundert (mit Eintragungen für die Jahre 1238 bis 1308), die im ältesten Breslauer Rechnungsbuch, dem sogenannten Henricus Pauper, überliefert wurden, sind nach dem Erstdruck durch Sommersberg145 und Grünhagens Edition146 von Wilhelm Arndt und von August Bielowski im Rahmen der jeweiligen Monumenta-Ausgabe erneut abgedruckt worden.147 Auf weitere annalistische Eintragungen des 15. Jahrhunderts im Breslauer Stadtbuch machten Alwin Schultz und Colmar Grünhagen aufmerksam.148 Die zu Beginn des 16. Jahrhunderts aus den vorliegenden Stadtbucheinträgen erstellte annalistische Übersicht wurde nach Sommersberg ebenfalls von Arndt und Bielowski ediert.149 Annalistische Stadtbucheinträge aus Schweidnitz für die Jahre 1383 bis 1467 teilte Ewald Wernicke mit.150 Auch die ersten stadtgeschichtlichen Aufzeichnungen, die den Rahmen der Stadtbuchchroniken verließen, wurden von Stadtschreibern angefertigt. Das wichtigste stadtgeschichtliche Zeugnis in Schlesien ist die große Zeitgeschichte der Stadt Breslau von Peter Eschenloer, der seit 1455 Stadtschreiber in Breslau war. Die deutsche, spätere Fassung hatten Büsching und Johann Gottlieb Kunisch schon 1827/28 (in einer allerdings unbefriedigenden Form) veröffentlicht,151 während Markgraf 1872 die ältere lateinische Fassung publizierte.152 Person und Werk Eschenloers fanden im 19. Jahrhun144 Zum Begriff vgl. Wriedt, Klaus: Geschichtsschreibung in den wendischen Hansestädten. In: Patze, Hans (Hg.): Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter. Sigmaringen 1987 (Vorträge und Forschungen 31), 401–426, hier 416f. 145 Sommersberg (Hg.): Scriptores, Bd. 2, 17f. 146 Grünhagen, Colmar (Hg.): Henricus pauper. Rechnungen der Stadt Breslau von 1299–1358, nebst zwei Rationarien von 1386 und 1387, dem Liber imperatoris vom Jahre 1377 und den ältesten Breslauer Statuten. Breslau 1860 (Codex diplomaticus Silesiae 3), X–XI, 93–95. 147 Arndt, Wilhelm (Hg.): Annales Wratislavienses antiqui et Annales magistratus Wratislaviensis. In: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores, Bd. 19. Hannoverae 1866, 526–531; Bielowski, August (Hg.): Rocznik wrocławski dawny i rocznik magistratu wrocławskiego. In: Monumenta Poloniae Historica, Bd. 3. Lwów 1878, 680–688. 148 Schultz, Alwin/Grünhagen, Colmar: Annalistische Nachlese, 1449–1500. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1868) 373–388. 149 ����������������������������������������������������������������������������������������� Sommersberg (Hg.): Scriptores, Bd. 2, 1730, 172–176 (Annales Wratislavienses); Arndt: Annales magistratus Wratislaviensis; Bielowski: Rocznik magistratu wrocławskiego. 150 Wernicke, Ewald: Aus dem städtischen Archiv in Schweidnitz. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1874) 472–473. 151 Kunisch, Johann Gottlieb (Hg.): Peter Eschenloer’s, Stadtschreibers zu Breslau, Geschichten der Stadt Breslau oder Denkwürdigkeiten seiner Zeit vom Jahre 1440 bis 1479. Breslau 1827– 1828; ders.: De Petro Eschenloero antiquissimo rerum Vratislaviensium scriptore eiusque commentariis. Vratislaviae 1826. 152 Markgraf, Hermann (Hrsg.): Historia Wratislaviensis et que post mortem regis Ladislai sub electo Georgio de Podiebrat Bohemorum rege illi acciderant prospera et adversa [von Peter Eschenloer]. Vratislaviae 1872 (Scriptores rerum silesiacarum 7).

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dert dennoch nur geringe Aufmerksamkeit. Kunisch verfasste 1826 eine kleine Schrift über den Breslauer Stadtschreiber,153 wozu noch einige biographische Einzelheiten kamen, die Schultz in den Breslauer Stadtbüchern ermitteln konnte.154 Auf zwei Fürstensteiner Handschriften der deutschen Fassung machte der Schweidnitzer Gymnasiallehrer Julius Schmidt aufmerksam.155 Eine Generation später wirkte in Namslau Johannes Froben als Stadtschreiber und Autor der deutschsprachigen Annales Namslavienses für den Zeitraum von 1347 bis 1509: Von ihnen wurden allerdings nur kleinere Auszüge publiziert, obwohl Grünhagen sich schon 1871 für die vollständige Veröffentlichung in der Scriptores-Reihe ausgesprochen hatte156 und Erwin Dybek 1909 eine einschlägige Dissertation vorlegte.157 Für die Jahre von 1519 bis 1563 fügten die Stadtschreiber von Neumarkt, Blasius Pförtner und sein Sohn Franz, den amtlichen Stadtbucheintragungen Berichte über lokale Ereignisse, aber auch über solche von überregionaler Reichweite bei. Auf diese „Stadtbuchchronik“ machte Paul Pfotenhauer aufmerksam und edierte die entsprechenden Abschnitte.158 Die Bedeutung von Nikolaus Henel, des Breslauer Juristen und Historikers in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, dessen Werke in zeitgenössischen Ausgaben beziehungsweise innerhalb von Sommersbergs Scriptores vorliegen, für die schlesische Landesbeschreibung wurde in einem größeren Aufsatz von Hermann Markgraf gewürdigt,159 während Johann Kunisch in einer Programmschrift auf die 1612 gedruckte BresloGraphia hinwies.160 Das historiographische Schaffen des Breslauer Diakons Nikolaus Pol im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts fand nur ansatzweise Beachtung durch die moderne landesgeschichtliche Forschung. Als sein erstes und wichtigstes Editionsprojekt besorgte Büsching in den Jahren 1813 bis 1824 die Edition der Jahrbücher der Stadt

153 ����������������������������������������������������������������������������������������� Kunisch, Johann Gottlieb: De Petro Eschenloero antiquissimo rerum Vratislaviensium scriptore eiusque commentariis. Vratislaviae 1826. 154 Schultz, Alwin: Einige biographische Nachrichten über den Breslauer Stadtschreiber Peter Eschenloer. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 5 (1863) 57–62. 155 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Schmidt, Julius: Zu Peter Eschenloers Geschichte der Stadt Breslau. In: Schlesische Provinzialblätter 127 (1848) 38–47. 156 Hussitica aus Joannis Frobenii annales Namslavienses. In: Grünhagen (Hg.): Geschichtsquellen der Hussitenkriege, 163–166; Wachter (Hg.): Geschichtsschreiber Schlesiens, 138f.; Wachter, Franz: Der Namslauer Chronist Johannes Froben. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 29 (1895) 337–339. 157 ������������������������������������������������������������������������������������������� Dybek, Erwin: Der Geschichtsschreiber Johannes Froben aus Namslau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 43 (1909) 1–42. 158 ������������������������������������������������������������������������������������������� Pfotenhauer, Paul: König Ferdinand I. in Neumarkt 1538. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 19 (1885) 295–301; ders.: Die Pförtner von Neumarkt und ihre Aufzeichnungen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 20 (1886) 260–296. 159 Markgraf, Hermann: Nikolaus Henels von Hennenfeld (1582–1656). Leben und Schriften. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 25 (1891) 1–41. 160 Kunisch, Johann Gottlieb: De Nicolai Henelii Breslographia. Vratislaviae 1841.

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Breslau,161 deren Bedeutung von Hermann Palm in einer Studie unterstrichen wurde.162 Pols Hemerologion Silesiacum Vratislaviense von 1612,163 in dem die Geschichte Breslaus nicht chronologisch, sondern in Form eines Kalendariums nach dem Vorbild von Paul Ebers Calendarium Historicum164 dargeboten wurde mit freiem Raum für Nachträge durch den Besitzer des jeweiligen Exemplars, ist in Schlesien nachweislich so genutzt worden. Nachdem Grünhagen die von dem Braunauer Lehrer Johann Matthäus Breßler für die Jahre von 1590 bis 1617 (mit Nachträgen zu 1624) notierten Zusätze herausgegeben hatte,165 besorgte Bernhard von Prittwitz eine thematisch strukturierte Zusammenstellung der Zusätze aus 18 Exemplaren des Hemerologion.166 Größere Aufmerksamkeit erfuhr die Schweidnitzer Chronistik des 16. und frühen 17. Jahrhunderts. Wilhelm Wattenbach gab 1859 den Bericht des Schweidnitzer Stadtschreibers Jakob Garthener über die städtischen Unruhen von 1520/24 heraus.167 In ihrer Edition Schweidnitzer Chronisten des XVI. Jahrhunderts brachten Adolph Schimmelpfennig und Theodor Schönborn 1878 den Text der von dem Schweidnitzer Schöffen und Bürgermeister Wenzel Thommendorf begonnenen, von dessen Sohn ­Hieronymus und schließlich von Daniel Scheps fortgesetzten Chronik zum Abdruck,168 zu der Markgraf, Weinhold und Wernicke textkritische und kodikologische Anmerkungen beisteuerten.169 Die Aufzeichnungen von Michael Steinberg in Schweidnitz für die 161 Pol, Nikolaus: Jahrbücher der Stadt Breslau, Bd. 1–5. Breslau 1813–1824 (Zeitbücher der Schlesier 1–5). 162 Palm, Hermann: Quellen und Werth von Nikolaus Pols Jahrbüchern der Stadt Breslau bis zum 14. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 6 (1864) 297–334. 163 Pol, Nikolaus: Hemerologion Silesiacum Vratislaviense. Breßlau 1612. 164 ����������������������������������������������������������������������������������������� Eber, Paul: Calendarium Historicum. Witebergae 1550; Hasse, Hans-Peter: Paul Ebers Calendarium Historicum (1550). In: Gehrt, Daniel/Leppin, Volker (Hg.): Paul Eber (1511–1569). Humanist und Theologe der zweiten Generation der Wittenberger Reformation. Leipzig 2014 (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 16), 288–319. 165 Grünhagen, Colmar: Aufzeichnungen des Braunauer Schullehrers M. Breßler 1546–1624. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 10 (1870) 177–191. 166 ������������������������������������������������������������������������������������������� Prittwitz, Bernhard von: Über die handschriftlichen Vervollständigungen von Pol’s Hemerologium Silesiacum Wratislaviense nebst annalistischen Mittheilungen daraus. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 13 (1876) 193–242. 167 Wattenbach, Wilhelm: Des Schweidnitzer Stadtschreibers Jakob Garthener Bericht über die Unruhen zu Schweidnitz in den Jahren 1520 bis 1524. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 2 (1859) 375–401. 168 Schimmelpfennig, C. Adolph/Schönborn, Theodor (Hg.): Schweidnitzer Chronisten des XVI. Jahrhunderts. Breslau 1878 (Scriptores rerum Silesiacarum 11). 169 Markgraf, Hermann: Die Handschrift Wenzel Tommendorfs. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 14 (1878) 572; Weinhold, Karl: Anmerkungen zu dem Texte der Schweidnitzer Chronisten im XI. Bande der Scriptores rerum Silesiacarum (Breslau 1878). Ebd., 573–581; Wernicke, Ewald: Zu Wenzel Thommendorf und seinen Fortsetzern. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 15 (1880) 257–265.

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Jahre von 1500 bis 1564 wurden im gleichen Zusammenhang veröffentlicht.170 Zu den mit der Chronik Thommendorfs verwandten Schweidnitzer Chroniken von Stanislaus und Abraham Stopler aus der Mitte des 16. Jahrhunderts und von Balthasar Isler aus dem ersten Viertel des 17. Jahrhunderts teilte Wernicke einige Beobachtungen mit.171 Aus der nur handschriftlich überlieferten, bis 1654 reichenden Stadtchronik von Frankenstein, den Annales Francostenenses des örtlichen Schulrektors und Bürgermeisters Martin Koblitz, wurden nur Auszüge publiziert.172 Die an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert verbreitete Textsorte der Landesund Stadtbeschreibung, teilweise entwickelt zum panegyrischen Städtelob, brachte auch für Schlesien und besonders für Breslau eine Reihe literarischer Werke hervor, die seit den 1880er Jahren wissenschaftliche Beachtung fanden. Der Breslauer Stadtbibliothekar Gustav Türk nahm eine Gesamtschau auf diese Texte vor,173 die vor allem im Rahmen der Humanismusforschung des Breslauer Lehrers Gustav Bauch gebührende Einordnung fanden. Bartholomäus Steins Schlesien- und Breslaubeschreibung wurde 1902 von Markgraf in den Scriptores herausgegeben,174 nachdem beide Texte bereits 1832 beziehungsweise 1836 erstmals von Johann Gottlieb Kunisch abgedruckt worden waren.175 Der wenig ältere Panegyricus Silesiacus von Pancratius Vulturinus (Pankraz Geyer aus Hirschberg) wurde zeitgleich von Paul Drechsler veröffentlicht.176 Auch mehrere spätmittelalterliche literarische Zeugnisse, die historische Ereignisse ansprechen, fanden landesgeschichtliche Aufmerksamkeit. Joseph Klapper veröffentlichte ein Gedicht in deutscher Sprache, das ein österreichischer Autor namens Kip-

170 Schimmelpfennig/Schönborn (Hg.): Schweidnitzer Chronisten, 117–176, mit Hinweisen von Weinhold: Anmerkungen, 579–581. 171 Wernicke, Ewald: Nachrichten über die Schweidnitzer Chronisten Isler und Seiler. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1874) 473–474; Kopietz, Johannes Athansius: Noch ein Wort über den Schweidnitzer Chronisten Usler. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 15 (1880) 248–252; Wernicke, Ewald: Stanislai et Abrahami Stoplerorum Schlesische Chronica ab An. 1173 usque An. 1585. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 21 (1887) 415–424. 172 Martin Koblitz und seine Chronik der Stadt Frankenstein. In: Schlesische Provinzialblätter 84 (1826) 430–432; Aus Koblitzens Chronik von Frankenstein, Jahr 1629. Ebd., 432–437; Auszüge für 1533, 1572, 1605, 1606, 1624, 1627 in: Monatsschrift von und für Schlesien (1829) 410–412. 173 ����������������������������������������������������������������������������������������� Türk, Gustav: Lateinische Gedichte zum Lobe Breslaus. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 36 (1902) 101–120. 174 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Markgraf, Hermann (Hrsg.): Descripcio tocius Silesie et civitatis regie Vratislaviensis per Bartholomeum Stenum (Barthel Steins Beschreibung von Schlesien und seiner Hauptstadt Breslau). Breslau 1902 (Scriptores rerum Silesiacarum 17). 175 ������������������������������������������������������������������������������������������� Kunisch, Johann Gottlieb: Descripcio Vratislaviae. Vratislaviae [1832] (Programm des Friedrichsgymnasium Breslau), 1–25; ders.: Descripcio Silesiae a Bartholom. Steno saeculi XVI initio exarata. Vratislaviae [1836] (Programm des Friedrichsgymnasium Breslau). 176 Drechsler, Paul: Pancratii Vulturini Panegyricus Silesiacus, die älteste Landeskunde Schlesiens. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 35 (1901) 35–67.

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fenberger 1446 anlässlich der Hinrichtung des königlichen Hauptmanns Leonhard Assenheimer in Neumarkt verfasst hatte.177 Zwei lateinische Gedichte, die in Reaktion auf die erfolglose Belagerung Breslaus Ende 1474 durch die jagiellonischen Truppen König Kasimirs IV. von Polen und König Wladislaws II. von Böhmen abgefasst worden waren, konnte Heinrich Zeißberg aus einer Lemberger Handschrift edieren; sie stammten von dem Franziskaner Gabriele Rangone, dem späteren Bischof von Erlau, und dem Lemberger Erzbischof Gregor von Sanok.178 Die Hinrichtung von Nikolaus II. von Oppeln in Neisse 1497 wurde in einem Gedicht von Caspar Fuscinus (Brauner), der 1498 Rektor der Neisser Pfarrschule wurde, beschrieben; Karl Dziatzko konnte es nach einer Handschrift in der Universitätsbibliothek Breslau abdrucken.179 Der zeitliche Schwerpunkt der Erschließung nichturkundlicher Quellen lag auf Texten des 15. bis 17. Jahrhunderts. Texte des 18. Jahrhunderts fanden erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Interesse. Nahezu unbeachtet dagegen blieben ältere mittelalterliche Texte des 13./14. Jahrhunderts, was möglicherweise mit den von Grünhagen angesprochenen polnischen Bezügen der älteren schlesischen Geschichte zu tun hatte. Hagiographische Forschungen betrafen ausschließlich die Vita der heiligen Hedwig. Büsching hatte schon 1811 in seiner ersten auf Schlesien bezogenen Publikation zu einer deutschen Handschrift der Hedwigsvita darauf hingewiesen, dass Hedwig es mit Recht verdiene, „daß man alles, was auf Ihr Leben und Wirken Bezug hat, sammelt“.180 Den lateinischen Text der Hedwigsvita edierte Stenzel 1839 im ersten Band der Scriptores.181 Von diesem Teil legten der Strehlener Pfarrer Franz Xaver Görlich 1843 anlässlich von Hedwigs 600. Todestag eine deutsche182 und der Warschauer Historiker und Denkmal177 Klapper, Joseph: Altdeutsche Texte aus Breslau. In: Zeitschrift für deutsches Althertum und deutsche Litteratur 50 (1908) 167–205, hier 202–205; ders.: Das Lied von Leonhard Asenheimer. Schlesiens ältestes historisches Volkslied. In: Zmarzly, Franz (Hg.): Festschrift zur 700-Jahrfeier des Neumarkter Rechts (1235–1935). Neumarkt i. Schl. 1935, 31–37. Zum politischen Hintergrund vgl. Kronthal, Berthold: Leonhard Asenheimer, ein schlesischer Feldhauptmann, 1442–1446. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 28 (1894) 226–258. 178 Zeißberg, Heinrich: Zwei Gedichte über den unverrichteten Abzug der Polen von den Mauern Breslaus (1474). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 10 (1870) 373–378. 179 Dziatzko, Karl: Ein älteres lateinisches Gedicht auf die Hinrichtung des Herzogs Nikolaus von Oppeln (1497). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 20 (1886) 255–259, 363. 180 �������������������������������������������������������������������������������������� Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Beschreibung einer noch unbekannten Deutschen Handschrift des Lebens der heiligen Hedewig, mit Federzeichnungen [1811]. In: ders.: Bruchstücke einer Geschäftsreise durch Schlesien in den Jahren 1810, 11, 12 mit einem Anhange, worin vermischte Aufsätze, Schlesien betreffend. Breslau 1813, 459–490, hier 459f. 181 Vita S. Hedwigis. In: Stenzel, Gustav Adolf (Hg.): Scriptores rerum Silesiacarum, Bd. 1. Breslau 1839, 1–99. 182 Görlich, Franz-Xaver: Das Leben der heiligen Hedwig, Herzogin von Schlesien. Breslau 1843 [21854].

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schützer Kazimierz Stronczyński eine polnische Übersetzung183 vor. Diese Vorgaben erfuhren seit den 1860er Jahren durch Grünhagen, Wernicke und Ludwig Schmidt überlieferungsgeschichtliche Ergänzungen.184 Eine neue Edition auf breiterer Grundlage publizierte der Lemberger Mediävist Aleksander Semkowicz in den Monumenta Poloniae Historica.185 Den Illustrationen im sogenannten Schlackenwerther Codex, die Adolf von Wolfskron erstmals publiziert hatte,186 widmete sich Hermann Luchs,187 während der Breslauer Kirchenhistoriker Franz Xaver Seppelt die Überlieferung der deutschen Hedwigslegenden sichtete.188 Der böhmische Kirchenhistoriker Engelbert Hora wiederum bot 1911, anlässlich des Verkaufs des Codex, eine Beschreibung der Handschrift.189 2.2. Dokumentarische Quellen Zu den dokumentarischen Quellen zählen verschiedene im Rahmen herzoglicher, kirchlicher oder städtischer Dokumentationen entstandene Aufzeichnungen meist offiziellen Charakters. Verschiedene hierher gehörende Überlieferungen fanden im 19. Jahrhundert wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Was die Stadtbücher betrifft, ist die Überlieferung für Breslau am dichtesten. Diese fand entsprechend auch die größte Aufmerksamkeit der Forschung, vor allem in den 1860/70er Jahren. Eine erste Bestandsaufnahme veröffentlichte 1862 der Staatsrechtler Paul Laband,190 an die 1909 der in Halle lehrende Rechtshistoriker Paul Rehme eine aus-

183 Stronczyński, Kazimierz: Legenda obrazowa o Świętéj Jadwidze Księżnie Szlązkiéj według rękopisu z r. 1353 przedstawiona i z późniejszemi téjże treści obrazami porównana. Kraków 1880. 184 Grünhagen, Colmar: Beiträge zur Geschichte der Hedwigslegenden. a. Abraham Buchholzer und die Hedwigslegende; b. Eine historia St. Hedwigis in der Gymnasialbibliothek zu Brieg 1630; c. Testament. Verfügung Herzogs Ludwig von Brieg vom Jahre 1360 über einige Bücher (darunter auch eine vita St. Hedwigis). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 5 (1863) 160–166; Wernicke, Ewald: Fragment einer verlorenen Handschrift der Hedwigslegende. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 15 (1880) 547–550; Schmidt, Ludwig: Eine bisher unbekannte Handschrift der Vita Hedwigis. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 31 (1897) 333–335. 185 Semkowicz, Aleksander (Hg.): Vita sanctae Hedwigis. In: Monumenta Poloniae Historica, Bd. 4. Lwów 1884, 501–642. 186 Wolfskron, Adolf von: Die Bilder der Hedwigslegende nach einer Handschrift vom Jahre MCCCLIII in der Bibliothek der P. P. Piaristen zu Schlackenwerth. Mit einem Auszug des Originaltextes und historisch-archäologischen Anmerkungen. Wien 1846. 187 Luchs, Hermann: Über die Bilder der Hedwigslegende. Breslau 1861. 188 Seppelt, Franz Xaver: Mittelalterliche deutsche Hedwigslegenden. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 48 (1914) 1–18. 189 ��������������������������������������������������������������������������������������� Hora, Engelbert: Die ehemalige Schlackenwerter Handschrift der Hedwigslegende. In: Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen 49 (1911) 540–552. 190 ������������������������������������������������������������������������������������������� Laband, Paul: Die Breslauer Stadt- und Gerichts-Bücher. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 4 (1862) 1–22.

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führliche Übersicht über Bestände, Typen und Überlieferung anschloss.191 Auf Breslau bezieht sich auch die hier zu nennende Stadtbuchedition: das bereits genannte, 1860 von Grünhagen herausgegebene älteste städtische Rechnungsbuch, der sogenannte Henricus pauper. Die Statuten der Stadt Breslau von 1527 gab Emil Wendroth heraus.192 Den ältesten Glatzer Stadtbüchern, die Franz Volkmer und Wilhelm Hohaus herausgegeben hatten, widmeten sich Ernst Maetschke und Fritz Schubert.193 Für weitere Städte wurden indes keine systematischen Erschließungsarbeiten unternommen; Einzelnachrichten liegen aber aus den Stadtbüchern für Liegnitz,194 Löwenberg,195 Glogau196 und Patschkau197 vor. Die Herausbildung und die Eigenheiten der Landbücher oder Landtafeln in den einzelnen oberschlesischen Herzogtümern (Troppau, Jägerndorf, Leobschütz sowie Oppeln-Ratibor und Teschen) seit dem 14. Jahrhundert skizzierte der Prager Rechtshistoriker Jan Kapras.198 Die schlesischen Bezüge eines nichtschlesischen Rechnungsbuchs machte darüber hinaus Max Perlbach zugänglich, der die entsprechenden Einträge im Marienburger Treßlerbuch, dem für die Jahre 1399 bis 1409 erhaltenen Einnahmen- und Ausgabenbuch des Deutschen Ordens, einschließlich eines Registers zusammenstellte.199 Was kirchengeschichtliche Quellen angeht, so gerieten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Inventarverzeichnisse aus dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit in 191 Rehme, Paul: Über die Breslauer Stadtbücher. Ein Beitrag zur Geschichte des Urkundenwesens, zugleich der städtischen Verwaltung und Rechtspflege. Mit einem Urkundenbuche. Halle a. d. S. 1909 (Stadtrechtsforschungen 2). 192 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Wendroth, Emil: Statuten der Stadt Breslau von 1527/1534. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 4 (1862) 39–113. 193 �������������������������������������������������������������������������������������� Volkmer, Franz/Hohaus, Wilhelm (Hg.): Das älteste Glatzer Stadtbuch, 1324–1412. Habelschwerdt 1889 (Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz 4); dies. (Hg.): Aeltestes Glatzer Amtsbuch oder Mannrechtsverhandlungen von 1346–1390. Habelschwerdt 1891 (Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz 5); Maetschke, Ernst: Die Entstehung und Zusammensetzung des ältesten Glatzer Stadtbuches. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 54 (1920) 91–95; Schubert, Fritz: Das älteste Glatzer Stadtbuch (1316–1412). Ein Beitrag zur Geschichte der städtischen Verwaltung und Rechtspflege im Bereiche des Magdeburger Stadtrechts. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germ. Abt. 45 (1925) 250–366. 194 Sammter, Ascher: Feuer-Ordnung vom Jahre 1340 zu Liegnitz. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 3 (1860) 223–226. 195 �������������������������������������������������������������������������������������� Korn, Georg: Das Löwenberger Kampfrecht aus dem roten Buche des Rathsarchivs zu Löwenberg in Schlesien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 6 (1864) 173–179. 196 Grotefend, Hermann: Aus dem Zinsbuche der Stadt Groß-Glogau vom Jahre 1399. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1874) 207–211. 197 Kopietz, Johannes Anathasius: Aus dem ältesten Stadtbuche von Patschkau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1874) 475–479. 198 Kapras, Jan: Oberschlesische Landbücher. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 42 (1908) 60–120. 199 Perlbach, Max: Schlesisches aus dem Marienburger Tresslerbuch von 1400–1409. In: Silesiaca, 83–100.

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den Blick der Forschung. Seit den 1860er Jahren erfasste und publizierte man auch einschlägige Zeugnisse der schlesischen Überlieferung. Dabei handelte es sich zum einen um Inventarverzeichnisse geistlicher Institutionen, zum andern um Inventare, die einzelnen Personen zuzuordnen sind. Der Breslauer Kunsthistoriker Alwin Schultz edierte die Inventare einiger Breslauer Kirchen aus der Zeit von 1450 bis zum frühen 16. Jahrhundert.200 Zeitgleich veröffentlichte Augustin Knoblich ein Besitzverzeichnis der Breslauer Kreuzkirche auf der Dominsel aus den letzten Jahren des 15. Jahrhunderts.201 Otto Frenzel, Mitarbeiter der Stadtbibliothek zu Breslau, gab später ein Schatzverzeichnis der Kapelle der Reichkramer in der Elisabethkirche von 1494/1504 heraus.202 Schatzverzeichnisse der Schweidnitzer Pfarrkirche aus den Jahren von 1471 bis 1590 hat Ewald Wernicke aus dem Stadtarchiv Schweidnitz herausgegeben und daran Erläuterungen angeschlossen.203 Inventare der Pfarrkirche in Patschkau aus dem 16. Jahrhundert, aus den Jahren 1511, 1519 und 1572, machten Hermann Luchs und Johannes Athanasius Kopietz zugänglich.204 Drei Inventare aus Glogau aus dem 16. und 17. Jahrhundert edierte Paul Knötel,205 während Alphons Schuster sich die Verzeichnisse aus der Hedwigskapelle in Striegau von 1457 und aus der Pfarrkirche in Goldberg von 1484 vornahm.206 Von großem wirtschaftsgeschichtlichem Wert sind die Editionen von Besitz- und Einkünfteverzeichnissen des Bistums und des Domkapitels.207 200 Schultz, Alwin: Einige Schatzverzeichnisse der Breslauer Kirchen. In: Abhandlungen der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur. Philos.-hist. Abt. Breslau 1867, 1–26. 201 Knoblich, Augustin: Das Inventarium der Bartholomäuskrypta an der Kreuzkirche zu Breslau im 15. Jahrhundert, in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 8 (1867) 461–464. 202 Frenzel, Otto: Schatzverzeichnisse der Reichkramer-Kapelle in der Elisabet-Kirche zu Breslau. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift. Zeitschrift des Vereins für das Museum Schlesischer Altertümer 5 (1893) 255–262. 203 Wernicke, Ewald: Die alten Schatzverzeichnisse der Pfarrkirche zu Schweidnitz. In: Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit N. F. 21 (1874) 169–175, 207–212; ders.: Raritäten eines schlesischen Kirchenschatzes. In: Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit N. F. 26 (1879) 269–272. 204 Luchs, Hermann: Inventarium der Pfarr zur Patschkau 1572. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift. Zeitschrift des Vereins für das Museum Schlesischer Altertümer 3 (1880) 438–440; Kopietz, Johannes Athansius: Geschichte der katholischen Kirche zu Patschkau. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift. Zeitschrift des Vereins für das Museum Schlesischer Altertümer 4 (1881) 52–55, 57–78, hier 75–78. 205 Knötel, Paul: Die Kapelle zum heil. Kreuz und zu St. Anna in Gr. Glogau und drei Inventare derselben. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift. Zeitschrift des Vereins für das Museum Schlesischer Altertümer 4 (1887) 629–635. 206 Schuster, Alphons: Zwei Schatzverzeichnisse der Kirchen zu Striegau und Goldberg aus dem XV. Jahrhundert. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift. Zeitschrift des Vereins für das Museum Schlesischer Altertümer 5 (1889) 52–56. 207 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Schulte, Wilhelm: Quellen zur Geschichte der Besitzverhältnisse des Bistums Breslau. In: Studien zur schlesischen Kirchengeschichte. Breslau 1907 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 3), 171–279; Schuster, Alphons: Ein Wirthschaftsinventar des Breslauer

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Zu den Inventaren sind auch die ältesten Bibliotheksverzeichnisse zu zählen, denen sich Karl Heinrich Rother widmete. Er edierte und beschrieb den ältesten Bibliothekskatalog der Augustinerchorherren in Grünberg,208 ermittelte ein Ausleihregister aus Sagan aus der Zeit des Abts Martin Rinkenberg209 und konnte nach einem Katalog von 1615 die Büchersammlung des Breslauer Bischofs Johanns IV. Roth aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert rekonstruieren.210 Eben diesem Breslauer Katalog von 1615 widmete sich Maria Fliegel in ihrer Breslauer Dissertation.211 Gelegentlich fanden auch Inventare persönlicher Besitztümer, die anlässlich einer Nachlassregelung oder Eheverbindung angelegt wurden, Beachtung. Ein notariell verzeichnetes Nachlassinventar eines Breslauer Klerikers mit umfangreichem Bücherverzeichnis nebst verschiedenartigen Wertgegenständen und Hausrat druckte Augustin Knoblich ab.212 Das Inventar der Ausstattung von Eva Christine von Württemberg sowie der Morgengabe anlässlich ihrer Hochzeit mit Johann Georg von Jägerndorf im Juni 1610 sowie eine Zusammenstellung des Gold- und Silbergeschirrs in dessen Residenz im Jahr 1620 teilte Hans Schulz mit.213 In der Gesamtschau genügte den schlesischen Historikern des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Mitteilung der gelegentlichen Archivfunde von Inventarverzeichnissen. Der Ehrgeiz, diese Quellen zu kirchen-, kunst- oder sozialgeschichtlichen Befunden und Interpretationen zu führen, ging ihnen offenkundig ab. Kataloge der Breslauer Bischöfe wurden seit dem späten 13. Jahrhundert angefertigt und sind aus den unterschiedlichen Überlieferungszusammenhängen einzeln ediert worden, zuerst 1839 durch Gustav Adolf Harald Stenzel,214 1856 durch Albert Kaffler,215 Kapitelsgutes Zirkwitz aus dem Jahre 1417. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 32 (1898) 361–362; Gottschalk, Joseph: Alte Einkunftsregister des Breslauer Domkapitels. In: Schlesische Geschichtsblätter 1 (1927) 19–22. 208 Rother, Karl Heinrich: Das Handschriftenverzeichnis der Augustiner-Propstei Grünberg (in Schlesien) vom Jahre 1423. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 59 (1925) 102–124. 209 Ders.: Ein Ausleihregister der Augustiner Chorherren zu Sagan. Ein Beitrag zur Geschichte der Bibliothek. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 43 (1926) 1–21. 210 ������������������������������������������������������������������������������������������ Ders.: Über die Büchersammlung des Bischofs Johannes Roth. In: Schlesische Geschichtsblätter 2–3 (1923) 15–21. 211 Fliegel, Maria: Die Dombibliothek zu Breslau im ausgehenden Mittelalter. Breslau 1918 [danach in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 53 (1919) 84–133; zum Katalog von 1615: 84–98]. 212 Knoblich, Augustin: Die Bibliothek und Verlassenschaft des Dom-Altaristen Theodor Keyll, gest. zu Breslau 1504. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 10 (1870) 384–394. 213 Schulz, Hans: Ein fürstlicher Brautschatz. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift. Zeitschrift des Vereins für das Museum Schlesischer Altertümer 7 (1896) 185–194. 214 Catalogus episcoporum Wratislaviensium. In: Stenzel, Gustav Adolf (Hg.): Scriptores rerum Silsiacarum, Bd. 2. Breslau 1839, 133f. 215 Kaffler, Albert: Annalista Silesiacus und Series episcoporum Wratislaviensium vom J. 1382. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1 (1856) 213–225.

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1861 aus der Leubuser Überlieferung durch Wilhelm Wattenbach,216 1877 durch Hermann Markgraf,217 1883 schließlich durch Franz Wachter.218 1893 legte zudem Wojciech Kętrzyński eine Studie nebst Edition in den Monumenta Poloniae Historica vor.219 Knapp zwei Jahrzehnte später musterte Wilhelm (Lambert) Schulte 1910 den Überlieferungbefund auf neuem Kenntnisstand, 220 bevor Odilo Schmidt wenig später eine erschöpfende Dissertation zum Thema vorlegte.221 Ein Äbtekatalog liegt für das Breslauer Vinzenzstift in der Chronik von Nikolaus Liebental aus der Zeit um 1500 vor. Von dieser hatte Stenzel 1839 eine Redaktion herausgegeben222 und Paul Pfotenhauer Ergänzungen aus einer Überlieferung im Kloster Raigern beigesteuert.223 Einen Äbtekatalog des Klosters Leubus – zusammengestellt durch Martin Sebastian Dittman, der von 1649/50 bis 1682 Amtmann des Stifts war – hatte schon 1856 Wilhelm Wattenbach herausgegeben.224 Breslauer Synodalstatuten aus dem Zeitraum von der Mitte des 13. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts gab Mortimer von Montbach heraus,225 während Grünhagen die erhaltenen Fragmente der mittelalterlichen Protokolle des Breslauer Domkapitels publizierte.226 In diesem Zusammenhang ist auch die Publikation eines Registers der in Brieg ordinierten protestantischen Geistlichen zu erwähnen; es handelt sich um 167 Personen, die in den Jahren 1564 bis 1573 unter anderem in 55 verschiedenen Orten in Schlesien eingesetzt wurden.227 Eine wichtige Quelle für das konfessionelle Zeitalter – die

216 Wattenbach, Wilhelm (Hg.): Monumenta Lubensia. Breslau 1861, 10f. 217 Markgraf (Hg.): Annales Glogovienses, 2–4. 218 Chronica et numerus episcoporum Wratislaviensium. In: Wachter (Hg.): Geschichtsschreiber Schlesiens, 31–36. 219 Kętrzyński, Wojciech (Hrsg.): Katalogi biskupów wroclawskich. In: Monumenta Poloniae ­Historica 6 (1893) 534–584; ders.: Die Kataloge der Breslauer Bischöfe. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 28 (1894) 259–293. 220 ����������������������������������������������������������������������������������������� Schulte, Lambert: Zu den Breslauer Bischofskatalogen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 44 (1910) 207–234; ders.: Die Todestage der älteren Bischöfe von Breslau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 42 (1908) 280–283. 221 ����������������������������������������������������������������������������������������� Schmidt, Odilo: Untersuchungen zu den Breslauer Bischofskatalogen. Breslau 1917 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 25). 222 Gesta abbatum monasterii S. Vincentii. In: Stenzel (Hg.): Scriptores, Bd. 2, 135–149. 223 Pfotenhauer, Paul: Über eine Series abbatum monasterii s. Vincentii in Kloster Raigern. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 13 (1876) 528–531. 224 Wattenbach, Wilhelm: Martin Sebastian Dittmans Chronik der Äbte von Leubus. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1 (1856) 271–297. 225 Montbach, Mortimer de (Hg.): Statuta synodalia dioecesana sanctae ecclesiae Wratislaviensis. Wratislaviae 21855. 226 Grünhagen, Colmar (Hg.): Protokolle des Breslauer Domkapitels, Fragmente aus der Zeit 1393–1460. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 5 (1863) 118–159. 227 Soffner, Johannes: Ein Brieger Ordinationsregister aus der Zeit von 1564 bis 1573. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 31 (1897) 289–310.

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Visitationsberichte des 17. Jahrhunderts – gab der Leiter des Breslauer Diözesanarchivs, Joseph Jungnitz, heraus.228 Mehrere Nekrologien, die an schlesischen Kloster- oder Stiftskirchen geführt wurden, fanden in den 1850er bis 1880er Jahren ebenfalls editorische Aufmerksamkeit. Dieses Interesse der schlesischen Mediävistik steht zeitlich am Beginn der Nekrologienforschung im 19. Jahrhundert, die in den 1840er Jahren einsetzte.229 Als ältestes bekanntes schlesisches Exemplar edierte Paul Hein 1870 das Nekrolog des Breslauer Vinzenzstifts, mit einem Namenkern aus dem Zeitraum 1270/89 und fortgeführt bis 1655.230 Die größte Beachtung widmete Wattenbach dieser Quellengattung: Er gab die Nekrologe der Zisterzienserklöster231 Leubus,232 Heinrichau und Kamenz233 sowie des oberschlesischen Prämonstratenserstifts Czarnowanz234 heraus, die durchweg in Abschriften aus dem 15. bis 17. Jahrhundert erhalten sind. Ein weiterer, in Halberstadt aufbewahrter Nekrolog aus dem 12./13. Jahrhundert weist zwar schlesische Bezüge auf, ist aber vermutlich böhmischer Provenienz.235 Schließlich veröffentlichte Wojciech Kętrzyński in Gnesen aufgefundene Teile eines Glatzer Nekrologs aus dem 13./14. Jahrhundert.236 Ein Kalendarium des Breslauer Kreuzstift aus dem Jahr 1468/69 mit einem Cisiojanus, in das zu Zwecken des Jahrgedächtnisses die Todesdaten bestimmter Personen eingetragen wurden, edierte 1866 Arthur König.237 228 Jungnitz, Joseph (Hg.): Visitationsberichte der Diözese Breslau. Archidiakonat Breslau; ­Archidiakonat Oppeln; Archidiakonat Glogau; Archidiakonat Liegnitz. Breslau 1902– 1908 (Veröffentlichungen aus dem Fürstbischöflichen Diözesan-Archive zu Breslau 1/1, 2/1, 3/1, 4/1). 229 Zum Zusammenhang vgl. Schmid, Karl/Wollasch, Joachim: Societas et Fraternitas. Begründung eines kommentierten Quellenwerkes zur Erforschung der Personen und Personengruppen des Mittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 9 (1975) 1–48, hier 8f.; Hugener, Rainer: Buchführung für die Ewigkeit. Totengedenken, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter. Zürich 2014, 17f. Im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica begann die Publikation der Reihe „Necrologia Germaniae“ innerhalb der Abteilung „Antiquitates“ im Jahr 1888. 230 Hein, Paul (Hg.): Nekrolog der Prämonstratenster zu St. Vincenz bei Breslau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 10 (1870) 411–480. 231 �������������������������������������������������������������������������������������������� Zur Einordnung der zisterziensischen Nekrologien vgl. Schmid/Wollasch: Societas et Fraternitas, 30–32. 232 Leubuser Nekrolog. In: Wattenbach, Wilhelm (Hg.): Monumenta Lubensia. Breslau 1861, 35–59. 233 Wattenbach, Wilhelm: Schlesische Nekrologien. 1. Heinrichau. 2. Kamenz. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 4 (1862) 278–337. 234 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Necrolog des Kloster Czarnowanz. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1 (1856) 226–228. 235 Ders.: Böhmisch-schlesisches Nekrologium. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und ­Alterthum Schlesiens 5 (1863) 107–117. 236 Kętrzyński, Wojciech/Pfotenbauer, Paul: Fragmente eines Glatzer Todtenbuches. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 21 (1887) 381–387. 237 König, Arthur: Das Kalendarium des Breslauer Kreuzstiftes verbunden mit einem Cisioianus. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 7 (1866) 303–343.

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Was liturgische Handschriften des Mittelalters angeht, so haben diese eine Bedeutung als historische Quellen nicht nur in liturgiegeschichtlicher Hinsicht, sondern auch mit Blick auf die kunst-, kult- und kulturgeschichtlichen Erkenntnismöglichkeiten. Das älteste schlesische Handbuch für die kirchlichen Kulthandlungen aus dem frühen 14.  Jahrhundert, der Zeit Bischof Heinrichs I., gab der vormalige Breslauer Domkapitular Adolph Franz heraus.238 Zuvor hatte Jungnitz das Breslauer Breviar nach den ersten Drucken aus dem späten 15. Jahrhundert sowie das Diözesanproprium mit den Fest- und Gedenktagen des Bistums Breslau von 1662 herausgegeben.239 Auf annalistische Einträge aus dem 15. Jahrhundert in liturgischen Büchern machte der Breslauer Kunsthistoriker Alwin Schultz aufmerksam.240 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts richteten schlesische Historiker ihre Aufmerksamkeit zudem auf Korrespondenzen oder Briefbestände als Quellengruppe. Es wurden freilich zunächst keine größeren Briefkorpora ediert oder bearbeitet, sondern archivalische Zufallsfunde mitgeteilt. Nach Roepells Abdruck von drei Papstbriefen aus dem Vatikanischen Archiv241 waren es fast ausschließlich Zeugnisse aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Im Einzelnen handelt es sich um Briefe des Abtes des Zisterzienserklosters Rauden bei Ratibor,242 um Geschäftsbriefe des Breslauer Patriziers Alexius Bank mit dem Breslauer Domherrn Johann Chebde von Nyewyesch aus den Jahren 1451/53 – wobei sich auch zwei Briefe der Söhne Banks an ihren Vater befinden243 –, um einen Brief des Heidelberger Humanisten Peter Anton von Clapis (Petrus Antonius Finariensis) an Rudolf von Rüdesheim, nachmals Bischof von Breslau (1465),244 um Briefe von Georg Altdorfer, Bischof von Chiemsee an den Breslauer Bischof Johann Roth aus den 1480er Jahren,245 um ein Schreiben von Stephan Roth in Zwickau an Johannes Troger den Jüngeren in Schulangelegenheiten (1519),246 um Briefe Her238 Franz, Adolph (Hg.): Das Rituale des Bischofs Heinrich I. von Breslau. Mit Erläuterungen. Freiburg i. Br. 1912. 239 Jungnitz, Joseph: Das Breslauer Brevier und Proprium. Breslau 1893. 240 Schultz, Alwin: Zwei historische Notizen aus einem alten Missale. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 7 (1866) 210–212; ders.: Notizen aus einem Missale der Rhediger’schen Bibliothek. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 8 (1867) 197. 241 Roepell, Richard: Drei päpstliche Schreiben in Angelegenheiten des Bisthums Breslau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1 (1856) 190–199. 242 Loserth, Johann: Zwei Briefe aus der Hussitenzeit, das Kloster Rauden betreffend. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 18 (1884) 300–306. 243 Wattenbach, Wilhelm: Aus der Correspondenz des Alexius Banke. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 4 (1862) 192–198. 244 Markgraf, Hermann: Ein Brief aus dem Sommer 1465 an den Bischof Rudolf von Lavant, spätern Bischof von Breslau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 18 (1884) 322–323. 245 Schlecht, Joseph: Zwei humanistische Freundesbriefe an Bischof Johann IV. Roth von Breslau. In: Schlesische Geschichtsblätter 3 (1914) 63–67. 246 Clemen, Otto: Ein Brief von Johannes Troger d. J. In: Schlesische Geschichtsblätter 2 (1912) 39–41.

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zog Friedrichs II. von Liegnitz (1526) und Herzog Georgs von Brandenburg (1530– 1541),247 um Briefe des Breslauer Domherrn und Luthergegners Johannes Cochläus (Dobeneck) von 1540/42248 sowie um ein Schreiben Herzog Georgs II. von Brieg an dessen Hofschneider (1583).249 Als größeres Briefkonvolut wurden 35 Briefe des Rektors des Breslauer Magdalenen-Gymnasiums Johann Kaspar Friedrich Manso an Karl August Böttiger in Dresden aus den Jahren 1795 bis 1825 vorgelegt.250 Politische Korrespondenz von Amtsträgern oder Institutionen geriet nur für die Stadt Breslau in den Blick der Forschung. Grünhagen edierte Korrespondenzen der Stadt Breslau mit Karl IV. aus den Jahren 1347/49 und 1354/55 aus Protokollaufzeichnungen des Breslauer Rats,251 Franz Kürschner Breslauer Korrespondenz aus dem Archiv zu Eger.252 Hermann Markgraf sowie die Mitarbeiter der Stadtbibliothek Breslau Berthold Kronthal und Heinrich Wendt wiederum publizierten in vier Bänden der schlesischen Scriptores-Reihe die amtliche Korrespondenz der Odermetropole aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.253 Seit den 1870er Jahren wandte sich die schlesische Landesgeschichtsforschung, vor allem aus kirchen- und kunstgeschichtlichem Interesse, auch der inschriftlichen Überlieferung zu, die sich besonders auf Grabplatten und Epitaphien erhalten hat. Der Breslauer Lehrer Hermann Luchs gab eine Reihe von spätmittelalterlichen schlesischen Inschriften heraus und kommentierte sie aus epigraphischer Sicht.254 Für das Troppauer Schlesien stellte Vincenc Prasek, Direktor des tschechischen Gymnasiums in Troppau, die entsprechende Überlieferung zusammen.255 Den wichtigsten Trägern von Inschriften, 247 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Soffner, Johannes: Schlesische Fürstenbriefe aus der Reformationszeit. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 21 (1887) 399–414. 248 Otto, Carl: Schlesisches aus dem geheimen vaticanischen Archiv in Rom. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1874) 466–471. 249 Wutke, Konrad: Verwendungsschreiben des Herzogs Georg II. von Brieg für den aus dem Elsaß gebürtigen Hofschneider seiner Gemahlin. 1583. In: Schlesische Geschichtsblätter 1 (1916) 17–18. 250 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Geiger, Ludwig: Briefe C. F. Mansos an K. A. Böttiger. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 31 (1897) 16–92. 251 Grünhagen, Colmar: Die Correspondenz der Stadt Breslau mit Karl IV. in den Jahren 1347– 1355. In: Archiv für österreichische Geschichte 34 (1865) 345–370. 252 Kürschner, Franz: Correspondenz zwischen Eger und Breslau (1368–1528). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1869) 106–109. 253 Markgraf, Hermann (Hg.): Politische Correspondenz Breslaus im Zeitalter Georgs von Podiebrad, zugleich als urkundliche Belege zu Eschenloers Historia Wratislaviensis. Abt. 1: 1454– 1463, Abt. 2: 1463–1469. Breslau 1873–1874 (Scriptores rerum silesiacarum 8–9); Kronthal, Berthold/Wendt, Heinrich (Hg.): Politische Correspondenz Breslaus im Zeitalter des Konigs Matthias Corvinus, Abt. 1: 1469–1479, Abt. 2: 1479–1490. Breslau 1893–1894 (Scriptores rerum silesiacarum 13–14). 254 Luchs, Hermann: Schlesische Inschriften vom XIII. bis XVI. Jahrhundert. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift. Zeitschrift des Vereins für das Museum Schlesischer Altertümer 3 (1875/81) 329–343. 255 Prasek, Vincenc: Nápisy ve Slezku. In: 6. program českého Gymnasia v Opavě. Opava 1889, 14–39.

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den Figurengrabmälern und den nichtfigurierten Grabplatten und Epitaphien, widmete sich Paul Knötel in Überblicksdarstellungen für die Zeit des 14. bis 18. Jahrhunderts.256 Vergleichbare größere Zugriffe unterblieben in der Folgezeit, stattdessen wurden einzelne Inschriftenfunde mitgeteilt. Fand man diese auch fast durchweg baulich in oder bei einer Kirche, betrafen sie doch nur in Einzelfällen hohe Kleriker, so den Grabstein des 1450 in Rom verstorbenen Breslauer Domprobstes Nikolaus Gramis257 oder des 1504 verstorbenen Breslauer Weihbischofs Johann.258 Weitere Inschriften betrafen den Grabstein Herzog Bolkos von Beuthen, der 1354/55 in Venzone (Friaul) beigesetzt worden war,259 Epitaphien der Familien von Zedlitz, von Hochberg und von Nimptsch aus dem 16. Jahrhundert in Schönau,260 die Epitaphien des Melchior von Hatzfeld in Prausnitz bei Trebnitz261 sowie Inschriften in Gramschütz bei Polkwitz zur Erinnerung an den aus Glogau stammenden Bischof von Brandenburg, Hieronymus Schultz, die 1606 beziehungsweise in Wilkau bei Glogau 1769 zum Wiederaufbau der Kirche angebracht worden waren.262 Schließlich publizierte Marcus Brann, Dozent am Breslauer Jüdisch-Theologischen Seminar, hebräische Inschriften von einem auf 1203 datierten Grabstein und einem spätmittelalterlichen Siegelring.263 2.3 Selbstzeugnisse Mehrere Text- und Quellentypen lassen sich zu Dokumenten bündeln, in denen sich Selbstwahrnehmung und -darstellung einzelner Personen fassen lassen. Hierzu lassen sich aus dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit in Schlesien Familienchroniken, Tagebücher, Briefe, Testamente und Stammbücher anführen. 256 Knötel, Paul: Die Figurengrabmäler Schlesiens. Kattowitz 1890; ders.: Geschichte des Epitaphs in Schlesien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 26 (1892) 27–73. 257 Jungnitz, Joseph: Grabstätte des Nikolaus Gramis. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 34 (1900) 403–404. 258 Ders.: Der Grabstein des Breslauer Weihbischofs Johann gest. 1504. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 30 (1896) 321–323. 259 Lutsch, Hans: Der Grabstein des letzten Herzogs von Kosel-Beuthen im Dome zu Venzone. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 22 (1888) 327–330. 260 Kerber, P[aul]: Die adeligen Epitaphien der sog. Röversdorfer Begräbniskirche bei Schönau. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift. Zeitschrift des Vereins für das Museum Schlesischer ­Altertümer 3 (1875/81) 97–99. 261 Bretschneider, Paul: Die Epitaphien des Grafen Melchior von Hatzfeld in den Kirchen zu Prausnitz und Laudenbach. In: Die Christliche Kunst 6 (1909/10) 317–324. 262 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Knötel, Paul: Zwei geschichtliche Inschriften aus dem Glogauer Kreise. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 28 (1894) 458–460. 263 ���������������������������������������������������������������������������������������� Brann, Marcus: Ein Breslauer Grabdenkmal aus dem Jahre 1203. In: Schlesische Geschichtsblätter 1 (1919) 11–16; ders.: Ein mittelalterlicher Siegelring mit hebräischen Inschriften. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift N. F. 4 (1907) 63–65.

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Verschiedene chronikalische Aufzeichnungen lassen sich sowohl in familiengeschichtlichen als auch in stadtgeschichtlichen Kontexten verstehen; bisweilen weisen sie auch Tagebuchcharakter auf. Die schlesische Forschung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts widmete sich dabei vor allem Texten des 16. und 17. Jahrhunderts. Otto Meltzer gab die Aufzeichnungen in lateinischer Sprache heraus, die ein gewisser Harlart aus Goldberg in ein Exemplar der böhmischen Geschichte von Johannes Dubravius – das Harlart 1562 in Prag gekauft hatte – eingetragen hatte; sie bezogen sich auf seine Lebens- und Familiengeschichte, aber auch auf Ereignisse in Goldberg und Haynau und erstreckten sich bis zum Jahr 1580.264 Nur einen Hinweis auf eine in Privatbesitz befindliche Geschichte der Familie Theses(ius) in Liegnitz für den Zeitraum von 1478 bis 1708 bot Adalbert Hermann Kraffert.265 Max Perlbach druckte die lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen des Breslauer Predigers und Lehrers David Rhenisch des Jüngeren für die Jahre 1571 bis 1603, die sich auf Vorsatzblättern eines Sammelbandes des 16. Jahrhunderts der Universitätsbibliothek Halle befinden.266 Aus der handschriftlichen Chronik der Familie von Frankenberg, die Ephraim Ignaz Naso 1676 angelegt hatte, teilte Wutke Auszüge mit.267 Markgraf stellte ein genealogisches Manuskript vor, das die Breslauer Ratsgeschlechter behandelt. Es war 1677 vom Breslauer Stadtwachtmeister Albrecht von Reichel angelegt und später von Albrecht von Sebisch („Opus genealogicum Sebisianum“) fortgeführt worden; während des 18. Jahrhunderts hatte man mehrere Abschriften von dem Manuskript gefertigt.268 Schließlich wies Wutke auf eine um 1720 angelegte Schweinichensche Familiengeschichte hin.269 Dies leitet über zu frühneuzeitlichen Tagebüchern. Der bekannteste schlesische Tagebuchschreiber war der Liegnitzer Hofmarschall Hans von Schweinichen, dessen Aufzeichnungen sich auf den Zeitraum von 1568 bis 1602 beziehen. Büsching publizierte die Tagebücher 1820/23 unter reißerischem, verkaufsförderndem Titel.270 Der 264 �������������������������������������������������������������������������������������������� Meltzer, Otto: Kleine Beiträge zur Chronik von Goldberg und Haynau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 13 (1876) 243–259. 265 Kraffert, Adalbert Hermann: Über eine Historia Thebesiorum. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 14 (1878) 234–235. 266 Perlbach, Max: Aus der Familienchronik eines Breslauer Geistlichen und Lehrers um 1600. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 34 (1900) 339–342. 267 Wutke, Konrad: Beiträge zur schlesischen Familienkunde. 13. Aus der Familiengeschichte des Geschlechts v. Frankenberg. In: Schlesische Geschichtsblätter 2 (1915) 40–42. 268 Markgraf, Hermann: Zur Geschichte der genealogischen Studien in Breslau. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift. Zeitschrift des Vereins für das Museum Schlesischer Altertümer 3 (1875/81) 353–363. 269 �������������������������������������������������������������������������������������������� Wutke, Konrad: Beiträge zur schlesischen Familienkunde, Tl. 10: Über die Ehe des achtzigjährigen Hans (al. Hans Sigismund) von Schweinichen auf Schweinhaus, Kolbnitz, Mertschütz usw. i. J. 1590. In: Schlesische Geschichtsblätter 3 (1912) 55–61. 270 Büsching, [ Johann Gustav Gottlieb] (Hg.): Lieben, Lust und Leben der Deutschen des sechzehnten Jahrhunderts, in den Begebenheiten des Schlesischen Ritters von Schweinichen. Von ihm selbst aufgesetzt, Bd. 1–3. Breslau 1820–1823.

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Breslauer Bibliothekar Hermann Oesterley gab die Denkwürdigkeiten 1878 in gekürzter Fassung erneut heraus.271 Schweinichens Tagebuch fand auch außerhalb Schlesiens Aufmerksamkeit: Gustav Freytag druckte 1866 Auszüge in seinem Geschichtswerk,272 der Schriftsteller Ernst Leistner beschrieb Schweinichens Leben.273 Weitere bearbeitete und zum Teil gekürzte Fassungen gaben der aus Breslau gebürtige Schriftsteller Ernst Wolzogen,274 der Schriftsteller und Übersetzer Heinrich Conrad275 sowie der Karlsruher Bibliothekar und Schriftsteller Wilhelm Engelbert Oeftering heraus.276 Die Reiseaufzeichnungen des Heinrich von Poser und Groß-Naedlitz, gebürtig aus Eisdorf bei Namslau, fanden demgegenüber nur geringe Aufmerksamkeit. Über die Reise, die Poser zwischen 1621 und 1625 von Konstantinopel über Persien bis nach Indien führte, hatte er Notizen in lateinischer Sprache angefertigt. 1675 wurden diese auch in deutscher Übertragung publiziert,277 worauf 1910 Alfons Heyer aufmerksam machte.278 Für die schlesische Geschichte aussagekräftiger sind allerdings Teile des Tagebuchs von Zacharias Allert, eines Gehilfen des Breslauer Syndikus Reinhard Rosa, den Allert 1627 auf Reisen nach Wien und Prag begleitete.279 Die in Schreibkalendern eingetragenen lateinischen Tagebuchnotizen des Rektors des Elisabeth-Gymnasiums in Breslau, Elias Maior, für die Jahre 1640 bis 1669 hat Max Hippe vorgestellt und eingeordnet.280 Das Tagebuch von Georg Preußler, des Besitzers der Glashütte in Freudenberg bei Waldenburg für die Jahre 1738 bis 1758 präsentierte Adalbert Hoffmann.281 Für die Zeit der Napoleonischen Kriege liegt eine Reihe weiterer Tagebuchaufzeichnungen vor. Die Edition einschlägiger Tagebucheinträge durch

271 Oesterley, Hermann (Hg.): Denkwürdigkeiten von Hans von Schweinichen. Breslau 1878. 272 ����������������������������������������������������������������������������������������� Freytag, Gustav: Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Aus dem Jahrhundert der Reformation, Bd. 2. Leipzig 1924, 401–418. 273 Leistner, Ernst: Des schlesischen Ritters Hans von Schweinichen abenteuerlicher Lebenslauf. Bielefeld/Leipzig 1878. 274 ������������������������������������������������������������������������������������������ Wolzogen, Ernst von (Hg.): Des Schlesischen Ritters Hans von Schweinichen eigene Lebensbeschreibung. Leipzig 1885 [Berlin 31908]. 275 Conrad, Heinrich (Hg.): Die Thaten und Fahrten des Ritters Hans von Schweinichen, Bd 1–2. München/Leipzig 1910. 276 Hegaur, Engelbert [d. i. Oeftering, Wilhelm Engelbert] (Hg.): Memorial-Buch der Fahrten und Taten des schlesischen Ritters Hans von Schweinichenen Aufzeichnung. München [1911]. 277 Poser, Heinrich von: Lebens- und TodesGeschichte/ Worinnen das TageBuch seiner Reise von Constantinopel aus durch die Bulgarey/ Armenien/ Persien und Indien ans Liecht gestellet von Dessen danckbahrem Sohne Heinrich von Poser und GroßNedlitz. Jehna 1675. 278 Heyer, Alfons: Heinrich von Poser, ein schlesischer Orientreisender. In: Schlesische Geschichtsblätter 1 (1910) 14–19. 279 Krebs, Julius (Hg.): Zacharias Allerts Tagebuch aus dem Jahre 1627. Breslau 1887. 280 Hippe, Max: Aus dem Tagebuche eines Breslauer Schulmannes im siebzehnten Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 36 (1902) 159–192. 281 Hoffmann, Adalbert: Aus dem Tagebuche des Glasmeisters Preußler zu Freudenburg (XVIII.) Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 29 (1895) 317–335.

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Hermann Granier, damals Archivar am Staatsarchiv Breslau,282 führte zur Bekanntmachung und Publikation weiterer entsprechender Aufzeichnungen: des Tagebuchs eines unbekannten Schreibers aus dem Besitz von Leopold Graf Finck von Finckenstein für das Frühjahr 1807,283 eines Tagebuchs von 1813/14284 sowie weiterer Texte.285 Auf den Quellenwert der 1910 erschienenen Aufzeichnungen von Dorothea von Sagan, geborene Biron von Kurland, später Herzogin von Talleyrand, wies Konrad Wutke hin.286 Testamente, deren Erforschung auch unter diplomatischen Gesichtspunkten einzuordnen ist, fanden – vor allem mit Blick auf Nachlässe und Nachlassregelungen – nur als einzelne Dokumente Beachtung, nicht dagegen als Quellengruppe mit einer sozialgeschichtlichen Fragestellung. Die wenigen Arbeiten zu einzelnen Testamenten betreffen sowohl Kleriker- als auch Bürgertestamente. Augustin Knoblich stellte das 1393 verfasste Testament von Nikolaus Wendeler, einem Kanoniker an der Breslauer Kreuzkirche, aus dem Kopialbuch vor,287 während Franz Nieländer das im Original überlieferte Testament des Brieger Kanonikers Christoph Wagner von 1538 edierte und kommentierte.288 Georg Korn teilte einen Magdeburger Schöppenspruch von 1494 zum Testament und den Nachlassstreitigkeiten von Peter Eschenloer mit.289 Den Text des Testaments des Schweidnitzer Arztes Tobias Fischer von 1616 gab Heinrich Schubert aus den Beständen des dortigen Stadtarchivs heraus. Seit Mitte der 1870er Jahre fanden zudem Stammbücher die Aufmerksamkeit der sozial- und kulturgeschichtlichen Forschung.290 Ernst Volger gab einen Überblick über den Sammlungsbestand an Stammbüchern in der Stadtbibliothek Breslau,291 auf 282 Granier, Hermann (Hg.): Schlesische Kriegstagebücher aus der Franzosenzeit 1806–1815. ­Breslau 1904. 283 Wiedemann, Franz: Ein Tagebuch über die Belagerung von Neisse im Jahre 1807. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1907) 369–374. 284 Granier, Hermann: Kriegstagebuch des Schlesischen Husaren Julius Berent von 1813/14. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 47 (1913) 49–110. 285 Kern, Arthur: Neue Kriegstagebücher aus den Freiheitskriegen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 47 (1913) 111–130. 286 Castellane Radziwiłł, Marie Dorothea Elisabeth de (Hg.): Memoirs of the Duchesse de Dino (afterwards Duchesse de Talleyrand et de Sagan), Bd. 1–3: 1831–1850. London 1909–1910. 287 ����������������������������������������������������������������������������������������� Knoblich, Augustin: Von einer verschollenen Bibliothek des 14. Jahrhunderts und ihrem Donator. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 8 (1867) 180–190. 288 Nieländer, Franz: Das Testament des Brieger Domherrn Christoph Wagner (31. Oktober 1538). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 62 (1928) 228–242. 289 Korn, Georg: Das Testament Peter Eschenloers und der Streit um den Nachlaß seiner Ehefrau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 5 (1863) 354–360. 290 �������������������������������������������������������������������������������������� Schnabel, Werner Wilhelm: Das Stammbuch. Konstitution und Geschichte einer textsortenbezogenen Sammelform bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 78), 10f.; ders.: Stammbücher. In: Rasche, Ulrich (Hg.): Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven. Wiesbaden 2011 (Wolfenbütteler Forschungen 128), 421–452. 291 Volger, Ernst: Ueber die Sammlung von Stammbüchern (77 Stück) in der Stadtbibliothek zu Breslau. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift 3 (1881) 445–475.

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deren Bedeutung Jahrzehnte später deren Direktor Max Hippe erneut hinwies.292 Einen systematischen Zugriff unternahm lediglich Karl Masner, Direktor des Schlesischen ­Museums für Kunstgewerbe und Altertümer, der sich der künstlerischen Ausgestaltung der Stammbücher widmete.293 Einige Stammbücher fanden besondere Beachtung: So stellte Ludwig Geiger das Stammbuch von Caspar Hoffmann aus Fraustadt mit Einträgen aus den 1570er Jahren vor,294 Hans Schulz das Stammbuch von Karl Friedrich von Münsterberg-Oels mit Einträgen zum Zeitraum 1610 bis 1646 sowie dasjenige des Breslauer Bürgers Georg Hänsel mit Einträgen zu 1604 bis 1610,295 Heinrich Rybka schließlich das Stammbuch von Caspar Kirchner, eines Vetters von Martin Opitz, mit Einträgen für 1610 bis 1621.296 Aus dem frühen 19. Jahrhundert wurden die Einträge von drei schlesischen Stammbüchern mitgeteilt.297 Friedrich Andreae machte später auf die Bedeutung der Auswertung von Stammbüchern für speziell schlesische Fragestellungen aufmerksam.298

3. Zusammenfassung Abschließend sei versucht, diese Übersicht und Umschau mit zusammenfassenden Beobachtungen zu resümieren. Erstens waren die Themen der landesgeschichtlichen mediävistischen Forschung in Schlesien auffallend vielgestaltig. Die Methodik und Themenwahl erscheint dabei – vor der Institutionalisierung einer modernen Landesgeschichtsschreibung am Leipziger Institut Rudolf Kötzschkes 1906299 – bis zu den 1880er Jahren von einem älteren Verständnis von Quellen, Landes- und Ortsgeschichte 292 Hippe, Max: Aus alten Stammbüchern der Breslauer Stadtbibliothek. In: Schlesische Monatshefte 1 (1924) 82–86. 293 ������������������������������������������������������������������������������������������ Masner, Karl: Die schlesischen Stammbücher und ihre künstlerische Ausschmückung. In: Jahrbuch des Schlesischen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer 4 (1907) 137–170 und Tafeln V–VIII. 294 Geiger, Ludwig: Das Stammbuch eines Schlesiers aus dem Ende des 16. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1874) 401–409. 295 Schulz, Hans: Stammbücher eines schlesischen Fürsten und eines Breslauer Bürgers. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 33 (1899) 307–320. 296 Rybka, H[einrich]: Kaspar Kirchner und sein Studenten-Album. In: Rübezahl. Schlesische Provinzialblätter N. F. 14 (1875) 256–261. 297 Auszüge aus drei Stammbüchern, die sich im Besitze der Freifrau A. v. Bock, geb. v. Wostrowsky und Skalka, in Breslau befinden. In: Der Deutsche Herold. Zeitschrift für Wappen-, Siegel- und Familienkunde 43 (1912) 258–259. 298 Andreae, Friedrich: Schlesische Personalien aus einem westpreußischen Stammbuche. In: Schlesische Geschichtsblätter 3 (1919) 65; ders.: Schlesische Adlige in einem Stammbuche aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In: Schlesische Geschichtsblätter 2 (1925) 24–28. 299 Schieffer, Rudolf: Weltgeltung und nationale Verführung. Die deutschsprachige Mediävistik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1918. In: Moraw/Schieffer (Hg.): Die deutschsprachige Mediävistik, 39–61, hier 53; Werner: Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit, 256f., 265f.

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geprägt. Seit dieser Zeit zeichnen sich in der Auswahl und Bearbeitung der Themen eine größere Systematik und Methodenreflexion ab – man denke etwa an die Breslauer stadtgeschichtlichen Arbeiten, die Siedlungsgeschichte oder die Humanismusforschung. Zweitens waren Themenwahl und Themendurchführung geprägt von einem für landesgeschichtliche Forschungen wohl eigentümlichen Spannungsverhältnis dreier Forschertypen: den in der Landesmetropole institutionalisierten Historikern an Universität und Staats- und Stadtarchiv, den örtlich verankerten Forschern, die sich nur nebenberuflich mit der Geschichte befassten,300 die verschiedene Forschungsfelder aber über einen längeren Zeitraum hinweg zu prägen vermochten, und schließlich jenen Forschern, die gewissermaßen von außen kamen, Historikern also, die sich nur zeitweise im Oderland aufhielten, dort als Archivare wirkten oder an der Universität Breslau ihre Dissertation anfertigten und sich somit nur vereinzelt zu schlesischen Themen äußerten, dafür aber innovative Anstöße lieferten. Drittens lassen sich zwischen dem Profil der Historiker und den bearbeiteten Themen gewisse Korrelationen erkennen. Die politische Geschichte wurde vorwiegend von Personen bearbeitet, die mit dem Staats- und Stadtarchiv verbunden waren. Die Breslauer Stadtgeschichte wiederum war überwiegend Mitarbeitern des Stadtarchivs vorbehalten. Bei den kirchengeschichtlichen Themen kamen stärker katholisch positionierte Historiker zu Wort, während sich bei den siedlungsgeschichtlichen Arbeiten stärker die Stimmen von jüngeren Wissenschaftlern (in Form von Dissertationen) sowie von Personen abzeichnen, die nicht mit den Breslauer Institutionen verbunden waren. Bei den bildungs- und wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten traten vor allem Historiker auf, die als Schullehrer tätig waren. Viertens ist bei der Edition nichturkundlicher Quellen eine systematische Organisation nur bedingt erkennbar. Die Herausgabe der Scriptores rerum silesiacarum war vor allem eine Angelegenheit des Provinzial- beziehungsweise Staatsarchivs und seiner Direktoren Gustav Adolf Harald Stenzel und Colmar Grünhagen. Nach Grünhagens Tod 1911 wurde kein weiterer Band mehr publiziert. Der Zugang zur Edition und Erschließung nichturkundlicher Quellen erfolgte aus der archivarischen Arbeit. Vielfach wurden archivarische Gelegenheitsfunde mitgeteilt, wobei man nur selten systematische historische Fragestellungen verfolgte. Der zeitliche Schwerpunkt der Erschließung nichturkundlicher Quellen lag fünftens auf Texten des 15. bis 17. Jahrhunderts. Texte des 18. Jahrhunderts fanden erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Interesse, während Texte des 13. und 14. Jahrhunderts erkennbar weniger Aufmerksamkeit erhielten. Möglicherweise ist dies auf die von Grünhagen angedeuteten polnischen Bezüge der älteren schlesischen Geschichte zurückzuführen.

300 Stellvertretend seien hier Gustav Bauch und Felix Matuszkiewicz genannt.

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Regionale Tradition und methodische Innovation. Die Erschließung der urkundlichen Überlieferung in Schlesien vor dem Ersten Weltkrieg 1. Einleitung „Die Urkunde – nach der klassischen Hanbdbuchdefinition – ist ein unter Beobachtung bestimmter Formen ausgefertigtes und beglaubigtes Schriftstück über Vorgänge von rechtserheblicher Natur.“1 Der Begriff erfasst damit nicht nur die eigentlichen Diplome im engeren Sinn, also besiegelte Pergament- oder Papierblätter, sondern auch verschiedenartige Akten, Amts- und Gerichtsbücher, Güterinventare, Rechnungen etc. Gerade Schlesien verfügt über eine besonders reiche Dokumentation seiner Vergangenheit. Bereits seit dem 13. Jahrhundert wurden Urkunden – in der genannten weiten Definition – zu grundlegenden Quellen für die Erforschung der schlesischen Geschichte. Sie überwogen damit die narrativen, historiographischen Texte, obschon auch diese in großer Zahl vorliegen. Die Masse der erhaltenen Urkunden nimmt vom Hoch- zum Spätmittelalter rasch zu: Aus dem 13. Jahrhundert sind rund 3.000 Urkunden bekannt, für das 14. Jahrhundert darf man schon mit etwa 20.000 rechnen, für das 15. Jahrhundert ist ihre Zahl kaum mehr abzuschätzen. Angesichts solcher Zahlen spielen die im Spätmittelalter erschienenen Amts- und Gerichtsbücher nur eine untergeordnete Rolle. Viele von ihnen sind im Lauf der Zeit verlorengegangen, darunter etwa die Akten des Breslauer Konsistoriums, also des bischöflichen Gerichts, die für alle Fragen der Sozial-, Geistes-, Alltags- und Mentalitätsgeschichte aufschlussreich wären; zudem gibt es nichts den adeligen Land- oder Grodgerichtsbüchern Vergleichbares, wie sie für Polen seit dem 15. Jahrhundert eine zentrale Quellengattung bilden. Die herausragende Bedeutung der Urkunden ist also ein Spezifikum Schlesiens. Die Erhaltung eines (besonders im Vergleich mit dem benachbarten Polen) so großen Urkundenbestands ist ein nicht leicht erklärbares Phänomen. Es steht offenkundig in engem Zusammenhang mit der tieferen Einwurzelung der Schriftkultur im Oderland, die sich wiederum in größerer Sorge um Pflege und Aufbewahrung der schriftlichen Zeugnisse äußerte. Der pluralistischen Verfassungsstruktur Schlesiens entsprechend, wurde diese Sorge durch ganz verschiedene Institutionen abgesichert, die jeweils über eigene Archive verfügten. Deren Bestände nahmen seit dem Mittelalter sukzessive zu.

1 Brandt, Ahasver von: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften. Stuttgart 182012 [11969], 82. Eine ähnliche Definition bot schon Bresslau, Harry: Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, Bd. 1. Berlin 41969 [Leipzig 11912], 1.

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Das größte Archiv entstand erwartungsgemäß beim Breslauer Bistum und Domkapitel, aber auch weitere Stifte, Klöster, Fürstentümer und Städte (allen voran Breslau) unterhielten Archive, ebenso wie größere adelige Landgüter – wobei unter diesen das Familienarchiv der Schaffgotsch als das wichtigste zu nennen ist.2

2. Vorläufer und Anfänge der schlesischen Diplomatik bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Die Geschichte der schlesischen Urkundeneditionen ist kein unerforschtes Thema. Die grundlegenden Entwicklungslinien arbeiteten schon Heinrich Appelt und Josef Joachim Menzel heraus.3 Im Folgenden gilt es daher, ein bereits gezeichnetes Bild zu ergänzen, es hier und da auch zu vertiefen und dabei einige neue Akzente zu setzen. Die Anfänge einer Art von Publikation von Urkundentexten liegen schon im Mittelalter. Konkret zu nennen ist hier die Bearbeitung von Kopialbüchern, in denen man die im Besitz des jeweiligen Adressaten befindlichen Urkunden zusamenstellte, um sie besser für künftige Generationen zu bewahren. Solche Kopialbücher enstanden in Schlesien seit der Mitte des 13. Jahrhunderts, zuerst in Zisterzienserklöstern, dann beim Bistum, in einzelnen Städten oder Fürstentümern.4 Auch die spätmittelalterlichen Chronisten fügten ihren Chroniken mitunter den Volltext einzelner Urkunden hinzu – so etwa die Mönche von Heinrichau in ihrem berühmten Heinrichauer Gründungsbuch (das als eine eigenartige Mischung von Klosterchronik und Kopialbuch zu betrachten ist) oder später, im 15. Jahrhundert, Peter Eschenloer in seiner Stadtgeschichte von ­Breslau. Als erste gedruckte Edition werden meist die Synodalstatuten von 1475 genannt, angefertigt in der Druckerei vom Heiligen Kreuz in Breslau.

2 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Eine Übersicht über schlesische und außerschlesische, für die Landesgeschichte aber wichtige Archivbestände findet sich in den Einzelbeiträgen bei Bahlcke, Joachim/Mrozowicz, Wojciech (Hg.): Adel in Schlesien, Bd. 2: Repertorium: Forschungsperspektiven – Quellenkunde – Bibliographie. München 2010 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 37), 141–468. 3 Appelt, Heinrich: Einleitung. In: ders. (Hg.): Schlesisches Urkundenbuch, Bd. 1 (971–1216). Köln/Weimar/Wien 1971, XVI–XXII; Menzel, Josef Joachim: Urkundenpublikation und Urkundenforschung in Schlesien. Der Weg zum Schlesischen Urkundenbuch. In: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 79 (1971) 156–171; Jurek, Tomasz: Schlesische Urkundenbücher und Schlesisches Urkundenbuch – Geschichte und Perspektiven der Urkundenpublikation zu Schlesien. In: Mitteilungen aus dem Niederösterreichischen Landesarchiv 14 (2010) 162–179, hier 162–169. Für die bibliographische Orientierung grundlegend bleiben Loewe, Viktor: Bibliographie der Schlesischen Geschichte. Breslau 1927 (Schlesische Bibliographie 1); Grünhagen, Colmar: Wegweiser durch die schlesischen Geschichtsquellen bis zum Jahre 1550. Breslau 21889 [11876]. 4 Zu schlesischen Kopialbüchern vgl. Żerelik, Rościsław: Najstarszy kopiarz książąt oleśnickich i kozielsko-bytomskich. Wrocław 2012 (Acta Universitatis Wratislaviensis. Historia 185).

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Auch die Geschichtsschreiber der Frühen Neuzeit, wie schon ihre mittelalterlichen Vorgänger, zitierten alte Urkunden oder stellten sie sogar in besonderen Publikationen zusammen, wie es der prominente Barockdichter Andreas Gryphius 1635 mit den Privilegien des Fürstentums Glogau tat. Nach dem Dreißigjährigen Krieg weckten die gerichtlichen bella diplomatica im römisch-deutschen Reich sowie die kritischen Forschungen gelehrter Mönche wie Daniel Papebroch und Jean Mabillon, die die ältere Hagiographie aufgrund von Urkunden zu überprüfen suchten, ein wachsendes Interesse an alten Diplomen und Dokumenten, in denen man immer häufiger nicht nur bloße ­Rechtstitel, sondern ganz allgemein auch wichtige Zeugnisse der Vergangenheit erkannte. Das 18. Jahrhundert war dann europaweit von einer regelrechten Faszination für alte Urkunden gekennzeichnet. Dem Zeitgeist von Aufklärung und Rationalismus entsprechend, war man bestrebt, sie nach den Grundsätzen der artis diplomaticae ­Mabillons zu erforschern und zu analysieren. Der deutsche Historiker Johann ­Christoph Gatterer schließlich machte die „Diplomatik“ zum Bestandteil seines Kanons der historischen Hilfswissenschaften und erhob sie damit zur akademischen Disziplin.5 Dieses lebendige Interesse an Urkunden war naturgemäß auch in Schlesien spürbar. Das schlesische Urkundenmaterial war bereits in großen Sammlungen präsent, die Johann Christian Lünig (Teutsches Reichsarchiv, 24 Bände, 1710–1722; Codex Germaniae diplomaticus, 2 Bände, 1733), der Hallenser Professor Johann Peter (von) Ludewig (Reliquiae manuscriptorum, 12 Bände, 1720–1741) oder auch Jean Du Mont (Corps universel diplomatique du droit de gens, 1726) herausgegeben hatten. Am systematischsten ging Ludewig vor, der in seine Sammlung ein Diplomatarium Bohemicum et Silesiacum sowie ein spezielles Diplomatarium Grissowiense (mit Urkunden des Klosters Grüssau) mit aufnahm, wobei er nicht nur erhaltene Originale, sondern auch Abschriften aus verschiedenen Büchern benutzte. Immer häufiger wurden aber auch einheimische, also schlesische Urkundenfreunde aktiv. Der wichtigste von ihnen war der Breslauer Bürgermeister Friedrich Wilhelm von Sommersberg. Sein monumentales Werk Silesiacarum rerum scriptores (3 Bände, 1729–1732) enthielt neben einer Sammlung alter Chroniken und eigener Abhandlungen des Verfassers auch hunderte von Urkunden, die freilich ohne nachvollziehbare Systematik – „im chaotischen Durcheinander“,6 wie später Colmar Grünhagen formulierte – zusammengetragen worden waren. Offensichtlich hatte Sommersberg einfach alles zum Druck gegeben, was er an verschiedenenen Orten gefunden hatte und was ihm wertvoll erschienen war. Dennoch verfolgte sein Werk immerhin ein wissenschaftliches Ziel. Dagegen definierte der Domänenrat Anton Balthasar Walther seine Sammlung explizit als ein „Verzeichnis der früher gedruckten schlesischen diplomum, 5 Dorna, Maciej: Mabillon und andere. Die Anfänge der Diplomatik. Wiesbaden 2019; polnisch u. d. T.: Mabillon i inni. Rzecz o początkach dyplomatyki. Poznań 2014. 6 Grünhagen: Wegweiser, III. Eine präzise Zusammenstellung der bei Lünig, Ludewig, Du Mont, Sommersberg und anderen Gelehrten publizierten Urkunden bietet Zíbrt, Čeněk: Bibliografie české historie, Bd. 2. Praha 1902.

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privilegiorum und anderen Urkunden“7 und betrachtete es lediglich als Hilfsmittel für die neue preußische Verwaltung. Beide Ansätze – der gewissermaßen praktische und der wissenschaftliche – hatten ihre Begründung, war die Urkunde selbst doch immer zugleich Rechtszeugnis wie auch historische Quelle. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden daher nicht nur eine großangelegte, von dem Beamten und Dichter Johann Ehrenfried Böhme8 vorbereitete Edition mit Texten von rechtsgeschichtlicher Bedeutung (Diplomatische Beyträge zur Untersuchung der schlesischen Rechte und Geschichte, 2 Bände, 1770–1775), sondern in immer größerer Zahl auch kleinere Sammlungen. Sie bezeugen, dass die Veröffentlichung alter Urkunden nun regelrecht zu einer Modeerscheinung wurde. Johann Gottlieb Drescher betrachtete diese Arbeit als seine „Nebenstunden“ und erklärte, er verfolge das Ziel, die „Geschichte Schlesiens in ihr völliges Licht zu setzen“,9 obwohl er eigentlich gänzlich rohes Material vorlegte. In ganz ähnlicher Weise schrieb Siegismund Justus Ehrhardt: „In unsern aufgeklärten Tagen geben sich die Gelehrten des gesegneten Schlesiens große Mühe, um die Geschichte und Rechte ihrer Vorältern in ein helles Licht zu setzen.“10 Ganz im Gegensatz zu Drescher versah Ehrhardt die zusammengetragenen Urkunden aus der Gegend von Steinau (wo er als Pastor fungierte) mit ausführlichen und gelehrten Kommentaren. Damit kann Ehrhardt als der eigentliche Vater der schlesischen diplomatischen Forschung gelten – noch bevor der Göttinger Historiker Johann Christoph Gatterer seinen Studenten die Grundsätze der Diplomatik als festen Bestandteil des historischen Curriculums einprägte.11 Die Gründlichkeit Ehrhardts war zu jener Zeit noch die Ausnahme, aber Urkunden wurden von allen benutzt, die sich mit der Geschichte des Landes beschäftigten. Als herausgehobene Beispiele zu nennen sind Johannes Sinapius, dessen Wappenbuch des schlesischen Adels (Schlesische Curiositäten, 2 Bände, 1720–1728) sich auf eine Vielzahl von Dokumenten stützte, obwohl diese im Volltext nicht wiedergegeben waren, ferner Samuel Benjamin Klose, der in seiner problemorientierten Geschichte von Breslau (Von

17 Walther, Anton Balthasar: Silesia diplomatica oder Verzeichnüß derer gedruckten schlesischen diplomatum, privilegiorum, Landesgesetze, Statuten, päbstlichen Bullen, oberamtlichen Patenten, gerichtlichen Bescheide, Beschlüsse, Gutachten, rechtlichen Ausführungen, Beschwernüsse, Vergleiche, Friedenschlüsse und anderer zur schlesischen Historie und Rechtsgelahrsamkeit gehörigen Uhrkunden und Nachrichten, Bd. 1–2. Breslau 1741–1742, hier Bd. 1, 19–21 (Vorrede). 18 Johann Ehrenfried Böhmes Bruder Johann Gottlob war Professor für Geschichte in Leipzig und kursächsischer Hofrat beziehungsweise Hofhistoriograph. Vgl. Meusel, Johann Georg: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 gestorbenen teutschen Schriftsteller, Bd. 1. Leipzig 1802, 467f. 19 Drescher, Johann Gottlieb: Schlesisch diplomatische Nebenstunden. Breßlau 1774, Vorrede (unpaginiert). 10 ������������������������������������������������������������������������������������������ Ehrhardt, Siegismund Justus: Neue Diplomatische Beyträge zur Erläuterung der alten Niederschlesischen Geschichte und Rechte, Stück 1–5. Breßlau 1773–1774, hier Stück 1, Einleitung (unpaginiert). 11 Meusel, Johann Georg: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 gestorbenen teutschen Schriftsteller, Bd. 3. Leipzig 1804, 49–52.

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Breslau. Dokumentirte Geschichte und Beschreibung in Briefen, 3 Bände, 1781–1783)12 wiederholt Urkunden zitierte, sowie Johann Gottlob Worbs, Pastor in Priebus, der seine Abhandlungen zur regionalen Geschichte (Archiv für die Geschichte Schlesiens, der Lausitz und zum Theil vom Meißen, 1798; Neues Archiv für die Geschichte Schlesiens und der Lausitz, 2 Bände 1824) großzügig mit Urkundenanhängen ausstattete. In den genannten Fällen handelte es sich jeweils um großangelegte, wenn auch recht willkürlich konstruierte Sammlungen, die thematisch in regionaler oder systematischer Hinsicht beschränkt waren. Ihnen gemeinsam blieb die Zufälligkeit des herangezogenen Materials, die Nachlässigkeit bei der Wiedergabe der Texte und das Fehlen jeder kritischen Methodik (wobei immerhin Ehrhardt seiner Zeit ein Stück weit voraus war). Die Leistungen dieser Pioniere der Diplomatik sind für die heutige Forschung dennoch keineswegs wertlos, weil ihre Editionen für einzelne Urkunden die einzige Überlieferung bilden.

3. Diplomatische Editionen in Schlesien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Einen generellen Wandel im wissenschaftlichen Umgang mit Urkunden brachte erst der große Umbruch zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit sich.13 Der nach den Befreiungskriegen aufblühende Geist des Nationalismus und der Romantik führte in ganz Deutschland zu einer Hinwendung zur Vergangenheit, vor allem zu der fern und geheimnisvoll erscheinenden Zeit des Mittelalters. Sinnfälliger Ausdruck dieser Tendenz war 1819 die Begründung der Monumenta Germaniae Historica im Dienst der „heiligen Vaterlandsliebe“. Im Preußen der Reformzeit bemühte die Staatsgewalt sich darum, auf der Grundlage der neuen Provinzeinteilung eine regionale Identität der Untertanen zu schaffen oder zu vertiefen, wobei der Landesgeschichte und der Förderung ihrer Erforschung eine besondere Bedeutung zukam.14 In Schlesien konzentrierte sich die landesgeschichtliche Forschung an der 1811 gegründeten Universität Breslau. Ihre maßgebliche Basis war zunächst das Provinzialarchiv, das offiziell 1812 ins Leben gerufen wurde, faktisch aber bereits seit 1810 bestand. Eine seiner Hauptaufgaben war es, die archivalischen Nachlässe der aufgelösten geistlichen und weltlichen Institutionen in staatliche Fürsorge zu übernehmen. Den

12 Zu Autor und Werk vgl. Harc, Lucyna: Samuel Beniamin Klose (1730–1798). Studium historiograficzno-źródłoznawcze. Wrocław 2002 (Acta Universitatis Wratislaviensis. Historia 157). 13 Menzel, Josef Joachim: Die Anfänge der kritischen Geschichtsforschung in Schlesien zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Festschrift Ludwig Petry, Tl. 2. Wiesbaden 1969 (Geschichtliche Landeskunde 5), 245–267. 14 Johanek, Peter: Territoriale Urkundenbücher und spätmittelalterliche ­Landesgeschichtsforschung. In: Irgang, Winfried/Kersken, Norbert (Hg.): Stand, Aufgaben und Perspektiven territorialer Urkundenbücher im östlichen Mitteleuropa. Marburg 1998 (Tagungen zur OstmitteleuropaForschung 6), 5–21.

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ursprünglichen Kern des Breslauer Archivs (das erst seit 1867 offiziell als Staatsarchiv fungierte) bildeten die Dokumente aus den schlesischen Klöstern, deren Kassation man 1810 beschlossen hatte; hinzu kamen seit 1821 die Bestände der alten Fürstentümer beziehungsweise Standesherrschaften sowie – als Deposita – der Städte und der Landesgüterverwaltung.15 Weiterhin eigenständig verwahrt wurden hingegen die umfangreichen Bestände Breslaus und weiterer größerer Städte, die zum Kern der neu eingerichteten Stadtarchive wurden. Auch das alte Breslauer Domarchiv blieb selbständig. Die Konzentration der bisher an vielen Orten verstreuten Bestände, ihre Übergabe unter die Obhut professioneller Archivare und die Anerkennung ihres öffentlichen Charakters (was freien Zugang implizierte) bedeuteten einen grundlegenden Umbruch bei der Benutzung des Urkundenmaterials. Das Breslauer Staatsarchiv wurde seitdem nicht nur zur größten Schatzkammer der alten Dokumente, sondern auch zum Zentrum der auf diese Quellen gestützten historischen Forschung. Von Beginn an existierte das Bewusstsein, dass eine der wichtigsten Aufgaben des Archivs die Publikation dieser Quellen sein musste. Wenn es schon das Bestreben der Pioniere der Diplomatik im 18. Jahrhundert gewesen war, möglichst jede einzelne neu aufgefundene Urkunde „ins Licht zu bringen“, wie man damals schrieb, so musste die Faszination angesichts der Masse des im Breslauer Staatsarchiv verwahrten Materials dieses Bestreben noch zusätzlich befördern. Schon der erste Archivar, Johann Gustav Gottlieb Büsching, ein Jurist und Beamter, aus Passion aber auch Sprachwissenschaftler, Volkskundler und romantischer Literat,16 begann mit der Publikation der Urkunden der Piasten, obwohl er dabei über zwei schmale Hefte mit Klosterurkunden (aus Sagan und Leubus) nicht hinausgelangte.17 15 Krusch, Bruno: Geschichte des Staatsarchivs zu Breslau. Leipzig 1908 (Mitteilungen der k. preußischen Archivverwaltung 12); Żerelik, Rościsław: Das „Königliche Akademische Provinzialarchiv“ zu Breslau. Geschichtspflege im Spiegel der Organisation des schlesischen Archivwesens im 19. Jahrhundert. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 381–392. 16 Hałub, Marek: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829. Ein Beitrag zur Begründung der schlesischen Kulturgeschichte. Wrocław 1997 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1978); Bluhm, Lothar: Johann Gustav Gottlieb Büsching – ein „Dilettant“ im Streitgefüge der frühen Deutschen Philologie. Eine Fallstudie. In: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska Republika Uczonych – Schlesische Gelehrtenrepublik – Slezská vědecká obec, Bd. 1. Wrocław 2004, 355– 380; Kersken, Norbert: Die Begründung institutionalisierter landesgeschichtlicher Forschung im frühen 19. Jahrhundert: Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829) im Kontext der zeitgenössischen schlesischen Historiographie. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert. Wien/ Köln/Weimar 2019 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 28), 131–158. 17 Büsching, Johann Gustav: Urkunden der Piasten in Schlesien, Bd. 1: Aus dem Augustinerstift zu Sagan. Breslau 1812; ders.: Die Urkunden des Klosters Leubus. Breslau 1821. Zu erwähnen ist noch eine Abhandlung, mit Zusammenstellung von Notariatsformeln und Abbildung von No-

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In ihrer engen thematischen Beschränkung unterschieden sich seine kleinen Editionen zwar von den entsprechenden Werken seiner Vorgänger, blieben wie diese aber fragmentarisch und unzuverlässig. Als Quelleneditor bewährte sich Büsching nicht. Sein Verdienst bleibt dagegen die dauerhafte Sicherung der archivalischen Bestände, und dies nicht nur im rein materiellen Sinn. Für sein Archiv verstand es Büsching, begabte und fleißige Mitarbeiter zu gewinnen, die sich bei der Inventarisierung der gesammelten Dokumente große Verdienste erwarben. Ein Muster für die Bearbeitung von Regesten (unter Verwendung der Fragmente des Originaltextes) hatte bereits der erwähnte Johann Gottlob Worbs ausgearbeitet. Auf diese Vorarbeiten konnte Johann Karl Friedrich Jarick weiter aufbauen. Jarick war seit 1816 im Archiv angestellt und vermochte es, obwohl er gleichzeitig sein Jurastudium fortsetzte (bis zur Promotion 1819), während seiner sechsjährigen Archivtätigkeit nicht weniger als 22.000 Urkunden zu regestrieren, was einem beachtlichen Durchschnitt von zehn Urkunden pro Tag entspricht. Als Beispiel für diesen enormen Fleiß kann die Tatsache dienen, dass Jarick einen großen Bestand der Breslauer Elbingabtei (mit 5.172 Schriftstücken) in lediglich sieben Monaten (zwischen November 1820 und Mai 1821) bearbeitet hatte, wobei er sich zwischendurch noch mit einigen ­anderen, kleineren Beständen beschäftigte.18 Das sogenannte Jarick-Repertorium (an dem allerdings auch andere Kollegen und Fortsetzer Jaricks Anteil hatten) ist heute seiner Übersichtlichkeit wegen von unschätzbarem Wert, zumal viele der darin beschriebenen Originale während des Zweiten Weltkriegs verschollen sind. Es ist kein Geheimnis, dass manche Forscher noch heute eher den „Jarick“ benutzen als nach den Originalen selbst zu greifen, weshalb das Werk, obwohl eigentlich nicht zur Publikation bestimmt, in ­einer vollständigen Aufzählung schlesischer Urkundeneditionen Berücksichtigung finden muss. Entsprechend ist eine Veröffentlichung dieses Werkes, und sei es in digitalisierter Form, nach wie vor ein dringliches Postulat. Der von Natur aus offenkundig zänkisch veranlagte Büsching musste, nachdem er sich sowohl mit seinen Vorgesetzten als auch mit seinen Mitarbeitern entzweit hatte, 1825 das Breslauer Archiv verlassen. Einer dieser Mitarbeiter, Gustav Adolf Harald Stenzel, der seit 1820 zudem den Lehrstuhl für Geschichte an der Universität innehatte, wurde dann auch sein Nachfolger. Stenzel prägte die Breslauer Geschichtswissenschaft noch für annähernd drei Jahrzehnte.19 Sein wissenschaftliches Œuvre – darunter eine zweibändige

tariatszeichen: ders.: De signis seu signetis notariorum veterum in Silesiacis tabulis. Vratislaviae 1820. 18 Stelmach, Roman: Spuścizna archiwalna klasztoru premonstratensów Św. Wincentego we Wrocławiu. In: Okólska, Halina/Głowiński, Tomasz (Hg.): Przedmieście Odrzańskie we Wrocławiu. Wrocław 2014, 33–42. 19 Rachfahl, Felix: Gustav Adolf Harald Stenzel. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 19.  Jahrhunderts. Breslau 1922 (Schlesische Lebensbilder 1), 298–305; Schmilewski, Ulrich: Neue Forschungsmethode, neue Organisationsstrukturen: Zur wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit des Historikers Gustav Adolf Harald Stenzel (1792–1854) an der Universität Breslau. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 159–171.

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Geschichte Deutschlands unter den fränkischen Kaisern (1827) sowie eine fünfbändige Geschichte des preußischen Staates (1830–1854) – ist ebenso bemerkenswert wie sein außerwissenschaftliches Engagement als Freiwilliger des Befreiungskrieges von 1813, als Verfechter liberaler Ideen und schließlich als Abgeordneter der Frankfurter Paulskirche 1848/49. Sein Name bleibt aber vor allem mit Schlesien verbunden: Zurecht gilt Stenzel als der eigentliche Begründer der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung des Oderlandes.20 Stenzel war nicht nur außerordentlich fleißig und mit organisatorischem Geschick ausgestattet, sondern auch überaus energisch und ideenreich. Der 1846 gegründete Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens geht weitgehend auf seine Initiative zurück. Zudem begann Stenzel eine seinerzeit bahnbrechende und auch heute noch lesenswerte Geschichte Schlesiens, von der er allerdings nur den 1853 erschienenen, bis zum Jahr 1355 reichenden ersten Band abzuschließen vermochte. Vor allem aber edierte Stenzel Quellen. In einigen Bänden der Reihe Scriptores rerum Silesiacarum (deren Titel an die Tradition von Sommersberg anknüpfte) publizierte er grundlegende Werke der mittelalterlichen Geschichtsschreibung – wobei er mit dem fünften und letzten Band, der Aktenstücke, Berichte und andere Beiträge zur Geschichte Schlesiens seit der preußischen Eroberung des Oderlandes 1740/41 enthielt, bis in die Zeitgeschichte ausgriff. Urkunden publizierte Stenzel zwar nach einer etwas altmodischen Methode, indem er sie nach bestimmten Themen auswählte,21 doch geriet seine Auswahl aus dem umfangreichen Material, anders als bei seinen Vorläufern, niemals zufällig. Sie folgte vielmehr klaren Überlegungen und mit Blick für das Wesentliche. Zudem waren seine Editionen stets von umfangreichen historischen Einführungen begleitet. Auch wusste Stenzel den hohen Wert mittelalterlicher Amtsbücher richtig einzuschätzen; eines von ihnen, das wichtige Landbuch des Fürstentums Breslau, gab er mit reichhaltigen Kommentaren versehen heraus.22 In methodischer Hinsicht waren Stenzels Editionen, die nicht nur einen sorgfältig rekonstruierten Text, sondern auch erschöpfende ergänzende Anmerkungen, eine genaue Angabe der archivalischen Signatur, eine Beschreibung des Originals und des zugehörigen Siegels sowie ein abschließendes 20 Markgraf, Hermann: Die Entwicklung der schlesischen Geschichtsschreibung. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 22 (1888) 1–24, hier 19: „Man kann Stenzel als den eigentlichen Begründer des wissenschaftlichen Studiums der schlesischen Geschichte bezeichnen.“ 21 Stenzel, Gustav Adolf/Tzschoppe, Gustav Adolf (Hg.): Urkundensammlung zur Geschichte des Ursprungs der Städte und der Einführung und Verbreitung deutscher Kolonisten und Rechte in Schlesien und der Oberlausitz. Hamburg 1832; Stenzel, Gustav Adolf (Hg.): Urkunden zur Geschichte des Bisthums Breslau im Mittelalter Breslau 1845; ders.: Codex epistolaris. In: ders. (Hg.): Scriptores rerum Silesiacarum, Bd. 2. Breslau 1839, 462–487. Vgl. auch ders. (Hg.): Liber fundationis claustri sanctae Mariae virginis in Heinrichow, oder Grüdungsbuch des Klosters Heinrichau. Breslau 1854 (mit Urkundenanhang, 147–212). 22 Stenzel, Gustav Adolf (Hg.): Das Landbuch des Fürstenthums Breslau. In: Uebersicht der Arbeiten und Veränderungen der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Kultur 1842. Breslau 1843, 48–141.

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Register boten, etwas völlig Neuartiges. Mit dem Geschichtsverein schuf Stenzel darüber hinaus eine feste institutionelle Basis, was die Organisation und Finanzierung historischer Forschung und Editionsarbeit über mehrere Generationen hinweg sicherstellte.23

4. Systematisierungsbestrebungen: Die Anfänge des Codex diplomaticus Silesiae Nach Stenzels Tod 1854 wurden sein Lehrstuhl wie auch der Vereinsvorsitz von Richard Roepell, bekannt durch seine vielgerühmte Geschichte Polens, übernommen; als Direktor des Archivs folgte Stenzel der junge Wilhelm Wattenbach nach.24 Von seiner Ausbildung her war Wattenbach eigentlich Philologe, als Mitglied des Kreises der „Monumentisten“, der Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica, aber bereits ein erfahrener Forscher. Mit einer Dissertation über das berühmte Privilegium maius (1852) hatte sich Wattenbach in der Fachwelt auch jenseits der österreichischen Landesgrenzen einen Namen gemacht. Sein Weggang aus Wien hatte nicht zuletzt mit seiner aktiven Teilnahme an der im Oktober 1848 gewaltsam niedergeschlagenen Revolution zu tun. Wattenbachs Breslauer Amtzeit war zwar relativ kurz – 1862 folgte er einem Ruf nach Heidelberg, später dann nach Berlin –, ist aber mit bedeutenden Leistungen verbunden. Von der Veröffentlichung seines Lebenswerks (Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, 1858) abgesehen, initiierte er gemeinsam mit Roepell das Vereinsorgan Zeitschrift für Geschichte und Alterthum Schlesiens (dessen erster Band 1855 erschien) und begann ferner mit der Herausgabe eines Codex diplomaticus Silesiae. Ideen hierzu hatte bereits Stenzel entwickelt, der aber lediglich an zweibändige Selecta gedacht hatte – wobei der erste Band ausgewählte Urkunden zur Kirchengeschichte, der zweite „Urkunden, die die Grundlagen der Staats-, Fürsten- und Territorial-Rechte betreffen“, enthalten sollte. Wattenbach verwarf dieses ältere Konzept, da er sich nicht auf eine Auswahl beschränken, sondern möglichst den gesamten Urkun-

23 Markgraf, Hermann: Der Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens in den ersten fünfzig Jahren seines Bestehens. Breslau 1896; Kessler, Wolfgang: Der Verein für Geschichte (und Altertum) Schlesiens und seine Veröffentlichungen. In: ders.: Zeitschrift des Vereins für Geschichte (und Altertum) Schlesiens. Schlesische Geschichtsblätter. Gesamtinhaltsverzeichnis. Hannover 1984 (Schlesische Kulturpflege. Schriftenreihe der Stiftung Schlesien 1), V–XXII; Schellakowsky, Johannes: „Soll aber Schlesien noch länger zurück­bleiben?“ Zur Gründungsgeschichte und weiteren Entwicklung des Vereins für Geschichte Schle­siens bis 1945. In: Schellakowsky, Johannes/Schmilewski, UIrich (Hg.): 150 Jahre Verein für Geschichte Schlesiens. Würzburg 1996 (Einzelschriften des Vereins für Geschichte Schlesiens 2), 9–58; Kersken, Norbert: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung. Der „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 87–120. 24 Rodenberg, Carl: Art. Wattenbach, Wilhelm. In: Allgemeine deutsche Biographie 44 (1898) 439–444; Grünhagen, Colmar: Wattenbach in Breslau 1855–1862. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 32 (1898) 345–358.

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denbestand erfassen wollte. Er selbst hielt es hingegen für das Beste, alle bekannten Urkunden – nach dem Vorbild des kurz zuvor veröffentlichten Urkundenbuchs für die Oberlausitz25 – in einer chronologisch geordneten Reihe zusammenzustellen. Da die Sammlung und Bearbeitung des umfangreichen Materials indes nur langsam vonstatten ging, musste dieses Konzept auf ein Langzeitprojekt hinauslaufen, wobei zudem mit der fortwährenden Einarbeitung notwendiger Ergänzungen zu rechnen war. Als Ausweg und Alternative schwebte Wattenbach die Edition einzelner Archivbestände vor, also kompletter Urkundengruppen für bestimmte Klöster oder Städte, wobei ein chronologisches Gesamtverzeichnis die einzelnen Editionen miteinander verklammern sollte. Die zentrale Basis dieses Vorhabens sollte das Breslauer Provinzialarchiv sein, zur Mitarbeit wurden aber alle Forscher eingeladen, die an den verschiedenen Orten das Urkundenmaterial auf eigene Faust zusammentrugen.26 Wie sinnvoll dieser Ansatz war, zeigt sich daran, dass Wattenbach während verhältnismäßig kurzer Zeit den so konzipierten Codex in Gang zu bringen vermochte. Er selbst bereitete vier Bände vor, die die Urkunden der oberschlesischen Klöster (1857, 1859) sowie wertvolle Kopialbücher (1862, 1865) enthielten. Hinzu kamen die von dem jungen Archivar Colmar Grünhagen bearbeiteten Breslauer Stadtrechnungen (1860) sowie die Urkunden der schlesischen Dörfer (1863), deren Edition eigentlich auf eine mit umfangreichem Quellenanhang versehene Abhandlung des Geographen August Meitzen zurückging.27 Die Wattenbach zuzuschreibenden ersten sechs Bände (einige dieser Bände erschienen allerdings erst nach seinem Weggang von Breslau) wirken in ihrer Zusammenstellung recht zufällig. Es hat den Anschein, als habe man das neu in Angriff genommene Unternehmen möglichst rasch mit leicht greifbaren Materialien aufzufüllen versucht. In ähnlicher Weise waren seinerzeit auch andere regionale Urkundensammlungen aufgebaut. So vermischte Adolph Friedrich Riedel in seinem 1838 begonnenen Codex diplomaticus Brandenburgensis (mit dem charakteristischen Untertitel Sammlung der Urkunden, Chroniken und sonstigen Geschichtsquellen zur Geschichte der Mark Bran25 Köhler, Gustav (Hg.): Codex diplomaticus Lusatiae Superioris. Sammlung der Urkunden für die Geschichte des Markgrafthums Ober-Lausitz, Bd. 1. Görlitz 21856 [11851]. 26 ������������������������������������������������������������������������������������� Wattenbach, Wilhelm: Bericht über die Arbeiten zur Sammlung schlesischer Urkunden-Regesten. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 2 (1858) 182–197 (über Stenzels Vorschläge ebd., 183f.); Roepell, Richard: Einführung. In: Codex diplomaticus Silesiae, Bd. 1. Breslau 1857, V–VI. 27 ��������������������������������������������������������������������������������������� Wattenbach, Wilhelm (Hg.): Urkunden des Klosters Czarnowanz. Breslau 1857 (Codex diplomaticus Silesiae 1); ders. (Hg.): Urkunden der Klöster Rauden und Himmelwitz, der Dominikaner und Dominikanerinnen in der Stadt Ratibor. Breslau 1859 (Codex diplomaticus Silesiae 2); Grünhagen, Colmar (Hg.): Henricus Pauper, Rechnungen der Stadt Breslau von 1299– 1358. Breslau 1860 (Codex diplomaticus Silesiae 3); Meitzen, August (Hg.): Urkunden der schlesischen Dörfer. Breslau 1863 (Codex diplomaticus Silesiae 4); Wattenbach, Wilhelm (Hg.): Das Formelbuch des Domherrn Arnold von Protzan. Breslau 1862 (Codex diplomaticus Silesiae 5); Wattenbach, Wilhelm/Grünhagen, Colmar (Hg.): Registrum St. Wenceslai. Urkunden vorzüglich zur Geschichte Oberschlesiens nach einem Copialbuch Herzog Johanns von Oppeln und Ratibor. Breslau 1865 (Codex diplomaticus Silesiae 6).

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denburg) verschiedene Sachebenen, ohne dabei klare Kategorien in gesonderten Bänden zu gruppieren. Eine vergleichbare Strukturierung wiesen auch andere Editionen auf, etwa das Werk Westfälisches Urkundenbuch (seit 1847) oder die Reihe Thüringische Geschichtsquellen (seit 1854), wobei in dem zuletzt genannten Werk eine noch größere Vielfalt herrschte.28 Überall wollte man mit der Veröffentlichung der alten Urkunden beginnnen, nirgendwo aber hatte man ausreichende personelle Ressourcen zur Verfügung, um sofort eine systematische und komplexe Edition ins Werk zu setzen. Dem schlesischen Codex inhaltlich am ähnlichsten war der fast zeitgleich (seit 1864) begonnene Codex diplomaticus Saxoniae Regiae. Von Beginn war geplant gewesen, diesen in drei Reihen zu gliedern: a) Herrscherurkunden, b) Urkunden der einzelnen Städte und Klöster sowie c) Urkunden der Kleinstädte und Adelsgeschlechter.29 Verwirklicht wurden nur die zwei ersten Teile des Projekts. Obwohl das Ergebnis im Fall Schlesien ähnlich ausfiel, ist doch zu unterstreichen, dass Wattenbach kein derart präzisiertes Konzept verfolgte. Die editorische Methode Wattenbachs, wenn man sie so nennen will, knüpfte an die vielerorts geführte Diskussion an und entsprach letztlich dem, was gemeinhin als Kanon angenommen wurde.30 Die Urkunden stellte man immer in eine chronologische Ordnung und stattete sie mit Kopfregesten, einer Beschreibung des Originals, Angabe der archivalischen Signatur sowie gegebenenfalls (zum Teil besonders wichtig) mit einem Kommentar über die Echtheit aus, verzichtete grundsätzlich jedoch auf detaillierte Bemerkungen zum Inhalt – die sonst leicht den Charakter gesonderter Abhandlungen hätten annehmen können. Das wichtigste Element, das die folgenden Codex-Bände begleiten sollte, war das von Wattenbach angekündigte chronologische Urkundenverzeichnis. Die Idee, eine solche Liste zu erstellen, knüpfte an eine schon ältere Tradition an – zu erinnern ist an das Vorhaben Anton Balthasar Walthers, der bereits 1741 alle bekannten schlesischen Urkunden hatte auflisten wollen31 –, wurde nun aber methodisch weiterentwickelt. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen editorischen Praxis war die Chronologie das geeignetste Mittel, die gewaltige Menge an Quellen, die im Volltext nur schwer zu edieren war, ­gleichsam beherrschbar zu machen. Die Entwicklung der Editionen im deutschsprachigen Raum verlief im 19. Jahrhundert von den Regesta chronologico-diplomatica regum atque imperatorum Romanorum Johann Friedrich Böhmers (1831) über dessen bereits weiter vervollkommnete Edition Regesta Imperii (seit 1844) bis hin zum 28 Johanek: Territoriale Urkundenbücher, 11–13. 29 ������������������������������������������������������������������������������������������ Werner, Matthias: „Zur Ehre Sachsens“. Geschichte, Stand und Perspektiven des Codex diplomaticus Saxoniae. In: Graber, Tom (Hg.): Diplomatische Forschungen in Mitteldeutschland. Leipzig 2005 (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 12), 261–301. 30 Waitz, Georg: Wie soll man Urkunden edieren? In: Historische Zeitschrift 4 (1860), 438–448. Zur Entwicklung der Urkundeneditionen vgl. Kölzer, Theo: Konstanz und Wandel. Zur Entwicklung der Editionstechnik mittelalterlicher Urkunden. In: Maleczek, Werner (Hg.): Urkunden und ihre Erforschung. Zum Gedenken an Heinrich Appelt. Wien 2014 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 62), 33–52, hier 33–35. 31 Vgl. Anm. 7.

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Standardwerk Diplomata regum et imperatorum Germaniae im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica (seit 1872). Auch in Böhmen nahm man zuerst ein Regestenwerk in Angriff – die Regesta historica nec non diplomatica Bohemiae et Moraviae (seit 1855). In eben diesem Geist entschied sich Wattenbach, die Schlesischen Regesten vorzubereiten, die in ihrer Konzeption und sogar in ihrer ursprünglich tabellarischen Form an das Werk Böhmers – der übrigens Ehrenmitglied des Breslauer Geschichtsvereins war – anknüpften. Wattenbach vermochte indes nur einen ersten Abschnitt zu bearbeiten, der bis zum Jahr 1123 reichte und daher vor allem Erwähnungen aus historiographischen Quellen enthielt.32 Bevor Wattenbach Breslau 1862 verließ, hatte er zahlreiche Projekte in Gang gesetzt. Um seine Nachfolge in der Archivdirektion in Breslau bewarb sich Theodor ­Sickel, der fraglos bestens qualifiziert war. Er kam jedoch nicht zum Zuge, da Wattenbach mit Colmar Grünhagen bereits einen seiner Mitarbeiter persönlich empfohlen hatte. Abgesehen davon, dass gewiss auch die Berufung Sickels für die Breslauer Geschichtswissenschaft mit vielfältigen Perspektiven verbunden gewesen wäre, erwies sich Grünhagen als glückliche Wahl. Der 1828 in Trebnitz geborene Grünhagen war – als der einzige der hier vorgestellten Breslauer Archivdirektoren – gebürtiger Schlesier, er hatte in Breslau studiert, war ein Schüler Stenzels und verband seine gesamte Karriere mit dem Oderland.33 Im Gegensatz zu seinen eher liberal gesinnten Vorgängern galt er als „wahrer Preuße“ und war, dem neuen Zeitgeist entsprechend, ein deutscher Nationalist. Grünhagen vereinigte in seiner Hand alle wichtigen Schaltstellen der schlesischen Historiographie: Zur Archivdirektion hinzu kamen schon bald die Redaktion der Breslauer Vereinszeitschrift (1864), die Berufung auf den neugeschaffenen Universitätslehrstuhl für Landesgeschichte und Hilfswissenschaften (1866) sowie schließlich der Vorsitz des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens (1871).

5. Die „Ära Grünhagen“ Bereits vor seiner Beförderung an die Spitze des Archivs hatte Grünhagen am Codex mitgearbeitet und sich so für dessen Fortführung empfohlen. Unter seiner Leitung verschoben sich aber offenkundig die Prioritäten. Zwar wurde noch alles gedruckt, was Wattenbach hinterlassen hatte, dann aber legte man eine Pause von mehreren Jahren ein. Diese Zeitspanne wurde zur Konzentration auf die Regesten genutzt. Gemeinsam 32 Wattenbach, Wilhelm: Schlesische Regesten bis zum Jahre 1123. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 4 (1862) 338–355. 33 Wendt, Heinrich: Colmar Grünhagen. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 17. bis 19. Jahrhunderts. Breslau 1928 (Schlesische Lebensbilder 3), 362–371; Rüther, Andreas: Borussische Geschichtsforschung zu Schlesien: Colmar Grünhagen (1828–1911) – Werdegang, Schuleinflüsse und Wirkungskreise. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 217–254.

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mit seinem Archivmitarbeiter Georg Korn legte Grünhagen 1864 zunächst die Regesta episcopatus Wratislaviensis vor, die ihrer Form nach an die Vorschläge Wattenbachs erinnerten. Das Werk war freilich nur eine Vorstufe zum geplanten gesamtschlesischen Regestenwerk, das kurz darauf in Angriff genommen wurde. Der erste Teil erschien ab 1868, bevor nach längerer Pause zwei weitere Teile folgten (1883, 1886) und zudem der erste Teil in verbesserter Fassung abermals aufgelegt wurde (1884). Der ursprüngliche Plan hatte freilich vorgesehen, das Werk bis zum Jahr 1355 heranzuführen; in den genannten drei Bänden hatte man allerdings nur das Material bis zum Ende des 13. Jahrhunderts zusammengetragen. Dabei überwogen die Urkunden (insgesamt 2.620), und ihnen galt auch die bevorzugte Aufmerksamkeit des Herausgebers, auch wenn man alle datierten chronikalischen Nachrichten sowie einige andere Quellen berücksichtigte. Als Ergänzungen sui generis zu den Regesten galten, auch in der Auffassung Grünhagens, gesonderte Publikationen der schlesischen Siegel und Grabdenkmäler.34 Das Werk hatte von Beginn an vor allem diplomatischen Charakter. In relativ kurzer Zeit war es gelungen, eine gewaltige Zahl an Urkunden zusammenzutragen, insbesondere in Breslauer Archiven, aber auch an anderen Orten in Schlesien und im benachbarten Ausland, in Prag, Wien und in Polen.35 Jede Urkunde wurde mit einer ausführlichen Zusammenfassung in deutscher Sprache versehen. Das entsprach dem Bedürfnis, das Material auch Laien zugänglich zu machen und damit zu popularisieren. Ergänzt wurden ferner die archivalische Signatur, gegebenenfalls frühere Veröffentlichungen und, falls nötig, Bemerkungen über den Inhalt, die Identifizierung der Ortsnamen und Fragen der Echtheit; Fälschungen wurden zwar berücksichtigt, aber durch kleineren Druck hervorgehoben und nicht nummeriert. Die Kommentare, die besonders für die ältesten Dokumente wichtig waren, fielen nach heutigen Maßstäben eher bescheiden aus; sie waren oft oberflächlich und teilweise sogar unzutreffend, obwohl in den Folgebänden eine Tendenz zu größerer Ausführlichkeit unverkennbar war. Sogar hinsichtlich der Identifizierung von Ortschaften beging der Herausgeber manchen unerklärlichen Fehler.36 Auch die Register ließen hier und da zu wünschen übrig, entsprachen aber den zeitgenössischen Standards des Editionshandwerks. 34 Schulz, Alvin: Die schlesischen Siegel bis 1250. Breslau 1871; Pfotenhauer, Paul: Die schlesischen Siegel von 1250–1300, beziehentlich 1327. Breslau 1879; Luchs, Hermann: Schlesische Fürstenbilder des Mittelalters. Breslau 1872. Vgl. Grünhagen: Wegweiser, 19, 21. 35 Exemplarisch vgl. Grünhagen, Colmar: Bericht über eine archivalische Reise nach Krakau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1868) 129–143; ders.: Eine archivalische Reise nach der Oberlausitz. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 10 (1870) 18–33, 237–238; ders.: Eine archivalische Reise nach Wien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 11 (1871) 25–35; ders.: Eine archivalische Reise nach London. In: Archivalische Zeitschrift 3 (1878) 220–245. 36 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Diese Fehler wurden vielfach genau benannt. Vgl. Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1874) 221–225 (Max Perlbach); Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 13 (1876) 275–276 (Wilhelm Häusler); Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 22 (1888) 352–353 (Heinrich Wendt); Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 25 (1891) 350–353 (Wilhelm Schulte); Zeitschrift

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Grünhagens Regesten wurden rasch zum Standardwerk der schlesischen Geschichtsschreibung. Dank der aufwendigen Suche der Archivare und des Einsatzes einer größeren Zahl an Mitarbeitern in der gesamten Provinz war es gelungen, fast alle Urkunden zu erfassen. Bis heute sind die Regesten in ihren jüngeren Teilen für die Forschung unersetzlich, während die älteren erst in der Nachkriegszeit durch das Schlesische Urkundenbuch überholt wurden. Sie reihen sich zwar in die ältere editorische Tradition der parallel erschienenen Regesta Bohemiae et Moraviae ein, setzten zugleich aber Standards für regionale Quelleneditionen. Zweifelsohne waren sie eines der Vorbilder für die von Otto Dobenecker herausgegebenen Regesta historica-diplomatica Thuringiae (seit 1895) und die von Hermann Krabbo verantworteten Regesten der Markgrafen von Brandenburg aus askanischem Hause (seit 1910).37 Die Konzentration aller Kräfte auf die Regesten hatte freilich die Einstellung anderer Initiativen im Rahmen des Codex zur Folge. Grünhagen gab zwar noch die Urkunden der Stadt Brieg heraus (1870), und sein Archivmitarbeiter Georg Korn schloss eine Urkundensammlung zur Gewerbe- und Zunftgeschichte ab (1868) – auf den folgenden Band (mit Urkunden des Klosters Kamenz) musste man indes elf Jahre, bis 1881, lang warten. Anschließend erschienen weitere Bände, erneut in größerer Regelmäßigkeit. Jetzt waren es vor allem thematische Sammlungen, die als Nebenprodukte der Forschungen Ferdinand Friedensburgs über Numismatik ­beziehungsweise Konrad Wutkes zur Wirtschaftsgeschichte gelten können.38 Entsprechend glichen manche Sammlungen eher Monographien mit Quellenanhang, die chronologisch bis ins Spätmittelalter und in die Frühe Neuzeit ausgriffen. Zu unterstreichen ist, dass man

des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 36 (1902) 458–461 (ders.); Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 40 (1906) 333–335 (Martin Treblin). 37 Dobenecker, Otto (Hg.): Regesta diplomatica necnon epistolaria historiae Thuringiae, Bd. 1. Jena 1896, XXII. Der Herausgeber berief sich direkt auf das schlesische Regestenwerk. 38 ������������������������������������������������������������������������������������������ Korn, Georg (Hg.): Schlesische Urkunden zur Geschichte des Gewerberechtes, insbes. des Innungswesens aus der Zeit vor 1400. Breslau 1867 (Codex diplomaticus Silesiae 8); Grünhagen, Colmar (Hg.): Urkunden der Stadt Brieg bis zum Jahre 1550. Breslau 1870 (Codex diplomaticus Silesiae 9); Pfotenhauer, Paul (Hg.): Urkunden des Klosters Kamenz. Breslau 1881 (Codex diplomaticus Silesiae 10); Markgraf, Hermann/Frenzel, Otto (Hg.): Breslauer Stadtbuch, enthaltend die Rathslinie von 1287 ab und Urkunden zur Verfassungsgeschichte der Stadt. Breslau 1882 (Codex diplomaticus Silesiae 11); Friedensburg, Ferdinand: Schlesiens Münzgeschichte im Mittelalter, Tl. 1–2. Breslau 1887–1888 (Codex diplomaticus Silesiae 12–13); Markgraf, Hermann/Schulte, Johann Wilhelm (Hg.): Liber fundationis erpiscopatus Vratislaviensis. Breslau 1889 (Codex diplomaticus Silesiae 14); Altmann, Wilhelm (Hg.): Acta Nicolai Gramis. Urkunden und Aktenstücke betr. die Beziehungen Schlesiens zum Baseler Konzil. Breslau 1890 (Codex diplomaticus Silesiae 15); Wutke, Konrad (Hg.): Die schlesische Oderschiffahrt in vorpreußischer Zeit. Breslau 1896 (Codex diplomaticus Silesiae 17); Friedensburg, Ferdinand: Schlesiens neuere Münzgeschichte. Breslau 1889 (Codex diplomaticus Silesiae 19); Wutke, Konrad (Hg.): Schlesiens Bergbau und Hüttenwesen, Tl. 1–2. Breslau 1900–1901 (Codex diplomaticus Silesiae 20–21); Friedensburg, Ferdinand: Schlesiens Münzgeschichte im Mittelalter. Ergänzungsband. Breslau 1904 (Codex diplomaticus Silesiae 23). Auf die Bände 16, 18, und 22 entfielen die Regesten zur schlesischen Geschichte.

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hier auch wichtige Bücher – exemplarisch sei hier der Liber fundationis episcopatus genannt – mit aufnahm. Was die Auswahl der Dokumente angeht, war hingegen nach wie vor keine einheitliche Leitidee erkennbar. Der Codex enthielt damit stets das, was die beteiligten Historiker mehr oder weniger zufällig zu liefern vermochten. Der führende Kopf des ganzen Unternehmens war fraglos Grünhagen, der aber vortreffliche Mitarbeiter für sein Archiv und damit für den Codex gewinnen konnte – den erwähnten Georg Korn (Archivar seit 1862, gefallen 1870 im deutsch-französischen Krieg) etwa, den prominenten Hermann Grotefend (Archivar in Breslau von 1870 bis 1874, dann in Aurich, Frankfurt am Main und Schwerin) und schließlich Konrad Wutke (seit 1889 im Breslauer Archiv tätig und später dort auch Direktor). Auch weiterhin blieben die Kräfte auf die Fortführung der Regesten konzentriert. Die fortan von Grünhagen und Wutke gemeinsam verantworteten Folgebände (1892, 1898, 1903) umfassten das erste Drittel des 14. Jahrhunderts (1301–1333). Wie die Herausgeber erklärten, fühlten sie sich zur weiteren Arbeit vor allem durch Appelle aus den Reihen des schlesischen Geschichtsvereins angespornt: An kaum einem Band des Codex bestehe ein derart hohes Interesse bei der Allgemeinheit als „an diesen zusammenfassenden Regestenbänden“.39 Geradezu symbolischen Rang gewann ein durchschossenes Exemplar der Regesten, in das alle Ergänzungen und Berichtigungen handschriftlich eingetragen wurden: Es wurde im Arbeitszimmer des Archivdirektors aufbewahrt und den jeweils folgenden Direktoren gewissermaßen als Insigne der Herrschaft über das schlesische Editionswesen übertragen. Dennoch war der Codex – trotz seiner Vielfältigkeit, mit der er eine Großzahl von Quellengattungen in sich aufnahm – nicht das einzige editorische Unternehmen schlesischer Historiker. Parallel belebte man Stenzels ältere Reihe Scriptores rerum Silesiacarum wieder. Sie war primär für historiographische Texte bestimmt, doch erschienen dort auch mehrere Bände „politischer Korrespondenz“ aus dem 15. Jahrhundert. Hierfür hatte sich namentlich Hermann Markgraf eingesetzt, der Direktor des Breslauer Stadtarchivs, aus dessen Bestand die edierten Briefe stammten.40 In dieselbe Reihe wurden auch zwei Bände mit Akten zur Geschichte der Schlesischen Kriege Friedrichs II. aufgenommen,41 was über die Epochengrenze des Mittelalters besonders weit hinausführte. Der Geschichtsverein in Breslau beschloss überdies, parallel zu dem auf das Mit39 Codex diplomaticus Silesiae, Bd. 16, VI. 40 ������������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar (Hg.): Geschichtsquellen der Hussitenkriege. Breslau 1871 (Scriptores rerum Silesiacarum 6); Markgraf, Hermann (Hg.): Politische Correspondenz Breslaus im Zeitalter Georgs von Podiebrad, Tl. 1–2. Breslau 1873–1874 (Scriptores rerum Silesiacarum 8–9); Kronthal, Berthold/Wendt, Heinrich (Hg.): Politische Correspondenz im Zeitalter des Königs Matthias Corvinus, Tl. 1–2. Breslau 1893–1894 (Scriptores rerum Silesiacarum 13–14). 41 ��������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar/Wachter, Franz (Hg.): Akten des Kriegsgerichts von 1758 wegen der Kapitulation von Breslau am 24. Nov. 1757. Breslau 1895 (Scriptores rerum Silesiacarum 15); ­Wachter, Franz (Hg.): Akten des Kriegsgerichts von 1763 wegen der Eroberung von Glatz 1760 und Schweidnitz 1761. Breslau 1897 (Scriptores rerum Silesiacarum 16).

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telalter fixierten Codex Akten und Korrespondenzen der schlesischen Stände aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges zu publizieren; die entsprechenden Bände erschienen in vergleichsweise regelmäßigen Abständen von fünf bis zehn Jahren.42 Die Beispiele zeigen, dass man sich des Bedarfs an Editionen auch von neuzeitlichen Quellen völlig bewusst war, auch wenn die Leistungen auf diesem Gebiet denen der Mediävistik doch deutlich nachstanden. Andererseits blieb die zweibändige Sammlung der wichtigsten Urkunden zur Geschichte der politischen Verfassung des Oderlandes, die auf Pläne, die bereits Stenzel gehegt hatte, zurückging, ganz auf das Mittelalter beschränkt.43 Die hierfür getroffene Dokumentenauswahl berücksichtigte dennoch alles, was für das Verständnis der territorialen Verhältnisse in Schlesien von zentraler Bedeutung war. Jenseits der in der Breslauer Zentrale betreuten großen Reihen kam es auch an anderen Orten Schlesiens zu selbständigen Veröffentlichungen, die von lokalen Kräften verantwortet wurden. Zahlreiche Geschichtsfreunde, die sich mit der Vergangenheit ihrer eigener Städte oder Kreise befassten, sammelten dabei Urkundenabschriften und gaben diese heraus. So fügte etwa Friedrich Minsberg seiner Geschichte Glogaus einen Anhang mit 45 Urkunden bei, die bis ins 18. Jahrhundert reichten.44 Als gesonderte Publikation erschienen zudem Urkunden zur Geschichte des Fürstentums Oels und zur Geschichte der schlesischen Juden.45 All diese Sammlungen folgten allerdings einer schon damals veralteten editorischen Tradition. Auf höherem Niveau standen spezielle Urkundensammlungen zur Geschichte Breslaus (vorbereitet von Georg Korn, jedoch nur in repräsentativer Auswahl) und besonders zur Geschichte von Liegnitz – diese verantwortete Friedrich Wilhelm von Schirrmacher, ein Schüler Leopold Rankes, der Professor an der Liegnitzer Ritterakademie war und später an die Universität Rostock wechselte.46 In beiden Fällen ist ein professionelles Vorgehen erkennbar. Gleiches gilt für die Edition der Urkunden und Regesten zur Geschichte Löwenbergs, die der örtliche Gymnasiallehrer Hermann Wesemann herausgegeben hatte.47 Hohe Würdigung ver42 Palm, Hermann (Hg.): Acta publica. Verhandlungen und Correspondenzen der schlesischen Fürsten und Stände, Bd. 1–4. Breslau 1865–1875; Krebs, Julius (Hg.): Acta publica. Verhandlungen und Correspondenzen der schlesischen Fürsten und Stände, Bd. 5–8. Breslau 1880–1906. 43 Grünhagen, Colmar/Markgraf, Hermann (Hg.): Lehns- und Besitzurkunden Schlesiens und seiner einzelenen Fürstenthümer im Mittelalter, Bd. 1–2. Leipzig 1881–1883. 44 Minsberg, Friedrich: Geschichte der Stadt und Festung Groß-Glogau. Glogau 1853, 113–264. 45 �������������������������������������������������������������������������������������������� Oelsner, Ludwig (Hg.): Schlesische Urkunden zur Geschichte der Juden im Mittelalter. In: Archiv für Kunde österreichischer Geschichts-Quellen 21 (1864) 57–144; Häusler, Wilhelm (Hg.): Urkundensammlung zur Geschichte des Fürestenthums Oels bis zum Aussterben der piastischen Herzogslinie. Breslau 1883. 46 Schirrmacher, Friedrich Wilhelm (Hg.): Urkundenbuch der Stadt Liegnitz und ihres Weichbildes bis zum Jahre 1455. Liegnitz 1863. 47 ���������������������������������������������������������������������������������������� Wesemann, Hermann: Urkunden der Stadt Löwenberg. In: Jahresbericht über das Realgymnasium zu Löwenberg in Schl. 15 (1885) 3–42, 17 (1887) 3–32; ders.: Regesten zur Geschichte der Stadt Löwenberg i. Schl. In: Jahresbericht über das Realgymnasium zu Löwenberg in Schl. 22 (1912) 4–50.

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dienen schließlich Franz Volkmer und Wilhelm Hohaus, zwei Lehrer aus Habelschwerdt beziehungsweise Glatz, die neben anderen Projekten für eine Reihe von Quelleneditionen verantwortlich zeichneten, in denen nicht nur Urkunden, sondern auch die ältesten Stadtbücher, Manngerichtsbücher und sogar neuzeitliche Synodalakten berücksichtigt wurden.48 Derartige Initiativen für ganz Schlesien vollständig zu erfassen, ist allerdings ausgesprochen schwierig. Darüber hinaus war es in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung allgemein geübte Praxis, in den Anmerkungen monographischer Darstellungen Urkundentexte wiederzugeben. Das wohl bekannteste Beispiel ist hier Johann Heynes große Breslauer Bistumsgeschichte:49 Die von Heyne zitierten Urkunden vollständig zusammenzustellen, wäre auch heute noch eine sinnvolle Aufgabe. Einzelne Urkundenstücke sind indes in vielen Monographien zu finden.50 Das betrifft auch die Artikel in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens, deren Redaktion bemüht war, publizierte Urkunden auf diese Weise zu regestrieren.51 In der Vereinszeitschrift publizierte man zudem gesonderte Quellenbeiträge in der speziell hierfür bestimmten Abteilung „Archivalische Miszellen“, wo nicht nur Urkunden zu finden waren, sondern auch ausgewählte Aufzeichnungen aus den Amts- oder Gerichtsbüchern, oftmals unter der Rubrik „Interessantes aus dem Stadtarchiv (den Stadtbüchern) von N.“52 Gelegentlich er48 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz, Bd. 1: Urkunden und Regesten zur Geschichte der Grafschaft Glatz bis zum Jahre 1400; Bd. 2: Urkunden und Regesten zur Geschichte der Grafschaft Glatz von 1401 bis 1450; Bd. 3: Constitutiones Synodi Comitatus Glacensis in causis religionis 1559. Die Dekanatsbücher des Christophorus Neaetius 1560 und des Hieronymus Keck 1631; Bd. 4: Das älteste Glatzer Stadtbuch 1324–1412; Bd. 5: Ältestes Glatzer Amtsbuch oder Mannrechtsverhandlungen 1346–1390. Habelschwerdt 1883–1891. Zum Hintergrund vgl. Ruchniewicz, Małgorzata: Institutionen und Protagonisten der Geschichtspflege im Glatzer Land vor 1914. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 229–243. 49 Heyne, Johann: Dokumentirte Geschichte des Bisthums unbd Hochstiftes Breslau, Bd. 1–3. ­Breslau 1860–1868. Unter den kirchengeschichtlichen Arbeiten ist ferner zu erwähnen Kastner, August: Archiv für die Geschichte des Bisthums Breslau, Bd. 1, 3. Neisse 1858–1863. Kastner gab darin die Auszüge aus den Protokollen des Domkapitels aus den Jahren 1518 bis 1649 heraus. Eine kritische Bewertung der Ausgabe bei Sabisch, Alfred (Hg.): Acta capituli Wratislaviensis, Bd. 1/1. Köln/Wien 1972, XXXV–XXXVI. 50 Vgl. exemplarisch Ziołecki, [Bolesław]: Geschichte der Stadt Guhrau 1300–1900. Guhrau 1900, 6f. (mit Abb.). 51 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens. Register 1–5 (1864) 78–82; Register 6–10 (1871) 118–122; Register 11–15 (1882) 115–118; Register 26–35 (1904) 225– 232. Ein Urkundenverzeichnis fehlt in den Registerbänden 16–25 (1894), 36–47 (1914), 48– 65 (1936). 52 Vgl. exemplarisch Neuling, Hermann: Mittheilungen aus Breslauer Stadtbüchern. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 4 (1862) 179–191; Grünhagen, Colmar: Protokolle des Breslauer Domkapitels. Fragmente aus der Zeit 1393 bis 1460. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 5 (1863) 118–159; Stobbe, Otto: Mittheilungen aus Breslauer Signaturbüchern. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 6 (1864) 335–356; 7 (1866) 176–191, 344–362; 8 (1867) 151–166, 438–453; 9

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schienen hier sogar umfangreichere Quellen, etwa Regestensammlungen oder Volleditionen von Formularbüchern.53 Besonders in den frühen Bänden der Zeitschrift waren solche Beiträge zahlreich, später wurden sie seltener. Bedeutendes Quellenmaterial enthielten überdies die im 19. Jahrhundert populären Geschichten einzelner Adelsgeschlechter. Neben einer genealogischen Darstellung war darin häufig ein Quellenteil mit Dokumenten zu finden, die in meist nur schwer zugänglichen Privatarchiven zusammengestellt worden waren. Ein solcher Anhang beschränkte sich jedoch meist auf Informationen zu einzelnen Personen und enthielt darüber hinaus häufig grobe Fehler.54 Solche Arbeiten, die überwiegend von Laien – meist Familienmitgliedern, unter ihnen zum Großteil pensionierte Offiziere – bearbeitet worden waren, entbehrten einer nachvollziehbaren Systematik oder Methodik, so dass ihr Wert für die Forschung bescheiden ist. Immerhin wurden der Nachwelt auf diese Weise auch einige im Original später verschollene Dokumente überliefert. Die Rahmenbedingungen änderten sich durch die wachsende Professionalisierung der Kirchengeschichtsschreibung. Ein wichtiger Impuls hierfür war 1896 der auf Initiative von Fürstbischof Kardinal Georg Kopp erfolgte Ausbau des Breslauer Diözesanarchivs zu einer Einrichtung mit wissenschaftlichen Aufgaben. Zum ersten Leiter des (1868) 165–181; 10 (1870) 192–196; Knoblich, Augustin: Ein Pestrecept des 15. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 8 (1867) 465; Lindner, ­Theodor: Aus dem Stadtarchive Jauer. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1868) 84–106; Grotefend, Hermann: Aus dem Zinsbuche der Stadt Groß-Glogau vom Jahre 1399. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1874) 207–211; Wernicke, Ewald: Aus dem städtischen Archiv in Schweidnitz. Ebd., 472–473; Kopietz, Johann: Aus dem Stadtbuche von Patschkau (1453–1518). Ebd., 475–480. Vgl. auch Bobertag, Georg: Die Gerichte und Gerichtsbücher des Fürstenthums Breslau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 7 (1866) 102–175. 53 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. exemplarisch Rößler, Robert: Urkunden Herzog Ludwig I. von Brieg. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 6 (1864) 1–96; 11 (1871) 421–462 (Regesten); Unterlauff, Max: Ein schlesisches Formelbuch des 14. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 27 (1893) 310–355. 54 Vgl. exemplarisch Stillfried, Rudolf: Beiträge zur Geschichte des schlesischen Adels, H. 1: Die Grafen Schaffgotsch. Berlin 1860; Dohna-Schlobitten, Friedrich Siegmar v. (Bearb.): Aufzeichnungen über die erloschenen Linien der Familie Dohna. Berlin 1876; Schweinichen, Konstantin von: Regesten zur Geschichte des schlesischen Adels. Berlin 1912; ders.: Zur Geschichte des Geschlechtes von Schweinichen, Bd. 1–2. Breslau 1904–1907; Czettritz und Neuhaus, Hugo von: Geschichte des Geschlechts von Czettritz und Neuhaus, Bd. 2: Regesten. Görlitz 1911; Hirtz, Albert/Helbig, Paul (Hg.): Urkundliche Beiträge zur Geschichte der edlen Herrn von Biberstein und ihrer Güter, aus dem handschriftlichen Nachlaß des Generalmajors Paul Rogalla von Biberstein. Reichenberg 1912; Mansberg, R[ichard von]: Erbarmanschaft Wettinischer Lande. Urkundliche Beiträge zur Obersächsischen Landes- und Ortsgeschichte in Regesten vom 12. bis Mitte 16. Jahrhunderts, Bd. 2–4. Dresden 1904–1908. Weitere Ausgaben wurden zusammengestellt von Loewe: Bibliographie, 355–374. Zum sozialen Kontext vgl. Bahlcke, Joachim: Adelige Geschichtspflege. Familienbewusstsein und Wissenschaftsförderung in Schlesien vom 18. bis zum frühem 20. Jahrhundert. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung, 407–443.

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Archivs berief man den Priester und promovierten Theologen Joseph Jungnitz, der zugleich ein erfahrener Historiker aus der Schule Grünhagens und Verfasser zahlreicher quellenkundlicher Studien war.55 Es sorgte für Aufsehen, als der neue Direktor unter den Makulaturen seines Archivs die älteste Bulle Papst Hadrians IV. entdeckte.56 Jungnitz kommt ferner das Verdienst zu, eine Reihe wichtiger wissenschaftlicher Projekte angeschoben zu haben, darunter die Edition der neuzeitlichen Visitationsberichte und die Inventarisierung der kirchlichen Matrikelbücher „beider Konfessionen“.57 Mit schlesischen Quellen beschäftigte man sich auch in anderen preußischen Provinzen beziehungsweise in den Nachbarländern, in denen ein naheliegendes Interesse an der Geschichte Schlesiens bestand. Das auch für die Geschichte des Oderlandes wichtige böhmische Formelbuch von Heinricus Italicus etwa wurde von dem Königsberger Historiker Johannes Voigt herausgegeben.58 Reichhaltiges Material enthielten die tschechischen Editionen, vor allem die von Josef Erben und Josef Emler zusammengestellten Regesta diplomatica nec non epistolaria Bohemiae et Moraviae, die später durch den vollständigen Codex diplomaticus et epistolaris Regni Bohemiae (seit 1904) und – was die spätere Zeit betrifft – den von Hermenegild Jireček herausgegebenen vielbändigen Codex iuris Bohemici (seit 1867) ersetzt wurden.59 Die Urkunden des Fürstentums Troppau wurden in Regestenform von dem Troppauer Lehrer Franz Kopetzky, der auch in Breslau publizierte, erschlossen.60 Das österreichisch-schlesische Gebiet war zudem Gegenstand verschiedener tschechischer Historiker, die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Gerichtsbücher herausgaben.61 55 Joseph Jungnitz †. Ein Nachruf. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 52 (1918) 171–208 (mit Bibliographie); Hirschfeld, Michael: Diözesanarchiv, Diözesanbibliothek und Diözesanmuseum in Breslau. Zum Beitrag der katholischen Kirche zur Geschichtsbewahrung und Kulturpflege in Schlesien vor dem Ersten Weltkrieg. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 393–406. 56 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Schulte, Wilhelm: Quellen zur Geschichte der Besitzverhältnisse des Bistums Breslau. In: Studien zur schlesischen Kirchengeschichte. Breslau 1907 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 3), 171–279, hier 173. 57 Jungnitz, Joseph (Hg.): Visitationsberichte der Diözese Breslau, Bd. 1–4. Breslau 1902–1908; [ Jungnitz, Joseph/Eberlein, Gerhard (Hg.)]: Die Kirchenbücher Schlesiens beider Confessionen. Breslau 1902; Jungnitz, Joseph: Die Grabstätten der Breslauer Bischöfe. Breslau 1895. 58 Voigt, Johannes (Hg.): Das urkundliche Formelbuch des königl. Notars Heinricus Italicus aus der Zeit der Könige Ottokar II. und Wenzel II. von Böhmen. In: Archiv für Kunde österreichischer Geschichts-Quellen 29 (1863) 1–184. 59 Friedrich, Gustav: Český diplomatář a jeho programm. In: Český časopis historický 6 (1900) 223–243. Zum weiteren Kontext vgl. Hlaváček, Ivan: Přehledné dějiny pomocných věd historických v českých zemích (se zvláštním zřetelem ke stolici oboru na filzofické fakultě Univerzity Karlovy). In: 200 let pomocných věd historických na filozofické fakultě Univerzity Karlovy v Praze. Praha 1988, 13–96. 60 Kopetzky, Franz: Regesten zur Geschichte des Herzogthums Troppau (1061–1464). In: Archiv für österreichische Geschichte 45 (1871) 97–275. 61 Kapras, Jan (Hg.): Pozůstatky knih zemského práva knížetství opavského, Bd. 1/1: Knihy přední. Praha 1906; Bd. 2/1: Desky zemské. Praha 1908; Rauscher, Rudolf (Hg.): Soudní knihy

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Nur am Rande mit Schlesien beschäftigte sich die in Krakau und Lemberg entstehende professionelle polnische Historiographie. Doch selbst im russischen Warschau stellte Michał Boniecki, der als Wegbereiter der Schlesienforschung in Polen gilt, einen kompletten Band Res Silesiacae zusammen, der vornehmlich das 15. und 16. Jahrhundert betraf.62 Das Interesse polnischer Historiker galt überwiegend Oberschlesien, dessen Randgebiete (Auschwitz, Zator, Sewerien) seit dem Spätmittelalter zum Gebiet der Adelsrepublik gehörten. Auch die ältesten schlesischen Urkunden, die zugleich für die allgemeine Geschichte Polens von Bedeutung waren, wurden in diplomatischen Publikationen berücksichtigt, auch auf paläographischen Tafeln.63 Es gibt kaum eine andere Ausgabe mit Abbildungen, die das schlesische Material in gleichem Maß berücksichtigt. Silesiaca finden sich zudem in polnischen oder Polen betreffenden Editionen päpstlicher Quellen64 – wohingegen die Breslauer Historiker aus organisatorischen wie finanziellen Gründen nicht in der Lage waren, das 1881 geöffnete Vatikanische Archiv in Rom systematisch zu erschließen. Zu erwähnen ist ferner, dass Olgierd Górka in seiner wichtigen, 1911 publizierten Lemberger Dissertation die frühen Leubuser Urkunden kritisch beleuchtete.65 Sowohl aus polnischer als auch aus schlesischer Perspektive blieben diese Forschungsinitiativen zur schlesischen Diplomatik allerdings insgesamt eher marginal. Wie schon angedeutet, wurde die schlesische Geschichtsforschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich von Colmar Grünhagen geprägt. Grünhagen starb 1911, hatte aber sowohl die Archivdirektion (1901) als auch den Vereinsvorsitz osvětimské a zátorské z r. 1440–1562. Praha 1931. Zu diesen Forschungsbemühungen vgl. Bahlcke, Joachim: Die tschechische Geschichtsschreibung über Schlesien im 19. und 20. Jahrhundert. Von Palacký bis zum Zusammenbruch des kommunistischen Systems [1995]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2016 (Forschungen zu Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3), 125–154. 62 Boniecki, Michał/Boniecki, Mikołaj (Hg.): Codex diplomaticus Poloniae, Bd. 4: Res Silesiacae. Warszawa 1887. Ergänzungen enthält die Rezension von Prochaska, Antoni. In: Przewodnik Naukowy i Literacki (dodatek do Gazety Lwowskiej) 16 (1888) 83–93, 180–183. 63 Krzyżanowski, Stanisław (Hg.): Monumenta Poloniae palaeographica, Bd. 1–2. Kraków 1907– 1909. Vgl. die wohlwollende Rezension von Meinardus, Otto: Phototypien der ältesten schlesischen Urkunden. In: Schlesische Geschichtsblätter 4 (1911) 37–40. 64 �������������������������������������������������������������������������������������������� Theiner, August (Hg.): Vetera monumenta res gestas Poloniae et Lithuaniae gentiumque finitimarum historiam illustrantia, Bd. 1–4. Romae 1860–1864; Ptaśnik, Jan (Hg.): Monumenta Poloniae Vaticana, Bd. 1–3. Kraków 1913–1914. Schlesien wurde auch in dem von der „Preußischen Historischen Station“ in Rom (der Vorgängerinstitution des Deutschen Historischen Instituts) bearbeiteten Repertorium Germanicum berücksichtigt – allerdings erschien dessen erstes (Probe-)Heft erst 1916. Das Repertorium verfolgte das Ziel, das seit dem Schisma von 1378 angefallene Quellenmaterial systematisch zu erschließen. 65 Górka, Olgierd: Studia nad dziejami Śląska. Najstarsza tradycja opactwa cystersów w Lubiążu. Lwów 1911, deutsch u. d. T.: Über die Anfänge des Klosters Leubus. Breslau 1913 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 18). Vgl. auch Kętrzyński, Wojciech: Einige Bemerkungen über die ältesten polnischen Urkunden. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 22 (1888) 151–166.

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(1905) schon früher niedergelegt. Der unermüdliche Fleiß und die Leistungen dieses herausragenden Quellenherausgebers verdienen bis heute Anerkennung (hinzu ­kommt, dass Grünhagen noch mehrere eigene Abhandlungen, mehrbändige Werke sowie hunderte von kleineren Beiträgen und Besprechungen mit großer chronologischer Bandbreite verfasste).66 Trotz dieser unbestreitbaren Verdienste muss jedoch konstatiert werden, dass die von Grünhagen fortgeführte Konzeption des regionalen Editionswesens, die auf Regesten und thematischen Einzelbänden fußte, bereits zu seinen Lebzeiten veraltete. Sie war zu einer Zeit entstanden, und dies muss in Rechnung gestellt werden, in der noch die Regesta Imperii als Standard gegolten hatten und Theodor Sickel die ersten Grundsätze der diplomatischen Methode formuliert hatte.

6. Versuche der Neuorientierung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Eine erstmals in Sickels Wiener Schule entwickelte Norm sah die Herausgabe des kompletten Urkundenmaterials aus dem jeweiligen Themenfeld in chronologischer Reihung und mit ausführlicher Bearbeitung vor. Das machte vor allem eine eingehende diplomatische Quellenkritik notwendig. Diesen Anforderungen entsprach der 1904 begonnene böhmische Codex diplomaticus, und an sie versuchten auch verschiedene regionale Urkundenbücher in Polen anzuknüpfen – für Kleinpolen (1876–1905), Großpolen (1871–1881) und später auch Masowien (1919); in methodischer Hinsicht waren diese Editionen, die oft von unzureichend vorgebildeten Personen bearbeitet wurden, allerdings unverändert mangelhaft.67 Der Preis, der für hohe Qualität notwendigerweise zu entrichten war, lag in einer Verlangsamung der Arbeit (was besonders beim böhmischen Codex deutlich wurde). Das schlesische Konzept war zwar praktischer, strebte aber nicht nach methodischer Vollkommenheit. Die thematisch angeordneten Bände, die die aus ihren diplomatischen Kontext gerissenen Urkunden versammelten, zielten lediglich auf eine korrekte Textwiedergabe ab; der kritische Apparat konnte dagegen nicht überzeugen. Auch die Regesten mit ihren bescheidenen Kommentaren entsprachen bei Lichte besehen nicht den Bedürfnissen diplomatischer Quellenkritik. Ausgerechnet die ältesten Urkunden, die naturgemäß besonders intensiver Diskussion bedurften, erfuhren dort die schwächste Bearbeitung (auch eine „umgearbeitete und vermehrte“ zweite Auflage war längst nicht von Fehlern und Mängeln frei). Ungeachtet seiner vielfältigen Begabungen war Grünhagen von Haus aus eben kein Diplo66 Grünhagen, Colmar: Geschichte Schlesiens, Bd. 1–2. Gotha 1844–1886; ders.: Geschichte des ersten Schlesischen Krieges, Bd. 1–2. Breslau 1881. Wie die Auflistung bei Kessler: Der Verein, 30–35, nachweist, veröffentlichte Grünhagen allein in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte (und Alterthum) Schlesiens nicht weniger als 130 Artikel. 67 Radzimiński, Andrzej: Der Stand der Arbeiten an den territorialen Urkundenbüchern und Urkundensammlungen in Polen (außer Großpolen). In: Irgang/Kersken (Hg.): Stand, Aufgaben und Perspektiven, 125–133; Jurek, Tomasz: Polskie wydawnictwa źródeł dyplomatycznych. In: ders. (Hg.): Dyplomatyka staropolska. Warszawa 2015, 49–52.

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matiker. Zu keinem Zeitpunkt hatte er sich jemals mit den Erfordernissen einer kritischen Urkundenforschung näher auseinandergesetzt. Das tat in Schlesien freilich zu jener Zeit auch kaum ein anderer Forscher – und wenn doch, so blieben diese Versuche, wie etwa im Fall von Wilhelm (Lambert) Schulte, im Grunde genommen dilettantisch.68 Die einzige vor dem Weltkrieg in Breslau publizierte diplomatische Monographie blieb die bereits erwähnte Dissertation des polnischen Historikers Olgierd Górka über Leubus von 1913. Mit Recht stellte Winfried Irgang fest, dass die eigentliche Geschichte der schlesischen Urkundenforschung erst in der Zwischenkriegszeit begann.69 Grünhagen beendete seine wissenschaftliche Laufbahn in einer Atmosphäre des Konflikts mit seiner jüngeren Umgebung. Es ist bezeichnend, dass nach seinem Tod der als liberal geltende und der borussischen Tradition gegenüber kritisch eingestellte Neuzeithistoriker Johannes Ziekursch den Breslauer Lehrstuhl Grünhagens übernahm. Eine neue Denkweise verkörperte übrigens auch Hermann Markgraf, der, obwohl nicht viel jünger als Grünhagen, dessen Vorsitz im Breslauer Geschichtsverein übernahm. Schon 1899 hatte Markgraf die Gründung einer neuartigen Historischen Kommission als wissenschaftlich professionell agierende Institution angeregt; praktisch hätte dies den Abschied vom bisherigen Modell einer für alle „Geschichtsfreunde“ offenen Gesellschaft bedeutet. Markgraf war es zudem, der nach westdeutschem Vorbild für Schlesien eine großangelegte Aktion zur Inventarisierung der kleineren Stadt-, Pfarrei- und Gutsarchive unter der fachlichen Aufsicht staatlicher Archivare anregte.70 Das Projekt wurde später von Konrad Wutke verwirklicht. Das Ergebnis war eine Reihe von CodexBänden mit Inventaren der nichtstaatlichen Archive Schlesiens für einzelne Kreise und Städte. Ihr Schwerpunkt lag deutlich in der Neuzeit. Sie sind heute vor allem deshalb von Bedeutung, weil die meisten der darin beschriebenen Sammlungen während des Zweiten Weltkriegs vernichtet wurden. Solche Inventare dominierten seit der Jahrhundertwende den Codex,71 obwohl man nach wie vor auch andere, thematisch definierte Bände in die Reihe aufnahm – etwa Darstellungen von Gustav Bauch über das schlesische Schulwesen oder von Gustav 68 Kritisch zu den Arbeiten Schultes, der leichtfertig alle schlesischen Urkunden aus der Zeit vor 1241 als Fälschungen einordnete, Appelt: Einleitung, XIX („auf dem Spezialgebiet der Diplomatik vermochte er [Schulte] mit den Errungenschaften seiner Zeit nicht Schritt zu halten“). Vgl. ferner das Urteil von Menzel: Urkundenpublikation, 167. 69 Irgang, Winfried: Urkundenforschung. In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2005 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 11), 53–67, hier 53. 70 Kersken: Breslau als Zentrum, 112f. 71 Wutke, Konrad (Hg.): Die Inventare der nichtstaatlichen Archive, Kreis Grünberg und Freystadt. Breslau 1908 (Codex diplomaticus Silesiae 24); besonders wichtig ist in diesem Band das Vorwort (V–VIII); ders. (Hg): Kreis und Stadt Glogau. Breslau 1915 (Codex diplomaticus Silesiae 28). Weitere Bände der Inventare erschienen erst nach 1918. Zu den Vorarbeiten vgl. den wichtigen Beitrag von Wutke, Konrad: Eine archivalische Forschungsreise durch den Kreis Ohlau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 35 (1901) 358–370.

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Croon über die Ständeverfassung von Schweidnitz-Jauer, die eher Monographien als Editionen glichen.72 Auch sie griffen chronologisch bis weit in die Neuzeit aus. Das Interesse der Herausgeber verschob sich also sichtlich. Nach einer längeren Pause wurden auch die Acta publica wiederaufgenommen (1905, 1908). Zu erinnern ist ferner an die bereits erwähnten Initiativen aus dem Bereich der Kirchengeschichte. Signifikant ist zudem, dass die genannten Inventare das erste systematisch geplante und durchgeführte Unternehmen im Rahmen des Codex seit der Entstehung der Regesten zur schlesischen Geschichte waren. Der Umbruch am Beginn des 20. Jahrhunderts stand nicht nur für neue Ideen, sondern brachte auch eine Beschränkung der bis dahin so fieberhaften Aktivität mit sich. Für das schlesische Editionswesen war es eine Zeit der Stagnation. Der neue Archivdirektor, Otto Meinardus, ein nicht mehr ganz junger und zuvor bereits in Wiesbaden und Danzig tätiger Berufsarchivar, war von seiner Herkunft her nicht mit Schlesien verbunden. Er hatte weder die landesgeschichtlichen Kenntnisse seines Vorgängers noch brachte er dessen Leidenschaft für großangelegte Quelleneditionen mit. Den in der Wissenschaft nunmehr vorherrschenden Tendenzen entsprechend, versuchte man Forschung stärker von einer auf Breitenwirkung abzielenden Geschichtsvermittlung abzugrenzen. Dem Bedürfnis nach Popularisierung wurde daher 1908 mit den Schlesischen Geschichtsblättern eine eigene Zeitschrift gewidmet. Den strikt wissenschaftlichen Publikationen vorbehalten war dagegen die 1906 begründete Reihe Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte. In ihr erschienen in rascher Folge viele ausgezeichnete Studien, die oft neue Forschungsfelder eröffneten, auch zur Verfassungs- oder Wirtschaftsgeschichte, worunter aber – ungeachtet des im Reihentitel präsenten Begriffs „Quellen“ – kaum Editionen im eigentlichen Sinn zu finden waren. Einige Publikationen der Reihe ähnelten zumindest einer Edition, etwa die Abhandlungen von Meinardus über das Neumarkter Recht oder Wutkes Studie über schlesische Formelbücher, die im Anhang einige wichtige Dokumente enthielt.73 Die Beschäftigung mit dieser wertvollen, bisher vernachlässigten Quellengattung stellte ein Novum dar. Im Umgang mit den schlesischen Quellen stand Wutke für Kontinuität und führte als Nachfolger von Meinardus im Amt des Archivdirektors seit 1918 die Regesten fort. Dennoch verging seit Grünhagens Tod viel Zeit, bis – mit Unterstützung der jüngeren Archivare Erich Randt und Hans Bellée – 1923 ein neuer Band erscheinen konnte, der um ein Sachregister und einen elaborierten Anmerkungsapparat ergänzt wurde.74 72 Bauch, Gustav: Geschichte des Breslauer Schulwesens vor der Reformation. Breslau 1909 (Codex diplomaticus Silesiae 25); ders.: Geschichte des Breslauer Schulwesens in der Zeit der Reformation. Breslau 1911 (Codex diplomaticus Silesiae 26); Croon, Gustav: Die landständische Verfassung von Schweidnitz-Jauer. Breslau 1912 (Codex diplomaticus Silesiae 27). 73 Meinardus, Otto: Das Neumarkter Rechtsbuch und andere Neumarkter Rechtsquellen. Breslau 1907; ders.: Das Halle-Neumarkter Recht von 1181. Breslau 1909; Wutke, Konrad: Über schlesische Formelbücher des Mittelalters. Breslau 1919. 74 Wutke, Konrad (Hg.): Regesten zur schlesischen Geschichte (1334–1337). Breslau 1923 (Codex diplomaticus Silesiae 29), mit wichtigem Vorwort. Den Folgeband bearbeitete Randt, Erich: Re-

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7. Bilanz: Leistungen und Defizite der schlesischen Urkundeneditionen vor 1914 Das Erbe, das mehrere Generationen von Historikern und Quelleneditoren des 19. Jahrhunderts hinterlassen haben, war eine gefestigte wissenschaftliche Infrastruktur, deren wesentliche Elemente die Universität in Breslau, das dortige Staatsarchiv sowie der schlesische Geschichtsverein bildeten. Staatsarchiv und Geschichtsverein betreuten die wichtigsten editorischen Projekte, den Codex diplomaticus sowie die Regesten, und waren bestrebt, vergleichbare Initiativen in der gesamten Provinz anzuregen und anzuleiten. Die Universität stand in dieser Hinsicht abseits, obwohl sie ansonsten das natürliche Zentrum des wissenschaftlichen Lebens bildete. Diese Form der Arbeitsteilung hatte sich schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt, blieb aber auch bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein bestimmend. Den einzelnen Herausgebern gelang es, den Kern des diplomatischen Materials aus dem 13. und 14. Jahrhundert zumindest bis zu jenem Jahr zu publizieren, bis zu dem die Regesten reichten, also bis zum Jahr 1342 (woran die polnische Fortsetzung für die Jahre 1343 bis 1360 auch hinsichtlich ihrer mangelnden Vollständigkeit nicht heranreicht).75 Das stellt fraglos eine Leistung von bleibender Bedeutung dar. Jede Forschung zur schlesischen Geschichte des Mittelalters muss sich nach wie vor auf dieses Quellencorpus stützen, obwohl heute teilweise verbesserte Ausgaben benutzt werden können. Das neue, 1998 abgeschlossene und bis zum Jahr 1300 reichende Werk Schlesisches Urkundenbuch bereichert den früher bekannten Urkundenbestand zwar lediglich um etwa 10 Prozent, enthält aber korrektere Textwiedergaben und beantwortet vor allem alle quellenkritischen Fragen. Damit ersetzt es alle bisherigen Editionen für das 13. Jahrhundert.76 Für das Urkundenmaterial seit Mitte des 14. Jahrhunderts bringt das Streben nach Vollständigkeit dann größere Probleme mit sich. Vor allem das Auftauchen verschiedener Kanzleiregisterbücher bedeutete eine sprunghafte Zunahme des Materials, das chronologisch anzuordnen nun kaum mehr möglich ist. Allein die Veröffentlichung der Registerbücher für die Fürstentümer Neisse (1359–1393) und Schweidnitz-Jauer (1366–1407) lenkt den Blick auf über 7.000 Urkunden, womit sich die Zahl der früher

gesten zur schlesischen Geschichte (1338–1342). Breslau 1930 (Codex diplomaticus Silesiae 30). Die einst von Stenzel und Wattenbach avisierte Grenze des Jahres 1355 wurde also nicht erreicht. 75 ������������������������������������������������������������������������������������������� Korta, Wacław (Hg.): Regesty śląskie, Bd. 1–5. Wrocław 1975–1990. Vgl. die ausnahmslos kritischen Rezensionen in: Studia Źródłoznawcze 22 (1977) 262–264 (Antoni Gąsiorowski); Archeion 69 (1979) 336–346 (Eugeniusz Kobzdaj); Archeion 80 (1986) 238–256 (ders.); Zeitschrift für Ostforschung 33 (1984) 87–88 (Winfried Irgang); Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 98 (1991) 407–417 (Tomasz Jurek). 76 ������������������������������������������������������������������������������������������� Irgang, Winfried: Die Bedeutung des Schlesischen Urkundenbuchs für die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte Schlesiens. In: Borák, Mečislav (Hg.): Slezsko v dějinách českého státu. Opava 1998, 72–81, hier 75.

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bekannten schlesischen Dokumente fast verdoppelt hatte.77 Das ändert freilich nichts an der Tatsache, dass der Kern des Materials schon seit langem zugänglich ist. Die älteren Ausgaben sind angesichts der hohen Kriegsverluste heute oft die einzige Überlieferungsform vieler Urkunden geblieben. Die um die Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmende zweigleisige Strategie, die schlesischen Urkunden erstens als Regesten aufzunehmen und sie zweitens in verschiedenen thematisch definierten Sammlungen zusammenzuführen, ermöglichte es, sowohl das älteste Material komplett zu erschließen als auch die Kenntnis über die jüngeren Bestände zu erweitern. Obwohl man sich naturgemäß auf die älteste Zeit konzentrierte, verlor man das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit niemals aus den Augen. Weil das jüngere Material schon aufgrund seiner Fülle kaum auszuschöpfen war, blieben in seiner Erschließung große Lücken. Diese waren teilweise auch arbeitsorganisatorisch bedingt. Besonders auffällig ist die mangelhafte Auswertung der Bestände des Stadt- und des Diözesanarchivs in Breslau. Was das Stadtarchiv angeht, so blieb der gewaltige Bestand der Korrespondenz der Stadt Breslau unbearbeitet, selbst in Regestenform. Was in einigen Bänden an politischer Korrespondenz Breslaus aufgenommen wurde, konnte diese Lücke nicht schließen. Außerdem waren weder die Breslauer Amts- und Gerichtsbücher78 noch die im Diözesanarchiv verwahrten und der Forschung bis heute nahezu unbekannten bischöflichen Akten79 benutzt worden. Noch Wattenbach hatte gewisse Amtsbücher, von denen er einige in den Codex aufnahm, den eigentlichen Diplomen gleichgesetzt. Später schwand das Interesse für die Bücher vollends. Das ist insofern erstaunlich, als diese Gattung sich anderswo zeitgenössisch großer Aufmerksamkeit erfreute. In Sachsen, Böhmen, Polen und im Glatzer Land wurden verschiedene Amtsbücher im Volltext publiziert.80 Vor diesem Hintergrund blieben die Breslauer Historiker tatsächlich eine Ausnahme. In den Stadtbüchern suchten sie mehr oder weniger nur nach Kuriositäten,

77 Engelbert, Kurt: Quellen zur Geschichte des Neisser Bistumslandes auf Grund der drei ältesten Neisser Lagerbücher. Würzburg 1964 (Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte 10); Jurek, Tomasz (Hg.): Landbuch księstw świdnickiego i jaworskiego, Bd. 1–3. Poznań 2000– 2007. Zur Zunahme der Urkundenzahl vgl. Irgang, Winfried: Das Schlesische Urkundenbuch – ein Resüme. In: Irgang/Kersken (Hg.): Stand, Aufgaben und Perspektiven, 160. 78 Das von Hermann Markgraf und Otto Frenzel edierte Stadtbuch von Breslau (vgl. Anm. 38) war im Grunde kein städtisches Amtsbuch. 79 Zu diesen heute im Breslauer Diözesanarchiv liegenden Akten vgl. die Anzeige von Knoblich, Augustin: Die Incorporationsbücher der Breslauer Bischöfe von 1431–1569. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 6 (1865) 380–382. 80 Als Beispiel aus der benachbarten Oberlausitz vgl. Jecht, Rudolf (Hg.): Die ältesten Görlitzer Ratsrechnungen bis 1419. Görlitz 1905–1910 (Codex diplomaticus Lusatiae Superioris 4). Für Polen besonders maßgebend sind umfangreiche Reihen: Vgl. Akta grodzkie i ziemskie z czasów Rzeczypospolitej Polskiej z archiwum tak zwanego bernardyńskiego we Lwowie, Bd. 1–25. Lwów 1868–1935; Monumenta medii aevi res gestas Poloniae illustrantia, Bd. 1–19. Kraków 1874–1927.

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ohne den eigentlichen Wert dieser Quellengattung korrekt einzuschätzen.81 Weder richteten sie den Fokus auf die Rechnungen82 noch auf die zahlreich erhaltenen neuzeitlichen Urbare.83 Dies lag nicht zuletzt daran, dass die wirtschaftsgeschichtliche Forschung in Schlesien noch in den Anfängen steckte. Auch dürfte die traditionelle Hochachtung für die eigentlichen Urkunden eine Rolle gespielt haben, verbunden mit einer gewissen Geringschätzung jüngerer Quellengattungen, vor allem solcher mit ­Massencharakter. Bezüglich der in Breslau publizierten neuzeitlichen Quellen wiederum verschob sich mehrfach der zeitliche Horizont des Interesses. Während Stenzel sich vornehmlich mit der Übernahme Schlesiens durch Preußen beschäftigt hatte, weitete Grünhagen sein Forschungsinteresse bis zu den Befreiungskriegen aus, deren hundertjähriges Jubiläum 1913 auch von entsprechenden Quellenausgaben begleitet war.84

8. Schlussbetrachtung und Ausblick Trotz der geschilderten Offenheit für neue Impulse, Themen und Herausforderungen erwies sich das schlesische Editionswesen zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Grunde noch immer als recht traditionell. Die konzeptionellen und methodischen Mängel hingen mit den wissenschaftsorganisatorischen Rahmenbedingungen zusammen. Als Herausgeber fungierten vor allem Archivare und lokale Geschichtsliebhaber. Dass zumindest quantitativ auf diesem Gebiet viel geleistet wurde, erklärt sich eben gerade daraus, dass man sich auf die Praxis konzentrierte, ohne sich dabei allzuviel mit methodischtheoretischen Details abzugeben. Unter solchen Bedingungen konnte man zwar die Fortführung der sorgfältig bearbeiteten Regesten gewährleisten, aber nicht jenes diplomatisch-editorische Niveau erreichen, das für die erfolgreiche Erstellung eines konzeptionell durchdachten Urkundenbuchs, in dem editorische Praxis und quellenkritische Analyse stets Hand in Hand gehen müssen,85 notwendig gewesen wäre. Entsprechende Initiativen gab es erst in der Zwischenkriegszeit, als eine neue Historikergeneration die konzeptionellen Grundlagen einer modernen Landesgeschichtsfor81 Vgl. exemplarisch Grünhagen, Colmar: Die Correspondenz der Stadt Breslau mit Karl IV. in den Jahren 1347–1355. In: Archiv für österreichische Geschichte 34 (1865) 345–370. Erst später erkannten Sprachwissenschaftler den außerordentlichen Wert der Gerichtsakten. Vgl. Bindewald, Helene (Hg.): Deutsche Texte aus schlesischen Kanzleien des 14. und 15. Jahrhunderts, Bd. 1–2. Berlin 1935–1936 (Vom Mittelalter zur Reformation 9). 82 ������������������������������������������������������������������������������������������ Neben den Breslauer Stadtrechnungen ist vor allem ein Beitrag zu nennen von Markgraf, Hermann: Die Rechnung über den Peterspfennig im Archidiakonat Oppeln 1447. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 27 (1893) 356–403. 83 Mit ihrer Bearbeitung begann man erst deutlich später. Vgl. Kuhn, Walter: Vier oberschlesische Urbare des 16. Jahrhunderts. Würzburg 1973 (Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte 16), 16*–17* (mit einer Auflistung anderer tschechischer und polnischer Ausgaben). 84 Vgl. exemplarisch Brieger, Rudolf (Hg.): Kriegsbriefe des Leutnants Wilhelm Alberti. Breslau 1913. 85 Irgang: Urkundenforschung, 53–67.

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schung entwickelte.86 Ihren organisatorischen Ausdruck fanden diese Tendenzen 1921 in der Gründung der Historischen Kommission für Schlesien, die einen Teil der Aufgaben des älteren Vereins für Geschichte (und Alterthum) Schlesiens übernahm. Ein modernen Maßstäben genügendes Schlesisches Urkundenbuch war denn auch eines der ersten Projekte, das im Kreis der neuentstandenen Kommission ausgearbeitet wurde. Da es einen professionellen und erfahrenen Diplomatiker in Breslau aber nach wie vor nicht gab, rekrutierte man Leo Santifaller 1929 eigens aus Wien für dieses Großvorhaben.87 Bis das Schlesische Urkundenbuch dann in seinen sechs Bänden vorlag, sollten freilich noch einmal annähernd sieben Jahrzehnte vergehen.

86 Werner, Matthias: Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert. In: Moraw, Peter/Schieffer, Rudolf (Hg.): Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert. Ostfildern 2005 (Vorträge und Forschungen 62), 251–364. 87 Santifaller, Leo: Urkundenforschung. Methoden, Ziele, Ergebnisse. Köln/Wien 41986 [Weimar 1 1937], 66–70; Jurek: Schlesische Urkundenbücher, 169f.

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Mediävistik als Ausgangspunkt. Forschungen zu den Historischen Hilfswissenschaften in Schlesien im langen 19. Jahrhundert Die Geschichtswissenschaft bedarf der Quellen, die es nicht nur zu finden und zu sammeln, sondern auch zu überprüfen, zu interpretieren und in einen größeren Zusammenhang zu stellen gilt. Hierfür entwickelte sich im 18. und 19. Jahrhundert die sogenannte historisch-kritische Methode, mit der Quellen sowohl inhaltlich als auch in ihrer äußeren Gestalt untersucht werden. Ihr Instrumentarium bildete sie insbesondere an der Mediävistik aus, gehen doch die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft auf die romantisch-nationalistische Begeisterung für das Mittelalter zurück, in Deutschland in den 1819 begründeten Monumenta Germaniae Historica institutionalisiert. Aus der Notwendigkeit, vor allem die äußere Form etwa einer mittelalterlichen Urkunde hinsichtlich Schreibmaterial, Schrift und Beglaubigungsmittel zu überprüfen, entwickelten sich Grundwissenschaften, die für die weitergehenden Schritte Hilfsdienste leisteten. Mit der Zeit verfeinerten und erweiterten sich diese Grundwissenschaften zu verschiedenen, sich verselbständigenden Teildisziplinen. Diesen historischen Hilfs- oder Grundwissenschaften sind dabei bis in die Gegenwart zwei konträre Tendenzen eigen. Einerseits werden ihre Teilgebiete fast laufend um neue Bereiche erweitert – so kam beispielsweise zur Urkundenlehre die Aktenkunde und später die Amtsbuchkunde hinzu, zur Heraldik gesellte sich die Vexillologie (Fahnenkunde), ein weiterer Teilbereich ist seit etwa 1970 die Phaleristik (Ordenskunde) –, andererseits dominieren in aktuellen Einführungen1 die Gebiete Diplomatik (Urkundenlehre) mit Sphragistik (Siegelkunde) und Chronologie (Zeitrechnungsgeschichte) sowie Paläographie (Schriftkunde) mitsamt der Epigraphik und degradieren neben Archiv- und Aktenkunde sowie Historische Geographie solchermaßen Numismatik (Münzkunde und Geldgeschichte), Metrologie (Maßkunde), Heraldik (Wappenkunde) und Genealogie (Lehre von den Verwandtschaftsverhältnissen) zu „kleinen“2 Hilfswissenschaften. Zudem wird beklagt, dass die Lehre der Historischen Hilfswissenschaften an den Universitäten und sogar den Archivschulen ständig zurückgehe, diese Wissenschaften also marginalisiert würden, ihre Lage prekär sei.3 1 Beck, Friedrich/Henning, Eckart (Hg.): Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Wissenschaften. Köln/Weimar/Wien 52012; Rohr, Christian: Historische Hilfswissenschaften. Eine Einführung. Wien/Köln/Weimar 2015. Nicht berücksichtigt wird Brandt, Ahasver von: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Wissenschaften. Stuttgart 182012, da dieses Werk in seiner Gliederung der Erstauflage von 1958 entspricht. 2 Rohr: Historische Hilfswissenschaften, 8. 3 ����������������������������������������������������������������������������������������������� So etwa Diederich, Toni/Oepen, Joachim: Vorwort. In: dies. (Hg.): Historische Hilfswissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung. Köln/Weimar/Wien 2005, VII–IX, hier VIIf.; Hen-

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Für einen Beitrag wie diesen, begrenzt auf die Zeit vor 1914, ist es notwendig, sich auf den traditionellen Kanon der Historischen Hilfswissenschaften für das Mittelalter und die Neuzeit zu beschränken: auf Paläographie, Diplomatik, Aktenkunde, Heraldik, Sphragistik, Genealogie, Numismatik, Chronologie und Historische Geographie.4 Da an anderer Stelle bereits urkundliche und erzählende Quellen vorgestellt wurden,5 also Ergebnisse von Paläographie und Diplomatik, bleiben diese Teilgebiete im Folgenden unberücksichtigt. Bibliographische Grundlage der folgenden Ausführungen sind das 1824 erschienene Handbuch der Literaturgeschichte von Schlesien6 von Johann George Thomas (1788–1849) für die frühen, teils noch unkritischen Arbeiten und die 1927 von Victor Loewe (1871–1933) herausgebrachte Bibliographie der Schlesischen Geschichte7 für die wissenschaftlichen Arbeiten der Folgezeit bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs.

1. Aktenkunde Die neuzeitliche Aktenkunde ist mit dem Namen des Historikers und Archivars Heinrich Otto Meisner8 (1890–1976) verbunden, dessen Berufstätigkeit als Archivar und Dozent für Archivkunde, Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte am Preußischen Institut für Archivwissenschaft in Berlin-Dahlem erst nach dem Ersten Weltkrieg begann. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich in den Bibliographien von Thomas und Loewe keine speziellen Arbeiten zur Aktenkunde allgemein oder ­speziell zu schlesischen Akten finden. Die schlesische Geschichtswissenschaft hat zu diesem Themenkomplex vor Meisner offensichtlich keine Beiträge geleistet, in der Praxis, besonders der praktischen Archivarbeit, die allgemeinen Erkenntnisse jedoch umgesetzt.

2. Heraldik Das thematische Hauptinteresse der nur vereinzelten heraldischen Literatur des Oderlandes vor 1824 galt dem schlesischen Adler und seinem Ursprung sowie dem Breslauer ning, Eckart: Signaturen der Zeit. Zur prekären Lage der Historischen Hilfswissenschaften. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. November 2015, N4. 4 ������������������������������������������������������������������������������������������� In Anlehnung an Koch, Walter: Geschichte „in die Hand genommen“. Die Historischen Hilfswissenschaften als Basis historischer Forschung in der Entwicklung der Geschichtswissenschaft. In: Vogeler, Georg (Hg.): Geschichte „in die Hand genommen“. München 2005 (Münchener Kontaktstudium Geschichte 8), 3–33, hier 14. 5 Vgl. die Beiträge von Tomasz Jurek und Norbert Kersken in diesem Band. 6 ������������������������������������������������������������������������������������������� Thomas, Johann George: Handbuch der Literaturgeschichte von Schlesien. Eine gekrönte Preisschrift. Hirschberg 1824. 7 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Loewe, Viktor: Bibliographie der Schlesischen Geschichte. Breslau 1927 (Schlesische Bibliographie 1). 8 Leesch, Wolfgang: Meisner, Heinrich Otto. In: Neue Deutsche Biographie 16 (1990) 689.

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Stadtwappen.9 Weitere heraldische Aspekte – Abbildungen und Beschreibungen von einzelnen Wappen – finden sich mitunter in den genealogischen Werken zu verschiedenen schlesischen Adelsfamilien oder entsprechenden allgemeinen Wappenbüchern.10 Mit der historisch-kritischen Methode wurde das Themenspektrum der Schlesien betreffenden Heraldik breiter. Zwar interessiert nach wie vor der schlesische Adler,11 doch kamen nun die Wappen der historischen Fürstentümer12 und der Grafschaft Glatz13 – auch die Landesfarben14 –, die Wappen der Städte15 und sogar jene der schlesischen und oberschlesischen Landgemeinden16 hinzu. Bemerkenswert ist der 1881 von Hermann Luchs17 (1826–1887) verfasste Aufsatz Schlesische Landes- und Städtewappen18 mit farbigen Darstellungen der Wappen vor allem der schlesischen Fürstentümer. Hervorzuheben sind ferner zwei Bücher zur schlesischen Stadtheraldik. Das ältere ist das von Hugo Saurma Freiherr von und zu der Jeltsch (1837–1896) herausgegebene und von Ludwig August Clericus19 (1827–1892) illustrierte Wappenbuch der schlesischen Städte und Städtel,20 erschienen 1870 in Berlin. Saurma-Jeltsch war neben seinem Beruf als Offizier – er nahm 1872 als Rittmeister seinen Abschied – ein pas19 Thomas: Handbuch, 34, 154, 220. 10 Ebd., 112–125. 11 Knötel, Paul: Der schlesische Adler. Heraldische Studien. In: Vierteljahresschrift für Heraldik, Sphragistik und Genealogie 16 (1888) 391–401. 12 Luchs, Hermann: Schlesische Landes- und Städtewappen. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift 4 (1888) 1–24. Der Band enthält Berichte für die Jahre 1881 bis 1887. 13 Volkmer, Franz: Das Wappen der Grafschaft Glatz. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 2 (1883/83) 273–276. 14 Knötel, Paul: Zur Frage der schlesischen Landesfarben. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift 3 (1881) 500–502. 15 Ders.: Ursprung und Entwicklung der städtischen Siegelbilder (mit besonderer Berücksichtigung der schlesischen Städtewappen). In: Vierteljahrsschrift für Wappen-, Siegel- und Familienkunde 19 (1891) 482–525; ders.: Die Städtewappen Oberschlesiens. Beilage zum Oster-Programm des Königl. Realgymnasiums zu Tarnowitz 1894; ders.: Die Städtewappen der Grafschaft Glatz. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 7 (1887/88) 289– 296; ders.: Die Wappen der oberschlesischen Städte. In: Oberschlesien 1 (1903) 661–685. 16 ����������������������������������������������������������������������������������������� Wilpert, Oskar/Kutzner, Paul: Die Wappen der schlesischen Landgemeinden. In: Oberschlesische Heimat 8 (1912) 10–14, 68–76, 93–101, 145–151; 9 (1913) 166–175; dies.: Die Wappen der oberschlesischen Landgemeinden. In: Oberschlesische Heimat 5 (1909) 73–88, 177–185; 6 (1910) 29–37; 7 (1911) 9–19. 17 Markgraf, Hermann: Luchs, Hermann. In: Allgemeine Deutsche Biographie 52 (1906) 113; Knötel, Paul: Hermann Luchs. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 18. und 19. Jahrhunderts. Breslau 1926 (Schlesische Lebensbilder 2), 282–285; Arndt, Jürgen (Bearb.): Biographisches Lexikon der Heraldiker sowie Sphragistiker, Vexillologen und Insignologen. Neustadt a. d. Aisch 1992 ( J. Siebmachers Großes Wappenbuch H), 330. 18 Luchs: Schlesische Landes- und Städtewappen. 19 Neubecker, Ottfried: Clericus, Ludwig. In: Neue Deutsche Biographie 3 (1957) 287–288; Arndt (Bearb.): Biographisches Lexikon, 87. 20 Saurma Freiherr von und zu der Jeltsch, Hugo (Hg.): Wappenbuch der schlesischen Städte und Städtel. Berlin 1870.

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sionierter Sammler schlesischer Wappen, Siegel sowie Münzen und Medaillen, denen auch sein Forschungs- und Publikationsinteresse galt; überdies war er ein bedeutsamer Mäzen des Museums Schlesischer Altertümer zu Breslau, dem er noch zu Lebzeiten seine Sammlungen überließ.21 Ausgangspunkt für sein Wappenbuch, so schildert er in der Vorrede zu dessen Entstehungsgeschichte,22 waren zunächst zwei von ihm erworbene Silesiaca-Sammlungen: der literarische Nachlass des Bediensteten des Königlichen Museums zu Berlin Kretschmer und die numismatisch-sphragistische Sammlung von Friedrich August Voßberg23 (1800–1870). Um weiteres Material zu gewinnen, wandte sich Saurma-Jeltsch 1868 brieflich an die rund 250 schlesischen Städte mit der Bitte um Zusendung von Siegeln und historischen Mitteilungen und verband diese Anfrage geschickt mit dem Angebot der Subskription des entstehenden Werks.24 Das Resultat war allerdings enttäuschend und lässt Rückschlüsse auf das damalige Selbstverständnis der Städte bezüglich ihrer Wappen und damit ihrer „Hoheitszeichen“ zu: Nur 33 Städte antworteten überhaupt, weniger als die Hälfte unterstützte das Vorhaben mit Materialien, nur 18 subskribierten den Band. Da der Autor selbst dienstlich in Berlin verhindert war, beauftragte er nun seinen „artistischen Mitarbeiter, Herrn L[udwig] Clericus“,25 zu zwei mehrmonatigen Reisen nach Schlesien. Dieser förderte bei seinen Recherchen im Staatsarchiv Breslau und in den Reichsgräflichen Majoratsbibliotheken der Schaffgotsch in Warmbrunn und der Hochberg auf dem Fürstenstein reichhaltiges Material zu Tage, so dass mit Beratung und Unterstützung weiterer Fachkollegen mit der Realisierung des Wappenbuchs begonnen werden konnte. Saurma-Jeltsch behandelt die Wappen von 241 schlesischen Städten und Marktflecken in alphabetischer Reihenfolge. Er gibt jeweils zunächst einen kurzen historischen Abriss der Stadtgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Stadt- und Erbherren, der Pfandbesitzer, städtischen Erbvögte und Hauptleute, da sich häufig Elemente aus deren Wappen in jenen der Orte finden. Sodann werden die Stadtsiegel in ihrer bildlichen Darstellung und mit ihren Umschriften beschrieben, wobei die eigens angefertigte Drucktype der Umschrift nachempfunden ist und auch sphragistische Sonderzeichen wiedergegeben werden. Die eigentliche Beschreibung des Wappens ist allgemeinverständlich, entspricht nicht der Fachsprache der Blasonierung, wenn auch die Seitenangaben der Wappen den heraldischen Regeln entsprechen, rechts und links also

21 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Bahrfeldt, Enil: Nekrolog [† Hugo Freiherr Saurma von und zu der Jeltsch]. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift 7 (1897) 97–100; Riggauer, Hans: Saurma-Jeltsch, Hugo Freiherr von. In: Allgemeine Deutsche Biographie 53 (1907) 720; Arndt (Bearb.): Biographisches Lexikon, 466. 22 Saurma (Hg.): Wappenbuch, III–VI (Zitat IIIf.). 23 Köhne, B[ernhard] von: Nekrolog F. A. Voßberg. In: Berliner Blätter für Münz-, Siegel- und Wappenkunde 5 (1870) 323–324; Friedländer, Ernst: Voßberg, Friedrich August. In: Allgemeine Deutsche Biographie 40 (1896) 367; Arndt (Bearb.): Biographisches Lexikon, 564. 24 Der Ladenpreis für das Buch betrug 12 Mark. Vgl. Verkaufsangebot in: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift 4 (1888) 24. 25 Saurma (Hg.): Wappenbuch, IV.

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Bilderlexikon der Wappen schlesischer Städte, geordnet nach Heiligen, Menschenfiguren und -teilen. Bildnachweis: Saurma Freiherr von und zu der Jeltsch, Hugo (Hg.): Wappenbuch der schlesischen Städte und Städtel. Berlin 1870, 418.

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vom Schildhalter aus gesehen werden. Der Autor hat sein Werk mit Nachträgen und Berichtigungen sowie Registern der Orts- und Familiennamen versehen. Am Anfang eines jeden Artikels ist das aktuelle Stadt- oder Ortswappen dargestellt, und zwar als Schwarz-Weiß-Zeichnung des Schildes mit den heraldischen Farbschraffierungen, gelegentlich auch weitere historische Wappen; auf Schildhalter, Mauerkronen und ähnliches wurde indes verzichtet. Alle diese Wappendarstellungen sind schließlich in Form eines Bilderlexikons zum Identifizieren nach dem Schildinhalt zusammengestellt, und zwar in der Abfolge Heilige, Menschenfiguren und -teile, Tiere, Bäume und Pflanzen, geometrische Figuren, Werkzeuge, Buchstaben, Stadtmauern und Gebäude. Ursprünglich nicht vorgesehen, dann aber wegen des Bezugs zu den Texten am Schluss angefügt, sind elf lithographische Tafeln mit Zeichnungen von 162 Siegeln in Originalgröße, angefertigt von Ludwig Clericus, von dem auch die durch Holzschnitte vervielfältigten Wappenzeichnungen stammen. Methodisch zeigt sich hier exemplarisch das enge Zusammengehen von Sphragistik und Heraldik, gehen doch die Wappen in der Regel aus den Siegeln hervor oder werden Siegelinhalte in die Wappen übernommen, wobei dann die Farbgebung hinzukommt. Nur beides zusammen zu betrachten, ist sinnvoll. Auch der Bezug zur Stadtgeschichte ist wesentlich, wie bereits Saurma-Jeltsch seinen Lesern erklärt: „Ein wissenschaftlich behandeltes Wappenbuch muss sich aber dadurch vom blossen Bilderbuch unterscheiden, dass es die Entstehung der Wappen erklärt, mindestens die Erklärung anbahnt.“26 Ein entsprechendes Wappenbuch würde man noch heute so erarbeiten und anlegen wie Saurma-Jeltsch es tat, freilich mit den drucktechnisch aktuellen gestalterischen Möglichkeiten. Das zweite, 28 Jahre später erschienene Buch stammt vom Altmeister der Wappenkunde und der heraldischen Grafik, Otto Hupp27 (1859–1949). Hupp plante eine etwa zehn Hefte umfassende Buchreihe Die Wappen und Siegel der deutschen Städte, Flecken und Dörfer, von denen er jedoch nur fünf fertigstellen konnte, darunter als zweites jenes über Pommern, Posen und Schlesien.28 Die von ihm in seinem unverkennbaren Stil gemalten Wappen sind alle in Farbe wiedergegeben, und zwar nur in Schildform, abgesehen von den bekrönten Provinzwappen. Die Wappenbeschreibung ist in Form der knappen Blasonierung gehalten, darauf folgt die ins Detail gehende Beschreibung der bekannten Ortssiegel einschließlich ausgemessener Größenangabe. Im Unterschied zu Saurma-Jeltsch, auf dessen Wappenbuch seine Arbeit aufbaut, legt Hupp Wert auf die möglichst vollständige Aufzählung aller bekannt gewordenen Siegel eines Ortes, die er 26 Ebd., V. 27 Neubecker, Ottfried: Hupp, Otto. In: Neue Deutsche Biographie 10 (1974) 74; Arndt (Bearb.): Biographisches Lexikon, 231f. 28 Hupp, Otto: Die Wappen und Siegel der deutschen Städte, Flecken und Dörfer. Nach amtlichen und archivalischen Quellen, Bd. 1: Königreich Preußen, H. 2: Die Wappen und Siegel der Städte, Flecken und Dörfer der preußischen Provinzen Pommern, Posen und Schlesien. Frankfurt a. M. 1898 [ND Bonn 1985, 1989, 2006].

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jedoch – und dieses Mankos ist er sich bewusst – nicht abzubilden vermag. Die starke Berücksichtigung der Siegel geht auf die Ableitung der Wappen aus den Siegeln zurück. Hupp berücksichtigt zudem die für die schlesischen Städte ausgestellten kaiserlichen und landesherrlichen Wappenbriefe, aus denen er besonders die Wappenbeschreibungen zitiert. Die gelegentliche Auseinandersetzung mit der Literatur erfolgt bei den Siegelbeschreibungen, auf Angaben zur Stadtgeschichte verzichtet er jedoch. Hupp konnte sich für sein Arbeitsvorhaben einer breiten Unterstützung durch Stadtbehörden, staatliche und städtische Archive sowie Museen erfreuen, was ein gewachsenes Interesse an der Stadtheraldik bezeugt, für deren breite Popularisierung ab 1913 auch die Herausgabe seiner Wappendarstellungen als Sammelbilder für Kaffee HAG-Sammelalben sorgte. Hupps Bemühen war jedoch nicht nur historischer Art, er wollte mit seinem Werk auch Stadtwappen nach den Regeln der Heraldik korrigieren. Schlesischerseits war der aus Glogau gebürtige Paul Knötel29 (1858–1934) – von Beruf Gymnasiallehrer, aus Passion Kunsthistoriker – der produktivste schreibende Heraldiker. Er publizierte 15 Zeitschriftenbeiträge zur Wappenkunde, darunter neun zu schlesischen Themen, vornehmlich den Städtewappen und -siegeln in Oberschlesien und der Grafschaft Glatz; die Aufsätze erschienen zum Teil auch als separate Kleinschriften.30 Zudem verfasste Knötel eine allgemeine Arbeit über Bürgerliche Heraldik,31 womit er einen neuen Themenbereich eröffnete. Der auch mit schlesischen Beispielen illustrierte Abriss beinhaltet als Einführung Allgemeines zur Heraldik sowie Abschnitte zu Städte- und Gemeindewappen, zu Kirchensiegeln, zu Innungs-, Vereins- und Familienwappen. Er erschien in drei Auflagen 1902, 1903 und 1922 im Umfang von 30 bis 38 Seiten und mit jeweils zwischen 17 und 29 Abbildungen. In einer Besprechung der dritten Auflage stellte der französische Hilfswissenschaftler Max Prinet (1867–1937) 29 Kurpiun, Robert: Paul Knötel. Ein Nachruf. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 68 (1934) 202–206; ders.: Paul Knötel. Ein Lebensbild. In: Der Oberschlesier 20 (1938) 171– 175; Arndt (Bearb.): Biographisches Lexikon, 271; Abmeier, Hans-Ludwig: Die Familie Knötel aus Glogau. In: Bein, Werner/Schellakowsky, Johannes/Schmilewski, Ulrich (Bearb.): Glogau im Wandel der Zeiten. Głogów poprzez wieki. Würzburg 1992, 386–391, hier 389–391; Skop, Michał: Paul Knötel – Kunsthistoriker, Historiograph, Publizist und Herausgeber. In: Hałub, Marek (Hg.): Śląska republika uczonych – Schlesische Gelehrtenrepublik – Slezská vědecká obec, Bd. 8. Dresden/Wrocław 2018, 264–275. 30 Knötel: Städtewappen der Grafschaft Glatz; ders.: Der schlesische Adler; ders.: Ursprung und Entwicklung der städtischen Siegelbilder; ders.: Städtewappen Oberschlesiens; ders.: Wappen der oberschlesischen Städte und nach 1914; ders.: Die Farben der oberschlesischen Städtewappen. In: Oberschlesien 14 (1916) 145–157; ders.: Die Wappen am Westportal der katholischen Pfarrkirche in Patschkau und ihre Bedeutung für deren Baugeschichte. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 51 (1917) 73–91; ders.: Schlesische Städtebildnisse auf Siegeln. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 57 (1923) 106–113; ders.: Städtewappen der Grafschaft Glatz. In: Die Grafschaft Glatz. Illustrierte Zeitschrift des Glatzer Gebirgs Vereins 20 (1925) 26–27. 31 Knötel, Paul: Bürgerliche Heraldik. Beilage zum Jahresbericht des Königlichen Realgymnasiums zu Tarnowitz. Tarnowitz 1902 [21903, Breslau 31922].

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fest, die Originalität dieser Arbeit bestehe darin, dass Knötel über das Historisch-Fachliche hinaus „praktische Ratschläge für die Gestaltung neuer Wappen“32 gebe. Für den Bereich der Adelswappen sind die Werke von Leonhard Dorst (1809–1852), Alfred Freiherr von Krane (1840–1907) und Konrad Blaźek (1839–1903) vorzustellen. Leonhard Dorst,33 1850 als Dorst von Schatzberg nobilitiert, war Architekt und als Baurat bei der Herzogin von Sagan beschäftigt. Als Heraldiker gab er im Buntdruck drei große Wappenbücher34 heraus, von denen hier sein Werk Schlesisches Wappenbuch oder die Wappen des Adels im Souverainen Herzogthum Schlesien, der Grafschaft Glatz und der Oberlausitz35 von Interesse ist. Das umfangreiche Werk erschien in drei Teilbänden, womit auch das auf Selbstwerbung beruhende Geschäftsmodell des Görlitzer Verlags von G. Heinze deutlich wird. Seine Informationen bezog Dorst, da es keine schlesische Adelsmatrikel gab, über den Weg der Korrespondenz wohl hauptsächlich mit den Adelsfamilien selbst, Archiven und anderen Heraldikern, wobei sich Unrichtigkeiten eingeschlichen haben können, wie er selbst angibt. Im Textteil des Buches bietet Dorst eine ausführliche Wappenbeschreibung, sehr knappe Angaben zu Nobilitierung, Standeserhöhung und Wappenverbesserung sowie zum Gutsbesitz nach dem Jahrgang 1845/46 der Reihe Schlesische Instantien-Notitz, jedoch keine Bemerkungen zu den gebrauchten Siegeln. Der Abbildungsteil besteht aus 181 farbig lithographierten Tafeln mit hinreichend guten Darstellungen, das Wappen eines Fürsten allein, jene von Grafen und Freiherren zu zweit, von einfachen Adeligen zu viert auf einer Tafel, also durchaus rangmäßig gegliedert. Auf diese Weise werden die Wappen von 531 Adelsfamilien bildlich vorgestellt und von 443 Familien beschrieben, da der dritte Textteil nicht erschienen ist. Mit seinem Werk hatte Dorst ein heraldisches Handbuch über den schlesischen Adel geschaffen, das Alfred Freiherr von Krane nach über einem halben Jahrhundert in dem von ihm herausgegebenen Wappen- und Handbuch des in Schlesien (einschliesslich der Oberlausitz) landgesessenen Adels36 aktualisierte, verbesserte und erweiterte. Mit den geschichtlichen Angaben zur Familie, der Blasonierung, der Nennung des Gutsherrn und seines Besitzes mit genauer Größe in Hektar zum Stichtag 1. Januar 1900 sowie dem Datum des Besitzerwerbs gab er dem Textteil jedoch mehr den Charakter eines 32 Prinet, Max: Rezension zu Knötel, Bürgerliche Heraldik. In: Bibliothèque de l’École des chartes 84 (1923) 208–209, hier 208: „De plus – et c’est ce qui fait l’originalité de son ouvrage – il donne des conseils pratiques pour la confection de nouvelles armoiries.“ 33 Arndt (Bearb.): Biographisches Lexikon, 109. 34 Dorst, Leonhard (Hg.): Allgemeines Wappenbuch, enthaltend die Wappen aller Fürsten, Grafen, Barone, Edelleute, Städte, Stifter und Patrizier. Ein Hand- und Musterbuch für Wappensammler, Graveure, Stein- und Glasschneider, Porzellan-Maler, Decorateure, Bildhauer, Lithographen u.s.w., Bd. 1–2. Görlitz 1843–1846; ders. (Hg.): Württembergisches Wappenbuch oder die Wappen des immatriculierten Adels im Königreich Württemberg, H. 1–10. Halle 1843–1846. 35 Ders. (Hg.): Schlesisches Wappenbuch oder die Wappen des Adels im Souverainen Herzogthum Schlesien, der Grafschaft Glatz und der Oberlausitz, Bd. 1–3. Görlitz 1843–1846. 36 Krane, Alfred Freiherr von (Hg.): Wappen- und Handbuch des in Schlesien (einschliesslich der Oberlausitz) landgesessenen Adels. Mit Zeichnungen von Professor Ad[olf ] M[atthias] Hildebrandt. Görlitz 1901–1904.

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Nachschlagewerks. Zum Wappenbuch wurde sein Werk dagegen durch die 125 Farbtafeln mit 481 Wappenzeichnungen von Adolf Matthias Hildebrandt37 (1844–1918), die bis heute von klassischer Eleganz sind. Neu war das von Krane beigegebene Wappenbilder-Lexikon,38 das in einfache Heroldsstücke und natürliche Figuren eingeteilt die Zuordnung eines Wappens nach dessen Inhalt zu einer Familie ermöglichte. Behandelte Krane den blühenden Adel Schlesiens, so befasste sich der Priester Konrad Blaźek39 im Rahmen der Reihe „Neuer Siebmacher“ mit dem ausgestorbenen Adel der preußischen Provinz Schlesien und der Oberlausitz sowie – erstmals – mit dem Adel von Österreichisch-Schlesien.40 Die umfangreichen Bände erschienen in den Jahren 1885 bis 1894 und waren nach dem Schema der Reihe gehalten, also mit Bemerkungen zu Herkommen und Geschichte des Adelsgeschlechts, einer Wappenbeschreibung und gelegentlich Angaben zum Besitz. Die Werke enthalten lediglich schwarz-weiße und, sofern bekannt, heraldisch schraffierte Wappenzeichnungen, die Konrad Blaźek in beachtlicher Zahl selbst anfertigte – für den Adel in Preußisch-Schlesien sind es nicht weniger als 3.447, für jenen in Österreichisch-Schlesien 950 Wappen. Für den preußischen Teil Schlesiens berücksichtigte er erstmals auch den Dienstadel; ausschlaggebend für die Aufnahme unter den österreichisch-schlesischen Adel war der Besitz landtäflicher Güter, da das hier notwendige Inkolat in der Regel für Böhmen, Mähren und Schlesien erteilt wurde, viele Familien jedoch keine Beziehungen zu Schlesien hatten. Die Schildinhalte der schlesischen Adelswappen wurden auch auf die typischen Elemente aus der polnischen Heraldik hin untersucht,41 um auf diesem Weg zu Aussagen über die Zusammensetzung des schlesischen Adels in der Frühzeit zu gelangen. Dies wurde auch polnischerseits zur Kenntnis genommen.42 Die Arbeiten zur schlesischen Heraldik bis 1914 waren durchaus beachtlich und thematisch vielfältig mit den Schwerpunkten auf den landesherrlichen, kommunalen und Adelswappen sowie ersten Ansätzen zur bürgerlichen Heraldik. Fast kein Augenmerk wurde dagegen auf die Edition von Wappenbüchern der Vor- und Frühdruckzeit,43 auf 37 38 39 40

Arndt (Bearb.): Biographisches Lexikon, 204f. Krane (Hg.): Wappen- und Handbuch, vor dem Tafelteil. Arndt (Bearb.): Biographisches Lexikon, 52. Blaźek, Konrad: Der Adel von Österreichisch-Schlesien. Nürnberg 1885 ( J. Siebmacher’s großes und allgemeines Wappenbuch 4/11); ders.: Der Abgestorbene Adel der Preußischen Provinz Schlesien und der O. Lausitz, Tl. 1–3. Nürnberg 1887–1894 ( J. Siebmacher’s großes und allgemeines Wappenbuch 6/8) [ND in einem Band u. d. T. Die Wappen des schlesischen Adels. Neustadt a. d. Aisch 1977 ( J. Siebmacher’s großes Wappenbuch 17)]. 41 Elsner von Gronow, M[artin]: Betrachtungen über polnische Wappen und Adelsgeschlechter, insbesondere auch deren Erscheinen in Schlesien. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift 4 (1888) 517–527. 42 Piekosiński, Franciszek: Rycerstwo polskie wieków średnich, Bd. 1: O dynastycznem Szlachty polskiej pochodzeniu. Kraków 1896, 44–46. 43 ����������������������������������������������������������������������������������������� Ein entsprechender Hinweis erfolgte zumindest von Luchs, Hermann: Sechs unedirte schlesische Wappenbücher. In: Der Deutsche Herold. Zeitschrift für Heraldik, Sphragistik und Genealogie 16 (1885) 59–62.

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die Erfassung der etwa in einer Stadt vorkommenden Wappen oder auf Wappenbilderlexika gelegt. Im Vordergrund standen methodisch das Sammeln und Bekanntmachen von Wappen, verbunden mit historischen Erläuterungen. Dass diese über das rein Heraldische hinausgingen, auch Sphragistisches, Genealogisches, Allgemeingeschichtliches und gegebenenfalls Zusatzinformationen enthielten, zeigt, dass die Heraldik keine Hilfswissenschaft aus sich heraus, sondern im Zusammenwirken mit weiteren Hilfswissenschaften ist, insbesondere der Sphragistik. Zu eng gegriffen und zu sehr aus dem eigenen Blickwinkel gesehen erscheint es jedoch, in der Heraldik allgemein lediglich eine Hilfswissenschaft etwa der Kunstgeschichte zu sehen, wie Hermann Luchs, selbst Kunsthistoriker, 1864 titelte.44

3. Sphragistik Sammelnd und historisch-kritisch publizierend befasste sich mit schlesischen Siegeln als erster Johann Gustav Gottlieb Büsching45 (1783–1829), der als Säkularisationskommissar und Archivar einen direkten Zugriff auf Urkunden und die daran befindlichen Siegel hatte. Ab 1812 legte er eine Siegelsammlung in Abgüssen an und publizierte zwischen 1815 und 1824 verschiedene Abhandlungen über mittelalterliche schlesische Siegel, fast stets mit Siegelzeichnungen auf Steindrucktafeln.46 Dass Büsching methodisch am Anfang der kritischen Geschichtswissenschaft stand, zeigen seine Siegelbeschreibungen in der wohl für ein breiteres Publikum gedachten Veröffentlichung Von Schlesischen Siegeln, die für 28 Siegel zwar die Umschrift und ungenau die Herkunft – zum Beispiel an einer Urkunde vom Jahr 1226 – sowie die Rücksiegel verzeichnen, nicht aber die 44 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Die Heraldik eine Hülfswissenschaft der Kunstgeschichte. Jahresbericht über die städtische höhere Töchterschule am Ritterplatz zu Breslau 1864. Breslau 1864. 45 Schultze, Alwin: Büsching, Johann Gustav Gottlieb. In: Allgemeine Deutsche Biographie 3  (1867) 645–646; Jessen, Hans: Johann Gustav Büsching. In: Andreae, Friedrich/Graber, Ernst/Hippe, Max (Hg.): Schlesier des 16. bis 19. Jahrhunderts. Breslau 1931 (Schlesische Lebensbilder 4), 288–301; Hałub, Marek: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829. Ein Beitrag zur Begründung der schlesischen Kulturgeschichte. Wrocław 1997 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1978); Kersken, Norbert: Die Begründung institutionalisierter landesgeschichtlicher Forschung im frühen 19. Jahrhundert: Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829) im Kontext der zeitgenössischen schlesischen Historiographie. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2019 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 28), 131–158. 46 Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Der alten Schlesischen Herzoge, Städte, Äbte usw. Siegel in Abgüssen und Abdrücken. Berlin 1815; ders.: Descriptiones authenticae nonnullorum sigillorum medii aevi, in tabulis silesiacis repertae [...] Cum deliniationibus XXVIII antiquorum sigillorum silesiacorum in IV tabulis lithographicis. Vratislaviae 1824; ders.: De antiquis silesiacis sigillis et eorum descirptione authentica in tabulis silesiacis [...] Cum delineationibus XXVIII antiquorum sigillorum silesiacorum in IV tabulis lithograhiicis. Vratislaviae 1824; [ders.]: Von Schlesischen Siegeln. Mit vier Steindrucktafeln. Breslau 1824.

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Größe und das Material des Siegels angeben und den Siegelinhalt allein der Abbildung47 überlassen. In der akademischen Ausführung der Abhandlung De antiquis silesiacis sigillis – einer Schrift zur Übernahme in das Ordinariat an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau – veröffentlichte er zu denselben Siegeln deren Beschreibungen aus Urkundenabschriften, allerdings ebenfalls ohne Bemerkungen zu Größe und Siegelmaterial. Dies ist umso auffälliger, als Büsching als erster neben der kulturgeschichtlichen Bedeutung der Siegel auch auf deren kunstgeschichtliche Relevanz hinwies. Nahezu Neuland, auch für die Sphragistik,48 betrat Büsching mit seiner 1820 veröffentlichten Habilitationsschrift De signis et signetis Notariorum veterum in Silesiacis tabulis,49 in der er sich mit Notariatsinstrumenten befasste. Hier teilte er Beobachtungen zum Formular von Notariatsinstrumenten an schlesischen Beispielen mit und gab auf sieben Tafeln 100 Notariatssignets der Zeit zwischen 1289 und 1550 in Zeichnungen wieder. Mit dieser Schrift wurde er zum ordentlichen Professor für mittelalterliche Kunstgeschichte und Diplomatik ernannt und damit Vertreter und Lehrer der historischen Hilfswissenschaften an der Universität Breslau. Für die schlesische Siegelkunde kann Büsching als Wegbereiter bezeichnet werden. Die wichtigsten Werke zur schlesischen Siegelkunde kamen in den Jahren 1870 bis 1879 heraus. Auf Saurma-Jeltschs Werk von 1870 zu den Städtewappen mit der Beschreibung und Darstellung der Stadtsiegel ist bereits hingewiesen worden. War dies eine Einzelarbeit, so gehören die beiden anderen Werke in den Gesamtzusammenhang des vom Verein für Geschichte und Altertum Schlesiens50 betriebenen Großprojekts der Herausgabe der Schlesischen Regesten als Quellengrundlage für die schlesische Mediävistik. Deren erste Teillieferung von Band 1 lag 1868 vor, der sechste und letzte Band erschien 1930. „Schon als der erste Band der schlesischen Regesten herausgegeben war, beabsichtigte der Verein [...], als Ergänzung dieser Regesten-Sammlung die Abbildungen der in ihr erwähnten schlesischen Siegel zu veröffentlichen“, schrieb Alwin Schultz51 (1838–1909) in dem von ihm 1871 herausgegebenen Band Die Schlesischen Siegel bis 1250.52 Er wies 47 Die vier Tafeln zeigen 28 Siegel und vier Rotae; sie sind identisch mit jenen in Büschings Schrift De antiquis silesiacis sigillis. 48 Auf Notariatssignets hatten bereits Johann Wilhelm von Göbel (1683–1745) im Jahr 1723 und Daniel Eberhard Baring (1690–1753) im Jahr 1737 sowie 1754 mit Abbildungen hingewiesen. Vgl. Kersken: Büsching, 143 Anm. 59. 49 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Büschingius, Iohannes Gustavus Theophilus: De signis et signetis Notariorum veterum in Silesiacis tabulis, praemissa brevi comparatione tabularum silesiacarum cum germanicis. Cum C signetis in VII tabulis lithographicis. Vratislaviae 1820. 50 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Kersken, Norbert: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung: Der „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 87–120. 51 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Gruber, Ch[ristine]/Lebensaft, E[lisabeth]/Seidel, J[ohannes]: Alwin Schultz. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950 11 (1999) 341–342. 52 Schultz, Alwin (Hg.): Die Schlesischen Siegel bis 1250. Mit 9 lithographirten Tafeln. Breslau 1871 (Zitate 1 und Widmungsblatt).

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allerdings sogleich auf die „mannigfache[n] Hindernisse“ hin – Probleme der Materialbeschaffung und wohl der Finanzierung des Drucks –, „deren endliche Ueberwindung einzig und allein der Unterstützung Sr. Excellenz des Herrn Grafen [Rudolf ] Stillfried Alcántara [...] zu danken ist“. Ihm, „dem freigebigen Förderer“, waren dann auch die beiden Werke zugeeignet.53 Der Kunsthistoriker Schultz war der Auffassung, dass die „sphragistischen Denkmäler“ allgemein die Aufmerksamkeit des „Kunstforschers“ verdienten und speziell für die „diplomatische Kritik“ von Wichtigkeit seien. Untersuchen konnte Schultz alle im Staatsarchiv Breslau und im dortigen Domarchiv vorhandenen Siegel; das MalteserGroßprioratsarchiv in Wien verschloss sich jedoch seinen Bitten und fremden Unterstützungsschreiben um Abgüsse oder Zeichnungen dortiger schlesischer Siegel. Während Büsching Siegeln teilweise noch unkritisch gegenüberstand, erkannten Gustav Adolf Harald Stenzel54 (1792–1854), Wilhelm Wattenbach55 (1819–1897) und Colmar Grünhagen56 (1828–1911) bereits einzelne Siegel als Fälschungen. Im Zuge seiner umfänglichen und systematischen Untersuchungen kam Schultz anhand des Siegelmaterials und der Art der Befestigung des Siegels an der Urkunde zu dem Schluss, dass das Kloster Leubus ein Zentrum für die Fälschung schlesischer Siegel der Frühzeit war. Bei der Beschreibung gab Schultz jeweils die Regestennummer und die Siegelumschrift an, machte des weiteren Bemerkungen zur Farbe, den Siegelschnüren und etwaigen Verdachtsmomenten, verwies wegen des Inhalts und der Größe der Siegel jedoch vorrangig auf seine Zeichnungen im Originalformat, die 72 Siegel auf neun lithographierten 53 Zach, Franziska: Hof- und Dynastiegeschichtsschreibung in Schlesien: Rudolf Graf StillfriedAlcántara (1804–1882). In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 281–303; Gehrke, Roland: Rudolf Graf von Stillfried-Alcántara (1804–1882). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 11. Insingen 2012, 333–347. 54 Reimann, E[duard]: Stenzel, Gustav Adolf Harald. In: Allgemeine Deutsche Biographie 36 (1893) 53–57; Rachfahl, Felix: Gustav Adolf Harald Stenzel. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 19. Jahrhunderts. Breslau 1922 (Schlesische Lebensbilder 1), 298–305; Schmilewski, Ulrich: Neue Forschungsmethoden, neue Organisationsstrukturen: Zur wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit des Historikers Gustav Adolf Harald Stenzel (1792–1854) an der Universität Breslau. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 159–171. 55 Rodenberg, Carl: Wattenbach, Wilhelm. In: Allgemeine Deutsche Biographie 44 (1898) 439– 443; Grünhagen, Colmar: Wattenbach in Breslau 1855–1862. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 32 (1898) 345–358. 56 Wendt, Heinrich: Colmar Grünhagen. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 17. bis 19. Jahrhunderts. Breslau 1928 (Schlesische Lebensbilder 3), 362–371; Baumgart, Peter: Colmar Grünhagen (1282–1911). Ein nationalliberaler Historiker Schlesiens im Zweiten Kaiserreich. In: Weber, Matthias/Rabe, Carsten (Hg.): Silesiographia. Stand und Perspektiven der historischen Schlesienforschung. Festschrift für Norbert Conrads zum 60. Geburtstag. Würzburg 1998 (Wissenschaftliche Schriften des Vereins für Geschichte Schlesiens 4), 47–68; Rüther, Andreas: Borussische Geschichtsforschung in Schlesien: Colmar Grünhagen (1829–1911) – Werdegang, Schuleinflüsse und Wirkungskreise. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 217–254.

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Tafeln aus der Anstalt von W. Loeillot in Berlin umfassten.57 Die Beurteilung, ob er die richtige Methode der Publikation gewählt habe, überließ Schultz den Fachleuten, betrachtete er sich selbst doch als Laie auf dem Gebiet der Siegelkunde.58 Bereits acht Jahre später gab Paul Pfotenhauer59 (1842–1897) den ebenfalls großformatigen Folgeband Die Schlesischen Siegel von 1250 bis 1300 beziehentlich 1327 60 heraus, nun mit 26 photolithographischen Tafeln aus der Druckerei Römmler & Jonas in Dresden.61 Das Werk besteht aus zwei Abteilungen: Die erste enthält die Siegel der Herzöge, Bischöfe, des Domkapitels, von Geistlichen, Klöstern und Hospitälern sowie Städten, von denen 111 Abgüsse auf 14 Tafeln wiedergegeben sind, die zweite gilt den schlesischen Adelssiegeln mit 120 Abbildungen auf elf Tafeln. Diese zweite Abteilung wurde auf Wunsch des Mäzens bis zum Jahr 1327 weitergeführt, Stillfried-Alcántara steuerte gar fünf eigenhändig gezeichnete Darstellungen von heraldischen Grabsteinen auf einer weiteren Tafel bei. Pfotenhauer erhielt für sein Unternehmen nun breiteste Unterstützung und konnte für die Stadtsiegel auf Saurma-Jeltsch verweisen. Methodisch und darstellerisch folgte er dem Vorbild von Alwin Schultz, bot jedoch zusätzlich eine Beschreibung der Siegel nach dem Vorbild des „Altmeisters“ Georg Christian Friedrich Lisch62 (1801–1883). Mit diesen drei grundlegenden beschreibenden und abbildenden Werken war ein Fundament für die mittelalterliche Sphragistik Schlesiens gelegt, die einerseits aus dem aktuellen Hauptforschungsbereich der landeskundlichen Geschichtswissenschaft stammte, andererseits von dieser in erster Linie als Beitrag zur Urkundenkritik63 gesehen und verstanden wurde. In Aufsätzen wurden Einzelthemen behandelt wie die Siegel der Herzöge Boleslaw  II. von Liegnitz64 und Bolko II. von Schweidnitz,65 die Siegelstempel Herzog 57 Der Ladenpreis für das Buch betrug 9 Mark. Vgl. Verkaufsangebot. 58 Schultz: Schlesische Siegel bis 1250, 1–4. 59 Wutke, [Konrad]: Dr. Paul Pfotenhauer. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 32 (1898) 383–386. 60 Pfotenhauer, Paul (Hg.): Die Schlesischen Siegel von 1250 bis 1300 beziehentlich bis 1327. Mit 26 photolithographischen Tafeln. Breslau 1879. Vgl. zum Folgenden ebd., VIIf. 61 Der Ladenpreis für das Buch betrug 30 Mark. Vgl. Verkaufsangebot. 62 Krause, Karl Ernst Hermann: Lisch, Friedrich. In: Allgemeine Deutsche Biographie 18 (1883) 752–754; Arndt (Bearb.): Biographisches Lexikon, 322. Die Bezeichnung als „Altmeister“ bezog sich wohl auf die von Lisch herausgegebenen Bände 4 (1867) und 10 (1877) des mecklenburgischen Urkundenbuchs, das vielfach als Maßstab und Vorbild galt. 63 �������������������������������������������������������������������������������������������������� So bereits der Untertitel des Aufsatzes von Grotefend, Hermann: Die Siegel Boleslaw II. von Schlesien. Ein Beitrag zur Urkundenkritik. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 11 (1871) 171–187. „Das Siegel ist in hohem Grade ein Maßstab der Urkundenkritik.“ Bei den Siegeln kämen „wesentlich concrete meßbare Unterschiede zur Geltung“ (ebd., 171). 64 Ebd. 65 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Bauch, Alfred: Die Siegel Herzog Bolkos II. von Schweidnitz, Pfandherrn der Lausitz, mit besonderer Berücksichtigung des ältesten Wappens der Lausitz, resp. der Nieder-Lausitz. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift 4 (1888) 39–44.

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Ulrich Schmilewski Photolithographische Wiedergabe von Abgüssen von Siegeln der Herzöge Konrad II. von Sagan (Nr. 24–27) und Heinrich III. von Glogau (Nr. 28–30). Bildnachweis: Pfotenhauer, Paul: Die Schlesischen Siegel von 1250 bis 1300 beziehentlich bis 1327. Breslau 1879, Abt. A, Tafel IV.

Joachim Friedrichs von Liegnitz-Brieg66 und jene des Bischofs Lorenz von Breslau.67 Anderen thematischen Aspekten galten beispielsweise Untersuchungen über die Farben der Siegelfäden an schlesischen Herzogsurkunden des 14. Jahrhunderts,68 über die Gemeindesiegel des Kreises Neisse-Grottkau69 oder über den Adler auf schlesischen Amtssiegeln des 19. Jahrhunderts.70 66 Roehl, E[mil]: Siegelstempel Joachim Friedrichs von Liegnitz-Brieg. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift 5 (1894) 268–269. 67 Schulte, Wilhelm: Die Siegel des Bischofs Lorenz von Breslau (Zu A. Schultz, Die Schlesischen Siegel bis 1250). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 42 (1908) 268–279. 68 Bauch, A[lfred]: Ueber die Farben der Siegelfäden an Urkunden schlesischer Herzöge des 14. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 15 (1881) 545–546. 69 Kutzer, Paul: Die Gemeindesiegel der Kreise Neisse-Grottkau. In: Jahresberichte des Neisser Kunst- und Altertumsvereins 13 (1909) 32–36. 70 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Wilpert, Oskar: Der Adler auf schlesischen Amtssiegeln des 19. Jahrhunderts. In: Oberschlesische Heimat. Zeitschrift des Oberschlesischen Geschichtsvereins 2 (1906) 99–105.

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4. Genealogie Die Genealogie befasst sich mit der Rekonstruktion von Abstammung in direkter Folge und mit der Klärung von Verwandtschaftsverhältnissen. Beidem kam im adeligen Wettstreit um Alter, Würde und Vornehmheit besondere Bedeutung zu, legitimierte sich adeliger Vorrang doch durch Geschichte, durch „Altehrwürdigkeit“, durch Tradition. Eheliche Geburt war Voraussetzung für legitime Nachfolge und damit für Erbfähigkeit unter adelsspezifischen Voraussetzungen, etwa dem Prinzip der Primogenitur. Dies galt für jede Adelsfamilie allgemein, war aber von erhöhtem Interesse bei Dynastien, die über ganze Länder herrschten. In den Zeiten personaler Beziehungen wurden mit Verwandtschaft rechtliche Ansprüche verbunden, die auf dynastischer Ebene diplomatisch oder in Erbfolgekriegen geltend gemacht wurden. Genealogie war in ihren Anfängen daher vornehmlich auf den Adel ausgerichtet. Das mittelalterliche Dynastengeschlecht in Schlesien war ein Zweig der polnischen Königsfamilie der Piasten. Den Anfängen dieser Familie, ihrem Blühen und ihrem Vergehen widmeten bereits in der Zeit des Barock Autoren ihre Aufmerksamkeit, und zwar sowohl der Gesamtfamilie als auch einzelnen Zweigen. So befasste sich bereits 1592 der aus Löwenberg gebürtige und an der Universität zu Jena lehrende Historiker Elias Reusner71 (1555–1612) mit der Genealogie der Piasten.72 Neben nur bei Thomas73 in dessen Bibliographie nachgewiesenen Titeln ist das 1672 in Brieg erschienene Buch des Breslauer Advokaten Johann Christian Hallmann74 (um 1640–1716?) Schlesische Adlers-Fluegel/ oder Warhaffte Abbild- und Beschreibung Aller Koenige/ Ober-Regenten/ und Obristen Hertzoge über das gantze Land Schlesien von Piasto an biß auf [...] Kaiser [...] Leopoldum75 noch heute existent; es handelt sich um typisch barocke Lobgesänge auf die Oberherren Schlesiens vom sagenhaften Urvater Piast bis hin zu Kaiser Leopold I. Schließlich sei noch auf Friedrich Wilhelm von Sommersbergs76 (1698–1756) 71 Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste [...], Bd. 31. Halle/Leipzig 1742, Sp. 963; Jöcher, Christian Gottlieb: Allgemeines Gelehrten-Lexicon, Darinne die Gelehrten aller Stände sowohl männ- als weiblichen Geschlechts, welche vom Anfange der Welt bis auf die ietzige Zeit gelebt, und sich der gelehrten Welt bekannt gemacht, Nach ihrer Geburt, Leben, merckwürdigen Geschichten, Absterben und Schrifften aus den glaubwürdigsten Scribenten in alphabetischer Ordnung beschrieben werden, Bd. 3. Leipzig 1751, Sp. 2032. 72 Reusner, Elias: Basilikon. Opus genealogicum catholicum de praecipuis Familiis Imperatorum, regum, principum aliorumque procerum orbis Christiani. Frankfurt a. M. 1592. 73 Thomas: Handbuch, 37. 74 Klein, Albert: Hallmann, Johann Christian. In: Neue Deutsche Biographie 7 (1966) 564–565. 75 ������������������������������������������������������������������������������������������� Hallmann, Johann Christian: Schlesische Adlers-Flügel/ oder Warhaffte Abbild- und Beschreibung Aller Könige/ Ober-Regenten/ und Obirsten Hertzoge über das gantze Land Schlesien von Piasto an biß auf Unseren Regierenden AllerGnädigsten Kaiser/König/ und Obirsten Hertzog Leopoldum. Brieg 1672. 76 ���������������������������������������������������������������������������������������� Markgraf, [Hermann]: Sommersberg, Friedrich Wilhelm von. In: Allgemeine Deutsche Biographie 34 (1892) 615–617.

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im Jahr 1723 erschienene Tabulae genealogicae ducum superioris et inferioris Silesiae77 sowie die im dritten Teil seiner Scriptores rerum Silesiacarum 1732 veröffentlichten „Silesiorum rei historicae et genealogicae accessiones“78 hingewiesen, die Hermann Markgraf79 (1838–1906) 1872 als „des Inhalts wegen noch immer unentbehrlich“ bezeichnete, „trotz der unzuverlässigen, jeder editorischen Sorgfalt entbehrenden Texte“.80 All diese Arbeiten verbanden jedoch barockes Pathos mit sagenhaften Ursprungslegenden und schmeichelhaftem Lob, eben die Abkunft der Piasten vom legendären Stammvater Piast. Gleiches gilt für Arbeiten dieses Zeitraums zu einzelnen schlesischen Linien wie den Herzögen von Breslau, von Liegnitz-Brieg, von Münsterberg-Oels, von Schweidnitz-Jauer und jenen Oberschlesiens.81 Am Anfang der kritischen Geschichtsschreibung über die schlesischen Piasten steht ein Aufsatz von Georg Samuel Bandtke82 (1768–1835) – von ihm selbst im Titel als „Versuch“ bezeichnet –, der 1802 eine Untersuchung über die vier ersten schlesischen Herzöge in dem Aufklärungsorgan Schlesische Provinzialblätter veröffentlichte,83 die jedoch nicht primär genealogisch ausgerichtet war. Die Historiker befassten sich zunächst mit einzelnen Linien der schlesischen Piasten: Stenzel 1831 mit den piastischen Herzögen von Oels,84 1837/38 mit jenen von Oberschlesien,85 Gottlieb Biermann86 (1824–

77 ��������������������������������������������������������������������������������������������� [Sommersberg, Friedrich Wilhelm von]: Tabulae genealogicae ducum superioris et inferioris Silesiae ab initio saeculi XII. ad praesens usque XVIII. Breslau 1724. 78 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Silesiorum rei historicae et genealogicae accessiones [...]. Leipzig/Breslau 1732 (Silesiacarum rerum scriptores aliquot adhuc inediti 3). 79 ��������������������������������������������������������������������������������������� Wendt, H[einrich]: Zu Hermann Markgrafs Gedächtnis. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 40 (1906) 2*–48*; Hippe, Max: Hermann Markgraf. In: Andreae/Graber/ Hippe (Hg.): Schlesier des 16. bis 19. Jahrhunderts, 402–410; Rüffler, Alfred: Die Stadtbibliothek Breslau im Spiegel der Erinnerung. Sigmaringen 1997 (Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte 28), 66–75. 80 Umgestelltes Zitat aus Markgraf: Sommersberg, 616. 81 Thomas: Handbuch, 37–39. 82 Birkenmajer, Aleksander: Bandtkie (Bandtke) Jerzy Samuel (1768–1835), historyk, językoznawca i bibliograf. In: Polski słownik biograficzny 1 (1964) 260. 83 Bandtke, G[eorg] S[amuel]: Versuch einer kritischen Geschichte der vier ersten Herzoge von Schlesien, Boleslaus des Hohen, Miecislaus I. von Rattibor, Conrad I. von Glogau, und Jaroslaus von Oppeln und Neisse. In: Schlesische Provinzialblätter 35 (1802) 495–519. 84 Stenzel, Gustav Adolf: Beiträge zur Aufklärung der Schlesischen Geschichte. I. Genealogie der piastischen Herzoge von Oels. In: Allgemeines Archiv für die Geschichtskunde des Preußischen Staates 5 (1831) 244–258. 85 ������������������������������������������������������������������������������������������ Ders.: Zur Genealogie der Herzoge von Ober-Schlesien. In: Uebersicht der Arbeiten und Veränderungen der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur (1837) 116–117; (1838) 141–142. 86 Myška, Milan/Dokoupil, Lumír: Biermann, Gottlieb. In: Biografický slovník Slezska a severní Moravy 8 (1997) 19; Veselská, Jiřina/Makariusová, Marie: Biermann, Gottlieb. In: Biografický slovník českých zemí 5 (2006) 495–496.

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1901) 1862 mit den Herzögen von Auschwitz,87 Franz Kopetzky88 (1842–1901) 1869 mit den přemyslidischen Herzögen von Troppau,89 1872 Hermann Grotefend90 (1845– 1931) mit den Breslauer Piasten91 sowie Augustin Bogislaus Weltzel92 (1817–1897) ebenfalls mit den oberschlesischen Herzögen.93 Für die Zeit nach 1875, und dieses Jahr stellt für die Gesamtdarstellungen zur Genealogie der schlesischen Piasten eine Zäsur dar, folgten bis 1914 Untersuchungen zu den Bolkonen (1893)94 und abermals ein Aufsatz zu den oberschlesischen Piasten (1906).95 Ziel war stets, von sagenhaften Angaben befreite, quellenmäßig abgesicherte genealogische Angaben zu Geburt, Heirat und Tod sowie zu den verwandtschaftlichen Beziehungen zu eruieren. In Gang brachte die historisch-kritische Bearbeitung der Gesamtgenealogie der schlesischen Piasten das vorrangig kunst- und kulturgeschichtlich ausgerichtete Werk von Hermann Luchs Schlesische Fürstenbilder des Mittelalters,96 in dem auch genealogische Aspekte behandelt wurden und das im Anhang vier genealogische Stammtafeln enthält.97 Dieses Buch fand in fünf, meist kürzeren Mitteilungen in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens Berichtigungen und Ergänzungen,98 belebte also die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema. Ergänzungen hatte auch Grotefend beigesteuert, der von April 1870 bis Oktober 1874 Archivaspirant be87 [Biermann, Gottlieb]: Beiträge zur Genealogie der Herzoge von Auschwitz. In: Notizen-Blatt der historisch-statistischen Section der kais. königl. mährisch-schlesischen Gesellschaft zur Beförderung des Ackerbaues, der Natur- und Landeskunde (1862) 34–37, 44–48. 88 Heiduk, Franz: Oberschlesisches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch, Tl. 2. Berlin 1993, 64. 89 Kopetzky, Franz: Zur Geschichte und Genealogie der Přemyslidischen Herzoge von Troppau. Wien 1869. Ebenfalls abgedruckt in: Archiv für österreichische Geschichte 41 (1869) 1–112. 90 Ulrich, Theodor: Grotefend, Hermann. In: Neue Deutsche Biographie 7 (1966) 165–166. 91 Grotefend, Hermann: Zur Genealogie und Geschichte der Breslauer Piasten. In: Abhandlungen der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Phil.-hist. Abt. (1872/73) 51–110. 92 Nowack, Alfons: Augustin Weltzel. In: Andreae u. a. (Hg.): Schlesier des 19. Jahrhunderts, 176– 178; Snoch, Bogdan: Górnośląskie Leksykon Biograficzny. Suplement do wydania drugiego. Katowice 2006, 120. 93 Weltzel, A[ugustin]: Genealogie der oberschlesischen Herzoge. In: Schlesische Provinzialblätter N.F. 11 (1872) 59–66. 94 Rösener, Bruno: Etwas von den Bolkonen, Tl. 1–3. Schweidnitz 1893. 95 Knötel, Paul: Von den oberschlesischen Piasten. Erinnerungen und Denkmäler. In: Oberschlesien. Zeitschrift zur Pflege der Kenntnis und Vertretung der Interessen Oberschlesiens 5 (1906) 137–158. 96 Luchs, Hermann (Hg.): Schlesische Fürstenbilder des Mittelalters. Mit 47 Bildtafeln. Breslau 1872. 97 Der Ladenpreis für das Buch betrug 12 Mark. Vgl. Verkaufsangebot. 98 Jeweils unter „Bemerkungen, Ergänzungen und Berichtigungen zu neueren Schriften auf dem Gebiete der schlesischen Geschichte“ in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1869) 405–409 (Hermann Luchs), 11 (1872) 503–506 (Hermann Grotefend), 12  (1874) 228–231 (Carl Otto, J. Wilhelm Schulte), 12 (1875) 494–497 (Hermann Grotefend), 13 (1876/77) 532–537 (Hermann Markgraf ).

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ziehungsweise Archivsekretär in Breslau war, wo ihn Grünhagen in die Archivarbeit einführte und ihn – wie vermutet werden darf – auf die Bearbeitung der Genealogie der schlesischen Piasten ansetzte. 1875 legte Grotefend die Stammtafeln der schlesischen Fürsten bis zum Jahre 1740 99 vor, die er von ihm selbst „[e]ntworfen und mit Anmerkungen versehen“ herausgab. Es handelt sich dabei um ein Buch im Quart-Format von 64 Seiten mit genealogischen Tafeln auch der nichtpiastischen schlesischen Fürstenhäuser sowie der polnischen und böhmischen Könige. Grotefend ging dabei von den Sommersbergischen Arbeiten aus, ergänzte diese um neue Erkenntnisse und Quellenangaben aus schlesischen Archiven sowie besonders aus den Hauptstaatsarchiven in Dresden und Stuttgart.100 Nicht urkundlich oder chronikalisch Belegtes wurde auf den Tafeln in eckige Klammern gesetzt und so gekennzeichnet, Verwandtschaftsbeziehungen, Namen und Daten wurden im Anmerkungsteil mit Quellen- und Literaturverweisen diskutiert. Die Personen auf den Tafeln wurden schließlich in einem Register erfasst. Auffällig ist, dass Grotefend von der üblichen horizontalen Darstellung der Stammtafeln abwich und eine vertikale Form wählte. Bei der Vielzahl der Detailangaben verwundert nicht, dass es auch zu diesem Werk Ergänzungen und Berichtigungen gab, beispielsweise von Hermann Markgraf101 und Louis Neustadt;102 einzelnen Exemplaren sind sogar eigens acht Druckseiten mit gesammelten Nachträge und Berichtigungen beigefügt. Grotefend, inzwischen Leiter des Geheimen und Hauptstaatsarchivs Schwerin, arbeitete diese und weitere Verbesserungen in die zweite Auflage seines Werkes von 1889 ein.103 Die zweite Ausgabe erschien nun namens des Vereins für Geschichte und Altertum Schlesiens, auf dessen Anregung auch die erste Auflage zurückging, wie im Vorwort bemerkt wird. Sechs Jahre später veröffentlichte Oswald M. Balzer104 (1858–1933) seine umfangreiche, von der Akademie der Wissenschaften in Krakau herausgegebene Genealogia Piastów,105 in der jedoch die Linie der schlesischen Piasten nicht explizit behandelt wurde. Mit diesem Zweig beschäftigte sich weiterhin Konrad Wutke106 (1861–1951), der auf der Grundlage der zweiten Auflage des Grotefendschen Werkes nun seinerseits 1910 die Abhandlung Die Stamm- und Übersichstafeln der Schlesischen Piasten heraus199 Grotefend, H[ermann]: Stammtafeln der schlesischen Fürsten bis zum Jahre 1740. Entworfen und mit Anmerkungen versehen. Breslau 1875. 100 Ebd., Vorwort. 101 Markgraf: Bemerkungen, 532–537. 102 Neustadt, Louis: Beiträge zur Genealogie schlesischer Fürsten. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 22 (1888) 194–248. 103 Grotefend, H[ermann]: Stammtafeln der schlesischen Fürsten bis zum Jahre 1740. Namens des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens entworfen und mit Anmerkungen versehen. Breslau 21889. 104 Nowacki, Roman: Wybitni uczeni Uniwersytetu Jana Kazimierza – Oswald Balzer (1858– 1933). In: Rocznik Lwowski 6 (1999) 7–30. 105 Balzer, Oswald: Genealogia Piastów. Kraków 1895. 106 Bruchmann, Karl G.: Konrad Wutke. In: Neubach, Helmut/Petry, Ludwig (Hg.): Schlesier des 15. bis 20. Jahrhunderts. Würzburg 1968 (Schlesische Lebensbilder 5), 158–166.

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Stammtafel der Herzöge von Schweidnitz und Münsterberg. Bildnachweis: Grotefend, H[ermann]: Stammtafeln der schlesischen Fürsten bis zum Jahre 1740. Namens des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens entworfen und mit Anmerkungen versehen. Breslau 21889, Tafel IV.

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gab, und zwar in Form von zwölf großformatigen Tafeln; ein Jahr später legte er die entsprechenden Anmerkungen in Buchform vor.107 Wutke rezipierte eigene und fremde Forschungen, er berücksichtigte Balzers Forschungsergebnisse jedoch erst für die Tafeln der Linien Oppeln-Ratibor und Teschen sowie für die Přemysliden in TroppauLeobschütz und Jägerndorf-Ratibor.108 Da in den modernen genealogischen Handbüchern inzwischen auch die Geburts-, Heirats- und Sterbeorte angegeben wurden, folgte Wutke diesem Vorbild ab Tafel VI (Oppeln-Ratibor), für die vorhergehenden Tafeln holte er dies in den Anmerkungen nach.109 Das Vorhaben, sämtliche schlesische Piasten auf einer einzigen Tafel darzustellen, scheiterte zwar wegen der zu erwartenden Länge von fast sechs Metern aus technischen Gründen. Dennoch war die Herausgabe der großformatigen Tafeln eine buchdruckerische und verlegerische (Verlag Ferdinand Hirt) Großtat, ein Geschenk des Majors a. D. Constantin von Schweinichen auf Pawelwitz (1849–1911) an den Verein für Geschichte Schlesiens. Mit Grotefends und Wutkes Genealogien lagen aktuelle und in ihrer Gesamtheit bis heute grundlegende Werke vor. Der Geschichtsverein hatte sich der Aufgabe angenommen, die Genealogie des Gesamtgeschlechts der schlesischen Piasten zu erforschen und darzustellen, eine gesamtschlesische und zugleich regionalspezifische Aufgabe, der im Kaiserreich, als noch Dynastiengeschichte geschrieben wurde, eine besondere Bedeutung zukam. Ähnlich verlief die Entwicklung bei den genealogischen Arbeiten über schlesische Adelsfamilien. Nahezu am Anfang der Verzeichnisse des gesamten schlesischen Adels stehen, jedenfalls in bis heute nicht erreichter Vollständigkeit, die beiden 1720 und 1728 vorgelegten Bände Schlesischer Curiositäten110 von Johannes Sinapius111 (1657– 1725), die wertvolle Angaben verwandtschaftlicher Art und Mitteilungen aus Urkunden enthalten, insgesamt aber doch mit dem Schleier barocker Mythologie belegt waren. Ihren Titel verdanken sie Friedrich Lucaes112 (1644–1708) Werk Schlesiens curieuse Denckwürdigkeiten113 von 1689, wo auf über 150 Seiten der schlesische Adel behandelt wurde. Genealogische Tafeln bot Carl Ferdinand von Gruttschreiber (1699–?) in sei-

107 Wutke, Konrad (Hg.): Stamm- und Übersichtstafeln der Schlesischen Piasten. Auf Grund von H[ermann] Grotefends Stammtafeln der Schlesischen Fürsten bis zum Jahre 1740, Bd. 1–2. Breslau 1910–1911. 108 Ebd., Bd. 2, 1. 109 Ebd., Vorwort. 110 Sinapius, Johannes: Schlesischer Curiositäten Erste Vorstellung, Darinnen die ansehnlichen Geschlechter Des Schlesischen Adels [...]. Leipzig 1720 [ND Neustadt a. d. Aisch 1999]; ders.: Des Schlesischen Adels Anderer Theil oder Fortsetzung Schlesischer Curiositäten [...]. Leipzig/ Breslau 1728 [ND Neustadt a. d. Aisch 2000]. 111 Markgraf, [Hermann]: Sinapius. In: Allgemeine Deutsche Biographie 34 (1892) 386. 112 Grünhagen, Colmar: Lucae, Friedrich. In: Allgemeine Deutsche Biographie 19 (1884) 336– 337; Fleischer, Manfred P.: Friedrich Lucae (1644–1708). In: Menzel, Josef Joachim (Hg.): Schlesier des 15. bis 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2001 (Schlesische Lebensbilder 7), 66–71. 113 Lucae, Friedrich: Schlesiens curieuse Denckwürdigkeiten [...]. Frankfurt a. M. 1689, 1713– 1866.

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nem Werk Genealogische Nachlese von einigen Gräflichen, Freyherrlichen und Adelichen Geschlechts-Linien in Schlesien114 von 1765. Umfassender, wenn auch nicht unbedingt kritischer sind die großen deutschen Adelslexika des 19. Jahrhunderts, die auch schlesische Adelsfamilien vorstellten, etwa Leopold Freiherr von Zedlitz-Neukirchs115 (1792–1864) Neues Preußisches Adels-Lexicon,116 erschienen 1836 bis 1843, und Ernst Heinrich Kneschkes (1798–1869) Neues allgemeines Deutsches Adels-Lexicon117 der Jahre 1859 bis 1870. Eindeutig historischkritischen Charakter trägt die bedeutende Arbeit von Hermann Knothe118 (1821– 1903) über den oberlausitzischen Adel119 in alphabetischer Folge der Familiennamen; lexikalische Arbeiten speziell zum schlesischen Adel erschienen bis 1914 nicht. Die schlesische Geschichtswissenschaft befasste sich mit Einzelaspekten beziehungsweise -themen, beispielsweise den Lehensvasallen der Breslauer Fürstbischöfe,120 dem Adel des Fürstentums Oels im 16. Jahrhundert,121 der Ritterschaft in Teschen122 im selben Saeculum oder dem Nachweis des schlesischen Inkolats für einzelne Familien.123 Zahlreich sind dagegen die Veröffentlichungen zur Genealogie schlesischer Adelsfamilien. Schon Thomas124 verzeichnet bis zum Jahr 1824 solche für­ 67 Adelsfamilien, wenn auch unterschiedlicher Art: von biographischen Schriften wie Leichenpredigten über Verweise auf Sommersbergs Werk bis hin zu genealogischen Tafeln. Schriften die114 ������������������������������������������������������������������������������������������ Genealogiophilo [d.i. Carl Ferdinand von Gruttschreiber]: Genealogische Nachlese von einigen Gräflichen, Freyherrlichen und Adelichen Geschlechts-Linien in Schlesien, und besonders in dem Oels-Bernstädtischen Fürstenthume. Nach Alphabetischer Ordnung der Geschlechter in Genealogische Tabellen gebracht, Tl. 1–2. Oels 1765. 115 Poten, B[ernhard von]: Zedlitz: Leopold Ernst Gottlieb Konrad Freiherr von Z. und Neukirch. In: Allgemeine Deutsche Biographie 44 (1898) 748–749. 116 Zedlitz-Neukirch, L[eopold] Frhr. von (Bearb.): Neues Preußische Adels-Lexicon [...]. Bd. 1–6. Leipzig 1836–43 (die zweite Ausgabe erschien in fünf Bänden Leipzig 1842–1843). 117 ����������������������������������������������������������������������������������������� Kneschke, Ernst Heinrich (Hg.): Neues allgemeines Deutsches Adels-Lexicon, Bd. 1–9. Leipzig 1859–1870. 118 Weber, Danny: Hermann Friedrich Knothe (1821–1903). In: Neues Lausitzisches Magazin N.F. 7 (2004) 156–158. 119 Knothe, Hermann: Geschichte des Oberlausitzer Adels und seiner Güter vom XIII. bis gegen Ende des XVI. Jahrhunderts. Leipzig 1879; ders.: Fortsetzung der Geschichte des Oberlausitzer Adels und seiner Güter von Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1620. In: Neues Lausitzisches Magazin 63 (1888) 1–174. Beide Werke erschienen als Nachdruck in einem Band: Spitzkunnersdorf 2008. 120 König, Bruno: Die Lehensvasallen der Fürstbischöfe von Breslau. In: Zeitschrift für Geschichte und Kulturgeschichte Österreichisch-Schlesiens 14/15 (1919/20) 167–181. 121 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Pfotenhauer [Paul]: Der Adel des Fürstentums Oels im 16. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 21 (1887) 318–368. 122 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Ders.: Die Ritterschaft in Teschen im 16. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 18 (1884) 270–286. 123 Gritzner, M[aximilian]: Alphabetischer Nachweis der sämmtlichen adeligen Familien, welche das Schlesische Inkolat erhalten haben. In: Vierteljahresschrift für Heraldik, Sphragistik und Genealogie, Siegel- und Familienkunde 16 (1888) 492–519. 124 Thomas: Handbuch, 112–123.

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ser Art, auch Manuskripte, setzten Ende des 16. Jahrhunderts125 ein und traten im 18.  Jahrhundert massiert auf. Historisch-kritische Arbeiten nahmen mit Einführung dieser Methode zu, wenn auch manches – bis heute – einer eingehenden Kritik nicht unbedingt standhalten mag. Und genauso häufig handelte es sich nicht um rein genealogische, sondern vielmehr um besitzgeschichtliche und landeskundliche Arbeiten im weitesten Sinn.126 Als wissenschaftlich können Arbeiten gelten, die von Hausarchivaren oder von Berufshistorikern erarbeitet wurden, häufig im Auftrag einzelner Adelsfamilien, die dann auch den Druck der Werke finanzierten. Ausdruck dieser Wissenschaftlichkeit sind unter anderem urkundliche Geschichten einer Familie, in denen Urkunden ediert oder als Regest publiziert wurden. Als Beispiele wissenschaftlicher Arbeiten seien genannt Konrad Wutkes Aufsatz über die Würben von 1891,127 Carl Weigelts (1829–1906) Monographie über die Hochbergs von 1896,128 Constantin von Schweinichens Geschichte seiner Familie von 1904,129 die zweibändige Arbeit Eberhard Graf Haugwitz’ (1850–1931) über sein Geschlecht nach Urkunden und Regesten aus sechs Archiven von 1910,130 Albert Hirtz’ urkundliche Geschichte der Familie von Biberstein aus dem Jahr 1911131 sowie die während des Ersten Weltkriegs publizierte, auch für Schlesien relevante Aufsatzfolge von Władysław Semkowicz132 (1878–1949) über das Geschlecht der Awdance.133 Auch zur bürgerlichen Familienforschung erschienen bis 1914 einige Arbeiten, etwa die Urkundliche Chronik der Familien Bartsch134 in zwei Bänden von 1899 und 125 Ebd.; Thomas verweist auf: Gründtliche Beschreibung Der Wallfart nach dem heiligen Lande neben vermeldung der jemmerlichen und langwirigen Gefengnuß derselben Gesellschaft etc. Gestellet durch den Edlen, Ehrvesten Melchior von Seydlitz zu Niklaßdorff in Schlesien [...]. Görlitz 1580. 126 ������������������������������������������������������������������������������������������ Schmilewski, Ulrich: Der schlesische Adel bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Herkunft, Zusammensetzung und politisch-gesellschaftliche Rolle. Würzburg 2001 (Wissenschaftliche Schriften des Vereins für Geschichte Schlesiens 5), 50f. 127 Wutke, C[onrad]: Zur Geschichte von Würben bei Schweidnitz. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 25 (1891) 236–273. 128 Weigelt, Carl: Die Grafen von Hochberg vom Fürstenstein. Ein Beitrag zur vaterländischen Culturgeschichte. Breslau 1896. 129 ������������������������������������������������������������������������������������������ Schweinichen, Constantin von: Zur Geschichte des Geschlechts derer von Schweinichen. Breslau 1904–1907. 130 Haugwitz, Eberhard Graf (Bearb.): Die Geschichte der Familie Haugwitz. Nach den Urkunden und Regesten aus den Archiven von Dresden, Naumburg, Breslau, Prag, Brünn und Wien, Bd. 1–2. Leipzig 1910. 131 Hirtz, Albert: Urkundliche Beiträge zur Geschichte der edlen Herren von Biberstein und ihrer Güter. Aus dem handschriftlichen Nachlaß des Generalmajors Paul Rogalla von Bieberstein. Reichenberg 1911. 132 ����������������������������������������������������������������������������������������� Bieńkowski, Wiesław: Semkowicz, Władysław Jan Aleksander. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 12. Wien 2005, 167–168. 133 Semkowicz, Władysław: Ród Awdańców w wiekach średnich. In: Rocznik Towarzystwa Przyjacioł Nauk Poznańskiego 44 (1917) 153–293; 45 (1918) 161–310; 46 (1919) 111–239. 134 Bartsch, Ewald Theodor Hermann: Urkundliche Chronik der Familien Bartsch zu Striegau, Liegnitz, Jauer, Freiburg, Tl. 1–5. Loschwitz 1899–1906.

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1906 sowie das Werk Genealogisches Handbuch bürgerlicher Familien135 ab 1889. Eine intensivere Beschäftigung mit der Genealogie bürgerlicher Familien setzte allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg ein. Die Hauptbemühungen der schlesischen Landesgeschichte im Bereich der Genealogie galten den schlesischen Piasten und den schlesischen Adelsfamilien. Aufgabe war es, die barocken Überlieferungen mittels der historisch-kritischen Methode zu überprüfen und zu korrigieren, indem die Ergebnisse der Diplomatik auf die Genealogie angewandt wurden.

5. Numismatik Stammtafeln, insgesamt 54, enthält auch das bekannteste numismatische Werk des Breslauer Arztes Johann Christian Kundmann136 (1684–1751) Silesii in Nummis,137 das 1738 erschien. Aus verschiedenen schlesischen Münzsammlungen schöpfend, beschrieb der Autor die bildlichen Darstellungen und Inschriften (mit Übersetzung ins Deutsche) von Medaillen, die berühmte und gelehrte Schlesier darstellen; auf 34 Tafeln werden 106 Medaillen mit Avers und Revers in Stichen abgebildet. Größen- und Gewichtsangaben, solche zur Herstellungstechnik und über die Künstler fehlen jedoch. Wohl wissend, dass der Polyhistor und Numismatiker Wilhelm Ernst Tentzel138 (1659– 1707) bereits früher empfohlen hatte, „man solle bey Beschreibung der Müntzen die weitläufftige Historie hinweg lassen“,139 folgte Kundmann dieser Empfehlung nicht; für ihn waren Medaillen Ausgangspunkte für geschichtliche und genealogische Betrachtungen. Kundmann ergänzte und setzte damit das 27 Jahre zuvor erschienene Werk von Gottfried Dewerdeck140 (1675–1726) Silesia numismatica141 hinsichtlich der Medail135 Genealogisches Handbuch bürgerlicher Familien, Bd. 1–28. Berlin u. a. 1889–1914. Spezielle Bände zu Schlesien erschienen erst in den Jahren 1931, 1941, 1970 und 1978. 136 ������������������������������������������������������������������������������������� Schimmelpfennig, [Adolf ]: Kundmann, Johann Christian. In: Allgemeine Deutsche Biographie 17 (1883) 377; Friedensburg, Ferdinand: Johann Christian Kundmann. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 17. bis 19. Jahrhunderts, 149–154. 137 Kundmann, Johann Christian: Silesii in Nummis oder Beruehmte Schlesier in Müntzen, So durch Grosse-Helden-Thaten, durch Hohe und wichtige Amts-Würden, Oder durch Gelehrsamkeit und Schrifften, Ihren Nahmen unvergeßlich gemacht. Breslau/Leipzig 1738. 138 Wegele, [Franz Xaver von]: Tentzel, Wilhelm Ernst. In: Allgemein Deutsche Biographie 37 (1894) 571–572. 139 Kundmann: Silesii in nummis, Vorrede (unpaginiert). Kundmann verstand diesen Punkt unter Umständen falsch, wurden doch gerade in dem Tentzelschen Werk, auf das er sich bezog, die Anlässe für die Medaillenanfertigungen sowie die jeweiligen historischen und genealogischen Zusammenhänge ausführlich behandelt. 140 Schimmelpfennig, [Adolf ]: Dewerdeck, Gottfried. In: Allgemeine Deutsche Biographie 5 (1877) 100–101. 141 ��������������������������������������������������������������������������������������� Dewerdeck, Gottfried: Silesia numismatica oder Einleitung zu dem Schlesischen Müntz-Cabinet, in welchem biß 368. theils sehr alte rare und schöne im Lande verfertigte Müntzen [...] entdecket werden. Jauer 1711. Eine Übersicht über den Inhalt dieses Werkes ist an anderer

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lenbeschreibung fort, auch dieses mit Abbildungen auf 41 Kupferstichtafeln nach dem genannten Muster. Das Sammeln von Münzen war eine Passion der Zeit, als „Münz-Belustigung“ diente sie der Repräsentation, dem Vergnügen und der weitläufigen Gelehrsamkeit. Deshalb wurden Verzeichnisse von Sammlungen gern publiziert, auch solche aus Schlesien, wie etwa das des Arletischen Schlesischen Münzkabinetts der Rhedigerischen Bibliothek142 oder das zu St. Maria-Magdalena zu Breslau.143 Darüber hinaus befasste man sich bis 1824 auch mit regionalen Münzprägungen und Münzreduktionen, Wertveränderungen, Zinsberechnungen, dem schlesischen landwirtschaftlichen Kredit-System sowie schlesischen Pfandbriefen.144 Einen frühen Überblick über Schlesiens Münzen und Medaillen145 auf der Grundlage seiner eigenen, später dem Museum Schlesischer Altertümer geschenkten Sammlung veröffentlichte 1883 Hugo Freiherr von Saurma-Jeltsch. Dabei handelte es sich um ein tabellarisches Verzeichnis mit nur wenigen Angaben zu den einzelnen Stücken; von größerem Nutzen waren dagegen die 50 Tafeln mit den Wiedergaben der Münzen und Medaillen in Holzstichen. Erklärtes Ziel der Abhandlung war es, den Bestand an erhaltenen schlesischen Geprägen festzustellen; für die wissenschaftliche Auswertung verwies der Autor auf eine in Arbeit befindliche Publikation, bei der es sich nur um das erste Werk von Ferdinand Friedensburg (1858–1930) handeln kann. Der aus Liegnitz gebürtige Friedensburg146 ist die herausragende Persönlichkeit sowohl der wissenschaftlichen Münzkunde in Schlesien als auch der gesamtdeutschen Numismatik. Von Beruf war er Jurist, daneben entwickelte er sich unter der Anleitung von Markgraf vom jugendlichen Münzsammler zum anerkannten Münzforscher. Für seine wissenschaftlich-numismatischen Arbeiten wurde er 1908 von der Universität Breslau zum Doctor honoris causa ernannt. Ein Jahr später habilitierte er sich an der Breslauer Alma Mater als erster Privatdozent für Numismatik. Friedensburg, von 1894 bis 1905 Vorsitzender der Numismatischen Gesellschaft zu Berlin, wurde zu seinem 70. Geburtstag mit der Ehrenmitgliedschaft des Vereins für Geschichte Schlesiens gewürdigt und Stelle publiziert. Vgl. ders.: Kurtzer Begrieff eines Werckes Silesia numismatica genannt. O. O. 1708. 142 Scheibel, Johann Ephraim: Beschreibung des Arletischen Schlesischen Münzcabinets auf der öffentlichen Rhedigerischen Bibliothek zu Breslau nach seinem Bestand zu Anfange des J. 1802, den Liebhabern der Schlesischen Münzkunde mitgeteilt. In: Literarische Beilage zu den Schlesischen Provinzialblättern (1802) 33–48. 143 Catalog des Münzcabinets zu St. Maria-Magdalena in Breslau. Manuskript Ropp. Zit. nach Thomas: Handbuch, 197. 144 Thomas: Handbuch, 195–199. 145 Saurma-Jeltsch, Hugo Freiherr von: Schlesiens Münzen und Medaillen [Mit 50 Tafeln]. Breslau 1883. 146 ���������������������������������������������������������������������������������������� Wendt, H[einrich]: [Nachruf ] Ferdinand Friedensburg. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 64 (1930) 290–293; Sponsel, J[ean] L[ouis]: Friedensburg, Ferdinand †. In: Zeitschrift für Numismatik der Numismatischen Gesellschaft zu Berlin 40 (1930) 182–184; Seger, Hans: Ferdinand Friedensburg. In: Andreae/Graber/Hippe (Hg.): Schlesier des 16. bis 19. Jahrhunderts, 416–419.

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Die schlesische Ärzte Johannes Crato von Krafftheim (1519–1585), Johannes Jessen (1566–1621) und Gottfried Woyssel (1582–1628) auf Medaillen, jeweils Avers und Revers. Bildnachweis: Kundmann, Johann Christian: Silesii in Nummis Oder Berühmte Schlesier in Muentzen [...]. Breslau/Leipzig 1738, Tafel XXIX.

mit einem ihm gewidmeten Heft der Zeitschrift Altschlesien147 seitens des Schlesischen Altertumsvereins geehrt. Friedensburg befasste sich nicht nur mit der schlesischen, sondern auch mit der gesamtdeutschen Münzkunde und verband diese mit der Geldund Wirtschaftsgeschichte. Ihm ging es auch darum, die Bedeutung von Münzen im geistigen, wirtschaftlichen und politischen Leben zu verdeutlichen, kurz – um einen Titel seiner Bücher zu bemühen – die Münze in der Kulturgeschichte148 vorzustellen. In seinem von ihm selbst als chef-d’œuvre betrachteten Werk Die Symbolik der Mittelaltermünzen149 entwickelte Friedensburg erstmals „eine einheitliche Theorie der Mittelaltermünze aus den Anschauungen ihrer Zeit“, wie Hans Seger (1864–1943) im Jahr 1931 urteilte, und suchte zugleich den Nachweis, „daß den scheinbar willkürlichen Zeichen auf mittelalterlichen Geprägen in Wahrheit ein tiefer Sinn vorwiegend religiöser oder zauberischer Art zugrunde liegt“.150 Insgesamt verfasste Friedensburg zehn Bücher und 147 Altschlesien. Mitteilungen des Schlesischen Altertumsvereins und der Arbeitsgemeinschaft für oberschlesische Ur- und Frühgeschichte 2/2 (1928) (mit Porträt). 148 Friedensburg, Ferdinand: Die Münze in der Kulturgeschichte. Berlin 1909 [21926]. 149 Ders.: Die Symbolik der Mittelaltermünzen, Bd. 1–2. Berlin 1913–1922. 150 Seger, Friedensburg, 417f.

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129 Aufsätze zu numismatischen Themen151 – er war damit einer der produktivsten Numismatiker seiner Zeit. Seine eigene Sammlung schlesischer mittelalterlicher Münzen schenkte er dem Schlesischen Museum für Kunstgewerbe und Altertümer in Breslau. Friedensburgs Hauptarbeitsgebiet waren jedoch die Münzen Schlesiens, über die er neben zahlreichen Aufsätzen nicht weniger als sieben Monographien ­veröffentlichte. Seine erste Abhandlung vom Jahr 1886, die Hermann Markgraf gewidmet war, galt Schlesiens Münzen und Münzwesen vor dem Jahr 1220.152 In ihr wurden erstmals umfassend und eingehend die ältesten Münzen Schlesiens untersucht. Zweck des Buches war es zudem, wie der Autor in seinem Vorwort schrieb, „dass die alten Münzen Schlesiens nicht mehr wie bisher unter den polnischen Geprägen verloren und den Polen überlassen bleiben, sondern auch dem deutschen Forscher durch ein deutsches Buch zugänglich werden mögen“.153 Von den Münzfunden ausgehend, befasste sich Friedensburg mit den Münzen als solchen, dem herzoglichen Münzrecht, der zeitlichen Einordnung der Münzen und dem schlesischen Münzwesen anhand der urkundlichen Überlieferung. Zeitlich ausgeweitet hat Friedensburg seine Arbeit in dem dreiteiligen Werk Schlesiens Münzgeschichte im Mittelalter,154 das durch den Verein für Geschichte Schlesiens herausgebracht wurde. Der erste Teil ist ein bis ins 16. Jahrhundert reichendes Urkundenbuch mit Quelleneditionen und Zeichnungen von Münzen, der zweite bietet eine Beschreibung von Münzfunden, die chronologische Einordnung der Münzen, deren Beschreibung nach Gepräge, Gewicht und Feingehalt sowie eine Darstellung des Geld-, Rechnungs- und Münzwesens, der dritte, 15 Jahre später erschienene Teil enthält Ergänzungen. Friedensburg ersetzte auch hier Dewerdecks Ordnung der Münzen nach Prägeherren durch eine geographisch-genealogische nach Fürstentümern, um so die größeren Entwicklungslinien der Münzgeschichte besser herausarbeiten zu können. In derselben Ordnung wurde von ihm das Thema bis in die Zeit der Freiheitskriege in seiner 1899 erschienen Publikation Schlesiens neuere Münzgeschichte155 fortgeführt. Bei der Fülle des Materials war es nun allerdings nicht mehr möglich, die Münzen einzeln zu betrachten und zu beschreiben, sie mussten vielmehr zusammenfassend besprochen werden. Einer der Anhänge gilt bemerkenswerterweise „Schlesischen Münzpersonen“, 151 Verzeichnis der münzgeschichtlichen Arbeiten von Ferdinand Friedensburg. In: Altschlesien 2 (1928) 75–80. 152 ��������������������������������������������������������������������������������������� Friedensburg, F[erdinand]: Schlesiens Münzen und Münzwesen bis zum Jahr 1220. Mit 2 Tafeln Abbildungen. Breslau 1886. 153 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., Vorwort (unpaginiert). Friedensburg, der sich Übersetzungen hatte anfertigen lassen, bezog sich auf zwei Werke von Stroczyński, K[azimierz]: Pienądze Piastów. Od czasów najdawniejszych do roku 1300. Rozbiorem źródeł spółczesnych i wykopalisk, oraz porównaniem typów menniczych objaśnione. Warszawa 1847; ders.: Dawne monety polskie dynastyi Piastów i Jagiellonów. Piotrków 1883–1885. 154 Friedensburg, F[erdinand]: Schlesiens Münzgeschichte im Mittelalter, Tl. 1: Urkundenbuch und Münztafeln [mit 17 Tafeln], Tl. 2: Münzgeschichte und Münzbeschreibung, Tl. 3: Ergänzungsband [mit 2 Tafeln]. Breslau 1887–1904 (Codex diplomaticus Silesiae 12, 13, 23). 155 Ders.: Schlesiens neuere Münzgeschichte. Breslau 1899 (Codex diplomaticus Silesiae 19).

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Büsten von Ferdinand Friedensburg und Emil Bahrfeldt als Vorsitzende der Numismatischen Gesellschaft zu Berlin auf der Vorderseite der von Ernst Deitenbeck geschaffenen galvanoplastischen Medaille von 1903 zum 60jährigen Bestehen der Gesellschaft. Bildnachweis: Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, 18234911 (Aufnahme durch Reinhard Saczewski).

also Münzpächtern, Eisenschneidern, Münzbeamten und anderen Personen. Was fehlte, waren Abbildungen und eine „Bearbeitung vom Standpunkt des Sammlers“,156 die Friedensburg und Hans Seger157 in dem mit 50 Tafeln ausgestatteten und nun vom Verein für das Museum schlesischer Altertümer herausgegebenen Band Schlesiens Münzen und Medaillen der neueren Zeit158 zwei Jahre später boten. Ergänzend sei mitgeteilt, dass – ebenfalls vom Standpunkt des Sammlers aus bearbeitet – 1931 ein Werk über Die schlesischen Münzen des Mittelalters vorgelegt wurde.159 Das Resultat seiner wissenschaftlichen Arbeit in den genannten Monographien und in den zahlreichen Aufsätzen zu nahezu jedem Bereich der schlesischen Münzkunde schätzte Friedensburg selbst als einen Besitz ein, „wie ihn zur Zeit kein anderes deutsches Land aufweisen kann“.160 1904 konstatierte er, dass „das Gesammtbild unseres Wissens von dem Münzwesen unserer Heimath [...] sich aller Voraussicht noch auf lange hinaus nicht mehr wesentlich ändern“161 wird. Sein Biograph Hans Seger stellte fest, dass das „äußerst schwierige Gebiet“ der schlesischen Numismatik des Mittelalters überhaupt erst durch Friedensburgs Forschungen erschlossen worden sei.162 Friedensburg, dessen Arbeiten bis zur Gegenwart Bestand haben, dominierte die Forschung zur Numismatik im Oderland vollständig. Neben ihm befassten sich nur wenige andere Autoren mit diesem Arbeitsgebiet. Im Vordergrund standen dabei regionale Münzprägungen, etwa aus Breslau, Glogau, Glatz, Beuthen O.S., Teschen, Troppau und Jägerndorf.163 156 Ebd., V. 157 Jahn, Martin: Hans Seger zum siebzigsten Geburtstage. In: Altschlesien 5 (1934) [Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Seger], 1–4. 158 Friedensburg, F[erdinand]/Seger, H[ans]: Schlesiens Münzen und Medaillen der neueren Zeit. Mit 50 Tafeln. Breslau 1901. 159 ������������������������������������������������������������������������������������������ Friedensburg, Ferdinand: Die schlesischen Münzen des Mittelalters. Mit 15 Tafeln im Lichtdruck. Breslau 1931. 160 Ders.: Schlesiens neuere Münzgeschichte, V. 161 Ders.: Schlesiens Münzgeschichte im Mittelalter, Tl. 3, Vorwort (unpaginiert). 162 Seger: Friedensburg, 417. 163 Loewe: Bibliographie, 281–284.

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6. Chronologie Eigenständige Forschungen zu Fragen der Zeitberechnung und -einteilung sind in Schlesien so gut wie nicht entstanden. Man wandte aber die andernorts gewonnenen Erkenntnisse an, etwa bei der Aufschlüsselung von Datumsangaben älterer Art in Urkunden und chronikalischen Werken, also im Rahmen diplomatischer Arbeiten. Zudem wurden chronologische Fragen als Teilabschnitte in Arbeiten über einzelne mittelalterliche Kanzleien diskutiert. Auch wenn Loewe in seiner Bibliographie keine eigenständigen Beiträge zu dieser Thematik auflistete, so sei doch zumindest auf frühe Schreibkalender hingewiesen, die von praktischem Nutzen waren und die auch in Schlesien herausgegeben wurden. Der älteste bei Thomas164 genannte galt dem Jahr 1570.165 Der Schreibkalender für 1596 stellte noch den julianischen und den gregorianischen Kalender einander gegenüber166 (in Schlesien war der Kalenderwechsel offiziell zwölf Jahre früher, am 13.jul/23. Januar 1584greg., durchgeführt worden). Auf die Verbindung von Zeitrechnung und Astrologie, also die Deutung von Zusammenhängen astronomischer Ereignisse mit irdischen Vorgängen, weist der Titel Großer Calender und astrologische Practica auf das Jahr 1611167 hin.

7. Historische Geographie Die kartographische Darstellung Schlesiens auf einer selbständigen Karte begann mit der Silesiae descriptio des Sebastian Münster168 (1488–1552) von 1544, gefolgt von der ersten auf eigenen Beobachtungen und Messungen beruhenden Schlesienkarte von Martin Helwig169 (1516–1574) von 1561. Sie setzte sich dann mit der Entwicklung der technischen Möglichkeiten des Drucks durch Kupferstich und Lithographie fort. Es entstanden Atlanten und Gesamtkarten von Schlesien, Darstellungen einzelner Für164 Thomas: Handbuch, 34f. 165 ���������������������������������������������������������������������������������������� Schreib=Calender auf das Jahr 1570 durch Thom. Petricovium. Breslau 1569. Zit. nach Thomas: Handbuch, 34. 166 Sarcephalus, Christopherus: Julianisch vnd Gregorianisch, d. i. Alt vnd Newer Numeration Schreib Calender, auff das Schalt Jahr so gezehlet wird nach Christo Jesu vnsers Herrn vnd Heilandes Geburt 1596. Breslau 1595. 167 Hanke, Valentin: Großer Calender und astrologische Practica auf das Jahr 1611. Breslau o. J. Zit. nach Thomas: Handbuch, 35. 168 Burmeister, Karl Heinz: Sebastian Münster. Versuch eines biographischen Gesamtbildes. Basel 1963 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 91); Prienser, Claus: Münster, Sebastian. In: Neue Deutsche Biographie 18 (1997) 539–541. 169 Schimmelpfennig, [Adolf ]: Helwig, Martin. In: Allgemeine Deutsche Biographie 11 (1880) 718; Gruhn, Herbert: Martin Helwig. In: Andreae/Graber/Hippe (Hg.): Schlesier des 16. bis 19. Jahrhunderts, 108–113.

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stentümer und Kreise, Regionalkarten (etwa des Riesengebirges), Spezialkarten wie Post- und Militärkarten und andere mehr.170 Kritisch mit der Geschichte der Kartographie Schlesiens bis zur preußischen Besitzergreifung171 setzte sich Alfons Heyer (1859– 1914) in seiner Breslauer Dissertation von 1891 auseinander, worin er zwei Aufsätze der beiden Vorjahre zusammenfasste.172 Vor 1824 erschienen nur einige wenige Publikationen im weiteren Bereich der Historischen Kartographie. Sie galten thematisch der Lage und Größe Schlesiens sowie Höhenbestimmungen des Riesengebirges und schlesischer Städte. Hier ist die 1650 erschienene Studie Urania propitia173 von Maria Cunitz174 (1610–1664) exemplarisch zu nennen. Historisch-kritische Arbeiten175 von verschiedenen Autoren behandelten thematisch die Entwicklung der Grenzen Schlesiens, die Grenzsysteme von Preseka und Dreigräben, die kartographische Darstellung und Topographie der Provinz, Biographie und Werk176 des Zeichners Friedrich Bernhard Werner177 (1690–1776) sowie den Plan eines geschichtlichen Atlanten der östlichen Provinzen Preußens.178 Insgesamt sind die Ar170 Thomas: Handbuch, 154–156. Überblicke bieten die illustrierten Kataloge von Lindner, Klaus: Zwischen Oder und Riesengebirge. Schlesische Karten aus fünf Jahrhunderten. Ausstellung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin (Ausstellungskataloge 29). Weißenhorn/Bayern 1987; Wytyczak. Roman: Śląsk w dawnej kartografii. Obraz Śląska na mapach XVI–XVIII wieku w zbiorach zakładu narodowego im. Ossolińskich we Wrocławiu. Wrocław 1998. 171 Heyer, Alfons: Geschichte der Kartographie Schlesiens bis zur preußischen Besitzergreifung. Breslau 1891. 172 Ders.: Die kartographischen Darstellungen Schlesiens bis zum Jahre 1720. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 23 (1889) 177–240; ders.: Die erste staatliche Vermessung Schlesiens unter Karl VI. (1720–1752). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 24 (1890) 305–355. 173 �������������������������������������������������������������������������������������������� Cunitia, Maria: Urania propitia sive Tabulae Astronomicae [...] ���������������������������� Das ist: Newe und Langgewünschete leichte Astronomische Tabelln [...]. Oels 1650. 174 Schimmelpfennig, [Adolf ]: Cunitz, Maria. In: Allgemeine Deutsche Biographie 4 (1867) 641; Knötel, Paul: Maria Cunitia. In: Andreae u. a. (Hg.): Schlesier des 17. bis 19. Jahrhunderts, 61– 65; Arndt, Margarete: Die Astronomin Maria Cunitz. Eine Gelehrte des schlesischen Barock. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 28 (1986) 87–99. 175 Loewe: Bibliographie, 66f. 176 ������������������������������������������������������������������������������������������� Bretschneider, Paul: Zur Biographie Friedrich Bernhard Werners. In: Schlesische Geschichtsblätter (1917) 65–66; ders.: Der Zeichner, Stecher und Chronist Friedrich Bernhard Werner und seine Arbeiten. Neustadt O.S. 1921; ders.: Aus dem Leben des schlesischen Zeichners Friedrich Bernhard Werner. In: Schlesische Monatshefte 2 (1925) 68–78; Rüffler, Alfred: Friedrich Bernhard Werner und seine Topographia Silesiae. In: Schlesische Monatshefte 3 (1926) 212–216. 177 Bretschneider, Paul: Friedrich Bernhard Werner. In: Andreae u. a. (Hg.): Schlesier des 17. bis 19. Jahrhunderts, 154–160; Marsch, Angelika: Friedrich Bernhard Werner 1690–1776. Corpus seiner europäischen Städteansichten, illustrierten Reisemanuskripte und der Topographien von Schlesien und Böhmen-Mähren. Weißenhorn 2010. 178 Curschmann, Fritz: Über den Plan zu einem geschichtlichen Atlas der östlichen Provinzen des preußischen Staates. In: Historische Vierteljahrsschrift 12 (1909) 1–37.

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beiten zur Historischen Geographie als eigener Disziplin bescheiden; viele Fragen, vor allem solche hinsichtlich der Ortsnamen, wurden hier im Rahmen der Diplomatik und anderer Disziplinen geklärt.

8. Zusammenfassung Unter dem Begriff Historische Hilfswissenschaften werden verschiedene Disziplinen zusammengefasst, die sich in ihrer Genese, ihrer Entwicklung und ihren Methoden voneinander unterscheiden. So kann man die Genealogie auf den frühmenschlichen Ahnenkult, das Münzwesen auf die Antike, die Heraldik auf den Beginn der Kreuzzüge und die Aktenkunde schließlich auf die Verwaltungsgeschichte des 20. Jahrhunderts zurückführen. Entsprechend lang oder kurz, verschlungen oder geradlinig waren die jeweiligen Entwicklungen, die Methoden wandelten sich vom bloßen Zusammentragen von Nachrichten und Objekten über deren systematische Sammlung zu repräsentativen und belehrenden Zwecken und deren ausschweifende Beschreibung bis hin zu einer kritisch-systematischen Verzeichnung und Betrachtung. Dabei ist auffällig und typisch, dass die verschiedenen Disziplinen nicht isoliert nebeneinander standen, sondern häufig ineinandergriffen: Siegel und Wappen, Wappen und Genealogie, Wappen und Münzen, und das alles in Zeit und Raum. Am Beginn der Geschichtswissenschaft, wie wir sie kennen, stand die Mediävistik. Das gilt auch für Schlesien. Von den mediävistischen Arbeitsvorhaben bis 1914, besonders der Urkunden- und Quellenforschung und damit konkret dem großen Arbeitsprojekt der Schlesischen Regesten, wurden auch die für sie relevanten hilfswissenschaftlichen Disziplinen angetrieben. Das gilt vor allem für die Genealogie und Sphragistik mit ihren bis heute grundlegenden Werken, aber auch für die Heraldik. Auf den Glücksfall in der Person Ferdinand Friedensburgs sind die Spitzenergebnisse in der Numismatik zurückzuführen, die auch über Schlesien hinaus wirkten, wohingegen sonst Anregungen und Methoden von anderen Zentren in das Oderland übernommen wurden. Wichtig für hilfswissenschaftliche Publikationen waren und sind immer Abbildungen, wobei man sich die Möglichkeiten der Zeit zunutze machte – von der Zeichnung über den Stich bis hin zum Lichtdruck. Zu den klassischen hilfswissenschaftlichen Disziplinen wurde bereits in der Zeit des Barock mit dem Ziel des Sammelns, Unterhaltens und Belehrens publiziert. Aufgabe der historisch-kritischen Methode als Ausdruck einer neuen Wissenschaftsepoche war es dann, diese Beiträge vom Staub der Legenden und Mythen zu befreien und auf das Wesentliche und Gesicherte zurückzuführen. Dazwischen lag eine kurze Phase des vergleichsweise unkritischen Edierens, wie sie bei Büsching im Bereich der Siegel vorkam. Thematisch standen naturgemäß landeskundlich-mittelalterliche Beiträge im Vordergrund. Auf die Neuzeit verweisen vornehmlich genealogische Arbeiten, in die Gegenwart nur einige heraldische Beiträge von Paul Knötel. In Ansätzen wurden neue Themenbereiche wie bürgerliche Heraldik und Genealogie angegangen. Die Methoden der

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hilfswissenschaftlichen Disziplinen übernahmen die Forscher in Schlesien, wandten sie in ihren Arbeiten an und verfeinerten sie, etwa bei den immer detaillierter und systematischer werdenden Beschreibungen von Siegeln und Münzen. Eigene allgemeingültige Beiträge zur Methode leisteten sie – mit Ausnahme Friedensburgs in der Numismatik – hingegen nicht. So finden sich für die einzelnen hilfswissenschaftlichen Disziplinen im Bereich der schlesischen Landeskunde gute Resultate und weiße Flecken, Höhen ebenso wie Tiefen.

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II. Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft

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Ius teutonicum und ständische Tradition. Rechts- und verfassungsgeschichtliche Forschungen schlesischer Historiker vor 1914 1. Einführung Die wissenschaftlichen Forschungen schlesischer Historiker mit Bezügen zur Rechtsund Verfassungsgeschichte lassen sich thematisch hauptsächlich in vier große Bereiche einteilen. Dazu gehören die editorische Grundlagenarbeit an den Quellen (2.), die verfassungsrechtliche Ordnung, Gerichtsbarkeit und territoriale Verwaltung mit ihren komplexen Beziehungen zwischen der fürstlichen Herrschaft und den landständischen Mitwirkungsrechten (3.), die Stadtverfassung (4.) sowie schließlich die dörflich-bäuerlichen Rechtsverhältnisse (5.). Geringer war das Interesse am Prozessrecht (6.), am Kirchenrecht (7.) sowie am Strafrecht (8.). Angesichts der Themenstellung bleiben die Rechtshistoriker der Juristischen Fakultät1 außer Betracht, unter denen berühmte Namen wie Theodor Mommsen,2 Ernst Theodor Gaupp,3 Wilhelm Eduard Wilda,4 Otto Stobbe,5 Felix Dahn6 und Otto von Gierke7 zu finden sind. Einen ersten allgemeinen Überblick 1 ��������������������������������������������������������������������������������������������������� Goerlitz, Theodor: Die schlesische Rechtsgeschichte als Arbeitsgebiet für die rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Breslau in den Jahren 1811–1936. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 71 (1936) 312–324; Weber, Matthias: Rechts- und Verfassungsgeschichte. In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/ Weimar/Wien 2005 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 11), 125–158, hier 128f. 2 ������������������������������������������������������������������������������������������� Schröder, Jan: Theodor Mommsen (1817–1903). In: Kleinheyer, Gerd/Schröder, Jan (Hg.): Deutsche und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. Heidelberg 52008 [11976], 298–303; Sturm, Fritz: Mommsen, Theodor (1817–1903). In: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3. Berlin 22016 [11984], 1582–1584; Schlinker, Steffen: Aus Norddeutschland nach Schlesien. Die Rechtshistoriker Theodor Mommsen (1817–1903) und Otto Friedrich von Gierke (1841– 1921) und ihre Netzwerke an der Universität Breslau. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert. Wien/ Köln/Weimar 2019 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 28), 197–215, hier 197–199. 3 Schulze, Hermann: Gaupp, Ernst Theodor. In: Allgemeine Deutsche Biographie 8 (1878) 425–430. 4 �������������������������������������������������������������������������������������� Kern, Bernd-Rüdiger: Wilda, Wilhelm Eduard. In: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 5. Berlin 1998, 1415–1418. 5 Ders.: Stobbe, Johann Ernst Otto. In: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4. Berlin 1990, 1998–2001; Scholze, Bettina: Otto Stobbe (1831–1887). Ein Leben für die Rechtsgermanistik. Berlin 2002 (Schriften zur Rechtsgeschichte 90). 6 Gehrke, Roland: Felix Dahn (1834–1912). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 9. Neustadt an der Aisch 2007, 285–292; Schildt, Bernd: Dahn, Felix (1834–1912). In: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1. Berlin 22008 [11971], 917. 7 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Schröder, Jan: Otto von Gierke (1841–1921). In: Kleinheyer/Schröder (Hg.): Deutsche und europäische Juristen, 152–158; Dilcher, Gerhard: Gierke, Otto von (1841–1921). In: Handwörterbuch

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über die historische Forschung in Schlesien geben die älteren Aufsätze zur schlesischen Geschichtsschreibung von Hermann Markgraf und Wilhelm Dersch.8 Die Geschichte der universitären Historiographie haben Friedrich Andreae,9 Georg Kaufmann, Johannes Ziekursch10 sowie Joachim Bahlcke11 eingehend untersucht. Eine Erörterung rechts- und verfassungshistorischer Forschung in Schlesien muss allerdings zunächst klären, inwieweit sich eine historische Arbeit als spezifisch rechtsoder verfassungsgeschichtlich qualifizieren lässt. Von der allgemeinen Geschichte unterscheidet sich die rechts- und verfassungsgeschichtliche Forschung nicht durch ihren Gegenstand, sondern durch die Konzentration auf die rechtliche Bedeutung von Geschehnissen, Texten, Institutionen, Sachen, Kunstwerken oder archäologischen Funden.12 Insofern ist zu fragen, welche Untersuchungen schlesischer Historiker gerade auch die rechtliche Relevanz ihres Forschungsobjekts in den Blick genommen haben. Des Weiteren geht es um den Verfassungsbegriff selbst. Während in heutiger juristischer Terminologie unter dem Begriff der „Verfassung“ ein schriftliches Staatsgrundgesetz verstanden wird und die Verfassungsgeschichte daher häufig auf die Geschichte der geschriebenen Verfassungstexte verkürzt wird, sollen als Verfassung hier „diejenigen rechtlichen Regeln und Strukturen [gelten], die das Gemeinwesen und damit die politische Ordnung prägen“ und die „als verbindlich gedacht“ werden.13 Zur Verfassungsgeschichte gehören daher nicht nur die Institutionen eines Staates, sondern auch alle „Institutionen und zwischenmenschlichen Beziehungen“, denen „Rechtscharakter“

zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2. Berlin 22012 [11978], 375–379; Schlinker: Aus Norddeutschland nach Schlesien, 208–210. 18 Markgraf, Hermann: Die Entwicklung der schlesischen Geschichtsschreibung [1888]. In: ders.: Kleine Schriften zur Geschichte Schlesiens und Breslaus. Breslau 1915 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau 12), 1–29; Dersch, Wilhelm: Vierzig Jahre schlesische Geschichtsforschung. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 65 (1931) 1–53. 19 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Andreae, Friedrich: Zur Geschichte des Breslauer Historischen Seminars. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 70 (1936) 320–328. 10 Kaufmann, Georg: Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Bd. 1: Geschichte der Universität Breslau 1811–1911. Breslau 1911; ders. (Hg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Bd. 2: Geschichte der Fächer, Institute und Ämter der Universität Breslau 1811–1911. Breslau 1911. Speziell zum Fach Geschichte vgl. Kaufmann, Georg/Ziekursch, Johannes: Geschichte. In: Kaufmann (Hg.): Festschrift, Bd. 2, 359–368. 11 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim: Das Historische Seminar der Universität Breslau 1811 bis 1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte. In: ders. (Hg.): Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2016 (Forschungen zu Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3), 217–238. 12 ����������������������������������������������������������������������������������������� Wieacker, Franz: Methode der Rechtsgeschichte. In: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, 518–526; Stolleis, Michael: Methode der Rechtsgeschichte. Ebd., 1475–1483; Haferkamp, Hans-Peter: Zur Methodologie der Rechtsgeschichte in Deutschland zwischen 1918 und 2018. In: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 87 (2019) 268–284. 13 Willoweit, Dietmar/Schlinker, Steffen: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands. München 82019 [11990], 2f.

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zukommt und die einen „Bezug [...] zum Gemeinwesen“ aufweisen.14 Unter dieser Prämisse wird ein historisch weiter Zugriff auf Ordnungsstrukturen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ermöglicht.

2. Editionen historischer Rechtsquellen a. Berichte über Quellenbestände Quellensammlungen können von vornherein die Edition von Rechtstexten zum ­Inhalt haben, wenn Stadtrechte, Rechtsbücher, Dorf- oder Policeyordnungen, Privilegien, Weistümer oder Urteile herausgegeben werden. Aber auch diejenigen historischen Quellen, die in Briefen, Geschichtswerken und sonstigen Aufzeichnungen zunächst nur über tatsächliche Ereignisse, Empfindungen oder Deutungsmodelle Auskunft geben wollen, weisen häufig – mitunter auch beiläufig – einen rechtlichen Bezug auf, wenn sie vertragliche Pflichten, die Zuordnung oder Übertragung von Gütern sowie das Bestehen oder den Umfang von Rechten thematisieren. Insofern enthalten viele Quelleneditionen Texte, die von rechtlicher Relevanz sind, weil sie die Rechtsverhältnisse ihrer Zeit spiegeln, Auskunft über private oder herrschaftlich-öffentliche Ordnungen geben und ein Licht auf die Rechtsvorstellungen der Akteure werfen. Einen umfassenden Überblick über die vielfältigen historischen Quellen veröffentlichte Wilhelm Wattenbach in seiner Breslauer Zeit im Jahr 1858 unter dem Titel Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts.15 Als erster Zugriff auf die Texte, die gar nicht selten auch über die verfassungsrechtlichen Zustände des frühen und hohen Mittelalters berichten, wird das später mehrfach aktualisierte Buch noch heute hoch geschätzt. Ein zweiter Bericht über historische Quellen, der sich speziell den Rechtshandschriften der Stadt Breslau widmete, wurde von Georg Bobertag gegen Ende der 1870er Jahre vorgelegt.16 b. Editionen zu dörflichen und städtischen Rechtsverhältnissen Eine umfassende Quellensammlung zur Gründung schlesischer Städte, zur Besiedlung mit deutschen Kolonisten17 und zur Verbreitung deutschen Rechts gaben Gustav Adolf 14 Ebd., 2. 15 �������������������������������������������������������������������������������������������� Wattenbach, W[ilhelm]: Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts. Berlin 1858. Zum Hintergrund vgl. Grünhagen, Colmar: Wattenbach in Breslau 1855–1862. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 32 (1898) 345–358. 16 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Bobertag, Georg: Die Rechtshandschriften der Stadt Breslau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 14 (1878/79) 156–207. 17 Helbig, Herbert: Die Anfänge der Landgemeinde in Schlesien. In: Buchda, Gerhard (Hg.): Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen, Bd. 2. Konstanz/Stuttgart 1964 (Vorträge und For-

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Harald Stenzel18 und Gustav Adolf Tzschoppe19 heraus. Sie leiteten ihre Edition mit einer gewichtigen zusammenhängenden Darstellung ein, die einen Bogen von der frühmittelalterlichen slawischen Zeit über die Ansiedlung deutscher Bauern und Handwerker seit dem 13. Jahrhundert bis zum Ende des Mittelalters spannte.20 Stenzel und Tzschoppe nahmen zum einen die Beziehungen der deutschen Siedler gegenüber den schlesischen Herzögen und den adeligen Grundherren in den Blick, zum anderen richteten sie ihr Augenmerk auf die Rechtsverhältnisse der Bauern, Handwerker und Kaufleute untereinander. Insofern kamen sowohl die Ausbildung dörflicher und städtischer Gemeinden, die Gerichtsverfassung sowie das Prozessverfahren zur Sprache als auch die bäuerlichen und städtischen Besitzverhältnisse sowie die damit verbundenen Lasten. Umfangreiche Regelungen in den Stadtrechten galten dem (heute so genannten) Wirtschaftsverwaltungsrecht. Ausführlich wurde erörtert, inwieweit die vorteilhafte Rechtsstellung der Bauern und Bürger inhaltlich auf der Verleihung des Magdeburger Rechts beruhte oder ob auch fränkisches und flämisches Recht zur Anwendung kam. Dieses Thema ist von der Forschung mehrfach aufgegriffen worden. Da in den Quellen alle drei Rechte Erwähnung fanden, wenn auch mit unterschiedlicher Häufigkeit, äußerten Stenzel und Tzschoppe die Vermutung, dass es von der Herkunft der Kolonisten abhänge, welches Recht im Rahmen einer Dorfgründung vergeben worden sei. Tatsächlich seien die Städte und Dörfer in Schlesien aber überwiegend mit sächsisch-magdeburgischem Recht bewidmet worden. Eine präzise inhaltliche Bestimmung, um welche rechtlichen Regeln es sich dabei überhaupt handelte, sucht man in den Urkunden – abgesehen von einigen Andeutungen – allerdings vergeblich. In der Regel wurde lediglich davon gesprochen, die Siedler sollten ius teutonicum, „deutsches Recht“, erhalten. Stenzel und Tzschoppe verstanden unter diesem Begriff vor allem eine schungen 8), 89–114; Trawkowski, Stanisław: Die Rolle der deutschen Dorfkolonisation und des deutschen Rechtes in Polen im 13. Jahrhundert. In: Schlesinger, Walter (Hg.): Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte. Sigmaringen 1975 (Vorträge und Forschungen 18), 349–368; Zernack, Klaus: Zusammenfassung: Die hochmittelalterliche Kolonisation in Ostmitteleuropa und ihre Stellung in der europäischen Geschichte. Ebd., 783–804. 18 Stenzel, Karl Gustav Wilhelm: Gustav Adolf Harald Stenzels Leben. Gotha 1897; Rachfahl, Felix: Gustav Adolf Harald Stenzel. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 11 (1898) 1–31; Kaufmann/Ziekursch: Geschichte, 360f.; Schmilewski, Ulrich: Neue Forschungsmethode, neue Organisationsstrukturen: Zur wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit des Historikers Gustav Adolf Harald Stenzel (1792–1854) an der Universität Breslau. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 159–171. 19 �������������������������������������������������������������������������������������� Stenzel, Gustav Adolf/Tzschoppe, Gustav Adolf: Urkundensammlung zur Geschichte des Ursprungs der Städte und der Einführung und Verbreitung Deutscher Kolonisten und Rechte in Schlesien und der Ober-Lausitz. Hamburg 1832. 20 Weber, Matthias: Quellen zur ländlichen Geschichte Schlesiens in der frühen Neuzeit, Tl. 1: Grundherrschaft und Gutsherrschaft in der Historiographie bis 1945. In: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 6 (1998) 117– 143, hier 126f.

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bestimmte, weitgehend autonome Rechtsstellung, eine bäuerliche Freiheit. Das entspricht auch heutiger Auffassung. Im Sachsenspiegel war diese Rechtsstellung insofern vorgezeichnet, als er das Recht der Rodungs- und Siedlungsbauern an der mittleren Elbe im östlichen Sachsen wiedergab. Zwar war dieses deutsche Recht kein einheitlicher Bestand bestimmter Normen; es konnte deshalb inhaltlich von Ort zu Ort in einzelnen Punkten variieren. Aber in den für die Rechtsstellung der Bauern wesentlichen Bereichen der Gerichtsbarkeit, der Selbstverwaltung, den Rechten am Boden sowie dem Umfang der Abgaben wiesen die Regeln doch gewisse Übereinstimmungen auf. Ausführlich rekonstruierten Stenzel und Tzschoppe den Ablauf der ländlichen Besiedlung in Schlesien und dokumentierten damit anschaulich die hohe Mobilität der hochmittelalterlichen Gesellschaft: In der Regel übertrug der Herzog adeligen Grundherren in einem Privileg die Befugnis, Dörfer nach ius teutonicum zu gründen. Der Herzog verzichtete dabei auf einen Großteil seiner Ansprüche auf Abgaben. Auf dieser Basis schloss der Grundherr seinerseits mit einem Lokator einen Vertrag zur Anwerbung deutscher Bauern, denen freies Siedlungsland zu vergleichsweise günstigen Bedingungen versprochen wurde. Verträge des Lokators mit den Neusiedlern konkretisierten deren Rechte und Pflichten. Der Lokator erhielt selbst eine ansehnliche Bauernstelle, bisweilen mitsamt der Mühle und einer Krugwirtschaft,21 und bekleidete künftig zugleich das Schulzenamt im Dorf. Damit übernahm er die Richterstelle im dörflichen Gericht und war gegenüber dem Grundherrn für die rechtzeitige und vollständige Erbringung der bäuerlichen Abgaben verantwortlich. Diese Abgaben bestanden in einem Erbzins für die empfangene Hufe sowie selten auch in gemessenen, das heißt inhaltlich und zeitlich bestimmten Diensten, die an den Grundherrn zu erbringen waren. Dem Grundherrn kam daher von Anfang an eine herrschaftliche Stellung zu. In der Frühen Neuzeit erfuhr diese bäuerliche Freiheit allerdings Einschränkungen. Die Gutsherrschaft entwickelte sich, worauf die Autoren abschließend nur knapp hinwiesen, als die schlesischen Herzöge dem lokalen Adel auch die Gerichtsbarkeit über die Bauern überließen, der Adel ungemessene Dienste verlangte, die Freizügigkeit einschränkte und Bauernkinder zwangsweise zum Gesindedienst verpflichtete. In der Edition spielte diese Zeit allerdings keine Rolle mehr. Eine Brücke vom Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert schlug August Meitzen, promovierter Historiker und königlicher Regierungsassessor, mit seiner Edition der Urkunden schlesischer Dörfer.22 Meitzen handelte teils aus historischem Interesse, teils aus aktuellem Anlass in seiner Funktion als Spezialkommissar für gutsherrlich-bäuerliche Auseinandersetzungen, weil zur Beilegung solcher Auseinandersetzungen zunächst die historisch gewachsene Rechtslage geklärt werden musste. In Schlesien wurden die grundherrlichen Rechte an Bauerngütern nämlich erst vergleichsweise spät, um 1850,

21 Stenzel/Tzschoppe: Urkundensammlung, Nr. 46 vom Jahr 1257. 22 Meitzen, August (Hg.): Urkunden schlesischer Dörfer. Zur Geschichte der ländlichen Verhältnisse und der Flureintheilung insbesondere. Breslau 1863 (Codex diplomaticus Silesiae 4).

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abgelöst.23 Meitzens Quellensammlung ist bis heute unersetzt geblieben.24 Sie ergänzt die Edition von Stenzel und Tzschoppe, indem sie die Entwicklung der bäuerlichen Besitzverhältnisse und die Auseinandersetzungen mit dem Adel bis zu Meitzens Gegenwart dokumentiert. Zentrale Themen waren die schleichende Ausweitung der bäuerlichen Dienstpflichten, die sukzessive Erweiterung der grundherrlichen Rechte und die Ausbildung der Gutsherrschaft in Schlesien, die von Stenzel und Tzschoppe nur kurz berührt worden war. Bei der Gründung einer neuen Stadt wurde den Kolonisten in aller Regel das Recht verliehen, das bereits in einer älteren Stadt, der sogenannten Mutterstadt, galt.25 Dazu wurden in der Mutterstadt die Regeln des Stadtrechts verschriftlicht und in Buchform an die Gründungsstadt übersandt. Eine umfassende Rechtsordnung im heutigen Sinn für alle erdenklichen Lebensverhältnisse ist darunter aber nicht zu verstehen. Inhaltlich ging es vielmehr in erster Linie um Regeln, die die Organisation des Gemeinwesens und das Zusammenleben von Menschen auf engem Raum betrafen. So enthielten die Stadtrechte etwa Bestimmungen über den Rat, den Vogt und die Schöffen, über die Gerichte und einzelne Fragen des Verfahrens, über den Grundzins, den Feuerschutz und bauliche Abstandsflächen, über die Vererbung städtischer Grundstücke sowie über Verpfändungen und Pfändungen. Die schlesische Stadt Neumarkt beispielsweise hat ihr Recht aus Halle an der Saale in Form einer Sammlung von Magdeburger Recht26 erhalten. Über Neumarkt und daneben auch über Breslau ist sächsisch-magdeburgisches Recht dann an viele andere schlesische Städte weitergegeben worden. Die Herausgabe des Neumarkter Rechtsbuchs ist Otto Meinardus27 zu verdanken, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts Direktor des Breslauer Staatsarchivs war. Der Edition stellte Meinardus eine ausführliche Einleitung voran, in der er die Herkunft und Entstehung des Rechtsbuchs sowie dessen zentrale Bedeutung für die schlesische Rechtsentwicklung darstellte.28 Das Neumarkter Rechtsbuch entstand wahrscheinlich im frühen 14. Jahrhundert und beruhte inhaltlich auf dem Sachsenspiegel und einem 23 ������������������������������������������������������������������������������������������� Grünberg, Carl: Die Bauernbefreiung und die Auflösung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses in Böhmen, Mähren und Schlesien, Bd. 1–2. Leipzig 1893–1894; Weber: Rechts- und Verfassungsgeschichte, 138. 24 Weber: Quellen zur ländlichen Geschichte Schlesiens, 118. 25 Kuhn, Walter: Die deutschrechtlichen Städte in Schlesien und Polen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Marburg 1968. Zu Breslau vgl. Ebel, Friedrich: Magdeburger Recht, Bd. 2: Die Rechtsmitteilungen und Rechtssprüche für Breslau, Tl. 1: Die Quellen von 1261 bis 1452. Köln/ Wien 1989 (Mitteldeutsche Forschungen 89/II/1). 26 Kannowski, Bernd/Dusil, Stephan: Der Hallensische Schöffenbrief für Neumarkt von 1235 und der Sachsenspiegel. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 120 (2003) 61–92. 27 Wutke, Konrad: Otto Meinardus. Ein Lebensbild. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 53 (1919) 1–26. 28 Meinardus, Otto: Das Neumarkter Rechtsbuch und andere Neumarkter Rechtsquellen. Breslau 1906 (Darstellungen und Quellen zu schlesischen Geschichte 2); ders.: Das Halle-Neumarkter Recht von 1181. Breslau 1909 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 8).

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Hallenser Schöffenbrief. Seine Edition ergänzte Meinardus noch durch eine Vielzahl von Urkunden, die für die Entwicklung der Stadt von Bedeutung waren, sowie durch Auszüge aus den Stadtbüchern von Neumarkt. c. Editionen zur Kirche, zum Lehnsrecht und zur Kanzleikorrespondenz Die von Gustav Adolf Harald Stenzel herausgegebenen Urkunden zur Geschichte des Bistums Breslau geben einen ausführlichen Überblick über die Rechtsstellung des Breslauer Klerus, den Erwerb und die Verwaltung der kirchlichen Güter, den Zehnt sowie die kirchliche Organisation.29 Der Edition stellte Stenzel auch hier eine umfangreiche, gut 90 Seiten umfassende Einleitung voran, die als Historiographiegeschichte gelesen werden kann, aber auch als eine Geschichte des Bistums, der kirchlichen Gerichtsbarkeit, der Güter, Rechte und Einkünfte sowie der kirchlichen Organisation bis in das 16. Jahrhundert hinein. Gemeinsam mit Hermann Markgraf gab Colmar Grünhagen Urkunden zu den lehnsrechtlichen Beziehungen der schlesischen Fürsten zum römisch-deutschen Reich und zum Königreich Böhmen heraus.30 Für das geschichtspolitische Programm Grünhagens war diese Edition von erheblicher Bedeutung, konnte er doch darin die Hinwendung Schlesiens zum Westen, konkret zum Heiligen Römischen Reich, durch Urkunden illustrieren. Grünhagen beschäftigte sich ebenfalls mit zentralen Quellen aus der Zeit der Hussitenkriege,31 während Markgraf32 für die Edition der politischen Korrespondenz Breslaus um die Mitte des 15. Jahrhunderts, der Zeit Georg von Podiebrads, verantwort29 Stenzel, Gustav Adolf: Urkunden zur Geschichte des Bisthums Breslau im Mittelalter. Breslau 1845. 30 ���������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar/Markgraf, Hermann (Hg.): Lehns- und Besitzurkunden Schlesiens und seiner einzelnen Fürstenthümer im Mittelalter, Bd. 1–2. Leipzig 1881–1883 (Publikationen aus den k. preußischen Staatsarchiven 7, 16). Zu dieser Thematik vgl. Grawert-May, Gernot von: Das staatsrechtliche Verhältnis Schlesiens zu Polen, Böhmen und dem Reich während des Mittelalters (Anfang des 10. Jahrhunderts bis 1526). Aalen 1971 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte N. F. 15). 31 Grünhagen, Colmar (Hg.): Geschichtsquellen der Hussitenkriege. Breslau 1871 (Scriptores ­rerum silesiacarum 6). Zum Herausgeber vgl. Wendt, Heinrich: Colmar Grünhagen. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 17. bis 19. Jahrhunderts. Sigmaringen 21985 [Breslau 1 1928] (Schlesische Lebensbilder 3), 362–371; Krusch, Bruno: Geschichte des Staatsarchivs zu Breslau. Leipzig 1908, 316–340; Baumgart, Peter: Colmar Grünhagen (1828–1911). Ein nationalliberaler Historiker Schlesiens im Zweiten Kaiserreich [1998]. In: ders.: Brandenburg-Preußen unter dem Ancien Régime. Ausgewählte Abhandlungen. Hg. v. Frank-Lothar Kroll. Berlin 2009 (Historische Forschungen 92), 533–553; Rüther, Andreas: Borussische Geschichtsforschung zu Schlesien: Colmar Grünhagen (1828–1911) – Werdegang, Schuleinflüsse und Wirkungskreise. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 217–254. 32 Wendt, Heinrich: Zu Hermann Markgrafs Gedächtnis. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 40 (1906) 1–48; ders.: Zu Hermann Markgrafs Gedächtnis. In: Schlesische Geschichtsblätter (1938) 25–29.

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lich zeichnete.33 Urkunden mit der politischen Korrespondenz Breslaus der folgenden Jahre unter Matthias Corvinus edierten Berthold Kronthal und Heinrich Wendt.34 Zum praktischen Gebrauch bei der Herstellung von Urkunden und Verträgen legten Juristen schon seit der Antike Formularsammlungen an. Sie sind für die Forschung eine wahre Fundgrube. Das gilt zumal für die juristische Literatur des späten Mittelalters. Das von Jacob Caro35 in zwei Bänden edierte Formelbuch aus der polnischen Königskanzlei des 15. Jahrhunderts ist deshalb ein besonderer Glücksfall.36 Anhand der darin verwendeten rechtlichen Formulierungen und Termini lassen sich Fortgang und Umfang der Rezeption des römisch-kanonischen Rechts sowie die Veränderung der juristischen Begrifflichkeit ablesen.37 Bereits in die Frühe Neuzeit gehören die Verhandlungsakten der schlesischen ­Fürsten und Stände sowie deren Korrespondenz, die Hermann Palm für die Jahre von 1618 bis 1621 edierte.38 Zeitgleich publizierte er eine zusammenfassende Analyse der schlesisch-böhmischen Kooperation.39 Die Folgebände mit den Verhandlungsakten für die Jahre von 1622 bis 1629 gab der Ohlauer Gymnasiallehrer Julius Krebs heraus.40 Die Bände thematisieren die Mitwirkungs- und Mitspracherechte der Stände am politischen Geschehen Schlesiens in der konfliktreichen Zeit zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges. In Schlesien, das als Teil der Böhmischen Krone unter habsburgischer Herrschaft stand, waren einerseits weiterhin die konfessionellen Gegensätze virulent; andererseits drohten nun wie in Böhmen die ständischen Rechte gegenüber den habsburgischen Landesherren in die Defensive zu geraten. Die verfassungsrechtliche Ordnung bildete daher einen zentralen Aspekt beider Editionen. 33 Markgraf, Hermann (Hg.): Politische Correspondenz Breslaus im Zeitalter Georgs von Podiebrad. Zugleich als Urkundliche Belege zu Eschenloers Historia Wratislaviensis, Bd. 1: 1454– 1463, Bd. 2: 1463–1469. Breslau 1873–1874 (Scriptores rerum silesiacarum 8–9). 34 Kronthal, Berthold/Wendt, Heinrich (Hg.): Politische Correspondenz Breslaus im Zeitalter des Königs Matthias Corvinus. Bd. 1: 1469–1479, Bd. 2: 1479–1490. Breslau 1893–1894 (Scriptores rerum silesiacarum 13–14. 35 Grünhagen, Colmar: Jakob Caro. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 39 (1905) 314–320. 36 Caro, Jacob: Liber Cancellariae Stanislai Ciołek. Ein Formelbuch der Polnischen Königskanzlei aus der Zeit der Hussitischen Bewegung, Bd. 1–2. Wien 1871–1874. 37 Schlinker, Steffen: Rezeption des römisch-kanonischen Rechts. In: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 11. Stuttgart/Weimar 2010, Sp. 201–213. 38 Palm, Hermann (Hg.): Acta publica: Verhandlungen und Correpondenzen der schlesischen ­Fürsten und Stände, Bd. 1–4 [1618–1621]. Breslau 1865–1875. 39 Ders.: Die Conföderation der Schlesier mit den Böhmen im Jahr 1619 in ihren nächsten Folgen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 8 (1867/68) 267–318. Zum Hintergrund vgl. Bahlcke, Joachim: Regionalismus und Staatsintegration im Widerstreit. Die Länder der Böhmischen Krone im ersten Jahrhundert der Habsburgerherr­schaft (1526–1619). München 1994 (Schriften des Bundesinsti­tuts für ost­deutsche Kultur und Geschichte 3). 40 Krebs, Julius (Hg.): Acta publica. Verhandlungen und Correspondenzen der schlesischen ­Fürsten und Stände, Bd. 5–8 [1622–1629]. Breslau 1880–1906.

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Für den alltäglichen juristischen Gebrauch in der Auseinandersetzung um Herrschaftsrechte hatte der Breslauer Syndikus Andreas Assig eine Sammlung von Rechtsquellen angelegt, die der Stadtarchivdirektor Heinrich Wendt in einem Aufsatz präsentierte.41 Teils historisch motiviert, teils für den Gebrauch bei gegenwärtigen Rechtsstreitigkeiten bestimmt war die Kollektion von Rechtsquellen, die Ernst von Moeller auf der Basis älterer privater Sammlungen publizierte.42

3. Verfassungsgeschichte a. Überblick Zu den zentralen Themen verfassungsgeschichtlicher Forschung43 gehörten die schlesischen Stände, die Einrichtung und Entwicklung von Behörden sowie die lehnsrechtlichen Beziehungen Schlesiens zum römisch-deutschen Reich und zum Königreich Böhmen. Angesichts der territorialen Vielfalt der schlesischen Fürstentümer und Herrschaften bot sich vor allem der Ständeforschung ein weites Betätigungsfeld.44 Interesse fanden die Mitsprache- und Mitentscheidungsrechte der Stände, ihre politischen Gestaltungsmöglichkeiten und ihr Einfluss auf die Behördenorganisation, nicht zuletzt bei der Erhebung von Steuern und Abgaben, mithin also der ständische Beitrag zur allmählichen Ausbildung staatlicher Strukturen. Im Mittelpunkt der Forschung stand die habsburgische Zeit des 16. bis 18. Jahrhunderts. Mehrfach wurde aber auch der Übergang Schlesiens an den Hohenzollernstaat thematisiert und dezidiert als Modernisierungsprozess begriffen. b. Forschungen zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Verfassung Der schlesischen Ständeverfassung widmete sich im 19. Jahrhundert zuerst Karl Adolf Menzel in einem zweiteiligen Aufsatz aus dem Jahr 1817.45 Die detaillierte und quellen41 ���������������������������������������������������������������������������������������� Wendt, Heinrich: Der Breslauer Syndicus Dr. Andreas Assig (1618–1676) und seine Quellensammlungen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 36 (1902) 135–158. 42 Moeller, Ernst von: Schlesische Edicten-Sammlung, enthaltend die noch anwendbaren provinciellen Gesetze und Verordnungen aus der Brachvogelschen, der Arnoldschen und der Kornschen Edictensammlung. Breslau 1866. 43 Weber: Rechts- und Verfassungsgeschichte, 130. 44 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Press, Volker: Formen des Ständewesens in den deutschen Territorialstaaten des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Baumgart, Peter (Hg.): Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen. Berlin 1983, 280–326; Bahlcke, Joachim: Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit. München 2012 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 91), 20–22.; ders.: Ständeforschung. In: ders. (Hg.): Historische Schlesienforschung, 207–234. 45 Menzel, Karl Adolf: Geschichtliche Entwickelung der am 29ten Oktober 1741 aufgehobenen

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nahe Darstellung griff historisch weit zurück und schilderte die Ausbildung der Ständeverfassung in Schlesien seit dem hohen Mittelalter. Eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung der Stände wies Menzel der Gerichtsverfassung und dem Lehnsrecht zu. Auch der Rechtsstellung der Stadt Breslau galt sein besonderes Interesse. Und selbstverständlich wurde der Leser mit ereignis- und dynastiegeschichtlichen Informationen versorgt. Grünhagen kritisierte später, Menzel habe Österreich für den Untergang der ständischen Autonomie verantwortlich gemacht. Menzel zufolge waren die Stände durch die habsburgische Politik so geschwächt worden, dass König Friedrich II. sie widerstandslos aufheben konnte.46 Grünhagen dagegen begrüßte die Aufhebung der alten Ständeverfassung, weil an ihre Stelle eine staatliche Verwaltung trat. Vermutlich projizierte Menzel seine Enttäuschung über den preußischen Neoabsolutismus in den Jahren nach 1815 auf das Jahr 1741 zurück. Seine Sympathie gehörte der Autonomie lokaler Körperschaften, vor allem der städtischen Autonomie gegenüber einer zentralstaatlichen Politik. Die grundlegende Darstellung für die rechts- und verfassungsgeschichtliche Erforschung Schlesiens im Mittelalter war (und ist) Gustav Adolf Harald Stenzels erster Teil seiner Geschichte Schlesiens.47 Weitere Bände sind nicht erschienen. Im dritten „Buch“ des ersten Teils ging Stenzel ausführlich auf „Verfassung und Bildung“ ein. Er beschrieb darin zunächst die Rechtszustände vor der Besiedlung Schlesiens durch deutsche Bauern, Handwerker und Kaufleute, entfaltete die rechtlichen Rahmenbedingungen der Dorfund Stadtgründungen und hob schließlich die Veränderungen in der Rechtsstellung vor allem der ländlichen Bevölkerung durch die Einführung des deutschen Rechts hervor. Im Einzelnen behandelte Stenzel die Rechtsstellung des Herzogs, der Kirche, des Adels und der Bauern. Sein Ausgangspunkt waren die rechtlichen Beziehungen der schlesischen ­Piasten zum Krakauer Zweig der Dynastie, der eine Vorrangstellung beanspruchte. Stenzel betonte allerdings den eigenständigen Charakter und die autonome Stellung der schlesischen Herzöge, deren Herrschaft seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts nicht mehr von den Krakauer Piasten abhängig war. Eine lehnsrechtliche Beziehung begründeten die schlesischen Herzöge erst zu den böhmischen Königen Johann und Karl IV. Die zahlreichen Erbteilungen seit dem 12. Jahrhundert, die zur Entstehung der einzelnen schlesischen Fürstentümer führten, zeichnete Stenzel akribisch nach. Tatsächlich gab es seit der Zeit Kaiser Friedrich Barbarossas enge Beziehungen zwischen den schlesischen Herzögen und dem römisch-deutschen Reich.48 Die Suche nach lehnsrechtlichen Verbindungen der schlesischen Herzöge ist allerdings rückblickend und

schlesischen Ständeverfassung. In: Schlesische Provinzialblätter 65 (1817) 512–541; 66 (1817) 3–38. 46 ������������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar: Friedrich der Große und die Breslauer in den Jahren 1740 und 1741. Breslau 1864, 218f. 47 Stenzel, Gustav Adolf: Geschichte Schlesiens, Thl. 1: Von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1355. Breslau 1853. 48 Grawert-May: Das staatsrechtliche Verhältnis; Schlinker, Steffen: Fürstenamt und Rezeption, Reichsfürstenstand und gelehrte Literatur im späten Mittelalter. Köln/Weimar/Wien 1999 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 18), 205–207.

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nach heutiger Forschungslage als problematisch zu bezeichnen, weil das Lehnsrecht überhaupt erst in der Zeit Barbarossas nördlich der Alpen rezipiert und zur Strukturierung des Reichs verwendet wurde.49 Das soll hier nicht näher vertieft werden. Lehnsrechtliche Beziehungen schlesischer Herzöge zum böhmischen König sind jedenfalls erstmals im späten 13. Jahrhundert begründet worden, als der deutsche König Rudolf das Herzogtum Schlesien-Breslau König Wenzel II. von Böhmen in Form eines Reichslehens gab.50 Seit 1327 banden zunächst König Johann von Böhmen und später sein Sohn Karl IV. die schlesischen Herzogtümer an die Böhmische Krone und nahmen die Lehnshuldigung der schlesischen Herzöge, zunächst noch mit Ausnahme von Schweidnitz-Jauer, entgegen. 1348 und nochmals nach seiner Kaiserkrönung 1355 inkorporierte Karl IV. diese Herzogtümer ausdrücklich der Böhmischen Krone. Und 1368/69 trat Karl IV. schließlich de facto auch das Erbe seines Schwiegervaters in Schweidnitz-Jauer an. Rückblickend ist die Inkorporation Schlesiens in die Böhmische Krone durch die explizite Begründung von Lehnsverhältnissen zwischen den schlesischen Herzögen und Kaiser Karl IV. als König von Böhmen für die schlesische Verfassungsgeschichte eine Zäsur gewesen.51 Sehr ausführlich widmete sich Stenzel den Herrschaftsrechten (Regalien), die die schlesischen Herzöge ertragreich zu nutzen verstanden.52 Im Einzelnen behandelte er Wälder und Jagd, Bergwerke und Bodenschätze, das Recht der Münzprägung, Zoll, Straßen, Flüsse und Brücken, Fischerei, Salzgewinnung und Salzverkauf, Mühlen sowie als vornehmstes Regal die Gerichtsbarkeit. Der Herzog saß teils selbst zu Gericht, teils setzte er Amtleute als Richter ein. Eine gräfliche Gerichtsbarkeit, wie sie das Heilige Römische Reich kannte und wie sie der Sachsenspiegel beschrieb,53 habe es in ­Schlesien dagegen 49 ���������������������������������������������������������������������������������������� Dendorfer, Jürgen/Deutinger, Roman (Hg.): Das Lehnswesen im Hochmittelalter. Forschungskonstrukte – Quellenbefunde – Deutungsrelevanz. Ostfildern 2010; Spieß, Karl-Heinz: Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelalter. Stuttgart 32011 [12002]; ders. (Hg.): Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens im Reich und in Italien im 12. und 13. Jahrhundert. Ostfildern 2013 (Vorträge und Forschungen 76). 50 Zeumer, Karl/Salomon, Richard (Hg.): Monumenta Germaniae Historica. Constitutiones et Acta publica Imperatorum et Regum, Bd. 8. Hannover 1910–1926, Nr. 565, 572; Grünhagen/ Markgraf: Lehns- und Besitzurkunden, Bd. 1, 63f.; Stenzel: Geschichte Schlesiens, Thl. 1, 108. 51 ����������������������������������������������������������������������������������������� Zum Kontext vgl. Bahlcke, Joachim: Das Herzogtum Schlesien im politischen System der Böhmischen Kro­ne. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 44 (1995) 27–55. 52 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Stenzel: Geschichte Schlesiens, Thl. 1, 138–140; Ott, Irene: Der Regalienbegriff im 12. Jahrhundert. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 35 (1948) 234–304; Fried, Johannes: Der Regalienbegriff im 11. und 12. Jahrhundert. In: Deutsches Archiv für die Erforschung des Mittelalters 29 (1973) 450–528; Schlinker, Steffen: Territorialisierung und Dezentralisierung königlicher Rechte im Spätmittelalter im Prozess der Territorialstaatsbildung. In: Vercamer, Grischa/Wlókiewicz, Ewa (Hg.): Legitimation von Fürstendynastien in Polen und dem Reich. Ausbildung von fürstlichen Identitäten in den schriftlichen Quellen (12.–15. Jahrhundert). Wiesbaden 2016 (Quellen und Studien des Deutschen Historischen Instituts 31), 71–94. 53 Sachsenspiegel Landrecht, I 2, § 1–4; III 61, § 1. In: Eckhardt, Karl August (Hg.): Sachsenspiegel Landrecht. Göttingen 1973 [ND Hannover 1995] (Monumenta Germaniae Historica. Fontes Iuris Germanici antiqui N. S. 1/1); Schott, Clausdieter (Hg.): Eike von Repgow, Der Sachsen-

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nicht gegeben. Während es jedoch im Reich auch vom König unabhängige Grafschaften gab, erhielten die schlesischen Richter ihr Amt aus der Hand des Herzogs. Den Herzögen war es also offenbar gelungen, die Gerichtsbarkeit, abgesehen von einer grundherrlichen Gerichtsbarkeit des Adels, in der eigenen Hand zu behalten. Insgesamt verfügten die schlesischen Herzöge augenscheinlich über eine beträchtliche Machtfülle. Der Hof mit seinen Hofämtern zeigte im Wesentlichen einen Organisationsgrad, wie er auch der königlichen und fürstlichen Hofhaltung im römischdeutschen Reich entsprach.54 Und ansatzweise scheint eine Verwaltungsstruktur durch die Einteilung des Landes in Kastellaneien und Burgbezirke vorhanden gewesen zu sein. Neben den Regalien standen den Herzögen gegenüber allen slawischen Bauern sowohl Naturalabgaben von Grund und Boden als auch Dienstleistungen zu, vor allem Pflug-, Spann- und Geleitdienste. Diese Berechtigungen bezeichnete Stenzel als „polnisches Recht“.55 Jeder schlesische Herzog hatte also gegenüber den slawischen Bauern die Stellung eines Grundherrn, auch wenn die Hörigen des Adels die Naturalabgaben an den Herzog offenbar nicht in dem Umfang leisten mussten wie die übrigen Bauern. Zusammenfassend betrachtet, lässt die wirtschaftliche und rechtliche Lage der slawischen Bauern jedenfalls erhebliche Beschränkungen erkennen. Stenzel erinnerte aber auch daran, dass die herzogliche Herrschaft an die Mitwirkung des Adels gebunden war. Herrschaft wurde – wie regelmäßig im Mittelalter – im Konsens mit den Großen des Landes ausgeübt.56 Der Adel scheint sich einer gewissen Autonomie gegenüber dem Herzog und der Kirche erfreut zu haben. So stand es dem Adel beispielsweise frei, den Zehnten zu leisten. Auf die kirchliche Organisation und die Rechte der Bischöfe und Klöster ging Stenzel ebenfalls ausführlich ein. Erwähnung fanden schließlich die Heeresordnung und der Festungsbau. Während Stenzel in seiner Geschichte Schlesiens einen umfassenden Überblick zu geben versuchte, wandte er sich in einem Bericht über das Landbuch des Fürstentums Breslau den eher zufälligen und kleinteiligen Aufzeichnungen aus den Jahren 1345, 1347 bis 1360 und 1364 zu.57 Inhaltlich waren die im Landbuch angesprochenen Thespiegel. Zürich 1984; Oestmann, Peter: Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren. Köln/Weimar/Wien 2015, 67–69. 54 ���������������������������������������������������������������������������������������� Willoweit, Dietmar: Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft. In: Jeserich, Kurt G. A./Pohl, Hans/Unruh, Georg-Christoph von (Hg.): Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reichs. Stuttgart 1983 (Deutsche Verwaltungsgeschichte 1), 66–143; Willoweit/Schlinker: Deutsche Verfassungsgeschichte, 37f., 89. 55 Stenzel: Geschichte Schlesiens, Thl. 1, 148. 56 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Moraw, Peter: Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250–1490. Berlin 1985 (Propyläen Geschichte Deutschlands 3), 155–157; Schneidmüller, Bernd: Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter. In: Heinig, Paul-Joachim (Hg.): Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw. Berlin 2000, 53–87. 57 Stenzel, Gustav Adolf: Das Landbuch des Fürstentums Breslau. In: Uebersicht der Arbeiten und Veränderungen der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur im Jahre 1842. Breslau 1843, 48–59.

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men ziemlich gemischt. Ein Bericht über Transporte nach Schweidnitz etwa findet sich neben Rechnungen für die Ausbesserung der Breslauer Stadtmauern. Privilegien sowie die Statuten der Apotheker sind darin ebenfalls aufgezeichnet, auch der Briefverkehr der Stadt Breslau mit dem böhmischen König wird geschildert. Zudem hat der Schreiber nicht nur die Abgaben von Grundstücken notiert, sondern auch ein Verzeichnis der Dörfer des Fürstentums mit der Zahl ihrer Hufen angelegt. Insofern gewährt das Landbuch punktuell Einblicke in den wirtschaftlichen und rechtlichen Zustand des Fürstentums Breslau im zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts. Zur Verfassungsgeschichte gehören schließlich noch zwei frühe Schriften Stenzels. Im Jahr 1820 war seine Abhandlung über das Heerwesen des römisch-deutschen Reichs im Mittelalter erschienen.58 Offenbar für den Unterrichtsgebrauch gab Stenzel ferner einen Grundriss zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte auf der Grundlage von Karl Friedrich Eichhorns epochaler Darstellung59 heraus, die sich allerdings auf eine rein thematisch geordnete Sammlung von Literatur und Quellenwerken zu den einzelnen Paragraphen von Eichhorns vierbändigem Werk beschränkte.60 Neben Stenzel war Colmar Grünhagen vermutlich der wirkmächtigste schlesische Historiker im langen 19. Jahrhundert. Wie in Stenzels schlesischer Geschichte sind auch in Grünhagens zweibändiger Geschichte Schlesiens vielfach verfassungsrechtliche Bezüge vorhanden.61 Zum ersten Band kann inhaltlich weitgehend auf die obigen Ausführungen zu Stenzel verwiesen werden. Im zweiten Band ging es Grünhagen nicht zuletzt um die historische Fundierung der preußischen Ansprüche auf Schlesien durch die Erbverbrüderungen zwischen den Hohenzollern und einigen schlesischen Herzögen. Ausführlich wurde etwa die Erbverbrüderung des Herzogs von Liegnitz mit den Kurfürsten von Brandenburg thematisiert, aber auch der Anspruch der Hohenzollern auf das Herzogtum Jägerndorf. Verfassungshistorisch von Interesse sind ebenfalls die (zeitlich früheren) Abschnitte zu König Ferdinands I. Verbot der Appellation aus Schlesien an den Magdeburger Schöffenstuhl im Jahr 1548. Nunmehr sollten die Parteien von den schlesischen Gerichten an das neu errichtete Prager Appellationsgericht und damit an ein königliches und auf ein Territorium bezogenes Gericht appellieren.62 Den Versuch, mehrere 58 Ders.: Versuch einer Geschichte der Kriegsverfassung Deutschlands vorzüglich im Mittelalter. Berlin 1820. 59 Eichhorn, Karl Friedrich: Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, Bd. 1–4. Göttingen 1808–1823. 60 Stenzel, Gustav Adolf: Grundriss und Litteratur zu Vorlesungen über deutsche Staats- und Rechtsgeschichte nach K. F. Eichhorn und mit steter Beziehung auf dessen deutsche Staats- und Rechtsgeschichte. Breslau 1832. 61 ������������������������������������������������������������������������������������������ Grünhagen, Colmar: Geschichte Schlesiens, Bd. 1: Bis zum Eintritt der habsburgischen Herrschaft 1527, mit einem Bändchen Quellennachweisungen. Gotha 1884; ders.: Geschichte Schlesiens, Bd. 2: Bis zur Vereinigung mit Preußen (1527–1740), mit einem Bändchen Quellennachweisungen. Gotha 1886. 62 Kreuz, Petr: Das Appellationsgericht in Prag 1548–1783. Forschung, Quellen und historische Entwicklung. In: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 3 (2013) 231–250.

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Herrschaftsgebiete durch eine zentrale Obergerichtsbarkeit territorial zu verklammern, macht diese Maßnahme besonders deutlich. Außerdem richteten die Habsburger eine eigenständige schlesische Provinzialregierung und eine Kanzlei für schlesische Angelegenheiten neben der böhmischen Hofkanzlei ein. Über die Ausgestaltung der inneren Verwaltung mit ihren Behörden hinaus fasste Grünhagen vor allem das konfliktreiche Miteinander von Landesherren und Ständen ins Auge. Konfessionelle Konflikte blieben im Oderland auch nach dem Westfälischen Frieden virulent, wie sich an Vorgängen um den Bau der Friedenskirchen und dem Eingreifen König Karls XII. von Schweden zugunsten der bedrängten Lutheraner zeigt, in deren Folge vielerorts Gnadenkirchen errichtet werden durften. Ein dritter Band der Geschichte Schlesiens für die Zeit nach 1740 ist nicht erschienen. Vielleicht um die Epoche der Eingliederung Schlesiens in den preußischen Herrschaftsbereich besonders zu unterstreichen, fasste Grünhagen die verfassungsrechtlichen Neuordnungen unter Friedrich II. von Preußen, der durchgängig als „der Große“ tituliert wurde, vielmehr in einer gewichtigen zweibändigen Darstellung zusammen.63 Nur kurz berührte er die Rechtsgeschichte dagegen in seinem Buch Friedrich der Große und die Breslauer in den Jahren 1740 und 1741.64 Darin stand die Ereignisgeschichte eindeutig im Mittelpunkt. Lediglich knapp wurde das Ende der alten Ständeverfassung nach der Eroberung Schlesiens durch den preußischen König geschildert. Grünhagen arbeitete hier aber die wesentlichen Veränderungen heraus und bewertete sie zugleich als staatspolitischen Fortschritt. Ein erheblicher Eingriff in die Rechte der Stände war zunächst die Übernahme der Finanzverwaltung, die bis dato die Hauptaufgabe der Stände gewesen war, durch eine neu gegründete königliche Behörde. Auch das Steuerrecht selbst wurde modifiziert. Wenig später, am 29. Oktober 1741, löste Friedrich II. die Ständeversammlung aber kurzerhand ganz auf, eine Entscheidung, die von den Ständen ohne Protest akzeptiert wurde. Für das bikonfessionelle Schlesien war aber vermutlich die nun eingeführte Gleichberechtigung der Konfessionen ein erheblicher Fortschritt. Die Gerichtsverfassung wurde ebenfalls reformiert. Mit den beiden Haupt-Justiz-Collegien in Breslau und Glogau entstanden zwei Appellationsgerichte für Schlesien als preußische Provinz, die den bisherigen Instanzenzug zum Prager Appellationsgericht ersetzten. Eine profunde Untersuchung zur landständischen Verfassung von Schweidnitz-­ Jauer ist Gustav Croon zu verdanken, der zwischen 1905 und 1912 am Staatsarchiv Breslau beschäftigt war.65 Wie schon Stenzel und Tzschoppe verband Croon seine historische Darstellung mit einer ausführlichen Quellenedition. Detailliert schilderte er die 63 Grünhagen, Colmar: Schlesien unter Friedrich dem Grossen, Bd. 1–2. Breslau 1890–1892. 64 Ders.: Friedrich der Große und die Breslauer in den Jahren 1740 und 1741. Breslau 1864; ähnlich argumentiert in einem anderen Werk ders.: Breslau nach der preußischen Besitzergreifung. Berlin 1867. 65 �������������������������������������������������������������������������������������������� Croon, Gustav: Die landständische Verfassung von Schweidnitz-Jauer. Zur Geschichte des Ständewesens in Schlesien. Breslau 1912. Allgemein zur territorialen Verwaltung vgl. Willoweit: Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, 66–143; Willoweit/Schlinker: Deutsche Verfassungsgeschichte, 96f., 127–129.

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Entwicklung und inhaltliche Ausgestaltung der ständischen Rechte durch eine Vielzahl von Vereinbarungen und Privilegien. Instruktiv ist der Abschnitt über die zweigeteilte fürstliche und landständische Behördenstruktur, mit dem Croon exemplarisch die innere Verfassung eines Territoriums im Heiligen Römischen Reich beschrieb. Die Territorialverwaltung erfolgte einerseits durch die Organe des fürstlichen Hofes, den Kanzler und den Landeshauptmann, den Obereinnehmer der Biergefälle, den Zollamtmann sowie den Königsrichter. Andererseits verfügten daneben die Landstände über eigenständige Institutionen zur Verwaltung des Landes. Zu den zentralen Themen des Buchs gehört schließlich auch die Gerichtsverfassung. Über die Geschichte der österreichischen Grundsteuerreform in Schlesien in den Jahren 1721 bis 1740 hatte Croon bereits ein Jahr zuvor einen Aufsatz publiziert.66 Die preußische Neuordnung Schlesiens ist von Johannes Ziekursch67 in zwei Publikationen zur inneren Verwaltung von der Regierungszeit König Friedrichs II. bis zu den napoleonischen Kriegen untersucht worden. Der Beitrag zu den preußischen Verwaltungsbeamten widmete sich eingehend den schlesischen Behördenstrukturen.68 In der zweiten Arbeit nahm sich Ziekursch der Rechtsstellung der Städte im preußischen Schlesien des 18. Jahrhunderts und der Veränderungen durch die Städteordnung des Freiherrn vom Stein von 1808 an.69 Darin überwog zwar die Sozialgeschichte, doch fanden auch das Finanzwesen sowie die jeweils zugrunde liegenden rechtlichen Regelungen Berücksichtigung. Schließlich soll die Abhandlung von Heinrich Wuttke über die schlesischen Stände aus dem Jahr 1847 erwähnt werden, die vor allem in der zeitgenössischen Diskussion Mitte des 19. Jahrhunderts von eminenter Bedeutung war.70 Wuttke streifte die historische Rechtslage allerdings nur vergleichsweise kurz und widmete sich maßgeblich der preußischen Zeit. Sein engagiertes Eintreten für die Ständeversammlung gibt dem Buch durchaus den Charakter einer politischen Streitschrift.

66 Croon, Gustav: Zur Geschichte der österreichischen Grundsteuer-Reform in Schlesien 1721– 1740. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 45 (1911) 333–344. 67 Schleier, Hans: Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik. Berlin 1975 (Akademie der Wissenschaften der DDR. Schriften des Zentralinstituts für Geschichte 40), 399–451. 68 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Ziekursch, Johannes: Beiträge zur Charakteristik des preußischen Verwaltungsbeamten in Schlesien bis zum Untergange des friderizianischen Staates. Breslau 1907 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 4). 69 Ders.: Das Ergebnis der friderizianischen Städteverwaltung und die Städteordnung Steins am Beispiel der schlesischen Städte dargestellt. Jena 1908. 70 Wuttke, Heinrich: Die schlesischen Stände, ihr Wesen und ihr Werth in alter und neuer Zeit. Leipzig 1847; vgl. ferner ders.: Der Untergang der schlesischen Verfassung. In: Schlesische Provinzialblätter 119 (1841) 541–560. Zu Autor und Werk vgl. Gehrke, Roland: Landtag und Öffentlichkeit. Provinzialständischer Parlamentarismus in Schlesien 1825–1845. Köln/Weimar/Wien 2009 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 17), 27, 42; ders.: Heinrich Wuttke (1818– 1876). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 12. Würzburg 2017, 197–211.

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c. Die Gerichtsverfassung Eine grundlegende Monographie zur schlesischen Gerichtsverfassung am Beispiel Glogaus von den Anfängen bis zur preußischen Zeit legte Felix Matuszkiewicz im Jahr 1911 vor.71 Er stellte zunächst die Gerichtslandschaft vor der Ankunft deutscher Siedler dar, zeigte den Einfluss des Magdeburg-Halleschen Rechts auf die bestehende Praxis der Gerichtsbarkeit in Glogau und beschrieb den weiteren Ausbau der Gerichte. In einem Prozess der Ausdifferenzierung entstanden in Glogau wie in anderen schlesischen Territorien Dorf-, Stadt-, Land- und Manngerichte, über deren Zuständigkeit, Verfassung und Rechtszug Matuszkiewicz quellennah berichtete. Georg Bobertag widmete der Gerichtsverfassung und den Rechtsbüchern des Fürstentums Breslau eine ausführliche Untersuchung.72 Ein Aufsatz über die schlesischen Einflüsse auf die preußische Justizreform in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammt schließlich erneut aus der Feder des produktiven Grünhagen.73 d. Die Steuererhebung und die Steuerbehörden Die Beschäftigung des Historikers Carl Gustav (von) Kries mit der Steuerverfassung in Schlesien schlug sich in einer detailreichen Abhandlung nieder, die wertvolle Einblicke in die innere Verwaltung sowie in die Interaktion zwischen Landesherr und Ständen gewährt.74 Kries, der zeitweilig in Breslau als außerordentlicher Professor für Staatswissenschaften tätig war, begann seine Untersuchung mit der Einführung regelmäßiger Steuern in der Regierungszeit von König Matthias Corvinus und widmete sich dann zentral der Zeit König Ferdinands I. seit dessen Thronbesteigung im Jahr 1526. Die von ihm getroffenen Entscheidungen waren für die gesamte böhmisch-österreichische Zeit prägend. Es ist vor allem die Verbindung zu Ungarn und dessen Bedrohung durch die Türken gewesen, die die Einführung regelmäßiger Steuern in Schlesien nach sich zog. Aber auch der auf Aristoteles zurückgehende Gemeinwohlaspekt wurde bemüht, um die Erhebung von Steuern zu begründen.

71 Matuszkiewicz, Felix: Die mittelalterliche Gerichtsverfassung des Fürstentums Glogau. Breslau 1911 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 13). 72 Bobertag, Georg: Die Gerichte und Rechtsbücher des Fürstenthums Breslau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 7 (1866) 102–175. 73 ��������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar: Schlesische Beziehungen zur Carmerschen Justizreform und der Entstehung des Landrechts. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 33 (1899) 239–268. 74 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Kries, Carl Gustav: Historische Entwickelung der Steuerverfassung in Schlesien unter Theilnahme der allgemeinen Landtags-Versammlungen. Ein Beitrag zur Geschichte der schlesischen Stände. Breslau 1842. Zu Autor und Werk vgl. Bahlcke: Das Historische Seminar der Universität Breslau, 221f.

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Kries behandelte im Einzelnen die Schatzungssteuer, die Biersteuer und die Grenzzölle. Die Schatzungssteuer darf als eine Art Vermögens- und Einkommensteuer bezeichnet werden. Um die Steuer zu bemessen, musste in einem ersten Schritt der Wert des Vermögens der Stände und der königlichen Städte geschätzt werden. Auf der Basis dieses Betrags wurde sodann in einem zweiten Schritt der Anteil bestimmt, der als Steuer an den König abzuführen war. Für die Finanzverwaltung gründete König Ferdinand I. ein Generalsteueramt und die königliche Kammer. Wie andere Autoren erarbeitete auch Kries sein Buch vollständig aus den Quellen und fügte seiner Abhandlung einen umfangreichen Quellenanhang bei. e. Kleinere Arbeiten zur Verfassungsgeschichte Neben diesen groß angelegten Untersuchungen erschien eine Reihe kleinerer Abhandlungen zur Verfassungsgeschichte. Die für die Rechtsansprüche Friedrichs II. auf Schlesien wichtigen Erbverbrüderungen75 thematisierte Grünhagen nicht nur in seiner schlesischen Geschichte, sondern auch bereits zwei Jahrzehnte früher in einem Aufsatz über die Erbverbrüderung der Hohenzollern mit den Piasten im Jahr 1537.76 In dieselbe Richtung ging eine Abhandlung von Hans Schulz, der den Streit Markgraf Johann Georgs von Brandenburg um Jägerndorf, Beuthen und Oderberg in den Jahren 1607 bis 1624 erörterte.77 Richard Roepell78 schließlich veröffentlichte einen Beitrag zur Geschichte der ersten Einrichtung der Provinzialstände Schlesiens.79 75 Schlinker, Steffen: Die Bedeutung der Erbeinungen und Erbverbrüderungen für die europäische Verfassungsgeschichte. In: Müller, Mario/Spieß, Karl-Heinz/Tresp, Uwe (Hg.): Erbeinungen und Erbverbrüderungen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Generationsübergreifende Verträge und Strategien im europäischen Vergleich. Berlin 2014 (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte 17), 13–39, hier 22, 25f. 76 Grünhagen, Colmar: Die Erbverbrüderung zwischen Hohenzollern und Piasten vom Jahre 1537. In: Zeitschrift für Preußische Geschichte und Landeskunde 5 (1868) 337–366. Zum Kontext vgl. Jaeckel, Georg: Die Liegnitzer Erbverbrüderung von 1537 in der brandenburgisch-preußischen Politik bis zum Frieden von Hubertusburg 1763. Lorch 1988 (Beiträge zur Liegnitzer Geschichte 18), 17–19. 77 Schulz, Hans: Markgraf Johann Georg von Brandenburg und der Streit um Jägerndorf, Beuthen und Oderberg in den Jahren 1607–1624. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 32 (1898) 177–214. 78 ������������������������������������������������������������������������������������������ Kaufmann/Ziekursch: Geschichte, 365f.; Caro, J[acob]: Richard Roepell. In: Chronik der Königlichen Universität zu Breslau für das Jahr vom 1. April 1893 bis zum 31. März 1894, Bd. 8. Breslau 1894, 99–119; Reimann, Eduard: Geheimer Regierungsrath Professor Dr. Röpell. Ein Nekrolog. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 28 (1894) 461– 471; Barelkowski, Matthias: Zwischen Breslauer Universität und Berliner Politik. Richard Roepell (1808–1893) als Historiker, liberaler Politiker und „Polenfreund“. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 173–195. 79 Roepell, Richard: Zur Geschichte der ersten Einrichtung der heutigen Provinzialstände Schlesi-

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Die Gemengelage von Erb- und Verfassungsrecht berührte Hubert Ermisch, als er in der Festschrift für Colmar Grünhagen die sächsische Anwartschaft auf Oels untersuchte.80 Ebenfalls im Grenzgebiet von Verfassungs- und Privatrecht liegt ein Aufsatz von Martin Feist über den Ehevertrag Herzog Christian Ulrichs von Oels mit Gräfin Charlotte Philippine von Redern aus dem Jahr 1711.81 Feist nahm sich überdies der Oelser Lehnsübertragungen an.82 Einzeluntersuchungen zur Verfassungsgeschichte galten den Streitigkeiten zwischen dem Adel und den Städten in den Fürstentümern Schweidnitz und Jauer,83 dem Glogauer Erbfolgestreit von 1476/8184 und der Rolle Breslaus während der preußischen Verfassungsdiskussion im Jahr 1841.85 Heinrich Oelrichs widmete sich darüber hinaus Verwaltungsbestimmungen und Verwaltungseinrichtungen des 18. Jahrhunderts.86 Über eine Münzordnung König Ferdinands I. berichtete Ferdinand Friedensburg.87 Der Fachmann für polnische Geschichte, Richard Roepell, legte in seinen letzten Lebensjahren drei umfangreiche Aufsätze zur polnischen Verfassung vor.88 Jacob Caro schließlich untersuchte die sogenannte Reformatio Sigismundi aus dem späten 15. Jahrhundert.89



ens. In: Uebersicht der Arbeiten und Veränderungen der Schlesischen Gesell­schaft für vaterländische Kultur im Jahre 1846. Breslau 1847, 276–312. 80 ������������������������������������������������������������������������������������������� Ermisch, Hubert: Die sächsische Anwartschaft auf das Fürstenthum Oels. In: Silesiaca. Festschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens zum 70. Geburtstag seines Praeses Colmar Grünhagen. Breslau 1898, 119–144. 81 Feist, Martin: Der Ehevertrag des Herzogs Christian Ulrich von Oels mit Gräfin Charlotte Philippine von Redern vom 23. Juni 1711. In: Schlesische Geschichtsblätter (1912) 14–16. 82 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Die Oelser Lehnsübertragungen vom Jahre 1648. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 50 (1916) 130–150. 83 ������������������������������������������������������������������������������������������� Grotefend, Hermann: Die Streitigkeiten zwischen Adel und Städten der Fürstenthümer Schweidnitz und Jauer und die Privilegienbücher des Schweidnitz-Jauer’schen Adels. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 10 (1870/71) 294–314. 84 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Priebatsch, Felix: Der Glogauer Erbfolgestreit (1476/81). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 33 (1899) 67–106. 85 Wendt, Heinrich: Breslau im Streite um die preußische Verfassungsfrage 1841. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1908) 240–267. 86 Oelrichs, Heinrich: Verwaltungs-Bestimmungen und Einrichtungen in Schlesien im vorigen Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 14 (1878/79) 277–288. 87 Friedensburg, Ferdinand: Der Breslauer Pönfall und die Münzordnung König Ferdinands. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 24 (1890) 88–126. 88 Roepell, Richard: J. J. Rousseaus Betrachtungen über die Polnische Verfassung. In: Zeitschrift der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen 3 (1887/88) 129–150; ders.: Zur Genesis der Verfassung Polens vom 3. Mai 1791. In: Historische Zeitschrift 66 (1891) 1–52; ders.: Interregnum. Wahl und Krönung des Stanislaw August Poniatowski. In: Zeitschrift der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen 6 (1891) 255–341, 7 (1892) 1–114. 89 Caro, Jacob: Ueber eine Reformationsschrift des 15. Jahrhunderts. Danzig 1882.

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4. Die städtische Autonomie und Verfassung Ein drittes zentrales Forschungsfeld war die städtische Verfassung.90 Einen breiten Überblick zum Prozess der Stadtgründungen legte bereits Gustav Adolf Harald Stenzel in seiner Geschichte Schlesiens vor.91 Die Stadtgründungen erfolgten häufig nach dem Muster von Neumarkt oder Glogau, die ihr Recht wiederum aus Magdeburg oder Halle erhalten hatten. In der Regel gründete der Herzog oder ein Adeliger eine Stadt und behielt sich das Amt des Vogts erblich vor. Insofern sicherten sich der Stadtgründer und seine Familie Einfluss auf das Gericht, dessen Vorsitz der Vogt als Richter innehatte. Die Rechtsprechung lag allerdings nach Magdeburger Vorbild in den Händen der Schöffen.92 Bisweilen waren es sieben, zehn oder elf Schöffen, die das Kollegium der Urteiler, die Schöffenbank oder den Schöffenstuhl, bildeten.93 Der Vogt, der den Stadtherrn vor Ort vertrat, hatte Ansprüche auf Anteile am Grundzins und am Marktzoll sowie an den vielfältigen Abgaben seitens der Wirtschaftsbetriebe der Stadt, etwa der Fleischbank. Die Bürger erhielten vom Stadtgründer abgemessene Parzellen mit der Verpflichtung zur Zahlung eines Erbzinses an den Vogt und den Herzog. Wie die Dorfgemeinde sich im Gericht selbst verwaltete, regelten auch die Bürger ihre Angelegenheiten autonom. Einen Rat mit Ratsherren gab es in Breslau mutmaßlich seit dem Jahr 1266, als Breslau eine Abschrift Magdeburger Rechts erhielt.94 Neben der Schöffenbank beanspruchte bald der Rat eine eigene Gerichtsbarkeit. Nicht zu unterschätzen war der 90 Lübke, Christian: Zur Erscheinungsweise mittelalterlicher Städte in Ostmitteleuropa. In: ­Jäschke, Kurt-Ulrich/Schrenk, Christhard (Hg.): Was machte im Mittelalter zur Stadt? Selbstverständnis, Außenansicht und Erscheinungsbilder mittelalterlicher Städte. Heilbronn 2007 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn), 125–150; ders.: Die Stadt vor der Stadt. In: Köster, Gabriele/Link, Christina (Hg.): Faszination Stadt. Die Urbanisierung ­Europas im Mittelalter und das Magdeburger Recht. Dresden 2019 (Magdeburger Museumsschriften 17), 164–177, hier 174–177. 91 Stenzel: Geschichte Schlesiens, Thl. 1, 217–219. 92 Lück, Heiner: Zur Gerichtsverfassung in den Mutterstädten des Magdeburger und Lübecker Rechts. In: Lück, Heiner/Puhle, Matthias/Ranft, Andreas (Hg.): Grundlagen für ein neues Europa. Das Magdeburger und Lübecker Recht in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2009 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 6), 163–181, hier 167–169; Lück, Heiner: Der Sachsenspiegel im Spannungsfeld von Landrecht und Stadtrecht. In: Köster, Gabriele/Link, Christina (Hg.): Faszination Stadt. Die Urbanisierung Europas im Mittelalter und das Magdeburger Recht. Dresden 2019 (Magdeburger Museumsschriften 17), 92–103, hier 97. 93 Weitzel, Jürgen: Gericht. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 11. Stuttgart 2 1998 [11911], 153–171; Bader, Karl Siegfried/Dilcher, Gerhard: Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt – Bürger und Bauer im alten Europa. Berlin 1999, 580–582; Oestmann: Wege zur Rechtsgeschichte, 67–69. 94 Ebel, Friedrich: Magdeburger Recht, Bd. 2: Die Rechtsmitteilungen und Rechtssprüche für Breslau, Tl. 1: Die Quellen von 1261 bis 1452. Köln/Wien 1989 (Mitteldeutsche Forschungen 89/II/1); Mühle, Eduard: Breslau. Geschichte einer europäischen Metropole. Köln/Weimar/ Wien 2015.

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Einfluss, den die Meister der Innungen (der Gilden und Zünfte) in der Stadt ausübten. Die städtische Rechtsordnung erlebte durch die autonome Gesetzgebung eine lebhafte Weiterentwicklung.95 Die städtischen Satzungen („Willküren“), die zunächst noch von der Bürgerschaft allgemein und später nur vom Rat beschlossen wurden, regelten die mannigfaltigen Belange des städtischen Lebens. Ein instruktiver knapper Überblick über die rechtlichen Verhältnisse der Stadt Breslau unter der Herrschaft der Piasten stammt aus der Feder Grünhagens.96 Der Autor ging darin unter anderem der Frage nach, welches Recht den Handwerkern der kleinen Siedlung an der Oder verliehen wurde und erörterte insbesondere das Magdeburger Recht mit seiner charakteristischen Trennung von Rat und Schöffenbank. Zur Sprache kam auch das nicht immer konfliktfreie Gegenüber von bürgerlicher Autonomie und landesherrlichen Vogteirechten. Zwei kurze Arbeiten über die Schulbildung als Bedingung für das Bürgerrecht in den schlesischen Städten im Mittelalter97 sowie zur Geschichte der Landvogtei und des Stadtschultheißenamts publizierte Wilhelm J. Schulte.98 In einem Beitrag zur Landvogtei nahm er zur Gerichtsverfassung in der Zeit der Ostkolonisation Stellung und betonte, das deutsche Recht hätte vor allem die polnische Gerichtsverfassung ergänzt. Die Kernfrage war für Schulte, ob „das schlesische Stadtrecht von Anfang an und ausschließlich Magdeburger Recht gewesen [ist] oder [...] es neben dem Magdeburger Recht noch ein flämisches Recht oder gar noch andere Rechte [gab]?“99 Schon Stenzel hatte sich mit diesem Thema beschäftigt. Der Verbreitung des Magdeburger Stadtrechts im Gebiet östlich der Weichsel widmete ebenfalls Roepell einen fundierten Aufsatz.100 Nach Antworten wird noch heute gesucht.101 195 Dilcher, Gerhard: „Hell, verständig, für die Gegenwart sorgend, die Zukunft bedenkend“. Zur Stellung und Rolle der mittelalterlichen deutsche Stadtrechte in einer europäischen Rechtsgeschichte. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 106 (1989) 12–45; Bader/Dilcher: Deutsche Rechtsgeschichte, 600–602. 196 Grünhagen, Colmar: Breslau unter den Piasten als deutsches Gemeinwesen. Der Königlichen Universität zu Breslau bei der Feier ihres fünfzigjährigen Bestehens überreicht von dem Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens. Breslau 1861. 197 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Schulte, Wilhelm J.: Schulbildung als Bedingung für das Bürgerrecht in den schlesischen Städten des Mittelalters. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 45 (1911) 345–347. 198 �������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Zur Geschichte der Landvogtei und des Stadtschultheißenamtes in Schlesien. In: Schlesische Geschichtsblätter (1909) 35–43. 199 Ders.: Zur Geschichte der Landvogtei. In: Schlesische Geschichtsblätter (1900) 35–43, hier 40. 100 ������������������������������������������������������������������������������������������� Roepell, Richard: Über die Verbreitung des Magdeburger Stadtrechts im Gebiet des alten polnischen Reiches ostwärts der Weichsel. Abhandlungen der historisch-philosophischen Gesellschaft in Breslau. Breslau 1858, 241–301. 101 Schubart-Fikentscher, Gertrud: Die Verbreitung der deutschen Stadtrechte in Osteuropa. Weimar 1942 (Forschungen zum deutschen Recht IV/3); Lieberwirth, Rolf: Das sächsischmagdeburgische Recht als Quelle osteuropäischer Rechtsordnungen. Berlin 1986 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 127/1).

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Einen wertvollen Beitrag zur neuzeitlichen Stadtverfassung leistete Gerhard Günzel mit seiner Monographie zur Verwaltung der Städte in Schlesien am Beispiel Striegaus.102 Günzel wählte einen vergleichenden Ansatz, indem er für die Jahre von 1648 bis 1809 die österreichische und die preußische Politik einander gegenüberstellte. Sein Ausgangspunkt war die wirtschaftliche Situation und die Verfassung des städtischen Gemeinwesens am Ende des Dreißigjährigen Krieges. Im Kontrast zur habsburgischen Zeit arbeitete er die Veränderungen durch die preußische Inbesitznahme vor allem am Beispiel der Verwaltungsstrukturen und des Finanzwesens heraus. Die positive wirtschaftliche Entwicklung Striegaus seit der Mitte des 18. Jahrhunderts führte Günzel kausal auf die preußische Verwaltung und Gesetzgebung zurück. Deutlich tritt bei ihm der Gegensatz zwischen der habsburgisch-katholischen und der preußisch-protestantischen Seite hervor. Die vergleichsweise eigenständige Verwaltung Schlesiens in österreichischer Zeit sah er dezidiert negativ, verstand sie als „partikularistisch“ und nannte sie zurückgeblieben oder rückwärtsgewandt. Die alte ständische Stadtverfassung sei nichts weiter als eine eigenmächtige und unkontrollierte, ja willkürliche Herrschaft einiger weniger Familien gewesen. Der Übergang an Preußen habe zwar die Eingliederung der Stadt Striegau in eine staatliche Verwaltung, den Verlust der städtischen Rechte und die Aufhebung der städtischen Autonomie mit sich gebracht, aber zugleich habe Striegau die Integration in ein größeres Ganzes erlebt. Wie zuvor Grünhagen in seiner schlesischen Geschichte, betonte auch Günzel den wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung in der preußischen Zeit. Die Gewährung einer inneren Freiheit zur wirtschaftlichen Betätigung der Bürger und die religiöse Toleranz sei Preußen zu verdanken gewesen. Die Herrschaft einiger weniger städtischer Familien sei durch eine Verwaltung mit staatlich besoldeten und kontrollierten Beamten abgelöst worden. So habe sich beispielsweise ein geordnetes Rechnungswesen entwickeln können. Ebenfalls in monographischer Form untersuchte Julius Krebs die Rechtsverhältnisse in der Stadt Breslau, vor allem die Stellung des Rats und der Zünfte im 17. Jahrhundert.103 In einem kürzeren Aufsatz ging Johannes Ziekursch der Geschichte und den Rechtsverhältnissen der schlesischen Mediatstädte nach.104 Städtische Rechtssetzung erläuterten Ascher Sammter am Beispiel der Feuerordnung der Stadt Liegnitz von 1340105 und Curt Gebauer anhand Breslauer Hochzeitsordnungen vom 14. bis zum 18. Jahrhundert.106 102 Günzel, Gerhard: Österreichische und preußische Städteverwaltung in Schlesien 1648–1809, dargestellt am Beispiel der Stadt Striegau. Breslau 1911 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 14). 103 Krebs, Julius: Rat und Zünfte der Stadt Breslau in den schlimmsten Zeiten des dreissigjährigen Kriegs. Breslau 1912 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 15). 104 Ziekursch, Johannes: Zur Geschichte der schlesischen Mediatstädte im 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 44 (1910) 170–176. 105 Sammter, A[scher]: Feuerordnung vom Jahr 1340 zu Liegnitz. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 3 (1860/61) 223–225. 106 Gebauer, Curt: Breslauer Hochzeitsordnungen vom 14. bis ins 18. Jh. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 51 (1917) 30–72.

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Zur Hundertjahrfeier der preußischen Städteordnung des Freiherrn vom Stein publizierte Heinrich Wendt ein zweibändiges Werk zur städtischen Selbstverwaltung, verbunden mit einer breit angelegten Quellenedition.107 Nach einer knappen Einführung in die Geschichte der städtischen Selbstverwaltung auf der Grundlage des Magdeburger Rechts im Mittelalter behandelte er intensiv die preußischen Reformen des 18. Jahrhunderts und vor allem die Städteordnung von 1808. Die preußische Eroberung Schlesiens stellte für die Städte unübersehbar einen Einschnitt dar. Am 29. Dezember 1741 bestätigte der neue Stadtherr von Breslau, König Friedrich II., der Stadt zwar ihre „wohlerworbenen und hergebrachten Privilegia, Statuta, Freiheiten, Rechte und Gerichte“, allerdings mit der Einschränkung, „soweit sie denen gegenwärtigen Zeiten und Umbständen applicable und Unserer landesherrlichen Hoheit, wie auch überhaupt der allgemeinen Landeswohlfahrt ohnnachtheilig sind“.108 De facto wurde die städtische Selbstverwaltung damit aufgehoben. Die Städte waren fortan einer staatlichen zivilen und militärischen Behörde unterstellt. Den Umschwung brachte erst die Wiederherstellung einer städtischen Autonomie durch die Städteordnung von 1808. Die städtische Wirtschaftsrechtsgeschichte thematisierte Wendt auch in einer kleineren Arbeit über die Verwaltung der Breslauer Kämmereigüter unter österreichischer und preußischer Herrschaft.109

5. Bäuerliche und grundherrliche Rechtsverhältnisse Vergleichsweise häufig wurden schließlich die bäuerlichen Rechtsverhältnisse in der Forschung behandelt.110 Das gilt zum einen für den Prozess des Landesausbaus, zum anderen für die gravierenden Veränderungen der bäuerlichen Rechte seit dem hohen Mittelalter. In seiner Geschichte Schlesiens berichtete Stenzel nur kurz über die rechtliche Situation der Bauern, Handwerker, Fischer, Dienstleute und der Hörigen bis zum 12. Jahrhundert.111 Das war sicher auch der Quellenlage geschuldet. Die erste große Epoche der schlesischen Geschichte stellte dagegen – wie schon oben für die Quellenedition von Stenzel und Tzschoppe gezeigt – die Anwerbung deutscher Siedler und die Gründung von Dörfern und Städten dar, die erhebliche Auswirkungen auf die Rechts-

107 Wendt, Heinrich: Die Stein’sche Städteordnung in Breslau. Denkschrift der Stadt Breslau zur Jahrhundertfeier der Selbstverwaltung, Tl. 1: Darstellung, Tl. 2: Quellen. Breslau 1909 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau 9–10). 108 Zit. nach Wendt: Die Stein’sche Städteordnung in Breslau, Teil 1, 15. Zum Hintergrund vgl. Schwab, Dieter: Die Selbstverwaltungsidee des Freiherrn vom Stein und ihre geistigen Grundlagen. Frankfurt am Main 1971. 109 Wendt, Heinrich: Die Verwaltung der Breslauer Kämmereigüter vor und nach der preußischen Besitzergreifung. In: Silesiaca, 321–342. 110 Vgl. zusammenfassend Weber: Quellen zur ländlichen Geschichte Schlesiens. 111 Stenzel: Geschichte Schlesiens, Thl. 1, 148–150, 193–195.

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zustände in Schlesien hatten.112 Die wesentlichen Linien dieses Umwälzungsprozesses arbeitete Stenzel in seiner Geschichte Schlesiens noch einmal deutlich heraus. Den Grund für die vorteilhafte Rechtslage der nach Schlesien eingewanderten Bauern, Handwerker und Kaufleute sah er ausdrücklich in der Verleihung des deutschen Rechts. Die Bauern galten als persönlich frei und hatten ihren Hof und ihr Land als freies, vererbliches Eigentum. Nur ein Erb- oder Grundzins musste geleistet werden. Mancherorts wurden den Bauern sogar Freijahre gewährt, vor allem wenn der Boden erst urbar gemacht werden musste, so dass für die ersten Jahre nach der Besiedlung keine Pflicht zur Leistung von Abgaben bestand. Den Grundzins der Bauern sammelte der Schulze ein, dem es auch oblag, die Abgaben dem Grundherrn zu übermitteln. Die dörflichen Gemeinschaften bildeten einen eigenen autonomen Rechtskreis und regelten ihre inneren Angelegenheiten selbständig. Die neugegründeten Dörfer hatte der Herzog der Gerichtsbarkeit der Kastellane entzogen und ihnen eigene Gerichte mit dem Schulzen als Richter gewährt. Dieser saß in deutschrechtlicher Tradition dem Gericht vor, während die Bauern selbst den Kreis der Urteiler bildeten, denen die Entscheidung zur Lösung des Konflikts oblag. Nur die Hochgerichtsbarkeit über schwere Delikte, die an Leib und Leben gingen, hatte sich der Herzog vorbehalten.113 Sie wurde später von seinem Hofgericht ausgeübt. Schließlich war für die günstige Rechtsstellung der Kolonisten entscheidend, dass die schlesischen Herzöge auf die meisten ihnen zustehenden Abgaben und Dienste verzichteten. Nach Stenzel gab es nur seltene Nachweise dafür, dass die eingewanderten deutschen Bauern wie die polnischen Bauern Dienste an den Herzog zu leisten hatten. Stenzel machte aber ebenfalls auf die Verleihung des günstigen deutschen Rechts an Dörfer mit polnischen Bauern aufmerksam. Insofern wies bereits Stenzel darauf hin, dass der entscheidende Faktor für die ökonomische Entwicklung Schlesiens die Gewährung deutschen Rechts war und die damit verbundene Freisetzung von Eigeninitiative, Selbstverantwortung und wirtschaftlicher Aktivität. In Landwirtschaft, Gewerbe, Handel und Wissenschaft machte sich in der Folgezeit tatsächlich ein erheblicher Aufschwung bemerkbar. Schon im 14. Jahrhundert begannen sich aber erste Veränderungen in der Rechtslage bemerkbar zu machen. Seitdem wurden die Bauernstellen nicht mehr zu „eigen“, sondern häufig ausdrücklich zur Erbpacht (Emphyteuse) ausgegeben,114 die

112 Menzel, Josef Joachim: Die schlesischen Lokationsurkunden des 13. Jahrhunderts. Studien zum Urkundenwesen, zur Siedlungs-, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte einer ostdeutschen Landschaft im Mittelalter. Würzburg 1977 (Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte 19); Bader/Dilcher: Deutsche Rechtsgeschichte, 144–146; Kroeschell, Karl: Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1: Bis 1250. Köln/Weimar/Wien 132008 [11972], 226–228; Willoweit/Schlinker: Deutsche Verfassungsgeschichte, 110f. 113 Lück, Heiner: Hochgerichtsbarkeit. In: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, 1055–1059; Oestmann: Wege zur Rechtsgeschichte, 60. 114 Dannhorn, Wolfgang: Römische Emphyteuse und deutsche Erbleihe. Köln/Weimar/Wien 2003.

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sich in der Frühen Neuzeit als ungünstiger herausstellen sollte. Im Gegensatz zum Eigentum war die Pacht nach Ansicht der gelehrten Juristen eben kündbar. Die günstige Rechtsstellung der Bauern verschlechterte sich bekanntlich im Verlauf der Frühen Neuzeit erheblich. Die Verpflichtung der Bauern zu Abgaben war ausgeweitet worden, bis dato nicht geschuldete Frondienste zugunsten eines lokalen Grundherrn wurden eingeführt, und nicht zuletzt wurde die Freizügigkeit der Bauern beschränkt, so dass sie ihre Hofstelle nicht verlassen konnten. So bildete sich Schritt für Schritt eine bäuerliche Erbuntertänigkeit aus. Angesichts der Bauernbefreiung und der Ablösung der Grundlasten stellte die Situation der Bauern im 19. Jahrhundert eine aktuelle politische Frage mit erheblichen wirtschaftlichen Auswirkungen dar. Ein Beispiel für die Verbindung rechtshistorischer Forschung und gegenwärtiger Politik ist – neben dem erwähnten Werk von Meitzen – Gustav Adolf Harald Stenzels Abhandlung über die Laudemien.115 Dem kurzen Text fügte er einen fast ebenso langen Urkundenanhang bei. Die Schrift war aus aktuellem Anlass entstanden, angeregt von gerichtlichen Streitigkeiten über die Verpflichtung der Bauern, Laudemien an den Grundherrn zu leisten, das heißt Abgaben beim Bezug einer Bauernstelle und ebenso bei der Veräußerung des Hofs. Stenzel vermutete, dass die Praxis, Laudemien zu entrichten, im Zusammenhang mit der Vergabe von Dienstgütern an Ministeriale und aus Hofrechten bei der Vergabe von Land an Unfreie entstanden war. Erst im späten 16. Jahrhundert wurden diese Abgaben auch von freien Bauern gefordert. Laudemien sind insofern ein Beispiel für die Verschlechterung der bäuerlichen Rechtsstellung durch – wie Stenzel mit deutlichen Worten kritisierte – adelige Willkür. Im Bereich der ländlich-dörflichen Rechtsgeschichte ist Stenzel auch geblieben, als er mit einer lokalen Studie über die Pflicht zur Zahlung von Mühlzinsen und andere Rechte des Grundherrn gegenüber einem Müller berichtete.116 Zwei knappe Beiträge über lokale Konflikte aus der Zeit um 1600 stammen aus der Feder von Paul Knauer über eine bäuerliche Erhebung gegen die ihnen auferlegten Dienstpflichten117 und von Julius Krebs über die Nutzung von Ackerflächen.118

6. Das Prozessrecht Das Verfahrensrecht wurde von Historikern nur selten zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht. Friedrich Rosenthal berichtete von einem Prozess im Jahr 1350 über 115 Stenzel, Gustav Adolf: Beiträge zur Geschichte der Laudemien in Schlesien. Breslau 1848. 116 Ders.: Über die von den Müllern an die Grundherrschaft zu entrichtenden Mühlzinsen und andere Leistungen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 2 (1858/59) 331–357. 117 Knauer, Paul: Der Aufstand der Bauern von Eckersdorf (Grafschaft Glatz) zwecks Befreiung von den Roboten im Jahr 1580. In: Schlesische Geschichtsblätter (1914) 43–45. 118 Krebs, Julius: Streit zwischen Grundbesitzer und Untertanen wegen Gemengelage der Äcker und notwendig erscheinender Separation (1630). In: Schlesische Geschichtsblätter (1913) 21–23.

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einen Jahreszins, den das Kloster Kamenz veräußert hatte.119 Ernst Breyther schrieb über das Manngericht, das heißt über das für adelige Konflikte zuständige Gericht, vor allem im Fürstentum Glogau.120 Richard Doebner wiederum schilderte einen Prozess des Markgrafen von Brandenburg mit dem Kaiser über die Bergwerke von Tarnowitz im späten 16. Jahrhundert.121

7. Kirchenrecht Spezifisch kirchenrechtliche Themen behandelte der schon erwähnte Wilhelm J. Schulte in zwei ausführlichen Aufsätzen. Im ersten Text ging es um die Exemtion des Breslauer Bistums seit dem Mittelalter.122 In der zweiten Abhandlung untersuchte er die Protektionsbulle Papst Hadrians IV. für die Breslauer Kirche im Jahr 1155.123 Carl Otto publizierte eine Abhandlung zu einem Streit über die Jurisdiktion und die gerichtliche Zuständigkeit des Herzogs für Prozesse gegen Kleriker aus dem Jahr 1499.124

8. Strafrechtsgeschichte Keine große Rolle in der rechtsgeschichtlichen Forschung vor dem Ersten Weltkrieg spielte die Strafrechtsgeschichte. Hervorzuheben ist aber die instruktive Untersuchung von Paul Kerber zur Strafgerichtsbarkeit in der Herrschaft Fürstenstein, der eine Edition der Dreidingsordnung, das heißt einer Ordnung für ein ländliches, für bäuerliche Rechtsstreitigkeiten zuständiges Gericht, beigefügt wurde.125 Julius Krebs behandelte

119 ������������������������������������������������������������������������������������������� Rosenthal, Friedrich: Über den Prozeß wegen eines veräußerten Jahreszinses des Klosters Kamenz um 1350. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 48 (1914) 263–272. 120 Breyther, Ernst: Beiträge zur Geschichte des Manngerichts in Schlesien und besonders im ­Fürstentum Glogau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 42 (1908) 289–294. 121 Doebner, Richard: Der Prozeß des Markgrafen Georg Friedrich von Brandenburg mit dem Kaiser über die Tarnowitzer Bergwerke (1560–70). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 14 (1878/79) 79–92. 122 Schulte, Wilhelm J.: Die Exemtion des Breslauer Bistums seit dem Mittelalter. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 51 (1917) 1–29. 123 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Die Protektionsbulle des Papstes Hadrian IV. für die Breslauer Kirche (1155). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 29 (1895) 58–112. 124 Otto, Carl: Über einen Immunitätsstreit des Breslauer Clerus mit den Herzögen Friedrich und Georg von Brieg-Liegnitz im Jahr 1499. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 7 (1866) 213–226. 125 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Kerber, Paul: Über die frühere Kriminalgerichtspflege auf der Herrschaft Fürstenstein, mit Beilage: Dreidingsordnung von 1657. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 15 (1880) 120–151. Ebd., 125f., zitiert der Autor die „‚Dreidingsordnung‘“ von 1657. Vgl. Deutsches Rechtswörterbuch, Bd. 2. Weimar 1935, Sp. 1089–1090.

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knapp einen Hochverratsprozess in Glatz aus dem Jahr 1625;126 ebenso kurz nahm sich Ewald Wernicke einige Hexenprozesse in Grünberg vor.127 Ausführlicher widmete sich Johannes Soffner diesem Phänomen für das Jahr 1740.128

9. Zusammenfassung Die rechts- und verfassungsgeschichtlichen Forschungen schlesischer Historiker wurden in aller Regel unmittelbar aus den archivalischen Quellen erarbeitet und enthielten häufig einen umfangreichen Anhang mit einer Edition von Urkunden, Berichten, Urteilen oder Verordnungen. Räumlich widmeten sich die Untersuchungen fast ausschließlich der schlesischen Rechtsgeschichte. Nur ganz vereinzelt wurde der Bereich der Landesgeschichte verlassen und eine Thematik aus anderen Teilen des Heiligen Römischen Reichs oder Polens berührt. Häufiger gab es angesichts der langen Zugehörigkeit Schlesiens zur Böhmischen Krone Bezüge zu den Ländern der Wenzelskrone. Zeitlich spannte sich der Bogen vom Hochmittelalter bis in die Gegenwart des 19. Jahrhunderts. Als erste Epoche geriet dabei das Hochmittelalter mit der Vergabe von Land an deutsche Siedler und der Verleihung deutschen Rechts an deutsche und polnische Dorfgemeinschaften in den Fokus. Den zweiten Einschnitt stellte der Übergang Böhmens und Schlesiens an die Habsburger im Jahr 1526 dar. Die dritte Epoche bildete schließlich die Eingliederung Schlesiens in den preußischen Machtbereich in den Jahren 1740/41. Thematisch überwogen Forschungen zur Verfassungsgeschichte inklusive der Geschichte der städtischen und bäuerlichen Rechtsverhältnisse. Überraschend ist das nicht, denn die Verfassungsgeschichte bildete gewissermaßen das Bindeglied zwischen der juristischen Rechtsgeschichte und der Geschichtswissenschaft. Im Bereich der Verfassungsgeschichte dominierten wiederum die Untersuchungen zu den Ständen und zur inneren Verwaltung der schlesischen Herzogtümer, zum Lehnsrecht, zur Stadtverfassung, zur bäuerlichen Rechtsstellung sowie zur Gerichtsverfassung. Das Prozessrecht wurde nur selten behandelt, ebenso das Strafrecht und das Kirchenrecht. Außer Betracht blieb die Privatrechtsgeschichte, abgesehen davon, dass in der Edition des Neumarkter Rechtsbuchs auch vereinzelt privatrechtliche Inhalte zur Sprache kamen. Die Untersuchungen zur Lage der Bauern wiesen hin und wieder Bezüge zur Sozialgeschichte auf. In einigen Untersuchungen zur bäuerlichen Rechtsstellung spielte die zeitgenössische Politik des 19. Jahrhunderts naturgemäß eine Rolle. Die Schilderung 126 Krebs, Julius: Ein Beitrag zu dem Hochverrathsprozeß gegen die Glatzer Rebellen vom Jahre 1625. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 16 (1882) 285–289. 127 Wernicke, Ewald: Grünberger Hexenprozesse im 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 19 (1885) 400–403. 128 Soffner, Johannes: Ein Hexenprozeß in Steinau a. d. Oder aus dem Jahr 1740. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 17 (1883) 271–294.

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der hochmittelalterlichen bäuerlichen Rechtsstellung scheint vor allem bei Stenzel als Folie für die Gegenwart gedient zu haben. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts sind leichte Verschiebungen bei der Quelleninterpretation zu beobachten. Stenzel betonte die Selbstbestimmung, die Freiheit und Autonomie der Bauern und der städtischen Bürger als zentrale Aspekte. Hier sind Parallelen zu Karl Friedrich Eichhorn129 erkennbar, der wie Menzel vom nationalen Geist der Befreiungskriege und der Aufbruchstimmung der Jahre zwischen 1808 und 1815 erfüllt war. Die Stellung des Landesherrn betrachtete Stenzel durchaus wohlwollend, stellte jedoch dem Adel kein günstiges Zeugnis aus. Bei Grünhagen verschob sich die Gewichtung dann jedoch in der preußischen Zeit seit 1740 auf den Fürsten und dessen Tatkraft beim Aufbau des Landes. Schon früher ist darauf hingewiesen worden, dass die Themenwahl historischer Forschung einerseits vom politischen und konfessionellen Gegensatz zwischen Österreich und Preußen, andererseits vom Gegensatz von deutscher und polnischer Kultur und Herrschaft bestimmt war.130 Allerdings machte bereits Stenzel darauf aufmerksam, dass deutsches Recht auch polnischen Bauern verliehen wurde, um deren Rechtsstellung zu verbessern und vermutlich auch mit dem Ziel, die dörfliche Produktivität zu fördern. Heute gilt als Forschungsstand, dass der wirtschaftliche und kulturelle Ausschwung im Osten vor allem der Verbreitung des deutschen Rechts zu verdanken ist,131 weniger der deutschen Besiedlung, auch wenn der Zustrom der Deutschen nach Niederschlesien zahlenmäßig erheblich stärker war als in andere, weiter östlich gelegene Gegenden, in denen ebenfalls Städte mit deutschem Recht bewidmet wurden. Die Antwort auf die Frage, was unter dem „deutschen Recht“ eigentlich inhaltlich zu verstehen ist, wenn die Quellen von ius teutonicum, ius Saxonum oder ius Magdeburgensis sprechen, ist seit Stenzels Forschungen weiter präzisiert worden. Einvernehmen besteht gegenwärtig darüber, dass darunter kein einheitlicher und fester Bestand bestimmter Rechtsnormen, etwa im Sinn schriftlicher Gesetzbücher, zu verstehen ist. Das sächsisch-magdeburgische Recht bestand aus heterogenen Regeln, die zahlreiche Varianten und Anpassungen an die jeweiligen lokalen Besonderheiten aufwiesen, sich aber mittelbar bis Magdeburg zurückführen ließen.132 Die Weitergabe eines Rechts von 129 Schlinker, Steffen: Karl Friedrich Eichhorn (1781–1854). In: Schmoeckel, Mathias (Hg.): Great Christian Jurists in the German Tradition. Tübingen 2020 [im Druck]. 130 �������������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim: Historische Schlesienforschung zwischen nationaler Verengung und disziplinärer Weitung. Zur Einführung. In: Bahlcke (Hg.): Historische Schlesienforschung, IX–XX, hier XII. 131 Schlesinger, Walter: West und Ost in der deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters. In: ders.: Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, Bd. 2: Städte und Territorien. Göttingen 1963, 233–253, hier 250f. 132 Kötzschke, Rudolf: Die Anfänge des deutschen Rechtes in der Siedlungsgeschichte des Ostens (Ius teutonicum). Leipzig 1941 (Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 93/2); Willoweit, Dietmar: Zur Frage des Personalitätsprinzips im Sachsenspiegel und in schlesischen Lokationsurkunden des

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Stadt zu Stadt führte immer wieder zur Entstehung neuer Handschriften, die bereits bestehende Textsammlungen ergänzten oder modifizierten. Clausdieter Schott und Heiner Lück haben davon gesprochen, das Magdeburger Recht sei aufgrund seiner Attraktivität zu einer Marke geworden und hätte als Matrix für eine Vielzahl von Stadtrechten gedient.133 So war das deutsche Recht zwar vorwiegend sächsisch-magdeburgischen Ursprungs, teils aber auch flämischer und fränkischer Herkunft. Das fränkische und das flämische Recht unterschieden sich vom sächsisch-magdeburgischen Recht vornehmlich in den Bereichen des dörflichen Bodennutzungsrechts und des ehelichen Güterrechts. In den für die vorteilhafte Rechtsstellung der Siedler zentralen Regeln stimmten aber alle drei Rechte überein. Dazu zählen die Trennung der städtischen Ämter, so dass dem stadtherrlichen Burggrafen, Vogt oder Schultheiß der Rat, der Schöffenstuhl und die Bürgerschaft gegenüberstanden.134 Die Selbstverwaltung der Stadt durch den Rat und die eigenständige Rechtsprechung der Bürger sowie entsprechend die Beteiligung der Bauern am Dorfgericht unter Vorsitz des Schulzen müssen als Kerngehalt des deutschen Rechts betrachtet werden. Wesentlich war überdies die erbliche Rechtsstellung am Land mit der Pflicht zur Zahlung eines Grund- oder Erbzinses, aber unter (weitgehender) Abwesenheit von Dienstpflichten. Darauf gründeten sich die bürgerliche und bäuerliche Freiheit sowie der Ruf und das Renommee des deutschen Rechts. Die begriffliche Zusammenfassung dieses Bündels von Berechtigungen zum Terminus ius teutonicum geht vermutlich auf rechtlich gebildete Kleriker zurück.135 Insgesamt betrachtet, ist die Quellenarbeit der Historiker des 19. Jahrhunderts für den Bereich der Rechts- und Verfassungsgeschichte bis heute grundlegend. Es wundert nicht, dass einzelne Interpretationen und Beurteilungen als zeitgebunden gelten müssen, etwa zum Umbruch der Jahre 1740/41 oder zur Rolle der Stände. Und selbstverständlich stehen heute teilweise andere Themen im Vordergrund, teilweise hat sich auch der Blickwinkel verändert. Im Wesentlichen gelten aber die Aussagen und Forschungsergebnisse zur rechtlichen Ausgestaltung der Ostkolonisation, zur Ausbreitung 13. Jahrhunderts. In: Willoweit, Dietmar/Schich, Winfried (Hg.): Studien zur Geschichte des sächsisch-magdeburgischen Rechts in Deutschland und Polen. Frankfurt am Main 1980 (Rechtshistorische Reihe 10), 94–115; Ebel, Friedrich: Magdeburger Recht. In: Fijal, Andreas/ Leuchte, Hans-Jörg/Schiewer, Hans-Jochen (Hg.): Unseren fruntlichen grus zuvor. Deutsches Recht des Mittelalters im mittel- und osteuropäischen Raum. Kleine Schriften. Köln/Weimar/ Wien 2004, 217–219; Lück, Heiner: Urban Law – The Law of Saxony and Magdeburg. In: Pihlajamäki, Heikki/Dubber, Markus Dirk/Godfrey, Mark (Hg.): The Oxford Handbook of European Legal History. Oxford 2018, 474–508; Link, Christina: Das Magdeburger Recht, Überlieferung und Inhalte. In: Köster/Link (Hg.): Faszination Stadt, 151–153. 133 Lück, Heiner: Das Magdeburger Recht als europäisches Kulturphänomen. In: Köster/Link (Hg.): Faszination Stadt, 46–59 (Zitat 52; 49 eine instruktive Karte). 134 Lück: Zur Gerichtsverfassung, 167–169; ders.: Der Sachsenspiegel im Spannungsfeld, 97. 135 ��������������������������������������������������������������������������������������� Willoweit, Dietmar, Das deutsche Recht im Osten – Vom Kulturvergleich zur Rezeptionsgeschichte [1992]. In: ders.: Staatsbildung und Jurisprudenz, Spätmittelalter und Frühe Neuzeit. Gesammelte Aufsätze 1974–2002, Bd. 1. Stockstadt 2009, 321–345, hier 335.

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des deutschen Rechts, zur städtischen Rechtsordnung, zur bäuerlichen Rechtslage und zur Ständeverfassung auch noch in der Gegenwart. Insofern hat die schlesische Forschung in Gestalt von Karl Adolf Menzel, Gustav Adolf Harald Stenzel, Carl Gustav (von) Kries, Heinrich Wuttke, Colmar Grünhagen, August Meitzen, Gustav Croon, Felix Matuszkiewicz, Gerhard Günzel, Heinrich Wendt und Johannes Ziekursch zu den Rechtsverhältnissen der bäuerlichen Siedler, zur dynamischen Verbreitung sächsischmagdeburgischen Rechts, zur ständischen Verfassung und zur Verwaltungsgeschichte wichtige Beiträge geleistet und das Bild von der Vergangenheit geprägt. Die Besonderheit Schlesiens als Land im Zentrum Europas und als Brücke zwischen Ost und West findet damit auch in der Rechts- und Verfassungsgeschichte seinen Widerhall.

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Historiographie im Spannungsfeld des konfessionellen Gegensatzes. Kirchengeschichtliche Forschungen in Schlesien vor dem Ersten Weltkrieg 1. Einleitung Die schlesischen kirchengeschichtlichen Werke des 18. Jahrhunderts, die zur Zeit von Aufklärung und Pietismus entstanden, verfolgten das Ziel einer auf Urkunden und Dokumenten gestützten Darstellung.1 Sie haben ihre Quellen auch, freilich oft nur in pauschaler Form, angegeben. Zu denken ist hier etwa an die Darstellung von Gottlieb Fuchs Materialien zur evangelischen Religionsgeschichte der Fürstentümer in Oberschlesien (1776) und seine Reformations- und Kirchengeschichte des Fürstentum Oels (1779).2 Und das gilt grundsätzlich auch für Johann Adam Hensels Protestantische Kirchen-Geschichte der Gemeinen in Schlesien von 1768.3 Bei der (aktuell in Arbeit befindlichen) Edition einer handschriftlich vorliegenden Geschichte der Brüdergemeine von Gnadenfrei aus dem Jahr 17754 ist es erstaunlich zu sehen, wie der Autor, David Cranz, selbst eine Do-

1 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Zur evangelischen und katholischen kirchengeschichtlichen Forschung in Schlesien vor 1914 allgemein vgl. Meyer, Dietrich: Der „Verein für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens“ und das Konsistorium in Breslau. Ein Beitrag zur Geschichtspflege und Erinnerungskultur der evangelischen Kirche der Provinz Schlesien. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 143– 182; Hirschfeld, Michael: Diözesanarchiv, Diözesanbibliothek und Diözesanmuseum in Breslau. Zum Beitrag der katholischen Kirche zur Geschichtsbewahrung und Kulturpflege in Schlesien vor dem Ersten Weltkrieg. Ebd., 393–405; Wünsch, Thomas: Religionsgeschichte. In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2005 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 11), 185–206. 2 Zu den kirchengeschichtlichen Werken von Fuchs vgl. Bahlcke, Joachim: Warunki ramowe oraz cechy szczególne początku reformacyjnego przełomu na Górnym Śląsku: historiografia, struktury przestrzenne, jedność i różnorodność. In: Bahlcke, Joachim/Gojniczek, Wacław/Kaczmarek, ­Ryszard (Hg.): Dziedzictwo górnośląskiej reformacji. Wpływ protestantyzmu na politykę, społeczeństwo i kulturę w XVI–XX wieku. Katowice 2018, 15–53, hier 25–28. 3 ������������������������������������������������������������������������������������������ Zu Leben und Werk Hensels vgl. Grünewald, Johannes: Dem schlesischen Kirchenhistoriker Johann Adam Hensel (1689–1778) zum 300. Geburtstag. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte N.F. 68 (1989) 43–55. 4 �������������������������������������������������������������������������������������������� Cranz, David: Geschichte der Evangelischen Brüder-Gemeine in Schlesien, insonderheit der Gemeine zu Gnadenfrei, nebst einer vorläufigen Nachricht von den Schicksalen der Evangelischen Religion und der Erweckungen. [Manuskript] Gnadenfrei 1775.

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kumentation seiner Quellen als Abschrift im Herrnhuter Archiv hinterlegt hat, worauf er auch in seiner Darstellung mit Angabe der Nummern verweist. Für Schlesien war die Begründung der Universität in Breslau im Jahr 1811 mit einer Katholischen und einer Evangelischen Fakultät von großer Bedeutung. Nach der Einrichtung von Fachdisziplinen wurde Kirchengeschichte ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts als Lehrfach von ausgebildeten Historikern gelehrt und betrieben. Der katholische Ordinarius für Kirchengeschichte Carl Johann Herber führte das Fach „Schlesische Kirchengeschichte“ schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Vorlesungsplan ein.5 Damit wurde die historische Forschung auf die Grundlage des modernen Wissenschaftsverständnisses im Geist des Bildungsreformers Wilhelm von Humboldt gestellt. Die Darstellung historischer Stoffe entkleidete man weitgehend ihres heilsgeschichtlichen Rahmens und behandelte sie im Sinne des Historismus nach den allgemeinen Regeln historischer Forschung. Auch wenn die Territorialgeschichte Schlesiens nicht die Aufgabe kirchengeschichtlicher Vorlesungen war, so entstanden doch gelegentlich wichtige Arbeiten. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an den Breslauer Professor Joachim Christian Gaß, einen Freund Friedrich Schleiermachers, der 1817 die neue Zeitschrift Jahrbuch des protestantischen Kirchen- und Schulwesens von und für Schlesien herausgab und darin eine ausführliche Dokumentation der ersten schlesischen Kreissynoden vornahm.6 Die Entwicklung im 19. Jahrhundert führte zu einer beachtlichen Entfaltung der Geschichtswissenschaft und vor allem der Erweiterung und Veröffentlichung der historischen Quellen. Nach der Französischen Revolution und der Neuorganisation der Verwaltung trat die Entstehung von Zentral- und Provinzialarchiven nicht nur im Staat, sondern auch in den Kirchen und größeren Städten begleitend und unterstützend hinzu und gewann neben den schon seit der Frühen Neuzeit bestehenden Adelsarchiven eine zunehmende Bedeutung. Die Säkularisation der Kirchengüter brachte eine gewaltige Menge wertvollster Bücher und Archivalien in die staatlichen Archive. Oft waren es die Mitarbeiter dieser Archive, die nicht nur anderen den Zugang zu den Quellen ermöglichten, sondern das Material auch selbst erforschten. Dies gilt im Oderland bevorzugt für Gustav Adolf Harald Stenzel und Colmar Grünhagen, die Leiter des Breslauer Staatsarchivs, sowie für Joseph Jungnitz, den Leiter des Diözesanarchivs.7 5 Köhler, Joachim: Zur katholischen Kirchengeschichte Schlesiens. In: Bossle, Lothar u. a. (Hg.): Schlesien als Aufgabe interdisziplinärer Forschung. Sigmaringen 1986 (Schlesische Forschungen 1), 15–33, hier 16. 6 Bericht über die Verhandlungen der zweiten Synodalzusammenkünfte und ihre Resultate, Bd. 2. Breslau 1819, 243–400. 7 �������������������������������������������������������������������������������������������� Zum genannten Personenkreis vgl. Schmilewski, Ulrich: Neue Forschungsmethode, neue Organisationsstrukturen: Zur wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit des Historikers Gustav Adolf Harald Stenzel (1792–1854) an der Universität Breslau. In: Bahlcke, Joachim/ Gehrke, Roland (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2019 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 28),

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2. Die Erweiterung der historischen Quellenbasis Die Quellenreihen Scriptores rerum Silesiacarum (ab 1847), Codex diplomaticus Silesiae (ab 1857) und Acta publica. Verhandlungen und Correspondenzen der schlesischen Fürsten und Stände (ab 1865), aber auch die Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte (ab 1905), alle herausgegeben vom Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens in Breslau, enthalten eine Fülle von Dokumenten zur Kirchengeschichte Schlesiens. Den Zugang zu den Quellen ermöglichten Urkundenbücher, Quellensammlungen, die Edition von Protokollen und Regesten, auch sogenannte Analekten.8 Wichtiger waren vielleicht noch die Kataloge und Bücherverzeichnisse zu den aus den Klöstern und alten Bibliotheken stammenden Sammlungen. Dazu kommen die Inventare staatlicher und nichtstaatlicher Urkunden und Akten sowie die Verzeichnisse von zentralen Quellenbeständen, etwa der Kirchenbücher. Exemplarisch sei an dieser Stelle lediglich das Verzeichnis Die Kirchenbücher Schlesiens beider Confessionen (Breslau 1902) angeführt, das von Joseph Jungnitz und Gerhard Eberlein gemeinsam bearbeitet und 1902 herausgegeben wurde und später noch eine erhebliche Erweiterung erfuhr. Genannt sei ferner die Edition von Gerhard Eberlein Urkunden-Sammlung zur Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens.9 Auf katholischer Seite entsprach dem die Veröffentlichung von Joseph Jungnitz Visitationsberichte der Diözese Breslau im lateinischen Original.10 Paul Konrad gab überdies das Ordinationsal­bum des Breslauer Stadtkonsistoriums (Liegnitz 1913) heraus. Die zuverlässige Edition von Quellen war die Grundlage für seriöse Geschichtswissenschaft. Sie muss daher auch im Rahmen der kirchengeschichtlichen Forschung an erster Stelle genannt werden. Zahlreiche wissenschaftliche Editionen erschienen freilich nicht in einer schlesischen Reihe, sondern wurden Teil gesamtdeutscher Editionsprojekte. Zu nennen sind hier die Editionen der Kirchenordnungen zu den Lausitzen und zu Schlesien (1909) in der von Emil Sehling 1902 begründeten Reihe Die evangelischen Kirchenordnungen des



159–171; Rüther, Andreas: Borussische Geschichtsforschung zu Schlesien: Colmar Grünhagen (1828–1911) – Werdegang, Schuleinflüsse und Wirkungskreise. Ebd., 217–254; Hirschfeld, Michael: Schlesische Priesterhistoriker vor dem Ersten Weltkrieg. Geschichtsschreibung zwischen institutionellen Anforderungen und individueller Schwerpunktsetzung. Ebd., 307–329. 18 Analekte (griech. „Aufgelesenes“) sind Sammlungen von Zitaten oder Literaturauszügen. 19 ����������������������������������������������������������������������������������������� Eberlein, Gerhard (Hg.): Urkunden-Sammlung zur Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens, Bd. 1: Die General-Kirchenvisitation im Fürstentume Wohlau 1656 und 1657. Protokolle und Beilagen Liegnitz; Bd. 2: Die General-Kirchenvisitation im Fürstentume Liegnitz von 1654 und 1655. Protokolle und Beilagen. Liegnitz 1905–1917. Vgl. auch Haeusler, Wilhelm; Urkundensammlung zur Geschichte des Fürstenthums Oels bis zum Aussterben der Piastischen Herzogslinie. Breslau 1883. 10 Jungnitz, Joseph: Visitationsberichte der Diözese Breslau, Bd. 1: Archidiakonat Breslau. Nebst Visitationsordnungen; Bd. 2: Archidiakonat Oppeln; Bd. 3: Archidiakonat Glogau; Bd. 4: Archidiakonat Liegnitz. Breslau 1902–1908 (Veröffentlichungen aus dem Fürstbischöflichen Diözesan-Archive zu Breslau 1–4).

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XVI. Jahrhunderts,11 die Edition der Katechismen und Schulordnungen in der Reihe der Monumenta Germaniae paedagogica,12 die Edition der Kirchenlieder durch Philipp Wackernagel für das 16. Jahrhundert13 und durch Albert Fischer und Wilhelm Tümpel für das 17. Jahrhundert.14 Für diese Quellenveröffentlichungen leisteten auch Schlesier mannigfache Vorarbeiten, zum Beispiel Gerhard Eberlein mit seinem Beitrag „Die evangelischen Kirchenordnungen Schlesiens im 16. Jahrhundert“.15 Auf die genannten Editionen ist die Forschung noch heute angewiesen.

3. Epochen und kirchengeschichtliche Themen Kirchengeschichtliche Forschung des 19. Jahrhunderts war geprägt durch die Konfrontation der beiden Konfessionen evangelisch und katholisch; es ist jedoch fragwürdig, sie lediglich als „konfessionelle Geschichtsschreibung“ mit einem negativen Vorzeichen abzutun.16 Der Protestant Colmar Grünhagen, Leiter des Breslauer Staatsarchivs, behandelte die Reformationszeit in seiner zweibändigen Geschichte Schlesiens (1884/86) ausführlich und durchaus ausgewogen, ohne dass man ihm konfessionelle Einseitigkeit vorwerfen könnte. Man hielt es darum auf protestantischer Seite nicht für notwendig, eine eigene Darstellung der evangelischen Kirchengeschichte Schlesiens zu verfassen. Grünhagen war Historiker und legte ebenso Studien über katholische Orden und andere genuin katholische Untersuchungsgegenstände vor. Auch die Arbeiten des Leiters des Stadtarchivs und der Stadtbibliothek Hermann Markgraf sind, soweit sie die Evangelische Kirche betreffen, ohne konfessionelle Tendenz geschrieben.17 Viel eher müsste man diesen „Archivarhistorikern“ aus heutiger Sicht deren nationalistische Gesinnung vorwerfen, was auch für die kirchliche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts gilt. 11 Sehling, Emil: Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 3: Die Mark Brandenburg. Die Markgrafenthümer Oberlausitz und Niederlausitz. Schlesien. Tübingen 1909. 12 Die Reihe wurde seit 1883 von Karl Kehrbach mit zahlreichen Mitarbeitern herausgegeben. Dort erschien auch der Band von Bauch, Gustav: Valentin Trozendorf und die Goldberger Schule. Breslau 1921 (Monumenta Germaniae paedagogica 57). 13 Wackernagel, Philipp: Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts. Mit Berücksichtigung der deutschen kirchlichen Liederdichtung im weiteren Sinne und der lateinischen von Hilarius bis Georg Fabricius und Wolfgang Ammonius, Bd. 1–5. Leipzig 1864–1877. 14 Fischer, Albert: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. Vollendet und hg. v. W[ilhelm] Tümpel, Bd. 1–6. Gütersloh 1904–1916. 15 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Eberlein, Gerhard: Die evangelischen Kirchenordnungen Schlesiens im 16. Jahrhundert. In: Silesiaca. Festschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens zum 70. Geburtstage seines Präses Colmar Grünhagen. Breslau 1898, 214–234. 16 �������������������������������������������������������������������������������������������� Besier, Gerhard: Kirche, Politik und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. München 1998 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 48), 53f. 17 ����������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. exemplarisch Markgraf, Hermann: Beiträge zur Geschichte des evangelischen Kirchenwesens in Breslau. Breslau 1877.

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Was das Mittelalter betrifft, so steht an erster Stelle die Erforschung des Bistums Breslau. Im Fokus standen dabei dessen Umfang,18 die Bischofslisten, die Biographien der einzelnen Bischöfe19 und Weihbischöfe,20 das Domstift, das Domkapitel sowie der Dom selbst.21 Grundlegend sind hier der Wegweiser durch die schlesischen Geschichtsquellen bis zum Jahre 1550 22 und die Regesta episcopatus Vratislaviensis 23 von Colmar Grünhagen. Vom gleichen Forschungsinteresse getragen waren die meist aus katholischer Feder stammenden Forschungen zu Kirchen,24 Klöstern, Stiften und Orden Breslaus: dem Jakobs- und Vincenzkloster, den Prämonstratensern, Dominikanern, Bernhardinern und anderen. Neben Breslau wurden zahlreiche Klöster, etwa diejenigen in Leubus, Heinrichau, Kamenz, Löwenberg, Trebnitz, auf dem Zobten und Wartha als Wallfahrtsort, behandelt.25 Den Versuch einer Gesamtdarstellung ab dem Jahr 966 unternahm Johann Heyne mit seinem dreibändigen Werk Dokumentirte Geschichte des Bisthums und Hochstiftes Breslau.26 Heyne gab dieser monumentalen Ausarbeitung eine Art übergeordneten Reihentitel, der angesichts des Anspruchs und Umfangs ungewöhnlich vorsichtig wirkt: „Denkwürdigkeiten aus der Kirchen- und Diöcesan-Geschichte Schlesiens“ (ab Band 2: „Denkwürdigkeiten aus der Geschichte der katholischen Kirche Schlesiens“). Der dritte Band behandelt die Zeitspanne „Von der ersten Hälfte des fünfzehnten bis in die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts (1418–1648) im Entwickelungsgange der kirchlichen Thatsachen und Zustände“ auf insgesamt 1.304 Seiten; hinzu kam noch ein nicht paginierter Anhang („Extract“) von mehreren Dutzend Seiten. Das von Heyne herangezogene Quellenmaterial allein rechtfertigte bereits den Nachdruck des Werks im Jahr 1969. Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang ferner mehrere Studien zum Umfeld des Hussitismus; da die kirchliche Entwicklung durch die spätmittelalterliche Kirchenkritik und den Märtyrertod von Jan Hus 1415 erheblich in Frage gestellt wurde 18 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Jungnitz, J[oseph]: Die Grenzen des Breslauer Bistums. In: Studien zur schlesischen Kirchengeschichte. Breslau 1907 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 3), 1–18; Schulte, Wilhelm: Quellen zur Geschichte der Besitzverhältnisse des Bistums Breslau. Ebd., 171–279. 19 Jungnitz, J[oseph]: Die Grabstätten der Breslauer Bischöfe. Breslau 1895. 20 Ders.: Die Breslauer Weihbischöfe. Breslau 1914. 21 Ders.: Die Breslauer Domkirche, ihre Geschichte und Beschreibung. Breslau 1908. 22 Grünhagen, Colmar: Wegweiser durch die schlesischen Geschichtsquellen bis zum Jahre 1550. Breslau 1876 [21889]. 23 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Ders./Korn, Georg: Regesta episcopatus Vratislaviensis. Urkunden des Bisthums Breslau in Auszügen, Tl. 1: Bis zum Jahre 1302 [mehr nicht erschienen]. Breslau 1864. 24 Neuling, Hermann: Schlesiens ältere Kirchen und kirchliche Stiftungen nach ihren frühesten urkundlichen Erwähnungen. Ein Beitrag zur schlesischen Kirchengeschichte. Breslau 1884 [21902]. 25 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Knauer, Paul: Die Entstehungszeit des Marienwallfahrtsortes Wartha i. Schl. Eine quellenkritische Untersuchung. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 51 (1917) 164–217. 26 ��������������������������������������������������������������������������������������� Heyne, Johann: Dokumentirte Geschichte des Bisthums und Hochstiftes Breslau. Aus Urkunden, Aktenstücken, älteren Chronisten und neueren Geschichtschreibern, Bd. 1–3. Breslau 1860–1868.

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und die Hussitenkriege auch Einfluss auf Schlesien hatten, sind diese Arbeiten, auch wenn sie sich vordergründig politischen Auseinandersetzungen zuwenden, doch an dieser Stelle zu nennen.27 Mit dem dritten Band von Heynes Darstellung zur Geschichte des Bistums Breslau ist bereits ein beachtliches Werk zur Reformationsgeschichte genannt, einem thematischen Schwerpunkt, dem im Rahmen der kirchengeschichtlichen Bemühungen in Schlesien ein besonderer Stellenwert zukommt. Wesentlich handlicher als Heynes Werk war 1887 die von Erzpriester Johannes Soffner, Pfarrer in Oltaschin bei Breslau, vorgelegte Geschichte der Reformation in Schlesien, die aus katholischer Sicht die Forschungsergebnisse des 19. Jahrhunderts übersichtlich und auf wissenschaftlicher Grundlage zusammenfasste und in einer breiteren Öffentlichkeit hohe Verbreitung fand.28 Auf evangelischer Seite ist keine vergleichbare, wissenschaftlichen ­Ansprüchen genügende Gesamtdarstellung zur Reformation erschienen; zu nennen wäre hier ­allenfalls die Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens von Friedrich Gottlob Eduard Anders.29 Die populäre Zusammenfassung der Reformationsgeschichte von Paul Konrad verdankte ihre Entstehung dem aktuellen Anlass des Reformationsjubiläums von 1917.30 Forschungsgeschichtlich ungleich bedeutender sind diverse Einzelstudien, vor allem die Untersuchungen von Gustav Bauch zum Breslauer Schulwesen vor und in der Reformation31 sowie zum Frühhumanismus in Schlesien,32 zur Biographie des Breslauer 27 Vgl. exemplarisch Grünhagen, Colmar (Hg.): Geschichtsquellen der Hussitenkriege. Breslau 1871 (Scriptores rerum Silesiacarum 6); ders.: Die Hussitenkämpfe der Schlesier 1420–1435. Breslau 1872; Kürschner, Franz: Nachrichten über die Vorgänge in Schlesien unter den Königen Georg und Mathias. Aus dem Archive der Stadt Eger. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 8 (1867/68) 402–413; Laslowski, Ernst: Die Breslauer und der Kreuzablaß gegen Georg Podiebrad von Böhmen, 1467–1470. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 55 (1921) 93–109. 28 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Soffner, Johannes: Geschichte der Reformation in Schlesien. Breslau 1887. Von den weiteren Studien Soffners, die er zu katholischen Persönlichkeiten in der Reformationszeit vorlegte, vgl. besonders ders.: Sebastian Schleupner, Domherr und Domprediger zu Breslau, gest.1572. Breslau 1888; ders.: Der Minorit Fr. Michael Hillebrant aus Schweidnitz. Ein Beitrag zur schlesischen Reformationsgeschichte des 16. Jahrhunderts. Breslau 1885; ders.: Friedrich Staphylus, ein katholischer Kontroversist und Apologet aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, gest. 1564. Breslau 1904. 29 Anders, Friedrich Gottlob Eduard: Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens. Breslau 1883. 30 Konrad, Paul: Die Einführung der Reformation in Breslau und Schlesien. Ein Rückblick nach 400 Jahren. Breslau 1917 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 24). 31 Bauch, Gustav: Geschichte des Breslauer Schulwesens vor der Reformation. Breslau 1909 (Codex diplomaticus Silesiae 25); ders.: Geschichte des Breslauer Schulwesens in der Zeit der Reformation. Der Universität Breslau zum Hundertjährigen Jubiläum überreicht. Breslau 1911 (Codex diplomaticus Silesiae 26); ders.: Aktenstücke zur Geschichte des Breslauer Schulwesens im XVI. Jahrhundert. Breslau 1898. 32 Ders.: Beiträge zur Litteraturgeschichte des schlesischen Humanismus, Tl. 1. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 26 (1892) 213–248, Tl. 2: Ebd., 30 (1896) 127–164, Tl. 3. Ebd., 31 (1897) 123–164, Tl. 4. Ebd., 32 (1898) 49–104, Tl. 5. Ebd., 37 (1905)

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Bischofs Johannes V. Thurzo,33 zu Caspar Velius Ursinus, Valentin Trotzendorf,34 Petrus Vincentius,35 Hieronymus Gürtler36 sowie zu den Anfängen der Universität Frankfurt an der Oder.37 Wichtige Pionierarbeiten entstanden ferner zu den schlesischen Reformatoren Johannes Hess38 und zu Ambrosius Moiban.39 Der schlesische Generalsuperintendent David Erdmann, der sich als Kirchenhistoriker einen Namen machte, arbeitete über Luthers Beziehungen zu Schlesien,40 über die Beziehung des Wittenberger Reformators zu den Hohenzollern41 und speziell über Markgraf Georg von BrandenburgAnsbach-Kulmbach, der politisch im Oderland Fuß gefasst und sich mit Nachdruck für die Reformation in Oberschlesien eingesetzt hatte.42 Die schlesische Reformationsgeschichtsforschung erhielt durch die Gründung des Vereins für Reformationsgeschichte in Magdeburg 1883 und die im gleichen Jahr einsetzende Herausgabe sämtlicher Schriften Luthers („Weimarer Ausgabe“) kräftige Im120–168, Tl. 6. Ebd., 38 (1904) 292–342, Tl. 7. Ebd., 39 (1905) 156–198, Tl. 8. Ebd., 40 (1906) 140–184. 33 Ders.: Johann Thurzo und Johann Heß. Mit brieflichen Beilagen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 36 (1901/02) 193–224. 34 Ders.: Valentin Trozendorf und die Goldberger Schule. 35 �������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Petrus Vincentius, der Schöpfer des Görlitzer Gymnasiums und erste Breslauer Schulinspektor. In: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 19 (1909) 269–330. 36 Ders.: Hieronymus Gürtler von Wildenberg. Der Begründer der Goldberger Particularschule. Ein Beitrag zur Schulgeschichte des deutschen Ostens im XVI. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 29 (1895) 159–196. 37 Ders.: Die Anfänge der Universität Frankfurt a. O. und die Entwicklung des wissenschaftlichen Lebens an der Hochschule 1506–1540. Berlin 1900 (Texte und Forschungen zur Geschichte der Erziehung und des Unterrichts in den Ländern deutscher Zunge 3). 38 Köstlin, Julius: Johann Heß, der Breslauer Reformator. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 6 (1864/65) 97–131, 181–265; 10 (1870/71) 216–219; 12 (1874/75) 410–421; Rezek, Anton: Eine Unterredung der böhmischen Brüder mit Dr. Joh. Hess im Jahre 1540. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 18 (1884) 287–295; Otto, Carl: Schlesisches aus dem Geheimen Vatikanischen Archive in Rom. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1874/75) 466–472; Fuhrmann, Erwin: Zur Familiengeschichte des Breslauer Reformators D. Joh. Heß. In: Schlesische Geschichtsblätter (1911) 9–13. 39 Konrad, Paul: Dr. Ambrosius Moibanus. Ein Beitrag zur Geschichte der Kirche und Schule Schlesiens im Reformationszeitalter. Halle 1891 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 34); ders.: Das evangelische Kirchenregiment des Breslauer Raths in seiner geschichtlichen Entwickelung. In: Silesiaca. Festschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens zum siebzigsten Geburtstage seines Präses Colmar Grünhagen. Breslau 1898, 207–214. 40 Erdmann, D[avid]: Luther und seine Beziehungen zu Schlesien, insbesondere zu Breslau. Halle 1887 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 19). 41 Ders.: Luther und die Hohenzollern. Breslau 1883 [21884]. 42 �������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Markgraf Georg von Brandenburg und seine Verdienste um die Reformation in Oberschlesien. In: Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 1 (1882) 49–63; 2 (1883) 19–33, 81–97; 3 (1887) 3–16.

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pulse, die weit über das Oderland hinausreichten. Diese Anstöße wurden durch die Kirchenhistoriker der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Breslau unterstützt, namentlich durch die Schlesier Gustav Koffmane und Gustav Kawerau, aber auch durch den Württemberger Karl Müller. In diesem Zusammenhang entstand eine Reihe wichtiger Einzeluntersuchungen. Für Schlesien sind vor allem die Studien zu den Piastenherzögen43 zu nennen, ferner eine Arbeit über das Ende des territorialen Vordringens der Reformation mit der Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620.44 Auf katholischer Seite standen die katholische Reform und die Gegenreformation im Mittelpunkt des kirchenhistorischen Interesses. Vor allem Joseph Jungnitz, Leiter des Diözesanarchivs in Breslau, legte wegweisende Studien zu einzelnen Breslauer Ordinarien vor: zu den Bischöfen Sebastian von Rostock45 und Martin von Gerstmann.46 Zur Geschichte der Gegenreformation im Oderland forschte Arnold Oskar Meyer. Er behandelte die Bischöfe Andreas Jerin und Johannes Sitsch und wertete dazu erstmals umfassende Quellenbestände aus dem Geheimen Vatikanischen Archiv in Rom aus.47 In den Bänden 7 und 8 der bereits genannten Quellenreihe Acta publica. Verhandlungen und Correspondenzen der schlesischen Fürsten und Stände edierte Julius Krebs, der das Material über den Dreißigjährigen Krieg und die Piasten in Schlesien bearbeitete, Material zur Geschichte der Gegenreformation in Schlesien in den Jahren 1628 und 1629.48 Forschungen über die Anfänge des Jesuitenordens in Schlesien und dessen Wirken im Oderland indes standen noch am Anfang.49 Dass die sogenannten Kirchenre43 Soffner, Johannes: Schlesische Fürstenbriefe aus der Reformationszeit. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 21 (1887) 399–415; Kraffert, Adalbert Hermann: Chronik von Liegnitz. Th. 2,2: Vom Tode Friedrichs II. bis zum Aussterben des Piastenhauses. 1547–1675. Liegnitz 1871; ders.: Chronik von Liegnitz, Th. 3: Vom Beginn der österreichischböhmischen Periode bis zum Ende der Freiheitskriege. 1675–1815. Liegnitz 1872; Schimmelpfennig, C[arl] A[dolf ]: Die evangelische Kirche im Fürstenthum Brieg, unmittelbar nach dem 30jährigen Kriege. Aus den Berichten der General-Visitation vom Jahre 1651 dargestellt. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 8 (1867/68) 109–150: 9 (1868/69) 11–26. 44 Krebs, Julius: Die Schlacht am weissen Berge bei Prag (8. November 1620) im Zusammenhange der kriegerischen Ereignisse. Breslau 1879. 45 Jungnitz, J[oseph]: Sebastian von Rostock, Bischof von Breslau. Breslau 1891. 46 ������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Martin von Gerstmann, Bischof von Breslau. Ein Zeit- und Lebensbild aus der schlesischen Kirchengeschichte des 16. Jahrhunderts. Breslau 1898. 47 Meyer, Arnold Oskar: Zur Geschichte der Gegenreformation in Schlesien. Aus vaticanischen Quellen, 1: Bericht des Breslauer Bischofs Andreas Jerin 1586, 2: Zur Geschichte des Breslauer Bischofs Johannes VI. Sitsch in den Jahren 1603–1605. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 38 (1904) 343–361. 48 Krebs, Julius (Hg.): Acta publica. Verhandlungen und Correspondenzen der schlesischen ­Fürsten und Stände, Bd. 7–8. Breslau 1905–1906 (jeweils mit einem Anhang: Beiträge zur Geschichte der Gegenreformation in Schlesien). 49 Chrząszcz, Johannes: Ein Fundationsverzeichnis des Neißer Jesuitenseminars der hl. Anna aus dem Jahre 1716. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 46 (1912) 172–185; Prittwitz und Gaffron, Bernhard von: Die Versuche zur Einführung der Jesuiten in Schlesien vor dem

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duktionen von 1654, die die evangelische Kirche an den Rand ihrer Existenz brachten, im 19. Jahrhundert thematisiert wurden, nimmt nicht wunder. Außer Johann Gottlob Worbs’ Verteidigung der Rechte der evangelischen Gemeinden50 sind in diesem Zusammenhang mehrere Arbeiten von Johannes Soffner51 und Julius Berg52 zu nennen. Die Hinwendung der piastischen Fürsten zur reformierten Kirche wurde bei den evangelischen Kirchenhistorikern, die sich durchgehend auf das Luthertum konzentrierten und abweichenden Strömungen mit Misstrauen begegneten, kaum beachtet. Lediglich die Persönlichkeit des Arztes und Mäzens Johann Crato von Krafftheim hat die Forschung immer wieder angezogen. Aber auch in diesem Fall war es bezeichnenderweise kein Lutheraner, sondern der Prediger der reformierten Hofkirche in Breslau Johann Franz Albert Gillet, der dem Breslauer Späthumanisten und dessen Freundeskreis eine zweibändige, aufgrund ihres Materialreichtums bislang unersetzt gebliebene Untersuchung widmete.53 Darüber hinaus thematisierte Gillet das Verhältnis der Reformierten zur Kirche der preußischen Union.54 dreißigjährigen Kriege. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 18 (1884) 68–89, ergänzt von Johannes Soffner. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 19 (1885) 410–413; Schimmelpfennig, Carl Adolf: Die Jesuiten in Breslau während des ersten Jahrzehnts ihrer Niederlassung. Aus den Akten des Stadtarchivs zu Breslau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 24 (1890) 177–216; 25 (1891) 82–103. 50 Worbs, Joh[ann] Gottlob: Die Rechte der evangelischen Gemeinden in Schlesien an den ihnen im 17. Jahrhunderte gewaltthätig genommenen Kirchen und Kirchengütern. Sorau 1825. 51 Soffner, Johannes: Die Kirchen-Reductionen in den Fürstenthümern Liegnitz-Brieg-Wohlau nach dem Tode des Herzogs Georg Wilhelm. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 20 (1886) 121–156. 52 ������������������������������������������������������������������������������������������ Berg, J[ulius]: Die Geschichte der gewaltsamen Wegnahme der evangelischen Kirchen und Kirchengüter in den Fürstenthümern Schweidnitz und Jauer während des siebzehnten Jahrhunderts. Eine Säcularschrift, als Beitrag zur schlesischen Kirchengeschichte und zu Begründung einer angemessenen Auseinandersetzung der äußern Verhältnisse der evangelischen Kirche mit dem State und der römisch-katholischen Kirche. Breslau 1854; ders.: Die Geschichte der schwersten Prüfungszeit der evangelischen Kirche Schlesiens und der Oberlausitz, d. i. der Zeit von Einführung der Reformation bis zur Besitznahme Schlesiens durch König Friedrich d. Gr. Ein Beitrag zu Erklärung der gegenwärtigen äußern Zustände derselben und zur Darlegung ihrer Rechte und Ansprüche in dieser Hinsicht, nach den bewährtesten Quellen und Urkunden bearbeitet und mit den erforderlichen Uebersichten, Nachweisungen und Beilagen versehen. Jauer 1857. 53 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Gillet, J[ohann] F[ranz] A[lbert]: Crato von Crafftheim und seine Freunde. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte, Bd. 1–2. Frankfurt am Main 1860. 54 Ders.: Die Reformirten in Schlesien und die Union. Ein aus urkundlichen Quellen geschöpfter Beitrag zur neuesten Kirchengeschichte. Erste Abtheilung der Schrift: Falk’s Abschiedspredigt und die Geschichte. Zur Steuer der Wahrheit und als ein Beitrag zur Geschichte der Reformirten in Schlesien und der Union, nach umfassenden Quellen zusammengestellt. Breslau 1855. Vgl. hierzu Gehrke, Roland: Zwischen kirchenrechtlicher Autonomie und konfessioneller Assimilierung. Die Haltung der schlesischen Reformierten zur Altpreußischen Union von 1817. In: Bahlcke, Joachim/Din­gel, Irene (Hg.): Die Reformierten in Schlesien. Vom 16. Jahrhundert bis zur Altpreußischen Union von 1817. Göttingen 2015 (Veröffentlichungen des Instituts für Eu-

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Während sich die bisher genannten Arbeiten zur Gänze auf das Gebiet von Preußisch-Schlesien bezogen, forschte Gottlieb Biermann um die Mitte des 19. Jahrhunderts über Bielitz und Teschen und gab 1859 die Geschichte der evangelischen Kirche Oester. Schlesiens mit besonderer Ruecksicht auf die der Gnadenkirche vor Teschen heraus.55 Seine Darstellung bildete bis in das 20. Jahrhundert das Standardwerk für die evangelische Kirchengeschichte dieses Raums. Neben Biermann ist hier vor allem Josef Zukal mit einer wichtigen Arbeit zur Gegenreformation im Fürstentum Jägerndorf zu nennen.56 Es ist eine Grundtatsache der Geschichtsschreibung, dass Not- und Kriegszeiten in ihr stets stärkere Berücksichtigung fanden als Friedenszeiten. Das gilt für die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, das gilt aber auch für die Unterdrückung der lutherischen Kirche durch die Habsburger ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, und das gilt ebenso – wenn auch abgeschwächt – für die von der katholischen und lutherischen Kirche gleichermaßen unterdrückte Bewegung des Pietismus. Dem zuletzt genannten Vorgang widmete das Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens mehrere kurze, aber materialreiche Artikel.57 Ferner würdigte Wilhelm Bernhardi den Prediger Johann Adam Steinmetz, eine herausragende Gestalt des Pietismus im Teschener Raum.58 Überdies faszinierten Phänomene der Frömmigkeitsgeschichte, zum Beispiel die Versammlungen erweckter betender Kinder auf freiem Feld, die Forschung bereits im Jahrhundert der Aufklärung. Die Arbeit der Brüdergemeine, ihre geschlossenen Herrnhuter Siedlungen in Schlesien und deren intensive Diasporaarbeit erschien der kirchengeschichtlichen Forschung dagegen zu speziell und wohl auch zu abwegig, als dass man sich dieser Fragen historiographisch angenommen hätte. Bedeutende Arbeiten wie die bereits genannte Abhandlung von David Cranz über Gnadenfrei, aber auch andere Manuskripte blieben ungedruckt. Dieses fehlende Interesse nahm erst nach dem Ersten Weltkrieg ab, so hat Gerhard Eberlein den Einfluss der Herrnhuter Diasporaarbeit für die Landeskirche entdeckt.59 ropäische Geschich­te Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Beiheft 106), 247–265. 55 Biermann, Gottlieb: Geschichte der evangelischen Kirche Oester. Schlesiens mit besonderer Ruecksicht auf die der Gnadenkirche von Teschen. Denkschrift zum 150jährigen Jubelfeste der evangelischen Jesuskirche vor Teschen. Teschen 1859. 56 Zukal, Josef: Aktenstücke zur katholischen Gegenreformation im Fürstentume Jägerndorf. In: Zeitschrift für Geschichte und Kulturgeschichte Österreichisch-Schlesiens 5 (1909/10) 49–62. 57 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. exemplarisch die Beiträge in Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 3 (1887) 17–18, 33–36; 6 (1898/99) 133–134; 8 (1902/03) 133–134; 9 (1904/05) 218–269. Vgl. darüber hinaus den Überblicksbeitrag von Schimmelpfennig, C[arl] A[dolf ]: Zur Geschichte des Pietismus in Schlesien von 1707–1740. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1869) 218–269. 58 ������������������������������������������������������������������������������������������� Bernhardi, W[ilhelm]: Johann Adam Steinmetz, weiland Abt des Klosters Bergen, Consistorialrath und General-Superintendent des Herzogthums Magdeburg, in seinem gottseligen Leben und segensreichen Wirken. Berlin 1840. 59 Eberlein, [Gerhard]: Die Diaspora-Arbeit der Brüdergemeinde im schlesischen Gebirge. In: Jahrbuch des Vereins für Schlesische Kirchengeschichte 21 (1930) 33–69; 22 (1931) 39–64.

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Die Epoche der Aufklärung begann in Schlesien mit der Eroberung des Landes durch den preußischen König Friedrich II. Das hatte naturgemäß auch Folgen für die kirchliche Entwicklung im Oderland, wo sich der wachsende Einfluss Berlins bald schon bemerkbar machte. Für die evangelische Kirche hatte der Wechsel der Oberherrschaft zur Folge, dass sie in eine preußische Provinz eingegliedert wurde und eine einheitliche Kirchenverfassung erhielt, die der bisherigen Aufsplitterung in Fürstentümer und Grafschaften ein Ende setzte – ein Vorgang von höchster kirchenrechtlicher Bedeutung. Dieser Vorgang führte zur Erarbeitung einer Reihe kirchenrechtsgeschichtlicher Darstellungen. Exemplarisch zu nennen ist hier die 1847 von Heinrich Simon vorgelegte Studie, die auch wertvolle Informationen zur früheren Rechtslage der evangelischen Kirche im Oderland enthielt.60 Die Aufklärung erfasste bis Ende des 18. Jahrhunderts die gesamte evangelische Pfarrerschaft, darüber hinaus teilweise auch die katholischen Bildungseinrichtungen. Während Colmar Grünhagen die Regierungszeit Friedrichs II. intensiv erforschte, spielte sie in der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung zunächst keine größere Rolle.61 Dass sie den Neubeginn vieler evangelischer Gemeinden mit der Erbauung von Bethäusern bedeutete, kam historiographisch erst hundert Jahre später zum Ausdruck, als diese Neugründungen ihre „Jubelbücher“ verfassten, ein Phänomen, das es so nur in der evangelischen Kirche Schlesiens gab. Die im Zweiten Weltkrieg vernichtete Bibliothek des Breslauer Konsistoriums soll über vierzig solcher Festschriften mit der Geschichte dieser Gemeinden gesammelt haben.62 Der wissenschaftliche Wert dieser Abhandlungen ist gewiss unterschiedlich, doch sind sie insgesamt ein Zeugnis für die unter preußischer Herrschaft wiedererlangte Religionsfreiheit. Eine Gesamtdarstellung zur Phase der Aufklärung in Schlesien unternahm Rudolf Martin Ritscher 1912 in seiner an der Universität Göttingen verteidigten Dissertation.63 Die Beziehungen der Auf-

60 Simon, Heinrich: Das Kirchen-Recht und die Kirchen-Verfassung von Schlesien. Breslau 1847 (Das Provinzial-Gesetzbuch der Schlesischen Verfassung und Verwaltung 5). 61 Eine Ausnahme bildet die Darstellung von Weigelt, Carl: Die evangelische Kirche in Schlesien zur Zeit der Preußischen Besitzergreifung und ihre Entwickelung von 1740–1756. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 23 (1889) 60–144. 62 Vgl. exemplarisch Drischel, C[arl] J[ulius]: Jubelbüchlein den evangelischen Gemeinden von Warmbrunn u. Herischdorf und den Hospitalgütern zu der am 29. Okt. 1852 stattfindenden Gedächtnisfeier der i. J. 1742 wieder erlangten freien Religions-Uebung gewidmet. Hirschberg 1852; Götschmann, K[arl] H[einrich] A[dolph]: Jubelbüchlein für das evangelische Kirchspiel Fischbach. Eine Festgabe zur 100jährigen Kirchen-Jubel-Feier am 5. post Trinitatis, den 26. Juni 1842. Hirschberg 1842 [21842]; Herold, Friedrich Adolf Florentin: Jubelbüchlein am goldenen Jubelfeste, Sonntag Jubilate 1841, als am hundertjährigen Stiftungsfeste des neuen evangelischen Kirchensystems von Reibnitz und Berthelsdorf bei Hirschberg [...]. Bunzlau 1841. 63 Ritscher, Rudolf Martin: Versuch einer Geschichte der Aufklärung in Schlesien während des 18.  Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der religiösen Aufklärung. Göttingen/ Liegnitz 1912.

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klärungsfrömmigkeit zur Agendenreform König Friedrich Wilhelms III. von Preußen untersuchte zur gleichen Zeit Otto Aust in seiner Breslauer Dissertation.64 Bedeutsamer allerdings ist eine andere Tatsache. Als der Königsberger Kirchenhistoriker August Hahn 1834 eine Professur in Breslau annahm, hielt er seine AntrittsDisputation gegen den damals herrschenden Rationalismus auf den Lehrstühlen und unter der Pfarrerschaft. Er riet den Rationalisten, ehrlicherweise aus der Kirche auszutreten, da der Rationalismus die Geisteshaltung der Kirchengegner sei.65 Seine bereits einige Jahre zuvor, 1827, in einer Abhandlung veröffentlichten Thesen wurden von den führenden Theologen der Zeit indes scharf abgelehnt. Diese Zurückweisung aber war der eigentliche Anlass, warum Hahn durch die preußische Regierung eine Generalsuperintendentur in Breslau erhielt, ein Amt mithin, das ihn zur Zurückdrängung des Rationalismus in der schlesischen Hauptstadt befähigte. Dass ein Kirchenhistoriker mit einer Rede den Zeitgeist zu beeinflussen vermochte, stellt eine seltene Ausnahme dar. Es gehört zur Tragik seines Wirkens, dass Hahn als Lutheraner die Abspaltung der Altlutheraner seit 1830 nicht verhindern konnte. Er stand dieser Gruppe geistig zwar nahe, seine Treue zu König und kirchlicher Union machte eine Wiedergewinnung der die Union bekämpfenden Separatisten jedoch unmöglich. Als in Preußen nach 1848 die Bildung kirchlicher Vereine verfassungsrechtlich möglich wurde, entwickelte sich auch in Schlesien ein reiches Vereinsleben, das sich vor allem im sozial-diakonischen Bereich auswirkte – mit der Einrichtung von Waisen- und Rettungshäusern,66 Jünglings- und Frauenvereinen, Traktat- und Missionsgesellschaften. Damit entstanden historiographisch gesehen völlig neue Quellengruppen: Vereinsmitteilungen, Jahresberichte mit ihren Bilanzen und Spenderlisten sowie eine Fülle regionaler Vereinszeitschriften. Nach der Zusammenfassung dieses kirchlichen Vereinswesens im Zentralausschuss für Innere Mission in Berlin entstanden auch im Oderland Provinzialvereine für Innere Mission. Das führte am Ende des 19. Jahrhunderts zu ersten historischen Rückblicken.67 64 ������������������������������������������������������������������������������������������ Aust, Otto: Die Agendenreformen in der evangelischen Kirche Schlesiens während der Aufklärungszeit und ihr Einfluss auf die Gestaltung des kirchlichen Lebens. Breslau 1910. 65 Hahn, Augustus: De religionis et superstitionis natura et ratione Commentationis historicae et theologicae. Pars prima. Vratislaviae 1834. Die Arbeit ging zurück auf die Thesen der Leipziger Disputation Hahns. Vgl. ders.: De rationalismi qui dicitur vera indole et qua cum naturalismo contineatur ratione. Commentatio Historico-Theologica. Lipsiae 1827. Diese Arbeit war auch in einer deutschen Fassung erschienen. Vgl. ders.: An die Evangelische Kirche zunächst in Sachsen und Preußen. Eine offene Erklärung. Leipzig 1827. 66 Beispielhaft sei das Waisenhaus in Bunzlau genannt. Vgl. Stolzenburg, W[ilhelm] A[lbert] H[einrich]: Geschichte des Bunzlauer Waisenhauses, zugleich ein Spiegelbild der wichtigsten pädagogischen und didaktischen Bestrebungen in dem evangelischen Deutschland und der Schweiz während der letzten anderthalb Jahrhunderte. Breslau 1854. 67 Schütze, O[tto]: Die innere Mission in Schlesien. Hamburg 1883 (Die innere Mission in Deutschland 6); Reymann, G[ottfried]: Fünfzig Jahre Innere Mission in Schlesien. Geschichte des Schlesischen Provinzialvereins für innere Mission 1863–1913. Zum 50jährigen Jubiläum des Vereins am 15. Mai 1913. Liegnitz 1913.

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4. Forschungsmethoden Die Erforschung der schlesischen Kirchengeschichte wurde bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert überwiegend von Geistlichen sehr unterschiedlicher Herkunft, Ausbildung und Erfahrung geleistet, kaum von den Professoren der beiden kirchlichen Fakultäten an der Universität Breslau. Darum ist es schwierig, von der einheitlichen Anwendung einer bestimmten historisch-wissenschaftlichen Methode zu sprechen. Dieses Problem erkannte bereits der 1882 gegründete Verein für schlesische Kirchengeschichte. Er forderte deshalb alle historisch arbeitenden Pfarrer auf, Regesten zur schlesischen Reformationsgeschichte nach einem vorgegebenen Schema anzufertigen und an den Verein einzusenden. Es ist offensichtlich, dass man mit diesem Vorhaben dem älteren Regestenwerk des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens nacheiferte.68 Mit dem Werk verfolgte man ausdrücklich das Ziel, so der Breslauer Privatdozent und Pfarrer Gustav Koffmane 1893, „historische Irrtümer“ in den Darstellungen zu verhindern.69 Hier zeigte sich die überragende Persönlichkeit von Colmar Grünhagen für den Kirchengeschichtsverein, dessen Kritik und Misstrauen in Vereinskreisen gefürchtet waren. Die Anwendung der historisch-kritischen Methode war den an der Universität Breslau ausgebildeten Theologen aus den exegetischen Fächern freilich wohlvertraut. Das sagt aber noch nichts über die zu jener Zeit mehrheitlich geteilte national-patriotische Gesinnung, die insbesondere nach der Reichsgründung 1870/71 die gesamte historische und kirchenhistorische Forschung beherrschte und das Interesse an Luther als eine Triebfeder nationaler Einheit beflügelte. Das Problem einer solchen konfessionell eingeengten Sichtweise wurde von vorausblickenden Forschern durchaus angesprochen. Bereits 1867 hatte der Breslauer Kirchenhistoriker Friedrich Gottlob Eduard Anders in seinem Werk Historische Statistik der Evangelischen Kirche in Schlesien beklagt: „Das Zusammenleben der Evangelischen mit den Katholiken läßt noch zu wünschen übrig; das in den Befreiungskriegen Gewordene ist sehr geschwunden; oft so greller Unterschied, als wären umsonst 300 Jahre seit der Reformation vergangen.“70 Ähnliche Erfahrungen hatte einige Jahre zuvor auch der Breslauer Historiker Richard ­Roepell gemacht: Im ersten Band der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens, den er 1856 herausgebracht hatte, war eine Rezension der umfangreichen Ge68 Grünhagen, Colmar (Hg.): Regesten zur schlesischen Geschichte, Th. 1–3: 1250–1300. Breslau 1868–1886 (Codex diplomaticus Silesiae 7); Grünhagen, Colmar/Wutke, Konrad (Hg.): Regesten zur schlesischen Geschichte. 1301–1315. Breslau 1892 (Codex diplomaticus Silesiae 16); dies. (Hg.): Regesten zur schlesischen Geschichte. 1316–1326. Breslau 1898 (Codex diplomaticus Silesiae 18); dies. (Hg.): Regesten zur schlesischen Geschichte. 1327–1333. Breslau 1903 (Codex diplomaticus Silesiae 22). 69 Koffmane, Gustav: Bemerkungen über die Regesten zur schlesischen Reformationsgeschichte. In: Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 4 (1893) 57–60, hier 57. 70 Anders, F[riedrich] G[ottlob] Eduard: Historische Statistik der Evangelischen Kirche in Schlesien nebst einer Kirchen-Charte. Breslau 1867, 100.

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schichte der Stadt Neisse von August Kastner, einem in Neisse wirkenden katholischen Oberlehrer, erschienen.71 Roepell musste schon wenig später erfahren, dass nicht nur die von dem protestantischen Gelehrten Theodor Paur verfasste Kurzdarstellung von katholischer Seite als völlig unwissenschaftlich und unzureichend angegriffen wurde; man brachte auch die neu eröffnete Zeitschrift in Misskredit und drohte damit, dass sich die katholischen Mitglieder bei weiteren Publikationen dieser Art aus dem Geschichtsverein zurückziehen würden. Roepell druckte die aus katholischen Kreisen kommende Kritik in voller Länge in der Breslauer Vereinszeitschrift ab und wies die Beschuldigung mit deutlichen Sätzen als ungerechtfertigt zurück.72 Der Breslauer Archivar Wilhelm Dersch übte in einem 1931 veröffentlichten Rückblick auf die letzten vier Jahrzehnte der schlesischen Geschichtsforschung deutliche Kritik an Colmar Grünhagen: „Gegenüber dem Bekenntnis zum Staat und zur Macht, wie es etwa Heinrich v[on] Treitschke betont, machen sich kulturgeschichtliche Forschungen geltend, die eine starke Berücksichtigung verfassungs- und rechtsgeschichtlicher sowie sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Fragen verlangen.“73 Dersch verwies auf die Forschungen von Konrad Wutke zur schlesischen Wirtschaftsgeschichte und von Joseph Partsch, der die Bedeutung von Flurkarten, der Siedlungsgeschichte und der historischen Geographie erkannt habe. Der methodische Fortschritt der Geschichtswissenschaft, dies hatte Dersch richtig erkannt, lag vor allem in der Erschließung und dem Verständnis neuer Quellen. Das gilt auch für die kirchengeschichtliche Erforschung Schlesiens. Friedrich Gottlob Eduard Anders hatte schon 1845 die Bedeutung der Geographie für das Verständnis der Geschichte erkannt und mit dem Werk Historischer Atlas der Evangelischen Kirchen in Schlesien eine bahnbrechende Pilotstudie publiziert.74 Bedeutender noch aber ist Anders als derjenige, der die Forderung Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers verwirklichte und eine „kirchliche Statistik“ als „Darstellung des gesellschaftlichen Zustandes der Kirche in einem gegebenen Moment“ für Schlesien verwirklichte.75 Seine bereits genannte Historische Statistik der Evangelischen Kirche in Schlesien76 ist sicherlich das be71 Kastner August: Geschichte der Stadt Neisse mit besonderer Berücksichtigung des kirchlichen Lebens in der Stadt und dem Fürstenthume Neisse, Th. 1–2. Neisse 1854. 72 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Ein Beispiel specifisch confessioneller Kritik. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1/2 (1856) 320–322. Zum Hintergrund vgl. Bahlcke, Joachim: „Circel gebildeter, gelehrter Männer“. Zur Entwicklung, Struktur und inhaltlichen Ausrichtung aufgeklärter Sozietäten in Schlesien während des 18. Jahrhunderts. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Instititutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 45–71, hier 51f. 73 Dersch, Wilhelm: Vierzig Jahre schlesische Geschichtsforschung. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 65 (1931) 1–53, hier 2. 74 Anders, Friedrich Gottlob Eduard: Historischer Atlas der Evangelischen Kirchen in Schlesien. Glogau 1845. 75 Zit. nach Schian, Martin: Art. Kirchenkunde. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3. Tübingen 21929, Sp. 912–913, hier Sp. 912. 76 Vgl. Anm. 70.

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deutendste Werk für die evangelische Kirchengeschichte Schlesiens im 19. Jahrhundert. Es enthält auf mehr als 800 Seiten nicht nur eine informative Statistik über den zeitgenössischen Stand der evangelischen Kirche, sondern auf den ersten 104 Seiten auch eine wertvolle historisch-statistische Einführung über die zahlenmäßige Entwicklung in den einzelnen schlesischen Regionen. Anders gab darüber hinaus auch erste Zahlen über die Niederlassung der Baptisten und Irvingianer in Schlesien an und weitete so den Blick über die eigene unierte Kirche hinaus. Die Anregungen von Anders nahm der Praktische Theologe Paul Drews aus Jena auf. Er entwickelte das Konzept einer Kirchenkunde für jede Landeskirche. Der praktische Theologe Martin Schian, der diese Überlegungen für Schlesien umsetzte, beschrieb sein Konzept einer Kirchenkunde folgendermaßen: „Sie ist Gegenwartsgeschichte, doch so, daß sie ihren Gegenstand aus dem geschichtlichen Gewordensein verständlich zu machen sucht. Sie geht an keiner Aeußerung des kirchlichen Lebens vorbei.“77 Sie umfasste also Verfassung und Organisation, die gottesdienstlichen Ordnungen und Sitten, Gemeinde- und Vereinsarbeit, die Pfarrer und Angestellten der Gemeinde, die sittlichen und religiösen Anschauungen, die Beziehungen der Gemeinde zu anderen religiösen Gemeinschaften und zum öffentlichen Leben. Dank der Genauigkeit und gründlichen Recherchen des Verfassers gibt das Buch einen vorzüglichen Einblick in die schlesische Kirche im 19. Jahrhundert. Es eignet sich überdies als Nachschlagewerk zu den Erscheinungsformen des kirchlichen Lebens.78 Die Verknüpfung von praktischer Theologie mit Kirchengeschichte geht hier eine glückliche Symbiose ein, die in mancher Hinsicht das Konzept einer Seelsorgegeschichte vorwegnimmt. In der katholischen Kirche bildete die Gründung des Diözesanarchivs im 19. Jahrhundert eine zentrale Voraussetzung für die quellenkritische Forschung durch den Leiter des Archivs, Joseph Jungnitz, der selbst vorzügliche Beispiele einer soliden, wissenschaftlich begründeten Forschung gab. In der Katholisch-Theologischen Fakultät in Breslau hatte man indes andere Sorgen, als sich um die regionale Kirchengeschichte zu kümmern. Mit dem Oberschlesier Max Sdralek, der seine Laufbahn in Breslau begonnen, dort aber erst 1896 eine Professur erhalten hatte, gewann man freilich einen einflussreichen Lehrer, dessen eigene Forschungen zwar vor allem das Mittelalter betrafen, der aber einen größeren Schülerkreis um sich sammelte und als Herausgeber in dem Organ Kirchengeschichtliche Studien auch eine Publikationsmöglichkeit anbot. Sdraleks theologische Position war einer Geschichtsphilosophie gegenüber kritisch, ließ sich aber durch den aufkommenden naturwissenschaftlichen Zugang zu den Realitäten anregen.79 77 Schian: Kirchenkunde, Sp. 912. 78 Ders.: Das kirchliche Leben der evangelischen Kirche der Provinz Schlesien. Tübingen/Leipzig 1903 (Evangelische Kirchenkunde 2). 79 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Hirschfeld, Michael: Schlesische Priesterhistoriker vor dem Ersten Weltkrieg. Geschichtsschreibung zwischen institutionellen Anforderungen und individueller Schwerpunktsetzung. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien, 307– 329, hier 311–316.

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Anders als die evangelischen Kirchenhistoriker waren die katholischen Forscher dem Lehramt der Kirche unterworfen. Das führte im 19. Jahrhundert immer wieder zu erheblichen Schwierigkeiten mit Rom und verschiedenen Bischöfen. Der bedeutende Gelehrte Franz Xaver Kraus etwa wurde von der kirchlichen Zensur mehrfach genötigt, Änderungen in seinem kirchenhistorischen Lehrbuch, das seit 1872 in Fortsetzungen erschien,80 vorzunehmen.81 Sdralek suchte einen Mittelweg: „Der Kirchengeschichtler ist immer zugleich Historiker und Theologe. Als Historiker nur der Wahrheit verpflichtet, kommt er doch ohne theologische Vorgaben nicht aus.“82 Es wäre jedoch zu einfach, die kirchenhistorischen Kontinuitäten und leitenden Interpretationsmuster einfach der Dogmatik zu entnehmen. „Der Historiker hat auch auf die Strukturen zu sehen, die Erklärungsmöglichkeiten für den Zusammenhang von Ereignissen bieten, die aber nicht a priori, etwa von der Dogmatik vorgegeben sind, sondern sich aus einer Vielzahl von Einzelbeobachtungen ergeben. Denn beides, die Einzelfälle wie deren Zusammenhang, deren Wechselwirkung, muß der Historiker im Auge haben.“83 Sdralek setzte sich einerseits für eine „Pflichtenteilung“ von staatlicher und weltlicher Gewalt ein, konnte aber andererseits gänzlich unkritisch in Kaiser Wilhelm I. die Erfüllung des Wunsches der deutschen Stämme nach Einigung und das „Herrscherideal des deutschen Volkes“ erblicken.84 Solche Erwägungen deuten die Schwierigkeiten an, in denen die katholischen und evangelischen Theologen des 19. Jahrhunderts standen. Auf evangelischer Seite gab es zwar kein Lehramt, aber bei der Besetzung der theologischen Lehrstühle musste man Rücksicht auf die in der preußischen Kirche bestehenden Kirchenparteien – die konservativ-lutherische, die liberale sowie die positiv-unionistische – nehmen.

5. Zusammenfassung Nach dem Vorangegangenen lässt sich die These Joachim Köhlers, dass in der kirchengeschichtlichen Forschung des 19. Jahrhunderts die Erforschung großer Einzelpersönlichkeiten im Vordergrund gestanden habe, nur zum Teil bestätigen. Die These berücksichtigt zu wenig die Tatsache, dass sich die Forschung in beiden Konfessionen, in der katholischen wie in der evangelischen Kirche, parallel zur Allgemeingeschichte um die Edition von Quellen, Protokollen, Urkunden, Inventaren und Verzeichnissen bemühte und hier ihre Verdienste liegen. Ferner sollte man nicht vergessen, dass außer den 80 Kraus, Franz Xaver: Lehrbuch der Kirchengeschichte für Studierende. Trier 1872–1879 (in 5 Teilen). Weitere Auflagen: 2. Aufl. 1882, 3. Aufl. 1887, 4. Aufl. 1896. 81 Maier, Konstantin: Art. Kraus, Franz Xaver in: Lexikon für Theologie und Kirche 6 (1934) Sp. 431–432. 82 �������������������������������������������������������������������������������������������� Bendel, Rainer: Max Sdralek. Der Begründer der Breslauer kirchenhistorischen Schule. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 55 (1997) 11–37, hier 27. 83 Ebd., 37. 84 Ebd., 29.

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Biographien die Ortschroniken, die vom schlichten „Jubelbüchlein“ bis zu einer ausführlichen Ortsgeschichte reichen, wichtige Informationen aus Quellen enthalten, die inzwischen oft nicht mehr vorhanden sind. In diesen Ortschroniken macht die Kirchengeschichte freilich nur einen Aspekt neben vielen anderen aus. Gleichwohl dürfen sie nicht unterschätzt werden. Zu denken ist hier etwa an zwei Werke von Johann Gottlob Worbs, seine 1795 in Züllichau erschienene Geschichte des Herzogthums Sagan sowie die 1826 in Sorau publizierte Geschichte der Herrschaften Sorau und Triebel, aber auch an das gewichtige Werk Die Piasten zum Briege oder Geschichte der Stadt und des Fürstenthums Brieg, das Karl Friedrich Schönwälder 1855/56 in drei Teilen in Brieg vorlegte. Weitere Beispiele wären die bereits genannten Arbeiten von August Kastner zu Neisse oder von Gottlieb Biermann zu den Fürstentümern Jägerndorf und Troppau. Spielten auf katholischer Seite liturgiewissenschaftliche Untersuchungen eine größere Rolle,85 so waren es auf evangelischer Seite hymnologische Forschungen zu einzelnen Liederdichtern und Liedausgaben.86 Beides sind wichtige Quellen zur Geschichte der Frömmigkeit. Gewiss, die katholische Forschung zentrierte sich im 19. Jahrhundert vor allem auf die Bischofs- und Ordensgeschichte, auf Pfarrchroniken und Pfarrerbiographien, evangelischerseits wiederum – da es hier keine zentrale Verwaltung, keinen Bischof und keine Orden gab – hauptsächlich auf die Geschichte der großen Adelsfamilien und die Lutherforschung, auf Gemeinde- und Predigergeschichten. Allerdings, in der Konzentration auf eine bessere historische Quellen- und Grundlagenforschung beschäftigte man sich vor allem mit sich selbst, erfreute sich an seiner patriotischen Gesinnung und stärkte die eigene Identität der Kirche durch kontroverstheologische Abwehr. Die Defizite der Forschung sind vor allem in folgenden Bereichen zu sehen: Der linke Flügel der Reformation blieb weitgehend unberücksichtigt, auch wenn es immerhin erste Studien zu Caspar von Schwenckfeld gab,87 und ebenfalls ausgeblendet blieben Studien zu den unterschwelligen Neben- und Gegenströmungen sowie zu Vertretern der Kirchenkritik. Die beiden ersten Bände des Corpus Schwenckfeldianorum erschienen 1907 und 1911, doch lagen die Quellen in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo auch die Bearbeiter dieser Quellensammlung lebten. Die evangelische Kirche Schlesiens nahm von Jacob Böhme und dessen Schülern erst spät Kenntnis, die relativ schmale, 1880 in Breslau von Gustav Koffmane vorgelegte Abhandlung Die religiösen 85 Jungnitz, J[oseph]: Das Breslauer Brevier und Proprium. Breslau 1893; ders.: Die Breslauer Ritualien. Breslau 1892. 86 Mützell, Julius (Hg.): Geistliche Lieder der evangelischen Kirche aus dem siebzehnten und der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, von Dichtern aus Schlesien und den umliegenden Landschaften verfaßt [...], Bd. 1. Braunschweig 1858; Weigelt, Carl: Aus dem Leben der Kirche in der Geschichte ihrer Lieder. Ein Beitrag zur schlesischen Kirchengeschichte. Breslau 1885. 87 Ecke, Karl: Schwenckfeld, Luther und der Gedanke einer apostolischen Reformation. Berlin 1911; ders.: Studien zu Caspar Schwenckfelds Lehre und Schriften. Wittenberg 1911. Zahlreiche Kurzbeiträge Eckes erschienen überdies im Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens.

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Bewegungen in der evangelischen Kirche Schlesiens während des siebzehnten Jahrhunderts betrat weitgehend Neuland. Koffmane sah in der schlesischen Mystik einen Vorbereiter des Pietismus und behandelte Jakob Böhme, Johann Theodor von Tschesch, Abraham von Franckenberg und deren Nachfolger. Diese späte Zuwendung zu Böhme ist verwunderlich, da ältere Biographien über ihn vorlagen und die erste deutsche Gesamtausgabe von Böhme-Schriften bereits 1730 in elf Bänden erschien.88 Koffmane war auch der erste Kirchenhistoriker, der einen Aufsatz über die Wiedertäufer in Schlesien vorlegte.89 Was Untersuchungen über das 19. Jahrhundert angeht, so hatte die Erforschung des kirchlichen Vereinswesens gerade erst begonnen. Das Thema der altlutherischen Separation war noch zu frisch und zu spannungsgeladen, als dass man es historiographisch schon hätte behandeln können. Immerhin schrieb David Erdmann einen bemerkenswerten Artikel über Johann Gottfried Scheibel.90 Gegenüber dem Aufkommen von Freikirchen, von Methodismus und Baptismus, verhielt man sich kritisch abwehrend.91 Die Architektur- und Kunstgeschichte wiederum war mit der Kirchengeschichte nur wenig vernetzt.92 Vielleicht ist es bezeichnend, dass die sozialen Spannungen des 19. Jahrhunderts in Schlesien, der Weberaufstand von 1848, die soziale Frage und die industrielle Revolution in der Kirchengeschichte keine Rolle spielten, wohl aber die Vertreibung der Salzburger Protestanten im 18. Jahrhundert. Der Breslauer Kirchenhistoriker Franklin Arnold schrieb eine Monographie, der er den Untertitel Ein kulturgeschichtliches Zeitbild aus dem achtzehnten Jahrhundert gab,93 wohl um ihm die konfessionelle Schärfe zu nehmen. Andererseits zeigt gerade dieses Beispiel, welches Gewicht die kontroverstheologischen Spannungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch immer besaßen.

88 �������������������������������������������������������������������������������������������� Diese Gesamtausgabe wurde ab 1955 nachgedruckt, weil es bis dahin keine neuere wissenschaftliche Werkausgabe gab. Vgl. Böhme, Jacob: Sämtliche Schriften, Bd. 1–11. Faksimile der Ausgabe von 1730. Hg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart/Bad Cannstatt 1955–1989. 89 ������������������������������������������������������������������������������������������� Koffmane, Gustav: Die Wiedertäufer in Schlesien. In: Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 3 (1887) 37–55. 90 Erdmann, David: Scheibel, Johann Gottfried. In: Allgemeine Deutsche Biographie 30 (1890) 693–699. 91 Arnold, K. Franklin: Der Baptismus und seine Bekämpfung. Leipzig 1887. 92 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Einzelne Kirchenhistoriker begannen dieses Forschungsfeld allerdings zu bearbeiten. Vgl. exemplarisch Eberlein, Gerhard: Die schlesischen Grenzkirchen im XVII. Jahrhundert. Halle a. d. Saale 1901 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 70). 93 Arnold, C[arl] Fr[anklin]: Die Vertreibung der Salzburger Protestanten und ihre Aufnahme bei den Glaubensgenossen. Ein kulturgeschichtliches Zeitbild aus dem achtzehnten Jahrhundert. Leipzig 1900; ders.: Die Ausrottung des Protestantismus in Salzburg unter Erzbischof Firmian und seinen Nachfolgern. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts, Bd. 1–2. Halle 1900–1901 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 67).

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Landesgeschichte. Historische Forschungen während des langen 19. Jahrhunderts zur politischen Geschichte Schlesiens seit Beginn der Habsburgerherrschaft 1526 1. Methodische und konzeptionelle Vorüberlegungen Die frühneuzeitliche und moderne Geschichte Schlesiens nimmt im Rahmen einer mittel- und osteuropäischen Historiographie-, Beziehungs- und Wahrnehmungsgeschichte eine besondere und wichtige Position ein. Schlesien liegt kulturhistorisch als Übergangsregion und Brückenland zwischen der Krone Böhmen, den polnischen und den deutschen Territorien. Seine Geschichte lässt sich infolge zahlreicher Einflussnahmen von außen nur teilweise als eine gesonderte Landesgeschichte erzählen, fällt aber auch jeweils aus dem Rahmen einer deutschen, polnischen oder tschechischen Nationalgeschichte. Die Frage, wie also die schlesische Geschichte erzählt werden kann, genauso die Frage, wie eine regionale Historiographiegeschichte methodisch aufzubauen ist, stellt sich deshalb für Schlesien mit besonderer Schärfe, hat aber auch einen eigenen Reiz und spiegelt viele Möglichkeiten, wie eine konfessionell und sprachlich aufgeteilte, divers und multikulturell gestaltete mitteleuropäische Region dargestellt und historiographisch repräsentiert werden kann. Die Geschichte Schlesiens ist deshalb auch methodisch für alle Überlegungen zur Konstruktion einer europäisch vergleichenden Landesgeschichte von großem Interesse. Für die Region besteht eine reiche landesgeschichtliche Forschung, die alle Epochen europäischer Geschichtsschreibung – eine ältere Phase landesgeschichtlicher Konzentration, eine nationalgeschichtliche Verengung und eine neuere plurale Öffnung – mitgemacht hat, so dass es an Exempla nicht fehlt.1

1 Anschauliche Beispiele liefern die verschiedenen Gesamtdarstellungen zur Geschichte Schlesiens. Der Epoche einer nationalen Verengung sind folgende Werke zuzurechnen: Petry, Ludwig/Menzel, Josef Joachim/Irgang, Winfried (Hg.): Geschichte Schlesiens, Bd.1: Von der Urzeit bis zum Jahre 1526. Sigmaringen 51988 [Breslau 11938]; Petry, Ludwig/Menzel, Josef Joachim (Hg.): Geschichte Schlesiens, Bd. 2: Die Habsburger Zeit 1526–1740. Sigmaringen 1988; Menzel, Josef Joachim (Hg.): Geschichte Schlesiens, Bd. 3: Preußisch-Schlesien 1740–1945. ÖsterreichischSchlesien 1740–1918/45. Sigmaringen 1999; zu nennen ist hier auch das polnische Pendant: Maleczyński, Karol (Hg.): Historia Śląska, Bd. 1–3. Wrocław 1955–1985. Der Epoche einer Loslösung von nationalen Paradigmen sind vor allem zwei Werke zuzurechnen: Conrads, Norbert (Hg.): Schlesien. Deutsche Geschichte im Osten Europas. Berlin 1994; Czapliński, Marek u. a. (Hg.): Historia Śląska. Wrocław 2002 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2364); Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesien und die Schlesier. München 32004 [11996]. Um einen transnationalen Ver-

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Durch die politischen Verflechtungen und die Intensität von Reformation und katholischer Reform (Gegenreformation) ist ein landesgeschichtlicher Zugriff zudem historisch vielfältig konfessionell überformt. Dies zeigt auch die Geschichte der Universität Breslau, die, als jesuitische Academia Leopoldina 1702 gegründet, 1811 zur ersten deutschsprachigen Universität mit einer Katholischen und einer Evangelischen Fakultät mutierte und sich – auch mit der Triebfeder ihrer Bikonfessionalität – aus der Perspektive einer Wissenschaftsgeschichte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu einer der führenden deutschen und europäischen Universitäten entwickelte. Die Stadt Breslau besaß vor dem Hintergrund der komplexen Landesgeschichte wie des industriellen Aufschwungs eine reiche landes- und stadthistorische Vereinslandschaft, umfangreiche Archive und eine Modernität der Perspektive, die die schlesische Geschichte auch international bedeutsam macht. Ostmitteleuropäisch vergleichend wirft neben Schlesien eine preußenländische, altlivländische oder siebenbürgische Geschichte ähnliche Probleme konfessioneller und nationaler Vielfalt auf. In den genannten Regionen wurde dies aber nirgendwo so scharf artikuliert und in seinen Widersprüchen zugespitzt wie im modernen, industriell geprägten Schlesien, in dem im 18. und 19. Jahrhundert eine akademische Geschichtsschreibung neben einer konfessionell geprägten Stadtchronistik stand. Grundsätzlich können in Schlesien durch die ganze Moderne zumindest drei Strömungen einer Landeshistoriographie unterschieden werden: Erstens entwickelte sich eine zunächst protestantische, nach 1740 preußisch-protestantische Geschichtsschreibung, die stark durch die universitäre Theologie und Pastorenausbildung außerhalb Schlesiens geprägt blieb und im 19. Jahrhundert schrittweise auch deutschnational aufgeladen wurde. Dem stand zweitens eine weniger akademisch geprägte, von Jesuiten, katholischen Geistlichen und Honoratioren verfasste österreichisch-katholische Strömung gegenüber. Da beide Strömungen an den fürstlichen Höfen, den kirchlichen Institutionen, in den Städten und schließlich an der Universität Breslau institutionell abgesichert waren, konnten zwischen diesen beiden Entwicklungslinien auch drittens in der Frühen Neuzeit eine stärker landeshistorische (silesiographische) Richtung, im 19. Jahrhundert dann sozialhistorische Strömungen, Fuß fassen, die die Vielfalt der Positionen mit prägten. Die Bikonfessionalität, die frühneuzeitlich in der Struktur des Landes wurzelte und in der katholischen Reform auch in einen Gegensatz zwischen katholischem Oberschlesien und evangelischem Niederschlesien aufgeladen wurde und die schließlich in der Epoche von Zweiter Konfessionalisierung und Kulturkampf eine Vertiefung erfuhr, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zudem durch zunehmende deutschpolnisch-tschechische Frontstellungen eingefärbt. Dabei können konfessionelle und



gleich bemüht ist die Darstellung von Bahlcke, Joachim/Gawrecki, Dan/Kaczmarek, Ryszard (Hg.): Geschichte Oberschlesiens. Politik, Wirtschaft und Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Oldenburg 2015 (vgl. besonders das Kapitel „Historische Kontroversen“, 563–665).

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nationale Perspektiven kaum voneinander geschieden werden. Eine dominante Position besaß die im preußischen Bildungssystem nach 1740 deutlich besser verankerte protestantisch-deutsche Seite, gegen sie opponierten lokale und regionale katholische Beharrungstendenzen. Die böhmische Alternative verlor hierdurch an Attraktivität, da sie weniger nationalkonfessionell, weder protestantisch-deutsch noch katholisch-polnisch, aufgeladen werden konnte. Grundsätzlich ist die schlesische Historiographiegeschichte durch die deutschsprachigen Arbeiten der älteren historischen Vereine und der Historischen Kommissionen, aber auch durch polnische und tschechische Autoren gut erforscht.2 Es soll deshalb nachfolgend in der gebotenen Zuspitzung um folgende Fragen gehen: Wie werden (1)  die Zäsuren und Räume der Landesgeschichte konzeptionalisiert, welche Bedeutung besitzen die habsburgische (1526) und die friderizianisch-preußische Inbesitznahme (1740)? Ab wann können wir von Tendenzen einer Verwissenschaftlichung beziehungsweise Professionalisierung sprechen – und wer waren die Träger dieser Entwicklung (2)? Ferner sollen Schübe einer Nationalisierung ausgemacht, zeitlich verortet und diskutiert werden (3). Im Anschluss geht es um die Entwicklung einer neuen Wirtschafts- und Sozialgeschichte um 1900 unter der Fragestellung, was dies für die Regionalgeschichte bedeutete (4). Und schließlich soll die Frage diskutiert werden, wie sehr bereits die moderne schlesische Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg Gegenstand beziehungsgeschichtlicher Wahrnehmungen und Kontroversen im deutsch-polnischtschechischen Kontext war (5).

2. Zäsuren der Landesgeschichte und konfessionelle Trennlinien Chronologisch gehörte Schlesien bis 1740 zur Krone Böhmen, damit zu den habsburgischen Territorien und zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, bevor die Region von Brandenburg-Preußen annektiert wurde und so als Teil der Hohenzollernmonarchie im 19. Jahrhundert in das deutsche (zweite) Kaiserreich hineinwuchs. Das Jahr 1740 ist deshalb realgeschichtlich, aber auch in den meisten schlesischen historiographischen Konzepten stets als Epochenzäsur gesehen worden. 1740 jubelte „das

2 Fleischer, Manfred P.: Silesiographia. Die Geburt einer Landesgeschichtsschreibung. In: ders.: Späthumanismus in Schlesien. Ausgewählte Aufsätze. München 1984, 49–91; Weber, Matthias/ Rabe, Carsten (Hg.): Silesiographia. Stand und Perspektiven der Historischen Schlesienforschung. Festschrift für Norbert Conrads zum 60. Geburtstag. Würzburg 1998 (Wissenschaftliche Schriften des Vereins für Geschichte Schlesiens 4); Bahlcke, Joachim (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2005 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 11); ders.: Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M. 2016 (Forschungen zur Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3).

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schwer geprüfte, tief gesunkene, leiblich und geistig verarmte Schlesiervolk dem protestantischen Helden aus dem Hohenzollernhause“ zu, so Heinrich Ziegler in seiner protestantischen Geschichte der Gegenreformation.3 Dagegen spielte die ältere Zäsur von 1526, der Übergang von der jagiellonischen zur habsburgischen Landesherrschaft durch den Tod des böhmischen (und ­ungarischen) Königs Ludwig auf dem Schlachtfeld von Mohács, bereits frühneuzeitlich nur eine geringe Rolle. Der frühneuzeitliche habsburgische Hof hatte kein Interesse, das relativ junge Datum des Erwerbs Schlesiens zu akzentuieren; aus der ständepolitischen Sicht der schlesischen Einzelterritorien besaß der Dynastiewechsel keine herausragende Bedeutung. Auch aus der konfessionellen Perspektive lösten lediglich zwei katholische Dynastien einander ab, und die Türkengefahr als Folge der verlorenen Schlacht spielte in Schlesien nur eine geringe Rolle. Das galt so übrigens auch für die polnisch- und tschechischsprachige Reflexion, die jagiellonische Zeit blieb gerade in den unterschiedlich organisierten schlesischen Fürstentümern als Intermezzo zurück.4 Erst nach dem Ersten Weltkrieg trat retrospektiv und in mancher Hinsicht anachronistisch 1526 als der Übergang von einer „slavischen“ zu einer „deutschen“ Landesherrschaft und als „Eintritt in einen Großstaat“ stärker hervor.5 Stärker als Zäsur gesehen werden konnten dagegen die Confoederatio Bohemica (1618/19) und die Niederlage der vereinigten Stände in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620, die auch Schlesien zu einem Territorium der Gegenreformation machte. Das ist auch aus der Perspektive einer evangelischen Kirchengeschichte so unternommen worden.6 Allerdings besaßen der Westfälische Frieden von 1648, in dem die drei Friedenskirchen von Glogau, Jauer und Schweidnitz als Konzession an die evangelischen Gemeinden festgeschrieben wurden7 sowie die Altranstädter Konvention von 1707, in der weitere sechs Gnadenkirchen anerkannt wurden,8 als kirchenrechtliche

3 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Ziegler, Heinrich: Die Gegenreformation in Schlesien. Halle an der Saale 1888 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 24), 142. 4 ����������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim: Regionalismus und Staatsintegration im Widerstreit. Die Länder der Böhmischen Krone im ersten Jahrhundert der Habsburgerherrschaft (1526–1619). München 1994 (Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 3), 39–47; Korbelárová, Irena: Slezko v dějinách českého státu v letech 1335–1740 v české historiografii. In: Borák, Mečislav (Hg.): Slezsko v dějinách českého státu. Sborník přispěvků z vědecké konference k 50.výročí Slezského ústavu Slezkého zemského muzea v Opavě. Opava 1998, 109–121; Macek, Josef: Jagellonský věk v českých zemích, Bd. 1–2. Praha 1992–1994. 5 Petry/Menzel/Irgang (Hg.): Geschichte Schlesiens, Bd. 1, VI. 6 Ziegler: Gegenreformation, 42–50. 7 ������������������������������������������������������������������������������������������� Conrads, Norbert: Die Bedeutung des Westfälischen Friedens von 1648 für die schlesische Geschichte. In: ders.: Schlesien in der Frühmoderne. Zur politischen und geistigen Kultur eines habsburgischen Landes. Hg. v. Joachim Bahlcke. Köln/Weimar/Wien 2009 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 16), 53–69. 8 Vgl. dazu mehrere Beiträge in dem Sammelband von Harc, Lucyna/Wąs, Gabriela (Hg.): Religia i polityka. Kwestie wyznaniowe i konflikty polityczne w Europie w XVIII wieku. W 300. rocznicę

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Berufungsinstanzen in der Frühen Neuzeit eine höhere Bedeutung. Von katholischer Seite indes wurden solche Zäsuren niemals anerkannt. Auch verdeckte die eigene Geschichte der schlesischen Fürstentümer, die selbst durch das Erlöschen von Dynastien, etwa 1675 das Aussterben der Piasten in Liegnitz, Brieg und Wohlau, oder 1722 den Übergang des Fürstentums Teschen an das Haus Lothringen eigene Einschnitte aufwies, gesamtschlesische Zäsuren. Rückblickend verblieben deshalb vor 1740 in der Geschichte Schlesiens keine markanten Zäsuren in einer durch zentrifugale Tendenzen geprägten Landesgeschichte. Colmar Grünhagen, zwischen den 1860er Jahren und 1905 der unangefochtene Nestor einer schlesischen Landesgeschichte, formulierte dies anlässlich eines Toasts zum fünfzigjährigen Bestehen des Vereins für Geschichte und Alterthums Schlesiens 1896 so: „Durch die Angliederung an Preußen sind die Schlesier, die in früheren Prüfungszeiten die Folgen der Zersplitterung niemals zu überwinden vermochten, erst zu dem geworden, was sie heute sind.“9 Einer älteren Epoche der Zersplitterung stand so die preußischschlesische Geschichte entgegen. Auch Johannes Ziekursch konstatierte 1908 in seiner Arbeit über die schlesischen Städte bereits aus erinnerungsgeschichtlicher Perspektive: „Was vor 1740 in Schlesien geschah, lebt nicht mehr, von Mund zu Mund weitergetragen, als sorgsam gehütetes geistiges Erbe fort, es wird höchstens in der Schule mühsam erlernt und bald wieder vergessen; das historische Bewusstsein des Volkes reicht nur um anderthalb Jahrhunderte zurück bis zu den Schlachten von Mollwitz, Hohenfriedberg und Leuthen.“10 Argumentiert wurde hier mit einem öffentlichen Geschichtsbewusstsein, für das als Gründungsmythos die siegreichen friderizianischen Schlachten im Siebenjährigen Krieg angeführt werden konnten. Und schließlich ist Felix Rachfahl, ein Schüler von Jacob Caro, zu nennen, der 1894 ausführte: „So musste denn die Okkupation durch Friedrich den Großen für Schlesien und für die Entwicklung seiner öffentlichen Verhältnisse als eine Stunde der Erlösung erscheinen.“11 Der Autor berief sich hier sogar auf die religiös aufgeladene Kategorie einer „Erlösung“. Erlösung von wem? Erkennbar wird die grundsätzliche Konstellation der schlesischen Landesgeschichte des 19. Jahrhunderts, die die gegen die Gegenreformation und Österreich gerichtete Frontstellung nun schrittweise auf eine gegen den „ständischklerikalen Geist“, die Katholiken und, bedarfsweise, die Polen oder die Tschechen übertrug. Katholiken und slawischsprechende Menschen sollten durch preußische Beamte,

konwencji w Altranstädt. Wrocław 2009, vor allem: Harc, Lucyna: Ocena roli i znaczenia konwencji altransztackiej w piśmiennictwie śląskim XVIII wieku. Ebd., 144–146. 19 Kuhnt, Heinz-Jochen: Der Verein für Geschichte und (Altertum) Schlesiens. Gründungsweg – Stiftungsfest 1863 – Jubiläen 1871, 1896 und 1921. Altenmendigen 2013, 21. 10 ������������������������������������������������������������������������������������������� Ziekursch, Johannes: Das Ergebnis der friderizianischen Städteverwaltung und der Städteordnung Steins. Am Beispiel der schlesischen Städte dargestellt. Breslau 1908, IX. 11 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Rachfahl, Felix: Die Organisation der Gesamtstaatsverwaltung Schlesiens vor dem Dreißigjährigen Kriege. Leipzig 1894, 405.

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aber auch Historiker erzogen werden, denn nur so konnten sie in dieser borussisch geprägten Vorstellungswelt in den Genuss von höherer „Bildung“ gelangen.12 Unter katholischen, vornehmlich oberschlesischen Autoren wurde der Zäsurcharakter von 1740 immer wieder bestritten und stattdessen eine katholische Kontinuität der älteren Geschichte bis zum 18. Jahrhundert propagiert. Angefangen mit der letzten Generation von humanistisch gebildeten Jesuiten, die nach der Auflösung des Ordens in diversen Bildungseinrichtungen arbeiteten, wurde ein vor allem lokalgeschichtlich wirksames Kontinuitätskonzept vertreten. Noch stärker dominierte dieser Ansatz naturgemäß im habsburgischen Schlesien, etwa bei Leopold Johann Scherschnik oder bei Alois Kaufmann in dessen Gedenkbuch der Stadt Teschen.13 Sichtbar wird hier, dass sich in diesen Konstruktionen mehrere Gegensätze überlagerten. Eine protestantische Geschichtsschreibung stand gegen ältere katholische Positionen, was sich auch in akademischen Konflikten niederschlug: So leistete die Breslauer Philosophische Fakultät hinhaltenden Widerstand gegen eine Kabinettsordre König Friedrich Wilhelms IV. vom 29. September 1853, in Breslau einen zweiten geschichtlichen Lehrstuhl einzurichten, der Katholiken vorbehalten bleiben sollte.14 Tatsächlich wurde die Professur eingerichtet und mit Wilhelm Junkmann besetzt, der allerdings regionalhistorisch wenig aktiv blieb.15 Erst in den 1890er Jahren kamen mit Aloys Schulte, der 1895 bis 1903 in Breslau und anschließend weiter am Preußischen Historischen Institut in Rom wirkte, sowie mit Franz Kampers, der 1902 nach Breslau auf eine Professur für Mediävistik und Hilfswissenschaften berufen wurde, namhafte katholische Historiker nach Breslau, die vor allem zur schlesischen Kulturgeschichte arbeiteten.16 Trotz der Bikonfessionalität der Universität Breslau gab es jedoch in den 12 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Solche Formulierungen finden sich immer wieder in Arbeiten zur schlesischen Bildungsgeschichte. Vgl. exemplarisch Weigelt, Carl: Die Volksschule in Schlesien nach der Preußischen Besitzergreifung. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 24 (1890) 31–54; Reimann, Eduard: Über die Verbesserung des niederen Schulwesens in Schlesien in den Jahren 1763–1769. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 17 (1883) 317– 348; Ziekursch, Johannes: Hundert Jahre schlesische Agrargeschichte. Vom Hubertusburger Frieden bis zum Abschluss der Bauernbefreiung. Breslau 1915, 192. 13 Spyra, Janusz: Historiografia a tożsamość regionalna w czasach nowożytnych na przykładzie Śląska Cieszyńskiego w okresie od XVI do początku XX wieku. Częstochowa 2015, 327–330. 14 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim: Das Historische Seminar der Universität Breslau 1811 bis 1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte [2012/13]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M. 2016 (Forschungen zu Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3), 217– 238, hier 224, 228. 15 ����������������������������������������������������������������������������������������� Gehrke, Roland: Die Berufung von Historikern an die Universität Breslau (1848–1914): Auswahlkriterien, Durchsetzung, Personalfluktuation. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2019 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 28), 93–127, hier 102–107. 16 Frech, Fritz/Kampers, Franz (Hg.): Schlesische Landeskunde, Bd. 1–2. Leipzig 1913.

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historischen Institutionen eine lebensweltliche Trennung, die sogar den 1846 gegründeten Verein für Geschichte und Altertum Schlesiens zu spalten drohte. Aus diesem Grund erschien die Vereinszeitschrift bis 1927 ohne Besprechungsteil, um konfessionelle Polemiken zu verhindern.17 Die Kooperation von katholischen und evangelischen Gelehrten sollte nicht verdecken, dass in staatlichen Einrichtungen wie dem Staatsarchiv kaum Karrierechancen für Katholiken und de facto keine für Juden (mit der einzigen Ausnahme des in Breslau promovierten Adolf Warschauer, der allerdings in der Provinz Posen tätig war) bestanden. Katholiken fanden ihrerseits in der KatholischTheologischen Fakultät der Universität und in der Bistumsorganisation der Diözese Breslau Anstellung, Juden am Jüdisch-Theologischen Seminar Breslau. Eine Konfliktebene lag zudem in der Auseinandersetzung zwischen der hauptstädtischen Breslauer Geschichtsschreibung, die auf staatliche und provinziale Quellen zurückgreifen konnte, und einer Geschichtsschreibung in der Provinz, die deutlich stärker eine lokale Perspektive einnahm, auf Autonomie bedachte städtische Tendenzen erkennen ließ und in Oberschlesien auch katholische Positionen vertrat.

3. Moderne Geschichtswissenschaft: Verwissenschaftlichung mit Fokus auf einer Diplomatie- und Politikgeschichte Die moderne schlesische Landesgeschichte erhielt durch die politische Neuordnung im Kontext der preußischen Reformen um 1810 und durch neue wissenschaftliche Institutionen erhebliche Neuanstöße. Zunächst müssen die Neugründung der Universität Breslau 1811 als Zusammenschluss der Universität Frankfurt an der Oder und der alten katholischen Breslauer Leopoldina und deren Unterstellung unter die preußische Bildungsbürokratie genannt werden. Nach Berlin (1810) und vor Bonn (1818) entwickelte sich hier die zweite preußische Reformuniversität. In Breslau entstand eine wissenschaftliche Zentralbibliothek, in die die umfangreichen Bestände der aufgelösten kirchlichen Einrichtungen überführt wurden, sowie das „Königlich Akademische Provinzialarchiv“, das die Urkundenüberlieferung von 91 aufgelösten Klöstern und Stiften aufnahm. Verantwortlich hierfür war der Wissenschaftsorganisator, Zeitschriftenherausgeber und Professor für mittelalterliche Kunstgeschichte und Historische Hilfswissenschaften Johann Gustav Gottlieb Büsching, seit 1809/11 in Breslau, der in Berlin und im gesamten deutschspachigen Raum vernetzt war.18 Erstmals an einer preußischen Universität wurden in Breslau zwei gleichberech17 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Kessler, Wolfgang (Bearb.): Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens. Schlesische Geschichtsblätter. Gesamtinhaltsverzeichnis (Index). Hannover 1984. 18 Kersken, Norbert: Die Begründung institutionalisierter landesgeschichtlicher Forschung im frühen 19. Jahrhundert: Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829) im Kontext der zeitgenössischen schlesischen Historiographie. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 131–158.

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tigte Theologische Fakultäten, je eine für katholische und eine für evangelische Theologie, begründet. An beiden Fakultäten wurde auch Kirchengeschichte gelehrt, was die Zahl der geisteswissenschaftlichen Gelehrten an der Universität insgesamt deutlich erhöhte. Zunächst, bis in die 1830er Jahre, entwickelte sich in Breslau das Nebeneinander zwischen beiden Fakultäten wenig getrübt, auch dem Geist der toleranten Spätaufklärung entsprechend. Hinzu trat im 19. Jahrhundert das Fachpersonal des Provinzialarchivs Breslau, das erheblich zur Ausdifferenzierung und Verwissenschaftlichung der schlesischen Landesgeschichte beitrug; zu nennen sind hier etwa Archivare wie Wilhelm Wattenbach, der von 1855 bis 1862 in Breslau wirkte, und später der vor allem wirtschaftshistorisch hervorgetretene Konrad Wutke. Erkennbar wird hier die starke Konzentration der modernen kritischen Geschichtswissenschaft allein auf die Regionalmetropole Breslau, die ihre Bevölkerung im 19. Jahrhundert verachtfachte (1800: 54.000 Einwohner, 1900: 422.000 Einwohner). Bis dahin war die Landesgeschichte dezentral angelegt gewesen, nun konzentrierte sich alles auf Breslau. In Schlesien entstanden nur hier im 19. Jahrhundert mit Universität, Staatsarchiv und dem zentralistisch angelegten schlesischen Vereinswesen Institutionen, die eine moderne Geschichtswissenschaft etablierten.19 Dies schuf einen Gegensatz zu den traditionsreichen kleineren schlesischen Zentren, die eine traditionell antiquarische und lokale Geschichtsschreibung fortsetzten. Man könnte die Entwicklung der modernen Landesgeschichte deshalb auch als Gegensatz zwischen Metropole und Provinz oder als langsamen Überschichtungsprozess des Landes durch die Metropole erzählen. Aus diesen institutionellen Antrieben heraus entstand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine moderne, vor allem auf Archiv- und Hilfswissenschaften, Diplomatik und Quellenkritik gestützte Geschichtsschreibung.20 In Schlesien kann als erster und führender Exponent dieses Paradigmenwechsels Gustav Adolf Harald Stenzel gelten, seit 1820 Universitätsprofessor und seit 1821 Archivar des Schlesischen Provinzialarchivs. Er erarbeitete im Mai 1820 „einen vollständigen Kursus der Geschichte, Statistik und Geographie auf 2 Jahre“ und setzte 1843 die Gründung eines Historischen Seminars durch. Durch die Edition der Urkundensammlung zur Geschichte des Ursprungs der Städte […] in Schlesien und der Ober-Lausitz (1832), durch die Scriptores rerum Silesiacarum (1835–1851) und die Urkunden zur Geschichte des Bistums Breslau (1845) schuf er einen modernen, kritisch abgesicherten Quellenfundus der Landesgeschichte.21 Sei-

19 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung: Der „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ in Breslau. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Wien/Köln/Weimar 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 87–120. 20 Menzel, Josef Joachim: Die Anfänge der kritischen Geschichtsforschung in Schlesien zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Festschrift Ludwig Petry, Bd. 2. Wiesbaden 1969 (Geschichtliche Landeskunde 5,2), 245–267. 21 �������������������������������������������������������������������������������������� Schmilewski, Ulrich: Neue Forschungsmethode, neue Organisationsstrukturen: Zur wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit des Historikers Gustav Adolf Harald

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nen neuen Ansatz beschrieb Stenzel in einem Brief an Leopold Ranke vom 17. April 1836: „Erstens müssen die besten Handschriften zugrunde gelegt werden, zweitens muß für die älteren Zeiten möglichst nachgewiesen werden, woraus ein Schriftsteller seine Nachrichten entlehnte, drittens muß mit Hilfe anderer Quellen und Urkunden, soweit man es vermag, über seine einzelnen Angaben nähere Auskunft zu geben und die Beurteilung der Glaubwürdigkeit erreicht werden.“22 Geprägt von Historischem Seminar und Staatsarchiv war auch der im Vormärz 1844/46 gegründete Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens.23 In dem von Stenzel verfassten Gründungsaufruf hieß es: „Von allen deutschen Ländern ist Schlesien bei weitem das größeste, welches keinen Verein der Freunde seiner Geschichte hat.“ Ziel für alle sei es, „etwas Tüchtiges für die Geschichte ihres Vaterlandes thun [zu] wollen“.24 Der hier vertretene Vaterlandsbegriff schloss an die ältere Landesgeschichte an, war zunächst noch relativ offen gehalten und ließ – auch im Horizont der zeitgenössischen intensiven politischen Diskussionen – vieles möglich erscheinen: Bezog er sich auf einen schlesischen, einen preußischen oder einen deutschen Patriotismus? Und wie sollte das Verhältnis einer schlesischen Landesgeschichte zum österreichischen Nachbarstaat und zu den böhmischen und polnischen Nachbarhistoriographien aussehen, die an der Universität Breslau im Historischen Seminar von Richard Roepell und Jacob Caro gepflegt wurden?25 Entsprechend dem Forschungsprogramm des Historismus beschäftigte sich die schlesische Landesgeschichte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und in erheblichen Teilen auch bis 1914 vor allem mit dem Editionswesen, mit einer Diplomatie- und Politikgeschichte sowie mit einer quellengesättigten Stadt- und Regionalgeschichte. Ein Schwerpunkt lag auf der Breslauer Stadtgeschichte, die durch Editionen zugänglich gemacht und von Colmar Grünhagen intensiv beforscht wurde.26 Grundsätzlich lag ein Akzent der schlesischen Landesgeschichte der Epoche auf der Bereitstellung zuverlässiger Stadtgeschichten. Grünhagen erarbeitete dazu ­einen



Stenzel (1792–1854) an der Universität Breslau. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 159–172, hier 166. 22 Zit. nach ebd., 167. 23 Schellakowsky, Johannes/Schmilewski, Ulrich (Hg.), 150 Jahre Verein für Geschichte Schlesiens. Würzburg 1996 (Einzelschriften des Vereins für Geschichte Schlesiens 2). 24 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Aufruf des Geheimen Archivrats Prof. Dr. Gustav Adolf Stenzel in den Schlesischen Provinzblättern und anderen Zeitschriften v. 18. u. 19. Oktober 1844. Vgl. Kuhnt: Der Verein für Geschichte (und Altertum) Schlesiens, 7–9. 25 Barelkowski, Matthias: Zwischen Breslauer Universität und Berliner Politik. Richard Roepell (1808–1893) als Historiker, liberaler Historiker und „Polenfreund“. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 173–196. 26 Einsetzend mit Grünhagen, Colmar (Hg.): Henricus pauper. Rechnungen der Stadt Breslau von 1299–1358. Breslau 1860. Grünhagen legte mehrere Dutzend Publikationen zu Breslau vor: Ein Überblick findet sich im Schriftenverzeichnis bei Schwarzer, Otfried: Colmar Grünhagen. In: Deutsche Geschichtsblätter 12 (1912) 73–79.

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Leitfaden, der auf die Heranziehung archivalischer Quellen Wert legte.27 In der Provinz und vor allem in Oberschlesien arbeiteten von katholischer Seite zweisprachige „Priesterhistoriker“28 wie Augustin Weltzel, der Stadtgeschichten von Ratibor, Cosel, Neustadt O.S., Guttentag und Sohrau vorlegte.29 In der nächsten Generation kann der katholische Pfarrers Johannes Chrząszcz genannt werden, der die Stadtgeschichten von Peiskretscham, Tost, Gleiwitz und Neustadt/O.S. publizierte.30 Diese Priesterhistoriker arbeiteten in der „geschlossenen Welt ihrer katholischen Konfession“,31 ihre Arbeit mündete in die Gründung eigener oberschlesischer Geschichtsvereine und Publikationsmöglichkeiten – etwa die Zeitschrift Oberschlesische Heimat um 1900.32

4. Schlesische Geschichte als deutsche Landesgeschichte und tschechische und polnische Gegenkonzepte einer Volksgeschichte Der Charakter der modernen schlesischen Landesgeschichte in Breslau veränderte sich mit den politischen Veränderungen der 1860er Jahre in Preußen-Deutschland und in Österreich. Im Kontext der Entstehung eines kleindeutschen preußisch-deutschen Nationalstaates definierte sich die schlesische Regionalgeschichte gerade in ihren zentralen Institutionen in Breslau neu; man sah sich nun verstärkt als „Grenzland“, sei „eingeklemmt“ zwischen zwischen national aktiver werdenden Tschechen und Polen und verstand sich als „Grenzwächter“33 eines Landes, in dem man seine „deutsche Nationalität“ behaupten müsse. Diese Neuausrichtung der Landesgeschichte ist mit der Person des schon erwähnten Leiters des Provinzialarchivs Breslau, außerordentlichen Professors an der Universität und langjährigen Vorsitzenden des Vereins für Geschichte

27 Grünhagen, Colmar: Ueber Städtechroniken und deren zweckmäßige Förderung durch die Communalbehörden mit besonderer Rücksicht auf Schlesien. Breslau 1865. 28 Hirschfeld, Michael: Schlesische Priesterhistoriker vor dem Ersten Weltkrieg. Geschichtsschreibung zwischen institutionellen Anforderungen und individueller Schwerpunktsetzung. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 307–330. 29 Ebd., 321f. 30 Chrząszcz, Johannes: Geschichte der Städte Peiskretscham und Tost sowie des Toster Kreises in Ober-Schlesien. Peiskretscham 1900; ders.: Geschichte der Stadt Neustadt in Oberschlesien. Neustadt O.S. 1912; ders.: Fest-Schrift zur 50-jährigen Jubelfeier der katholischen St. BarbaraGemeinde in Königshütte O.S. 1902; ders.: Einige Reisebilder aus Oberschlesien, Mähren und Böhmen. Breslau 1904; ders.: Kirchengeschichte Schlesiens. Für Schule und Haus. Breslau 1908. 31 Hirschfeld: Schlesische Priesterhistoriker, 328. 32 Kaczmarek, Ryszard: Geschichtspflege und Vereinswesen im preußischen Oberschlesien vor dem Ersten Weltkrieg. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 215–227. 33 Baumgart, Peter: Colmar Grünhagen (1828–1911). Ein nationalliberaler Historiker Schlesiens im Zweiten Kaiserreich. In: Weber/Rabe (Hg.): Silesiographia, 47–68, hier 49.

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und Alterthum Schlesiens, Colmar Grünhagen, verbunden.34 Grünhagen, der wie viele Landeshistoriker aus der Mediävistik kam, formulierte als Herausgeber einer eigenen Geschichte Schlesiens seine Leitidee 1884 wie folgt: Ihr „eigentlichster Inhalt“ sei „die Beantwortung der Frage: Wie ist Schlesien deutsch geworden und deutsch geblieben“.35 In seiner kritischen Darstellung der Hussiten in Schlesien, die auch Jan Hus einbezog, sowie in seiner Abgrenzung Schlesiens von der Krone Böhmen – „nicht böhmisches Kronland, sondern eigenes Erbland der Krone Habsburg“ – positionierte Grünhagen die schlesische Landesgeschichte unabhängig vom böhmischen Nachbarn.36 Grünhagen legte seinen Arbeitsschwerpunkt im Laufe seines Lebens auf das 18. Jahrhundert und wollte den Integrationsprozess Schlesiens in den preußischen Staatsverband darstellen.37 Dabei entwickelte er – in der zweibändigen Monographie Schlesien unter Friedrich dem Großen und für die wilhelminische Epoche nicht untypisch – eine Hagiographie Friedrichs II. und zeichnete dessen „Heldenlaufbahn“ nach.38 Zugleich polemisierte er mit Alfred von Arneth, dem späteren Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs Wien, über dessen Maria Theresia-Biographie: Arneth habe sich „den politischen Standpunkt seiner Heldin [...] angeeignet, um gleich ihr in Friedrich dem Großen [...] die Verkörperung des bösen Prinzips zu erblicken“; dies sei „eine für einen deutschen Historiker des 19. Jahrhundert unziemliche Naivetät“.39 Verbunden war diese neue nationale Sicht auf die Geschichte Schlesiens nun mit einem borussischen Patriotismus, einer Ablehnung böhmischer Traditionen und, in Aufnahme der Werke von Gustav Freytag, mit zunehmend publizistisch ausgeführten Überlegenheitsvorstellungen gegenüber den slawischen Nachbarbevölkerungen.40 Solche Konzepte strahlten von Breslau ausgehend auf ganz Schlesien aus und übten starke Einflüsse sogar auf Autoren in Österreichisch Schlesien aus. Nehmen wir das Beispiel Teschen: Hier verfasste, in klar erkennbarer Rezeption Grünhagens, Gottlieb Biermann seine Arbeiten zur Geschichte Teschens (etwa 1863/94 seine Geschichte des Herzogthums Teschen), und entwickelte dort ebenfalls Vorstellungen einer zivilisatorischen Überlegenheit der deutschen Kultur: „Der Schlesier wird ohne Wanken treu

34 Rüther, Andreas: Borussische Geschichtsforschung in Schlesien: Colmar Grünhagen (1828– 1911) – Werdegang, Schuleinflüsse und Wirkungskreise. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 217–256. 35 Grünhagen, Colmar: Geschichte Schlesiens, Bd. 1: Bis zum Eintritt der habsburgischen Herrschaft 1527. Gotha 1884, IX. 36 Rüther: Borussische Geschichtsforschung, 238–240 (Zitat 240). 37 Grünhagen, Colmar: Friedrich der Große und die Breslauer in den Jahren 1740 und 1741. Breslau 1864; ders.: Geschichte des Ersten Schlesischen Krieges, Bd. 1–2. Gotha 1881. 38 Ders.: Schlesien unter Friedrich dem Großen, Bd. 1–2. Breslau 1890–1892. 39 Ders.: Der Anfang der schlesischen Kriege in der Darstellung eines österreichischen Historikers. In: Preußische Jahrbücher 11 (1863) 413–418, hier 414. 40 Baumgart: Colmar Grünhagen, 47–68.

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und fest zum Kaiser und zum Reiche stehen“.41 Dagegen gab es von tschechischer Seite, konkret im Věstnik Matice Opavské und in Beiträgen von František Sláma, Kritik.42 Von polnischer Seite wiederum nahm Franciszek Popiołek Gegenpositionen ein.43 Bei ­Sláma entstand als konträre Position zu einer deutschen Zivilisierungsmission nach Biermanns Muster nun eine tschechische Volksgeschichte: In seinem 1889 veröffentlichten Werk Dějiny Těšínska (Geschichte Teschens) formulierte er prägnant, aber zugleich organisch-volksgeschichtlich: „Ich habe kein Buch nur für Schlesien geschrieben. Der tschechische Schlesier bildet mit den Böhmen und Mährern einen Körper, ein Blut; daher müssen diese Brüder ihr Schicksal teilen.“44

5. Die Wende zur Sozialgeschichte Prägend für die moderne schlesische Landesgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war jedoch eine Wende zur Sozialgeschichte, die auch von den Akteuren selbst so gesehen und reflektiert wurde. Aus Anlass des fünfundsiebzigjährigen Jubiläums des Vereins für Geschichte Schlesiens formulierte der Vereinsvorsitzende Ernst Maetschke 1921 rückblickend: „Als aber in den 90er Jahren [des 19. Jahrhunderts] die Wirtschaftsgeschichte immer mehr an Bedeutung gewann und die Quellenkritik schärfer und minutiöser wurde, Strömungen, denen gegenüber sich Grünhagen im Bewusstsein seiner bedeutenden Leistungen ziemlich ablehnend verhielt, bildete sich zunächst außerhalb des Vorstandes, dann nach seinem Rücktritt von der Leitung des Staatsarchivs im Jahre 1901 im Vorstande selbst ein allmählich wachsender Widerstand.“45 Dieser Trend zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, der auch in der universitären Geschichtspraxis zum Ausdruck kam, hatte tieferliegende Ursachen: Schlesien wandelte sich im 19. Jahrhundert rapide zu einer modernen Industriegesellschaft mit wachsender Ungleichheit, scharfen sozialen Konflikten und einem erheblichen Pauperismus. Handgreiflich wurde dies durch den Weberaufstand von 1844, der literarisch breit rezipiert und unter anderem von Heinrich Heine und Gerhart Hauptmann zu einem deutschlandweiten Symbol sozialer Not aufgebaut wurde.46 In Schlesien bewegte dies 41 Biermann, Gottlieb: Geschichte des Herzogthums Teschen. Teschen ²1894 [11863]. Die zweite Auflage wurde „meinem Freunde, Herrn Dr. Colmar Grünhagen [...] zugeeignet“ (Zitat 287). 42 Sláma, František: Vlastenecké putování po Slezsku. Obrazy národopisné, historické i kulturní z rakouského i pruského Slezska. Praha 1886; ders.: Dějiny Těšínska. Praha 1889. 43 Popiołek, Franciszek: Dzieje Śląska Austriackiego. Cieszyn 1913; ders.: Dzieje Cieszyna. Cieszyn 1916. 44 Sláma: Dějiny Těšínska, 6: „Nesepsal jsem knihu tnto jen pro Slezsko. Ceský Slezák je s Čechem a Moravanem jedno tělo, jedna krev, musí tedy vlastní tito bratří osudy své vzájemně si sdíleti.“ 45 Maetschke, Ernst: Nachtrag [zum Bericht über die Vereinstätigkeit 1919 und 1920]. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 55 (1921) 134–136, hier 134f. 46 Hodenberg, Christina von: Aufstand der Weber. Die Revolte von 1844 und ihr Aufstieg zum Mythos. Bonn 1997.

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auch eine Generation von Nationalökonomen, die, teilweise polemisch zu „Kathedersozialisten“ stilisiert, neue wirtschaftshistorische und volkswirtschaftliche Modelle zu entwickeln suchten. Dazu zählten an der Breslauer Universität August von Miaskowski (1881 bis 1889 in Breslau) oder Werner Sombart (1890 bis 1906 in Breslau). Fachhistorisch führte dies dazu, dass sich Wirtschaftswissenschaftler, Historiker und Archivare intensiv mit sozial- und wirtschaftshistorischen Phänomenen der schlesischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte beschäftigten, die zudem dank der preußischen Verwaltungstätigkeit mit ihrer hohen Schriftlichkeit archivalisch gut dokumentiert waren. In Breslau zählten zu dieser Gruppe der Archivar Konrad Wutke mit seinen Arbeiten zum Berg- und Hüttenwesen in Oberschlesien sowie Hermann Fechner mit seiner Wirtschaftsgeschichte Schlesiens.47 Anliegen und Bedeutung dieser modernen schlesischen Sozialgeschichte sollen im Folgenden knapp an Werk und Persönlichkeit von Johannes Ziekursch demonstriert werden, der zwischen 1904 und 1927 in Breslau wirkte. Ziekursch legte nach Promotion und Habilitation (Breslau 1904)48 mehrere Studien zur modernen schlesischen Geschichte vor, 1907 über die preußische Verwaltung Schlesiens im 18. Jahrhundert, 1908 über die Städteverwaltung in Schlesien und 1915 über die Agrargeschichte Schlesiens im 18. und 19. Jahrhundert.49 Hierbei handelte es sich um sozialgeschichtlich und vergleichend angelegte Strukturanalysen. Einige Ergebnisse Ziekurschs lassen sich wie folgt auf den Punkt bringen: Die innere Kolonisation in Schlesien und die Bauernbefreiung seien weitgehend dem Adel zugutegekommen; unter den schnell zunehmenden Unterschichten seien vor allem Häusner- und Kätnerstellen entstanden, was sich im 19. Jahrhundert in extremen Einkommensunterschieden und einer halb feudalen, halb kapitalistischen oligarchischen Struktur ausgedrückt habe. Ziekursch sprach von einem „amerikanischen Zuschnitt“. Sein Preußenbild war dabei nuanciert; insbesondere in der friderizianischen Epoche sah er neben dem preußischen Machtausbau bürokratische Strukturen und wachsende adelige Privilegien, die in einen blinden Gehorsam, einen absoluten Militär- und Beamtenstaat und in den Militarismus geführt hätten. In diesem

47 Fechner, Hermann: Wirtschaftsgeschichte der preußischen Provinz Schlesien in der Zeit ihrer provinzialen Selbständigkeit. Nach den Akten des Geheimen Staatsarchivs und des Handelsministeriums in Berlin, des Staatsarchivs und Oberbergbauarchivs zu Breslau. Breslau 1907. 48 Ziekursch, Johannes: Sachsen und Preußen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. [Breslau] 1904. Darüber entwickelte sich eine Polemik mit Paul Haake. Vgl. Ziekursch, Johannes/Schmidt, Otto Eduard/Haake, Paul: Zur Geschichte Augusts des Starken. In: Neues Archiv für sächsische Geschichte 26 (1905) 107–129. 49 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Ziekursch, Johannes: Beiträge zur Charakteristik der preußischen Verwaltungsbeamten in Schlesien bis zum Untergang des friderizianischen Staates. Breslau 1907 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 4); ders.: Das Ergebnis der friderizianischen Städteverwaltung und der Städteordnung Steins. Am Beispiel der schlesischen Städte dargestellt. Breslau 1908; ders.: Hundert Jahre schlesische Agrargeschichte. Vom Hubertusburger Frieden bis zum Abschluss der Bauernbefreiung. Breslau 1915.

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Umfeld kam es zu Kontroversen mit Otto Hintze, gegen dessen populäres Werk Die Hohenzollern und ihr Werk sich Ziekursch in einem Vortrag über „Die Hohenzollern und ihr Volk“ positionierte.50 Ziekurschs Karriere entwickelte sich nicht ungefährdet: 1912 wurde er zwar zum außerordentlichen Professor ernannt, 1917 bei der Besetzung einer regulären Professur in Breslau allerdings übergangen und mit einem persönlichen Ordinariat abgefunden; erhalten haben sich in den Akten des Preußischen Kultusministeriums auch Denunziationen zu Ziekurschs angeblicher „Abneigung gegen alles Preußische“ und die Mutmaßung, er sei „doch sicherlich jüdischer Herkunft“; 1927 holte ihn Konrad Adenauer nach Köln.51 Ziekurschs schlesische und preußische Arbeiten waren in der internationalen Forschung des 20. Jahrhunderts einflussreich. Aus diesen Positionen erwuchsen Impulse für die spätere preußisch-ostdeutsche Sozialgeschichte bei Hans Rosenberg, der sich bei Ziekursch noch 1933 habilitiert hatte, und bei Otto Büsch. Karl-Georg Faber sah in Ziekurschs Schriften einen bedeutenden Schritt hin zu einer modernen Sozial- und Strukturgeschichte, die dieser übrigens nach dem Ersten Weltkrieg an der Universität Köln nicht fortführte. Bei dieser Wende hin zu einer neuen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte handelte es sich nicht um ein rein deutschsprachiges Phänomen: Im tschechischen Milieu hatte seit 1899 das vielfach aufgelegte Werk Slezské písně (Schlesische Lieder) von Petr Bezruč – „Ohnhand“, ein Pseudonym des Troppauers Valdimír Vašek – publizistisch Aufsehen erregt und die Gesellschaft für das Elend der polnisch-, tschechisch- und deutschsprachigen, teilweise durch die Arbeitsbedingungen versehrten ­Arbeiterbauern in der Region Teschen und Friedeck sensibilisiert.52 Hier sprach eindrücklich und fordernd ein Deklassierter: „Ich Petr Bezruč, ich von Teschen, Bezruč, [...]/ toller Rebell und betrunkener Singer,/ kündender Kauz auf dem Turm von Teschen,/ ich rufe und spiele, indessen die Hämmer/ in Witkowitz, Friedland und Lipina dröhnen,/ indessen vorüber die Reichen mir wallen,/ strotzend wie Götter und ferner als Sterne [...]/ Nun! Wird’s mit dem Kreuzer?“53 Expressionistisch ausdrucksstark entwickelten einzelne Texte geradezu eine Endzeitstimmung; in „Ostrava“ etwa hieß es: „Ihr alle, sag ich, aus schlesischem Land,/ Ihr Herren der Schächte und Stollen,/ Der Tag kommt, da loht aus den Gruben der Brand,/ Der Tag, an dem richten wir wollen.“54 50 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Die Hohenzollern und ihr Volk. In: Jahresberichte der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur 93 (1915) 27–41. 51 Zit. nach Faber, Karl-Georg: Johannes Ziekursch. In: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.): Deutsche ­Historiker, Bd. 3. Göttingen 1972, 109–123, hier 110. 52 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Kritische Ausgabe: Bezruč, Petr: Slezské písně. Kritická edice. Praha [2014]; deutsche Übersetzung: Bezruč, Petr [d. i. Vladimir Vašek]: Die schlesischen Lieder des Petr Bezruč. Aus dem ­Tschechischen übers. v. Rudolf Fuchs. Mit einem Vorwort v. Franz Werfel. Leipzig/Mährisch Ostrau ²1937 [Leipzig 11916]. 53 „Ich“. In: Bezruč: Die schlesischen Lieder, 28–31, hier 30f. 54 „všichni vy na Slezské, všichni vy dím,/ hlubokých páni vy dolů,/ přijde den, z dolů jde plamen a dým,/ přijde den, súčtujem spolu!“ (Übersetzung von F. C. Weiskopf ). Katholnigg, Franz: Die

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Die Lieder erschienen zunächst anonym, da der Autor wegen sozialer Agitation Zensur und Verfolgung befürchtete, verbreiteten sich aber in der tschechischsprachigen Gesellschaft schnell. Sie erschienen 1909 in einer Sammlung, die vor dem Ersten Weltkrieg mehrfach aufgelegt, 1911 ins Englische, 1912 ins Französische und 1916 ins Deutsche übersetzt wurde, wobei alle diese Übersetzungen die Wucht des tschechischen Originals nicht wiedergeben konnten. Die „Schlesischen Lieder“ erwiesen sich, auch in der Vertonung durch Leoš Janáček, vor allem im tschechischsprachigen Milieu als ungeheuer einflussreich.55 Sie erschienen im 20. Jahrhundert in Dutzenden von Ausgaben. Das Werk zählt damit zum engeren Kanon einer populären tschechischen Literatur. Angestoßen durch die sozialkritische Lyrik und naturalistische Literatur, entstand auch im tschechisch- und ponischsprachigen Milieu eine sozialhistorische Deutung,56 die jedoch, auch infolge der gerade in Schlesien fehlenden Eliten, sozial ungleich radikaler auftrat. Neben dieser Öffnung in Richtung einer Wirtschafts- und Sozialgeschichte wäre überdies zu diskutieren, inwieweit um 1900 auch eine interdisziplinäre Öffnung in Richtung einer modernen Ethnologie erfolgte.57 In der 1894 gegründeten Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde (der zweiten derartigen Gesellschaft in Deutschland überhaupt) arbeiteten Germanisten, Slawisten und Historiker mit. Mitgründer war der deutsch-polnische, an der Universität Breslau lehrende Slawist Władysław Nehring.58 Allerdings zeigten die professionellen Landeshistoriker an dieser interdisziplinären Zusammenarbeit wenig Interesse – Grünhagen oder Ziekursch etwa beteiligten sich an der Kooperation nicht. Jedoch: Erst die völkische Aufladung in und nach dem Ersten Weltkrieg führte die schlesische Volkskunde in einen Ethnonationalismus und zerbrach damit ältere Kooperationsnetze.59

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tschechische Lyrik der Gegenwart und die Deutschen. In: Liewehr, Ferdinand (Hg.): Tschechische und slowakische Studien. Reichenberg 1930 (Veröffentlichungen der Slavistischen Arbeitsgemeinschaft a. d. Deutschen Universität in Prag 1,7), 56–114, hier 63f. Lubos, Arno: Von Bezruč bis Bienek. Acht deutsche, polnische und tschechische Autoren. Darmstadt 1977, 11–21; Jemelka, Martín: Petr Bezruč a meziválečné ostravské dělnické milieu: básníkovo dílo napříč třídami, konfesemi a politickými stranami. In: Petr Bezruč. Bard prvý, co promluvil. Ostrava 2018, 118–129. Vondráček, Jan: Poesie Petra Bezruče. Praha 1913; Adamus, Alois: Po stopách Slezských písní Petra Bezruče. Brrno 1927. Bönisch-Brednich, Brigitte: Volkskundliche Forschung in Schlesien. Eine Wissenschaftsgeschichte. Marburg 1994 (Schriftenreihe der Kommission für Deutsche und Osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 68), 72–102. Vgl. Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde, ab H. 1 (1894/96). Weger, Tobias: Großschlesisch? Großfriesisch? Großdeutsch! Ethnonationalismus in Schlesien und in Friesland 1918–1945. Berlin 2016 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 63).

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6. Beziehungs- und verflechtungsgeschichtliche Dimensionen Konnte die schlesische moderne Landeshistoriographie irgendwann in der Frühen Neuzeit oder im 19. und frühen 20. Jahrhundert für sich beanspruchen, methodisch Konzeptionen eines „Brückenlandes“ oder einer Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte zu entwickeln? Frühneuzeitlich beschränkten sich die schlesischen Autoren auf eine schlesische Landesgeschichte, die aber durch die Aufladung mit Elementen einer germanisch-deutschen Nationalgeschichte Kontroversen gegenüber sarmatischpolnischen Konstruktionen auslösten (etwa Joachim Cureus versus Marcin Kromer). Daran konnte im 19. Jahrhundert eher national angeknüpft werden. In der Epoche des Historismus wurde in der Landesgeschichte kein Konzept einer schlesischen Geschichte als einer Beziehungsgeschichte entwickelt, nicht einmal ein auch nur skizzenhafter Entwurf. Anlässe für Kontakte mit der polnischen oder tschechischen Geschichtswissenschaft blieben beschränkt. Man könnte etwa das fünfzigjährige Bestehen des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens in Anschlag bringen: Aus diesem Anlass wurden 1896 Wojciech Kętrzyński, Direktor des Ossolineums in Lemberg, und Josef Emler, Stadtarchivar und Universitätsprofessor in Prag, zu Ehrenmitgliedern des Vereins ernannt.60 Bei beiden Persönlichkeiten handelte es sich um herausgehobene und verdiente Vertreter der polnischen und tschechischen Geschichtsschreibung. Es blieb jedoch bei formalen Ehrungen, ohne nachhaltige Folgen für die Praxis der Landesgeschichte. Eine Gruppe entwickelte jedoch sehr individuelle, die schlesische mit der deutschen und polnischen Geschichte verflechtende Konzepte. In Schlesien bildete sich zwischen 1870 und 1914 ein bedeutender Kreis deutsch-jüdischer Historiker heraus, der, ausgebildet an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau und am eigenständigen Jüdisch-Theologischen Seminar Breslau,61 eigene Konzepte formulierte und umzusetzen versuchte. Als herausragende Vertreter zu nennen wären in der ersten Generation Heinrich Graetz, in der zweiten Generation Jacob Caro und in der dritten Markus Brann, Adolf Warschauer und Ezechiel Zivier. Die Gruppe stammte – mit Ausnahme von Brann, der wenige Kilometer über die russländische Grenze hinaus aus Wieluń kam – aus der preußischen Provinz Posen und war zum Studium nach Breslau gekommen. Zumindest zwei Persönlichkeiten, Brann und Zivier, leisteten wesentliche Beiträge zur schlesischen sowie zur mittel- und osteuropäischen Geschichte.62 Brann muss als der wissenschaftliche Begründer einer Geschichte der schlesischen Juden gelten. Daneben gab er in der Nachfolge von Graetz eine neue Folge der Monatsschrift für Geschichte 60 Kuhnt: Der Verein für Geschichte (und Altertum) Schlesiens, 20. 61 Kisch, Guido: Das Breslauer Seminar. Jüdisch-Theologisches Seminar (Fraenkelscher Stiftung) in Breslau 1854–1938. Gedächtnisschrift. Tübingen 1963. 62 Kalinowska-Wójcik, Barbara: Jüdische Geschichtsforscher in Schlesien des 19. und frühen 20.  Jahrhunderts: Jacob Caro (1835–1904), Markus Brann (1849–1920) und Ezechiel Zivier (1868–1925). In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 331–366.

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und Wissenschaft des Judentums heraus und war an Konzeption und Vorbereitung der „Germania Judaica“ beteiligt.63 Zivier, Absolvent der historisch ausgerichteten Slawistik in Breslau, arbeitete über drei Jahrzehnte lang als Archivar der Fürsten von Pleß, gab neben zahlreichen Studien zum schlesischen Bergbau und Bergrecht auch einen Band der Geschichte Polens für die Jahre 1506 bis 1572 in Nachfolge von Roepell und Caro heraus und kann als Initiator des 1906 eröffneten „Gesamtarchivs der deutschen Juden“ in Berlin gelten.64 Für unsere Fragestellung ist die enge Anbindung beider Persönlichkeiten an die schlesische Landesgeschichte von Bedeutung: Brann und Zivier waren Mitglieder der schlesischen historischen Vereine, gaben schlesische Regionalzeitschriften heraus und verknüpften ihre schlesischen landesgeschichtlichen Interessen mit weiterreichenden Fragen einer jüdisch-deutschen, jüdischen oder polnischen Geschichte. Das Potential einer regional offenen schlesischen Landesgeschichte ist hier erkennbar. Ohne jeden Zweifel wurde die schlesische Geschichte im späten 19. Jahrhundert auch international und vor allem beziehungsgeschichtlich von polnischen und tschechischen Historikern wahrgenommen. Einerseits war Breslau neben Königsberg die am weitesten im Osten gelegene deutsche Universität, die gerade von polnischen Studierenden gern aufgesucht wurde und an der auch eine historisch arbeitende Slawistik bestand. Andererseits wuchs im 19. Jahrhundert der Vorbildcharakter des deutschsprachigen Historismus, der international als quellenkritisch grundlegend und methodisch weiterführend wahrgenommen wurde. Dies äußerte sich zunächst in der wachsenden Rezeption deutschsprachiger schlesischer Arbeiten auf polnischer und tschechischer Seite. Allerdings betraf dies weniger die modernen Arbeiten zur schlesischen Geschichte, die doch als Teil einer deutschen (oder österreichischen) Geschichte wahrgenommen wurde. Stärker rezipiert wurden ältere Texte und Gesamtdarstellungen, so in Polen die Geschichte Polens von Roepell, Caro und Zivier oder international die von Brann betreute Neuauflage der Geschichte der Juden von Graetz. Die schlesische Landesgeschichte konnte, nicht zuletzt infolge des fehlenden Entwurfs einer modernen transnationalen Landesgeschichte, keine internationale Reichweite entwickeln – auch methodisch avancierte Studien wie die Werke von Johannes Ziekursch entfalteten zunächst nur in Fachkreisen eine Wirkung.

63 Ebd., 342–353. 64 Ebd., 353–364.

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Zwischen Nationalökonomie und Geschichtswissenschaft. Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte Schlesiens vor 1914 1. Einleitung Die Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte Schlesiens erfuhren an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert unzweifelhaft eine spürbare Dynamisierung. Ursächlich für die stärkere Beachtung waren die allgemeine Professionalisierung dieser geschichtswissenschaftlichen Teildisziplin in ganz Deutschland und deren fortschreitende institutionelle Verselbständigung.1 Nicht übersehen werden darf allerdings, dass man schon im Jahrhundert der Aufklärung umfangreiche Werke zur regionalen Wirtschaft publiziert hatte, auch wenn diese keine genuin historische Perspektive besaßen und überdies aus heutiger Sicht deutliche methodische Mängel aufwiesen. Die neue Disziplin, die anfänglich aus staatspolitischem Nutzen gefördert worden war, war zunächst keine Domäne der Geschichtswissenschaft. Wichtige Errungenschaften auf diesem Gebiet sind noch lange Vertretern der Nationalökonomie zuzuschreiben, die sich in ihren Arbeiten sozioökonomischen Fragestellungen zuwandten. Die Wirtschaftsgeschichte entwickelte sich somit von Anfang an auch in Schlesien zu einer Art Brückendisziplin. Die Expansion dieses Fachgebiets im 19. Jahrhundert lässt sich naturgemäß nicht nur im Oderland beobachten. Sie ist in breiteren Zusammenhängen zu sehen und steht allgemein im Kontext des ökonomischen Aufschwungs im Deutschen Bund und im Kaiserreich. Der Reifungsprozess des wirtschaftshistorischen Diskurses wird in der Forschung zu Recht mit den Innovationen im Zeitalter von „Dampf und Eisen“ verbunden. Die Erfolge der Industrialisierung, die zunehmende Urbanisierung sowie die Umgestaltung der sozialen Strukturen trugen dazu bei, auch in der Wissenschaft die Frage nach der Genese der Veränderungen zu stellen, die man in der 1 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Kula, Witold: Problemy i metody historii gospodarczej. Warszawa 1983, 26f. Kula, der als maßgeblicher Vertreter der Wirtschaftsgeschichtsschreibung in Polen gelten kann, setzte in seinem Werk, das die Verselbständigung des Fachs Wirtschaftsgeschichte in breiteren Zusammenhängen untersucht, ähnliche Zäsuren an. Zur disziplinären Genese des Fachs Wirtschaftsgeschichte vgl. von deutscher Seite Plumpe, Werner: Wirtschaftsgeschichte zwischen Ökonomie und Geschichte. Ein historischer Abriss. In: ders. (Hg.): Wirtschaftsgeschichte. Stuttgart 2008 (Basistexte Geschichte 2), 7–39; ders./Ambrosius, Gerold/Tilly, Richard: Wirtschaftsgeschichte als interdisziplinäres Fach. In: dies. (Hg.): Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen. München 22006, 9–37; Weischede, Michael: Methodenfragen der Wirtschaftsgeschichtsschreibung. Werner Sombart und Douglass C. North. Norderstedt 2017. Aus marxistischer Perspektive vgl. Kuczynski, Jürgen: Zur Geschichte der Wirtschaftsgeschichtsschreibung. Berlin 1978 (Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften 8).

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Gegenwart beobachten konnte. Die Aufwertung des Bürgertums und der niederen sozialen Schichten ließ zudem stärker als zuvor nach der Rolle von Schichten, Klassen und speziellen Milieus fragen. Zu einem breiteren Geschichtsverständnis trug zeitgleich eine von der Philosophie des starken Staats und der nationalen Wirtschaft beeinflusste Denkweise bei. Was die Vergangenheit Schlesiens betrifft, so begünstigte sie die Hervorhebung der preußischen Zeit, besonders der Regierungszeit König Friedrichs II. Deutlich wird dies etwa, wenn man Werdegang und Werk Colmar Grünhagens in Augenschein nimmt, des wichtigsten Historikers und Archivars in Schlesien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Mit seinem zweibändigen, in den Jahren 1890 und 1892 vorgelegten Werk Schlesien unter Friedrich dem Großen verkörpert er gewissermaßen den Zusammenhang von gegenwartspolitischem Engagement und Geschichtsbetrachtung.2

2. Die Zeitschrift für Social- und Wirthschaftsgeschichte und ihre Bedeutung für wirtschaftshistorische Forschungen in Schlesien Es gibt verschiedene Wege, die Wirtschaftsgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts in Schlesien zu erfassen. Naturgemäß werden dabei einzelne Werke und deren Autoren näher in Augenschein zu nehmen sein, um inhaltlichen Schwerpunkten und Ergebnissen nachzuspüren. Wichtiger ist zunächst jedoch die Frage, wie sich der Anteil insgesamt bewerten lässt, den schlesische Forscher an der Entwicklung dieser neuen geschichtswissenschaftlichen Teildisziplin nahmen. Vordergründig scheint dieser Anteil kein herausragender gewesen zu sein, wenn man sich die Genese der wichtigsten deutschsprachigen Fachzeitschrift – der in den Jahren 1893 bis 1900 erschienenen interdisziplinären Zeitschrift für Social- und Wirthschaftsgeschichte – näher vor Augen führt.3 Rolf Walter bezeichnete das Periodikum jüngst als einen „Meilenstein“ auf dem Weg zur Emanzipation der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Forschung im deutschsprachigen Raum.4 Die Herausgeber erklärten im Vorwort des Pilotbandes, die neue Zeitschrift solle „ausschließlich der Erforschung der wirtschaftlichen Zustände aller Zeiten und Völker dienen und sich ebenso von der Behandlung der Probleme der theoretischen Nationalökonomie wie von den Fragen der Sozial- und

2 Grünhagen, Colmar: Schlesien unter Friedrich dem Großen, Bd. 1–2. Breslau 1890–1892. 3 Winkelbauer, Thomas: Das Fach Geschichte an der Universität Wien. Von den Anfängen um 1500 bis etwa 1975. Wien 2018 (Schriften des Archivs der Universität Wien 24), 205–218; Fellner, Günter: Ludo Moritz Hartmann und die österreichische Geschichtswissenschaft. Grundzüge eines paradigmatischen Konfliktes. Wien/Salzburg 1985 (Veröffentlichungen des Ludwig-BoltzmannInstitutes für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften 15), 272–285. 4 Walter, Rolf: Die Metaphysik des „Bindestrichs“. Was hält die Wirtschafts- und Sozialgeschichte zusammen? In: Schulz, Günther u. a. (Hg.): Sozial- und Wirtschaftsgeschichte: Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven. Wiesbaden 2004, 420–446, hier 437.

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Volkswirtschaftspolitik der Gegenwart fernhalten. Sie soll in ihrer streng historischen Tendenz einem gemeinsamen Bedürfnis der Geschichtsforschung und der Sozialwissenschaft Rechnung tragen und die wirtschaftlichen Ursachen historischer Veränderungen aufklären helfen.“5 Zwar erschien bereits im ersten Jahrgang des Periodikums ein Aufsatz von Lujo (eigentlich Ludwig Josef ) Brentano über die Ursachen der schlesischen Weberkrise6 – der im Anschluss von zwei prominenten Breslauer Gelehrten, dem Historiker Colmar Grünhagen und dem Ökonomen Werner Sombart, kritisch kommentiert wurde,7 was wiederum eine ausführliche Polemik des Autors nach sich zog.8 Diese Publikation stellt jedoch einen Ausnahmefall dar, der nicht über die bescheidene Präsenz schlesischer Themen in der renommierten Zeitschrift hinwegtäuschen darf. Nur noch ein einziges Mal, im dritten Jahrgang, wurde in dem neuen wirtschaftsgeschichtlichen Periodikum ein Beitrag von einem schlesischen Historiker veröffentlicht; es handelte sich um eine Abhandlung von Arthur Kern, die erneut das Thema der Lage der Weber im Oderland betraf.9 Die Auswertung des Inhalts der Vierteljahrschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte – unter diesem Namen erschien die Zeitschrift seit 1903 – bestätigt diesen ernüchternden Befund: Bis zum Ausbruch des Weltkriegs 1914 wurden dort lediglich zwei Texte mit Bezug auf Schlesien publiziert. Franz Eulenburg, ein Schüler des als Hauptvertreter der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie geltenden Gustav Schmoller, widmete sich dem neuzeitlichen Breslauer Handwerk.10 Hermann Fechner wiederum knüpfte in einer weiteren Abhandlung zum preußischen Merkantilismus in der friderizianischen Zeit11 an seine Kritik an, die er zuvor bereits in ungleich breiterer Form in seiner monumentalen, mehr als 700 Seiten umfassenden Studie Wirtschaftsgeschichte der preußischen Provinz Schlesien in der Zeit ihrer provinziellen Selbständigkeit 1741–1806 formuliert hatte.12 15 Vorwort. In: Zeitschrift für Social- und Wirthschaftsgeschichte 1 (1893) I–II, hier I. 16 Brentano, Lujo: Ueber den grundherrlichen Charakter des hausindustriellen Leinengewerbes in Schlesien. In: Zeitschrift für Social- und Wirthschaftsgeschichte 1 (1893) 318–340. 17 ������������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar: Ueber den angeblich grundherrlichen Charakter des hausindustriellen Leinengewerbes in Schlesien und die Webernöthe. In: Zeitschrift für Social- und Wirthschaftsgeschichte 2 (1894) 241–261; Sombart, Werner: Zur neueren Literatur über Hausindustrie (1891–1893). In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 61 (1893) 756–766. 18 Brentano, Lujo: Ueber den Einfluss der Grundherrlichkeit und Friedrichs des Grossen auf das schlesische Leinengewerbe. In: Zeitschrift für Social- und Wirthschaftsgeschichte 2 (1894) 295–376. 19 Kern, Arthur: Noch einiges zur Geschichte der Weber in Schlesien. In: Zeitschrift für Social- und Wirthschaftsgeschichte 3 (1895) 476–480. 10 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Eulenburg, Franz: Drei Jahrhunderte städtischen Gewerbewesens. Zur Gewerbestatistik Alt-Breslaus 1470–1790. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 2 (1904) 254–285. 11 ������������������������������������������������������������������������������������������� Fechner, Hermann: Die Wirkung des preußischen Merkantilismus in Schlesien. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 7 (1909) 315–323. 12 Ders.: Wirtschaftsgeschichte der preußischen Provinz Schlesien in der Zeit ihrer provinziellen Selbständigkeit 1741–1806. Nach den Akten des Geheimen Staatsarchivs und des Handelsmi-

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Damit verlagerte er die mit Gustav Croon in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens geführte Diskussion13 auf eine überregionale Ebene. Eine beträchtliche publizistische Aktivität in der Zeitschrift für Social- und Wirthschaftsgeschichte entwickelte der bereits erwähnte Nationalökonom Ludwig Josef ­Brentano. Zehn Jahre lang, von 1872 bis 1882, hatte der aus Aschaffenburg gebürtige Gelehrte eine Professur an der Universität Breslau inne.14 In dieser Phase entwickelte er ein besonderes Interesse für die wirtschaftlichen und sozialen Eigenheiten des Oderlandes. Mit seiner These über den feudalen Charakter der schlesischen Handweberei und die daraus resultierende Krise dieses Gewerbes folgte Brentano im Kern der Argumentation von Alfred Zimmermanns 1885 in Breslau veröffentlichtem Grundlagenwerk Blüthe und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien. Gewerbe- und Handelspolitik dreier Jahrhunderte.15 Der Autor, ein weiterer Vertreter der Nationalökonomie, war ebenfalls ein Schüler Schmollers. Brentano hob in seinen Ausführungen die Überlegenheit der Nationalökonomie über die Wirtschaftsgeschichte in der Forschung hervor. Er warf den Historikern vor, sich traditionell vor allem mit den Taten der „Großen dieser Welt“, mit deren Kriegen und politischen Intrigen beschäftigt zu haben. In diesem Zusammenhang verwies er auch auf die Einseitigkeit der bisher genutzten Quellen, die nicht die tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse ­wiederspiegeln würden und daher einer zurückhaltenden Interpretation und Ergänzung bedürften. Das Vermögen, die richtigen Fragen zu formulieren, den Kern einer Problemstellung zu erfassen und die Befunde angemessen zu deuten, wiederum verschaffe den Nationalökonomen entscheidende Vorteile gegenüber Historikern. Brentano zeigte sich zutiefst überzeugt: „Dem Historiker haben die Akten die ­Aufgabe verschoben.“ Und er fuhr fort: „Das Wichtigste steht fast nie in den Akten, weil es in denselben als bekannt oder selbstverständlich vorausgesetzt wird. Nirgends gilt weniger als in der Wirthschaftsgeschichte quod non est in actis non est in mundo. So ist die nothwendige Folge einer Wirthschaftsgeschichte, die sich lediglich auf die Wiedergabe des Akteninhalts beschränkt, dass die wichtigsten ­wirthschaftlichen Zustände oft ganz unerwähnt bleiben, weil sie ihm unbekannt geblieben. Statt des Volkes bei der Arbeit sehen wir nur Regierung bei der Arbeit. Abermals tritt die

nisteriums in Berlin, des Staatsarchivs und des Oberbergamtsarchivs zu Breslau dargestellt. Breslau 1907. 13 Croon, Gustav: Die Wirkungen des preußischen Merkantilismus in Schlesien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 42 (1908) 315–322; Fechner, Hermann: Nochmals: Die Wirkungen des preußischen Merkantilismus in Schlesien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 43 (1909) 304–307; Croon, Gustav: Eine Erwiderung. Ebd., 308–332. 14 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Wolf, Julius: Nationalökonomie. In: Kaufmann, Georg (Hg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Tl. 2: Geschichte der Fächer, Institute und Ämter der Universität Breslau 1811–1911. Breslau 1911, 353–359, hier 357f. 15 ����������������������������������������������������������������������������������������� Zimmermann, Alfred: Blüthe und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien. Gewerbe- und Handelspolitik dreier Jahrhunderte. Breslau 1885.

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Geschichte der Herrschenden an die Stelle einer Geschichte des Volkslebens.“16 In diesen Aussagen klingt zwar das Echo der tiefgreifenden sozialpolitischen Veränderungen des 19. Jahrhunderts mit, sie zeugen allerdings ebenfalls vom Verständnis der Wirtschaftsgeschichte im Umkreis „fortschrittlicher“ Wissenschaftler wie Brentano, den man nicht zu Unrecht zu den „Kathedersozialisten“ zählte.17

3. Die Entwicklung der Wirtschaftsgeschichte an der Universität Breslau um die Jahrhundertwende Diese neue, erweiterte und gewissermaßen umgekehrte Perspektive fand fraglos Einzug in das Umfeld der Breslauer Wirtschaftswissenschaftler, deren hervorragendster Vertreter Werner Sombart in den Jahren 1890 bis 1906 den Lehrstuhl für Staatswissenschaft an der Universität Breslau innehatte. Sombarts Überlegungen ­streiften zwar nur gelegentlich die Verhältnisse in Schlesien, hatten aber mittelbar das Potenzial, die zu dieser Region forschenden Wissenschaftler zu beeinflussen und zu prägen. Es steht fest, dass Seminare zu Geschichte und Nationalökonomie unter Studenten gleichermaßen beliebt waren, wobei allerdings in Rechnung zu stellen ist, dass beide Forschungsdisziplinen an der Universität Breslau das ganze 19. Jahrhundert über an ein und derselben Fakultät, der Philosophischen, verankert waren. Mit dieser Tradition brach man erst 1913, als die Ökonomie und die Rechtwissenschaften im Rahmen der neu eingerichteten Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zusammengelegt wurden. Dahinter stand die Überzeugung, dass ein jeder Nationalökonom zwar „Philosoph, Historiker, Techniker“ sein könne, unabdingbar jedoch „Jurist“ sein müsse.18 Auch die Breslauer Geschichtswissenschaft selbst veränderte sich in diesem Zeitraum und erweiterte ihren Reflexionsbereich deutlich. Wirtschaftliche Themen wurden stufenweise zum Forschungsgegenstand der Historiker, die, was ihre weltanschauliche Ausrichtung betrifft, in aller Regel prostaatliche Positionen einnahmen. Es ist insofern bezeichnend, dass ein zweites kritisches Werk hinsichtlich der sozioökonomischen Politik der preußischen Herrschaft in Schlesien, das auch überregional rezipiert wurde, erst im Jahr 1915 erschien. Dabei handelt es sich um eine Abhandlung von Johannes Ziekursch, der den Wandlungen der Landwirtschaft im Oderland seit

16 Brentano: Ueber den grundherrlichen Charakter, 318–320. 17 Ptak, Marian J.: Nauki prawne i ekonomiczne/Legal and economic sciences. In: Harasimowicz, Jan (Hg.): Księga pamiątkowa jubileuszu 200-lecia utworzenia Państwowego Uniwersytetu we Wrocławiu, Bd. 2: Universitas litterarum Wratislaviensis 1811–1945. Wrocław 2013, 170– 207, hier 194f. 18 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 87: Lehrfach der Staatswissenschaften und die Personalien der zu denselben gehörenden Dozenten 1908–1927, 20–30, 48.

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1763 nachging.19 Ziekursch war nach dem Tod Grünhagens 1911 als außerordentlicher Professor an die Universität Breslau berufen worden, wo er sich vorrangig mit schlesischer Geschichte und Historischen Hilfswissenschaften beschäftigte.20 Seiner Personalakte im Breslauer Universitätsarchiv ist zu entnehmen, dass die Arbeiten zu dieser großangelegten Studie zum Zeitpunkt des Eintrags bereits fortgeschritten waren – die Beschäftigung mit der Geschichte der schlesischen Landwirtschaft in der Zeit vom Ende des Siebenjährigen Krieges bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde als Schwerpunkt seiner Forschungen bezeichnet.21 In einem Aufsatz über die Entwicklung des Historischen Seminars an der Universität Breslau bis zum Ersten Weltkrieg hob Zdzisław Surman 1983 Ziekurschs hohes Interesse für wirtschaftliche Zusammenhänge der letzten zwei Jahrhunderte hervor; die eigentliche Schlüsselrolle auf diesem Gebiet schrieb er allerdings ­Georg Friedrich Preuß zu, der seit 1908 eine neugegründete ordentliche Professur für Mittlere und Neuere Geschichte mit wirtschaftshistorischem Schwerpunkt innehatte.22 Surman zufolge gab es einen direkten Zusammenhang zwischen der Beschäftigung mit wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen der Vergangenheit und gegenwartspolitischen Überlegungen zur Umgestaltung der Lehrprogramme, in denen ökonomische Belange sowie die staatliche Sozialpolitik künftig stärkere Beachtung finden sollten als bisher.23 Aus den im Archiv der Universität Breslau überlieferten Akten geht jedoch nicht hervor, dass die Einrichtung der neuen Professur von Preuß eine entscheidende

19 Ziekursch, Johannes: Hundert Jahre schlesischer Agrargeschichte. Vom Hubertusburger Frieden bis zum Abschluß der Bauernbefreiung. Breslau 1915 [21927] (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 20). 20 Schleier, Hans: Die bürgerliche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik. Berlin 1975 (Akademie der Wissenschaften der DDR. Schriften des Zentralinstituts für Geschichte 40), 399–451; Bahlcke, Joachim: Geschichtswissenschaftliche Habilitationen an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau zwischen 1811 und 1914: Akademische Qualifikation, personale Netzwerke und Einbindung in wissenschaftliche Schulen. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19.  Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2019 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 28), 29–91, hier 61f. 21 ����������������������������������������������������������������������������������������� Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 94: Lehrfach der Geschichte und die Personalien der zu denselben gehörenden Dozenten 1908–1929, 210, 213–219; ebd., Sign. F 94: Lehrfach der Geschichte und die Personalien der zu denselben gehörenden Dozenten 1908–1929, 210, 213–219. 22 Surman, Zdzisław: Seminarium historyczne Uniwersytetu Wrocławskiego 1843–1918. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 38 (1983) 63–81. Zur neugegründeten Professur mit wirtschaftshistorischem Schwerpunkt vgl. Gehrke, Roland: Die Berufung von Historikern an die Universität Breslau (1848–1914): Auswahlkriterien, Durchsetzung, Personalfluktuation. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 93–127, hier 115f., 127. 23 Surman: Seminarium historyczne Uniwersytetu Wrocławskiego, 66, 76.

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Wende im Bereich der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung an der Oderuniversität (einschließlich derjenigen zu Schlesien) bewirkt hätte. Die Berufungskommission, die im Vorfeld über die Ausrichtung des neuen Lehrstuhls für Mittlere und Neuere Geschichte debattiert hatte, war zwar zu dem Ergebnis gekommen, dass eine weitere Professur am Historischen Seminar „sich möglichst wenig“ mit den Arbeitsgebieten der „beiden vorhandenen Ordinarien decken“ sowie gleichzeitig die Felder „Wirtschaftsgeschichte und östliche Geschichte“ abdecken können müsse; als man sich dann aber für Preuß entschied, wurden vor allem dessen Breslauer Wurzeln und das daraus erwachsene Interesse für die ostdeutsche und osteuropäische Geschichte hervorgehoben, was vielversprechende Perspektiven für den weiteren Ausbau der geschichtswissenschaftlichen Forschung an der Universität erwarten lasse.24 Die Wirtschaftsgeschichte als solche gehörte jedoch zunächst nicht zu den vorrangigen Forschungsinteressen von Preuß.25 Erst allmählich wandte er sich auch dieser Teildisziplin zu. So bot er beispielsweise an der Universität mehrere Semester lang Vorlesungen zum Thema „Seeherrschaft, Kolonial- und Handelsgeschichte“ an.26 Einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Wirtschaftsgeschichtsschreibung Schlesiens wird man Preuß bis zum Beginn des Weltkriegs – der Ordinarius ­erlitt im Oktober 1914 in Ostpreußen eine schwere Verwundung, an deren Folgen er wenig später starb – gleichwohl nicht zusprechen dürfen. Zu seinem Nachfolger berief man den Mediävisten Robert Holtzmann.27 Auch er kann nur bedingt als Spezialist für die Erforschung der schlesischen Wirtschaftgeschichte bezeichnet werden. Der eigentliche Experte für dieses Fachgebiet blieb Johannes Ziekursch, ohne dass dessen 1912 übernommene Professur allerdings eine Institutionalisierung dieser Forschungsrichtung an der Universität zur Folge gehabt hätte. Faktisch vermochte Ziekursch, im Einklang mit seinen spezifischen Forschungsinteressen, in der Lehre

24 ����������������������������������������������������������������������������������������� Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F ���������������������������������������������� 93: Lehrfach der Geschichte und die Personalien der zu denselben gehörenden Dozenten 1884–1908, 334, 336, 338, 339–349, 378, 385; ebd., Sign. F 94: Lehrfach der Geschichte Und die Personalien der zu denselben gehörenden Dozenten 1908–1929, 159, 249; ebd., Sign. F 2: Protokolle der Sitzungen der Philosophischen Fakultät 1906–1913, 103–105, 183. Vgl. ferner Spenkuch, Hartwin: Preußische Universitätspolitik im Deutschen Kaiserreich. Dokumente zu Grundproblemen und ausgewählten Professorenberufungen in den Philosophischen Fakultäten zur Zeit Friedrich Althoffs (1897 bis 1907). Berlin/Boston 2018 (Der preußische Kulturstaat in der politischen und sozialen Wirklichkeit 13). 25 Preuß, Georg: Wilhelm III. von England und das Haus Wittelsbach im Zeitalter der spanischen Erbfolgefrage; Halbbd. 1. Breslau 1904; ders.: Helmar Gerkens. Ein Beitrag zur deutschen Zollgeschichte. Freiburg im Breisgau 1910. 26 Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Universität Breslau im Sommer-Semester 1908. Breslau 1908, 20f.; Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Universität Breslau im Winter-Semester 1908/09. Breslau 1908, 28; Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Universität Breslau im Sommer-Semester 1909. Breslau 1909, 20; Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Universität Breslau im Sommer-Semester 1911. Breslau 1911, 29. 27 Surman: Seminarium historyczne Uniwersytetu Wrocławskiego, 66.

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jedoch entsprechende Akzente zu setzen. So leitete er etwa im Sommersemester 1914 ein Seminar unter dem Titel „Kritische Übungen zur schlesischen Agrargeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts“.28

4. Das wirtschaftshistorische Themenspektrum im Kontext schlesischer Landes- und Regionalgeschichte bis 1914 Wie einleitend erwähnt, lässt sich ein grundsätzliches Interesse an der Erforschung der wirtschaftlichen Entwicklung Schlesiens nicht erst an der Wende vom 19. zum 20.  Jahrhundert beobachten, sondern bereits deutlich früher. Daran hat schon Arno Herzig 2005 in einer Pionierstudie zur Entwicklung schlesischer Wirtschafts- und Sozialgeschichte erinnert; Herzig verwies in diesem Zusammenhang unter anderem auf die detaillierten Landesbeschreibungen der Frühen Neuzeit.29 Umfassendere historische Untersuchungen wurden allerdings erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Angriff genommen. Sie wurden vor allem von dem verdienten, 1846 in Breslau gegründeten Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens initiiert und ­betreut. In der seit 1855 herausgegebenen Vereinszeitschrift erschienen bereits seit den 1850er Jahren Aufsätze mit einer wirtschaftsgeschichtlichen Ausrichtung.30 Auch während der kommenden Jahrzehnte lassen sich hier und da einschlägige Beiträge ausmachen, ohne dass diese jedoch einen erkennbaren Forschungszusammenhang bildeten. Thematisiert wurden beispielsweise die Entwicklung der Messe in der schlesischen Hauptstadt (Eduard Cauer),31 der Verlauf der Weberunruhen 1793 in Breslau (Carl Eduard Schück),32 die Breslauer Innungen (Alwin Schultz und Alfred Zimmermann)33

28 Verzeichnis der Vorlesungen an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau im Sommer-Semester 1914. Breslau 1914, 28f. 29 Herzig, Arno: Wirtschafts- und Sozialgeschichte. In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2005 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 11), 159–184, hier 160–162. 30 Oelsner, Ludwig: Die Aufhebung des kaiserlichen Tabakmonopols in den böhmischen Landen im Jahre 1736. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 2 (1858) 1–40; Stenzel, Gustav Adolf: Ueber die von Muellern an die Grundherrschaften zu entrichtenden Mühlzinsen, Mehlzinsen und anderen Leistungen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 2 (1859) 331–358. 31 Cauer, Eduard: Zur Geschichte der Breslauer Messe, eine Episode aus der Handelsgeschichte Breslaus. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 5 (1863) 64–80, 222–250. 32 ������������������������������������������������������������������������������������������� Schück, Carl E[duard]: Weber-Unruhen in Schlesien 1793. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 10 (1870) 1–17. 33 Schultz, Alwin: Zur Geschichte der Breslauer Goldschmied-Innung. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 5 (1863) 343–353; Zimmermann, Alfred: Die Par-

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sowie Fragen des Transportwesens und der Verkehrsverhältnisse im Oderland (Robert Schück).34 Ein spürbarer Zuwachs an Abhandlungen zu wirtschaftlichen Aspekten der regionalen Geschichte wird ab den 1890er Jahren sichtbar. Gleichzeitig vergrößerte sich auch der Kreis der Autoren, die zu wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen arbeiteten. Neben dem Altmeister der Landesgeschichtsschreibung, Colmar Grünhagen,35 traten in den Jahren 1892 bis 1914 über zwanzig Autoren in Erscheinung, von denen Konrad Wutke,36 Hermann Fechner37 und Johannes Ziekursch38 die größte Aktivität entwickelten. Ihre Publikationen setzten sich besonders mit Fragen der Handelsgeschichte, des Handwerks und der Steuerpolitik im Oderland auseinander.39

chenzunft zu Breslau in vorpreußischer Zeit. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 18 (1884) 213–228. 34 Schück, Robert: Beiträge zur Geschichte der Verkehrsverhältnisse Schlesiens vor der preußischen Occupation. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 11 (1872) 359–383; ders.: Beiträge zur Geschichte des schlesischen Postwesens 1625–1740. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 20 (1886) 33–53. 35 Vgl. exemplarisch Grünhagen, Colmar: Der schlesische Schatz 1770–1809. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 27 (1893) 204–237; ders.: Der Anlaß des Landshuter Webertumultus am 28. März 1793. Ebd., 291–309; ders.: Monatsberichte des Ministers v. Hoym über den schlesischen Handel 1786–1797. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 28 (1894) 341–410; ders.: Die Breslauer Kaufmannschaft im Kampfe gegen das Merkantilsystem 1786/87. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 29 (1895) 113–132. 36 Vgl. exemplarisch Wutke, Konrad: Die Versorgung Schlesiens mit Salz während des Mittelalters. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 27 (1893) 238–290; ders.: Zur Salzversorgung Schlesiens im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 30 (1896) 285–306; ders.: Zur Geschichte des Bergbaus bei Kolbnitz. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 32 (1898) 229–266; ders.: Die Vitriolgewinnung im Bisthumslande Neiße. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 34 (1900) 197–230. 37 ������������������������������������������������������������������������������������������� Fechner, Hermann: Die schlesische Glasindustrie unter Friedrich dem Großen und seinen Nachfolgern bis 1806. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 26 (1892) 74–130; ders.: Der Herzer’sche Versuch auf Kobalt bei Kupferberg (1766/67). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 31 (1897) 93–122; ders.: Friedrich’s des Großen und seiner beiden Nachfolger Garnhandelspolitik in Schlesien 1741–1806. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 35 (1901) 303–345, 36 (1902) 318–364. 38 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Ziekursch, Johannes: Zur Geschichte der schlesischen Mediatstädte im 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 44 (1910) 170–176; ders.: Die innere Kolonisation im altpreußischen Schlesien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 48 (1914) 113–143. 39 ������������������������������������������������������������������������������������������ Vgl. exemplarisch Croon, Gustav: Zunftzwang und Industrie im Kreise Reichenbach. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 43 (1909) 98–130; Kern, Arthur: Die Reform des Steuerwesens in Schlesien (1666–71). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 37 (1903) 43–62; ders.: Das Zollwesen Schlesiens 1623–1740. In: Zeitschrift des ­Vereins für Geschichte Schlesiens 44 (1910) 1–17; Rauprich, Max: Breslaus Handelslage im Aus-

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Zunehmend wurde allerdings auch über das schlesische Bergwesen geforscht und ­publiziert.40 Sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht ist ein signifikanter Fortschritt auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeschichte festzustellen. Innerhalb wie außerhalb des universitären Rahmens erlangte das Teilgebiet eine immer stärkere Bedeutung, und auch in Schlesien wurde es allmählich zu einem anerkannten Bereich der Wissenschaft. Die vereinzelten Studien oder allgemeinen Betrachtungen ­früherer Jahrzehnte wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts um bahnbrechende Monographien und aufwendige Quelleneditionen, die im Rahmen umfangreicher Archivrecherchen entstanden, erweitert. Die Mehrheit der damals entstandenen Studien wird bis zur Gegenwart rezipiert und zitiert und hat zugleich Einfluss auf die Wahrnehmung der Region, was indirekt den Wert dieser Veröffentlichungen unterstreicht. Wenig überraschend ist der stark positivistische Charakter einer Reihe von Darstellungen und die gelegentlich etwas penible Art, in der die Ergebnisse präsentiert werden: Beide Sachverhalte spiegeln letztlich die gängige Arbeitsweise der damaligen Geschichtsforschung wider. In ihrer Mehrheit aber bildeten diese Werke die Basis für weitere Analysen. In der Einleitung zu seinem Grundlagenwerk über das ­schlesische Leinengewerbe ging der bereits erwähnte Alfred Zimmermann ausführlich auf die ­Probleme ein, die sich ihm während des Schreibprozesses gestellt hatten, etwa auf die Frage des problematischen Überflusses an einschlägigen Quellen. Er bearbeite gleichsam einen „jungfräulichen Boden“, was sein Unterfangen deutlich erschwere; die „Geschichte einer Industrie zu schreiben“ sei insofern aus mehreren Gründen „eine undankbare Aufgabe“.41 Spätere Erforscher des schlesischen Leinengewerbes hatten es allerdings nicht viel leichter, wie die Monographien der Ökonomen Friedrich Schroetter, Kurt Frahne und Robert Wilbrandt zweifelsfrei zeigen;42 eine genauere historiographische Darstel

gange des Mittelalters. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 26 (1892) 1–26; ders.: Der Streit um die Breslauer Niederlage 1490–1515. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 27 (1893) 54–116; Scholz, [Paul]: Der Kampf der schlesischen Kaufmannschaft gegen das Triester Magazin 1729–1739. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 34 (1900) 89–114; Krebs, Julius: Der politische und wirtschaftliche Verfall der Stadt Breslau um die Mitte des 30jährigen Krieges. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 8 (1904) 155–175. 40 ����������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. exemplarisch Fink, Erich: Bergwerksunternehmungen der Fugger in Schlesien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 28 (1894) 294–340; Faulhaber, Carl: Beitrag zur Geschichte der Reichensteiner Goldproduktion. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 31 (1897) 195–218; Schulte, Wilhelm: Die Anfänge des Schlesiens Bergbaues. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 35 (1901) 371–375; Pflug, Karl: Zur Geschichte des Bergbaues im Waldenburger Berglande. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 43 (1909) 75–97. 41 Zimmermann: Blüthe und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien, V. 42 Schroetter, Friedrich: Die schlesische Wollindustrie im 18. Jahrhundert. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 10 (1898) 129–273, 11 (1898) 375–492, 14 (1901) 531–630; Frahne, Curt: Die Textilindustrie im Wirtschaftsleben Schlesiens. Ihre wirt-

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lung musste erst noch geschrieben werden. Die Abhandlung von Hans Römer zum schlesischen Spinnereiwesen erschien 1914 im Rahmen einer 1906 begonnenen Publikationsreihe des Vereins für Geschichte Schlesiens („Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte“).43 Hinzu kamen ähnlich ambitionierte Darstellungen, beispielsweise 1910 die Abhandlung Agrarfrage und Agrarbewegung in Schlesien im ­Jahre 1848 von Karl Reis44 sowie die schon genannte Publikation Hundert Jahre schlesischer Agrargeschichte. Vom Hubertusburger Frieden bis zum Abschluss der Bauernbefreiung von Johannes Ziekursch aus dem Jahr 1915. Erwähnenswert ist in diesem ­Zusammenhang, dass die spezifische Entwicklung der schlesischen Landwirtschaft ­bereits in mehreren Dissertationen behandelt worden war,45 so dass die größten Desiderate auf diesem Gebiet vergleichsweise früh behoben werden konnten. Ein Quelleneditionsprojekt muss in diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben werden: der vom Verein für Geschichte Schlesiens herausgegebene Codex diplomaticus Silesiae. In dieser namhaften Schriftenreihe finden sich mehrere Bände mit Bezügen zur schlesischen Wirtschaftsgeschichte, für die namentlich zwei Wissenschaftler verantwortlich waren: Ferdinand Friedensburg, ein Experte für schlesische Numismatik, sowie Konrad Wutke, der sich mit dem Transportwesen auf der Oder und dem schlesischen Berg- und Hüttenwesen vor 1740 beschäftigte.46 Während die Entwicklung des Güter- und Warentransports sowie des damit einhergehenden Austausches in der Folge nur bedingt das Interesse anderer Landeshistoriker fand, wurde das Thema der Erz- und Kohleförderung sowie des damit eng verbundenen

schaftlichen und technischen Grundlagen, historisch-ökonomische Gestaltung und gegenwärtige Bedeutung. Tübingen 1905; Wilbrandt, Robert: Die Weber in der Gegenwart. Sozialpolitische Wanderungen durch die Hausweberei und die Webfabrik. Jena 1906. 43 Roemer, Hans: Die Baumwollspinnerei in Schlesien bis zum preußischen Zollgesetz von 1818. Breslau 1914 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 19). 44 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Reis, Karl: Agrarfrage und Agrarbewegung in Schlesien im Jahre 1848. Breslau 1910 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 12). 45 Vgl. exemplarisch Müller, Max: Die Getreidepolitik, der Getreideverkehr und die Getreidepreise in Schlesien während des 18. Jahrhunderts. Weimar 1897; Dessmann, Günter: Geschichte der Schlesischen Agrarverfassung. Straßburg 1904 (Abhandlungen aus dem staatswissenschaftlichen Seminar zu Straßburg 19); Himmel, Paul: Untersuchungen über die Entwicklung und den Stand der Betriebsverhältnisse eines schlesischen Rittergutes. Kiel 1908; Lange, Gustav: Die Entwickelung der landwirtschaftlichen Verhältnisse, insbesondere der Viehzucht, auf dem Rittergute Bersdorf in Schlesien von 1770 bis zur Gegenwart. Königsberg i. Pr. 1908. 46 ����������������������������������������������������������������������������������������� Friedensburg, Ferdinand (Hg.): Schlesiens Münzgeschichte im Mittelalter, Bd. 1: Urkundenbuch und Münztafeln, Bd. 2: Münzgeschichte und Münzbeschreibung. Breslau 1887–1888 (Codex diplomaticus Silesiae 12–13); ders. (Hg.): Schlesiens neuere Münzgeschichte. Breslau 1899 (Codex diplomaticus Silesiae 19); ders. (Hg.): Schlesiens Münzgeschichte im Mittelalter. Breslau 1904 (Codex diplomaticus Silesiae 23); Wutke, Konrad: Die schlesische Oderschifffahrt in vorpreußischer Zeit. Breslau 1896 (Codex diplomaticus Silesiae 17); ders.: Schlesiens Bergbau und Hüttenwesen, Bd. 1: Urkunden (1136–1528), Bd. 2: Urkunden und Akten (1529–1740). Breslau 1900–1901 (Codex diplomaticus Silesiae 20–21).

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Hüttenwesens vielfach aufgegriffen. Konrad Wutke und Hermann Fechner erzielten auf diesem Gebiet herausragende Leistungen. Ähnlich angelegte Studien waren ­bereits in den 1850er Jahren von Ludwig Wachler und Aemil Steinbeck veröffentlicht worden,47 doch sind diese nur sehr bedingt als wissenschaftliche Abhandlungen zu bezeichnen. Zu den wichtigsten Errungenschaften Wutkes gehören fraglos die Darstellung zur Geschichte der Bergregale sowie eine ähnlich konzipierte Studie zur Bergwerksgesellschaft Georg von Giesches Erben.48 Nicht minder wichtig war seine zusammenfassende Darstellung der Geschichte der schlesischen Hütten- und Bergwerksindustrie unter preußischer Herrschaft.49 Als Hauptvertreter dieser Forschungsrichtung muss gleichwohl Hermann Fechner angesehen werden, der 1903 ein Standardwerk über das schlesische Bergwerksund Hüttenwesen in der friderizianischen Epoche herausgab.50 Aus seiner Feder stammt ebenfalls eine ausführliche, 1886 herausgegebene Monographie zur Rolle Schlesiens im Rahmen der Handelsbeziehungen zwischen Preußen und Österreich, sowie die bereits erwähnte, 1907 veröffentlichte Darstellung der Wirtschaftsgeschichte der Provinz Schlesien unter König Friedrich II. von Preußen.51 Die Ausarbeitungen Fechners gelten zu Recht als Meilensteine der schlesischen Wirtschaftshistoriographie. Hinzu kommen noch zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften, dar47 ������������������������������������������������������������������������������������������ Wachler, Ludwig: Die Eisen-Erzeugung Oberschlesiens, oder statistisch-tabellarische Zusammenstellung aller im Königlichen Regierungs-Bezirke Oppeln belegener Eisen-Hütten-Werke so wie Angabe deren Besitzer, Fabrikation, Fabrik- oder Hüttenzeichen, Betriebskraft, als auch der dabei verarbeiteten Haupt-Betriebs-Materialien u.s.w. nebst Vorwort und erläuternden allgemeinen statistisch-technischen Bemerkungen. Ein Versuch. Oppeln 1847; ders.: Die Eisen-Erzeugung Oberschlesiens, oder: Hüttenmännischer Führer durch Oberschlesien, oder Allgemeine Betrachtungen über den Zustand des Eisenhütten-Betriebes seit den letztverflossenen 100 Jahren, mit Bezugnahme auf die geschichtliche Entwickelung der Königl. Eisen-Hütten-Werke, so wie der grössern und bedeutendern Privat-Anlagen, Tl. 1–3. Oppeln 1850–1851; Steinbeck, Aemil: Geschichte des schlesischen Bergbaues, seiner Verfassung, seines Betriebes, Bd. 1: Verfassung und Gesetzgebung, Bd. 2: Geschichte des Bergbaubetriebes bis 1769. Breslau 1857. 48 Wutke, Konrad: Studien über die Entwicklung des Bergregals in Schlesien. Berlin 1897; ders.: Geschichte der Bergwerksgesellschaft Georg von Giesche’s Erben, Bd. 1: Georg von Giesche’s Erben. Die allgemeine Geschichte der Gesellschaft bis zum Jahre 1851. Breslau 1904. 49 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Aus der Vergangenheit des Schlesischen Berg- und Hüttenlebens. Ein Beitrag zur Preussischen Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte des 18./19. Jahrhunderts. Breslau 1913 (Der Bergbau im Osten des Königreichs Preussen. Festschrift zum XII. Allgemeinen Deutschen Bergmannstage in Breslau 1913 V). 50 Fechner, Hermann: Geschichte des schlesischen Berg- und Hüttenwesens in der Zeit Friedrich des Großen, Friedrich Wilhelm’s II. und Friedrich Wilhelm’s III., 1741–1806. Nach den Acten des Geheimen Staatsarchivs, des Handelsministeriums, des Staatsarchivs und des Oberbergamtes zu Breslau. Mit Plänen und Skizzen von Grubenrissen. Berlin 1903. 51 Ders.: Die handelspolitischen Beziehungen Preußens zu Österreich während der provinziellen Selbständigkeit Schlesiens 1741–1806. Mit zwei���������������������������������������������� statistischen Beilagen, Verzeichniß des Cabinets-Ordres und Register. Nach den Akten des Geheimen Staatsarchivs zu Berlin und des Staatsarchivs zu Breslau. Berlin 1886; ders.: Wirtschaftsgeschichte der preußischen Provinz Schlesien.

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unter wegweisende Studien in der Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen sowie im Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik. Die offensichtlichen Hauptinteressen für die friderizianische Zeit sowie für das 19. Jahrhundert können bei den genannten Autoren mit gegenwartspolitischen Positionierungen, weltanschaulichen Überzeugungen und den sozioökonomischen Veränderungen in ihrer eigenen Gegenwart erklärt werden. Dies schloss allerdings nicht aus, dass man sich mitunter auch ausgewählten Problemen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wirtschaftsgeschichte Schlesiens zuwandte.52 Definierten die genannten Historiker ihr Erkenntnisinteresse auch grundsätzlich nach wissenschaftlichen Belangen, so lassen sich bei der Entstehung wirtschaftsgeschichtlicher Arbeiten doch auch Einflüsse aus den Kreisen der regionalen Wirtschaft nachweisen. Dies gilt besonders für Jubiläumsschriften. Albert Serlo etwa verfasste eine Monographie zur Geschichte des schlesischen Bergbaus, die 1869 anlässlich der 100-Jahr-Feier des Königlichen Oberbergamts in Breslau erschien.53 Auch anlässlich der Jubiläen einzelner Glashütten und Firmen erschienen, wie vielerorts üblich, entsprechende Studien.54 Andere Arbeiten wiederum verfolgten einen konkreten ökonomischen, politischen oder rechtlichen Nutzen, wie Barbara Kalinowska-Wójcik in ihrer Monographie zum Wirken des Archivars der Fürsten von Pleß – Ezechiel ­Zivier  – nachgewiesen hat.55 Seit Mitte der 1890er Jahre führte Zivier Quellenrecherchen durch, die den wirtschaftlichen Privilegien der Herren von Hochberg und mehrerer mit ihnen vernetzter Adelsgeschlechter dienen sollten. Zivier suchte Dokumente heraus, die in den um die Bergbauprivilegien geführten Gerichtsprozessen genutzt wurden, und bearbeitete diese anschließend. Bei dieser Gelegenheit beteiligte er sich auch an einer rechtlichen Auseinandersetzung mit Breslauer Historikern und Archivaren, die vor Gericht als Experten für den Wandel des Bergbaurechts auftraten. Zivier machte nicht nur seine Kritik an den Thesen von Konrad Wutke und Bruno Bellrode öffentlich,56 er publizierte zeitgleich auch mehrere umfangreiche Studien und Quelleneditionen zu dem Thema, auf das er einzig durch die Aufträge der Fürs52 �������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. exemplarisch Eulenburg, Franz: Über Innungen der Stadt Breslau vom 13. bis 15. Jahrhundert. Berlin 1892; Kern, Arthur: Der „neue Grenzzoll“ in Schlesien, seine Begründung und Entwicklung 1556–1624. Berlin 1892; Tschierschky, Siegfried: Die Wirtschaftspolitik des Schlesischen Kommerzkollegs 1716–1740. Gotha 1902 (Geschichtliche Studien 1/2); Webner, Friedrich: Zunftkämpfe in Schweidnitz bis zum Ausgang des Mittelalters. Breslau 1907. 53 Serlo, Albert: Beitrag zur Geschichte des Schlesischen Bergbaues in den letzten hundert Jahren. Festschrift zur Feier des Hundertjährigen Bestehens des Königlichen Oberbergamtes zu Breslau. Breslau/Berlin 1869. 54 Als Beispiel vgl. Aus der Vergangenheit der Glashütte Kaiserswalde Pangratz und Co: Zu ihrem 250jährigen Jubiläum am 13. Oktober 1906. [Berlin 1906]. 55 Kalinowska-Wójcik, Barbara: Między Wschodem i Zachodem. Ezechiel Zivier (1868–1925). Historyk i archiwista. Katowice 2015, 159–179. 56 Zivier, E[zechiel]: Zur Theorie des Bergregals in Schlesien. Breslau 1897; ders.: ­Rechtsverhältnisse der „Freien Standesherrschaft“ Fürstenthum Pless. Entgegnung auf die Schrift: Beiträge zu Schle-

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ten von Pleß aufmerksam geworden war.57 Entsprechend unterschiedlich waren die Reaktionen auf seine Veröffentlichungen: Die einen sahen darin Pionierarbeiten zu einem bisher nur wenig beackerten Forschungsgebiet, die anderen warfen ihm Parteilichkeit vor und unterstellten dem Archivar, lediglich Auftragsarbeiten ohne die gebotene wissenschaftliche Distanz verfasst zu haben.

5. Rückblick und Einordnung Eine präzise Bestimmung des Einflusses, den die genannten Arbeiten von Alfred Zimmermann, Hermann Fechner, Konrad Wutke, Johannes Ziekursch und anderer Forscher auf die Entwicklung der schlesischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung vor dem Ersten Weltkrieg ausübten, ist nicht möglich. So beachtlich das hier vorgestellte Schrifttum auch auf den ersten Blick ist, so darf doch eines nicht übersehen werden: Es handelte sich in weiten Teilen um Pionierstudien, um Wegmarken eines sich erst allmählich und behutsam etablierenden neuen Forschungsbereichs. Was in Schlesien vor 1885 im weitesten Sinn an wirtschaftsgeschichtlichen Studien vorgelegt wurde, war bei Lichte besehen nicht Vorbote eines gesteigerten Interesses für eine andernorts bereits länger gepflegte Teildisziplin, sondern verdankte sich weitgehend individuellen Schwerpunktsetzungen und Fachinteressen. Höhere Aufmerksamkeit für entsprechende Fragestellungen lässt sich erst in den Jahrzehnten um 1900 erkennen. Sie ­verdankte sich vor allem dem sozioökonomischen Wandel der Zeit und unterstrich die allgemeine Bedeutung ökonomischer Belange, was dem Geist des modernen und ­fortschrittlichen Deutschland der wilhelminischen Ära entsprach. Zu beachten ist ferner die allgemeine Entwicklung der Wissenschaften, und hier besonders der Geschichtswissenschaft sowie der (National)-Ökonomie, deren wechselseitige Berührungspunkte neue Forschungsfragen aufwarfen. Die Wirtschaftsgeschichtsschreibung in Schlesien wurde deutlich stärker von außen beeinflusst, als dass sie selbst entsprechende Diskurse und Fachdebatten an anderen deutschen Universitätsstädten angestoßen oder beeinflusst hätte. Fragestellungen mit Bezug zum Oderland waren für auswärtige Forscher von geringer Attraktivität. Sie wurden ­daher vorrangig von Forschern schlesischer Herkunft bearbeitet – im Land selbst oder mitunter auch an anderen preußischen Universitäten, etwa im Berliner Seminar Gustav (von) Schmollers. Eine nicht unbedeutende Rolle im Formierungsprozess der Wirt

siens Rechtsgeschichte von Bruno Bellerode, Rechtsanwalt beim Oberlandesgericht und Königl. Notar in Breslau. Kattowitz O./S. 1898. 57 Ders.: Geschichte des Bergregals in Schlesien bis zur Besitzergreifung des Landes durch Preussen. Kattowitz O./S. 1898; ders. (Hg.): Akten und Urkunden zur Geschichte des schlesischen Bergwesens: Oesterreichische Zeit. Kattowitz O.-S. 1900; ders.: Die Entwicklung des Bergregals in Schlesien und die Bergwerksgerechtsame des Fürstentums Pless. Kattowitz O.-S. 1908; ders.: Entwicklung des Steinkohlenbergbaues im Fürstentum Pless. Kattowitz O.-S. 1913.

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schaftsgeschichtsschreibung Schlesiens nahmen die Nationalökonomen ein, auch wenn sich deren Interesse an der Vergangenheit der Region primär auf punktuelle ­Ereignisse konzentrierte – etwa die Weberproblematik, die schon aufgrund der dramatischen, in der deutschen Erinnerungskultur fest verankerten Ereignisse von 1844 als spezifisches sozioökonomisches Problem der Provinz galt und bis zur Gegenwart die stärkste Aufmerksamkeit fand. Die Forschungen der Historiker, die mehrheitlich in der schlesischen Hauptstadt wirkten, widmeten sich auch anderen Feldern des wirtschaftlichen Lebens sowie der staatlichen Wirtschaftspolitik. Die wachsende Anzahl von Einzelstudien und zusammenfassenden Darstellungen wurde durch wertvolle Quelleneditionen ergänzt. Was die Erforschung der wirtschaftlichen Gegebenheiten der Region in älterer Zeit betrifft, so ist eindeutig von einer Dominanz der Geschichtswissenschaft zu sprechen. Breslau nahm in diesem Rahmen zweifellos eine Schlüsselposition ein, was mit der ­Stärke des intellektuellen Milieus der Stadt zu erklären ist. An der örtlichen Universität kam es gleichwohl zu keiner nachhaltigen Institutionalisierung der schlesischen Wirtschaftshistoriographie. Als wichtigste Stütze dieser Forschungsrichtung erwies sich der Verein für Geschichte Schlesiens, dessen in der Vereinszeitschrift vorgelegten landesgeschichtlichen Publikationen im besonderen Maße auch wirtschaftliche Fragestellungen berücksichtigten. Aber auch andere Publikationsorgane der Hauptstadt, etwa die Schriftenreihe „Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek Breslau“, wurden für einschlägige Forschungsarbeiten genutzt. Hinzuweisen ist hier besonders auf Arbeiten von Hermann Markgraf und Heinrich Wendt,58 die parallel auch in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens ­publizierten. Markgraf veröffentlichte darüber hinaus eine der ersten Überblicksdarstellungen der ­regionalen Wirtschaftsgeschichte, die 1888 zu Beginn einer Festschrift des Vereins Deutscher Ingenieure abgedruckt wurde.59 Unmittelbar vor Ausbruch des Weltkriegs, 1913, legten Fritz Frech und Franz Kampers aus Anlass des 25jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II. und zur Jahrhundertfeier der Befreiungskriege in zwei Bänden das wissenschaftlich wie auch wissenschaftsgeschichtlich bedeutsame Werk Schlesische Landeskunde vor. Im zweiten, den Geistes- und Kulturwissenschaften gewidmeten Band findet sich aus der Feder von Johannes Ziekursch eine eigenständige Abhandlung zur schlesischen Wirtschaftsgeschichte – sie kann als Bestätigung dafür gesehen werden, dass sich dieses Fachgebiet im Oderland unterdessen zu einer eigenständigen Disziplin entwickelt 58 ������������������������������������������������������������������������������������������� Markgraf, Hermann: Der Breslauer Ring und seine Bedeutung für die Stadt. Breslau 1894 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau 1); Wendt, Heinrich: Die Breslauer Stadt- und Hospital-Landgüter. Breslau 1899 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau 4). 59 Markgraf, Hermann: Geschichtlicher Rückblick auf die Entwicklung des Handels und der Industrie in Schlesien. In: Festschrift zur Feier der XXIX. Hauptversammlung des Vereins Deutscher Ingenieure am 20. August 1888 in Breslau. Breslau 1888, 1–10.

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hatte. Unter dem Einfluss des Gedenkjahres 1913 eröffnete Ziekursch seinen zeittypisch im nationalen Geist geschriebenen Beitrag mit dem Satz: „Wie für die politische Geschichte bildet auch für die Wirtschaftsgeschichte Schlesiens die Germanisierung des Landes das wichtigste, die weitere Entwicklung beherrschende Ereignis.“60 Die Aussage war gewissermaßen ein Vorzeichen für die nur wenig später einsetzende Nationalisierung dieser Forschungsrichtung, die durch die ökonomischen Folgen des Weltkrieges zusätzliche Nahrung erhielt.

60 Ziekursch, Johannes: Schlesische Wirtschaftsgeschichte von der Germanisierung des Landes bis zum 19. Jahrhundert. In: Frech, Fritz/Kampers, Franz (Hg.): Schlesische Landeskunde. Zum 25jährigen Regierungsjubiläum Kaiser Wilhelms II. und zur Jahrhundertfeier der Befreiungskriege, Bd. 1: Naturwissenschaftliche Abteilung, Bd. 2: Geschichtliche Abteilung. Breslau 1913, Bd. 2, 169–193, hier 169.

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Von der „schlesischen Cultur“ zur schlesischen Kulturgeschichte. Zur Entwicklung der Kulturgeschichtsschreibung im Oderland während des langen 19. Jahrhunderts 1. Einleitung Die vorliegende Übersicht bezieht sich auf die im 19. Jahrhundert in Schlesien erarbeiteten Konzepte zu einer Kulturgeschichte Schlesiens. Der Beitrag hat insofern historiographie- und wissenschaftsgeschichtlichen Charakter und setzt sich zum Ziel, die Inhalte und Methoden der schlesischen Kulturgeschichtsschreibung in ihrer zeitlichen Entwicklung darzustellen.1 Von grundlegender Bedeutung ist naheliegenderweise der Begriff der „Cultur“. Er steht unmittelbar mit der wichtigsten Gelehrtengesellschaft Schlesiens im 19. Jahrhundert in Verbindung, der bereits im Jahr 1803 gegründeten, die ersten sechs Jahre allerdings noch unter anderem Namen bestehenden Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Der Begriff „vaterländische Cultur“ setzte implizit ein wissenschaftliches Interesse an den Belangen der Provinz voraus. Er umfasste, ganz modern, die verschiedenen Disziplinen der an vielen Orten entstandenen Akademien, Sozietäten und anderer wissenschaftlicher Vereinigungen und diente, wiederum ganz modern, der Vernetzung der gebildeten Welt, der Kommunikation der Bildungselite Schlesiens und namentlich Breslaus mit den wissenschaftlichen Zirkeln der deutschen und europäischen Metropolen.2 1 Zum Überblick über das Schrifttum vgl. Hübner, Johannes: Bibliographie des schlesischen Musikund Theaterwesens. Breslau 1934; Gruhn, Herbert: Bibliographie der schlesischen Kunstgeschichte. Breslau 1933; Wendt, Heinrich: Katalog der Druckschriften über die Stadt Breslau. Breslau 1903; ders.: Katalog der Druckschriften über die Stadt Breslau I. Nachtrag umfassend die Zugänge von 1903 bis 1913. Breslau 1913; Nentwig, Heinrich: Literatur der Landes- und Volkskunde der Provinz Schlesien umfassend die Jahre 1900–1903. Breslau 1904 (Ergänzungsheft zum 81. Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur). Zur breiteren Einordnung der schlesischen Literaturgeschichte vgl. Kunicki, Wojciech: Germanistische Forschung und Lehre an der Königlichen Universität zu Breslau von 1811 bis 1918. Leipzig 2019. Für ihre Mithilfe bei der Redaktion danke ich Dr. Julianna Redlich. 2 Zach, Franziska: Die „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur“ im 19. Jahrhundert. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 121–142; Gerber, Michael Rüdiger: Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur (1803–1945). Sigmaringen 1988 (Beihefte zum Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 9). Zum kultur- und institutionengeschichtlichen Hintergrund vgl. Bahlcke, Joachim: „Circel gebildeter, gelehrter Männer“.

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Was Breslau betrifft, so bestand dieser Kreis aus Persönlichkeiten, die nicht in erster Linie mit der örtlichen, bis 1811 katholischen Universität verbunden waren. Es war vielmehr ein Zirkel, der sich die „Erleichterung und Belebung des Studiums der Mathematik und sämmtlicher Naturwissenschaften in Schlesien“ zum Ziel gesetzt hatte.3 Der Begriff der „Cultur“ bezog sich in den Anfängen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Schlesien also noch vorrangig auf Naturkunde und Industrie. Er war mit praktischen Interessen des an der Spitze der Verwaltung stehenden Ministers Karl Georg von Hoym verbunden, dessen langjähriger Sekretär Albert Friedrich Zimmermann nicht zufällig eine zentrale Rolle bei der Begründung der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur sowie darüber hinaus im Kreis um die führende Aufklärungszeitschrift Schlesiens, die Schlesischen Provinzialblätter, einnahm. Die Schlesische Gesellschaft, deren Satzung sowohl von Wilhelm von Humboldt als auch von Minister Hoym genehmigt worden war,4 spielte bei der Neugründung der Universität Breslau im Jahr 1811 eine herausgehobene Rolle: „Mit der Verlegung der Frankfurter Universität nach Breslau gewann diese Stadt eine ganz andere geistige Physiognomie, und bei vielen in die Augen springenden Vortheilen zunächst Stoff zur Reibung zwischen Altem und Neuem [...]; die Gesellschaft für vaterländische Cultur war vor Allem das geeignete Mittel, um das Altheimische mit dem fremden Zuwachs zu verbinden und die Theorie dem praktischen Leben zuzuführen.“5 Dieses Ziel wurde besonders durch die Sektionsbildung erreicht: Sie förderte nicht nur die Spezialisierung, sondern auch die Professionalisierung und die Erweiterung des ursprünglich naturwissenschaftlichen Profils der Gesellschaft. Die Entwicklung der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur und der Universität machen deutlich, wie der zunächst praxisbezogene Kulturbegriff auf allen Gebieten der Kunst, Bildung und Wissenschaft im Schlesien des 19. Jahrhunderts sukzessive erweitert wurde.

2. Frühe kulturgeschichtliche Forschungen in der vorromantischen Zeit (1800–1811) Zu den ersten Initiatoren einer schlesischen Kulturgeschichte gehörte Georg ­Gustav Fülleborn, der am Breslauer Elisabeth-Gymnasium wirkte, an dem er seit 1791 Griechisch und Latein unterrichtete, und zudem schriftstellerisch tätig war. Das Konzept Zur Entwicklung, Struktur und inhaltlichen Ausrichtung aufgeklärter Sozietäten in Schlesien während des 18. Jahrhunderts. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 45–71. 3 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Kahlert, August: Geschichte der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Mit urkundlichen Beilagen. [Breslau 1853], 7. 4 Organisations Plan, der von des in Schlesien dirigirenden Geheimen Staats Ministres, Herrn Grafen von Hoym Excellenz unterm 22. September 1804 approbirten Gesellschaft zu Beförderung der Natur-Kunde und Industrie Schlesiens. In: Schlesische Provinzialblätter 40 (1804) 355–369. 5 Kahlert: Geschichte der Schlesischen Gesellschaft, 16.

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eines thematisch vielseitigen Almanachs, das in Fülleborns 1799 und 1800 publizierten Nebenstunden zu finden ist,6 wurde auch für die Wochenschrift Der Breslauische Erzähler übernommen.7 Von der 14. Ausgabe vom 5. April 1800 bis zu seinem Tod im Jahr 1803 arbeitete Fülleborn als Redakteur der Zeitschrift, deren wichtigster Autor er selbst war. Das zu Beginn des Jahres 1800 begründete Periodikum hatte die Ausrichtung einer moralischen Wochenschrift, allerdings mit stark vaterländisch-patriotischen und lokalpatriotischen Akzenten. Die Zeitschrift bot im Kern noch das alte aufklärerische Gedankengut an, schilderte aber auch Sitten und Bräuche in der schlesischen Hauptstadt wie in der gesamten Provinz. Gerade im Hinblick auf diese Bestrebungen öffnete sich Der Breslauische Erzähler für die neue geistige Strömung der Romantik. Die spezifische Mischung aus aufgeklärtem Sendungsbewusstsein und präromantischer Regionalisierung wird in der Vorrede Fülleborns zum zweiten Jahrgang seiner Zeitschrift aus dem Jahr 1801 deutlich, wo es heißt: „Es soll auch in diesem nicht an Belehrung und Unterhaltung gebrechen; wir werden auch in diesem bald eine Gegend oder Sitte unsers Vaterlandes beschreiben, bald eine Sage der Vorzeit erneuern, bald eine Oertlichkeit erklären, bald das Gedächtniß eines edlen Todten oder die Verdienste und guten Thaten eines Lebenden feyern, bald einen schädlichen Aberglauben angreifen, bald ein dunkles Wort, einen unbestimmten Namen, einen unrichtigen Ausdruck aufzuklären, zu bestimmen und zu berichtigen haben bald eine unterhaltende Geschichte oder anziehende Anekdoten einstreuen, bisweilen eine Reihe weiser Sprüche und Lebensregeln sammeln, dann und wann ein fröhliches Lied oder ein ernstes Gedicht mittheilen, und es nie an Stoff zum Rathen und Kopfzerbrechen, an der mysthischen Schaar der Räthsel, Charaden und Logogriphen fehlen lassen.“8 Der Breslauische Erzähler ist insofern nicht nur eine wichtige Quelle, um die Inhalte der schlesischen Kulturgeschichtsschreibung zu bestimmen, er erweist sich auch gleichsam als konzeptuelles Zentrum für eine neue, romantische Sicht auf eben jene Kulturgeschichte, die sich bereits im Herderschen Sinn der breiten ­Volksüberlieferung zuwandte. Neben dem Breslauer Präromantiker Fülleborn waren aber auch andere Kreise und Personen von Bedeutung, die noch den Prämissen der Aufklärung huldigten; diese Intellektuellen, die sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert im Umkreis von Provinzialminister Hoym und der Zeitschrift Schlesische Provinzialblätter bewegten, sind unverändert ernst zu nehmen, auch wenn sie eher dem älteren Begriff von „Cultur“ anhingen. Zu den wichtigen Zeugnissen der schlesischen Kulturgeschichtsschreibung müssen nicht nur die Ausgaben Litterarische Beilagen der Schlesischen Provinzialblätter gezählt 6 Fülleborn, Georg Gustav: Nebenstunden, 1. und 2. Stück. Breslau 1799–1800. 7 Nitschak, Karl-Heinz: Georg Gustav Fülleborn (1769–1803). Ein Beitrag zur schlesischen Literaturgeschichte. Würzburg 1940. 8 [Fülleborn, Georg Gustav]: Ein freundliches Wort an unsre Leser. In: Der Breslauische Erzähler 2/52 (1801) 829–830.

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werden,9 wobei der Begriff „Litteratur“ hier noch die Gesamtheit des Schrifttums umfasste. Bedeutsam waren überdies Werke wie Johann Gottlieb Schummels Breslauer Almanach für den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts,10 weil sie sich ein literarisches Abbild der Breslauer Bildungselite zum Ziel setzten. Einen weiteren Zweig der Kulturgeschichte bilden die zahlreichen Reisebeschreibungen, etwa zum Riesengebirge, das durch Joseph Karl Eduard Hoser eine Vielzahl von Darstellungen erfuhr.11 Für die Kulturgeschichte Oberschlesiens wiederum ist vor allem – obwohl der Titel dies nicht anzudeuten schien – Schummels Werk Reise durch Schlesien im Julius und August 1791 von höchster Aussagekraft.12

3. Kulturgeschichtliche Forschungen im Zeichen der Romantik: Johann Gustav Gottlieb Büsching und Friedrich Kruse Die Anbindung der einzelnen Sektionen der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur an die zugehörigen Professuren an der Universität Breslau erlaubte einerseits eine Spezialisierung der einzelnen kulturgeschichtlichen Wissensbereiche. Andererseits entstand durch diese spezifische Konstruktion, besonders in den ersten Jahrzehnten, auch eine gewisse Abhängigkeit der Schlesischen Gesellschaft von den jeweiligen Forschungsbereichen der Universitätsdozenten. So war die Schwerpunktsetzung der 1819/20 wiederhergestellten historisch-geographischen Sektion eng mit den geographisch-historischen Interessen Friedrich Kruses verbunden; auch Johann Gustav Gottlieb Büsching

19 Gerber, Michael Rüdiger: Die schlesischen Provinzialblätter 1785–1849. Sigmaringen 1995 (Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte 27). 10 Schummels Breslauer Almanach für den Anfang des neunzehnnten Jahrhunderts, Th. 1. Breslau 1801. Bereits die zeitgenössischen Rezensenten merkten an, dass es sich bei dem Werk ­keineswegs um ein bloßes biographisches Lexikon handelte; vielmehr stünde ein breiter Begriff von „Cultur“ im Zentrum: In dem Werk finde man „die mannichfaltigste biographische Unterhaltung, und zum Theil sehr merkwürdige Lebensumstände und Bildungsgeschichten der verschiedenen Subjecte, in dem der Vf. eigenen Manier behandelt, gelegentliche Raisonnements und Anekdoten aller Art, die man hier nicht erwähnt zu finden erwartete [...] und über allerley interessante Gegenstände, (z. B. die Einführung der Kuhpocken Inoculation in Breslau, durch den Dr. Friese, Korns französisches Museum, die Kunstschule zu Breslau unter Bachs Direction u. dgl.) gelegentliche Beyträge zur Kenntnis des Charakters der Schlesier, und vorzüglich mannichfaltige Proben von der Fortdauer ihrer Neigung und ihres Talents zur Dichtkunst“. Allgemeine Literatur-Zeitung, Bd. 4, Nr. 333 (1801) 422–423, hier 422. 11 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Hoser, J[oseph] K[arl] E[duard]: Das Riesengebirge in einer statistisch-topographischen und pittoresken Uebersicht mit erläuternden Anmerkungen und einer Anleitung dieses Gebirge auf die zweckmäßigste Art zu bereisen, Bd. 1–2. Wien u. a. 1803–1804. 12 Schummel, Johann Gottlieb: Reise durch Schlesien im Julius und August 1791. Breslau 1792 [ND hg. v. Wojciech Kunicki. Berlin 1995 (Schriften der Stiftung Haus Oberschlesien. Literaturwissenschaftliche Reihe 5)].

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leitete, gemäß der Denomination seiner Professur an der Universität, die Sektion für bildende Künste und Alterthümer und brachte dort eigene Interessen ein.13 Auf der anderen Seite wird deutlich, dass die aktiven Mitglieder der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur sowie die Professoren der Universität als Sektionsleiter keineswegs in einem Elfenbeinturm saßen und sich – weitgehend von der Gesellschaft abgekoppelt – ausschließlich ihrer Wissenschaft widmeten, sondern vielmehr eine aktive Rolle in der Künstlerwelt Breslaus einnahmen: als Dichter, Kritiker und Berichterstatter von Ausstellungen. So sprach beispielsweise 1820 der Leiter der physikalischen Sektion der Schlesischen Gesellschaft, Henrik (Heinrich) Steffens, während der zweiten allgemeinen Sitzung über „die Bedeutung und die Vortheile provinzieller Kunstausstellungen“.14 Der Rektor des Elisabethanums und Gelegenheitsdichter Johann Karl Wilhelm Geisheim wiederum, der Sekretär der pädagogischen Sektion war, beehrte die Hörer mit einem Vortrag über den Tod Herzog Heinrichs II. von Schlesien in „gebundener Rede“.15 Ihre Einbindung in das Gesellschafts- und Kulturleben begünstigte die tiefere Erforschung der schlesischen Kulturgeschichte – und dies gilt so auch für weitere Autoren während des gesamten19. Jahrhunderts. Es ist offenkundig, dass die Romantik die Erforschung der Geschichte, der Literatur, des Rechts und allgemein der Kultur- und Geisteswissenschaften beflügelte. Insofern ist die ältere Feststellung, die Germanistik sei letztlich ein Kind der Romantik, durchaus richtig. In Breslau lässt sich dieser Zusammenhang an der Berufung Friedrich Heinrich von der Hagens als Ordinarius für Germanistik exemplarisch bestätigen.16 Auch in Schlesien gab dies der kulturwissenschaftlichen Forschung, wie das Œuvre von Johann Gustav Gottlieb Büsching und Friedrich Kruse zeigt, einen mächtigen Schub. Nicht zu übersehen sind dabei freilich auch Richtungskämpfe, was die konkrete Umsetzung der ministerial geregelten Forschungsaufgaben betraf. In Breslau saß der mit amtlichen Vollmachten ausgestattete Büsching fest im Sattel,17 an anderen Orten Schlesiens dagegen war er nicht unumstritten.18 Büsching war allerdings nicht der Typus eines Gelehrten, der umfassendere, methodisch reflektierte Abhandlungen schrieb. 13 Kersken, Norbert: Die Begründung institutionalisierter landesgeschichtlicher Forschung im frühen 19. Jahrhundert: Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829) im Kontext der zeitgenössischen schlesischen Historiographie. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert. Wien/Köln/ Weimar (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 28), 131–158. 14 Correspondenz der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 1. Breslau 1820, 261. 15 Ebd., 265. Der Text des Gedichts in Geisheim, Johann Karl Wilhelm: Gedichte, Bd. 2. Breslau 1839, 396–408 (Herzog Heinrichs Heldentod bei Wahlstatt 1241). 16 Kunicki: Germanistische Forschung und Lehre, 11. 17 Kinne, Johanna: Die Klassische Archäologie und ihre Professoren an der Universität Breslau im 19. Jahrhundert. Eine Dokumentation. Dresden 2010, 23. 18 Hałub, Marek: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829. Ein Beitrag zur Begründung der schlesischen Kulturgeschichte. Wrocław 1997. Zu Büschings Tätigkeit im Bereich der Archäologie vgl. Kinne: Die Klassische Archäologie, 23–72.

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Er begann seine Tätigkeit an der Universität Breslau im Jahr 1815 mit Vorlesungen über Diplomatik und vaterländische Geschichte.19 Sein 1790 in Oldenburg geborener akademischer Gegenspieler Kruse, der nach dem Studium zunächst als Geschichtslehrer an der Ritterakademie in Liegnitz tätig gewesen war, bot seit dem Wechsel an das Magdalenen-Gymnasium in Breslau 1820 auch Vorlesungen an der Universität an. Darüber hinaus engagierte er sich in den örtlichen Geschichts- und Kulturvereinen. Der Konflikt zwischen Büsching und Kruse, zwischen einem Anhänger der aufgeklärten und einem Vertreter der romantischen Kulturgeschichte, wird besonders deutlich in der Auseinandersetzung um ein Werk, das Kruse 1819 in Leipzig publiziert hatte: Budorgis oder etwas über das alte Schlesien vor Einführung der Christlichen Religion besonders zu den Zeiten der Römer nach gefundenen Alterthümern und den Angaben der Alten.20 Büsching verfasste zu diesem Werk eine umfangreiche Rezension.21 Eines der zentralen Probleme von Kruses Werk war die Interpretation römischer, bei ­Schweidnitz gefundener Artefakte, die Büsching zwar erst im Herbst 1822 für das Museum Schlesischer Alterthümer ankaufte, die aber sowohl ihm als auch Kruse bereits seit 1818 bekannt waren. Kruse fertigte eine Beschreibung der Funde an und schickte diese, zusammen mit einer Reihe von Abbildungen, an das Berliner Kultusministerium. Bei seinem Gesuch um einen Ankauf der Funde machte Büsching später darauf aufmerksam, dass diese bereits zum Teil von Kruse in dessen Werk Budorgis beschrieben worden seien.22 Soweit zu den äußeren Rahmenbedingungen. Vergleichen wir nun die beiden Erzählungen über den Zobtenberg, um die Unterschiede zwischen einer aufgeklärten, von Büsching betriebenen, und einer romantischen Kulturgeschichte Schlesiens, wie sie von Kruse vertreten wurde, zu veranschaulichen. Für Kruse war der Zobtenberg ein herausgehobener Ort im Oderland, identisch mit dem ptolemäischen Asciburgium, das seiner Lage wegen für ein zentrales Heiligtum geeignet gewesen sei.23 Durch die vergleichende Mythenforschung angeregt, konstruierte Kruse den Zobtenberg als einen Ort des zentralen Kultus einer Gottheit, die nordische und klassische Züge in sich vereinigte: „Wir sehen also hieraus, daß dieser Sabazius eben so der Sonnen Gott gewesen sey, als der ältere Odin der nördlichen Völkerstämme, daß seine Verehrung auf einem Berge geschehen und zwar in runden Tempeln [...], und ich halte ebenfalls dafür, daß der Zobtenberg ein Centralpunct der Verehrung des ältesten Odins, Wodens oder Heerführers gewesen ist, der hier auch noch unter seinem Thracischen Namen bekannt 19 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Sign. IHA Rep. 76 Va Sek. IV. Tit 4, Nr. 1, Bd. 3, Bl. 184 r–v. 20 Kruse, Friedrich: Budorgis oder etwas über das alte Schlesien vor Einführung der Christlichen Religion besonders zu den Zeiten der Römer nach gefundenen Alterthümern und den Angaben der Alten. Leipzig 1819. 21 [Büsching, Johann Gustav Gottlieb:] Rezension zu Kruse: Budorgis. In: Wiener Jahrbücher der Literatur 9 (1820) 134–163. 22 Kinne: Die Klassische Archäologie, 52f. 23 Kruse: Budorgis, 12.

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war.“24 Die Bacchanalien, die auf dem Zobtenberg einst vermeintlich stattgefunden hätten, wurden nach Auffassung Kruses durch die Schweidnitzer Funde bestätigt: „Sollten die in Schweidnitz gefundenen Priapen etc. wirklich so alt seyn können, so würde dadurch Herodots Versicherung, daß sie durch die aus den Griechischen Handelsstädten zu ihnen geflohenen Gelonen nach Art der Griechen Tempel, Götterbilder und Altäre gehabt, bestätigt werden, – und warum sollten wir diesem geradezu widersprechen, da in andern Gegenden noch ältere Idole gefunden sind.“25 Nicht genug, neben dem Heiligtum, das der Sonnengottheit (Sabazius) gewidmet gewesen sei, habe sich, wie Kruse behauptete, unter dem Gipfel des Zobtenberges überdies ein der Mondgöttin gewidmetes „Dianeum“ befunden: „Die Verehrung dieser beyden Gottheiten auf dem Zobtenberge in den ältesten Zeiten ist also ziemlich wahrscheinlich, so wie das, daß der Berg ein Centralpunct der Asen gewesen sey.“26 Diese gewagten Deutungen des Zobtenberges, einschließlich der daraus resultierenden Visionen Kruses, waren für Büsching schlicht unhaltbar. Geographisch und kulturell sah er den Berg wie sein Freund Georg Carl Friedrich Kunowski im historischen und geographischen Kontinuum der aufgeklärten Zeit. Die Erkenntnis der Lage und das geographische Bewusstsein des zentralen Beobachtungspunkts waren für die Aufklärer viel wichtiger als Spekulationen zu den früher einmal auf dem Berg existierenden Heiligtümern. Büschings Rezension von Kruses Budorgis war gerade deshalb vernichtend, weil sie an den zentralen Punkten der romantischen Schau ansetzte, die vor allem mit der vergleichenden Religions- und Mythenforschung verbunden waren.

4. Weitere Facetten kulturgeschichtlicher Forschung in Schlesien bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts: Friedrich Heinrich von der Hagen und Heinrich Hoffmann von Fallersleben Die Freundschaft mit dem Herausgeber Carl Schall, der in der schlesischen Hauptstadt seit 1820 die Neue Breslauer Zeitung herausgab, hatte zur Folge, dass Friedrich Heinrich von der Hagen – seit 1811 Extraordinarius für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Breslau – zu diesem Blatt in Kontakt kam. In Form von Briefen publizierte er dort eine Reihe von Artikeln, in denen er Informationen über Breslauer Altertümer in verständlicher Form präsentierte. Dies hing auch damit zusammen, dass es nach 1810 zu massiven Eingriffen in die örtliche Bausubstanz gekommen war. Man hatte zahlreiche ältere Gebäude kurzerhand abgerissen, darunter zwei bedeutende gotische Bauwerke: das Nikolaitor und das Tuchhaus. Hagen und der ihm nahestehende Büsching wiesen erstmals auf diese Zerstörungen hin, hatten aber keinen Erfolg damit, die öffentliche Meinung für ihr Anliegen zu gewinnen. Büsching hatte sich hierzu bereits 24 Ebd., 127. 25 Ebd., 128. 26 Ebd., 132.

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1816 in seinen Wöchentlichen Nachrichten zu Wort gemeldet und erbittert über das in der Stadt grassierende neue „Unwesen“ geschrieben: „Eine gerechte Würdigung und Anerkennung der Schlesien nur spärlich zugemessenen Werke Altdeutscher Kunst fand noch nicht statt, auch hat eine Scheu, die Werke der Altvorderen nicht zu verletzen, keinesweges Platz gegriffen, was nicht gerade in den Tageskram taugt, wird oft ohne Schonung zerstört. So lange ein solches Unwesen herrscht, so lange man sich nicht scheut, eines der vorzüglichsten Denkmäler der alter Bildhauerkunst, das Nikolai-Thor, umreissen zu wollen, so lange wollen wir uns nur ruhig bescheiden, daß Kunstsinn in Schlesien noch nicht erwacht ist, wenigstens nicht unter denen, die solche Denkmäler hegen und pflegen wollen.“27 Von der Hagen war im Jahr 1816 zu einer fünfzehnmonatigen Reise durch Deutschland, die Schweiz und Italien aufgebrochen, um Kunstdenkmäler und Handschriften zu studieren28 – und hat über diese Reise später auch ausführlich berichtet: Seine in Briefform vorgelegten Reiseeindrücke richteten sich in erster Linie an das Publikum in Breslau, in dessen Gesellschaft er unterdessen gut integriert war.29 In den Briefen konstruierte er zahlreiche Bezüge zwischen den auf seiner Reise betrachteten Sehenswürdigkeiten und bekannten Breslauer Artefakten. Deutlich wird dies zum Beispiel bei der Beschreibung des „großen Leuchters aus dem Tempel Salomons zu Jerusalem“, der sich in der „dunklen“ Sigismundkapelle des St.-Veit-Domes befand. Ähnlich wie für Friedrich Raumer, der einen Bericht darüber in den Wöchentlichen Nachrichten Büschings veröffentlichte,30 war auch für Hagen „der kaum sichtbare Fuß“ das Merkwürdigste. Er bestand nach Auffassung Hagens zur Gänze „aus einem seltsamen Gewirre von kleinen Männern in Kampf und vielfältiger Verschlingung mit Löwen, Lindwürmern und andern Ungeheuern“.31 Zudem nahm Hagen eine Ähnlichkeit mit altdeutscher, aber „Vor-Gothischer Baukunst“ wahr, wie sie auch „an der großen Seitentüre der Magdalenen-Kirche zu Breslau“ zu sehen sei. Dabei berief er sich auf den bereits genannten Aufsatz Büschings im dritten Band von dessen Wöchentlichen Nachrichten.32 Als Hagen sich auf der Nürnberger Burg die Gemäldesammlung „bei dem Buchhändler Frauenholz“ und „bei dem Hauptmann von Derschau“ ansah, bemerkte er, dass die „Italischen Bilder nur in eine antik gebaute helle, nackte Kirche [gehören], wie die neue in Brüssel, die Jesuitenkirchen in Breslau 27 B[üsching], [ Johann Gustav Gottlieb]: Die Prachtthür der heil. Maria-Magdalenen-Kirche zu Breslau. In: ders. (Hg.): Wöchentliche Nachrichten für Freunde der Geschichte, Kunst und Gelahrtheit des Mittelalters, Bd. 3. Breslau 1817, 139–143. 28 ��������������������������������������������������������������������������������������� Grunewald, Eckhard: Friedrich Heinrich von der Hagen 1780–1856. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Germanistik. Berlin/New York 1988 (Studia Linguistica Germanica 23), 22. 29 Hagen, Friedrich Heinrich von der: Briefe in die Heimat aus Deutschland, der Schweiz und Italien, Bd. 1–4. Breslau 1818–1821. 30 Raumer, Friedrich: Reisenachrichten. In: Büsching (Hg.): Wöchentliche Nachrichten, Bd. 3, 19– 26, 214–218, hier 20. 31 Hagen: Briefe in die Heimat, Bd. 3, 11. 32 Ebd., 12.

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und hier in München“, die er persönlich allerdings gar nicht betrachten möge.33 Er erwähnte auch ein kleines Bild von Albrecht Dürer (Christus mit der Dornenkrone, einsam in der Nacht dasitzend) und verglich es mit einem Bild von Annibale Carracci, das sich in der Privatsammlung des Hofrats Karl Daniel Friedrich Bach zu Breslau befinde.34 Beim Anblick der neuen Promenaden in Regensburg habe er folgende Empfindung gehabt: „Dann sind die Festungswerke ringsum, abgetragen und in die herrlichen schattigen Spaziergänge umgewandelt, wie die Breslauer nie werden können, schon weil der schöne Strom und der nahe Hintergrund des bergigen Donauufers fehlen.“35 Hagen eröffnete seine Betrachtungen zu den altdeutschen Kunstwerken in Breslau in der Neuen Breslauer Zeitung Schalls mit einem Beitrag zum Nikolaitor, mit dessen Abriss man bereits begonnen hatte, und ging vor allem auf dessen religiöse Skulpturen ein.36 Hagens Betrachtung wurde von Büsching ergänzt, der den Lesern von Plänen des Architekten Carl Gotthard Langhans berichtete, die Bildwerke auf der Stirnwand der in Planung befindlichen Elftausend-Jungfrauen-Kirche anzubringen.37 Mit dem Zyklus Wanderungen durch das alte Breslau, der vollständig an den Aufsatz zum Nikolaustor anknüpfte, begann Hagen im Dezember 1820.38 Die Verdienste Heinrich Hoffmann von Fallerslebens für die schlesische Kulturgeschichte wiederum sind bereits vielfach gewürdigt worden.39 Mit seinen Textsammlungen, Aufsätzen, Zeitschriften und vor allem mit seinen Anregungen an seine Schüler, unter denen besonders August Timotheus Kahlert, Karl Weinhold und Gustav Freytag zu nennen sind, spielte der streitbare Germanist eine bedeutende Rolle. Auch andere profitierten von seinen Forschungen. So wurde das von ihm gesammelte Material zu Schriftstellern aus Schlesien von Karl Gabriel Nowack in einem großangelegten Nachschlagewerk zusammengeführt.40 Nowack verstand sein Werk als Fortsetzung älterer 33 Ebd., 54. 34 Ebd., 56. 35 Ebd., 63. Ebd., 105, verglich Hagen Theater und Publikum in München und Breslau. Bei der Beschreibung der Einfassungen von alten Kirchenkalendern verglich er die Umschläge mit „dem uralten Rhedigerschen Evangelienbuche zu Breslau“ (ebd., 107). Weitere Beispiele ließen sich ergänzen. 36 Ders.: Das Nikolai-Tor zu Breslau. In: Neue Breslauer Zeitung, Nr. 34 vom 28. Februar 1820, 367–368. Der Beitrag erschien auch in: Kunst-Blatt 61 (1820) 241–242. 37 �������������������������������������������������������������������������������������������� Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Künftige Aufstellung des Bildwerkes am Breslauer Nikolaitor. In: Neue Breslauer Zeitung, Nr. 43 vom 15. März 1820, 499. 38 Hagen, Friedrich Heinrich von der: Wanderungen durch das alte Breslau. In: Neue Breslauer Zeitung, Nr. 197 vom 9. Dezember 1820, 2456–2457; ders.: Wanderungen [Fortsetzung]. Ebd., Nr. 199 vom 16. Dezember 1820, 2516–2517; ders.: Wanderungen [Fortsetzung]. Ebd., Nr. 206 vom 30. Dezember 1820, 2611–2612. 39 Hałub, Marek: Im schlesischen Mikrokosmos. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Eine kulturgeschichtliche Studie. Wrocław  2005; ders./Schuster, Kurt G. P. (Hg.): Hoffmann von Fallersleben. Internationales Symposium Wrocław/Breslau 2003. Bielefeld 2005. 40 Nowack, Karl G.: Schlesisches Schriftsteller-Lexikon oder bio-bibliographisches Verzeichnis der im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts lebenden schlesischen Schriftsteller, H. 1. Breslau 1836.

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Arbeiten Hoffmann von Fallerslebens, vor allem von dessen Monatsschrift von und für Schlesien von 1829.41 Auch Hofmanns Konzept einer umfassenden schlesischen Literaturgeschichte wurde von einem anderem Wissenschaftler, seinem Schüler August Timotheus Kahlert, verwirklicht. Hoffmann von Fallersleben war ein Gelehrter, der sich in seinen Forschungen der neueren deutschen Literatur widmete, der dabei aber nicht nur die lebenden schlesischen Dichter im Blick hatte, sondern auch ältere Epochen und andere Themen wie Volkslieder oder Mundarten im Oderland behandelte.

5. Am Beginn einer schlesischen Volkskunde: Die Sprach- und Mundart-Forschungen Karl Weinholds Hoffmanns Interesse an den verschiedenen Mundarten Schlesiens wurde Mitte der 1840er Jahre von Karl Weinhold aufgegriffen.42 Als der Breslauer Germanist Theodor Jacobi ihn 1846 in Reichenbach besuchte, fassten beide den Plan, Intellektuelle in ganz Schlesien zur Sammlung mundartlicher Wörter und Redewendungen aufzurufen. Weinhold bereitete daraufhin einen Aufsatz zur Erforschung der schlesischen Mundart vor. Ende 1846 sprach Jacobi mit dem Historiker Gustav Adolf Harald Stenzel über die Möglichkeit, die Studie zu veröffentlichen. Stenzel empfahl die Publikation daraufhin im nächsten Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Sie erschien aber separat. Was Weinhold schließlich vorlegte, war nichts anderes als eine kleine Grammatik der schlesischen Mundarten, die bei der Aufzeichnung des Wortschatzes und der grammatischen Eigenschaften behilflich sein sollte.43 Seine Forschungen betrachtete Weinhold als eine nationale Pflicht: „Das Erforschen der Volksmundarten ist darum keine Gelehrtengrille oder kein Kuriositätensammeln, sondern es ist eine Pflicht für jeden, der den Theil nimmt an dem Volke, dessen Glied er ist, es ist eine Rundschau, aus der man zur Selbstschau eingeht.“44 Weinhold berief sich auf eigene Erfahrungen mit der Volkssprache und betonte die Ursprünglichkeit des Ausdrucks im Kontrast zur Vornehmheit der Gebildeten. An seine Landsleute richtete er daher den Appell: „Wir wollen das Volksleben des deutschen Schlesiens einer durchgehenden Erforschung unterwerfen und dies durch eine Bearbeitung der deutsch-schlesischen Mundarten tun.“45 Dieser Appell glich älteren Aufrufen der Brüder Grimm zur Schaffung eines deutschen Wörterbuchs. Was Schlesien betrifft, so war er der erste Ausdruck einer Verbundenheit der akademischen Germanisten mit dem „Volk“ in dessen 41 Ebd., IV. 42 Weinhold, Karl: Ueber deutsche Dialectforschung. Die Laut- und Wortbildung und die Formen der schlesischen Mundart. Ein Versuch. Wien 1853. 43 Ders.: Aufforderung zum Stoffsammeln für eine Bearbeitung der deutsch-schlesischen Mundart. Reichenbach 1847. 44 Ebd., 1. 45 Ebd., 2.

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regionaler Ausprägung. Weinhold stand zwar 1847 noch am Anfang seiner Laufbahn, legte jedoch schon zu jenem frühen Zeitpunkt einen Grundstein für die Begründung einer „Gesellschaft“, die ihre Ausprägung in drei institutionalisierten und von ihm direkt angeregten Formen finden sollte: in der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde (gegründet 1894), im Germanistischen Seminar (1877) sowie im Germanistischen Verein in Breslau (ebenfalls 1877). Die Korrespondenten wurden aufgefordert, zuerst das Wörterbuch zu bearbeiten, wobei sie mit besonderem Nachdruck Begriffe aus dem Bereich der Landwirtschaft berücksichtigen sollten. Überdies verfolgte man die Absicht, den Einfluss der slawischen Sprachen auf das Schlesische näher zu bestimmen. Zu diesem Zweck sollten alte Handschriften und besonders Flugblätter herangezogen werden. Weitere Ziele bestanden in der Schaffung einer Grammatik sowie einer sprachlichen Landkarte Schlesiens, die nicht nur die Grenze zwischen slawischen und deutschen, sondern auch die Grenzen der drei von Weinhold definierten Mundarten Schlesiens aufzeigen sollte. Adressat dieser Erhebungen sollte der Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens sein. Seine Forschungen blieben in Schlesien jedoch ohne jede Rezeption, wie der enttäuschte Weinhold 1853 feststellen musste – obwohl ihn „Jacob Grimm einer Erwähnung in seiner Geschichte der deutschen Sprache für wert gehalten und dadurch manche veranlaßt [habe], von ihm Kenntnis zu nehmen“.46 Das hatte immerhin eine gewisse Nachfrage nach dem mittlerweile vergriffenen Heft zur Folge. Weinhold entschloss sich im Sommer 1851 zu einer Überarbeitung seines Textes. „Dabei ist auß den grammatischen kurzen Fragen des Entwurfes eine schlesische Laut- und Formenlehre aufgewachsen“,47 wie er festhielt. Weinhold beschrieb das Oderland als einen Raum mit mehrfacher kultureller Identität: „Die geschichtlichen Verhältnisse des Landes, durch welche es biß in die neuere Zeit dem südöstlichen Deutschland politisch verbunden war, die Einmauerung zwischen Polen Mären und Czechen, die Mischung auß slavischem und deutschem Blute, die Kolonisation aus mereren deutschen Stämmen, bedingen die Abweichungen welche dem schlesischen eigen sind.“48 Auf den 1. März 1854 ist die bei Nischkowsky in Breslau verlegte Broschüre Friedrich Pfeiffers datiert: Aufforderung zum Stoffsammeln für eine Bearbeitung der deutschschlesischen Mundart. Pfeiffer berief sich darin auf die 1847 erschienene Schrift Weinholds (der zu dieser Zeit bereits Professor in Graz war), merkte aber an, dass diese „in den Stürmen des Jahres 1848 noch vor der eigentlichen Vertheilung an das Publikum“ fast spurlos untergegangen sei.49 Pfeiffer, der sich gewissermaßen als Fortsetzer des 46 47 48 49

Ders.: Ueber deutsche Dialectforschung, IV. Ebd. Ebd., 15. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1861 zu den schlesischen Mundarten berief sich Weinhold auf die Broschüre Pfeiffers: „Es ist daher jetzt die letzte Zeit, das altschlesische grammatisch und lexikalisch zu verzeichnen und es bleibt um so mehr zu bedauern, daß die von mir 1847 und von Dr. Friedrich Pfeiffer 1854 erlassenen Aufrufe, uns bei Bearbeitung der schlesischen deutschen Mundart durch Beiträge an Lauten und Worten zu unterstützen, so wenig Antwort veranlaßten.“

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Weinholdschen Werks verstand und auch sehr gute Kontakte zu Heinrich Rückert pflegte, erwähnte auch dessen weitere Veröffentlichungen zur schlesischen Mundart, die aufgrund des früheren Aufrufs entstanden waren.50 Für seine Arbeit bat er „alle gebildeten Schlesier“ um Unterstützung. Es ist durchaus möglich, dass Weinhold die Aufgabe, ein solches schlesisches Wörterbuch sowie darüber hinaus die Grundlagen für eine schlesische Volkskunde zu erarbeiten, Pfeiffer persönlich übertragen hatte.51 Gleich zu Beginn wird aber noch eine andere Absicht erkennbar. Hatte Weinhold die schlesische Volkskunde als Quelle für das entstehende schlesische Wörterbuch und die schlesische Grammatik betrachtet, so wollte Pfeiffer neben den sprachwissenschaftlichen Forschungen auch die volkskundliche Schiene ausbauen. Nach den vorrangigen Aufgaben – also etwa der Aufzeichnung von Vokalen und Konsonanten52 oder Fragen der Konjugation und der Deklination – forderte Pfeiffer seine Korrespondenten auf, volkskundliche Untersuchungen vorzunehmen und beispielsweise auch Informationen zu Volkstänzen, Spielen, Volkstrachten, volkstümlichen Gebräuchen, zu Sprichwörtern und Erzählungen, aber auch zu Dienstverhältnissen und Ähnlichem zusammenzutragen. Pfeiffer war sich dessen bewusst, dass es hier nicht nur um Beobachtungen zur schlesischen Mundart gehen konnte, sondern dass es galt, „alles Volkstümliche, wie es sich beim Schlesier vorfindet“, näher zu bestimmen.53 Als weitere Ziele schwebten ihm eine Karte der schlesischen Mundarten sowie eine Auswertung von Altdrucken und Handschriften vor.54 Sein Programm – das er in diesem Fall nicht mit dem Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens abstimmte, sondern mit den Mitarbeitern der Schlesischen Provinzialblätter – ließ sich zwar nicht wie beabsichtigt umsetzen, doch stellte es den Anfang umfangreicherer Forschungen zu den schlesischen Mundarten und zur Volkskunde im Oderland dar, die in Breslau dann von Rückert, Friedrich Vogt und Wolf von Unwerth weiterentwickelt wurden.55 Auch als Sprachforscher machte Weinhold sich einen Namen. Seine Schrift Die Verbreitung und die Herkunft des Deutschen in Schlesien, die 1887 in Stuttgart erschienen war, wurde in der Breslauer gelehrten Welt sehr wohlwollend aufgenommen. Sie entsprach offensichtlich den national-liberalen Vorstellungen des Bürgertums über die Weinhold, Karl: Schlesien in sprachlicher Hinsicht. In: Schlesische Provinzialblätter N. F. 1 (1862) 521–524, hier 524. 50 Ders.: Beiträge zu einem schlesischen Wörterbuche. Anhang zum XIV. Bande der Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der kaiserl. Akademie der Wissenschaften. Wien 1855. 51 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., 4: „Die volle Ausführung war mir nicht beschieden, sondern ist auf andere Hände übergegangen, welche hoffentlich das Ganze durchführen werden.“ 52 Er berief sich dabei auf Weinholds Werk Ueber deutsche Dialectforschung. Ebd. 53 Pfeiffer, Friedrich: Breslauische Sprichwörter. In: Die deutschen Mundarten. Eine Monatsschrift für Dichtung, Forschung und Kritik 3 (1863) 241–253, 408–419. 54 Ebd. 55 Unwerth, Wolf von: Das Entwicklungsgebiet der schlesischen Mundart. In: Siebs, Theodor (Hg.): Festschrift zur Jahrhundertfeier der Universität zu Breslau. Breslau 1911, 155–177. Zu Wolf von Unwerth vgl. Kunicki, Wojciech: Germanistik in Breslau von 1918 bis 1945. Dresden 2002, 34f.

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nationale Entwicklung in Schlesien. Überdies hatte sich Weinhold weitgehend auf die Entwicklung der deutschen Sprache beschränkt und war nur am Rande auf die Bedeutung slawisch-polnischer Sprach- und Kultureinflüsse eingegangen. Der Aufsatz stellte den Ansatz zu einer Kultur- und Sprachgeschichte Schlesiens dar und verfolgte das Ziel, Prozesse der Eindeutschung zu beschreiben. Weinhold gebrauchte die später im Nationalitätenkampf gebrauchten Begriffe „Germanisierung“ oder „Germanisation“, ohne sie als wertend-politische Kategorien zu verstehen. Sein Ansatz ist dreigeteilt: historisch, volkskundlich und letztlich sprachwissenschaftlich, wobei die früheren Studien des Breslauer Gelehrten zu deutschen Mundarten eine tragbare Grundlage bildeten. Was ihn vorrangig beschäftigte, war die Ausbreitung der deutschen Sprache. Die Frage nach dem Fortbestehen des Polnischen in Oberschlesien wurde mit dem Hinweis auf die katholische Geistlichkeit, politische Hetzer oder ungebildete Bevölkerungskreise abgetan. Nichtdestotrotz zeugen die akribischen Versuche, Sprachgrenzen festzulegen, von den komplizierten Eindeutschungsprozessen in Schlesien. Nahezu unerträglich für die borussisch geprägten Historiker wie Colmar Grünhagen, mit dem Weinhold polemisierte, war der Satz, der das zweite Kapitel der Schrift eröffnete: „Aus den vorangegangenen Mitteilungen über die Ausbreitung der Deutschen in Schlesien hat sich deutlich ergeben, dass ein grosser Teil der heute in diesem Lande deutsch redenden Menschen von Slaven, grösstentheils von Polen abstammt.“56 Im Zentrum von Weinholds Interesse standen somit diejenigen Menschen, die im 12. und 13. Jahrhundert nach Schlesien eingewandert waren und „von denen die Germanisation des Landes“ ausgegangen war.57 Ebenso verfuhr er mit den Ortsnamen. Der dritte Komplex bezog sich auf die Bezeichnungen zu Haus und Hof. Im vierten Teil, der „Volkstümliches“ betitelt war, polemisierte er gegen die in weiten Teilen Deutschlands verbreitete Unkenntnis Schlesiens und charakterisierte das Brauchtum sowie die Volkskultur (konkret: die Volkslieder) der deutschen Schlesier. Die Schrift vereinigt wissenschaftsgeschichtlich gesehen mehrere Aspekte in sich. Erstens handelt es sich um ein Programm der volkskundlichen Forschung für Schlesien. Weinhold zeigte im Aufbau und in der Methodik seiner Abhandlung die Möglichkeiten auf, die ein interdisziplinärer Zugriff eröffnet. Zweitens interessierten ihn die sprachlichen und volkstümlichen Entwicklungen in Bezug auf deutsche Sprache und Kultur; dabei verlor er aber keineswegs die polnischen und tschechischen Kultureinflüsse aus den Augen. Umgekehrt betonte er die Wichtigkeit der polnischen Sprach- und Ortsnamenforschung in Bezug auf Schlesien und berief sich auf seine Zusammenarbeit mit dem polnisch-schlesischen Sprachforscher Joseph Lompa. Weinholds kulturelle Zielvorstellung war freilich mit dem Sieg der deutschen Leitkultur verbunden.58 Er wusste über 56 Weinhold, Karl: Die Verbreitung und die Herkunft der Deutschen in Schlesien. Stuttgart 1887, 198. 57 Ebd. 58 Ebd., 190. Weinhold berief sich auf einen Brief von Joseph Lompa vom 26. Juli 1846, in dem dieser die polnischsprachigen Gebiete Schlesiens erwähnte. Theodor Siebs charakterisierte die Rolle

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die politischen Missbrauchsmöglichkeiten der so betriebenen Forschung Bescheid, war aber von der kulturellen Heterogenität des Landes überzeugt, die sich auch innerhalb der rein deutschen Einflusssphäre zeigte.

6. Die endgültige Etablierung volkskundlicher Forschung in Schlesien Die Rolle Weinholds und seiner Schüler bei den Forschungen zur schlesischen Volkskunde war also entscheidend. Es ist somit kein Wunder, dass der Berliner Ordinarius von seinen ehemaligen Breslauer Kollegen nach Gründung der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde59 am 29. Juni 1894 folgendes Telegramm erhielt: „Dem Vorstande der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde ist es eine Ehre und Freude, Ihnen, hochverehrter Herr Geheimrat, die erste Mitteilung von der erfolgten Gründung dieser Gesellschaft pietätsvoll zu machen. Vogt, Holz, Jiriczek, Nehring, Volz, Wagner.“60 Friedrich Vogt war der Vorsitzende der Gesellschaft, Władysław Nehring dessen Stellvertreter, der Bankier Albert Holz fungierte als Schatzmeister, der Privatdozent Otto Luitpold ­Jiriczek als Schriftführer, der Direktor des Breslauer Friedrichs-Gymnasiums Berthold Volz als stellvertretender Schatzmeister, der Oberlehrer am Matthias-Gymnasiums August Wagner als stellvertretender Schriftführer.61 Das Lehrer-Schüler-Verhältnis kann man an zwei Aspekten sehen: zum einen bei der praktischen Arbeit der von Weinhold ausgebildeten Schullehrer, zum anderen im Verhältnis Vogts zu Weinhold, der in Berlin die Gesellschaft für Volkskunde und eine Fachzeitschrift gegründet hatte. Die Festschrift zu Weinholds fünfzigjährigem DokLompas bei der Erforschung der Sagenwelt Schlesiens in Zusammenarbeit mit Weinhold wie folgt: „Wenn er in seiner Heimat eine Sammlung von Sagen zusammenbrachte, die auf seine Anregung durch oberschlesische Beiträge des Lehrers Josef Lompa vermehrt wurden – im Juli 1850 sollte leider dieser zum Teil unersetzbare Stoff bei dem großen Brande von Krakau zu Grunde gehen (die Lompa’schen Sammlungen freilich sind handschriftlich auf die Breslauer Stadtbibliothek gekommen und von Nehring in den ‚Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde‘, Heft III, S. 3f. verwertet worden.)“ Siebs, Theodor: Karl Weinhold. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 19. Jahrhunderts. Breslau 1922 (Schlesische Lebensbilder 1), 133– 140, hier 134f. 59 ���������������������������������������������������������������������������������������� Bönisch-Brednich, Brigitte: Volkskundliche Forschung in Schlesien. Eine Wissenschaftsgeschichte. Marburg 1994; Siebs, Theodor: Schlesische Volkskunde (Mit einem Anhange von Kgl. Oberlandmesser Karl Hellmich). In: Frech, Fritz/Kampers, Franz (Hg.): Schlesische Landeskunde. Zum 25jährigen Regierungsjubiläum Kaiser Wilhelms II. und zur Jahrhundertfeier der Befreiungskriege, Tl. 1: Geschichtliche Abteilung. Leipzig 1913, 351–410. Schon der Umfang des Aufsatzes legt ein Zeugnis von der damaligen Bedeutung der Volkskunde ab, zu der Siebs auch „Sprache und Dichtung“ des Mittelalters rechnete. 60 Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Briefwechsel Friedrich Vogts. 61 Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 1/1 (1894/95) 1: Verzeichnis der Mitglieder, Vorstand.

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torjubiläum erlaubt einen Blick in den Kreis seiner Freunde und Schüler. Neben den Germanisten Wilhelm Creizenach und Friedrich Vogt, dem Breslauer Sanskrit-Forscher Alfred Hildebrandt, dem Leipziger Volkskundler Eugen Mogk, dem Breslauer Orientalisten Siegmund Fraenkel, dem Greifswalder Privatdozenten Theodor Siebs sowie dem Breslauer Anglisten und Nordisten Otto L. Jiriczek gab es mehrere Autoren, die als Lehrer in Schlesien oder in der Provinz Posen arbeiteten. So lieferte Paul Drechsler aus Jauer einen Aufsatz zur Handwerkssprache und zum Handwerksbrauch, Franz Schroller aus Rawitsch schrieb etwas zur Charakteristik des schlesischen Bauern, Otto Warnatsch aus Beuthen beschäftigte sich mit Sif, Thors Gattin, Paul Regell aus Hirschberg beleuchtete „Etymologische Sagen aus dem Riesengebirge“. Die an Weinhold gerichteten Worte Vogts sind keineswegs als Kompliment zu werten: „Sie haben insbesondere durch Ihre Schriften zur schlesischen Mundart die Grundlage zu einer Wissenschaft der schlesischen Volkskunde gelegt; Sie haben als akademischer Lehrer in Breslau unter Ihren Schülern Sinn und Liebe auch für dieses Studium geweckt und Sie haben sich ihm selbst durch gelegentliche Veröffentlichungen wie durch Fortführung Ihrer Sammlungen bis auf die Gegenwart treu erwiesen“.62 Vogt informierte Weinhold über die Entwicklung der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde. Erst nach dessen Tod versuchte er, eine zentrale Volkskundegesellschaft zu schaffen, womit er offensichtlich scheiterte. Die Bedingungen für die Entwicklung der volkskundlichen Forschungen bei den Schullehrern, die vom Enthusiasmus der wilhelminischen Ära angesteckt wurden, waren hervorragend. 1876 erschien der Beststeller des Breslauer Professors Felix Dahn Ein Kampf um Rom, der das Interesse für die gotische und die altdeutsche Sprache verstärkte. Weinhold war derjenige, der in den Augen seiner Schüler den Glanz der Anfänge der Germanistik mit dem modernen patriotischen Aufschwung verband: „Er ragte aus der Heroenzeit der deutschen Altertumsforschung herüber. Ihn, der noch zu Füssen Jacob Grimms und Karl Lachmanns gesessen hatte, Geist von ihrem Geiste war und ihre hohen Ueberlieferungen fortsetzte, umfloß von vornherein für uns Jüngere ein Strahlenkranz der Verehrung und Pietät.“63 Als die wichtigsten Epigonen Weinholds lassen sich Heinrich Rückert und Paul Pietsch charakterisieren. Rückert war der vielleicht bedeutendste Erforscher der schlesischen Dialekte im Mittelalter. Seine Ergebnisse veröffentlichte er in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens.64 Der gesamte Text erschien als Broschüre bei Ferdinand Schöningh in Paderborn 1878, herausgegeben von dem in Kiel habilitierten Germanisten Paul Pietsch, einem Schüler Rückerts. Pietschs Absicht war es, 62 Vogt, Friedrich: Zum 14. Januar 1896. In: Beiträge zur Volkskunde. Festschrift Karl Weinhold zum 50jährigen Doktorjubiläum am 14. Januar 1896 dargebracht im Namen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde. Breslau 1896, I. 63 Müller, Conrad: Germanistische Erinnerungen. Der Alma Mater Vratislaviensis zum Jubelstrauß gebunden. Berlin 1911, 16. 64 �������������������������������������������������������������������������������������������� Rückert, Heinrich: Entwurf einer systematischen Darstellung der schlesischen deutschen Mundart im Mittelalter. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 7 (1866) 1–34; 8 (1867) 1–30, 235–266; 9 (1868) 27–72, 311–345; 11 (1870) 97–120, 328–343.

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auf der Grundlage des handschriftlichen Nachlasses und weiterer Nachforschungen in der Breslauer Stadtbibliothek die von Rückert zitierten Sprachzeugnisse gründlich zu belegen. Darüber hinaus brachte er für jede Spracherscheinung eine noch größere Zahl von Belegen bei, wobei er die von Rückert gering geschätzte „geistliche Prosaliteratur mit populärer Tendenz“ heranzog.65 Darüber hinaus fügte Pietsch dem Text noch eine Quellenanthologie an. Rückert bekam Unterstützung durch den Oberbibliothekar Georg Anton Korn, Pietsch hingegen stand der Breslauer Oberbibliothekar Karl Dziatzko zur Seite.66 Rückert musste sich auf die Forschungen von Weinhold beziehen, wobei er bemerkte, dass seine Methode notwendigerweise eine Umkehrung des Weinholdschen Forschungsansatzes war: „W[einhold] geht von dem lebendigen Sprachstand der Gegenwart aus, und registrirt ihn mit so großer Einsicht und Genauigkeit, dass für einen späteren Arbeiter auf diesem Gebiete jedenfalls nur eine bescheidene Nachlese übrig bleibt.“67 Rückerts Vorgehensweise war die umgekehrte, „da sie sich die Erklärung des Dialektes im Mittelalter zum Ziel gesetzt hat und sich wenn nicht ausschließlich so doch vorzugsweise auf unbekanntes, wenigstens ungedrucktes und zu diesem Zwecke unbenutztes Material gründet“.68 Die Arbeiten zu den schlesischen Mundarten wurden im frühen 20. Jahrhundert dann durch Theodor Siebs und Wolf von Unwerth fortgesetzt.

7. Anfänge der Literaturgeschichtsschreibung in Schlesien: August Timotheus Kahlert und Max Koch Die ersten Arbeiten zur schlesischen Literaturgeschichte sind mit dem Namen des Breslauer Professors der Philosophie August Timotheus Kahlert verbunden. Die in den 1840er Jahren vorherrschenden ästhetischen Vorstellungen prägten Kahlerts einzigartige Schrift Schlesiens Antheil an deutscher Poesie, die 1835 in Breslau erschien.69 Es handelte sich um eine regionale Literaturgeschichte, die noch weit davon entfernt war, Konzepte einer biologistisch untermauerten Stammesgeschichte zu konstruieren; das Werk wurzelte vielmehr im Konzept zur Überwindung der deutschen Teilung, das in 65 Ders.: Entwurf einer systematischen Darstellung der schlesischen deutschen Mundart im Mittelalter. Mit einem Anhange enthaltend Proben altschlesischer Sprache. Hg. v. Paul Pietsch. Paderborn 1878, V. 66 Der in Oberschlesien geborene Karl Dziatzko war von 1872 bis 1886 Oberbibliothekar an der Universitätsbibliothek in Breslau. 67 Rückert: Entwurf einer systematischen Darstellung der schlesischen deutschen Mundart, 16. 68 Ebd. Eine Rezension von Franz Lichtenstein erschien in: Zeitschrift für deutsches Alterthum 24 (1881) 60–64. Lichtenstein warf Rückert vor, die grammatischen Erscheinungen nicht genügend von den graphischen unterschieden zu haben. Er lobte Pietschs’ Sorgfalt bei der Ergänzung und Berichtigung der Quellen, tadelte aber auf das Schärfste dessen Abschrift der mittelalterlichen Quellentexte, die der Autor im Anhang publiziert hatte. 69 �������������������������������������������������������������������������������������������� Rezensionen des Werks erschienen in: Literarischer Zodiacus, November (1835) 371­–373; Blätter für literarische Unterhaltung 278 (1835) 1147–1148 (Karl Ludwig Kannegießer).

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der nationalliberalen Literaturgeschichtsschreibung eines Georg Gottfried Gervinus seinen Ausdruck fand. „Ein äußerer Vereinigungspunkt deutscher Volkseigenthümlichkeit, wie ihn andre europäische Völker in ihren Hauptstädten hatten, hat nie existirt. Der deutsche Literaturhistoriker hat also, wie früher Abbt, kürzlich der geistreiche Gervinus richtig bemerkten, die provinziellen Literaturgeschichten, die Eigenthümlichkeiten der einzelnen deutschen Volksstämme zu erforschen, und je mehr jeder einzelne Literator sein Streben umgränzt, desto eher wird er dem Ganzen nützen.“70 Im Folgenden sollen die Vorstellungen Kahlerts zu zwei Epochen der deutschen Literaturgeschichte in Schlesien überprüft werden: dem Mittelalter und später dem (erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts so genannten) Barock. Das schlesische Mittelalter hatte nach Kahlert deshalb keine bedeutenden schriftlichen Dokumente hervorgebracht, weil es der „polnischen Sitte, Sprache und Denkweise“ treu geblieben sei.71 Das Beharren bei diesen Sitten war für Kahlert mit dem „Schlafe roher Barbarei“72 gleichzusetzen, als „im Süden und Westen von Deutschland bereits der Frühling der Poesie seine Blüthen ausstreute“.73 Bereits im Mittelalter sei Schlesien in den Genuss einer aus Deutschland „hereindringenden Cultur“ gekommen. Es verwundere insofern nicht, dass einer Darstellung der mittelalterlichen Kultur in Deutschland das Prädikat des rein Menschlichen zukomme, wobei das „arme“ Schlesien, das in „zerstörender barbarischen Zügellosigkeit“ lebte,74 kaum eine Poesie habe bieten können. Von initiatorischem Charakter für die Entwicklung der (deutschen) Kultur in Schlesien war für Kahlert die Schlacht an der Wahlstatt, die eine lateinische Hedwigslegende hervorgebracht hatte.75 Die Tatsache, dass die Legende 1504 in deutscher Übersetzung bei Baumann in Breslau gedruckt wurde, war für Kahlert ein Zeugnis für die Volkstümlichkeit des Stoffes, also für den deutsch-nationalen Charakter der Legende. So suchte der Autor, wie auch andere (vor allem romantisch geprägte) Silesiographen vor ihm, nach den volkstümlichen Stoffen und glaubte, sie in den Legenden und Liedern zu finden. Zu dem ursprünglich schlesischen Legendenkreis gehörten seiner Überzeugung nach die Legenden vom Rübezahl: „Nachrichten über ihn finden sich in unzähligen Chroniken und kleinen Volksschriften, die sich allmählich vergriffen haben.“76 Unschwer sind hier Anklänge an die romantische Idee der „teutschem Volksbücher“ von Joseph Görres zu finden, zumal sich Kahlert bei der Nennung von Quellen lediglich auf den sehr späten Friedrich Lucae berief. 70 Kahlert, August: Schlesiens Antheil an deutscher Poesie. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte. Breslau 1835, 1. Kahlert berief sich hier auf Abbt, Thomas: Vom Tode fürs Vaterland. Neue vermehrte Ausgabe. Berlin 1790, sowie auf Gervinus, Georg G[ustav]: Zur Geschichte deutscher Nationalliteratur. Heidelberg 1834, 63f. 71 Kahlert: Schlesiens Antheil an deutscher Poesie, 6. 72 Ebd., 7. 73 Ebd. 74 Ebd., 8. 75 Ebd., 10. 76 Ebd., 11.

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Insgesamt sah Kahlert Schlesien als ein Land an, in dem deutsche und „slawische“ Überlieferungen in einer kämpferischen Spannung koexistierten, wobei die „Logik der Geschichte“ das fortschrittliche Kulturelement, das heißt das deutsche, begünstige.77 Gerade an diesem Punkt, abgesehen von der Prädominanz des deutschen „Culturbegriffes“, der gut hegelianisch mit dem Geist der Geschichte gleichzusetzen war, formulierte Kahlert ein folgenschweres Postulat: „An einer einigermaßen genügenden Sammlung schlesischer Sagen und Mährchen, insbesondere auf historische Forschung gestützt, fehlt es ganz.“78 Es fehlte auch an einer Erforschung der slawischen Sagen, die eine Grundlage der schlesischen Sagen bildeten, bemerkte Kahlert, indem er sein hegelianisches „Kulturträgertum“ vergaß und sich auf das alte Postulat von Johann Gustav Gottlieb Büsching berief, auch die slawische Überlieferung in Schlesien zu erforschen.79 Die barocke Dichtung wertete Kahlert als Ausdruck von Konventionen ab, verstand aber durchaus, „weshalb zwischen ihm [dem Dichter, W. K.] und dem Zuschauer und Zuhörer ein gegenseitiges stillschweigendes Übereinkommen zu täuschen und getäuscht zu werden, besteht“.80 Kahlert war also durchaus geneigt, diese Dichtung nicht als Ausdruck einer „Degenration“, sondern als Spiel zwischen dem Dichter und dem Leser zu interpretieren. Kahlert schrieb seine Abhandlung in bewusster Anlehnung an den Aufsatz von Hoffmann von Fallersleben Zur Geschichte der schlesischen Poesie (1829), der unumwunden seine Absicht verriet: „Vor beinahe fünf Jahren entwarf ich den Plan zu einer Geschichte der deutschen Poesie in Schlesien vom 16ten Jahrhunderte an bis über den Anfang des 18ten hinaus.“81 Daraus war nichts geworden, obwohl Hoffmann tüchtig Material gesammelt hatte, wovon seine Opitz-Bibliographie aus dem Jahr 1838 Zeugnis ablegt.82 Kahlert, der doch sein Werk geschrieben und veröffentlicht hatte, das Vorhaben Hoffmann von Fallerslebens also verwirklichte, schaute recht kritisch auf dessen Torso, der über gewisse bibliographische Vorbereitungen und mehr oder weniger zufällige Funde nicht hinausgekommen war: „Wenn Hoffmann klagt, daß über A. Scultetus Viele übersehen worden, die besseres Loos verdient hätten, so wiederholt er nur seine und Anderer gerechte Klage über Abneigung vieler Literaturhistoriker gegen selbstständige Forschung, indessen führt er nicht lauter Schriftsteller als Beispiele auf, die in 77 Ebd., 12. 78 Ebd., 12. Kahlert nannte die Intellektuellen, die sich damit bis dato (also bis 1835) beschäftigt hatten: Georg G. Fülleborn, Karl Geisheim, Johann Gottlieb Bergemann, Agnes Franz, Carl Friedrich Mosch, Johann Gustav Gottlieb Büsching, für Oberschlesien Ferdinand Minsberg und Karl Wunster. 79 [Büsching, Johann Gustav Gottlieb]: Zwergsagen. In: Wöchentliche Nachrichten für Freunde der Geschichte, Kunst und Gelahrtheit des Mittelalters, Bd. 1. Breslau 1816, 289–290. 80 Kahlert, August: System der Aesthetik. Leipzig 1846, 253. 81 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich: Zur Geschichte der schlesischen Poesie. In: Monatsschrift von und für Schlesien 1 (1829) 1–48, hier 1. 82 ������������������������������������������������������������������������������������������ Ders.: Martin Opitz von Boberfeld. Vorläufer und Probe der Bücherkunde der deutschen Dichtung bis zum Jahre 1700. Leipzig 1838.

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der That der Aufbewahrung würdiger erschienen, als Scultetus, mindestens bei dessen Lehrer Chrysostomus Scholz (geb. Löwenberg 1607 gest. als Schulmann in Breslau 1664) und anderen sonst gleichverdienten Gelehrten ist dieß nicht nachgewiesen.“83 Die Hauptprämisse Kahlerts zielte allerdings auf die Abschwächung des Vorwurfs einer Inferiorität der barocken Dichtung, einer These, die Hoffmann von Fallersleben durchaus vertrat. „Die große Fülle derselben schreckte nicht weniger von deren genauerer Durchforschung ab, als das Vorurtheil, welches, wenn man so sagen darf, mit der allgemeinen Restauration der deutschen Poesie nach Klopstock gegen die ganze Richtung erwuchs.“84 Die Modernität Kahlerts zeigt sich nicht nur im Nachweis einer Kontinuität der Opitzschen Inspirationen bei Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, verbunden mit der Ablehnung der stark irreführenden Bezeichnung von zwei schlesischen Schulen, nicht nur bei der soziologischen Feststellung der gelehrten Grundlage der barocken Dichtung, sondern auch bei der Charakteristik des Zustands der Dichtung und der literarischen Kultur im 16. Jahrhundert in Deutschland. Kahlert knüpfte direkt an die Feststellung Ludwig Wachlers von der Entwicklung der Gelehrsamkeit in Schlesien an und relativierte die Meinungen Friedrich Ludewig Bouterwecks und Karl August Kobersteins, Schlesien sei deshalb dichterisch so entwickelt gewesen, weil dieses Land „mit am wenigsten von dem dreißigjährigen Kriege gelitten“.85 Als überzeugter Hegelianer lehnte Kahlert auch die Meinung Johann K. F. Mansos ab, 86 lediglich „in Opitzens Kraft“ müsse man die Ursachen der späteren erfolgreichen Entwicklung sehen.87 Himmelweit entfernt waren die kritischen und eher ästhetisch motivierten Diagnosen Kahlerts von der nationalistisch anklingenden Feststellung Hoffmann von Fallerslebens: „Opitz war kein deutscher Dichter, weder der Form noch dem Stoffe nach; er war kein Dichter, welcher der Gefühls- und Anschauungsweise unseres Volkes gemäß, und wie es der Geist der deutschen Sprache verlangt, dichtet; er war ein Dichter, der sich nur der deutschen Worte bediente, um den Gelehrten und Adelichen, also nicht dem Volke, sondern seinen bevorrechteten Ständen die Ergebnisse seiner Gelahrtheit in poetischer Form wiederzugeben.“88 Die Schrift Schlesiens Antheil an deutscher Poesie war auch 83 Kahlert: Schlesiens Antheil, 49. Der verdeckte Seitenhieb richtete sich gegen den berechtigten Vorwurf Hoffmann von Fallerslebens, man interessiere sich für Scultetus nur deshalb, weil sich auch Lessing für ihn interessiert habe. Kahlert schwächte diesen Vorwurf ab, indem er Hoffmann von Fallerslebens Interesse für Samuel von Butschky bei der Aufwertung seines Stils fast übertrieben betonte. Ebd. 48. 84 Ebd., 49. 85 Ebd., 37. 86 ������������������������������������������������������������������������������������������� Manso, Johann K. F.: Martin Opitz und einige seiner Nachfolger. In: Charaktere der vornehmsten Dichter aller Nationen; nebst kritischen und historischen Abhandlungen über Gegenstände der schönen Künste und Wissenschaften von einer Gemeinschaft von Gelehrten, Bd. 6/1 (Nachträge zu Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste [8/1]). Leipzig 1800, 141–178. 87 Ebd. 88 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich: Politische Gedichte aus der deutschen Vorzeit. Leipzig 1843, 212. Zum Barockbild des Autors vgl. den kritischen Aufsatz von Merzbacher, ­Dieter: Barockforschung ohne Barockbegriff. Das 17. Jahrhundert im philologischen und litera-

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ein Stein des Anstoßes zwischen ihm und seinem Breslauer Mentor, der mit dem, was Kahlert geleistet hatte, durchaus unzufrieden war. Davon zeugt ein undatierter Brief des Autors an Hoffmann von Fallersleben, wohl aus dem Jahr 1835.89 Kahlert war es gelungen, die von Hoffmann von Fallersleben initiierten beziehungsweise angeregten Arbeiten zur Literaturgeschichte Schlesiens erfolgreich weiterzuentwickeln, was auch seine Studie zu Angelus Silesius,90 zwei Aufsätze zu Daniel Czepko91 sowie Beiträge zu den Handschriften Lessings bezeugen. Selbstverständlich war Kahlert nicht der Einzige, der sich in der Zeit von 1835 bis zum Weltkrieg für deutsche Literaturgeschichte in Schlesien interessierte – ­zumindest kursorisch seien hier Karl Eitner,92 August Kutzen,93 Theodor Paur94 und Hermann Palm95 erwähnt. Bezüglich der Rolle, die Gustav Freytags Werke im Selbstverständnis der Kulturschaffenden spielten, gerät zudem Max Koch in den Fokus der Betrachtung. Der Ordinarius für Neue Deutsche Literaturgeschichte Koch ist als einer der einflussreichsten Intellektuellen im Breslau der beiden letzten Dezennien vor dem Weltkrieg anzusprechen. Das markanteste Beispiel für sein Verständnis der Literaturgeschichte Schlesiens ist der Aufsatz, den er in dem prominenten, Kaiser Wilhelm II. gewidmeten Werk Schlesische Landeskunde veröffentlichte, das 1913 zum 100. Jahrestag der Befreiungskriege erschien.96 Koch begann mit dem für ihn „angesehensten litterischen Werk Hoffmanns von Fallersleben. In: Behr, Hans-Joachim/Blume, Herbert/Koch, ­Eberhard (Hg.): A. H. Hoffmann von Fallersleben 1798–1998. Festschrift zum 200. Geburtstag. Bielefeld 1999, 239–256. 89 Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Nachlass H. von Fallersleben. Briefe von August Kahlert an August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, o. O. o. J., Bl. 3–4. 90 Kahlert, August: Angelus Silesius. Eine literar-historische Untersuchung. Mit zwei urkundlichen Beilagen. Breslau 1853. Eine wichtige Rezension veröffentlichte Robert Prutz in: Deutsches Museum 2 (1854) 70–71. 91 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Kahlert, August: Daniel von Czepko. In: Litterarisches Taschenbuch. Hg. v. Robert Prutz. Hannover 1844, 133–152. Auch Hoffmann von Fallersleben erkannte die Bedeutung des CzepkoAufsatzes von Kahlert klar, obwohl es für ihn typisch war, Verdienste des Kollegen ein wenig herabsetzend zu präsentieren. Vgl. Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich: Daniel Czepko. In: Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich/Schade, Oskar (Hg.): Weimarisches Jahrbuch für deutsche Sprache, Literatur und Kunst, Bd. 2. Hannover 1855, 283–290. 92 ����������������������������������������������������������������������������������������� Eitner, Karl: Schlesiens Bedeutung in dem Entwicklungsgange der neuesten Kunst und schönwissenschaftlichen Literatur. Eine kunsthistorische und kunstphilosophische Skizze. In: Schlesische Provinzialblätter 105 (1837) 12–22, 102–115, 198–212, 289–300, 407–414. 93 Kutzen, August: G. E. Lessing in seinem Welt- und Kriegsleben, seinem Wirken und Streben zu Breslau. Breslau 1861. 94 ������������������������������������������������������������������������������������������� Paur, Theodor: Über den Piastus des Andreas Gryphius. Ein Beitrag zur Geschichte der schlesischen Poesie. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Altherthum Schlesiens 2 (1859) 167–181. 95 Palm, Hermann: Beiträge zur Geschichte der deutschen Literatur im 16. und 17. Jahrhundert. Breslau 1877. 96 Koch, Max: Litteraturgeschichte Schlesiens. In: Frech/Kampers (Hg.): Schlesische Landeskunde, Geschichtliche Abteilung, 265–289.

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rarischen Vertreter Schlesiens“, Gustav Freytag, und dessen Zyklus Die Ahnen. Darin hatte Freytag eine Abfolge von Geschlechtern geschildert, die mit dem Wandalenfürsten Ingo, der seine schlesische Heimat verlassen hatte und nach Thüringen sowie an den Oberrhein ausgewandert war, beginnt und mit der Revolution des Jahres 1848 endet. Um die deutschen Anfänge Schlesiens zu untermauern, griff Koch auf das Beispiel seines Freundes, des Breslauer Rechtshistorikers Felix Dahn, und dessen Roman Gelimer zurück, der die traurigen Schicksale des letzten aus Schlesien stammenden Wandalenkönigs schilderte. Koch ging es in erster Linie um die Betonung des deutschen Charakters des Landes, das durch den Stamm der wandalischen Sillingen den Namen erhalten habe. Der Trick, den Koch hier anwandte, indem er mit den modernen Romanen die germanische Vorzeit konstruierte und aus ihr den kulturellen Charakter des Landes entwickelte, wiederholte er in seinem zweiten Schritt: Da sich jedes Volk in seinen Ursprüngen auf ein eigenständiges Nationalepos berufe, müsse auch Schlesien diese Norm erfüllen. Allerdings brauche das, so Koch, kein Gedicht zu sein, es genüge vielmehr der epische Hintergrund, der sich in den Werken künftiger Literatur manifestieren werde. Dieser Hintergrund wurde durch die Schlacht bei Wahlstatt geschaffen, und die künftigen Werke, die diesen Hintergrund bearbeiten sollten, fand Koch durchaus bei den gegenwärtigen Schriftstellern: „Noch 1912 wurde sogar außerhalb der Heimat auf dem Geraer Hoftheater Konrad von Klinggräfs ‚dramatisches Stück deutscher Geschichte Herzog Heinrich der Fromme von Schlesien oder die Tartarenschlacht bei Liegnitz‘ mit Erfolg gegeben.“97 Damit bezog er sich auf meist unterhaltungsliterarische Werke mit dem Thema Schlesien aus dem 19. Jahrhundert, also aus der Kochschen Gegenwart, die für ihn als eine Zeit besonderer Kulturblüte galt. Diese Werke sollten das Unbekannte des schlesischen deutschen Mittelalters oder der deutschen Vorzeit in Schlesien deuten. Sie knüpfte an das Scherersche Konzept der „wechselseitigen Erhellung“ an, nach dem „das Deutliche, Vollständige [...] zur Erläuterung des Undeutlichen, Unvollständigen, weniger Bekannten; namentlich der Gegenwart zur Erläuterung der Vergangenheit“ diene.98 In seiner Suche nach weiteren Parallelen betonte Koch die Bedeutung der Heiligen Hedwig für „die schlesische Dichtung“, die ähnlich wie die der Heiligen Elisabeth für „die thüringische Sagendichtung“ zu betrachten sei. Somit wird die lateinische Hedwigslegende ebenso erwähnt wie auch der Baumgartsche Druck aus dem Jahr 1504. Der Leser erfährt nichts über die Form, den Inhalt und die Bedeutung dieser Werke, aber darum ging es auch nicht, sondern um die Betonung des deutschen Charakters des Landes in der Fortschrittsperspektive des nationalen Lebens. Ähnlich verfuhr Koch 97 Ebd., 266. Koch war ein ausgezeichneter Kenner der zeitgenössischen historischen Dramen, über die er in Zarnckes Zeitschrift Schöne Literatur berichtete. Selbstverständlich waren in diesem Drama die Polen an der Niederlage schuld, weil sie vorzeitig das Schlachtfeld verlassen hätten, was auch Koch in seinem Aufsatz hervorhob. 98 Meyer, Richard M. (Hg.): Wilhelm Scherer: Poetik. Berlin 1988, 67; Rosenberg, Rainer: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Berlin 1981, 101–128.

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mit den Minneliedern Heinrichs IV. von Pressla. Dieser sei „Schlesiens Vertreter in der höfischen Lyrik der mittelhochdeutschen Blütezeit“. Und wieder berief sich Koch auf ein zeitgenössisches Werk, um die Bedeutung des Herzogs als Dichter zu betonen: auf den Roman des Breslauer Bürgermeisters Karl Jänike Herzog Heinrich IV. von Breslau aus dem Jahr 1900. Hier war Koch immerhin ein wenig präziser und charakterisierte die beiden Lieder nach der Übersetzung von Wilhelm Storck. Nach der Erwähnung des Epos Die Kreuzfahrt Ludwigs des Frommen von Thüringen, das nach Koch bereits „Merkmale der Verfallszeit“ trug,99 ging er ziemlich unvermittelt zu den Memoiren des Ritters Hans von Schweinichen über, der den Verfall der höfischen Sitten beschrieb, was Koch in Parallele zur mittelhochdeutschen Versnovelle Meier Helmbrecht setzte. Selbstverständlich berichtete der detailverliebte Koch über die Um- und Nachdichtungen Schweinichens. Die Absicht Kochs bei der Schilderung der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit war es keineswegs, das Spezifische der schlesischen Entwicklung zu zeigen, sondern umgekehrt: diejenigen Tendenzen zu markieren, die mit der Entwicklung der nationalen Literatur zusammenhingen, obwohl Schlesien daran „einen äußerst bescheidenen Antheil“ hatte.100 Ein wenig breiter wird aus verständlichen Gründen (wegen Kochs Begeisterung für Wagner) die ­Tätigkeit ­Puschmanns und der Breslauer Singschulen des 16. Jahrhunderts besprochen, was aber nur mittelbar zur Geschichte der Literatur in Schlesien passt. In die Gleise der nationalen Dichtung kam Koch erst mit dem Auftreten von Opitz, dem schmale sechs Seiten (selbstverständlich unter Berufung auf Clemens Brentanos Gedicht über die Ankunft von Opitz in Heidelberg und Erwin Guido Kolbenheyers Meister Pausewang) gewidmet wurden. Bei Scultetus und Logau wurden Lessings Bemühungen um diese Dichter rühmend erwähnt. Als „echte Poesie“ wurde das Werk Cherubinischer Wandersmann gelobt: Andreas Gryphius wirke zwar „fremdartig“, es spreche aber „aus diesen Sonetten, Kirchhofsgedanken und schwerfälligen Alexandrinertragödien“ eine „machtvolle, tiefgründige Persönlichkeit zu uns“.101 Es überrascht nicht, dass die beiden Vertreter der zweiten schlesischen Schule, Hoffmannswaldau und Lohenstein, regelrecht beschimpft werden: „Lüsternheit und schamlose Ausmalung geschlechtlicher Dinge gilt als notwendiger Bestandteil dieser galanten Poesie.“102 Johann Christian Günther betrieb laut Koch Erlebnisdichtung, außerdem sei er die einzige Persönlichkeit in der ganzen zweiten schlesischen Schule.103 Das 18. Jahrhundert verursachte dem Literaturhistoriker Koch eine entschiedene Schwierigkeit. Erstens gab es hier keine bedeutenden Persönlichkeiten, mit Ausnahme des Philoso199 100 101 102

Koch: Litteraturgeschichte Schlesiens, 268. Ebd., 271. Ebd., 298. Ebd., 280. Bei dieser Gelegenheit verdammte Koch den Naturalisten Arno Holz, der in seinen „Freß- Sauff- und Venusliedern des berühmten Schäfers Daphnis“ die barocke Poetik persifliert habe. 103 Ebd., 280f. Hier zitierte Koch das berühmte Dictum Goethes über Günther.

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phen Christian Wolff, zweitens habe erst die preußische Zeit das „vorbereitet“, was „in Zukunft“ möglich geworden sei. Schon die Besitzergreifung Schlesiens habe lediglich den späteren Dichtern Stoffe geliefert (Koch nannte hier den Romancier Fedor Sommer, den Dramatiker Artur Müller aus Neumarkt und Rudolf von Gottschall mit seinem Roman Im Banne des schwarzen Adlers von 1876). Das hieß, dass der angebliche kulturelle Aufschwung des Landes unter den Hohenzollern keine bedeutenden Werke und Persönlichkeiten hervorgebracht habe. An der deutschen Klassik beteiligte sich Schlesien negativ, nämlich durch den Xenienkampf Goethes und Schillers mit dem Breslauer Rektor Kaspar Friedrich Manso. Geradezu vernichtend behandelte Koch das Gedicht Die Gesundbrunnen von Valerius Friedrich Neubeck. Seine Rhetorik zielte allerdings nicht auf die Charakteristik des Gedichts, sondern die ihm unverständlichen Tatsache, dass der „strenge romantische Kritiker Wilhelm August Schlegel [...] in uns überschwänglich erscheinender Weise das altmodische Lehrgedicht des Arztes Valerius Wilhelm Neubeck in Steinau“ gepriesen hatte. Gerade an der Regionalgeschichte des 18. Jahrhunderts zeigt das Scherersche Blütezeiten-Modell seine Gebrechlichkeit, weil ganze Bereiche des Literarischen (Gebrauchs- und Unterhaltungsliteratur, Anthologien, Theaterstücke, Schultheater, Zeitschriften, Verleger, Lesekultur) mangels der vermeintlich großen Persönlichkeiten ausgeklammert wurden. Als literatursoziologische Erscheinung erwähnte Koch lediglich die schlesischen Musenalmanache. Mangels einer literarischen oder kulturellen Periodisierung hielt Koch das Jahr 1813 für eine besondere Zäsur in der Literatur Schlesiens, indem er feststellte, dass sich die „meisten und besten“ Sänger der Befreiungskriege in Breslau „zu dem heiligen Kampfe“ gerüstet hätten. Zum Beleg dieser These wurde Joseph von Eichendorff herangezogen (obwohl er offensichtlich keine Befreiungskriegslieder gedichtet hatte104) und sofort zu „Schlesiens größtem Dichter“ gekürt.105 Die 104 Ebd., 284. Der Satz Kochs, „Nun zog der ritterliche Jüngling, wie unser Bild (Tf. XL) ihn zeigt, erst mit den Lützowern, nach Ablauf des Waffenstillstands mit der schlesischen Landwehr ins Feld und ließ dem früh gedichteten Lied „In einem kühlen Grunde“ frische Kriegsgesänge folgen“, zeigt eher die Vereinnahmung Eichendorffs für die nationale Propaganda denn den eigentlichen Sachverhalt. Koch instrumentalisierte gern Eichendorff in seinem Kampfe gegen das „Polentum“. Die damaligen Diskussionen um Des Jägers Abschied (1815), ob das Lied ein einfaches Jagdlied sei oder aber die Stimmung der Volkserhebungen von 1809 oder 1813 zum Ausdruck bringe, sind ein weiteres Beispiel für diese politische Vereinnahmung Eichendorffs. Vgl. Lyon, Otto: Die Lektüre als Grundlage eines einheitlichen und naturgemeinen Unterrichts in der deutschen Sprache sowie als Mittelpunkt nationaler Bildung. Leipzig 1896, 292. Weitere Belege: Koch, Max: Zum 50. Todestag Joseph v. Eichendorffs. In: Der Türmer 1/10 (1907/08) 283–293; ders.: Zum Gedächtnis Joseph von Eichendorffs. In: Eichendorff-Kalender 14 (1923) 5–32; Joseph von Eichendorff und der deutsche Osten. In: Der Wächter 8/7 (1925) 316–329. Die hier angeführten Beispiele stammen aus der Studie von Hollender, Martin: Die politische und ideologische Vereinnahmung Joseph von Eichendorffs. Einhundert Jahre Rezeptionsgeschichte in der Publizistik (1888–1988). Bern 1997. 105 Die eigentliche Politisierung betrieb Koch in der von Wilhelm Kosch gegründeten Zeitschrift Der Wächter. Vgl. die Bibliographie seiner Beiträge in Heiduk, Franz/Kessler, Wolfgang

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Erzählung Kochs über das 19. Jahrhundert charakterisiert lediglich eine Epoche: die Romantik. Den Realismus gab es offensichtlich nicht, vielleicht nur realistische Dichter wie Gustav Freytag oder Rudolf von Gottschall, die aber keine ästhetische, sondern eine bloß legitimierende Rolle spielten. Ein junges Deutschland oder einen Naturalismus in Schlesien gab es für Koch selbstredend nicht, waren diese Strömungen doch mit zwei ihm unliebsamen Namen verbunden: Gerhart Hauptmann und Hermann Stehr. Auch hier muss man betonen, dass die Entwicklung der Studien zur Lokalgeschichte nach und nach Forschungen zu den kleinen Zentren Schlesiens begünstigte, in denen die Literatur eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Kursorisch seien hier Arbeiten von Paul Klemenz106 zur Literatur Oberschlesiens und später des Glatzer Landes erwähnt. Zur Literatur Österreichisch Schlesiens ist das Lexikon von Karl Franz Joseph Weiß bedeutsam.107 In diesem literarischen Zusammenhang sind noch zwei weitere wichtige Bereiche zu nennen, die eigentlich zur Volkskunde gehörten: die Volksmärchenforschung sowie die Studien zur Mundartdichtung. Das Standartwerk zu den schlesischen Märchen wurde von Richard Kühnau, einem Lehrer des Matthiasgymnasiums in Breslau,108 verfasst und veröffentlicht,109 der darin freilich viele Vorgänger hatte – mit Büsching an der Spitze. Auch die in Schlesien gern betriebene Mundartdichtung fand ihre Kommentatoren und Analytiker – wobei diese Rolle meistens von den Dichtern selbst übernommen wurde.110

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(Bearb.): „Der Wächter“ und „Eichendorff-Kalender“. Gesamt-Inhaltverzeichnis. Sigmaringen 1985, 44. Klemenz, Paul: Der Anteil des Neisser Landes an der deutschen Literatur. Neisse 1913. Weiss, Karl F. J. [Pseud. Schrattenthal, Karl]: Deutsche Dichterinnen und Schriftstellerinnen in Böhmen, Mähren und Schlesien. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Dichtung in Österreich Ungarn. Brünn 1885. Gorząd-Biskup, Edyta: „K. ist auch sonst ein Mann von wissenschaftlichen Interessen.“ Zum Leben und Werk Richard Kühnaus (1858-1930). Ein Beitrag zur schlesischen Kulturgeschichte [im Druck]. Kühnau, Richard: Schlesische Sagen, Bd. 1: Spuk- und Gespenstergeschichten; Bd. 2: Elben-, Dämonen- und Teufelssagen; Bd. 3: Zauber-, Wunder- und Schatzsagen. Leipzig 1910–1913. Rößler, Robert: Die schlesische Mundart. In: ders.: Schnocken. Humoresken in schlesischer Mundart. Berlin [21880], 1–34; ders.: Zur schlesischen Wortbildung. In: ders.: Gemittliche Geschichten. Humoresken in schlesischer Mundart. Berlin 1882, 1–24; Sturm, L.: Achtet die Mundart. In:  Der gemittliche Schläsinger 8 (1890) 39–40; Bauch, Hermann: Ein Denkmal altschlesischer Dialekt-Dichtung. In: Monatsblätter. Organ der Breslauer Dichterschule (1889) 10; Heinzel, Max: Die Redensarten der Schlesier. In: Der gemittliche Schläsinger 16 (1898) 49–52; Philo vom Walde [eigtl. Reinelt, Johannes]: Verein zur Pflege schlesischer Mundart und Dichtung. In: Der gemittliche Schläsinger 20 (1902) 95–96; ders.: Zur Entwicklung der schlesischen Dialektpoesie. In: Krause, August Friedrich/Philo vom Walde (Hg.):  Schlesisches Dichterbuch. Breslau 1902; Kern, Martin: Aus dem Garten der schlesischen Dichtung. In: Der gemittliche Schläsinger 34 (1916) 142; Bauch, Hermann: Die schlesische Dialektdichtung vor Karl von Holtei. In: Der gemittliche Schläsinger 37 (1920) 124–128. Für die Angaben bedanke ich mich bei Dr. Rafał Biskup.

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8. Forschungen zu Musik und Theater Die Entwicklung der Musikkultur Schlesiens bedingte auch das Entstehen von entsprechenden musikwissenschaftlichen Werken: Aufsätzen, Kompendien, Lexika. Auch in dieser Hinsicht war August Timotheus Kahlert111 bahnbrechend als Komponist und Davidsbündler; zudem legte er zahlreiche Aufsätze zur Musik vor. Auf Schlesien ausgerichtet war das wichtigste Kompendium der 1830er Jahre, das Werk Die Tonkünstler Schlesiens von Carl Julius Adolph Hoffmann.112 Im Zuge des 19. Jahrhunderts entstanden weitere Lexika, etwa von Carl Koßmaly,113 Paul Thamm114 und Ewald Röder.115 Von besonderer Bedeutung für die schlesische Musikgeschichte waren die Bestandsaufnahmen der sich in den örtlichen Bibliotheken befindlichen Musikdruckwerke und Handschriften, die der bedeutende Ordinarius für Musikwissenschaft, Emil Bohn,116 verfertigte. „Bohns größte wissenschaftliche Verdienste waren die Pflege der älteren Musik in seinen historischen Konzerten, die Katalogisierung der alten Musikhandschriften und der alten Musikdrucke der Stadtbibliothek sowie die fast vollständige Spartierung der Litteratur des gedruckten deutschen mehrstimmigen Liedes von 1500 bis etwa 1650. Diese von der Stadt Breslau erworbene handschriftliche Partiturensammlung liegt jetzt auf der Stadtbibliothek.“117 Auch die einzelnen musikalischen Institutionen Schlesiens fanden ihre Chronisten, meist bei den Gründern oder aktiven Mitgliedern aus dem akademischen Milieu, so zum Beispiel das 1815 gegründete Akademische Institut der Königlichen Universität

111 Kahlert, August: System der Ästhetik. Leipzig 1846; ders. (Hg.): Blätter aus der Brieftasche eines Musikers. Leipzig 1832. Vgl. auch Kunicki, Wojciech (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Karl von Holtei und August Timotheus Kahlert. Leipzig 2018. 112 ���������������������������������������������������������������������������������������� Hoffmann, Carl Julius Adolph (Hg.): Die Tonkünstler Schlesiens. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte Schlesiens vom Jahre 960 bis 1830. Enthaltend biographische Notizen über schlesische Komponisten, musikalische Schriftsteller und Pädagogen, Virtuosen, Sänger, Kantoren, Kammermusiker, Instrumentenmacher, so wie über Beförderer und Liebhaber der Tonkunst. Breslau 1830. Zu ihm vgl. Walther, Rudolf: Art. Hoffmann Carl Julius Adolph Hugo (1801–1843). In: Hoffmann-Erbrecht, Lothar (Hg.): Schlesisches Musiklexikon. Augsburg 2001, 294–295. 113 Koßmaly, Carlo [d. i. Carl Koßmaly]: Schlesisches Tonkünstler-Lexikon, Bd. 1–4. Breslau 1846–1847. 114 Thamm, Peter: Die Tonkünstler der Grafschaft Glatz. In: Vierteljahresschrift für Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz 5/1–4 (1885/86) 52–58, 161–167, 245–254, 309–319. 115 Röder, Ewald: Geborene Schlesier. Lexikon enthaltend kurze Biographien in Schlesien geborener Tonkünstler. Bunzlau 1890. 116 Bohn, Emil: Bibliographie der Musikdruckwerke bis 1700, welche Universitätsbibliothek, Stadtbibliothek und der Bibliothek des Akademischen Instituts für Kirchenmusik zu Breslau aufbewahrt werden. Berlin 1893; ders.: Die musikalischen Handschriften des 16. und 17. Jahrhunderts in der Stadtbibliothek zu Breslau. Breslau 1890. 117 Kinkeldey, Otto: Die Musik in Schlesien. In: Frech/Kampers (Hg.): Schlesische Landeskunde, Geschichtliche Abteilung, 342–350, hier 350.

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Breslau,118 die 1825 in Breslau gegründete Singakademie,119 die 1830 gegründete Musikalische Section der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur sowie der 1862 gegründete Breslauer Orchesterverein.120 Unbedingt zu nennen ist auch der von dem zweiten Ordinarius für Musikwissenschaft in Breslau, Otto Kinkeldey, 1913 verfasste Artikel Die Musik in Schlesien.121 Kinkeldey ging dabei von der Prämisse aus, dass die Musikgeschichte Schlesiens bisher nur ungenügend erforscht worden sei.122 Für das Mittelalter erwähnte Kinkeldey zwei polnische Bischöfe, Ziroslaus und Walther, die die Musikpflege im Breslauer Dom organisiert hätten, des Weiteren beschrieb er die Tätigkeit der Saganer und der Breslauer Augustiner Chorherren, insbesondere die Leistungen der Breslauer Äbte vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. Schlesien hat auch in der A capella-Periode einen bekannten Komponisten hervorgebracht, den Görlitzer Johannes Nucius, der zudem als Abt des Klosters in Himmelwitz wirkte. Die Musik am Breslauer Dom erlebte ihre Blütezeit Anfang des 19. Jahrhunderts in der Ära von Joseph Ignaz Schnabel, der die Dommusik in Breslau auf ein hohes Niveau brachte.123 ­Kinkeldey unterstrich die Bedeutung der Musik an den evangelischen Kirchen: „Es ist nicht ohne Bedeutung, daß eine der Inkunabeln des deutschen evangelischen Kirchenliedes in Breslau erschien, das von Adam Dyon im Jahre 1525 mit Melodien gedruckte Gesang Büchlein geistlicher Gesänge Psalmen, einem ytzlichen Christen fast nutzlich bei sich zu haben. Hier sei auch das Lehrbuch Heinrich Fabers Compendium musicae pro incipientibus (Breslau 1548) erwähnt.“124 Bei der Schilderung der überaus wichtigen Meistersingerweisen, die in der Breslauer Stadtbibliothek aufbewahrt wurden, berief sich Kinkeldey auf die Erkenntnisse Georg Münzers, eines Doktoranden von Bohn, der wichtige Befunde in seinen beiden musikgeschichtlichen Werken zu Breslau vorgelegt hatte.125 118 Siebs, Theodor: Das Institut für Kirchenmusik. In: Kaufmann, Georg (Hg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der königlichen Universität Breslau, Bd. 2. Breslau 1911, 427–433. 119 Mosewius, Theodor: Die Breslauische Singakademie in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens. Breslau 1850; Partsch, Carl: Festschrift zur 100jahrfeier der Breslauer Singakademie. Breslau 1925; Hoffmann-Erbrecht, Lothar: Die Anfänge der Breslauer Singakademie unter Theodor Mosevius. In: Frobenius, Wolf (Hg.): Akademie und Musik. Erscheinungsweisen und Wirkungen des Akademiegendankens in Kultur- und Musikgeschichte: Institutionen, Veranstaltungen, Schriften. Festschrift für Werner Braun zum 65. Geburtstag. Saarbrücken 1993 (Saarbrücker Studien zur Musikwissenschaft N. F. 7) 157–163. 120 Bohn, Emil: Festschrift zur Feier des 25jährigen Bestehens des Breslauer Orchester-Vereins, Breslau 1887; Behr, Hermann: Denkschrift zur Feier des 50jährigen Bestandes des Orchestervereins. Breslau 1912. 121 Vgl. Anm. 118. 122 Ebd., 342. 123 Kinkeldey zitierte hier die Schrift von Guckel, Hans Erdmann: Katholische Kirchenmusik in Schlesien, Leipzig 1912. 124 Kinkeldey: Die Musik in Schlesien, 344f. 125 Münzer, Georg: Das Singebuch des Adam Zacharias Puschmann. Leipzig 1907; ders.: Beiträge zur Konzertgeschichte Breslaus am Ende des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts. Breslau 1890.

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Kinkeldey wies auch auf die lückenhafte Erforschung der höfischen Kapellen hin, von denen diejenige von Bischof Philipp Gotthard von Schaffgotsch in Jauernig mit Carl Ditters von Dittersdorf an der Spitze die wohl bedeutendste war. Kinkeldeys Blick richtete sich somit nicht nur nach Breslau, sondern zum Beispiel auch nach Oels, wo „gegen Ende des 18. Jahrhunderts unter dem Herzog Friedrich von Braunschweig-Oels ein eigenes Theater“ entstand.126 Er berücksichtigte ferner Theateraufführungen mit Musik, angefangen mit Adam Puschmanns Comedie von dem frumen Patriarchen Jacob (1583) über die erste in Breslau aufgeführte Oper von Daniel Gottlieb Treu (1725) bis hin zu den Opern Mozarts am Ende des Jahrhunderts. Selbstverständlich berief sich Kinkeldey dabei auf die fundamentalen Bearbeitungen und Quellen zur schlesischen Theatergeschichte.127 Er erwähnte überdies Entwicklungen des Konzertwesens und der Musikvereine: vom Collegium musicum aus dem Jahr 1720, das im Blauen Hirsch an der Ohlauer Straße in Breslau Konzerte veranstaltete, über die Abonnementskonzerte in den 1760er Jahren bis hin zu den Concerts spirituels, die der große Adam Hiller 1788 in der schlesischen Hauptstadt organisierte. Alles in allem ist die knappe Übersicht von Kinkeldey eine brauchbare Hilfe zum Einstieg in die Geschichte des Musikwesens in Schlesien – in einem Land also, das zwar kaum große Komponisten hervorbrachte, aber dennoch eine rege musikalische Kultur entwickelte.

9. Forschungen zur Geschichte des schlesischen Bildungsund Bibliothekswesens Im 19. Jahrhundert begann man sich verstärkt für die Geschichte des Bildungswesens in Schlesien – die dortigen Bibliotheken eingeschlossen128 – zu interessieren. Den wichtigsten Überblick hierzu vor dem Ersten Weltkrieg legte Wilhelm Molsdorf vor.129 Darin heißt es einleitend: „Nicht in dem Maße, wie es für andere Gegenden zutrifft, vermag man den schlesischen Klöstern eine Pflege des geistigen Lebens nachzurühmen.“130 Molsdorf ging es in seinem Aufsatz auch darum, die schönsten Handschriften der Bres-

126 Kinkeldey: Die Musik in Schlesien, 347. 127 Schlesinger, Maximilian: Geschichte des Breslauer Theaters, Bd. 1 (1522–1841). Berlin 1898. 128 Zur Rolle der Breslauer Bibliotheken vgl. allgemein Mrozowicz, Wojciech: Die Bibliotheken Schlesiens als Orte der Geschichtspflege vor dem Ersten Weltkrieg – unter besonderer Berücksichtigung der Universitäts- und der Stadtbibliothek in Breslau. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 365–381. 129 Molsdorf war 1891 mit der Abhandlung Die Idee des Schönen in der Weltgestaltung von Thomas von Aquino promoviert worden. Er war Spezialist auf dem Gebiet der alten Holzschnitte und Schrottblätter und der christlichen Kunst. Vgl. vor allem Molsdorf, Wilhelm: Holzschnitte und Schrottblätter aus der königlichen und Universitätsbibliothek Breslau. Strassburg 1907. 130 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Das Schrift-, Buch- und Bibliothekswesen in Schlesien. In: Frech/Kampers (Hg.): Schlesische Landeskunde, Geschichtliche Abteilung, 227–246, hier 227.

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lauer Bibliotheken zu besprechen und zu präsentieren, beginnend mit dem Psalterum nocturnum aus der Bibliothek des Jungfrauen-Stifts in Trebnitz.131 Der Hinweis darauf, dass bei dessen Entstehung Einflüsse aus der sächsisch-thüringischen Schule prägend gewesen seien, sollte die Prämisse verstärken, dass erst die deutsche Kolonisation des Landes die hohe Kultur, in diesem Fall die Klosterkultur, mit sich gebracht habe. Einen zentralen Platz nahm ferner die interessante Geschichte der Handschrift Cod. Ms. Fol. 192 der Hedwigslegende ein, da es sich dabei um eine indigen schlesische Angelegenheit handelte.132 Die Anfänge des Breslauer Buchdrucks (1475) wurden auf die Gestalt von Caspar Elyan konzentriert, das erste gedruckte Werk wurde genannt (Statuta synodiala episcoporum Vratislawiensium133) und die Zeit des Interregnums mit einem bedeutenden lokalpatriotischen Hinweis erwähnt: „Wenn aber die Oktavausgabe des Viaticum Vraislawiense 1499 und 1501 in Venedig gedruckt werden mußte, so liegt darin doch für die schlesischen Verhältnisse etwas Beschämendes, und fast will es wie eine Ironie des Schicksals erscheinen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß 1477 ein Breslauer, Nicolaus Laurentii, der Gründer einer der leistungsfähigsten Buchdruckereien in Florenz wird.“134 Diese vermeintlich traurige Zeit wurde erst durch Konrad Baumgarten beendet, der 1503 in Breslau seine Presse installierte und mit ihr sofort Gedichte der schlesischen Humanisten Lorenz Rabe (Corvinus) und Sigmund Buchwald (Fagilicus) druckte.135 Sein Hauptwerk war allerdings die berühmte Baumgartsche Hedwiglegende mit wunderbaren Holzschnitten. Zu einer weiteren Blüte des Buchdrucks kam es mit der Reformation, als der Rektor des Elisabethgymnasiums, Magister Andreas Winkler, in seiner Druckerei Werke der Reformatoren druckte. Später ging die Druckerei an die Familie Baumann über. Die Jesuiten wiederum konnten auf der Dominsel 1702 eine eigene, von Andreas Franz Pega geführte katholische Druckerei begründen.136 Molsdorf verschwieg in seinem Werk auch nicht die Tätigkeit der Druckereien in Oels (1530, An-

131 Ebd., 228. 132 Die in der Bibliographie (ebd., 245) genannten deutschen und polnischen Studien geben eine Vorstellung davon, in welchem Umfang man sich für die Breslauer Handschriften zu interessieren begann. Vgl. Schultz, Alvin: Schlesien Kunstleben im 13. und 14. Jahrhundert. Breslau 1870; Grünhagen, Colmar: Beiträge zur Geschichte der Hedwigslegenden. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 5 (1863) 160–167. 133 Moldsorf: Das Schrift-, Buch- und Bibliothekswesen, 233. Zu Elyan vgl. Dziatzko, Karl: Caspar Elyan. Breslaus erster Drucker. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 15 (1880) 1–32; ders.: Nachtrag über Caspar Elyan. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 16 (1882) 290–300; ders.: Neue Mitteilungen über Caspar Elyan. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 19 (1885) 386–394. 134 Molsdorf: Das Schrift-, Buch- und Bibliothekswesen, 234. 135 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Bauch, Gustav: Bibliographie der schlesischen Renaissance. In: Silesiaca. Festschrift des Vereines für Geschichte und Altertum Schlesiens zum siebzigsten Geburtstag seines Präses Colmar Grünhagen. Breslau 1898, 145–186. 136 Molsdorf: Das Schrift-, Buch- und Bibliothekswesen, 238.

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fang des Pentateuch in hebräischen Buchstaben) und von Paul Helitz in Hundsfeld, der das Elemental oder Lesebüchlein, so mit hebräischen Buchstaben geschrieben werden, lernen soll druckte.137 Abgeschlossen wurde das Bild mit Hinweisen auf das schlesische Zeitungswesen: Zuerst gab Georg Baumann 1629 die Wöchentlichen Avisen heraus; der Schlesische Novellen-Courier von Karl Leopold Bachler war nur von kurzer Dauer, woraufhin König Friedrich II. dem Verleger Johann Jacob Korn das Privileg für eine neue Zeitung erteilte. Die erste Nummer der Schlesischen Zeitung erschien am 3. Januar 1741.138 Molsdorf beschloss seine Ausführungen mit einem Kapitel zur Geschichte der Breslauer Bibliotheken, in dem er seinen Interessen gemäß zuerst Hinweise zu den schlesischen Klosterbibliotheken lieferte, dann die Dombibliothek in Breslau vorstellte und schließlich die Rehdigersche Bibliothek genauer beschrieb. Die Universitätsbibliothek beschrieb er nach der hervorragenden, von Fritz Milkau verfassten Geschichte dieser Einrichtung.139 Dabei äußerte er sich zwar kritisch zum Scheitern der Büschingschen Aktion, gab dem schlesischen Polyhistor aber nicht die Schuld an diesem Misserfolg: „Die sich hieraus ergebenden Reibungen [nach der Entlassung Büschings; W. K.] im Verein mit den halben Maßnahmen, die nunmehr getroffen wurden, sind schuld daran, daß das ganze Unternehmen ein klägliches Ende nahm, und die Zentralbibliothek zahlreicher Werke verlustig gegangen ist – ein Ausgang, der um so beschämender erscheint, wenn man bedenkt, wie zielbewusst die gleiche Aktion in Bayern durchgeführt ward.“140 Die zwei Hauptgebrechen der Bibliothek lagen demnach in der viel zu schleppenden Katalogisierung der zusammengetragenen Bestände sowie in der nebenamtlich erledigten Verwaltung (die Germanistik-Professoren begannen zum Beispiel ihre Karrieren in Breslau als nebenamtliche Bibliothekare). Erst mit dem 1872 eingestellten Karl Franz Dziatzko bekam die Bibliothek einen Fachmann, der in neun Jahren seiner Breslauer Tätigkeit eine straffe Katalogisierung durchführte, den Etat der Bibliothek wesentlich verstärkte und 1885 die rund 68.000 Bände zählende Bibliothek der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur angliederte. Einige Worte widmete Molsdorf darüber hinaus den Bibliotheken in der Provinz, an erster Stelle der Reichsgräflich Schaffgotschschen Majoratsbibliothek zu Warmbrunn sowie der Reichsgräflich Hochbergschen Majoratsbibliothek in Fürstenstein.141 Für die Bibliotheken in Oberschlesien spielte zudem der Verband oberschlesischer Volksbüche-

137 Brann, Marcus: Die Hundsfelder Druckerei. Breslau 1862. 138 Schierse, Bruno: Das Breslauer Zeitungswesen vor 1742. Breslau 1902; Müller, Leonhard: Die Breslauer politische Presse von 1742–1861. Nebst einem Überblick über die Dekade 1861– 1871. Breslau 1908; Weigelt, Carl: 150 Jahre Schlesische Zeitung 1742–1892. Ein Beitrag zur vaterländischen Kulturgeschichte. Breslau 1892. 139 Milkau, Fritz: Die königliche und Universitäts-Bibliothek zu Breslau. Eine Skizze. Breslau 1911. 140 Molsdorf: Das Schrift-, Buch- und Bibliothekswesen, 243. 141 Nentwig, Heinrich: Zwei schlesische Majoratsbibliotheken. In: Beiträge zur Bücherkunde und Philologie. August Willmanns zum 25. März 1903 gewidmet. Leipzig 1903, 129–138.

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reien eine bedeutende Rolle,142 der seit 1906 die Fachzeitschrift Die Volksbücherei in Oberschlesien herausgab; ihr Schriftleiter war Karl Kaisig. Mit der Schulproblematik in Schlesien, vor allem zur Zeit der Reformation, wiederum beschäftigte sich mit besonderer Intensität der Humanismusforscher Gustav Bauch.143 Er sollte auch einen Beitrag für die Schlesische Landeskunde von Frech und Kampers schreiben. Da sich dieser Plan aber nicht umsetzen ließ, musste ein anderer einspringen: Wilhelm Rudkowski, Lehrer am Breslauer Elisabethanum,144 legte eine bündige Übersicht über die Schulen, Lehrer und Schüler in Schlesien vor, die den Forschungsstand vor dem Weltkrieg treffend darstellt. Umfangreiche Forschungen gab es überdies zur Geschichte der Universität, insbesondere anlässlich der beiden Jubiläumsjahre 1861 und 1911. In diesem Zusammenhang sind vor allem die drei Gruppen von wissenschaftlichen Arbeiten zu nennen: eine Urkundensammlung der Universität Frankfurt an der Oder (Viadrina),145 verschiedene Publikationen zum Jahr 1861146 sowie die Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau im Jahr 1911.147 Die Studien zur Wissenschaftsgeschichte aus dieser Epoche sind besonders wertvoll, weil sie häufig auf Quellen fußen, die später verlorengingen. 142 Kaisig, Karl (Hg.): Bücherverzeichnis des Verbandes oberschlesischer Volksbüchereien. Breslau 1906. Hierzu sind auch die Wanderbüchereien als eine spezielle Gruppe zu rechnen. Vgl. Küster, Rudolf: Kulturelle Wohlfahrtspflege in Oberschlesien. Kattowitz 1907; ders.: Die Volksbibliothek in Oberschlesien, ihre Entwicklung bis Mitte 1899 und ihre weitere Ausgestaltung. Denkschrift im Auftrage der Königlichen Regierung zu Oppeln. Mit amtlichen Unterlagen. Oppeln 1899. 143 Bauch, Gustav: Geschichte des Breslauer Schulwesens in der Zeit der Reformation. Breslau 1911; ders.: Geschichte des Breslauer Schulwesens vor der Reformation. Breslau 1909; ders.: Drei Denkmäler zur aelteren schlesischen Schulgeschichte. Mit einem Anhange: Rede Hieronymus Gürtlers für die Brüder-Schule in Culm 1531. Breslau 1901. 144 ���������������������������������������������������������������������������������������� Rudkowski, Wilhelm: Seminarbildung und Studium der Volksschullehrer in Preussen. Gelsenkirchen 1906; ders.: Die Stiftungen des Elisabeth-Gymnasiums, Tl. 1: (1293–1500). Im Anhange Urkunden zur Schlesischen Schulgeschichte, Tl. 2: (1501–1670), Tl. 3: (1671–1776), Tl. 4: (1777–1900). Städtisches evangelisches Gymnasium zu St. Elisabeth. Beilage zum Jahresbericht des Elisabeth-Gymnasiums. Breslau 1899–1902; ders.: Studien zur Geschichte der Universität Breslau. Festgabe des Vereines für Geschichte Schlesiens zum Universitätsjubiläum. Breslau 1911. 145 Kaufmann, Georg/Bauch, Gustav/Reh, Paul (Hg.): Acten und Urkunden der Universität Frankfurt an der Oder. Breslau 1897. 146 Reinkens, Joseph: Die Universität zu Breslau vor der Vereinigung der Frankfurter Viadrina mit der Leopoldina. Breslau 1861; Nadbyl, Bernhard (Hg.): Chronik und Statistik der Königlichen Universität zu Breslau. Bei Gelegenheit ihrer fünfzigjährigen Jubelfeier 3. August 1861. Breslau 1861; Roepell, Richard: Zur Geschichte der Stiftung der Königlichen Universität zu Breslau. Breslau 1861. 147 Kaufmann, Georg: Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Bd. 1: Geschichte der Universität Breslau 1811–1911. Breslau 1911; ders. (Hg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Bd. 2: Geschichte der Fächer, Institute und Ämter der Universität Breslau 1811–1911. Breslau 1911.

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10. Schlussbetrachtung Wenn man auf die (vorwiegend schlesischen) Forschungen zur Kulturgeschichte Schlesiens im langen 19. Jahrhundert blickt, dann muss festgestellt werden, dass sich die Bemühungen zahlreicher Gelehrter in erster Linie auf eine Bestandsaufnahme des Gewesenen und des sich Entwickelnden beschränkten. Man versuchte tragbare methodische Grundlagen zu schaffen: In der Romantik war das die vergleichende Mythenforschung, im Vormärz die hegelianisch, also philosophisch geprägte Geschichte der poetischen Literatur, die sich von der philosophischen Kunstkritik emanzipierte, in den 1890er und 1900er Jahren dann der Positivismus mit den Schererschen Postulaten in der Literaturgeschichte. Das Hauptanliegen blieb eine umfassende Bestandsaufnahme in allen Bereichen der Wissenschaft. Die katalogisierenden Veröffentlichungen von Emil Bohn und von Ludwig Burgemeister stellen hier ein beredtes Beispiel dar. Auf der anderen Seite kann man im Laufe des 19. Jahrhunderts ein verstärktes Interesse an der Volkskunde beobachten, die als ein interdisziplinäres Projekt im Zuge der deutsch-polnischen Spannungen allmählich nationalisiert und politisiert wurde. Die meisten Autoren – es gab allerdings bedeutende Ausnahmen – orientierten sich an dem Perfektibilitätsmodell der kulturellen Entwicklung. Deshalb wurden die Phänomene der Unterhaltungsliteratur (Mundartdichtung) in den relativ geschlossenen Kreisen der Interessierten erörtert. Besonders wichtig waren auch diejenigen Arbeiten, die sich, freilich ohne jeglichen theoretischen Hintergrund, der Vernetzung der kulturellen Tätigkeit im Rahmen der Provinz widmeten, was besonders Aufsätze zur Konzert-, zur Ausstellungs- und zur Universitätsgeschichte, zur Geschichte der gelehrten Vereinigungen, der Presse und der Bibliotheken charakterisiert. Weniger umfassend wurden in der vorliegenden Darstellung die kulturstiftenden (nicht so sehr die kulturforschenden) Aktivitäten der Gebirgsvereine berücksichtigt, die in ihren Veröffentlichungen häufig die Errungenschaften der Geschichte, aber auch Aspekte der Naturforschung, der Kunstgeschichte und der Literatur propagierten. Gleiches gilt für Forschungen zum Alltag, die sich im 19. Jahrhundert im Rahmen der sich entwickelnden Volkskunde vornehmlich auf den Alltag der Dorfbevölkerung bezogen. Des Weiteren ist hier auch das kulturelle Engagement der großen religiösen Gemeinschaften zu berücksichtigen: der katholischen, der evangelischen und der jüdischen. Die im 19. Jahrhundert geschaffene Grundlage der schlesischen Kulturforschung ist auch deshalb so wertvoll, weil viele Zeugnisse, insbesondere viele Breslauer, Schweidnitzer, Glatzer, Liegnitzer und Oppelner Archivalien und Handschriften dem Zweiten Weltkriegs oder den anschließenden Wirren zum Opfer gefallen sind. Deshalb muss man auf die Leistungen der hier lediglich im Überblick genannten Forscher, trotz aller aus heutiger Sicht gebotenen Kritik, mit Respekt und Bewunderung schauen.

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III. Historisch arbeitende Nachbarwissenschaften

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Prähistorische Archäologie in Schlesien im 19. Jahrhundert. Von der Altertumskunde zur Wissenschaft Drei Namen sind es, die die prähistorische Archäologie in Schlesien während des 19.  Jahrhunderts geprägt haben. Der Altertumskundler Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829) formulierte 1824 in seinem Abriß der Deutschen Alterthums-Kunde das Programm, um den frühen Geschichtsepochen aufgrund materieller Quellen näher zu kommen. Er legte zugleich den Grundstock der Universitätssammlung. Der Lehrer und Historiker Hermann Luchs (1826–1887) initiierte die Einrichtung eines Museums Schlesischer Alterthümer, wozu 1858 ein Verein gegründet wurde. Er unternahm mit Gleichgesinnten ab den frühen 1870er Jahren Ausgrabungen, die die Bestände kräftig zu mehren begannen. Mit dem Archäologen Hans Seger (1864–1943) als Kustos ab 1892 beziehungsweise stellvertretender Museumsdirektor (1899) gewann die schlesische Urgeschichtsforschung weithin wissenschaftliches Renommee – in Museum, Bodendenkmalpflege und Universität.

1. Altertumskunde als Programm im frühen 19. Jahrhundert: Johann Gustav Gottlieb Büsching In dem Dichter Martin Opitz (1597–1639) besaß die schlesische Altertumskunde bereits früh einen bekannten Vertreter.1 Er befasste sich mit antiken Inschriften und insofern mit der Römerzeit.2 Anführen ließe sich auch der Pastor Leonhard David Hermann (1670–1736).3 Neuen Schwung erfuhr die Beschäftigung mit der „heidnischen Vorzeit“ in den Jahrzehnten um 1800. Damals hatte sich die Einsicht durchgesetzt, Bodenfunde als Zeugnisse der Vergangenheit – und damit als historische Quellen – zu betrachten. Sie galten nun als „augenscheinliche Thatsachen, welche nicht bestritten, 1 Bollbuck, Harald: Imitation, Allegorie, Kritik. Antikenfunde bei Martin Opitz. In: Hakelberg, Dietrich/Wiwjorrra, Ingo (Hg.): Vorwelten und Vorzeiten. Archäologie als Spiegel historischen Bewußtseins in der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 2010 (Wolfenbütteler Forschungen 124), 311–341. 2 Sasse, Barbara: Der Weg zu einer archäologischen Wissenschaft, Bd. 1: Die Archäologien von der Antike bis 1630. Berlin/Boston 2017 (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 69/1), 212f., 223. 3 Kraus, Uwe: Der Fundplatz Massel und die Maslographia Leonhard David Hermanns. In: Veit, Ulrich/Wöhrl, Matthias (Hg.): Donnerkeil, Opfermesser, Thränengefäß. Die archäologischen Objekte aus der Sammlung der Leipziger Apothekerfamilie Linck (1670–1807) im Naturalienkabinett Waldenburg (Sachsen). Leipzig 2014 (Leipziger Forschungen zur Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie 8), 79–81; Hakelberg, Dietrich/Wiwjorra, Ingo: Vorwelten, Vorzeiten und die ‚Archäologie‘ in der Frühen Neuzeit. In: dies. (Hg.): Vorwelten und Vorzeiten, 15–40, hier 27.

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noch geläugnet werden, ja von jedem Forscher mit Unbefangenheit betrachtet, von allen Seiten geprüft und nach den Grundsätzen einer vernünftigen Kritik und Hermeneutik gedeutet, auch zu Grundlagen historischer Forschungen benutzt werden können. Sie sind also mit vollkommenem Rechte als historische und artistische Monumente anzusehen, die zumal bei dem Mangel eigenthümlicher, zusammenhängender, schriftlicher Monumente, vor allen Dingen bei der Entscheidung wichtiger historischer Fragen jene Völker betreffend, als authentische Dokumente zuerst um Rath gefragt und in allen Fällen des offenbaren Widerspruchs mit jenen schriftlichen Nachrichten eine entscheidende Stimme haben müssen“.4 Wie man diesen Sachquellen historische Erkenntnisse abringen könne, war dagegen umstritten. An diesen Debatten hatte Johann Gustav Gottlieb Büsching lebhaften Anteil. Studierter Jurist, wurde er Ende 1810 als königlich-preußischer „Commissarius“ von Berlin nach Schlesien entsandt, um die im Zuge der Säkularisation aufgehobenen Klöster zu bereisen und ihre Archivalien und Bibliotheken, Münzen und Medaillen, Altertümer und Kunstwerke zu erfassen. Dies sollte die Grundlage bilden, um für „deren sichere Aufbewahrung zu sorgen“ und „deren künftige Benutzung“ zu ermöglichen.5 Büsching schlug die Konzentration der Bestände in Breslau und die Einrichtung einer dortigen „Zentralbibliothek“ (ab 1815 Königliche und Universitätsbibliothek), einer Gemäldegalerie und eines „Landesarchivs“ vor. 1812 wurde Büsching als Archivar angestellt; er habilitierte sich 1816 „für geschichtliche Hilfswissenschaften und deutsche Altertümer“, wurde 1817 außerordentlicher und 1822 ordentlicher „Professor der Alterthumswissenschaften“ – de facto der Historischen Hilfswissenschaften. Als solcher hielt Büsching ab 1820 auch Vorlesungen zur „deutschen Altertumskunde“ ab. Zur Veranschaulichung zog er Sachzeugnisse heran, die zunächst im Zuge der Säkularisation nach Breslau gelangt waren. Während die Gemäldegalerie mit Werken gleicher Herkunft schon 1815 eröffnen konnte, gelang dies unter Büschings Organisation mit den Altertümern erst 1818. Rasch und intensiv bemühte sich Büsching um den Ausbau der Sammlung,6 vor allem – mangels eines eigenen Etats – durch Aufrufe an Finder und Besitzer von Altertümern. Aus bescheidenen Anfängen vervielfachte 4 ������������������������������������������������������������������������������������������� Levezow, Konrad: Andeutungen über die wissenschaftliche Bedeutung der allmählig zu Tage geförderten Alterthümer Germanischen, Slavischen und anderweitigen Ursprungs der zwischen der Elbe und Weichsel gelegenen Länder, und zwar in nächster Beziehung auf ihre Geschichte. In: Pommersche Provinzial-Blätter für Stadt und Land (Haken’s Pommersche Provinzial-Blätter) 6 (1825) 401–437, hier 410. 5 Hałub, Marek: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829. Ein Beitrag zur Begründung der schlesischen Kulturgeschichte. Wrocław 1997 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1978), 40f.; Kersken, Norbert: Die Begründung institutionalisierter landesgeschichtlicher Forschung im frühen 19. Jahrhundert: Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829) im Kontext der zeitgenössischen schlesischen Historiographie. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert. Wien/Köln/ Weimar 2019 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 28), 131–158. 6 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Die Alterthümer der heidnischen Zeit Schlesiens, Bd. 1. Breslau 1820.

Prähistorische Archäologie in Schlesien im 19. Jahrhundert

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sich der Bestand innerhalb weniger Jahre (Tab. 1). Der von Büsching ebenfalls 1818 ins Leben gerufene Verein für Schlesische Geschichte, Kunst und Alterthümer zählte zwar bald 600 Mitglieder, schlief aber bereits 1825 wieder ein, da er praktisch nur die Subskription der Schriften Büschings betrieb. Tab. 1: Büschings Sammlung7 Jahr 1818 1818 1820 1822 1823 1825 1829

A. Keramik (Urnen) 52 175

B. Waffen (Metall, Stein, Holz) 51 100

C. außerschlesische Funde

1501

864

696

Summe 119 325 1000 2005 2392 2576 3061

Büschings Leistung wird unterschiedlich beurteilt. Zum einen hebt man sein breites Engagement zur Erfassung und Sammlung prähistorischer Funde hervor. Ziel Büschings war es, eine Übersicht über das Fundspektrum Schlesiens zu gewinnen und durch Vergleiche mit anderen Regionen einordnen zu können. Ihm kam es nicht nur auf die Funde an, sondern auch auf Informationen über die Fundumstände. Systematisches Erfassen und Sammeln stand im Mittelpunkt – einerseits aus dem Gefühl des unmittelbar bevorstehenden Verlustes dieser Geschichtsquellen heraus8 und andererseits mit dem Anspruch verbunden, damit „ein ziemlich klares Bild von deutschem Sinn, Wesen, Geist und Leben“ zu entwickeln, also „vaterländisch“ zu wirken.9 Damit war zugleich die öffentliche Bedeutung der Altertumsforschung reklamiert. Dies unterstrich der damalige Breslauer Gymnasiallehrer Friedrich Karl Hermann Kruse (1790–1866), indem er Büsching konzedierte, ihm selbst „durch sein uneigennütziges, ja mit großen Aufopferungen verbundenes Bestreben, den wissenschaftlichen Geist der alten Deutschheit zu beleben“, vorangegangen zu sein.10 Wie für viele andere waren ihm Bodenfunde eine Quelle unter vielen, die dabei Berücksichtigung finden sollten. 17 Nach Kinne, Johanna: Die klassische Archäologie und ihre Professoren an der Universität Breslau im 19. Jahrhundert. Eine Dokumentation. Dresden 2010, 43–49; Hałub: Büsching, 69. 18 Büsching: Die Alterthümer, unpaginiert (Vorrede): „Auch für die Erforschung der ältesten Zeit Deutschlands in der Aufdeckung seines Bodens ist der letzte Zeitpunkt eingetreten, wenn nicht unwiederbringlich alles verloren gehen soll.“ 19 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Blick auf die Forschungen über deutsche Vorzeit (Beschluß). In: Morgenblatt für gebildete Stände 110 (1825) 438. 10 Kruse, Friedrich: Budorgis oder etwas über das alte Schlesien vor Einführung der Christlichen Religion, besonders zu den Zeiten der Römer, nach gefundenen Alterthümern und den Angaben der Alten. Leipzig 1819, 1 Anm. (Hervorhebung im Original); Gummel, Hans: Forschungsge-

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Es blieb aber zum anderen beim Bestreben und fehlte an der Umsetzung. Hans Gummels (1891–1962) Einschätzung aus den 1930er Jahren, Büsching sei „durch die Höhe der wissenschaftlichen Auffassung seiner Zeit“ vorausgeeilt,11 übersieht dessen Grenzen im Kontext der Zeit. Das Ausgraben, Sammeln und die systematische Erfassung der Bodenfunde bildeten lediglich die Voraussetzungen für wissenschaftliche Untersuchungen. Zwar erfasste Büsching die Fundumstände, aber anders als etwa Kruse richtete er wenig Aufmerksamkeit darauf, wenn es um die Analyse ging – also historische Aussagen gewonnen werden sollten. Im Zentrum seines Interesses stand die antiquarische Klassifizierung der Quellen, deren bloße Auflistung im Abriß der Deutschen Alterthums-Kunde allein 14 Seiten füllte, jedoch nicht deren weitere Beurteilung, für die er keine Erläuterungen bereithielt.12 „Büsching ist, wie man sagt, ein gutes Menschenkind, aber was er berührt, wird auch sogleich in der gelehrten Welt bekanntgemacht und dessen Wert auch sogleich bis zur vierten Potenz gesteigert. Eine Menge alter ausgegrabener Töpfe und Scherben mit einigen Figuren, die jeder anders deutet.“13 Die Gliederung der Sammlungsbestände nach dem Material und nicht nach den Fundzusammenhängen macht diese Beschränkung deutlich.14 Daraus entstand noch kein weitergehender wissenschaftlicher Ansatz: Büsching war „bei allen seinen Verdiensten doch kein eigentlicher Forscher“.15 Demzufolge äußerte Büsching auch eher Erwartungen und Ansprüche an die Zukunft: „Eben so wird es vielleicht einst möglich, wenn auch nicht die einzelnen Stämme, [so] doch die Hauptstämme, Deutsche und Slaven, in den Alterthümern von einander zu sondern.“ Leider hätten die vorliegenden Studien noch keine verlässlichen Ergebnisse gebracht. „So ist es z. B. für Schlesien noch ganz dunkel, ob die hier gefundenen Alterthümer der frühern Deutschen oder der spätern Slavischen Zeit zugehören. Wir müssen

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schichte in Deutschland. Berlin 1938 (Die Urgeschichtsforschung und ihre historische Entwicklung in den Kulturstaaten der Erde 1), 110. Gummel: Forschungsgeschichte, 112. Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Abriß der Deutschen Alterthums-Kunde. Zur Grundlage von Vorlesungen bestimmt. Weimar 1824, 23–36. Dort wird unterschieden zwischen „A. Begräbnißart, Begräbnißplätze, Grabhügel“ mit „I. Von der Grabmählern im Allgemeinen und von den Helden-Denkmählern“, „II. Orte überhaupt, wo Grabstätten vorkommen, mit kurzer Angabe ihrer Eigenthümlichkeit“, „III. Von der Art der Grabdenkmähler im Einzelnen“; und „B. Inhalt der Grabhügel und Grabstätten“ mit „I. Beisetzung der ganzen Leichname“, „II. Beisetzung verbrannter Leichen in Urnen“, „III. Begraben und Verbrennen an einer Stelle“, „IV. Thierknochen in den Gräbern“, „V. Kohlen“, „VI. Geräthe, den Todten beigegeben“, „VII. Sonst vorkommende Spuren des Alterthums“, „VIII. Muthmaßliche Zeit einiger Grabstätten“, „IX. Von der Art und Weise Nachgrabungen zu halten“. So der Breslauer Rektor, Historiker und Philologe Johann Caspar Friedrich Manso (1760–1826) an den Philologen und Altertumskundler Karl August Böttiger (1760–1835) in Dresden, 3. März 1820. Zit. nach Seger, Hans: Johann Gustav Gottlob Büsching zu seinem 100. Todestage. In: Altschlesien 2 (1929) 169–180, hier 175. Büsching: Die Alterthümer. Er trennt die Funde in Keramik, Kupfer- und Steingeräte. Seger, Hans: Rezension zu Gummel, Forschungsgeschichte in Deutschland. In: Germania 23 (1939) 275–278, hier 277.

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hoffen und erwarten, daß es die Alterthumskunde noch einmal hierin zur Sicherheit und Festigkeit bringen und daß man bestimmtere Zeichen finden wird, die für höheres Alter, oder dem Christenthume nähere Zeit der gefundenen Sachen sprechen, als die nur zu oft trüglichen sind, welche wir jetzt immer aufstellen, nämlich die Folge von Stein, Kupfer und Eisen bei Anfertigung der Geräthe und Waffen.“16 Damit ist eine für das östliche Mitteleuropa seinerzeit zentrale prähistorische Debatte angesprochen. Man diskutierte leidenschaftlich, ob die immer zahlreicher werdenden Grabfunde – Siedlungsfunde ließen sich erst ab dem späten 19. Jahrhundert identifizieren – Germanen oder Slawen zuzurechnen wären. Zwei Grundannahmen bildeten wie erwähnt den Rahmen: Bodenfunde waren akzeptierte historische Quellen, und sie waren kulturgeschichtlich ebenso wie politisch relevant. Eine Entscheidung über die „ethnische“ Zuordnung ließ sich jedoch nicht treffen, weil der Schlüssel zur Beantwortung von vier miteinander zusammenhängenden Fragen noch nicht gefunden war: Wie weit erstreckte sich die Verbreitung der relevanten Funde? Aus welcher Zeit stammten sie? Wer verbrannte seine Toten und wer nicht? Waren die Gräber Heiden oder doch schon Christen zuzurechnen?17 Mit Büsching war die schlesische Forschung an diesen Diskussionen beteiligt, ohne darin einen hervorzuhebenden Beitrag geleistet zu haben. Kruse, der als Historiker rasch nach Halle und dann nach Dorpat ging, war schon weiter – er meinte, dass „der aufmerksame Forscher jetzt schon beurtheilen kann, was sicher Germanisch ist, wogegen die Frage, welche Reste sicher Slavisch sind, noch gänzlich unbeantwortet ist“.18 Kruse war klar, dass römische Münzen in Urnengräbern eine recht sichere Datierung ermöglichten.19

2. Verein und Museum schlesischer Alterthümer ab 1858: Hermann Luchs und Wilhelm Grempler Mit Büschings Tod war das Interesse an der schlesischen Prähistorie zunächst erloschen. Deshalb spielte Schlesien auch in der Debatte um das Drei-Perioden-System keine Rolle. Mit ihm erreichte man, von heftigen Auseinandersetzungen begleitet, eine Klärung der zeitlichen Abfolge prähistorischer Funde – und damit einen wissenschaftlichen 16 Büsching: Abriß, 11. 17 Brather, Sebastian: „Sind die Urnen-Begräbnisse [...] slavischen oder deutschen Ursprungs?“ ­Vaterländische Altertumskunde im Bereich der Germania Slavica. In: Hakelberg, Dietrich/­ Wiwjorra, Ingo (Hg.): Archäologie und Nation. Kontexte der Erforschung „vaterlaendischen Alterthums“. Zur Geschichte der Archäologie in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1800–1860. Nürnberg 2020 [im Druck]. 18 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Kruse, Friedrich: Nachschrift. In: [Kruses] Deutsche Alterthümer oder Archiv für alte und mittlere Geschichte, Geographie und Alterthümer insonderheit der germanischen Völkerstämme 3 (1828) 35–40, hier 40 (Hervorhebungen im Original). Vorhandene methodische Probleme kleidete der Autor in ein lateinisches Zitat: „nostrum non est tantas componere lites“. Ebd., 35. 19 Ders.: Budorgis, 37.

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Durchbruch.20 Entscheidend dafür war Christian Jürgensen Thomsen (1788–1865), der am Kopenhagener Museum die Sammlung ordnete und in einem kleinen Museumsführer Stein-, Bronze- und Eisenzeit als die entscheidenden Perioden beschrieb. In der Altmark und in Mecklenburg verfolgten Johann Friedrich Danneil (1783–1868) und Georg Christian Friedrich Lisch (1801–1883) ähnliche Überlegungen, doch Thomsen darf Primat und Durchbruch beanspruchen. Interessanterweise hatten Thomsen und Büsching in den Jahren 1823 bis 1825 miteinander korrespondiert. Zwölf Jahre, bevor Thomsen seinen Leitfaden drucken ließ und sein Modell damit allgemein bekanntmachte, schrieb er nach Breslau: „Unsere heidnischen Sachen fallen in drei Haupt-Epochen oder Abteilungen“, wobei die „Abteilungen“ Stein, Bronze und Eisen seien. Er „glaube, dass die alte Idee von erst Stein, dann Kupfer und endlich Eisen sich für den Norden immer bewährter findet“.21 Büsching war damit über die aktuelle Forschung bestens informiert, traute aber der Periodisierung des fünf Jahre Jüngeren nicht.22 In den folgenden Jahrzehnten diskutierte man noch heftig das Drei-Perioden-System, das sich dennoch international bald durchsetzte. Zu einem neuen Anlauf kam es knapp dreißig Jahre nach Büsching.23 Es war die Initiative, die der Oberschlesier Hermann Luchs ergriff, seit 1852 fest angestellter Lehrer an der höheren Töchterschule in Breslau und von 1863 bis 1886 deren Rektor.24 Ihm gelang es 1857, genügend Gleichgesinnte zu versammeln und zu Beginn des Jahres 1858 einen Verein zur Errichtung eines Museums für schlesische Alterthümer zu gründen. Als erstes veranstaltete man eine temporäre Ausstellung von „Alterthümern“.25 Sie zeigte im Besitz des Vereins befindliche Stücke, aber vor allem Exponate aus Privatbesitz. Von den insgesamt mehr als 800 Nummern von fast 100 Ausstellern ging anschließend ein nicht unbeträchtlicher Teil an den Verein über. Im darauffolgenden Jahr eröffnete dann ein provisorisches Vereinsmuseum mit 460 Gegenständen.26 20 ������������������������������������������������������������������������������������������ Hansen, Svend: Von den Anfängen der prähistorischen Archäologie. Christian Jürgensen Thomsen und das Dreiperiodensystem. In: Prähistorische Zeitschrift 76 (2001) 10–23. 21 �������������������������������������������������������������������������������������������� Christian Jürgensen Thomsen an Johann Gustav Gottlieb Büsching, 19. Februar 1825. In geglätteter sprachlicher Form zit. nach Seger, Hans: Die Anfänge des Dreiperiodensystems. In: Schumacher-Festschrift. Zum 70. Geburtstag Karl Schumachers, 14. Oktober 1930. Mainz 1930, 1–7, hier 3f. 22 Büsching: Abriß, 10. 23 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Der bereits 1846 gegründete Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens war historisch ausgerichtet und befasste sich nicht mit Bodenfunden. Vgl. Silesiaca. Festschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens zum siebzigsten Geburtstage seines Präses Colmar Grünhagen. Breslau 1898. 24 Grünhagen, Colmar: Hermann Luchs. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 22 (1888) 356–360; Knötel, Paul: Hermann Luchs. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 18. und 19. Jahrhunderts. Breslau 1926 (Schlesische Lebensbilder 2), 282–285. 25 Vorläufiger Katalog für die Ausstellung schlesischer Alterthümer im Börsengebäude. Breslau ²1858 [11858]. 26 Seger, Hans: Geschichte des ehemaligen Museums schlesischer Altertümer. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift N. F. 1 (1900) 1–24, hier 16f.

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Tab. 2: Verein für das Museum schlesischer Alterthümer, Sammlungsumfang. Aus den Einnahmen diente „kaum ein Siebtel“ Ankäufen.27 Im frühen 20. Jahrhundert bewegten sich die Sammlungszuwächse um 500 bis 600 Nummern jährlich. Jahr vor 1862 1863 1869 1872 1874 1876 1880

Sammlungsnummern 1.900 5.424 6.168 6.467 ohne Münzen 6.899 8.158 ca. 10.000

Einnahmen und Zuschüsse (Mark) 3.000 3.000 3.000 6.000 9.000 9.000

Durch Schenkungen und Ankäufe vermehrten sich die Bestände rasch (Tab. 2). 1862 wurde der Verein umbenannt in Verein für das Museum schlesischer Alterthümer und außerdem „bestimmt, dass die dem Königlichen Museum28 zustehende Sammlung germanisch-slawischer Grabaltertümer sowie christlicher und moderner Kunstaltertümer und moderner Münzen mit der Vereinssammlung in der Weise vereinigt werde, dass die Sorge für die Konservierung, Anordnung und Aufstellung an den Verein übergehe“.29 „Vom Magistrat wurden 1869 die Ratsaltertümer, 1872 die Altertümer des BernhardinHospitals und 1876 die der Kirchenbibliotheken (mit Ausnahme der Münzen) überwiesen. Seinem Beispiel folgten in verschiedenen Zwischenräumen die meisten evangelischen Kirchen Breslaus.“30 Mit eigenen Ausgrabungen vergrößerte der Verein seine Bestände um ein Vielfaches. Die Vorstandsmitglieder Luchs und Sanitätsrat Richard Biefel (1824–1886) leiteten ab 1873 entsprechende Geländeforschungen,31 die den Fokus der Sammlung auf die Prähistorie verlagerten. Bei den Unternehmungen handelte es sich meist um sehr kurzfristige Bergungen bronze- und eisenzeitlicher Urnengräberfelder. So heißt es etwa 27 Ergänzt nach ebd., 19. 28 Das Königliche Museum für Kunst und Alterthümer geht noch auf Büsching zurück. Mit der Abgabe der prähistorischen Bestände und der Einrichtung des „Comités zur Errichtung des Schlesischen Provinzial-Museums der Bildenden Künste“ (1869) entwickelte es sich zum Schlesischen Museum der Bildenden Künste, das 1880 im Neubau eröffnet wurde. 29 Seger: Geschichte, 18. Die Sammlung der „Grabaltertümer“ geht auf Büsching zurück. Vgl. Bończuk-Dawidziuk, Urszula: Geschichtspflege im Breslauer Universitätsmuseum und in anderen Museen Schlesiens vor dem Ersten Weltkrieg. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 297–322, hier 309; Kinne: Die klassische Archäologie, 249. 30 Seger: Geschichte, 19. 31 Ebd., 20.

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1875: „Den 13. Sept. c. begaben sich die Herren Dr. Luchs und Dr. Dieck auf Einladung des Holzhändlers Josef Klein in Gr.-Bresen bei Gellendorf auf dessen Acker [...], um dort eine Aufdeckung von heidnischen Gräbern vorzunehmen. Das [...] Feld birgt in dem fast durchaus sandigen Boden unter der Oberfläche 1–2’ tief eine Unmasse von größeren und kleineren Feldsteinen [...]. Die Gräber nun enthalten meist mehrere größere und kleinere Gefäße, Schalen, umgestülpte Schüsseln und Scheiben mit zahlreichen Eindrücken von Fingernägeln auf der einen Seite. Die Gefäße stehen zwischen den Steinen oder mit solchen zugedeckt [...]. Die Haupturnen sind häufig mit Schalen oder jenen Tellern in kleineren [sic] Format zugedeckt [...]. Die Nadeln und einige kleinere, schön verzierte Schalen befinden sich im Museum unter Journal-Nr. 7140-53. Dazu ist später manches Andere gekommen, so eine unberührte Schale mit Knochen, ein kleines Gefäß mit einem Polirsteine. Die größeren Urnen sind zurückgelassen worden.“32 Tab. 3: Museum Schlesischer Alterthümer (bis 1898), ab 1899 Abteilung des Schlesischen Museums für Kunstgewerbe und Alterthümer. Kustoden der Sammlung Hermann Luchs (1826–1887)

Vorsitzende des Vereins 1859–1887 Johann Adrian Joseph Graf von Hoverden-Plencken (1798–1875) Heinrich Robert Göppert (1800–1884) Hermann Fürst Hatzfeld-Schönstein auf Trachenberg (1848–1933) Colmar Grünhagen (1828–1911)

Hans Lutsch 1887–1888 (1854–1922) Wilhelm Grempler (1826–1907) Eugen von Czihak 1888–1892 (1853–1918) Hans Seger 1892–1930 (1864–1943) Oskar Mertins (1858–1909) Hans Seger

1858–1875 1875–1877 1877–1878 1878–1884 1884–1902

komm. 1902–1907 1907–1943

32 [Luchs, Hermann]: Ueber den heidnischen Bestattungsplatz bei Gr.-Breesen (bei Gellendorf ). In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift 3 (1878) 51.

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Die Ausgrabungen vermehrten die Bestände derart, dass akuter Platzmangel herrschte. Abhilfe sollte im größeren Rahmen ein Neubau schaffen, der mehrere Breslauer Sammlungen als Schlesisches Provinzialmuseum der Bildenden Künste in sieben Abteilungen zusammenzuführen hatte. Doch vor der Eröffnung 1880 bekam der Verein kalte Füße und fürchtete den Verlust der Kontrolle über seine prähistorische und kunstgewerbliche Sammlung. Daher kam es nicht zur formalen Eingliederung derselben in das neue Museum, aber doch zur Aufstellung der Sammlung in einem abgeschlossenen Flügel im Erdgeschoss (anstelle von Sälen im Hauptgeschoss).33 Der Verein gab zunächst kleine „Berichte“ heraus, die 1869 zur Zeitschrift Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift zusammengefasst wurden. Die Zahl der Tauschpartner war wie anderswo groß, und damit ergaben sich Möglichkeiten des weiträumigen wissenschaftlichen Austauschs. So meldete sich der später berühmt werdende dänische Archäologe Sophus Müller (1846–1934), im Hauptberuf Lehrer und zugleich Assistent am Museum nordischer Altertümer in Kopenhagen, mit einem Beitrag Über slawische Schläfenringe zu Wort und bestritt die auf Schädelmessungen basierende These des Sanitätsrats Biefel, es handele sich um germanische Bestattungen; vielmehr wären dort Slawen begraben worden,34 was auch heutiger Auffassung entspricht. Müller publizierte diesen wissenschaftlichen Durchbruch in den Berichten des Breslauer Altertumsvereins. Als von besonderem wissenschaftlichem Gewicht erwiesen sich Gräber, die 1886 und 1887 bei Sackrau in der Nähe von Breslau entdeckt wurden. Nachdem Arbeiter in einer Sandgrube auf große Steine und Goldobjekte gestoßen waren, erfolgten Bergungen durch Hermann Luchs und Wilhelm Grempler (1826–1907). Die rasche Fundvorlage ließ erkennen,35 dass es sich um reich ausgestattete Gräber der „älteren Eisenzeit“ handelte, die sich anhand einer römischen Münze in das späte 3. Jahrhundert datieren ließen. Bereits Grempler verglich die Sackrauer Funde mit ähnlichen Prunkgräbern der jüngeren Römischen Kaiserzeit, wie sie von Dänemark bis in die Slowakei vorkommen.36 Grempler, der mit diesem Fund wissenschaftlich hervortrat, war praktischer Arzt in Breslau und übernahm 1884 den Vorsitz im Verein für das Museum schlesischer Alterthümer. In dieser Eigenschaft und durch gute Kontakte zu Rudolf Virchow (1821–1902) gelang es ihm, die XV. Allgemeine Versammlung der Deutschen Gesellschaft für An-

33 Seger: Geschichte, 21. 34 Müller, Sophus: Ueber slawische Schläfenringe. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift 3 (1881) 189–197 (im Bericht von 1877). 35 Grempler, Wilhelm: Der Fund von Sackrau. Brandenburg/Berlin 1887; ders.: Der II. und III. Fund von Sackrau. Berlin 1888. 36 Quast, Dieter: Wanderer zwischen den Welten. Die germanischen Prunkgräber von Stráže und Zakrzów. Mainz 2006 (Mosaiksteine. Forschung am Römisch-Germanisches Zentralmuseum 6); ders.: Die Steinkammergräber aus Wrocław-Zakrzów. In: Abegg-Wigg, Angelika/Lau, Nina (Hg.): Kammergräber im Barbaricum. Zu Einflüssen und Übergangsphänomenen von der vorrömischen Eisenzeit bis in die Völkerwanderungszeit. Neumünster 2014 (Schriften des Archäologischen Landesmuseum. Ergänzungsreihe 9), 323–342.

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thropologie, Ethnologie und Urgeschichte für den 4. bis 7. August 1884 nach Breslau zu holen. Auf diesem Kongress beklagte Virchow den unzureichenden Stand der Urgeschichtsforschung in Schlesien,37 dem aber etwa die Vorlage der Sackrauer Gräber erste Abhilfe schaffen konnte. Insofern besaß die Versammlung durchaus die Wirkung eines Katalysators für die schlesische Urgeschichtsforschung. Grempler gab fünf Jahre danach mit 63 Jahren den Arztberuf auf und konzentrierte sich auf die Prähistorie, unternahm verschiedene Studienreisen und erwarb Sammlungsstücke für die Museen in Berlin und Breslau. Er knüpfte zahlreiche und weitreichende Kontakte; schließlich vermachte er – er war Junggeselle geblieben – sein beträchtliches Vermögen von 300.000 Mark dem Breslauer Museum zur Einrichtung einer Stiftung. In den letzten Jahren vertrat ihn Oskar Mertins (1858–1909) als Vereinsvorsitzender; Mertins wurde 1884 Realschullehrer, 1889 Oberlehrer und 1902 Professor für neuere Sprachen am Heilig-Geist-Gymnasium Breslau.38 Aus seiner Feder stammen viele Aufsätze zur schlesischen Prähistorie und ein umfänglicher, reich illustrierter Wegweiser durch die Urgeschichte Schlesiens.39

3. Verwissenschaftlichung um 1900: Hans Seger Sind damit die Vereinsvorsitzenden (Tab. 3) und ihr Engagement für die Urgeschichtsforschung angesprochen, so gab es im Museum eine Art Interregnum. Auf Hermann Luchs folgte Hans Lutsch (1854–1922), der als Regierungsbaumeister 1891 zum Provinzialkonservator (für Bauten) für Schlesien und damit zum ersten in Preußen überhaupt bestellt wurde. Seine Nachfolge trat für vier Jahre Eugen von Czihak (1853–1918) an, ebenfalls Regierungsbaumeister sowie Lehrer an der Baugewerkschule Breslau; sein Interesse galt vornehmlich „den kunstgewerblichen Altsachen [...], die infolge der bisherigen geringen Aufwendungen hinter den übrigen Sammlungsteilen etwas zurückgeblieben waren“.40 Czihak ging 1892 als Direktor der neugegründeten Königlichen Baugewerk- und Handwerksschule nach Königsberg, während Lutsch „abgedankt“ hatte.41 Die endgültige Professionalisierung der Urgeschichtsforschung in Schlesien wird Hans Seger verdankt, der 1892 das Amt als – nun besoldeter – Kustos der Sammlung übernahm. Zuvor war er bereits zwei Jahre Assistent am Museum gewesen.42 Wie alle Prähistoriker dieser Zeit, bevor sich das Fach als akademische Disziplin an den Universitäten etablierte, hatte er verwandte Fächer studiert – (Klassische) Archäologie und Kunstgeschichte in Breslau und München – und war über Byzantinische Historiker des 37 Masner, Karl: Wilhelm Grempler †. In: Jahrbuch des Schlesischen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer 4 (1907) [unpaginiert]. 38 Seger, Hans: Oskar Mertins †. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift N. F. 5 (1909) 274. 39 Mertins, Oskar: Wegweiser durch die Urgeschichte Schlesiens. Breslau ²1906. 40 Seger: Geschichte, 22. 41 Ebd. 42 Ebd., 23.

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zehnten und elften Jahrhunderts. Nikephoros Bryennios, eine philologisch-historische Untersuchung 43 promoviert worden. Die ersten Jahre im Amt verwendete Seger zunächst auf die Erweiterung der kunstgewerblichen Bestände und der Münzsammlung, bevor er sich der Vorgeschichte zuwandte.44 In der zweiten Hälfte der 1890er Jahre nahmen Planungen zur Einrichtung eines eigenen Kunstgewerbemuseums Gestalt an, vorangetrieben vom schlesischen ZentralGewerbe-Verein.45 Der Verein für das Museum schlesischer Alterthümer stimmte zu, dass die Verwaltung seiner Sammlung(en) auf den Provinzialverband überging,46 ihm „aber die Sorge für ihre Vermehrung und wissenschaftliche Nutzbarmachung und das Vorschlagsrecht für die Ernennung des Kustos verbleiben solle“.47 Sämtliche Bestände gingen mit der Einrichtung des Kunstgewerbemuseums in den Besitz der Stadt über, die das alte Ständehaus umbaute und 1899 eröffnete. Die „urgeschichtliche Sammlung“ kam neben der Werkstatt im Kellergeschoss unter: Saal 1 mit Paläolithikum, Neolithikum und Bronzezeit, Saal 2 und 3 mit Eisenzeit, Saal 4 mit Römischer Kaiser- und Völkerwanderungszeit sowie dem slawischen Frühmittelalter.48 Einige Jahre, nachdem das Kunstgewerbemuseum gegründet und eröffnet worden war, passte der Verein seinen Namen den neuen Gegebenheiten an. 1906 wurde aus dem Verein für das Museum schlesischer Alterthümer, das so nicht entstanden war, nun der Schlesische Alterthumsverein.49 Bereits zuvor – praktisch zeitgleich mit der Museumsgründung – war aus der Zeitschrift Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift des Vereins unter gleichem Titel das Jahrbuch des Schlesischen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer geworden; die Bände zählte man neu als „Neue Folge“. 43 Ders.: Byzantinische Historiker des zehnten und elften Jahrhunderts 1. Nikephoros Bryennios, eine philologisch-historische Untersuchung. München 1888. 44 Kohlhaußen, Heinrich: Hans Seger als Museumsmann. In: Altschlesien 5 (1934) 5–12, hier 8; Demidziuk, Krzysztof: Hans Seger, Prehistorik. In: Lipman, Irena/Nowosielska-Sobel, Joanna (Hg.): Wybitni Wrocławiane z niemieckiej i polskiej historii miasta. Wrocław 2007, 78–85. 45 Bender, Georg: Die Bestrebungen zur Gründung eines Kunstgewerbemuseums in Breslau. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift N. F. 1 (1900) 25–30. 46 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Der Vertrag mit der Stadt nannte eine „vorgeschichtliche“, eine „kirchliche“, eine „Waffensammlung“, eine „kulturgeschichtlich-kunstgewerbliche“, eine „architektonisch-monumentale“, eine „Münzen- und Medaillensammlung“, eine „Siegelsammlung“, eine „Sammlung von Porträts und Abbildungen“, schließlich eine „Bibliothek“. Vgl. Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift N. F. 1 (1900) 191f., hier 191. 47 Seger: Geschichte, 23. 48 I. Die Urgeschichtliche Sammlung. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift N. F. 1 (1900) 39– 44. Die weiteren Sammlungen: Münzkabinett, Kulturgeschichtliche Sammlung (zur Stadtgeschichte), Kunstgewerbe. Vgl. Demidziuk, Krzysztof: 100 lat Śląskiego Muezeum Prrzemyłu Artystycznego Starożytności (refleksie nad wrocławskim muzealnictwem archeologicznym w latach 1815–1999). In: Silesia Antiqua 40 (1999) 173–183. 49 Seger, Hans: Fünfundsiebzig Jahre Schlesischer Altertumsverein. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift N. F. 10 (1934) 1–11, hier 2. Der Verein gab die Zeitschrift Altschlesien – es erschienen die Bände 1 (1926) bis 10 (1941) – heraus.

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Im neuen Kunstgewerbemuseum übernahm Seger das Amt des stellvertretenden (Zweiten) Direktors. Darüber hinaus habilitierte er sich 1907 an der Breslauer Universität, an der er zum Honorarprofessor ernannt wurde.50 Er hatte sich bereits vor Kriegsausbruch breite Anerkennung erworben, wie Mitgliedschaften in zahlreichen Altertumsgesellschaften belegen.51 Zusammen mit den gleichaltrigen Museumsdirektoren Carl Schuchhardt (1859–1943) in Berlin und Karl Schumacher (1860–1934) in Mainz hob er 1909 die Prähistorische Zeitschrift aus der Taufe.52 Wie Schuchhardt plädierte Seger für den gesetzlichen Schutz der „Bodenaltertümer“, der nach Segers Plädoyer53 und Schuchhardts Denkschrift54 schließlich 1914 für Preußen umgesetzt wurde.55 Wissenschaftlich waren die Entdeckung, Ausgrabung, Auswertung und Veröffentlichung neuer Funde bedeutsam. Binnen kurzer Zeit ließ sich ein Überblick über die prähistorische Entwicklung gewinnen, zumal nun auch die chronologischen Grundlagen gesichert waren – Oscar Montelius (1843–1921) in Stockholm und Otto Tischler (1843–1891) in Königsberg entwickelten grundlegende Ordnungssysteme.56 War damit die zeitliche Systematik (ungeachtet steter weiterer Verfeinerungen) erreicht, so gewann nun wieder der geographische Aspekt an Bedeutung. Gustaf Kossinna (1858–1931) in Berlin war es, der daraus ein ethnisches Paradigma formte – das zugleich von vielen Wissenschaftlern, etwa dem Wiener Prähistoriker Moritz Hoernes (1852–1917), bestritten wurde.57 Seger folgte Kossinnas verbreiteter Grundidee inhaltlich. „Wir haben guten Grund, diese kulturelle Einheit [der Hallstattkultur, d. Verf.] als den Ausdruck völkischer Verwandtschaft zu betrachten und demzufolge unsere Urnenfriedhof-Leute mit [...] Stammesgruppen thrakischer oder illyrischer Herkunft in Verbindung zu bringen.“58 50 Czarniak, Krzysztof: Hans Seger – w setną roznicę habilitacji. In: Silesia Antiqua 44 (2008) 306–312. 51 Jahn, Martin: Hans Seger zum siebzigsten Geburtstage. In: Altschlesien 5 (1934) 1–4 [Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Seger]; Kohlhaußen: Hans Seger, 5–12. 52 Alle drei blieben bis 1926 die Herausgeber, als Wilhelm Unverzagt als Berliner Nachfolger Schuchhardts diese Rolle übernahm. 53 Seger, Hans: Der Schutz der vorgeschichtlichen Denkmäler. Denkschrift der Kommission der deutschen anthropologischen Gesellschaft, vorgelegt der 35. allgemeinen Versammlung in Greifswald 1904. Breslau 1904. 54 �������������������������������������������������������������������������������������������� Schuchhardt, Carl: Denkschrift über die Notwendigkeit eines gesetzlichen Schutzes der Bodenaltertümer in Preußen. Berlin 1913. 55 Preußische Gesetzessammlung 1914, Nr. 10, 41–46 (Nr. 11342 vom 26. März 1914). 56 Gräslund, Bo: The birth of Prehistoric Chronology. Dating Methods and Dating Systems in nineteenth-century Scandinavian Archaeology. Cambridge 1987; Hoffman, Mirosław J.: Otto Tischler w stulecie śmierci. In: Pomorania Antiqua 15 (1993) 313–338. 57 ���������������������������������������������������������������������������������������� Grünert, Heinz: Gustaf Kossinna (1858–1931). Vom Germanisten zum Prähistoriker. Ein Wissenschaftler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Rahden 2002 (Vorgeschichtliche Forschungen 22); Brather, Sebastian: Art. Hoernes, Moritz. In: Germanische Altertumskunde ­Online. https://www.degruyter.com/view/GAO/GAO_79 (DOI: 10.1515/gao_79 [eingeschränkter Zugriff nach rechtlichen Vorgaben; letzter Zugriff 2. Juni 2020]. 58 Seger, Hans: Schlesiens Urgeschichte. Der dreizehnten Hauptversammlung der deutschen Ge-

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Im 6. Jahrhundert sei dann die „Steinkiste“ als „eine nordische Grabform“ aufgekommen, die „von dort her zu uns gekommen sein muß. Ist dies aber der Fall, so haben wir in jenen Gräbern die ersten Gruppen der germanischen Ausbreitung nach dem Süden vor uns, die bald nachher zur Verdrängung der vorgermanischen Bewohner unseres Landes und zu seiner vollständigen Neubesiedlung führte.“59 Besondere Bekanntheit erlangten die Untersuchungen in Jordansmühl, wo Hans Seger über viele Jahre eine Siedlung und ein Gräberfeld (Hockergräber) ausgrub. Der Platz wurde zum eponymen Fundort der „Jordansmühler Kultur“ (die Bezeichnung stammt von Seger selbst60), womit eine endneolithische beziehungsweise kupferzeitliche Sachkultur in Böhmen, Mähren und Schlesien erfasst wird. Berühmt wurde der (erst 1925 in einer Grube gefundene) Widder von Jordansmühl – eine bis heute einzigartige Tierfigur von 33 cm Höhe.61 Zahlreiche Urnengräberfelder mit umfangreichen Gefäßausstattungen waren leicht zu entdecken und rasch zu bergen. Sie sind typisch für die Lausitzer Kultur der jüngeren Bronze- (Urnenfelder-) und Eisenzeit. 1891 und 1892 wurden beim Bau der Umgehungsbahn solche Gräberfelder bei Woischwitz und Groß-Tschansch ausgegraben; später folgten vergleichbare Befunde in Dyhernfurth, Carlsruhe und Weidenhof.62 Diese urnenfelderzeitlichen Bestattungsplätze bedeuteten einen doppelten Glücksfall: Zum einen vermehrten die umfangreich ausgestatteten Gräber die Bestände des Vereins beziehungsweise Museums beträchtlich, zum anderen boten die zahlreichen Funde und ihre Kombinationen viel Stoff für weitere Forschungen. Im Jahr 1907 begann man damit, die schlesischen prähistorischen bis hochmittelalterlichen Befestigungen zu dokumentieren. Auf Anregung Hans Segers wurde die „Burgwallaufnahme“ gestartet, wofür der Oberlandmesser Max Hellmich (1867– 1937) eingesetzt wurde.63 Schon kurz darauf, bevor also auch nur ein größerer Teil der Burgwälle vermessen war, kam es zu ersten systematischen Ausgrabungen. Zwischen 1911 und 1913 unternahm der damalige Student Gerhard Bersu (1889–1964), der sich bereits Geländeerfahrungen verschafft hatte, Burgwallausgrabungen.64 Er legte auf dem Breiten Berg bei Striegau Schnitte an, die zur Grundlage seiner Dissertati

schichts- und Altertumsvereine in Breslau 1913 gewidmet vom Schlesischen Altertumsverein. Leipzig 1913, 16. 59 Ebd., 16f. 60 Ders.: Die Steinzeit in Schlesien. In: Archiv für Anthropologie N. F. 5 (1906) 116–141; ders.: Die keramischen Stilarten der jüngeren Steinzeit in Schlesien. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift N. F. 7 (1916) 1–89. 61 Ders.: Der Widder von Jordansmühl. In: Jahrbuch für prähistorische und ethnographische Kunst 4 (1928) 13–17. 62 Ders.: Geschichte, 23. 63 Hellmich, Max: Hans Seger und die schlesischen Wehranlagen. In: Altschlesien 5 (1935) 304– 343; Seger, Hans: Max Hellmich †. In: Altschlesien 7 (1937) 1–4. 64 ����������������������������������������������������������������������������������������� Krämer, Werner: Gerhard Bersu. Ein deutscher Prähistoriker 1889–1964. In: Bericht der Römisch-Germanischen Kommission 82 (2002) 5–101.

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onsschrift wurden,65 die er aber erst spät publizieren konnte.66 Die weiteren Geländeforschungen in Mertschütz, Streitberg und Mönchmotschelnitz blieben dagegen unpubliziert.67 Heute undenkbar, aber um 1900 noch kein Problem war der Fundtausch zwischen Sammlungen und Museen. So findet sich in einem Jahresbericht die lakonische Feststellung: „Eine Anzahl typischer Fundstücke wurde an die Lokalsammlungen in Oppeln und Liegnitz und an das Kgl. Museum für Völkerkunde in Berlin abgegeben.“68 Das Vorgehen diente dazu, durch Vergleiche vor Ort zu sicheren Einordnungen zu gelangen – sowohl in zeitlicher als auch in geographischer Hinsicht. Nicht allein durch Publikationen, sondern auch durch Originale wurde der wissenschaftliche Austausch gepflegt. Allmählich konnte der Mitarbeiterstab am Museum vergrößert werden. Im Jahr 1906 kam Johannes Richter (1875–1944) als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter hinzu,69 der 1910 mit einer paläontologischen Arbeit in Breslau promoviert wurde,70 die Stadt aber bald verließ. 1912 stellte man den Kossinna-Schüler Martin Jahn (1888–1974) als wissenschaftlichen Hilfsassistenten ein, der 1920 zum Direktorialassistenten sowie Kustos befördert wurde und später noch weiter Karriere in der Bodendenkmalpflege und als Universitätsprofessor machte.71 An der Breslauer Universität hatte sich Hans Seger zwar schon 1907 habilitiert, doch gab es bis zum Ende des Ersten Weltkriegs noch keine Abschlüsse beziehungsweise Promotionen in der Prähistorie. Dies blieb erst den 1920er Jahren vorbehalten, als sich deutschlandweit die Akademisierung der Prähistorie anbahnte.72 Mit Josef

65 Bersu, Gerhard: Die Methode der Erforschung antiker Erdbefestigungen und der Ringwall auf dem Breiten Berge bei Striegau. Phil. Diss. Tübingen 1925. 66 Ders.: Der Breite Berg bei Striegau. Die Grabungen. Breslau 1930. 67 Grunwald, Susanne/Reichenbach, Karin: „Förderung der Erkenntnis vom Wesen und Zweck der Wehranlagen“. Zur Geschichte der archäologischen Burgwallforschung in Sachsen und Schlesien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Rieckhoff, Sabine/Grunwald, Susanne/Reichenbach, Karin (Hg.): Burgwallforschung im akademischen und öffentlichen Diskurs des 20. Jahrhunderts. Leipzig 2009 (Leipziger Forschungen zur Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie 5), 63–95, hier 72 Anm. 28. 68 Bericht über das VI. Etatjahr. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift N. F. 4 (1907) 175–190, hier 176. 69 Richter ging bald als wissenschaftlicher Assistent an das Provinzialmuseum in Posen, um darauf 1919 bis 1937 die Vorgeschichtliche Abteilung des Museums für Völkerkunde Leipzig zu leiten. 70 Richter, Johannes: Über Hoplophorus. Rer. nat. Diss. Breslau 1910. 71 Smolla, Günther: Martin Jahn. 20. September 1888 – 11. September 1974. In: Prähistorische Zeitschrift 50 (1975) 1–8; Fahr, Jochen: Martin Jahn in Halle/Saale. Ein Neuanfang unter völlig veränderten Vorzeichen. In: Grunwald, Susanne u. a. (Hg.): ArteFact. Festschrift für Sabine Rieckhoff zum 65. Geburtstag. Bonn 2009 (Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 172), 103–113. 72 Gero von Merhart (1886–1959) wurde 1928 in Marburg an der Lahn der erste Ordinarius in Deutschland.

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Pietsch (1899–1945?)73 – Promotion 1922,74 Kurt Tackenberg (1899–1992)75 – Promotion 1924,76 Bolko von Richthofen (1899–1983)77 – Promotion 1924,78 und Fritz Geschwendt (1892–1981) – Promotion 1931,79 sind die Seger-Schüler genannt, von denen der erste später den Beruf wechselte, während die anderen in Schlesien und auch anderswo das Fach prägten. Eine Anerkennung für die schlesischen und Breslauer Forschung bedeutete es wohl, dass die 13. Hauptversammlung des Gesamtvereins der deutschen Geschichtsund Altertumsvereine in Breslau vom 5. bis 7. August 1913 in Breslau tagte. Hans Seger ließ zu diesem Anlass seine knappe Übersicht der schlesischen Urgeschichte als Separatum drucken.80

4. Rückblick und Einordnung Ein kurzer Rückblick auf die Urgeschichtsforschung des 19. Jahrhunderts in ­Schlesien offenbart eine erstaunliche Delle in der Jahrhundertmitte. Hatte Büsching in den 1820er Jahren noch Anschluss an die mitteleuropäische Debatte um die ‚richtige‘ Datierung und Einordnung der Bodenfunde gehabt, so fand er überraschenderweise keinen Nachfolger. Anders etwa – um nur Mitteleuropa zu nennen – in Mecklenburg,

73 Pietsch alias Cosmus Flam wandte sich von der Urgeschichtsforschung ab und wurde Beamter, Schriftsteller und Wanderprediger. Vgl. Kunicki, Wojciech: Der Fall Cosmus Flam. Eine schlesische Tragödie. In: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen (2001) 129–153. 74 Pietsch, Josef: Die jüngere Bronzezeit in Schlesien. Die Typologie der Großkeramik. Phil. Diss. Breslau 1922. 75 Jockenhövel, Albrecht (Hg.): Kurt Tackenberg (1899–1992) zum Gedächtnis. Münster 1996; Halle, Uta: Archäologie und „Westforschung“. In: Dietz, Burkhard/Gabel, Helmut/Tiedau, Ulrich (Hg.): Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960). München/Berlin 2003 (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwestdeutschlands 6), 383–406, hier 388–390. 76 Tackenberg, Kurt: Die Wandalen in Niederschlesien. Phil. Diss. Breslau 1924. 77 Weger, Tobias: Bolko Freiherr von Richthofen und Helmut Preidel. Eine doppelte Fallstudie zur Rolle von Prähistorikern und Archäologen in den Vertriebenenorganisationen nach 1945. In: Schachtmann, Judith/Strobel, Michael/Widera, Thomas (Hg.): Politik und Wissenschaft in der prähistorischen Archäologie. Perspektiven aus Sachsen, Böhmen und Schlesien. Göttingen 2009 (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung. Berichte und Studien 56), 125–148; ders.: Bolko von Richthofen. In: Fahlbusch, Michael/Haar, Ingo/Pinwinkler, Alexander (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme, Bd. 1. Berlin/Boston 2017, 631–636. 78 Richthofen, Bolko von: Die ältere Bronzezeit in Schlesien. Phil. Diss. Breslau 1924. 79 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Geschwendt, Fritz: Die steinernen Streitäxte und Keulen Schlesiens. Eine typologische Untersuchung. Phil. Diss. Breslau 1931. 80 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Seger: Schlesiens Urgeschichte; Original in: Frech, Fritz/Kampers, Franz (Hg.): Schlesische Landeskunde, Bd. 2: Geschichtliche Abteilung. Leipzig 1913, 1–27.

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der Altmark, West- und Süddeutschland oder Böhmen, wo Georg Christian Friedrich Lisch (1801–1883),81 Johann Friedrich Danneil (1783–1868),82 Ludwig Lindenschmit (1809–1893)83 und Karl Wilhelmi (1786–1857)84 oder Jan Erazim Vocel (1803–1871)85 forschten und publizierten – und 1852 das Römisch-Germanische Zentralmuseum in Mainz (für die heidnische Vorzeit) sowie das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg (für das christliche Mittelalter) gegründet wurden. ­Schlesien war also nicht an den Debatten um das Drei-Perioden-System und damit nicht an einer entscheidenden Formierungsphase der prähistorischen Archäologie beteiligt, als sie nämlich die Trennung von den schriftlichen Quellen vollzog.86 Erst seit den 1870er Jahren holte man den Rückstand langsam auf. Mit Hans Seger erreichte die schlesische Urgeschichtsforschung dann ein weithin anerkanntes wissenschaftliches und denkmalpflegerisches Niveau.

81 Lehmann, Thomas (Hg.): Mecklenburgs Humboldt: Friedrich Lisch. Ein Forscherleben zwischen Hügelgräbern und Thronsaal. Lübstorf 2001 (Archäologie in Mecklenburg-Vorpommern 2). 82 ������������������������������������������������������������������������������������������� Beranek, Josef: Johann Friedrich Danneil. Seine Verdienste um die Heimat- und Urgeschichtsforschung in der Altmark. Halle 1969 (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Wissenschaftliche Beiträge 1969, 7). 83 Panke, Tanja: Altertumskunde zwischen Fortschritt und Beharrung. Ludwig Lindenschmit d. Ä. (1809–1893) in seiner Zeit. In: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 45 (1998) 711–773; Frey, Annette (Hg.): Ludwig Lindenschmit d. Ä. Begleitbuch zur Ausstellung aus Anlass seines 200. Geburtstages im Römisch-Germanischen Zentralmuseum. Mainz 2009 (Mosaiksteine. Forschung am Römisch-Germanisches Zentralmuseum 5). 84 ������������������������������������������������������������������������������������ Wahle, Ernst: Karl Wilhelmi (1785–1857) als Begründer der Altertumsforschung in Süddeutschland. In: Neue Heidelberger Jahrbücher (1933) 1–88. 85 ������������������������������������������������������������������������������������������� Sklenář, Karel: Jan Erazim Vocel. Zakladatel české archeologie. Praha 1981 (Odkazy pokrokových osobností naší minulosti 61). 86 Sasse: Der Weg, 382–386.

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Beobachtungen zur Etablierung einer neuen wissenschaftlichen Disziplin. Kunsthistorische Forschungen in Schlesien vor dem Ersten Weltkrieg 1. Einleitung Kunstgeschichte etablierte sich als wissenschaftliches Fach im 19. Jahrhundert,1 ihre Anfänge reichen freilich in die frühneuzeitliche Geschichtsschreibung und die in europäischen Ländern bereits seit dem 16. Jahrhundert entstehende Biographik zurück – zu nennen ist in diesem Zusammenhang beispielsweise Giorgio Vasaris Werk Le Vite de’ più eccellenti pittori, scultori et architettori aus dem Jahr 1550.2 In Schlesien lassen sich erste Spuren kunsthistorischer Forschungen im 18. Jahrhundert finden. Sie verbinden sich mit dem Interesse an der sogenannten Altertumswissenschaft. In den zu jener Zeit in großer Zahl veröffentlichten biobibliographischen Ausgaben3 lassen sich wissenschaftliche Abhandlungen finden, die auch Aspekte der Kunstgeschichte betrafen.4 Dazu zählt etwa die lexikalische Erfassung des Fachwissens aus dem Bereich der Altertumswissenschaft durch Johann Christian Friedrich Wetzel in dem dreibändigen Handwörterbuch der alten Welt- und Völkergeschichte.5 Eine gewisse historiographische Faszination im Zeitalter der Aufklärung war auch im Oderland erkennbar. In den Jahren 1750 bis 1820 stellten geschichtliche Darstellungen etwa ein Zehntel des schlesischen wissenschaftlichen Verlagsrepertoires dar; davon betraf ungefähr ein Drittel die Geschichte der eigenen Provinz.6 Vereinzelte Informationen zu Kunstwerken in Schlesien tauchen in den Gesamtdarstellungen zur regionalen Geschichte von Friedrich Wilhelm Pachaly, Karl Ludwig von Klöber, Friedrich Albert Zimmermann, Karl Adolph Menzel und Johann Daniel Hensel auf. Von den genann1 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Wegner, Reinhard (Hg.): Kunst als Wissenschaft. Carl Ludwig Fernow – ein Begründer der Kunstgeschichte. Göttingen 2005 (Ästhetik um 1800 2). 2 Vasari, Giorgio: Le Vite de’ più eccellenti pittori, scultori et architettori, pittori e scultori Italiani da Cimabue insigno a’tempi nostri, Bd. 1–3. Firenze 1550. 3 Herden, Elżbieta: Gelehrtes Sibirien, czyli o drukowanych XVIII-wiecznych biobibliografiach śląskich. In: Roczniki Biblioteczne 41 (1997) 43–72. 4 Żbikowska-Migoń, Anna: Książka naukowa w repertuarze wydawniczym Śląska lat 1750–1820. Rekonesans badawczy. In: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska Republika Uczonych – Schlesische Gelehrtenrepublik – Slezská vědecká obec, Bd. 1. Wrocław 2004, 398–419, hier 405f. 5 Wetzel, Johann Christian Friedrich: Handwörterbuch der alten Welt- und Völker-Geschichte. Oder alte Welt- und Völker-Geschichte nach dem Alphabet in Abriß, erläutert durch historische, mythologische, genealogische Literatur- und Kultur-Tabellen, Bd. 1–3. Liegnitz 1804. 6 Żbikowska-Migoń: Książka naukowa, 411.

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ten Autoren waren Pachaly und Hensel am ehesten an Kulturphänomenen interessiert. Angaben zu Denkmälern und deren Entstehung finden sich ferner in diversen Studien zu Städten und Herzogtümern Schlesiens – etwa in Christian Gottfried Fechners Geschichte der Stadt Bunzlau,7 in Christian Friedrich Emmanuel Fischers Geschichte und Beschreibung der schlesischen Stadt Jauer,8 in Johann Daniel Hensels Werk Historischtopographische Beschreibung der Stadt Hirschberg in Schlesien,9 in Samuel Benjamin Kloses dreibändigem Werk Von Breslau10 sowie in der Abhandlung von Johann Gottlob Worbs Geschichte des Herzogtums Sagan.11 Über Sakralbauten wiederum schrieben vor allem Historiker der evangelischen Kirche in Schlesien. Wichtig in diesem Kontext ist besonders das monumentale Werk von Johann Adam Hensel Protestantische KirchenGeschichte der Gemeinen in Schlesien.12 Zu beachten ist generell, dass Historiker wegen ihrer soliden Ausbildung im Bereich der antiken Geschichte besonderes Interesse auch an der Kunst dieses Zeitalters zeigten.13

2. Stand der Forschung Eine eigenständige Studie zur Synthese der wissenschaftlichen Leistungen von Kunsthistorikern in Schlesien vor dem Ersten Weltkrieg gibt es nicht; es existiert überhaupt keine Synthese zur Geschichte der kunsthistorischen Forschung im Oderland. Entsprechende Forschungsinteressen können daher nur anhand der vereinzelten, meist monographischen Studien verfolgt werden. Als erster Versuch zur Erfassung des Faches 17 Fechner, Christian Gottfried: Die Geschichte der Stadt Bunzlau zur Kenntnis der vergangenen Zeit besonders für Bürger und Landleute, Bd. 1–2. Bunzlau 1787–1788. 18 Fischer, Christian Friedrich Emanuel: Geschichte und Beschreibung der schlesischen Fürstenthumshauptstadt Jauer. Größtentheils nach handschriftlichen Urkunden, Bd. 1–2. Jauer 1803– 1804. 19 Hensel, Johann Daniel: Historisch-Topographische Beschreibung der Stadt Hirschberg in Schlesien. Seit ihrem Ursprunge bis auf das Jahr 1797. Hirschberg 1797. 10 Klose, Samuel Benjamin: Von Breslau. Dokumentirte Geschichte und Beschreibung. In Briefen, Bd. 1–3. Breslau 1781–1783. 11 Worbs, Johann Gottlob: Geschichte des Herzogthums Sagan. Züllichau 1795. 12 ������������������������������������������������������������������������������������������ Hensel, Johann Adam: Protestantische Kirchen-Geschichte der Gemeinen in Schlesien nach allen Fuerstenthuemern, vornehmsten Staedten und Oertern dieses Landes [...] in acht Abschnitten. Leipzig/Liegnitz 1768. 13 Rollin, Charles: Römische Historie von der Erbauung der Stadt Rom bis auf die Schlacht bey Actium oder das Ende der Republik, Bd. 1–16. Breslau 1757–1763; Theune, Carl Heinrich (Hg.): Geschichte von Griechenland, worin enthalten: Eine kurzgefaßte Erdbeschreibung dieses Landes. Eine hinlängliche Erzehlung von dessen verschiedenen Königreichen und Staaten. Eine nähere Nachricht von der Religion, den Gesetzen, Feyerlichkeiten, Sitten und Gewohnheiten der Griechen. Von einem ungenannten Verfasser zum Dienst der Schulen in Englischer Sprache geschrieben; nun [...] aus derselben in die deutsche Sprache übersetzt. Leipzig/Breslau 1757; Von den Sitten und Gebräuchen der Römer. Breslau 1772.

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Kunstgeschichte an der Universität Breslau kann ein Aufsatz Georg Kaufmanns im Jubiläumsband der Breslauer Alma Mater aus dem Jahr 1911 gelten.14 Auf diese Abhandlung stützte sich auch Mieczysław Pater im wesentlichen in seiner Universitätsgeschichte von 1997.15 Einen fundierten Beitrag zum Thema Kunstgeschichte an der Universität Breslau bis 1945 verfasste Beate Störtkuhl im Jahr 2004.16 Auf breiter Quellengrundlage stellt die Autorin darin die einzelnen Professoren mit ihren Forschungsschwerpunkten vor und diskutiert deren Beitrag zu Entwicklung der Fachrichtung. Die Geschichte des Seminars beziehungsweise anschließend des Instituts für Kunstgeschichte an der Universität Breslau skizzierte unlängst zudem Wiesława Neuhoff.17 Dieser immer noch recht bescheidene Forschungsstand wird ergänzt durch Biogramme von Breslauer Professoren, zu deren Wirken vereinzelt größere Studien vorliegen – dies gilt etwa für Johann Gustav Gottlieb Büsching,18 August Schmarsow19 und Richard Muther20 –, durch einen 1953 erschienenen Rückblick auf die Breslauer Kunstgeschichte in der Vorkriegszeit21 sowie durch Denkmalverzeichnisse und Museumskataloge (vor allem Ausstellungsbroschüren und Sammlungsregister). An handschriftlichen Materialien wurden für diesen Beitrag vor allem die im Archiv der Universität Breslau (Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego) aufbewahrten Unterlagen des Lehrfachs für Kunstgeschichte (Signatur F 95), das Verzeichnis der Promotio14 Kaufmann, Georg: Kunstgeschichte. In: ders. (Hg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Tl. 2: Geschichte der Fächer, Institute und Ämter der Universität Breslau 1811–1911. Breslau 1911, 368–369. 15 Pater, Mieczysław: Historia Uniwersytetu Wrocławskiego do roku 1918. Wrocław 1997, 149. 16 Störtkuhl, Beate: Die Kunstgeschichte an der Breslauer Universität und ihre Dozenten bis 1945. In: Hałub/Mańko-Matysiak (Hg.): Śląska Republika Uczonych, Bd. 1, 635–672. Eine erweiterte und aktualisierte Fassung erschien in der Festschrift zum Universitätsjubiläum 2013. Vgl. dies.: History of art. In: Harasimowicz, Jan (Hg.): Commemorative Book for the 200th Anniversary of the Establishment of the State University in Wrocław, ������������������������������������������� Bd. 2: Universitas litterarum Wratislaviensis 1811–1945. Wrocław 2013, 293–311. 17 Neuhoff, Wiesława: Dzieje Katedry Historii Sztuki na Uniwersytecie Wrocławskim w latach 1945–1957. In: Harasimowicz, Jan: (Hg.): Księga Pamiątkowa Jubileuszu 200-lecia utworzenia Państwowego Uniwersytetu we Wrocławiu, Bd. 4: Uniwersytet Wrocławski w kulturze europejskiej. Wrocław 2015, 527–539. 18 Hałub, Marek: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829. Ein Beitrag zur Begründung der schlesischen Kulturgeschichte. Wrocław 1997. 19 Die meisten Studien beziehen sich auf Schmarsows Forschungen in jener Zeit, zu der er Breslau bereits verlassen hatte. Der Rezeption seiner Raumtheorie etwa wurden zwei Studien gewidmet. Vgl. Zug, Beatrix: Die Anthropologie des Raumes in der Architekturtheorie des frühen 20. Jahrhunderts. Tübingen/Berlin 2006; Castagnaro, Alessandro (Hg.): August Schmarsow dalla critica d’arte contemporanea alla Raumgestaltung. Bari 2017. 20 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Schleinitz, Rotraut: Richard Muther – ein provokativer Kunstschriftsteller zur Zeit der Münchener Secession. Hildesheim 1993; Sachs, Melanie: Richard Muther und die Popularisierung der Kunstgeschichte um 1900. In: Imorde, Joseph/Zeising, Andreas (Hg.): Die Teilhabe am Schönen. Kunstgeschichte und Volksbildung zwischen Kaiserreich und Diktatur. Weimar 2013, 135–153. 21 Tintelnot, Hans: Kunstforschung in Breslau. In: Zeitschrift für Ostforschung 2 (1953) 481–567.

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nen (Signatur F 116-117), die Chronik der Universität zu Breslau (Signatur S 20-24), die Vorlesungsverzeichnisse aus den Jahren 1816 bis 1914 (Signatur S 55-80) sowie einzelne Personalakten (Signatur S 220, Max Semrau und Richard Muther) benutzt. Ferner wurden punktuell Bestände aus anderen Archivsammlungen ausgewertet.

3. Die Anfänge: Klassische Philologie und antike Kunst Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, besonders nach Gründung der staatlichen Universität in Breslau 1811, konzentrierte sich die schlesische Wissenschaftslandschaft zunehmend in der Hauptstadt Breslau.22 Kunstgeschichte als eigenständige Wissenschaft entsprang unter anderem der klassischen Altertumswissenschaft – in Breslau ebenso wie an anderen deutschen Universitäten. Seit der Universitätsgründung verzeichnete man in altphilologischen Kreisen großes Interesse an der antiken Kunst.23 Die Forschung in diesem Bereich wurde sowohl durch Originalwerke als auch durch Gipsabgüsse antiker Skulpturen begünstigt, die die einzelnen Leiter des Universitätsmuseums für ihre Sammlungen beschafften.24 Sie ließen die Originale aus den Museumssammlungen in aller Regel beschriften und katalogisieren, und sie bereiteten auch Veröffentlichungen zu den einzelnen Erwerbungen vor, womit sie aus heutiger Sicht einen wichtigen Beitrag zur kunstgeschichtlichen Forschung leisteten. Der bedeutendste Pionier in vielen Bereichen der Kunstgeschichte war Johann ­Gustav Gottlieb Büsching.25 Als erster Leiter des Königlichen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer an der Universität Breslau erweiterte er die Sammlung der Gipsabgüsse antiker Skulpturen merklich. Er bestellte neue Kopien der bekanntesten Werke aus europäischen Museen und legte eine didaktische Sammlung für Vorlesungen und Seminare im Fachbereich Klassische Philologie an. Büsching selbst unterrichtete 1826 griechische Kunstgeschichte (Historia artis Graecorum, wie es im zeitgenössischen Vorlesungsverzeichnis heißt).26 Franz Passow wiederum, der nach Büschings Tod die 22 �������������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26). 23 Einzelne Beiträge aus dem Bereich der Orientalistik umfassen auch die Kunstgeschichte dieses Teils der Welt. 24 Kinne, Johanna: Die Klassische Archäologie und ihre Professoren an der Universität Breslau im 19. Jahrhundert. Eine Dokumentation. Dresden 2010. 25 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Kersken, Norbert: Die Begründung institutionalisierter landesgeschichtlicher Forschung im frühen 19. Jahrhundert: Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829) im Kontext der zeitgenössischen schlesischen Historiographie. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert. Wien/Köln/ Weimar 2019 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 28), 131–158. 26 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S 58: Index Lectionum in Universitate litterarum Vratislaviensi 1826, Bl. 13.

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Leitung des Museums übernahm, konzentrierte sich auf Gipsabgüsse, die er in einem Katalog erfasste.27 Der Kunst der Antike widmete er auch seine Vorlesungen, etwa Die Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen und Römern 28 oder Erklärung einiger der bedeutendsten antiken Kunstwerke.29 An Passows Engagement anknüpfend, bestellte Friedrich Wilhelm Ritschl, Museumsleiter in den Jahren 1833 bis 1839, weitere Abgüsse antiker Kunstwerke und setzte sie in seinen Lehrveranstaltungen ein.30 Julius Athanasius Ambrosch, Museumsleiter in den Jahren 1839 bis 1856, ließ Museumsinventare erstellen und bot „regelmäßige Vorlesungen über Mythologie und Kunstgeschichte“31 an. Der nächste Direktor, August Rossbach, Verfasser der Studie Römische Hochzeitsund Ehedenkmäler,32 schrieb sich als Reformer in die Geschichte des Universitätsmuseums ein. Er ließ die Sammlungen ordnen und erweitern, das Museum umstrukturieren und umbenennen; zudem bereitete er einen weiteren Katalog der Gipsabgüsse vor. Dessen erste Ausgabe aus dem Jahr 1861,33 die Kurzbeschreibungen der Objekte enthielt, wurde 1877 mit Zusatzinformationen vervollständigt, wobei jeder Gruppe von Gipsabgüssen, die ein konkretes Zeitalter in der Kunstgeschichte repräsentierte, eine sachliche Einführung vorausging.34 Auf diese Weise schuf Rossbach nicht nur einen Katalog im engeren Sinn, sondern auch einen Museumsführer und darüber hinaus eine Art Handbuch der antiken Kunstgeschichte. Rossbach strukturierte die museale Sammlung nach modernen Kriterien, indem er sie nach kunstgeschichtlichen Epochen untergliederte. Eine konkrete Vorstellung, wie die Exponate präsentiert wurden, liefert uns die erhaltene Fotografie des sogenannten Göttersaals im Archäologischen Museum an der Königlichen Universität zu Breslau im Jahr 1891. In diesem Raum wurden Gipsabgüsse antiker Skulpturen und Reliefabgüsse ausgestellt. Unter den auf dem Foto sichtbaren Werken können Abgüsse vollfigürlicher Statuen des Apollo von Belvedere, der Nike, der Venus und anderer in Rossbachs Katalogen aus den Jahren 1861 und 1877 erfasster Skulpturen identifiziert werden. Von den bis heute erhaltenen Abgüssen sieht man lediglich die Figur „Knabe mit Krug“,35 die in der Fensternische links steht und vor 1861

27 Verzeichniss der antiken und modernen Bildwerke in Gyps auf dem akademischen Museum für Alterthum und Kunst in Breslau. Breslau 1832. 28 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S 56: Index Lectionum in Universitate Vratislaviensi 1817, 8, 12. 29 Ebd., Sign. S 59: Index Lectionum in Universitate litterarum Vratislaviensi 1830, 8d. 30 Nadbyl, Bernhard (Hg.): Chronik und Statistik der Königlichen Universität zu Breslau. Breslau 1861, 88. 31 Ebd. 32 Rossbach, August: Römische Hochzeits- und Ehedenkmäler. Leipzig 1871. 33 Ders.: Verzeichniß der Gypsabgüsse und Originalien antiker Bildwerke im Kgl. Museum für Kunst und Alterthum an der Universität Breslau. Breslau 1861. 34 Ders.: Das Archäologische Museum an der Universität zu Breslau. Breslau 1877. 35 ��������������������������������������������������������������������������������������� Kubala, Agata/Bończuk-Dawidziuk, Urszula: The Art of Ancient Greece and Rome. The ��������� Catalogue of Plaster Casts it the University of Wrocław Collection. Wrocław 2018 (The Treasures of University Collections 3), 130–134, Nr. 21.

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Der sogenannte Göttersaal im Archäologischen Museum an der Königlichen Universität zu Breslau im Jahr 1891. Hier fanden Vorlesungen und Übungen für Studenten der Klassischen Philologie, Archäologie und Kunstgeschichte statt. Fotografie aus der Sammlung des Breslauer Universitätsmuseums. Bildnachweis: Muzeum Uniwersytetu Wrocławskiego, Inv.-Nr. MUWr-1365.

geschaffen wurde (das Original stammt aus den Sammlungen der Vatikanischen Museen in Rom).36 Diese Ausstellung sollte für Vorlesungen in „Kunstgeschichte, Mythologie, Denkmal-Erklärungen und bei archäologischen Übungen“37 Verwendung finden. Aus der erhaltenen Aufstellung über Rossbachs Vorlesungen geht exakt hervor, wie oft er sich mit einzelnen Aspekten aus dem Bereich antiker Kunstgeschichte beschäftigte: Einleitung in die alte Kunstgeschichte (Wintersemester 1856/57), Römische Staatsalterthümer (Wintersemester 1857/58), Römische Sakral- und Privatalterthümer (Sommersemester 1858), Erklärung der Denkmäler im archäologischen Museum (Sommersemester 1858 und Sommersemester 1873), Griechische und römische Kunstgeschichte (Sommersemester 1859), Römische Alterthümer (Sommersemester 1860), Römische Alterthümer zweiter Theil (Wintersemester 1860/61), Geschichte der griechischen Plastik und Erklärung der Denkmäler (Wintersemester 1860/61), Geschichte der römischen

36 Rossbach identifiziert die Person im Katalog von 1861 als Antinoos-Narcissus, in der zweiten Ausgabe von 1877 als Ganymedes. Vgl���������������������������������������������������������� . Rossbach: Verzeichniß, 16, Nr. 114; ders.: ������������� Das Archäologische Museum, 91, Nr. 289. 37 Ders.: Das Archäologische Museum, V.

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Architektur (Sommersemester 1861), Römische Alterthümer (Wintersemester 1862/63, Sommersemester 1863), Griechische Religionsgeschichte zweiter Theil [...] mit Erklärung von Kunstdenkmälern (Sommersemester 1864), Geschichte der alten Kunst (Sommersemester 1865, Sommersemester 1868), Geschichte der alten Kunst zweiter Theil (Wintersemester 1868/69), Kunstgeschichte I (Sommersemester 1871, Sommersemester 1874 und Sommersemester 1877), Kunstgeschichte II (Sommersemester 1860, Wintersemester 1862/63, Sommersemester 1866, Wintersemester 1871/72, Wintersemester 1874/75 und Wintersemester 1877/78), Griechische Kunstgeschichte I (­Wintersemester 1879/80, Wintersemester 1886/87, Wintersemester 1889/90 und Wintersemester 1897/98), Griechische Kunstgeschichte II (Sommersemester 1880, Sommersemester 1887, Sommersemester 1890 und Sommersemester 1894), Griechisch-römische Kunstgeschichte (Wintersemester 1883/84, Sommersemester 1884), Griechische Kunstgeschichte (Wintersemester 1887/88), Denkmäler von Pompeji und Herculaneum (Sommersemester 1892), Geschichte der griechischen Kunst (Wintersemester 1893/94) sowie Geschichte der griechischen Plastik nach Phidias (Sommersemester 1895).38 Unter Rossbachs Anleitung entstanden unter seinen Studenten Studien zu ausgewählten antiken Objekten aus den musealen Sammlungen. Clemens Konitzer etwa widmete eine Abhandlung einem der wertvollsten Objekte in der Sammlung des Architekten Eduard Schaubert, die sich seit 1861 in den Beständen des Universitätsmuseums befand.39Abhandlungen zu griechischen Gemmen und Antiken verfasste Rossbachs Sohn und zugleich Schüler Otto Rossbach, der später ebenfalls Professor für Klassische Philologie und Altertümer an den Universitäten Breslau, Kiel und Königsberg wurde.40 Mit weiteren dieser Museumsstücke befasste sich Richard Foerster, der 1867 einen Beitrag zu einem aus Schauberts Sammlung übergebenen Objekt veröffentlichte.41 Foerster wurde zügig promoviert, habilitierte sich und lehrte dann seit 1890 an der Universität Breslau als Ordinarius für Klassische Philologie. Er war einer der ersten Klassischen Archäologen und übernahm nach Rossbachs Tod die Leitung des Museums. Foerster betrieb interdisziplinäre Forschung an der Schnittstelle von Klassischer Philologie, Archäologie und Kunstgeschichte; seine Leistungen in diesem Bereich brachten ihm in wissenschaftlichen Kreisen hohe Anerkennung ein. In der Kunstgeschichte machte er sich vor allem mit seinen Studien zur Rezeption antiker Mythen in der neuzeitlichen

38 (Handschriftliche) „Vorlesungen des Dr. phil. August Rossbach aus Schmalkalden in Kurhessen, gehalten an der Universitäter Tübingen und Breslau“ (Bestand aus einer Privatsammlung). 39 Konitzer, Clemens: Herakles und die Hydra. Beschreibung der Schaubert’schen Vase „Herakles und die Hydra“ im Königlichen Museum für Kunst und Alterthum an der Universität Breslau. Gruss zur Feier des 50jährigen Jubiläums der Universität Breslau im Namen der archäologischen Gesellschaft. Breslau 1861. 40 Rossbach, Otto: Griechische Gemmen ältester Technik. In: Archäologische Zeitung 41 (1883) 313–347; ders.: Griechische Antiken des archäologischen Museums in Breslau. Breslau 1889. 41 Foerster, Richard: Die Hochzeit des Zeus und der Hera. Relief der Schaubert’schen Sammlung in dem K. Museum für Kunst und Alterthum in Breslau. Breslau 1867.

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Malerei, unter anderem in Schlesien, einen Namen.42 Seine öffentlichen Vorlesungen zur schlesischen Kunst erschienen zum Teil im Druck.43

4. Heidnische Kunst Im November 1815 habilitierte sich Büsching mit der Abhandlung Historiae artis ­medii aevi rerumque diplomaticarum 44 im Bereich „Hilfswissenschaften, Geschichte und Deutsches Alterthum“.45 Als einer der ersten in Europa studierte er vor- und frühgeschichtliche Artefakte.46 In einer Zeit, in der lokalen prähistorischen Fundsachen unter Forschern noch keine größere Bedeutung beigemessen wurde, sammelte Büsching archäologische Zeugnisse und verbreitete über die Presse weitere Informationen zur Bedeutung derartiger Entdeckungen. Einen richtungweisenden Beitrag stellte sein Buch Die Alterthümer der heidnischen Zeit Schlesiens dar,47 versehen mit Zeichnungen der Kunstwerke aus den Museumssammlungen der Breslauer Universität. Seine Pionierarbeit im Bereich der Erforschung der prähistorischen Kunst sicherte ihm einen festen Platz im Kreis derer, die mit den Gegenständen ihrer Forschung ihrer Zeit voraus waren. Obwohl Büsching auch über Deutsche Altertümer unter Benutzung der Altertümersammlung lehrte, versäumte er es, auf diesem Feld Nachwuchs auszubilden. Seine Nachfolger auf dem Posten des Leiters des Königlichen Museums für Kunst und Altertümer waren Klassische Philologen, die seine Forschungsleidenschaft nicht teilten. 42 Ders.: Neue Cranachs in Schlesien. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift 7 (1898) 265–274; ders.: Der Bau der Universität Breslau und die Bilder der Aula. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 34 (1900) 137–180. 43 Ders.: Die Aula Leopoldina der Universität Breslau. Rede, zur Feier des Geburtstages S. Maj. des Kaisers und Königs Wilhelm II. am 27. Januar 1899 gehalten. Breslau 1899; ders.: Das Preussische Königthum und die klassische Kunst. Rede, gehalten am 18. Januar zur Feier des zweihundertjährigen Jubiläums des Königreichs Preussen und des Geburtstages Sr. Majestät des Kaisers und Königs Wilhelm II. in der Aula Leopoldina der Universität Breslau. Breslau 1901; ders.: Die Kunst des Barock im Musiksaale der Universität. Rede, gehalten zur Feier des Geburtstages Sr. Majestät des Kaisers im Musiksaale der Universität Breslau. Breslau 1909; ders.: Das Erbe der Antike. Festreden, gehalten an der Universität Breslau. Breslau 1911; ders.: Das Hess-Denkmal in Breslau. Rede, gehalten [...] bei der Enthüllung des Denkmals an der Breslauer Magdalenenkirche am 21. Oktober 1917 nebst einem Bericht über Verlauf und Abschluss der Denkmalangelegenheit. Breslau 1918. 44 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 5, Kronika Wydziału Filozoficznego, 1811– 1899, Bl. 9–11. 45 Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching, 61; Kinne: Die Klassische Archäologie, 26. 46 Burdukiewicz, Jan Michał/Demidziuk, Krzysztof/Bończuk-Dawidziuk, Urszula: Profesor Büsching na Uniwersytecie Wrocławskim – początki archeologii akademickiej w Europie. In: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska Republika Uczonych – Schlesische Gelehrtenrepublik – Slezská Vědecká Obec, Bd. 7. Dresden/Wrocław 2016, 180–206. 47 Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Die Alterthümer der heidnischen Zeit Schlesiens. Breslau 1820.

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Titelblatt von Büschings Pionierarbeit im Bereich der vorgeschichtlichen Kunst. Bildnachweis: Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, Sign. 20033 IV GŚŁ.

Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert rückten prähistorische Objekte dann erneut in das Blickfeld schlesischer Forscher. Gegen Ende der 1880er Jahre erschien eine Studie von Wilhelm Grempler zum Sackrauer Altertumsfund,48 die die Ergebnisse dieser damals spektakulären archäologischen Entdeckung dreier, an der Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert angelegter Gräber samt Ausstattung vorstellte. 1891 veröffentlichte ein anderer Laienarchäologe, Oskar Mertins, die Abhandlung Die hauptsächlichen prähistorischen Denkmäler Schlesiens.49 Fünfzehn Jahre später ließ er seinen Wegweiser durch die Urgeschichte Schlesiens folgen.50 Der Archäologe und Kunsthistoriker Hans Seger wiederum beschäftigte sich mit prähistorischer Kunst in Schlesien. In seinem selbstverfassten Lebenslauf heißt es: „Meine wissenschaftlichen Arbeiten erstrecken sich vorwiegend auf das Gebiet der Schlesischen Altertumskunde.“51 Seger arbeitete im Breslauer 48 Grempler, Wilhelm: Der Fund von Sackrau, Bd. 1–2. Lunitz/Brandenburg 1887–1888. 49 Mertins, Oskar: Die hauptsächlichen prähistorischen Denkmäler Schlesiens. In: Jahresbericht des Schlesischen Provinzial-Verbandes der Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung 17 (1890/91) 1–38. 50 Ders.: Wegweiser durch die Urgeschichte Schlesiens. Breslau 1906. 51 ����������������������������������������������������������������������������������������� Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego: Lebensbilder wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Breslau, Sign. S 75: Hans Seger, Breslau 5. Juni 1907.

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Museum schlesischer Altertümer, bevor er nach der Gründung des Schlesischen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer 1899 zu dessen stellvertretendem Direktor und Leiter der Abteilung für Vorgeschichte und Kulturgeschichte sowie des Münzkabinetts ernannt wurde. Seger habilitierte sich in Breslau mit der Abhandlung Die Steinzeit in Schlesien52 und wurde anschließend Honorarprofessor an der Universität. Dort hielt er Vorlesungen zur prähistorischen Kunst und lehrte im Schlesischen Museum für Kunstgewerbe und Altertümer unter Einsatz von archäologischen Artefakten (zum Beispiel im Wintersemester 1909/10).53

5. Mittelalterliche Kunst Büsching war auch Autor der ersten umfassenden Studie zur mittelalterlichen Kunst in Schlesien. Sein Interesse für diesen Bereich entwickelte er nach der Aufhebung der geistlichen Güter in Schlesien im Jahr 1810. Als Säkularisierungskommissar durchforstete er die reichhaltigen Sammlungen der Klöster und Stifte und schuf auf dieser Grundlage die erste öffentliche Gemäldegalerie in Schlesien. Die am 29. Juni 1815 im ehemaligen Stift der Breslauer Augustinerchorherren am Sande eröffnete Ausstellung umfasste eine große Abteilung, die der deutschen Malerei der Gotik gewidmet war. Zwischenzeitlich publizierte Büsching auch zu den vom preußischen Staat übernommenen Sammlungen. Aus dem Jahr 1813 stammt eine Abhandlung zu gusseisernen schlesischen Siegelstempeln aus dem Mittelalter;54 eine weitere Veröffentlichung widmete Büsching ein gutes Jahrzehnt später schlesischen Siegeln.55 Nach der 1815 abgelegten Habilitation dehnte er sein Forschungsinteresse auf die Kunstgeschichte aus und bewarb sich bereits im September 1817 auf eine „ausserordentliche Professur der Kunstgeschichte des Mittelalters und der Urkundenlehre“; hierfür ging er bereits in Vorleistung, indem er Vorlesungen zur deutschen und italienischen Kunstgeschichte des Mittelalters anbot.56 Nur zwei Monate später wurde er tatsächlich zum außerordentlichen Professor an der Philosophischen Fakultät ernannt, freilich nicht in der beabsichtigten Fachrichtung.57 Seit dem Wintersemester 1816/17 hielt Büsching als Privatdozent an der Universität Vorlesungen zur Kunstgeschichte unter dem Titel Die Geschichte der Kunst des

52 Seger, Hans: Die Steinzeit in Schlesien. In: Archiv für Anthropologie N.F. 5 (1906) 118–141. 53 ������������������������������������������������������������������������������������������ Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S 50: Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Universität Breslau im Winter-Semester 1909/10 vom 15. Oktober 1909 bis 15. März 1910. Breslau [1909]. 54 Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Der alten schlesischen Herzoge, Städte, Aebte u.s.w. Siegel in Abgüssen und Abdrücken. Erste Lieferung. Breslau 1813. 55 Ders.: Von Schlesischen Siegeln. Mit vier Steindrucktafeln. Breslau 1824. 56 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Sign. I. HA, Rep. 76, Kultusministerium, Abt. Va, Sekt. 4, Tit. IV, Nr. I, B. 4, Bl. 201: Schreiben Büschings vom 19. September 1817. 57 Ebd., Bl. 206: Antwort des Kultusministeriums, 18. November 1817.

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Mittelalters (Historiam artis medii aevi).58 Im Folgejahr schränkte er das Thema auf einheimische Kunst ein und unterrichtete zwei Semester lang Die Geschichte der deutschen Kunst des Mittelalters (Historiam artis germanicae medii aevi).59 1826 wiederum konzentrierte er sich auf die Architektur: Versuch einer Einleitung in die Geschichte der altdeutschen Bauart (Introductionem in historiam architecturae Germanicae).60 Bereits im August 1822 war er zum ordentlichen Professor am Lehrstuhl für mittelalterliche Kunstgeschichte und historische Hilfswissenschaften ernannt worden.61 Seitdem hielt er Vorlesungen unter anderem zur mittelalterlichen deutschen Kunst- und Architekturgeschichte sowie zu deutschen Altertümern unter Einsatz der Altertümersammlung. Büschings Interesse an mittelalterlicher Kunst teilte der seit 1815 an der Universität Breslau angestellte Literaturhistoriker Ludwig Wachler, Verfasser einer zweibändigen Geschichte der historischen Forschung und Kunst seit der Wiederherstellung der litterärischen Cultur in Europa.62 Um 1850 beschäftigte sich der langjährige Direktor des Museums Schlesischer Altertümer, der Altphilologe und Historiker Hermann Luchs, mit der kunsthistorischen Forschung des Mittelalters. Seine Forschungsergebnisse zur mittelalterlichen Architektur Breslaus veröffentlichte er in seiner Studie Über einige mittelalterliche Kunstdenkmäler von Breslau.63 Es folgten Abhandlungen zur mittelalterlichen Kunst in Schlesien.64 Zudem begründete er die Zeitschrift Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift und gab deren

58 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S 55: Index Lectionum in Universitate Vratislaviensi 1816, 8, 12. 59 Ebd., Sign. S 56: Index Lectionum in Universitate Vratislaviensi 1817, 8, 12; ebd., Sign. S 57: Index Lectionum in Universitate Vratislaviensi 1817/18, 12. 60 Ebd., Sign. S 58: Index Lectionum in Universitate litterarum Vratislaviensi 1826, Bl. 13. 61 ������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., Sign. F 5: Kronika Wydziału Filozoficznego, 1811–1899, Bl. 9–11, 14–19; Nadbyl: Chronik und Statistik, 47; Seger, Hans: Johann Gustav Gottlieb Büsching zu seinem hundertsten Todestage. In: Altschlesien 2 (1929) 173; Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching, 62. Demidziuk gibt die Denomination des ordentlichen Professors Büsching wie folgt an: „Ordinarius für Kunstgeschichte und Deutsche Alterthümer“. Vgl. Demidziuk, Krzysztof: Ochrona zabytków archeologicznych na Śląsku w XIX wieku na przykładzie ośrodka wrocławskiego. In: Silesia Antiqua 46 (2010) 201–217, hier 205. 62 Wachler, Ludwig: Geschichte der historischen Forschung und Kunst seit der Wiederherstellung der litterärischen Cultur in Europa, Bd. 1, Tl. 1–2, Bd. 2, Tl. 1–3. Göttingen 1812–1820. 63 Luchs, Hermann: Über einige mittelalterliche Kunstdenkmäler von Breslau. Die alte Burg von Breslau, die Martinikirche, die heilige Kreuz-Kirche, die ehemaligen Kirchen zu St. Vincenz, St. Michaelis und Allerheiligen auf dem Elbing, und deren Reste. Eine historisch-artistische Abhandlung. Breslau 1855. 64 Ders.: Romanische und gothische Stilproben aus Breslau und Trebnitz. Eine kurze Anleitung zur Kenntniß der bildenden Künste des Mittelalters, zunächst Schlesiens. Mit drei lithographirten Bildtafeln. Breslau 1859; ders.: Über die Bilder der Hedwigslegende (im Schlackenwerther Codex von 1353, dem Breslauer Codex von 1451, auf der Hedwigstafel in der Breslauer Bernhardinkirche und in dem Breslauer Drucke von 1504). Breslau 1861; ders. (Hg.): Schlesische Fürstenbilder des Mittelalters. Breslau 1872.

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erste vier Bände heraus, in denen unter anderem Beiträge zur mittelalterlichen und prähistorischen Kunst erschienen.65 Den Beginn der eigentlichen Fachrichtung Kunstgeschichte an der Universität Breslau kann man mit dem Zeitpunkt der Habilitation von Alwin Schultz in „christlicher Archäologie und Kunstgeschichte“ auf das Jahr 1866 datieren. Schultz, in den Jahren 1867 bis 1882 Professor an der Universität Breslau,66 war ein Schüler August Rossbachs. Schon relativ früh zeigte Schultz Interesse an Kunstgeschichte, wie ein Aufsatz über den mittelalterlichen Burgenbau, den er bereits in seiner Studienzeit veröffentlicht hatte, belegt.67 Schultz wurde 1864 in Breslau mit einer Arbeit zum Breslauer Baumeister und Bildhauer Jodoc Tauchen promoviert;68 zwei Jahre später habilitierte er sich mit einer Studie zur Ästhetik des menschlichen Körpers in der deutschen Kunst im 12. und 13. Jahrhundert.69 Dieser – wie sich bald herausstellen sollte – für die Breslauer Forschungsgeschichte bahnbrechende Aufsatz entstand noch im Rahmen der Fachrichtung Klassische Altertumswissenschaft. In den Jahren 1870 bis 1873 war Schultz provisorischer Leiter der Universitätsbibliothek; 1872 wurde er außerdem zum außerordentlichen Professor für Kunstgeschichte ernannt. Zu seinen Aufgaben zählte die Betreuung der Kupferstichsammlung, die als Anschauungsmaterial in kunstgeschichtlichen Lehrveranstaltungen an der Universität diente.70 Während seiner Jahre in Breslau forschte Schultz hauptsächlich im Bereich mittelalterlicher Kunst in Schlesien, womit er sich von anderen Kunsthistorikern jener Zeit thematisch abhob (erst in den 1920er Jahren kam man wieder auf regionale Studien zurück). Er veröffentlichte mehrere Bücher zu diesem Themenkreis: zum Breslauer Rathaus,71 zu gotischen Altären,72 zur Geschichte der Breslauer Malerinnung,73 zur 65 Łukaszewicz, Piotr (Hg.): Kunstmuseen im alten Breslau. Wrocław 1998, 227. 66 Kaufmann: Kunstgeschichte, 368. 67 Schultz, Alwin: Ueber Bau und Einrichtungen der Hofburgen des XII. und XIII. Jahrhunderts. Ein kunstgeschichtlicher Versuch. Berlin 11862 [Posen 21873]. 68 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Schultz, Alwinus: De vita atque operibus magistri Jodoci Tauchen lapicidae Wratislaviensis, saeculo XVto florentis. Vratislaviae [1864]. Zu dieser Schrift vgl. Neubert, Franz: Alwin Schultz. In: Deutsches Zeitgenossenlexikon. Biographisches Handbuch deutscher Männer und Frauen der Gegenwart. Leipzig 1905, Sp. 1320f. 69 Schultz, Alwinus: Quid de perfecta corporis humani pulchritudine germani saeculi XII. et XIII. senserint. Vratislaviae 1866. 70 ������������������������������������������������������������������������������������������ Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S 73: Personalbestand der Königlichen Universität zu Breslau, 1880. 71 Lüdecke, Carl/Schultz, Alwin: Das Rathhaus zu Breslau. In: Zeitschrift für Bauwesen 14 (1864) 15–34; dies.: Das Rathhaus zu Breslau in seinen äusseren und inneren Ansichten und Details. Berlin/Breslau 1868. 72 Schultz, Alwin: Die geschnitzten Altarschreine des XV. und XVI. Jahrhunderts in Breslau. In: Mittheilungen der K. K. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 7 (1862) 289–297. 73 Ders.: Urkundliche Geschichte der Breslauer Maler-Innung in den Jahren 1345–1523. Breslau 1866.

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i­ llustrierten Handschrift des französischen Chronikschreibers Jean Froissart,74 zum Kunstleben Schlesiens im Mittelalter,75 zu schlesischen Siegeln76 sowie zur Marienlegende und ihrer Ikonographie in der Gotik.77 Eines seiner wichtigsten Bücher – die mehrfach aufgelegte Abhandlung Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger – war Fragen aus dem Grenzbereich zwischen Kunst und Kultur gewidmet und lässt sich in die Strömung der sogenannten Sittengeschichte einordnen.78 August Schmarsow, Fotografie aus der Sammlung des Breslauer Universitätsarchivs. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S-168-54-07.

Mit der Kunst des Mittelalters befasste sich ebenfalls August Schmarsow, auch wenn sich der Breslauer Professor für Kunstgeschichte in seiner engeren Forschungsarbeit auf die Neuzeit konzentrierte. Im Bereich der mittelalterlichen Kunst interessierten ihn vor allem die Architektur der Gotik, Bildhauerei und Glasfensterkunst. In seinen hierzu vorgelegten Studien vertrat er die These von der Eigenständigkeit der Kunst der deutschen gegenüber der französischen Gotik. Schmarsow widerlegte die ältere Vorstellung, wonach die Kunst der deutschen Gotik lediglich den Niedergang der französischen Gotik ausdrücke. In diesem Kontext verfasste er während seiner Breslauer Schaffensphase unter anderem die Abhandlung St. Martin von Lucca und die Anfänge der toskanischen 74 75 76 77

Ders.: Beschreibung der Breslauer Bilderhandschrift des Froissart. Breslau 1869. Ders.: Schlesiens Kunstleben im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert. Breslau 1870. Ders.: Die schlesischen Siegel bis 1250. Breslau 1871. Ders.: Die Legende vom Leben der Jungfrau Maria und ihre Darstellung in der bildenden Kunst des Mittelalters. Leipzig 1878. 78 Ders.: Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger, Bd. 1–2. Leipzig 21889 [11879–1880; ND Osnabrück 1965–1991].

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Sculptur im Mittelalter 79 und legte den ersten Band der Meisterwerke deutscher Bildnerei des Mittelalters vor.80 Auch Max Semrau, ein Schüler Schmarsows, bot seinen Studenten im Rahmen des Lehrplans Seminare zu mittelalterlicher Kunst an (im Wintersemester 1906/07 zum Thema Kunstgeschichte des Mittelalters), auch wenn er grundsätzlich eher das Interesse seines Meisters an der neuzeitlichen Kunst teilte.81 Im Januar 1911 übernahm der Mediävist Rudolf Kautzsch, ein ausgewiesener Experte im Bereich mittelalterlicher Kunst und später auch der Architektur der Gotik, die Professur für Kunstgeschichte an der Universität in Breslau. Kautzsch war Schüler Schmarsows, unter dessen Betreuung er 1894 seine Doktorarbeit geschrieben hatte.82 Er habilitierte sich 1896 mit einer Abhandlung zu spätmittelalterlichen Buchillustrationen.83 In Breslau lehrte er nur bis 1915, dann folgte er einem Ruf an die Universität Frankfurt am Main. Während seiner vier Breslauer Jahre veröffentlichte er allerdings keine größere Monographie. Seine Vorlesungen betrafen die italienische, deutsche und niederländische Kunst. Im Bereich mittelalterlicher Kunst bot er seinen Studenten Vorlesungen im Sommersemester 1911 (Kunstgeschichte des Mittelalters), im Wintersemester 1911/12 (Gotik und Renaissance in Deutschland) sowie im Wintersemester 1912/13 an (Die deutsche Plastik im 15. und 16. Jahrhundert).84 Kautzsch war ein Forscher, der sich bei seiner Arbeit auf die formstilistische Analyse konzentrierte und Stilveränderungen als Prozess betrachtete. Seine Forschungsinteressen galten dem deutsch-französisch-italienischen Grenzgebiet, weshalb er Schlesien nicht näher in den Blick nahm – selbst dann nicht, als im Jahr 1913 aus dem Kultusministerium ein Erlass ergangen war, in den akademischen Lehrveranstaltungen verstärkt die regionale Kunstgeschichte zu berücksichtigten.85 Diesen Teil der Lehre überließ Kautzsch vielmehr Bernhard Patzak,86 der beispielsweise im Sommersemester 1911 das kunsthistorische Seminar Übungen im Gebiet der Kunstgeschichte des Mittelalters anbot.87 79 ������������������������������������������������������������������������������������������� Schmarsow, August: S. Martin von Lucca und die Anfänge der toskanischen Skulptur im Mittelalter. Breslau 1890 (Italienische Forschungen zur Kunstgeschichte 1). 80 ��������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Die Bildwerke des Naumburger Domes. Magdeburg 1892 (Meisterwerke deutscher Bildnerei des Mittelalters 1). 81 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S 60-80: Verzeichnisse der Vorlesungen an der Königlichen Universität Breslau 1867–1914. 82 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Kautzsch, Walter: Einleitende Erörterungen zu einer Geschichte der deutschen Handschriftenillustration im späteren Mittelalter. Straßburg 1894 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 3). 83 Ders.: Die Holzschnitte der Kölner Bibel von 1479. Straßburg 1896 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 7). 84 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S 74-80: Verzeichnisse der Vorlesungen seit dem Sommer-Semester 1911 bis Wintersemester 1914/15. 85 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 95: Lehrfach der Kunstgeschichte und die Personalien der zu demselben gehörenden Dozenten, 6. Dezember 1891 bis 17. Juli 1929, Bl. 403–405. 86 Störtkuhl: Die Kunstgeschichte, 650. 87 ������������������������������������������������������������������������������������������ Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S 74: Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Universität Breslau im Sommer-Semester 1911. Breslau [1911], 60.

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6. Die Kunst der Frühen Neuzeit Alwin Schultz, der erste Professor für Kunstgeschichte an der Universität Breslau, interessierte sich auch für die Kunst der Frühen Neuzeit, zu der er einige Bücher veröffentlichte – konkret zum schlesischen Kunstleben88 und zur Malerei dieser Epoche.89 Zudem steuerte er einen wichtigen Beitrag zum Breslauer Bildhauer Gerhard Hendrik bei.90 Im Zentrum breiterer Forschungsinteressen stand diese Epoche in der Kunstgeschichte jedoch erst bei Schultz’ Nachfolger als Extraordinarius für mittelalterliche und neuere Kunstgeschichte Robert Vischer, einem Sohn des Philosophen Friedrich Theodor Vischer.91 Robert Vischer war in Tübingen mit der (1873 dann in Leipzig veröffentlichten) Dissertation Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Ästhetik promoviert worden, bevor er sich an der Universität München habilitierte.92 Während seiner lediglich dreijährigen Lehrtätigkeit in Breslau von 1882 bis 1885 setzte er sich in seinen Lehrveranstaltungen für die von ihm betreuten Kupferstichsammlungen ein.93 Vermutlich arbeitete Vischer bereits in dieser Zeit an weiteren Studien,94 die dann aber erst nach seiner Berufung als Ordinarius an die Technische Hochschule Aachen veröffentlicht wurden.95 Auch für den bereits erwähnten Breslauer Kunsthistoriker August Schmarsow wurde die Kunst der Frühen Neuzeit zu einem wichtigen Forschungsgebiet. Schmarsow war 1877 im Fach Germanistik an der Universität Straßburg promoviert worden96 und habilitierte sich vier Jahre später in Kunstgeschichte an der Universität Göttingen.97 1885 lehnte er das Angebot zur Übernahme des Lehrstuhls für Kunstgeschichte in ­Aachen ab (den dann Robert Vischer übernahm) und kam stattdessen nach Breslau. An der Philosophischen Fakultät wurde er einstimmig auf die Professur für Kunstgeschichte berufen.98 Im Zusammenhang mit seinen Interessen für die Kunst Italiens reiste er wiederholt dorthin. Im Wintersemester 1888/89 etwa hielt er sich im Rahmen einer 88 Schultz, Alwin: Schlesiens Kunstleben im fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhundert. Breslau 1872. 89 Ders.: Untersuchungen zur Geschichte der Schlesischen Maler (1500–1800). Breslau 1882. 90 Ders.: Gerhard Heinrich von Amsterdam, Bildhauer in Breslau. Breslau 1880. 91 Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, Tl. 1–2. Reutlingen/ Leipzig 1846–1847; Tl. 3. Stuttgart 1853–1857. 92 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Vischer, Robert: Luca Signorelli und die italienische Renaissance. Eine kunsthistorische Monographie. Leipzig 1879. 93 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S 76: Personal- bzw. Vorlesungsverzeichnisse der Universität Breslau 1867–1944/45. 94 Diese begründete Annahme formuliert Störtkuhl: Die Kunstgeschichte, 638. 95 Vischer, Robert: Studien zur Kunstgeschichte. Stuttgart 1886; ders.: Albrecht Dürer und die Grundlagen seiner Kunst. Stuttgart 1886. 96 Schmarsow, August: Leibniz und Schottelius. Die unvorgreiflichen Gedanken. Straßburg 1877. 97 Ders.: Raffael und Pinturiccio in Siena. Stuttgart 1880. 98 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Rückschau beim Eintritt ins siebzigste Lebensjahr. In: Jahn, Johannes (Hg.): Die Kunstwissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Leipzig 1924, 135–156, hier 141f.

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Beurlaubung zu wissenschaftlichen Zwecken in Florenz auf und hielt dort ein Seminar für acht Studenten von verschiedenen deutschen Universitäten ab (darunter Max ­Semrau, Max Jacob Friedländer und Aby Warburg). Während einer weiteren wissenschaftlichen Auslandsreise im Wintersemester 1892/9399 setzte er sich für die Gründung eines Kunsthistorischen Instituts in Florenz ein, das 1897 tatsächlich seine Pforten öffnete. Zeitlebens beschäftigte sich Schmarsow mit der Erforschung der Malerei der Renaissance und des Barock in Italien, in den Niederlanden und in Deutschland. Dazu veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze, wobei aus der Breslauer Periode besonders die Beiträge zu Donatello und Giovanni Santi zu nennen sind.100 Zur gleichen Zeit lehrte in Breslau an der Fakultät für Katholische Theologie der Kirchenhistoriker Erich Frantz das Fach Kunstgeschichte. Nach dem vom Ortsbischof erlassenen Verbot für Studenten der katholischen Theologie, am Unterricht des Protestanten Schmarsow teilzunehmen, begann Frantz damit, in seine Vorlesungen Motive aus der Kunstgeschichte aufzunehmen. Er veröffentlichte auch eigene Beiträge zur italienischen Malerei.101 Eine Zusammenfassung seiner Forschungsarbeit stellte das in zwei Bänden publizierte Werk Geschichte der christlichen Malerei dar.102 Schmarsows Schüler Max Semrau, Sohn eines bekannten Redakteurs der ­Breslauer Morgenzeitung, studierte in Breslau Kunstgeschichte, wurde 1889 promoviert und habilitierte sich zwei Jahre später ebendort mit einer Arbeit zur italienischen Kunst: Bertoldo di Giovanni. Ein Beitrag zur Geschichte der Donatelloschule.103 Er arbeitete im Schlesischen Museum der Bildenden Künste in Breslau und von 1891 bis 1907 auch als Privatdozent an der Universität, konkret am Seminar für mittelalterliche und neuere Kunstgeschichte.104 Ähnlich wie Schmarsow forschte er im Bereich der Kunst der italie199 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 95: Lehrfach der Kunstgeschichte und die Personalien der zu demselben gehörenden Dozenten, 6. Dezember 1891 bis 17. Juli 1929, Bl.  77: Schreiben des Königlichen Universitäts-Curatoriums an die Philosophische Fakultät der Königlichen Universität betreffend Schmarsows wissenschaftliche Reise. Breslau 28. Juli 1891, 78: Semraus Genehmigung von Schmarsows Vertretung in der Zeit seiner Abwesenheit kraft des Schreibens vom 29. Dezember 1891. 100 Schmarsow, August: Donatello – eine Studie über den Entwicklungsgang des Künstlers und die Reihenfolge seiner Werke. Leipzig 1886; ders.: Giovanni Santi – der Vater Raphaels. Berlin 1887. 101 Frantz, Erich: Fra Bartolommeo della Porta. Studie ueber die Renaissance. Regensburg 1879; ders.: Das heilige Abendmahl des Leonardo da Vinci. Freiburg i. Br. 1885. 102 Ders.: Geschichte der christlichen Malerei, Bd. 1–2. Freiburg i. Br. 1887–1894. 103 ����������������������������������������������������������������������������������������� Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S 220: Personalakten wissenschaftlicher Mitarbeiter (Max Semrau), Bl. 1–2: Personalfragebogen; ebd., Sign. F 95: Lehrfach der Kunstgeschichte und die Personalien der zu demselben gehörenden Dozenten, 6. Dezember 1891 bis 17. Juli 1929, Bl. 2–74: Habilitationsschrift von Max Semrau. Im gleichen Jahr veröffentlichte Semrau noch einen weiteren, thematisch ähnlichen Beitrag zur italienischen Plastik der Renaissance. Vgl. Semrau, Max: Donatellos Kanzeln in S. Lorenzo. Ein Beitrag zur Geschichte der italienischen Plastik im XV. Jahrhundert. Breslau 1891. 104 Seine Antrittsvorlesung hielt Semrau über Adolf (von) Menzel: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 95: Lehrfach der Kunstgeschichte und die Personalien der zu demselben gehörenden Dozenten, Bl. 1, 75.

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Max Semrau, Fotografie aus der Sammlung des Breslauer Universitätsarchivs. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S-168-63-5.

nischen Renaissance. Zu entsprechenden Forschungsarbeiten beantragte er 1893 eine Dienstreise nach Italien.105 Semraus zweiter größerer Interessenbereich war die schlesische Kunst. 1896 veröffentlichte er einen Beitrag zur Ikonographie des Fürstensaals im Kloster Leubus.106 Er bot die einheimische Kunst als Vorlesungsthema auch seinen Studenten an, doch erfreuten sich diese Vorträge keiner großen Nachfrage.107 Semrau vertrat Schmarsow gegen Ende von dessen Amtszeit an der Universität und hielt entsprechend Vorlesungen zur allgemeine Kunstgeschichte,108 widmete sich aber 105 Im Schreiben der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau an das Kultusministerium mit der Bitte um Gewährung von Mitteln für einen längeren Auslandsaufenthalt zu Forschungszwecken ist folgendes Urteil über Semrau enthalten: „Allseitig sind der Fleiß und die natürliche Begabung sowie der Ernst seines wissenschaftlichen Strebens anerkannt worden.“ Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 95: Lehrfach der Kunstgeschichte und die Personalien der zu demselben gehörenden Dozenten, 6. Dezember 1891 bis 17. Juli 1929, Bl. 101: Schreiben vom Juli 1893. 106 Semrau, Max: Der Fürstensaal im Kloster Leubus. In: Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift 6 (1896) 267–290. 107 Störtkuhl: Die Kunstgeschichte, 643. Die Autorin verweist in diesem Zusammenhang auf die Erinnerungen von Franz Landsberger: Demnach wurden Semraus Vorträge zur Breslauer Kunst von nur drei Zuhörern besucht. Dies belegt, wie gering das Interesse an der Kunst Breslaus zu jener Zeit ausgeprägt war. 108 Semraus Vorlesungen zur allgemeinen Kunstgeschichte und zur Kunst der Frühen Neuzeit an der Universität Breslau: Übungen in der Betrachtung und Erläuterung von Kunstwerken ( für Studierende aller Facultäten) (Sommersemester 1902, Wintersemester 1902/03), Die Architektur von der Renaissance bis zur Gegenwart (Wintersemester 1902/03), Dürer ( für Hörer aller

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auch nach Schmarsows Weggang weiter seinem Interesse an der italienischen Kunst.109 Erst zwei Jahre nach Schmarsows Amtsverzicht, 1895, wählte man – nicht ohne Kontroversen – seinen Nachfolger, den Privatdozenten Richard Muther. Er wurde im April des Jahres zum außerordentlichen, im Dezember dann zum ordentlichen Professor ernannt. Muther war mit einer Studie zum klassizistischen Maler Anton Graff promoviert worden.110 Er habilitierte sich anschließend mit der Schrift Die ältesten deutschen Bilderbibeln.111 Daraufhin beschäftigte er sich mit Kunstförderung, veröffentlichte zwei Museumsführer (Alte Pinakothek in München und Gemäldegalerie in Berlin) und publizierte in Zeitungen und Zeitschriften Beiträge über moderne Kunst. Muthers einzigartige Persönlichkeit lockte Studenten an, zudem wirkte seine breit gefächerte Themenauswahl anziehend. Neben Vorlesungen und Seminaren in allgemeiner Kunstgeschichte – Kunstgeschichtliche Übungen (Sommersemester 1902, Sommersemester 1904, Sommersemester 1905), Allgemeine Kunstgeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Sommersemester 1902), Allgemeine Kunstgeschichte, Erster Teil (Wintersemester 1902/03), Übungen im kunstgeschichtlichen Seminar (­Wintersemester 1902/03), Geschichte der deutschen Kunst von ihren Anfänge bis zur Gegenwart (Wintersemester 1908/09), Anleitung zu kunstgeschichtlichen Arbeiten für Geübtere (Sommersemester 1906; Wintersemester 1906/07, Sommersemester 1907, Wintersemester 1907/08; Sommersemester 1908; Wintersemester 1908/09, Sommersemester 1909) – unterrichtete er seine Studenten in weiteren ausgewählten Themenbereichen: Ikonographie der christlichen Kunst (Sommersemester 1904), Geschichte der Porträtmalerei, der Landschaftsmalerei und des Sittenbildes (Sommersemester 1906), Das Nackte in der Kunst (Geschichte der Auffassung des nackten menschlichen Körpers vom Mittelalter bis Facultäten) (Wintersemester 1902/03), Übungen in der Betrachtung und Erläuterung von Kunstwerken (mit Benutzung der Sammlungen des Museums der bildenden Künste) (Sommersemester 1904, 1905 und 1906), Venedig, die Stadt und ihre Kunst (Sommersemester 1904), Überblick über die Geschichte der Architektur der Renaissance Künste (Sommersemester 1904), Kunstgeschichte der Renaissance (Sommersemester 1905), Geschichte der graphischen Künste (Sommersemester 1906), Kunstgeschichtliche Übungen (Wintersemester 1906/07), Kunstgeschichtliche Übungen in den Museumssammlungen (Sommersemester 1907), Die italienische Plastik von Niccolo Pisano bis Michelangelo (Sommersemester 1907), Kunstgeschichtliche Übungen (Dürer und Raffael) (Wintersemester 1907/08), Geschichte der Kirchenbaukunst (Wintersemester 1907/08), Ausgewählte Kapitel aus der deutschen Kunstgeschichte (mit Lichtbildern) (Wintersemester 1907/08). Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S 60-80: Verzeichnisse der Vorlesungen an der Königlichen Universität Breslau 1867–1914. 109 �������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., Sign. F 95: Lehrfach der Kunstgeschichte und die Personalien der zu demselben gehörenden Dozenten, 6. Dezember 1891 bis 17. Juli 1929, Bl. 124: Protokoll von der Sitzung des Fakultätsrates, vom Dekan Clemens Baeumker unterzeichnet, 15. März 1894; Bl. 140–144: Protokoll der Beratung der „Commission für die Kunsthistorische Professur“, 5. und 12. Dezember 1894. 110 Muther, Richard: Anton Graff. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1881. 111 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Die ältesten deutschen Bilder-Bibeln. Bibliographisch und kunstgeschichtlich beschrieben. München 1883.

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zur Gegenwart. Mit Lichtbildern) (Wintersemester 1906/07). Weitere Vorlesungen waren speziell Italien gewidmet: Italien in Lichtbildern (Sommersemester 1907), Kunstwanderungen durch Italien, mit Lichtbildern (Wintersemester 1908/09).112 In einem seiner Berichte schrieb Muther: „Es wurden im Sommer-Semester 1899 stilkritische Übungen veranstaltet und Vorträge über Leonardo da Vinci, Raffael und den Entwicklungsgang der Kunst im Quattrocento gehalten. 8 ordentliche Mitglieder nahmen daran Theil. Das Winter-Semester 1899/1900 brachte Vorträge u. a. über die Niederländer des 16. Jahrhunderts und die Kunst der Gegenreformation.“113 Muther hielt Vorlesungen zur Kunst der Frühen Neuzeit,114 und zu eben diesem Thema sind unter seiner Betreuung auch die meisten Doktorarbeiten entstanden.115 Darunter finden sich Monographien zu Künstlern wie Adriaen de Vries,116 Michelozzo di Bartolommeo,117 Piero di Cosimo,118 Michael Willmann,119 Wilhelm Tischbein120 und Franz Krüger121 sowie eine Reihe von Einzelstudien: Die Antike in der bildenden Kunst der Renaissance,122 Die Je-

112 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S 60-70: Verzeichnisse der Vorlesungen an der Königlichen Universität Breslau 1867–1909. 113 Ebd., Sign. S 22: Chronik der Königlichen Universität zu Breslau für das Jahr vom 1. April 1899 bis 31. März 1900, Breslau 1900, 19. 114 Muthers Vorlesungen zum Thema Kunst der Frühen Neuzeit an der Universität Breslau: Allgemeine Kunstgeschichte, Zweiter Teil: von der Renaissance zum Barock (Sommersemester 1905), Dürer, Rafael und Rembrandt in Lichtbildern (Sommersemester 1906), Renaissance-Geschichte der italienischen Kunst im 15. und 16. Jahrhundert (Wintersemester 1906/07, Sommersemester 1909), Barock und Rokoko (Sommersemester 1907), Die Renaissance in Italien und im Norden, mit Lichtbildern (Wintersemester 1907/08), Geschichte der Malerei im 17. Jahrhundert. Mit Lichtbildern (Sommersemester 1908), Dürer und seine Zeit, mit Lichtbildern (Sommersemester 1908). Ebd., Sign. S 60-70: Verzeichnisse der Vorlesungen an der Königlichen Universität Breslau 1867–1909. 115 Ebd., Sign. 116: Promotionsverzeichnisse, 29, 35, 41, 45, 49, 51, 53, 67, 69, 77, 93, 119, 127, 131, 133, 135, 139; ebd., Sign. F 117, 22, 34, 203, 223. 116 Buchwald, Conrad: Adriaen de Vries. Leipzig 1899 (Beiträge zur Kunstgeschichte N.F. 25). Buchwald hatte zuvor bereits einen Beitrag zu zwei Werken dieses Künstlers publiziert. Vgl. ders.: Zwei Bronzebildwerke des Adriaen de Vries in Schlesien. In: Schlesiens Vorzeit in Schrift und Bild 6 (1896) 235–244. 117 Wolff, Fritz: Michelozzo di Bartolomeo. Straßburg 1900. 118 ������������������������������������������������������������������������������������������ Haberfeld, Hugo: Piero di Cosimo. Breslau 1900. Haberfeld ging später nach Wien und arbeitete dort seit 1902 als Redakteur der Wiener Zeitung. Er teilte weitere Interessen seines Doktorvaters, war auf dem Kunstmarkt aktiv und pflegte enge Kontakte zu Künstlern. 119 ������������������������������������������������������������������������������������������ Klossowski, Erich: Michael Willmann. Breslau 1902. Klossowski ging kurz nach seiner Promotion nach Paris und entfaltete dort seine künstlerische Aktivität. 120 Landsberger, Franz: Wilhelm Tischbein. Ein Künstlerleben des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1908 (Bücher der Kunst 3). 121 Cohn, Margarete: Franz Krüger. Leben und Werke. Breslau 1909. 122 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Jaeschke, Emil: Die ������������������������������������������������������������������������������� Antike in der bildenden Kunst der Renaissance. 1. Die Antike in der Florentiner Malerei des Quattrocento. Breslau 1900 (Zur Kunstgeschichte des Auslandes 3). Jaeschke verließ Breslau kurz nach seiner Promotion und arbeitete in mehreren deutschen Bibliotheken,

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suitenkunst in Breslau,123 Tizians Holzschnitte,124 Die erste Schule von Fontainebleau,125 ferner ein Beitrag zur Kunst der Gotik.126 Die Themenwahl dieser Dissertationen gewährt Einblick in die Interessen der jungen angehenden Kunsthistoriker in Breslau um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Am beliebtesten war immer noch die Kunst der italienischen Renaissance (Wolff, Haberfeld, Jaeschke, Korn),127 es erschienen aber auch erste Beiträge zur Kunst des Barock (Buchwald, Klossowski, Burgemeister)128 und des Klassizismus (Landsberger, Cohn).129 Eine einzelne Doktorarbeit indes war Ausdruck des Interesses an der Gotik (Hintze).130 Unter den verschiedenen Bereichen der bildenden Künste erfreute sich die Malerei der größten Beliebtheit (Haberfeld, Klossowski, Landsberger, Cohn, Hintze, von der Mülbe).131 Geographisch dominierte unverändert die europäische Kunst. Nur zwei Forscher – Erich Klossowski und Ludwig Burgemeister – zeigten Interesse an regionalen Motiven.132 Nach Muthers plötzlichem Tod im Juni 1909 übernahm Bernhard Patzak den Unterricht am Seminar für Kunstgeschichte, wo er bereits seit dem vorangehenden Wintersemester 1908/09 als Privatdozent gelehrt hatte.133 Patzak hatte seine Doktorarbeit in wo er sich als Bibliothekar und engagierter Befürworter einer Bibliotheksreform, die den öffentlichen Zugang zu den Sammlungen erleichtern sollte, einen Namen machte. 123 Burgemeister, Ludwig: Die Jesuitenkunst in Breslau. Studie. Breslau 1901. 124 Korn, Wilhelm: Tizians Holzschnitte. Breslau 1897. 125 �������������������������������������������������������������������������������������������� Mülbe, Wolf-Heinrich von der: Die erste Schule von Fontainebleau. Ein Beitrag zur Geschichte der französischen Malerei. Breslau 1904. Der Autor zog nach Verteidigung seiner Dissertation nach Hannover und Heidelberg um und lehrte dort als Privatdozent. Seit 1915 lebte er in München und wirkte als Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer. 126 �������������������������������������������������������������������������������������������� Hintze, Erwin: Einfluss der Mystiker auf die ältere Kölner Malerschule, den ,Meister der Madonna mit der Bohnenblüte‘ und Stephan Lochner. Breslau 1901. 127 Wolff: Michelozzo di Bartolomeo; Haberfeld: Piero di Cosimo; Jaeschke: Die Antike in der bildenden Kunst; Korn: Tizians Holzschnitte. 128 Buchwald: Adriaen de Vries; Klossowski: Michael Willmann; Burgemeister: Die Jesuitenkunst. 129 Landsberger: Wilhelm Tischbein; Cohn: Franz Krüger. 130 Hintze: Einfluss der Mystiker. 131 ������������������������������������������������������������������������������������� Haberfeld: Piero di Cosimo; Klossowski: Michael Willmann; Landsberger: Wilhelm Tischbein; Cohn: Franz Krüger; Hintze: Einfluss der Mystiker; Mülbe: Die erste Schule. 132 Klossowski: Michael Willmann; Burgemeister: Die Jesuitenkunst. 133 Vorlesungen und Seminare von Patzak an der Universität Breslau: Ausgewählte Kapitel aus der Kultur- und Kunstgeschichte der italienischen Renaissance, Teil I: Villenleben und Villenbau in Toscana (Wintersemester 1909/10), Das Raumproblem in der Malerei (Wintersemester 1909/10), Anleitung zu selbstständigen Arbeiten (Quellenkunde, historische Methode, praktische Aesthetik) (Wintersemester 1909/10), Kunstwissenschaftliche Übungen über das Lichtproblem in der Malerei (Im Anschluss an Leonardo da Vinci’s Traktat) (Sommersemester 1910), Entwicklungsgeschichte der christlichen Malerei (Sommersemester 1910), Entwickelungsgeschichte der Kirchenbaukunst (Wintersemester 1910/11), Kunstgeschichtliche Quellenkunde und Anleitung zu selbstständigen Arbeiten (Wintersemester 1910/11), Der Stilgerechte Kirchenschmuck, praktische Übungen in Breslauer Kirchen (Wintersemester 1910/11), Studien vor dem Original, vier wissenschaftliche Exkursionen nach Berlin, Dresden, Prag und Wien (Wintersemester 1910/11), Übun-

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Literaturwissenschaften im Jahr 1901 an der Universität Breslau geschrieben (ein Jahr später wurde die Arbeit veröffentlicht)134 und sich noch im gleichen Jahr – wie er es in seinem selbst verfassten Lebenslauf ausdrückte – „gänzlich“ der Kunstgeschichte zugewandt.135 Seine Habilitation zur Villa in Pesaro lässt vermuten, dass auch er sich in den folgenden Jahren primär der Kunst der italienischen Renaissance widmete.136 Aus kunsthistorischer Perspektive erscheint auch das von Patzak vorgeschlagene Thema der öffentlichen Antrittsvorlesung bedeutungsvoll: Die Kunstgeschichte als Wissenschaft.137 Nach der Habilitation ging Patzak nach Italien und schloss dort sein Werk Die Renaissanceund Barockvillen in Italien ab.138 Seit dem Wintersemester 1911/12 führte er mit seinen Studenten regelmäßigen „Außenunterricht“ durch, in Kirchen, Museen und Künstlerateliers. Sein Forschungsinteresse galt vor allem der Barockarchitektur Breslaus.139 Patzak war eben nicht nur ein herausragender Experte im Bereich der westeuropäischen Gotik, sondern förderte, seit er 1911 von Kautzsch (der selbst kein Interesse an schlesischer Kunst gezeigt hatte) die Leitung der Kunstgeschichte in Breslau übernomgen im Gebiet der Kunstgeschichte des Mittelalters (Sommersemester 1911), Kunstwanderungen in Italien (Lichtbilder) (Sommersemester 1911, Wintersemester 1912/13), Die Kultur der italienischen Renaissance (Wintersemester 1911/12), Die Kunst des 19. Jahrhunderts (Architektur, Plastik, Malerei) (Wintersemester 1911/12), Das künstlerische Sehen vor dem Original, kunstwissenschaftliche Führungen durch die Breslauer Kirchen, Museen und Künstlerateliers (Wintersemester 1911/12; Wintersemester 1912/13), Entwicklungsgeschichte der italienischen Renaissancearchitektur (Wintersemester 1912/13), Kunstwissenschaftliche Übungen (Wintersemester 1912/13). Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S 71-75: Verzeichnisse der Vorlesungen an der Königlichen Universität Breslau 1909–1912; ebd., Sign. S 76-77: Verzeichnisse der Vorlesungen an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 1912–1913. 134 Patzak, Bernhard: Die Stellung Friedrich Hebbels in der deutschen Epigrammatik. Berlin 1902. 135 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 95: Lehrfach der Kunstgeschichte und die Personalien der zu demselben gehörenden Dozenten, 6. Dezember 1891 bis 17. Juli 1929, Bl. 299–300: Lebenslauf von Bernhard Patzak, hier Bl. 299: „Seit 1901 wandte ich mich gänzlich dem Studium der Kunstgeschichte zu.“ 136 Patzak, Bernhard: Die Villa Imperiale in Pesaro. Studien zur Kunstgeschichte der italienischen Renaissancevilla und ihrer Innendekoration. Leipzig 1908. Die Thesen seiner Habilitationsschrift lauteten: „1. Dehio’s Kritik der Viollet-le-Duc’schen Entstehungstheorie des romanischen Kirchenbaustiles ist irreführend. 2. Brunelleschis Florentiner Domkuppel hat mit ‚Renaissance‘ nichts zu tun. 3. Palladios Villenbauweise ist nicht so akademisch, als man bisher angenommen hat.“ Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 95: Lehrfach der Kunstgeschichte und die Personalien der zu demselben gehörenden Dozenten, 6. Dezember 1891 bis 17. Juli 1929, Bl. 297: Brief von Dr. Bernhard Patzak an die Philosophische Fakultät der Universität Breslau, Breslau 16. Juni 1907. 137 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 95: Lehrfach der Kunstgeschichte und die Personalien der zu demselben gehörenden Dozenten, 6. Dezember 1891 bis 17. Juli 1929, Bl. 298: Brief von Dr. Bernhard Patzak an die Philosophische Fakultät der Universität Breslau, Breslau 16. Juni 1907. 138 �������������������������������������������������������������������������������������������� Patzak, Bernhard: Die Renaissance- und Barockvilla in Italien. Versuch einer Entwicklungsgeschichte. Leipzig 1912. 139 Störtkuhl: Die Kunstgeschichte, 655f.

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Schreiben Bernhard Patzaks an die Philosophische Fakultät der Universität Breslau mit dem Vorschlag des Themas seiner Antrittsvorlesung („Die Kunstgeschichte als Wissenschaft“), Breslau, 16. Juni 1907. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 95: Lehrfach der Kunstgeschichte und die Personalien der zu demselben gehörenden Dozenten, 6. Dezember 1891 bis 17. Juli 1929, Bl. 298.

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men hatte, auch die Erforschung der regionalen Kunst. Ein Schwerpunkt seiner Vorlesungen galt der Frühen Neuzeit – Rembrandt und seine Zeitgenossen (Sommersemester 1911), Der Beginn der Renaissance in Italien (Wintersemester 1911/12), Die Hauptmeister der deutschen Malerei des 16. Jahrhunderts (Sommersemester 1912), Peter Paul Rubens (Sommersemester 1912), Michelangelo (Wintersemester 1912/13), Geschichte der Barockkunst in Deutschland (Wintersemester 1912/13), Übungen im Gebiet der Barockkunst (Sommersemester 1913) –, darüber hinaus las er aber auch zur allgemeinen Kunstgeschichte: Geschichte der graphischen Künste (mit Demonstrationen im Kupferstichkabinett des Museums der bildenden Künste) (Sommersemester 1912) oder Die Kunst der christlichen Antike, zur Einführung ins Studium der Kunstgeschichte (Sommersemester 1913).140 Im Jahr 1912 begann Muthers Schüler Franz Landsberger seine Lehrtätigkeit an der Universität Breslau. Landsberger hatte bei Heinrich Wölfflin in Berlin studiert, nach der 1908 absolvierten Promotion einige Jahre auf Reisen nach Deutschland, England und Italien verbracht und sich anschließend in Breslau mit einer Arbeit über eine karolingische Bilderhandschrift habilitiert: Der St. Galler Folchart-Psaltar. Eine Initialenstudie (St. Gallen 1912).141 Seine Antrittsvorlesung hielt er zu Porzellan im Rokoko.142 Anschließend in Breslau auf eine außerordentliche Professur berufen, hielt er vor 1914 die folgenden Vorlesungen: Ausgewählte Kapitel aus der Kunstgeschichte des Mittelalters (Wintersemester 1912/13), Geschichte der Florentiner Renaissance-Malerei (Wintersemester 1912/13), Übungen zur Einführung in die Geschichte der Baukunst (Sommersemester 1913); Geschichte der italienischen Plastik (Sommersemester 1913), Venedig (Sommersemester 1913).143 Landsberger beschäftigte sich mit beinahe allen Bereichen der Kunst – auch der schlesischen – und spielte etwas später, in den 1920er Jahren, eine wichtige Rolle im kulturellen Leben der schlesischen Hauptstadt.144

7. Moderne Kunst und künstlerische Kritik Auch wenn Schmarsow die aktuellen Trends in der modernen Kunst aufmerksam verfolgte und Foerster als Vorsitzender im Kuratorium des Schlesischen Museums der bildenden Künste unter anderem über moderne Künstler publizierte,145 so ist als der erste 140 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S 74-78: Verzeichnisse der Vorlesungen an der Königlichen Universität Breslau 1910–1912; Verzeichnisse der Vorlesungen an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 1912–1913. 141 �������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., Sign. F 95: Lehrfach der Kunstgeschichte und die Personalien der zu demselben gehörenden Dozenten, 6. Dezember 1891 bis 17. Juli 1929, Bl. 364–394. 142 Ebd., Bl. 395. 143 Ebd., Sign. S 77-78: Verzeichnisse der Vorlesungen an der Schlesischen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Breslau 1912–1913. 144 Pusback, Birte: Der Kunsthistoriker Franz Landsberger – ein Kosmopolit mit schlesischen Wurzeln. In: Harasimowicz (Hg.): Księga Pamiątkowa, Bd. 4, 473–482. 145 Foerster, Richard: Moritz von Schwinds Philostratische Gemälde. Leipzig 1903.

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Urszula Bończuk-Dawidziuk Richard Muther, Fotografie aus der Sammlung des Breslauer Universitätsarchivs. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S-168-58-5.

wirkliche Breslauer Forscher im Bereich der modernen Kunst dennoch Muther zu nennen. Nach seiner Ankunft in Breslau war dieser talentierte und durchaus kompetente Kunsthistoriker in seiner Lehrtätigkeit von Anfang an erfolgreich, die Studentenschaft und auch die Presse waren ihm zugeneigt. Muthers Interesse galt vor allem der modernen Kunst und der künstlerischen Kritik: Themen, zu denen er viel publizierte und auch zahlreiche Vorlesungen hielt. In den Wintersemestern 1899/1900 und 1902/03 las er über die Kunstbewertung der Gegenwart,146 im Wintersemester 1907/08 hielt er eine Vorlesung über Die Kunst des 19. Jahrhunderts, im Sommersemester 1909 präsentierte er das Thema Wie Kunstwerke betrachtet sein wollen, mit Lichtbildern.147 1902 eröffnete er die populärwissenschaftliche Reihe Die Kunst. Sammlung illustrierter Monographien, in der Künstlermonographien erschienen – berücksichtigt wurden unter anderem Künstler der Renaissance wie Lucas Cranach und Leonardo da Vinci, aber auch moderne Künstler wie Gustave Courbet. In den Jahren 1893/94 veröffentlichte Muther das gewichtige, dreibändige Werk Geschichte der Malerei im 19. Jahrhundert.148 Darin kon146 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S 22: Chronik der Königlichen Universität zu Breslau für das Jahr vom 1. April 1899 bis 31. März 1900. Breslau 1900, 19; ebd., Sign. S 61: Verzeichniss der Vorlesungen an der Königlichen Universität Breslau im Winter-Semester 1902/03. 147 Ebd., Sign. S 60-70: Verzeichnisse der Vorlesungen an der Königlichen Universität Breslau 1867–1909. 148 Muther, Richard: Geschichte der Malerei im XIX. Jahrhundert, Bd. 1–3. München 1893–1894.

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zentrierte er sich, ähnlich wie in seinen anderen Publikationen, auf die Darstellung und nicht auf die zu jener Zeit in der Forschung dominierende formstilistische Analyse.149 Die Bände erfreuten sich zwar großer Beliebtheit unter den Lesern, in wissenschaftlichen Kreisen dagegen wurden sie wegen ihrer bunten, bildhaften Sprache zurückhaltend aufgenommen. Zugleich gewann Muther mit seinen populärwissenschaftlichen Abhandlungen über die akademische Sphäre hinaus eine gewisse Popularität in der Kunstszene. Unter Künstlern, mit denen er enge Kontakte pflegte, genoss er ähnlich großes Ansehen wie unter Kunsthändlern und -sammlern (zum Beispiel Albert und Toni Neisser). Im wissenschaftlichen Umfeld teilten freilich nicht alle den Enthusiasmus gegenüber Muthers Leistungen im Bereich der Kunstförderung. Man kritisierte ihn wegen zu starker Konzentration auf journalistische Arbeit statt auf seriöse Forschungstätigkeit.150 Allerdings mussten auch seine Kritiker zugeben, dass Muther in seinem Buch zur Malerei des 19. Jahrhunderts gekonnt die wichtigsten Strömungen der modernen Malerei (Kunstschaffen um 1800, Realismus, Impressionismus) identifiziert und damit Standards der modernen Kunstgeschichte gesetzt hatte.151 Nach Muthers Tod widmete Patzak einige seiner Vorlesungen ebenfalls der modernen Kunst – etwa im Wintersemester 1911/12 Die Kunst des 19. Jahrhunderts (Architektur, Plastik, Malerei).152 Auch Kautzsch las zu entsprechenden Themen: Übungen im Gebiet der neueren Kunstgeschichte (Wintersemester 1911/12); Übungen im Gebiet der neueren Kunstgeschichte im kunstgeschichtlichen Seminar (Wintersemester 1912/13); Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts (Sommersemester 1913); Die graphischen Künste im 19. Jahrhundert (Mit Demonstrationen im Museum) (Sommersemester 1913).153 Muthers Schüler Conrad Buchwald befasste sich in der Schlesischen Zeitung mit künstlerischer Kritik und mit Fragen von Kunstförderung, die er bevorzugt in der Zeitschrift Schlesien zur Diskussion stellte, bei der er als Redakteur tätig war.154

149 Störtkuhl: History of art, 296. 150 Im Frühjahr 1896 wurde Muther eines Plagiats verdächtigt, woraufhin er noch im gleichen Jahr eine Verteidigungsschrift veröffentlichte. Vgl. Muther, Richard: Die Muther-Hitze. Ein Beitrag zur Psychologie des Neides und der Verläumdung. Berlin 1896. Unter dem Druck der Presse, die die Plagiatsaffäre breit kommentierte, war Muther bereit, sich einem Disziplinarverfahren zu unterziehen. Es blieb am Ende bei einer Ermahnung von Seiten der Fakultät. Vgl. Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 95: Lehrfach der Kunstgeschichte und die Personalien der zu demselben gehörenden Dozenten, 6. Dezember 1891 bis 17. Juli 1929, Bl. 187–269. 151 Sachs: Richard Muther, 143. 152 ����������������������������������������������������������������������������������������� Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S���������������������������������������������� 75: Verzeichnisse der Vorlesungen an der Königlichen Universität Breslau im Winter-Semester 1911/12. 153 Ebd., Sign. S 75-76: Verzeichnisse der Vorlesungen an der Königlichen Universität Breslau 1911–1912; ebd., Sign. S 77-78: Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 1912–1913. 154 Łukaszewicz, Piotr: Buchwald Conrad. In: Harasimowicz, Jan (Hg.): Encyklopedia Wrocławia. Wrocław 2000, 96–97.

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8. Kunsttheorie und Methodologie der Kunstgeschichte Schon im Jahr 1864, also zwei Jahre vor dem Erscheinen der ersten kunstgeschichtlichen Habilitationsschrift von Alwin Schultz an der Universität Breslau, hatte Hermann Luchs sein Buch zu einer der kunstgeschichtlichen Hilfswissenschaften veröffentlicht.155 Der erste Kunsttheoretiker an der Breslauer Universität war dennoch Robert Vischer, der sich in seinen Forschungen mit Fragen aus den Bereichen Ästhetik und Psychologie beschäftigte. Von seinem Vater inspiriert, entwickelte und etablierte Vischer die Einfühlungstheorie in der Kunst. Er konzentrierte sich auf die Festlegung objektiver ästhetischer Kriterien, um die Kunstgeschichte in den Kreis der empirischen Wissenschaften aufzunehmen.156 Für ein zentrales Problem hielt er die Abhängigkeit zwischen den formalen Merkmalen eines Kunstwerks und den visuellen Gebräuchen zeitgenössischer Empfänger. Das bereits bekannte Konzept der „Einfühlung“ in das betrachtete Kunstwerk wurde von Vischer mit dem konkreten Empfinden des Rezipienten zum Zeitpunkt der Wahrnehmung verbunden. Diese Fragen hatte er bereits in seiner Dissertation angesprochen, deren wegweisenden Charakter später auch amerikanische Forscher zu schätzen wussten, indem sie Vischers Arbeit am Beginn der deutschen Forschung zur Ästhetik in der Kunst verorteten.157 Vischers Theorien im Bereich der psychologischen Ästhetik in der Kunst wurden in Breslau von August Schmarsow weiterentwickelt. Schmarsow trug wesentlich, wie seine 1891 in Breslau veröffentlichte Monographie Kunstgeschichte an unsern Hochschulen belegt, zur Etablierung der Kunstgeschichte als ein eigenständiges wissenschaftliches Fach mit spezifischen Methoden, Fragestellungen und Zielsetzungen bei.158 Er war der Auffassung, dass ein dreijähriges, mit der Promotion abgeschlossenes Studium eine Übersicht über die antike, mittelalterliche und neuzeitliche Kunst sowie eine Einführung in die Forschungsarbeit bieten müsse. Schmarsow förderte die Beobachtung und Beschreibung ebenso wie die Entwicklung der Ästhetik und der kritischen Betrachtung, die einen formalen Vergleich und eine stilistische Systematisierung von Kunstwerken ermöglichten. Er strebte nach einer Vereinheitlichung der kunsthistorischen Terminologie und betonte in seinen Erwägungen zur Theorie der Kunstgeschichte den Stellenwert des empirischen Ansatzes. Von Beginn seines Aufenthalts in Breslau an war Schmarsow um die Erweiterung der wissenschaftlich-didaktischen Sammlung (unter anderem Kupferstiche und Fotografien) bemüht. Er begründete dieses Ansinnen mit dem Bedürfnis, die Sammlung im universitären Unterricht einzusetzen. Ein erster Erfolg war 1888 die Begründung des 155 Luchs, Hermann: Die Heraldik. Eine Hülfswissenschaft der Kunstgeschichte. Breslau 1864. 156 Störtkuhl: Die Kunstgeschichte, 638. 157 Vischer, Robert: On the Optical Sense of Form. A Contribution to Aesthetics. In: Mallgrave, Harry Francis/Ikonomou, Eleftherios (Hg.): Empathy, form, and space. Problems in German aesthetics 1873–1893. Santa Monica 1994, 89–123. 158 Schmarsow, August: Kunstgeschichte an unsern Hochschulen. Berlin 1891.

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Seminars für mittelalterliche und neuere Kunstgeschichte,159 auch wenn Schmarsow eigentlich die Einrichtung eines kunstgeschichtlichen Instituts angestrebt hatte. Als erneute Gesuche an das Kultusministerium um Gewährung von Mitteln für die Anschaffung des Instrumentariums und die Umsetzung der Neugestaltung ohne Reaktion blieben, legte er während einer wissenschaftlichen Reise nach Florenz im ­Wintersemester 1892/93 sein Amt nieder. Die Universitätsleitung bemühte sich noch, Schmarsow von dieser Entscheidung abzubringen, indem sie sein Forschungspraktikum auch auf das folgende Sommersemester ausdehnte.160 Schmarsow indes ließ sich hiervon nicht beeindrucken und kündigte endgültig im Mai 1893. Seine Entscheidung begründete er damit, dass er trotz wiederholter Gesuche sieben Jahre lang vom Kultusministerium keine Mittel für die Ausstattung des „kunsthistorischen Lehrapparats mit dem erforderlichen Material“161 erhalten habe. Ferner beklagte er, dass seine Pläne zur Neugestaltung des Seminars für Kunstgeschichte und dessen Umwandlung in ein Institut, obwohl vom Kultusministerium bereits genehmigt, nie umgesetzt worden seien.162 Den Beginn des neuen Semesters erlebte Schmarsow bereits an der Universität Leipzig. Unter den kunstgeschichtlichen Wissenschaftstheoretikern ist auch Muther zu nennen, der das Ziel verfolgte, die Kunstgeschichte zu popularisieren. In den von ihm veröffentlichten Künstler-Kurzmonographien, die scheinbar belanglos, da bunt bebildert, mit populärwissenschaftlichen Texten versehen und vor allem billig waren, ging es dem Verfasser weniger um die Verbreitung der Kunst als um die Popularisierung der Kunstgeschichte als Disziplin. Muther schlug darüber hinaus eine alternative Methode der Beschreibung moderner Kunstgeschichte vor. Angesichts des Überangebots an Quellen und Informationen zu modernen Künstlern und ihren Werken befürchtete er, dass bestimmte Aspekte den Hauptsinn des Werks beziehungsweise des Schaffens eines Künstlers vernebeln könnten. Deshalb empfahl er, sich auf die Bestimmung geistiger Verwandtschaften zu konzentrieren, die einzelne Kunstwerke miteinander verbanden, und auf dieser Basis bestimmte geistige und soziale Strömungen der jeweiligen Epoche herauszuarbeiten, die ein Einzelkunstwerk oder eine Kunstwerkgruppe charakterisierten. Muther kam zu dem Schluss, dass es die originäre Aufgabe eines Kunsthistorikers sein müsse, das Chaos der Moderne, mit dem der Betrachter konfrontiert sei, zu strukturieren und den Zusammenhang zwischen moderner Kunst und der gesamten begleitenden Kultur aufzuzeigen.163

159 Zum ersten Mal tauchte der Begriff „Seminar“ in den Personal- und Vorlesungsverzeichnissen im Sommersemester 1888 auf. 160 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 95: Lehrfach der Kunstgeschichte und die Personalien der zu demselben gehörenden Dozenten, 6. Dezember 1891 bis 17. Juli 1929, Bl. 82–83: Schreiben Schmarsows, Florenz 30. Januar 1893. 161 Ebd., Bl. 94: Schreiben Schmarsows an die Philosophische Fakultät der Universität Breslau, 5. Mai 1893. 162 Ebd., Bl. 91–93: Schreiben Schmarsows vom Januar 1893. 163 Sachs: Richard Muther, 146f.

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Rücktrittsschreiben August Schmarsows an die Philosophische Fakultät der Königlichen Universität zu Breslau, Florenz, 5. Mai 1893. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 95: Lehrfach der Kunstgeschichte und die Personalien der zu demselben gehörenden Dozenten, 6. Dezember 1891 bis 17. Juli 1929, Bl. 94.

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9. Denkmalpflege Eine bedeutende Rolle in der kunstgeschichtlichen Forschung in Schlesien spielten die Denkmalpfleger. Auch auf diesem Fachgebiet der Kunstgeschichte ist Johann Gustav Gottlieb Büsching als Pionier zu betrachten. Er veröffentlichte nicht nur zahlreiche Studien zu dieser Thematik, sondern erwarb im Jahr 1824 auch die Kynsburg in Kynau. Die Burg wollte er umfassend restaurieren lassen und anschließend Besuchern zugänglich machen. Der Tod Büschings im Jahr 1829 verhinderte freilich die Umsetzung dieser Pläne. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts erschien im Kreis der Klassischen Philologie und Archäologie mit Richard Foerster ein ausgewiesener Denkmalpfleger. Während Foersters Amtszeit als Rektor der Breslauer Alma Mater 1897/98 wurden die Renovierungsarbeiten am Hauptgebäude der Universität abgeschlossen. Eine wichtige Rolle in der Geschichte der Restaurierung Breslauer Baudenkmäler spielten zudem Alwin Schultz und Carl Lüdecke, die 1864 erst den Aufsatz und 1868 darauf aufbauend das gleichnamige Buch Das Rathhaus zu Breslau veröffentlicht hatten.164 Die genannte Monographie zur Architektur des Breslauer Rathauses machte dieses gotische Kleinod berühmt und gab ihm seinen ursprünglichen Stellenwert als eines der wichtigsten Bauwerke in Schlesien zurück. Dadurch wurden die Durchführung der denkmalpflegerischen Maßnahmen zwischen 1884 und 1991 und anschließend die Regotisierung des Rathauses überhaupt erst möglich.165 Der erste Provinzialkonservator schlesischer Denkmäler war seit 1891 der Regierungsbaumeister Hans Lutsch, als dessen größtes Verdienst die Erarbeitung eines vollständigen Katalogs schlesischer Kunstdenkmäler anzusehen ist.166 Lutsch war es auch, der die Richtlinien für die Pflege der schlesischen Denkmäler formulierte.167 Sein Nachfolger auf diesem Posten war seit 1905 der Königliche Landbauinspektor Ludwig Burgemeister, ein Schüler Muthers. Ähnlich wie Lutsch veröffentlichte Burgemeister viel zum Thema schlesischer Denkmäler168 und darüber hinaus zur Methodologie der Denkmalpflege.169 Periodisch erschienen auch Berichte, die von der durch ihn geleiteten Behörde herausgegeben wurden.170

164 Lüdecke/Schultz: Das Rathhaus zu Breslau. 165 Harasimowicz, Jan: Ratusz. In: ders.: (Hg.): Atlas architektury Wrocławia, Bd. 1. Wrocław 1997, 112–115, hier 113. 166 ������������������������������������������������������������������������������������������� Lutsch, Hans (Bearb.): Verzeichnis der Kunstdenkmäler der Provinz Schlesien, Bd. 1–5. Breslau 1886–1903. 167 Ders.: Grundsätze für die Erhaltung und Instandsetzung älterer Kunstwerke geschichtlicher Zeit in der Provinz Schlesien. Berlin 1899. 168 Vgl. exemplarisch Burgemeister, Ludwig: Das Breslauer Rathaus. Geschichtliche und bauliche Beschreibung. Breslau 1913 169 Vgl. exemplarisch ders.: Die gesetzlichen und behördlichen Vorschriften über Denkmalpflege. Breslau 1913. 170 Berichte des Provinzial-Konservators der Kunstdenkmäler der Provinz Niederschlesien.

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10. Museumswesen Als erster Leiter des Königlichen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer an der Universität in Breslau ließ Büsching die aus schlesischen Klöstern stammenden Ordenssammlungen ordnen und schuf mit ausgewählten Bildern die erste Bildergalerie, die seit 1815 für die Öffentlichkeit regelmäßig zweimal in der Woche zugänglich war. Einige Jahre später stellte er auch Skulpturen, Kunsthandwerk, Münzen und andere Sammlungen zur Schau. Büsching war bestrebt, das Wissen um die Sammlungen über die Presse zu verbreiten. Im Breslauer Museumswesen spielte er wegen der Katalogisierung und Inventarisierung der wichtigsten Werke eine Schlüsselrolle. Seine Protokolle, Inventare und Aufzeichnungen stellen wertvolle Informationsquellen zur Form dieser Sammlung dar.171 Wie schon erwähnt, veröffentlichten seine Nachfolger Kataloge der Sammlungen von Gipsabgüssen, die sich in den Beständen des Museums befanden und für Vorlesungen in Klassischer Philologie und Archäologie verwendet wurden. In einem anderen, etwas jüngeren Breslauer Museum, dem Schlesischen Museum der Bildenden Künste, wurden die Sammlungen ebenfalls inventarisiert. Auch hier wurden die Ergebnisse dieser Bemühungen veröffentlicht. Der Kunsthistoriker Robert Kahl schuf den ersten Bilderkatalog des Museums.172 Arthur Lindner, der die Grafiksammlung betreute, veröffentlichte verschiedentlich in der Presse173 sowie in Gelegenheitsschriften.174 Der Kunsthistoriker Robert Becker, Professor an der Universität Breslau, wiederum publizierte seit 1906 zu den schlesischen Sammlungen von Zeichnungen.175 Er war darüber hinaus in den Jahren 1885 bis 1912 Mitglied im Vorstand des Vereins für Geschichte der bildenden Künste zu Breslau und zusätzlich dessen ­Historiograph.176 Diese wissenschaftliche Gesellschaft versammelte in ihren Reihen die wichtigsten kunstgeschichtlichen Forscher, die im Oderland tätig waren. Zu nennen sind ferner die Museumsfachleute Conrad Buchwald und Erwin Hintze, beides Schüler Muthers: Buchwald arbeitete von 1893 bis 1899 im Museum für Schle171 Bończuk-Dawidziuk, Urszula/Jezierska, Anna/Wojtyła, Arkadiusz: Wykaz zawartości Akt Büschinga z lat 1810–1812 ze zbiorów Biblioteki Uniwersyteckiej we Wrocławiu. In: Hereditas Monasteriorum 3 (2014) 241–300. 172 Kahl, Robert: Beschreibendes Verzeichniß der Gemälde. Breslau 1886. 173 Łukaszewicz: Kunstmuseen, 226. 174 Lindner, Arthur: Der Breslauer Froissart. Festschrift des Vereins für Geschichte der Bildenden Künste zu Breslau zum fünfzigjährigen Jubiläum verfasst im Auftrage des Vereins. Mit 50 Lichtdrucktaf. u. 22 Textabbild. Berlin 1912. 175 Becker, Robert: Aus Alt-Breslau. Federzeichnungen aus der Bach-Mützelschen Sammlung im Namen des Vereins für Geschichte der bildenden Künste zu Breslau. Breslau 1900; ders.: Julius Scholtz und die Ausstellung von Zeichnungen und Studien aus einem Nachlass im Schlesischen Museum der Bildenden Künste. Breslau 1912. 176 Ders.: Der Verein für Geschichte der bildenden Künste zu Breslau 1862–1912. Ein Beitrag zur Geschichte des geistigen Lebens in Breslau. Breslau 1912; ders.: Die Halbjahrhundertfeier des Vereins für Geschichte der bildenden Künste zu Breslau. Nachtrag zur Geschichte des Vereins 1862–1912. Breslau 1913.

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Im Museumswesen spielten die Inventarisierung und die Katalogisierung von Denkmälern eine bedeutende Rolle. Einige der im Zuge dieser Arbeiten entstandenen Kataloge gelangten zum Druck. Als Beispiel dafür kann der Katalog der Sammlungen im Breslauer Universitätsmuseum von August Rossbach dienen, der 1861 in der schlesischen Hauptstadt publiziert wurde. Bildnachweis: Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, Sign. 1676 I GŚŁ.

sische Altertümer und anschließend im Schlesischen Museum für Kunstgewerbe und Altertümer, wo er die mittelalterlichen Sammlungen betreute.177 Im KunstgewerbeMuseum arbeitete seit 1901 auch Hintze, der sich dort mit der Inventarisierung der Werke der Goldschmiedekunst befasste.178 Hintze war zudem herausragender Experte in Zinngießerei.179 1913 wurde er für seine Verdienste bei der Organisation der Jahrhundertausstellung in Breslau zum Professor ernannt.

11. Zusammenfassung Die Analyse der kunsthistorischen Forschungen in Schlesien vor 1914 erlaubt die Schlussfolgerung, dass die Forscher, die diese Disziplin in Schlesien vertraten, einen zwar bescheidenen, aber doch erkennbaren Beitrag zur europäischen Wissenschaftsgeschichte geleistet haben. Bevor sich die Kunstgeschichte in der wissenschaftlichen Landschaft Schlesiens als Forschungsdisziplin etablierte, spielten zunächst Altphilologen, um die Wende vom 177 Łukaszewicz: Buchwald Conrad, 96f. 178 Hintze, Erwin: Die Breslauer Goldschmiede. Eine archivalische Studie. Breslau 1906; ders.: Schlesische Goldschmiede, Tl. 1–2. Breslau 1912–1916. 179 Ders.: Schlesisches Zinngerät mit geätztem und gegossenem Dekor. Leipzig 1910.

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19.  zum 20. Jahrhundert auch Archäologen eine wichtige Rolle in der kunsthistorischen Forschung. In wissenschaftlichen Verbänden, in Museen sowie in verwandten Forschungsbereichen an der Universität Breslau aktiv, beschäftigten sie sich mit allgemeiner und schlesischer Kunst. Schon bald knüpfte dieser Personenkreis im Zusammenwirken mit den fachlich ausgebildeten Kunsthistorikern wissenschaftliche Netzwerke. Im Fokus ihres Interesses standen sowohl die Kunst der Vorgeschichte (Büsching und ­Seger), der Antike (Passow, Ritschl, Ambrosch, Rossbach, Foerster), des Mittelalters (Büsching, Wachler, Luchs, Schultz, Kautzsch, Buchwald, Burgemeister) und der Frühen Neuzeit (Schultz, Vischer, Schmarsow, Semrau, Muther, Patzak, Foerster) als auch die moderne Kunst (Schmarsow, Muther, Foerster, Buchwald). Die genannten Koryphäen beschäftigten sich mit Kunsttheorie, mit der Methodologie der Kunstgeschichte, mit der formstilistischen Analyse, der Auslegung von Themen in der Kunst sowie mit künstlerischer Kritik. Sie wirkten häufig an der Schnittstelle verschiedener wissenschaftlicher Fachbereiche und bewahrten dieses Interdisziplinarität auch noch später, als die Kunstgeschichte sich längst als eigenständige Wissenschaft etabliert hatte. Robert Vischer schrieb sich in die allgemeine Kunstgeschichte als Ästhet ein, der hervorragende Kunsthistoriker und -theoretiker wie Heinrich Wölfflin, Alois Riegl und August Schmarsow inspirierte.180 Der Letztgenannte wiederum hat sich von den in Schlesien wirkenden Kunsthistorikern wohl am meisten um die Forschung verdient gemacht. Sein Schüler Semrau verließ Breslau und ging nach Greifswald, wo er zum ersten Professor für Kunstgeschichte an einer Universität ernannt wurde. Der hochtalentierte, wenn auch umstrittene Richard Muther, der ebenfalls in der schlesischen Hauptstadt wirkte, war einer der prominentesten Kunsthistoriker und überdies einer der wenigen, die sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit moderner Kunst beschäftigten.181 Neben diesen Persönlichkeiten von europäischem Format ist die Bedeutung der regionalgeschichtlichen Forschungen hervorzuheben. Universitäre Vorlesungen zur schlesischen Kunst hatte bereits Johann Gustav Gottlieb Büsching gehalten. Ihm folgte viele Jahre später der erste Breslauer Professor für Kunstgeschichte Alwin Schultz, der sich zudem an der Herausgabe des Katalogs der Baudenkmäler in Schlesien beteiligte.182 In den folgenden Jahren war die regionale Kunst Forschungsgegenstand von Semrau, Becker, Patzak und Landsberger. Mit der Bestandsaufnahme schlesischer Sammlungen beschäftigten sich unter anderem Büsching und Lutsch, womit beide – so wie später Burgemeister, Foerster, Schultz und Lüdecke – zum Schutz der Baudenkmäler im Oderland beitrugen. Sie alle spielten eine bedeutende Rolle bei der Erforschung der schlesischen Kunst und der Etablierung der Denkmalpflege. Aus der Rückschau erweisen sich ihre wissenschaftlichen Leistungen angesichts der Zerstreuung beziehungsweise Vernichtung zahlreicher Kunstdenkmäler während des Zweiten Weltkriegs als umso wertvoller. 180 Störtkuhl: Die Kunstgeschichte, 639. 181 Ebd., 646f. 182 Schultz, Alwin: Anleitung zur Herstellung des von der königl[ichen] Regierung beabsichtigten Verzeichnisses der schlesischen Kunstdenkmäler. In: Schlesiens Vorzeit 2 (1873) 165–181.

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Ausgewählte volkskundliche Diskurse in Schlesien im langen 19. Jahrhundert 1. Einleitung Betrachtet man die volkskundliche Forschung in Schlesien, aber auch in anderen Regionen des deutschen Sprachraums während des „langen 19. Jahrhunderts“,1 sieht man sich einem gewissen Paradox gegenüber. Zwar war zu dieser Zeit der Begriff „Volkskunde“ schon in aller Munde und wurde spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sowohl in der Berichterstattung über akademische Aktivitäten als auch in Titeln von Veröffentlichungen gezielt gebraucht.2 Doch handelte es sich hierbei genau genommen lange Zeit um eine wissenschaftliche Beschäftigung avant la lettre, da die Etablierung einer Fachdisziplin mit dem Namen „Volkskunde“ in Fachverbänden, Institutionen und an Universitätslehrstühlen erst in die Endphase des hier zu untersuchenden Zeitraums fällt. Der Münchner Staatsrechtler, Kulturhistoriker und Statistiker Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) erklärte die Volkskunde zwar bereits im Jahr 1858 in einem Vortrag zu einer eigenständigen Wissenschaft. In einem konservativen und zugleich essentialistischen Kulturverständnis von überlieferten und überkommenden Ausprägungen der Volkskultur definierte er das „Volk“ als eine organische Einheit, deren Phänomene die Volkskunde seiner Auffassung nach erforschen sollte. Riehl schrieb darin dem Volk eine „Volkspersönlichkeit“ zu, die er als „das bewußte Zusammenfassen der Einzelzüge seines Volksthums“ beschrieb.3 Riehl lehnte die reine Sammeltätigkeit von bestimmten Phänomenen und Artefakten der Volkskultur ab, er empfahl vielmehr, sie nach den vier großen „S“ zu analysieren – „Stamm, Sprache, Sitte und Siedelung“.4 In einer einflussreichen Klassifikation unterschied er zwischen den „Mächten des Beharrens“ – den

1 In Anlehnung an Eric Hobsbawms Periodisierung wird dieser Epochenbegriff hier für den Zeitraum zwischen dem ausgehenden 18. Jahrhundert und 1914 gebraucht. Vgl. Hobsbawm, Eric: Das imperiale Zeitalter. Frankfurt am Main 1989, 15. 2 Laut Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd.  20. Leipzig 61909, 234, wurden „Volkskunde“ definiert als „die Wissenschaft, die mit der Erforschung der im Volke fortlebenden Überlieferungen (Sagen, Märchen, Sprichwörter, abergläubische Vorstellungen etc.) sowie seiner Sitten und Gebräuche sich beschäftigt“. 3 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Riehl, W[ilhelm] H[einrich]: Die Volkskunde als Wissenschaft. Ein Vortrag. In: ders. (Hg.): Culturstudien aus drei Jahrhunderten. Stuttgart 1862, 205–229, hier 213. 4 Ebd., 214.

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Bauern und dem Adel – sowie den „Mächten der Bewegung“, dem Bürgertum und dem „vierten Stand“.5 Dieses konservative, der ständischen Welt der Restauration entspringende Gesellschaftsverständnis prägte die Volkskunde noch für Jahrzehnte. Die institutionalisierte Fachgeschichte begann in Deutschland erst 1890, als der aus Niederschlesien stammende Germanist Karl Weinhold (1832–1901) – er war 15 Jahre lang Professor an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau gewesen, ehe er einen Ruf nach Berlin angenommen hatte – in der deutschen Reichshauptstadt den Verein für Volkskunde ins Leben rief. Weinhold gab ab 1891 mit der Zeitschrift für Volkskunde ein erstes übergreifendes Fachorgan heraus.6 Im preußischen Schlesien war mit leichter zeitlicher Verschiebung die entsprechende wissenschaftliche Vereinigung auf regionaler Ebene die 1894 in Breslau gegründete Schlesische Gesellschaft für Volkskunde, die bis 1938 mit den Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde ein bedeutendes Publikationsorgan unterhielt. In Österreichisch-Schlesien fehlte ein Pendant, wenngleich die in Brünn ansässige, bereits 1770 gegründete k. k. mährisch-schlesische Gesellschaft zur Beförderung des Ackerbaus, der Natur- und Landeskunde sich neben agronomischen Themen durchaus auch mit volkskundlichen Fragestellungen im damaligen Verständnis auseinandersetzte.7 Die 1901 in Teschen gegründete Polnische Ethnographische Gesellschaft (Polskie Towarzystwo Ludoznawcze w Cieszynie) bot der polnischsprachigen ethnographischen Wissenschaft in Österreichisch-Schlesien eine Plattform für die entsprechende wissenschaftliche Betätigung. Die wissenschaftlichen Vereinigungen hatten zwar häufig einen regionalen Zuschnitt, waren in der Praxis aber bereits transnational angelegt und über auswärtige Mitgliedschaften verschiedenartig personell miteinander verflochten. Die tatsächliche akademische Etablierung des Faches erfolgte erst nach dem Ende des Untersuchungszeitraums, mit der Berufung des Kulturhistorikers und Germanisten Otto Lauffer (1874–1949) auf den ersten deutschen Volkskunde-Lehrstuhl an der Universität Hamburg im Jahr 1919. Auch Schlesien bildete keine Ausnahme, sondern folgte der allgemeinen Tendenz der relativ späten Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung einer bis dahin noch wenig normierten und in ihren Themenfeldern und Diskursen kaum reglementierten Fachdisziplin. Der vorliegende Beitrag widmet sich jedoch nicht der Institutionengeschichte der Volkskunde in Schlesien – dieser Aufgabe hat sich bereits 1994 Brigitte Bönisch-Brednich mit Erfolg in ihrer einschlägigen Monographie

5 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd.; vgl. auch Sievers, Karl-Dieter: Fragestellungen der Volkskunde im 19. Jahrhundert. In: Brednich, Rolf W. (Hg.): Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. Berlin 21994, 31–50, hier 34. 6 Sievers: Fragestellungen der Volkskunde im 19. Jahrhundert, 43. 7 d’Elvert, Christian Ritter: Geschichte der k.  k. mähr.-schles. Gesellschaft zur Beförderung des ­Ackerbaues, der Natur- und Landeskunde, mit Rücksicht auf die bezüglichen Cultur-Traditionen Mährens und Österr. Schlesiens. Brünn 1870.

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Volkskundliche Forschung in Schlesien. Eine Wissenschaftsgeschichte gewidmet;8 zudem sind in der Zwischenzeit zahlreiche weitere Einzelstudien zu Persönlichkeiten und Einrichtungen in der Fachgeschichte der Volkskunde Schlesiens erschienen.9 Lange Zeit wurden Arbeitsbereiche, die nach heutigem Verständnis unter der Fachdisziplin „Volkskunde“ subsummiert werden, von Vertretern diverser, von ihren Aufgabenstellungen her benachbarter Fächer mit behandelt oder von wissenschaftlichen Laien auf dem Gebiet der Landeskunde abgedeckt. Statistiker und Geographen gelangten in ihrem Bestreben, die Bevölkerung einer Region nach mehr oder weniger objektiven Kriterien zu erfassen, zu landeskundlichen Beschreibungen unter Angabe von sozialen, konfessionellen, wirtschaftlichen und sprachlichen Gegebenheiten. Sprachliche Phänomene – von Mundarten und Dialekten bis hin zu Sprüchen, Sagen, Märchen, Legenden, Erzählungen und Liedern – fielen in das Feld der Philologien, während die materielle Kultur anfangs von der Kultur- oder der Kunstgeschichte mit betreut wurde, 8 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Bönisch-Brednisch, Brigitte: Volkskundliche Forschung in Schlesien. Eine Wissenschaftsgeschichte. Marburg 1994 (Schriftenreihe der Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 68). 9 Vgl. exemplarisch Válka, Miroslav: K českému národopisnému výzkumu těšínského Slezska. In: Národopisná revue 7 (1997) 12–19; Kłodnicki, Zygmunt: Folklor śląski w „Atlas der deutschen Volkskunde“. In: Pospiech, Jerzy (Hg.): Z dziejów i dorobku folklorystyki śląskiej (do 1939 roku). Opole 2002, 111–133; Zwak, Sylwia: „Polski Atlas Etnograficzny“ i „Atlas der deutschen Volkskunde“. Możliwości studiów porównawczych na przykład wątków wierzeniowych na Śląsku wyjaśniających, skąd się biorą dzieci. In: Lud 86 (2002) 213–217; Weger, Tobias: Neue Forschungen zu Schlesien – ein Desiderat (nicht nur) volkskundlicher Forschung in Deutschland. In: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 49 (2002) 1–18; Lipok-Bierwiaczonek, Maria: Mieczysława Gładysza etnograficzne wędrówki po Śląsku. In: Śląsk 9/7 (2003) 38–41; Simonides, Dorota: Wspólpraca polsko-niemiecka na przełomie wieków XIX i XX na przykładzie Schlesische Gesellschaft für Volkskunde. In: Kamocki, Janusz (Hg.): Polska – Niemcy. Pogranicze kulturowe i etniczne. Wroclaw 2004, 281–291; Pośpiech, Jerzy: Charakterystyka i próba oceny czasopisma „Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde“ (Wroclaw 1894–1938). In: Hendzel, Władysław (Hg.): Z dziejów i dorobku polskiego i niemieckiego czasopiśmiennictwa na Śląsku. Opole 2006, 231–248; Pinwinkler, Alexander: Walter Kuhn (1903–1983) und der Bielitzer „Wandervogel e.  V.“. Historisch-volkskundliche „Sprachinselforschung“ zwischen völkischem Pathos und politischer Indienstnahme. In: Zeitschrift für Volkskunde 105 (2009) 29–51; Wietschorke, Jens: Volkskunde als Geistesgeschichte der „kleinen Leute“. Eine wissenschaftsgeschichtliche Skizze zu Will-Erich Peuckert (1895–1969). In: Volkskunde in Sachsen 23 (2011) 9–28; Weger, Tobias: Bühnenaussprache, Frisistik und schlesische Volkskunde. Der Breslauer Germanist Theodor Siebs (1862–1941). In: Hałub, Marek (Hg.): Identitäten und kulturelles Gedächtnis. Wrocław 2013 (Sprache – Literatur – Kultur im germanistischen Gefüge 4), 25–45; Jóźwiak, Agnieszka: Der ­Aberglaube in Schlesien als Gegenstand volkskundlicher Forschungen von Georg Gustav Fülleborn im „Breslauischen Erzähler“. In: Lasatowicz, Maria Katarzyna (Hg.): Corpora und Canones. Schlesien und andere Räume in Sprache, Literatur und Wissenschaft. Berlin 2013, 241–252; Gorząd-Biskup, Edyta: Richard Kühnau (1858–1930) in den „Mitteilungen der Gesellschaft für Volkskunde“. In: Orbis Linguarum 47 (2018) 53–65; Kunicki, Wojciech: Germanistische Forschung und Lehre an der königlichen Universität zu Breslau von 1811 bis 1918. Unter besonderer Berücksichtigung der Studien zur neueren deutschen Literatur- und Kulturgeschichte. Leipzig 2019.

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woraus sich häufig Kategorisierungen und Hierarchisierungen ergaben: Man unterschied die so genannte Hochkultur mit ihren künstlerischen, literarischen und musikalischen Ausprägungen von der landläufig als in ihrer Wertigkeit anders eingestuften „Volkskultur“ und sprach dementsprechend aus einer bürgerlichen Warte mit einem leicht geringschätzigen Beigeschmack von „Volkskunst“, „Volksdichtung“ und „Volksmusik“, anstatt diese Bereiche lediglich als alternative kulturelle Ausprägungen einer plural verfassten Gesellschaft zu betrachten. Lehrer, Geistliche, Beamte und andere örtliche oder regionale Honoratioren betätigten sich zahlreich in ihrer freien Zeit mit den geographischen Räumen, in denen sie lebten und arbeiteten. Auch in dieser Hinsicht unterschied sich Schlesien nicht von anderen deutschsprachigen Regionen, wie etwa das 1886 von dem königlich sächsischen Bibliothekar Paul Emil Richter herausgegebene Verzeichnis von Forschern in wissenschaftlicher Landes- und Volkskunde Mittel-Europas erweist. Darin werden als Berufsbezeichnungen der in den unterschiedlichen Teilen Preußisch- und Österreichisch-Schlesiens auf landeskundlich-alltagskulturellem Gebiet tätigen Forscher etwa „Regierungsrat“, „Lehrer“, „Universitätsprofessor“ oder „Handelskammer-Syndikus“ angegeben.10 Um die Schriften dieser Personen tatsächlich in ihrer Zeitgebundenheit begreifen zu können, sind neben der bereits erwähnten Studie von Bönisch-Brednich und einzelnen weiteren Untersuchungen noch zusätzliche biographische Forschungen vonnöten. Die soziale und regionale Herkunft einzelner Wissenschaftler, Stationen ihrer Sozialisierung vom Elternhaus über Schule, Ausbildungs- und Studienorte bis hin zu Mitgliedschaften in Korporationen, Verbindungen, nationalen Organisationen und vielfach transnational tätigen Wissenschaftseinrichtungen stellen häufig zunächst einmal positivistisch-deskriptive Diskurse der Volkskunde im 19. Jahrhundert in ein neues Licht. Hinter der vermeintlich objektiven Beschreibung landwirtschaftlicher Gerätschaften kann als Subtext die Aussage mitschwingen, aus der besseren Beschaffenheit eine zivilisatorische Überlegenheit abzuleiten. Ein Topos in der volkskundlichen und der historischen Rhetorik des 19.  Jahrhunderts war beispielsweise die metallene Pflugschar der Deutschen, die sich gegenüber der hölzernen Pflugschar der Slawen als effizienter erwiesen habe. Gegen solche kolonisatorischen Sichtweisen setzte sich bereits 1848 ein Autor in der Gazeta Polska argumentativ zur Wehr – hier wiedergegeben in einer zeitgenössischen Übertragung: „Die Deutschen sind im Allgemeinen von dem Gefühle des Besserseins so durchdrungen, von ihrer Bestimmung, der Welt die Civilisation zu bringen, d. h. die Slawen zu germanisiren, so überzeugt; sprechen mit solcher Genugthuung und innerer Anerkennung von ihrer Intelligenz, von ihrer Aufklärung und ihren Pflugscharen, welche Eigenschaften ihnen natürlich die Verpflichtung auferlegen, sich die slawischen Länder anzueignen – dass sie sich am Ende wirklich ein

10 Richter, Paul Emil: Verzeichnis von Forschern in wissenschaftlicher Landes- und Volkskunde Mittel-Europas. Im Auftrage der Central-Kommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland bearbeitet. Dresden 1886.

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spezifisches Bessersein, welches alle ihre Ansprüche in natürliches Recht verwandelt, eingeredet haben.“11

2. In der preußischen Provinz Schlesien – von der Landesbeschreibung zur sozialen Frage und Suche nach dem „Volkscharakter“ Am 17. Juli 1800 brachen der Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika in Preußen und spätere sechste Präsident seines Landes, John Quincy Adams (1767–1848), und dessen Frau Louisa Catherine (1775–1852) zu einer Erkundungsreise durch die preußische Provinz Schlesien auf. Seine Eindrücke von Land und Leuten teilte der Diplomat einem in Massachusetts lebenden jüngeren Bruder, dem Juristen Thomas Boylston Adams (1772–1832), mit, der sie so interessant fand, dass er sie in Druck geben ließ.12 Neben Beschreibungen von Städten und Landschaften, den Begegnungen mit bekannten Persönlichkeiten und ausführlichen Schilderungen der wirtschaftlichen Produktion widmete Adams auch den Lebensbedingungen der Bevölkerung breiten Raum. Er berücksichtigte dabei die Veränderungen, die mit der preußischen Übernahme des Landes eingetreten waren, die verbreitete Armut, das Verhältnis von Katholiken, Lutheranern und Calvinisten sowie Juden, der ständischen Ordnung, dem Schul- und Bildungswesen und den Beziehungen von Schlesiern und Böhmen. Ein so vielfältiges Interesse an Land und Leuten war bezeichnend für einen Diskurs, der von der Aufklärung geprägt war. Er hatte auch im schlesischen Kontext zahlreiche Vertreter, die sich mit den wirtschaftlichen, konfessionellen und im Laufe der Jahrzehnte sich zuspitzenden sozialen Verhältnissen befassten.13 Je nach politischem Standpunkt der Autoren wurden dabei die ökonomischen Aspekte oder deren soziale Implikationen in den Vordergrund gerückt – man denke etwa an die linke Kritik an den Lebensbedingungen der schlesischen Weber, die sich insbesondere nach ihrer Revolte und deren Niederschlagung im Jahr 184414 oder im Vorfeld und im Umfeld der Arbeiterunruhen in Breslau vom 22. März 1847 artikulierte.15 11 �������������������������������������������������������������������������������������������� Die Ursachen der Rücksichtslosigkeit der Deutschen gegenüber den Slawen (Aus der Gazeta polska, von Roman Vogel). In: Slawische Jahrbücher 29 (1848) 177–180, hier 180. 12 Adams, John Quincy: Letters on Silesia. Written during a Tour in that Country in the Years 1800, 1801. London 1804; deutsch u. d. T.: Briefe über Schlesien. Geschrieben auf einer im Jahre 1800 durch dieses Land unternommenen Reise. Aus dem Englischen übersetzt von Friedrich Gotthelf Friese. Breslau 1805. 13 Ein deutsches Pendant zu Adams’ Reise bildet etwa Büsching, Joh[ann] Gustav: Bruchstücke einer Geschäftsreise durch Schlesien, unternommen in den Jahren 1810, 11, 12. Breslau 1813. 14 Wolff, Wilhelm: Das Elend und der Aufruhr der Weber in Schlesien ( Juni 1844). Darmstadt 1845; Kries, C[arl] G[ustav]: Ueber die Verhältnisse der Spinner und Weber in Schlesien und die Thätigkeit der Vereine zu ihrer Unterstützung. Breslau 1845; Minutoli, Alexander von: Die Lage der Weber und Spinner im Schlesischen Gebirge und die Maßregeln der Preußischen StaatsRegierung zur Verbesserung ihrer Lage. Berlin 1851. 15 Schneer, Alexander: Ueber die Zustände der arbeitenden Klassen in Breslau, mit Benutzung der amtlichen Quellen des Königl. Polizei-Präsidii und des Magistrats. Breslau 1845.

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Mit der Wiederaufrichtung einer restaurativen Verfassung in Preußen nach dem Ende der Revolution von 1848/49 traten in volkskundlichen Betrachtungen solche Auseinandersetzungen mit der Situation der unteren Volksschichten in der Gegenwart, die das Hinterfragen der gesellschaftlichen Verhältnisse bedingt hätten, in den Hintergrund und wurden zu einem ausschließlich politischen Argument der beginnenden Arbeiterbewegung. Aus dem nationalliberalen und konservativen Diskurs der Volkskunde verschwanden hingegen nun die Arbeiter wie auch die städtischen Bevölkerungsschichten insgesamt, wohingegen die Welt der Bauern und Handwerker auf dem Land in den Fokus geriet. Dies lag auch daran, dass die deutsche Volkskunde lange Zeit an die Germanistik gekoppelt war und daher soziale Aspekte gegenüber sprachlichen Erscheinungen in den Hintergrund traten. Die Stilisierung des Landlebens zu einer Existenzform, in der sich angeblich die „Volkskultur“ beziehungsweise der „Volkscharakter“ unverfälscht manifestiere, bewirkte diese Perspektivenverschiebung hin zur Suche nach dem „Typischen“. Demgegenüber galt die Welt der Manufakturen sowie der beginnenden Industrialisierung in Oberschlesien und in Breslau zwar unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten als interessant; die „Arbeiterkultur“ jedoch galt schon wegen der bürgerlichen Angst vor Unruhen und Aufständen als eher bedrohlich und befremdlich und war somit auch kein Untersuchungsgegenstand für die Volkskundler jener Zeit. Es ist bezeichnend, dass in den folgenden Jahrzehnten diejenigen Forscher, die für sich in Anspruch nahmen, volkskundlich zu arbeiten, besonders die auf dem Lande lebenden Menschen aufsuchten und zu Objekten ihrer Untersuchungen machten. Sie registrierten in erster Linie deren sprachliche Artikulationen in all ihren linguistischen und gattungsmäßigen Formen und interessierten sich für kunsthandwerkliche Fähigkeiten. Sprüche, Schwänke, Sagen, Lieder und Märchen wurden von Forschern aus den Städten unter der Landbevölkerung ausfindig gemacht. An dieser Sammeltätigkeit beteiligten sich in immer stärkeren Maße namhafte Vertreter der Germanistik, die an diesen Sprachformen eine Art urtümliche, unverfälschte Emanation der schlesischen „Volksseele“ zu ergründen suchten. Bei der Sammlung von Sagen und Legenden rückte das Übersinnliche in den Blick. Der Lehrer Richard Kühnau (1858–1930) etwa ordnete die von ihm gesammelten Sagen nach „Spuk- und Gespenstersagen“, „Elben-, Dämonen- und Teufelssagen“ sowie „Zauber-, Wunder- und Schatzsagen“.16 Diese Veröffentlichungen trugen dazu bei, die stereotype Vorstellung von der mystischen und zum Irrationalen tendierenden Bevölkerung Schlesiens zu verhärten. Diese Vorstellung war bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgekommen und sollte bis ins 20. Jahrhundert hinein zu einem Argument für die Bestimmung der „schlesischen Volksseele“ bleiben. So hatte der Germanist August Kahlert (1807–1864) bereits 1835 – allerdings bezüglich der literarischen Hochkultur Schlesiens – konstatiert: „Alle Kunst, alle Poesie ist eine Art von Schwärmerei, daher Religion und Kunst zu aller Zeit als einander gegenseitig bestimmend auf16 Kühnau, Richard: Schlesische Sagen, Bd. 1: Spuk- und Gespenstersagen; Bd. 2: Elben-, Dämonen- und Teufelssagen; Bd. 3: Zauber-, Wunder- und Schatzsagen. Leipzig 1910–1913.

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getreten sind. Freilich aber zerstört alle religiöse Schwärmerei, wenn aus dem Mystizimus (ein so oft mißverstandener Ausdruck!) roher Fanatismus erwächst, alle ihre dichterische Blüthenkraft selbst, und auch in der Geschichte schlesischer Poesie werden wir von letztrer sowohl als von der ihr feindlichen Verirrung, Spuren finden. Ja, so häufig sind dieselben, daß wir in Erwägung des großen Anhangs, den schon lange vor der Reformation herumziehende religiöse Schwärmer in Schlesien fanden, bereits eine Hinneigung zu schwärmerischer Gefühlsweise, fast südlicher Art, für einen Zug in dem schlesischen Volkscharakter anzunehmen versucht werden, und darum den Schlesier mehr als einen Mann des Südens, denn als einen Mann des Nordens betrachtet wissen wollen.“17

3. In Österreichisch-Schlesien Für Österreichisch-Schlesien gelten ähnliche Befunde wie für die preußische Provinz Schlesien, wenngleich dort ein unmittelbares universitäres Zentrum wie die 1811 errichtete Universität Breslau fehlte. Aus der Perspektive der Hochschulstandorte Prag, Wien oder Graz bildete Österreichisch-Schlesien eine periphere Region, weshalb dort volkskundliche Forschung im 19. Jahrhundert vorrangig eine Domäne der regionalen intellektuellen Eliten, vor allem von landeskundlich interessierten Pädagogen, Geistlichen oder Medizinern, blieb. Eine Synthese dieser regionalen Forschungen stellte der 1897 erschienene 17. Band des landläufig als „Kronprinzenwerk“ bezeichneten Sammelwerks Die österreichischungarische Monarchie in Wort und Bild dar. Er war der Markgrafschaft Mähren und dem Herzogtum Schlesien gewidmet. Beiden Regionen waren darin neben einer „Landeskundlichen Schilderung“ und Kapiteln zur „Vorgeschichte und Geschichte“, zu „Literatur und Theater“, zur „Bildenden Kunst“ und zum „Volkswirtschaftlichen Leben“ auch Abschnitte zur „Volkskunde“ vorbehalten. An dem Kapitel zur „Volkskunde Schlesiens“18 wirkten regionale Honoratioren aus Österreichisch-Schlesien mit: Über die „Physikalische Beschaffenheit der Bevölkerung“ etwa schrieb der Hygieniker Emanuel Kusy Ritter von Dúbrav (1844–1905). Sein Beitrag war von den Traditionen der österreichischen Statistik geprägt und beruhte dementsprechend in erster Linie auf einer quantitativen Erfassung der Bevölkerung im Lichte demographischer Daten. Charakteristisch für das multinationale Selbstverständnis der Donaumonarchie war die Differenzierung bei der Darstellung des „Volkslebens“ Österreichisch-Schlesiens nach Deutschen und Slawen, wodurch Verflechtungen, Interferenzen und interethnische Phänomene a priori ausgeblendet wurden. Hier offenbarte sich eine Crux des „Kronprinzenwerks“, das in seinem Anspruch auf Gleichberechtigung aller Völker der Mon17 Kahlert, August: Schlesiens Antheil an deutscher Poesie. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte. Breslau 1835, 19f. 18 Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, Bd. 17: Mähren und Schlesien. Wien 1897, 543–610. 

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archie allen ethnischen Gruppen Rechnung tragen wollte. Letztlich zementierte es allerdings Abgrenzungs- und Hierarchiediskurse, und das nicht nur in Schlesien. Anton Peter (1839–1898), der Direktor der k. k. Bildungsanstalt für Lehrerinnen in Troppau und Denkmalpfleger im Troppauer Kreis, ein vielfältig in das Verbandswesen Schlesiens und der Gesamtmonarchie eingebundener Wissenschaftler, thematisierte „Das Volksleben der Deutschen“. Sein Beitrag war eine Art Synthese seiner vorausgegangenen dreibändigen Darstellung Volksthümliches aus Österreichisch-Schlesien, die zwischen 1865 und 1873 herausgekommen war.19 Peter konzentrierte sich fast ausschließlich auf die deutschen Bewohner Österreichisch-Schlesiens und trachtete unter Verwendung verbreiteter Stereotypen die kulturelle Inferiorität der „Slaven“ zu belegen, die bestimmte Teile des Landes „wegen ihrer wirklichen oder scheinbaren Unfruchtbarkeit gemieden“ hätten und Ackerbau lediglich „auf einer sehr niedrigen Stufe“ betrieben hätten. Die Slawen hätten „seit jeher weniger Anlage bewiesen, einen rührigen Mittelstand zu bilden“.20 Diesem Artikel war eine Untersuchung des Gymnasialdirektors Gustav Waniek (1849–1918) zum „Dialect der Deutschen“ nachgestellt. Mit Peters Beitrag korrespondierte das Kapitel „Slavisches Volksleben“ aus der Feder des Juristen, Publizisten und jungtschechischen Politikers Franz (Frantisek) Sláma (1850–1917). Schließlich steuerte der Arzt und Musiker Eduard Mestenhauser (1838–1912) noch das Kapitel „Die Musik“ bei, das sich allerdings nach heutigem Verständnis in erster Linie mit so genannter ernster Musik auseinandersetzte und populäre Musiksparten außen vor ließ.

4. Polnische Diskurse zur Volkskunde Schlesiens – Einblicke von außen Dank ihres multiethnischen Charakters wurde die Region Schlesien, unabhängig von ihren staatlich-politischen Zugehörigkeiten, im 19. Jahrhundert auch zu einem Gegenstand polnischer Forschungen. In der Zeit der Teilung Polens galt Schlesien innerhalb des polnischen wissenschaftlichen Diskurses eine besondere Aufmerksamkeit, als es darum ging, die Ausdehnung eines künftig wieder zu errichtenden polnischen ­Staates mit philologischen Argumenten zu definieren. Dabei kamen, wie zu zeigen sein wird, polnische Sprachwissenschaftler, die allesamt aus den Teilungsgebieten der einstigen Rzeczpospolita stammten, also in dem hier behandelten Zeitraum zunächst keine Schlesier waren, durchaus nicht zu eindeutigen Urteilen hinsichtlich ihrer Einschätzung, in welchem Maße Schlesien, das im Mittelalter zum piastischen Herrschaftsbereich gezählt hatte, im 19. Jahrhundert noch einen „polnischen“ Charakter besäße. Es waren bekannte polnische Wissenschaftler, die sich im 19. Jahrhundert, ausgehend von linguistischen Forschungen, mit ethnographischen Aspekten Schlesiens be19 ������������������������������������������������������������������������������������������� Peter, Anton: Volksthümliches aus Österreichisch-Schlesien, Bd. 1: Kinderlieder und Kinderspiele, Volkslieder und Volksschauspiele; Bd. 2: Sagen und Märchen, Bräuche und Volksaberglauben; Bd. 3: Leben der Oppaländer in Vergangenheit und Gegenwart. Troppau 1865–1873. 20 Ders.: Leben der Oppaländler in Vergangenheit und Gegenwart, 16.

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fassten. Wie in der deutschsprachigen Wissenschaft, mit der es im Übrigen über biographische Stationen der Protagonisten, etwa deren Studienorte, enge Verflechtungen gab, bildete die Sprachwissenschaft eine zentrale Ausgangsbasis für die Erforschung des Volkslebens und seiner Ausprägungen. Sprachpraxis und nationales Bekenntnis standen für viele Forscher im 19. Jahrhundert in einer engen kausalen Beziehung. Dabei mussten zahlreiche Wissenschaftler aus den historischen polnischen Kernlanden bei ihren Explorationen in Schlesien konstatieren, dass die Verbreitung einer Variante der polnischen Volkssprache in der Region nicht zwangsläufig auf ein polnisches Nationalbewusstsein bei den Sprechern schließen ließ. Diese Erkenntnisse korrespondierten mit denen mancher deutscher Philologen, die bei den Angehörigen verstreuter deutscher Sprachgruppen im östlichen Europa und in anderen Teilen der Erde ebenfalls ein schwach ausgeprägtes, häufig gänzlich fehlendes Verbundenheitsgefühl mit der „deutschen Nation“ ermittelten. Es war sicherlich kein Zufall, dass die polnische Befassung mit den polnischen Komponenten in Schlesien in der Zeit nach dem Wiener Kongress und während der restaurativen Phase im Deutschen Bund einsetzte. Nach dem politischen und militärischen Ende Napoleons, auf den Teile der polnischen intellektuellen Führungsschichten ihre politischen Hoffnungen gesetzt hatten, musste sich die nationale Frage der Polen neu definieren. Hinzu kam, dass die slawischen Sprecher in Oberschlesien selbst mit äußeren Anfechtungen konfrontiert waren. Der Oppelner Regierungsschulrat und Schriftsteller Johann Wilhelm Otto Benda (1775–1835) provozierte 1820 mit der Aussage, die Volkssprache in Oberschlesien, jenes „böhmisch-mährischpolnisch-deutsche Gemisch“, sei eine geistig wertlose Sprachvariante, die keine Grundlage für eine kulturelle oder literarische Entwicklung biete.21 Die Bewohner der Region sollten sich deshalb die deutsche Hochsprache aneignen, um mit der Außenwelt angemessen kommunizieren zu können. Mehrsprachigkeit beziehungsweise sprachliche Hybriditäten galten in den Augen vieler Romantiker als suspekt und wertlos. Benda selbst hatte sich während der napoleonischen Zeit im antifranzösischen Widerstand engagiert.22 Seine plakative Aussage rief den Sprachwissenschaftler Jerzy Samuel Bandtke (1768–1835) auf den Plan. Er hatte zu diesem Zeitpunkt die Breslauer Universität bereits verlassen und arbeitete als Direktor der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau. 1821 veröffentlichte er in der Kulturzeitschrift Mrówka Poznańska eine Abhandlung „über die polnische Sprache in Schlesien und die polnischen Schlesier“.23 Bandtke versuchte, das polnische Sprachgebiet in Oberschlesien geographisch klar zu definieren24 und ging 21 Czapliński, Marek: Historia Śląska. Wrocław 2002 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2364), 278. 22 Dommer, [Arrey] von: Benda, [ Johann Wilhelm Otto]. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 2. Leipzig 1875, 314–318, hier 318. 23 Bandtke, Jerzy Samuel: Wiadomości o ięzyku Polskim w Szląsku i o Polskich Szlązakach. In: Mrówka Poznańska. Pismo ku użytecznej zabawie rozumu i serca 1/1 (1821) 231–244, 1/2 (1821) 48–68. 24 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Der österreichische Statistiker Karl Freiherr von Czoernig war Mitte des 19. Jahrhunderts ebenfalls bestrebt, die „Gränzen zwischen dem polnischen und cechischen Volksthume im östlichen Schlesien“ zu bestimmen. Wie alle Wissenschaftler vor und nach ihm stieß er in diesem Bemühen

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auch auf polnischsprachige Reliktgebiete in Niederschlesien ein. Ferner verwies er auf die Toponymik, indem vor 1241 sämtliche Orte in Schlesien polnische Ortsnamen getragen hätten, von denen zahlreiche noch in eingedeutschter Form gebraucht würden. Anhand eines kleinen Glossars lieferte er Belege für die regionalen Besonderheiten des Polnischen in Oberschlesien. In Schlesien forschte auch Oskar Kolberg (1814–1890), der als einer der Gründerväter der polnischen Ethnographie gilt. Allerdings ist der 43.  Band seines monumentalen Werkes Lud. Jego zwyczaje, sposób życia, mowa, podania, przysłowia, obrzędy, gusła, zabawy, pieśni, muzyka i tańce (Das Volk. Seine Gewohnheiten, seine Lebensweise, Sprache, Legenden, Sprichwörter, Rituale, Zaubereien, Spiele, Lieder, Musik und Tänze) mit dem Titel Śląsk (Schlesien) erst Jahrzehnte nach seinem Tod von seinen Schülern und Nachfolgern fertiggestellt worden.25 Mit der Identität der Schlesier befasste sich der aus Warschau stammende Philologe Jan Baudouin de Courtenay (1845–1929). Sein spezielles Forschungsinteresse galt den kleineren slawischen Sprachgruppen, etwa den Kaschuben, den Schlesiern oder den Belorussen. Mit großer Empathie unterstützte er deren Bedürfnis nach kultureller Autonomie gegenüber der preußischen oder der russländischen Imperialmacht. Den polnischen Nationalisten in Warschau hielt er vor, ihrereits diese Gruppen polonisieren zu wollen, was er für einen logischen Widerspruch in der Argumentation hielt, wenn ­gleichzeitig in Warschau eine Abwehrhaltung gegen die Vereinnahmung der Polen durch das Russländische Reich gepflegt werde.26 Die intensive Erforschung des Polnischen in Oberschlesien setzte mit dem Krakauer Slawisten Lucjan Malinowski (1839–1898)27 ein, dem Vater des bekannten Ethnologen und Sozialanthropologen Bronisław Malinowski (1884–1942). Er hatte an den Universitäten Jena, Berlin und St. Petersburg studiert und unternahm als junger Wissenschaftler im Sommer 1869 Feldforschungen in Oberschlesien, die in seine an der Universität Leipzig eingereichte und 1873 in deutscher Sprache publizierte Dissertation über die Dialektologie des Oppelner Landes einflossen.28 Diese Studie beruhte auf ausgedehnten Studienreisen in zahlreiche Ortschaften Oberschlesiens, während derer er nicht nur Sprachproben erhob und lexikographische Sammlungen anlegte, sondern auch Sagen, Märchen, Volkserzählungen, Lieder und Redewendungen sammelte. Für Malinowski handelte es sich bei der Volkssprache in Oberschlesien um eine Vielfalt von

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auf Hindernisse. Vgl. Czoernig, Karl Freiherr von: Ethnographie der Oesterreichischen Monarchie, Bd. 1/1. Wien 1857, VII. Lud. Jego zwyczaje, sposób życia, mowa, podania, przysłowia, obrzędy, gusła, zabawy, pieśni, muzyka i tańce, Bd. 43: Śląsk. Warszawa 1965. Davies, Norman: God’s Playground. A History of Poland, Bd. 2: 1795 to the Present. New York 1982, 59f. Bąk, Stanisław: Lucjan Malinowski. 1839–1898 (W setną rocznicę urodzin twórcy dialektologii polskiej). In: Instytut Śląski w Katowicach. Komunikaty, Seria IV, nr 2. Katowice 1939, 1–6. Malinowski, Lucjan: Beiträge zur slavischen dialectologie, Bd. 1: Ueber die Oppelnsche mundart in Oberschlesien (H. 1: Laut- und Formenlehre). Leipzig 1873.

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„slawischen Idiomen“,29 deren Verwandtschaft mit der polnischen Sprache für ihn zwar außer Frage stand, die er aber dieser Sprache nicht eindeutig zuordnete. Ausschlaggebend für diese Einschätzung waren für ihn Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit in zahlreichen Gegenden Preußisch- beziehungsweise Österreichisch-Schlesiens. Parallel dazu veröffentlichte Malinowski eine polnische Artikelserie unter dem Titel Zarysy życia ludowego na Śląsku (Umrisse des Volkslebens in Schlesien), in der er Eindrücke aus dem preußischen Oberschlesien sowie aus dem Teschener Schlesien festhielt. Diese Beiträge fasste er 1877 in Buchform zusammen.30 Sie waren stärker ethnographisch orientiert als seine linguistische Dissertation. Malinowski hielt darin fest, dass sich im preußischen Oberschlesien das slawische Idiom vor allem bei der ländlichen Dorfbevölkerung und bei Handwerkern und Arbeitern in den Kleinstädten erhalten habe, während sich alle Angehörigen höherer Schichten des Deutschen bedienten. Bedenkt man, dass Malinowskis grundlegende Forschungen um die Zeit der deutschen Reichsgründung entstanden, so überraschen seine Aussagen über die Ethnizität der slawischsprachigen Landbevölkerung. Diese fühle sich nicht von den Deutschen unterschieden, denn eine eindeutige Selbstzuschreibung betrieben nur solche Menschen, die lediglich eine der beiden Sprachen – Polnisch oder Deutsch – beherrschten. Doppelsprachige empfänden sich häufig sowohl als Polen als auch als Deutsche. Malinowski berichtete, dass er Menschen vom Lande auf ihre sprachlichen, konfessionellen und ethnographischen Verwandtschaften zu den Polen aufmerksam gemacht und dabei von seinen Gesprächspartnern zur Antwort bekommen habe: „my nie są Polacy, my są Prusacy“31 – man sei kein Pole, sondern Preuße. Ohne seine Erkenntnisse mit den modernen Begriffen der ethnischen Indifferenz und der Loyalität zu beschreiben, erwies sich Malinowski als Vorläufer einer vergleichend arbeitenden, kritischen Ethnologie. Die Leser erfuhren aus seinem Werk am Rande auch von den erschwerten Umständen der Feldforschung: So wurde der angehende Wissenschaftler im Dorf Kameral Ellgoth im Teschener Schlesien als vermeintlicher preußischer Spion von einem österreichischen Gemeindepolizisten verhaftet, als ihm gerade eine Gewährsfrau Sagen im Zusammenhang mit dem Berg Godula erzählte.32 Malinowskis Verdienst liegt – neben seinen linguistischen Untersuchungen – unter anderem darin, zahlreiche mündliche Überlieferungen und Erzählungen dokumentiert und herausgegeben zu haben.33 Unter den polnischen Sprachforschern, die in Schlesien tätig waren, sind auch Aleksander Brückner (1856–1939) und Jan Aleksander Karlowicz (1836–1903) zu nennen. Die Arbeiten der genannten Wissenschaftler und die allgemein – auch durch 29 Ebd., Einleitung (nicht paginiert). 30 Malinowski, Lucjan: Zarysy życia ludowego na Śląsku. In: Ateneum. Pismo naukowe i literackie, Bd. 4. Warszawa 1877, 356–398. 31 Ebd., 383. 32 Pośpiech, Jerzy/Sochacka, Stanisława: Lucjan Malinowski a Śląsk. Działalność śląskoznawcza, teksty ludoznawcze. Opole 1976, 145. 33 Malinowski, Lucyan: Powieści ludu polskiego na Śląsku. Kraków 1900–1901.

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die Etablierung eines polnischen Pressewesens in Oberschlesien – gesteigerte Bewusstseinsbildung bewirkte, dass sich in zunehmendem Maße auch Forscher aus der Region selbst mit deren volkskulturellen Erscheinungen zu befassen begannen. So verfasste der Pädagoge Józef Lompa (1797–1863), der auf dem Lehrerseminar in Breslau ausgebildet worden war, nicht nur populäre Handbücher der polnischen Sprache, sondern sammelte Volkslieder, Sprüche, Anekdoten und Gedichte, die er zum Teil in Zeitungen abdruckte. Die preußischen Behörden untersagten ihm jedoch die Herausgabe einer polnischsprachigen Zeitschrift.34

5. Bedrohung des „Volkstums“? Selbst die auf den ersten Blick unverfänglich und harmlos wirkenden Sammlungen und Veröffentlichungen unterschiedlicher populärer Textgattungen besaßen in einer Zeit von außen nach Schlesien hereingetragener ethnischer und schließlich auch nationaler Spannungen das Potenzial, eine emotionale Sprengkraft zu entfalten. Sie ließen sich dazu verwenden, die Zugehörigkeit einer Region zu einer spezifischen Gruppe zu belegen und dabei gleichzeitige Erscheinungen anderer, möglicherweise konkurrierender Gruppen bewusst außer Acht zu lassen. In diesem Zusammenhang muss noch einmal auf das Desiderat biographischer Forschungen zu den im 19. Jahrhundert tätigen Wissenschaftlern und Laien hingewiesen werden. Viele von ihnen waren bereits durch ihre universitären Studien oder die Ausbildung an Lehrerseminaren von einem stark nationalistischen Denken geprägt worden. Im ausgehenden 19. Jahrhundert trat nun im multiethnischen Zentraleuropa ein neues Phänomen hinzu: Gerade in der Provinz tätige Lehrer, Mediziner oder Juristen, die sich in ihrer freien Zeit forschend betätigten, wurden ganz offensichtlich von nationalistischen Vereinigungen angezogen und engagierten sich in so genannten Schutzvereinen. In deren politischer Arbeit spielten ethnologische Diskurse jener Zeit eine große Rolle, ging es doch darum, das eigene „Volkstum“ vor befürchteten „Angriffen“ fremden „Volkstums“ zu schützen. Dies lässt sich etwa in Österreichisch-Schlesien anhand des alldeutsch orientierten Vereins Nordmark exemplifizieren. Er entstand am 20. Mai 1894 in Troppau nach dem Vorbild anderer „Schutzvereine“ in Nordmähren, Südmähren und Böhmen und schloss von Anbeginn an Juden als Mitglieder aus. Einer der führenden Köpfe der Nordmark war der Lehrer und Heimatforscher Otto Wenzelides (1877–1958), der sich in der Zwischenkriegszeit in der „Schlesischen Stammlandbewegung“ betätigte.35 Innerhalb dieser Kreise wurden volkskundliche Forschungsergebnisse zu einer antislawischen 34 Czapliński: Historia Śląska, 278. 35 Balcarová, Jitka: Dr. Otto Wenzelides. Ze života předsedy německého nacionálního „obranného“ spolku Bund der Deutschen Schlesiens. In: Vlastivědné listy 33/2 (2007) 17–22; Weger, Tobias: Großschlesisch? Großfriesisch? Großdeutsch! Ethnonationalismus in Schlesien und Friesland, 1918–1945. München 2017, 138–153.

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Waffe umgemünzt, indem man bestrebt war, „die Sprachgrenze gegen tschechische und polnische Gelüste in Österreichisch-Schlesien“ zu bewachen, wie es im Sprachduktus der Zeit formuliert wurde.36 Parallel zur alldeutschen Bewegung in Österreichisch-Schlesien setzte sich in Preußisch-Schlesien unter Deutschnationalen in der wilhelminischen Epoche ebenfalls ein Volkstumsdiskurs mit entsprechender Verlustrhetorik durch. Die „slawische Flut“ wurde zu einer verfestigten Redeweise. Sie spiegelte das einprägsame Bild einer beständig gegen eine „deutsche Küste“ in Schlesien anbrandenden Meeresflut wider. Auf diese Weise brachte etwa 1906 der Breslauer Geographieprofessor und gebürtige Niederschlesier Joseph Partsch (1851–1925) seine antislawischen Stereotypen zum Ausdruck: „Wie ein trotz anscheinenden Beharrens doch unruhiger eroberungslustiger Brandungsstreifen, der unmerklich, aber mit sicherer Wirkung hier eine Felsnase wegfeilt, dort an dem Baue eines neuen glatten Flachufers arbeitet, so nimmt sich der Ansturm der slawischen Völkerwogen gegen den Bestand deutschen Volkstums aus, und es tut not, mit scharfer Aufmerksamkeit den Ufersaum im Auge zu behalten, um nicht durch Landverluste überrascht zu werden.“37 Dem Gefühl des Bedrohtseins entsprach im Wissenschaftsbetrieb auch die Betonung deutscher „Sprachinseln“ im Rahmen der so genannten Sprachinselvolkskunde. Diese ebenfalls in der Philologie entwickelte Forschungsrichtung ging davon aus, dass sich in geschlossenen Siedlungseinheiten, die von anderssprachigen Siedlungen umgeben sind, sprachliche, aber auch weitere kulturelle Phänomene in Reinkultur erhalten blieben.38 So wurde in der volkskundlichen Literatur zu Schlesien das sieben Kilometer von der oberschlesischen Industriestadt Gleiwitz entfernt gelegene Dorf Schönwald mit seiner eigentümlichen Mundart, seinen Stickereien und seinen spezifischen Gewohnheiten zu einem Ort stilisiert, in dem sich angeblich seit dem 13. Jahrhundert die Kultur der „fränkischen Urheimat“ inmitten einer slawischen Umgebung erhalten habe. Auf diesem Forschungsgebiet tat sich insbesondere Oberlehrer Konrad Gusinde (1875–1914) hervor, der sich zunächst mit mittelhochdeutschen Literaturfragen befasst hatte, dann aber zur Sprachwissenschaft und Volkskunde gelangt war.39 Man nahm keinen Anstoß daran, dass zahlreiche deutschsprachige Bewohner Schönwalds slawische Familiennamen trugen und die Stickarbeiten der Dorffrauen, die in einer Stickstube in Gleiwitz kommerziell vermarktet wurden, längst ein Objekt der Konsumwelten des Heimatschutzes geworden waren. In Österreichisch-Schlesien hatte die Stadt Bielitz 36 Perko, Franz: Deutsche Schutzarbeit. In: Deutsche Erde 4 (1904) 165–179, hier 168. 37 Partsch, Joseph: Von der deutschen Grenzwacht in Schlesien. In: Deutsche Erde 5 (1905) 2–7, hier 2. 38 Kalinke, Heinke M.: Sprachinselforschung. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32772 (letzter Zugriff am 4. Dezember 2020). 39 Gusinde, Konrad: Eine vergessene deutsche Sprachinsel im polnischen Oberschlesien. Die Mundart von Schönwald bei Gleiwitz. Breslau 1911; ders.: Schönwald. Beiträge zur Volkskunde und Geschichte eines deutschen Dorfes im polnischen Oberschlesien. Breslau 1912.

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eine ähnlich ideologisch aufgeladene Funktion in der Habsburgermonarchie,40 für die der Lehrer der örtlichen k.  k. Gewerbeschule und deutschnationale Politiker Franz Held (1852–1932) ein wichtiger Forscher und Propagator war.41 Doch auch jenseits alldeutscher, deutschnationaler oder völkischer Diskurse vertrat die deutsche Schlesien-Volkskunde der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts koloniale Geschichtsbilder, die sie aus den historischen Wissenschaften adaptiert hatte. Selbst Karl Weinhold vertrat solche Gedanken mit Nachdruck, wenn er etwa 1887 in der Einleitung zu seinem Werk Die Verbreitung und die Herkunft der Deutschen in Schlesien schrieb: „Das alte Land Schlesien reicht von dem unteren Bober und dem Queiss bis an die Przemsa und die oberste Weichsel. Es liegt zwischen Böhmen und Polen und ist die deutsche Hand, welche sich um den vorgestreckten tschechischen Nacken legt. Schlesien ist ein Grenzland von gemischter Bevölkerung. Die Deutschen bewohnen den Westen und die Mitte, die Polen und tschechischen Mährer den Osten. Aber die heutigen Verhältnisse sind nur allmählich geworden. Vor sechs- bis siebenhundert Jahren sassen die Deutschen in verhältnismässig kleiner Zahl und als neue Gäste in dem Oderthale und an den Sudeten, und vor achthundert Jahren gab es nur Slaven in dem Lande, das ein Zankapfel zwischen den Polen- und Tschechenfürsten war. Schlesien ist also für Deutschland erst gewonnen worden. Und zwar ist es nicht mit dem Schwert erobert, gleich den Marken an der Elbe und Saale und an der Donau, sondern friedlich und unmerklich ist es durch deutschen Fleiss und deutsche Klugheit in Sprache und Sitte zum grössten Teile deutsch gemacht worden.“42 Weinhold beschrieb den Prozess der Eindeutschung des im Mittelalter slawischen Schlesiens durch Einwanderer aus Franken und Thüringen. Vor allem aber, so sein Argument, sei diese Region bereits vor der Präsenz der Slawen von germanischen Vandalen besiedelt gewesen, die er den deutschen Stämmen zuordnete. Das Denken in Kategorien des „Stammes“ ist ein weiterer gemeinsamer Nenner des volkskundlichen Diskurses in Schlesien seit dem 19.  Jahrhundert. Man unterschied zwischen den deutschen „Altstämmen“ wie den Bayern, Franken, Sachsen und Thüringern und den in den mittelalterlichen Kolonisierungsgebieten herausgebildeten „Neustämmen“, zu denen auch die Schlesier gezählt wurden. Dieser Begriff eröffnete unterschiedliche Bedeutungsebenen: Einerseits konnte der „schlesische Stamm“ innerhalb der Vielfalt der deutschen Stämme für sich eine kulturelle Eigenständigkeit und Besonderheit beanspruchen, die über ein authentisches kulturelles Erbe definiert wurde. Andererseits handelte es sich um ein exklusives Konzept, das sich lediglich auf die Nachfahren der deutschen Kolonisten bezog und damit eine ethnische Abstam40 Czoernig, Karl Freiherr von: Ethnographie der Oesterreichischen Monarchie, Bd. 1/1. Wien 1857, 41. 41 ����������������������������������������������������������������������������������������� Held, Franz: Das Deutsche Sprachgebiet von Mähren und Schlesien (Mit 4 Karten und 3 Blättern). Brünn 1888. 42 Weinhold, Karl: Die Verbreitung und die Herkunft der Deutschen in Schlesien. Stuttgart 1887 (Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde 2/3), Einleitung (unpaginiert).

Ausgewählte volkskundliche Diskurse in Schlesien im langen 19. Jahrhundert

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mungsgemeinschaft bezeichnete. Der „schlesische Stamm“ begriff die Bewohner der Region Schlesien nicht als politische Subjekte Preußens und der Habsburgermonarchie, sondern schloss die slawischen Bewohner, aber auch Angehörige anderer Minderheiten wie die Juden aus. Zu Beginn des 20.  Jahrhunderts verwoben sich in Schlesien volkskundliche mit völkischen Diskursen – eine Tendenz, die bereits die Zwischenkriegssituation anklingen ließ. Volkskunde war nun nicht mehr nur die Schilderung und Deutung des Volkslebens, sondern ein Instrument zur Durchsetzung politischer Interessen. Der Pädagoge und Wissenschaftler Emil Lehmann, in der Zwischenkriegszeit einer der führenden Protagonisten der „sudetendeutschen Volkskunde“, der Schlesischen Stammlandbewegung und ein nationalsozialistischer Politiker, der später sogar in einen Hochverratsprozess verwickelt wurde, engagierte sich vor dem Ersten Weltkrieg in völkisch-pädagogischen Kreisen. In der Ortsgruppe des Vereins „Freie deutsche Schule“ in Brünn hielt er am 16. März 1913 einen Vortrag zum Thema „Volkskunde und Erziehungskunst“.43 Damit hatte sich die Vorstellung von der Volkskunde im Sinne Lehmanns von einer analytischen Wissenschaft zu einem nationalpädagogischen Konzept gewandelt.

6. Materielle Kultur und bildliche Dokumentation Die Wahrnehmung des kulturellen Wandels und das daraus abgeleitete Gefühl des Bedrohtseins und des Verlustes waren neben der allgemeinen Sammelleidenschaft vieler Forscher und Institutionen eine Motivation für die beginnende Musealisierung der Volkskultur im 19. Jahrhundert. Zu jener Zeit hatte die Region Schlesien für das Sammeln und Präsentieren materieller Kultur sowohl im Deutschen Bund beziehungsweise Deutschen Reich als auch in der Habsburgermonarchie eine Vorreiterrolle. Gleichzeitig lassen sich an der Geschichte der einzelnen Häuser Wandlungen in der Auffassung von Landes- und Volkskunde ablesen – die Hinwendung von einer zunächst überwiegend prähistorisch-historischen Betrachtungsweise zu einer Berücksichtigung von Emanationen der Alltagskultur, die zunehmend als ebenbürtige Belege einer regionalen Besonderheit angesehen wurden. Allerdings stand der Konstruktionscharakter manch materieller Zeugnisse – etwa die Abhängigkeit bestimmter volkstümlicher Bauweisen von landesherrlichen Anordnungen und Vorschriften beziehungsweise klimatischen Bedingungen und Rohstoffvorkommissen oder der Anbau bestimmter Feldfrüchte von merkantilistischen Initiativen des Staates – zu jener Zeit noch nicht im Bewusstsein der Initiatoren. Ganz im Geist der Romantik wurde „Volkskultur“ als natürlicher Ausdruck einer vermeintlichen „Volksseele“ gesehen, die einer Nation, aber auch deren einzelnen „Volksstämmen“ innewohne und sich im allgemeinen Jahreskreis und im individuellen Lebenskreis äußere. 43 Freie deutsche Schule. In: Tagesbote aus Mähren, 63. Jg., Nr. 118 vom 11. März 1913, 3.

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Die ältesten musealen Institutionen befinden sich im historisch österreichischen Teil Schlesiens. Der Lehrer, Gelehrte und vormalige Jesuitenpater Leopold J. ­Scherschnik (Szersznik, 1747–1814) machte bereits 1802 in Teschen seine private Sammlung naturwissenschaftlich-historischer Exponate der interessierten Öffentlichkeit zugänglich. Sein Gymnasialmuseum kann daher als die älteste Museumseinrichtung in Schlesien gelten; seine Sammlungen bilden bis heute den Grundstock des Museums des Teschener Schlesien (Muzeum Śląska Cieszyńskiego), in dem noch weitere Institutionen aufgegangen sind. Dazu zählten insbesondere eine 1903 vom Polskie Towarzystwo Ludoznawcze ausgerichtete Ethnographische Ausstellung44 sowie die Bestände des einstigen Teschener Stadtmuseums. Ähnlich wie deutschen Wissenschaftlern und Wissenschaftseinrichtungen in jener Zeit ging es auch der Ethnographischen Gesellschaft darum, die Volkskultur der eigenen Wir-Gruppe in den Mittelpunkt zu stellen. Dazu hatten die Statuten des Vereins 1901 festgehalten: „Ziel des Vereins ist die kenntnisreiche Erforschung des polnischen Volkes und seiner Nachbarvölker sowie die Verbreitung der über es gesammelten Kenntnisse und insbesondere der Unterhalt eines schlesischen Museums in Teschen.“45 Im Frühjahr 1814 wurde in der österreichisch-schlesischen Hauptstadt Troppau auf Initiative des Gymnasiallehrers Faustin Ens (1782–1858), des Naturkundlers Franz von Mückusch und Buchberg (1749–1837) sowie des Bürgermeisters Johann Josef Schössler (1761–1834) das Troppauer Gymnasialmuseum eröffnet, das im Laufe der Zeit mehrfach erweitert wurde, etwa um das 1882 errichtete Schlesische Landesmuseum für Kunst und Gewerbe sowie das 1884 entstandene Museum des Troppauer Kulturvereins (Muzeum Matice opavské). In ihrem Bemühen, Österreichisch-Schlesien in all seinen Facetten zu präsentieren, nahmen sie jedoch auch in zunehmendem Maße Objekte des Alltagslebens in den Blick. Hatten die Museen in Teschen und Troppau ihren Ursprung in Initiativen einzelner Gelehrter und Sammler, die aus einem spätaufklärerischen Impetus heraus agierten, so zeugt das nächste, für die Entwicklung eines musealen Diskurses über das Volk in Schlesien eminent wichtige Beispiel von einer klassischen bürgerlichen Stiftung. Das am 2. Juni 1889 in Hirschberg in Schlesien zunächst in Räumlichkeiten des dortigen Gymnasiums eröffnete und ab 1914 in einem Neubau untergebrachte Riesengebirgsmuseum gilt nämlich in der Geschichte des deutschen Museumswesens als eines der ältesten Heimatmuseen überhaupt.46 Es stand unter der Ägide des 1880 als Wander-, Fremdenverkehrs- und Kulturvereinigung ins Leben gerufenen Riesengebirgsvereins 44 Kronika Polskiego Towarzystwa Ludoznawczego (1895–1995). Wroclaw 1997, 32. 45 Statut Polskiego Towarzystwa ludoznawczego w Cieszynie. Cieszyn 1901, 3, § 3. 46 Vereinsmuseum. In: Der Wanderer im Riesengebirge, 9. Jg., Nr. 6 vom 1. Februar 1889, 74. Vgl. Gehrke, Roland: Der Riesengebirgsverein und seine Zeitschrift Der Wanderer im Riesengebirge (1880/81–1914): Tourismusentwicklung, Landschaftswahrnehmung, Geschichtspflege. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 273–294, hier 281f.

Ausgewählte volkskundliche Diskurse in Schlesien im langen 19. Jahrhundert

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(RGV) und wurde von dem Juristen Hugo Seydel (1840–1932) betreut, der Zeit seines Lebens innerhalb dieses Vereins unterschiedliche Leitungsfunktionen bekleidete.47 Den Grundstock der Sammlungen bildeten Spenden von Vereinsmitgliedern; sie umfassten sowohl künstlerische als auch naturkundliche und kunsthandwerkliche Objekte. Da der RGV von Anfang an auch an der Förderung des Fremdenverkehrs interessiert und aktiv beteiligt war, bemühte er sich auch, das kulturell Spezifische der westlichen Sudeten herauszustellen, so dass auch volkskulturelle Artefakte aus dem Riesengebirge und den angrenzenden Gebieten – dem Hirschberger Tal und dem Isergebirge – in seinen Fokus gerieten. Die Erzeugnisse der Glasbläser, Hinterglasmaler, Holzschnitzer und Stickerinnen, aber auch Kunstschmiede und weiterer Handwerke sollten von den ausgeprägten Fertigkeiten der Riesengebirgsbewohner zeugen.48 Seydel beließ es nicht beim Sammeln entsprechender Gegenstände, sondern initiierte mit Hilfe des RGV im Jahr 1902 zwei Einrichtungen, die der aktiven Förderung zeitgenössischer „Volkskultur“ zugutekommen sollten: Dies waren zum einen die Hauptwerkestelle für das Riesengebirge und Isergebirge GmbH, eine Art früher Fremdenverkehrsverband, zum anderen die am 2. November 1902 eröffnete Holzschnitzschule Bad Warmbrunn. Ziel war es, eine damals als bereits vom Aussterben bedroht empfundene „Volkskunst“ zu neuem Leben zu erwecken, indem Kunsttischlerei, Figur- und Ornamentschnitzerei auf kunsthandwerklichem Niveau unterrichtet wurden.49 An der Holzschnitzschule wurden unter anderem Impulse zur Gestaltung von Weihnachtskrippen, Grabdenkmälern und touristischen Wegweisern gegeben, die sich auch auf die volkstümliche Ausgestaltung des öffentlichen Raumes in Schlesien auswirkten. Die Holzschnitzschule von Bad Warmbrunn stand für eine Tendenz der Regionalität, die mit einem Verlustdiskurs einherging. Ein praktisches Ergebnis des Empfindens, in einer „bedrohten“ Heimat zu leben, war die Initiierung des so genannten Heimatschutzes. Diese konservative Strömung polemisierte mit den negativen Einflüssen der Industrialisierung und der zunehmenden Verstädterung, zwei Tendenzen, denen die vermeintliche Idylle des ursprünglichen Landlebens entgegengehalten wurde. Paradoxerweise waren jedoch die meisten Träger dieser Bewegung Angehörige städtischbürgerlicher Bevölkerungsschichten, die nach ihrem Gutdünken definierten, wie das Volksleben ausgebildet werden sollte.50 Eine prominente Ausgestaltung fand der „Heimatschutz“ im Kunsthandwerk und in der Architektur, die folkloristische Elemente aufgriff und in einem dekorativen Sinne adaptierte. Die Ausstellung für Friedhofskunst 47 ��������������������������������������������������������������������������������������� Dr. Hugo Seydel zum 90. Geburtstage am 12. November 1930. In: Der Wanderer im Riesengebirge, 50. Jg., Nr. 11 vom 1. November 1930, 1; Geheimrat Dr. Hugo Seydel zum Gedächtnis. Rede, gehalten am 7. Oktober 1932 von Superintendent Lic. Warko. In: Der Wanderer im Riesengebirge, 52. Jg., Nr. 11 vom 1. November 1932, 182f. 48 Rzeszowski, Robert: Historia Muzeum, in: www.muzeumkarkonoskie.pl/historia-muzeum/ (letzter Zugriff am 3. Dezember 2020). 49 Grundmann, Günther: Die Warmbrunner Holzschnitzschule im Riesengebirge. München 1968. 50 Nowosielska-Sobel, Joanna: Od ziemi rodzinnej ku ojczyźnie ideologicznej. Ruch ochrony stron ojczystych (Heimatschutz) ze szczególnym uwzględnieniem Śląska (1871–1933). Wrocław 2013.

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mit einer aus Oberschlesien translozierten Schrotholzkirche sowie ein Ensemble von Bauten im so genannten Heimatstil auf der Jahrhundertausstellung in Breslau 1913 verliehen dem Heimatschutz eine große Publizität, deren Echo noch lange nachhallte.51 Zu den materialisierten Diskursen der Volksunde zählte seit dem 19. Jahrhundert auch die bildliche Dokumentation der Alltagskultur. Stiche vermeintlich typischer Kleidungsformen wie „Trachten“ in landeskundlichen Werken waren schon im ausgehenden 18.  Jahrhundert bekannt. Mit dem Aufkommen und der Verbreitung der Fotographie sowie der Revolutionierung der Drucktechniken in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts fanden solche Genredarstellungen weithin Verbreitung.52 Von professionellen Fotografen wurden vor allem Porträtfotos angefertigt, aber auch Aufnahmen gemacht, die zu bestimmten Ereignissen im Lebenszyklus der Dargestellten entstanden. Beliebt waren etwa Fotos zu wichtigen religiös geprägten Ereignissen wie Taufe, Kommunion beziehungsweise Konfirmation und Hochzeit, aber auch zu kirchlichen Feiertagen wie Weihnachten und Ostern sowie zu örtlichen Prozessionen. Doch auch Situationen der Schule und des Ausbildungsweges oder des beruflichen Alltags wurden abgelichtet. Man bemühte sich ferner, Erwartungshaltungen der bürgerlichen Öffentlichkeit an das vermeintlich authentische Volksleben durch nachgestellte Situationen zu bedienen: „Spinnstubenabende“ im Riesengebirge, pflügende Bauern in den landwirtschaftlich geprägten Regionen Schlesiens und immer wieder Trachtenszenen waren beliebte Motive, die sich auch kommerziell gut vermarkten ließen. Seit dem letzten Jahrzehnt des 19.  Jahrhunderts tauchten sie auf touristischen Ansichtskarten auf und kreierten durch ihre visuelle Einprägsamkeit bestimmte Stereotypen von angeblich „typisch Schlesischem“. Zahlreiche Nachlässe von Fotoateliers, einzelnen Fotographen oder Laien haben den Weg in deutsche, polnische und tschechische Archive und Museen gefunden und dienen heute zur Illustrierung kulturhistorischer Phänomene, aber auch als visuelle Quellen für die Wahrnehmungsweise einer vergangenen Epoche.

7. Fazit Der vorliegende Beitrag erhebt nicht den Anspruch, volkskundliche Diskurse in Schlesien im 19. Jahrhundert auch nur im Ansatz vollständig abzubilden. Er möchte vielmehr durch exemplarische Querschnitte die Vielfalt der Zugänge in dieser regional, ethnisch und konfessionell stark differenzierten Region andeuten und zur weiteren Befassung mit der kulturwissenschaftlichen Fachgeschichte animieren, die durch wissenschaftliche Nachlässe in Archiven, Museen und Sammlungen, aber auch durch die vielfälti51 Ilkosz, Jerzy: Hala Stulecia i Tereny Wystawowe we Wrocławiu – dzieło Maksa Berga. Wrocław 2005, 214–223. 52 Berendt, Elżbieta/Michalska, Małgorzata: Geschichte und Geschichten. Interpretationsweisen von alten niederschlesischen Fotoaufnahmen. In: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 52 (2011) 113–136.

Ausgewählte volkskundliche Diskurse in Schlesien im langen 19. Jahrhundert

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gen Buch- und Zeitschriftenpublikationen der beteiligten Protagonisten erschlossen werden kann. Das Ende des „langen 19. Jahrhunderts“, das in den Geschichtswissenschaften mit dem Ersten Weltkriegs, dem Untergang einer alten und der Entstehung einer neuen ­staatlichen Ordnung gleichgesetzt wird, bedeutete für die Volkskunde in Schlesien nur bedingt eine Zäsur. Zwar beteiligten sich schlesische Volkskundler wie auch Angehörige anderer Fachrichtungen nach 1918 aktiv an den wissenschaftlichen Legitimationsversuchen für die Revisionsrhetorik im nunmehr geteilten Oberschlesien sowie im ebenfalls geteilten historischen Teschener Schlesien. Doch wurden dafür kaum neue Argumentations- und Diskursschemata entwickelt, sondern bestehende Muster intensiviert. Die Entwicklung der Volkskunde in der Zwischenkriegszeit hin zu einer völkischen Wissenschaft ist jedoch nicht verständlich ohne die Vorgeschichte des 19.  Jahrhunderts. Bereits damals wurde das „Volk“ verabsolutiert, als Synonym der Nation, die vor allem im deutschen Diskurs nicht allgemein als eine Staatsbürgernation, sondern als ethnische Abstammungsgemeinschaft aufgefasst wurde. Hinter diesem Kollektiv traten häufig individuelle Erscheinungen und regionale Differenzierungen zurück, ganz zu schweigen von der Ausgrenzung ganzer Gruppen. Die Herkunft der frühen Volkskunde aus der Philologie ließ das ländliche Volksleben häufig zur Idylle werden – der Sphäre der malerischen Trachten, der phantasievollen Märchen und Sagen sowie melodiösen Volkslieder. Da die Volkskunde sich zu dieser Zeit noch nicht an sozialwissenschaftlichen Paradigmen ausrichtete, blieben die realen sozialen Probleme und Konflikte im Volksleben im 19. Jahrhunderts weitgehend ausgespart. Was haben uns die volkskundlichen Diskurse des 19.  Jahrhunderts in Schlesien noch zu sagen? Jenseits ihrer Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte ist vor allem die dokumentarische Rolle der vielfältigen Sammeltätigkeit zu nennen. Das Festhalten mündlicher Ausdrucksformen durch die philologisch geschulte frühe Volkskunde hat zur Anlage wichtiger Sammlungen geführt, die mit heutigen Fragestellungen neu erschlossen werden können, ähnlich wie die Sammlungen materieller Kultur oder die bildlichen Dokumentationen jener Epoche.

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IV. Räume – regionale und überregionale Forschungsinteressen

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Oberschlesien als Gegenstand historischer Forschung vor 1914. Themenschwerpunkte, zeitliche Präferenzen und methodische Zugriffe 1. Themenschwerpunkte Die spezifische Entwicklung der Schlesienforschung im 19. Jahrhundert – sowohl in historischer als auch in ethnographischer Hinsicht – zwingt nachgerade dazu, die Frage nach der Berücksichtigung Oberschlesiens gesondert zu formulieren und hierbei auch die zeitgenössische polnische Literatur zu berücksichtigen. In polnischen historischen Studien erschien der Begriff „Oberschlesien“, sieht man von publizistischen Diskussionen über das Schicksal der polnischen Bevölkerung unter preußischer Herrschaft einmal ab, zunächst eher selten.1 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das historische Bild Oberschlesiens von Vertretern der polnischen Intelligenz und des Adels (unter anderem von Ksawery Bohusz, Izabela Czartoryska und Maciej Bogusz Stęczyński) geprägt, die diese Region bereist hatten. Darunter befanden sich auch einige prominente Schriftsteller (Franciszek Karpiński, Wincenty Pol, Julian Ursyn Niemcewicz) und Wissenschaftler (Hugo Kołłątaj, Stanisław Staszic, Jerzy Samuel Bandtkie).2 Die Genannten hinterließen allerdings keine historische Studien im engeren Sinn, sondern eher allgemeine Landesbeschreibungen, die sich vielfach in Korrespondenzen oder Tagebüchern wiederfinden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das polnische Interesse an Oberschlesien dann fast ausschließlich politischer Natur – eine maßgeblich von polnischen Nationalisten dominierte Diskussion.3 An den zwei zu dieser Zeit bereits bestehenden Lehrstühlen für die Geschichte Polens in Lemberg und Krakau wurde das Thema Schlesien indes nur marginal berührt. Zu den wenigen polnischen Historikern, die sich überhaupt mit Fragen der schlesischen Geschichte beschäftigten, zählten Stanisław ­Smolka – ein Schüler von Georg Waitz in Göttingen sowie späterer Verfasser der Biographien von Herzog Heinrich dem Bärtigen und Herzog Mieszko dem Alten4 –, Wacław 1 Bahlcke, Joachim: Oberschlesien – eine Fallstudie zur Konstruktion geschichtlicher Räume, kultureller Identitäten und historiographischer Raumkonzepte. In: Bahlcke, Joachim/Gawrecki, Dan/ Kaczmarek, Ryszard (Hg.): Geschichte Oberschlesiens. Politik, Wirtschaft und Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Oldenburg 2015 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 61), 17–46. 2 �������������������������������������������������������������������������������������� Wanatowicz, Maria Wanda: Społeczeństwo polskie wobec Górnego Śląska (1795–1914). Katowice 1992 (Prace naukowe Uniwersytetu Śląskiego w Katowicach 1303), 15. 3 Ebd., 58f. 4 Smolka, Stanisław: Henryk Brodaty. Ustęp z dziejów epoki piastowskiej. Lwów 1872; ders.: Mieszko Stary i jego wiek. Warszawa 1881.

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S­ obieski, der sich vor allem mit der Chronica Polonorum des frühen 16. Jahrhunderts beschäftigte, Feliks Koneczny, Verfasser der ersten in polnischer Sprache veröffentlichten populärwissenschaftlichen Synthese der Geschichte Schlesiens,5 ferner Franciszek Popiołek, der sich als Historiker mit der Geschichte des Teschener Schlesiens beschäftigte,6 sowie August Bielowski, ein produktiver Editor von Quellen zur Geschichte Polens, die die mittelalterliche Geschichte Schlesiens mit einschlossen.7 Im weiteren Sinn könnte man auch noch die Namen von Aleksander Semkowicz, Fryderyk Papée und Oswald Balzer ­nennen.8 Keiner der genannten polnischen Historiker befasste sich jedoch separat mit Oberschlesien. Im Kwartalnik Historyczny, der seinerzeit dominierenden polnischen geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschrift, wurden aber bis 1914 immerhin annähernd 350 Aufsätze, Miszellen und Rezensionen zu schlesischen Themen veröffentlicht.9 Dabei handelte es sich freilich mitunter um Studien, die zum Teil sogar in Polen selbst kritisch bewertet wurden. Der prominente polnische Historiker Karol Piotrowicz etwa konstatierte in der Zwischenkriegszeit, dass „die polnische Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keinen Forscher der Geschichte Schlesiens hervorgebracht hat, der sich mit [Colmar] Grünhagen messen“ könne.10 Der Archäologe Kazimierz Tymieniecki bekräftigte diese Bewertung mit der Einlassung, dass „die polnische Wissenschaft die Angelegenheiten Schlesiens völlig vernachlässigt“ habe.11 Die historische Forschung über Oberschlesien blieb in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg weitgehend der deutschen Geschichtsschreibung vorbehalten.12 In diesem Sinn lohnt es, die Beiträge im führenden wissenschaftlichen Periodikum zur Geschichte Schlesiens – der seit 1856 erscheinenden Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens – (seit 1906 Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens)13 – in den 15 Koneczny, Feliks: Dzieje Śląska. Ozdobione licznymi obrazkami. Bytom 1897. 16 Popiołek, Franciszek: Dzieje Śląska Austryackiego. Cieszyn 1913; ders.: Dzieje Cieszyna. Cieszyn 1916. 17 Bielowski, August (Hg.): Monumenta Poloniae Historica, Bd. 1–3. Lwów 1864–1876. 18 Dyba, Marian: Kształtowanie się polskiego środowiska historycznego na Śląsku w latach 1918– 1939. Katowice 1993 (Prace naukowe Uniwersytetu Śląskiego w Katowicach 1353), 33f. 19 Vgl. den Beitrag von Gregor Ploch in diesem Band. 10 Piotrowicz, Karol: Stan i potrzeby nauki polskiej o Śląsku w zakresie historii. In: Lutman, Roman (Hg.): Stan i potrzeby nauki polskiej o Śląsku. Katowice 1936 (Wydawnictwa Instytutu Śląskiego 1), 311–369, hier 313. 11 Dyba: Kształtowanie się polskiego środowiska historycznego na Śląsku, 34f. 12 Kaczmarek, Ryszard: Geschichtspflege und Vereinswesen im preußischen Oberschlesien vor dem Ersten Weltkrieg. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte 26), 215–227. 13 Kessler, Wolfgang (Bearb.): Zeitschrift des Vereins für Geschichte (und Altertum) Schlesiens 1855–1943. Schlesische Geschichtsblätter 1908–1943. Gesamtinhaltsverzeichnis. Hannover 1984 (Schlesische Kulturpflege 1); Maetschke, Ernst: Die Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 1855–1905. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1907) 1–16.

Oberschlesien als Gegenstand historischer Forschung vor 1914

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Blick zu nehmen, zumal außer vereinzelten Monographien zu Städten, Parochien und Fürstentümern in dieser Zeit noch keine Synthesen zur Geschichte Oberschlesiens erschienen.14 Die Zahl der Artikel in der Zeitschrift des Breslauer Geschichtsvereins und deren Titel geben immerhin präzise Aufschluss über die allgemeinen Themenschwerpunkte der Forschungen jener Zeit, nicht nur in der deutschen Geschichtsschreibung. Zum einen spricht aus ihnen das wissenschaftliche Interesse der beteiligten Forscher, zum anderen waren sie geeignet, die Neugier fachfremder, aber an Geschichte und Kultur Oberschlesiens interessierter Leser zu wecken. Tabelle 1: Aufsätze, Miszellen und Rezensionen zur Geschichte Oberschlesiens in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens beziehungsweise in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens die in den Jahren 1856 bis 1918 veröffentlicht wurden.15 Jahr

1856 1859 1860 1862 1863 1864 1866 1867 1868 1870 1872 1874 1876 1878 1880

Anzahl der Historischer Zeitraum Artikel Mittelalter Frühe Neuzeit Neuere und Neu- Methodolo(bis 1740) este Geschichte gische Abhand(ab 1740) lungen 1 1 (34) 1 1 (95) 1 1 (17) 2 1 (19) 1 (12) S 1 1 (3) 0 0 2 1 (23) 1 (13) M 2 1 (10) 1 (8) S 0 1 1 (11) 4 2 (4+5) 1 (25) 1 (15) S 0 7 2 (10+5) 1 (25) 2 (7+13) 2 (5 M + 1 M) 2 1 (9) 1 (9)

14 Bahlcke, Joachim (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/ Weimar/Wien 2005 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 11). 15 Die Zahl in Klammern gibt die Seitenzahl des Beitrags beziehungsweise der Beiträge an. Der Buchstabe „M“ kennzeichnet vorwiegend methodologische Beiträge, der Buchstabe „S“ kennzeichnet Studien, die vorwiegend ereignisgeschichtlich-zusammenfassenden Charakter haben.

324 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918

Ryszard Kaczmarek

0 2 4 0 4 0 3 0 5 1 2 2 0 0 5 4 0 0 3 1 2 3 0 2 0 2 1 1 0 1 2 0 3 2 0 0 1

Insgesamt 78

1 (16)

1 (30) 2 (16+9)

1 (4)

1 (6)

2 (32+4)

1 (13)

1 (30)

1 (13)

1 (3) M 1 (23)

1 (49)

3 (1+2+14) M 1 (26) M 2 (32+1) M 1 (1) M

2 (12+33)

3 (25 S; 11+3 M) 3 (2+1+5) M

1 (33)

1 (1) M

1 (2)

1 (2) M 1 (20) M

1 (5)

1 (15) 1 (22) 1 (4) 1 (2)

1 (56) S 1 (6) M

2 (29+4) 1 (9)

1 (5) M 1 (60) M 1 (42) M

1 (5) 2 (13+2) M 1 (24) 1 (1)

1 (8)

1 (2) M 1 (31)

1 (20) M 19 (225)

13 (253)

14 (334)

32 (420)

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Es ist offensichtlich, dass die oberschlesische Thematik in den schlesienbezogenen Studien und auch in der deutschen Geschichtsschreibung als eigenständiges Forschungsfeld eine ganz und gar marginale Rolle spielte. Selbst unter dem Vorbehalt, dass auf ganz Schlesien bezogene Forschungen naturgemäß immer auch Aspekte der Geschichte und Kultur Oberschlesiens berührten, blieb das Interesse am östlichen Teil des Oderlandes unter den Historikern gering. In den 52 ausgewerteten Jahrgängen der Zeitschrift des Breslauer Geschichtsvereins findet sich in 18 Fällen, das heißt in gut einem Drittel, nicht einmal ein gesonderter Hinweis auf die Vergangenheit jener Geschichtsregion. Es ist ferner zu beachten, dass bei Abzug der letzten analysierten Artikelgruppe – den methodologischen Aufsätzen und Quellenstudien – der Anteil der oberschlesischen Thematik sogar noch geringer ausfällt. Freilich ist die Anzahl der Artikel nicht der einzige wichtige Indikator – und letztlich auch nicht der entscheidende. Von Bedeutung ist vielmehr der quantitative Umfang der Texte, die insgesamt gut 1.230 Seiten umfassten. Das mag zunächst durchaus beeindruckend erscheinen, taugt jedoch nur bedingt als Maßstab für die tatsächliche Bedeutung der oberschlesischen Thematik innerhalb der deutschen Schlesienforschung. Im Durchschnitt umfasste ein Band der Breslauer Vereinszeitschrift rund 400 Textseiten. Die Artikel mit Oberschlesienbezug machten demnach nur etwa 6 Prozent aller in der Zeitschrift veröffentlichten Texte aus. Dies ist dann wohl der realistische Maßstab, um das Interesse der deutschen Geschichtsforschung am historischen Erbe Oberschlesiens vor dem Ersten Weltkrieg zu veranschaulichen. Zwar repräsentiert die Zeitschrift in ­erster Linie den Blickwinkel des niederschlesischen Universitätszentrums Breslau. Es ist jedoch geradezu paradigmatisch für die gesamte deutsche Forschungslandschaft, dass die Geschichtsregion Oberschlesien im Vergleich zum Oderland noch im 19. Jahrhundert allgemein nur am Rand behandelt wurde.16 Eine immerhin leicht aufwärts weisende Tendenz der Forschung über Oberschlesien ist dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts festzustellen. Es darf angenommen werden, dass der nach 1900 im Regierungsbezirk Oppeln eskalierende nationale Konflikt ein entsprechendes Forschungsinteresse anregte.17 Allerdings schlägt sich diese Tendenz lediglich in einer größeren Anzahl oberschlesienbezogener Aufsätze nieder, während 16 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch eine Auswertung der geschichtswissenschaftlichen Fachliteratur des 19. Jahrhunderts. Vgl. exemplarisch Sendek, Rafael: Auswahlbibliographie zur Geschichte Oberschlesiens. In: Bahlcke/Gawrecki/Kaczmarek (Hg.): Geschichte Oberschlesiens, 678–703. 17 Bełza, Stanisław: My czy Oni na Szląsku Polskim? Warszawa 1902; Karbowiak, Antoni: U źródeł odrodzenia narodowego na Górnym Śląsku. Kraków 1908; Karwowski, Stanisław: Polacy i język polski na Śląsku pod panowaniem pruskim. Poznań 1910; ders.: Wielkopolanie a Ślązacy 1848– 1853. Poznań 1914; Limanowski, Bolesław: Odrodzenie i rozwój narodowości polskiej na Śląsku. Kraków 1911; Marchlewski, Julian: Stosunki społeczno-ekonomicznew Ziemiach Polskich zaboru pruskiego. Lwów 1903; Plutyński, Antoni: Walka na Górnym Śląsku. Lwów 1905; Wasilewski, Leon: Ziemie polskie pod berłem pruskim. Warszawa 1904; ders.: Śląsk polski. Warszawa 1915.

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der Umfang der entsprechenden Texte keine spezielle Forschungskonjunktur in dieser Hinsicht belegt. Blickt man auf einzelne thematische Forschungsschwerpunkte, so fällt es ­schwer, einen besonderen Zeitraum hervorzuheben, der in den Veröffentlichungen der Zeitschrift des Breslauer Geschichtsvereins überwogen hätte; die Beiträge sind vielmehr auf alle historischen Epochen einigermaßen gleichmäßig verteilt – mit einer gewissen Ausnahme für die Zeitspanne nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs: Sowohl von der Anzahl als auch vom Umfang der oberschlesienbezogenen Texte her zeigt sich hier ein sichtbarer Aufschwung gegenüber der Berücksichtigung des friderizianischen Zeitalters. In chronologischer Folge lassen sich die folgenden drei Zeitperioden unterscheiden, die einer detaillierteren Analyse zugänglich sind: die preußische Zeit bis 1870, das Deutsche Kaiserreich in den Jahren 1871 bis 1890 und schließlich die wilhelminische Epoche der Jahre 1890 bis 1918.

2. Zeitliche Präferenzen Auf die preußische Zeit bis 1870, aus der Perspektive der Autoren mithin auf die „neueste Zeit“, beziehen sich die meisten der neun einschlägigen, in den 1850er und 1860er Jahren veröffentlichten Texte.18 Die wichtigeren und auch umfangreicheren Studien hiervon befassen sich etwa mit der Geschichte der Stadt Neisse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert, oder sie wenden sich der Frage nach der Selbstidentifikation der oberschlesischen Piasten zu. Ein recht umfangreicher Text widmete sich zudem der preußischen Verwaltung in der Frühphase der preußischen Herrschaft über Schlesien: Der Form nach handelt es sich um einen wissenschaftlichen Bericht, der eine Beschreibung des damaligen Forschungsstands zum Thema bietet. Die Erforschung der Geschichte Oberschlesiens während der Ära Bismarck unterschied sich deutlich von der vorangehenden, bis in die 1860er Jahre reichenden Epoche. Zunächst erhöhte sich die Gesamtzahl der oberschlesienbezogenen Texte (auf insgesamt dreißig). Vor allem aber wurden die Schwerpunkte nunmehr klar auf die preußische 18 Paur, Theodor: Zur Geschichte von Neisse in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1 (1856) 95–129; Roepell, Richard: Geschichtliche Darstellung der von dem Comité Générale des Departements von Breslau und Oberschlesien geführten Geschäfte, d. d. Breslau, am 15ten Januar 1810. Ebd., 2 (1859) 91–166; Schück, Robert, Schicksale der im Kreise Pleß belegenen Königl. Domainen-Amts-Dörfer Imielin, Chelm und Kosztow. Ebd., 3 (1860) 147–164; Weltzel, Augustin: Ratiborer Chronik. Ebd., 4 (1862) 114–126; Wattenbach, Wilhelm: Aufzeichnungen der Franziskaner zu Ratibor. Ebd., 126–145; Biermann, Gottlieb: Seit wenn sahen sich die oberschlesischen Piasten als schlesische Fürsten an? Ebd., 8 (1867) 31–54; Kopetzky, Franz: Die Gefangennahme der hussitischen Gesandten in Ratibor 1421. Ebd., 209–217; ders.: Das Troppauer Landesarchiv. Ebd., 414–427; Lustig, Jacob: Das Verhältnis der Herrschaft Myslowitz zur Herrschaft Pleß seit frühester Zeit. Ebd., 9 (1868) 73–83.

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Zeit nach 1740 gelegt,19 wobei sich wiederum zwei hauptsächlich bearbeitete Themenfelder ausmachen lassen: einerseits die Regierungszeit Friedrichs II. im Kontext seiner militärischen und diplomatischen Erfolge, andererseits der Kampf gegen die französische Besatzung nach 1807 bis hin zum Befreiungskrieg von 1813/15. Damit handelte es sich um Forschungen, die gänzlich der Tradition der borussischen Schule der Geschichtsschreibung verpflichtet blieben. Die umfangreichsten Texte aus diesem Themenkomplex griffen insbesondere den Einsatz des Adelsgeschlechts von Anhalt in den Schlesischen Kriegen an der Seite König Friedrichs II. auf. Des Weiteren wurde auf einen Oberschlesienbesuch Friedrichs II. nach der Schlacht von Mollwitz rekurriert, 19 Lustig, Jacob: Gegenüberstellung der Zustände in Myslowitz kurz vor und nach Eintritt der preußischen Herrschaft. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 11 (1872) 197–208; Weltzel, Augustin: Die Landesbeamten der Fürstenthümer Oppeln-Ratibor von 1532–1741. Ebd., 12 (1874) 19–44; ders.: Das Archidiakonat Oppeln von 1230 bis 1810. Ebd., 379–394; Mieroszowski, [Stanisław]: Die Salomo, früher Besitzer von Myslowitz. Ebd., 395–400; Temple, Rudolf: Herzog Kasimir von Auschwitz (Oswiecim) (reg. 1414–1433). Ebd., 14 (1878) 41–51; Peter, Anton: Urkundliche Nachrichten zur Geschichte der Stadt Skotschau. Ebd., 96–106; Schultz, Alwin: Archivalische Miscellen. 7. Die Wahl des Jodocus von Ziegenhals zum Abte des Augustiner-Chorherrn-Stiftes auf dem Sande zu Breslau. Ebd., 236–241; Grünhagen, Colmar: Diplomatische Besprechungen im Neißer Kapuzinerkloster 1741. Ebd., 255–262; Reimann, Eduard: Die Zusammenkunft Friedrichs II. und Josephs II. in Neiße. Ebd., 263–276; Zukal, Josef: Das Criminalregister des Stadtgerichtes zu Troppau für die Jahre 1643–70. Ebd., 532–557; Jungnitz, Joseph: Archivalische Miscellen. 2. Über die Ortsnamen Uyazd. Ebd., 570– 571; Grünhagen, Colmar: Ein Bericht über den Ritt Friedrichs des Großen nach Oppeln am Tage von Mollwitz, mit ergänzenden und kritischen Anmerkungen neu herausgegeben. Ebd., 15 (1880) 435–444; Swientek, Augustin: Beiträge zur Biographie des oberschlesischen Heiligen Hyacinth. Ebd., 501–510; Kopietz, Johannes Anathasius: Geschichte der katholischen Pfarrei Patschkau. Ebd., 17 (1883) 94–150; Wahner, E[rnst]: Oppeln in der Franzosenzeit. Von 1807– 1808. Ebd., 63–93; ders.: Oppeln in der Franzosenzeit. Tl. 2. Von 1807–1808. Ebd., 18 (1884) 90–106; ders.: Oppeln nach der Franzosenzeit. Vom Ende des Jahres 1808 bis zum Ende der Freiheitskriege. Ebd., 107–116; Pfotenhauer, Paul: Die Ritterschaft von Teschen im 16. Jahrhundert. Ebd., 270–286; Loserth, Johann: Archivalische Miscellen. 2. Zwei Briefe aus der Hussitenzeit, das Kloster Rauden betreffend. Ebd., 300–306; Grünhagen, Colmar/Krebs, Julius: Quellenmäßige Beiträge zur Geschichte des 30jährigen Krieges. 3. Gründliche Relation deßen was in dem Neisseschen mit denen eingefallenen schwedischen feindlichen Partien vorgelaufen (1639). Ebd., 20 (1886) 346–352; Wahner, E[rnst]: Einiges über die Garnisonverhältnisse in Oppeln seit Friedrich dem Großen bis zum Ausgange der Freiheitskriege. Ebd., 197–229; ders.: Oppeln zur Zeit des zweiten schlesischen Krieges. Ebd., 230–234; Dziatzko, Karl: Ein älteres lateinisches Gedicht auf die Hinrichtung des Herzogs Nikolaus von Oppeln (1497). Ebd., 255–259; Markgraf, Hermann: Zur Entwickelung der schlesischen Geschichtsschreibung. Ebd., 22 (1888) 1–24; ders.: Die Gewalttat auf dem Neisser Landtage von 1497. Ebd., 296–309; Weigelt, Carl: Der Kirchenstreit in Groß-Glogau (1564–1609). Ebd., 25–55; Lutsch, [Hans]: Archivalische Miscellen. 7. Der Grabstein des letzten Herzogs von Kosel-Beuthen im Dome zu Venzone. Ebd., 327–330; Grünhagen, Colmar: Briefe Friedrichs des Großen an den Fürsten von Anhalt. Die Kämpfe in Schlesien im Anfang des Jahres 1745 betr. Ebd., 24 (1890) 217–240; Kopietz, Johannes Anathasius: Die Pfarr- und Collegiatkirche von St. Nicolaus in Ottmachau. Ebd., 162–176; Hirsch, Rudolf: Die Gründung der Stadt Loslau. Ebd., 291–304.

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ferner auf dessen Treffen mit Kaiser Joseph II. in Neisse im Jahr 1769. Berücksichtigt wurden zudem die Geschichte der preußischen Garnison in Oppeln vor und während der friderizianischen Zeit sowie die Besetzung Oppelns durch die Franzosen während der napoleonischen Kriege. Die Zeit des Wilhelminismus, die Epoche des Deutschen Kaiserreichs in den Jahren 1890 bis 1918, stellt den letzten untersuchten Zeitraum dar, wobei zwischen der chronologischen Aufteilung der Texte auf einzelne historische Perioden sowie deren territorialer Verortung ein ungefähres Gleichgewicht festzustellen ist: Mit insgesamt 38 Beiträgen20 erweist sich die Geschichte Oberschlesiens hier als ein integraler Be-

20 Schulte, Johann Wilhelm: Ujazd und Lgota. Ein Beitrag zur schlesischen Ortsnamenforschung. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 25 (1891) 211–235; ­Kopietz, Johannes Anathasius: Das Collegiatstift von St. Nikolaus in Ottmachau (1386–1477). Ebd., 26 (1892) 131–163; Wutke, Konrad: Archivalische Miscellen. 2. Der Neisser Hexenofen aus dem Jahre 1639. Ebd., 427–428; Markgraf, Hermann: Die Rechnung über den Peterspfennig im Archidiakonat Oppeln 1447. Mit einem Anhang von W. Schulte. Ebd., 27 (1893) 356–403; Nowack, A[lfons]: Kleine Mittheilungen. 2. Einige Nachrichten über oberschlesische Kirchen aus älterer Zeit. Ebd., 405; Weltzel, Augustin: Das Kollegiatstift zum hl. Bartholomäus in OberGlogau. Ebd., 30 (1896) 165–190; Hirsch, Rudolf: Rechtsgeschichtliche Nachrichten aus der ehemaligen Minderstandesherrschaft Loslau. 1. Das Loslauer Mannrecht. 2. Das Loslauer Landrecht. Ebd., 191–224; Wahner, E[rnst]: Statistische Nachrichten von der Stadt Oppeln. Von 1748–1815. Ebd., 273–284; Wintera, Laurentius: Vermischte Mittheilungen. 4. Zwei Schlesier im Jahre 1593 vor dem Stadtgericht in Braunau. Ebd., 325–328; Chrzaszcz, Johannes: Die Töpferinnung in der Stadt Peiskretscham O.-S. Ein Beitrag zur Geschichte des einheimischen Handwerks. Ebd., 225–237; ders.: Vermischte Mittheilungen. 1. Urkundliches über Peiskretscham aus dem XIII. Jahrhundert. Ebd., 31 (1897) 328–330; ders.: Vermischte Mittheilungen. 7. Der Lumpensammler in Ober-Schlesien. Ebd., 339–344; Hirsch, Rudolf: Vermischte Mittheilungen. 2. Der Ortsname Ziegenhals. Ebd., 331–332; Wehrmann, Martin: Johann Herzog von Oppeln als Bischof von Camin. Ebd., 225–230; Bug: Vermischte Mittheilungen. Das Alter der Thorthürme in Grottkau. Ebd., 34 (1900) 413; Wutke, Konrad: Die Vitriolgewinnung im Bisthumslande Neisse. Ebd., 197–230; Chrzaszcz, Johannes: Geschichte der Toster Burg und der Herrschaft Tost-Peiskretscham in Oberschlesien bis zum Anfange des 16. Jahrhunderts. Ebd., 181–196; ders.: Geschichte der Toster Burg und der Herrschaft Tost-Peiskretscham in Oberschlesien bis zum Anfange des 16. Jahrhunderts. Ebd., 35 (1901) 218–240; ders.: Drei bisher unerklärte Pfarrorte im Archipresbyteriat Gleiwitz. Ebd., 36 (1902) 415–417; Schulte, Johann Wilhelm: Zur Geschichte der Burg Oppeln. Ebd., 418–422; Chrzaszcz, Johannes: Kleinere Mittheilungen. 1. Bergbau und Eisengewinnung in der Toster Herrschaft während des 16. Jahrhunderts. Ebd., 37 (1903) 331–333; ders.: Kleinere Mittheilungen. 2. Herzog Boleslaw von Tost, nachmals Erzbischof von Gran (gest. 1329). Ebd., 334–335; Grünhagen, Colmar: Oberschlesiens Sonderstellung in der Geschichte. Ebd., 99–119; Granier, Hermann: Gneisenau und Humboldt und das Dotationsgut Ottmachau. Ebd., 39 (1905) 78–107; Chrzaszcz, Johannes: Zur oberschlesischen Schulgeschichte in Friderizianischer Zeit. Ebd., 300–304; Wiedemann, Franz: Ein Tagebuch über die Belagerung von Neisse im Jahre 1807. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1907) 369–374; Matuszkiewicz, Felix: Steht die mittelschlesische Preseka zu den niederschlesischen Dreigräben in Beziehung? Ebd., 392–401; Kapras, Jan: Oberschlesische Landbücher. Ebd., 42 (1908) 60–120; Dybek, Erwin: Der Geschichtsschreiber Johannes Froben aus

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standteil der gesamtschlesischen Vergangenheit, was vornehmlich dem Engagement von Historikern und Archivaren zuzuschreiben ist, die aus Oberschlesien stammten. Mediävistische Themen nahmen dabei erstmalig einen zentralen Raum ein. In diesem Kontext widmete man sich unter anderem der Onomastik der Ortschaften, kirchlichen Stiftungen (insbesondere im bischöflichen Fürstentum Neisse) sowie der Geschichte einzelner Gemeinden und Parochien – mit einem klaren Schwerpunkt auf Tost und Peiskretscham, was offensichtlich den individuellen Forschungsinteressen eines noch näher vorzustellenden Autors aus Oberschlesien geschuldet war. Untersuchungen über die Regierungszeit Friedrichs II., die ein Jahrzehnt zuvor noch sehr präsent gewesen waren, verschwanden nach 1890 hingegen weitgehend. Der einzige hierzu verfasste Beitrag betraf die Schulreform des preußischen Königs nach 1774. Bezeichnend ist zugleich, dass in dieser Zeit erstmals ein Text über die Geschichte der oberschlesischen Industrialisierung erschien, in dem die Rolle Graf Friedrich Wilhelm von Redens thematisiert wurde.

3. Colmar Grünhagen als Historiker Oberschlesiens Wer waren die Autoren, die sich seinerzeit mit der Geschichte Oberschlesiens beschäftigten und ihre Forschungsergebnisse in der angesehenen Breslauer Fachzeitschrift publizierten? Dass der Name Colmar Grünhagen in diesem Zusammenhang am Anfang steht, verwundert nicht.21 Parallel zu seiner in den Jahren 1884 bis 1886 vorgelegten Synthese der Geschichte Schlesiens22 verfasste er sechs umfangreiche Texte zu Oberschlesien, die mehrheitlich die Regierungszeit König Friedrichs II. thematisierten, die



Namslau. Ebd., 43 (1909) 1–42; Schulte, Lambert: Die Landesverteidigung des Neißer Fürstentums im Mittelalter. Ebd., 45 (1911) 281–286; Chrzaszcz, Johannes: Ein Fundationsverzeichnis des Neißer Jesuitenseminars der hl. Anna aus dem Jahre 1716. Ebd., 46 (1912) 172–185; Kapras, Jan: Vermischte Mitteilungen. 1. Die Mährische und Troppauische Cuda. Ebd., 237–238; Sedlácek, August: Ein Beitrag zur Geschichte der Herzöge von Troppau-Münsterberg. Ebd., 48 (1914) 151–159; Knauer, Paul: Vermischte Mitteilungen. 2. Ein alter Neißelauf. Ebd., 415–416; Wutke, Konrad: Die Verwendung von Kirchenglocken zum Kanonenguß und die Herstellung von Geschütz aus schlesischem Eisen 1813/1814. Zum Gedächtnis des Schöpfers der schlesischen Eisen- und Steinkohlenindustrie Grafen Friedrich Wilhelm von Reden (gest. 3. Juli 1815). Ebd., 49 (1915) 41–72; Schulte, Lambert: Vermischte Mitteilungen, Ergänzungen und Berichtigungen. 2. Über die Hinrichtung des Herzogs Nikolaus von Oppeln, 1497. Ebd., 336; Knötel, Paul: Beiträge zur geschichtlichen Ortskunde von Ratibor. Ebd., 52 (1918) 66–84. 21 Zu Grünhagen vgl. Rüther, Andreas: Borussische Geschichtsforschung in Schlesien: Colmar Grünhagen (1828–1911) – Werdegang, Schuleinflüsse und Wirkungskreise. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2019 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 28), 217–254. 22 Grünhagen, Colmar: Geschichte Schlesiens, Bd. 1–2. Gotha 1884–1886.

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aber auch die neueste Geschichte berührten, die aus der Perspektive Grünhagens gleichsam noch Zeitgeschichte war. Es ist bemerkenswert, dass Grünhagen, obwohl er sich in seiner Gesamtdarstellung der Vorstellung einer einheitlichen Landesgeschichte Schlesiens anschloss und diese auch explizit verteidigte, dennoch die Eigenart Oberschlesiens anerkannte und in seinen Texten klar benannte. Dies fällt besonders in seinen späteren, bereits nach der Jahrhundertwende publizierten Beiträgen auf. 1903 etwa veröffentlichte er einen Aufsatz mit dem programmatischen Titel Oberschlesiens Sonderstellung in der Geschichte.23 Knapp zwei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung seiner Geschichte Schlesiens war er möglicherweise aufgrund der politischen Radikalisierung des Nationalitätenkonflikts im Regierungsbezirk Oppeln24 zu dieser Einsicht gelangt und sah sich entsprechend veranlasst, die noch in seiner Synthese gezogenen Schlussfolgerungen kritisch zu überprüfen. In diesem Kontext stellte er zwei Phasen einer besonderen geschichtlichen Eigenständigkeit Oberschlesiens heraus: Zum einen habe der Kampf der Nachbarländer um die Herrschaft über ganz Schlesien im 15. Jahrhundert entsprechende Tendenzen verstärkt, zum anderen sei im 19. Jahrhundert die Sonderstellung gerade Ost-Oberschlesiens infolge der intensiven Industrialisierung sowie der dortigen nationalpolnischen Agitation deutlich geworden. Wenn Grünhagen die Geschichte Schlesiens dennoch als ein Ganzes begriff, so spiegelte sich darin seine These, dass lediglich ungünstige historische Episoden zur Aufteilung des Oderlandes in einen niederschlesischen und einen oberschlesischen Landesteil geführt hätten. Eine segensreiche Zukunft der Provinz mit dem Zentrum in Breslau sah er nur durch eine Förderung des gemeinsamen schlesischen Kulturerbes als gegeben, das er aufgrund seiner politisch-weltanschaulichen Überzeugung selbstverständlich als ein preußisch-deutsches Erbe begriff: „Man ist sich hier bewußt, daß doch jeder Kulturfortschritt Oberschlesiens am letzten Ende dem Deutschtum zu Gute kommen und damit Land und Leute dieser Landschaft dem übrigen Schlesien näher bringen muß, und wenn ein Blick in die Vergangenheit uns zeigt, wie in alten Tagen Gefahren einer Losreißung gerade dieses Theils von Schlesien durch seine Nachbarn gedroht haben, so kann davon in unserer Zeit, wo der Schutz der deutschen Ostmarken in so starker Hand ruhte wie nie zuvor, kaum noch die Rede sein, und diese Ueberzeugung vermag der Hinblick auf die von außen hereingetragene Agitation unter der polnischen Bevölkerung in keiner Weise zu erschüttern.“25 23 Ders.: Oberschlesiens Sonderstellung in der Geschichte Der Aufsatz ging auf einen mündlichen Vortrag zurück, den Grünhagen am 1. Juni 1902 in Oppeln vor Publikum gehalten hatte. 24 Czapliński, Marek: Adam Napieralski 1861–1928. Biografia polityczna. Wrocław 1974 (Prace Wrocławskiego Towarzystwa Naukowego A/162); Kwiatek, Aleksander: Przywódca i przywództwo narodowe na Górnym Śląsku w polskiej tradycji 1848–1914. Opole 1991; Masnyk, Marek/ Orzechowski, Marian: Wojciech Korfanty. Biografia polityczna. Wrocław u. a. 1975; Pater, Mieczysław: Polskie dążenia narodowe na Górnym Ślasku (1891–1914). Wrocław 1998. 25 Grünhagen: Oberschlesiens Sonderstellung, 119.

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4. Aus Oberschlesien stammende Historiker Unter jenen in der Zeitschrift des Breslauer Geschichtsvereins publizierenden Forschern, die aus Oberschlesien selbst stammten, hinterließ vor allem Johannes Chrząszcz ein vielseitiges Œuvre. Chrząszcz, der von 1890 an insgesamt 37 Jahre als katholischer Pfarrer in Peiskretscham tätig war, machte sich nebenbei rasch als produktiver Historiker und Volkskundler einen Namen.26 Vor seiner Tätigkeit als Seelsorger war Chrząszcz bereits Gymnasiallehrer in Gleiwitz gewesen und hatte nach einer längeren, durch den Kulturkampf bedingten Pause 1888 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Breslau promovieren können. Während seiner Tätigkeit als Lehrer und katholischer Geistlicher veröffentlichte er zahlreiche Werke theologisch-geistlichen wie geschichtswissenschaftlichen Charakters, letztere vor allem mit regionalem beziehungsweise lokalem Schwerpunkt. Darunter befanden sich mehrere oberschlesische Ortsgeschichten – unter anderem von Tost und Peiskretscham27 – sowie ein Lehrhandbuch zur Geschichte der Katholischen Kirche in Schlesien.28 In seinen vorstehend bereits genannten Aufsätzen für die Breslauer Vereinszeitschrift beschäftigte er sich mit der Geschichte des Handwerks in Peiskretscham, des Schlosses in Tost sowie der Entwicklung katholischer Stiftungen in Oberschlesien. Ferner thematisierte er das Bergbauwesen und die Schulreformen unter König Friedrich II. von Preußen. Unter den herausragenden Autoren der Breslauer Vereinszeitschrift bedarf zudem der oberschlesische Priester Augustin Weltzel der Erwähnung, dessen Wirken als Geschichtsschreiber ihm immerhin den Beinamen eines „oberschlesischen Tacitus“ einbrachte.29 Obwohl als Sohn eines Forstarbeiters eher bildungsfern aufgewachsen, hatte Weltzel dennoch in Breslau das Abitur ablegen können. Nach dem Theologiestudium an der dortigen Universität wurde er 1842 zum Priester geweiht. Zunächst wirkte er in Pommern, wo er Mitglied der Pommerschen Gesellschaft für Geschichte und Archäologie wurde. 1857 nahm er dann eine Pfarrstelle im oberschlesischen Tworkau an. In dieser Funktion knüpfte er enge Kontakte zu prominenten tschechischen ­Historikern – konkret zu Josef Zukal in Troppau und zu František Sláma in Teschen30 – und wurde 26 Hirschfeld, Michael: Johannes Chrząszcz (1857–1928). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 12. Würzburg 2017, 213–222; ders.: Schlesische Priesterhistoriker vor dem Ersten Weltkrieg. Geschichtsschreibung zwischen institutionellen Anforderungen und individueller Schwerpunktsetzung. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 307– 329, hier 323–327. 27 Chrzaszcz, Johannes: Geschichte der Städte Peiskretscham und Tost sowie des Toster Kreises in Ober-Schlesien. Peiskretscham 1900. 28 Ders.: Kirchengeschichte Schlesiens. Für Schule und Haus. Breslau 1908. 29 Niemcy górnośląscy. Leksykon biograficzny. Gliwice/Opole 2004, 30; Hirschfeld: Schlesische Priesterhistoriker, 320–323. 30 ������������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim: Die tschechische Geschichtsschreibung über Schlesien im 19. und 20. Jahrhundert. Von Palacký bis zum Zusammenbruch des kommunistischen Systems [1995]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhun-

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Mitglied sowohl des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens als auch der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Weltzel legte historische Monographien zu mehreren oberschlesischen Gemeinden vor, so zu Cosel, Guttentag, Ratibor, Neustadt und Sohrau,31 ferner eine Geschichte des Archipresbyterats Ratibor.32 Auch forschte er ausgiebig über den schlesischen Adel.33 Weltzels in der Breslauer Vereinszeitschrift veröffentlichte Aufsätze spiegeln exemplarisch, wie auch im Fall der Texte von Johannes Chrząszcz, die eigenen Forschungsinteressen wider. Es finden sich dort aber auch andere thematische Schwerpunkte, etwa Beiträge zur Verwaltung und zu den Landesbeamten des Fürstentums Oppeln-Ratibor in der Habsburgerzeit, ein kritisch bearbeitetes Tagebuch über die Belagerung von Neisse im Jahr 1807, Materialien zum Stadtgericht in Braunau (1593) und Ausführungen über den Hexenprozess des Jahres 1639 in der Stadt Neisse.

5. Methodische Zugriffe In dem methodischen Gerüst, dessen sich die vorstehend genannten Historiker bedienten, spiegelte sich letztlich die allgemeine Professionalisierung der Geschichtsschreibung an den deutschen Universitäten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war in ganz Deutschland ein gesteigertes Interesse am Studium der Geschichtswissenschaft zu beobachten, das sukzessive einen wissenschaftlichen Charakter annahm. Ermöglicht wurde dies unter anderem durch die Gründung zahlreicher historischer Gesellschaften, die nicht mehr nur den Typus des laienhaften bürgerlichen „Geschichtsliebhabers“, sondern darüber hinaus auch Fachleute anzogen, die historisch-wissenschaftliche Diskussionen führten

dert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2016 (Forschungen zu Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3), 125–154. 31 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Weltzel, Augustin: Geschichte der Stadt, Herrschaft und Festung Cosel. Ratibor 1866; ders.: Geschichte der Stadt und Herrschaft Guttentag. Nach Urkunden und amtlichen Actenstücken. Ratibor 1882; ders.: Geschichte der Stadt und Herrschaft Ratibor. Nach Urkunden und Handschriften. Ratibor 1881; ders.: Geschichte der Stadt Neustadt in Oberschlesien. Neustadt O.S. 1870; ders.: Geschichte der Stadt Sohrau in Ober-Schlesien. Aus Urkunden und amtlichen ­Actenstücken. Sohrau 1888. 32 Ders.: Geschichte des Ratiborer Archipresbyterats. Historisch-topographisch-statistische Beschreibung der zu demselben gehörigen Dörfer, Kirchen, Kapellen, Schulen u.s.w. als Ergänzung der Kirchengeschichte Ratibors und als Beitrag zur Adelsgeschichte Oberschlesiens. Aus Urkunden und amtlichen Acten. Ratibor 1885. 33 Vgl. exemplarisch ders.: Geschichte des Geschlechts der Saurma und Sauerma. Denkschrift zur 300jährigen Gedächtnißfeier der Fideicommiß-Stiftung Jeltsch am 1. Mai 1869. Ratibor 1869; ders.: Geschichte des edlen, freiherrlichen und gräflichen Geschlechts von Praschma. Ratibor 1883. Zu dieser Forschungsrichtung vgl. Bahlcke, Joachim: Adelige Geschichtspflege. Familienbewusstsein und Wissenschaftsförderung in Schlesien vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 407–442, hier 436f.

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und Methodenfragen aufwarfen.34 Ein wesentliches Modell für die damalige Forschung bildete das von Leopold (von) Ranke postulierte Prinzip der Objektivität.35 Ranke führte hiermit eine neue Methodik ein, die die überkommene, narrativ geprägte Geschichtsschreibung mit wissenschaftlich geprüften Inhalten ergänzte oder sie sogar durch diese ersetzte. Diese Entwicklung ermöglichte auch eine Professionalisierung des Geschichtsstudiums an sich. Der Historiker hatte demzufolge die Aufgabe, Geschichte quellenkritisch zu rekonstruieren und so niederzuschreiben, „wie es eigentlich gewesen“ sei.36 Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die deutsche Geschichtswissenschaft zum Austragungsort einer großen, kontroversen Methodendiskussion. Sie wurde geführt zwischen den preußischen Historikern der sogenannten borussischen Schule, ­vertreten vor allem durch Heinrich von Treitschke und Johann Gustav Droysen, die sich in politischer Hinsicht auf das kleindeutsche Konzept bezogen, sowie denjenigen Fachvertretern, die sich wie etwa Heinrich Friedjung der großdeutschen Idee verpflichtet wussten. Neben der dem Prinzip größtmöglicher Objektivität zuwiderlaufenden politischen Vereinnahmung war auch die Anwendung des quellenkritischen Prinzips strittig. Während Ranke die Quellenkritik als den ersten notwendigen Schritt historischen Arbeitens überhaupt betonte, um erst in der Folge nach historischen Fakten zu suchen, behaupteten seine Widersacher die Überlegenheit des axiologischen Prinzips. Ihrer Ansicht nach musste die Geschichtswissenschaft pragmatisch genug bleiben, um dem Anspruch historia magistra vitae gerecht zu werden. Die Auseinandersetzung dieser beiden Schulen spiegelte sich auch in einer zu Beginn der 1860er Jahre zwischen Julius Ficker und Heinrich von Sybel geführten Kontroverse. Die Polemik betraf besonders die Bewertung der Rolle der deutschen Kaiser des Mittelalters, konkret die Frage, ob diese zugleich christlich-universalistischen Idealen und ‚deutschen‘ Interessen, also der Nation und perspektivisch der Entwicklung des Nationalstaats, dienen konnten.37 Dass die Debatte sich vor dem Hintergrund des 34 Huttner, Markus: Historische Gesellschaften und die Entwicklung historischer Institute – zu den Anfängen institutionalisierter Geschichtsstudien an den deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts. In: Middell, Matthias/Lingelbach, Gabriele/Hadler, Frank (Hg.): Historische Institute im internationalen Vergleich. Leipzig 2001 (Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert 3), 39–83; Gehrke, Roland: Zwischen ‚vaterländischer‘ Geschichtsbegeisterung und wissenschaftlicher Professionalisierung: Das historische Vereinswesen im deutschsprachigen Raum vor 1914. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 27–43. 35 Grabski, Andrzej Feliks: Dzieje historiografii. Poznań 2003, 467f. 36 Nipperdey, Thomas: Zum Problem der Objektivität bei Ranke. In: Mommsen, Wolfgang J. (Hg.): Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft. Stuttgart 1988, 215–222, hier 215. 37 Brechenmacher, Thomas: Wie viel Gegenwart verträgt historisches Urteilen? Die Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker über die Bewertung der Kaiserpolitik des Mittelalters (1859–1862). In: Muhlack, Ulrich (Hg.): Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert. Berlin 2003 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 5), 87–112.

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italienischen Risorgimento abspielte, zeigt, dass tagespolitische Argumente eine immer größere Bedeutung gewannen, während historische Fakten zunehmend in den Hintergrund traten. Der erwähnte Gegensatz erwies sich schließlich auch als ein Problem der historischen Schlesienforschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als selbständige Disziplin hatte sie die Schlüsselfrage zu beantworten, ob sie sich dem Narrativ der preußischen Machtstellung und des preußischen Triumphs im Ringen um die Vereinigung Deutschlands unterwerfen oder, im Sinn des Objektivitätspostulats Rankes, den methodischen Prinzipien der Quellenkritik weiter uneingeschränkt verpflichten sollte.38 In seinem Hauptwerk zur Geschichte Preußens, dem 1847/48 in drei Bänden herausgegebenen Werk Neun Bücher Preußischer Geschichte 39 (die 1874 dann als die Zwölf Bücher Preußischer Geschichte neu herausgegeben wurden) konzentrierte sich Ranke auf die Schicksale der großen Dynastien und des Adels und würdigte dabei auch die Bedeutung der Geschichte Schlesiens. Für ihn hatte das politische Zentrum des preußischen Staates seine Wurzeln von Beginn an in den östlichen Provinzen – also im östlichen Preußen, in Brandenburg, Pommern und später eben auch in Schlesien. Der Geschichte des Bürgertums und der Industrialisierung, die ja gerade mit dem westlichen Teil des preußischen Staates verbunden war, schenkte er bezeichnenderweise kaum Beachtung. Hatte also schon Ranke großen Wert auf die Zugehörigkeit Schlesiens zu Preußen gelegt, da er hierin eine conditio sine qua non für die preußische Machtstellung in Ostmitteluropa seit der Regierungszeit Friedrichs II. erblickte, so sollte sein Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl für deutsche Geschichte, Heinrich von Treitschke, diesen Ansatz noch zunehmend radikalisieren. Als prominenter Vertreter der borussischen Schule der Geschichtsschreibung und Autor des fünfbändigen, zwischen 1879 und 1894 in Leipzig erschienenen Werks Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert 40 glorifizierte Treitschke den preußischen Staat, insbesondere die Regierungszeit König Friedrichs II., und verließ dabei endgültig den Boden historischer Objektivität und Quellenkritik. Seine Methodik begann von Berlin aus sukzessive auch die Regionalforschung zu beeinflussen – nicht zuletzt das Forschungszentrum Breslau, so dass am Ende auch die Schlesienforschung den Postulaten der borussisch-protestantischen Geschichtsschreibung angepasst wurde. Diese Tendenzverschiebung schuf zugleich Raum für die Bildung einer gleichsam oppositionellen Gruppe oberschlesischer katholischer Historiker, die sich um die Zeitschrift Oberschlesische Heimat versammelten und die den borussischen Historikern nunmehr ihr eigenes Geschichtsbild entgegensetzten.41

38 Olszewski, Henryk: Nauka historii w upadku. Studium o historiografii i ideologii historycznej w imperialistycznych Niemczech. Warszawa/Poznań 1982, 38f. 39 Ranke, Leopold von: Neun Bücher Preußischer Geschichte, Bd. 1–3. Berlin 1847–1848. 40 Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1–5. Leipzig 1879– 1894. 41 Kaczmarek: Geschichtspflege und Vereinswesen im preußischen Oberschlesien, 225–227.

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Geschichtliche Forschungen zur Grafschaft Glatz vor 1914 ­zwischen Heimatkunde und professioneller Historiographie 1. Einleitung Es „[g]eht doch überhaupt durch unsere neuere Zeit ein allgemeiner Zug, die Vergangenheit gründlicher zu studieren, um dadurch die Gegenwart besser verstehen zu können“.1 Diese Feststellung trifft auch auf die an der Peripherie Schlesiens gelegene Grafschaft Glatz zu. Zumindest konstatierte Edmund Scholz (1835–1920) im Jahr 1881 einen solchen Aufbruch. Der Präfekt am Lehrerseminar in Habelschwerdt gehörte Ende des 19. Jahrhunderts zu den maßgeblichen Initiatoren eines Aufbruchs in der Glatzer regionalhistorischen Forschung. Die Konturen der Historiographiegeschichte dieses erst durch die Schlesischen Kriege ab 1740 politisch zur preußischen Provinz Schlesien gelangten Gebirgskessels sind bereits 1997 von Arno Herzig im Groben abgesteckt worden.2 Ihm kommt das Verdienst zu, die Geschichtsschreibung der Grafschaft erstmals im Allgemeinen durchmessen zu haben. Diesem ersten Überblick schlossen sich weitere Spezialstudien an, etwa zur Rolle von Geistlichen in der Glatzer Regional- und Lokalgeschichtsschreibung, die 2015 Michael Hirschfeld in den Blick nahm,3 oder zur Bedeutung der Grafschafter ­Geschichtsvereine, denen sich zwei Jahre später Małgorzata Ruchniewicz widmete.4 Die Verfasserin markierte in ihrer Untersuchung gleichsam die Eckpfeiler der regionalen Geschichtsforschung: zum einen Joseph Kögler (1765–1817), der eine Bestandsaufnahme aller Kirchen und Kulturgüter am Beginn des 19. Jahrhunderts vornahm,5 1 ������������������������������������������������������������������������������������������ Scholz, Edmund: Vorwort. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 1 (1881/82) I. 2 Herzig, Arno: Zur Historiographie der Grafschaft Glatz bis 1945. In: ders.: Beiträge zur Sozialund Kulturgeschichte Schlesiens und der Grafschaft Glatz. Gesammelte Aufsätze zum 60. Geburtstag. Hg. v. Johannes Hoffmann, Frank Golczewski und Helmut Neubach. Dortmund 1997 (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund B 58), 180–195. 3 Hirschfeld, Michael: Grafschafter Geistliche als Geschichtsforscher zwischen Aufklärung und Zweitem Weltkrieg. In: Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft Grafschaft Glatz – Kultur und Geschichte 14 (2015) 1–10. 4 Ruchniewicz, Malgorzata: Institutionen und Protagonisten der Geschichtspflege im Glatzer Land vor 1914. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/ Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 229–244. 5 Herzig, Arno: Der Historiker Joseph Kögler (1765–1817) und die Aufklärung in der Grafschaft Glatz. In: Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft Grafschaft Glatz – Kultur und Geschichte 16 (2017) 1–9.

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zum anderen Franz Volkmer (1846–1930), der sich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg große Verdienste als Regionalhistoriker und Geschichtsorganisator erwarb. Kögler war Dorfpfarrer in Ullersdorf, Volkmer Direktor des regionalen Lehrerseminars in Habelschwerdt – die Berufe des Theologen und des Pädagogen waren zugleich repräsentativ für jenen Personenkreis, der sich seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert vornehmlich der Regionalforschung annahm.6 Überdies – und damit sind sie genauso typisch – betrieben sie ihre Forschungen außerhalb ihres eigentlichen Broterwerbs. Zu Kögler haben wir aufgrund der fünfbändigen historisch-kritischen Edition seiner Chroniken durch Dieter Pohl den fraglos besten Wissensstand.7 Was gibt es also noch nachzutragen, ohne bereits Bekanntes zu wiederholen? Bewegt man sich abseits dieser vorrangig untersuchten Werke, so lassen sich durchaus weitere historiographische Bemühungen feststellen, ohne dass Kögler und Volkmer dabei gänzlich außen vor gelassen werden könnten; eine stärkere Tiefenbohrung hinsichtlich der behandelten Themen und angewandten Methoden fördert interessante Details zutage. Unbekanntes wird man überdies bei der Suche nach Autoren aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden, die sich bei Ruchniewicz hinter dem Etikett einer „Domäne von Laien, die sich meist aus der örtlichen Intelligenz rekrutierten“,8 verbergen. Die These von der vermeintlich unprofessionellen Geschichtsforschung von Laien gilt es im Folgenden ebenso zu überprüfen wie die Vorstellung von einer katholisch dominierten, einseitig von konfessioneller Polemik bestimmten Historiographie über die Grafschaft Glatz im 19. Jahrhundert. Eine solche Annahme wäre als Antwort auf die zu Recht von Herzig konstatierte Tatsache, dass die lokalgeschichtlichen Publikationen trotz der Rekatholisierung „bis in die 1790er Jahre fast ausschließlich von protestantischen Autoren bestritten“ wurden,9 durchaus denkbar. Daran anschließend lässt sich letztlich die Frage beantworten, inwiefern die Forschung zur Grafschaft überhaupt dem Trend der Zeit entsprach und anschlussfähig war angesichts der Distanz dieser räumlich abgelegenen Landschaft zu den Schwerpunkten historiographischer Innovationen, welche zweifellos in den Universitäten und Staatsarchiven der geistig-kulturellen Zentren zu suchen waren. Für die Grafschaft Glatz wären hier vorrangig Berlin und Breslau zu nennen, darüber hinaus Wien und Prag. Eine wichtige Materialgrundlage bietet die von Pohl zusammengetragene Bibliographie zur Grafschaft.10 Diese ist zwar über eine 1994 erschienene Erstauflage nicht hinausgekommen, ermöglicht aber ein weitgehend vollständiges Bild der historischen 16 Zur Bedeutung des Klerus der Grafschaft Glatz für die historische Forschung vgl. Hirschfeld, Michael: Beiträge zu einer Sozial- und Kulturgeschichte des Klerus der Grafschaft Glatz. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 69 (2011) 75–96, hier 89f. 17 Kögler, Joseph: Die Chroniken der Grafschaft Glatz, Bd. 1–5. Hg. v. Dieter Pohl. Modautal/ Köln 1992–2003. 18 Ruchniewicz: Institutionen und Protagonisten der Geschichtspflege im Glatzer Land, 234. 19 Herzig: Zur Historiographie der Grafschaft Glatz, 187. 10 Pohl, Dieter: Die Grafschaft Glatz (Schlesien) in Darstellungen und Quellen. Eine erweiterte Bibliographie. Modautal 1994.

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Forschung zur Grafschaft Glatz – vorausgesetzt, man unterzieht sich der Mühe, ihre rund 3.000 Titel systematisch durchzusehen und die große Zahl an Reiseliteratur für Touristen und Kurgäste von den wissenschaftlich beziehungsweise heimatkundlich relevanten Titeln zu separieren.

2. Akteure Nähert man sich den Grafschafter Geschichtsforschern zwischen Aufklärung und ­Erstem Weltkrieg zunächst im Allgemeinen an, dann fällt auf, dass es Forschung von innen und von außen gab. Konkret bedeutet dies, dass historische Fragestellungen nicht nur von Glatzer Einheimischen aufgegriffen wurden, sondern dass die Grafschaft als Forschungsgebiet Aufmerksamkeit auch über die Region hinaus erweckte. Gerade im Rahmen der Professionalisierung der Landesgeschichte in der Mitte des 19. Jahrhunderts lenkten beispielsweise Wilhelm Wattenbach (1819–1897), der zeitweise als Archivar in Breslau tätig war,11 sowie der ebenfalls an der Universität Breslau lehrende Historiker Richard Roepell (1808–1893) nahezu zeitgleich um 1860 ihren Blick auch auf die Grafschaft Glatz. Roepell, der an der Universität „allmählich der einflussreichste Mann“ geworden war,12 nahm 1859 in einem der ersten Bände der von ihm herausgegebenen Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens13 Bezug auf die Grafschaft: In seinem Beitrag stellte er eine von der örtlichen Universitätsbibliothek erworbene Handschrift vor, die Chronik des Kieslingswalder Kaplans Gregor Goebel von 1705.14 Wattenbachs Interesse galt der Chronik des vom Prager Erzbischof Ernst von Pardubitz (1297–1364) gestifteten Klosters der Augustiner-Chorherren in Glatz.15 11 ��������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar: Wattenbach in Breslau 1855–1862. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 32 (1898) 345–358. 12 Priebatsch, Felix: Richard Roepell. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 19. Jahrhunderts. Breslau 1922 [Sigmaringen ²1985] (Schlesische Lebensbilder 1), 164–167, hier 166; Barelkowski, Matthias: Zwischen Breslauer Universität und Berliner Politik. Richard Roepell (1808–1893) als Historiker, liberaler Politiker und „Polenfreund“. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, ­Roland (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19.  Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2019 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 28), 173–195. 13 Maetschke, Ernst: Die Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 1855–1905. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1907) 1–16; Kersken, Norbert: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung: Der „Verein für Geschichte und Altertum Schlesiens“. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 87–120. 14 Roepell, Richard: Gregor Goebels handschriftliche Glatzer Chronik. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 2 (1859) 418–421, 3 (1861) 225. 15 Wattenbach, Wilhelm: Österreichisches aus der Chronik der Augustiner zu Glatz. Wien 1860; ders.: Die Chronik der Augustiner-Chorherren zu Glatz. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 3 (1861) 33–43; ders.: Das Kathomanna des Glatzer Au-

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Von innen her prägte der Priester Kögler mit seiner systematischen Darstellung aller Kirchen, Burgen, Städte und Dörfer und ihrer Herrschaftsverhältnisse die Grafschafter Geschichtsforschung weit über seinen Tod 1817 hinaus maßgeblich. Mit ihm hatte ­erstmals ein katholischer Geistlicher dieses Feld betreten, das zuvor weitgehend von Protestanten bearbeitet worden war: von Georg Aelurius (1596–1627) im 17. Jahrhundert, später von dem in Glatz wirkenden Feldprediger Johann Gottlieb Kahlo und anderen.16 Die Mirakelbücher, mit denen Jesuiten wie auch Weltpriester die Geschichte von Wallfahrtsbildern in einer breiten Öffentlichkeit verankern wollten, fielen in dieser Hinsicht qualitativ ab. Nicht von ungefähr sah sich Volkmer17 selbst im guten Sinn als Epigone von Kögler. Es besaß für ihn Vorbildcharakter, wie Kögler durch die Grafschaft gewandert und an den Pfarrhäusern angeklopft hatte, um sich dort gelagerte Archivalien zeigen zu lassen. Damit stand Volkmer nicht allein: Auch der aus Ullersdorf an der Biele gebürtige ­Alois Bach (1770–1845), ein langjähriger Regens des Konvikts am Glatzer Gymnasium, hatte von „dem Urkundenschatze geschwärmt, den der rühmlichst bekannte Altertumsforscher und gründliche Kenner der glätzisch-vaterländischen Geschichte Joseph ­Kögler gesammelt“ habe.18 Diese Aussage findet sich zu Beginn seines 1841 erschienenen Werkes Urkundliche Kirchen-Geschichte der Grafschaft Glatz, das Bach als Ruheständler verfasst hatte. Wie sehr Volkmer auch Bach in der Traditionslinie Köglers sah, zeigt sein Bemühen, eines der nicht wenigen ungedruckten Manuskripte – der Text behandelte die Anfangsphase der preußischen Herrschaft Mitte des 18. Jahrhunderts – aus dem Nachlass des 1845 verstorbenen Bach zum Druck zu befördern. Höchster Ausdruck der Wertschätzung für Kögler aber war, dass die von Volkmer federführend herausgegebene Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz in jeder Ausgabe einen Auszug aus Köglers Chroniken enthielt. Was die historische Produktion angeht, so stand Volkmer seinem Vorbild in nichts nach, wie ein Blick in die zehn Jahrgänge der Zeitschrift zeigt: 46 Beiträge, teils längere Aufsätze, teils Miszellen, finden sich aus seiner Feder in dem landesgeschichtlich führenden Periodikum. Damit bestritt Volkmer einen erheblichen Teil des Umfangs der Zeitschrift mit eigenen Beiträgen. Vermutlich waren seine immense, nebenberuflich erfolgte Kärrnerarbeit sowie der Mangel an weiteren, ähnlich produktiven Geschichtsforschern die Hauptursachen für die Einstellung der Zeitschrift. Im Schlusswort des zehnten und letzten Bandes hieß es: „Der Hauptredacteur, Seminar-Direktor Dr. Volkmer, muß fortgustiners Nicolaus von Tepl. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 10 (1870) 174–175. 16 Herzig: Zur Historiographie der Grafschaft Glatz, 187. 17 Ruchniewicz, Małgorzata/Herzig, Arno: Franz Volkmer (1846–1930). In: Borchardt, Karl (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 10. Insingen 2010, 159–164; Ruchniewicz, Malgorzata: Dr. Franz Volkmer (1846–1930): Lehrer und Historiker der Grafschaft Glatz. In: Bendel, Rainer/Nolte, Josef (Hg.): Befreite Erinnerung, Teilbd. 1: Region – Religion – Identität: Schlesische Prägungen. Berlin 2017, 109–127. 18 Bach, Alois: Urkundliche Kirchen-Geschichte der Grafschaft Glatz. Breslau 1841, III.

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ab auf größere Schonung seiner angegriffenen Augen bedacht sein.“19 Ohne Volkmers Beiträge aber waren die Voraussetzungen für die Fortführung des Projekts nicht mehr gegeben. Volkmer blieb gleichwohl eine Autorität des regionalen Geschichtsbetriebs, wie auch die Festschrift zu seinem 75. Geburtstag im Jahr 1921 anschaulich belegt.20 Als Direktor des 1871 in Habelschwerdt gegründeten Katholischen Lehrerseminars hatte es Volkmer zwar verstanden, etliche seiner Kollegen zur Mitarbeit an der Zeitschrift heranzuziehen, darunter Augustin Skalitzky (1852–1931), die Seminarlehrer P. Thamm und H. Rauhut sowie Hugo Vogt, der Jahr für Jahr die Chronik der Grafschaft zusammenstellte. Besonders hatte er die am Lehrerseminar tätigen Geistlichen Edmund Scholz und Wilhelm Hohaus (1844–1909) motivieren können. Scholz war Präfekt am Seminar und hatte die ersten vier Jahrgänge gemeinsam mit Volkmer herausgegeben. Als er 1885 in die Pfarrseelsorge wechselte, übernahm Hohaus seinen Part. Dieser hatte als junger Priester für seine in Freiburg im Breisgau verteidigte liturgiewissenschaftliche Dissertation zahlreiche Bibliotheken und Archive in Süddeutschland und Österreich besucht.21 Auf diese Weise fachlich geschult, war er ab 1883 schon ein geeigneter Partner Volkmers für die Edition verschiedener Quellen zur Grafschaft Glatz gewesen. Als er Gemeindepfarrer wurde, war dies auch in seinem Fall mit einem Ende seines wissenschaftlichen Wirkens gleichbedeutend. Die vom Klerus geforderte Mobilität im priesterlichen Einsatz muss insofern als Hemmschuh für die Entfaltung eines gerade in dieser Berufsgruppe vorhandenen Potenzials an historischem Interesse verstanden werden. Beide Religionslehrer am Habelschwerdter Lehrerseminar waren jedoch in ihren späteren Funktionen als fürsterzbischöfliche Vikare und Großdechanten der Grafschaft Glatz im kollektiven Bewusstsein der Region verankert.22 Der 1881, in zeitlicher Nähe zur Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz entstandene Glatzer Gebirgsverein dagegen hatte eine breitere, stärker populär ausgerichtete Zielsetzung, als dass er ein ernsthaftes Dach für wissenschaftlich motivierte historische Forschungen hätte bieten können. Von dem aus Habelschwerdt stammenden Kirchenhistoriker Augustin Nürnberger (1854–1910)23 hieß es in einem Nachruf bezeichnenderweise, die Geschichte seiner 19 Schlußwort. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 10 (1890/81) 407–408, hier 407. 20 Albert, Franz (Hg.): Franz Volkmer. Sein Leben und Wirken. Mittelwalde 1921. Hervorzuheben ist der Beitrag von Rother, Heinrich: Franz Volkmer und die Glatzer Geschichtsforschung. Ebd., 10–14. 21 Samulski, Robert: Theologische Promotionen schlesischer Priester an der Universität Freiburg im Breisgau. In: Stasiewski, Bernhard (Hg.): Beiträge zur schlesischen Kirchengeschichte. Gedenkschrift für Kurt Engelbert. Köln/Wien 1969 (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 6), 416–441, hier 433. 22 Hirschfeld, Michael: Die Ernennung der Großdechanten der Grafschaft Glatz vom Kulturkampf bis zur NS-Zeit. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 65 (2007) 181–197. 23 Zu Nürnberger vgl. Kleineidam, Erich: Die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Breslau 1811–1945. Köln 1961, 144f.; Hirschfeld, Michael: Schlesische Priesterhistoriker vor dem Ersten Weltkrieg. Geschichtsschreibung zwischen institutionellen Anforderungen und indi-

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Heimat habe ihn angezogen.24 Nürnberger hatte bereits als Theologiestudent zur mittelalterlichen Geschichte der Grafschaft veröffentlicht. Als Professor für Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Breslau beschäftigte er sich mit dem als Märtyrer verehrten Andreas Faulhaber (1713–1757).25 Von den jungen Grafschafter Theologiestudenten in Breslau förderte Nürnberger besonders den aus Neuweistritz im Kreis Habelschwerdt stammenden Bauernsohn Paul Reinelt (1877–1959), den er 1903 zur Promotion im Fach Kirchengeschichte führte.26 Auch als geistlicher Studienrat in Beuthen O.S. hatte Reinelt immer die Grafschaft im Blick, wobei seine Veröffentlichungen durchgehend eine populärwissenschaftliche, in gewisser Weise volkspädagogische Ausrichtung besaßen; die Erlebnisse aus seiner Kindheit und Jugend im Glatzer Bergland flossen beispielsweise in mehrere religiöserbauliche Schriften ein.27 Ein anderer Geistlicher dieser Generation, Franz Sauermann (1877–1945), legte 1909 während seiner Tätigkeit als Proregens am Gymnasialkonvikt in Glatz an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau eine historische Dissertation über die Malteser-Kommende Glatz vor.28 Sauermann, Sohn eines Bergmanns in Josefthal im Kreis Neurode, verließ die Grafschaft ebenfalls, nachdem er das Examen für den höheren Schuldienst abgelegt und eine Stelle als geistlicher Studienrat im oberschlesischen Myslowitz erhalten hatte.29 Dass eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Vergangenheit der Grafschaft Glatz auch aus der Außenperspektive durchaus möglich war, belegt das Beispiel des aus Kohlendorf im Kreis Neurode gebürtigen Geistlichen Joseph Schmidt (1874–1953), der in München mit einer Studie zur Kirchengeschichte des byzantinischen Mittelalters promoviert worden war.30 Seine als Kaplan in Bad Landeck 1906 begonnenen, auf Archivstudien beruhenden Miszellen zu Grafschafter Themen setzte Schmidt als Divisionspfarrer in Thorn und als wisvidueller Schwerpunktsetzung. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schule – Netzwerke, 307– 329, hier 308. 24 Jungnitz, Joseph: Augustin Nürnberger. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 45 (1911) 355–357, hier 355. 25 Nürnberger, Augustin: Neue Dokumente zur Geschichte des P. Andreas Faulhaber. Mainz 1900. 26 Gottschalk, Joseph: Paul Reinelt (1877–1959). In: ders. (Hg.): Schlesische Priesterbilder, Bd. 5. Aalen/Württ. 1967, 127–129; Schindler, Karl: Paul Reinelt. In: ders.: So war ihr Leben. Bedeutende Grafschafter aus vier Jahrhunderten. Leimen 1975, 142–155. 27 Vgl. exemplarisch Reinelt, Paul: Aus den Glatzer Bergen. Skizzen und Erzählungen. Mittelwalde 1912; ders.: Chronika. Wie das liebe Jesuskind im Glatzer Lande geboren wurde. Freiburg/Breisgau 1926. 28 Sauermann, Franz: Geschichte der Malteserkommende Glatz (1183–1627). Glatz 1909. Der Text erschien in den Jahren 1909/10 parallel im Jahresbericht des Königlichen Katholischen Gymnasiums Glatz. 29 Pohl, Dieter (Hg.): 40 Jahre Kirchengeschichte der Grafschaft Glatz in Schlesien 1906–1946. Die Chronik der katholischen Stadtpfarrkirche zu Glatz. Köln 2009, 42f. Sauermann war nach dem Ersten Weltkrieg als Studienrat in Ohlau tätig; er starb 1945 in seinem Heimatort. 30 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Schmidt, Joseph: Des Basilius aus Achrida, Erzbischofs von Thessalonich, bisher unedierte Dialoge. Ein Beitrag zur Geschichte des griechischen Schismas. München 1901.

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senschaftlicher Bibliothekar in Göttingen, Breslau und Bonn über das Ende des Ersten Weltkriegs hinaus fort.31 Als 1907 der Kaplan Maximilian Tschitschke (1875–1940) mit einer Geschichte der Pfarrei Rosenthal an die Öffentlichkeit trat, erwähnte er in seiner Einleitung, er sei den Anregungen Volkmers gefolgt und habe die im örtlichen Pfarreiarchiv vorhandenen Aufzeichnungen des 1842 verstorbenen Pfarrers Franz Xaver Raich gesichtet und für seine Darstellung genutzt.32 Tschitschke, der sich ausdrücklich als Schüler von Volkmer verstand, avancierte in der Zwischenkriegszeit zu einem produktiven Kirchenhistoriker der Grafschaft. Schon ein Jahrzehnt zuvor hatte der Albendorfer Pfarrer Emanuel Zimmer (1866–1935) ein Werk über den bekanntesten Wallfahrtsort der Grafschaft vorgelegt.33 Zimmers weitere literarische Betätigung lag jedoch vornehmlich in der Rolle des Festspielautors, als der er über seinen Wirkungsort hinaus bekannt geworden ist.34 Vollkommen aus dem Rahmen dieser aus dem katholischen Klerus oder der Lehrerschaft kommenden Geschichtsforscher der Grafschaft fällt Hugo von Wiese und Kaiserswaldau (1844–1903), ein Onkel des deutschen Soziologen Leopold von Wiese. Es ist aufschlussreich, dass wir aus seiner Feder keine Zeile in der Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz finden, in der Breslauer Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens dagegen gleich fünf Aufsätze. In ­einem Nachruf, der in dem führenden landesgeschichtlichen Periodikum des Oderlandes erschien, wurde er als einer „der treuesten Diener des Königs und Vaterlandes und ein um die Vergangenheit und die Geschichte seines engeren Heimatlandes, der Grafschaft Glatz, hochverdienter Schriftsteller“ gewürdigt.35 Der aus dem ­niederschlesischen Grünberg gebürtige Protestant war nach dem Deutsch-Französischen Krieg mit dem 18. Infanterie-Regiment nach Glatz versetzt worden und hatte sich dort, nicht zuletzt durch Eheschließung mit der Tochter eines Kreisgerichtsrats, dauerhaft niedergelassen. Ein schweres Gichtleiden trug dazu bei, dass er vorzeitig aus der militärischen und auch aus einer zivilen Laufbahn ausscheiden musste; in der historischen Forschung hatte er als Autodidakt gewissermaßen einen ihn erfüllenden Ersatz gefunden. Nur angeschnitten sei das Mäzenatentum. So erhielt beispielsweise die Schützengilde in Habelschwerdt 1889 anlässlich ihres 150jährigen Fahnenjubiläums eine wissenschaftlich fundierte Darstellung ihrer Geschichte aus der Feder von Franz Volkmer, und 31 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Spata, Manfred: Die Lebensreise des Theologen, Heimatschriftstellers und Bibliothekars Dr. Joseph Schmidt (1874–1953) vom Glatzer Land ins Rheinland. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 73 (2015) 297–310, hier 303f. (dort auch eine Liste seiner Publikationen in Grafschaft Glatzer Periodika). 32 Tschitschke, Maximilian: Geschichte der Pfarrei Rosenthal. Habelschwerdt 1907, 1. 33 Zimmer, Emanuel: Albendorf, sein Ursprung und seine Geschichte. Breslau 1898 [ND Telgte 1978]. 34 Webersinn, Gerhard: Der Pfarrer von Albendorf Emanuel Zimmer (1866–1935) als Chronist und Festspieldichter. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 40 (1982) 165–176. 35 Hauenschild, Helene von: Hugo von Wiese und Kaiserswaldau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 38 (1904) 381–385, hier 381.

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zwar „auf Kosten des Brauereibesitzers August Kastner“,36 wie auf dem Titelblatt eigens vermerkt wurde. Wie gering die Zahl der Akteure innerhalb der Grafschaft Glatz auf dem Feld der Historiographie letztlich war, zeigt ein Blick in die regelmäßig veröffentlichten Mitgliederverzeichnisse des Vereins für Geschichte Schlesiens.37 Noch 1869, mehr als ein Jahrzehnt nach dessen Gründung, fand sich hier unter 297 Mitgliedern mit dem Kaplan Johannes Wolf (1833–1911) nur ein einziges Mitglied aus der Grafschaft Glatz – und dies, obgleich Grafschafter Themen im Vorfeld bereits in der Vereinszeitschrift Aufnahme gefunden hatten. Ende der 1870er Jahre gehörte Hugo von Wiese und Kaiserswaldau zu den ersten Mitgliedern aus Glatz, bald gefolgt von Franz Volkmer, Wilhelm Hohaus und Edmund Scholz.38 Gerade die zuletzt Genannten bürgten für Kontinuität unter den Akteuren. Um die Jahrhundertwende pendelte sich der Mitgliederbestand in der Grafschaft Glatz auf rund 15 Personen ein;39 darunter fanden sich neben Geschichtsforschern an der Vergangenheit interessierte Honoratioren, aber auch Institutionen wie das Königliche katholische Gymnasium in Glatz.40

3. Themenschwerpunkte Besondere Zäsuren der neueren Grafschafter Geschichte erregten das vordringliche Interesse der Forschung vor 1914. Aufsätze zur regionalen Vergangenheit in der Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz, aber auch in der Zeitschrift für Geschichte und Alterthum Schlesiens kreisten zum einen um die Hussitenkriege und die Erhebung von Glatz zur Grafschaft im 15. Jahrhundert. „Georg von ­Podiebrad und die Ereignisse seiner Zeit im Glatzer Land“ lautet beispielsweise der Titel eines umfangreichen Aufsatzes von Volkmer, der in den 1880er Jahren erschien.41 In diesem Titel wird schon ein weiteres Kennzeichen der Veröffentlichungen erkennbar: Es ging immer auch zugleich um den Blick über die Landesgrenzen hinaus. Glatz sollte mit den Ereignissen auf der europäischen Bühne verknüpft werden. Zahlreich sind die Aufsätze zu Ereignissen während des Dreißigjährigen Krieges, etwa zu den Schweden36 Zusatz auf dem Titelblatt von Volkmer, Franz: Geschichte der Schützengilde zu Habelschwerdt im Regierungsbezirke Breslau. Habelschwerdt 1889 [²1897], 1. 37 Mitglieder-Verzeichnis. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1869) 435. 38 Mitglieder-Verzeichnis. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 21 (1887) 453f. 39 Kersken: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung, 99. 40 Im Jahr 1913 zählte der Verein für Geschichte Schlesiens im Kreis Glatz elf natürliche Mitglieder und drei Korporationen, im Kreis Habelschwerdt war das Verhältnis zwei zu drei, im Kreis Neurode zwei zu eins. 41 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Volkmer, Franz: Georg von Podiebrad und die Ereignisse seiner Zeit im Glatzer Lande. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 6 (1886/87) 177–207.

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einfällen oder zur Situation der Glatzer Bauern. Ebenso fand eine im Pfarrarchiv von Rosenthal im Kreis Habelschwerdt aufgetauchte handschriftliche Chronik eines Bürgers der Stadt Habelschwerdt aus dem ersten Kriegsjahr 1618 Aufmerksamkeit in der Grafschafter Historiographie.42 Ediert wurde sie von dem bereits genannten Kollegen Volkmers am Lehrerseminar in Habelschwerdt, dem geistlichen Religionslehrer ­Augustin Skalitzky. Am deutlichsten wurde der Dreißigjährige Krieg von Hugo von Wiese und Kaiserswaldau als Einschnitt gedeutet: Erst durch den Krieg habe der hoffnungsvolle Aufbruch der Reformation einer gewaltsamen Rekatholisierung weichen müssen. Insbesondere die kaiserliche Belagerung von Glatz 1622 verstand er als „Markstein der Geschichte, sie trennt die Blüte von dem plötzlichen Verfall, wie die Nacht vom Tage“.43 Der Titel seiner 1896 erschienenen Monographie über diese Zeit, Der Kampf um Glatz, erinnert an den Titel des wenige Jahrzehnte zuvor publizierten, in breiten Bevölkerungsschichten überaus populären Historienromans Ein Kampf um Rom des in Breslau lehrenden Rechtshistorikers Felix Dahn (1834–1912).44 Dass die kriegsbedingten Einschnitte in der Geschichte auch aus katholischer ­Sicht durch die konfessionelle Brille gesehen wurden, zeigt der zweite große Themenkomplex der Schlesischen Kriege. Regionaler Kulminationspunkt war die Hinrichtung des Glatzer Kaplans Andreas Faulhaber im Siebenjährigen Krieg, die von Volkmer und Nürnberger thematisiert wurde.45 Bei den Forschungen über den in der altgläubigen Bevölkerung zum Mythos stilisierten Faulhaber handelte es sich nicht allein um ein dezidiert katholisches Thema, vielmehr stand Faulhaber auch als regionaler Held gegen den evangelischen Mythos von König Friedrich II. von Preußen. Dieser hatte den Geistlichen ohne Prozess hinrichten lassen, weil Faulhaber zwei Soldaten in der Beichte nicht vom Desertieren abgehalten haben soll. Vor dem Hintergrund des Kulturkampfes und der damit verbundenen Ausprägung eines genuin katholischen Milieus bekam die Faulhaber-Rezeption im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verständlicherweise hohen gesellschaftlichen Stellenwert in der Grafschaft. Von direkter antipreußischer Polemik beziehungsweise einer hagiographischen Darstellung sahen diese Veröffentlichungen 42 Skalitzky, Augustin: Exzerpte aus der handschriftlichen Chronik eines Habelschwerdters v. J. 1618. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 7 (1887/88) 82–89, 179–187, 274–283, 344–351; 8 (1888/89) 180–187, 280–284, 370–377; 9 (1889/90) 184–190, 278–282, 371–377; 10 (1890/91) 84–90, 183–191, 279–288. 43 ����������������������������������������������������������������������������������������� Wiese, Hugo von: Der Kampf um Glatz. Aus der Geschichte der Gegenreformation in der Grafschaft Glatz. Halle 1896, 3. 44 Dahn, Felix. Ein Kampf um Rom. Breslau 1876. Der Roman erlebte 58 Auflagen. Zum Autor vgl. Gehrke, Roland: Felix Dahn (1834–1912). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 9. Insingen 2007, 285–292. 45 Hirschfeld, Michael: Ein Justizmord im Siebenjährigen Krieg. Der gewaltsame Tod des Glatzer Priesters Andreas Faulhaber (1713–1757) im Kontext der Eroberungs- und Kirchenpolitik von Friedrich II. von Preußen. In: Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft Grafschaft Glatz – Kultur und Geschichte 12 (2013) 1–12.

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jedoch ab. Sowohl Nürnberger als auch Volkmer, der Mitte der 1880er Jahre ein von ­Alois Bach nachgelassenes Manuskript zum Siebenjährigen Krieg in der Grafschaft Glatz publizierte,46 folgten dem Grundsatz „quod non est in actis, non est in mundo“. Sie waren bemüht, die Prozessakten zur Causa Faulhaber ausfindig zu machen (was ­ihnen am Ende jedoch nicht gelang).47 Nürnberger, der „absichtlich eine Beurteilung der ganzen Angelegenheit“ unterlassen wollte,48 hob immerhin im Wiener Kriegsarchiv die Korrespondenz und das Tagebuch des damaligen Kommandanten der Festung Glatz.49 Diese Bestrebungen sind als Beleg dafür zu werten, dass die Glatzer Historiographie sich der historisch-kritischen Methode bediente. Ein weiterer Schwerpunkt der regionalgeschichtlichen Veröffentlichungen lag im Bereich der Stadtgeschichte. Auf diesem Feld traten zu Beginn der 1840er Jahre der Stadtsekretär Joseph Thamm (1804–1865) und der Verleger Wilhelm Wenzel Klambt (1811–1889) mit Monographien zu Habelschwerdt und Neurode fast zeitgleich hervor.50 Eine Reihe wichtiger Publikationen, die freilich weniger Aufmerksamkeit fanden, galt überdies der Franzosenzeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts.51 Diese Phase wurde ebenso behandelt wie der mit der Grafschaft Glatz verbundene preußische Generalgouverneur von Schlesien Friedrich Wilhelm Graf von der Götzen, dessen heldenhafter Verehrung Hugo von Wiese ein Denkmal setzte.52 Die Zielsetzung dieser und späterer Forschungsbemühungen brachte Franz Volkmer in seiner 1897 publizierten Geschichte von Habelschwerdt treffend zum Ausdruck: Man arbeite darauf hin, durch „die Bekanntschaft mit der Vergangenheit einer Stadt die Anhänglichkeit an dieselbe“ zu erhöhen.53 Dies war das typische Programm einer 46 ������������������������������������������������������������������������������������������� Bach, Alois: Die Grafschaft Glatz unter dem Gouvernement des Generals Heinrich August Freiherrn de La Motte Fouquet 1742–60. Hg. v. Franz Volkmer. Habelschwerdt 1885. 47 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Nachricht bezüglich der P. Andreas Faulhaberschen Verhörsakten. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 5 (1885/86) 77–78. Diese Notiz der Redaktion enthält ein Schreiben des Direktors des Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien an Franz Volkmer vom 13. April 1885. 48 Nürnberger, Augustin: Das Epitaph des Pater Andreas Faulhaber. Habelschwerdt 1902, 37. 49 Ders.: Neue Dokumente. 50 ���������������������������������������������������������������������������������������� Klambt, W[ilhelm] W[enzel]: Chronik der Stadt Neurode vom Jahre 1843 bis Ende 1863. Neurode 1866; Thamm, Joseph: Geschichte der Stadt Habelschwerdt, nebst einem Anhang über die Vesten des Habelschwerdter Kreises. Habelschwerdt 1841. 51 Vgl. exemplarisch Volkmer, Franz: Habelschwerdter Nachrichten aus der Franzosenzeit (1807). In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 1 (1881/82) 59–72. 52 Wiese und Kaiserswaldau, Hugo von: Die patriotische Thätigkeit des Grafen Götzen in Schlesien in den Jahren 1808 und 1809. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 27 (1893) 28–53; ders.: Friedrich Wilhelm Graf v. Goetzen. Schlesiens Held in der Franzosenzeit. Berlin 1902. Vgl. ferner Tippel, Otto: Generalleutnant Graf von Götzen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 34 (1900) 409–410. 53 Volkmer, Franz: Geschichte der Stadt Habelschwerdt in der Grafschaft Glatz. Habelschwerdt 1897, Vorrede (unpag.). Die Monographie war zuvor bereits in Auszügen veröffentlicht worden. Vgl. ders.: Grundzüge einer Geschichte der Stadt Habelschwerdt vom 30-jährigen Kriege bis zum Beginne des ersten schlesischen Krieges (1618–1740). In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und

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Heimatkunde, wie sie für zahlreiche Städte in Deutschland konzipiert wurde. Usus war es auch in der Grafschaft, die Benutzung der lokalen Archive zu intensivieren, um, wie Wilhelm Mader in seiner Lewiner Chronik schon 1868 ausdrückte, die „Zuverlässigkeit der erzählten Begebenheiten hinlänglich“ zu gewährleisten.54 Inhaltlich ist bei den Monographien zur Stadtgeschichte ein deutlicher Wandel von der rein chronologischen Gliederung hin zu einer Einteilung in einen allgemeinen und einen speziellen Teil zu verzeichnen. Dieser Übergang lässt sich exemplarisch in ­Volkmers Habelschwerdter Stadtgeschichte nachvollziehen: Neben den weiterhin wichtigen chronologischen Abriss der politischen Geschichte des Gemeinwesens trat jeweils separat die Geschichte von Magistrat, katholischer und evangelischer Kirche beziehungsweise von Schule und Hospitalwesen sowie nicht zuletzt das unter der Rubrik „Volksleben“ zusammengefasste Feld von Sitten, Bräuchen und Vereinen.55 Sieht man einmal von Albendorf ab, dem als zentralen Wallfahrtsort eine spezifische Stellung zukam (und das deshalb in allen Epochen Gegenstand historischer Darstellungen war), rückten erst allmählich auch kleinere Orte für die Historiographie in den Blick. Kirchengeschichtliche Forschungen standen hier zumeist am Anfang. Erwähnt seien Publikationen über Reinerz, später auch über Mittelwalde.56 Dass gerade die Kirchengeschichte zuerst bearbeitet wurde, ergab sich aus dem geistlichen Beruf zahlreicher Autoren. Pfarreigeschichte wurde dabei immer zugleich als Ortsgeschichte verstanden. Die Grenzen zwischen Sakralem und Säkularem waren fließend, wie das Beispiel Rosenthal zeigt. Dort spiegeln sich die genannten thematischen Schwerpunkte wider: Dreißigjähriger Krieg, Schlesische und Napoleonische Kriege.57 In Ansätzen wurden bereits sozialhistorische Fragestellungen verfolgt, wenn etwa mithilfe der Pfarrakten die örtliche Kriminalitätsstatistik erstellt oder ein Überblick über die Entwicklung der unehelichen Geburten in Rosenthal gegeben wurde.58 Wie sehr die Quellenbände von Volkmer und Hohaus über die historische Forschung hinaus einen Dienst erweisen konnten, zeigt eine 1908 in Breslau an der Juristischen Fakultät abgeschlossene Dissertation. Darin ging es in einem Längsschnitt um die Geschichte des Glatzer Mannengerichts.59 Als Grund für die Auswahl des Themas gab der Verfasser nicht nur die räumliche Abgeschlossenheit der Grafschaft an, die sie als von auswärtigen Rechtseinflüssen unbeeinflusstes Gebiet für die Untersuchung geeignet erscheinen ließ. Er wies auch darauf hin, dass hier die Quellenlage weitaus Heimatskunde der Grafschaft Glatz 10 (1890/91) 97–131; ders.: Abriß einer Geschichte der Stadt Habelschwerdt seit 1740. Ebd., 193–233, 289–312. 54 Vorwort zur ersten Auflage. In: Mader, Wilhelm: Chronik der Stadt Lewin, Habelschwerdt 1868 [Lewin ²1903], 3. 55 Volkmer: Geschichte der Stadt Habelschwerdt, Inhaltsverzeichnis. 56 ������������������������������������������������������������������������������������������� Dengler, Paul: Geschichte des Bades Reinerz. Bad Reinerz 1903; Tschitschke, Maximilian: Geschichte der Stadt und Pfarrei Mittelwalde. Mittelwalde 1921 (Glatzer Heimatschriften 8). 57 Alle drei Kriegsereignisse nehmen jeweils rund zehn Druckseiten ein. 58 Tschitschke: Geschichte der Pfarrei Rosenthal, 85f. 59 Volkmer, Paul Albert: Geschichte des Glatzer Mannengerichts. Habelschwerdt 1908.

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besser sei als in anderen Regionen.60 Das war ein Zeichen der Anerkennung an die Editionen der Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz, das allerdings nicht von ungefähr kam. Denn der Verfasser der Dissertation war Paul Albert Volkmer aus Habelschwerdt, ein Sohn des Grafschafter Geschichtsforschers. Es wundert folglich nicht, dass der Verfasser die Arbeit seinem Vater, „dem Kenner und Förderer der Glatzer Geschichtsforschung“, widmete.61 Mit dem Primat der Urkunden fand auch die Geschichte spezifischer historischer Vereine über die Ortschroniken hinaus Aufmerksamkeit, genauer gesagt, diejenige der Schützengilden in Habelschwerdt, Glatz und Reinerz.62

4. Methoden Der methodische Fortschritt lag eindeutig auf dem Feld der Diplomatik. Hauptamtliche Historiker aus Universität und Staatsarchiv in Breslau setzten seit den 1850er Jahren Maßstäbe, indem sie neues Quellenmaterial publizierten. Im Zentrum stand die Edition von Urkunden und Chroniken. Mit einem Aufsatz über die Edition der Chronik der Augustiner Chorherren in Glatz trat Wilhelm Wattenbach in seiner Zeit als ­Breslauer Universitätsarchivar hervor.63 Von Colmar Grünhagen (1828–1911) wegen seiner „sichern kritischen Forschung“ gerühmt,64 ist Wattenbachs harsche Kritik an der Darstellung der Grafschafter Geschichte von Eduard Ludwig Wedekind (1804–1861) bezeichnend, die die Anfänge einer professionellen Beschäftigung mit der örtlichen Landesgeschichte markiert.65 Wedekind hatte vielfach nur von Kögler und Bach abgeschrieben und zudem ein Werk mit zahlreichen Druckfehlern vorgelegt. Wattenbach attestierte dem in Crossen an der Oder lebenden Geschichtsschreiber 1858, man habe es „hier lediglich mit einer sehr oberflächlichen Compilation zu thun, einem Produkt der gewöhnlichsten Büchermacherei“.66 Auch andere Fachleute monierten diese Art von Geschichtsschreibung. Richard Roepell etwa, der sich ausdrücklich als Schüler 60 Ebd., 6. 61 Ebd., 3. 62 ������������������������������������������������������������������������������������������� Hohaus, Wilhelm: Kurze Geschichte der Reinerzer Schützengilde in älterer Zeit. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 4 (1884/85) 58–72; ders.: Chronik der Schützengilde zu Glatz. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 5 (1885/86) 58–67, 167–177; Volkmer: Geschichte der Schützengilde zu Habelschwerdt. 63 Wattenbach, Wilhelm: Die Chronik der Augustiner-Chorherren zu Glatz. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 3 (1860) 33–43. 64 Grünhagen, Colmar: Wattenbach in Breslau, 349. 65 Wedekind, E[duard] L[udwig]: Geschichte der Grafschaft Glatz. Neurode 1857 [ND Osnabrück 1979]. 66 Wattenbach, [Wilhelm]: Rezension Geschichte der Grafschaft Glatz von Dr. Eduard Ludwig Wedekind. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 2 (1858) 198– 200, hier 198.

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Leopold Rankes sah,67 bemerkte in seiner Vorstellung der handschriftlichen Chronik des Kieslingswalder Kaplans Gregor Goebel von 1705, dieser habe keine eigenständige Leistung erbracht, sondern nur die Chronik von Georg Aelurius weitgehend wörtlich abgeschrieben und dabei den von diesem gebotenen Stoff lediglich inhaltlich gerafft. Überdies habe er seinen eigenen konfessionellen Standpunkt eingebracht, so dass man „auf Abweichungen trifft, welche eben zeigen, dass es ein katholischer Kaplan ist, der das Werk des lutherischen Prädikanten ausschreibt“.68 Dass die Mahnung, auf konfessionelle Polemik zu verzichten, nicht überall auf fruchtbaren Boden fiel, zeigen die Forschungen Hugo von Wieses, der sich als Anhänger einer dezidiert borussisch-protestantischen Historiographie in Glatz exponierte. Sein 1876 in der Breslauer Vereinszeitschrift erschienener Aufsatz über „Die Belagerung von Glatz 1622“ beispielsweise verfolgte die Absicht, die überragende Bedeutung der Stadt zu unterstreichen, die sich als letzte dem katholischen Kaiser unterworfen habe. „Die Vertheidigung klar zu legen, ist das Ziel dieser Arbeit“,69 formulierte der Verfasser durchaus parteiisch. Mag man diese Stoßrichtung mit dem historischen Kontext des Kulturkampfes in Preußen und im Deutschen Reich erklären, so irritiert es gleichwohl, dass Wiese auch noch in seiner 1896 erschienenen Monographie Der Kampf um Glatz den eigenen, protestantischen Standpunkt offen zur Schau stellte. Mit seiner Darstellung der Vorgänge im Dreißigjährigen Krieg wolle er dem Leser nicht nur zeigen, wie die evangelische Grafschaft wieder katholisch geworden sei, er wolle ihm auch die Erinnerung an die Väter wachrufen, welche „einst so heldenmütig für ihren Glauben gegen eine gewaltige Überlegenheit“ gekämpft hätten.70 Dass die Geschichte der Region trotz unübersehbar konfessioneller Prägung auch weniger apologetisch geschrieben werden konnte, beweist das nachgelassene Manuskript von Alois Bach über die Herrschaft des preußischen Generals De la Motte ­Fouqué in der Grafschaft Glatz. Volkmer beförderte es 1885 nachträglich vor allem deshalb zum Druck, weil der Verfasser ein „besonnener, unpartheiischer Historiker“ sei, der „eine sine ira et studio entworfene, streng objective Darstellung“ angestrebt habe.71 Wie sich die Erziehung der allein Quellenstudien akzeptierenden Forschung und die Verbreitung der historisch-kritischen Methode auf lokalgeschichtliche Arbeiten schon nach wenigen Jahren auswirkte, belegt ein Aufsatz von Max Perlbach (1848–1921) in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens von 1868. Der aus Breslau gebürtige, unterdessen als Bibliotheksdirektor in Berlin tätige Verfasser72 ur67 Priebatsch: Richard Roepell, 165. 68 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Roepell, [Richard]: J. Gregor Göbels handschriftliche Glätzer Chronik. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 2 (1859) 418–421, hier 419. 69 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Wiese, Hugo von: Die Belagerung von Glatz. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 13 (1876) 113–150, hier 113. 70 Ders.: Der Kampf um Glatz, 80. 71 Volkmer, Franz: Vorwort. In: Bach: Die Grafschaft Glatz, unpag. 72 Mentzel-Reuters, Arno: Max Perlbach als Geschichtsforscher. In: Preußenland 45 (2007) 39–53; Rüther, Andreas: Borussische Geschichtsforschung zu Schlesien: Colmar Grünhagen (1828–

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teilte über seinen Untersuchungsgegenstand, die Geschichte des Hummelschlosses bei Bad Reinerz, es sei „alles, was von einigen Schriftstellern wie [Georg] Aelurius, [ Johann Gottlieb] Kahlo, [ Johann Joseph] Dittrich über dasselbe berichtet wird, unbedingt ins Reich der Fabel zu verweisen“.73 Dass er Colmar Grünhagen und Hermann Markgraf (1838–1906) explizit dankte, lässt erkennen, in welchem Maße ihn Breslauer Fachhistoriker bei seinen Forschungen unterstützt hatten. Dass eine strenge Quellenarbeit unabdingbar war, wurde allgemein akzeptiert. Als Vorbild dienten dabei die in Breslau oder Prag entstandenen Editionen. So nutzte der Theologiestudent Augustin Nürnberger beispielsweise nicht nur eine Edition erzbischöflicher Urkunden aus Prag für einen Aufsatz über die Geschichte der Grafschaft in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, er ließ seine Leser zugleich wissen, damit sei „auch für die weitere Bearbeitung der Geschichte der Grafschaft Glatz eine Menge historischen Stoffes gegeben“.74 Zum Standardwerk wurden die von Volkmer und Hohaus zwischen 1883 und 1891 in fünf Bänden edierten Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz.75 Volkmer hatte im Vorfeld die für ihn erreichbaren Archive gewissenhaft nach einschlägigen Quellen durchsucht. Das war in einer Zeit, in der „alle Archive, öffentliche und private, mehr und mehr sich öffnen“,76 wie Grünhagen 1878 treffend auf den Punkt brachte, kein Privileg mehr, aber doch eine Kärrnerarbeit. Obligatorisch wurde es zudem, das örtliche Pfarrarchiv nach handschriftlichen Aufzeichnungen früherer Pfarrer, alten Kirchenrechnungen und Urkunden zu durchsuchen. Einer solchen Aufgabe unterzog sich Maximilian Tschitschke für seine Pfarreigeschichte von Rosenthal ebenso wie Emanuel Zimmer für seine Darstellung des Wallfahrtsortes Albendorf, für die er neben dem ­Pfarrarchiv auch das Dekanatsarchiv sowie staatliche Sammlungen vor Ort herangezogen hatte.77 Der Vorläufer, eine von Isidor Dionis Hatscher 1858 im Selbstverlag publizierte Geschichte und Beschreibung des Wallfahrtsortes Albendorf, 78 hatte noch stark chronikalischen Charakter aufgewiesen: Die Kapitelgliederung erfolgte hier nach Jahrhunderten, die wenigen Fußnoten waren mit bloßen Sternchen oder Doppelsternchen unter dem 1911) – Werdegang, Schuleinflüsse und Wirkungskreise. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 217–254, hier 243. 73 Perlbach, Max: Reinerz und die Burg Landfried (Hummelsburg) bis zum Jahre 1471. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1868/69) 270–293, hier 271. 74 Nürnberger, Augustin: Beiträge zur Geschichte der Grafschaft Glatz in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 13 (1877) 507–521, hier 507. 75 ������������������������������������������������������������������������������������������ Volkmer, Franz/Hohaus, Wilhelm (Hg.): Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz, Bd. 1–5. Habelschwerdt 1883–1891. Band 6 erschien erst nach längerer Unterbrechung im Jahr 1927. 76 Grünhagen, Colmar: Joseph Kutzen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 14 (1878) 248–253, hier 250. 77 Webersinn: Der Pfarrer von Albendorf Emanuel Zimmer, 170. 78 ������������������������������������������������������������������������������������������� Hatscher, I[sidor] D[ionis]: Geschichte und Beschreibung des Wallfahrtsortes Albendorf [Innentitel: Der Wallfahrtsort Albendorf. Sein Entstehen und sein Fortbestand]. Albendorf 1858 [²1870, ³1888].

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jeweiligen Text gekennzeichnet. Benutzte Akten wurden lediglich einmal und überdies ohne nähere Spezifizierung angegeben. Unausgereift war in dieser Hinsicht auch die Habelschwerdter Stadtgeschichte des örtlichen Stadtsekretärs Joseph Thamm von 1843; der Autor, so Volkmer, sei zwar ein „fleißiger Chronist“, habe sich aber zur Gänze „ungeprüft auf handschriftliche Quellen eines Bürgermeisters verlassen“; dieses Vorgehen habe „mehrfache Ungenauigkeiten und Unrichtigkeiten“ zur Folge gehabt.79 Das Postulat, benutzte Quellen müssten überprüfbar seien, stand auch Joseph ­Müller (1782–1848) bei seiner kirchen- und kunstgeschichtlichen Darstellung der Glatzer Stadtpfarrkirche von 1842 vor Augen. In diesem Fall begnügte sich der Verfasser noch mit einer einzigen Fußnote, in der er allgemein mitteilte, die Informationen seien „aus den besten alten und neuen Quellen geschöpft und durch eigne und anderer Erfahrungen und Anschauungen vollendet worden“.80 Dies erklärt auch, warum in den landesgeschichtlichen Periodika regelmäßig Ergänzungen und Nachträge zu einzelnen Veröffentlichungen abgedruckt wurden; sie erfolgten in der Regel dann, wenn neue Quellen entdeckt worden waren. Die besondere Wertschätzung der Quellen seit der Ägide Volkmers wird auch ­daran deutlich, dass selbst lokalgeschichtliche Darstellungen, die sich an ein breiteres Publikum wandten, einen Quellenanhang enthielten. In Volkmers Geschichte der Habelschwerdter Schützengilde dominiert der Anhang mit Abdruck der Statuten aus verschiedenen Jahrzehnten mit 66 Seiten klar gegenüber dem Darstellungsteil, der nur auf 54 Seiten kommt. Der Verfasser hatte im Magistratsarchiv seines Wohnorts Habelschwerdt die erste Erwähnung der Gilde in einer Stadtrechnung von 1569 nachweisen können.81 Weitere Archive der Grafschaft bis hin zum Staatsarchiv in Breslau durchsuchte er mit beachtlichem Eifer nach Grafschafter Spuren – erklärtermaßen in der Absicht, „in rein objektiver Weise Quellenmaterial [zu] sammeln.“82 Volkmer transkribierte und veröffentlichte zahlreiche Quellen, die er darüber hinaus als Grundlage für seine zahlreichen Publikationen nutzte. Sicherlich auch mit Blick auf das Lesepublikum wurden historische Abhandlungen dennoch weiterhin oft im Chronikstil gestaltet. Der Stoff wurde mithin als zeitliche Abfolge von Daten und damit verbundenen Ereignissen gegliedert. Volkmer zum Beispiel regte eine Fortführung der Habelschwerdter Geschehnisse in einer städtischen Chronik an; eigene Vorarbeiten dazu publizierte er in der Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz. Diese enthielt Jahr für Jahr eine Chronik der Graf79 Volkmer, Franz: Occupationen der Stadt Habelschwerdt durch die Schweden während des 30jährigen Krieges. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 16 (1882) 120–136, hier 120. 80 [Müller, Joseph]: Die Pfarrkirche U. L. Frauen zu Glatz, ihr uraltes wunderthätiges Marienbild und dessen vorzüglicher Verehrer Ernest, erster Erzbischof von Prag nach zuverlässigen Nachrichten von 1194 bis 1842. Glatz [1842], 9. 81 Volkmer: Geschichte der Schützengilde zu Habelschwerdt, 11. 82 ������������������������������������������������������������������������������������������ Scholz, Edmund: Vorrede. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 1 (1881/82) II.

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schaft, unterteilt in die Rubriken: Tagesereignisse (mit den Unterpunkten Militärisches, Landwirtschaftliches und Naturereignisse), Literarisches, Kunst, Konzerte, Vorträge, Unglücksfälle, Feuer, Grobe Verbrechen, Verschiedenes, Selbstmorde sowie Personalia (mit den Unterpunkten Auszeichnungen, Beförderungen, Veränderungen in Elementarschulen, Besuche und Totenschau).83

5. Zusammenfassung Der für die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg von dem Trierer Historiker Lutz Raphael konstatierte „Professionalisierungsschub von Geschichtsschreibung und -forschung“84 machte vor den Toren der Grafschaft Glatz nicht Halt. Trotz der Abgelegenenheit und des Fehlens einer Anbindung an die universitäre Forschung ist für den Untersuchungszeitraum eine erstaunliche Publikationsfülle zu verzeichnen, die zum größten Teil von Adepten der quellenkritischen Methode stammt. Gängige Themen der schlesischen Geschichte wie die Hussitenkriege, der Dreißigjährige Krieg oder die Schlesischen Kriege und nicht zuletzt die Franzosenzeit wurden schwerpunktmäßig auch in der Grafschaft Glatz aufgegriffen und auf Basis einer möglichst exakten und genauen Quellenrecherche ausgebreitet. Geistliche und Lehrer sowie andere Beamte, die in der Regel ihr Studium in Breslau absolviert hatten, fungierten als Transporteure dieses aktenpositivistischen Zugangs und trugen durch Veröffentlichungen zur Stadt- und Kirchengeschichte, die sich in der Regel an ein breiteres Lesepublikum wandten, zu einer Popularisierung der Geschichtsforschung bei. Vielfach bezogen sich die Publikationen auf eine möglichst detailgetreue Wiedergabe beziehungsweise Edition von Quellen. Anderen Veröffentlichungen wiederum war ein annalistischer Stil eigen. Durch eine eigene regionalgeschichtliche Zeitschrift mit wissenschaftlichem Anspruch erhielt die Geschichtsforschung in der Grafschaft in den 1880er Jahren einen besonderen Impetus, auch wenn das Organ nur ein Jahrzehnt lang erschien. Durch die indirekte Anbindung der Forschung an das Lehrerseminar in Habelschwerdt wurde diese Bildungseinrichtung zeitweilig zum Kristallisationspunkt der Glatzer Historiographie; zugleich konnte auf diese Weise das Anliegen regionalgeschichtlicher Forschung in die Lehrerausbildung hineingetragen werden. Im zeitlichen Längsschnitt fällt auf, dass die Zahl der Akteure in der Grafschafter Geschichtswissenschaft zum einen erst durch Input von außen (Wattenbach und ­Roepell) angeschoben wurde und zum anderen – von Ausnahmen abgesehen – eine eher punktuelle Aktivität zu verzeichnen war. Das heißt konkret, dass Autoren mit wis83 In der Regel nahm die Chronik gut zwanzig Seiten ein. Vgl. exemplarisch Vogt, Hugo: Chronik der Grafschaft Glatz für das Jahr 1888. In: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatskunde der Grafschaft Glatz 8 (1888/89) 347–369. 84 ������������������������������������������������������������������������������������������� Raphael, Lutz: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart. München 2003, 66.

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senschaftlicher Akribie bei der Erstellung einer Chronik oder ihrer Dissertation hervortraten, dann aber bedingt durch berufliche Belastung oder Weggang kein weiteres Engagement mehr für die Geschichtsforschung zur Grafschaft Glatz zeigten. Eine Ausnahme stellt dabei Franz Volkmer dar, der über Jahrzehnte hinweg eine feste Größe im historiographischen Betrieb blieb. Signifikante Veränderungen sind bis zum Kriegsbeginn 1914 nicht erkennbar. Geschichtsforschung und auch Geschichtsrezeption blieben auf der regionalen Ebene der Grafschaft Glatz ein doch eher elitäres Unterfangen, das sich aber gerade zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg hinsichtlich der Themenschwerpunkte und vor allem der Methodik als innovativ erwies. Nach Anstößen aus Breslau wurde Geschichtsschreibung in der Grafschaft Glatz nahezu ausschließlich von nebenamtlichen Historikern vor Ort betrieben, deren fachliches Selbstverständnis sich dem professionellen Wissenschaftler von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr annäherte.

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Selbstverschuldeter oder fremdverschuldeter Niedergang? Der Blick der schle­sischen Historiographie auf die Geschichte des Nachbarlandes Polen vor 1914 1. Einleitung Für die geschichtsbewusste polnische Öffentlichkeit stellte die Öffnung des Sar­kophags von König Kasimir III., dem Großen, im Krakauer Wawel Anfang Juni 1869 ein bedeutendes Ereignis dar1 – so bedeutend immerhin, dass der deutsch-jüdische Historiker Jacob Caro (1835–1904) bei einem polnischen Kollegen, dem Mediävisten Alek­sander Graf Przezdziecki (1814–1871),2 brieflich anfragte, ob er eine photographische ­Ansicht des Ereignisses erhalten könne.3 Zugleich musste Caro, der in eben jenen Wochen zum Honorarprofessor an der Universität Breslau berufen wurde,4 Przezdziecki gegenüber einräumen, dass die Krakauer Kasimir-Feier in der deutschen Presse kaum Re­sonanz gefunden hatte – dies sei „wenig Ermutigung für einen Deutschen, der sich die Geschichte Polens zur Lebensaufgabe“ gemacht habe.5

1 Zu den großangelegten Krakauer Feierlichkeiten des Sommers 1869 vgl. Buszko, Józef: Uroczystości Kazimierzowskie na Wawelu w roku 1869. Kraków 1970. 2 Biernacki, Andrzej: Art. Przezdziecki Aleksander Narcyz Karol. In: Polski Słownik Biograficzny 29 (1986) 45–51. Zu Caros Korrespondenz mit Przezdziecki, der in Warschau eine eigene öffentliche Bibliothek besaß, vgl. Ergetowski, Ryszard: Związki J. Caro z polskimi uczonymi w latach 1862–1902. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 42 (1987) 17–40, hier 25–28; Widawska, Barbara: Richard Roepell (1808–1893) und Jacob Caro (1836–1904) als deutsch-polnische Kulturvermittler. Zu Ihrem Briefwechsel mit polnischen Gelehrten. In: Brandt, Marion (Hg.): Solidarität mit Polen. Zur Geschichte und Gegenwart der deutschen Polenfreundschaft. Frankfurt a. M. 2013 (Colloquia Baltica 25), 125–146, hier 136. 3 Jacob Caro an Aleksander Przezdziecki, Schandau 24. Juni 1869. Abgedruckt bei Ergetowski, Ryszard (Hg.): Listy Jacoba Caro do uczonych polskich (1862–1902) – Briefe von Jacob Caro an polnische Gelehrten [sic] (1862–1902). Warszawa 2005 (Rozprawy z dziejów nauki i techniki 16), 62f., hier 63. 4 Gehrke, Roland: Die Berufung von Historikern an die Universität Breslau (1848–1914). Auswahlkriterien, Durchsetzung, Personalfluktuation. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert. Wien/ Köln/Weimar 2019 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 28), 93–127, hier 112; Kalinowska-Wójcik, Barbara: Jüdische Geschichtsforscher im Schlesien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Jacob Caro (1835–1904), Markus Brann (1849–1920) und Ezechiel Zivier (1868– 1925). Ebd., 331–365, hier 337f. 5 Jacob Caro an Aleksander Przezdziecki, Schandau 13. Juli 1869. Abgedruckt bei Ergetowski (Hg.): Listy Jacoba Caro, 64f., hier 64.

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Dass die historische Beschäftigung mit dem östlichen Nachbarland in Deutschland offenbar auch gut dreißig Jahre später noch immer den Rang eines randständigen Orchideenfachs besaß, erhellt aus einem Schreiben, in dem derselbe Jacob Caro, an der Universität Breslau mittlerweile längst Ordinarius, sei­nem Adressaten Zygmunt Celichowski (1845–1923),6 Bibliothekar im großpolnischen Kurnik, im Juni 1902 sein Leid klagte: „Die beiden öffentlichen Bibliotheken hier haben für ihre slavischen Abteilungen nur den allergeringfügigsten Teil ihres Etats übrig, und der Buchhan­del ist mit solchen Schwierigkeiten und Langwierigkeiten beim Bücherbezug aus dem Osten behaftet, daß man aus Australien eher und leichter ein Buch er­hält, als ein polnisches oder gar ein russisches.“7 Hierzu passend schilderte Caro, im November des Jahres und diesmal gegenüber dem gleichfalls aus einer jüdischen Familie stammenden Warschauer Juristen und Historiker Aleksander Kraushar (1842–1931),8 die Resonanz auf einen Vortrag über den polni­schen Humanisten Andrzej Frycz Modrzewski (1503–1572), den er selbst unlängst in Breslau vor dem Verein für Geschichte Schlesiens gehalten hatte:9 „Ich hätte gewünscht, Zuhörer zu haben, die etwas von Polonica’s verste­hen. Aber das ist mein Loos. Beim Ordnen meiner Briefe fiel mir dieser Tage ein Brief von Zeissberg in die Hand. Darin steht: ,der Betrieb der Geschichte Polens isolirt...‘“10 Als wie wenig karriereförderlich er diesen „Betrieb“ aus der Rückschau tatsächlich erachtete, hatte Caro bereits ein Jahr zuvor, wiederum in einem Schreiben an Kraushar, voller Bitterkeit und Sarkasmus deutlich gemacht: „Ich feiere in diesen Tagen das 40jährige Jubiläum meines Verhängnisses der Beschäftigung mit der polnischen Geschichte.“11

16 Bodniak, Stanisław: Art. Celichowski Zygmunt. In: In: Polski Słownik Biograficzny 3 (1937) 221–222. Vgl. Ergetowski: Związki J. Caro z polskimi uczonymi, 24f. 17 Jacob Caro an Zygmunt Celichowski, Breslau 7. Juni 1902. Abgedruckt bei Ergetowski (Hg.): Listy Jacoba Caro, 124–126, hier 126. 18 Zu Kraushar, der nach Abschluss seines Studiums 1867 seinen Lebensunterhalt als Advokat in Warschau bestritt, seinen ausgedehnten Archivreisen aber auch mehrere Veröffentlichungen zur polnischen Geschichte vornehmlich des 18. Jahrhunderts folgen ließ und 1895 vom Judentum zum Katholizismus konvertierte, vgl. Maternicki, Jerzy: Art. Kraushar Aleksander. In: Polski Słownik Biograficzny 15 (1970) 241–244. Zu Kraushars Korrespondenz mit Caro vgl. Ergetowski: Związki J. Caro z polskimi uczonymi, 28–30. 19 Ergetowski, Ryszard: Naukowa i dydaktyczna działalność Jacoba Caro. In: Śląski Kwartalnik ­Historyczny Sobótka 57 (2002) 345–356, hier 351f. Die geplante Studie über Modrzewski wurde von Caro nicht abgeschlossen. 10 Jacob Caro an Aleksander Kraushar, Breslau 15. November 1902. Abgedruckt bei Ergetowski (Hg.): Listy Jacoba Caro, 127–129, hier 128f. Caro bezieht sich hier auf den verstorbenen Wiener Historiker und Bibliothekar Heinrich von Zeißberg (1839–1899), der mehrere Arbeiten zur mittelalterlichen Geschichte Polens publiziert hatte. 11 ������������������������������������������������������������������������������������������� Jacob Caro an Aleksander Kraushar, Breslau 19. November 1901. Ebd., 120–122, hier 122. Dieser Briefpassus Caros wird auch selbst wiedergegeben von Kraushar, Alexander: Jakób Caro jako historyk dziejów Polski. Przyczynek do charakterystyki. Warszawa 1918, 3.

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Tatsächlich erfolgte die Institutionalisierung der wissenschaftlichen Be­schäftigung mit Ostmittel- und Osteuropa in Deutschland erst vergleichsweise spät. Der erste Lehrstuhl mit einer entsprechenden Denomination wurde (nebst einem Seminar für osteuropäische Geschichte und Landeskunde) 1902 an der Universität Berlin eingerichtet, dessen erster Inhaber, der Deutschbalte Theo­dor Schiemann (1847–1921), indes fast ausschließlich zu Russland forschte und lehrte.12 Bemerkenswert dabei ist, dass Caro in einem an den Berliner Ordinarius und Herausgeber der Preußischen Jahrbücher, Hans Delbrück (1848–1929), gerichteten Schreiben seinen Protest gegen die Berufung des allgemein als slawophob bekannten Schiemann unter anderem mit dem Argument begründete, dieser sei der Geschichte Polens weitgehend unkundig: „Mir ist mehr als unwahrscheinlich, daß irgendein namhafter russischer oder ein polnischer Gelehrter mit mir nicht übereinstimmen würde, wenn ich das Werk des H[e]r[rn] S[chiemann] für eine mittelmäßige Compilation erklären würde, die auch nicht für einen einzigen wichtigen Punkt eine wissenschaftliche Lösung beibringt [...]. Insbesondere ist der die polnische Gesch[ichte] betreffende Teil unter dem Mittelmaß u[nd] ob der Verf[asser] damals mindestens die poln[ische] Sprache beherrschte, möchte ich kaum zu bejahen wagen. Eher hätte ich den Mut zum Gegenteil.“13 Expli­zite Polen-Lehrstühle gab es vor 1914 jedenfalls gar nicht. Dieser Befund steht freilich in keinem Widerspruch zu der Tatsache, dass im Rahmen der allgemeinen Geschichte die historiographische Beschäftigung mit Polen schon bedeutend früher eingesetzt hatte. Der vorstehend zitierte Historiker Jacob Caro ist hierfür ein prominentes, wenngleich keineswegs das früheste Beispiel. Mit ihm gerät die zeitgenössisch kaum hundert Kilometer von der Grenze Russisch-Polens entfernt gelegene Universität Breslau in den Fokus, die traditionell vielfältige Beziehungen zur wichtigsten polnischen Geistesschmiede, der traditionsreichen Krakauer Jagiellonen-Universität, unterhielt. Auf der Ebene der Philosophischen Fakultät äußert sich dies etwa in der Einladung Caros – wie auch seines Breslauer Historikerkollegen Richard Roepell (1808–1893) sowie des dortigen Slawisten Władysław Nehring (1830–1909) – nach Krakau zum ­ersten gesamtpolnischen Historikertag 1880 oder in Caros und Roepells Aufnahme in die Krakauer Akademie der Wissenschaften nur ein Jahr später.14 Auch der 500-Jahr-

12 Voigt, Gerd: Rußland in der deutschen Geschichtsschreibung 1843–1945. Berlin 1994 (Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas 30), 89f. Vgl. Meyer, Klaus: Theodor Schiemann und die russische Geschichte. In: Zeitschrift für Ostforschung 28 (1979) 588–601; Chickering, Roger: Nachklänge. Der Ort der osteuropäischen Geschichte in der deutschen Geschichtswissenschaft um 1900. In: Dahlmann, Dittmar (Hg.): Hundert Jahre Osteuropäischer Geschichte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Stuttgart 2005 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 68), 11–19. 13 Jacob Caro an Hans Delbrück, o. O. 25. Februar 1902. Abgedruckt bei Voigt: Rußland, 338f., hier 338. 14 Gerlich, Hubert: Organische Arbeit und nationale Einheit. Polen und Deutschland (1830– 1880) aus der Sicht Richard Roepells. Münster 2004 (Arbeiten zur Geschichte Osteuropas 13),

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Feier der Jagiellonen-Universität im Jahr 1900 wohnte Caro, vier Jahre vor seinem Tod, noch bei.15 Zugleich bildete die Breslauer Alma Mater einen Anziehungspunkt für Studenten längst nicht nur aus Preußisch Polen, sondern ebenso aus dem russischen und dem österreichischen Teilgebiet – wie der hier zwischen 1836 und 1886, also für immerhin ein halbes Jahrhundert, existierende und vornehmlich von polnischen Studenten getragene „Literarisch-Slawische Verein“ (Towarzystwo Literacko-Słowiańskie) bezeugt.16 Im Folgenden soll also nach den Motiven und den Triebkräften des In­te­resses schlesischer beziehungsweise in Schlesien tätiger Historiker an Polen sowie nach deren spezifischen Themensetzungen gefragt werden. Nach einer knappen Beleuchtung der Ursprünge dieses Interesses im Kontext deutscher Mittelalter- und Preußenforschung während der ersten Jahrhunderthälfte werden dabei vor allem Roepell und Caro als die beiden maßgeblichen Breslauer Polenhistoriker des 19. Jahrhunderts und als „deutschpolnische Vermittlerfiguren des kulturellen Transfers“17 im Fokus der Betrachtung ­stehen. Wenn, wie vorstehend angedeutet, am Beginn der schlesischen historiographischen Beschäftigung mit Polen überwiegend Themen der Mediävistik standen, so lud doch ge­rade die polnische Geschichte dazu ein, in ihr nach längeren, epochenübergrei­fenden Unheils-Kontinuitäten zu suchen und die Ursprünge jener vermeintlich fundamentalen Fehlentwicklung, die am Ende des 18. Jahrhunderts zur Aus­löschung der polnischen Staatlichkeit geführt hatte, gegebenenfalls schon im ausgehenden Mittelalter zu verorten. Die schlesischen Polenhistoriker schalteten sich damit in einen Diskurs ein, der unter Polens Eliten selbst am erbittertsten geführt wurde: den Streit um die Selbstoder die Fremdverschuldung des staatlichen Niedergangs Polen-Litauens in der Frühen Neuzeit – oder in anderen Worten: die Rivalität zwischen „Pes­simisten“ und „Optimisten“. Unter dieser Prämisse scheint es unumgäng­lich, im Folgenden auch einen wenigstens kursorischen Abriss der wesentlichen Entwick­lungslinien und Leitdiskurse der polnischen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert zu geben.



191; Ergetowski: Związki J. Caro z polskimi uczonymi, 18f.; Widawska: Richard Roepell und Jacob Caro, 143. 15 Ergetowski (Hg.): Listy Jacoba Caro, 47. 16 Achremowicz, Elżbieta/Żabski, Tadeusz: Towarzystwo Literacko-Słowiańskie we Wrocławiu 1836–1886. Wrocław u. a. 1973 (Biblioteka Wrocławaka 15); Pater, Mieczysław: Historia Uniwersytetu Wrocławskiego do roku 1918. Wrocław 1997 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1945), 230–234 (zu weiteren studentischen Zusammenschlüssen mit polnischem Hintergrund an der Universität Breslau vgl. ebd., 249–260); Jaworski, Paweł: Der „Literarisch-Slawische Verein“ in Breslau (1836–1886) als historische Gesellschaft. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 183–198. 17 Widawska: Richard Roepell und Jacob Caro, 126.

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2. „Deutsche Ostbewegung“ und preußische Großmachtbildung als Ausgangspunkte: Erste Wege schlesischer Historiker zur Geschichte Polens Dass die schlesische Haupt- und Universitätsstadt Breslau im Rahmen der frühen Beschäftigung der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft mit dem polnischen Nachbarn eine wesentliche Rolle spielte, ist freilich nicht nur der Geographie geschuldet, sondern überhaupt dem Umstand, dass das Interesse an der Geschichte Polens zwangsläufig über das Interesse an der Geschichte des preußischen Staates führte, dessen machtpolitischer Aufstieg ohne eine Berücksichtigung der polnischen Verhältnisse kaum sinnvoll beschreibbar war. Caro war sich dieses Zusammenhangs stets bewusst, wie aus einem Schreiben erhellt, das er im Frühjahr 1899 an den leitenden Berliner Kultusbeamten Friedrich Althoff (1839–1908) richtete: „In dem Kapitel von den Polen aber habe ich noch als ein handgreifliches Moment etwas anzuführen, was meinem Berufe am nächsten liegt. Nämlich: Ein Drittel der Geschichte des BrandenburgischPreußischen Staates ist Polnische Geschichte, gut ein Drittel, wenn nicht mehr. Wie viel Schiefes, Verkehrtes, Unhaltbares aber in unserer vaterländischen Geschichte [...] sich von Buch zu Buch, von Katheder zu Katheder durch den Ausschluß der Rücksicht hierauf, fortschleppen, kann nur derjenige bemessen, der lange u[nd] andauernd in Unbefangenheit sich mit dem Gegenstande beschäftigt hat.“18 Die historiographische Tradition, in die sich der Breslauer Ordinarius Caro damit stellte, reichte freilich weiter zurück, auch und gerade an seiner eigenen Alma Mater. Beschäftigt man sich ganz allgemein mit der Genese einer modernen, methodengeleiteten Geschichtswissenschaft in Schlesien, so stößt man unweigerlich auf den Namen Gustav Adolf Harald Stenzel (1792–1854)19 – und dies gilt auch und gerade für den historiographischen Blick nach Osten. „Mit Stenzel“, so die Formulierung Wolfgang Neugebauers, „setzt in Breslau eine Tradition ein, die die polnisch-ostmitteleuropäische Komponente in der Geschichte betonte, auch in der Ge­schichte Preußens“.20

18 Jacob Caro an Friedrich Althoff, o. O. 27. Mai 1899. Abgedruckt bei Voigt: Rußland, 323–326, hier 325. 19 �������������������������������������������������������������������������������������������� Eine aktuelle Skizze bietet Schmilewski, Ulrich: Neue Forschungsmethode, neue Organisationsstrukturen: Zur wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit des Historikers Gustav Adolf Harald Stenzel (1792–1854) an der Universität Breslau. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 159–171. Aus der älteren Literatur vgl. Rachfahl, Felix: Gustav Adolf Harald Stenzel. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 11 (1898) 1–31; ders.: Gustav Adolf Harald Stenzel. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 19. Jahrhunderts. Sigmaringen 21985 [Breslau 11922] (Schlesische Lebensbilder 1), 298–305; Stenzel, Karl Gustav Wilhelm: Gustav Adolf Harald Stenzels Leben. Gotha 1897; Markgraf, H[ermann]: Gustav Adolf Harald Stenzel’s Wirksamkeit und Bedeutung für die schlesische Geschichtsschreibung. Vortrag zur Erinnerung an seinen hundertjährigen Geburtstag. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesien 26 (1892) 395–417. 20 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Neugebauer, Wolfgang: Preußische Geschichte als gesellschaftliche Veranstaltung. Historiographie vom Mittelalter bis zum Jahr 2000. Paderborn 2018, 174.

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Nach späterer Mitteilung von Stenzels Sohn und Biograph Karl Gustav Wil­helm Stenzel (1826–1905) hatte Stenzel senior bereits als Leipziger Student im Rahmen eines Preisausschreibens der dortigen Societas Jablonoviana eine – leider nicht erhaltene – kleine Schrift Über den Einfluß der deutschen auf die polnische Kultur von Einführung des Christentums bis zum Tode Wladislaus Jagello verfasst, für die er als einer von zwei Einsendern 1815 mit einer Goldmedaille ausgezeichnet worden war.21 1820 als Professor an die Universität Breslau berufen und nur wenig später auch zum dortigen Provin­zialarchivar bestellt, ist Stenzel als Quelleneditor – zu nennen ist hier unter anderem seine großangelegte, 1832 gemeinsam mit dem Berliner Archivar Gustav Adolf (von) Tzschoppe (1794–1842) herausgebrachte Urkundensammlung zu den deutschrechtlichen Stadtgründungs- und Siedlungs­prozessen in Schlesien22 – ebenso hervorgetreten wie als Autor. Seine fünf Bände einer Geschichte Preußens, publiziert in der von Friedrich Au­g ust Ukert (1780–1851) und Arnold Hermann Ludwig Heeren (1760– 1842) begründeten, bei Perthes in Hamburg beziehungsweise Gotha verlegten Reihe „Geschichte der europäischen Staaten“, reichen vom späten 12. Jahrhundert bis zum Hubertus­burger Frieden 1763 – wobei allein der erste Band den gewaltigen Zeitraum bis zum Herrschaftsantritt Kurfürst Friedrich Wilhelms von Brandenburg abdeckte.23 Dass die besagte Perthes-Reihe zur europäischen Staatengeschichte noch weit über Stenzels Tod hinaus das maßgebliche Forum für die Beschäftigung Breslauer Historiker mit Ostmitteleu­ropa bleiben sollte, wird noch zu zeigen sein. Kann man Stenzel selbst auch nicht unmittelbar als „Polenhistoriker“ ansprechen, so widmete er doch immerhin gleich die ersten vier Kapitel des ersten Bandes seiner Preußengeschichte den slawischen Völkerschaften als den „älteste[n] Bewohner[n]“ des Landes.24 Hier sowie in den auf das 17. und 18. Jahrhundert bezogenen Folgebänden fügte er auch immer wieder Abschnitte ein, die sich nicht nur mit der preußisch-polnischen Konfliktgeschichte (die Ordenskriege dabei, wie zu erwarten, an prominenter Stelle) beschäftigten, sondern auch die strukturellen Verhältnisse Polen-Litauens in Spätmittelalter und Früher Neuzeit beleuchteten. Anders als später Caro stellte Stenzel die polnische Komponente jedoch in einen scharfen Kontrast zur Aufstiegsgeschichte Brandenburg-Preußens – eines Staates, der sich „nicht durch eine dem natürlichen Gange überlassene Entwickelung“ gebildet habe: „Es war vielmehr eine äusserst künstliche und sehr zusammengesetzte, auf tiefe Berechnung gegründete Maschine, in der alle Theile genau in einander griffen“.25 21 Stenzel: Gustav Adolf Harald Stenzels Leben, 25f. 22 ������������������������������������������������������������������������������������ Tzschoppe, Gustav Adolf/Stenzel, Gustav Adolf Harald (Hg.): Urkundensammlung zur Geschichte der Städte und der Einführung und Verbreitung deutscher Kolonisten und Rechte in Schlesien und der Oberlausitz. Hamburg 1832. 23 Stenzel, Gustav Adolf Harald: Geschichte des preussischen Staats, Thl. 1: Vom Jahre 1191 bis 1640, Thl. 2: Von 1640 bis 1688, Thl. 3: Von 1688 bis 1739, Thl. 4: Von 1739 bis 1756. Hamburg 1830–1851; Thl. 5: Von 1756 bis 1763. Gotha 1854. 24 Ebd., Thl. 1, 1–23. 25 Ebd., Thl. 2, 5 (Einleitung).

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Der Charakter der einzelnen Regionen der (in moderner Terminologie) Germania Slavica als „Kolonialboden“ stellte für Stenzel nicht nur das einheitsstiftende Moment im Kontext preußischer Staatswerdung dar. Vielmehr bildete er zugleich den Ausgangspunkt eines nicht nur situativen, sondern prinzipiellen und gleichsam geschichtsnotwendigen deutsch-polnischen Gegensatzes,26 den man mit Luise Schorn-Schütte als den Gegensatz zwischen einem slawisch-polnischen „Nationalprinzip“ und einem preußischen, historisch legitimierten „Territorialprinzip“ bezeichnen könnte.27 Aus dieser Perspektive heraus erschienen die sukzessive Eindeutschung großer Teile Ostmitteleuropas im Zuge der mittelalterlichen „Deutschen Ostbewegung“ sowie der Teilungsund Herrschaftsanspruch des preußischen Absolutismus gegenüber einer vermeintlich ebenso anarchischen wie rückständigen polnisch-litauischen Adelsrepublik am Ende des 18. Jahrhunderts als zwei Seiten ein und derselben Medaille. Mit dieser Sichtweise kann jedenfalls schon Stenzel als einer der geistigen Urheber dessen gel­ten, was Klaus Zernack später die „doppelte Optik“ der deutschen Geschichtsschreibung genannt hat: der Vorstellung nämlich, man könne eine „ostmitteleuropäi­sche Geschichte“ hier und eine „deutsche Geschichte in Ostmitteleuropa“ dort gleichsam getrennt voneinander betrachten.28 Gerade für seine Erforschung der letzteren war Stenzel noch bis Ende der 1960er Jahre unter Deutschlands Ostforschern ein ehrendes Angeden­ken gewiss: Während Hermann Aubin ihn dafür pries, „die deutsch-polnische Nachbarschaft für einen langen Zeitraum unter dem Gesichtspunkt der kulturellen Befruchtung des Ostens durch die Deutschen“ überblickt zu haben,29 verlieh Jo­sef Joachim Menzel ihm gar den Ehrentitel eines „Vater[s] der deutschen Ostfor­schung“, der, am Beispiel Schlesiens, erstmals „die deutsche Ostbewegung als einheitliche Gesamterscheinung zwischen Ostsee und Adria“ erfasst und beschrieben habe.30 Im Zuge der kritischen Aufarbeitung eben dieser „Ostforschung“ ha­gelte es später dann scharf akzen26 Neugebauer: Preußische Geschichte, 174–176. 27 Schorn-Schütte, Luise: Polnische Frage und deutsche Geschichtsschreibung. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 35 (1986) 72–107, hier 87f. Vgl. Hackmann, Jörg/ Lübke, Christian: Die mittelalterliche Ostsiedlung in der deutschen Geschichtswissenschaft. In: Piskorski, Jan M. (Hg.): Historiographical Approaches to Medieval Colonization of East Central Europe. A Comparative Analysis against the Background of other European Inter-Ethnic Colonization Processes in the Middle Ages. Boulder/New York 2002 (East European Monographs 611), 179–217, hier 185. 28 Zernack, Klaus: ,Deutschland und der Osten‘ als Problem der historischen Forschung in Berlin. In: Hansen, Reimer/Ribbe, Wolfgang (Hg.): Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkeiten und Institutionen. Berlin/New York 1992 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 82), 571–593, hier 579. 29 Aubin, Hermann: Gustav Adolf Stenzel und die geistige Erfassung der deutschen Ostbewegung. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 6 (1961) 48–66, hier 57, 66. 30 Menzel, Josef Joachim: Die Anfänge der kritischen Geschichtsforschung in Schlesien zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Festschrift Ludwig Petry, Tl. 2. Wiesbaden 1969 (Geschichtliche Landeskunde 5), 245–267, hier 263, 267.

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tuierte Kritik, die Stenzel am Beginn einer unheilvollen historiographischen Tradition verortete.31 Hier spiegelt sich der in den vergangenen Jahrzehnten in der Forschung ganz generell voll­zogene tiefgrei­fende Paradigmen- und auch Terminologiewechsel wieder, der aus der „deut­schen Ostkolonisation“ nunmehr den „hochmittelalterli­chen Landesausbau in der Germania slavica“ werden ließ.32 Das von preußischen Landeshistorikern wie dem Königsberger Ordinarius Johannes Voigt (1786–1863)33 und eben auch Stenzel eingeführte Ideologem eines deutschen „Kulturträgertums“ im Osten34 beeinflusste weitere schlesische Geschichtsforscher, die sich in ihren Arbeiten mit den mittelalterlichen Migrations- und Sied­lungsprozessen auseinandersetzten. Zu nennen ist hier der vormalige Breslauer Universitätsarchivar Wilhelm Wattenbach (1819–1897),35 der 1863, kurz nach seinem Wechsel als ordentlicher Professor an die Universität Heidelberg, in der Historischen Zeitschrift den Text eines Vortrags zur Germanisirung der östlichen Grenzmarken des deutschen Reiches publizierte, den er zuvor, inhaltlich gestützt unter anderem auf Stenzels und Tzschoppes Urkundensammlung, im Dezember 1862 in Heidelberg und Karlsruhe vor Publikum gehalten hatte.36 Gegenüber früheren Darstellungen zur Ostsiedlungsthematik ist der Text insofern bemerkenswert, als das Geschehen hier erstmals, losgelöst von konkreten 31 Schorn-Schütte: Polnische Frage, 88; Hackmann/Lübke: Die mittelalterliche Ostsiedlung, 186. 32 Zernack, Klaus: Der hochmittelalterliche Landesausbau als Problem der Entwicklung Ostmitteleuropas. In: ders.: Preußen – Deutschland – Polen. Aufsätze zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen. Hg. v. Wolfram Fischer und Michael G. Müller. Berlin 2001 (Historische Forschungen 44), 185–202. 33 Hatte Stenzel sich in seiner Darstellung schwerpunktmäßig auf die Geschichte der brandenburgpreußischen Großmachtbildung seit der Mitte des 17. Jahrhunderts kapriziert, so kann Voigt als der erste maßgebliche Erforscher des mittelalterlichen Preußen gelten. Vgl. Voigt, Johannes: Geschichte Preussens. Von den ältesten Zeiten bis zum Untergange der Herrschaft des Deutschen Ordens, Bd. 1–9. Königsberg 1827–1839; ders.: Geschichte des deutschen Ritter-Ordens in seinen zwölf Balleien in Deutschland, Bd. 1–2. Berlin 1857–1859. 34 ��������������������������������������������������������������������������������������� Hackmann/Lübke: Die mittelalterliche Ostsiedlung, 187f.; Hackmann, Jörg: Preußische Ursprungsmythen. Entstehung und Transformation vom 15. bis ins 20. Jahrhundert. In: Weber, Matthias (Hg.): Preußen in Ostmitteleuropa. Geschehensgeschichte und Verstehensgeschichte. München 2003 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 21), 143–171, hier 163f.; Pletzing, Christian: „Deutsche Kultur“ und „polnische Zivilisation“. Geschichtsbilder in West- und Ostpreußen zwischen Vormärz und Kulturkampf. Ebd., 189–205; Backhaus, Fritz: „Das größte Siedelwerk des deutschen Volkes“. Zur Erforschung der Germania Slavica in Deutschland. In: Lübke, Christian (Hg.): Struktur und Wandel im Früh- und Hochmittelalter. Eine Bestandsaufnahme aktueller Forschungen zur Germania Slavica. Stuttgart 1998 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 5), 17–29, hier 17. 35 Rodenberg, Carl: Art. Wattenbach, Wilhelm. In: Allgemeine Deutsche Biographie 44 (1898) 439–443. 36 Wattenbach, Wilhelm: Die Germanisirung der östlichen Grenzmarken des deutschen Reichs. In: Historische Zeitschrift 9 (1863) 386–417, hier 386. Vgl. Aubin: Gustav Adolf Stenzel, 65; Backhaus: „Das größte Siedelwerk“, 17f.; Hackmann/Lübke: Die mittelalterliche Ostsiedlung, 188.

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ökonomischen oder dynastischen Interessen, in einen explizit völkischen Kontext hineingestellt wurde. Wattenbach pries die „Ausbreitung deutscher Herr­schaft, deutscher Sitte und deutscher Bevölkerung“ als ein von „alle[n] Stände[n] des deutschen Volkes“ getragenes nationales Gemeinschaftsprojekt37 und schlug von dort aus einen Bogen in die Gegenwart: Zu hoffen sei, so Wattenbachs Schlusswort, „dass mit dem neuen Erwachen eines kräftigen deutschen Volksbewußtseins die unterbrochene Ausbreitung nach Osten wieder aufleben“ möge.38 Mit Colmar Grünhagen (1828–1911)39 berief sich auch der wohl prominenteste Breslauer Landeshistoriker des 19. Jahrhunderts im 1884 erschienenen ersten Band seiner Geschichte Schlesiens noch ausdrücklich auf Stenzel als den „Altmeister der schlesischen Geschichte“.40 In Anknüpfung an dessen Werk gelte es die alles entscheidende Frage zu beantworten: „Wie ist Schlesien deutsch geworden und deutsch geblieben?“41 In der Tat stand Grünhagens Bild von den Beziehungen zwischen Schlesien, dem Reich und Polen erkennbar in Stenzels Tradition: „Seine [Schlesiens] Geschichte läuft unter Beziehungen mit den Reichen des Ostens, Polen, Böhmen, Ungarn, abgekehrt von der des deutschen Reichs. Infolge davon ist die eigenartige Geschichte dieser dabei noch so zersplitterten deutschen Landschaft unseren Landsleuten außer Schlesien im großen und ganzen fremd geblieben, und es ist, wie mir scheint, bis in die neueste Zeit von den deutschen Historikern nicht nach Gebühr gewürdigt worden, welche Bedeutung die Existenz dieses deutschen Vorlandes für die Reichsgeschichte gehabt, wie die standhafte Behauptung der deutschen Nationalität in diesem zwischen Czechen und Polen eingeklemmten Grenzlande dem Vaterlande reichen Gewinn gebracht und größere Gefahren von diesem abgewendet hat.“42 Tatsache ist jedenfalls, dass das von Gustav Adolf Harald Stenzel gezeichnete Bild der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte auch schon zeitgenössisch über die wissenschaftliche Sphäre hinaus in den politischen Diskurs eingedrungen ist. Nicht ganz zufällig fungierte der Paulskirchen-Abgeordnete Stenzel als Vorsitzender des parlamentarischen Aus­schusses, der die berühmt-berüchtigte Frankfurter „Polen-Debatte“ der Nationalversammlung vom Juli 1848 vorbereitete43 – jener Debatte, in deren Verlauf 37 Wattenbach: Die Germanisirung, 387, 389. 38 Ebd., 417. 39 Rüther, Andreas: Borussische Geschichtsforschung in Schlesien: Colmar Grünhagen (1828– 1911) – Werdegang, Schuleinflüsse und Wirkungskreise. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 217–254. 40 Grünhagen, C[olmar]: Geschichte Schlesiens, Bd. 1: Bis zum Eintritt der habsburgischen Herrschaft. Gotha 1884, VI (Vorwort). 41 ����������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., IX (Hervorhebungen im Original). Vgl. Hackmann/Lübke: Die mittelalterliche Ostsiedlung, 190. 42 Grünhagen: Geschichte Schlesiens, Bd. 1, IX. 43 Hackmann/Lübke: Die mittelalterliche Ostsiedlung, 186. Vgl. Trzeciakowski, Lech: Polityka Prus na polskich ziemiach zachodnich w XIX w. w historiografii polskiej i niemieckiej. In: Krasuski, Jerzy/Labuda, Gerard/Walczak, Antoni (Hg.): Stosunki polsko-niemieckie w historiogra-

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der nationalliberale Parlamentarier Wilhelm Jordan (1819–1904) seinen deutschen Landsleuten anempfahl, polnischen Freiheitsbestrebungen gegenüber ab sofort einen „gesunden Volksegoismus“ an den Tag zu legen.44

3. Entwicklungslinien und Leitdiskurse der polnischen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert Wenn sich in diesem Kontext die Frage nach der Reaktion der polnischen Geschichtswissenschaft stellt, so ist zunächst zu klären, unter welchen Bedingun­gen ein wissenschaftlicher Diskurs im geteilten Polen des 19. Jahrhunderts überhaupt möglich war. Ein den deutschen Verhältnissen vergleichbarer Typus des „universitären Berufshistorikers“ konnte sich dort schon in Ermangelung einschlägiger Lehrstühle kaum herausbilden, weshalb die Geschichtsforschung oftmals ein neben dem eigentlichen Broterwerb betriebenes „Hobby“ blieb.45 Die – je nach aktueller politischer Konjunktur unterschiedlich intensive – administrative Bedrückung durch die Teilungsmächte trat hinzu. Der wohl prominenteste polnische Historiker der ersten Jahrhunderthälfte, Joachim Lelewel (1786–1861), sah sich, nach anfänglichen Lehrtätig­keiten in Warschau und Wilna, ab 1830 dazu gezwungen, aus dem Pariser beziehungsweise Brüsseler Exil heraus zu wirken. Dessen ungeachtet blieb das von Lelewel gezeichnete nationalromantische Geschichtsbild, das die als demokratisch und klassenlos idealisierte, vermeintlich urslawische „Landgemeinde“ (gminowładztwo) als den sozialen Ausgangspunkt der polnischen Geschichte im Früh- und Hochmittelalter skizzierte,46 unter Polens Eliten noch für mehrere Jahrzehnte prägend. Der bereits um eine Generation jüngere Karol Szajnocha (1818–1868) wiederum, der in seinem erstmals 1855/56 publizierten zweibändigen Haupt­werk Jad

fii, Bd. 2: Studia z dziejów historiografii polskiej i niemieckiej. Poznań 1984 (Studium niemcoznawcze Instytutu Zachodniego 41), 134–324, hier 138. 44 Broszat, Martin: Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik. München 1963, 85. Detailliert vgl. Wollstein, Günter: Das „Großdeutschland“ der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49. Düsseldorf 1977, 135–172. 45 Grabski, Andrzej F.: Die polnische und die deutsche Historiographie in der zweiten Hälfte des 19. Jh. In: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas 32 (1988) 187–201, hier 188. 46 ������������������������������������������������������������������������������������������� Skurnowicz, Joan S.: Romantic Nationalism and Liberalism. Joachim Lelewel an the Polish national idea. New York 1981 (East European monographs 83); Bronowski, Franciszek: Idea gminowładztwa w polskiej historiografii (Geneza i formowanie się syntezy republikańskiej J. Lelewela). Łódź 1969 (Łódźkie Towarzystwo Naukowe: Prace wydziału II nauk historycznych i społecznych 70); Serejski, Marian Henryk: Koncepcja historii powszechnej Joachima Lelewela. Warszawa 1958. Unter besonderer Berücksichtigung des Blicks der polnischen Historiographie auf Schlesien vgl. Malczewska-Pawelec, Dorota: Dialog o Śląsku. O (nie)zmienności obrazu kraju i jej mieszkańców w polskich syntezach dziejów narodowych epoki zaborów (studium historiograficzne). Katowice 2012, 163–192.

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wiga und Jagiełło den rasch zum pejorativen Schlagwort mutierten Begriff eines ge­ schichtsnotorischen, ja triebhaften deutschen „Drangs nach Osten“ prägte,47 verdiente seinen Lebensunterhalt als Kustos des 1817 in Lemberg ge­gründeten „Ossolineums“ – einer privat finanzierten polnischen Nationalstif­tung mit angeschlossener Bibliothek, die mit der Zeit den Charakter eines eigenständigen Forschungsinstituts annahm.48 Ent­sprechend groß war die Bedeutung deutscher Universitäten und Studiense­minare für die Ausbildung polnischer Geschichtsstudenten. Nach einer Aufstellung des polnischen Wissenschaftshistorikers Andrzej Feliks Grabski absolvierten von den für die letzten vier Jahr­zehnte des 19. Jahrhunderts ermittelten 220 polnischen Historikern gut zwei Fünftel ihr Studium an deutschsprachigen Universitäten – darunter 29 in Berlin, 18 in Wien, immerhin 17 in Breslau und elf in Leipzig.49 Eine nennenswerte wissenschaftliche Karriere der Absolventen folgte daraus in vielen Fällen trotzdem nicht. Nach dem Studium in die polnische Provinz zurückgekehrt und dort in verschiedenen Brotberufen (etwa als Gymnasiallehrer) tätig, fehlte ihnen häufig die notwendige wissenschaftliche Infrastruktur, um historiographisch weiter produktiv zu bleiben – ein Umstand, den 1854 nicht zuletzt der Breslauer Hochschullehrer Roepell lebhaft beklagte.50 Was die einzelnen polnischen Teilgebiete selbst angeht, schied Kongress­polen als Standort eines autonomen polnischen Wissenschaftsbetriebs von vornherein aus. Als Konsequenz aus dem gescheiterten Novemberaufstand war die Universität Warschau 1831 für mehrere Jahrzehnte geschlossen, ab 1862 unter dem Titel „Warschauer Hauptschule“ (Szkoła Główna Warszawska) dann nur teilweise reaktiviert und 1869 schließlich in eine russischsprachige Lehranstalt zwangsumgewandelt worden.51 Bezogen auf die Entwicklung der polnischen Wissenschaften in den Jahrzehnten nach 1831 allgemein, gelangte der in Berlin, Breslau und Leipzig ausgebildete Historiker Ksawery 47 Szajnocha, Karol: Jadwiga i Jagiełło 1374–1413. Opowiadanie historyczne. Bearb. v. Stefan M. Kuczyński, Bd. 1–2. Warszawa 1969, hier Bd. 2, 354 („parcie na wschód“). Vgl. Wippermann, Wolfgang: Der „deutsche Drang nach Osten“. Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes. Darmstadt 1981 (Impulse der Forschung 35), 48. 48 Olszewicz, Bolesław (Hg.): Ossolineum. Księga pamiątkowa w 150-lecie Zakładu Narodowego Imienia Ossolińskich 1817–1967. Wrocław 1967. 49 Grabski: Die polnische und die deutsche Historiographie, 189. 50 Richard Roepell an Tytus Graf Działyński, Breslau 26. Dez. 1854. Abgedruckt bei Knot, Antoni: Ryszard Roepell 1808–1893 (Związki z Polską). In: Przegląd Zachodni 9/1–3 (1953) 108–168, hier 144–146 (Zitat 144): „Die Erfahrung, die ich an mehreren jungen Polen, die hier studirten, gemacht habe, bestätigt dies. Solange sie hier studirten, liessen sie sich sehr gut an; zeigten Interesse und Fleiss nicht nur für eine dilettantische, sondern auch wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte ihres Vaterlandes, so dass ich hoffte, sie würden nun auch ins Großherzogthum [Posen, d. Verf.] zurückgekehrt jene durch ihre Arbeiten fördern. Diese Hoffnung ward aber getäuscht, u[nd] vornämlich dadurch getäuscht, dass die jungen Leute an ihren Gymnasien sich fast von allen Quellen und Hilfsmitteln entblösst sahen.“ 51 Kizwalter, Tomasz: Dzieje Uniwersytetu Warszawskiego, Bd. 1: 1816–1915. Warszawa 2016 (Monumenta Universitatis Varsoviensis 1816–2016).

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Liske (1838–1891) zu einer entsprechend deprimierenden Diagnose: „Die Wissenschaften entwickeln sich selten ausschließlich in den eigenen vier Wänden unvorbereiteter, flüchtiger Forscher. Sie benötigen für ihre Entwicklung entsprechende Anreize und Propaganda, durch öffentliche Vorträge, durch die Beteiligung an Diskussionen in wissenschaftlichen Gesellschaften, [...] in Fachzeitschriften [...]. Ohne solche Anreize kann sich die Wissenschaft weder entwickeln, noch überhaupt existieren.“52 Eine institutionalisierte polnische Geschichtswissenschaft konnte nach 1870 tatsächlich nur im österreichischen Galizien entstehen: Hier wurden an den Universitäten Krakau und Lemberg endlich die ersten Lehrstühle für polnische Geschichte eingerichtet, hier fanden die ersten gesamt­polnischen Historikertage statt, hier (in Lemberg) begründete der vorstehend genannte Liske mit dem Kwartalnik Historyczny 1887 die erste und bis heute wichtigste polnische historische Fachzeitschrift.53 Zugleich war unter den konservativ geprägten polnischen Eliten Galiziens der Widerwille gegen die notwendigerweise prorussisch orientierte Strömung des Panslawismus, der tradierte pol­nischkatholische Antemurale-Vorstellungen per se ausschloss, besonders stark.54 Gerade hier formierte sich daher eine Histo­rikerschule, die die Bedeutung der deutschrechtlichen Siedlungsbewegung des Mittelalters für die weitere Entwicklung Polens innerhalb bestimmter Parameter durchaus akzeptierte. Nach der Wirkungsstätte ihrer führenden Vertreter – dem Ordensgeistlichen Walerian Kalinka (1826–1886), dessen historisches Hauptwerk dem Vierjährigen Reichstag von 1788 bis 1792, also der unmittelbaren Vorgeschichte der Zweiten Teilung Polens galt,55 dem Historiker und Literaten Józef Szujski (1835–1883),56 ab 1869 in Krakau Professor für polnische Geschichte, sowie dem um 14 Jahre jüngeren Rechtshistoriker Michał Bobrzyński (1849–1935),57 der ebendort ab 1877 den Lehrstuhl für deutsches und polnisches Recht innehatte – sprach man bald schon von der „Krakauer Schule der

52 Zit. nach Widawska: Richard Roepell und Jacob Caro, 128. Zu Liske vgl. Knot, Antoni: Art. Liske, Franciszek Ksawery. In: Polski Słownik Biograficzny 17 (1972) 462–465. 53 Bömelburg, Hans-Jürgen: Zwischen imperialer Geschichte und Ostmitteleuropa als Geschichtsregion: Oskar Halecki und die polnische „jagiellonische Idee“. In: Hadler, Frank/Mesenhöller, Matthias (Hg.): Vergangene Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa: Repräsentation imperialer Erfahrung in der Historiographie seit 1918 / Lost Greatness and Past Oppression in East Central Europe: Representations of the Imperial Experience in Historiography since 1918. Leipzig 2007 (Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur 8), 99–133, hier 102; Kriegseisen, Wojciech: „Kwartalnik Historyczny“ – Zarys dziejów czasopisma naukowego. In: Kwartalnik Historyczny 112 (2005) 5–27, hier 9f. 54 Piskorski, Jan M.: The Medieval „Colonization of the East“ in Polish Historiography. In: ders. (Hg.): Historiographical Approaches, 97–105, hier 98f.; Gerlich: Organische Arbeit und nationale Einheit, 175–179. 55 Kalinka, Walerian: Sejm czteroletni, Bd. 1–2. Lwów 1880–1881. Zu Kalinka vgl. Kieniewicz, Stefan: Art. Kalinka Waleryan. In: Polski Słownik Biograficzny 11 (1964/65) 449–452. 56 Red[akcja]: Art. Szujski Józef Jerzy Karol. In: Polski Słownik Biograficzny 49 (2013) 176–187. 57 Estreicher, Stanisław: Art. Bobrzyński Michał. In: Polski Słownik Biograficzny 2 (1936) 162–165.

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Geschichtsschreibung“.58 Ausgehend von der Grundthese, dass der ewige Widerstreit der Prinzipien Anarchie und Ordnung den Lauf der Geschichte bestimme, entwickelten die Krakauer ein zutiefst pessimistisches Geschichtsbild, das die Ver­antwortung für den Niedergang der polnischen Staatlichkeit primär den Po­len selbst zuwies.59 Seine politische Übersetzung erfuhr dieses Geschichtsbild in das politische Programm der – auch unter dem ironischen Spitznamen „Stanczyken“ firmierenden – Krakauer Konservativen.60 Mit Blick auf den selbstgewählten Irrweg der Vergangenheit konnte ihrer Überzeugung nach eine staatliche Wiedergeburt überhaupt erst am Ende eines langen Prozesses kritischer Selbsterkenntnis stehen. Auf diesem Weg wiederum musste die polnische Nation ihre wiedererrungene zivilisatorische Rei­fe mit den Mitteln der „Organischen Arbeit“,61 also der mühevollen sozioökonomischen Selbstbehauptung unter den Bedingungen fortwährender Fremdherrschaft, tagtäglich beweisen. Unwidersprochen blieb dieses Geschichtsbild im geteilten Polen keineswegs. Vielmehr formierte sich ab den 1890er Jahren mit der „Warschauer Schule“ ein stärker „optimistisches“ Gegenlager, das sich wieder stärker an den imperialen Ansätzen und Entwürfen der polnischen Vergangenheit orientierte, die selbstkritisch-reflexiven ­Ansätze der Krakauer Geschichtswissenschaft hingegen zurückwies und den staatlichen Unabhängigkeitsgedanken damit rehabilitierte.62 Im Kontext der weiteren Aus­führungen 58 Grabski: Die polnische und die deutsche Historiographie, 196f.; Gerlich: Organische Arbeit und nationale Einheit, 182f.; Serejski, Marian H.: Krakowska szkoła historyczna a historiografia europejska. In: Bobińska, Celina (Hg.): Spór o historyczną szkolę krakowką. W stulecie katedry historii Polski UJ 1869–1969. Kraków 1969, 11–45; Malczewska-Pawelec: Dialog o Śląsku, 313–333. 59 Gehrke, Roland: Der polnische Westgedanke bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates nach Ende des Ersten Weltkrieges. Genese und Begründung polnischer Gebietsansprüche gegenüber Deutschland im Zeitalter des europäischen Nationalismus. Marburg a. d. Lahn 2001 (Mate­rialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung 8), 88f. 60 Jaskólski, Michał: Kaduceus Polski. Myśl polityczna konserwatystów krakowskich 1866–1934. Warszawa/Kraków 1990. Die Bezeichnung „Stanczyken“ (stańczycy) spielt an auf die Figur eines Hofnarren aus dem 16. Jahrhundert, dessen Rolle darin bestanden hatte, dem polnischen König Sigismund I., dem Alten, in humoristischer Form bittere Wahrheiten zu verkünden. In einer ähnlichen Funktion sahen die Krakauer Konservativen sich gegenüber der polnischen Gesellschaft ihrer Zeit. 61 Zu dem auch schon während der 1840er Jahre im Großherzogtum Posen virulenten Konzept der „Organischen Arbeit“ (praca organiczna) vgl. Gerlich: Organische Arbeit und nationale Einheit, 64–87. Eine Edition zeitgenössischer Quellentexte hierzu bietet Kizwalter, Tomasz (Hg.): Droga do niepodległości czy program defensywny? Praca organiczna – programy i motywy. Warszawa 1988. 62 Bömelburg: Zwischen imperialer Geschichte und Ostmitteleuropa als Geschichtsregion, 102– 104; Grabski: Die polnische und die deutsche Historiographie, 189, 196; Maternicki, Jerzy: Rola historiografii w rozwoju polskiej myśli niepodległościowej na przełomie XIX i XX w. In: ders. (Hg.): Idea niepodległości i suwerenności narodowej w polskiej myśli politycznej XIX i XX wieku. Warszawa 1989, 93–125, hier 98f. Als Vorreiter der „Warschauer Schule“ können die – universitär nicht gebundenen – Historiker Tadeusz Korzon (1839–1918) und Władysław Smo-

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muss der Fokus jedoch primär auf Galizien gerichtet bleiben, da die dortigen Historiker deutlich stärker durch die deutsche – um nicht zu sagen: die Breslauer – Geschichtswissenschaft beeinflusst waren.63 Mehrere ihrer Vertreter, darunter der vorstehend erwähnte Ksawery Liske, waren Schüler Richard Roepells,64 der, zumindest nominell, zwischen 1841 und seinem Tod 1893 an der Universität der Odermetropole lehrte (bis 1855 als Extraordinarius, dann als Lehrstuhlnachfolger Stenzels), also für ein gutes halbes Jahrhundert. Zugleich war Roepell der er­ste Breslauer Historiker, der sich im 19. Jahrhundert den Ruf eines ausgewiesenen „Polen-Spezialisten“ erwarb.

4. Die „pessimistische“ Perspektive: Richard Roepell als Breslauer ­Polenhistoriker Details zu Roepells akademischem Werdegang können an dieser Stelle ausge­blendet werden.65 Von Bedeutung ist allein der Umstand, dass Roepell bereits 1836, also fünf Jahre bevor er als außerordentlicher Professor an die Universität Breslau berufen wurde, den Auftrag erhalten hatte, im Rahmen der Ukert-Hee­renschen „Staatengeschichte“ die Bände für Polen zu übernehmen – dies freilich erst, nachdem die zunächst angefragten älteren Gelehrten, der Breslauer Professor Stenzel (der längst mit den entsprechenden Bänden zur Geschichte Preußens ausgelastet war) sowie der zwischenzeitlich verstorbene Leiter der Krakauer Jagiellonen-Bibliothek, Jerzy Samuel Bandtkie (1768–1835), abgewunken hatten.66 Die für die Aufgabe unum­gänglichen polnischen Sprachkenntnisse brachte sich der junge Privatdo­zent Roepell mit Hilfe seiner aus Warschau gebürtigen Ehefrau Henriette Magdalena Roepell, geborene Geysmer (1820–1857) kurzerhand selbst bei.67 Spätere Einlassungen Roepells verraten allerdings, dass er das Polnische

leński (1851–1926) gelten; Władysław Konopczyński (1880–1952) und Oskar Halecki (1891– 1973) knüpften an diese historiographische Tradition später an. 63 Piskorski: The Medieval „Colonization of the East“, 99. 64 Eine detaillierte Auflistung der insgesamt gut zwei Dutzend polnischen Schüler Roepells in Breslau bietet Knot: Ryszard Roepell, 117–133. 65 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Im Überblick vgl. ebd., 109f.; Barelkowski, Matthias: Die Teilungen Polen-Litauens interpretieren. Richard Roepell und Jakob Caro – zwei deutsche „Polenhistoriker“ zwischen Wissenschaft und Politik. In: Bömelburg, Hans-Jürgen/Gestrich, Andreas/Schnabel-Schüle, Helga (Hg.): Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen. Osnabrück 2013, 105–154, hier 107f. 66 Barelkowski, Matthias: Zwischen Breslauer Universität und Berliner Politik. Richard Roepell (1808–1893) als Historiker, liberaler Politiker und „Polenfreund“. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 173–195, hier 175. 67 Gerlich: Organische Arbeit und nationale Einheit, 6. Vgl. Caro, Jacob: Richard Roepell. In: Chronik der Königlichen Universität zu Breslau 8 (1893) 99–119, hier 105f.: Der Darstellung Caros nach leistete auch der Danziger Geistliche, Pädagoge und Sprachwissenschaftler Christoph Cölestin Mrongovius (1764–1855) beim Erwerb von Roepells Polnischkenntnissen Hilfestellung.

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wohl vor allem passiv, aber kaum aktiv beherrschte;68 seine Korrespondenz mit polnischen Gelehrten führte er jedenfalls stets auf Deutsch. Seine Offenheit für die polnische Kultur und Sprache scheint Roepell manche Tür geöffnet zu haben. Bereits kurz nach Annahme des Auftrags zur Bearbeitung der Geschichte Polens wurde ihm gestattet, die Bibliotheken und Sammlungen der Posener Privatgelehrten und Wissenschaftsmäzene Edward Graf Raczyński (1786–1845) und Tytus Graf Działyński (1797–1861) zu nutzen.69 Über die Grenzen der Hohenzollernmonarchie hinaus knüpfte Roepell ferner enge Kontakte zu dem gleichaltrigen Krakauer Rechtshistoriker Antoni Zygmunt Helcel (1808–1870),70 der 1828/29 selbst in Breslau bei Stenzel studiert hatte und auch in den 1830er und 1840er Jahren häufiger in der Odermetropole zu Besuch war.71 Helcel, dessen Krakauer Salon später einen wichtigen Anziehungspunkt für die konservative polnische Elite Galiziens bildete, war einer der wenigen polnischen Korrespondenzpartner, den Roepell ausdrücklich als seinen „Freund“ bezeichnete.72 Mit der genannten Unterstützung im Rücken gingen die Arbeiten jedenfalls rasch voran, wobei Roepell sich zusätzlich auf die bereits vorliegenden Arbeiten Voigts und Stenzels zur Geschichte Brandenburgs, Schlesiens und Preußens sowie auf die Historya narodu polskiego des polnischen Geistlichen und Historikers Adam Naruszewicz (1733–1796) stützen konnte.73 Der erste, chronologisch bis zum Jahr 1300 reichende Band der Geschichte Po­lens erschien bereits1840.74 Dass er auch der einzige aus Roepells Feder blieb, soviel sei schon hier erwähnt, ist nicht zuletzt der späteren politischen 68 Der von Józef Szujski ausgesprochenen Einladung zum Krakauer Historikertag versprach der schon über siebzigjährige Roepell in seinem Antwortschreiben (Breslau 26. April 1880) zwar „mit grossem Vergnügen“ zu folgen, schränkte aber ein: „Wenn auch mein Ohr zum Auffassen u[nd] Verstehen des Polnischen weniger geübt ist als mein Auge, u[nd] meine Zunge nun so gut wie gar nicht zum Sprechen desselben, so dass ich fürchten muss von den Verhandlungen des bevorstehenden historischen Congresses nur wenig zu verstehen.“ Abgedruckt bei Knot: Ryszard Roepell, 167. 69 Widawska: Richard Roepell und Jacob Caro, 134f. 70 Jabłoński, Zbigniew: Art. Helcel Antoni Zygmunt. In: Polski Słownik Biograficzny 9 (1960/61) 354–357. 71 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Widawska: Richard Roepell und Jacob Caro, 135. Vgl. Maier, Lothar: Richard Roepell als Mitarbeiter der „Deutschen Zeitung“. Ansichten eines Osteuropahistorikers über die polnische Frage im Vormärz. In: Leidinger, Paul/Metzler, Dieter (Hg.): Geschichte und Geschichtsbewußtsein. Festschrift Karl-Ernst Jeismann zum 65. Geburtstag. Münster 1990, 392–413, hier 395f. 72 Richard Roepell an Adolf Pawiński, Breslau 4. März 1882 (das heißt zwölf Jahre nach Helcels Tod): „Helcel sprach öfter bei mir vor und es hatte sich zwischen ihm und mir eine wahre Freundschaft entwickelt [...]. Er war nicht nur ein sehr unterrichteter sondern auch ein talentvoller und liebenswürdiger Mensch, der in meinem Andenken lebt und dessen zu frühen Tod ich lebhaft betrauert habe.“ Abgedruckt bei Knot: Ryszard Roepell, 167f. (Zitat 168). 73 Caro: Richard Roepell, 106. Auf Naruszewicz, Adam: Historya narodu polskiego, Bd. 1–10. Lipsk 1836–1837 [Erstauflage: Bd. 1–2. Warszawa 1780–1781], geht die Kollektivbezeichnung der ersten historisch fassbaren Herzöge beziehungsweise Könige Polens als „Piasten“ zurück. 74 Roepell, Richard: Geschichte Polens, Thl. 1. Hamburg 1840.

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Karriere des Verfassers als nationalliberaler preußischer Parlamentarier geschuldet. In seiner Vorrede übte Roepell scharfe Kritik an der bisherigen Quellenre­zeption, namentlich dem Umstand, dass die aus dem 15. Jahrhundert stammen­den Chroniken des Jan Długosz (1415–1480) bislang viel zu unkritisch als Grundlage heran­gezogen worden seien.75 Demgegenüber verhieß Roepell einen historiographi­schen Neuanfang: „Es wird uns Deutschen nicht leicht, den nationalen Geist der Slawen un­be­fangen aufzufassen und zu würdigen; aber mit dem reinen Negiren, abso­luten Verurtheilen desselben, wie man solches in unseren Tagen gar häufig fin­det, kommt man sicher der Sache nicht auf den Grund.“76 Tatsächlich findet sich darin eine dezidiert positive Schilderung der frü­hen Piastenfürsten als kraftvolle und weitsichtige Staatsgründer, die im Fall von Bolesław I., dem Tapferen, beinahe zur Apologie geriet: „Es ist nicht zu verkennen, wie großartig die Stellung war, welche Bolesław in wenigen Jahren sich und seinem Volke errungen hatte. Von dem Uebergewichte der Deutschen hatte er sich befreit [...] und endlich auch dem Vorrücken der russischen Macht nach Westen zu Schranken gesetzt. Vom Dniepr im Osten bis zur Elbe im Westen, von den Küsten der Ostsee bis zu den Bergen der Karpathen war er jetzt unbestritten der mächtigste Herr, die Polen das vorherrschende Volk. Mit vollem Recht nannte in die Nachwelt Chrobry, d[as] i[st] ,den Gewaltigen, den Kühnen, den Mann großen Herzens‘.“77 Roepells Bilanz dieser ersten Phase eigenständiger polnischer Geschichte liest sich entsprechend: „Das Christenthum hatten die Deutschen den Polen gebracht; eine politi­sche Herrschaft über diese fester zu begründen, gelang ihnen nicht. [...] Auf Jahrhunderte hinaus blieb Polen der germanischen Welt gegenüber der unbe­siegte Kern, Mittelpunkt und Halt des westlichen Slawenthums.“78 Für das 12. Jahrhundert sprach Roepell dann freilich das Verdikt aus, die mit dem Tod von Bolesław III. Schiefmund einsetzenden Erbteilungen hätten das pol­nische Reich „jedes gemeinsamen Mittels- und Anhaltepunktes be­raubt“.79 Der sukzessive Verlust Schlesiens und der übrigen Gebiete an der west­lichen und nördlichen Peripherie galt Roepell entsprechend als folgerichtig und unausweichlich, während er den sich von der fürstlichen Macht sukzessive emanzipierenden polnischen Adel bereits in dieser frühen Phase als den Motor einer langfristigen soziokulturellen Fehlentwicklung beschrieb.80 Der fast durchweg positiven Aufnahme der Geschichte Polens in der polnischen Öffentlichkeit81 tat dies keinen Abbruch – obwohl bis zu ihrer Übersetzung ins Polnische 75 76 77 78 79 80 81

Ebd., Vf. (Vorrede). Ebd., VIIf. Ebd., 149f. Ebd., 135. Ebd., 487. Ebd., 346f. Widawska: Richard Roepell und Jacob Caro, 143f.; Rhode, Gotthold: Die Geschichte Polens in der deutschen Geschichtsschreibung. In: Jacobmeyer, Wolfgang (Hg.): Nationalgeschichte als Problem der deutschen und der polnischen Geschichtsschreibung. Braunschweig 1983 (Schrif-

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noch annähernd vier Jahrzehnte ins Land gingen.82 Vielmehr begründete das Buch den Ruf Roepells, der „gründlichste Forscher unserer Vergangenheit“ zu sein, wie Tytus Działyński noch Jahre später formulierte.83 Caro wiederum sprach in seinem Nekrolog für Roepell aus der Rückschau zwar von anfänglich eher „kühlen Recensionen“, die jedoch schon bald „von Jahr zu Jahr ansteigender Verehrung für den Verfasser des Buches“ gewichen seien – zumal Roepell erstmals eine Darstellung vorgelegt habe, „welche den Unterschied der Nationalitäten nicht mehr hervorkehrte, als für die Feststellung der Thatsachen nothwendig war“.84 Diese hohe Anerkennung mag letztlich auch erklären, dass – wie Matthias Barelkowski schlüssig herausgearbeitet hat – die polnische Öffentlichkeit in späteren Jahren über so manche Äußerung des Politikers Roe­pell, die in der Konfrontation mit polnischen Emanzipationsbestrebungen eine dezidiert deutschnationale Position verriet und zum Nimbus des „Polenfreun­des“ somit nicht recht zu passen schien, gnädig hinwegsah.85 Bereits 1847 hatte Roepell gegenüber dem Herausgeber der Deutschen Zeitung, Georg Gottfried Gervinus (1805–1871), dafür plädiert, die polnische Frage primär „aus antiruss[ischem] Gesichtspunkt [zu] betrachten“.86 Und auch aus späteren Stellungnahmen erhellt, dass in Roepells geopolitischem Zukunftskonzept einem wiedererstandenen Polen vornehmlich die Rolle eines „Pufferstaats“ gegen ein als feindselig betrachtetes Russland zugedacht war – und dies selbstverständlich ohne das Großherzogtum Posen, dessen vollständige Germanisierung Roepell aus Gründen preußischdeutscher Staatsräson für unvermeidlich und auch legitim hielt.87 Damit bewegte sich Roepell ganz auf dem Boden des nationalen Liberalismus, dem das deutsche Bürgertum sich spätestens ab 1848 in großer Zahl zuwandte und dessen verschiedene Spielarten er als Parlamentarier über mehrere Jahrzehnte hinweg repräsentierte: als „Erbkaiserlicher“ (im Erfurter Unionsparlament 1850), als Altliberaler (im Preußischen Abgeordnetenhaus ab 1861) und schließlich als Nationalliberaler und Anhänger der Bismarckschen Einigungspolitik (im Norddeutschen Reichstag ab 1867).88

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tenreihe des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung 22/VI), 107–130, hier 112. Roepell, Ryszard: Dzieje Polski do XIV stulecia, przełożył dr K[arol] Przyborowski, Bd. 1–2. Lwów 1879 (Biblioteka Historyczna 25–26). Vgl. Knot: Ryszard Roepell, 115f. Tytus Działyński an Richard Roepell, Kórnik Ende September 1857. Abgedruckt bei Knot: Ryszard Roepell, 155. Caro: Richard Roepell, 107f. Barelkowski: Die Teilungen Polen-Litauens, 116–118; ders.: Zwischen Breslauer Universität und Berliner Politik, 179–182, 188. Eine wesentliche Schwäche der Studie von Gerlich: Organische Arbeit und nationale Einheit, ist es, diese Widersprüche weitgehend auszublenden, um das gezeichnete Bild des „Polenfreundes“ Roepell möglichst unbefleckt zu lassen. Zit. nach Maier: Richard Roepell, 397. Ebd.; Barelkowski: Die Teilungen Polen-Litauens, 111f., 115. Priebatsch, Felix: Aus den Lebenserinnerungen Richard Roepells. In: Historische Zeitschrift 128 (1923) 446–451, hier 449f.

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Der hier angelegte Widerspruch zwischen „Polenfreundschaft“ und deutschnationaler Positionierung löst sich aber zumindest teilweise auf, wenn man Roepells Geschichtsverständnis in Be­ziehung zu den Visionen der Krakauer Historiographie setzt. Es ist gewiss zu weit ge­griffen, wenn Hubert Gerlich in Bezug auf das polnische Konzept der „Organischen Arbeit“ eine „geistige Vaterschaft“ Roepells reklamiert89 – zumal dieses Konzept von nationalpolnischen Aktivisten im Großherzogtum Posen bereits in den 1840er Jahren in der Praxis angewandt worden war und sich dabei primär gegen die von Roepell eingeforderten Germanisierungsbestrebungen gerichtet hatte.90 Doch ist zumindest augenfällig, dass Roepell klar Partei für die „pessimistische“ Krakauer Perspektive ergriff und die ältere, nationalromantische Sichtweise vor allem eines Joachim Lelewel damit explizit verwarf. In einem im Frühjahr 1857 an Helcel gerichteten Schreiben lobte Roepell seinen Krakauer Intimus dafür, dieser habe in der Einleitung zu seiner jüngsten Edition91 die Materie „mit grösster Besonnenheit, Genauigkeit u[nd] Schärfe“ behandelt – um dann nachzulegen: „Ich beziehe das eben Gesagte vornämlich auf die Abwehr der früheren Aufstellungen, in der ich ein unschätzbares Verdienst erblicke, das Sie sich erworben haben. So wunderlich verkehrt, eigenmächtig, u[nd] bisweilen geradezu lächerlich Lelewels Ausführungen sind, sein Name hat bei Ihren Landsleuten einen solchen Klang, dass Sie wohl zur minutiösen Widerlegung gezwungen waren. Aber Sie haben auch durch Ihre Kritik nicht nur Lelewels Luftschlösser von Grund aus u[nd] hoffentlich für immer zerstört, sondern auch diese ganze falsche Methode der Behandlung in der Anwendung auf andere Objecte der Forschung in Miscredit gebracht.“92 Hatte Roepell den 1855 von Stenzel übernommenen Lehrstuhl für allgemeine Geschichte nominell für immerhin 38 Jahre inne, so wurde doch rasch deutlich, dass seine häufige Abwesenheit als Parlamentarier in die historische Lehrtätigkeit an der Universität Breslau eine empfindliche Lücke riss. Die dort 1873 notgedrungen eingerichtete provisorische Ergänzungsprofessur für Mittlere und Neuere Geschichte erlebte in den zwanzig Jahren ihrer Existenz immerhin sechs verschiedene Inhaber,93 von denen freilich niemand einen osteuropäischen oder gar polnischen Schwerpunkt vertrat. Zwar unternahm Roepell zwischenzeitlich noch einzelne Archivreisen nach Polen,94 als Au89 Gerlich: Organische Arbeit und nationale Einheit, 87. 90 Barelkowski: Die Teilungen Polen-Litauens, 114. 91 Die Rede ist von Helcel, Antoni Z[ygmunt] (Hg.): Starodawne prawa polskiego pomniki, Tl. 1: Poprzedzone wywodem historyczno krytycznym tak zwanego prawodawstwa Wiślickiego Kazimiérza Wielkiego [...]. Kraków/Warszawa 1856. 92 Richard Roepell an Antoni Zygmunt Helcel, Breslau 19. März 1857. Abgedruckt bei Knot: Ryszard Roepell, 152f. (Zitat 152). 93 Gehrke: Die Berufung von Historikern, 117–121, 127 (tabellarische Übersicht). 94 Richard Roepell an Jan Nepomucen Romanowski, Breslau 27. Juni 1858. Abgedruckt bei Knot: Ryszard Roepell, 158f. (Zitat 158). Dort auch ein Bericht Roepells über die Resultate seiner kurz zuvor unternommenen sechswöchigen Archivreise nach Warschau: „Freilich ist die literar[ische] Ausbeute dieser Reise nicht so gross, als ich hoffte.“

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tor indes wandte er sich erst über drei Jahrzehnte nach dem Erscheinen seiner Geschichte Polens wieder den polnischen Dingen zu, wobei sein konkretes historiographisches Interesse nun nicht länger dem Mittelalter, sondern ganz der Krise der polnisch-litauischen Adelsrepublik während des 18. Jahrhunderts galt. Roepells 1876 veröffentlichte Studie Polen um die Mitte des 18. Jahrhun­derts95 jedenfalls liest sich wie eine Bündelung sämtlicher Stereotypen, mit denen schon die deutsche Spätaufklärung die Zerschlagung der Adelsrepublik mora­lisch legitimiert hatte:96 „Die allgemein geistige Bildung der Nation wie ihre ganze Literatur gehen unaufhaltsam rückwärts. Die erstere sinkt sehr rasch auf den Grad der Unwissenheit und der Unbildung in der Masse des Adels, die ihres Gleichen nicht hat; die andere verfällt in eine Geschmacklosigkeit und Barbarei, welche im grellsten Kontrast mit dem geistigen Aufschwung steht, der sonst allgemein das 18. Jahrhundert charakterisiert.“97 Dieses dramatische Niedergangs-Szenario garnierte Roepell mit gängigen Signalwörtern und Dekadenz-Topoi – Intrigantentum, Korruption, Geltungssucht, „Partheitreiben“, Klientelismus, Unterwürfigkeit, Pflichtvergessenheit, allgemeiner Hang zum Müßiggang und „in den Tag Hineinleben“98 –, die sich gleichsam zur der vernichtenden Generaldiagnose einer „allgemeine[n] Entsittlichung der Nation“ verdichteten.99 Doch fehlt der Darstellung immerhin jene Gehässigkeit, wie sie aus vielen anderen zeitgenössischen Beurteilungen des polnischen Teilungsschicksals sprach. Mit der Hervorhebung einzelner Akteure aus den Familien der Czartoryski und Poniatowski, die die Missstände und die daraus resultierende existenzielle Gefahr mit scharfem Blick erkennen, mit ihren politischen Ideen zur Rettung des Vaterlandes am Ende aber scheitern,100 erkannte Roepell das unge­nutzt gebliebene Reformpotential der polnischen Gesellschaft ausdrücklich an, was seiner Darstellung zugleich einen tragischen Grundton verlieh. Dass dieses Reformpotential in Roepells Augen am Ende dennoch keine realistische Aussicht auf Rettung mehr bot, erhellt aus seiner Rezension eines 1887 in Krakau erschienenen Buches des historischen Schriftstellers Kazimierz Waliszewski (1849–

195 Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha 1876. Gewidmet ist die (mit Quellenanhang) knapp 240 Seiten umfassende Studie der Akademie der Wissenschaften in Krakau. 196 Krzoska, Markus: Teilungserfahrungen und Traditionsbildung: Die Historiographie der Teilungen Polen-Litauens (1795–2011). In: Bömelburg/Gestrich/Schnabel-Schüle (Hg.): Die Teilungen Polen-Litauens, 37–104, hier 57–69 (speziell zu Roepells Standpunkt vgl. 61); ­Gehrke, Roland: Die „Französische Pest an der Weichsel“. Polen, die Französische Revolution und die preußisch-deutsche Publizistik. In: Bahlcke, Joachim/Joisten, Anna (Hg.): Wortgewalten. Hans von Held – ein aufgeklärter Staatsdiener zwischen Preußen und Polen. Potsdam 2018, 269–292, hier 282–287. 197 Roepell: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts, 11f. (Einleitungskapitel: „Die Republik“). 198 Ebd., 4–7, 9, 14, 18. 199 Ebd., 10. 100 Ebd., 26, 37f., 48–55.

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1835), abgedruckt in der zweiten Jahrgangsausgabe des Kwartalnik Historyczny.101 Dass das besprochene Werk eigentlich vom innerpolnischen Parteienkampf während der Regierungszeit König Augusts III. handelte, hinderte Roepell nicht daran, einen weiten Bogen bis zur polnischen Verfassung des 3. Mai 1791 und zur Zweiten Teilung des Jahres 1793 zu schlagen. Dem Autor Waliszewski warf er, ganz im Sinne der die Krakauer Geschichtsschreibung dominierenden „Pessimisten“, vor, ein geschöntes Bild der polnischen Reformbestrebungen während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gezeichnet zu haben. Tatsächlich sei die Verfassung faktisch durch einen Staatsstreich zustandegekommen und habe die Intervention der russischen Zarin Katharina II. damit förmlich provoziert, ohne anschließend von der polnischen Bevölkerung ernsthaft gegen ihre Gegner verteidigt worden zu sein.102 Ganz ähnlich liest sich auch Roepells letzter polenbezogener Beitrag Zur Genesis der Verfassung Polens vom 3. Mai 1791, veröffentlicht 1891, also passenderweise zum einhundertsten Verfassungsjubiläum, in der Historischen Zeitschrift.103 Dabei handelte es sich um mehrere von Roepell übersetzte und mit einer knappen Einleitung versehene Textfragmente aus dem Nachlass des 1886 verstorbenen Krakauer Historikers Walerian Kalinka, die dieser eigentlich zum nicht mehr erschienenen dritten Band seines Werks über den Vierjährigen Reichstag hatte ausbauen wollen.104 Roepells Einführung gipfelte darin, dass der Breslauer Ordinarius der „pessimistischen“ Geschichtsinterpretation Kalinkas und damit der „Kra­kauer Schule“ insgesamt einmal mehr ausdrücklich beipflichtete – der These also, „daß die Polen selbst die Schöpfer ihres Unterganges sind, und daß das Unglück, welches damals und später sie getroffen hat, eine durch die Nation selbst verschuldete Bußstrafe sei“.105 Und das hieß perspektivisch nichts anderes, als dass der Wiedereintritt Polens in die euro­päische Staatenfamilie erst am Ende dieser „Bußstrafe“ stehen konnte.

5. Die deutsch-jüdische Perspektive: Jacob Caro als Breslauer Polenhistoriker Dass die so erwartungsvoll begonnene Geschichte Polens bereits mit Erscheinen des ersten Bandes steckengeblieben war, wurde schon angespro­chen. Trotzdem vergingen noch einmal zwei Jahrzehnte, bis Roepell sich 1861 dann auch offiziell von seiner diesbezüglichen Verpflichtung zurückzog – wobei, neben der Last der vielen politischen 101 ������������������������������������������������������������������������������������������� Ders: Potoccy i Czartoryscy (K. Waliszewski: Potoccy i Czartoryscy. Walka stronnictw i programów politycznych przed upadkiem rzeczypospolitej 1734–1763 r. Tom I. 1734–54. Kraków 1887). In: Kwartalnik Historyczny 2 (1888) 381–387. 102 Ebd., 383. Vgl. Barelkowski: Die Teilungen Polen-Litauens, 120f. 103 Roepell, Richard: Zur Genesis der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791. W. Kalinka, Sejm czteroletni. Tom III w Lwowce 1888 (Der Vierjährige Reichstag). In: Historische Zeitschrift 66 (1891) 1–52. 104 Ebd., 2. 105 Ebd., 1. Vgl. Barelkowski: Die Teilungen Polen-Litauens, 121.

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Verpflichtungen, seine zunehmende Orientierung auf neuzeitliche Themen hin wohl ebenso eine Rolle gespielt haben dürfte wie die Sorge, als ausschließlicher Polen-Historiker zu stark in eine abseitige wissenschaftliche Nische hineinzugeraten.106 Als seinen Nachfolger erkor der Perthes-Verlag mit Jacob Caro einen sechsundzwanzigjährigen Nachwuchshistoriker, der erst kurz zuvor in Leipzig seine dort von Heinrich Wuttke (1818–1876) betreute Dissertation Über die Wahl Siegismunds III. von Polen verteidigt hatte.107 Im Gegensatz zu seinem Doktorvater Wuttke, der bereits 1846 unter dem Titel Polen und Deutsche eine scharf antipolnische politische Kampfschrift veröffentlicht hatte,108 sich als Historiograph sonst aber anderen Gegenständen zu­wandte, wurde die Beschäftigung mit der Geschichte Polens für Caro zum Le­bensthema. Als Spross eines Posener Rabbiners stammte Caro zugleich aus gänzlich anderen Verhältnissen als der protestantische Danziger Bürgersohn Roepell. Caros jüdi­sche Herkunft hatte ihm bereits im Kontext seines Habilitationsverfahrens an der Universität Jena erhebliche Schwierigkeiten eingebracht. Die Habilitations­schrift Johannes Longinus. Ein Beitrag zur Literärgeschichte des fünfzehnten Jahrhunderts, in der Caro die historische Bedeutung des Jan Dłu­gosz zwar gewürdigt, den Quellenwert von dessen Chroniken aber substanziell in Frage gestellt hatte,109 war dort immerhin angenommen worden. Mit dem Argument, „ein Jude könne Weltgeschichte nicht adäquat vortragen“, wurde das Verfahren zu­nächst aber gestoppt; es konnte erst zum Abschluss gebracht werden, nachdem Caros Venia legendi demonstrativ auf den Bereich Hilfswissenschaften be­schränkt worden war.110 Da unter diesen Umständen an eine akademische Karriere vorerst nicht zu denken war, verdingte Caro sich im Auftrag des Ministerpräsi­denten Otto von Bismarck (1815– 1898) zunächst als Polen-Berichterstatter für das preußische Auswärtige Amt111 – und 106 Caro: Richard Roepell, 116; Warschauer, Adolf: Erinnerungen an Richard Roepell. In: Zeitschrift der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen 9 (1894) 159–174, hier 169. 107 �������������������������������������������������������������������������������������������� Ebenfalls bei Perthes unter dem abweichenden Titel veröffentlicht: Caro, J[acob]: Das Interregnum Polens im Jahre 1587 und die Parteikämpfe der Häuser Zborowski und Zamojski. Nach den Quellen bearbeitet. Gotha 1861. 108 Wuttke, Heinrich: Polen und Deutsche. Politische Betrachtungen. Schkeuditz 1846. Vgl. ­Todte, Mario: Studien zum Geschichtswerk von Heinrich Wuttke (1818–1876). München 2010, 63–65; Gehrke, Roland: Heinrich Wuttke (1818–1876). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 12. Würzburg 2017, 197–211, hier 201–203. 109 ������������������������������������������������������������������������������������������ Caro, Jacob: Johannes Longinus. Ein Beitrag zur Literärgeschichte des fünfzehnten Jahrhunderts. Dissertation zur Erlangung der Venia docendi bei der Philosophischen Facultät in Jena. Jena 1863. 110 Rhode, Gotthold: Jüdische Historiker als Geschichtsschreiber Ostmitteleuropas: Jacob Caro, Adolf Warschauer, Ezechiel Zivier. In: ders. (Hg.): Juden in Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg. Marburg/Lahn 1989 (Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 3), 99–113, hier 101; Kalinowska-Wójcik: Jüdische Geschichtsforscher, 336–338. 111 ���������������������������������������������������������������������������������������� Ergetowski: Naukowa i dydaktyczna działalność Jacoba Caro, 346f.; Kalinowska-Wójcik: Jüdische Geschichtsforscher, 339.

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erhielt nur mit ausdrücklicher Fürsprache Bismarcks 1869 eine unbezahlte Honorarprofessur an der Universität Breslau, die erst spä­ter in ein besoldetes Extraordinariat beziehungsweise 1882 schließlich in eine ordentliche Pro­fessur mündete. Nominell hatte die Breslauer Philosophische Fakultät damit sogar zwei ausgewiesene Polenhistoriker in ihren Reihen, auch wenn, wie schon angesprochen, der Parlamentarier Roepell in Forschung und Lehre nach 1860 nur noch sehr eingeschränkt präsent war – was im Kontext von Caros Berufung fakultätsintern durchaus zu dessen Gunsten ausgeschlagen war.112 Für die Fortsetzung der Geschichte Polens unternahm Caro zunächst eine Reihe ausgedehnter Archivreisen, die ihn nach Dresden, Berlin, Breslau, Posen, Kurnik – wo er engen Kontakt zu Tytus Działyńskis Sohn Jan Działyński (1829–1880) unterhielt – und Warschau führten.113 1863 konnte dann der bis zur polnisch-litauischen Per­sonalunion von 1386 reichende zweite Band vorgelegt werden.114 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Roepell, wiewohl er sich freiwillig aus dem Projekt zurückgezogen hatte, mit Caros Nachfolgewerk keineswegs zufrieden war und sich daher zeitweise mit dem Gedanken trug, seinen eigenen Pilotband in Konkurrenz zu Caro doch noch fortzuschreiben und auf diese Weise zumindest die gesamte Piastenzeit abzudecken.115 Caros Ar­beit an den Folgebänden nahm noch ein volles Vierteljahrhundert in Anspruch: Band drei und vier folgten 1869 beziehungsweise 1875,116 bevor nach längerer Pause 1886 und 1888 die beiden Halbbände des fünften Teils folgten; das Ende der Regierungszeit König Alexander Jagiełłos bildete hierbei den chronologischen Schlusspunkt.117 Die Bände vier und fünf wurden von dem Pädagogen, Philologen und Historiker Stanisław Mieczyński (1842–1910) noch zu Lebzeiten Caros auch ins Polnische übertragen.118 Hier nur am Rande erwähnt sei, dass 1915, also bereits während des Ersten Weltkriegs und elf Jahre nach Caros Tod, aus der Feder des ebenfalls jüdischen Plesser Archivars Ezechiel Zivier (1868–1925)119 in der Reihe noch ein letzter Band erschien, der bis zum Aussterben der Jagiellonen-Dynastie 1572 reichte und unter 112 113 114 115

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Gehrke: Die Berufung von Historikern, 112–114. Kalinowska-Wójcik: Jüdische Geschichtsforscher, 335. Caro, Jacob: Geschichte Polens, Thl. 2: [bis 1386]. Gotha 1863. Richard Roepell an Karol Szajnocha, Breslau 28. Mai 1865: „Auch bin ich nicht abgeneigt das Buch bis zum Ausgang der Piasten fortzusetzen, da die inzwischen erschienene Fortsetzung von Dr. Caro meinen Ansprüchen nicht genügt. Ich würde diese Fortsetzung dann deutsch schreiben, und sie aus dem Manuscript übersetzen lassen. Sie würde der poln[ischen] Ausgabe zunächst eigen bleiben. Auf diese Art würde das Buch zu einem in sich abgeschlossenen Ganzen: ,Geschichte Polens unter den Piasten‘ werden, was dem Verleger in Rücksicht auf den Verkauf nur vortheilhaft sein dürfte.“ Abgedruckt bei Knot: Ryszard Roepell, 164f. (Zitat 165). Caro, Jacob: Geschichte Polens, Thl. 3: 1386–1430. Gotha 1869; ders.: Geschichte Polens, Thl. 4: 1430–1455. Gotha 1875. Ders.: Geschichte Polens, Thl. 5/1: 1455–1480, Thl. 5/2: 1481–1506. Gotha 1886–1888. Ders.: Dzieje Polski. Przeł. z jęz. niem. Stanisław Mieczyński, Bd. 4: 1430–1455, Bd. 5: 1455– 1480, Bd. 6: 1481–1506. Warszawa 1897. Zu Zivier vgl. Kalinowska-Wójcik, Barbara: Między Wschodem i Zachodem. Ezechiel Zivier (1868–1925). Historyk i archiwista. Katowice 2015.

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dem abgewandelten Gesamttitel Neuere Geschichte Polens firmierte, die bisherige Bandzählung also nicht fortsetzte.120 An den Erfolg des Gesamtunternehmens konnte das Werk freilich nicht mehr anknüpfen. Doch zurück zu Caro selbst: Seinen nüchtern-pragmatischen Ansatz hatte er bereits in seiner Vorrede zu Band zwei deutlich gemacht: „Sentimentalität ist ein so ungeeigneter Beisatz in den Voraussetzungen der geschichtlichen Darstellung, daß sie in solchem Fall unter der Hand zum Pamphlet sich verwandelt.“121 Dass Caro in seiner Geschichte Polens die Entwicklung des polnischen Judentums in eigenen Kapiteln würdigte, ist fraglos seiner persönlichen Herkunft geschuldet, während die mehrfach eingestreuten kulturgeschichtlichen Abschnitte, in denen er sich jen­seits der klassischen Politikgeschichte auch Themen wie Bildungswesen, Lite­ratur oder Geschichtsschreibung zuwandte, seinem Werk bis heute durchaus modern wirkende Züge verleihen. Bemerkenswert ist zudem, dass der Deutsche Ritterorden, auf deutscher Seite zeitgenössisch vielfach als kulturprägende Vorhut des Deutschtums verherrlicht, auf polnischer Seite hingegen als besonders aggressiver Repräsentant des „Drangs nach Osten“ dämonisiert,122 bei Caro jedenfalls nicht sonderlich positiv dargestellt wurde: Die epochale Niederlage des Ordens gegen ein polnisch-litauisches Gemeinschaftsheer bei Tannenberg 1410 sei letztlich die folgerichtige Konsequenz eines schleichenden Realitätsverlusts gewesen.123 Daneben verfasste Caro noch weitere Studien, populärwissenschaftliche Darstellungen und Essays zu Themen der polnischen Geschichte124 und versuchte, über eine Reihe einschlägiger Lexikonartikel auch in eine breitere Öffentlichkeit hinein ­zu wir120 Zivier, Ezechiel: Neuere Geschichte Polens, Bd. 1: Die zwei letzten Jagellonen (1506–1572). Gotha 1915. Ungeachtet der schon aus dem Buchtitel sprechenden Ankündigung erschienen weitere Bände nicht mehr. Vgl. Rhode: Die Geschichte Polens in der deutschen Geschichtsschreibung, 113; Barelkowski: Die Teilungen Polen-Litauens, 139; Kalinowska-Wójcik: Jüdische Geschichtsforscher, 362f. 121 Caro: Geschichte Polens, Thl. 2, VI (Vorwort). 122 Zur geschichtspolitischen Aufladung des Themas bis zum Ersten Weltkrieg und der entsprechenden deutsch-polnischen Forschungskontroverse vgl. Hackmann, Jörg: Ostpreußen und Westpreußen aus deutscher und polnischer Sicht. Landeshistorie als beziehungsgeschichtliches Problem. Wiesbaden 1996 (Deutsches Historisches Institut Warschau: Quellen und Studien 3), 160–168. 123 Caro: Geschichte Polens, Thl. 3, 332: „In den Quellen seines [des Ordens, d. Verf.] Daseins hatte die Versiegung, in denen seiner Erhaltung die organische Verwandlung um sich gegriffen. [...] Seine ritterlichen Lebenselemente waren zu einem täuschenden, wesenlosen Schattenspiel herabgekommen. Verstrickt und eingenommen von den Ueberlieferungen einer prunkenden Vergangenheit, hat er es versäumt, mit den Uebergängen der Zeit, mit dem Aufkommen neuer Lebensformen gleichen Schritt zu halten, und unversehens war er von dem eigenen Boden entwurzelt, auf welchem er stand.“ 124 Fast romanhafte Züge etwa hat ders: Beata und Halszka. Eine polnisch-russische Geschichte aus dem sechzehnten Jahrhundert. Breslau 1883. Gestützt auf Vorarbeiten seines verstorben Briefpartners Aleksander Przezdziecki erzählt Caro hier die unglückliche Vita der polnischen Fürstin Elisabeth Katharina Ostrogska, deren Leben im Schatten fortgesetzter Ränkespiele des polnischen Hochadels steht.

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ken.125 Seine Forderung nach einer Ausbildung weiterer deutscher Polen-Experten be­ gründete er 1899 in dem bereits zitierten, an Friedrich Althoff gerichteten Schreiben mit dem vielsagenden Argument: „Das Zurückbleiben unserer Kenntnis des Slawentums beruht in erster Li­nie auf dem berechtigten Gefühl einer ungeheuren, fast allseitigen, namentlich aber auch moralischen Überlegenheit [...]. Aber auch in betreff der uns doch so nahestehenden Polen sind wir weit entfernt davon, genaue intimere Kenntnis zu haben. [...] Ich meine aber, unsere Saat wird reicher aufgehen, wenn sie mit ge­nauer u[nd] sicherer Kenntnis des Bodens ausgestreut wird.“126 Der hier gewählte Zungenschlag rückt auch Caros Nimbus als „Polenfreund“ in arges Zwielicht – wobei festzuhalten ist, dass er in der polnischen Fachwelt von vornherein einen bedeutend schwereren Stand hatte als der vielgepriesene Roepell. Zumindest Caros Bände zwei und drei der Geschichte Polens wurden dort bedeutend reservierter aufgenom­men als das Auftaktwerk seines Vorgängers. Ausschlaggebend hierfür war aber wohl weniger der konkrete Inhalt als vielmehr der Umstand, dass Caro ein Schüler des für seine antipolnische Weltsicht berüchtigten Leipziger Historikers Heinrich Wuttke war und zunächst quasi automatisch in dessen historiographischer Tradition verortet wurde.127 Die polnische Rezeption der beiden in den 1880er Jahren erschienenen Teilbände fiel dann zumindest verhalten freundlich aus, zumal Caro die JagiellonenDynastie insgesamt in relativ positivem Licht zeichnete und auch das hohe sprachlichstilistische Niveau seiner Darstellung zunehmend Anerkennung fand.128 Von der zunächst geäußerten Kritik zeigte sich Caro gleichwohl längerfristig gekränkt. Unter Anspielung auf das oft wenig polenfreundliche Ab­stim­mungsverhalten des Parlamentariers Roepell in der Vergangenheit beklagte er 1895 gegenüber Aleksander Kraushar, dass sogenannte „polnische Patrioten“ dennoch (den mittlerweile verstorbenen) Roepell als den „Advocatus dei“ des polnischen Volkes ver­ehrten, während ihm, Caro, stets die undankbare Rolle des „Advocatus dia­boli“ zugewiesen werde.129 Freilich boten einige von Caros weiteren zu polnischen Themen verfasste Schriften dem nationalbewussten polnischen Leser auch kaum Anlass zum Beifall. Die populäre These eines unheilvollen polnischen Sonderwegs jedenfalls war bereits in seiner auf das ausgehende 16. Jahrhundert bezogenen Dissertation durchgeklungen. Zwar hatte Caro darin konzediert, dass Tendenzen zu „abscheulicher Selbstsucht“ der Herrschenden und einer „Fälschung des Staatszwecks“ schon seit dem ausgehenden Mittelalter auch in anderen europäischen Großmonarchien festzustellen seien – doch seien sie dort schließlich überwunden worden, während sich allein in Polen politische und soziale 125 Barelkowski: Die Teilungen Polen-Litauens, 133f. 126 Jacob Caro an Friedrich Althoff, o. O. 27. Mai 1899. Abgedruckt bei Voigt: Rußland, 324f. 127 Ergetowski: Naukowa i dydaktyczna działalność Jacoba Caro, 349; Widawska: Richard Roepell und Jacob Caro, 144. 128 Ergetowski: Naukowa i dydaktyczna działalność Jacoba Caro, 349f. 129 Jacob Caro an Aleksander Kraushar, Breslau 29. April 1895. Abgedruckt bei Ergetowski (Hg.): Listy Jacoba Caro, 103f. (Zitate 104).

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Strukturen ausgebildet hätten, die „keine Erstarkung, sondern Schwächung, keine Blüthe, sondern Verwelken und Siechthum“ erzeugt hätten.130 Sehr viel deutlicher wurde der Breslauer Gelehrte in seinem gut zwanzigseitigen Essay Alexander I. und die Polen,131 den er ursprünglich im November 1895 vor der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur als Vortrag gehalten hatte.132 Ähnlich wie auch Roepell schilderte Caro die polnisch-litauische Adelsrepublik des 18. Jahrhunderts darin als einen schlechthin überlebensunfähigen sozialen Anachronismus: „Mit einer in den Anfängen der Entwickelung stehen gebliebenen Verfassung, mit einem zerrütteten und in ehrgeizigen Intrigen verworrenen Großadel, mit einem um Besitz und Ehre gebrachten, unverhältnismäßig zahlreichen verlotterten Klein- und Kriegsadel, mit den verwesenden Überresten eines niemals in Blüte gewesenen Bürgertums, mit einem stumpfen, niemals durch Besitz und Eigentum zum Emporkommen gereizten, schollenklebenden Bauernstand, ohne geordnete Rechtspflege, ohne ausreichendes Finanzwesen, ohne Stütze internationaler Beziehungen.“133 Diese unselige, historisch kontaminierte Tradition habe der von schwärmerischen Ideen beseelte russische Zar Alexander I. offenbar völlig ausgeblendet, als er, „um die Anbetung der Polen zu verdienen“, diesen 1815 „die kaiserliche Improvisation eines polnischen Verfassungsstaates“ gewährt habe.134 Das Ergebnis: „Drei Jahre nach der ­Aufrichtung des neuen konstitutionellen Königreichs Polen fing bereits das ganze Land an, sich mit einem Netz von Konspirationen zu bedecken.“135 Kurz vor seinem Tod 1825, so bilanzierte Caro mit Blick auf den 1830 dann tatsächlich ausgebrochenen polnischen Aufstand, habe Alexander I. am Misslingen des gutgemeinten Unternehmens wohl kaum noch ernsthaft zweifeln können: „Der Konstitutionalismus ist an der Struktur der polnischen Gesellschaft, welche im Patriarchalismus stehen geblieben ist, ebenso abgeglitten wie dereinst der Feudalismus, und später der Versuch des Despotismus.“136 Ähnliche Motive scheinen auch in Caros Essay Polnische Juden137 durch – ein Thema, das für seinen Autor naturgemäß eine gewisse autobiographische Note besaß, mit Blick auf Caros familiäre Herkunft also eine persönliche Betroffenheit implizierte. Im Ergebnis ist der Text nichts weniger als die mit einigem Furor betriebene Zertrümmerung des polnischen Toleranz-Mythos. Gerade weil in der Gegenwart weitgehend Einigkeit darüber bestehe, dass die Geschichte des polnischen Volkes „als verfehlte und 130 Caro: Das Interregnum Polens, 1f. (Zitat 2). 131 Ders.: Alexander I. und die Polen. In: ders.: Vorträge und Essays. Gotha 1906, 159–180. 132 Jacob Caro an Aleksander Kraushar, Breslau 23. November 1895. Abgedruckt bei Ergetowski (Hg.): Listy Jacoba Caro, 104–106, hier 105: „Am letzten Montag hielt ich in der hiesigen Gesellschaft einen Vortrag über ,Kaiser Alexander I und die Polen‘. In gewisser Hinsicht erregte derselbe einen Sturm, der sich in die ganze Gesellschaft der Stadt fortpflanzte.“ 133 Caro: Alexander I., 163. 134 Ebd., 176, 178. 135 Ebd., 179. 136 Ebd., 180. 137 Ders.: Polnische Juden, 110–130.

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verpfuschte anzuerkennen“ sei, hielten die Polen umso zäher „an einer farbenreichen Legende fest, in welcher Tapferkeit, geborner Großsinn und namentlich auch religiöse Toleranz als anhaftende Eigenschaften ihrer Volksseele eine überaus geräuschvolle Rolle spielen. [...] Leider fehlt der schönen Dichtung nur das eine sehr wesentliche Element – die Wahrheit. [...] Prahlerei nationaler Polenhitze – weiter nichts.“138 Tatsächlich hätten neuere Forschungen zweifelsfrei gezeigt, dass die Juden in Polen zu keinem Zeitpunkt eine komfortablere Rechtsstellung genossen hätten als zur jeweils gleichen Zeit in Deutschland.139 Die von Caro schonungslos benannten geistig-moralischen Defizite des zeitgenössischen polnischen Judentums wiederum seien die Folge davon, dass ein deutsches Bürgertum in Polen schon seit dem 17. Jahrhundert keine Rolle mehr spiele, die dortigen Juden daher seitdem nur mehr „mit dem slawisch-magyarischen Adel in engere[m] Verkehr“ gestanden hätten und von diesem „moralisch heruntergebracht“ worden seien.140 Aleksander Kraushar revanchierte sich 15 Jahre nach Caros Tod für solcherlei Thesen, indem er ein wenig vorteilhaftes Charakterbild seines vormaligen Korrespondenzpartners zeichnete: Caro habe „Polen als Land und als Volk“ nicht geliebt, sondern es als „minderwerthe Nation“ betrachtet und es als solche stets mit einer Art von hochmütiger Nachsicht behandelt.141 Tatsächlich zeugen Caros Briefe, besonders jene, die er in vorgerücktem Alter verfasste, davon, dass er Auseinandersetzungen mit sei­nen polnischen Fachkollegen keineswegs scheute. Das Hauptmotiv dabei bildete der wiederholt an die Adresse polnischer Historiker gerichtete Vorwurf des Nationalis­mus – oder des „Patriotismus“, ein Begriff, den Caro häufiger als Synonym für dasselbe Phänomen gebrauchte –, in dem er nicht nur eine politische Bedrohung, sondern auch ein Hindernis objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis erblickte.142 Ausgerechnet an Kraushar schrieb Caro im Dezember 1895: „Über Patriotismus zu philosophieren, ist der moderne Briefbogen zu lang. Nur der historischen Gerechtigkeit wegen ist zu sagen, daß die deutsche Nation im Punkte dieser ethnisch verkleideten Exklusivität nicht nur nicht den Tanz begann, sondern bis heute noch den meisten kleinen Nationen darin nach­steht.“143 Demselben Adressaten gegenüber formulierte er im November 1901 unter Anspielung auf einen eigenen, kurz zuvor in Posen gehaltenen Vortrag: „Sie werden sich überzeugen, einerseits wie sehr ich Sie an Material ge­plündert 138 Ebd., 112, 114. 139 Ebd., 115f. 140 Ebd., 126–130 (Zitat 129). 141 �������������������������������������������������������������������������������������������� Kraushar: Jakób Caro jako historyk dziejów Polski, 9 (der deutsche Begriff „minderwerthe Nationen“ bleibt in Kraushars polnischem Text unübersetzt). Vgl. Barelkowski: Die Teilungen Polen-Litauens, 145. 142 Jacob Caro an Aleksander Kraushar, Breslau 23. November 1895. Abgedruckt bei Ergetowski (Hg.): Listy Jacoba Caro, 105: „Je älter ich werde, desto mehr halte ich den Patriotismus für die stärkste Stimulation zur Beschäftigung mit dem Plündern der Vergangenheit, aber auch für die bedenkliche Schranke zur Erreichung wissenswerter Ergebnisse.“ 143 Jacob Caro an Aleksander Kraushar, Breslau 12. Dezember 1895. Ebd., 106f. (Zitat 106).

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habe, und andererseits, wie ich zu völlig anderen Schlüssen aus dem Material gelange. Sie werden finden, daß ich Ihren, mir ja erklärlichen und be­kannten Chauvinismus nicht erwidert und vergolten habe [...]. Immer ging mir aber noch im Kopfe herum, wie viel schöner, edler und humaner die Welt doch war, als der Nationalismus noch keine Cardinaltugend war.“ Wiederum gegenüber Kraushar und unter Anspielung auf den hochemotional ausgetragenen „Wreschener Schulkampf “ des Jahres 1901,144 flüchtete Caro sich in Sarkasmus: „Wenn ich so von dem polnischen Boycott gegen deutsche Industrie las, dann legte ich mir immer die Frage vor: bin ich etwa auch boycottirt? Ich bin doch kein Industrieller und kein Wreschener Schulinspector. [...] Die intellectuellen Urheber der Wreschener Keilerei hauen mich selbst auch schon ohnehin dermaßen, daß mir zuweilen der Gedanke kommt, ob es die Irokesen nicht besser haben, die noch nie die Worte ,Civilisation‘ und ,Nationalität‘ gehört haben.“145 Dabei richtete Caro seine Kritik an der Destruktivität des nationalen Sen­ti­ments keineswegs nur an die polnische Seite. Ein ausgesprochen freundschaftliches Korrespondenzverhältnis unterhielt er zu dem aus Masuren stammenden Historiker Wojciech Kętrzyński (1838–1918),146 der seit 1876 Direktor des Lemberger Ossolineums fungierte – und dies, obwohl gerade Kętrzyński, getauft eigentlich auf den deutschen Namen Adalbert von Winkler, seit seiner jugendlichen Hinwendung zum Polentum in seinen Schriften einen dezidiert polnisch-nationalen Standpunkt einnahm.147 Sein großes Lob für einen Auf­satz Kętrzyńskis verband Caro 1899 mit der Ankündigung, den Text in einer deutschen Übersetzung auch an einige seiner heimischen Kollegen weiterzugeben, die gewiss anderer Meinung seien – einschließ­lich der ironischen Anmerkung: „Ich bin neugierig, wie die Teutonisie­renden sich dazu stellen werden.“148 Aus dem Schreiben erhellt, dass mit einem dieser „Teutonisierenden“ niemand anderes als Caros eigener Breslauer Schüler Felix Rachfahl (1867–1925) gemeint war.149 144 Auf die Einführung des deutschsprachigen Religionsunterrichts in der Mittel- und Oberstufe der Schulen in der Provinzen Posen hatten im Mai 1901 über hundert Schüler der katholischen Volksschule in Wreschen mit einem wochenlangen Unterrichtsstreik reagiert, was wiederum einen aufsehenerregenden Strafprozess gegen die Eltern der streikenden Schüler nach sich zog. Vgl. Grot, Zdzisław: Sprawa wrzesińska. In: Przegląd Zachodni 7 (1951) 72–131. 145 Jacob Caro an Aleksander Kraushar, Breslau 15. November 1902. Abgedruckt bei Ergetowski (Hg.): Listy Jacoba Caro, 127–129 (Zitat 128). 146 Maleczyński, Karol: Art. Kętrzyński Wojciech. In: Polski Słownik Biograficzny 12 (1966/67) 376–379; Serwański, Edward: Syn odzyskanej ziemi (Wojciech Kętrzyński). Warszawa 1955. 147 Seine „nationale Konversion“ verarbeitete Winkler alias Kętrzyński in Kętrzyński, Wojciech: Aus dem Liederbuch eines Germanisierten 1854–1862. Lwów 1938. Vgl. Gehrke: Der polnische Westgedanke, 131f. mit Anm. 491; Neugebauer: Preußische Geschichte, 172f. Zum Verhältnis zwischen Kętrzyński und Caro vgl. Ergetowski: Związki J. Caro z polskimi uczonymi, 30–32; Widawska: Richard Roepell und Jacob Caro, 136, 142. 148 Jacob Caro an Wojciech Kętrzyński, Breslau 22. November 1899. Abgedruckt bei Ergetowski (Hg.): Listy Jacoba Caro, 116f. (Zitat 116). 149 �������������������������������������������������������������������������������������������� Rachfahls Dissertation war unter Caros Betreuung entstanden. Vgl. Rachfahl, Felix: Der Stettiner Erbfolgestreit (1464–1472). Ein Beitrag zur brandenburgisch-pommerschen Geschichte

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6. Schlussbetrachtung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die pauschale Charakterisierung als „Polenfreund“ sowohl im Fall von Richard Roepell als auch im Fall von Jacob Caro problematisch erscheint. Anders als bei Gustav Adolf Harald Stenzel und den in seiner Tradition stehenden schlesischen Landeshistorikern des 19. Jahrhunderts war Roepells und Caros Interesse an der Geschichte und Kultur Polens freilich kein aus anderen Fragestellungen bloß abgeleitetes, sondern ein genuines. Beide zeichneten ein äußerst kritisches Bild der polnischen Vergangenheit – und darauf fußend auch der polnischen Gegenwart –, das sich jedoch aus teilweise unterschiedlichen geistigen Quellen speiste. Der Historiker und rechtsliberale Politiker Roepell teilte die von den polnischen ­Historikern der Krakauer Schule vertretene „pessimistische“ These eines „selbstverschuldeten“ polnischen Niedergangs vollauf und übersetzte sie in ein mächtepolitisches Konzept, in dem eine staatliche Wiedergeburt Polen bestenfalls als Fernziel und auch nur bei voller Unterwerfung unter deutsche territoriale Interessen denkbar war. Caro wiederum gelangte in seiner negativen Beurteilung der jüngeren polnischen Vergangenheit zwar zu ähnlichen Befunden wie Roepell, ließ sich dabei aber von seinem tiefen Unbehagen gegenüber dem destruktiven Potential nationalistischen Denkens generell leiten. In diesem Zusammenhang sei abschließend der Blick noch auf einen Text gerichtet, der mit polnischen Verhältnissen vordergründig überhaupt nichts zu tun hat und der doch ein grelles Schlaglicht auf Caros Geschichts- und Gesellschaftsbild wirft, wie es auch in den vor­stehend zitierten Briefpassagen zum Ausdruck kommt: der von Caro anlässlich der Jahrhun­dertwende am 14. Januar 1900 in der Aula Leopoldina gehaltenen Fest­rede.150 Was der Breslauer Professor hier unternahm, war nichts weniger als eine sprach­mächtige Apologie des preußischen Staates und des Reichsgründers Otto von Bismarck, seines ganz persön­lichen Mentors. Caro wörtlich: „Es will doch scheinen, daß der Fortklang der Sänger- und Schützenfestwei­sen, auf den Namen Bismarck gesetzt, eine verletzende Dishar­monie erzeuge. Der wirkliche Bismarck war vorab Preuße, Preuße in jedem Herz- und Pulsschlag, die subtile Coagulation aller Eigen­schaften des preußischen Staates, die wir vorhin geschildert, der Mensch gewor­dene preußi­sche Staat.“151 Es dürfe nicht in Vergessenheit geraten, dass dieser preußische Staat, der zwar „deutsch“, aber eben in keiner Weise „national“ gewesen sei, im Zuge des deutschen Einigungsprozesses selbst das größte Opfer gebracht, nämlich seine schwer erkämpfte Souveränität aufgegeben habe – um diese „der Mitwirkung kleinstaatlicher Enge, an

des fünfzehnten Jahrhunderts. Breslau 1890. 1898 hatte Rachfahl ein Extraordinariat an der Universität Halle angetreten, es folgten ordentliche Professuren in Königsberg (1903), Gießen (1907) und Freiburg (1914). 150 ������������������������������������������������������������������������������������������ Caro, J[acob]: Festrede bei der von Rector und Senat veranstalteten Feier der Jahrhundertwende, gehalten in der Aula Leopoldina am 14. Januar 1900. Breslau 1900. 151 Ebd., 24.

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Pygmäen gewöhnter Kirchthurmpolitik, und mehr noch, um sie der Mitwirkung der zur Betheiligung am Nationalstaat aufgerufenen Massen auszuliefern“.152 Hier sprach erkennbar kein borussisch-wilhelminischer Eisenfresser. Hier sprach ein deutscher Jude, der die Infamie antisemitischer Schikane noch am ei­genen Leibe zu spüren bekommen hatte; ein deutscher Jude, der schon deshalb einigen Grund hatte, die ursprünglich supranationale Staatsidee Preußens zu ide­alisieren, und der nichts mehr als den Siegeszug eines völkisch oder gar „rassisch“ exklusiven Nationa­lismus zu fürchten hatte.

152 Ebd., 26.

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Gemeinsame Vergangenheit, selektive Erinnerung. Forschungen schlesischer Historiker zur böhmisch-mährischen Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg 1. Die Slawen: Historiographische Reflexe der Eigen- und Fremdwahrnehmung im 19. Jahrhundert Im Jahr 1837 veröffentlichte Pavel Josef Šafařík in Prag ein monumentales, mehr als tausend Seiten umfassendes Werk über die Frühgeschichte der Slawen, ihre Ursprünge und ihre Ausbreitung im gesamten östlichen Europa.1 Was der slowakische Gelehrte unter dem kurzen Titel Slowanské starožitnosti (Slawische Altertümer) präsentierte, war nichts Geringeres als eine erste quellenkundlich akribisch aufgearbeitete Gesamtschau sämtlicher slawischsprachigen Völker, die der Verfasser als Teile einer einzigen slawischen Nation darstellte.2 Dass Šafařík sein Werk auf Tschechisch publizierte, hatte verschiedene Gründe. Zum einen hatte er in Prag von František Palacký und anderen Intellektuellen entscheidende Anstöße für seine Arbeit erhalten, und in der böhmischen Hauptstadt fand er auch das geistige Milieu vor, auf das er einwirken wollte; die slowakische Schriftsprache wurde überhaupt erst in den 1840er Jahren allmählich kodifiziert.3 Zum anderen wandte sich Šafařík bewusst in einer etablierten slawischen Sprache und nicht, wie in früheren Fällen, auf Deutsch an die gelehrte Welt. Denn seine Idee von der sprachlichen und kulturellen Gemeinsamkeit der Slawen hing eng mit seiner Vorstellung moderner Nationswerdung zusammen. Der Blick in die Vergangenheit ­diente auch dem Bedürfnis der Gegenwart, eine über die Sprache definierte Nation zu

1 Šafařik, Pawel Josef: Slowanské starožitnosti. Oddil děgepisný. Praha 1837. Dem historisch-geographischen ersten Teil sollte ursprünglich noch ein zweiter kulturgeschichtlicher Teil folgen, der aber nie erschien. Zur Einordnung des Werks und seines Autors vgl. Kutnar, František/Marek, Jaroslav: Přehledné dějiny českého a slovenského dějepisectví. Od počátků národní kultury až do sklonku třícátých let 20. století. Praha 1997, 230–234; Petrus, Pavol (Hg.): Pavol Jozef Šafárik a slavistika. Zborník príspevkov z vedeckej konferencie a dokumentov z osláv 200. výročia narodenia P. J. Šafárika. Prešov 1996 (Acta Facultatis Philosophicae Universitatis Šafarikianae. ­Literárnovedný zborník 12; Jazykovedný zborník 13; Historický zborník 5); Niederle, L[ubor]: Pavla J. Šafaříka Slovanské Starožitnosti. In: Český časopis historický 1 (1895) 143–166. 2 Zum historiographischen Konzept der slawischen Wechselseitigkeit vgl. Mühle, Eduard: Die Slawen im Mittelalter zwischen Idee und Wirklichkeit. Wien/Köln/Weimar 2020, 12–25. 3 Schamschula, Walter: Geschichte der tschechischen Literatur, Bd. 2: Von der Romantik bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 1996 (Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Reihe A: Slavistische Forschungen N. F. 14), 79–85.

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bilden – und sich gleichzeitig von derjenigen Macht zu emanzipieren, die politisch wie kulturell einem solchen Aufbruch entgegenstand.4 Es überrascht insofern nicht, dass die Darstellung von Šafařík, der im östlichen Europa bestens vernetzt war, auch in anderen slawischen Gesellschaften enthusiastische Aufnahme fand. Sein Freund Michail Petrovič Pogodin organisierte bereits unmittelbar nach Vorlage der tschechischen Erstausgabe der Slowanské starožitnosti eine Übersetzung ins Russische, die von Osip Maksimovič Bodjanskij – ebenfalls ein enger Bekannter von Šafařík in Moskau – übernommen wurde. Auf Polnisch erschien das Werk 1842 in Posen, übersetzt hatte es Hieronim Napoleon Bońkowski.5 Interessanterweise dachte man auch im deutschsprachigen Raum bereits Ende der 1830er Jahre über eine Übersetzung nach, da slawischsprachige Arbeiten in der Fachwelt ansonsten ohne jede Rezeption ­blieben. Hier hatte Šafařík bereits ein Jahrzehnt zuvor mit einer auf Deutsch erschienenen Vorstudie, in der Probleme zum südslawischen Altertum diskutiert wurden,6 beachtliche Aufmerksamkeit gefunden. In einer mehr als hundert Seiten umfassenden Rezension, die in den renommierten Jahrbüchern der Literatur in Wien erschienen war, hatte Karl Halling am Ende den Wunsch geäußert, der Verfasser möge weitere Belege zu einer breiter gefassten „Geschichte der Slawen“ ­zusammentragen und der „gelehrten Welt“ vorlegen. „Nicht bloß dem slawischen Volksstamme, sondern mehr vielleicht noch dem germanischen erwiese er einen unsterblichen Dienst: den unsterblichsten aber der Wissenschaft überhaupt.“7 Šafařík war daraufhin sogar von Arnold Heeren und Friedrich August Ukert gebeten worden, in der von ihnen herausgegebenen Schriftenreihe „Geschichte der europäischen Staaten“ ein Werk über die slawische Welt zu verfassen, hatte jedoch abgelehnt.8 Die Übersetzung eines tschechischen Fachbuchs ins Deutsche aber wäre ein Novum gewesen – allenfalls für literarische Übertragungen gab es im deutschsprachigen Raum

4 Kořalka, Jiří: Von der ständisch-territorialen Verfassung zur Nation: Tschechische Nationsbildung und nationale Identität im 19. Jahrhundert. In: Hirschhausen, Ulrike von/Leonhard, Jörn (Hg.): Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich. Göttingen 2001, 306–321; Várossová, Elena: Einflüsse der deutschen Philosophie auf die geistige Kultur in der slovakischen Aufklärung und Romantik. In: Lauer, Reinhard (Hg.): Deutsche und slovakische Literatur. Wiesbaden 2000 (Opera Slavica N. F. 35), 59–79; Murko, Matthias: Deutsche Einflüsse auf die Anfänge der böhmischen Romantik. Graz 1897, 155–161. 5 Paul, Karel: Přehled tištěných prací Pavla Josefa Šafaříka. Praha 1931 (Prameny Učené společnosti Šafaříkovy v Bratislavě 4), 14–16; Nowak, Andrzej: The Conception of Panslavism in the Political Thought of the Great Emigration. In: Acta Poloniae Historica 73 (1996) 29–54, hier 30f.; Picht, Ulrich: M. P. Pogodin und die Slavische Frage. Ein Beitrag zur Geschichte des Panslavismus. Stuttgart 1969 (Kieler historische Studien 8), 126–132. 6 Schaffarik, Paul Joseph: Über die Abkunft der Slawen nach Lorenz Surowiecki. Ofen 1828. 7 Halling, Karl: Rezension zu Schaffarik: Ueber die Abkunft der Slaven, nach Lorenz Surowiecki. In: Jahrbücher der Literatur 63 (1833) 118–221, hier 220. 8 Jireček, Konstantin: P. J. Šafařík mezi Jihoslovany. Praha 1895, 108f.

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Der slowakische Gelehrte Pavel Josef Šafařík sollte ursprünglich in den 1830er Jahren eine neue Professur für Slawistik an der Universität Breslau übernehmen. Die Einrichtung des Lehrstuhls wurde dann aber aus politischen Gründen zurückgestellt. Sein 1837 in Prag auf Tschechisch erschienenes Werk Slowanské starožitnosti (Slawische Altertümer), das die Forschung begeistert aufnahm, wurde auf Veranlassung des schlesischen Historikers Heinrich Wuttke 1843/44 in deutscher Sprache herausgegeben. Bildnachweis: Francev, V[ladimir] A[ndrejevič] (Hg.): Korespondence Pavla Josefa Šafaříka, Bd. 1/1–2: Vzájemné dopisy P. J. Šafaříka s ruskými učenci (1825–1861). Praha 1927–1928 (Sbírka pramenů k poznání literárního života v Čechách, na Moravě a ve Slezsku 2: Korespondence a cizojazyčné prameny 25/1–2), hier Bd. 1/1, Frontispiz.

während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gewisse Nachfrage.9 Das größte Interesse an einer solchen Ausgabe zeigte der aus Danzig gebürtige Historiker Richard Roepell, dem 1841 ein Extraordinariat an der Universität Breslau übertragen worden war. In einem Schreiben an den preußischen Kultusminister vom 21. April des Jahres hatte der zuvor in Halle tätige Privatdozent seine „genaue Kenntnis des Slawischen“ unterstrichen, die es ihm erlaube, künftig „Vorlesungen über slawische Geschichte, ­Rechtsund Alterthümer zu übernehmen“.10 Für seine im Vorjahr in der Schriftenreihe von Heeren und Ukert veröffentlichte Geschichte Polens, die der Zeitspanne vom 9. bis zum 14. Jahrhundert galt, hatte Roepell nicht nur in Deutschland, sondern auch im östlichen Europa viel Anerkennung erhalten. Beeindruckt von dem Werk zeigte sich auch Šafařík, wie er seinem Moskauer Kollegen Pogodin am 5. Januar 1841 aus Prag schrieb.11 19 Nezdařil, Ladislav: Česká poezie v německých překladech. Praha 1985; Měšťan, Antonín: Das deutsche Interesse für die tschechische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Kaiser, Friedhelm Berthold/Stasiewski, Bernhard (Hg.): Wechselbeziehungen zwischen deutscher und slavischer Literatur. Köln/Wien 1978 (Studien zum Deutschtum im Osten 14), 100–118. 10 Zit. nach Barelkowski, Matthias: Zwischen Breslauer Universität und Berliner Politik. Richard Roepell (1808–1893) als Historiker, liberaler Politiker und „Polenfreund“. In: Bahlcke, Joachim/ Gehrke, Roland (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2019 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 28), 173–195, hier 177. 11 Francev, V[ladimir] A[ndrejevič] (Hg.): Korespondence Pavla Josefa Šafaříka, Bd. 1/1–2: Vzájemné dopisy P. J. Šafaříka s ruskými učenci (1825–1861). Praha 1927–1928 (Sbírka pramenů

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Dass man sich gerade in Breslau für Šafařík interessierte, hing allerdings auch mit Überlegungen zusammen, an der schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität eine Professur für Slawistik einzurichten. Bereits 1830 hatten der Historiker Ludwig Wachler und der Rechtshistoriker Ernst Theodor Gaupp einen Ausbau des Studiums der slawischen Sprachen und Literaturen in der Provinzhauptstadt gefordert und gleichzeitig konkrete Vorstöße unternommen, um Šafařík, der zu jener Zeit noch in Ungarn lehrte, für die neue Stelle zu gewinnen. Sie hatten damit eine Diskussion angestoßen, die auch im preußischen Kultusministerium zunächst wohlwollend aufgenommen wurde. In Berlin wurde das Vorhaben dann jedoch aus politischen Gründen für mehrere Jahre zurückgestellt.12 Erst die Thronbesteigung König Friedrich Wilhelms IV. 1840 schuf die Voraussetzungen, um erneut über einen Ausbau der slawischen Philologie an preußischen Universitäten nachzudenken. Es war auch der Fürsprache des tschechischen, seit 1823 in Breslau lehrenden Physiologen Jan Evangelista Purkyně zu verdanken, dass der Name von Šafařík für die dort geplante Professur erneut ins Spiel gebracht wurde. Der slowakische Gelehrte verfolgte zwar seit dem Umzug nach Prag längst andere Pläne und stand für eine Tätigkeit in Deutschland nicht mehr zur Verfügung.13 Er erklärte sich auf Ersuchen des preußischen Kultusministeriums aber bereit, ein Konzept über die inhaltliche und methodische Ausrichtung der beiden Professuren für Slawistik zu entwerfen, die in Berlin und in Breslau am 15. Januar 1841 durch Kabinettsorder geschaffen wurden.14 Die Denkschrift überreichte er Kultusminister Friedrich Eichhorn im Mai während eines Aufenthalts in Berlin persönlich. Sie enthielt auch Gedanken über die Zusammenarbeit der künftigen Slawistik mit anderen Fächern, besonders mit der Altertumskunde und

k poznání literárního života v Čechách, na Moravě a ve Slezsku 2: Korespondence a cizojazyčné prameny 25/1–2), hier Bd. 1/2, 625–628, Nr. 52. 12 ���������������������������������������������������������������������������������������� Rösel, Hubert: Dokumente zur Geschichte der Slawistik in Deutschland, Bd. 1: Die Universitäten Berlin und Breslau im 19. Jahrhundert. Berlin 1957 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für Slawistik 12), 8–14, 96–121. 13 Popov, Nil Aleksandrovič (Hg.): Pis’ma k M. P. Pogodinu iz slavjanskich zemel’ (1835–1861), Bd. 2: Pis’ma P. I. Šafarika. Moskva 1879, 169–173, Nr. 7. 14 Schaller, Helmut W.: Die Geschichte der slawischen Philologie an der Schlesischen FriedrichWilhelms-Universität in Breslau. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 44 (1995) 56– 91, hier 56–60; Zeil, Wilhelm: Slawistik in Deutschland. Forschungen und Informationen über die Sprachen, Literaturen und Volkskulturen slawischer Völker bis 1945. Köln/Weimar/Wien 1994 (Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Reihe A: Slavistische Forschungen N. F. 9/69), 155–195; Brauner, Heinz: Die Entwicklung der Slavischen Philologie und die Begründung des Breslauer Lehrstuhls. In: Jahrbuch des Osteuropa-Instituts zu Breslau (1942) 52–66; Laubert, Manfred: Zur Vorgeschichte der Breslauer Professur für Slavistik. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 67 (1933) 270–272; Nehring, [Władysław]: Slawische Philologie. In: Kaufmann, Georg (Hg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Bd. 2: Geschichte der Fächer, Institute und Ämter der Universität Breslau 1811–1911. Breslau 1911, 418–426, hier 418f.

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der Geschichte.15 Den Ruf nach Breslau erhielt ein Jahr später schließlich der tschechische Slawist und Bibliothekar František Ladislav Čelakovský, den Šafařík selbst empfohlen hatte. Die endgültige Absage Šafaříks war einer Übersetzung seiner Slowanské starožitnosti in Breslau gewiss nicht förderlich. Es war am Ende aber doch ein Schlesier, der das Projekt erfolgreich umsetzte: der aus Brieg gebürtige Historiker Heinrich Wuttke, der 1838 an der Universität Breslau bei Gustav Adolf Harald Stenzel promoviert worden war, dann aber – nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin – nach Leipzig gegangen war, wo er sich 1841 habilitierte.16 In der Forschung ist Wuttke vor allem als Verfechter ­einer gezielten Germanisierung in den östlichen Landesteilen Preußens und als scharfer Kritiker namentlich der polnischen Politik und Geschichtswissenschaft bekannt, als „Slawenhasser“,17 wobei häufg zeitgenössische, in der späteren politischen Debatte gefallene Zuschreibungen bedenkenlos für die frühen akademischen Jahre übernommen werden. Wuttkes anfängliche, vorrangig wissenschaftlich motivierte Zuwendung zur slawischen Welt und insbesondere seine Beweggründe zur Beschäftigung mit Šafaříks Werk dagegen wurden bisher nicht näher untersucht. Dass diese Arbeitsschwerpunkte auch mit der besonderen intellektuellen Atmosphäre der sächsischen Universitäts- und Handelsmetropole im Vormärz zusammenhingen, ist offensichtlich. Angesichts des restriktiven Polizei- und Zensursystems Metternichs in den benachbarten österreichischen Ländern war Leipzig in den 1840er Jahren ein Sammelbecken liberaler Kräfte – nirgendwo sonst erschien eine derart große Zahl an Broschüren, Pamphleten und Zeitungsartikeln über die Verhältnisse in der habsburgischen Monarchie. Auch das Interesse an den politischen Emanzipationsbestrebungen der slawischen Völker war hier besonders ausgeprägt.18 Für Wuttke waren Šafaříks Slawische Alterthümer, wie er den Lesern der 1843/44 in zwei Bänden auf Deutsch vorgelegten Ausgabe gleich zu Beginn seines Vorworts eröffnete, schlichtweg das „Hauptwerk der slawischen Geschichtsforschung“. Der Herausgeber ging demonstrativ auf Distanz zu den Arbeiten deutscher Historiker, die, sofern 15 Rösel: Dokumente zur Geschichte der Slawistik in Deutschland, Bd. 1, 29–43, 164–170. 16 Gehrke, Roland: Heinrich Wuttke (1818–1876). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 12. Würzburg 2017, 197–211; Todte, Mario: Studien zum Geschichtswerk von Heinrich Wuttke (1818–1876). München 2010; Blecher, Jens/Todte, Mario: Heinrich Wuttke (1818–1876). In: Wiemers, Gerald (Hg.): Sächsische Lebensbilder, Bd. 6/2. Stuttgart 2009 (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 33), 799–830. 17 C[y]ž, M[ichał]: Slawenfresserei im Leipziger Redeübungsverein. In: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft 5 (1847) 193–197, hier 197. 18 Wolfgramm, Eberhard: Die Rolle der Universität Leipzig bei der nationalen Wiedergeburt der slawischen Völker, besonders in der Periode des Vormärz. In: Karl-Marx-Universität Leipzig 1409–1959. Beiträge zur Universitätsgeschichte, Bd. 1. Leipzig 1959, 223–249. Wolfgramm beobachtete auch den Wandel von Wuttkes Einstellung zum Slawentum in den 1840er Jahren und erwähnte in diesem Zusammenhang die von ihm veranlasste Übersetzung von Šafaříks Slowanské starožitnosti (ebd., 245).

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sie überhaupt Interesse für das östliche Europa aufbrächten, ein undifferenziertes Bild des Raumes zeichneten und vielfach die Slawen allgemein für eine kultur- und geschichtslose Nation hielten. Šafaříks „großartige Untersuchungen“ würden, so Wuttke, dazu beitragen, „daß fortan eine richtige Kenntniß und bessere Würdigung des Slawenthums [...] unter uns Deutschen eintreten wird“.19 Das waren für einen gerade einmal sechsundzwanzigjährigen Historiker ungewöhnlich selbstbewusste Äußerungen, zumal Wuttke überdies noch ankündigte, „binnen kurzem“ eine eigene Gesamtdarstellung der osteuropäischen Geschichte – unter dem Titel „Versuch einer slawischen Geschichte“ – veröffentlichen zu wollen.20 Dass der Leipziger Privatdozent vor einer Auseinandersetzung selbst mit Autoritäten des Faches nicht zurückscheute, hatte er bereits Ende der 1830er Jahre in Breslau unter Beweis gestellt. Damals hatte Wuttke den Nachweis erbracht, dass es sich bei einem für die frühneuzeitliche Geschichte Schlesiens wichtigen, vermeintlich im frühen 17. Jahrhundert entstandenen Tagebuch eindeutig um eine Fälschung handelte – und damit Stenzel, der an der Echtheit des Dokuments bis zuletzt festhielt, praktisch in aller Öffentlichkeit bloßgestellt.21 Beachtenswert bei der deutschen Ausgabe von Šafaříks Werk ist aber nicht nur dessen Herausgeber, sondern auch dessen Übersetzer. Für diese Aufgabe hatte Wuttke einen seiner Hörer aus der Juristischen Fakultät, den Sorben Korla Awgust Mosak-Kłosopólski (Karl August Mosig von Aehrenfeld), gewinnen können.22 Mosak-Kłosopólski hatte Šafařík und andere tschechische Erwecker 1840 auf einer Reise, die ihn auch nach Breslau geführt hatte, persönlich kennengelernt. Nicht nur an dieser Reise, auch an Korrespondenzen und Kontakten werden die engen Verflechtungen im schlesischsächsisch-böhmischen Raum sichtbar, die sich zwangsläufig auch auf die Geschichtsschreibung auswirkten. So war der 1838 in Breslau gegründete Akademische Verein für lausitzische Geschichte und Sprache, in dem die in der schlesischen Provinzhauptstadt 19 Schafarik, Paul Joseph: Slawische Alterthümer, Bd. 1–2. Hg. v. Heinrich Wuttke. Leipzig 1843– 1844 (Vorwort Bd. 2, V–XII, hier V, VII). 20 Ebd., Bd. 2, VIII. Das angekündigte Werk ist allerdings nie erschienen, da sich Wuttke bereits kurze Zeit später in Leipzig der Politik zuwandte. Vgl. Wuttke, Heinrich: Deutsche und Polen. Politische Betrachtungen. Schkeuditz 1846. 21 Wuttke, Heinrich: Ueber das Haus- und Tagebuch Valentin Gierth’s und die Herzogin Dorothea Sybilla von Liegnitz und Brieg, geborne Markgräfin von Brandenburg. Eine Untersuchung. Breslau 1838; ders.: Ueber die Unächtheit des angeblichen Gierthschen Tagebuches, eine Vertheidigung und Ausführung der diese nachweisenden Untersuchung. Breslau 1839. Eine Gesamtdarstellung des Konflikts mit Stenzel bietet Grieger, Rudolf: Die „Denkwürdigkeiten aus dem Leben der Herzogin Dorothea Sybilla von Liegnitz und Brieg gebornen Markgräfin von Brandenburg“ – Geschichte einer Fälschung. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte N. F. 71 (1992) 69–104. 22 Schuster-Šewc, Heinz: Der Beitrag der Lausitzer Sorben zur Entwicklung der Slawistik an der Leipziger Universität unter besonderer Berücksichtigung von Jan Pětr Jordan und August Leskien. In: Neues Archiv für sächsische Geschichte 67 (1996) 133–145; Šołta, J[an]: MosakKłosopólski, Korla Awgust. In: Eichler, Ernst (Hg.): Slawistik in Deutschland von den Anfängen bis 1945. Ein biographisches Lexikon. Bautzen 1993, 272–273.

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an slawischer Kultur und Geschichte interessierten Dozenten und Studenten regelmäßig zusammenkamen, das maßgebliche Vorbild für den Akademischen Slawenverein, den Mosak-Kłosopólski drei Jahre später in Leipzig ins Leben rief.23 An mehreren deutschen Universitäten fiel den Sorben in dieser Phase, in der man aktiv am nationalpolitischen Leben im benachbarten Böhmen teilnahm oder die dortigen Entwicklungen zumindest genau beobachtete, eine wichtige Rolle für die Vermittlung tschechischer Druckwerke im deutschsprachigen Raum zu. Der hier einleitend skizzierte Einzelfall erlaubt wichtige Rückschlüsse, die im Zusammenhang dieses Beitrags zu beachten sind. In der Historiographiegeschichte geht es traditionell um die Kontextualisierung des von Historikern tatsächlich Erarbeiteten und im Druck Erschienenen. Zu diesen publizierten Texten können in aller Regel valide Aussagen getroffen werden. Anders verhält es sich in Fällen, in denen die Gründe für eine fehlende Zuwendung zu bestimmten Sachgebieten oder die Marginalisierung entsprechender Forschungen dargelegt werden sollen. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: 1844 erschien in Leipzig das dreibändige, mehr als 1.300 Seiten umfassende Werk Böhmen. Geschichte des Landes und seines Volkes von der frühesten bis auf die neueste Zeit, dessen Autor, der Sorbe Jan Pětr ( Johann Peter) Jordan, lange Jahre in Prag studiert und gewirkt hatte, bevor er nach der Ausweisung aus Böhmen 1841 eine Stelle als Lektor für slawische Sprachen und Literaturen an der Universität Leipzig annahm.24 Der Hintergrund des Buchprojekts und dessen Umsetzung sind ebenso klar zu rekonstruieren wie die Motive des Verfassers. Warum aber wurde in Breslau während des gesamten 19. Jahrhunderts keine auch nur ansatzweise vergleichbare Darstellung erarbeitet, obwohl Schlesien in historischer Perspektive ungleich längere Verbindungen zum Nachbarland Böhmen besaß? Diese Frage ist nicht mit gleicher Sicherheit zu beantworten. Die Überlegung scheint trivial, bedarf aber der Erwähnung, da sie in historiographiegeschichtlichen Studien regelmäßig vernachlässigt wird.

23 Kunze, Peter: Der Akademische Verein für lausitzische Geschichte und Sprache in Breslau. In: Donnert, Erich (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 3: Aufbruch zur Moderne. Weimar/Köln/Wien 1997, 663–682; Musiat, Siegmund: Sorbische/ wendische Vereine 1716–1937. Ein Handbuch. Bautzen 2001 (Schriften des Sorbischen Instituts 26), 42–45, 55–57. 24 Jordan, J[an] P[ětr]: Böhmen. Geschichte des Landes und seines Volkes von der frühesten bis auf die neueste Zeit, Bd. 1–3. Leipzig [1844]. 1847 erschien sogar noch eine zweite Auflage. Zum Autor und zu dessen Werk vgl. Schmidt, Miloš: Dr. Jan Pětr Jordan. Jeho žiwjenje a skutkowanje wot lěta 1848. Budyšin 1962 (Spisy Instituta za serbski ludospyt 14); Rösel, Hubert: Beiträge zur Geschichte der Slawistik an den Universitäten Halle und Leipzig im 18. und 19. Jahrhundert. Heidelberg 1964 (Annales Universitatis Saraviensis. Reihe: Philosophische Fakultät 3), 60–68, 165–192; ders.: Johann Peter Jordan und seine Tätigkeit als Slavist in Leipzig. In: Die Welt der Slaven. Vierteljahrsschrift für Slavistik 5 (1960) 90–105; Brock, Peter: J. P. Jordan’ Role in the National Awakening of the Lusatian Serbs. In: Canadian Slavonic Papers. Revue canadienne des Slavistes 10 (1968) 312–340; Zeil, W[ilhelm]: Jordan, Jan Pětr. In: Eichler (Hg.): Slawistik in Deutschland, 196–197.

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Bei Šafařík wie auch bei Jordan lässt sich exemplarisch aufzeigen, wie stark geschichtswissenschaftliche Forschungen zur slawischen Welt im langen 19. Jahrhundert von den breiteren politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhingen. Bis zum Ende des Vormärz wirkte in Deutschland die Slawenverklärung Johann Gottfried Herders und anderer Romantiker nach.25 Die nationalpolitischen Bestrebungen der panslawistischen Bewegung, die Aufstandsbestrebungen in den polnischen Teilungsgebieten und die revolutionären Ereignisse der Jahre 1848/49 markierten dann aber einen deutlichen Bruch.26 Das diffuse Gefühl einer slawischen Bedrohung nahm unter den deutschen Intellektuellen ebenso wie in politischen Kreisen spürbar zu. „Sie nahmen den Panslawismus als Angriff sowohl auf ihre traditionelle (österreichische und preußische) Vormachtstellung als auch auf ihre eigene, noch junge nationale Einigungsbewegung wahr.“27 Nachzuvollziehen ist dieser Wandel etwa am Niedergang der von Jordan 1843 begründeten Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft, die unter dem Motto „Verständigung! Versöhnung! Vereinigung!“ gestanden und ein friedliches Nebeneinander zwischen Slawen und Deutschen propagiert hatten, den politischen Ereignissen Mitte des 19. Jahrhunderts aber zum Opfer fielen.28 Eine weitere Beobachtung, die im Folgenden zu beachten sein wird: Ähnlich wie Šafařík und andere Anhänger allslawischer Ideen nahmen auch deutsche Gelehrte die slawischsprachigen Nationen im 19. Jahrhundert weitgehend als Einheit wahr. Ihre Arbeiten unterschieden sich in dieser Hinsicht kaum von den verbreiteten, einen mitunter kruden Antislawismus befördernden Popularisierungen historischer Stoffe – zu denken ist hier etwa an das 1847 erschienene, wirkmächtige Werk Der Weltkampf der Deutschen und Slaven29 des in Brandenburg an der Havel lehrenden Gymnasiallehrers Moritz Wilhelm Heffter und an dessen fünf Jahre später publizierte Abhandlung Das 25 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Robertson, Ritchie: Zum deutschen Slawenbild von Herder bis Musil. In: Faes, Urs/Ziegler, Béatrice (Hg.): Das Eigene und das Fremde. Festschrift für Urs Bitterli. Zürich 2000, 116–144. 26 Labuda, Gerard: The Slavs in Nineteenth Century German Historiography. In: Polish Western Affairs (10 (1969) 177–234. 27 Mühle: Die Slawen im Mittelalter, 26. 28 Scholze-Šołta, Dietrich: Slowakische Bezüge in Jan Pětr Jordans Leipziger „Jahrbüchern für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft“ (1843–1848). In: Kliems, Alfrun (Hg.): Slowakische Kultur und Literatur im Selbst- und Fremdverständnis. Ludwig Richter zum 70. Geburtstag. Stuttgart 2005 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 22), 267– 278; Kunze, Peter: Jan Arnošt Smoler und die „Slavischen Jahrbücher“. Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft (1843/1846–1849). In: Lětopis. Jahresschrift des Instituts für sorbische Volksforschung B/38 (1991) 9–39. 29 Heffter, M[oritz] W[ilhelm]: Der Weltkampf der Deutschen und Slaven seit dem Ende des fünften Jahrhunderts nach christlicher Zeitrechnung, nach seinem Ursprunge, Verlaufe und nach seinen Folgen dargestellt. Hamburg/Gotha 1847. Es ist für die deutsche Forschung zum Antislawismus bezeichnend, dass zwischen populären Geschichtsschreibern wie Heffter und Fachhistorikern nicht differenziert wird. Vgl. exemplarisch Wippermann, Wolfgang: Der „Deutsche Drang nach Osten“. Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes. Darmstadt 1981 (Impulse der Forschung 35), 136.

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Slawenthum.30 Dieser spezifische Blickwinkel hatte aber keine ausschließlich politischideologische Dimension, sondern verdankte sich auch dem vorrangigen Interesse für die eigene, die deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa – das Gegenüber bedurfte keiner Differenzierung, da es ohnehin nicht im Vordergrund stand. Der aus Schlesien gebürtige, 1862 an der Universität Kiel lehrende Germanist Karl Weinhold, der gewiss kein nationaler Scharfmacher war, beschrieb seine Haltung dazu in einem Beitrag über die sprachliche Situation in Schlesien, dem „Grenzland zweier Völker, der Deutschen und der Slaven“, mit den Worten: „Wir überlassen es einem Slavisten, sich über die slavischen Mundarten Schlesiens zu äußern und richten unser Auge nur auf das Deutsche.“31 Eine solche Arbeitsteilung schien auch vielen Historikern der Zeit selbstverständlich. Noch war die Vergangenheit eine Art nationaler Besitzstand, den es sorgsam zu hüten galt – und zwar auf allen Seiten. Schon am 9. Januar 1826 hatte Šafařík seinem Freund Jan Kollár geschrieben, er teile die Überzeugung des polnischen Rechtshistorikers Ignacy Benedykt Rakowiecki: Über die slawische Geschichte solle nur ein Slawe arbeiten.32 Ein letzter Punkt schließlich, der nochmals an Heinrich Wuttke und dessen deutsche Ausgabe von Šafaříks Darstellung der slawischen Frühgeschichte anknüpft. Als Wuttke das Vorhaben in Angriff nahm, spielte erkennbar auch das Bemühen, in der Fachwelt Aufsehen zu erregen und sich als Privatdozent für höhere Aufgaben zu profilieren, eine gewisse Rolle. Im Allgemeinen empfahl es sich jedoch für einen jungen Historiker nicht, in dieser Phase der Verwissenschaftlichung des Faches auf Themen zur slawischen Geschichte (im weitesten Sinn) zu setzen. Nicht zufällig sind entsprechende Schwerpunkte in den Dissertationen – die bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zugleich die Themenwahl und Anlage der Habilitation mitbestimmten33 – kaum zu finden. Wer sich dennoch für solche Schwerpunkte entschied, fühlte sich von zeitgenössischen, die Fachzeitschriften beherrschenden Debatten oft abgeschnitten. Ähnlich erging es auch dem bereits genannten Richard Roepell in Breslau: Selbst als Lehrstuhlinhaber litt er unter der „Isolirung“, wie sein Kollege Jacob Caro schrieb, „in welche den deutschen 30 ����������������������������������������������������������������������������������������� Heffter, Moritz Wilhelm: Das Slawenthum. Leipzig 1852 (Unterhaltende Belehrungen zur Förderung allgemeiner Bildung 10). 31 Weinhold, Karl: Schlesien in sprachlicher Hinsicht. In: Schlesische Provinzialblätter N. F. 1 (1862) 521–524, hier 522. Zu Weinhold vgl. Kunicki, Wojciech: Germanistische Forschung und Lehre an der Königlichen Universität zu Breslau von 1811 bis 1918. Unter besonderer Berücksichtigung der Studien zur neueren deutschen Literatur- und Kulturgeschichte. Leipzig 2019, 132–146; Bönisch-Brednich, Brigitte: Volkskundliche Forschung in Schlesien. Eine Wissenschaftsgeschichte. Marburg 1994 (Schriftenreihe der Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 68), 61–71. 32 Dopisy Pavla Jos. Šafaříka Janu Kollárovi, Nr. 31 [9. Januar 1826]. In: Časopis Musea Království českého 48/1 (1874) 54–90, hier 54–57. 33 Bahlcke, Joachim: Geschichtswissenschaftliche Habilitationen an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau zwischen 1811 und 1914: Akademische Qualifikation, personale Netzwerke und Einbindung in wissenschaftliche Schulen. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 29–91.

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Gelehrten das Studium der slawischen Geschichte versetzte“. Deren Wert fand allenfalls dann Anerkennung, wenn sie im Zusammenhang mit Kultur und Geschichte der Deutschen erforscht wurde. Dies galt in Preußen, wie auch Roepell erfahren musste, vor allem für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem untergegangenen polnischen Staat. Gerade für diejenigen Epochen, „in denen die Geschichte Polens vermöge seiner selbständigen nationalen Entwickelung nicht mehr ein completierendes Stück der deutschen Geschichte bildete, konnte er in Ermangelung eines belebenden ihn unmitttelbar umgebenden Verständnisses die innere Sympathie nicht finden.“34 Zumindest auf Unannehmlichkeiten mussten sich auch deutsche Studenten einstellen, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Breslau ein von vielen als befremdlich, ja unpatriotisch empfundenes Studium der Slawistik aufnahmen.35 Im Folgenden soll überprüft werden, ob sich in der geschichtswissenschaftlichen Produktion schlesischer Historiker vor dem Ersten Weltkrieg Abhandlungen speziell zur Vergangenheit des böhmisch-mährischen Nachbarn finden lassen, welche zeitlichen, inhaltlichen und methodischen Schwerpunkte dabei zu beobachten sind und welche Akademiker – in sozialer, ethnischer und geographischer Hinsicht – beziehungsweise Institutionen sich an dieser Forschung beteiligten. Thematische Abgrenzungen können dabei nicht scharf gezogen werden, denn landeskundliche Arbeiten zu einer schlesischen Stadt während der Hussitenzeit, etwa Hermann Markgrafs Editionen Politische Correspondenz Breslaus im Zeitalter Georgs von Podiebrad (1873/74)36 oder Richard Koebners Studie Der Widerstand Breslaus gegen Georg von Podiebrad (1916),37 waren nicht zwingend Forschungen zur engeren Geschichte des böhmischen Länderverbunds. 34 Caro, J[acob]: Richard Roepell. In: Chronik der Königlichen Universität zu Breslau für das Jahr vom 1. April 1893 bis zum 31. März 1894, Jg. 8. Breslau 1894, 99–119, hier 116. Caro, der sich ebenfalls mit der Geschichte Polens beschäftigte, gab mit diesem Urteil vermutlich auch eigene Empfindungen und Erfahrungen wieder. Zu Caros Werdegang und zu seinen fachlichen Netzwerken vgl. Ergetowski, Ryszard (Hg.): Listy Jacoba Caro do uczonych polskich (1862–1902) – Briefe von Jacob Caro an polnische Gelehrten (1862–1902). Warszawa 2005 (Rozprawy z dziejów nauki i techniki 16); ders.: Związki J. Caro z polskimi uczonymi w latach 1862–1902. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 42 (1987) 17–40; Barelkowski, Matthias: Die Teilungen Polen-Litauens interpretieren. Richard Roepell und Jakob Caro – zwei deutsche „Polenhistoriker“ zwischen Wissenschaft und Politik. In: Bömelburg, Hans-Jürgen/Gestrich, Andreas/­ Schnabel-Schüle, Helga (Hg.): Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen. Osnabrück 2013, 105–154; Widawska, Barbara: Richard Roepell (1808–1893) und Jacob Caro (1836–1904) als deutsch-polnische Kulturvermittler. Zu Ihrem Briefwechsel mit polnischen Gelehrten. In: Brandt, Marion (Hg.): Solidarität mit Polen. Zur Geschichte und Gegenwart der deutschen Polenfreundschaft. Frankfurt a. M. 2013 (Colloquia Baltica 25), 125–146. 35 Rösel: Dokumente zur Geschichte der Slawistik in Deutschland, Bd. 1, XI, 69. 36 Markgraf, Hermann (Hg.): Politische Correspondenz Breslaus im Zeitalter Georgs von Podiebrad. Zugleich als urkundliche Belege zu Eschenloers Historia Wratislaviensis, Abth. 1: 1454– 1463, Abth. 2: 1463–1469. Breslau 1873–1874 (Scriptores rerum Silesiacarum 8–9). 37 ������������������������������������������������������������������������������������������� Koebner, Richard: Der Widerstand Breslaus gegen Georg von Podiebrad. Breslau 1916 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 22).

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Umgekehrt kann dessen Entwicklung freilich auch bei einer Abhandlung zur österreichischen Monarchie erörtert worden sein, ohne dass dies aus dem Titel unmittelbar zu erkennen ist. Hier ist mithin eine gewisse Flexibilität gefragt. Dass die Geschichte Polens im preußischen Gesamtstaat des 19. Jahrhunderts grundsätzlich eine weitaus höhere Beachtung unter Historikern fand als die Geschichte des seit 1804 im Kaisertum Österreich gelegenen Böhmen, ist offensichtlich.38 Mochte Schlesien auch rund vier ­Jahrhunderte verfassungsrechtlich zur Krone Böhmen gehört haben: Entscheidend für die historiographische Würdigung einer solchen Vergangenheit war zunächst die politische Gegenwart, und die begünstigte entsprechende Forschungen nun einmal nicht. Der Gang der Untersuchung erfolgt in vier Schritten: Zunächst soll der Wahrnehmung und Deutung der slawischen Nachbarschaft in Schlesien und besonders der Frage, wie Historiker diese Nachbarschaft in eigene Konzepte von „National“-, Provinzial- und „Spezial“-Geschichte einbetteten, nachgegangen werden. In einem zweiten Schritt wird untersucht, welchen Stellenwert die Geschichte Böhmens und Mährens in den Meistererzählungen und Lehrbüchern Schlesiens vor 1914 besaß und welche Einzelforschungen in dieser Phase von Universitätsdozenten, aber auch von den in Geschichts- und Altertumsvereinen organisierten Laienhistorikern in Angriff genommen wurden. Ein dritter Schritt gilt der Frage, inwieweit man tschechisch- und deutschsprachige Abhandlungen, die in Böhmen und Mähren erarbeitet und veröffentlicht wurden, auf schlesischer Seite rezipierte, ein abschließender vierter schließlich der Frage nach dem persönlichen Kontakt und Wissensaustausch zwischen Vertretern beider Historiographien sowie generell dem Problem von Archiv- und Forschungsreisen im 19. Jahrhundert.

2. Konzepte von „National“-, Provinzial- und „Spezial“-Geschichte in Schlesien und die Frage der slawischen Nachbarschaft Unabhängig davon, ob man in Schlesien konkret zur Kultur und Geschichte der Slawen forschte oder nicht, wurde die Nachbarschaft zu verschiedenen slawischen Völkern das ganze 19. Jahrhundert über von Geistes- und Kulturwissenschaftlern breit thematisiert. Dass dabei der Nachweis der vermeintlich kulturell-zivilisatorischen Superiorität des deutschen Elements vielfach im Vordergrund stand, wird nicht weiter überraschen. Die wirkmächtige Abhandlung Schlesiens Antheil an deutscher Poesie, in der August Kahlert 1835 „die Natur des poetischen Talentes, das in der Nationalität liege“, nachzuweisen versuchte,39 enthält dazu ebenso viele Belege wie Karl Weinholds Werk Die Verbreitung und die Herkunft der Deutschen in Schlesien aus dem Jahr 1887, in dem die slawische Nachbarschaft als eine Ursache für das spürbar geringe Interesse am Oderland in ande38 Zur schlesischen Historiographie des 19. Jahrhunderts im preußisch-polnischen Kontext vgl. den Beitrag von Roland Gehrke in diesem Band. 39 Kahlert, August: Schlesiens Antheil an deutscher Poesie. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte. Breslau 1835, 2.

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ren deutschen Territorien bezeichnet wurde: „Aus der Lage Schlesiens am Ostrande des Reiches, zwischen Polen und Tschechien, abseits der grossen Weltstrassen und des deutschen Reisezuges, erklärt es sich, dass man Land und Volk im übrigen Deutschland wenig oder gar nicht kennt.“40 Dieser vielfach popularisierte Topos findet sich noch in der Rede von Theodor Siebs zur Jahrhundertfeier der Universität Breslau im Jahr 1911, nun allerdings bereits in stärker nationalpolitischem Kontext.41 Besonders neu nach Schlesien berufene Gelehrte verbanden den Eindruck einer gewissen Rückständigkeit, Enge und Provinzialität des Landes, der uns in Briefen und autobiographischen Zeugnissen überliefert ist, häufig mit dessen enger Verflechtung mit der slawischen Welt.42 Der von Halle 1811 nach Breslau gewechselte Henrik Steffens, dessen mehrbändigen Erinnerungen wir wichtige Einblicke in das Innenleben der Philosophischen Fakultät und die Integration der Neuberufenen in das Breslauer Gesellschaftsleben während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdanken, bekannte freimütig: „Mir kamen die Schlesier wie ein halb slavisches Volk vor.“43 Dies war sicherlich, wie der Althistoriker und Geograph Josef Partsch 1904 zu Recht urteilte, „auch damals eine vorurteilsvolle Übertreibung der in den Sprachgrenzen jener Zeit schärfer hervortretenden Absonderung Schlesiens“.44 Aber solche Urteile waren doch mehr als nur persönliche Befindlichkeiten, weil sie eine allgemeine Atmosphäre beschrieben, in der jede tiefergehende Auseinandersetzung mit der Geschichte der slawischen Nachbarn von vornherein erschwert wurde. Bezeichnenderweise finden wir eingehende Reflexionen zu der Frage, was eigentlich den Gegenstand der Geschichte Schlesiens ausmache und wie diese konzeptionell darstellbar sei, am Anfang, nicht am Ende des 19. Jahrhunderts. Es lohnt sich gerade im Zusammenhang der hier verfolgten Fragestellung, noch einmal in die Zeit der Spät40 ������������������������������������������������������������������������������������������� Weinhold, Karl: Die Verbreitung und die Herkunft der Deutschen in Schlesien 1887 (Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde 2/3), 83. 41 Siebs, Theodor: Zur Jahrhundertfeier der Universität Breslau. Rede, gehalten beim Festaktus am 3. August 1911. Breslau 1911. 42 ����������������������������������������������������������������������������������������� Gehrke, Roland: Die Berufung von Historikern an die Universität Breslau (1848–1914): Auswahlkriterien, Durchsetzung, Personalfluktuation. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 93–127, hier 116–120; Bahlcke, Joachim: Das Historische Seminar der Universität Breslau 1811 bis 1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte [2012/13]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2016 (Forschungen zu Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3), 217–238, hier 217–223. 43 Steffens, Henrich: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben, Bd. 7. Breslau 1843, 1. 44 Partsch, Josef: Schlesien an der Schwelle und am Ende des 19. Jahrhunderts. In: Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 1–2. Breslau 1904, Bd. 1, 51–61, hier 58. Zu Partsch vgl. Brogiato, Heinz Peter/Mayr, Alois (Hg.): Joseph Partsch – Wissenschaftliche Leistungen und Nachwirkungen in der deutschen und polnischen Geographie. Beiträge und Dokumentationen anlässlich des Gedenkkolloquiums zum 150. Geburtstag von Joseph Partsch (1851–1925) am 7. und 8. Februar 2002 im Institut für Länderkunde Leipzig. Leipzig 2002 (Beiträge zur regionalen Geographie 58).

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aufklärung zurückzublicken. In den Jahrzehnten um 1800 lässt sich in allen Gesellschaften Mitteleuropas ein tiefgreifender Wandel politischer Identitäten beobachten. Die breite Debatte über Patriotismus, Sprache und Nationsbildung, die von der Aufklärungsbewegung angestoßen worden war, wurde zwar noch lange in Begriffen ­geführt, die in weiten Teilen unbestimmt und mehrdeutig waren. Dass bestimmte integrative Wertvorstellungen, Bindungen und Loyalitäten gleichwohl in Konkurrenz zueinander standen, lag auf der Hand.45 Die gewaltsamen Veränderungen der politischen Verhältnisse nach Ausbruch der Französischen Revolution, von der endgültigen Auflösung des polnisch-litauischen Staates bis hin zum Untergang des Heiligen Römischen Reiches, beschleunigten einen Formierungsprozess, der auf die Ausbildung neuer territorialpolitischer und ethnischer Orientierungen abzielte. Es war eine in weiten Teilen offene Situation, bei der nicht absehbar war, welche Vergemeinschaftungen sich am Ende behaupten und bewähren würden.46 Bei der Identitätsbildung der modernen Nationalgesellschaften Mitteleuropas fiel der Geschichtsschreibung eine wesentliche Rolle zu. Ähnlich wie in Bayern oder in Sachsen beobachten wir in der Spätphase des Heiligen Römischen Reiches auch in Schlesien einen öffentlichen Diskurs, der den Zusammenhalt des Gemeinwesens und dessen geistige Wurzeln zum Gegenstand hatte. „Bis ins 13te Jahrhundert war Schlesien ein Tummelplatz der Polen, Böhmen, Deutschen, und hauptsächlich seiner eigenen Fürsten“, heißt es etwa 1786 in einem Beitrag in den Schlesischen Provinzialblättern, der das Wesen der „schlesische[n] Nation“ zu erkunden suchte.47 Der Begriff der Nation, der bei Intellektuellen und Gelehrten in der Regel noch die Bevölkerung des Vaterlands, 45 Fink, Gonthier-Louis/Klinger, Andreas (Hg.): Identitäten. Erfahrungen und Fiktionen um 1800. Frankfurt am Main u. a. 2004 ( Jenaer Beiträge zur Geschichte 6); Dann, Otto/Hroch, Miroslav/Koll, Johannes (Hg.): Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches. Köln 2003 (Kölner Beiträge zur Nationsforschung 9); Echternkamp, Jörg: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840). Frankfurt am Main/New York 1998; Stauber, Reinhard: Nationalismus vor dem Nationalismus? Eine Bestandsaufnahme der Forschung zu „Nation“ und „Nationalismus“ in der Frühen Neuzeit. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996) 139–165; Schönemann, Bernd: Volk, Nation, Nationalismus, Masse (VI.–XII.). In: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischen Sprache in Deutschland, Bd. 7. Stuttgart 1992, 281–380. 46 Langewiesche, Dieter/Schmidt, Georg (Hg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. München 2000; Kocka, Jürgen: Das östliche Mitteleuropa als Herausforderung für eine vergleichende Geschichte Europas. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 49 (2000) 159–174; Zernack, Klaus: Zum Problem der nationalen Identität in Ostmitteleuropa. In: Berding, Helmut (Hg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2. Frankfurt am Main 1994, 176–188; ders. (Hg.): Polen und die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701–1871. Berlin 1982 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 33). 47 Plümicke, [ Johann Heinrich Ludwig]: Ist Schlesien vor dem Jahre 1618 bevölkerter und reicher gewesen, als heut? [...] In: Schlesische Provinzialblätter 3 (1786) 502–525, 4 (1786) 2–18, hier 505, 510.

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die Gesamtheit seiner Bürger, umfasste, war im Oderland freilich schwerer zu fassen als andernorts – dies hing mit der ethnischen und sprachlichen Pluralität innerhalb des Landes zusammen,48 vor allem aber mit dessen wechselnder äußerer Zugehörigkeit zu verschiedenen Reichen in der Vergangenheit.49 Deutlich wird dies an einer ganzen Reihe von Beiträgen aus dem frühen 19. Jahrhundert, die allesamt die Frage aufgriffen, wie eigentlich eine Geschichte Schlesiens konzeptionell zu fassen und zu schreiben sei. Identitätssuche und das Bemühen um eine Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung waren dabei eng miteinander verflochten.50 Es sei unstrittig, so 1802 der Oelser Lehrer Karl Ehrenfried Günther, dass man eine historische Betrachtung des Oderlands nicht „erst mit dem Jahre 1740 angehen dürfte“, mit dem Aufgehen des Landes in der Hohenzollernmonarchie mithin. Wie aber solle ein „Vaterlandsfreund“ für die „Vorzeit“, in der es immer wieder wechselnde Verbindungen zu slawischen Reichen gegeben habe, angemessene Orientierung schaffen in dem ohnehin kaum zu durchdringenden „labyrinthischen Wirrwarr der schlesischen Geschichte“?51 Der Frage, wie gerade die älteren Zeitabschnitte dieser Geschichte im Rahmen einer „preußischen Nazionalgeschichte“ darstellbar seien, ging 1818 der Breslauer Schulrat Karl Adolf Menzel nach. Er plädierte einerseits mit Nachdruck für eine „provinziale Landesgeschichte“, denn nur zu dieser fühle sich „das Volk“, die Gesamtheit der Bewohner des Oderlands, „noch durch eine natürliche und angebohrne Neigung“ hingezogen. Andererseits hob er die spezifischen „Verbindungen“ hervor, die Schlesien vor Beginn der preußischen Oberherrschaft zu seinen Nachbarreichen besessen habe. Es sei mithin kein Zufall, dass sich beispielsweise das Verhältnis der hussitischen und der katholischen Partei in Böhmen oder die Stellung des böhmischen Königs Georg von Podiebrad zum päpstlichen Stuhl aus den einheimischen Geschichtsquellen „auf eine viel deutlichere Weise als selbst aus der böhmischen Spezialgeschichte begreifen“ lasse. Nützlich sei der Blick des Historikers nach Böhmen und nach Polen überdies aus nationalpädagogi48 Gehrke, Roland: Geographische Peripherie und zivilisatorische Rückständigkeit: Grundmotive des deutschen Oberschlesiendiskurses im späten 18. und 19. Jahrhundert. In: Hardach, Karl (Hg.): Internationale Studien zur Geschichte von Wirtschaft und Gesellschaft, Tl. 1. Frankfurt a. M. u. a. 2012, 229–249. 49 Weber, Matthias: „Ausbeutung der Vergangenheit“. Zur historiographischen Bearbeitung der Stellung Schlesiens zwischen dem Heiligen Römischen Reich und den Königreichen Polen und Böhmen. In: Willoweit, Dietmar/Lemberg, Hans (Hg.): Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegitimation. München 2006 (Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa 2), 13–33. 50 Menzel, Josef Joachim: Die Anfänge der kritischen Geschichtsforschung in Schlesien zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Festschrift Ludwig Petry, Tl. 2. Wiesbaden 1969 (Geschichtliche Landeskunde. Veröffentlichungen des Instituts für geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz 5), 245–267. 51 [Günther, Karl Ehrenfried]: Grundsätze, nach welchen die Geschichte Schlesiens geschrieben werden muß. In: Litterarische Beilage zu den Schlesischen Provinzialblättern 35 (1802) 97–118, hier 101, 103, 107. Zur Person des Verfassers vgl. Köhler, Joh[ann] August Ernst: Geschichte der Oberlausitz vom Jahre 1815 bis zur Gegenwart. Görlitz [1868], 161.

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Die breite Debatte über Patriotismus, Sprache und Nationsbildung, die von der Aufklärungsbewegung angestoßen worden war, schlug sich auch in schlesischen Zeitschriften nieder. Der Geschichtsschreibung fiel dabei eine wichtige identitätsstiftende Rolle zu. Wie aber solle man, fragte 1802 der Autor dieses Beitrags, für die „Vorzeit“, in der es wechselnde Verbindungen zu slawischen Reichen gegeben habe, Orientierung schaffen in dem ohnehin kaum zu durchdringenden „labyrinthischen Wirrwarr der schlesischen Geschichte“? Bildnachweis: Projektbereich Schlesische Geschichte an der Universität Stuttgart.

schen Überlegungen heraus, so der evangelische Autor, um die Behauptung des reformatorischen Aufbruchs im eigenen Land noch höher würdigen zu können. „Blicket hinüber nach Böhmen, und sehet zu, was aus dem, einst so freien und geistreichen Volke geworden! Fraget in Polen nach, wohin die im sechzehnten Jahrhunderte vorhandene protestantische Mehrzahl seiner Bevölkerung gekommen, und ihr werdet dem Andenken unserer Väter doppelte Verehrung zollen, welche denselben Künsten und Gewaltmitteln nicht erlagen, und wenn nicht dem ganzen, doch einem großen Theile des Vaterlands das Kleinod geistiger Freiheit und selbstthätiger Bildung erhielten!“52 52 ������������������������������������������������������������������������������������������� Menzel, [Karl Adolf ]: Ueber Provinzialsinn und Provinzialgeschichte, besonders unsre schlesische. In: Schlesische Provinzialblätter 67 (1818) 193–212, hier 196, 199, 209, 211f. Zur Person des Verfassers vgl. Wuttke, Heinrich: Karl Adolf Menzel. In: Menzel, Karl Adolf: Religion und Staatsidee in der vorchristlichen Zeit und die Frage von der Unfehlbarkeit der biblischen Bücher in der christlichen Zeit. Hg. v. Heinrich Wuttke. Leipzig 1872, V–XLIV; Markgraf, Hermann: Die Entwickelung der schlesischen Geschichtschreibung [1888]. In: ders.: Kleine Schriften zur

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Noch einen Schritt weiter ging Gustav Adolf Harald Stenzel, bei dem die fachhistorischen Bemühungen um eine Verwissenschaftlichung der Geschichtsforschung die älteren Identitätsbestrebungen bereits deutlich überwogen.53 Stenzel hatte nicht nur eine ordentliche Professur an der Universität Breslau inne, sondern stand auch dem örtlichen Provinzialarchiv vor und hatte damit freien Zugang zu zentralen��������������������� ������������������������������ Archivalien. Im Kultur- und Gesellschaftsleben der Provinzhauptstadt war der gebürtige Zerbster, der mit einer Tochter des ebenfalls in Breslau lehrenden Historikers Gabriel Gottfried Bredow verheiratet war, fest verankert. Sein 1833 in den Schlesischen Provinzial-Blättern publizierter Beitrag „Ueber das Wesen und die Behandlung der Schlesischen Geschichte“, der auf einen Vortrag in einer öffentlichen Versammlung der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur zurückging, zeugt denn auch von einer tiefen Vertrautheit nicht nur mit der allgemeinen Fachliteratur, sondern ebenso mit der archivalischen Überlieferung zum Thema.54 Die maßgeblichen Defizite bei früheren Entwürfen der schlesischen Landesgeschichte, für die es im Gegensatz zu vielen anderen Territorien noch immer kein „eigentliches Nationalwerk“ gebe, benannte der aus Anhalt stammende Historiker ungleich offener als die aus dem Oderland stammenden Geschichtsschreiber: „In der Regel schadete den bisherigen Bearbeitern der Mangel einer gründlichen Kenntniß der Deutschen, dann auch der Polnischen, Böhmischen und allgemeinen Geschichte. Daher blieben ihnen eine Menge von Gegenständen der innern Entwickelungsgeschichte des Landes fremd und wurden von ihnen ganz übergangen oder nicht gewürdigt.“ Eben deshalb vermisse man „fast überall eine klarere Einsicht“ in die ältere Verfassung Schlesiens, ohne deren Kenntnis eine Landesgeschichte jedoch nicht darstellbar sei. Das Studium der „Geschichte seiner Nachbaren“, so Stenzel, sei im Fall des Oderlands geradezu zwingend. Für Schlesien seien entsprechend „nicht nur die Quellen der Deutschen Geschichte, sondern zugleich der Böhmischen, Polnischen und selbst Ungarischen Geschichte unentbehrlich“. Angesichts verbreiteter slawophober Haltungen unter deutschen Historikern des 19. Jahrhunderts ist Stenzels abschließendes Postulat, das die ostmitteleuropäische Perspektive seiner Geschichtsforschung klar zum Ausdruck bringt, ebenso

Geschichte Schlesiens und Breslaus. Breslau 1915 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau 12), 1–29, hier 21f. 53 �������������������������������������������������������������������������������������� Schmilewski, Ulrich: Neue Forschungsmethode, neue Organisationsstrukturen: Zur wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit des Historikers Gustav Adolf Harald Stenzel (1792–1854) an der Universität Breslau. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 159–171. 54 Stenzel, Gustav Adolph: Ueber das Wesen und die Behandlung der Schlesischen Geschichte. In: Schlesische Provinzial-Blätter 97 (1833) 3–14, 95–110. Direkt im Anschluss an den Text seines Vortrags veröffentlichte Stenzel an gleicher Stelle einen weiteren Beitrag, in dem er konkrete wissenschaftsorganisatorische Schritte zur Erarbeitung „einer wahren Landesgeschichte im höhern Sinne des Wortes“ zur Diskussion stellte. Vgl. ders.: Wie kann die Schlesische Geschichtskunde zweckmäßig befördert werden? Ebd., 191–201 (Zitat 191).

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mutig wie bahnbrechend: „Gerade das tiefe Eingehn, besonders in die Geschichte der Slaven ist eben so wichtig, wie das Studium der Deutschen Geschichte.“55 Die Beurteilungen und Kontextualisierungen dieses Zugriffs in späterer Zeit sind unterdessen selbst zu Quellen der Historiographiegeschichte geworden. Hermann Markgraf gab 1892 zwar an, dass Stenzel schon während seiner Universitätsstudien in Leipzig den „Blick auf die slawischen Länder Europas“ gerichtet habe, ging aber auf die Umsetzung dieser Perspektive nachfolgend mit keinem Wort mehr ein und erkannte in der Studie von 1833 lediglich ein warmherziges Bekenntnis zur Geschichte von Volk und Heimat: „Das Vaterland in allen seinen tausendfachen Beziehungen lerne man gründlich nur aus dessen Geschichte kennen und würdigen. [...] Wahre Liebe zum Lande und Kenntniß seiner Geschichte seien genau verbunden; das Eine bedinge und befördere das Andere.“56 Zur Gänze dem Geist der deutschen Ostforschung der Zwischenkriegszeit verpflichtet war noch 1961 die historiographische Einordnung von Hermann Aubin, der „Stenzels einmaliges Verdienst um die Aufhellung der Geschichte Schlesiens gerade in Bezug auf die Vorgänge seiner kulturellen Eindeutschung“ in den Vordergrund rückte.57 Ungleich distanzierter urteilte Josef Joachim Menzel Ende der 1960er Jahre, als eine erste Aufarbeitung des wirkmächtigen Paradigmas der Ostforschung in Westdeutschland einsetzte:58 Stenzels Lebenswerk sei die „deutsch-slawische Berührungszone“ gewesen.59 Wolfgang Neugebauer wiederum sah im Jahr 2018 in Stenzel einen wichtigen Vorläufer transnationaler Geschichtsforschung: Mit ihm habe in Breslau eine Tradition eingesetzt, „die die polnisch-ostmitteleuropäische Komponente in der Geschichte betonte, auch in der Geschichte Preußens“.60 Durch Stenzels Wirken vollzog sich zum einen – auch begriffsgeschichtlich – in Schlesien der Übergang von der bisherigen Territorialgeschichte hin zu einer offenen, die älteren dynastisch-herrschaftlichen Grenzziehungen vergangener Jahrhunderte allmählich überwindenden Landesgeschichte.61 Sein Verdienst war es zum anderen,

55 Ders.: Ueber das Wesen und die Behandlung der Schlesischen Geschichte, 13, 95. 56 ������������������������������������������������������������������������������������������� Markgraf, H[ermann]: Gustav Adolf Harald Stenzel’s Wirksamkeit und Bedeutung für die schlesische Geschichtsschreibung. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 26 (1892) 395–417, hier 395, 405f. 57 Aubin, Hermann: Gustav Adolf Stenzel und die geistige Erfassung der deutschen Ostbewegung. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 6 (1961) 48–66, hier 56. 58 Hackmann, Jörg: „An einem neuen Anfang der Ostforschung“. Bruch und Kontinuität in der ostdeutschen Landeshistorie nach dem Zeiten Weltkrieg. In: Westfälische Forschungen. Zeitschrift des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes WestfalenLippe 46 (1996) 232–258. 59 Menzel: Die Anfänge der kritischen Geschichtsforschung in Schlesien, 259. 60 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Neugebauer, Wolfgang: Preußische Geschichte als gesellschaftliche Veranstaltung. Historiographie vom Mittelalter bis zum Jahr 2000. Paderborn 2018, 174. 61 Die fachliche Terminologie blieb allerdings bis zum Weltkrieg unscharf und verwirrend. So sprach Theodor Siebs noch 1911 davon, Stenzel sei der eigentliche „Schöpfer schlesischer Spezialgeschichte“ gewesen. Siebs: Zur Jahrhundertfeier der Universität Breslau, 24.

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mit Nachdruck auf die Verflechtungen eben dieser Landesgeschichte mit den anderen Herrschaftsbildungen im östlichen Mitteleuropa hingewiesen zuhaben, auf das dynamische Ringen zwischen Einheit und Vielheit, zwischen Integration und Desintegration. Dass Stenzel dabei mit klarer Wertung von „den hemmenden Umständen der nationalen-, staats- und religiösen Spaltung im Innern und der beengenden Stellung zwischen mächtigen Staaten der Nachbarschaft“ sprach,62 ist für einen vom preußischen Staatsverständnis des 19. Jahrhunderts geprägten Historiker nicht verwunderlich. Bei seinem ersten Anliegen konnte Stenzel einen wichtigen Durchbruch erlangen. Die kleinräumige Landesgeschichte, die zu jener Zeit noch vielerorts bei Universitätshistorikern wenig Anerkennung fand und überdies im Ruf stand, partikularistische Strömungen zu befördern,63 war an der Universität Breslau institutionell erst seit 1866 durch ein neu eingerichtetes Extraordinariat für „Historische Hilfswissenschaften und Provinzialgeschichte“ verankert.64 Sie wurde zu Zeiten Stenzels ausschließlich von verschiedenen Vereinigungen in Schlesien betrieben, deren Arbeit seiner Überzeugung nach aber längst nicht mehr „den weit fortgeschrittenen Forderungen der Zeit“ entsprach.65 Mit der Gründung des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1846 schuf Stenzel die Rahmenbedingungen, um eine seinen Vorstellungen entsprechende zeitgemäße Landesgeschichtsforschung planmäßig und zielstrebig durchführen zu können. Tatsächlich entwickelte sich der neue Verein, der zugleich das wichtigste Periodikum zur Landesgeschichtsforschung in Schlesien herausgab, in den kommenden Jahrzehnten zur tragenden Säule dieses außeruniversitären Arbeitsbereichs.66 Für sein zweites Anliegen, die nähere Untersuchung der Verbindungen Schlesiens zur slawischen Welt, nutzte Stenzel verstärkt die breiter ausgerichtete Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, deren historisch-geographischer Sektion er selbst seit 1834 vorstand. Hier unterbreitete er Ende der 1830er Jahre den Vorschlag, statistische Angaben erheben zu lassen zu denjenigen Orten in Schlesien, in denen unverändert Polnisch und Tschechisch („böhmisch“ und „mährisch“) gesprochen, gepredigt und auf den Schulen unterrichtet werde, um auf diese Weise Veränderungen im Gebrauch des Deutschen und der slawischen Sprachen im Oderland genauer nachzeichnen zu kön62 Stenzel: Ueber das Wesen und die Behandlung der Schlesischen Geschichte, 100. 63 Werner, Matthias: Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert. In: Moraw, Peter/Schieffer, Rudolf (Hg.): Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert. Ostfildern 2005 (Vorträge und Forschungen 62), 251–364, hier 263–266. 64 Surman, Zdzisław: Seminarium historyczne Uniwersytetu Wrocławskiego (1843–1918). In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 38,1 (1983) 63–81, hier 65f. 65 Stenzel, Gustav Adolf: Aufforderung zur Bildung eines Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens. In: Schlesische Provinzial-Blätter 120 (1844) 417–420, hier 418. 66 ������������������������������������������������������������������������������������������ Kersken, Norbert: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung: Der „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 87–120.

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nen.67 Erste Ergebnisse der von Stenzel angestoßenen Forschungen wurden in den 1840er Jahren veröffentlicht.68 Diese nüchtern-sachlichen Datenerhebungen zeigten freilich ebenso wie stärker politisch motivierte Abhandlungen zum „Sprachenkampf in Schlesien“,69 die zeitlich im Umfeld der Revolution von 1848/49 erschienen, dass man sich zur deutsch-slawischen Beziehungsgeschichte kaum noch emotionslos zu Wort melden konnte. Da Stenzel zudem 1854 starb, blieben seine Impulse für diese Forschungsrichtung zunächst ohne Fortsetzung. An diesem Zustand sollte sich bis zum Weltkrieg bei Lichte besehen nichts ändern. Methodisch-theoretische Debatten über die Konzeption von Landesgeschichte, die in weiten Teilen unverändert als etatistisch ausgerichtete Provinzialgeschichte verstanden wurde, sind in Schlesien vor 1914 kaum zu finden. Neueren Ansätzen, wie sie ausgehend von Karl Lamprecht seit den 1870er Jahren an vielen Orten in Deutschland diskutiert wurden,70 stand man in Breslau eher skeptisch gegenüber. Dies hing allerdings auch mit den spezifischen Rahmenbedungen der örtlichen Universität zusammen, die für viele Gelehrte nur eine Einstiegs- und Durchgangsuniversität war, so dass nur wenigen Neuberufenen überhaupt die Zeit blieb, sich näher mit der Kultur und Geschichte des Oderlandes auseinanderzusetzen. Hinzu kam, dass in Schlesien Territorial- stets auch Nationalgeschichtsschreibung war, eine Hinwendung zur slawischen Welt also stets im Verdacht stand, das Territorium als Fundament der Nation letztlich in Frage zu 67 Krebs [ Julius]: Historische Sektion. In: Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 2, 85–97, hier 90f. 68 ����������������������������������������������������������������������������������������� Hundrich, [Georg Ludwig Friedrich]: Nachrichten über die polnischen und die andern außerdeutschen Sprachverhältnisse in der Provinz Schlesien, besonders im Bereiche des Oberlandesgerichts zu Breslau. In: Uebersicht der Arbeiten und Veränderungen der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur im Jahre 1843. Breslau 1844, 45–72; ders.: Ergänzungen zu den Nachrichten über die polnischen und die andern außerdeutschen Sprachverhältnisse in der Provinz Schlesien. In: Uebersicht der Arbeiten und Veränderungen der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur im Jahre 1844. Breslau 1845, 81–94; ders.: Fernere Ergänzungen zu den Nachrichten über die außerdeutschen Sprachverhältnisse in der Provinz Schlesien, besonders über die böhmische und mährische Sprache. In: Uebersicht der Arbeiten und Veränderungen der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur im Jahre 1845. Breslau 1846, 73–86. Zu Hundrich vgl. Bellmann, Günter: Slavoteutonica. Lexikalische Untersuchungen zum slawisch-deutschen Sprachkontakt im Ostmitteldeutschen. Berlin/New York 1971 (Studia linguistica Germanica 4), 18. 69 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Nachweis bei Gehrke, Roland: Landtag und Öffentlichkeit. Provinzialständischer Parlamentarismus in Schlesien 1825–1845. Köln/Weimar/Wien (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 17), 337–342. 70 Schorn-Schütte, Luise: Territorialgeschichte, Provinzialgeschichte – Landesgeschichte, Regionalgeschichte. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Landesgeschichtsschreibung [1984]. In: dies.: Perspectum. Ausgewählte Aufsätze zur Frühen Neuzeit und Historiographiegeschichte anlässlich ihres 65. Geburtstages. Hg. v. Anja Kürbis, Holger Kürbis und Markus Friedrich. München 2014 (Historische Zeitschrift. Beiheft. N. F. 61), 111–143; Reininghaus, Wilfried: Karl Lamprecht und die Historischen Kommissionen in Deutschland vor 1914. Zur „Konferenz der landesgeschichtlichen Publikationsorgane“ während der Deutschen Historikertage. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 83 (2011) 51–74.

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stellen. In Schlesien, so Markgraf in der Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens im Jahr 1896, „wurzeln die Anfänge der modernen, nationalen Geschichts- und Alterthumsforschung, die im Beginn des Jahrhunderts anhebt, in der Romantik. [...] Zu dem wissenschaftlichen Interesse an der Landesgeschichte gesellte sich so ein nationales, das das erstere ungemein verstärkte und vertiefte und es dazu kräftigte, die ganze Erforschung der Vergangenheit auf unendlich weiterer, fast unübersehbarer Grundlage neu zu unternehmen.“71

3. Die böhmisch-mährische Geschichte als Gegenstand der schlesischen Historiographie Weil „unser liebes Vaterlandt Schlesien/ und die Keyserliche Hauptstadt Breßlaw/ diesem Hochlöblichsten Königreiche/ incorporiret und einverleibet“ seien,72 so Martin Boregk 1587 in der Vorrede seines zweibändigen Werks Behmische Chronica, hatte der aus Breslau gebürtige Arzt, Pfarrer und Lehrer ein Werk über die Geschichte Böhmens und dessen Nebenländer vorgelegt.73 Er war der erste Historiker Schlesiens, der einen solchen Versuch unternahm – und er blieb der einzige, wie sich zeigen sollte. Denn bereits infolge der strukturellen Umbrüche des böhmischen Länderverbunds nach 1620, nicht erst seit dem Ende der habsburgischen Oberherrschaft, war die ­Erinnerung an die gemeinsame staatliche Vergangenheit zunehmend verblasst.74 Zwar waren auch schlesische Gelehrte an den publizistischen Auseinandersetzungen beteiligt, die besonders im Umfeld der Readmission der böhmischen Kurstimme 1708 über die rechtlichen Beziehungen zwischen Böhmen und dem Reich, das Verhältnis von Landes- zu übergeordnetem Reichsrecht und die Reichweite von Gesetzen ausgetragen wurden. An größeren Darstellungen der böhmischen Geschichte aber bestand kein Interesse, solche Werke wurden außerhalb des Oderlandes erarbeitet. Zu nennen sind hier vor allem die beiden Bücher Staat von Böhmen und Staat von Mähren, die Heinrich Ludwig Gude im Rahmen eines großangelegten Europaprojekts Anfang des 18. Jahrhunderts 71 Markgraf, Hermann: Der Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens in den ersten 50 Jahren seines Bestehens. Breslau 1896, 4f. 72 Boregk, Martin: Behmische Chronica, Darinnen ordentliche Warhafte/ eigentliche/ und richtige Beschreibung/ des Hochlöblichsten/ weitberümpten Königreichs Behaimb [...], Th. 1–2. Wittemberg 1587, hier Th. 1, Vorrede (nicht paginiert). 73 Zu Entstehungskontext und Zielsetzung des Werks vgl. Bahlcke, Joachim: Regionalismus und Staatsintegration im Widerstreit. Die Länder der Böhmischen Krone im ersten Jahrhundert der Habsburgerherrschaft (1526–1619). München 1994 (Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 3), 300–308; Wörster, Peter: Humanismus in Olmütz. Landesbeschreibung, Stadtlob und Geschichtsschreibung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Marburg 1994 (Kultur- und geistesgeschichtliche Ostmitteleuropa-Studien 5), 158f. 74 Bahlcke, Joachim: Das Herzogtum Schlesien im politischen System der Böhmischen Krone. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 44 (1995) 27–55.

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veröffentlichte,75 sowie die 1729 von Adam Friedrich Glafey vorgelegte Pragmatische Geschichte Der Cron Böhmen.76 Auch die Zahl der Übersetzungen tschechischer Geschichtswerke, die im 18. Jahrhundert in Schlesien angefertigt wurden und erschienen, ist auffallend klein. So legte der aus Oels gebürtige Pfarrer Christoph Pfeiffer 1730 zumindest in Auszügen eine deutsche Ausgabe des 1593 im mährischen Olmütz auf Tschechisch erschienenen Zrdcadlo Slawného Margkrabstwij Morawského von Bartoloměj Paprocký vor – unter eigenem Namen, wie es in der Frühen Neuzeit nicht unüblich war. Die Abhandlung des aus Polen stammenden, 1588 nach Mähren geflüchteten Geschichtsschreibers und Genealogen sei ein Werk, das „ungemein vieles Licht in der Historie ertheilet, und besonders mit Schlesien viel zu thun hat“, wie Pfeiffer in seiner Vorrede schrieb. Überdies werde man die Übersetzung sicher dankbar aufnehmen, weil „in unserm Patria“, in Schlesien, „gar wenig der Historischen Liebhaber seyn werden, die der pohlnisch und böhmischen Sprache, nach welchen dis Buch im Druck ist, gewachsen“.77 Letztlich interessierte Pfeiffer – und diese Beobachtung ist auch bei der späteren Zuwendung schlesischer Akademiker zur Geschichte Böhmens und Mährens zu machen – die eigene, nicht die fremde Geschichte. Immerhin scheint seine Ausgabe ein gewisses Interesse gefunden zu haben, gab er doch 1741 unter anderem Titel noch eine verbesserte Fassung der Übertragung heraus.78 Selbst die bis zum frühen 19. Jahrhundert veröffentlichten Gesamtdarstellungen zur Geschichte Schlesiens kamen, wie Stenzel 1833 zu Recht kritisiert hatte, ohne eine tiefere Reflexion über die Beziehung zu den jeweiligen Nachbarmächten aus. Die dreibän75 [������������������������������������������������������������������������������������������� Gude, Heinrich Ludwig]: Staat von Böhmen. [Halle um 1707]; [ders.]: Staat von Mähren. [Halle um 1707]. Zum Gesamtprojekt vgl. [ders.]: Einleitung zu den Europäischen Staaten Und Derselben Beschluß. Franckfurth/Leipzig 1708. Zu Autor und Werk vgl. Gregorii, Johann Gottfried: Curieuse Gedancken von den vornehmsten und accuratesten Alt- und Neuen Land-Charten [...]. Franckfurt/Leipzig 1713, 215f. 76 Glafey, Adam Friedrich: Pragmatische Geschichte Der Cron Böhmen, Worinnen dasjenige, was unter jedwedem Hertzoge und Könige von Böhmen von Zeiten zu Zeiten merckwürdiges vorgegangen, Und So wohl in die ehemalige als jetzige Grund-Verfassung dieses Königreichs Und dessen besondern Nexum mit dem Römischen Reiche einschlägt, Historisch erörtert wird. Leipzig 1729. Zu Autor und Werk vgl. Schamschula, Walter: Adam Friedrich Glafeys „Pragmatische Geschichte der Cron Böhmen“ (1729). In: Seibt, Ferdinand (Hg.): Die böhmischen Länder zwischen Ost und West. Festschrift für Karl Bosl zum 75. Geburtstag. München/Wien 1983 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 55), 126–131. 77 Pfeiffer, Christoph: Paprotzkius enucleatus Oder Kern und Auszug Aus dem so genannten Mährischen Geschicht-Spiegel Bartholomaei Paprotzkii [...]. Breßlau/Leipzig 1730, Vorrede (nicht paginiert). Zu Paprocký und dessen Werk vgl. Krejčí, Karel: Bartoloměj Paprocki z Hlohol a Paprocké Vůle. Život – dílo – forma a jazyk. Praha 1946 (Práce Slovanského Ústavu v Praze 17). Zu Pfeifer vgl. Meyer, Dietrich: Pfeiffer, Christoph. In: Killy, Walther (Hg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 9. Gütersloh/München 1991, 142–143. 78 ����������������������������������������������������������������������������������������� Pfeiffer, Christoph: Compendieuser Schau-Platz Des ehemahligen Alten Adels in dem benachbarten Marggraffthum Mähren [...]. Breßlau/Leipzig 1741.

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dige, in den Jahren 1807 bis 1810 in Breslau erschienene Geschichte Schlesiens, die der 1784 geborene Karl Adolf Menzel in jungen Jahren verfasst und zunächst in einzelnen Heften publiziert hatte, ging trotz ihres Umfangs an keiner Stelle über ältere heimatgeschichtliche Erzählungen hinaus.79 Ähnlich verhält es sich mit der 1829 von Michael Morgenbesser vorgelegten einbändigen Geschichte Schlesiens, die den neuartigen Zusatz „Ein Handbuch“ im Titel führte, praktisch aber ebenso auf gelehrte Unterhaltung bildungsbürgerlicher Kreise und pädagogische Zwecke abzielte.80 Wichtig sei stets, wie Menzel, unterdessen Konsistorial- und Schulrat, in einem Vorwort schrieb, die anschauliche „Vermittlung der vaterländischen Geschichte in den Schlesischen Lehranstalten“: Es gelte „abwechselnd Gedächtniß und Einbildungskraft, Gefühl und Verstand zu beschäftigen, in den Hauptsachen aber jederzeit auf Gott und göttliches Walten zurück zu weisen“.81 Das hier von Autodidakten, nicht von professionellen Historikern vermittelte Geschichtsbild blieb das ganze 19. Jahrhundert über in Schlesien lebendig, wie nicht zuletzt der Erfolg von Morgenbessers Darstellung zeigt: Diese erfuhr nicht nur 1833 eine Neuauflage, sie wurde auch gleichzeitig als „Leitfaden für Schüler“ in einer kürzeren Fassung in mehreren Auflagen eingesetzt und noch 1892, mehr als fünfzig Jahre nach dem Tod des Verfassers, in einer von Heinrich Schubert überarbeiteten Ausgabe – die 1908 noch in vierter Auflage erschien – weiter popularisiert.82 Stenzel selbst wiederum verfolgte zwar den Plan einer auf drei Bände angelegten Synthese der Landesgeschichte. Abzuschließen vermochte er allerdings nur den ersten, zeitlich bis 1355 reichenden Band, der 1853, ein Jahr vor seinem Tod, im Druck erschien. Auch wenn die Darstellung mit dem Übergang Schlesiens an Böhmen endete, so lassen die einführenden Anmerkungen über „Wesen und Behandlung der ­schlesischen Geschichte“, Hinweise zu einschlägigen Überlieferungen sowie zahlreiche Exkurse doch erkennen, wie konsequent Stenzel seine konzeptionellen Vorstellungen einer ostmitteleuropäischen Verflechtungsgeschichte umzusetzen suchte.83 Ähnlich wie bei 79 �������������������������������������������������������������������������������������������� Menzel, Karl Adolf: Geschichte Schlesiens, Bd. 1–3. Breslau [1807–1810]. Eine kritische Würdigung der schriftstellerischen Tätigkeit Menzels bei Schwarzer, Otfried: Karl Adolf Menzel. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 18. und 19. Jahrhunderts. Breslau 1926 [Sigmaringen 2 1985] (Schlesische Lebensbilder 2), 173–183. 80 Morgenbesser, Michael: Geschichte Schlesiens. Ein Handbuch. Mit einem Vorwort von K[arl] A[dolf ] Menzel. Breslau 1829. Zum Autor vgl. Loé, Hermann Th.: Universal-Lexikon der Erziehungs- und Unterrichtslehre für Schulaufseher, Geistliche, Lehrer, Erzieher und gebildete Eltern. Begr. v. M[atthias] C[ornelius] Münch. Mit einem Anhang: Biographien um das Schulwesen und die Jugenderziehung besonders verdienter Männer etc. v. J[ohann] B[aptist] Heindl. Augsburg 31860, 642–644. 81 Menzel, [Karl Adolf ]: Vorwort. In: Morgenbesser: Geschichte Schlesiens, III–IV. 82 Kersken, Norbert: Die Begründung institutionalisierter landesgeschichtlicher Forschung im frühen 19. Jahrhundert: Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829) im Kontext der zeitgenössischen schlesischen Historiographie. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 131–158, hier 150. 83 Stenzel, Gustav Adolf: Geschichte Schlesiens, Th. 1: Von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1355. Breslau 1853.

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František Palacký können wir jedoch auch bei Stenzel beobachten, wie sich die Vorstellung von Territorialgeschichte allmählich zu einem Paradigma von „Volksgeschichte“ wandelte.84 Damit war eine volksgeschichtlich orientierte Landes- und Staatsgeschichte gemeint, die im Kern einem historisch-philosophischen Volksbegriff folgte. Dass Schlesien im 14. Jahrhundert an die Krone Böhmen und nicht an Polen gefallen war, so Stenzel, sei für die Deutschen im Oderland letztlich ein „unermeßliches Glück“ gewesen, denn Böhmen sei „fast durchgehends von Deutschen regiert“ worden und habe „immer mit dem deutschen Reiche in genauer Verbindung“ gestanden.85 Mit dem Tod Stenzels endeten zunächst alle Bemühungen, eine größere, methodisch reflektierte Gesamtdarstellung der Geschichte Schlesiens, die zugleich den unterdessen hohen Ansprüchen an eine konsequente Quellenkritik gewachsen war, in Angriff zu nehmen. Eine Generation später erschien Colmar Grünhagen prädestiniert, diese Forschungslücke, die beim Blick in andere deutsche Landschaften noch offensichtlicher wurde, zu füllen: Wie Stenzel stand er dem Provinzialarchiv (seit 1867 ­Staatsarchiv) in Breslau vor, und zudem besaß er durch sein 1866 eingerichtetes Extraordinariat für „Historische Hilfswissenschaften und Provinzialgeschichte“ engen Kontakt zur Universität.86 1884 und 1886, gut ein Jahrzehnt nach der Reichseinigung, erschien Grünhagens zweibändige Geschichte Schlesiens in der renommierten Staatengeschichte des Perthes-Verlags im Druck.87 Das Werk, das im besten Wortsinn aus den Quellen erarbeitet war, fand in der Forschung innerhalb wie außerhalb Schlesiens beachtliche Aufmerksamkeit. Noch über den Weltkrieg hinaus blieb es das maßgebliche Referenzwerk für die schlesische Landesgeschichtsforschung. Welche Zielsetzung er mit seinem Werk verfolgte, teilte Grünhagen seinen Lesern unmissverständlich im Vorwort des ersten Bandes mit. Dessen programmatischer 84 Zu Palackýs Geschichtsauffassung vgl. Kořalka, Jiří: Pojmy národ a lid, Nation a Volk v díle Františka Palackého. In: Řezník, Miloš/Slezáková, Ivana (Hg.): Nations – Identities, Historical Consciousness. Volume dedicated to Prof. Miroslav Hroch. Praha 1997, 53–64; Štaif, Jiří: Konceptualizace českých dějin Františka Palackého. In: Český časopis historický 89 (1991) 161–184; Havlík, Lubomír E.: Palackého koncepce počátků českých dějin a Slovanů v politickém programu národního obrození. In: Slovanský přehled 62 (1976) 221–228; Válka, Josef: Německá a česká verze Palackého Dějin. In: Sborník prací filozofické fakulty brněnské univerzity [C 15] 17 (1968) 79–91. 85 Stenzel: Geschichte Schlesiens, Th. 1, 134. 86 Rüther, Andreas: Borussische Geschichtsforschung zu Schlesien: Colmar Grünhagen (1828– 1911) – Werdegang, Schuleinflüsse und Wirkungskreise. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 217–254; Baumgart, Peter: Colmar Grünhagen (1828–1911). Ein nationalliberaler Historiker Schlesiens im Zweiten Kaiserreich [1998]. In: ders.: Brandenburg-Preußen unter dem Ancien régime. Ausgewählte Abhandlungen. Hg. v. Frank-Lothar Kroll. Berlin 2009 (Historische Forschungen 92), 533–553. 87 Grünhagen, C[olmar]: Geschichte Schlesiens, Bd. 1: Bis zum Eintritt der habsburgischen Herrschaft 1527, Bd. 2: Bis zur Vereinigung mit Preussen (1527 bis 1740). Gotha 1884–1886. Beide Bände, die keine Fußnoten enthielten, besaßen einen mit „Quellennachweisungen“ überschriebenen, getrennt paginierten Anhang.

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Wortlaut rechtfertigt einen längeren Auszug, zumal er eine Geschichtsauffassung widerspiegelt, die sich auch in anderen, noch genauer vorzustellenden Einzelstudien findet. Sein Werk erscheine „als ein Teil eines von dem Verleger groß angelegten Unternehmens, welches die Entwickelung der einzelnen deutschen Landschaften in einer Reihe von historischen Darstellungen dem Publikum vorzuführen beabsichtigt, so daß unser gemeinsames Vaterland den weiten Rahmen bildet, in welchen alle die verschiedenen Sondergeschichten sich einfügen. Die schlesische Geschichte hat einen besonderen Anspruch auf einen Platz in diesem Zusammenhange, denn ihr eigentlichster Inhalt in dem hier behandelten Zeitraume, bis an die Schwelle der Neuzeit, ist die Beantwortung der Frage: wie ist Schlesien deutsch geworden und deutsch geblieben? In dem Ringen um diesen Preis ist es von dem übrigen Deutschland sehr wenig unterstützt worden; seine Geschichte verläuft unter Beziehungen mit den Reichen des Ostens, Polen, Böhmen, Ungarn, abgekehrt von der des deutschen Reichs. Infolge davon ist die eigenartige Geschichte dieser dabei noch so zersplitterten deutschen Landschaft unsern Landsleuten außer Schlesien im großen und ganzen recht fremd geblieben, und es ist, wie mir scheint, bis in die neueste Zeit von den deutschen Historikern nicht nach Gebühr gewürdigt worden, welche Bedeutung die Existenz dieses deutschen Vorlandes für die Reichsgeschichte gehabt, wie die standhafte Behauptung der deutschen Nationalität in diesem zwischen Czechen und Polen eingeklemmten Grenzlande dem Vaterlande reichen Gewinn gebracht und größere Gefahren von diesem abgewendet hat.“88 Es sind Werke wie diese, die Helmut Berding zu der Einsicht führten, die borussische Geschichtsschreibung habe sich in den Jahrzehnten nach der Reichsgründung vom Objektivitäts- und Distanzpostulat Rankes immer deutlicher verabschiedet und einen Weg als „siegesdeutsch angestrichene Tendenzhistorie“ eingeschlagen.89 Die deutsch-national ausgerichtete Geschichtsdeutung Grünhagens trat besonders in denjenigen Zeitabschnitten hervor, in denen es um Berührungen der Landes- mit der slawischen Geschichte ging. Eine mannigfaltige Kontaktgeschichte wurde in dieser Lesart auf eine bloße Konfliktgeschichte reduziert – mit klar verteilten Rollen: Da die Geschichte Schlesiens für Grünhagen „im wesentlichen die seiner Germanisation“ war, 88 Grünhagen: Geschichte Schlesiens, Bd. 1, VIII. Die kursivierten Stellen sind im Original gesperrt gesetzt. Zu der von Grünhagen angesprochenen Rolle des Verlegers für die Herausgabe der Reihe „Geschichte der europäischen Staaten“ vgl. Moldenhauer, Dirk: Geschichte als Ware. Der Verleger Friedrich Christoph Perthes (1772–1843) als Wegbereiter der modernen Geschichtsschreibung. Köln/Weimar/Wien 2008 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe 22), 370–417. 89 Berding, Helmut: Theodor Mommsen [1985]. In: ders.: Aufklären durch Geschichte. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen 1990, 32–50, hier 44. Vgl. ferner Southard, Robert: Droysen and The Prussian School of History. Lexington, Ky. 1995; Doering-Manteuffel, Anselm: Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815–1871. München 1993 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 15), 53–59; Hardtwig, Wolfgang: Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus [1980]. In: ders.: Geschichtskultur und Wissenschaft. München 1990, 103–160.

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kam der fortwährenden Behauptung „gegen die slavische Welt“, der „Wacht im Osten“, zentrale Bedeutung zu.90 Spezifische Interessenlagen polnischer oder tschechischer Dynasten, Machteliten oder sonstiger Akteure wurden dabei nicht weiter differenziert. Umgekehrt ging Grünhagen von einer fortwährenden Einheit und Kontinuität dessen aus, was er die „deutsche Partei“, die „Interessen der deutschen Partei“, die „nationalen Interessen“ oder das „deutsche Element“ nannte.91 Es bedürfte einer gesonderten Studie, hierbei die Darstellungsprobleme in Fällen aufzuzeigen, in denen es erkennbar zu Konflikten zwischen Tschechen und Polen kam beziehungsweise gesellschaftliche Einzelinteressen von Adel und Städten auf deutscher Seite gänzlich unterschiedliche Handlungsweisen zur Folge hatten. Vom 14. Jahrhundert an konzentrierte sich der vermeintliche nationale Abwehrkampf im Kern auf das „Slawenthum in der Form des Czechenthums“, wie Hermann Markgraf in seiner in der Historischen Zeitschrift erschienenen Rezension die entsprechenden Abschnitte des Pilotbandes zusammenfasste.92 Tatsächlich reduzierte Grünhagen die spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Religions- und Ständekonflikte innerhalb der Böhmischen Krone auf ein simplifizierendes Muster: Stets ging es, was das Verhalten der schlesischen Fürsten und Stände betraf, um das unumgängliche Einschreiten „gegen das deutschfeindliche Czechentum“.93 „Das Czechentum [...] war seinem ganzen Wesen nach in der That darauf angewiesen, die Resultate der deutschen Kolonisation in den Ländern des böhmischen Reiches anzugreifen und nach bestem Vermögen zu vernichten; eine unversöhnliche Feindschaft gegen das Deutschtum lag in seinem eigensten Wesen.“94 In Böhmen und Mähren sei die eigentliche „nationale Frage“, die das gesamte Mittelalter über die Innen- wie die Außenpolitik beherrscht habe, 1526 endgültig „zugunsten des Deutschtums entschieden“ worden, denn mit dem Thronwechsel in Prag sei Schlesien „unter das Scepter des deutschen Fürstenhauses der Habsburger“ gekommen.95 Die weitere Entwicklung des Oderlandes beschrieb der Breslauer Archivar und Historiker als die Geschichte eines habsburgischen Erblandes, nicht als die eines politischen Teilsystems der Wenzelskrone. Böhmen war für Schlesien fortan allenfalls noch bedeutsam zur Behauptung des lutherischen, des „deutschen“ Glaubens. Eine vergleichbar autoritative Darstellung gab es im Bereich der Schulbücher, die sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in ihren historischen Ausführungen sämtlichst auf Grünhagens Geschichtsdeutung stützten, nicht. Nimmt man exemplarisch das als „Grundlage für den Unterricht“ konzipierte Geschichtswerk des Pädagogen und Heimatdichters Fedor Sommer von 1908 zur Hand, so zeigt sich rasch, dass die Ge90 Grünhagen: Geschichte Schlesiens, Bd. 1, 138f., 389. 91 Ebd., 116, 129, 131, 322. 92 Markgraf, [Hermann]: Rezension zu Grünhagen: Geschichte Schlesiens, Bd. 1. In: Histoirsche Zeitschrift 54 (1885) 353–356, hier 355. Markgraf besprach später auch den zweiten Band. Vgl. Historische Zeitschrift 59 (1888) 144–146. 93 Grünhagen: Geschichte Schlesiens, Bd. 1, 280. 94 Ebd., 322. 95 Ders.: Geschichte Schlesiens, Bd. 2, 3.

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schichte Böhmens weitgehend in der Darstellung des preußisch-österreichischen Antagonismus aufging. Was die Beziehung Schlesiens zu den Slawen allgemein betraf, so popularisierte Sommer lediglich das Grünhagensche Kontinuitätskonzept: Trotz aller inneren Zerrissenheit liege doch „in dem oft so wirren Durcheinander dieser Geschichte ein großer, gewaltiger Zug zäh-trutziger Ausdauer: der Zug zum Deutschtum und das Festklammern an das errungene Deutschtum in all den Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten entsetzlicher Bedrängnis von allen Seiten her. Wie Schlesien deutsch und preußisch wurde und blieb, das hervorstechend darzustellen, war mein Bestreben.“96 Darüber hinaus wurden, wie auch Sommers historischer Roman Hussitenjahre von 1907 zeigt,97 die bekannten kriegerischen Momente der Beziehungsgeschichte in den Vordergrund gerückt. In der von Johannes Chrząszcz ebenfalls 1908 vorgelegten, in den Schulen genutzten katholischen Kirchengeschichte, die „für Schule und Haus, für Geistliche, für Lehrer, Studierende und alle Freunde der Vergangenheit Schlesiens“ bestimmt war, kam als zentrales Element noch der Kampf gegen die böhmischen „Ketzer“ hinzu.“98 Was Chrząszcz in seinem Werk über Böhmen ausführte, entsprach im Großen und Ganzen dem gängigen, in Darstellungen katholischer Autoren vor dem Weltkrieg häufig zu findenden Interpretament. So sei die „Irrlehre“ von Jan Hus vor allem deshalb gefährlich gewesen, weil sie sich „mit dem Nationalhaß der Böhmen gegen die Deutschen“ verbunden habe.99 Insgesamt aber urteilten die Vertreter einer konfessionell-katholischen Geschichtsschreibung wie Chrząszcz – die sich in Schlesien ohnehin dem Verdacht ausgesetzt sahen, Staat und Nation nicht die erforderliche Loyalität entgegenzubringen100 – letztlich zurückhaltender über die slawische Nachbarschaft als ihr weltliches 196 Sommer, Fedor: Die Geschichte Schlesiens. Als Grundlage für den Unterricht, sowie zum Selbststudium. Breslau 1908, Vorwort, III. Die kursivierten Stellen sind im Original in Fettdruck gesetzt. Zu Autor und Werk vgl. Zaprucki, Józef: Zum Heimatphänomen im Schaffen von Fedor Sommer (1864–1930). In: Adamski, Marek/Kunicki, Wojciech (Hg.): Schlesien als literarische Provinz. Literatur zwischen Regionalismus und Universalismus. Leipzig 2008 (Beiträge des Städtischen Museums Gerhart-Hauptmann-Haus in Jelenia Góra 2), 62–71; Jantzen, Hermann: Fedor Sommer. In: Andreae, Friedrich/Graber, Erich/Hippe, Max (Hg.): Schlesier des 16. bis 19. Jahrhunderts. Breslau 1931 [Sigmaringen 21985] (Schlesische Lebensbilder 4), 430–436. 197 Sommer, Fedor: Hussitenjahre. Eine Erzählung. Breslau 1908. 198 Chrząszcz (Chrzonz), Johannes: Kirchengeschichte Schlesiens. Für Schule und Haus. Breslau 1908, Vorrede, III. Zu Autor und Werk vgl. Hirschfeld, Michael: Johannes Chrząszcz (1857– 1928). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 12. Würzburg 2017, 213– 222; ders.: Schlesische Priesterhistoriker vor dem Ersten Weltkrieg. Geschichtsschreibung zwischen institutionellen Anforderungen und individueller Schwerpunktsetzung. In: Bahlcke/ Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 307–329, hier 323–327. 199 Chrząszcz: Kirchengeschichte Schlesiens, 76. 100 Ther, Philipp: Die Grenzen des Nationalismus: Der Wandel von Identitäten in Oberschlesien von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1939. In: von Hirschhausen/Leonhard (Hg.): Nationalismen in Europa, 322–346.

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Forschungen zur böhmisch-mährischen Geschichte waren nicht geeignet, um im 19. Jahrhundert die eigene Karriere in der preußisch-deutschen Geschichtswissenschaft zu befördern. Nur eine einzige Breslauer Habilitationsschrift, eine Studie von Richard Roepell zum böhmischen Ständeaufstand von 1618, galt diesem Themenkomplex. Sie wurde anlässlich der Übernahme der ordentlichen Professur von Gustav Adolf Harald Stenzel 1855 in der Aula Leopoldina öffentlich verteidigt. Bildnachweis: Projektbereich Schlesische Geschichte an der Universität Stuttgart.

Pendant, das Leitvorstellungen des modernen Nationalismus ohne Abstriche auf frühere Jahrhunderte übertrug. Die vor 1914 vorgelegten Einzelforschungen sind angesichts ihrer geringen Zahl überschaubar, ein Gesamtbild über Themenwahl, zeitliche Schwerpunkte und methodische Zugriffe ergibt sich allerdings nur schwer. Dass die Beschäftigung mit der böhmisch-mährischen Geschichte an der Universität in Breslau faktisch keine Bedeutung besaß, hing zum einen mit der Zusammensetzung des Lehrkörpers und der mehrheitlich nur kurzen Verweildauer der Ordinarien in Schlesien zusammen.101 Zum anderen war der Gegenstand nicht geeignet, um die eigene Karriere in der preußisch-deutschen Geschichtswissenschaft zu befördern. Nur eine einzige Habilitationsschrift vor 1914 galt diesem Themenkomplex, die Studie Schlesien’s Verhalten zur Zeit der böhmischen Unruhen. März bis Juli 1618, die Richard Roepell nach Übernahme der ordentlichen 101 Gehrke: Die Berufung von Historikern an die Universität Breslau, 93–127; Ziekursch, Johannes: Universitätshaushalt, Lehrkörper und Studentenzahl. In: Burgemeister, Ludwig u. a. (Hg.): Erinnerungsblätter zum hundertjährigen Jubiläum der Universität Breslau. Breslau 1911, 51– 60; Kaufmann, [Georg]/Ziekursch, [ Johannes]: Geschichte. In: Kaufmann (Hg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Bd. 2, 359–368.

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Professur von Stenzel 1855 in der Aula Leopoldina öffentlich verteidigte. Sie erschien selbständig sowie parallel im ersten Band der in jenem Jahr begründeten, von Roepell selbst herausgegebenen Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens.102 In gewisser Weise hatte die Abhandlung programmatischen Charakter für die einige Jahre später einsetzende Bearbeitung der ständepolitischen Überlieferung Schlesiens aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, bei der naturgemäß allen Ländern der Böhmischen Krone größere Bedeutung zufiel. In diesem Zusammenhang entstand auch eine Monographie über die Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620, die ihr Autor, der Ohlauer Gymnasiallehrer Julius Krebs, 1879 in Breslau als Habilitationsschrift einreichte.103 Es lag nicht an der quellennahen, von Roepell positiv begutachteten Studie, dass der Kandidat am Ende das Verfahren nicht bestand, sondern einzig an dem die Philosophische Fakultät nicht überzeugenden Kolloquium.104 Inhaltlich lassen beide Abhandlungen einen distanzierten, die Gegenwart weitgehend ausblendenden Zugang zum Thema erkennen, mithin einen völlig anderen als die genannten Gesamtdarstellungen und Schulbücher. Beide Studien behandelten einen Zeitabschnitt, in dem die politische und religiöse Situation einen Schulterschluss der böhmischen und schlesischen Stände begünstigte. Bei Roepell liest sich dies folgendermaßen: „Solchergestalt mußte schon das eigene Interesse die Schlesier auf die Seite der Böhmen ziehen; außerdem aber forderten auch noch Dankbarkeit und Vertragspflicht sie auf, der Bitte jener vom 12. März [1618] zu entsprechen. Sie hatten ihren Majestätsbrief, von dem sie selbst sagten, daß er ‚instar legum fundamentalium dieser Länder sei‘, vornämlich durch die kräftige Unterstützung der Böhmen erlangt, und sich mit diesen in der am 25. Juni 1609 abgeschlossenen Union zu gegenseitiger Unterstützung in der Vertheidigung der Religion so weit verbunden, daß ein Theil dem andern erforderlichen Falles ‚mit aller seiner höchsten Macht‘ zu Hilfe zu kommen verpflichtet war.“105 Eine ähnlich positivistische, um quellenfundierte Rekonstruktion bemühte Darstellung finden wir bei Krebs, der allerdings am Ende auch zu klaren, vordergründig überraschenden Ergebnissen kam. Denn seinem Urteil nach müsse man die „verhängnissvolle 102 Roepell, Richard: Schlesien’s Verhalten zur Zeit der böhmischen Unruhen. März bis Juli 1618. Zur Uebernahme der ordentl. Professur der Geschichte an der Universität zu Breslau am 7. Aug. 1855, Vorm. 11 Uhr öffentlich vertheidigt. Breslau 1855; ders.: Das Verhalten Schlesiens zur Zeit der böhmischen Unruhen. März bis Juli 1618. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1/1 (1855) 1–32. 103 Krebs, Julius: Die Schlacht am weissen Berge bei Prag (8. November 1620) im Zusammenhange der kriegerischen Ereignisse. Breslau 1879. Krebs hatte zur Frühgeschichte des böhmischen Aufstands von 1618 bereits verschiedentlich publiziert. Wichtig ist vor allem seine an der Universität Göttingen verteidigte Dissertation. Vgl. ders.: Christian von Anhalt und die kurpfälzische Politik am Beginn des Dreißigjährigen Krieges (23. Mai – 3. October 1618.). Leipzig 1872. Zu Autor und Werk vgl. Rudkowski, Wilhelm: Julius Krebs. Ein Lebensbild. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 59 (1925) 164–179. 104 Zum Verfahren vgl. Bahlcke: Geschichtswissenschaftliche Habilitationen an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau, 59, 62, 64, 79f. 105 Roepell, Richard: Schlesien’s Verhalten zur Zeit der böhmischen Unruhen, 4f.

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Die von Edmund Franke 1865 als Dissertation an der Universität Breslau eingereichte Abhandlung über die rechtlichen Beziehungen zwischen Schlesien und Böhmen im 14. Jahrhundert hatte Richard Roepell angeregt, dem die Studie auch gewidmet war. Es war eine der wenigen in der Provinzhauptstadt entstandenen Qualifikationsschriften, die sich der verfassungsrechtlichen Struktur des älteren böhmischen Länderverbunds widmeten. Bildnachweis: Projektbereich Schlesische Geschichte an der Universität Stuttgart.

Niederlage am weissen Berge [...] geradezu als ein nationales Unglück für Deutschland bezeichnen“: Die Niederlage von 1620 habe „die Selbstständigkeit des böhmischen Volkes, welches einst so Grosses für den geistigen Fortschritt der Welt geleistet hat, bis auf die Wurzeln geknickt; sie zerriss das ohnehin lockere Band vollends, welches die protestantische Partei umschloss und liess sie nun in zwecklosen Einzelnkämpfen sich langsam verbluten. Sie öffnete einer schrankenlosen kirchlichen und politischen Reaction Thür und Thor, wie sie unser Vaterland in gleicher Furchtbarkeit nie wieder gesehen hat; sie schuf mittelbar jene grässliche Militärdictatur, welche unseren nationalen Wohlstand auf Jahrhunderte hinaus vernichtete.“106 Auch im Bereich der an der Universität Breslau entstandenen Dissertationen finden wir vor dem Weltkrieg nur sehr wenige thematisch einschlägige Qualifikationsschriften. Zu nennen ist hier vor allem die 1865 von Edmund Franke in lateinischer Sprache vorgelegte Abhandlung über die rechtlichen Beziehungen zwischen Schlesien und Böhmen im 14. Jahrhundert, zu der Roepell, dem die Schrift gewidmet war, den Anstoß gegeben hatte.107 Nicht einmal in der Breslauer Zeitschrift des Vereins für Geschichte und 106 Krebs, Julius: Die Schlacht am weissen Berge bei Prag, 134. 107 ������������������������������������������������������������������������������������������ Franke, Edmundus: De eo, quo Silesiae ducatus saeculo XIV. cum regno Bohemiae fuerint conjuncti, nexu feudali. Dissertatio inauguralis historica. Opolii 1865. Am Ende der Dissertation befindet sich ein Lebenslauf des Verfassers.

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Alterthum Schlesiens erschien eine Besprechung dieser wertvollen Arbeit; statt einer Würdigung publizierte Grünhagen dort lediglich „Bemerkungen, Ergänzungen und Berichtigungen“.108 Zu erwähnen ist ferner die 1888 von Ernst Maetschke vorgelegte Untersuchung über das Glatzer Land vom Beginn der deutschen Besiedlung bis zu den Hussitenkriegen, die von Grünhagen angeregt worden war.109 Da es im 19. Jahrhundert noch keine eigentlichen Doktor- und Habilitationsväter gab, blieben solche Impulse allerdings sporadisch und beschränkten sich meist auf Hinweise zu bestimmten archivalischen Überlieferungen. Durch einen solchen Fingerzeig Stenzels wurde Theodor Jacobi, der sich 1841 in Breslau habilitiert hatte, auf eine Briefsammlung König Johanns von Böhmen im Breslauer Provinzialarchiv aufmerksam, die er noch im gleichen Jahr als Edition herausgab.110 Eine engere Beziehung zur slawischen Welt besaß Jacobi freilich nicht. In seiner Edition ist dies weniger zu spüren, allenfalls in Formulierungen wie derjenigen, wonach König Johann trotz der Hinneigung zur westeuropäischen Kultur genötigt gewesen sei, „einen Theil seines Lebens an der entgegengesetzten Grenze Deutschlands, ja mitten unter slavischen Völkern, zuzubringen“.111 Was ihn an dem Gegenstand eigentlich fasziniert habe, sprach Jacobi zwei Jahre später, 1843, deutlicher an, als er sich in Breslau um eine außerordentliche Professur bewarb: „Bei meinen wissenschaftlichen Arbeiten hat mir die Idee vorgeschwebt, nicht eine einzelne Seite, sondern das gesamte Leben des Mittelalters als Objekt aufzufassen und zu versuchen, inwiefern die Sprache in ihrer grammatischen Form und in ihrer geschichtlichen Entfaltung, als das dem Geiste einer Nation am nächsten stehende, auf der einen Seite, die Geschichtserzählungen, als das mehr auf dem Boden des äußern Thuens beruhende, sich wechselseitig zu erklären und einen Begriff von der Fortbewegung der deutschen Kultur zu geben im Stande ist. Das hat mich bald hierhin, bald dorthin schweifen lassen. Eine handschriftliche Briefsammlung des Königs Johann von Böhmen, die ich kennen lernte, reizte mich durch die in ihr enthaltenen Aufschlüsse über die Kulturverhältnisse dieses zum größten Teile germanisierten Landes zu einer besondern Bearbeitung.“112 Die Edition fand nichtsdestotrotz in den Gelehrtenkreisen des Nachbarlandes wohlwollende Auf108 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 7/1 (1866) 196–197. 109 Maetschke, Ernst: Geschichte des Glatzer Landes vom Beginne der deutschen Besiedelung bis zu den Hussitenkriegen. Phil. Diss. Breslau 1888. Am Ende der Dissertation befindet sich ein Lebenslauf des Verfassers. 110 Jacobi, Theodor (Hg.): Codex Epistolaris Johannis Regis Bohemiae. Briefe des Königs Johann von Böhmen, seiner Verwandten und anderer Zeitgenossen, nebst Auszügen aus Urkunden desselben Königs, als einer Ergänzung zu Fr. Böhmer’s Regesten. Berlin 1841. Zu Autor und Werk vgl. Weinhold, Karl: Zur Erinnerung an Theodor Jacobi. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 5 (1874) 85–98; Stenzel, Karl Gustav Wilhelm: Gustav Adolf Harald Stenzels Leben. Gotha 1897, 235f.; Schneider, Alfred: Zur Geschichte einer Breslauer Professur. Germanistenbriefe aus den Jahren 1850–52. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 65 (1931) 502– 528, hier 513. 111 Jacobi (Hg.): Codex Epistolaris Johannis Regis Bohemiae, Vorrede, VII. 112 Zit. nach Schmidt, Erich: Gustav Freytag als Privatdocent. In: Euphorion. Zeitschrift für Litteraturgeschichte 4 (1897) 91–98, hier 95f.

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nahme: Gerade ihrer durchgehenden Quellenkritik wegen sei sie ein „schätzenswerther Beitrag aus dem Preussenlande“ zur Geschichte des böhmischen Mittelalters.113 Unter den Quelleneditionen ist an vorderster Stelle das ambitionierte, für die Frühneuzeitforschung bis zur Gegenwart unverzichtbare Werk Acta Publica. Verhandlungen und Correspondenzen der schlesischen Fürsten und Stände zu nennen, dessen acht zwischen 1865 und 1906 vorgelegte Bände einen völlig neuen Blick auf das erste Jahrzehnt des Dreißigjährigen Krieges ermöglichten.114 Die Historische Zeitschrift würdigte das Unternehmen als „die erste größere Quellenpublication über das böhmische Drama von 1618“ in neuerer Zeit. Zudem habe man in Breslau geradezu Pionierarbeit geleistet: „Böhmen und Mähren haben von ihren heimischen Acten noch nichts publicirt, Schlesien eröffnet mit Herrn Palm den Reigen.“115 Tatsächlich schrieb der Breslauer Geschichtsverein mit diesem von ihm getragenen Vorhaben Forschungsgeschichte, war doch die groß angelegte Edition der erste Versuch, das „eigenthümliche Verhältnis, in welchem Schlesien zu Böhmen und durch dieses zum Habsburger Kaiserhause stand“, wissenschaftlich genauer zu bestimmen.116 Dass man den Aufschwung der tschechischen Geschichtsforschung in jener Phase wahrnahm und durchaus positiv bewertete, lässt sich in diesem Fall gut nachzeichnen. Das Vorhaben, so der erste Herausgeber der Acta Publica, Hermann Palm, werde von den örtlichen Provinzialständen „mit großer Liberalität“ nach „dem Beispiel der Stände unsrer Nachbarländer Böhmens und Mährens, welche ähnliche Werke fördern und gefördert haben“, finanziell unterstützt.117 Auch gab es bei keinem anderen Geschichtswerk einen derart intensiven Austausch mit Institutionen und einzelnen Forschern in Böhmen. Der schlesischen, gut ein Jahrzehnt vor dem tschechischen Parallelunternehmen118 in Angriff genommenen Edition ist es zu verdanken, dass seit Mitte des 19. Jahrhun113 ������������������������������������������������������������������������������������������� Glückselig, [August Anton]: Rezension zu Jacobi (Hg.): Codex Epistolaris Johannis Regis Bohemiae. In: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik 1 (1842) Sp. 149–160, hier Sp. 149. 114 Palm, Hermann/Krebs, Julius (Hg.): Acta Publica. Verhandlungen und Correspondenzen der schlesischen Fürsten und Stände [1618–1629], Bd. 1–8. Breslau 1865–1906. Zu Palm vgl. Reimann, E[duard]: Nekrolog. Hermann Palm. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 20 (1886) 364–369. Zu Krebs vgl. Anm. 103. Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung der Edition vgl. Bahlcke, Joachim: Schlesien als Gegenstand der Ständeforschung. Traditionen und Perspektiven der deutschen, polnischen und tschechischen Geschichtsschreibung [2007]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz, 71–101. 115 [Cohn, Ludwig Adolf ]: Rezension zu Palm (Hg.): Acta Publica, Bd. 1. In: Historische Zeitschrift 15 (1866) 433–435, hier 433. 116 Palm (Hg.): Acta Publica, Bd. 1 [1618], Vorwort, IV. 117 Ebd., VI. Zur Wissenschaftsförderung in den böhmischen Ländern vgl. Drabek, Anna M.: ­Matice Česká und Matice Moravská. Ihre Bedeutung für die kulturelle und nationale Entwicklung der tschechischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert. In: Seibt, Ferdinand (Hg.): Vereinswesen und Geschichtspflege in den böhmischen Ländern. München 1986 (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum), 71–96. 118 Sněmy české od leta 1526 až po naši dobu [deutsch u. d. T.: Die böhmischen Landtagsverhandlungen und Landtagsbeschlüsse vom Jahre 1526 an bis auf die Neuzeit], Bd. 1–11/2 [1526–

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derts eine Vielzahl ständegeschichtlicher Untersuchungen in Angriff genommen wurde, die zugleich die politische und religiöse Situation in Böhmen und Mähren beleuchteten. Hier sind, um zumindest die wichtigsten Studien anzuführen, zunächst die Veröffentlichungen der beiden Herausgeber der Acta Publica, Palm119 und Krebs,120 zu nennen. Andere Beiträge gaben bereits durch ihren Titel – Der böhmische Landtag des

1607], Bd. 15/1–3 [1611]. Praha 1877–1954. Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung der Edition vgl. Pánek, Jaroslav: Sněmy české (Naděje a ztroskotání edice k dějinám raného novověku). In: 130 let Zemského archivu. Sborník příspěvků z konference konané u příležitosti 130. výročí založení Zemského archivu a 100. výročí úmrtí jeho zakladatele a 1. ředitele prof. A. Gindelyho. Praha 1993, 23–31, 108–109; Bahlcke, Joachim: Böhmische Landtagsakten im ostmitteleuropäischen Kontext. Genese, Quellenwert und historiographiegeschichtliche Bedeutung [2004]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz, 45–70. 119 Palm, Hermann: Die Conjunction der Herzöge von Liegnitz, Brieg und Oels, so wie der Stadt und des Fürstenthums Breslau mit den Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg und der Krone Schweden in den Jahren 1633–35. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 3 (1860) 227–368; ders.: Das Verhalten der schlesischen Fürsten und Stände im ­ersten Jahre der böhmischen Unruhen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 5 (1863) 251–307; ders.: Das Verhalten der schlesischen Fürsten und Stände bei der Wahl Friedrich V. von der Pfalz zum Könige von Böhmen im Jahre 1619. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 7 (1866) 227–259; ders.: Die Conföderation der Schlesier mit den Böhmen im Jahre 1619 in ihren nächsten Folgen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 8 (1868) 267–318; ders.: Die Schlesier auf dem böhmischen Generallandtage von 1611. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 10 (1871) 315–341; ders.: Schlesiens Antheil am dreißigjährigen Kriege vom Juli bis December 1620. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1874) 285–336; ders.: Schlesiens Antheil am dreißigjährigen Kriege vom Juli bis December 1620. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 12 (1875) 285–336; ders.: Der Dresdner Accord. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 13 (1876) 151–192. 120 Krebs, Julius: Zur Geschichte der inneren Verhältnisse Schlesiens von der Schlacht am weißen Berge bis zum Einmarsche Waldsteins. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 15 (1881) 329–356, 16 (1882) 33–62; ders.: Schlesien in den Jahren 1626 und 1627. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 20 (1886) 1–32, 21 (1887) 116–148, 25 (1891) 124–184, 27 (1893) 150–203, 28 (1894) 147–178; ders.: Beiträge zur Geschichte des böhmischen Aufstandes von 1618. In: Mittheilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen 26 (1888) 171–197; ders.: Archivalische Funde zur Geschichte des 30jährigen Krieges. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 29 (1895) 279–304; ders.: Das Verhalten der Schlesier beim Einfalle Mansfelds und der Dänen (1626). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 31 (1897) 165– 194; ders.: Herzog Christian von Wohlau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 35 (1901) 144–154; ders.: Beiträge zu Waldsteins Regententätigkeit im Herzogtum Sagan: In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 42 (1908) 220–239; ders.: Der Vorstoß Kaiser Ferdinands II. gegen die Piastenherzöge (1629). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 48 (1914) 89–112; ders.: Beiträge zur neueren Geschichte Mährens. In: Zeitschrift des Deutschen Vereines für die Geschichte Mährens und Schlesiens 21 (1917) 138–149; ders.: Schlesien und der Prager Fenstersturz (23. Mai 1618). In: Schlesische Geschichtsblätter. Mitteilungen des Vereins für Geschichte Schlesiens 3 (1918) 53–58.

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Jahres 1575121 beziehungsweise Silesiaca aus den böhmischen Landtagsbeschlüssen122 – zu erkennen, dass man sich mit Einzelaspekten der genuin böhmischen Entwicklung auseinandersetzte. Bemerkenswert ist bei diesen Studien zugleich das Bemühen, gemeinsam mit tschechischen Historikern an der Lösung bestimmter offener Fragen zu arbeiten. Deutlich wird dies nicht zuletzt an Formulierungen, die einer direkten Ansprache an die Kollegen im Nachbarland glichen: „Ob das richtig, kann ich nicht sagen; ich will nur die Aufmerksamkeit der böhmischen Forscher darauf lenken.“123 Das Unternehmen der Acta Publica ist freilich nicht nur in fachlicher, sondern auch in wissenschaftsorganisatorischer Hinsicht aufschlussreich. Die Edition verdankte sich zur Gänze der Initiative eines einzelnen Geschichtsvereins und wurde mehr als vier Jahrzehnte lang allein von zwei Lehrern – von Palm und nach dessen Tod 1885, ab dem fünften Band, von Krebs – verantwortet. Für den größeren Teil aller Veröffentlichungen vor 1914, die sich einzelnen Aspekten der Geschichte Böhmens und Mährens zuwandten, ist dies durchaus typisch: Unter den Autoren finden wir vorwiegend Pädagogen (und, wenn auch in kleiner Zahl, unverändert Geistliche), die in den diversen Einrichtungen der außeruniversitären Landesgeschichtsforschung organisiert waren. Es gab zwar bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts Pläne, die Osteuropaforschung auch an der Universität Breslau auszubauen; ein institutioneller Ausbau der historischen Teildisziplin erfolgte allerdings erst nach dem Weltkrieg, und auch dann nur in deutlich bescheidenerem Umfang als ursprünglich angedacht.124 Inhaltlich lässt sich bei den von Lehrern erarbeiteten Studien eine Konzentration auf Ereignisse und Persönlichkeiten erkennen, die zugleich Teil des allgemeinen Geschichtsbilds und schulischer Lehrpläne in Deutschland waren, allen voran das Thema Dreißigjähriger Krieg sowie die Person von Wallenstein.125 Dies zeigt zugleich, dass man 121 Reimann, Ed[uard]: Der böhmische Landtag des Jahres 1575. In: Forschungen zur Deutschen Geschichte 3 (1863) 257–280. Zum Autor vgl. Grünhagen, C[olmar]: Eduard Reimann. 1820–1900. Ein Nekrolog. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 34 (1900) 417–426. 122 Loß, Victor: Silesiaca aus den böhmischen Landtagsbeschlüssen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 18 (1884) 324–335. 123 Reimann: Der böhmische Landtag des Jahres 1575, 260 Anm. 1. 124 ����������������������������������������������������������������������������������������� Bömelburg, Hans-Jürgen: Das Osteuropa-Institut in Breslau 1930–1940. Wissenschaft, Propaganda und nationale Feindbilder in der Arbeit eines interdisziplinären Zentrums der Osteuropaforschung in Deutschland. In: Garleff, Michael (Hg.): Zwischen Konfrontation und Kompromiss. Oldenburger Symposium „Interethnische Beziehungen in Ostmitteleuropa als historiographisches Problem der 1930er/1940er Jahre“. München 1995 (Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 8), 47–72; Szuszkiewicz, Zygmunt: Powstanie Instytutu Wschodniej Europy (Osteuropa Institut) we Wrocławiu w 1918 r. In: Studia Historyczne 13 (1970) 495–510; Behaghel, Georg: Schlesien, Osteuropa und das Osteuropa-Institut. In: Jahrbuch des Osteuropainstituts zu Breslau 1 (1940) 1–18. 125 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Statt eines Einzelnachweises der verstreuten Studien sei hier auf die „Bibliographie zur Wallenstein-Literatur“ verwiesen, die der aus Oberschlesien gebürtige, später am Staatsarchiv Breslau tätige Archivar Victor Loewe seit 1896 in unregelmäßigen Abständen in den Mitteilungen des

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die Geschichte Böhmens und Mährens unverändert von ihren Verbindungen zum römisch-deutschen Reich beziehungsweise dessen Nachfolgestaaten her entwickelte und deutete, unabhängig von den jüngeren Entwicklungen österreichischer Staatlichkeit und tschechischer Nationswerdung. Die wichtigste Studie in diesem Zusammenhang, die König Friedrich I. von Böhmen, dem „Winterkönig“, galt, legte Anfang des 20. Jahrhunderts der Breslauer Gymnasiallehrer Karl Friedrich Heinrich Bruchmann vor. Die 1909 von ihm veröffentlichte Monographie über die Huldigungsfahrt des Pfälzers nach Mähren und Schlesien war zugleich die erste Arbeit überhaupt, in der ­systematisch böhmische und mährische Archive ausgewertet und auch tschechischsprachige Werke benutzt wurden.126 Darüber hinaus sind nur wenige umfassendere Publikationen zu finden, die vor dem Weltkrieg von Fachhistorikern im engeren Sinn, also in erster Linie an der ­Universität Breslau tätigen Gelehrten, in Angriff genommen wurden. Die größte Resonanz fanden die Arbeiten des bereits genauer vorgestellten Colmar Grünhagen, speziell die beiden 1871 und 1872 vorgelegten Bücher zu den Hussitenkriegen.127 Beide Studien, sowohl die geographisch breiter angelegte Edition zu den Geschichtsquellen der Kriege in den Jahren 1420 bis 1437 als auch die im Folgejahr vorgelegte, auf das Oderland konzentrierte Monographie zu den einzelnen Kriegszügen, sind auch als Reaktion auf die ­tschechische Geschichtswissenschaft und Nationalbewegung zu verstehen, die mit ihrer Zuwendung zum Hussitentum seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugleich nationalpolitische Sehnsüchte und Interessen zum Ausdruck brachten. Dies gilt besonders Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen publizierte. Nachweis bei Davies, Steffan: The Wallenstein Figure in German Literature and Historiography 1790–1920. Leeds 2010 (Modern Humanities Research Association. Texts and Dissertations 76; Bithell Series of Dissertations 36), 17. Loewe hatte bereits seine Freiburger Dissertation dem Thema gewidmet, vgl. ders.: Die Organisation und Verwaltung der Wallensteinschen Heere. Freiburg i. B./Leipzig 1895. Auch Roepell hatte über die Beschäftigung mit Wallenstein in jungen Jahren einen Zugang zur böhmischen Geschichte gefunden. Vgl. Roepell, Richardus: De Alberto Waldsteinio Fridlandiae Duce Proditore. Halae 1834. In erweiterter Form erschien die „akademische Gelegenheitsschrift“, so Roepell selbst, ein Jahrzehnt später in deutscher Übersetzung. Vgl. ders.: Der Verrath Wallenstein’s an Kaiser Ferdinand II. In: Raumer, Friedrich von (Hg.): Historisches Taschenbuch. Neue Folge, 6. Jg. Leipzig 1845, 239–306. 126 Bruchmann, Karl: Die Huldigungsfahrt König Friedrichs I. von Böhmen (des „Winterkönigs“) nach Mähren und Schlesien. Breslau 1909 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 9). Bruchmann publizierte auch weitere Studien zum Thema. Vgl. ders.: Die auf den ersten Aufenthalt des Winterkönigs in Breslau bezüglichen Flugschriften der Breslauer Stadtbibliothek. Ein Beitrag zur Quellenkunde des dreißigjährigen Krieges. In: Programm des ­Königl. König-Wilhelms-Gymnasiums zu Breslau für das Schuljahr 1904/1905. Breslau 1905, 1–36; ders.: Archivalia inedita zur Geschichte des Winterkönigs. In: Wissenschaftliche Beilage zum Programm des Königl. König-Wilhelms-Gymnasiums zu Breslau für das Schuljahr 1908/1909. Breslau 1909, 3–16. Zum Autor vgl. Kölding, R[udolf ]: Dr. Karl Bruchmann. In: Neues Lausitzisches Magazin 95 (1919) 130. 127 Grünhagen, Colmar (Hg.): Geschichtsquellen der Hussitenkriege. Breslau 1871 (Scriptores rerum Silesiacarum 6); ders.: Die Hussitenkämpfe der Schlesier 1420–1435. Breslau 1872.

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In den Jahren 1871 und 1872 legte der Breslauer Archivar und Historiker Colmar Grünhagen zwei gewichtige Studien vor, zunächst eine geographisch breiter angelegte Edition zu den Geschichtsquellen der Hussitenkriege in den Jahren 1420 bis 1437, dann eine auf das Oderland konzentrierte Monographie zu den einzelnen Kriegszügen. Beide Werke sind auch als Reaktion auf die tschechische Geschichtswissenschaft und Nationalbewegung zu verstehen, die mit ihrer Zuwendung zum Hussitentum zugleich nationalpolitische Sehnsüchte und Interessen verband. Bildnachweis: Projektbereich Schlesische Geschichte an der Universität Stuttgart.

für den wichtigsten Historiker der Tschechen in dieser Phase, František Palacký: „Der Hussitismus erschien Palacký als der wichtigste Teil der tschechischen Geschichte und anfänglich auch als der Höhepunkt des Kampfes zwischen dem Slawen- und dem Deutschtum innerhalb eines breiter angelegten Konzepts der allgemeinen Geschichte dieses Teils Europas.“128 Wie sehr gerade die Deutung der hussitischen Epoche zum Reizthema geworden war, ließ sich naturgemäß auch an der Universität Prag beobachten, wo es zwischen deutschen und tschechischen Historikern wiederholt zu heftigen Auseinandersetzungen in dieser Frage kam. 1868, mithin noch einige Jahre vor dem Erscheinen von Grün128 ������������������������������������������������������������������������������������� Šmahel, František: Die Hussitische Revolution, Bd. 1–3. Hannover 2002 (Monumenta Germaniae Historica 43/I–III), hier Bd. 1, 14. Zum Wandel der Zentralgestalt der spätmittelalterlichen Kirchenreformbewegung in Böhmen und Mähren hin zur nationalen Integrationsfigur vgl. Just, Jiří: Jan Hus. In: Bahlcke, Joachim/Rohdewald, Stefan/Wünsch, Thomas (Hg.): Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationenund epochenübergreifenden Zugriff. Berlin 2013, 637–648.

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hagens Werken, antwortete Palacký seinen Kritikern,129 namentlich dem aus Bayern stammenden Constantin (von) Höfler, der seit 1851 in Prag Geschichte lehrte und ebenfalls zum Hussitismus forschte und publizierte. Wie sehr der Gelehrtenstreit auch im außerösterreichischen Deutschland die Gemüter bewegte (und spaltete), zeigt eine ausführliche Rezension des Werkes in den Heidelberger Jahrbüchern der Literatur. „Zu Dutzenden liessen sich die Angriffe zählen, welche in den letzten Jahren gegen ihn [Palacký] gemacht, und zu Hunderten die angeblichen Unrichtigkeiten, welche ihm nachgewiesen worden sind“,130 war dort zu lesen. An Deutlichkeit ließ es der Autor, der klar auf Seiten Palackýs stand und dessen Position verteidigte, nicht vermissen: Wie andere deutsche Gelehrte sehe auch Höfler „die Hussiten als Cechen und Slaven einer inferioren Menschenrasse angehörend an“; er sei der Meinung, „die slavischen Nationalitäten hätten aus sich selbst und ohne die Aufnahme der germanischen Kultur niemals die Fähigkeit und Kraft erlangt, aus thierischer Barbarei zu humaner Bildung, aus absoluter Rechtlosigkeit zum Genusse einer mehr oder weniger beschränkten Freiheit zu gelangen.“131 Bemerkenswert an diesem wortgewaltigen, in einem deutschen Fachorgan erschienenen Bekenntnis zu Palackýs Geschichtsauffassung ist, dass sein Autor, Leopold Krummel, ein deutscher Gelehrter war:132 Der aus Emmendingen gebürtige evangelische Theologe hatte bereits 1866 eine beinahe 700 Seiten umfassende Geschichte der Böhmischen Reformation im fünfzehnten Jahrhundert vorgelegt und auch in den folgenden Jahren mehrfach zur Kirchen- und Kulturgeschichte Böhmens publiziert.133 Krum-

129 �������������������������������������������������������������������������������������������� Palacký, Franz: Die Geschichte des Hussitenthums und Prof. Constantin Höfler. Kritische Studien. Prag 1868. 130 ��������������������������������������������������������������������������������������� Krummel, L[eopold]: Rezension zu Palacký, Die Geschichte des Hussitenthums. In: Heidelberger Jahrbücher für Literatur 61 (1868) 374–384, hier 374. 131 Ebd., 378f. 132 ������������������������������������������������������������������������������������������ Neu, Heinrich: Pfarrerbuch der evangelischen Kirche Badens von der Reformation bis zur Gegenwart, Bd. 2: Das alphabetische Verzeichnis der Geistlichen mit biographischen Angaben. Lahr (Schwarzwald) 1939 (Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der evang. Landeskirche Badens 13), 349. Allerdings geriet auch Krummel durch seine Parteinahme zwischen die Fronten der streitenden Parteien. Vgl. Höfler und Krummel. In: Literarische Beilage zu den Mittheilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen vom 20. Juli 1867, 1–3; ebd., vom 25. Oktober 1867, 9–10. Hier wurde Krummel heftig dafür attackiert, den „böhmischen Agitator“, Palacký, „zu einem Legendenheiligen“ stilisiert zu haben. „Die Schriften des Hrn. Krummel sind undeutsch. Sie glorificiren die erbittertsten Feinde des deutschen Namens und verherrlichen eine Bewegung, die auf die Ausrottung der Deutschen in Böhmen gerichtet war und die unsägliches Elend auch über unsere Volksgenossen jenseits der Grenze gebracht hat.“ Ebd., 1, 9. 133 Krummel, L[eopold]: Geschichte der Böhmischen Reformation im fünfzehnten Jahrhundert. Gotha 1866; ders.: Johannes Drändorf, ein Märtyrer des Husitentums in Deutschland. In: ­Theologische Studien und Kritiken. Eine Zeitschrift für das gesamte Gebiet der Theologie 42 (1869) 130–144; ders.: Johannes Hus. Ein Lebensbild aus der vorreformatorischen Zeit. Heidelberg 1870; ders.: Utraquisten und Taboriten. Ein Beitrag zur Geschichte der böhmischen Reformation im 15. Jahrhundert. Gotha 1871; ders.: Die Vorreformatoren Wycliffe und Hus

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mel näherte sich dem Hussitismus als „einer wahrhaft reformatorischen Bewegung“ an,134 nicht vorrangig als einer politisch revolutionären und gewaltsamen. Eben diese Annäherung wählte dagegen Grünhagen, und sie bedurfte in der Stadt Breslau, die ebenso wie das ganze Land von den Hussitenkriegen unmittelbar betroffen gewesen war, auch keinerlei Rechtfertigung. Dass seine Darstellung der hussitischen Epoche gleichwohl vordergründig zu einem höchst einseitigen Ergebnis kam, dürfte angesichts der bereits vorgestellten Gesamtdarstellung nicht überraschen. Bei Grünhagen finden wir im Grunde sämtliche Topoi, die Krummel bereits an der Geschichtsauffassung Höflers kritisiert hatte. Seine 1871 vorgelegte Edition verstand der Breslauer Archivar zwar nur als „codex probationum“ für die nahezu vollendete Ausarbeitung, doch schließe sie auch unabhängig davon eine empfindliche Lücke der Forschung: „Es ist da in der That als speziell diesem Zwecke gewidmet kaum ein andres Quellenwerk anzuführen, als Höflers Geschichtsschreiber der hussitischen Bewegung, welche doch grade über die Hussitenkriege verhältnismässig wenig bieten.“135 Dass sich die Wahl seines Forschungsgegenstands auch zeitgenössisch verbreiteten Geschichts- und Kulturbildern verdankte, ist unstrittig. So war die hussitische Bewegung aufs Ganze gesehen für Grünhagen, wie er schrieb, nur „eine jener Reaktionen des Slaventhums, wie sie im Mittelalter wiederholt die Fortschritte der Germanisation im östlichen Deutschland gehemmt haben, und bei denen ja meistens die nationale Bewegung durch ein religiöses Moment verstärkt wurde. Die hussitische Bewegung erscheint dann als die bedeutendste und folgenreichste dieser slavischen Reaktionen, weil keine vorher das deutsche Reich so kraftlos und zerfahren getroffen hatte.“136 Die Kraftlosigkeit des alten Reichs unterschied sich, so musste es auch der Leser empfinden, vollkommen von der Machtfülle des neuen Reichs, das soeben unter Führung der Hohenzollern zu innerer Einheit gefunden hatte. Die politische Entwicklung hatte Konsequenzen für Grünhagens Zugriff, beabsichtigte er doch, „die Hussitenkriege wirklich der deutschen Reichsgeschichte einzufügen, sie in deren Zusammenhange zu betrachten und zu begreifen“. Diese Aufgabe sei „noch nicht gelöst, der Einzige, der diese Kämpfe darzustellen unternommen, Palacky, hat aus bekannten Gründen sich jener Seite der Betrachtung mit vollster Absicht entzogen, und hätte er es selbst gewollt, es würden ihm doch Vorarbeiten gefehlt haben, welche die Schicksale



und ihr Verhältnis zu den scholastischen Systemen des Realismus und Nominalismus. In: Theologische Studien und Kritiken. Eine Zeitschrift für das gesamte Gebiet der Theologie 44 (1871) 297–317. 134 Ders.: Geschichte der Böhmischen Reformation, VIII. Die kursivierte Stelle ist im Original gesperrt gesetzt. 135 Grünhagen (Hg.): Geschichtsquellen der Hussitenkriege, Vorwort, VII. Die kursivierte Stelle ist im Original gesperrt gesetzt. Grünhagen bezog sich auf das Werk von Höfler, K[onstantin] (Hg.): Geschichtschreiber der husitischen Bewegung in Böhmen, Bd. 1–3. Wien 1856–1866 (Fontes rerum Austriacarum 1/2, 6, 7). 136 Grünhagen: Die Hussitenkämpfe der Schlesier, Vorwort, V.

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der Nachbarländer in der Zeit der Hussitenkriege genauer zu erforschen und durch ein auf engeren Raum begrenztes Studium Material zur Ausfüllung der erheblichen Lücken zu gewinnen suchten, die in den größeren Quellen der Hussitenkriege uns noch so vielfach entgegentreten“.137 Jenseits dieser erwartbaren Einordnungen und Abgrenzungen aber waren die wissenschaftlichen Ergebnisse von Grünhagens Studien, die auch auf Anerkennung der eigenen Leistung in Berlin und eine Aufwertung der landeskundlichen Bemühungen in Schlesien abzielten, beachtlich. Bei der Lektüre von Grünhagens Monographie wird rasch deutlich, dass er trotz der grundsätzlichen Zurückweisung der romantisch-idealisierten Geschichtskonstruktion von Palacký dessen Arbeiten ganz selbstverständlich benutzte und auch dutzendfach zitierte. Daneben zog er andere Werke tschechischer Historiker für seine eigene Darstellung heran, die sich keineswegs in einer ethnisch-sprachlichen Polarisierung der einzelnen Akteure und Gruppen erschöpfte. Im Gegenteil, Grünhagen betonte immer wieder, dass die „wenig durchsichtigen“ Überlieferungen sowie das „Aufundabwogen der herrschenden Meinungen“ innerhalb der hussitischen Bewegung ein eindeutiges Urteil oft nicht erlaubten.138 Nur im abschließenden, den Nachwirkungen der Hussitenkriege gewidmeten Kapitel setzte sich der patriotische Geschichtsschreiber gegenüber dem nüchternen Archivar noch einmal durch: Hier war erneut die Rede vom „Hereinbrechen einer großen slavischen Reaktion“ in Schlesien, einem „dem Deutschthum feindlich“ gegenüberstehenden und durch diese Feindschaft geeinten Lager sowie den „Interessen einer slavischen Nationalität“, hier wurden ein letztes Mal der „nationale Eifer“ und die Abneigung „gegen das deutsche Element“ in einen überzeitlichen Zusammenhang gestellt, bei dem mal geschichtsphilosophische, mal geschichtspolitische Züge die Oberhand gewannen: „Im Bewußtsein der Schlesier erblaßt der Gedanke an eine staatsrechtliche Verbindung mit Schlesien vollständig, und es ist endlich eine vollkommen naturgemäße Lösung, als die kühne That Friedrichs des Großen Schlesien von der Krone Böhmen lostrennt und es damit von all den Verwickelungen befreit, welche eben einst die hussitische Bewegung heraufbeschworen, und deren endliche Lösung noch dunkel im Schooße der Zukunft liegt.“ Aus dieser Perspektive heraus hatten auch die Hussitenkriege des 15. Jahrhunderts ihr Gutes, hätten sie doch „das Gefühl der Gemeinsamkeit der schlesischen Interessen“ wachsen lassen. „Es scheint dies zunächst nur ein provinzielles Interesse zu sein, aber in Wahrheit mußte es doch auch für das ganze deutsche Vaterland von Wichtigkeit sein, daß hier ein bedeutendes Grenzland gegen Osten nicht in kleine Partikeln auseinander bröckelte, sondern durch ein Band der Gemeinsamkeit zusammen gehalten ward. Nur so konnte diese Eroberung deutscher Kultur wirklich dem Vaterlande erhalten bleiben.“139 137 Ebd., VI. 138 Ebd., 47. 139 Ebd., 282f., 286, 288, 290, 292. Allerdings stießen auch diese Passagen bei den zeitgenössischen Rezensenten auf keinen Widerspruch. Vgl. exemplarisch Historische Zeitschrift 29 (1873) 182–189; Heidelberger Jahrbücher der Literatur 65 (1872) 440–442.

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Zu Einzelfragen dieser schlesisch-böhmischen Konfliktgeschichte publizierte Grünhagen überdies eine Fülle weiterer Abhandlungen, die, wie es im Untertitel zu einer Studie über König Johann von Böhmen und Bischof Nanker von Breslau hieß, in der Regel zugleich einen „Beitrag zur Geschichte des Kampfes mit dem Slaventhum im deutschen Osten“ darstellten.140 Trotz dieser problematischen Kontextualisierung boten die quellennahen Studien Grünhagens neue Einblicke in eine bis dahin von deutscher Seite kaum erforschte Beziehungsgeschichte. Es gab vor dem Ersten Weltkrieg nur wenige andere Archivare in Schlesien, die sich auf ähnlich hohem Niveau mit diesen Fragen auseinandersetzten. Unter ihnen ist an erster Stelle der in Görlitz wirkende Archivar Richard Jecht zu nennen, der seinen Blick von der Oberlausitz aus auf das Hauptland der Böhmischen Krone richtete.141 Ansonsten gab es hier und da populäre Geschichtsdarstellungen in Schlesien über die Zeit der Hussitenkriege, die offenbar das ganze 19. Jahrhundert über in allen Teilen der Gesellschaft ihre Leser fanden.142 Ein weiteres, von einem Fachhistoriker verfasstes Werk gilt es abschließend in Erinnerung zu rufen. Es war vollkommen anders motiviert als die Studien von Grünhagen. 140 Grünhagen, C[olmar]: König Johann von Böhmen und Bischof Nanker von Breslau. Ein Beitrag zur Geschichte des Kampfes mit dem Slaventhum im deutschen Osten. In: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Classe, Bd. 47. Wien 1864, 4–102. Vgl. ferner ders.: Die Correspondenz der Stadt Breslau mit Karl IV. in den Jahren 1347–1355. In: Archiv für österreichische Geschichte 34 (1865) 345–370; ders.: König Wenzel und der Pfaffenkrieg zu Breslau. In: Archiv für österreichische Geschichte 37 (1867) 231–269; ders.: Karl IV. in seinem Verhältnisse zur Breslauer Domgeistlichkeit. In: Archiv für österreichische Geschichte 39 (1868) 223–243; ders.: Der Reichstag zu Breslau und das Strafgericht des Kaisers Sigismund im Jahre 1420. In: Abhandlungen der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Philosophisch-historische Abtheilung, H. 2/1888. Breslau 1869, 1–19; ders.: Hus und die Schlesier. In: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Literatur 29/19 (1870) 201– 218; ders.: Aus Bolkos I. Zeit. Kampfbereitschaft gegen Böhmen 1295, Bezwingung Breslaus 1296. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1907) 311–335. 141 Jecht, Richard: Der Oberlausitzer Hussitenkrieg und das Land der Sechsstädte unter Kaiser Sigmund. In: Neues Lausitzisches Magazin 87 (1911) 33–279, 90 (1914) 31–146, 92 (1916) 72–151; ders.: Benesch von der Duba, Landvogt der Oberlausitz 1369–1389. In: Neues Lausitzisches Magazin 86 (1910) 103–143; ders.: Der Zusammenstoß der Brandenburger und Böhmen in der Niederlausitz im Jahre 1461 und seine Veranlassung. In: Niederlausitzer Mitteilungen 10 (1907) 1–50. Zu Autor und Werk vgl. Reuther, Martin: Richard Jecht – Archivar und Historiker. In: ders. (Hg.): Oberlausitzer Forschungen. Beiträge zur Landesgeschichte. Festschrift aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Sächsischen Landesarchivs Bautzen (1933– 1958). Leipzig 1961, 23–50; Bahlcke, Joachim: Entwicklungsphasen und Probleme der oberlausitzischen Historiographie. Vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart [2002/03]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz, 155–199, hier 181–188. 142 �������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. exemplarisch Kricke, Oskar Friedrich (Hg.): Hussitenjahre und mittelalterliche Wehrverfassung in Schlesien. Schweidnitz [um 1910] (Schlesische Quellen. Geschichtsquellen zur Heimatgeschichte 3); Schulte, [Wilhelm]: Die Hussiten vor Neisse. In: Festschrift zur Erinnerung an das fünfzigjährige Jubiläum des Realgymnasiums zu Neisse am 8. Oktober 1882. Neisse 1882, 199–222; Wiese, H[ugo] v[on]: Das Glatzer Land im Hussitenkriege. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 15 (1881) 357–434.

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Mit seiner 1894 vorgelegten Abhandlung Die Organisation der Gesamtstaatsverwaltung Schlesiens vor dem dreissig jährigen Kriege gelang Felix Rachfahl ein großer Wurf, dessen tiefe Einsichten in die übergreifende Staatlichkeit der Böhmischen Krone des 15. und 16. Jahrhunderts dem bloßen Titel nach gar nicht erkennbar waren.143 Die archivalischen Studien hatte der aus Schömberg, einem Ort an der schlesisch-böhmischen Grenze, stammende Rachfahl unmittelbar nach seiner Promotion in Breslau 1890 begonnen, den Text dann aber erst nach seinem Wegzug nach Berlin außerhalb Schlesiens ausgearbeitet. Dass sich Rachfahl früh für die deutsch-slawische Verflechtungsgeschichte interessierte, hatte er bereits mit seiner von Jacob Caro angeregten, ungewöhnlich umfangreichen Dissertation zum Stettiner Erbfolgestreit der Jahre 1464 bis 1472 unter Beweis gestellt.144 Rachfahl, dessen slawische Sprachkenntnisse eine Rezeption der polnischund tschechischsprachigen Forschung erlaubten, fragte in seiner Studie von 1894 auch nach dem Fortleben älterer Rechtstraditionen. Dies sei gerade in Schlesien geboten, da das Oderland „lange Zeit politisch zu Böhmen oder Polen, slavischen Reichen, gehörte, und da hier Überbleibsel der alten slavischen Kultur lange Zeit in sehr großem Umfange bestehen blieben“.145 Im Ergebnis legte Rachfahl eine bemerkenswerte Fallstudie zu zentralen Problemen alteuropäischer Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit vor, in der das frühere Pathos deutsch-slawischer Kulturvergleiche keinerlei Platz mehr hatte. Ablesbar ist die von Rachfahl verkörperte neue Art nüchterner Forschungsdiskussion nicht zuletzt an der Kritik, die er deutschen wie tschechischen und polnischen Autoritäten des Faches, unabhängig von deren nationaler Herkunft, gegenüber übte. Nur einige Beispiele: Stenzel („Seine Ansichten sind veraltet“), Grünhagen („Es ist mir in Rücksicht auf die oben dargelegten Verdienste der Krone unmöglich, mich dem Urteile anzuschließen, welches Grünhagen [...] über die innere Geschichte Schlesiens im 16. Jahrh. fällt“), Antonín Gindely („von Parteilichkeit in böhmisch-nationalem Sinne nicht frei“), Stanisław Smolka („Die Hypothese Smolkas leidet daran, daß sie die gesamte ständische Gliederung auf rein sociale Verschiedenheit zurückführt“), Franciszek Piekosiński („Auch die übrigen Gründe, welche Piek[osiński] für seine Ansicht anführt [...], sind nicht entscheidend“).146 Rachfahl stand bereits am Beginn einer historischen Ostmitteleuropaforschung, in der sich Kontroversen aus ­sachlichen Problemen entwickelten, nicht mehr aus nationalen Positionen. 143 ������������������������������������������������������������������������������������������� Rachfahl, Felix: Die Organisation der Gesamtstaatsverwaltung Schlesiens vor dem dreißigjährigen Kriege. Leipzig 1894 (Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen 13/1). Zu Autor und Werk vgl. die autobiographische Darstellung in Steinberg, Sigfrid (Hg.): Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 2. Leipzig 1926, 199–222; Below, Georg von: Felix Rachfahl. In: Andreae u. a. (Hg.): Schlesier des 18. und 19. Jahrhunderts, 371–380. 144 Rachfahl, Felix: Der Stettinger Erbfolgestreit (1464–1472). Ein Beitrag zur brandenburgischpommerschen Geschichte des fünfzehnten Jahrhunderts. Breslau 1890. 145 Ders.: Die Organisation der Gesamtstaatsverwaltung Schlesiens, 4. 146 Ebd., 403, 409f., 419, 421.

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4. Zur Rezeption der tschechisch- und deutschsprachigen Forschung Böhmens und Mährens im Oderland Für eine intensivere Auseinandersetzung mit den reichen Ergebnissen der tschechischen Geschichtswissenschaft, die Mitte des 19. Jahrhunderts einen rasanten Professionalisierungs- und Institutionalisierungsschub erfuhr,147 fehlten in Schlesien vor 1914 allein schon in sprachlicher Hinsicht die Voraussetzungen. An der Universität Breslau hatte man sich zwar bei der Besetzung der 1842 neu begründeten Professur für slawische Sprachen und Literatur für den tschechischen Philologen František Ladislav Čelakovský entschieden, doch war dessen Wirksamkeit in der Hauptstadt recht begrenzt.148 Es gab nur wenige Orte, an denen man tschechischsprachige Fachliteratur überhaupt zur Kenntnis nahm und diskutierte. Einer dieser Orte war das ­Towarzystwo Literacko-Słowiańskie, die 1836 auf Anregung Jan Evangelista Purkyněs in Breslau gegründete Literarisch-Slawische Gesellschaft, die interessierten Dozenten sowie allen slawischsprachigen Studenten offenstand.149 In dem Verein, der aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden eine eigene Bibliothek unterhielt, wurde beispielsweise das eingangs genannte Werk Slowanské starožitnosti von Pavel Josef Šafařík gemeinsam gelesen. Das Interesse galt allgemein der Kultur und Geschichte der slawischen Völker, wobei der Schwerpunkt – allein schon wegen der Zahl der polnischen Studenten aus Großpolen – die Vergangenheit Polens betraf. Stärker auf den böhmisch-mährischen Raum waren allein die sorbischen Studenten in Breslau ausgerichtet, die sich der tschechischen Kultur zudem im Akademischen Verein für lausitzische Geschichte und Sprache widmeten. Gerade dieser Personenkreis wurde von Stenzel, der den Verein nach außen vertrat, ermuntert, Tschechisch zu lernen, um die in dieser Sprache überlieferten Urkunden und Akten in schlesischen Archiven bearbeiten zu können.150 147 Jiroušek, Bohumil/Blüml, Josef/Blümlová, Dagmar (Hg.): Jaroslav Goll a jeho žáci. České Budějovice 2005 (Historia culturae 6. Studia 5); Štaif, Jiří: Historici, dějiny a společnost. Historiografie v českých zemích od Palackého a jeho předchůdců po Gollovu školu. 1790–1900, Bd. 1–2. Praha 1997; Petráň, Josef: Česká filozofická fakulta 1882–1918. In: Havránek, Jan (Hg.): Dějiny Univerzity Karlovy, Bd. 3: 1802–1918. Praha 1997, 257–303; Plaschka, Richard Georg: Von Palacký bis Pekař. Geschichtswissenschaft und Nationalbewußtsein bei den Tschechen. Graz/ Köln 1955 (Wiener Archiv für Geschichte des Slawentums und Osteuropas 1); Werstadt, Jaroslav: Politické dějepisectví devatenáctého století a jeho čeští představitelé (Kapitola z ideového vývoje moderní české historiografie). In: Český časopis historický 26 (1920) 1–93. 148 Żabski, Tadeusz: František Ladislav Čelakovský na katedrze slawistyki we Wrocławiu. In: Acta Universitatis Wratislaviensis 30. Prace Literackie 6 (1964) 158–195; Pribic-Nonnenmacher, E[lisabeth]: František Ladislav Čelakovský, erster Professor der Slavistik an der Universität Breslau. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 7 (1962) 201–223. 149 Achremowicz, Elżbieta/Żabski, Tadeusz: Towarzystwo Literacko-Słowiańskie we Wrocławiu 1836–1886. Wrocław u. a. 1973 (Biblioteka Wrocławska 15); Jaworski, Paweł: Der „Literarisch-Slawische Verein“ in Breslau (1836–1886) als historische Gesellschaft. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 183–198. 150 Kunze: Der Akademische Verein für lausitzische Geschichte und Sprache, 667.

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Zu den wenigen Orten, an denen man in Breslau tschechischsprachige Literatur zur Kenntnis nahm und diskutierte, gehörte das Haus des seit 1823 an der Universität Breslau lehrenden Physiologen Jan Evangelista Purkyně. Dort kamen nicht nur polnische, tschechische und sorbische Studenten zusammen, dort verkehrten auch zahlreiche Gäste aus den slawischen Ländern. Hier las man beispielsweise auch Šafaříks Slowanské starožitnosti (Slawische Altertümer) in der Originalsprache. Die Abbildung „Slawische Gespräche“ schuf der tschechische Graphiker und Buchillustrator Pavel Černý Mitte des 20. Jahrhunderts. Bildnachweis: Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, Oddział Zbiorów Graficznych, inw. fot. 3927.

Von beiden Vereinen, die für die Rezeption der tschechisch- und deutschsprachigen Forschung Böhmens und Mährens im Oderland eine gewichtige Rolle spielten, gingen auch Impulse für eigene Forschungen aus. Dies zeigt sich etwa an der intensiven, wenn auch kurzen Lehr- und Forschungstätigkeit des Privatdozenten Bruno Hildebrand, der 1838 von Leipzig nach Breslau gekommen war, drei Jahre später aber bereits einem Ruf nach Marburg folgte und dort den Lehrstuhl für Staatswissenschaften übernahm.151 Hildebrand bot an der Universität nicht nur Kurse zur slawischen und lausitzischen Geschichte an und engagierte sich im außeruniversitären Vereinsleben, er regte auch bei sorbischen Studenten die tiefere Bearbeitung beziehungsgeschichtlicher Studien an. 1841 erschien die Studie von Adolph Roesler Die Vereinigung der Oberlausitz unter böhmischer Herrschaft im vierzehnten Jahrhundert, Hildebrand „bei seinem Weggange von Breslau dankbar gewidmet vom akademischen Vereine für lausitzische Ge151 Bahlcke: Geschichtswissenschaftliche Habilitationen an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau, 57, 83f.

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schichte und Sprache zu Breslau“.152 Die Widmung trug die Namen von 16 Studenten verschiedener Fakultäten. Nicht nur der Anmerkungsapparat, auch der über „Quellen und Hülfsmittel“ informierende Anhang lässt erkennen, in welchem Umfang dabei auf Forschungsergebnisse tschechischer und deutschböhmischer Geschichtswissenschaftler zurückgegriffen wurde. Ein weiterer Begegnungsort in Breslau war das Haus von Purkyně, in dem nicht nur polnische, tschechische und sorbische Studenten, sondern auch Gäste aus den slawischen Ländern zusammentrafen. Unabhängig davon, dass Purkyně einen Lehrstuhl für Physiologie innehatte, tauschte man sich hier intensiv über literarische Neuerscheinungen auch und gerade der kultur- und geistesgeschichtlichen Fachrichtungen aus.153 Erst bei der genauen Rekonstruktion einzelner Werdegänge wird deutlich, welche Früchte solche Begegnungen im Einzelnen tragen konnten. Der seit 1836 in Breslau studierende Sorbe Jan Arnošt Smoler, der im Akademischen Verein für lausitzische Geschichte und Sprache von Beginn an eine führende Stellung einnahm und ebenfalls bei Purkyně verkehrte, wurde von diesem fünf Jahre später als Hauslehrer seiner Söhne bei sich aufgenommen. Hier fand Smoler Zugang zu tschechischen Zeitschriften und Büchern, die es in keiner Bibliothek Breslaus sonst zu lesen gab.154 1838 lernte Smoler den späteren preußischen Zeremonienmeister und Direktor des königlichen Hausarchivs, Rudolf von Stillfried-Rattonitz, kennen, von dessen Familie ein Teil seit langem in Böhmen lebte. Dieser gewann Smoler für die Übersetzung verschiedener tschechischer Familiendokumente – und sorgte dafür, dass der junge Sorbe ein Stipendium des preußischen Monarchen erhielt, um seine Sprach- und Literaturstudien ausbauen zu können.155 Solche individuellen Beobachtungen zeigen, dass Rezeptions- und Transfervorgänge im akademischen Bereich durch die Analyse ausschließlich gedruckter Texte und die bloße Berücksichtigung von Lehre und Forschung an der Universität nicht zu erfassen sind. Denn die Slawistik an der Universität wandte sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts

152 Roesler, Adolph: Die Vereinigung der Oberlausitz unter böhmischer Herrschaft im vierzehnten Jahrhundert. Breslau 1841. Zu Autor und Werk vgl. Conrads, Norbert: Von Schlesien nach Amerika. Der Weg des Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung Gustav Adolf Rösler (1818–1855). In: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für ostdeutsche Geschichte 7 (1999) 109–138. 153 Siatkowska, Ewa: Dzieło czyni mistrza. Wrocławscy uczniowie J. E. Purkyniego i F. L. Čelakovskiego. In: Tarajło-Lipowska, Zofia/Malicki, Jarosław (Hg.): Wrocław w Czechach – Czesi we Wrocławiu. Literatura – język – kultura. Wrocław 2003, 142–147; Purš, Jaroslav (Hg.): Jan Evangelista Purkyně in Science and Culture, Bd. 1–2. Praha 1988. 154 Šołta, J[an]: Von der Französischen Revolution 1789 bis zur Gründung des Deutschen Reiches 1871. In: Šołta, Jan/Zwahr, Hartmut (Hg.): Geschichte der Sorben, Bd. 2: Von 1789 bis 1917. Bautzen 1974, 9–153, hier 92–94; Kunze: Der Akademische Verein für lausitzische Geschichte und Sprache, 667. 155 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Aus J. E. Schmaler’s eigener Biographie. In: Immisch, H[einrich]: Deutsche Antwort eines sächsischen Wenden. Der Panslawismus, unter den sächsischen Wenden mit russischem Gelde betrieben und zu den Wenden in Preußen hinübergetragen. Leipzig 1884, 135–156, hier 138–140.

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mehrheitlich dem polnischen Sprach- und Kulturraum zu.156 Gleichwohl waren die einzelnen Lehrstuhlinhaber (Wojciech Cybulski, Władysław Nehring, Paul Diels) im Oderland wichtige Vermittler auch für das auf Tschechisch erschienene geschichtswissenschaftliche Schrifttum. So war es denn nicht zufällig der aus der Nähe von Gnesen gebürtige, seit 1868 in Breslau lehrende Polonist Nehring, der 1887 in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens ein im gleichen Jahr in tschechischer Sprache veröffentlichtes Werk des Prager Historikers Antonín Rezek rezensierte – es war die einzige in dieser schlesischen Fachzeitschrift erschienene Besprechung eines ­tschechischsprachigen Geschichtswerks vor dem Ersten Weltkrieg überhaupt.157 Nehring war mit der tschechischen Forschung vertraut, publizierte allerdings selbst nur selten zu Einzelaspekten der tschechischen Sprach- und Literaturgeschichte.158 Seine Rezension von Rezeks Werk und die darin eingestreuten Verweise auf „die böhmischen Gelehrten in der neueren Zeit“ – namentlich erwähnt wurden František Palacký, Antonín Gindely, Josef Jireček, Josef Svátek und Jaroslav Goll – boten den Lesern der Breslauer Vereinszeitschrift eine Fülle neuer Einblicke in eine ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit unbekannte Forschungslandschaft. Rezeks Abhandlung bildete den ersten Teil eines auf drei Bände angelegten Werks zu den religiösen Volksbewegungen in Böhmen vom Erlass des Toleranzpatents bis in die unmittelbare Gegenwart. Es sei, so Nehring, „eine mühevolle und verdienstliche Arbeit, die in dem größeren Zusammenhange zum ersten Mal unternommen“ worden sei. Die Absicht des Verfassers, „einen Beitrag zu einer tieferen Erkenntniß des czechischen Volksgeistes und der czechischen Cultur“ zu liefern, sei vorbildlich umgesetzt worden.159 Ob die gelehrte Besprechung, in der von höchst diffizilen kirchengeschichtlichen Details und deren unterschiedlicher Interpretation die Rede war, in Schlesien Aufmerksamkeit und Anklang fand, darf gleichwohl bezweifelt werden. Die Zeitschrift des Breslauer Geschichtsvereins war kein Fachorgan wie das 1876 begründete, von Nehring mitherausgegebene Archiv für slavische Philologie, das sich ausschließlich an gelehrte Kreise wandte.160 Nur selten erreichten Besprechungen in schlesischen Periodika das Niveau, das die Rezension zu Rezeks Abhandlung aufwies. 156 Schaller: Die Geschichte der slawischen Philologie, 64–81; Rösel: Dokumente zur Geschichte der Slawistik in Deutschland, Bd. 1, 63–86, 268–396. 157 Nehring, [Władysław]: Rezension zu Rezek: Dějiny prostonárodního hnutí naboženského v Čechách od vydání tolerančního patentu až na naše časy, Bd. 1. Praha 1887. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 22 (1888) 349–352. Zum Rezensenten und dessen Werk vgl. Sochacka, Stanisława: Działalność slawistyczna Władysława Nehringa na tle epoki. Opole 1980; Pohrt, H[einz]: Zum wissenschaftlichen Wirken des polnischen Slawisten Władysław Nehring. In: Zeitschrift für Slawistik 24 (1979) 903–912; ders.: Nehring, Władysław. In: Eichler (Hg.): Slawistik in Deutschland, 283–285. 158 Vgl. exemplarisch Nehring, [Władysław]: Ueber den Einfluss der altčechischen Literatur auf die altpolnische. In: Archiv für slavische Philologie 1 (1876) 60–81, 2 (1876) 409–436, 5 (1881) 216–267, 6 (1882) 159–184. 159 Ders.: Rezension zu Rezek, 349f. 160 Pastrnek, Fr[anz]: Bibliographische Übersicht über die slavische Philologie 1876–1891. Berlin 1892 (Archiv für slavische Philologie. Suppl.-Bd.), 4–14.

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Aber auch die in deutscher Sprache zur Geschichte Böhmens und Mährens vorgelegten Arbeiten des Nachbarlandes wurden in Schlesien, beginnend zudem erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, allenfalls punktuell angezeigt oder knapp vorgestellt. Von Interesse war auch dann vorwiegend das, was die Geschichte Schlesiens unmittelbar betraf, wie Franz Wachter in einer Besprechung von Julius Lipperts Socialgeschichte Böhmens in vorhussitischer Zeit offen bekundete: Der deutschböhmische Autor habe ein „reichhaltiges Gebiet“ bearbeitet, aus dem im Folgenden aber nur das, was „unsere heimische Geschichte betrifft“, näher skizziert werde: „Uns interessirt der Nordrand Böhmens, der mit einem guten Theile an Schlesien angrenzt.“161 Ähnlich formulierte es Grünhagen, der eine 1867 in Prag erschienene Studie Constantin Höflers besprach und seine ohnehin nur eine Seite umfassende Rezension direkt mit dem Hinweis auf eine lediglich in einer Anmerkung genannte Handschrift zur Geschichte des Herzogtums Glogau einleitete. Die Mitteilung, dass man von dieser Handschrift, „welche für die schlesische Geschichte manches bisher Unbekannte zu enthalten scheint“, bereits Abschriften für das Provinzialarchiv Breslau beschafft habe, war ihm ungleich wichtiger als jede Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Inhalt der Studie Höflers, über die der Leser nicht einmal in Grundzügen informiert wurde.162 Praktisch in allen historischen und kulturellen Vereinigungen in der schlesischen Landeshauptstadt gab es um 1900 Spannungen und Richtungskämpfe, weil ein Teil der Mitglieder auf eine stärkere Verwissenschaftlichung drängte, ein anderer dagegen die bisherige Struktur und Ausrichtung des Vereinslebens beibehalten wollte. Dem Vorwurf, keine seriöse Forschungsarbeit zu leisten und historischen Laien lediglich eine Bühne für gehobene Unterhaltung zu bieten, sahen sich die Geschichts- und Altertumsvereine im Grunde in ganz Deutschland ausgesetzt.163 Andernorts hatte diese Auseinandersetzung allerdings bereits ein halbes Jahrhundert früher eingesetzt. Als 161 Wachter, [Franz]: Rezension zu Lippert, Julius: Socialgeschichte Böhmens in vorhussitischer Zeit. I. Band: Die slavische Zeit und ihre gesellschaftlichen Schöpfungen. Prag/Wien/Leipzig 1896. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 30 (1896) 333–336, hier 334. 162 ��������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, [Colmar]: Rezension zu Höfler, C[onstantin]: Barbara, Markgräfin zu Brandenburg, verwittwete Herzogin in Schlesien, vermählte Königin von Böhmen, Verlobte Konrad’s, Herrn zu Haydek. Ein deutsches Fürstenbild aus dem 15. Jahrhunderte, Abth. 1. Prag 1867. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 8/1 (1867) 203. 163 Gehrke, Roland: Zwischen ‚vaterländischer‘ Geschichtsbegeisterung und wissenschaftlicher Professionalisierung: Das historische Vereinswesen im deutschsprachigen Raum vor 1914. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 27–43; Bruch, Rüdiger vom: Die Stadt als Stätte der Begegnung. Gelehrte Geselligkeit im Berlin des 19. und 20. Jahrhunderts [1996]. In: ders.: Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Björn ­Hofmeister und Hans-Christoph Liess. Stuttgart 2006, 169–185; Pabst, Klaus: Historische Vereine und Kommissionen in Deutschland bis 1914. In: Seibt (Hg.): Vereinswesen und Geschichtspflege in den böhmischen Ländern, 13–38; Klüpfel, [Karl August]: Die historischen Vereine und Zeitschriften Deutschlands. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1 (1844) 518–559.

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Wilhelm Adolph Schmidt, ein Schüler Leopold Rankes, zusammen mit anderen Historikern der Universität Berlin 1844 die Zeitschrift für Geschichtsforschung ins Leben rief, bezeichnete er im Vorwort des ersten Bandes das Bemühen, „dem wissenschaftlichen Dilettantismus entgegenzuarbeiten“, als wichtigstes Anliegen des neuen Organs.164 In Schlesien dagegen setzte eine vergleichbare Kritik erst um die Jahrhundertwende ein. In der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur beobachtete Georg Kaufmann, der an der Universität Breslau den Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte innehatte, zu jener Zeit einen „energisch fachwissenschaftliche[n] Zug“.165 Und auch im altehrwürdigen Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens gab es ähnliche Auseinandersetzungen. Sie führten am Ende dazu, dass Grünhagen im Jahr 1905 im Unfrieden aus seinen langjährigen Vereinsämtern ausschied.166 Dass man noch im gleichen Jahr den Begriff „Alterthum“ aus dem Namen des Vereins strich und drei Jahre später für diejenigen Mitglieder, die an einer dezidiert fachwissenschaftlichen Ausrichtung kein Interesse hatten, die populäre Zeitschrift Schlesische Geschichtsblätter ins Leben rief, macht deutlich, dass die zunehmende Professionalisierung der landesgeschichtlichen Forschung auch den Breslauer Geschichtsverein zum Handeln zwang. Zumindest die Rezensionspraxis zeigt jedoch, dass diese intern vereinbarte Teilung der Verantwortung vor dem Weltkrieg nicht recht funktionierte. Denn im Grunde wurde in den Schlesischen Geschichtsblättern breiter über Forschungsarbeiten und Ergebnisse der Geschichtswissenschaft in Böhmen berichtet als in dem traditionellen Vereinsorgan. Hier sei exemplarisch nur eine „Bücheranzeige“ herausgegriffen, deren Autor zwar kein gebürtiger Schlesier war, der aber in Schlesien eine Vielzahl von Einzelstudien auch zur älteren Geschichte Böhmens und Polens veröffentlichte. Der Gymnasiallehrer Joseph Wilhelm Schulte – der sich seit seinem Eintritt in den Franziskanerorden 1910 Lambert Schulte nannte – war ein ungemein produktiver Landeshistoriker.167 Mit seiner Studie Die politische Tendenz der Cronica principum Polonie wurde 1906 die Schriftenreihe „Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte“ eröffnet.168 Von den Arbeiten zu Böhmen sollen zumindest drei wichtige Studien zur kirchlichen Raumordnung genannt werden.169 Was in Schultes Werk aber besonders auffällt (und was bisher noch nie gewürdigt worden ist), sind die zahlreichen Rezensionen von Fachbüchern nicht nur 164 Schmidt, Adolph: Vorwort. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1 (1844) III–XII, hier VII. 165 Kaufmann, [Georg]: Allgemeine Geschichte der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. In: Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Bd. 2, 3–31, hier 22. 166 Rüther: Borussische Geschichtsforschung zu Schlesien, 245f. 167 Seppelt, Franz Xaver. Nachruf P. Dr. Lambert Schulte O.F.M. † In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 54 (1920) 120–154. 168 Schulte, Wilhelm: Die politische Tendenz der Cronica principum Polonie. Breslau 1906 (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte 1). 169 Ders.: Die Gründung des Bistums Prag. In: Historisches Jahrbuch 22 (1901) 285–297; ders.: Die Exemtion des Breslauer Bistums. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 51 (1917) 1–29; ders.: Die staatsrechtliche Stellung des Breslauer Bistums zur Krone Böhmens. In: Oberschlesische Heimat 14 (1918) 45–58.

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der deutschen, sondern auch der tschechischen und polnischen Historikerzunft. Kein anderer Landeshistoriker in Schlesien berichtete über die wachsende Zahl von Neuerscheinungen derart umfassend und zuverlässig wie Schulte. Die Qualität seiner Besprechungen wird auch an der Rezension des dritten Bandes der von Vojtěch Jaromír Nováček 1910 herausgegebenen Mitteilungen aus dem Landesarchiv des Königreiches Böhmen ­deutlich. Schulte teilte unter anderem mit, dass man in Prag an einer Veröffentlichung der Acta Sacrae Congregationis de propaganda fide res gestas Bohemicas illustrantia sowie an einer Forsetzung der Edition der böhmischen Landtagsverhandlungen und Landtagsbeschlüsse arbeite, er informierte sachlich über die einzelnen Studien von František August Slavík, Josef Borovička und Kamil Krofta und machte am Ende noch einige kritische Anmerkungen zur Analyse der sogenannten Steuerrolle von 1653/55.170 Inhaltsreiche Besprechungen wie diese blieben vor 1914 allerdings die Ausnahme. Erst nach dem Weltkrieg fand man mit Emil Schieche einen sprachkundigen Rezensenten, der in den schlesischen Fachorganen regelmäßig über die Produktion der tschechischen Geschichtsforschung berichtete.171 Positiv hervorzuheben ist allerdings, dass man in den letztlich überschaubaren Besprechungen keine nationalen Töne oder unsachlichen Kommentare findet. Zu einer 1913 erschienenen, einem militärgeschichtlichen Detail des Dreißigjährigen Kriegs gewidmeten Studie des mährischen Historikers Josef Zukal schrieb Julius Krebs in seiner Rezension in den Schlesischen Geschichtsblättern, der Autor habe seiner Darstellung „eine unparteiisch geschriebene Einleitung“ vorausgehen lassen.172 Damit hob Krebs freilich nur die historische Vorurteilslosigkeit des Autors hervor, der für keinen der Akteure des 17. Jahrhunderts Partei ergriffen habe, um eine Aussage zur eigenen Gegenwart ging es ihm nicht.

5. Archivreisen, Wissensaustausch und persönliche Kontakte über Grenzen hinweg Bei allen Rezeptions- und Austauschprozessen, aber auch bei der Themenwahl eigener Forschungen allgemein sind grundsätzlich die rechtlichen, finanziellen und logistischen Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts in Rechnung zu stellen, die in Untersuchungen zur

170 Ders.: Rezension zu Nováček, Adalbert J. (Hg.): Mitteilungen aus dem Landesarchiv des Königreiches Böhmen, Bd. 3. Prag 1910. In: Schlesische Geschichtsblätter 2 (1912) 66–67. 171 �������������������������������������������������������������������������������������������� Nachweis bei Kessler, Wolfgang (Bearb.).: Zeitschrift des Vereins für Geschichte (und Altertum) Schlesiens 1855–1943. Schlesische Geschichtsblätter 1908–1943. Gesamtinhaltsverzeichnis. Hannover 1984 (Schlesische Kulturpflege 1), 207. Zum Rezensenten vgl. Hemmerle, Josef: Emil Schieche (1901–1985). In: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 26 (1985) 396–399. 172 Krebs, J[ulius]: Rezension zu Zukal, Josef: Die Liechtensteinsche Inquisition in den Fürstentümern Troppau und Jägerndorf aus Anlaß des Mansfeldschen Einfalls 1626–1627. Troppau 1912. In: Schlesische Geschichtsblätter 3 (1913) 71.

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Historiographiegeschichte in aller Regel bestenfalls gestreift werden.173 Der Zugang zur archivalischen Überlieferung, über die ein Gelehrter im Vorfeld seiner Reise allenfalls punktuell Informationen erlangen konnte, unterlag vielfältigen Einschränkungen.174 Was an welchem Ort aufbewahrt wurde und was darüber an Wissen an die Öffentlichkeit gelangte, verdankte sich oft dem Zufall. Solche Schwierigkeiten begegneten dem schlesischen Landeshistoriker bereits vor Ort zur Genüge. In der berühmten Bibliothek der Schaffgotsch in Hermsdorf konnte der Besucher noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als es längst interne Vorschriften für die archivalische Ablage gab, auch handschriftliche Akten, Rechnungen und Belege über Rechtsstreitigkeiten vorfinden: „eine Menge Bände Schlesischer Acta publica“ beispielsweise, wie ein Besucher im Jahr 1809 feststellte,, „mehrere Bände Fürstentags-Acta“, ferner „Steuerrechnungen der Fürstenthümer Jauer und Schweidnitz“ sowie ein „Manuscriptum, die Fürstenthümer Brieg und Wohlau und deren Lehnsrecht betreffend“, für die Jahre 1316 bis 1694.175 Selbst der Direktor des Staatsarchivs in der Landeshauptstadt stand vielerorts sprichwörtlich vor verschlossenen Türen. „Das Archiv im alten Schwedenthurme des Schlosses zu Trachenberg ward lange mit Argusaugen gehütet, und selbst von den fürstlichen Beamten konnten sich nur Wenige rühmen seine Räume einmal betreten zu haben“, so Colmar Grünhagen 1876 über das Fürstlich Hatzfeldsche Archiv zu Trachenberg. Am Beispiel von Grünhagen, über dessen Forschungspraxis wir im Gegensatz zu den meisten anderen Historikern und Archivaren gut informiert sind, lassen sich die Probleme einer die Landesgrenzen überschreitenden Arbeit gut nachvollziehen. Um weiteres urkundliches Material für sein auf mehrere Bände angelegtes Werk Regesten zur schlesischen Geschichte zu finden, unternahm Grünhagen in den 1860er Jahren mehrere Archivreisen. Über diese vorbereitenden Arbeiten und Erfahrungen berich173 Kahlert, Torsten: „Unternehmungen großen Stils“. Wissenschaftsorganisation, Objektivität und Historismus im 19. Jahrhundert. Berlin 2017; Saxer, Daniela: Die Schärfung des Quellenblicks. Forschungspraktiken in der Geschichtswissenschaft 1840–1914. München 2014 (Ordnungssysteme 37); Esch, Arnold: Für die Monumenta in Italien. Briefe Ludwig Bethmanns von einer Archiv- und Bibliotheksreise 1845/46. In: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster 36 (2002) 517–532; ders.: Auf Archivreise. Die deutschen Mediävisten und Italien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: aus Italien-Briefen von Mitarbeitern der Monumenta Germaniae Historica vor der Gründung des Historischen Instituts in Rom. In: Esch, Arnold/Petersen, Jens (Hg.): Deutsches ­Ottocento. Die deutsche Wahrnehmung Italiens im Risorgimento. Tübingen 2000 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 94), 187–234; Wesche, Markus: Die Reisenden der Monumenta Germaniae Historica. In: Gawlik, Alfred (Bearb.): Zur Geschichte und Arbeit der Monumenta Germaniae Historica [Ausstellungskatalog]. München 1996, 22–34. 174 Rogalla von Bieberstein, Johannes: Archiv, Bibliothek und Museum als Dokumentationsbereiche. Einheit und gegenseitige Abgrenzung. Pullach bei München 1975 (Bibliothekspraxis 16), 19–43. 175 Büsching, Joh[ann] Gustav: Die Probstei Warmbrunn und die Gräflich Schafgotsch’sche Bibliothek zu Hermsdorf. In: ders.: Bruchstücke einer Geschäftsreise durch Schlesien, unternommen in den Jahren 1810, 11, 12, Bd. 1. Breslau 1813, 291–310, hier 301.

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tete er im Vorwort des ersten, 1868 von ihm vorgelegten Regestenbandes: „Endlich sollten auch in den benachbarten Archiven noch etwaige ungedruckte Urkunden, die für Schlesien von Bedeutung wären, aufgesucht werden. So vermochten in den letzten 4 Jahren Reisen des Herausgebers nach Prag, Posen, Gnesen, Krakau, Dresden von allen diesen Orten, Dank der Freundlichkeit der Archivvorstände, noch mannichfache Ausbeute zurückzubringen.“176 Ein solches Vorhaben war allerdings teuer, organisatorisch aufwendig und mit einer Vielzahl unkalkulierbarer Risiken verbunden. Einmal abgesehen davon, dass der Breslauer Archivdirektor diese privaten Forschungsreisen nur an dienstfreien Tagen und auf eigene Kosten, lediglich unterstützt vom örtlichen, das Regestenwerk verantwortenden Geschichtverein, durchführen konnte, waren auch die Wege zu den einzelnen Sammlungen oft nur schwer zu bewältigen. „Die 2½ stündige Fahrt von Pruchna nach Teschen in einem österreichischen Postwagen war ganz geeignet, mir die Vorzüge des preußischen Postwesens lebhaft vor die Seele zu führen und mich zugleich recht bedauern zu lassen, daß die Eisenbahn, die von Oderberg über Teschen nach Kaschau gebaut wird und im Herbst bis Teschen befahren werden soll, noch nicht eröffnet war.“177 Hinzu kamen die Herausforderungen vor Ort im Ausland, man hatte Öffnungszeiten und Nutzungsbedingungen in Erfahrung zu bringen, Übernachtungen zu organisieren und Ansprechpartner ausfindig zu machen – und das alles, wie Grünhagen schrieb, „auf dem unbekannten Boden“, wo einem fehlende Sprachkenntnisse zusätzlich „den Verkehr und das Anknüpfen neuer Beziehungen“ erschwerten.178 Für das Gros der Historiker waren grenzüberschreitende Archivreisen noch im 19. Jahrhundert die Ausnahme, und entsprechend umfassend informierten diejenigen, die dieses Wagnis dennoch auf sich nahmen, später über ihre Ergebnisse – und Erlebnisse.179 Was die allgemeinen Rahmenbedingungen betrifft, so ähnelten diese Erfahrungsberichte einander auffällig. Der aus Mähren gebürtige Archivar und Historiker Beda Dudík etwa, der im Juni 1865 von der Regierung in Wien den Auftrag erhalten hatte, sämtliche zum Ressort des Ministeriums des Innern gehörigen öffentlichen Archive zu bereisen, vermerkte in der Einleitung zu seinem ersten Arbeitsbericht: „Die Durchführung dieser weittragenden Aufgabe begann ich im Monate September 1865 176 Grünhagen, C[olmar] (Hg.): Regesten zur schlesischen Geschichte, Th. 1: Bis zum Jahre 1250. Breslau 1868 (Codex diplomaticus Silesiae 7), V–X (Vorwort), hier VI. 177 Ders.: Bericht über eine archivalische Reise nach Krakau (Pfingsten 1868). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9/2 (1869) 129–143, hier 131. 178 Ebd., 133. 179 Zu den Archivreisen Grünhagens ins Ausland vgl. ders.: Eine archivalische Reise nach Wien (Pfingsten 1871). In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 11/1 (1871) 25–35; ders.: Eine archivalische Reise nach London. In: Archivalische Zeitschrift 3 (1878) 220–245; ders.: Berichte über eine archivalische Reise nach Krakau, 129–143. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden grenzüberschreitende Archivreisen dann immer selbstverständlicher, wie die regelmäßigen Arbeitsberichte vor allem einzelner Historischer Kommissionen erkennen lassen. Zur Reisetätigkeit von Mitgliedern der Badischen Historischen Kommission vgl. Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9/1 (1893) 344–346.

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mit der archivalischen Durchforschung des Königreiches Galizien, eines Landes, dessen Archive nicht nur uns, sondern, wie es sich zeigte, selbst den Eingebornen kaum in Bruchstücken bekannt waren.“180 Nur wenige Akademiker besaßen die materielle Unabhängigkeit und die Hingabe, gewissermaßen ihr gesamtes Forscherleben dem Aufspüren verstreuter Überlieferungen zu widmen. Ein solcher Gelehrter war der aus Ungarn gebürtige Slowake Ján Kvačala, der nicht nur die Archive Europas in großer Zahl besuchte, sondern auch in der Neuen Welt nach unbekanntem Quellenmaterial forschte – und der sogar vom livländischen Dorpat aus, wo er seit 1893 eine Professur für Historische Theologie an der Kaiserlich-Russischen Universität innehatte, nach Breslau reiste und dort vom Archivdirektor Grünhagen die Erlaubnis erhielt, Abschriften aus den von ihm benutzten Akten anfertigen zu dürfen.181 Hatte man alle kaum zu vermeidenden Schwierigkeiten und Widerstände überwunden und sogar die erhofften Überlieferungen einsehen und auswerten können, wurde eine solche Leistung von der Zunft auch entsprechend gewürdigt. Das eingangs genannte Regestenwerk, für das Grünhagen mehrere Archivreisen ins Ausland unternommen hatte, wurde 1868 von Wilhelm Wattenbach – der selbst mehrere Jahre in Breslau gelehrt hatte und unterdessen an der Universität Heidelberg tätig war – in den Heidelberger Jahrbüchern der Literatur ausführlich gewürdigt. Wattenbach war mit dem Projekt, das er während seiner Zeit in Schlesien gewissermaßen angestoßen hatte, bestens vertraut.182 Die Leistungen seines Nachfolgers in der Leitung des Breslauers ­Staatsarchivs konnte er wie kein anderer beurteilen. Grünhagen habe, so Wattenbach, „aus Böhmen durch Reisen und persönliche Verbindungen früher unbekannte Urkunden von bedeutendem Werth gewonnen, und nach allen Seiten hin eine lebhafte Thätigkeit entwickelt“. Besonders hob er die „kühne Razzia in das bis dahin unzugängliche Archiv der Malteser in Prag“ hervor, in dem Grünhagen zentrale Dokumente für die mitteleuropäische Kirchengeschichte des 12. Jahrhunderts habe finden können.183 180 Dudík, B[eda]: Archive im Königreiche Galizien und Lodomerien. Im Auftrage des hohen ­Staatsministeriums beschrieben und durchforscht. In: Archiv für österreichische Geschichte 39 (1868) 1–222, hier 3. 181 Bahlcke, Joachim: Forschungsreisen, Quellenstudien und internationale Kooperation. Ján Kvačalas Studien zu Leben und Werk Daniel Ernst Jablonskis aus wissensorganisatorischer Perspektive. In: Bahlcke, Joachim/Schwarz, Karl W. (Hg.): Zwischen Dorpat, Pressburg und Wien. Ján Kvačala und die Anfänge der Jablonski-Forschung in Ostmitteleuropa um 1900. Wiesbaden 2018 ( Jabloniana. Quellen und Forschungen zur europäischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit 9), 113–156, hier 148f. Auch Kvačala veröffentlichte einen zusammenfassenden Bericht seiner Archiv- und Forschungsreisen. Vgl. Kvacsala, J[ohann]: Kurzer Bericht über meine Forschungsreisen. In: Učenyja zapiski Imperatorskago Jur’evskago Universiteta. Acta et Commentationes Imperialis Universitatis Juriviensis (olim Dorpatensis) 3/1 (1895) 1–48. 182 Wattenbach, [Wilhelm]: Bericht über die Arbeiten zur Sammlung Schlesischer Urkunden-Regesten. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 2 (1858) 182–197. Zu den Anfängen des Projekts vgl. Grünhagen, C[olmar]: Wattenbach in Breslau 1855–1862. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 32 (1898) 345–358. 183 ����������������������������������������������������������������������������������������� Wattenbach, W[ilhelm]: Rezension zu Regesten zur Schlesischen Geschichte. Namens des Ver-

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Bei solchen Archivreisen ging es aber nicht nur um Probleme der Infrastruktur oder individuelle Befindlichkeiten, sondern auch und vor allem um rechtliche Bestimmungen und Vorgaben, die gerade Historiker, die über die Geschichte anderer Staaten arbeiteten, peinlich genau zu beachten hatten184 – nicht zuletzt aus Eigeninteresse, um am Ende nicht mit zu ambitionierten Vorhaben zu scheitern. Deutlich wird dies an einem ehrgeizigen Buchprojekt, einer Gesamtdarstellung der Geschichte des österreichischen Kaiserstaates, die der Breslauer Historiker Gustav Adolf Harald Stenzel dem Perthes Verlag in den frühen 1820er Jahren offenbar allzu leichtfertig zugesagt hatte. Abgesehen von den sachlichen „Schwierigkeiten bei diesen zusammengebrachten Staaten“,185 die Stenzel eigenem Bekunden nach völlig unterschätzt hatte, erhielt er von mehreren Seiten Warnungen, dass Wien ihm, einem protestantischen Preußen, gewiss keine Erlaubnis erteilen werde, die einschlägigen Archive zu besuchen. Die Bedenken überzeugten schließlich auch Stenzel, der seine frühere Zusage daraufhin zurückzog. Auf Anraten Leopold Rankes entschied sich der Verleger bei dem geplanten Werk am Ende für Johann Mailáth als Autor, weil dieser – wie Perthes 1830 Stenzel mitteilte – „Inländer des Oesterreichischen Staats ist, kein Partheihaupt, und er Zutritt zu den Archiven hat“.186 Solche Schwierigkeiten ließen schlesische Historiker, die sich für die Geschichte Böhmens und Mährens interessierten und dazu auf das Entgegenkommen von Wiener Regierungsstellen angewiesen waren, immer wieder einmal durchblicken. Es sei schwer, Lücken der Überlieferung zu schließen, da „Mißgunst, Sektenhaß und andre leidenschaftliche Rücksichten“ dazu beitrügen, dem Forscher Material vorzuenthalten, so Johann George Thomas 1824. „Auch die Archive in Prag und Wien würden gewiß für Schlesiens Geschichte manches Interessante darbiethen, wenn sie zugänglich wären.“187 In der Regel ging man ohnehin von einer restriktiven Handhabung der Genehmigungen aus und versuchte erst gar nicht, Zugang zu bestimmten Sammlungen zu erhalten. Umgekehrt gibt es allerdings auch Belege für ein bereitwilliges Entgegenkommen, vor allem zum Ende des Jahrhunderts hin. So schrieb Grünhagen im 1881 vorgelegten ­ersten Band seiner Geschichte des Ersten schlesischen Krieges: „In Wien hat Herr Hofrat [Alfred] v. Arneth mir nicht nur die Schätze des Hof- und Staatsarchivs mit gewohnter Liberalität geöffnet und mir brieflich mannigfache Nachträge zukommen lassen, er hat eins für Geschichte und Alterthum Schlesiens hg. v. Dr. C. Grünhagen, Abth. I–III. Breslau [1868]. In: Heidelberger Jahrbücher der Literatur 61/2 (1868) 5–10, hier 7, 9. 184 ����������������������������������������������������������������������������������������� Müller, Philipp: Die neue Geschichte aus dem alten Archiv. Geschichtsforschung und Arkanpolitik in Mitteleuropa, ca. 1800 – ca. 1850. In: Historische Zeitschrift 299 (2014) 36–69; ders.: Archives and history: Towards a history of ‚the use of state archives‘ in the 19th century. In: History of the Human Sciences 26/4 (2013) 27–49; Wellmann-Stühring, Annika: Historische Produktivität. In: Lepper, Marcel/Raulff, Ulrich (Hg.): Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart 2016, 246–257. 185 Zit. nach Stenzel: Gustav Adolf Harald Stenzels Leben, 177. 186 Zit. nach ebd., 179. 187 Thomas, Johann George: Handbuch der Literaturgeschichte von Schlesien. Eine gekrönte ­Preisschrift. Hirschberg 1824, 324.

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mir sogar, mit nicht genug zu rühmender Güte einer Bitte zuvorkommend, den Zugang zu dem dortigen Kriegsministerialarchive ausgewirkt, und wie glänzend hat nicht mir gegenüber der nun heimgegangene Geheimrat [Karl] v. Weber den allerdings ­längst nicht mehr zutreffenden Vorwurf der Unzugänglichkeit, den einst Ranke gegen das Dresdner Archiv erhoben, zu widerlegen vermocht, sogar gerade inbezug auf die Akten, welche einst der große Historiker dort nicht erlangen konnte.“188 Alternativ bestand die Möglichkeit, sich handschriftliche Materialien kurzerhand zusenden zu lassen – vorausgesetzt, man konnte die Archivalien genauer abgrenzen oder sogar deren Bestandssignatur angeben. An dieser Praxis der Versendung von Archivalien und älteren Drucken hielt man vielerorts noch bis zum frühen 20. Jahrhundert fest, bei staatlichen Archiven ebenso wie bei privaten Sammlungen.189 Archivare waren dabei im Vorteil gegenüber anderen Historikern, weil ihre Institutionen als besonders gut geschützt galten und man bei ihnen davon ausgehen konnte, dass sie die Dokumente mit der gebotenen Sorgfalt behandelten. In seiner Edition Geschichtsquellen der Hussitenkriege von 1871 ging Grünhagen auch auf „auswärtige Archive“ ein und vermerkte in aller Offenheit: „Dass die ausgiebigere Benützung dieses aus der Fremde zu gewinnenden Materials dem Herausgeber durch die Gunst seiner archivalischen Stellung sehr erleichtert, um nicht zu sagen überhaupt ermöglicht worden ist, begreift sich leicht.“190 Die „Zusendung von archivalischem Materiale [...] an das Breslauer Staatsarchiv“,191 von der Grünhagen in seiner Geschichte des Ersten schlesischen Krieges schrieb, war in dieser Zeit nicht ungewöhnlich. Auch in Schlesien selbst versandte man Handschriften und Archivalien an einzelne Gelehrte, selbst bis ins Russische Reich. So notierte der bereits genannte Kvačala im Jahr 1905: „Aus Gotha ging mir der [Petrus] Colboviussche Brief188 Grünhagen, C[olmar]: Geschichte des Ersten schlesischen Krieges nach archivalischen Quellen, Bd. 1: Bis zum Abkommen von Klein-Schnellendorf. Gotha 1881, VII. 189 Bahlcke, Joachim: Die Haus- und Familiengeschichte der Grafen Schaffgotsch. Genese, Konzeption und Scheitern eines historiographischen Großunternehmens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Voigt, Emil: Freiherr – Reichsgraf – Semperfrei. Zur Titel- und Ranggeschichte des schlesischen Adelsgeschlechts Schaffgotsch. Hg. v. Joachim Bahlcke und Ulrich Schmilewski. Würzburg 2017 (Wissenschaftliche Schriften des Vereins für Geschichte Schlesiens 9), 9*–62*, hier 25*. 190 Grünhagen (Hg.): Geschichtsquellen der Hussitenkriege, VII. Vergleichbare Dankesbekundungen sind in zahlreichen Geschichtswerken des 19. Jahrhunderts zu finden, insbesondere bei aufwendigen Editionen. Vgl. Wackernagel, Rudolf/Thommen, Rudolf (Bearb.): ­Urkundenbuch der Stadt Basel, Bd. 1. Basel 1890, XIIIf.; Bachmann, Adolf (Hg.): Urkundliche Nachträge zur österreichisch-deutschen Geschichte im Zeitalter Kaiser Friedrich III. Wien 1892 (Fontes rerum Austriacarum II/46), VIf.; Raab, C[urt] von (Hg.): Regesten zur Orts- und Familiengeschichte des Vogtlandes, Bd. 1: 1350–1485. Plauen i. V. 1893, IX; Kunze, Karl (Hg.): Hansisches Urkundenbuch, Bd. 6: 1415 bis 1433. Leipzig 1905, Vf. Umgekehrt gibt es nicht wenige Beispiele für die fehlende Bereitschaft von Archiven, Material aus den eigenen Beständen zu versenden, und die daraus resultierende Ernüchterung bei Geschichtsforschern. Vgl. Grimm, Julius: Zur Kenntniss der gegenwärtigen preussischen Archiv-Verwaltung. Wiesbaden 1879. 191 Grünhagen: Geschichte des Ersten schlesischen Krieges, Bd. 1, VII.

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wechsel zu [...]. Mit derselben Liberalität erhielt ich M[anu]S[ript]e von Kopenhagen, Breslau, Lissa, Budapest und konnte sie gründlicher einsehen.“192 Ungleich seltener kam es zu direkten Begegnungen mit auswärtigen Kollegen. Im Fall des Kontakts schlesischer Historiker mit Geschichtsforschern aus Böhmen und Mähren ist zudem die politische Ausgangslage in Rechnung zu stellen. Der preußischösterreichische Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland schränkte notgedrungen auch die grenzüberschreitende Kommunikation ein, die erst nach der in Böhmen ausgetragenen Schlacht von Königgrätz 1866 allmählich wieder in ruhigeren Bahnen verlief. Von solchen Begegnungen, zu denen es für ihn ansonsten nur selten Anlass gab, berichtete Grünhagen, der am 30. Mai 1871 die Gelegenheit hatte, anlässlich einer ­Archivreise nach Österreich an einer öffentlichen Sitzung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien teilzunehmen. „Prof. Höfler aus Prag hielt dort einen seitdem gedruckten Vortrag über die Päpste von Avignon. Auch Palacky und Gindely waren anwesend.“ Grünhagen nahm die beiden tschechischen Historiker unverändert als österreichische Geschichtsforscher wahr. „In der That sind in diesem Augenblicke die wissenschaftlichen Beziehungen zwischen den österreichischen und andrerseits den schlesischen Historikern [...] intensiver und vielseitiger, als sie wohl je gewesen sind.“ Palms Edition der Acta publica etwa sei „wohl von Niemandem mit größerer Freude begrüßt worden als von Gindely [...]. Von Palacky, dessen historisches Interesse aus naheliegenden Gründen sich vorzugsweise auf das XV. Jahrh. koncentrirt, werden Publikationen, wie meine Geschichtsquellen der Hussitenkriege (die sich ja auch seiner Unterstützung zu erfreuen hatten) und Markgrafs Quellen für die Zeit Podiebrads, mit großer Theilnahme verfolgt, und den Geschichtsschreiber Mährens, Dudik, der mit seinem 5. Bande jetzt bis in die Mitte des XIII. Jahrhunderts gelangt ist, interessiren die schlesischen Regesten nicht minder wie Ottok. Lorenz, den Geschichtsschreiber König Ottokars.“ Diese Fülle fachlicher Beziehungen, so Grünhagen abschließend, mache „persönliches Zusammensein doppelt ersprießlich“.193 Mit der erwähnten Unterstützung Palackýs bei seiner Edition Geschichtsquellen der Hussitenkriege erinnerte Grünhagen an einen Austausch, der ein Jahr zuvor eingesetzt hatte und der im Zusammenhang der hier verfolgten Fragestellung von besonderer Aussagekraft ist: Der nicht vollständig erhaltene Briefwechsel der Jahre 1870 bis 1872 zwischen Grünhagen und Palacký,194 der überdies eine öffentliche Stellungnahme des Breslauer Archivars zur tschechischen Historiographie einschloss, war auf seine Weise

192 Kvacsala: Kurzer Bericht über meine Forschungsreisen, 22. 193 Grünhagen: Eine archivalische Reise nach Wien, 33f. 194 Nicht überliefert im Památník národního písemnictví Praha, Literární archiv, Fonds František Palacký, ist beispielsweise das Begleitschreiben zur „Sendung vom 4. d. M.“, deren Eingang Palacký seinem Breslauer Kollegen am 18. Juni 1872 bestätigte. Zit. nach Meinardus, Otto: Zu Colmar Grünhagens Gedächtnis. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 46 (1912) 1–65, hier 49.

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Mit dem hier abgebildeten Brief vom 25. Mai 1870 wandte sich Colmar Grünhagen erstmals an den tschechischen Historiker František Palacký, der bereits seit 1856 Ehrenmitglied im Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens in Breslau war. Beide verband, freilich aus gänzlich unterschiedlichen Beweggründen, das Interesse an der Zeit der hussitischen Revolution in Böhmen. Ein Jahr später lernte Grünhagen den dreißig Jahre älteren Prager Kollegen auch persönlich bei

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einer Sitzung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien kennen. Über den Politiker Palacký, das „anerkannte Haupt der deutschfeindlichen Czechen“, fällte Grünhagen später ein unerbittliches Urteil, den Wissenschaftler Palacký dagegen, den um Objektivität des Urteils bemühten Historiker, versuchte er gegen alle Verleumdungen und Angriffe in Schutz zu nehmen. Bildnachweis: Památník národního písemnictví Praha, Literární archiv, Fonds František Palacký.

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singulär im langen 19. Jahrhundert.195 Grünhagen hatte sich erstmals am 25. Mai 1870 an den dreißig Jahre älteren, namhaften Prager Historiker gewandt, der bereits seit 1856 Ehrenmitglied im Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens war.196 Im Zusammenhang mit seiner Edition zu den Hussitenkriegen, die er im Auftrag des Breslauer Geschichtsvereins vorbereitete, fragte er Palacký nach Details zu einer Troppauer Urkunde, die dieser in seiner Geschichte von Böhmen beschrieben hatte.197 Palacký antwortete bereits am 7. Juni und versicherte Grünhagen, ihn wie auch den Verein als ganzen bei der Edition unterstützen zu wollen. „Lebten wir, Sie und ich, in einer und derselben Stadt, so wollte ich mit Vergnügen Ihnen alle meine Quellensammlungen zur Verfügung stellen; und wenn Ihre verehrte Gesellschaft sich entschließen wollte, unter den Geschichtsquellen für die Hussitenkriege nicht bloße Silesiaca, sondern auch die übrigen, so weit sie in deutscher und lateinischer Sprache geschrieben sind, in Druck herauszugeben, so wäre ich willig, alles, was ich diesfalls besitze, ihr abzutreten.“198 Übersenden könne er die genannte Urkunde allerdings nicht, gern werde er aber eine Abschrift anfertigen lassen. Im Juni und August 1870 wandte sich Grünhagen noch zweimal an Palacký. Man diskutierte über verschiedene „in böhmischer Sprache“ abgefasste Dokumente, tauschte abermals Abschriften aus und sprach über diese und jene Forschungsarbeit zum Thema.199 Am 22. Januar 1871 konnte Grünhagen seinem Prager Kollegen dann ein Exemplar der soeben erschienenen Edition zukommen lassen. Gleichzeitig wies er ihn darauf hin, dass im Neuen Lausitzischen Magazin gerade eine Abhandlung von Hermann Markgraf über die Kanzlei Georgs von Podiebrad erschienen sei, die sich auch mit seinen, Palackýs, Forschungen näher auseinandersetze.200 Sämtliche Briefe Grünhagens, die vom 195 Erwähnung findet der Briefwechsel bei Kořalka, Jiří: František Palacký a Německo. In: Šmahel, František/Doležalová, Eva (Hg.): František Palacký 1798/1998. Dějiny a dnešek. Praha 1999, 419–436; ders.: František Palacký (1798–1876). Der Historiker der Tschechen im österreichischen Vielvölkerstaat. Wien 2007 (Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie 30), 497f.; Nippel, Wilfried: Droysen in internationaler Perspektive. In: Ries, Klaus (Hg.): Johann Gustav Droysen. Facetten eines Historikers. Stuttgart 2010 (Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 34), 197–224; Rüther: Borussische Geschichtsforschung zu Schlesien, 239f.; Baumgart: Colmar Grünhagen, 533–553; Meinardus: Zu Colmar Grünhagens Gedächtnis, 29, 46–51. 196 ������������������������������������������������������������������������������������������� Kersken: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung, 94; Wolfrum, Peter: Ehrenmitglieder, Korrespondierende Mitglieder und Vorstände des Vereins für Geschichte Schlesiens. In: Schellakowsky, Johannes/Schmilewski, Ulrich (Hg.): 150 Jahre Verein für Geschichte Schlesiens. Würzburg 1996 (Einzelschriften des Vereins für Geschichte Schlesiens 2), 77–92, hier 83. 197 Památník národního písemnictví Praha, Literární archiv, Fonds František Palacký: Grünhagen an Palacký, Breslau 25. Mai 1870. 198 Palacký an Grünhagen, Prag 7. Juni 1870. Zit. nach Meinardus: Zu Colmar Grünhagens Gedächtnis, 46–48 (Zitat 47). 199 Památník národního písemnictví Praha, Literární archiv, Fonds František Palacký: Grünhagen an Palacký, Breslau 16. Juni 1870, Breslau 16. August 1870. 200 Ebd.: Grünhagen an Palacký, Breslau 22. Januar 1871. Vgl. Markgraf, H[ermann]: Die „Kanzlei“ des Königs Georg von Böhmen. In: Neues Lausitzisches Magazin 47 (1870) 214–238.

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Respekt des Jüngeren gegenüber dem eine Generation älteren, erfahrenen Geschichtsforscher zeugen, beschränkten sich auf Überlieferungsfragen zur älteren böhmischen Geschichte. Es ging nicht einmal ansatzweise um unterschiedliche Auslegungen der einzelnen Quellen, geschweige denn um gegenwartspolitische Sachverhalte. Vor diesem Hintergrund musste ein Beitrag zu Palacký, den Grünhagen im gleichen Jahr an exponierter Stelle, in den Preußischen Jahrbüchern, publizierte,201 denn doch überraschen. Äußerlich gab sich der Text als Rezension von Palackýs 1871 veröffentlichtem Buch Zur böhmischen Geschichtschreibung. Aktenmäßige Aufschlüsse und Worte der Abwehr,202 einer Anthologie, die – ähnlich wie das bereits genannte Werk, in dem sich Palacký drei Jahre zuvor direkt mit Höfler auseinandergesetzt hatte203 – fraglos den Charakter einer politischen, die Rechte der Tschechen als einer eigenständigen Nation einfordernden Kampfschrift hatte. Über eine Besprechung ging der Beitrag von Grünhagen, dessen Stärken nie auf dem Feld politischer Agitation lagen, jedoch vor allem im ersten Teil weit hinaus. Gegen den Politiker Palacký, „das anerkannte Haupt der deutschfeindlichen Czechen, den gefürchteten Gegner unserer Landsleute in Böhmen“, glaubte der preußische Archivar, der sich freilich nie näher mit dem österreichischen ­Vielvölkerstaat auseinandergesetzt hatte, sämtliche Register ziehen zu müssen: „Wir wissen es nicht anders, als daß die Czechen für die Sache ihrer Nationalität Forderungen aufstellen, deren Erfüllung den österreichischen Staat aus den Angeln reißen und ihn nach menschlichem Ermessen sicherem Verderben entgegentreiben müßte. Und bis wir hierin eines Anderen und Besseren belehrt werden, was Palacky in der vorliegenden Schrift nicht im Mindesten versucht, werden wir nicht blos vom deutschen Standpunkte, sondern auch von dem einer den Boden der realen Verhältnisse nicht verlassenden Politik aus nicht umhin können, uns als entschiedene Gegner der Ziele, welche Palacky’s Partei verfolgt, zu erklären.“204 Den Wissenschaftler, den um Objektivität des Urteils bemühten Historiker dagegen suchte Grünhagen gegen alle Verleumdungen und Angriffe, sei es von reichsdeutscher, sei es von deutschböhmischer Seite, in Schutz zu nehmen. Er vermöge, so Grünhagen, „weder aus eigener Kenntniß noch aus den Anführungen seiner Gegner Beweise zu entnehmen dafür, daß Palacky im nationalen Parteiinteresse den Thatsachen Gewalt angethan und so sein Gewissen belastet habe“. Dem Forscher müsse man einen „ehrenvollen Platz“ einräumen – einen Platz allerdings, und daran lag gewissermaßen die Pointe Grünhagens, um eine solche These nach der einleitenden Desavouierung überhaupt noch glaubhaft vertreten zu können, „unter den guten Namen der deutschen Geschichtsschreiber“. Letztlich sei doch „die Art seiner Forschung und Geschichtsschrei201 Grünhagen, C[olmar]: Fr. Palacky. Ein deutscher Historiker wider Willen. In: Preußische Jahrbücher 28 (1871) 239–247. 202 Palacký, Franz: Zur böhmischen Geschichtschreibung. Aktenmäßige Aufschlüsse und Worte der Abwehr. Prag 1871. 203 Ders.: Die Geschichte des Hussitenthums und Prof. Constantin Höfler. 204 Grünhagen: Fr. Palacky, 239, 241.

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bung wesentlich deutsch“: Nichts zeige dies deutlicher als Palackýs „auf der gediegenen Forschung beruhende Geschichte des Reichslandes Böhmen“.205 Damit allerdings ließ Grünhagen endgültig erkennen, das Kernanliegen von Palackýs Geschichtsschreibung nicht verstanden zu haben. Seine Haltung gegenüber Palacký entsprach durchaus der Auffassung anderer kleindeutsch-protestantischer Historiker wie Ludwig Häusser, die dem Werk ihres Prager Kollegen wohlwollend begegnet waren – allerdings in den 1840er Jahren.206 Im Jahr 1871 dagegen, mehr als zwei Jahrzehnte nach dem folgenschweren Absagebrief Palackýs an die Frankfurter Paulskirche und mitten in der entscheidenden Phase der Auseinandersetzungen zwischen der Regierung Hohenwart und der staatsrechtlichen Opposition in Böhmen, mussten Grünhagens „im Interesse der Gerechtigkeit“ erfolgte Verteidigung des Prager Wissenschaftlers, dessen Einreihung unter die deutschen Historiker und das Bemühen, „auf dem Felde der Wissenschaft einen Neuralisationspunkt der streitenden Interessen zu finden“, nur noch als Zeichen politischer Naivität wirken.207 Wie der dreiundsiebzigjährige Palacký selbst die Veröffentlichung des Breslauer Archivars aufnahm, zeigt sein Schreiben vom 21. Februar 1872 an Grünhagen in aller Deutlichkeit. „Wenn Sie mich auch in meiner nationalen Stellung mit eben so viel Unrecht wie Nachdruck verdammen, da Ihnen die Verhältnisse in unserm Lande offenbar absolut unbekannt sind und Sie nur deutschen Hetzblättern Glauben schenken, so haben Sie mich doch wenigstens als Historiker in Schutz zu nehmen gesucht und mir damit wohlgethan.“208 Zwar tauschte man sich auch während der kommenden Monate in der gebotenen Höflichkeit weiter über Sachfragen zur mittelalterlichen Geschichte aus, und Grünhagen selbst vermied in seinen Briefen jede Andeutung zur politischen Situation der Gegenwart.209 Für Palacký aber war es unmöglich, die Vergangenheit von 205 Ebd., 240, 242f. 206 Wolgast, Eike: Politische Geschichtsschreibung in Heidelberg. Schlosser, Gervinus, Häusser, Treitschke. In: Doerr, Wilhelm (Hg.): Semper apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg 1386–1986, Bd. 2: Das 19. Jahrhundert. 1803–1918. Berlin u. a. 1985, 158–196; Marcks, Erich: Ludwig Häusser und die politische Geschichtsschreibung in Heidelberg. In: [Schöll, Fritz (Hg.)]: Heidelberger Professoren aus dem 19. Jahrhundert. Festschrift der Universität zur Zentenarfeier ihrer Erneuerung durch Karl Friedrich, Bd. 1. Heidelberg 1903, 285–354; Nippel: Droysen in internationaler Perspektive, 211–222. 207 Grünhagen: Fr. Palacky, 244, 247. In der österreichischen Presse wurde die Veröffentlichung Grünhagens wegen der aktuellen politischen Konflikte mit der böhmischen Opposition höchst kritisch aufgenommen: „Ueber Palacky veröffentlicht gerade im gegenwärtigen Momente, wo von czechischer Seite aus die Anfeindung deutschen Wesens ärger als je betrieben wird, eine der angesehensten literarischen Zeitschriften Deutschlands, die ‚Preußischen Jahrbücher‘, ein anerkennendes Urtheil.“ Neue Freie Presse (Morgenblatt), Wien, Nr. 2541 vom 21. September 1871, 7. 208 Palacký an Grünhagen, Prag 21. Februar 1872. Zit. nach Meinardus: Zu Colmar Grünhagens Gedächtnis, 48f. (Zitat 48). 209 Památník národního písemnictví Praha, Literární archiv, Fonds František Palacký: Grünhagen an Palacký, Breslau 23. Februar 1872, Breslau 3. März 1872.

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der Gegenwart zu trennen. Dies zeigt vor allem seine Reaktion auf Grünhagens Werk Die Hussitenkämpfe der Schlesier 1420–1435, das ihm der Verfasser Anfang Juni, unmittelbar nach Erscheinen, zugesandt hatte. Er habe es weniger gelesen „als vielmehr verschlungen“, so Palacký am 7. Juni. Eine Stellungnahme dazu sei gleichwohl schwierig, denn diese könne sich nicht in Kommentaren zu Einzelfragen zum 15. Jahrhundert erschöpfen, sondern müsse weiter ausholen. „Die ‚prinzipiellen Gegensätze‘ aber, die uns beide trennen, sind stärker, als ich von Ihnen erwartet habe. Es war betrübend für mich, wahrzunehmen, wie es einem auch noch so human und rechtlich denkenden Deutschen, wie Sie, unmöglich wird, die Genesis und das Streben des Hussitismus objectiv aufzufassen und zu würdigen. Sie sehen darin a priori nur eine nationale Reaction gegen die Deutschen; das reformatorische Moment darin erscheint Ihnen ‚verschwindend klein‘.“ Palacký führte noch weitere Beispiele an, wurde dann aber grundsätzlich: „Die wirkliche Gerechtigkeit – zumal den Slawen gegenüber – wann wird sie in der deutschen Geschichtschreibung die Oberhand gewinnen?“210 Der Briefwechsel zwischen Grünhagen und Palacký zeigt die Möglichkeiten, aber eben auch die Grenzen eines Austausches über die gemeinsame Vergangenheit, die im langen 19. Jahrhundert nur sehr selektiv wahrgenommen und überdies durch aktuelle politisch-nationale Geschichtsdeutungen verzerrt wurde. Das musste nicht zwingend den persönlichen Kontakt verhindern oder zum Abbruch bestehender Beziehungen führen – auch Grünhagen nahm die Einladung Palackýs, nach Prag zu kommen, an und nutzte eine Archivreise in die böhmische Hauptstadt im August 1872 zum Besuch des tschechischen Historikers, den er im Vorjahr in Wien kennengelernt hatte.211 Aber es belastete die grenzüberschreitende Kommunikation zwischen Geschichtsforschern in Schlesien und in den böhmischen Ländern doch spürbar. Die Professionalisierung der tschechischen Geschichtswissenschaft führte allerdings auch zu einem neuen Konkurrenzverhältnis. Dass sich eine jüngere, aufstrebende Generation in Prag gegen Ende des 19. Jahrhunderts diesem Wettbewerb stellte und auch Themen zuwandte, für die man in der deutschen Historikerzunft traditionell die alleinige Zuständigkeit beanspruchte, zeigt die gewichtige Abhandlung über Wallenstein aus dem Jahr 1895, mit der sich der erst sechsundzwanzigjährige Josef Pekař an der Tschechischen Karlsuniversität habilitierte.212 Gerade zu Wallenstein hatten auch schlesische Historiker verstärkt publiziert, weil seine Person und das mit ihr zusammenhängende Drama während des Dreißigjährigen Krieges als Teil der genuin deutschen Vergangenheit wahrgenommen wurden. Die Wallensteinsche Verschwörung, hieß es 210 Palacký an Grünhagen, Maleč 18. Juni 1872. Zit. nach Meinardus: Zu Colmar Grünhagens Gedächtnis, 49–51. 211 Kořalka: František Palacký, 498. 212 ������������������������������������������������������������������������������������������ Pekař, Josef: Dějiny valdštejnského spiknutí (1630–1634). Kritický pokus. Praha 1895 (Rozpravy České akademie Císaře Františka Josefa pro vědy, slovesnost a umění v Praze 4/I/3). Zu Autor und Werk vgl. Bahlcke, Joachim: Geschichtsdeutungen in nationaler Konkurrenz. Das Wallensteinbild von Josef Pekař (1870–1937) und seine Rezeption in Böhmen und der Tschechoslowakei [2011]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz, 328–364.

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nun im Vorwort von Pekař dezidiert, sei Teil nicht der deutschen, sondern ihrem Wesen nach der engeren tschechischen Geschichte.213 Das Bemühen, einen Teil der nationalen Vergangenheit der Tschechen der Deutungshoheit gerade der deutschen Geschichtswissenschaft zu entziehen, war offenkundig. Andererseits ist ebenfalls festzustellen, dass die wissenschaftlichen Kontakte über die Grenze hinweg allmählich eine gewisse Eigendynamik gewannen und mehr oder weniger zur Selbstverständlichkeit wurden. Auch Historiker aus Preußisch-Schlesien publizierten bald in den deutschsprachigen Geschichtszeitschriften der böhmischen Länder, in denen man ihre Veröffentlichungen und Arbeitsvorhaben genau verfolgte. In der „Literarischen Beilage“ der Mittheilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen schrieb 1886/87 beispielsweise ein Mitarbeiter, der den jüngsten Band der Zeitschrift des Breslauer Geschichtsvereins rezensierte: „Ich sehe mich bemüßigt wieder und immer wieder zu betonen, daß diese Zeitschrift zu den gediegensten periodischen Publicationen zählt, die von Seite historischer Provincialvereine an das Tageslicht treten.“214 Besonders viele Anknüpfungspunkte mit eigenen Fragestellungen bot naturgemäß die Vergangenheit Österreichisch-Schlesiens. Aber auch darüber hinaus lassen sich vielfältige Verflechtungen beobachten. Grünhagen etwa war Korrespondierendes Mitglied der Königlich Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Prag und Ehrenmitglied der Kaiserlich-Königlichen Mährisch-Schlesischen Gesellschaft zur Beförderung des Ackerbaues, der Natur- und Landeskunde in Brünn.215 Intensiv, und hier spielten auch die slawischen Sprachkenntnisse eine Rolle, war der Kontakt zum böhmisch-mährischen Nachbarn bei Geschichtsforschern in Oberschlesien. Der katholische Kirchenhistoriker Augustin Weltzel, der ebenfalls Ehrenmitglied der Brünner Gesellschaft war, hatte engen Austausch mit tschechischen Historikern in Troppau und Teschen.216 Wichtige Vermittler waren vor dem Weltkrieg überdies Ezechiel Zivier und der schon erwähnte Johannes Chrząszcz.217 Umgekehrt intensivierten sich die Kontakte von Geschichtsforschern aus den böhmischen Ländern zum Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens, der unter anderem Peter von Chlumecký, Beda Dudík, Josef Emler und František Palacký zu seinen Ehrenmitgliedern zählte.218 Auch hier lassen sich die Personenkreise gut erkennen, die 213 Pekař: Dějiny valdštejnského spiknutí, 2. 214 ������������������������������������������������������������������������������������������� Literarische Beilage zu den Mittheilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen 25 (1886/87) 15. 215 Palm, H[ermann]: Dr. phil. Colmar Grünhagen. In: Schlesier-Album. Siebzehn Biographien mit Portraits. Breslau 1869, [V], 1–4, hier 3. 216 Snoch, Bogdan: Górnośląski Leksykon Biograficzny. Suplement. Katowice 2006, 120; Hauer, Václav: Spolupráce V. Praska a J. Zukala. In: Věstník Matice Opavské 37 (1932) 113–124. 217 Kalinowska-Wójcik, Barbara: Jüdische Geschichtsforscher im Schlesien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Jacob Caro (1835–1904), Markus Brann (1849–1920) und Ezechiel Zivier (1868–1925). In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 331–365, hier 353–364; Hirschfeld: Schlesische Priesterhistoriker, 323–327. 218 Kersken: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung, 93f.

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Der an der Tschechischen Karlsuniversität in Prag lehrende Antonín Rezek war 1884 der erste tschechische Fachhistoriker, der in der Zeitschrift des Breslauer Geschichtsvereins publizierte. Das von ihm drei Jahre später veröffentlichte Werk zu den religiösen Volksbewegungen in Böhmen vom Erlass des Toleranzpatents bis in die unmittelbare Gegenwart war zugleich das einzige tschechischsprachige Geschichtswerk, das dort vor dem Ersten Weltkrieg besprochen wurde. Der Rezensent war der in Breslau lehrende Polonist Władysław Nehring, ein wichtiger Vermittler auch für die in Böhmen und Mähren erschienene Literatur. Bildnachweis: Světozor (Praha), ročník XXVI, číslo 32 (1305) vom 24. Juni 1892.

im Laufe der Jahre grenzübergreifend aktiv wurden. Einige Beispiele müssen an dieser Stelle genügen. Es waren zunächst deutschsprachige Heimatforscher aus Böhmen und Mähren wie Richard Trampler,219 die seit den frühen 1870er Jahren in der Breslauer Vereinszeitschrift publizierten. Ihnen folgten Lokalhistoriker aus den städtischen Zentren Österreichisch-Schlesiens wie Josef Zukal220 und Vincenc Prasek.221 Erst vergleichsweise spät konnten dann auch tschechische Geschichtsforscher aus den Universitätsstädten für eine Veröffentlichung in der Breslauer Zeitschrift gewonnen werden; unter ihnen nimmt Jan Kapras, der sich als Rechtshistoriker auf die Geschichte der verfassungsrechtlichen Struktur des böhmischen Länderverbunds in Spätmittelalter und Früher Neuzeit spezialisiert hatte, eine herausgehobene Stellung ein.222 219 Trampler, R[ichard]: Odrau und Umgebung während des dreißigjährigen Krieges. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 10 (1870/71) 87–95; ders.: Urkundliche Nachrichten über die Stadt Zukmantel. Ebd., 395–397; ders.: Ueber die Korrespondenz des Kardinals Fürsten Franz von Dietrichstein, Bischof von Olmütz (1599–1636), aus den Jahren 1609–1611. Ebd., 397–399; ders.: Einige Regesten zur Geschichte des dreißigjährigen Krieges. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 11 (1871/72) 480–489. 220 Zukal, Josef: Das Criminalregister des Stadtgerichtes zu Troppau für die Jahre 1643–1670. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 14 (1879) 532–557. 221 Prasek, [Vincenc]: Breslauer Schöffensprüche nach einer Petersburger Handschrift. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 33 (1899) 321–354. 222 Rezek, Anton: Eine Unterredung der böhmischen Brüder mit Dr. Joh. Heß im Jahre 1540. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 18 (1884) 287–295; Sedláček, August: Ein Beitrag zur Geschichte der Herzoge von Troppau-Münsterberg. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 48 (1914) 151–159; Kapras, J[an]: Oberschlesische Land-

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Tagungen im modernen Verständnis waren für Landeshistoriker an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch eine ungewohnte Form des akademischen Austauschs. Dass der Breslauer Historiker und Archivar Hermann Markgraf 1894 zum Historikertag nach Leipzig reiste, um dort über die Lage der landesgeschichtlichen Forschung in Schlesien zu referieren, war in jeder Hinsicht eine Ausnahmesituation.223 Umso bemerkenswerter ist eine „Conferenz“ mit deutschen und tschechischen Geschichtsforschern, die 1916, während des Weltkriegs, auf Privatinitiative einer schlesischen Adelsfamilie hin in Warmbrunn stattfand. Die Zusammenkunft stand im Zusammenhang mit der Haus- und Familiengeschichte der Schaffgotsch, die der letzte Freie Standesherr der Linie Kynast-Warmbrunn in Niederschlesien, Friedrich Graf Schaffgotsch, Ende des 19. Jahrhunderts angestoßen hatte; sie sollte nach Abschluss stolze 17 Teilbände zur Haus-, Personen- und Besitzgeschichte des Geschlechts sowie einen Registerband umfassen.224 Über die Konferenz der Mitarbeiter an diesem historiographischen Großunternehmen vom 13. April 1916 findet sich in den Beständen des Staatsarchivs Breslau eine förmliche Tagesordnung.225 Sie sah unter anderem drei Vorträge vor: von dem Prager Privatdozenten Rudolf Koß, der seit 1912 Österreichische Geschichte an der Deutschen Universität unterrichtete, von dem Breslauer Historiker und Lehrer ­Willy Klawitter sowie von dem Leiter des familiengeschichtlichen Prestigeprojekts, Johannes Kaufmann, der seit 1902 als katholischer Pfarrer in Kupferberg im Riesengebirge tätig war. Nicht nur an dieser Veranstaltung, auch an den umfangreichen Briefwechseln und den im Rahmen des Projekts durchgeführten Archivreisen und Recherchen lässt sich erkennen, dass es außerhalb der institutionalisierten Geschichtsschreibung leichter war, sich in der Mitte Europas einer gemeinsamen Vergangenheit zu erinnern – und sogar die militärische Gewalt der unmittelbaren Gegenwart auszublenden.

6. Zusammenfassung Trotz der jahrhundertelangen Zugehörigkeit Schlesiens zur Böhmischen Krone war die Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit im Oderland bereits im 18. Jahrhundert weitgehend verblasst. In der preußischen Monarchie und später im Kaiserbücher. Ein Beitrag zur Geschichte der öffentlichen Bücher. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 42 (1908) 60–120; ders.: Die Mährische und Troppauische Cuda. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 46 (1912) 237–239. 223 ������������������������������������������������������������������������������������������� Kelleter, H[einrich]: Chronik. In: Korrespondenzblatt der Westdeutschen Zeitschrift für Geschichte und Kunst 14/7 (1895) Sp. 129–136. Zum Kontext der von Karl Lamprecht organisierten Tagung vgl. Reininghaus: Karl Lamprecht und die Historischen Kommissionen in Deutschland vor 1914, 62–65; Werner: Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit, 256–280. 224 Bahlcke: Die Haus- und Familiengeschichte der Grafen Schaffgotsch, 28*–43*. 225 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Archiwum Schaffgotschów, Urząd Kameralny 602, Bl. 16.

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reich fand die ältere Geschichte Polens ungleich größeres Interesse als die Geschichte der seit 1804 zum Kaisertum Österreich gehörenden böhmischen Länder. Bis zum Ersten Weltkrieg wurde in Schlesien nicht ein einziges Mal der Versuch unternommen, deren Entwicklung in einem größeren, zeitlich übergreifenden Werk darzustellen. Die Gründe für diese Ausblendung sind allerdings nicht nur im Oderland selbst zu suchen. Geschichtswissenschaftliche Forschungen zur slawischen Welt hingen während des langen 19.  Jahrhunderts insgesamt in hohem Maße von den breiteren politischgesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Mochte bis zum Ende des Vormärz in Deutschland noch die Slawenverklärung Herders und anderer Romantiker nachwirken, so markierten die nationalpolitischen Bestrebungen der panslawistischen Bewegung, die Aufstandsbestrebungen in den polnischen Teilungsgebieten und die revolutionären Ereignisse der Jahre 1848/49 einen deutlichen Bruch. Mit Abhandlungen zur Kultur und Geschichte der Slawen konnte man unter Umständen provozieren, zu profilieren vermochte man sich damit innerhalb der Zunft jedoch nicht – dazu ließ sich die Vergangenheit zu wenig von der Gegenwart trennen. Dies erklärt auch, warum man an der Universität Breslau vor dem Weltkrieg nur eine einzige Habilitationsschrift findet, die sich einem Problem des älteren böhmischen Länderverbunds widmete. Man wird allerdings auch andere Aspekte zu berücksichtigen haben, um die auffallend geringe Anzahl historischer Studien zur böhmisch-mährischen Geschichte zu erklären, die in Schlesien vor 1914 erarbeitet wurden. Hier wie allgemein in Deutschland nahm man die slawischsprachigen Nationen in dieser Phase noch weitgehend als Einheit wahr, differenzierte also kaum nach einzelnen Völkern und historischen Räumen. Von vorrangigem Interesse war beim Blick zum östlichen Europa die eigene, die deutsche Kultur und Geschichte. Dies galt lange Zeit selbst in Schlesien, dem „Grenzland zweier Völker, der Deutschen und der Slaven“, wie Karl Weinhold 1862 formuliert hatte. Den im engeren Sinn slawischen Anteil an dieser Geschichte überließ man slawischen Wissenschaftlern. Da sich die gemeinsame Vergangenheit aber nicht in einer solchen Weise in getrennte Zuständigkeitsbereiche aufteilen ließ, entstanden ­zunehmend Konflikte um die Deutungshoheit der Geschichte. Es war kein Zufall, dass man sich im Oderland besonders intensiv mit dem kaiserlichen Feldherrn Wallenstein beschäftigte, sofern man den Blick auf die Geschichte Böhmens und Mährens richtete. Umgekehrt war es auch kein Zufall, dass der tschechische Historiker Josef Pekař gerade ihm, dem tschechischen Adeligen, 1895 seine umfangreiche Habilitationsschrift widmete. Die Wahl eines solchen Themas war eine Gelegenheit, sich von der mächtigen reichsdeutschen Forschung zu emanzipieren und gleichzeitig gegenwartspolitischen Ansprüchen einer modernen Nationalgesellschaft die notwendige historische Unterfütterung zu verschaffen. Interessanterweise wurde die Frage, was eigentlich den Gegenstand der Geschichte Schlesiens ausmache und wie dessen mit den slawischen Nachbarreichen in besonderer Weise verflochtene Vergangenheit darstellbar sei, um 1800 weitaus stärker reflektiert als um 1900. Methodisch-theoretische Debatten über die Konzeption von Landesgeschichte, die in weiten Teilen unverändert als etatistisch ausgerichtete Provinzialgeschichte verstanden wurde, sind im Oderland vor dem Weltkrieg kaum zu finden.

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Dies hing auch mit den spezifischen Rahmenbedingungen der Universität Breslau zusammen, die für viele Geistes- und Kulturwissenschaftler nur eine Einstiegs- und Durchgangsuniversität war, so dass nur wenigen Dozenten überhaupt die Zeit blieb, sich näher mit den örtlichen Gegebenheiten auseinanderzusetzen. Hinzu kommt, dass gerade neu nach Schlesien berufene Akademiker den Eindruck einer gewissen Rückständigkeit, Enge und Provinzialität des Landes mit dessen enger Verflechtung mit der slawischen Welt in Verbindung brachten. Für eine intensivere Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der tschechischen Geschichtswissenschaft, dies zeigt sich besonders im Rezensionswesen, fehlten in Schlesien vor 1914 allein schon in sprachlicher Hinsicht die Voraussetzungen. Wichtige Orte für die Diskussion entsprechender Arbeiten waren neben der 1842 an der Universität Breslau eingerichteten Professur für slawische Sprachen und Literatur zwei akademische Vereinigungen in der Provinzhauptstadt: die Literarisch-Slawische Gesellschaft und der Akademische Verein für lausitzische Geschichte und Sprache. In den Gesamtdarstellungen und Lehrbüchern zur Geschichte Schlesiens wurde bei denjenigen Zeitabschnitten, in denen das Oderland den benachbarten ­slawischen Reichen angehörte, eine mannigfache Kontaktgeschichte auf eine bloße Konfliktgeschichte reduziert. Was die Einzelforschungen, die Aspekte der böhmischen und mährischen Geschichte berührten, betrifft, so lässt sich nur schwer ein Gesamtbild über Themenwahl, zeitliche Schwerpunkte und methodische Zugriffe zeichnen. Vor allem bei aufwendigeren Quelleneditionen, deren Herausgeber einen finanzstarken Geschichtsverein hinter sich wussten, ist eine stärkere Abstimmung mit Kollegen in den böhmischen Ländern erkennbar. Überhaupt ist es bezeichnend, dass solche Arbeiten nahezu ausschließlich im Bereich der außeruniversitären Landesgeschichtsforschung angesiedelt waren. Inhaltlich lässt sich bei den häufig von Lehrern vorgelegten Studien eine gewisse Konzentration auf Ereignisse und Persönlichkeiten erkennen, die zugleich Teil des allgemeinen Geschichtsbilds und schulischer Lehrpläne in Deutschland waren. Man sah die Geschichte Böhmens und Mährens von ihren Verbindungen zum römisch-deutschen Reich beziehungsweise dessen Nachfolgestaaten her, unabhängig von den jüngeren Entwicklungen österreichischer Staatlichkeit und tschechischer Nationswerdung. Im Zuge der Institutionalisierung und Professionalisierung der Geschichtswissenschaft stiegen allerdings auch die qualitativen Ansprüche an historische Forschung. Vor allem die Forderung nach umfassender Quellenfundierung historischer Aussagen und sorgfältiger Quellenkritik stellte Geschichtsforscher vor eine Vielzahl finanzieller, organisatorischer und logistischer Probleme. Dies gilt in besonderer Weise bei grenzübergreifenden Forschungs- und Archivreisen, die für das Gros der Historiker im 19. Jahrhundert noch die Ausnahme darstellten. Die besten Voraussetzungen hierzu besaßen noch die Archivare, denen man auch im Fall der Archivalienversendung das größte Vertrauen entgegenbrachte. Hinzu kamen rechtliche Probleme, denn weder staatliche noch private Archive waren für auswärtige Staatsbürger ohne Weiteres zugänglich. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte lassen sich zunehmend persönliche Kontakte zwi-

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schen Historikern aus Schlesien mit Kollegen aus den böhmischen Ländern beobachten. In dieser Phase mehrten sich überdies Mitgliedschaften in auswärtigen Geschichtsvereinen und Gesellschaften. Auch wenn die wissenschaftlichen Kontakte über die Grenze hinweg allmählich eine gewisse Eigendynamik entwickelten, so blieb es innerhalb der institutionalisierten Geschichtsforschung Schlesiens letztlich bis 1914 doch nur bei einer selektiven Erinnerung an die einstige gemeinsame Vergangenheit.

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Die Bewertung der geschichtswissenschaftlichen Forschung in Schlesien vor 1914 in deutschen, österreichischen und polnischen Rezensionszeitschriften 1. Einleitung Die moderne Geschichtswissenschaft geht von dem Prinzip aus, dass nicht lediglich das historische Geschehen als solches untersucht wird, sondern dass auch die Historiographie selbst zum Forschungsgegenstand erhoben wird. Die Geschichtsschreibung früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte wurde von Personen geprägt, die sprichwörtlich Kinder ihrer Zeit waren, so dass deren Untersuchungsmethoden und Forschungsfragen selbst einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen und in den historisch-politischen Kontext der jeweiligen Epoche gestellt werden können und müssen. Diese Erkenntnis trifft in besonderer Weise auf die Schlesienforschung zu, behandelt diese doch eine Region, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die politische Geschichtsschreibung in immer stärkerem Maß instrumentalisiert wurde.1 In dem durch die Napoleonischen Kriege und die Beschlüsse des Wiener Kongresses von 1815 zersplitterten Deutschland erwuchs die Sehnsucht nach der Wiederherstellung eines deutschen Großreichs. Durch die Literatur, Kunst und Musik der Romantik keimte im bürgerlichen Bewusstsein der Deutschen der nationale Gedanke, der sich ebenfalls auf die geschichtliche Wahrnehmung auswirkte. Damit ging von großen Teilen der historischen Wissenschaft die Bestrebung aus, die Geschichte aller deutschen Regionen seit dem Mittelalter als einen Teil der deutschen Nationalgeschichte besonders intensiv zu erforschen und im Bewusstsein der Deutschen zu verankern. Deutsche Städtegeschichte erfreute sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts eines besonderen Interesses. An dieser Stelle sei beispielsweise auf Karl Hegel verwiesen.2 Die Reihe Monumenta Germaniae Historica war bereits 1819 mit dem Ziel gegründet worden, Quelleneditionen zur deutschen Geschichte im Mittelalter herauszugeben.3 Vor diesem

1 Bahlcke, Joachim (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/ Weimar/Wien 2005 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 11). 2 Hegel, Karl: Zur deutschen Städtegeschichte. Eine Recension. In: Historische Zeitschrift 2 (1859) 443–457. Zur Biographie des Autors vgl. Kreis, Marion: Karl Hegel. Geschichtswissenschaftliche Bedeutung und wissenschaftsgeschichtlicher Standort. Göttingen 2012 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 84). 3 Breßlau, Harry: Geschichte der Monumenta Germaniae historica. Hannover 1921; Kreis: Karl Hegel, 62.

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Hintergrund rückte Schlesien als eine flächenmäßig große und geopolitisch bedeutende Region im Osten in den Fokus des historischen Forschungsinteresses. Hierbei galt es unter anderem zu untersuchen, ob und inwieweit Schlesien seit dem Mittelalter als eine deutsche Region bezeichnet werden konnte. Auf der anderen Seite stand mit den Polen ein Volk ohne eine eigene Nation, da der polnische Staat infolge der Dritten Teilung von 1795 aufgehört hatte zu existieren. Mehrere nationale Aufstände prägten das polnische Geschichtsbewusstsein. Besonders folgenreich für die Herauskristallisierung polnischer Unabhängigkeitsbestrebungen war der sogenannte Januaraufstand von 1863, dessen Erbe von den polnischen Nachfolgegenerationen übernommen und bis in den Ersten Weltkrieg hinein zu Konzepten zur Wiedererlangung eines polnischen Nationalstaats weiterentwickelt wurde. Im wissenschaftlichen Bereich etablierten sich an den Universitäten von Krakau, Lemberg und Warschau teilweise gegensätzliche historische Schulen, welche die polnische Geschichte kritisch reflektierten.4 Dabei rückte Schlesien als eine frühere Piastenherrschaft besonders in den Fokus des Forschungsinteresses: Bei all diesen politischen und wissenschaftlichen Denkansätzen über das Wesen eines künftigen polnischen Staates spielte Schlesien daher eine immer wichtigere Rolle. Der vorliegende Beitrag greift die historische Schlesienforschung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und des beginnenden 20. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf. Untersuchungsgegenstand sind einschlägige deutsche, österreichische und polnische Rezensionszeitschriften. Die Literaturgattung der Rezensionszeitschriften ist bereits in der Epoche der Frühaufklärung entstanden und diente – noch unter dem Begriff „Gelehrte Blätter“ beziehungsweise „Gelehrte Journale“ – der Wissenschaftskommunikation sowie der Verbreitung gesellschaftlich nützlicher Informationen.5 Die thematische Auswahl war zunächst jedoch breit gestreut. Eine ausschließliche Fokussierung auf die Geschichtswissenschaft mit gleichzeitiger thematischer Unterteilung nach der jeweiligen Region erfolgte erst im 19. Jahrhundert. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welche Rezeption die historische Schlesienforschung in den bedeutendsten außerschlesischen Rezensionszeitschriften zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und 1914 einnahm, welche Themenbereiche im Einzelnen untersucht wurden und ob sich in den Besprechungen ein Schwerpunkt ausmachen lässt. Gleichzeitig soll die Intention (beziehungsweise die geschichtspolitische Haltung) der Verfasser der Rezensionen eruiert werden, denn nicht selten kennzeichnete scharfe Polemik die Diskussionskultur der damaligen Zeit. Anders formuliert: Es soll untersucht werden, warum bestimmte Themen aus dem großen Spektrum der Schlesienforschung aufgegriffen wurden und welche Schwerpunkte die Debatte 4 Über diese Schulbildungen polemisierten bereits die zeitgenössischen Historiker. Vgl. Smoleński, Władysław: Szkoły historyczne w Polsce. In: Kwartalnik Historyczny 1 (1887) 647–650. 5 Habel, Thomas: Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts. Bremen 2007 (Presse und Geschichte. Neue Beiträge 17). Habel setzt seine Untersuchung im Jahr 1688 an.

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dominierten. Den Ausgangspunkt hierfür bildet die These, dass die Besprechung der historischen Literatur in den Rezensionszeitschriften eine funktionale Rolle in den jeweiligen nationalpolitischen Debatten hatte und die Geschichte und Kultur Schlesiens für den jeweiligen Kulturraum vereinnahmte. Aufgrund der Materialfülle wird jeweils eine deutsche, österreichische und polnische Rezensionszeitschrift untersucht. Es handelt sich in allen drei Fällen um die bedeutendsten historischen Fachorgane des jeweiligen Landes. Die deutschen Länder repräsentiert die Historische Zeitschrift, die im Februar 1859 in München erstmals erschien. Ihr Herausgeber war der 1817 in Düsseldorf geborene Historiker und Archivar Heinrich von Sybel, der die Leitung bis zu seinem Tod im Jahr 1895 innehatte. Bis 1876 erschien die Zeitschrift halbjährlich, ab Band 37 (1877) dreimal im Jahr. Die Historische Zeitschrift hatte zwei unmittelbare Vorläufer. Leopold (von) Ranke gab mit mehreren Mitautoren zunächst die Historisch-politische Zeitschrift heraus, die allerdings nicht über zwei Bände (1832 und 1833/36) hinauskam. Als Fortführung einer historiographischen Fachzeitschrift erschienen in den Jahren 1844/45 vier Bände samt einem Ergänzungsband („Supplement-Heft“) der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, die vom Berliner Geschichtsprofessor Adolf Schmidt herausgegeben wurden und an denen unter anderem die Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm sowie abermals Ranke mitwirkten. In diesen beiden Vorläuferzeitschriften wurden lediglich zwei Werke zur schlesischen Geschichte besprochen. Im ersten Fall handelte es sich um eine Rezension im klassischen Sinn,6 das zweite Werk war ein Fachartikel („Nachricht“), in dem Gustav Adolf Harald Stenzel anhand mittelalterlicher Urkunden die Beziehung zwischen der Breslauer Kirchenleitung und dem schlesischen Herzog im 13. Jahrhundert bewertete.7 Es dürfte sich um einen der ersten Beiträge zur Beziehung zwischen Staat und Kirche im mittelalterlichen Schlesien in einer Rezensionszeitschrift handeln. Der Umstand, dass es sich bei Stenzels Beitrag nicht um eine eigentliche Buchbesprechung, sondern um die Zusammenfassung der Ergebnisse zu einer spezifischen Forschungsfrage handelte, stellt eher eine Ausnahme dar, weil die in der Historischen Zeitschrift in späteren Jahren veröffentlichten Beiträge dann nahezu ausschließlich als typische Rezensionen beziehungsweise Annotationen gelten können. Die Inhalte der beiden Artikel werden bei der Analyse der in der Historischen Zeitschrift erschienenen Rezensionen im weiteren Verlauf mitberücksichtigt. Die Auseinandersetzung mit dem Siebenjährigen Krieg wird dagegen lediglich im Rahmen der statistischen Erhebung erfasst, inhaltlich jedoch

6 Schmidt, J[ulius]: Schlesiens kirchliche und politische Entwicklung. König Friedrichs des Großen Besitzergreifung von Schlesien und die Entwicklung der öffentlichen Verhältnisse in diesem Lande bis zum Jahre 1740 dargestellt von Heinrich Wuttke. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 3 (1845) 282–290. 7 Stenzel, Gustav Adolf: Nachricht über eine für die Kirchengeschichte zunächst Schlesiens wichtige Handschrift. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 3 (1845) 152–169.

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nicht näher untersucht, sofern überwiegend globalpolitische Themen vorherrschen und der Schlesienbezug nur in der Aufzählung von Schlachtorten hergestellt wird.8 Die österreichische Geschichtsschreibung repräsentieren die Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Begründet wurde das Periodikum im Jahr 1880 vom deutschen Historiker und Diplomatiker Theodor Sickel; Erscheinungsort war Innsbruck. Die polnische Historiographie wiederum wird anhand der bedeutendsten und ältesten Fachzeitschrift, des seit 1887 in der ostpolnischen Universitätsstadt Lemberg herausgegebenen Kwartalnik Historyczny (Historische Vierteljahrsschrift), untersucht.

2. Die Historische Zeitschrift Im Vorwort der ersten Ausgabe erläuterte Heinrich von Sybel ausführlich die Zielsetzung der von ihm gegründeten Fachzeitschrift. Ihre Aufgabe sollte sein, „die wahre Methode der historischen Forschung zu vertreten, um die Abweichungen davon zu kennzeichnen“.9 Sybels Anspruch war es, ein wissenschaftliches Organ zu etablieren, das nicht politisch sein und keine bestimmte Partei bevorzugen sollte, auch wenn sie sich politischen Fragen widmete. Dies hatte zur Folge, dass der Herausgeber drei verschiedene Geisteshaltungen vehement ablehnte: „Der geschichtlichen Betrachtung erscheint das Leben jedes Volkes, unter der Herrschaft der sittlichen Gesetze, als natürliche und individuelle Entwicklung, welche mit innerer Nothwendigkeit die Formen des ­Staats und der Cultur erzeugt, welche nicht willkürlich gehemmt und beschleunigt [...] werden kann. Diese Auffassung schließt den Feudalismus aus, welcher dem fortschreitenden Leben abgestorbene Elemente aufnöthigt, den Radicalismus, welcher die subjective Willkür an die Stelle des organischen Verlaufes setzt, den Ultramontanismus, welcher die nationale und geistige Entwicklung der Autorität einer äußern Kirche unterwirft.“10 Im Hinblick gerade auf die zuletzt genannte Strömung wird im Folgenden der Blick auch darauf gelenkt, wie die Rezensenten dieser neuen Zeitschrift mit Fachpublikationen zur katholischen Kirchengeschichte in Schlesien umgingen. In den ersten 14 Heften ( Jahrgänge 1859–1865) erschienen historische Rezensionen in der Rubrik „Literaturbericht“. In der Unterrubrik „Uebersicht der historischen Literatur des Jahres [...]“ wurden die Beiträge nach Regionen sortiert. Den Abschluss dabei bildete die „Deutsche Provinzialgeschichte. Böhmen. Mähren. Schlesien“. Unter dieser Überschrift wurden Veröffentlichungen besprochen, die sich auf die gesamte historische Region Schlesiens bezogen. In einigen Ausgaben wurden Silesiaca als 18 Als eine der ersten Buchbesprechungen zu diesem Thema ist zu erwähnen: Ueber den Ausbruch des siebenjährigen Krieges. Aus Mitchell’s ungedruckten Memoiren mitgetheilt von L. Ranke. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1 (1844) 134–163. 19 Sybel, Heinrich von: Vorwort. In: Historische Zeitschrift 1 (1859) III. 10 Ebd.

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„Deutsche Specialgeschichte“ behandelt. Um eine vollständige Sichtung der neuerschienenen Literatur zu gewährleisten, folgten nach den Rezensionen zahlreiche Annotationen mit kurzer Literaturübersicht. Bis 1866 wurde schlesienbezogene Literatur mit einer einzigen Ausnahme (Wilhelm Wattenbach) von nur einem Rezensenten besprochen: Hinter der hier stets aufscheinenden Abkürzung „A. C.“ verbarg sich der schlesische Historiker Ludwig Adolf Cohn.11 1834 in eine angesehene jüdische Kaufmannsfamilie Breslaus hineingeboren, war Cohn nach Studien in Königsberg und Berlin zunächst – nicht zuletzt aufgrund seiner zeitlebens stark angegriffenen Gesundheit – nach Breslau zurückgekehrt, wo er 1856 mit einer Arbeit zur hochmittelalterlichen Reichsgeschichte promoviert worden war.12 Unmittelbar nach seiner Konversion zum Protestantismus ging er 1857 als Privatdozent an die Universität Göttingen und betätigte sich nebenher fortan als fleißiger Rezensent für die Historische Zeitschrift. Zu schlesischen Themen legte Cohn insgesamt 18 Rezensionen vor, aus denen sich aufgrund wiederkehrender Kriterien und einer oft recht persönlichen Argumentationsweise ein klares Profil herauslesen lässt. Mit einem nahezu missionarischen Eifer plädierte Cohn für quellenbasierte historische Abhandlungen, die sich ungedruckter und unbekannter Urkunden, Regesten und sonstiger Akten bedienen und die Geschichte des Deutschtums Schlesiens untermauern sollten. Dabei neigten sich seine Interessen naturgemäß stärker zu niederschlesischen Themen, während sich sein Blick auf die Geschichte Oberschlesiens eher im gesamtdeutschen Kontext widerspiegelte.13 Geradezu allergisch reagierte der konvertierte Protestant Cohn auf „ultramontane“ Schriften, die von katholischen Geistlichen zu Themen der Kirchengeschichte Schlesiens verfasst worden waren und die ihm durchgehend als zu hagiographisch und unwissenschaftlich erschienen. Demgegenüber begeisterte sich Cohn für Editionsreihen wie den Codex diplomaticus Silesiae sowie für wissenschaftliche Publikationsorgane, etwa die Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens14 oder die Schlesischen Provinzialblätter, die sich auf eine urkunden- und quellenbasierte Erforschung der Geschichte Schlesiens im Mit11 Hahn, Heinrich: Art. Cohn, Ludwig Adolf. In: Allgemeine Deutsche Biographie 4 (1876) 394–396. 12 Cohn, Adolf: De rebus inter Henricum VI. imperatorem et Henricum Leonem actis. Phil. Diss. Vratislaviae 1856. 13 ������������������������������������������������������������������������������������������� Allerdings verfügte Cohn durchaus über Fachwissen aus dem Bereich der Geschichte Oberschlesiens, so dass er vermeintliche Fehler und Unzulänglichkeiten der Verfasser zu korrigieren vermochte. Vgl. etwa C[ohn], [Ludwig] A[dolf ]: Biermann, Gymn.-Prof. G.: Geschichte d. Herzogthums Teschen. In: Historische Zeitschrift 12 (1864) 171–174. 14 Die enge Verbundenheit Cohns mit der Vereinszeitschrift und dem um sie gescharten Breslauer wissenschaftlichen Milieu erhellt aus Roepell, Richard: Bericht über die Vereins-Etatzeit von October 1854 bis October 1856. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1 (1855) 323–328, hier 325. Roepell pries in hohen Tönen die Mitwirkung Cohns an der Erstellung eines „chronologischen Verzeichnisses der sämmtlichen zur Geschichte Schlesiens bereits gedruckten Urkunden“.

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telalter und in der Frühen Neuzeit stützten. Die teilweise äußerst detaillierten Besprechungen dieser Publikationsreihen samt eigener Kommentare und Ergänzungen deuten zugleich auf sein persönliches Fachwissen in diesem Bereich hin.15 Die Edition der Reihe Schlesisches Urkundenbuch lobte Cohn wegen der Erkundung der unbekannten schlesischen (deutschen) Geschichte, insbesondere im oberschlesischen Teil, im Geiste Gustav Adolf Harald Stenzels: (Ober-)Schlesien sei keineswegs bloß von provinzieller Bedeutung, denn „die Ausbreitung germanischen Wesens in Recht, Sprache und Sitte, in Boden- und Geistescultur“ gehöre „zu den merkwürdigsten und erhebendsten Thatsachen der deutschen Geschichte“.16 Damit diene die ­Urkundensammlung der Erkenntnis einer friedlichen Eroberung von Schlesien im 13. und 14.  Jahrhundert und lasse diese auch außerhalb der Grenzen der Provinz interessant wirken. Die Bedeutung für das gesamtdeutsche Reich gelte besonders für das mittelalterliche Breslau, das durch die Klugheit der Luxemburger im Osten Deutschlands an Bedeutung gewonnen habe, während seiner Glanzperiode im 14. Jahrhundert gleichsam zur zweiten Hauptstadt des mächtigen Reiches geworden sei und dadurch glückliche Zeiten erlebt sowie Großes hervorgebracht habe.17 Cohn besprach überhaupt mit Vorliebe Aspekte aus der deutschen Geschichte Breslaus.18 Für den Umgang mit mittelalterlichen und frühneuzeitlichen schriftlichen Quellen war Cohn der Geist „des verewigten“19 Gustav Adolf Harald Stenzel ein großes Vorbild. Dieser Umstand wurde vor allem in einer von Cohn rezensierten Festschrift von Joseph Hubert Reinkens, des katholischen Kirchenhistorikers an der Universität Breslau, deutlich, die dieser anlässlich des 50. Jubiläums der Vereinigung der Viadrina mit der Leopoldina herausgegeben hatte.20 Sie hatte unmittelbar eine nationale Debatte ausgelöst: Namhafte Autoren meldeten sich mit teils polemischen, teils persönlich diffamierenden Streitschriften gegen Reinkens zu Wort. Anlass dazu war eine kurze Passage 15 Vgl. exemplarisch C[ohn], [Ludwig] A[dolf ]: Codex diplomaticus Silesiae. Fünfter Band. In: Historische Zeitschrift 10 (1863) 182–185; ders.: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens. Ebd., 185–189; ders.: Schlesische Provinzialblätter. Ebd., 190–192. 16 Ders.: Codex diplomaticus Silesiae. Herausgegeben vom Vereine für Geschichte und Alterthum Schlesiens. Erster Band. In: Historische Zeitschrift 3 (1860) 503–505, hier 505. 17 Ders.: Codex diplomaticus Silesiae. Herausgegeben vom Vereine für Geschichte und Alterthum Schlesiens. Dritter Band. In: Historische Zeitschrift 5 (1861) 573–576, hier 574. 18 Ders.: Breslau unter den Piasten als deutsches Gemeinwesen von Dr. Colmar Grünhagen. In: Historische Zeitschrift 10 (1863) 192–194; ders.: Geschichte der St. Corporis-Christi-Pfarrei in Breslau. Als Beitrag zur Diözesan- und Kunstgeschichte Schlesiens quellenmäßig zusammengestellt von A. Knoblich. Ebd., 194–195; ders.: Der Aufstand der Breslauer Stadtsoldaten im Jahre 1636. Ebd., 195–196. 19 Ders.: Reinkens, Prof. Dr. Jos.: Die Universität zu Breslau vor der Vereinigung der Frankfurter Viadrina mit der Leopoldina. Festschrift der katholisch-theologischen Fakultät. In: Historische Zeitschrift 8 (1862) 180–183, hier 181. 20 Als Professor und katholischer Priester wurde Reinkens 1865/66 zum Rektor der Universität Breslau gewählt. Nach dem Ersten Vatikanischen Konzil ließ er sich zum Bischof der neugegründeten Altkatholischen Kirche weihen.

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in der Einleitung. Darin hatte Reinkens ausgeführt, dass sich zum Ende der deutschen Kolonisation hin die deutsche Sprache zwar über den größten Teil Schlesiens und besonders in den Städten ausbreiten konnte, die deutsche Kultur sich jedoch nicht vollends durchgesetzt habe, da sich deutsche mit polnischen Bewohnern vermischt und die bereits germanisierten Schlesier dadurch teilweise polnische Sitten angenommen hätten. Der anstößige Satz in Reinkens Zusammenfassung lautete: „Und merkwürdiger Weise hat sich in diesem nationalen Mischling die starke Abneigung gegen deutschen Zuzug bis auf den heutigen Tag erhalten, so daß im Munde des deutsch-schlesischen Volkes ein Deutscher ungemischten Stammes, besonders wenn er irgendwie Interessen, die am Boden zu haften scheinen, zu nahe tritt, ein ‚Ausländer‘ heißt.“21 Cohn verteidigte zwar Reinkens gegen dessen Kritiker und würdigte das in seinen Augen insgesamt gelungene Werk, die zitierte Beurteilung der Schlesier durch Reinkens hielt er jedoch für zu einseitig. Der territoriale Partikularismus der deutschen Fürsten treffe für alle Gaue „unsres Vaterlandes“ zu,22 daher sei die Bezeichnung „Ausländer“ unzutreffend. Auch Stenzel habe schließlich zum „deutschen Zuzuge“ gehört,23 habe allerdings niemals eine ähnliche Klage geäußert. Reinkens selbst verfasste fast ein Vierteljahrhundert später eine Biographie über den aus Westfalen stammenden Fürstbischof von Breslau, Melchior Kardinal von Diepenbrock, als Reinkens bereits Bischof der deutschen Altkatholischen Kirche war. Ein namentlich nicht genannter Rezensent hob es als „eine pikante Erscheinung“ hervor, dass der Verfasser seinem Helden eine solch „warme Verehrung“ entgegenbringe: Dies resultiere offenbar aus der persönlichen Bekanntschaft „und dem nur durch Lebensstellung und Verhältnisse getrübten edlen Wesens des Gefeierten“.24 Der Verfasser wurde dafür gelobt, dass er auch „die Schwächen und Schattenseiten in dem Charakter“ des Kardinals nicht verschwiegen habe.25 Diese Schwächen offenbarten sich in der allzu großen Nachgiebigkeit gegenüber dem stets wachsenden Ultramontanismus, da Diepenbrock aus der Schule des Regensburger Bischofs Johann Michael Sailer gekommen sei. Stenzel hatte, wie bereits angemerkt, in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft im Oktober 1844 einen längeren Artikel über die Bewertung der landeskundlichen Entwicklung Schlesiens vor der Reformation auf Grundlage bisher unbekannter Urkunden publiziert.26 Darin konstatierte er die Vernachlässigung der älteren Kirchengeschichte, 21 Reinkens, Joseph: Die Universität zu Breslau vor der Vereinigung der Frankfurter Viadrina mit der Leopoldina. Festschrift der katholisch-theologischen Fakultät. Breslau 1861, 5. 22 ����������������������������������������������������������������������������������������������� C[ohn], [Ludwig] A[dolf ]: Reinkens, Prof. Dr. Jos.: Die Universität zu Breslau vor der Vereinigung der Frankfurter Viadrina mit der Leopoldina. Festschrift der katholisch-theologischen Fakultät. In: Historische Zeitschrift 8 (1862) 180–183, hier 181. 23 Ebd. 24 ������������������������������������������������������������������������������������������� N. N.: Melchior v. Diepenbrock. Ein Zeit- und Lebensbild von Joh. Hub. Reinkens. In: Historische Zeitschrift 52 (1884) 163–164, hier 163. 25 Ebd., 164. 26 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Stenzel, Gustav Adolf: Nachricht über eine für die Kirchengeschichte zunächst Schlesiens wichtige Handschrift. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 3 (1845) 152–169, hier 152f.

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während die Epoche der Frühen Neuzeit bereits gut erforscht worden sei. Stenzel wies darauf hin, dass er bereits 15 Jahre zuvor das Kopialbuch des Domkapitels aus dem 14. und 15. Jahrhundert nebst zahlreichen Originalurkunden aus dem Domarchiv eingesehen habe. Dadurch habe er in seiner Einleitung der Urkundensammlung zur Geschichte des Ursprungs der schlesischen Städte angeben können, welcher Art der Streit zwischen Kirche und Staat in Schlesien im 13. Jahrhundert gewesen und wie er verlaufen sei.27 Doch zurück zum Rezensenten Adolf Cohn: Dass dieser in der intellektuellen deutsch-patriotischen Elite Breslaus fest verwurzelt war, wird auch anhand seiner Beurteilung der schlesischen Geschichte nach 1740 deutlich. Seine Rezensionen waren voll schwärmerischer Huldigung König Friedrichs II. von Preußen, wie folgende Passage zur oberschlesischen Regionalgeschichte exemplarisch verdeutlicht: „Unsere Gegend wie ganz Schlesien, weiß es ihm [Friedrich II., d. Verf.] Dank, daß er die Schicksale des Landes an einen Staat geknüpft hat, welcher unter energischen und wohlwollenden Regenten in seiner frischen Lebenskraft mehr, wie jeder andere in Europa, für das Wohlsein seiner Bürger gethan hat. Darum ist auch in Oberschlesien jede Erinnerung an die ‚kaiserliche Zeit‘ entschwunden oder verbindet sich mit dem freudigsten Danke für das Eintreten dieses Ereignisses.“28 Bei dieser Formulierung handelte es sich um ein direktes Zitat des Buchautors Franz Idzikowski, das Cohn hier unkommentiert und ohne weitere Literaturangabe wiedergab, wodurch er seine volle Übereinstimmung signalisierte. Ihm war es jedoch wichtig zu betonen, dass diese Worte von einem katholischen Oberschlesier stammten – auf diese Weise erschien die würdigende Beurteilung der Leistung Friedrichs II. noch unvoreingenommener und gewichtiger. Zugleich stimmte Cohn der Meinung zu, dass die Bevölkerung Oberschlesiens weitgehend polnisch sei, jedoch Anteil an der deutschen Geschichte und am deutschen Recht genommen und dadurch die deutsche Bevölkerung beeinflusst habe, auch wenn die polnischen Oberschlesier in keinerlei Kontakt zum Polentum außerhalb Schlesiens gestanden hätten. So konstatierte Cohn, dass der enge Anschluss an das Deutschtum eine innere, historisch begründete Notwendigkeit geworden sei, die jedoch friedlich und in Freiheit vor sich gehen müsse. Eine jede gewaltsame Germanisierung „nach Dänenart vermittelst ausschließlich deutschen Schulunterrichts“ müsse man vermeiden.29 Die Landessprache aber könne der Bevölkerung gewährt werden, da der Oberschlesier schon selbst erkennen werde, dass das Deutsche notwendig sei, um „höhere Befähigung zu erlangen, größeres bürgerliches Wohlergehen zu erringen“.30 27 Ebd., 153. 28 C[ohn], [Ludwig] A[dolf ]: Idzikowski, Frz.: Geschichte der Stadt und ehemaligen Herrschaft Rybnik in Oberschlesien: Mit einem (lith.) Plane der Stadt und der nächsten Umgegend. In: Historische Zeitschrift 8 (1862) 183–186, hier 185. 29 Ebd., 186. 30 Ebd.

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Cohn hatte ein ambivalentes Verhältnis zu Publikationen aus dem Bereich der katholischen Kirchengeschichte. Nach der vom preußischen König Friedrich Wilhelm  III. angeordneten und seit Oktober 1810 durchgeführten Säkularisierung der kirchlichen Güter, Klöster und Stifte veröffentlichten in den Folgejahrzehnten katholische Geistliche, Lehrer oder Lokalhistoriker Schriften zur Geschichte einzelner kirchlicher Einrichtungen sowie zur Situation des ehemaligen Ordensklerus.31 In mehreren Fällen handelte es sich um die jeweils erste historische Darstellung dieser Klöster und Stifte seit der mittelalterlichen Gründung. Daher ist es nicht verwunderlich, dass diese Publikationen in der Historischen Zeitschrift vermehrt rezensiert wurden. Allerdings stand der landeskundliche Aspekt stets im Vordergrund. Die Rezensenten interessierten sich hauptsächlich für die Gründung der Klöster im Rahmen der deutschrechtlichen Kolonisation und für die kulturell-wirtschaftliche Leistung dieser Einrichtungen. Bemängelt wurden die mangelnde Ausschöpfung gedruckter und handschriftlicher Quellen sowie der als hagiographisch-apologetisch empfundene Stil der Autoren namentlich aus den Reihen der katholischen Geistlichkeit. In diesen Rahmen fiel etwa Cohns Rezension über die Geschichte der ehemaligen Zisterzienserabtei Rauden in Oberschlesien, in der er sich besonders für die Entwicklung der materiellen Kultur Schlesiens und für die Wirtschaftstätigkeit des Klosters im 17. und 18. Jahrhundert interessierte, die katholische Sichtweise des Verfassers hingegen heftig kritisierte.32Noch deutlicher erschien diese Haltung Cohns in seiner Besprechung der Lebensgeschichte der heiligen Hedwig von Andechs, die aus der Feder des Kaplans der Breslauer Kirche St. Corpus Christi, Augustin Knoblich, stammte.33 Das Werk Knoblichs wurde von ihm förmlich verrissen. Knoblich stellte in seiner Schrift die tief begründete religiöse Motivation der heiligen Hedwig für ihr irdisches Wirken in den Vordergrund, was bei Cohn eine heftige Reaktion zur Folge hatte: „Sie war außerdem bis zur Schwärmerei fromm und die Bethätigung dieser Frömmigkeit, so sehr sie in ihrem Uebermaaß der menschlichen Natur zuwiderläuft, erklärt sich doch aus der geistigen Strömung jener Zeit.“34 Die vorstehend genannte Rezension ist zugleich symptomatisch für den Standpunkt der Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift insgesamt, die im bereits zitierten Vorwort zum ersten Heft ultramontane und somit katholisch-apologetische Schriften vehement ablehnte. Wenn Publikationen zur katholischen Kirchengeschichte Schlesiens besprochen wurden, so erfolgte dies ausschließlich unter landeskundlichen Aspekten, letztlich aber in einem gesamtdeutschen Kontext. So erklärt sich beispielsweise Cohns Rezension einer Abhandlung, die die durch König Friedrich II. im Jahr 31 Zum Hintergrund vgl. Ploch, Gregor: Säkularisation in Schlesien – Die Auflösung der Klöster und Stifte in Preußisch-Schlesien 1810. Ursachen, Verlauf und Folgen. München 2011. 32 C[ohn], [Ludwig] A[dolf ]: Potthast, Aug.: Geschichte der ehemaligen Cistercienserabtei Rauden in Oberschlesien. In: Historische Zeitschrift 1 (1859) 536–538. 33 Ders.: Lebensgeschichte der heil. Hedwig, Herzogin u. Landespatronin v. Schlesien. 1174–1243. In: Historische Zeitschrift 5 (1861) 576–578. 34 Ebd., 576.

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1744 erfolgte Ernennung Philipp Gotthard Graf Schaffgotschs zum Koadjutor des Fürstbischofs von Breslau zum Thema hatte.35 Hierbei standen Aspekte der StaatKirche-Beziehungen nach der preußischen Einverleibung Schlesiens im Vordergrund. In ähnlichem Stil rezensierte Cohn Publikationen zur Geschichte des Bistums Breslau. Bezüglich einer Abhandlung über Bischof Johannes V. Thurzo legte er sein Augenmerk auf die Abwehr des deutschen Klerus gegenüber Versuchen des Erzbistums Gnesens (und somit Polens), polnische Domkapitulare in Breslau zu installieren. Für Cohn war Thurzo ein bedeutender Reformbischof, der den deutschen Charakter des Fürstbistums Breslau in der Frühen Neuzeit bewahren konnte.36 Hier erscheint es angezeigt, auf die eingangs erwähnte Ausnahme einzugehen. 1865 besprach Wilhelm Wattenbach eine Veröffentlichung Colmar Grünhagens zu den Staat-Kirche-Beziehungen in Schlesien im frühen 14. Jahrhundert.37 Darin hatte Grünhagen die Beziehung des Breslauer Bischofs Nanker zu König Johann von Böhmen analysiert. Da Grünhagen ein deutschnationales beziehungsweise borussophiles Bild der Geschichte Schlesiens vertrat und sich damit von der gelehrten Historikerzunft seiner Zeit nicht unterschied, behandelte er in seiner Arbeit vordergründig den Kampf gegen das Slawentum im deutschen Osten.38 Dieser Standpunkt entsprach vollends der Haltung Wattenbachs und fügte sich in die Gesinnung ein, die in der Historischen Zeitschrift insgesamt vertreten wurde. Dass sowohl dem Verfasser Grünhagen als auch dem Rezensenten Wattenbach eine objektiv-distanzierte Haltung zur Katholischen Kirche abging, beweist etwa die sarkastische Anmerkung, dass Bischof Nanker „ohne allen Erfolg den Bannfluch aus der Rüstkammer der Kirche holt und vom Könige verlacht wird“.39 Diese Episode stelle jedoch einen einzelnen Konflikt „zwischen der erstarkten weltlichen Gewalt und priesterlicher Ueberhebung“ dar,40 also nur eine Episode in dem langen fortgesetzten Kampf des deutschen und polnischen Elements um den Besitz Schlesiens. Wattenbach betonte in seiner Rezension die verstärkten Versuche des deutschen Klerus, sich nicht nur von Einflüssen Polens zu befreien, sondern auch eine größere Selbständigkeit gegenüber Rom zu erlangen. Es sei dem energischen Wirken des deutschen Klerus zu verdanken, dass „nach dem Tode des ungeschickten Nanker 35 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Ders.: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens. Vierter Band. In: Historische Zeitschrift 10 (1863) 185–189, hier 188f. 36 Ders.: De Johanne V. Turzone, episcopo vratislaviensi commentatio. In: Historische Zeitschrift 15 (1866) 430–433. 37 Wattenbach, Wilhelm: Grünhagen, Dr. C.: König Johann von Böhmen und Bischof Nanker von Breslau. Ein Beitrag zur Geschichte des Kampfes mit dem Slaventhum im Deutschen Osten. In: Historische Zeitschrift 14 (1865) 170–172. 38 Rüther, Andreas: Borussische Geschichtsforschung zu Schlesien: Colmar Grünhagen (1828– 1911) – Werdegang, Schuleinflüsse und Wirkungskreise. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke. Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2019 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 28), 217–254. 39 Wattenbach: Grünhagen, 171. 40 Ebd.

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ein Pole Bischof “ habe werden können.41 König Johann habe schließlich die politische Annährung Schlesiens an Polen verhindern und den Schlesier Preczlaw von Pogarell auf den Bischofsstuhl befördern können. Diesem sei es schließlich gelungen, das Bistum in den Jahren 1342 bis 1376 erneut zu konsolidieren. Ab Band 15 (1866) wurde die inhaltliche Struktur der Historischen Zeitschrift verändert. Nach den Aufsätzen erschien lediglich die Rubrik „Literaturbericht“, die im Inhaltsverzeichnis nicht mehr nach Regionen sortiert war. Dies erschwert zwangsläufig eine jede systematische Suche nach Silesiaca. Im Vorwort begründete die Redaktion diese Änderung mit der gestiegenen Fülle an historischer Literatur und dem Ansinnen der Herausgeber, die Zeit zwischen dem Erscheinen der jeweiligen Publikation und deren Besprechung möglichst kurz zu halten, was vor allem im Fall ausländischer Literatur kaum mehr möglich erschien. Der ursprüngliche Anspruch auf größtmögliche Vollständigkeit der Publikationsübersicht sei unerfüllbar geworden. Als Lösung dieses Problems kündigten die Herausgeber an, einerseits nur die wichtigeren Novitäten zu besprechen, andererseits den Abonnenten halbjährlich eine bibliotheca historica zuzusenden, um sie so auf dem Laufenden zu halten.42 In der Folgezeit nahmen die schlesienbezogenen Beiträge zwar an Häufigkeit ab, so dass in manchen Heften keinerlei Buchbesprechung zu schlesischen Themen veröffentlicht wurde. Dieser scheinbare Rückgang ist jedoch damit zu begründen, dass auf die bloße Annotation von schlesienbezogener Literatur im Sinn einer größtmöglichen Vollständigkeit von Literaturnennungen nunmehr verzichtet wurde. Besprechungen wurden weiterhin in gewohnter Intensität abgedruckt. Zwischen 1866 und 1913 erschienen insgesamt 98 kürzere oder längere Rezensionen zu schlesienkundlichen Publikationen, so dass das Interesse an Geschichte und Kultur des Oderlandes insgesamt keinesfalls nachließ. Der Kreis an Rezensenten wurde stark erweitert, wohingegen der bisher häufigste Rezensent das Feld räumte: Anfang 1871 starb Adolf Cohn im Alter von nur 36 Jahren in Göttingen. Nur in wenigen Ausnahmefällen kamen in den Folgejahren Wilhelm Wattenbach (insgesamt drei Rezensionen) und Colmar Grünhagen (ein Beitrag) zu Wort. Statt dessen wurde eine Reihe von Buchbesprechungen ohne redaktionelle Kürzel publiziert. Ob damit feste Redaktionsangestellte der Historischen Zeitschrift selbst rezensierten, ist unklar. Zwischen 1870 und 1876 meldeten sich zudem vier weitere Rezensenten zu Wort, von denen nur die Kürzel „cas.“, „h.“, „Gd.“ und „H. M.“ bekannt sind. Zwischen 1876 und 1894 dominierte unter den Buchbesprechungen ein Autor namens „Markgraf “, der sich auch mit „Mkgf.“ abkürzte. Bei diesem Rezensenten handelt es sich um den Historiker und Breslauer Stadtarchivar Dr. Hermann Markgraf, der 1838 in Cottbus geboren wurde und 1906 in Breslau starb. In den Jahren 1876 bis 1894 veröffentlichte Markgraf insgesamt 46 Rezensionen. Damit verfasste er immerhin zwei

41 Ebd. 42 Vorwort. In: Historische Zeitschrift 15 (1866) II.

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Fünftel aller im Untersuchungszeitraum veröffentlichten Rezensionen (insgesamt erschienen 115 Besprechungen). Ferner meldeten sich Hermann Fechner sowie Reinhold Koser mit Einzelbeiträgen zu Wort. In den 1890er Jahren wurde der Rezensentenkreis mit Ernst Fischer, Karl Wittich, Konrad Wutke, Albert Naudé, Heinrich Wendt und Felix Rachfahl recht vielfältig, bevor zu Beginn des 20. Jahrhunderts dann noch weitere Autoren hervortraten: Ludwig Mollwo, Hubert Ermisch, Paul Kalkoff, Hermann Oncken, Ernst Polaczek, Kolmar Schaube, Wilhelm Stieda, Johannes Ziekursch und Friedrich Meyer. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, die Biographien dieser Rezensenten auszuwerten und sie vor einem schlesienbezogenen historischen Kontext zu reflektieren. Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher darauf, Spezifika der Rezensionen und deren jeweilige Argumentation herauszuarbeiten. Auch in der Folgezeit wurden weiterhin schlesische Urkundenbücher beziehungsweise urkundenbasierte Städtegeschichten rezensiert. Wattenbach steuerte zwei Besprechungen zur städtischen Entwicklung von Liegnitz bei.43 Dabei vertrat er die These, dass Schlesien zu denjenigen Teilen des preußischen Staates gehöre, die, auf alten geschichtlichen Traditionen fußend, noch ein lebhaftes provinzielles Gefühl bewahrt hätten. Die Zustände der Gegenwart knüpften sich im Oderland weit mehr als in den westlichen Landesteilen noch unmittelbar an den geschichtlichen Ursprung. Daher habe die von Stenzel angeregte urkundliche Forschung gerade in Schlesien eine bedeutende Kraft gewonnen.44 Die landeskundliche Themensetzung in regionalhistorischen Werken umfasste eine Vielzahl von Städten, Ortschaften und Herzogtümern. Stark vertreten war dabei Breslau. Die Werke behandelten unter anderem die politische Geschichte Breslaus,45 die Geschichte des Bistums Breslau,46 das Breslauer Urkundenbuch,47 städtische Kunstdenkmäler,48 die Chronik der Stadt von der ältesten bis zur neuesten Zeit49 sowie die Geschichte des örtlichen Schulwesens in der Zeit der Reformation.50 Anlässlich der

43 Wattenbach, Wilhelm: Urkundenbuch der Stadt Liegnitz und ihres Weichbildes bis zum Jahre 1455. In: Historische Zeitschrift 21 (1869) 443–444; ders.: Schuchard, C. J.: Die Stadt Liegnitz, ein deutsches Gemeinwesen bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts. Ebd., 444–446. 44 Ders.: Urkundenbuch der Stadt Liegnitz und ihres Weichbildes bis zum Jahre 1455, 443f. 45 ���������������������������������������������������������������������������������������������� „h.“: Peter Eschenloer. Historia Vratislaviensis herausgegeben von Dr. H. Markgraf. In: Historische Zeitschrift 29 (1873) 189–190. 46 ��������������������������������������������������������������������������������������������� N. N.: Dr. J. Heyne, Dokumentirte Geschichte des Bisthums und Hochstiftes Breslau. In: Historische Zeitschrift 25 (1871) 179–180. 47 „Gd.“: Korn, G., Breslauer Urkundenbuch, erster Theil. In: Historische Zeitschrift 26 (1871) 249–250. 48 Markgraf, Hermann: Die Kunstdenkmäler der Stadt Breslau. Im amtlichen Auftrage bearbeitet von Hans Lutsch. In: Historische Zeitschrift 58 (1887) 136–138. 49 N. N.: Weiss, F. G. Adolf: Chronik der Stadt Breslau von der ältesten bis zur neuesten Zeit. In: Historische Zeitschrift 63 (1889) 347–348. 50 Wendt, H[einrich]: Geschichte des Breslauer Schulwesens in der Zeit der Reformation. Von ­Gustav Bauch. In: Historische Zeitschrift 109 (1912) 556–558.

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1911 erfolgten Jahrhundertfeier der Selbstverwaltung Breslaus erschien eine Publikation über die Steinsche Städteordnung.51 An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erwachte zudem das Interesse an der Geschichte der politischen Presse der schlesischen Hauptstadt.52 Die in der Historischen Zeitschrift reflektierte städtische und regionale Geschichte bezog sich auf Brieg,53 Kamenz,54 Fürstenstein,55 Steinau an der Oder,56 Oels,57 Görlitz,58 Liegnitz,59 Haynau in Schlesien,60 Schweidnitz61 sowie Bunzlau, die Heimatstadt von Martin Opitz, Andreas Tscherning und Andreas Scultetus, was für den Rezensenten Markgraf als eine „höchst schätzenswerthe Quelle kulturgeschichtlichen Stoffes“ erschien.62. Einen gewissen Sonderfall stellte die traditionell nach Böhmen hin orientierte Grafschaft Glatz dar, die Schlesien erst 1742 angegliedert worden war. Durch dieses Ereignis hatte sich in den Worten des Rezensenten „in den Bewohnern ein so lebhaftes Heimatsgefühl“ entwickelt, dass einige mutige Männer das Wagnis auf sich genommen 51 Schaube, K[olmar]: Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau. 9. und 10. Heft: Die Steinsche Städteordnung in Breslau. Denkschrift der Stadt Breslau zur Jahrhundertfeier der Selbstverwaltung. Breslau, E. Morgensterns Verlagsbuchhandlung. 1909. In: Historische Zeitschrift 107 (1911) 387–391. 52 Ziekursch, Johannes: Die Breslauer politische Presse von 1742 bis 1861. Von Leonhard Müller. In: Historische Zeitschrift 103 (1909) 599–600; Markgraf, Hermann: 150 Jahre Schlesische Zeitung, 1742–1892. Ein Beitrag zur vaterländischen Kulturgeschichte. Von Karl Weigelt. In: ­Historische Zeitschrift 73 (1894) 516. 53 N. N.: Urkunden der Stadt Brieg, Urkundliche und chronikalische Nachrichten über die Stadt Brieg. In: Historische Zeitschrift 25 (1871) 165–167; „cas.“: Geschichte des königl. Gymnasiums zu Brieg. Zur 300jährigen Jubelfeier verfaßt von K. F. Schönwälder. Ebd., 175–178. 54 Markgraf, Hermann: Urkunden des Klosters Kamenz. Namens des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens herausgegeben von Paul Pfotenhauer. In: Historische Zeitschrift 47 (1882) 116. 55 Ders.: Geschichte des Schlosses und der freien Standesherrschaft Fürstenstein in Schlesien. Von P. Kerber. In: Historische Zeitschrift 55 (1886) 517–518. 56 Ders.: Urkundliche Geschichte der Stadt Steinau a. d. O. Von Heinrich Schubert. In: Historische Zeitschrift 56 (1886) 315. 57 Ders.: Geschichte des Fürstenthums Öls bis zum Aussterben der piastischen Herzogslinie. Von Wilhelm Häusler. In: Historische Zeitschrift 52 (1884) 353–354. 58 N. N.: Magister Johannes Hass, Bürgermeister zu Görlitz. In: Historische Zeitschrift 25 (1871) 178–179; Markgraf, Hermann: Otto Kämmel. Johannes Haß, Stadtschreiber und Bürgermeister zu Görlitz. Ein Lebensbild aus der Reformationszeit. Gekrönte Preisschrift (der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften). In: Historische Zeitschrift 35 (1876) 445–447. 59 N. N.: Geschichte des ev. Gymnasiums zu Liegnitz von Adalbert Hermann Kraffert, GymnasialOberlehrer. In: Historische Zeitschrift 25 (1871) 174–175. 60 N. N.: Chronik der Stadt Haynau in Schlesien. Herausgegeben von Th. Scholz, ev. Cantor. In: Historische Zeitschrift 25 (1871) 173–174. 61 �������������������������������������������������������������������������������������������� Markgraf, Hermann: Scriptores rerum Silesiacarum. XI. Schweidnitzer Chronisten des 16. Jahrhunderts. In: Historische Zeitschrift 40 (1878) 340–341. 62 Ders.: Chronik der Stadt Bunzlau von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. In: Historische Zeitschrift 55 (1886) 518.

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hätten, die Geschichte und Heimatkunde des Landes in einer vierteljährlich erscheinenden wissenschaftlichen Zeitschrift zu erforschen.63 Mit der Grafschaft Glatz befassten sich entsprechend gleich mehrere Besprechungen.64 Auch der österreichische Anteil der Herzogtümer Troppau und Jägerndorf wurde nicht vernachlässigt.65 Gerade das hierzu von Gottlieb Biermann vorgelegte Werk fand bei Colmar Grünhagen großen Anklang. Der Verfasser, ein Prager Gymnasialdirektor, legte mit einer fast 700 Seiten reichenden Arbeit ein opulentes Werk vor, nachdem er sich bereits früher dem Gebiet des Herzogtums Teschen gewidmet hatte. Grünhagen lobte in seiner Rezension die ausgiebige Auswertung der Quellen aus Breslauer, Wiener und Troppauer Archiven und steuerte in minutiöser Detailauflistung zahlreiche Kommentare und Verbesserungen bei. Besprochen wurden zudem vergleichende Studien zu historischen Bezügen zwischen der Oberlausitz und Schlesien. Auch hierbei überwogen nationale Aspekte, wenn etwa betont wurde, dass sich die Lausitzer wie die Schlesier durchaus als Deutsche fühlten, während in Böhmen ein vollständig slawisches Adelsregiment zur Herrschaft gelangt sei.66 Oberschlesische Bezüge wurden etwa zu der am Rande des Industriegebietes liegenden Ortschaft Sohrau, die Augustin Weltzel näher betrachtete, hergestellt.67 Das Werk des katholischen Pfarrers von Tworkau bei Ratibor wurde von dem Rezensenten der Historischen Zeitschrift jedoch trotz der beachtlichen Quellenarbeit des Verfassers kritisiert, da es sich alltäglichen Vorkommnissen des kleinstädtischen Lebens in unerträglicher Breite zuwende und die Ereignisse letztlich unverbunden aneinandergereiht würden.68 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewannen breiter angelegte Studien, die sich mit der deutschen Geschichte der zu Preußen gehörenden Region befassten, an Bedeutung. Rezensiert wurden Grünhagens Überblick zu schlesischen Geschichtsquellen,69 po-

63 Ders.: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimatkunde der Grafschaft Glatz. In: Historische Zeitschrift 52 (1884) 354–355, hier 354. 64 Ders.: Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz. Herausgegeben von Volkmer und Hohaus. I. Urkunden und Regesten zur Geschichte der Grafschaft Glatz. In: Historische Zeitschrift 52 (1884) 355–356; ders.: Die Grafschaft Glatz unter dem Gouvernement des Generals Heinrich August Freiherrn de la Motte Fouqué 1742–1760. Von Alois Bach. In: Historische Zeitschrift 56 (1886) 315. 65 Grünhagen, Colmar: G. Biermann. Geschichte der Herzogthümer Troppau und Jägerndorf. In: Historische Zeitschrift 34 (1875) 440–445. 66 �������������������������������������������������������������������������������������� Markgraf, Hermann: Otto Kämmel. Johannes Haß, Stadtschreiber und Bürgermeister zu Görlitz. Ein Lebensbild aus der Reformationszeit. In: Historische Zeitschrift 35 (1876) 445–447, hier 446. 67 Ders.: Geschichte der Stadt Sohrau in Oberschlesien. Von Aug. Weltzel. In: Historische Zeitschrift 63 (1889) 348. 68 „h.“: Weltzel, A.: Geschichte der Stadt Neustadt in Oberschlesien. In: Historische Zeitschrift 26 (1871) 251. 69 N. N.: Grünhagen, C.: Wegweiser durch die schlesischen Geschichtsquellen bis zum Jahre 1550. In: Historische Zeitschrift 65 (1890) 520–521.

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pulärwissenschaftliche Abhandlungen zur Landeskunde Schlesiens, die sich explizit an das „deutsche Volk“ richteten,70 Arbeiten zu den deutschrechtlichen Aspekten der Besiedlung Schlesiens, bei denen die deutsche Abstammung der Schlesier im Vordergrund stand,71 sowie allgemeine Verzeichnisse der Kunstdenkmäler der Provinz Schlesien.72 Von Interesse für die Rezensenten waren zudem spezielle Publikationen, beispielsweise das Wappenbuch schlesischer Städte und Städtel, das immerhin 241 Ortschaften berücksichtigte,73 ferner Studien zur Geschichte des Adels,74 zu historischen Siegeln,75 Grabdenkmälern76 und mittelalterlichen Kirchenstiftungen.77 Besprochen wurden zudem Werke zur schlesischen Kirchengeschichte, insbesondere zur Geschichte der Reformation und der protestantischen Kirche.78 Berücksichtigt wurde aber auch die Katholische Kirche,79 wobei ein kritischer Blick nicht selten auf die Geschichte des Je-

70 Rachfahl, Felix: Schlesien. Eine Landeskunde für das deutsche Volk auf wissenschaftlicher Grundlage bearbeitet von Joseph Partsch. Erster Theil: Das ganze Land. Mit sechs farbigen Karten und 23 Abbildungen. In: Historische Zeitschrift 82 (1899) 509–511, hier 509. 71 N. N.: Die Verbreitung und die Herkunft der Deutschen in Schlesien. Von Karl Weinhold. In: Historische Zeitschrift 63 (1889) 345. 72 N. N.: Verzeichnis der Kunstdenkmäler der Provinz Schlesien. Von Hans Lutsch. In: Historische Zeitschrift 70 (1893) 153; Polaczek, Ernst: Verzeichnis der Kunstdenkmäler der Provinz Schlesien. Von Hans Lutsch 5: Register zu den Bänden 1–4; Bd. 6: Denkmälerkarten der Provinz Schlesien; ders., Bilderwerk schlesischer Kunstdenkmäler. In: Historische Zeitschrift 98 (1907) 420–422. 73 N. N.: Wappenbuch der schlesischen Städte und Städtel. Herausg. von Hugo Saurma Freiherrn v. u. z. d. Jeltsch. In: Historische Zeitschrift 26 (1871) 450. 74 N. N.: Schlesische Fürstenbilder des Mittelalters herausgegeben von Dr. Hermann Luchs. In: Historische Zeitschrift 26 (1871) 448–450; „Pf.“: Publikationen aus den kgl. preußischen Staatsarchiven. Veranlaßt und unterstützt durch die kgl. Archivverwaltung. VII. XVI. Lehns- und Besitzurkunden Schlesiens und seiner einzelner Fürstenthümer im Mittelalter. Herausgegeben von C. Grünhagen und H. Markgraf. In: Historische Zeitschrift 51 (1884) 311–313; Fischer, Ernst: Hans Ulrich Freiherr v. Schaffgotsch. Ein Lebensbild aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Von J. Krebs. In: Historische Zeitschrift 65 (1890) 474–476; N. N.: Stammtafeln der schlesischen Fürsten bis zum Jahre 1740. Von H. Grotefend. Ebd., 521. 75 Markgraf, Hermann: Die schlesischen Siegel von 1250 bis 1300, bzw. 1327. Herausgegeben von Paul Pfotenhauer. In: Historische Zeitschrift 42 (1879) 557–558. 76 „h.“: Schlesiens Grabdenkmale und Grabinschriften. Alphabethisches Register des 1.–15. Bandes der Graf Hoverden’schen Sammlung. In: Historische Zeitschrift 26 (1871) 451–452. 77 Markgraf, Hermann: Schlesiens ältere Kirchen und kirchliche Stiftungen nach ihren frühesten urkundlichen Erwähnungen. In: Historische Zeitschrift 56 (1886) 313. 78 Ders.: Die evangelische Kirche Schlesiens im 16. Jahrhundert. Ein geschichtlicher Vortrag von A. Schimmelpfennig. In: Historische Zeitschrift 42 (1879) 558–559; N. N.: Geschichte der Reformation in Schlesien. Von Joh. Soffner. In: Historische Zeitschrift 63 (1889) 346–347; Kalkoff, Paul: Studien zur Vorgeschichte der Reformation. Aus schlesischen Quellen. Von Dr. Arnold Oscar Meyer. In: Historische Zeitschrift 93 (1904) 277–279. 79 N. N.: Acta Nicolai Gramis. Urkunden und Aktenstücke, betreffend die Beziehungen Schlesiens zum Basler Konzil. Von Wilh. Altmann. In: Historische Zeitschrift 67 (1891) 137–138.

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suitenordens80 oder auf die Genese des Bistums Breslau geworfen wurde.81 Regelmäßig rezensierte man zudem die Veröffentlichungen aus schon länger bestehenden Reihen (Regesten zur schlesischen Geschichte, Codex diplomaticus Silesiae, Abhandlungen der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur) oder Zeitschriften (Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens, Schlesische Provinzialblätter). Auch im Bereich der politischen Geschichte mehrten sich im Lauf der Zeit die Besprechungen. Dabei überwog die Frühe Neuzeit, häufig mit Bezügen zu Friedrich II. von Preußen. Zeitlich setzten die Rezensionen zu den bis dahin wenig erforschten Hussitenkriegen ein, über die Colmar Grünhagen eine wertvolle Arbeit aus den Quellen verfasst hatte. Der Rezensent war voll des Lobes darüber, dass Grünhagen diese Kriege „der dichtenden Sage entrissen und der urkundlich beglaubigten Geschichte zurückerobert“ habe, vor allem mit Blick auf Reaktion des Slawentums, „durch welche[s] im Mittelalter die Fortschritte der Germanisation im östlichen Deutschland wiederholt gehemmt worden sind“.82 Dem 15. Jahrhundert widmeten sich ferner eine Arbeit über die politische Korrespondenz Breslaus im Zeitalter von König Matthias Corvinus83 sowie eine Biographie über den Breslauer Bischof Rudolf von Rüdesheim.84 Als politische Akteure standen die Breslauer Fürstbischöfe ohnehin mehrfach im Fokus, sei es der im 16. Jahrhundert lebende Martin von Gerstmann,85 sei es Philipp Ludwig von Sinzendorf in seinem Verhältnis zu König Friedrich II.86 Der Rezensent Hermann Fechner bemängelte dabei die Einseitigkeit und parteiische Ausrichtung des Verfassers, da das Verhalten des preußischen Königs ungünstiger erscheine als verdient. Dabei ging der Rezensent selbst parteiisch vor, indem er durch eine erschöpfende, fast

80 So etwa über die Einführung der Jesuiten in Schlesien vor 1618: Markgraf, Hermann: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens. In: Historische Zeitschrift 56 (1886) 310– 313; Meyer, F[riedrich]: Geschichte der böhmischen Provinz der Gesellschaft Jesu. I. Geschichte der ersten Kollegien in Böhmen, Mähren und Glatz von ihrer Gründung bis zur Auflösung durch die böhmischen Stände 1556–1619. Nach den Quellen bearbeitet von P. Alois Kroess SJ. In: Historische Zeitschrift 110 (1913) 399–401. 81 ���������������������������������������������������������������������������������������� Markgraf, Hermann: Archidiakonus Petrus Gebauer. Ein Zeit- und Lebensbild aus der schlesischen Kirchengeschichte des 17. Jahrhunderts. In: Historische Zeitschrift 73 (1894) 514. 82 „Cas.“: Die Hussitenkämpfe der Schlesier 1420–1435. In: Historische Zeitschrift 29 (1873) 182–189, hier 183. 83 N. N.: Politische Korrespondenz Breslaus im Zeitalter des Königs Matthias Corvinus. 1. Abth.: 1469–1479; 2. Abth.: 1479–1490. In: Historische Zeitschrift 76 (1896) 309–311. 84 ����������������������������������������������������������������������������������������� Markgraf, Hermann: Rudolf von Rüdesheim, Fürstbischof von Lavant und Breslau. Ein Lebensbild aus dem 15. Jahrhundert. Zusammengestellt von J. Zaun. In: Historische Zeitschrift 47 (1882) 77–78. 85 Wutke, Konrad: Martin v. Gerstmann, Bischof von Breslau. Ein Zeit- und Lebensbild aus der schlesischen Kirchengeschichte des 16. Jahrhunderts. In: Historische Zeitschrift 85 (1900) 126–127. 86 Fechner, H[ermann]: Friedrich der Große und der Kardinal Sinzendorf, Fürstbischof von Breslau. Von Karl Möhrs. In: Historische Zeitschrift 55 (1886) 506–508.

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buchhalterisch anmutende Aufzählung nachzuweisen versuchte, dass die Steuerlast der katholischen Geistlichkeit deutlich günstiger ausgefallen sei, als der Verfasser dies angegeben hatte. Eine vielbeachtete Abhandlung über die politische Geschichte Schlesiens war das zweibändige Werk Colmar Grünhagens, das vom Rezensenten Hermann Markgraf besprochen wurde.87 Die geschichtspolitische Haltung des Verfassers und die daraus resultierenden Forschungsergebnisse teilte Markgraf zur Gänze. Konkret hatte Grünhagen den Habsburgern ein vernichtendes Urteil ausgestellt: Die regierende Dynastie hätte im 17. Jahrhundert eine aggressive Rekatholisierung des Landes angestrebt und dabei bewusst den wirtschaftlichen Ruin des Oderlandes in Kauf genommen. Der Rezensent gelangte zu dem Urteil: „Es macht einen peinlichen, bald ermüdenden, bald empörenden Eindruck, zu lesen, wie Herrscher und Volk eigentlich nie im Einklange sind, und wie im Kriege die Truppen des Landesherrn die Provinz immer noch mehr brandschatzen, verwüsten und quälen als die Feinde. Ein Blatt des Ruhmes für die Herrscherklugheit der Habsburger sind diese zwei Jahrhunderte schlesischer Geschichte wahrlich nicht. Die Aufgabe, einen so peinlichen Stoff mit historischer Objektivität zu behandeln, hat Grünhagen vortrefflich gelöst.“88 Der Rezensent verhehlte seine protestantisch-preußische Haltung nicht, wenn er zu der Auffassung kam, es sei den Habsburgern nicht gelungen, das evangelische Bewusstsein der Schlesier zu unterdrücken, nachdem diese ihre Gotteshäuser verloren hatten. Markgraf schloss seine Ausführungen nicht ohne Pathos: „Wenn man in dem Charakter der Schlesier etwas Heldenhaftes sucht, so kann man es noch am ersten in den Leiden finden, die sie um ihres Glaubens willen ausgestanden haben.“89 Einige wenige Werke behandelten das 17. Jahrhundert, etwa das Leben des ­Freiherrn Hans Ulrich von Schaffgotsch vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges,90 den Verlauf des Krieges generell91 oder die politische Haltung der schlesischen Fürsten und Stände. Hierbei unterstrich der bereits genannte Rezensent Hermann Markgraf die gewaltsame Durchführung der Gegenreformation in Schlesien.92 Dieser Zeitspanne 87 �������������������������������������������������������������������������������������������� Markgraf, Hermann: Geschichte Schlesiens. Von C. Grünhagen. I. Bis zum Eintritt der habsburgischen Herrschaft 1527. In: Historische Zeitschrift 54 (1885) 353–356; ders.: Geschichte Schlesiens. Von C. Grünhagen. II. Bis zur Vereinigung mit Preußen (1527–1740). In: Historische Zeitschrift 59 (1888) 144–146. 88 Markgraf: Geschichte Schlesiens. Von C. Grünhagen II, 145. 89 Ebd., 146. 90 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Fischer, Ernst: Hans Ulrich Freiherr v. Schaffgotsch. Ein Lebensbild aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Von J. Krebs. In: Historische Zeitschrift 65 (1890) 474–476. 91 Wittich, Karl: Die Gefechte bei Steinau an der Oder vom 29. August bis 4. September 1632. Das Treffen bei Steinau an der Oder am 11. Oktober 1633. Eine kriegsgeschichtliche Untersuchung von F. Täglichsbeck. In: Historische Zeitschrift 70 (1893) 505–507. 92 Markgraf, Hermann: Acta publica. Verhandlungen und Korrespondenzen der schlesischen Fürsten und Stände. Namens des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens, herausgegeben von Julius Krebs. In: Historische Zeitschrift 56 (1886) 313–315, hier 314.

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widmeten sich zudem einzelne Ausgaben der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens.93 Die mit Friedrich II. und den Schlesischen Kriegen in Verbindung stehenden Rezensionen nahmen ab den 1880er Jahren vergleichsweise breiten Raum ein. Im Zentrum standen dabei die Forschungen Colmar Grünhagens. Der spätere Direktor des Preußischen Geheimen Staatsarchivs, Reinhold Koser, befasste sich mit Grünhagens zweibändiger Geschichte des Ersten Schlesischen Krieges,94 Markgraf besprach den ersten Band Grünhagens zur Entwicklung des Oderlandes unter preußischer Herrschaft.95 Besondere Beachtung fanden mehrere, vom „Großen Generalstab, Abteilung für Kriegsgeschichte“, herausgegebene Publikationen über die Kriege Friedrichs II.96 Rezensiert wurden ferner einzelne Schlachten im Verlauf der Schlesischen Kriege (Hohenfriedeberg,97 Kunersdorf98). Was die Integration Schlesiens in die Hohenzollernmonarchie betrifft, verdient zudem eine Besprechung des Tagebuchs des ­Breslauer Kaufmanns Johann Georg Steinberger Beachtung.99 Vereinzelt im späten 19. Jahrhundert und auffällig in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts gerieten Abhandlungen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte Schlesiens in den Fokus des Rezensionsinteresses. Die besprochenen Publikationen berührten die

93 Als Beispiele können dienen die Besprechungen von „cas.“: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens. In: Historische Zeitschrift 29 (1873) 190–192; Markgraf, Hermann: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens. In: Historische Zeitschrift 42 (1879) 554–557. 94 Koser, Reinhold: Geschichte des ersten Schlesischen Krieges. Nach archivalischen Quellen dargestellt von C. Grünhagen. Zwei Bände. In: Historische Zeitschrift 51 (1884) 549–553. 95 Markgraf, Hermann: Schlesien unter Friedrich dem Großen. In: Historische Zeitschrift 67 (1891) 138–139. 96 Fechner, H[ermann]: Der erste Schlesische Krieg 1740–1742. Herausgegeben vom Großen Generalstabe, Abtheilung für Kriegsgeschichte I. Die Besetzung Schlesiens und die Schlacht bei Mollwitz. In: Historische Zeitschrift 66 (1891) 530–535; Naudé, A[lbert]: Die Kriege Friedrich’s des Großen. Herausg. vom Großen Generalstabe, Abtheilung für Kriegsgeschichte. Erster Theil: Der erste Schlesische Krieg 2 und 3 mit 20 Karten, Plänen und Skizzen. In: Historische Zeitschrift 74 (1895) 298–303; Mollwo, L[udwig]: Die Kriege Friedrichs des Großen. 2. Teil. Der zweite schlesische Krieg. Herausg. vom Gr. Generalstabe. 3 Bde.; Österreichischer Erbfolgekrieg. 1740–1748. Nach den Feldakten und anderen authentischen Quellen bearbeitet in der kriegsgeschichtlichen Abteilung des k. und k. Kriegsarchivs. In: Historische Zeitschrift 88 (1902) 96–103. 97 Mollwo, L[udwig]: Die Schlacht bei Hohenfriedberg. Von R. Keibel. In: Historische Zeitschrift 88 (1902) 103–104. 98 Ders.: Die Schlacht bei Kunersdorf am 12. August 1759. Von M. Laubert. In: Historische Zeitschrift 88 (1902) 104–106. 99 N.N.: Breslauisches Tagebuch von Johann Georg Steinberger 1740–1742. Von Eugen Träger. In: Historische Zeitschrift 70 (1893) 152f.

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Geschichte des Bergbau- und Hüttenwesens,100 die allgemeine Wirtschaftsgeschichte101 und kommunale Aspekte.102 Auch literarische Arbeiten wurden vereinzelt rezensiert.103 Zusammenfassend ist festzustellen, dass die historische Schlesienforschung in der Historischen Zeitschrift auf beachtliches Interesse stieß. In den thematischen Besprechungen wurde Forschungen zur Geschichte und Kultur des Oderlandes viel Raum gegeben. In den Jahren 1859 bis 1913 sind insgesamt 115 einschlägige Rezensionen erschienen, wobei allein 64 Beiträge – und damit 56 Prozent aller Titel – von lediglich zwei Autoren verfasst wurden: Adolf Cohn (18 Rezensionen in den Jahren 1859 bis 1866) und Hermann Markgraf (46 Beiträge in den Jahren 1876 bis 1894); der Rest verteilte sich auf etwa ein Dutzend weiterer Rezensenten sowie auf Redaktionsmitglieder des Blattes. Das Gros an Besprechungen wurde bis einschließlich 1890 publiziert (insgesamt 87 ­Beiträge). In den 1890er Jahren (bis einschließlich 1900) erschienen 15, im beginnenden 20. Jahrhundert (bis einschließlich 1913) 13 Besprechungen.

3. Die Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Das 1854 gegründete „k. k. Institut für österreichische Geschichtsforschung“ (anfangs wurde die Adjektivform „österreichisch“ klein geschrieben) beschränkte sich zunächst auf die Ausbildung von künftigen Bibliothekaren, Archivaren und Museumsfachleuten. Der in Wien seit 1856 wirkende Theodor Sickel, seit 1869 Institutsdirektor, führte 1879/80 ein fachliches Mitteilungsorgan ein, in dem Fachbeiträge und Rezensionen nicht nur zur österreichischen Geschichte veröffentlicht wurden.104 Da das historische

100 Ermisch: Beiträge zu Schlesiens Rechtsgeschichte von Bruno Bellerode; Schlesiens Bergbauund Hüttenwesen. Urkunden (1136–1528). Urkunden und Akten (1529–1740). Namens des Vereins für Geschichte und Altertum Schlesiens herausgegeben von Konrad Wutke; Akten und Urkunden zur Geschichte des schlesischen Bergwesens. Österreichische Zeit. Gesammelt und herausgegeben von Dr. E. Zivier. In: Historische Zeitschrift 91 (1903) 121–126. 101 ���������������������������������������������������������������������������������������� Markgraf, Hermann: Ländliche Zustände in Schlesien während des vorigen Jahrhunderts. Beiträge zur Geschichte der Gesetzgebung und Verwaltung Friedrich’s II. und seines Nachfolgers. Von L. Jacobi. In: Historische Zeitschrift 55 (1886) 338–339; ders.: Die historische Entwickelung der landwirthschaftlichen Verhältnisse auf den reichsgräflich freistandesherrlichen Schaffgotsch’schen Güterkomplexen in Preußisch-Schlesien. Von Jos. Heisig. Ebd., 339; Stieda, Wilhelm: Wirtschaftsgeschichte der preußischen Provinz Schlesien in der Zeit ihrer provinziellen Selbständigkeit. Von Hermann Fechner. Ebd., 102 (1909) 620–622. 102 Schaube, Kolmar: Breslaus kommunale Wirtschaft um die Wende des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Städtegeschichte von Dr. Max Gebauer. In: Historische Zeitschrift 99 (1907) 614–616. 103 Oncken, Hermann: Gustav Freytag und Herzog Ernst von Coburg im Briefwechsel 1853– 1893. Herausgegeben von Eduard Tempeltey. In: Historische Zeitschrift 96 (1906) 271–278. 104 Sickel, Theodor: Das k. k. Institut für österreichische Geschichtsforschung. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 1 (1880) 1–18.

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Interesse der Österreicher für Schlesien, anders als noch zu Zeiten Maria Theresias, im späten 19. Jahrhundert merklich nachgelassen hatte,105 sind schlesienrelevante Beiträge im Untersuchungszeitraum nur marginal zu verzeichnen. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung in Form eines Jahrbuchs herausgegeben wurden. Bis einschließlich 1914 erschienen 35 Bände, in denen insgesamt lediglich 14 Rezensionen mit Schlesienbezug veröffentlicht wurden. Darunter befanden sich drei Besprechungen von schlesischen Fachzeitschriften, die unter der Rubrik „Die historische periodische Literatur Böhmens, Mährens und Schlesiens“ von dem mährischen Landeshistoriker und späteren Leiter des Brünner Stadt- sowie des mährischen Landesarchivs, Dr. Berthold Bretholz, vorgestellt wurden. Im Gegensatz zu Böhmen und Mähren stellte Schlesien darin jedoch bloß eine Randerscheinung dar.106 Einzelne rezensierte Artikel entstammten verschiedenen Zeitschriften beziehungsweise Reihen, mitunter auch aus Österreichisch-Schlesien. In den übrigen Besprechungen finden sich teilweise Werke, deren Verfasser uns bereits aus der Historischen Zeitschrift bekannt sind. Zwei Werke Gottlieb Biermanns über die Geschichte des Herzogtums Teschen107 beziehungsweise die Geschichte des Protestantismus in Österreichisch-Schlesien108 wurden von Bretholz kurz und sachlich besprochen. Ebenfalls wurden zwei Publikationen Grünhagens über den Ersten Schlesischen Krieg vorgestellt. Der Innsbrucker Historiker Alfons Huber lobte Grünhagen für dessen erschöpfende Archivarbeit und ausgewogene Haltung, da er trotz seiner erkennbaren Sympathien für Preußen auch den Standpunkt der Gegner Preußens gewürdigt habe.109 Auch die bereits in der Historischen Zeitschrift rezensierte Arbeit von Gustav Bauch über die Geschichte des Breslauer Schulwesens in der Zeit der Reformation wurde vom Wiener Autor Karl Beer besprochen.110

105 Bahlcke, Joachim: Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2016 (Forschungen zu Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3), 239–279. 106 Nur in drei Bänden wurde unter dieser Rubrik der Schlesienbezug hergestellt – konkret in den Bänden 16 (1895), 24 (1903) und 28 (1907) –, während in den übrigen Ausgaben lediglich Böhmen behandelt wurde. 107 Bretholz, Berthold: G. Biermann, Geschichte des Herzogthums Teschen. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 16 (1895) 692. 108 Ders.: Geschichte des Protestantismus in Oesterreich-Schlesien. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 20 (1899) 136. 109 ����������������������������������������������������������������������������������������� Huber, A[lfons]: Dr. C. Grünhagen, Archivrath und Professor, Geschichte des Ersten Schlesischen Krieges nach archivalischen Quellen dargestellt 1. B. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 3 (1882) 157–159. Band 2 des Werkes wird ebd., 317– 321, besprochen. 110 Beer, Karl: Geschichte des Breslauer Schulwesens vor der Reformation. Namens des Vereines für Geschichte Schlesiens herausgegeben von Gustav Bauch (Codex diplomaticus Silesiae XXV). In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 34 (1913) 693–697.

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Zur schlesischen Landes- und Kulturkunde steuerte Bretholz drei Kurzrezensionen über das Kloster Leubus bei. Abgesehen von einem Beitrag des polnischen Historikers Olgierd Górka,111 stellten die beiden übrigen Werke von Viktor Seidel112 und von Walter Thoma113 die deutsche Besiedlung Schlesiens in den Vordergrund. Die zuletzt genannte Publikation, eine in Leipzig vorgelegte Dissertation, widme sich der großartigen Tätigkeit, „welche die Leubuser Mönche für Colonisation und Germanisation“ entwickelt hätten.114 Der Rezensent Bretholz verwies dabei geradezu enthusiastisch auf das Meisterwerk Grünhagens zur Geschichte Schlesiens. Österreichbezogen war die Besprechung einer Publikation des Historikers Felix Rachfahl über die Geschichte der schlesischen Staatsverwaltung vor dem Dreißigjährigen Krieg.115 Abermals war es Bretholz, der Rachfahl nicht nur für dessen gewissenhafte Arbeit, sondern auch für den wichtigen Beitrag zur Erforschung der Verwaltungsgeschichte Österreichs lobte. Bretholz hob besonders hervor, dass der Verfasser der organisatorischen Kraft und Fähigkeit der Krone zur Zeit der habsburgischen Herrschaft in Schlesien im Gegensatz zu den geringen Verdiensten der Stände im Oderland Anerkennung gezollt habe. Für die schlesische Wirtschaftsgeschichte interessierte sich der Wiener Historiker Ludwig Bittner, der in einer Sammelrezension zwei Werke über die Geschichte des Bergregals in Schlesien vom Mittelalter bis zum Ende der österreichischen Herrschaft besprach.116 Im Gegensatz zu den übrigen Rezensionen stach diese Besprechung durch eine intensive Auseinandersetzung hervor. Der Rezensent fasste die Forschungsfragen zusammen und erläuterte sachlich die Fachdiskussion. Hierbei stellte er die Frage in den Vordergrund, ob die schlesischen Herzöge als souveräne Fürsten bereits im 12. und 13. Jahrhundert das Bergregal in vollem Umfang besessen und unter der böhmischen beziehungsweise habsburgischen Herrschaft behauptet hätten. Dabei wurden auch verfassungsrechtliche Fragen zur allgemeinen Stellung der schlesischen Standesherrschaften erörtert und die Frage aufgeworfen, ob diesen Standesherrschaften das Bergregal in uneingeschränkter Weise zugestanden habe. 111 �������������������������������������������������������������������������������������������� Bretholz, Berthold: Gorka, Über die Anfänge des Klosters Leubus. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 35 (1914) 518. 112 Ders.: Seidel, Der Beginn der deutschen Besiedlung Schlesiens. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 35 (1914) 518. 113 Ders.: Walter Thoma, Die colonisatorische Thätigkeit des Klosters Leubus im 12. u. 13. Jahrh. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 18 (1897) 210–211. 114 Ebd., 210. 115 Ders.: Felix Rachfahl, Die Organisation der Gesammtstaatsverwaltung Schlesiens vor dem dreissigjährigen Kriege. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 18 (1897) 177–180. 116 Bittner, L[udwig]: E. Zivier, Geschichte des Bergregals in Schlesien bis zur Besitzergreifung des Landes durch Preussen, Kattowitz 1898; Acten und Urkunden zur Geschichte des schlesischen Bergwesens. Oesterreichische Zeit. Kattowitz 1900. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 22 (1901) 672–677.

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Drei in den Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung publizierte Annotationen berührten das Oderland nur am Rande. Zunächst stellte der Wiener Historiker Karl Uhlirz in einem Sammelbeitrag über unterschiedliche Bibliotheken auch die Funktionsweise des Zettelkatalogs der Universität Breslau vor.117 Die beiden weiteren Kurzannotationen gingen auf eine Studie Konrad Wutkes über die lombardische Heerfahrt Herzog Boleslaws I. von Schlesien (rezensiert von Bretholz)118 sowie auf die Zeitschrift des Deutschen Vereines für die Geschichte Mährens und Schlesiens ein, wobei in diesem Fall der Schlesienbezug nur marginal war.119 Die wenigen in den Mitteilungen des Instituts für Österreichische ­Geschichtsforschung veröffentlichen Rezensionen zur schlesischen Historiographie zeichnen sich durch Kürze, eine nüchterne Zusammenfassung des Inhalts und nur gelegentliche ­fachliche Kommentare aus. Die Rezensenten waren allesamt Österreicher, wobei allein neun Besprechungen – also rund zwei Drittel aller Beiträge – aus der Feder des Archivars Berthold Bretholz stammten. Eine nationalpolitische Ausrichtung ist kaum zu beobachten. Aufgrund der nur marginalen Bedeutung der Region Schlesien in der Wiener Fachzeitschrift würde eine ideologiekritische Einordnung, wie sie im Fall der Historischen Zeitschrift geboten erscheint, fraglos eine Überinterpretation darstellen.

4. Der Kwartalnik Historyczny Der seit 1887 erscheinende Kwartalnik Historyczny (Historische Vierteljahrsschrift) ist die älteste historische Rezensionszeitschrift in Polen. Herausgegeben wurde sie vor dem Ersten Weltkrieg vom Towarzystwo Historyczne (Historische Gesellschaft), das am 14. Oktober 1886 in Lemberg gegründet worden war.120 Initiator der Gründung war der bekannte Lemberger Geschichtsprofessor Franciszek Ksawery Liske. Ihm zu Ehren wurde in den Gründungsstatuten festgeschrieben, dass Liske bis zu seinem Lebensende Vorsitzender bleiben solle. Zu seinem Stellvertreter wählte man den Professor für polnische Geschichte Tadeusz Wojciechowski, der nach Liskes Tod 1891 den Vorsitz der Gesellschaft übernahm und bis 1914 innehatte.121 In den Jahren 1894/95 war Wojciechowski überdies Rektor der Universität Lemberg, ab 1909 hatte er einen Sitz im österreichischen Herrenhaus. Wieviele Mitglieder die Gesellschaft bei der Gründung zählte, wird in der Vierteljahrsschrift nicht berichtet. Die ersten Berichte 117 Uhlirz, K[arl]: Instruction für die Ordnung der Titel im alphabethischen Zettelkatalog der kön. und Univ.-Bibliothek zu Breslau, ausgearbeitet von Dr. Carl Dziatzko. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 8 (1887) 665–669. 118 [ohne Titel]. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 32 (1911) 551. 119 [ohne Titel]. Ebd., 725. 120 Sprawozdania z posiedzeń Towarzystwa. In: Kwartalnik Historyczny 1 (1887) 135–142, hier 135. 121 Ebd., 140.

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mit genaueren Angaben zu Namen und Zahlen stammen aus dem Jahr 1898, als die Gesellschaft 281 ordentliche Mitglieder zählte.122 Die Gesellschaft stand grundsätzlich auch deutschen Forschern offen: Der in Breslau lehrende Polenkenner Richard Roepell etwa wurde in den Mitgliederverzeichnissen seit seinem Tod 1893 als verstorbenes ­Ehrenmitglied geführt. Der von der Redaktion der Zeitschrift verfasste Nachruf zeichnete ein Bild höchster Ehrerbietung und Wertschätzung gegenüber seiner Person und ihrer wissenschaftlichen Leistung.123 Anlässlich der Gründungssitzung skizzierte Aleksander Semkowicz, der später in Lemberg eine Professur übernahm und zwischen 1895 und 1905 die Redaktion der Vierteljahrsschrift leitete,124 in seiner Festrede die Zielsetzung der Gesellschaft. Semkowicz missbilligte die in Polen vorherrschende Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Vergangenheit. Während bei den Nachbarn im Westen und Süden seit Jahrzehnten ­historische Gesellschaften Tausende von Interessenten an der eigenen Heimatgeschichte zur Forschung angespornt hätten, habe es in Polen kaum vergleichbare Initiativen zur Gründung solcher Zusammenschlüsse gegeben – und falls doch, seien sie aufgrund mangelnden Interesses nicht überlebensfähig gewesen. Deutschland spielte dabei für Semkowicz eine Vorreiterrolle: Dort zählte er nicht weniger als 111 historische Gesellschaften. Es gebe keine deutsche Provinz, in der nicht wenigstens ein Verein tätig sei, keine Stadt, in der die Quellenerforschung in lokalen Archiven nicht gefördert würde. Man könne die Vorteile kaum beziffern, die solche historischen Gesellschaften dem deutschen Staat gebracht hätten: Sie trügen dazu bei, dass das deutsche Volk die Liebe zu seinem Vaterland entdeckt und den gesellschaftlichen Geist geweckt habe. Damit trügen diese Vereine entscheidend zur politischen Entwicklung des Landes bei. So könne der deutsche Bürger mit Stolz auf seine Geschichte zurückblicken, während sich die polnische Gesellschaft, die nur im Augenblick lebe, von der eigenen Vergangenheit abgewendet habe, ohne aus erhebenden Momenten der Geschichte Zuversicht für die Zukunft schöpfen und aus Fehlern der Vorväter lernen zu können. Aus diesem Grund sei das Towarzystwo Historyczne gegründet worden: um den Zusammenschluss all jener zu fördern, die von der historischen Bedeutung des eigenen Vaterlandes überzeugt seien und sie der breiten Öffentlichkeit präsentieren wollten.125

122 Sprawozdania z czynności wydziału Towarzystwa Historycznego we Lwowie tudzież Komitetu Redakcyjnego Kwartalnika Historycznego za rok 1897/8. In: Kwartalnik Historyczny 13 (1899) 7 (Beilage). 123 Finkel, L[udwik]: † Ryszard Roepell. In: Kwartalnik Historyczny 8 (1894) 193–198. Zum Lebenswerk Roepells vgl. Barelkowski, Matthias: Zwischen Breslauer Universität und Berliner Politik. Richard Roepell (1808–1893) als Historiker, liberaler Politiker und „Polenfreund“. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Gelehrte – Schulen – Netzwerke, 173–195. 124 Sprawozdanie z czynności wydziału Towarzystwa Historycznego we Lwowie tudzież Komitetu Redakcyjnego Kwartalnika Historycznego za rok 1904. In: Kwartalnik Historyczny 19 (1905) 3 (Beilage). 125 Sprawozdania z posiedzeń Towarzystwa. In: Kwartalnik Historyczny 1 (1887) 136.

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In der Festrede spiegelte sich der Wunsch der Lemberger Historiker wider, durch die Erforschung der gemeinschaftsstiftenden Momente der polnischen Geschichte die Vaterlandsliebe in der gebildeten Bürgerschicht zu fördern – wobei der westliche Nachbar Deutschland als Vorbild diente. Die Herausgeber der Vierteljahrsschrift blieben bemüht, die publizistische Entwicklung unter deutschen (und auch österreichischen)126 Historikern zu beobachten und deren wichtigste Veröffentlichungen ausführlich zu besprechen, zumindest aber zu annotieren. Dieses starke Interesse für die deutschsprachige Historikerwelt war zumindest in den ersten Ausgabejahren durchgehend zu beobachten, nahm an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert dann aber allmählich ab. Die Gründe dafür werden noch anzusprechen sein. Dass die Lemberger Herausgeber der Zeitschrift die Entwicklung der deutschen Geschichtsforschung genau beobachteten und daraus Schlüsse für die eigene Tätigkeit zogen, lässt sich an mehreren Stellen belegen. Bereits im dritten Erscheinungsjahr berichtete der Hauptherausgeber Liske unter der Rubrik „Bibliographie über die Auslandsliteratur“ über die deutschen Rezensionszeitschriften.127 Anlässlich der Publikation des Registers für die Bände 1 bis 36 wurde dem Leser zunächst die publizistische Ausrichtung der Historischen Zeitschrift ausführlich vorgestellt und das rege Interesse für die polnische Geschichte in den Rezensionsbeiträgen dieser Zeitschrift begrüßt. Anschließend wurden zwei weitere deutsche Zeitschriften besprochen: das von der Görres-Gesellschaft herausgegebene Historische Jahrbuch und die in Freiburg im Breisgau unlängst aufgelegte Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, die, wie der ­Redakteur anmerkte, doppelt so teuer sei wie das polnische Blatt. Gleichzeitig berichtete man, dass zwei weitere historische Fachblätter eingestellt worden seien: die Forschungen zur deutschen Geschichte sowie die Zeitschrift für allgemeine Geschichte. Mit der Historischen Zeitschrift und dem Historischen Jahrbuch seien damit (abgesehen von zahlreichen Blättern auf Provinzebene) nur noch zwei deutsche Zeitschriften auf dem Markt übriggeblieben, die sich ohne Einschränkung der allgemeinen Geschichte widmeten. Da das zuletzt genannte Blatt von der Görres-Gesellschaft gefördert werde und nur mit dieser Subventionierung überleben könne, sei die Historische Zeitschrift das einzige sich selbst tragende und Gewinn erwirtschaftende Publikationsorgan. Die Historische Zeitschrift könne sich nicht nur Honorarzahlungen leisten, sie unterhalte auch einen Hauptredakteur, einen Redaktionssekretär und einen Lektor. Die Einstellung gleich mehrerer Zeitschriften war für den polnischen Autor Indiz für das nachlassende Interesse der deutschen Öffentlichkeit an historischer Literatur. Die Redaktion hatte in dieser Hinsicht jedoch eine wichtige Erfahrung gemacht, die sie als mitteilenswert ansah: Die deutsche Gelehrtenwelt habe sich zum größeren Teil mit den

126 Mit dem Begriff „deutsch“ (niemiecki) wurde stets auch der österreichische Kulturraum einbezogen, so dass in diesem Beitrag keine Differenzierung zwischen „deutsch“ und „deutschsprachig“ vorgenommen wird. 127 Bibliografia literatury zagranicznej. In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 364–378.

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kritischen Abschnitten in Rezensionszeitschriften befasst. Wo immer die Herausgeber des polnischen Journals auf einem deutschen Gelehrtentisch die neueste Ausgabe der Historischen Zeitschrift gesehen hätten, seien die Bögen mit dem Rezensionsteil stets aufgeschnitten (und somit gelesen oder zumindest überflogen) worden, während die Fachartikel meist unberührt geblieben seien. Dies zeige, dass sich die deutsche Gelehrtenwelt hauptsächlich für Rezensionen interessiere.128 Diese Beobachtung führte dazu, dass der Kwartalnik Historyczny in den Anfangsjahren nur vergleichsweise wenige Fachartikel abdruckte, das Hauptgewicht dagegen auf den Besprechungsteil legte. Erst um 1900 glichen sich beide Zeitschriftenteile stärker einander an. Der Besprechungsteil bestand aus „hauseigenen“ Rezensionen und Berichten sowie aus Annotationen beziehungsweise kurzen Auflistungen von Rezensionen aus anderen Fachzeitschriften sowie aus einer bibliographischen Auflistung der neuesten ausländischen Literatur. Im Folgenden werden lediglich die hauseigenen Rezensionen ausgewertet. Der Kwartalnik Historyczny verfügte seit seiner Erstauflage über einen größeren Stab an auswärtigen Rezensenten, auch von deutschen Gelehrten, so dass die Leser gut über die relevanten deutschsprachigen Abhandlungen der Geschichtswissenschaft informiert wurden. In jeder Ausgabe wurden die bedeutendsten Fachzeitschriften ausgewertet, unter anderem die Historische Zeitschrift, die Forschungen zur deutschen Geschichte, das Historische Jahrbuch (im Auftrag der Görres-Gesellschaft), das Archiv für Literaturund Kirchengeschichte des Mittelalters, das Neue Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, die Mittheilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, das Archiv für österreichische Geschichte sowie die Zeitschrift für allgemeine Geschichte, Cultur-, Literatur- und allgemeine Kunstgeschichte. Regionalspezifische Fachzeitschriften, unter anderem für Schlesien, führte man in den Einzelausgaben zwar nicht an; man besprach jedoch einzelne Beiträge, sofern sie der Redaktion als relevant erschienen.129 Von den schlesischen Fachblättern erfreute sich die Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens des größten Interesses. Ein zahlenmäßig starker Teil der Rezensionen im Kwartalnik Historyczny bezieht sich auf Publikationen aus eben dieser Breslauer Vereinszeitschrift. Besonders interessant ist die publizistische Tätigkeit deutscher Fachleute. Bei einem kurzen Aufenthalt in Lemberg wurde der Chemnitzer Philologe, Slawist und Historiker Asmus Soerensen von der Redaktion der Vierteljahrsschrift gebeten, einen Bericht über den zweiten Deutschen Historikertag zu liefern, der an den letzten drei Märztagen 1894 in Leipzig stattgefunden hatte und an dem rund 350 Historiker teilgenommen hatten.130 Seine Ausführungen sind aufschlussreich, weil sie dem polnischen Fachpubli128 Vgl. mehrere Kurzrezensionen über deutsche Zeitschriften in: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 367–371. 129 Bibliografia dzieł zagranicznych. In: Kwartalnik Historyczny 1 (1887) 132. 130 Soerensen, Asmus: Drugi zjazd historyków niemieckich w Lipsku. In: Kwartalnik Historyczny 8 (1894) 554–560. Zum inhaltlichen Ablauf des Historikertags vgl. Przebieg zjazdu podajemy

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kum von heftigen Auseinandersetzungen in der deutschen Gelehrtenwelt im Nachklang des Historikertags berichteten. Der Autor kritisierte zunächst die schlechte Durchführung der Veranstaltung und stellte ihr das polnische Pendent – das zweite ­Treffen polnischer Historiker hatte 1890 unter der Ägide des polnischen ­Towarzystwo Historyczne in Lemberg stattgefunden – als das organisatorisch besser gelungene Beispiel gegenüber. Soerensen störte sich überdies am Massencharakter des Historikertags, als wenig prominenter Teilnehmer habe er sich dort recht einsam gefühlt. Den Kern von Soerensens Bericht stellte jedoch die heftige Polemik dar, die der Münchener Professor Ludwig Quidde im Feuilleton der Frankfurter Zeitung vom 3. und 5. Mai 1894 ausgelöst hatte. Als Begründer der Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft und Initiator der Historikertage war Quidde einer der prominentesten Vertreter der Historikerzunft. Er hatte seine antimonarchistische Haltung offen gezeigt und an den zahlreichen „Loyalitätsbekundungen und Huldigungsdepeschen“131 des Historikertags vernichtende Kritik geübt, wodurch er nicht nur die Gelehrtenwelt aufgescheucht hatte. Da das Ende der Veranstaltung auf den Geburtstag des Altkanzlers Bismarck fiel, sei zudem ein „bedingungsloser Bismarckkult“ zu Tage getreten.132. Soerensen störte sich daran schon deshalb, weil die konträre Haltung Bismarcks zu Kaiser Wilhelm II. die Gesellschaft tief gespalten habe. Das habe zahlreiche Historiker jedoch nicht davon abgehalten, beiden zu huldigen. Soerensen gelangte zu dem Fazit, dass Gelehrtentreffen wie die Historikertage keine Zukunft hätten, wenn sich politische Auseinandersetzungen in diesem Ausmaß wiederholen sollten. Der Autor appellierte, den wissenschaftlichen Austausch auch mit Historikern der Nachbarnationen zu pflegen, unabhängig von deren politischer Gesinnung oder konfessioneller Zugehörigkeit.133 Diese einführende Charakterisierung des Zeitschriftprofils ist wichtig, um die schlesienkundlichen Rezensionen im Kwartalnik Historyczny angemessen einordnen zu können. Denn es ist einem weiteren deutschen Historiker zu verdanken, dass der Schlesienbezug in der Vierteljahrsschrift so intensiv gegeben war: August Wagner. Da im Inhaltsverzeichnis einer jeden gebundenen Jahresausgabe die Rezensenten namentlich und mit dem Ort ihres Wirkens aufgelistet wurden, wissen wir, dass Wagner in Breslau tätig war. Welche berufliche Affiliation Wagner auszeichnete, wird nur an einer Stelle indirekt angedeutet. In der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens publizierte Wagner einen Fachartikel, der dann im Kwartalnik Historyczny besprochen wurde.134 Darin berichtete der Rezensent, dass der tschechische Archivar und Historiker Hynek Kollmann vom böhmischen Landtag Forschungsgelder bekom-

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wedle sprawozdań Leipziger Zeitung z r. 1894 nr. 71–75. In: Kwartalnik Historyczny 8 (1894) 560–565. Soerensen: Drugi zjazd, 556. Ebd., 557. Ebd., 558. Semkowicz, Aleksander: Wagner August dr.: Schlesisches aus dem vatikanischen Archive in Rom aus den Jahren 1316–1371. In: Kwartalnik Historyczny 6 (1892) 154.

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men habe, um in den vatikanischen Archiven nach Regesten zu suchen. Kollmann habe 395 schlesienbezogene Regesten entdeckt, die er abgeschrieben und der Direktion des Breslauer Staatsarchivs überreicht habe – wo sie dann offensichtlich von Wagner wissenschaftlich ausgewertet wurden. Dieser stellte den Lesern in seiner Abhandlung den Inhalt dieser Regesten aus dem 14. Jahrhundert vor. Dies blieb die einzige Arbeit Wagners, die in der Vierteljahrsschrift rezensiert wurde. Dafür steuerte Wagner selbst in den ersten acht Erscheinungsjahren des Kwartalnik Historyczny (also von 1887 bis 1894) insgesamt 69 Rezensionen schlesienbezogener Publikationen bei. Das ist mehr als die Hälfte aller einschlägigen Besprechungen, die im gesamten Untersuchungszeitraum erschienen sind, denn in den Jahren 1887 bis 1914 veröffentlichte der Kwartalnik Historyczny nicht weniger als 126 Rezensionen mit Schlesienbezug und mehrere Fachartikel, die noch gesondert auszuwerten sind.135 Bloße Ankündigungen und unkommentierte Auflistungen von Silesiaca beziehungsweise Rezensionen und Artikel, in denen zwar ein entsprechender Schlüsselbegriff fällt, sonst aber der Schlesienbezug marginal ist, werden hier nicht berücksichtigt. Wagner blieb den Herausgebern der Zeitschrift jahrelang verbunden, denn bis einschließlich 1899 war er ordentliches Mitglied des Towarzystwo Historyczne, auch wenn seine Rezensionstätigkeit 1895 abrupt aufhörte.136 Wagners fachliche Interessen waren breit gestreut, so dass er sich in seinen Besprechungen ganz unterschiedlicher Themen annahm. Am produktivsten waren die Jahre 1889 und 1890, in denen er ­allein 40 Rezensionen vorlegte. Abhandlungen zu landeskundlichen Aspekten im weitesten Sinn und zur niederschlesischen Lokalgeschichte nahmen dabei den breitesten Raum ein. In diesem Bereich wurden rund 50 der insgesamt 69 Rezensionen verfasst, wobei beide Themenbereiche gleichmäßig verteilt waren. Die übrigen Besprechungen betrafen die Geschichte Oberschlesiens, die politische Entwicklung und konfessionelle Aspekte der schlesischen Geschichte. Knapp die Hälfte der Besprechungen galt dem Zeitraum bis 1500, ein Drittel der Arbeiten, vor allem die lokalgeschichtlichen Studien, war epochenübergreifend ausgerichtet. Wagner pflegte einen völlig anderen Schreibstil als die Rezensenten der Historischen Zeitschrift. Es fehlen jegliche Polemik und die aggressive Tonart bei solchen Besprechungen, in denen der Rezensent mit den Forschungsergebnissen des Autors oder der Qualität von dessen Arbeit offenkundig nicht einverstanden war. Wagner berichtete sachlich und nüchtern, ergänzte mitunter den besprochenen Artikel, brachte Einwände vor, wo er inhaltliche Lücken sah, und fällte schließlich ein Urteil, das auf jegliche Spitzen verzichtete. Ging es um konfessionspolitische Aspekte, kritisierte der Rezensent die Auto135 Hingewiesen sei darauf, dass in Bezug auf Schlesien in den nachstehend vorgestellten ­polnischen Texten überwiegend die im 19. Jahrhundert übliche polnische Form Szląsk beziehungsweise das Adjektiv szląski verwendet wurden, nicht die heute gebräuchliche Formen Śląsk und śląski. 136 Sprawozdania z czynności wydziału Towarzystwa Historycznego we Lwowie tudzież Komitetu Redakcyjnego Kwartalnika Historycznego za rok 1899. In: Kwartalnik Historyczny 14 (1900) 19 (Beilage).

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ren allerdings häufiger wegen ihrer parteiischen Haltung. Dem Liegnitzer evangelischen Pastor Heinrich Ziegler, der eine deutlich antikatholisch motivierte Publikation über die Gegenreformation in Schlesien verfasst hatte, bescheinigte Wagner beispielsweise ein unausgewogenes, weder den Quellen noch dem Wissensstand der Fachhistoriker gerecht werdendes Urteil.137 Demgegenüber lobte der Rezensent den katholischen Geistlichen Johannes Soffner, der eine Darstellung der Reformation im Oderland vorgelegt hatte, für dessen grundsolide und erschöpfende Arbeit, für die der Autor sowohl alle verfügbaren Quellen gesichtet und ausgewertet habe.138 Es fällt auf, dass sich Wagner häufig religiöser Themen annahm und Werke zur katholischen Kirchengeschichte besprach, auch wenn diese nicht selten landeskundlicher Natur waren. Es darf vermutet werden, dass Wagner aus dem katholischen Milieu Breslaus stammte. Im Schülerverzeichnis des Breslauer ­Matthiasgymnasiums wird im Schuljahr 1863/64 ein Quintaner namens August Wagner aus Breslau aufgelistet, bei dem es sich um unseren Rezensenten handeln dürfte.139 Aus der Feder des erwähnten Theologen Soffner stammte eine Abhandlung über das Leben und literarische Wirken des im 16. Jahrhundert lebenden Breslauer Domherrn und Dompredigers Sebastian Schleugner. Mit Schleugners theologischen Schriften, so resümierte Wagner in seiner Rezension, setze sich der von den Historikern vernachlässigte Domherr der „betrüblichen“ Überzeugung der schlesischen Katholiken entgegen, es habe in Schlesien niemanden gegeben, der sich im Jahrhundert der Reformation der „neuen Lehre“ entgegengestellt hätte.140 Da der Domherr als eine „wahre Zierde des ­Breslauer Domkapitels“141 und als ein herausragender Schlesier des 16. Jahrhunderts gewürdigt wurde, überreichte man das Werk dem Breslauer Weihbischof Hermann ­Gleich anlässlich seines fünfzigjährigen Priesterjubiläums als Festschrift. Als Beilage erhielt der Jubilar ferner eine Abhandlung des Breslauer Archivars Paul Pfotenhauer über die Geschichte der Weihbischöfe von Breslau. Diese Arbeit war vom Schlesischen Museum für Kunstgewerbe und Altertümer in Auftrag gegeben worden. Sie wurde von Wagner aufgrund der fundierten, quellenbasierten Forschung positiv gewürdigt.142 Im Gegensatz dazu sparte Wagner bei einer ähnlichen Arbeit über die Prälaten des Breslauer Domstifts bis 1500 nicht mit Kritik, da diese lediglich eine Namensauflistung enthalte.143 137 Wagner, August: Heinrich Ziegler: Die Gegenreformation in Schlesien (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte). In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 525–527. 138 Ders.: Geschichte der Reformation in Schlesien, v. Erzpriester Dr. Johannes Soffner, Pfarrer in Oltaschin bei Breslau. In: Kwartalnik Historyczny 2 (1888) 462–463. 139 Jahres-Bericht des königlichen katholischen Gymnasiums zu Breslau für das Schuljahr 1863/64. Breslau 1864, 26. 140 Wagner, August: Johannes Soffner, Sebastian Schleugner: Domherr und Domprediger zu Breslau, gest. 1572. In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 527–529. 141 Ebd., 527. 142 Ders.: Paul Pfothenhauer: Zur Geschichte der Weihbischöfe von Breslau. In: Kwartalnik ­Historyczny 3 (1889) 529–530. 143 Ders.: Die Praelaten des Breslauer Domstiftes bis zum Jahre 1500. In: Kwartalnik Historyczny 4 (1890) 771.

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Aus der von Hermann Markgraf herausgegebenen Reihe Schlesisches Urkundenbuch besprach Wagner ausführlich die Quellendokumentation über die Stiftung des Bistums Breslau. Er würdigte sie als ein grundsolides Werk.144 Ein ähnlich großes Interesse bekundete der Rezensent an der Abhandlung über die Rolle des Bistums Breslau beim Konzil von Basel, bei dem sowohl die um Papst Eugen IV. versammelten Prälaten als auch die Konziliaristen um die Gunst des Breslauer Bischofs und Kapitels rangen.145 Mit sachlicher Nüchternheit besprach Wagner ferner Carl Weigelts Fachartikel über den gewaltsamen Glogauer Kirchenstreit zwischen 1564 und 1609, zu dem es gekommen war, nachdem der Kaiser den Protestanten das ihnen durch die Beschlüsse des Augsburger Religionsfriedens zustehende Recht auf ein Gotteshaus vehement verweigert hatte.146 Eine Abhandlung über die Geschichte der zwischen Leobschütz und Oberglogau gelegenen Zisterzienserpropstei Kasimir in Oberschlesien, die auf der Grundlage von Visitationsberichten im Oppelner Archidiakonat des Bistums Breslau verfasst worden war, stieß bei Wagner aufgrund der fundierten Quellenauswertung auf Wohlwollen. Der Rezensent zitierte den Autor dahingehend, dass die Propstei ein „Denkmal an Wohltaten“ sei, das Schlesien seinen „edlen Fürsten aus dem Piastenhaus und den deutschen Mönchen“ verdanke.147. Gerade der Verfasser des letztgenannten Werkes verdient eine größere Aufmerksamkeit, die er beim Rezensenten Wagner auch erhielt. Es handelte sich um Augustin Bogislaus Weltzel, einen aus Niederschlesien stammenden katholischen Geistlichen, der in den letzten vier Jahrzehnten seines Lebens als Pfarrer im oberschlesischen Tworkau bei Ratibor tätig war. Bekannt wurde Weltzel für seine zahlreichen Arbeiten über oberschlesische Städte und Adelsgeschlechter, die er noch in hohem Alter verfasste. Weltzels Schaffen ist deshalb verdienstvoll, weil der Pfarrer die bedeutendsten Landes- und Staatsarchive in den preußischen und österreichischen Ländern nach Quellen durchsuchte und sich anders als viele Geistliche seiner Zeit nicht allein auf Ortschroniken beschränkte. Weltzel war bei vielen Archivaren und Historikern im Oderland zudem ein geschätzter Ansprechpartner. So unterstützte er Colmar Grünhagen und dessen Assistenten Konrad Wutke bei der Herausgabe des 16. Bandes der Regesten zur schlesischen Geschichte, indem er die oberschlesischen Ortschaften auf korrekte Schreibweise überprüfte; von den Herausgebern wurde ihm dafür gedankt, wie Wagner in seiner Rezension eigens

144 Ders.: Codex diplomaticus Silesiae. Tomus XIV. Liber fundationis episcopatus Vratislaviensis. In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 519–523. 145 Ders.: Acta Nicolai Gromis. Urkunden und Actenstücke betreffend die Beziehungen Schlesiens zum Baseler Concile. Herausgegeben von Wilhelm Altmann. In: Kwartalnik Historyczny 4 (1890) 565–567. 146 Ders.: K. Weigelt: Der Kirchenstreit in Gross-Glogau (1564–1609). (Zeit. f. Gesch. u. Alt. Schles.). In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 145–146. 147 Ders.: Die Cisterzienser-Probstei Kasimir. Von Dr. A. Weltzel in Tworkau. In: Kwartalnik ­Historyczny 4 (1890) 768–769, hier 769.

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hervorhob.148 In einer Sammelrezension dreier Werke Weltzels über die Festung Cosel, die Stadt Sohrau und die Pfarrei Pogrzebin bei Ratibor würdigte Wagner den „unermüdlichen“ Verfasser als einen bedeutenden „Historiker von Oberschlesien“.149 In der Besprechung der Monographie Weltzels über die Besiedlung des Oppagebietes lobte er den „äußerst verdienten Meister der oberschlesischen Lokalgeschichte“ dafür, dass sich dessen Arbeit mit großer Spannung lese.150 Damit wurde Weltzels Studie gänzlich anders bewertet als in der Historischen Zeitschrift. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wie sich ein deutscher Historiker aus ­Breslau wie August Wagner, der aus einem katholischen Milieu stammte und ­aufgrund seiner Mitgliedschaft im Lemberger Towarzystwo Historyczne regen Kontakt zu polnischen Kollegen unterhielt, in nationalen Fragen im Bereich der schlesischen Landeskunde positionierte. Aufschluss hierzu gibt eine Rezension Wagners von 1890 über einen in der Zeitschrift des Breslauer Geschichtsvereins publizierten Fachartikel Konrad Wutkes, der von nationalen Kämpfen im Zisterzienserinnenstift Trebnitz zu Beginn des 17. Jahrhunderts handelte.151 Das gemäß dem Willen der Stifter, Herzog Heinrich und seiner Gemahlin Hedwig, 1203 gegründete Kloster sollte demnach zum „Träger der deutschen Zivilisation und Kultur“ werden.152 Aufgrund seiner grenznahen Lage zu Polen und umgeben von einer nahezu geschlossen polnischsprachigen Bevölkerung, die das Grab der „heiligen polnischen Patronin“ tief verehrt habe,153 habe der polnische Adel das Kloster als eine polnische Stiftung angesehen, in die er seine Töchter entsandte. Dies habe – besonders bei den Wahlen einer neuen Äbtissin – ständig zu Konflikten zwischen deutschen und polnischen Nonnen geführt, die erstmalig 1583 beurkundet worden seien. Als pater immediatus leitete der Abt der Zisterzienserabtei Leubus die Äbtissinwahlen. Die Herzöge von Oels, die im Laufe des 16. Jahrhunderts die neue Lehre angenommen hatten, versuchten als Landesherren, auf die Wahlen des in ihrem Herrschaftsgebiet liegenden Klosters Einfluss zu nehmen. Nachdem die deutsche Äbtissin Maria von Luck 1610 offen den lutherischen Glauben angenommen hatte, legte

148 Ders.: Grünhagen Colmar und Wuttke Conrad: Regesten zur schlesischen Geschichte 1301– 1315. In: Kwartalnik Historyczny 7 (1893) 524–525. 149 Ders.: Augustin Weltzel: Geschichte der Stadt, Herrschaft und ehemaligen Festung Kosel, aus Urkunden und amtlichen Aktenstücken bearbeitet; Geschichte der Stadt Sohrau in Oberschlesien, aus Urkunden und amtlichen Aktenstücken bearbeitet; Chronik der Parochie Pogrzebin. In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 336–338, hier 336. 150 Ders.: Weltzel August Dr.: Besiedelungen des nördlich der Oppa gelegenen Landes. Nach Urkunden und amtlichen Schriftstücken. Theil II. In: Kwartalnik Historyczny 7 (1893) 678– 679. 151 ��������������������������������������������������������������������������������������� Wagner, August: Nationale Kämpfe im Kloster Trebnitz. Von Dr. R. Wuttke. I. Die Polonisirung des Stiftes. (Zeitschrift des Vereines für Geschichte und Altert. Schlesiens) tom 24, str. 1–30. In: Kwartalnik Historyczny 4 (1890) 567–568. In der Rezension wird der Verfasser fälschlicherweise als „R. Wuttke“ angegeben. 152 Ebd., 567. 153 Ebd.

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sie ihr Amt nieder, trat zusammen mit vier weiteren Nonnen aus dem Kloster aus und heiratete. Dies habe im Konvent zu heftigen Turbulenzen geführt und sei als eine offensichtliche antikatholische Haltung der deutschen Nonnen angesehen worden. Der Dreißigjährige Krieg habe zudem zur Verschlechterung der Klosterdisziplin beigetragen. Bei mehreren Visitationen in den Jahren 1651 bis 1659 beschwerte sich der Leubuser Abt über die prekären Verhältnisse, und auch der Heinrichauer Abt Heinrich kritisierte 1665 in seiner Funktion als Generalvikar die Streitigkeiten der Nonnen „um die Nationalität“154. Nach dem Tod der Äbtissin Hedwig IV. 1674 trugen von den 31 Nonnen nur noch vier deutsche Namen, so dass der Konvent die Polin Katarzyna Krystyna Pawłowska aus Würben zur Äbtissin wählte, was zur „entschiedenen Polonisierung des Klosters“ geführt habe.155 Wagner stellte die Forschungsergebnisse Wutkes in seiner Rezension ausgesprochen sachlich dar und betonte, dass diese durch eine solide Auswertung des ehemaligen Archivbestands des Herzogtums Oels, der sich nunmehr im Breslauer Staatsarchiv befinde, gewonnen worden seien. Wagner bilanzierte, dass die vorliegende Arbeit nur der erste Teil einer geplanten umfassenderen Abhandlung sei. Er hatte keine Schwierigkeiten damit, den Autor für dessen ruhige und klare Auslegung zu loben; er selbst vermied jeglichen Kommentar und jede parteiische Bewertung, die seine eigene nationale Gesinnung verraten hätte. Die zurückhaltende Art Wagners zeigte sich auch bei weiteren Besprechungen, insbesondere von Arbeiten über die Entwicklung Schlesiens im Mittelalter, die Rezensenten der Historischen Zeitschrift zu durchaus parteiischen Schlussfolgerungen motiviert hatten. Was eine Abhandlung Georg Wendts über die Germanisierung der Länder östlich der Elbe betrifft, so interessierte sich der Rezensent für die Ausführungen des Verfassers über das Verhältnis der sich östlich der Elbe ansiedelnden Deutschen zu den Slawen. Aufgrund der geringen Zahl der deutschen Siedler könne in den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts nicht von einer Germanisierung gesprochen werden. Der zweite Teil der Abhandlung, der die Jahre 1137 bis 1181 behandelte, war für den Rezensenten von größerer Bedeutung, da die „deutsche Kolonisierungswelle“156 nun auf die slawischen Länder übergeschwappt sei, die aufgrund der ökonomischen Wehrlosigkeit der lokalen Bevölkerung schnell germanisiert worden seien. Dieser Prozess sei durch die Orden der Prämonstratenser und vor allem der Zisterzienser in Brandenburg, Schlesien und Pommern beschleunigt worden. Als besonderen Verdienst sah Wagner die detaillierten Ausführungen des Autors über die regionalen Unterschiede in der ­rechtlichen Durchsetzung der Kolonisation an. In ähnlichem Stil besprach Wagner die Abhandlung von Oskar Breitenbach über das Land Lebus unter den Piasten, das im frühen 12. Jahrhundert von Polen bewohnt worden sei und durch die Eingliederung in

154 Ebd., 568. 155 Ebd. 156 Ders.: Die Germanisierung der Länder östlich der Elbe. Von Dr. Georg Wendt. In: Kwartalnik Historyczny 4 (1890) 766–768, hier 767.

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das Herrschaftsgebiet des Erzbistums Magdeburg sowie der askanischen Markgrafen im Laufe des 13. Jahrhunderts einen deutschen Charakter angenommen habe.157 Dieselbe Argumentationsweise verwendete der Breslauer Mediävist Karl ­Weinhold in seinem Werk über die Verbreitung und die Herkunft der Deutschen in Schlesien.158 Anders als in den übrigen Reichsteilen an Elbe, Saale und Donau sei Schlesien im 13. ­Jahrhundert nicht mit Gewalt erobert, sondern durch friedliche Wanderungsvorgänge erschlossen worden. Dieser Prozess sei von der Herrschaftsgewalt gefördert worden, da sich Herzog Boleslaw I. und sein Sohn Heinrich I. jeweils eine Deutsche zur Frau genommen und die Einwanderung deutscher Siedler begünstigt hätten. Die Germanisierung der Bevölkerung sei letztlich auf die Tätigkeit deutscher Mönche, namentlich der Zisterzienser von Leubus, zurückzuführen, so dass die rund um Liegnitz gelegenen Dörfer bereits gegen Ende des 12. Jahrhunderts deutschsprachig geworden seien. Der Rezensent Wagner hielt auch die Ausführungen Weinholds zum 18. und 19. Jahrhundert für erwähnungswert, wonach in den Gebieten auf dem linken Oderufer, vor allem in den Landkreisen Breslau, Ohlau und Strehlen, gegen Ende des 18. Jahrhunderts die polnische Sprache noch nicht vollends verschwunden gewesen sei. Dadurch sei den „Germanisatoren“159 noch allerlei Arbeit geblieben, während die Gebiete am ­rechten Oderufer ohnehin für polnisch gehalten worden seien. Wagner führte mehrere Statistiken des Verfassers an, die den zahlenmäßigen Anstieg der slawischen Bevölkerung Preußisch-Schlesiens belegten. Seien noch 1837 knapp 600.000 Slawischsprachige gezählt worden, so seien es 1886 bereits rund 1,26 Millionen Personen gewesen. Zum Schluss fasste Wagner die Ausführungen Weinholds über die Abstammung der Schlesier im Mittelalter dahingehend zusammen, dass ein maßgeblicher Teil der deutschen Schlesier die Thüringer und Franken als ihre Vetter aus entlegenen Zeiten betrachten könnten.160 Wagner rezensierte noch weitere Abhandlungen über die mittelalterliche Besiedlung Schlesiens sowie lokalgeschichtliche Studien und griff dabei auch auf Werke zurück, die sich mit dem Verhältnis zwischen Germanen und Slawen zwischen Elbe und Weichsel seit der Antike befassten.161 Auf mediävistische Arbeiten zur deutschen Geschichte des Oderlands bezogen sich ebenfalls mehrere seiner Rezensionen. Dazu gehören etwa sieben Besprechungen von Publikationen über das Glatzer Land. Diese handelten von dessen mittelalterlichen Geschichtsquellen,162 dem Verlauf der 157 Ders.: Breitenbach, dr.: Das Land Lebus unter den Piasten. In: Kwartalnik Historyczny 5 (1891) 670–672. 158 Ders.: Die Verbreitung und die Herkunft der Deutschen in Schlesien. Von Dr. Karl Weinhold, o. Prof. an d. Univ. Breslau. In: Kwartalnik Historyczny 2 (1888) 460–462. 159 Ebd., 461. 160 Ebd., 461f. 161 Ders.: Dr. Kopietz: Die geographischen Verhältnisse Schlesiens im Altertum. In: Kwartalnik Historyczny 5 (1891) 150–151. 162 Ders.: Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz, Band IV.: Das älteste Glatzer Stadtbuch 1324– 1412. Im Auszuge bearbeitet von Dr. Franz Volkmer, kgl. Seminar-Director. In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 523–524; ders.: Volkmer Franz Dr. u. Hohaus Wilhelm Dr.: Geschichts-

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deutschen Kolonisation des lange Zeit mit Böhmen verbundenen Ländchens163 und anderen landeskundlichen Aspekten.164 Weitere Besprechungen galten gesamtschlesischen Abhandlungen zu ganz unterschiedlichen Themen, die zeitlich schon mit der Vor- und Frühgeschichte ansetzten.165 Bei der Edition mittelalterlicher Urkunden wiederum interessierte sich Wagner nicht nur für deutsche Autoren,166 sondern auch für polnische. Mit einiger Begeisterung etwa besprach er eine Abhandlung des von ihm hochgeschätzten und bei Schlesienhistorikern bekannten Lemberger Forschers im Bereich der Diplomatik, Wojciech Kętrzyński, die in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens veröffentlicht worden war.167 Darin verwies Kętrzyński darauf, dass in Polen (und damit auch im ­piastischen Schlesien) vor dem 12. Jahrhundert keinerlei historische Urkunden ausgestellt worden seien, da mündlich ausgehandelte Verträge nach altem polnischem Brauch als bindend gegolten hätten und landesfürstliche Schenkungen an Bischöfe und Klöster daher ausschließlich mündlich vereinbart worden seien. Nicht wenige Urkunden aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts hätten sich entsprechend als nachträgliche Fälschungen erwiesen. Kirchliche Schenkungen seien tatsächlich erst nachträglich schriftlich legitimiert worden. Der Rezensent Wagner zeigte sich überzeugt, dass deutsche Schlesienforscher dem Verfasser für diese Abhandlung zu Dank verpflichtet seien. Wagner verfasste überdies mehrere Besprechungen von Büchern, die sich mit der Gesamtgeschichte des Oderlands beschäftigten. Als ausgesprochen gelungen stufte er eine entsprechende Publikation des Breslauer Schulrektors Michael Morgenbesser

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quellen der Grafschaft Glatz Bd. 5. Aeltestes Glatzer Amtsbuch oder Mannrechtsverhandlungen von 1346–1390. In: Kwartalnik Historyczny 6 (1892) 632; ders.: Dr. Volkmar und Dr. Hohaus, Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz II: Urkunden und Regesten zur Geschichte der Grafschaft Glatz von 1401 bis 1500. In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 334–335. Der Verfasser wird fälschlicherweise als „Volkmar Franz“ angegeben. Ders.: Ernst Mätschke: Geschichte des Glatzer Landes vom Beginn der deutschen Besiedelung bis zu den Hussitenkriegen. In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 143–144; ders.: Dr. Ernst Maetschke: Geschichte des Glatzer Landes bis zur Einwanderung der Deutschen. Vierteljahrschrift f. Gesch. u. Heimatskunde d. Grafsch. Glatz. Ebd., 793f. Ders.: Paul Knötel: Versuch einer Kunstgeschichte der Grafschaft Glatz (Vierteljahrschrift für Gesch. u. Heimatskunde d. Grafschaft Glatz). In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 791; ders.: Dr. Wilhelm Hohaus: Ursula, Markgräfin von Brandenburg, Gräfin von Glatz. Zeitschrift f. Gesch. u. Heimatskunde d. Grf. Glatz. Ebd., 794f. Ders.: Mertins O. Dr.: Die hauptsächlichsten prähistorischen Denkmäler Schlesiens. In: Kwartalnik Historyczny 8 (1894) 467–468; ders.: Die bemalten Thongefässe Schlesiens aus vorgeschichtlicher Zeit Namens des Vereins f. d. Museum schlesisch. Altertümer mit Unterstützung der Provinzialverwaltung herausg. v. Martin Zimmer. In: Kwartalnik Historyczny 4 (1890) 357–358; ders.: Dr. Grempler und A. Langenhan: Der 2. und 3. Fund von Sackrau. In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 524–525. Ders.: Unterlauff Max: Ein schlesisches Formelbuch des XIV Jh. Zeitschrift des Vereins f. Gesch. u. Altert. Schles. In: Kwartalnik Historyczny 8 (1894) 506–508. Ders.: Dr. W. von Kętrzyński: Einige Bemerkungen über die ältesten polnischen Urkunden (Z. d. Ver. f. G. u. Alt. Schl.). In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 531–532.

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ein, in der sich der Verfasser auf Vorarbeiten Stenzels und Grünhagens und diverse, in 27 Bänden der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens veröffentlichte Fachartikel gestützt hatte.168 Morgenbesser habe sein im Vorwort gegebenes Versprechen eingelöst, eine klar verständliche und vorurteilsfreie Arbeit unter Berücksichtigung neuester Forschungserkenntnisse vorzulegen. Für Wagner verfügte diese Abhandlung über größeres Potential, bei einem breitem Publikum auf Interesse zu stoßen, als etwa das für gewöhnliche Geschichtsinteressierte zu umfassende und auch zu teure mehrbändige Werk Grünhagens. Ähnlich interessiert rezensierte Wagner Hermann Markgrafs Überblick über die Entwicklung der gelehrten schlesischen Geschichtsschreibung.169 Diese habe sich ähnlich wie in anderen Regionen erst im 16. Jahrhundert etabliert und könne für Schlesien in drei Phasen untergliedert werden. Die erste Phase umfasse die Zeitspanne von dem „Beginne der kirchlichen Reaction“ bis zum Ende der österreichischen Herrschaft, die in „einem nie ausgeglichenen Widerstreit zwischen den Interessen des Herrscherhauses und denen des Landes“ verlaufen sei und zum Rückgang des Wohlstands im Lande geführt habe. Auch wenn die Geschichte Schlesiens im Laufe des 18. Jahrhunderts in den höheren Schulunterricht eingeführt worden sei, habe der protestantische Teil der Gesellschaft ein sorgfältiges Studium der Landesgeschichte vor der Reformation als nicht lohnenswert empfunden, weil das Mittelalter als „eine Zeit kirchlicher Verfinsterung“ wahrgenommen worden sei. Die zweite Phase der schlesischen Geschichtsschreibung umfasse die preußische Landnahme, der die Unterstützung der schlesischen Protestanten durch den schwedischen König Karl XII. zu Beginn des 18. Jahrhunderts vorausgegangen war, während die dritte Phase schließlich durch die nationaldeutsche Erweckung infolge der Napoleonischen Kriege geprägt sei, die zur Entstehung einer neuen deutschen Historiographie und Schlesienforschung geführt habe. Zu deren Vorreitern gehörten Büsching, Stenzel, Roepell, Wattenbach und Grünhagen. Bei dieser Rezension beschränkte sich Wagner lediglich auf die Repetition und Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen Markgrafs und enthielt sich jeder wertenden Kommentierung. Abhandlungen zur schlesischen Regionalgeschichte behandelte Wagner in meist kürzeren Rezensionen. Niederschlesien betrafen Arbeiten über die Stadt Striegau,170 das Franziskanerkloster in Jauer,171 das Schloss Jeltsch bei Ohlau172 und die Stadt Gold168 Ders.: Morgenbesser Michael: Geschichte von Schlesien. In: Kwartalnik Historyczny 7 (1893) 523–524. 169 Ders.: H. Markgraf: Die Entwickelung der schlesischen Geschichtsschreibung (Zeitschr. d. Ver. f. Gesch. u. Alt. Schles.). In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 141–142. Die nachfolgenden deutschen Zitate entstammen der rezensierten Arbeit von Markgraf. In Wagners Rezension finden sich diese Passagen in polnischer Übersetzung. 170 Ders.: Julius Filla: Chronik der Stadt Striegau von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1889. In: Kwartalnik Historyczny 4 (1890) 568–569. 171 Ders.: Dr. R. Volkmann: Urkundliche Beitraege zur Geschichte des Franciskanerklosters in Jauer. In: Kwartalnik Historyczny 5 (1891) 149–150. 172 Ders.: Pfotenhauer P.: Schloss Jeltsch bei Ohlau und seine historische Bedeutung. Zeitschr. des Vereines f. Gesch. und Alterth. Schlesiens. In: Kwartalnik Historyczny 6 (1892) 147–148.

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berg – wobei er diese für misslungen hielt, weil sie ohne Reflexion und gedanklichen Tiefgang verfasst worden sei;173 zudem kritisierte Wagner den tendenziösen Schreibstil des Verfassers, den er an dessen Behauptungen festmachte, Kaiser Leopold I. habe sich nur wenig um Schlesien gekümmert, die Habsburger insgesamt hätten die Tragweite des Verlusts Schlesiens erst in der Rückschau erkannt: „Wir scheiden daher gern von diesem Zeitabschnitte, der nur den dunklen Hintergrund für ein freundliches Bild geben kann, wie es sich nach der Besitznahme Schlesiens durch Preussens grossen König für Goldberg geleistet hat!“174 Dass diese Passage in der polnischen Textfassung der Rezension im deutschen Original zitiert wurde, verdeutlicht das Missfallen Wagners, der dem Leser empfahl, sich lieber an Grünhagens solider Abhandlung zur Geschichte Schlesiens zu orientieren. Deutlich freundlicher beurteilte Wagner eine Arbeit von Friedrich G. Adolf Weiß über die Chroniken der Stadt Breslau.175 Der Rezensent stufte das Werk als grundsolide, allerdings mit fast 1.200 Seiten als zu umfangreich ein – Quellen und Belege hätten gezielter ausgewählt werden müssen. Zudem habe der Autor ausgerechnet das 14. und 15. Jahrhundert zu wenig berücksichtigt, obwohl gerade der gegen Georg von Podiebrad und Matthias Corvinus geführte Kampf um Freiheit und Deutschtum die Stadt stark geprägt habe. Positiv würdigte Wagner die verständliche Sprache des Autors und dessen Verzicht auf konfessionelle Polemik – auch wenn man merke, dass der Verfasser Protestant sei, der das Wesen des katholischen Glaubens nicht wirklich erfassen könne. Als Beispiel führte Wagner an, dass Weiß unter Ablässen und Sündenvergebungen dasselbe verstehe.176 Unter der Maßgabe, dass der Autor in seinem Vorwort angemerkt habe, das Werk sei lediglich als „unterhaltendes Familien- und Nachschlagebuch“177 vor allem für Nichtkenner und Liebhaber der Heimat konzipiert, sei das Ziel erreicht worden. Die Studie sei jedoch von nachrangiger Bedeutung für die Fachwelt und komme an die Standardwerke eines Stenzel, Grünhagen oder Markgraf nicht ansatzweise heran. Markgraf hatte erst kurz zuvor eine Übersicht über die Geschichte Breslaus vorgelegt, die Wagner voller Hochachtung rezensierte: Das besondere Verdienst des Breslauer Stadtarchivars sei die äußerst knappe Form der Publikation, die nichts Wesentliches vermissen lasse.178 Aus dem Feld der oberschlesischen Regionalgeschichte behandelte Wagner Publikationen über das Prämonstratenserinnenkloster Czarnowanz,179 die Kollegiatkirche 173 Ders.: L. Sturm: Geschichte der Stadt Goldberg in Schlesien. In: Kwartalnik Historyczny 2 (1888) 464–466. 174 Ebd., 465. 175 Ders.: F. G. Adolf Weiß: Chronik der Stadt Breslau v. d. ältesten bis zur neuesten Zeit. In: Kwartalnik Historyczny 2 (1888) 463–464. 176 Ebd., 464. 177 Ebd., 463. 178 Ders.: H. Markgraf: Geschichte Breslaus in kurzer Uebersicht. In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 142–143. 179 Ders.: Beiträge zur Geschichte von Czarnowanz. Von Pfarrer Lic. Swientek (Zeit. f. Gesch. u. Alt. Schles.). In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 144.

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zu Ottmachau180 sowie zu den Städten Loslau181 und Oppeln. In seiner Besprechung zur Stadtgeschichte von Oppeln ging der Verfasser Ernst Wahner kritisch auf die Vorarbeit von Franz Idzikowski ein, was den Rezensenten Wagner wiederum zu einer Auseinandersetzung mit beiden Werken veranlasste.182 Interesse zeigte Wagner auch für die Geschichte der schlesischen Adelsgeschlechter. So verfasste er Besprechungen von Publikationen und Artikeln über die Genealogie der schlesischen Fürsten,183 deren mittelalterliche Bildnissiegel,184 die heraldische, an den jeweiligen Wappen orientierte Auflistung des gesamten Adels in Preußisch-Schlesien,185 den Pfandherrn von Ohlau Jakob Ludwig Sobieski186 und über die an der Grenze zu Polen gelegene Standesherrschaft Wartenberg, die bis 1490 zum Herzogtum Oels gehört hatte. Dabei interessierte sich der Rezensent vorrangig für die Spannungen zwischen dem deutschen und dem polnischen Adel, die am Beispiel der Freiherrn von Braun an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert dargestellt wurden.187 Wagner informierte die polnische Leserschaft auch über andere Ergebnisse der deutschen Schlesienforschung. Dazu gehörten Publikationen über die kartographischen Darstellungen des Oderlands,188 über kunsthistorische Werke zu schlesischen Epitaphien189 und zur Grabkunst190 sowie Abhandlungen über Kunstdenkmäler in den

180 Ders.: Die Pfarr- und Kolegiatkirche von St. Nikolaus in Ottmachau. Von Dr. Kopietz. In: Kwartalnik Historyczny 4 (1890) 770. 181 Ders.: Die Gründung der Stadt Loslau. Von Hirsch (Zeitschrift für Geschichte und Altert. Schlesiens). In: Kwartalnik Historyczny 4 (1890) 771–772. 182 Ders.: Dr. Ernst Wahner, Zur Geschichte der Stadt Oppeln. In: Kwartalnik Historyczny 5 (1891) 151–152. 183 Ders.: L. Neustadt: Beiträge zur Genealogie schlesischer Fürsten (Z. d. Verf. f. G. u. A. Schl.). In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 533. 184 �������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Roehl E. Dr.: Ueber die Bildnissiegel der schlesischen Fürsten im XIII und XIV. Jahrhundert. In: Kwartalnik Historyczny 7 (1893) 305–306. 185 Ders.: Der abgestorbene Adel der preussischen Provinz Schlesien. Von Konrad Blażek. In: Kwartalnik Historyczny 4 (1890) 769–770. 186 Ders.: Feit Paul Dr.: Jakob Ludwig Sobieski, Prinz von Polen, Pfandherr von Ohlau (Zeitschrift d. Ver. f. Gesch. u. Altert. Schles.). In: Kwartalnik Historyczny 7 (1893) 359–360. 187 Ders.: Die Herren von Braun als Besitzer der freien Herrschaft Wartenberg und Zustände unter deren Regierung. Von Josef Franckowski (Zeitschr. für Geschichte etc.). In: Kwartalnik Historyczny 4 (1890) 569–570. 188 Ders.: A. Heyer: Die Kartographischen Darstellungen Schlesiens bis zum Jahre 1720 (Z. d. Verf. f. G. u. Alt. Schl.). In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 792–793; ders.: Schulte W.: Die älteste kartographische Darstellung Schlesiens auf der Ebstorfer Mappa mundi. In: Kwartalnik Historyczny 7 (1893) 97–98. 189 Ders.: Knötel Paul Dr.: Geschichte des Epitaphs in Schlesien. Zeitschrift des Vereins f. Gesch. u. Altert. Schlesiens. In: Kwartalnik Historyczny 7 (1893) 306–308. 190 Ders.: Knötel Paul: Die Figurengrabmäler Schlesiens. In: Kwartalnik Historyczny 5 (1891) 648–649.

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Regierungsbezirken Liegnitz191 und Breslau.192 Die Ausführungen von Hans Lutsch zu den Beziehungen zwischen Niederschlesien und Polen im Grenzgebiet, etwa im Herzogtum Glogau, hielt Wagner schon allein deshalb für mitteilenswert, da sich dort die polnische Sprache in den umliegenden Dörfern am längsten gehalten habe.193 Besonders wohlwollend besprach der Rezensent ein landeskundliches Werk Franz Schrollers, in dem der Verfasser den Leser mit auf eine spannende Entdeckungsreise durch ganz Schlesien nehme.194 Nur selten brachte Wagner seine Gefühle so deutlich zum Ausdruck: Das Werk verdiene eine breite Leserschaft, es sei das Ergebnis intensiver Studien und liebevoller Beobachtungen. Bildlich beschrieb Wagner die geistige Schönheit des Buches, das den Leser auf eine gedankliche Wanderung durch das schlesische Gebirge, über die ertragreichen Böden Mittelschlesiens, zu den unterirdischen Schätzen des oberschlesischen Industriegebiets und nach Österreichisch-Schlesien schicke, Begegnungen mit den vielfältigen, germanischen wie slawischen Bevölkerungsgruppen der Region eingeschlossen. Als überaus lesenswert empfand Wagner zudem die Arbeit des Breslauer Geographieprofessors Joseph Partsch über die landes- und volkskundliche Literatur der Provinz Schlesien.195 Wagner verfasste ferner einige wenige Besprechungen von wirtschaftshistorischen Studien zur Handelsgeschichte Breslaus im Mittelalter196 sowie zu politikgeschichtlichen Publikationen. Interessant ist hierbei eine ausführliche Rezension des grundlegenden Werkes von Colmar Grünhagen über Schlesien unter König Friedrich II., wobei Wagner nur den zweiten Band besprach, der 1756 ansetzte und den Verlauf des Siebenjährigen Krieges zum Schwerpunkt hatte.197 Der Rezensent pries diese Arbeit als 191 Ders.: Lutsch Hans: Die Kunstdenkmäler des Reg.-Bezirks Liegnitz 3. In: Kwartalnik Historyczny 5 (1891) 647–648. 192 Ders.: Hans Lutsch: Die Kunstdenkmäler der Landkreise des Reg. Bez. Breslau: Bd. 3 Lief. 2.: Die Denkmäler des Fürstentums Schweidnitz; Lief. 3.: Die Denkmäler der Fürstentümer Brieg u. Breslau. In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 140–141. 193 Ders.: Hans Lutsch: Die Kunstdenkmäler der Landkreise des Reg. Bez. Breslau, Bnd. IV. u. a. In: Kwartalnik Historyczny 4 (1890) 359–360. 194 Ders.: Franz Schroller: Schlesien. Eine Schilderung des Schlesierlandes III. Mit 40 Stahlstichen und 46 Holzschnitten. In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 335–336. 195 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Partsch Josef: Litteratur der Landes- und Volkskunde der Provinz Schlesien. In: Kwartalnik Historyczny 8 (1894) 651–652. 196 Ders.: H. Markgraf: Zur Geschichte des Breslauer Kaufhauses (Z. d. V. f. G. u. A. Sch.). In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 533–535; ders.: Alphons Schuster: Berichte aus dem Jahre 1748 über die Sitte des Leikaufs in Schlesien (Z. d. V. f. G. u. A. Schl.). Ebd., 535–537; ders.: August Wagner: Rauprich Max: Breslaus Handelslage im Ausgange des Mittelalters. In: Kwartalnik Historyczny 6 (1892) 863–864; ders.: Eulenburg, Franz dr.: Ueber Innungen der Stadt Breslau vom XIII bis XV Jahrhundert. In: Kwartalnik Historyczny 7 (1893) 515–516; ders.: Kern Arthur Dr.: Der neue Grenzzoll in Schlesien, seine Begründung und Entwickelung 1556– 1624. Ebd., 707–710. 197 ����������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Grünhagen Colmar: Schlesien unter Friedrich dem Grossen 2: 1756–1786. In: Kwartalnik Historyczny 7 (1893) 157–159.

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eine solche von „außerordentlicher Bedeutung“ an.198 Er zeigte sich besonders davon angetan, wie unparteiisch Grünhagen die Haltung der schlesischen Bevölkerung zum preußisch-österreichischen Kriegsgeschehen und den wechselnden Kriegsverlauf selbst dargestellt habe. Das Mitgefühl Grünhagens für die vom Krieg nicht nur materiell, sondern auch moralisch ausgezehrte Bevölkerung Schlesiens hinterlasse beim Leser starke Eindrücke.199 Wagner würdigte die Ausführungen Grünhagens über den Landesausbau nach Kriegsende und die von Friedrich II. eingeleiteten Reformen, wobei der Verfasser auch Schwächen und Fehler des Monarchen benannt habe. Gleiches gelte für die ausführlich dargestellte Lage der katholischen Kirche. Wichtig erschien Wagner die Feststellung Grünhagens, dass in den letzten Herrschaftsjahren des Königs in Schlesien ein vollkommener Friede zwischen Katholiken und Protestanten geherrscht habe. ­Letztlich stimmte Wagner dem von Grünhagen gezeichneten Bild zu, wonach sich Schlesien unter Friedrich II. in vielen Bereichen fortschrittlich entwickelt habe. In kürzeren Rezensionen widmete sich Wagner weiteren politischen Themen, etwa einem Artikel Grünhagens in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens über angebliche österreichische Pläne zur Besetzung Breslaus 1741.200 Aus älteren Epochen erfolgten drei Besprechungen über die politische Korrespondenz Breslaus zur Zeit von König Matthias Corvinus,201 die Beziehungen der Reichsgrafen von Oppersdorff zu den polnischen Königen202 sowie über den von Herzog Nikolaus von Oppeln auf dem Neisser Landtag von 1497 verübten Mordversuch, der dem Herzog von Teschen und dem Bischof von Breslau gegolten hatte.203 Die übrigen 57 Rezensionen, die knapp die Hälfte aller vor 1914 verfassten Beiträge bilden, verteilen sich auf insgesamt 34 Rezensenten, die namentlich (33) oder mit Abkürzung genannt wurden. Acht Besprechungen sind redaktioneller Natur, daher nicht benannt. Die meisten Einzelbeiträge lieferte mit sieben Positionen in den Jahren 1887 bis 1891 der in Lemberg wirkende Aleksander Semkowicz ab, der zeitweise die Redaktion der Zeitschrift innehatte. Mit fünf Rezensionen war Franciszek Piekosiński (Krakau) in den Jahren 1887 bis 1891 mehrmals vertreten. Zum überwiegenden Teil waren die Rezensenten Polen. Hiervor gibt es lediglich drei Ausnahmen. Mit Max Perlbach (Halle) und Alexander Brückner (Berlin) verfassten zwei Deutsche je einen Bei-

198 Ebd., 159. 199 Ebd., 157. 200 Ders.: C. Gruenhagen: Oesterreichische Anschläge auf Breslau und Schweidnitz 1741 (Z. d. Ver. f. G. u. Alt. Schl.). In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 532–533. 201 Ders.: Kronthal Berthold Dr. und Wendt Heinrich Dr.: Scriptores rerum Silesiacarum, XIII. Politische Korrespondenz Breslaus im Zeitalter des Königs Matthias Corvinus [...]. In: Kwartalnik Historyczny 8 (1894) 342–343. 202 Ders.: Karwowski Stanislaus Dr.: Beziehungen der Reichsgrafen von Oppersdorff auf OberGlogau zu den Königen von Polen. In: Kwartalnik Historyczny 8 (1894) 348–349. 203 Ders.: H. Markgraf: Die Gewaltthat auf dem Neisser Landtage von 1497 (Zeitschr. d. Ver. f. Gesch. u. Alterth. Schles.). In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 145.

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trag. Der Slawist Władysław Nehring, der ebenfalls eine Rezension veröffentlichte, war zwar ein polnischstämmiger Autor, arbeitete jedoch an der Universität Breslau. Der Mediävist Semkowicz interessierte sich in seinen Besprechungen erwartungsgemäß für Arbeiten zu seiner eigenen Epoche. Mit dem Krakauer Rechtshistoriker Bolesław Ulanowski trat er bezüglich der genauen zeitlichen Bestimmung der translatio der heiligen Hedwig in eine Diskussion ein.204 In weiteren Besprechungen suchte er nach Impulsen für die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte aus polnischer Perspektive. Grünhagens und Wutkes Regesten zur schlesischen Geschichte bezüglich des frühen 14. Jahrhunderts stießen beim Rezensenten auf höchstes Lob, vor allem wegen der immensen Arbeitsleistung, an deren Ergebnissen kein Forscher zur mittelalterlichen Geschichte Polens vorbeikomme.205 Vergleichsweise polemisch zeigte er sich dagegen bei der Besprechung einer Arbeit von Theodor Löschke über die Politik König Přemysl Otakars II. von Böhmen gegenüber Schlesien und Polen: Nach Auffassung des Rezensenten habe der Verfasser zu beweisen versucht, dass der böhmische König gegenüber Polen eine vergleichbare Hegemonie erringen wollte wie später Napoleon gegenüber dem Rheinbund. Semkowicz argumentierte dagegen, dass Přemysl Otakar II. durchaus ein politisches Bündnis mit Polen habe eingehen wollen. Da sich aufgrund der dünnen Quellenbasis die Absichten des Königs nicht beweisen ließen, könne der Verfasser seine Theorie nicht belegen und ersetze sie durch bloße Behauptungen.206 Des Weiteren interessierte Semkowicz sich für biographische Darstellungen zweier Oppelner Piastenherzöge aus dem 14. Jahrhundert,207 für den Einfall der Mongolen in Schlesien208 sowie für Bemerkungen des polnischen Chronisten Wincenty Kadłubek aus der Zeit um 1200 über die slawische Abstammung der Silinger.209 Das Thema der Silinger griff auch ein weiterer Rezensent auf, der die Arbeit eines deutschen Historikers heftig attakierte. Der in Lemberg tätige Philologe ­Maksymilian Kawczyński setzte sich mit dem zweiten Band des Werks Deutsche Altertumskunde

204 Semkowicz, Aleksander: Ulanowski Bolesław: Szkice krytyczne z dziejów Śląska (Rozprawy i sprawozdania z posiedzeń Wydziału hist. filoz. Akad. Umiejęt.). In: Kwartalnik Historyczny 1 (1887) 658. 205 Ders.: Grünhagen C. u. Wuttke K. Regesten zur Schlesischen Geschichte (1316–1326). In: Kwartalnik Historyczny 13 (1899) 121–123, hier 121. 206 Ders.: Löschke Th.: Die Politik König Ottokar’s II. gegenüber Schlesien und Polen, namentlich in den letzten Jahren seiner Regierung. In: Kwartalnik Historyczny 1 (1887) 320–321. 207 Ders.: Wehrmann M. Dr.: Johann Herzog von Oppeln als Bischof von Camin. In: Kwartalnik Historyczny 11 (1897) 843–844; ders.: Breiter Ernest: Władysław książe Opolski Pan na Wieluniu, Dobrzyniu i Kujawach. In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 806–813. 208 Ders.: Strakosch-Grassmann Gustav: Der Einfall der Mongolen in Mitteleuropa in den Jahren 1241 und 1242. In: Kwartalnik Historyczny 8 (1894) 142–144. 209 Ders.: Świstuń Filip: Uwagi do pierwszej księgi kroniki Wincentego Kadłubka (Sprawozdanie dyrektora c. k. wyższego gimnazyum w Rzeszowie na rok szkolny 1887). In: Kwartalnik Historyczny 2 (1888) 494–496.

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des Berliner Professors für altgermanische Philologie Karl Müllenhoff auseinander.210 Der Rezensent begann seine mit 13 Seiten ungewöhnlich lange Besprechung mit dem Hinweis, dass das Werk zu den bedeutendsten gehöre, die in den letzten Jahren im Bereich der historischen Archäologie verfasst worden seien. Kawczyńskis Interesse an der Publikation war dem Umstand geschuldet, dass diese sich unter anderem mit der Ansiedlung von Slawen beschäftigte. Bevor der Rezensent den Inhalt des Werks zusammenfasste und beurteilte, nahm er sich Zeit, die Person des Verfassers erschöpfend zu charakterisieren, um die Arbeit entsprechend einordnen zu können. So merkte er an, dass Müllenhoff die Leitfigur der sogenannten Berliner Germanistenschule sei, welche die historische Idee der Gebrüder Grimm vertrete und über publizistische Mitteilungsorgane wie die Deutsche Litteraturzeitung oder die Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur verfüge. Während noch vor 60 Jahren niemand die Lehre dieser Schule in Zweifel gezogen habe, so Kawczyński weiter, sei sie gegenwärtig aufgrund ihrer parteiischen Ausrichtung in Verruf gekommen. Ihr Ziel sei die Zentralisierung der Wissenschaft. Damit solle eine Historische Schule in Preußen geschaffen werden. Gegenüber seinen Kritikern sei Müllenhoff stets schroff aufgetreten, was deren Zahl allerdings nur vergrößert habe. Zudem habe er jahrelang kein größeres und bedeutenderes Werk veröffentlicht; seine zahlreichen kleineren Schriften, die zwar von gewisser Bedeutung, allerdings häufig von zweifelhaftem Inhalt seien, hätten vielmehr nur der Vorbereitung auf ein großes Werk gedient, das er erst kurz vor seinem Tod (1884) realisieren konnte: seinem ehrgeizigen, sechsbändigen Werk über die deutschen Altertümer, in dem Müllenhoff unter Rückgriff bereits auf die antike Historiographie die Herkunft der Germanen, deren ursprüngliche Abstammungs- und Siedlungsgebiete, die Geschichte ihrer Sprache, Bräuche und Traditionen sowie des germanischen Rechtssystems und Volksglaubens aufarbeitete. Ausführlich und äußerst kritisch ging Kawczyński auf die Ausführungen Müllenhoffs über die ursprüngliche territoriale Ansiedlung der Germanen und der Slawen ein, die nach der Zurückdrängung der Germanen bis an die Elbe vorgedrungen waren. Bissig fasste Kawczyński am Ende seiner Rezension zusammen, worin sich der „germanische“ von „unserem Charakter“ unterscheide.211 Müllenhoff empöre sich über den Gedanken, dass die Deutschen nun Gebiete bevölkerten, die ihnen ursprünglich nicht gehört hätten, während die Polen wiederum ihren verlorenen Gebieten nachtrauerten. Die Rezension war durch einen scharfen Ton geprägt, der in den Beiträgen des Kwartalnik Historyczny aber eher zu den Ausnahmen gehörte. Hinzu kommt, dass Kawczyński für seinen bisweilen beißenden Stil bekannt war. Es gibt allerdings auch andere Beispiele für Auseinandersetzungen polnischer Rezensenten mit ihren deutschen Kollegen. Gleich in der ersten Ausgabe der Vierteljahrsschrift hatte der Krakauer 210 Kawczyński, Maksymilian: Pierwotne rozsiedlenie plemion europejskich (Karl Müllenhoff: Deutsche Altertumskunde, zweiter Band). In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 228–241, hier 228–230. 211 Ebd., 241.

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­ echtshistoriker Bolesław Ulanowski eine Besprechung des dritten Teils der Regesten R zur schlesischen Geschichte von Colmar Grünhagen veröffentlicht.212 Sein Urteil fiel ambivalent aus: Einerseits würdigte Ulanowski die Arbeit als nützlichen Katalog und für jeden Historiker unentbehrliches Findbuch, das gewissenhaft und mit viel Fleiß zusammengestellt worden sei; dafür müsse Grünhagen fraglos Dank ausgesprochen werden. Zugleich merkte Ulanowski jedoch mit Bedauern an, dass polnische Historiker angesichts der Zerstreuung der einschlägigen Aktenbestände kaum ein vergleichbares Werk für die polnische Geschichte verfassen könnten. Andererseits könne die Arbeit nicht als ein selbständiges wissenschaftliches Werk gelten, weil für die Zusammenstellung von Regesten keine historiographischen Fähigkeiten notwendig seien, sondern lediglich Fleiß und Ausdauer. Zudem seien alle Urkunden im Breslauer Staatsarchiv versammelt, so dass der Autor jederzeit auf die Bestände in seinem eigenen Haus habe zurückgreifen können. Ulanowski sprach Grünhagen überdies die alleinige Autorschaft ab, habe doch Wilhelm Wattenbach bereits zuvor eine bis 1400 reichende Urkundensammlung vorgelegt. In seiner Ehre gekränkt, ließ sich Grünhagen diese Verunglimpfung nicht gefallen und schickte an die Redaktion prompt ein Antwortschreiben, das in Auszügen (auf Deutsch) wiedergegeben und kommentiert wurde.213 Grünhagen war empört über die „recht naiven Auslassungen“ Kawczyńskis, enthielten diese doch „nicht implicite einen Vorwurf “, der auch seinen Charakter betreffe, als hätte er, Grünhagen, sich „mit fremden Federn geschmückt“.214 Grünhagen stritt ab, dass Wattenbach je ein entsprechendes Werk verfasst habe. Dieser habe dazu vielmehr lediglich erste Vorarbeiten geleistet, auf die er, Grünhagen, dann aufgebaut habe, als er vor zwei Jahrzehnten seine Tätigkeit im Archiv in Breslau aufgenommen habe. Die Wahrnehmung der deutschen Historiographie durch polnische Fachkollegen zeigt sich auch an einem anderen Beispiel. Der Krakauer Geschichtsprofessor und Mediävist Anatol Lewicki bemängelte in einer Rezension den Wissenstransfer zwischen polnischen und deutschen Historikern. Die Besprechung betraf die Arbeit von Bernhard Bess über die Rolle des Dominikanerpaters Johannes Falkenberg im Kontext des Konflikts zwischen polnischer Krone mit Deutschem Orden beim Konstanzer Konzil zu Beginn des 15. Jahrhunderts. An dieser Stelle ist nicht die inhaltliche Diskussion von Belang, da sie keinen Schlesienbezug hatte. Interessant ist aber die offensichtlich symptomatische und deutlich benannte Problematik, vor der sich polnische Historiker bereits im 19. Jahrhundert gestellt sahen – dem Umstand nämlich, dass sie selbst die Forschung in Deutschland verfolgten, die deutschen Kollegen ihrerseits jedoch von polnischen Arbeiten keinerlei Kenntnis nahmen. Lewicki schrieb fast schon resigniert, dass man gar nicht wisse, „wie man den Deutschen unsere Herausgeberschaften hineinpferchen sollte, damit sie diese berücksichtigten“. Allein an mangelnden Sprach212 Ulanowski, Bolesław: Dr. Colmar Grünhagen: Regesten zur schlesischen Geschichte. Dritter Theil bis zum Jahre 1300. In: Kwartalnik Historyczny 1 (1887) 76–77. 213 Od Redakcyi. In: Kwartalnik Historyczny 1 (1887) 383–384. 214 Ebd., 383.

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kenntnissen könne es nicht liegen, denn polnische Historiker würden ihre Bulletins auf Deutsch und Französisch herausgeben und die Quellen würden in der Originalsprache wiedergegeben. Überschriften und Anlagen erschienen zudem in lateinischer Sprache. Es sei so, „als lebten wir in China oder Japan“.215 Die hartnäckige Vernachlässigung der polnischen Publikationen könne kein Ausdruck der viel gerühmten deutschen Gründlichkeit sein. Dadurch hätten polnische Fachleute einen unbedingten Vorteil gegenüber den Deutschen, weil sie die deutsche Literatur kennen und mit großer Wertschätzung berücksichtigen würden, während die Deutschen oft Merkwürdiges von sich gäben, wenn sie über Polen schrieben. Dass polnische Historiker die deutsche Fachliteratur bei ihren Forschungen gewissenhaft berücksichtigten, bestätigte Lewicki in einer anderen Rezension, in der er Berthold Kronthals Arbeit über die politische Korrespondenz Breslaus zur Zeit von König Matthias Corvinus bewertete.216 Der Artikel war in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens erschienen. Dieser Geschichtsverein sei, wie der Rezensent ausführte, 1873 von dem hervorragenden Historiker, Herausgeber und gegenwärtigen Direktor des städtischen Breslauer Archivs Hermann Markgraf begründet worden. Auch wenn der Verein „allzu teutonisierend“ sei,217 könne der Herausgeberschaft Markgrafs doch zur Gänze vertraut werden. Eine vergleichbare Bemerkung machte der Lemberger Historiker Józef Korzeniowski, der 1898 kurzzeitig die Redaktion der Vierteljahresschrift übernahm. In seiner Rezension einer Abhandlung des österreichischen Historikers Ignaz Philipp Dengel über die Berichte des päpstlichen Nuntius Giuseppe Garampi aus Schlesien im Jahr 1776 lobte er den Verfasser nicht nur für die gute Qualität der Publikation, er zeigte sich dankbar für dessen Bemühen, alle polnischen Namen korrekt wiederzugeben und sonstige polenbezogene Fakten sowie Fußnoten richtig darzustellen.218 Dass die Wahrnehmung Schlesiens sowohl bei Wissenschaftlern als auch in der breiteren Öffentlichkeit unterschiedlich bewertet wurde, zeigt ein anderes Beispiel. Am Rande eines Fachartikels über die historische Grundkartenforschung machte der Krakauer Wirtschafts- und Sozialhistoriker Franciszek Bujak die Bemerkung, dass bereits weit über hundert Grundkarten diverser deutscher Regionen erstellt worden seien, wobei manche Regionen wie Sachsen und Schleswig vollständig, das Rheinland, Westfalen sowie Brandenburg bereits zum großen Teil bearbeitet worden seien. Schlesien, die Provinz Posen, Ostpreußen und Pommern dagegen seien bisher gar nicht berück215 Lewicki, Anatol: Bess Bernhard: Johannes Falkenberg O. P. und der preussisch-polnische Streit vor dem Konstanzer Konzil mit archivalischen Beilagen (Zeitschrift für Kirchengeschichte). In: Kwartalnik Historyczny 11 (1897) 153–155, hier 155. 216 Ders.: Kronthal Berthold dr. und Wendt Heinrich dr.: Politische Correspondenz Breslaus im Zeitalter des Königs Matthias Corvinus. In: Kwartalnik Historyczny 9 (1895) 301–305. 217 Ebd., 302. 218 Korzeniowski, Józef: Dengel J. Ph.: Nuntius Joseph Garampi in Preussisch-Schlesien und in Sachsen im J. 1776. Bericht über seine Reise von Warschau über Breslau nach Dresden. In: Kwartalnik Historyczny 18 (1904) 120–121, hier 121.

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sichtigt worden, weil diese Regionen unter den Deutschen offenkundig kein Interesse fänden. Sie gälten bei ihnen nicht als Herkunftsgebiete, und außerdem seien diese Territorien im Mittelalter nicht Teil des römisch-deutschen Reiches gewesen.219 Doch zurück zu den Rezensionen. Großes Interesse bekundeten polnische Historiker für die schlesische Mittelalterforschung. Aus diesem Bereich wurden 17 Publikationen und Fachartikel besprochen, in denen das Fehlen polnischer Elemente mehrfach bemängelt wurde. So kritisierte der Krakauer Historiker Marian Łodyński an der Dissertation von Erich Gospos über die Politik Herzog Bolkos II. von Schweidnitz-Jauer im 14. Jahrhundert, dass der Autor lediglich den deutschen und den tschechischen Forschungsstand wiedergebe. Dieser Einseitigkeit widersprach der Rezensent vehement: Der Herzog, der ein Vierteljahrhundert lang mit Polen eng verbunden gewesen sei, sei ebenfalls ein Teil der polnischen Geschichte. Łodyński ergänzte, dass sich die Luxemburger als Nachfolger der Přemysliden als die einzig legitimen Erben der Krone Polen angesehen hätten, da sie König Władysław I. Ellenlang lediglich als Usurpator betrachtet hätten.220 In einer anderen Besprechung über die Beziehung des böhmischen Königs Přemysl Otakar II. zu den schlesischen Fürsten und zu Polen ergänzte derselbe Rezensent die aus seiner Sicht für Polen relevanten Zusammenhänge. Dabei war es ihm wichtig zu betonen, dass die schlesischen Fürsten aufgrund ihrer polnischen Verwandtschaft durchaus mit Polen in engem Kontakt geblieben seien.221 Der Lemberger Historiker Alojzy Winiarz wiederum setzte sich mit der Festschrift des Breslauer Geschichtsvereins auseinander, die von Wilhelm Schulte anlässlich des 70. Geburtstages des Vorsitzenden Colmar Grünhagen verfasst worden war.222 Winiarz würdigte die Leistung Schultes schon deshalb, weil dieser sich der in der historischen Forschung allseits vorherrschenden Meinung widersetzt habe, dass die deutsche Kolonisation bereits mit der Gründung des Zisterzienserklosters Leubus 1175 eingesetzt habe und dass diese frühe kolonisatorische Leistung einzig auf die Tätigkeit einer kirchlichen Einrichtung zurückzuführen sei. Schulte hatte darauf hingewiesen, dass Leubus erst 1249 das deutsche Recht erlangt habe und dass selbst im engsten Umfeld der Klosterortschaft bis ins 13. Jahrhundert das deutsche Recht nicht vorgeherrscht habe. Winiarz führte weiter aus, der Verfasser ziehe die These in Zweifel, dass bereits Herzog Boleslaw I. deutsche Kolonisten ins Land geholt habe. Die Freundschaft des Herzogs zu deutschen Fürsten habe das ohnehin angespannte Verhältnis zu den polnischen Fürsten weiter belastet, das sich wohl kaum verbessert hätte, wenn er zur Germanisierung seines Landes beigetragen hätte. Zudem sei das System der Klosterwirtschaft in den umliegen219 Bujak, Franciszek: W sprawie kartografii historycznej. In: Kwartalnik Historyczny 20 (1906) 483–497, hier 484. 220 Łodyński, Marian: Gospos Erich, Die Politik Bolkos II. von Schweidnitz-Jauer (1326–1368). In: Kwartalnik Historyczny 27 (1913) 107–109, hier 108. 221 Ders.: Wondaś Andrzej: Stosunek Ottokara II., króla Czech, do książąt Śląska i Polski. In: Kwartalnik Historyczny 22 (1908) 118–121. 222 Winiarz, Alojzy: Schulte Wilhelm: Die Anfänge der deutschen Kolonisation in Schlesien. In: Kwartalnik Historyczny 13 (1899) 106–108.

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den Ländereien an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert – in Leubus, bei den beiden Breslauer Stiften, St. Vinzenz (Prämonstratenser) und dem Augustiner-Chorherren-Stift auf dem Sande, sowie in Trebnitz und Heinrichau – polnisch geprägt gewesen. Einige Jahre später veröffentlichte Schulte eine Abhandlung über die Anfänge des Marienstiftes der Augustiner-Chorherren auf der Breslauer Sandinsel. Der Lemberger Historiker Olgierd Górka, der mit einer Arbeit zum Kloster Leubus promoviert worden war, würdigte die Leistung des Verfassers, der die schlesischen Regesten kenntnisreich ausgewertet und auf mehrere eklatante Fehler bei Grünhagen hingewiesen habe. Die Kritik bezog sich auf fehlerhafte Übersetzungen und Zusammenfassungen der Urkunden, was bei Górka auf Zustimmung stieß. Die Hauptkritik Schultes bezog sich auf die vorherrschende Meinung, wonach die erste Stiftung der Chorherren bereits 1108 auf dem Zobtenberg durch Peter Wlast erfolgt sei. Weitere Rezensionen über die mittelalterliche Geschichte Schlesiens bezogen sich auf Überlegungen Wojciech Kętrzyńskis, wie weit sich die Grenzen Polens im 10. Jahrhundert bis nach Mähren hinein erstreckt hätten,223 über schlesienbezogene Urkundenforschung mit partiellem Bezug zu den Piasten,224 über die Besetzung der bischöflichen Stühle in Polen unter den Piasten (einschließlich des Bistums Breslau)225 sowie über Aspekte der Rechtsgeschichte226 und Universitätsgeschichte.227 Mit den schlesischen ­Piasten beschäftigte sich der Lemberger Historiker Franciszek Piekosiński, dem in seiner Rezension die Betonung des polnischen Charakters Schlesiens bis 1335 wichtig war, auch wenn er zugeben musste, dass Schlesien bereits seit dem 13. Jahrhundert immer mehr an polnischer Prägung verloren und die deutsche Kultur angenommen habe.228

223 Lewicki, Anatol: Kętrzyński Wojciech: Granice Polski w X. wieku, z mapą. In: Kwartalnik ­Historyczny 7 (1893) 529–533. 224 Papée, Fryderyk: Codex diplomaticus Poloniae etc. Tomus IV. Res Silesiacae a Mich. Boniecki olim congestae. In: Kwartalnik Historyczny 2 (1888) 103–107; Abraham, Władysław: Miscellanea: II. Uzupełnienie do Regestów szląskich z lat 1301–1315. In: Kwartalnik Historyczny 7 (1893) 448–450. 225 Blumenstok (Halban), Alfred: Lisiewicz Zygmunt dr.: O obsadzaniu stolic biskupich w Polsce. In: Kwartalnik Historyczny 7 (1893) 125–128. 226 Winiarz, Alojzy: Frommhold Georg: Zur Geschichte des fränkischen Rechts in Schlesien. In: Kwartalnik Historyczny 8 (1894) 309–310; Kutrzeba, Stanisław: Handelsman Marceli: Die Strafe im polnisch-schlesischen Rechte im XII u. XIII Jahrhundert. In: Kwartalnik Historyczny 21 (1907) 473–475. 227 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Krček, Franciszek: Pfotenhauer Dr.: Schlesier auf der Universität Bologna (Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens). In: Kwartalnik Historyczny 11 (1897) 381– 383; Jezienicki, Michał: Bauch Gustaw Dr.: Deutsche Scholaren in Krakau ( Jahrbuch der Schles. Gesellschaft für vaterländische Cultur). In: Kwartalnik Historyczny 16 (1902) 79–80. 228 Piekosiński, Franciszek: Stronczyński, Kaźmierz: Pomniki książęce Piastów, lenników dawnej Polski, w pieczęciach, budowlach, grobowcach i innych starożytnościach. In: Kwartalnik Historyczny 5 (1891) 369–372. Ergänzenden Anmerkungen von Marian Sokołowski finden sich ebd., 372–376.

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Als Experte für Sphragistik und Münzkunde legte Piekosiński vier weitere, teils längere Rezensionen aus diesem Bereich vor.229 Historische Abhandlungen aus dem Bereich der neuzeitlichen Geschichte Schlesiens wurden nur in wenigen Rezensionen behandelt, wobei einige Besprechungen Schlesien nur am Rande streiften.230 Abgesehen von einem umfangreicheren kommentierten Literaturverzeichnis über das Zeitalter König Friedrichs II. beziehungsweise die Schlesischen Kriege231 oder äußerst knappen Besprechungen können hier drei Beiträge erwähnt werden: zu Schlesien und Polen im Dreißigjährigen Krieg,232 zum österreichisch-polnischen Konflikt vor dem Hintergrund der Schlacht bei Pitschen 1588233 sowie zum Breslauer Schulwesen im 16. Jahrhundert.234 In diesen Rezensionen wurden die Artikel sachlich besprochen und um Elemente, die im engeren Sinn die Kultur und Geschichte Polens betreffen, ergänzt. Einige wenige Besprechungen befassten sich mit landeskundlichen Themen. Der Krakauer Sprachwissenschaftler Roman Zawiliński untersuchte das Werk des oberschlesischen Volksdichters Józef Gallus über die in Oberschlesien verbreiteten polnischen Volkslieder.235 Gallus zählte insgesamt 172 Lieder, die von Oberschlesiern gesungen würden. Lediglich 14 waren patriotischer oder allgemein geselliger Natur, 20 Lieder hatten lyrischen Charakter, weitere 22 waren schon in der bisherigen Fachliteratur als polnische Volkslieder der polnischen Bevölkerung in Oberschlesien bekannt. 41 untersuchte Liedtexte konnten zur Gattung der Volkslieder gezählt werden, einige davon waren Paraphrasen bekannter tschechischer Volkslieder. Dies sei, so der Rezensent, ein wichtiger Beitrag zum Wissen über den Alltag unter der oberschlesischen Bevölkerung.

229 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Dies geschah in den Jahren 1887 bis 1890. Vgl. exemplarisch Piekosiński, Franciszek: F. Friedensburg: Schlesiens Münzen und Münzwesen von dem Jahre 1220. In: Kwartalnik Historyczny 1 (1887) 231–236; ders.: F. Friedensburg: Ein großer Bracteat Herzog Heinrichs I. von Schlesien. Ebd., 236–237; ders.: Friedensburg F.: Schlesiens Münzgeschichte im Mittelalter. Theil I. Urkundenbuch und Münztafeln; Theil II. Münzgeschichte und Münzbeschreibung (Codex diplomaticus Silesiae, Band XII, XIII). In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 83–90. 230 Konopczyński, W[ładysław]: Günther Arno. Die Entstehung des Friedens von Altranstädt. In: Kwartalnik Historyczny 22 (1908) 456–458. 231 Podlacha, Władysław: Przegląd literatury historyi powszechnej. In: Kwartalnik Historyczny 10 (1896) 906–910. 232 Prochaska, Antoni: Szelągowski Adam: Sprawa północna w wiekach XVI i XVII. Część II: Szląsk i Polska wobec powstania czeskiego. In: Kwartalnik Historyczny 21 (1907) 519–532, hier 529–532. 233 Lorkiewicz, Antoni: Das österreichische Unternehmen auf Polen und die Schlacht bei Pitschen 1588 von Dr. Paul Karge (Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens). In: Kwartalnik Historyczny 3 (1889) 813–817. 234 Miaskowski, Kazimierz: Bauch Gustaw Prof. Dr.: Aktenstücke zur Geschichte des Breslauer Schulwesens im XVI Jahrhundert. In: Kwartalnik Historyczny 14 (1900) 270–271. 235 Zawiliński, Roman: Gallus J.: Pieśni polskie, używane na Górnym Szląsku. In: Kwartalnik ­Historyczny 8 (1894) 463–464.

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Der preußische Denkmalpfleger Hans Lutsch hatte eine Arbeit vorgelegt, in der er die Kunstdenkmäler des Regierungsbezirks Oppeln minutiös inventarisiert habe, wie der Krakauer Kunsthistoriker und Denkmalpfleger Władysław Łuszczkiewicz in ­einer Besprechung respektvoll feststellte.236 Er kam zu dem Fazit, dass Oberschlesien für Kunsthistoriker noch eine terra incognita sei. Die Annahme, dass sich die Tätigkeit der Zisterzienser in Oberschlesien und der Einfluss kleinpolnischer Benediktiner auf die sakrale Kunst und Architektur in der Region mannigfaltig ausgewirkt habe, werde durch die Inventarisierung von Lutsch widerlegt. Die Publikation zeige letztlich ein trauriges Bild von der Wirklichkeit: In den oberschlesischen Dörfern seien Steinkirchen selten, die ländliche sakrale Architektur werde vom Blockhaustypus dominiert, wobei die ältesten erhaltenen Schrotholzkirchen erst aus der Frühneuzeit stammten. Dieser Stil sei der polnischen Bauweise ähnlich. Łuszczkiewicz griff das Beispiel der Holzpfarrkirche von Bierdzan im Oppelner Umland heraus, weil Lutsch dieser Kirche slawischen Charakter zugesprochen hatte. So zeige der mittlere Teil des Triptychons Figuren, die im polnischen Stil gekleidet seien. Landeskundliche Studien deutscher Autoren wurden auch mit anderen Schwerpunkten besprochen. Der Posener Kirchenhistoriker und katholische Priester Kazimierz Miaskowski rezensierte eine Abhandlung Joseph Staenders über die Handschriften der Breslauer Universitätsbibliothek.237 Am Ende seiner detaillierten, sachlichen Besprechung, in der er die Leistung Staenders würdigte, sprach Miaskowski die Hoffnung aus, dass der Katalog auch der polnischen Kirchengeschichtsforschung Impulse geben möge, da die Breslauer Dokumente wichtige Informationen für das eigene Land enthielten. Der Krakauer Montanist, Kunsthistoriker und Denkmalpfleger Leonard Lepszy wiederum interessierte sich für die Abhandlung des deutschen Baubeamten ­Eugen von Czihak über die Geschichte der schlesischen Glasindustrie.238 Auch hier war der Rezensionsstil ähnlich: Auf eine Würdigung des Beitrags mit präziser Zusammenfassung der wichtigsten Forschungserkenntnisse folgte eine Ergänzung um Polen betrefende Zusammenhänge. Konkret zeigte Lepszy den Einfluss des polnischen Adels auf im oberschlesischen Grenzgebiet gelegene Manufakturen auf. Es wurden allerdings auch Rezensionen veröffentlicht, die keinerlei Polenbezug hatten, sondern den Lesern innerpreußische wissenschaftliche Debatten vorstellten. Das betraf etwa das biographische Werk des Königsberger Historikers Rudolf Philippi, der

236 Łuszczkiewicz, Władysław: Lutsch Hans: Die Kunstdenkmäler des Reg.-Bezirks Oppeln, II Hälfte. In: Kwartalnik Historyczny 11 (1897) 113–114. 237 ��������������������������������������������������������������������������������������� Miaskowski, Kazimierz: Staender Prof. Dr. Die Handschriften der Königlichen und Universitäts-Bibliothek zu Breslau (Zeitschrift für Geschichte und Altertum Schlesiens). In: Kwartalnik Historyczny 16 (1902) 77–79. 238 Lepszy, Leonard: Czihak E. v.: Schlesische Gläser. Eine Studie über die schlesische Glasindustrie früherer Zeit, nebst einem beschreibenden Katalog der Gläsersammlung des Museums schlesischer Alterthümer zu Breslau. In: Kwartalnik Historyczny 7 (1893) 104–107.

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sich mit Georg Christoph Pisanski, einem Literaturhistoriker des 18. Jahrhunderts, befasst hatte.239 Die Arbeit wurde vom Hallenser Historiker Max Perlbach rezensiert. Zu Schlesien enthielt die Besprechung nur die kritische Anmerkung, dass Philippi zum „schlesischen Lügenschmied“ Abraham Hosemann die wichtige Arbeit Grünhagens nicht berücksichtigt habe. Abschließend soll ein kurzer Blick auf sieben Fachartikel geworfen werden, die in der Vierteljahresschrift veröffentlicht wurden. Alle diese Artikel befassten sich ausschließlich mit dem mittelalterlichen Polen, wobei einige von ihnen, mehr oder minder deutlich, einen Bezug zum Oderland aufwiesen. Dies gilt etwa für die umfangreiche Abhandlung des pensionierten Lemberger Mediävisten und Universitätsrektors Antoni Małecki über mittelalterliche Urkundenfälschungen, in der beiläufig zwei Beispiele aus Schlesien in Bezug auf die Breslauer Augustiner-Chorherren und die Leubuser Zisterzienser erwähnt wurden.240 Ähnlich verhielt es sich in einem Artikel des Warschauer Mediävisten Stosław Łaguna über die Abstammung der Piasten241 und über die ersten Jahrhunderte der Katholischen Kirche in Polen.242 Zwar wurden beide Publikationen im Kwartalnik Historyczny unter „Abhandlungen“, also als Fachartikel, geführt, ihrem Wesen nach aber waren sie eigentlich ebenfalls Rezensionen. Zu den umfangreicheren, Schlesien betreffenden Artikeln gehört die Studie des Krakauer Archivars und Historikers Roman Grodecki über die Ausstattung des Zisterzienserinnenklosters Trebnitz mit Ländereien durch den schlesischen Herzog, die er noch vor Abschluss seiner Dissertation fertigstellte. Als Quellenmaterial hatte Grodecki die Stiftungsurkunden ausgewertet.243 Der junge Krakauer Nachwuchshistoriker Oskar Halecki legte eine Publikation über die Revolte des Krakauer Rittertums 1273 vor, die den Herzog von Oppeln-Ratibor Wladislaus I. auf den Krakauer Thron befördern sollte.244 Der Krakauer Historiker Marian Łodyński wiederum befasste sich in einem Artikel mit der Beteiligung der schlesischen Fürsten beim Aufruhr gegen den Seniorherzog von Polen, Mieszko III., im Jahr 1177 in Gnesen.245 Schließlich verfasste der bereits an früherer Stelle erwähnte Lemberger Historiker Antoni Małecki eine Abhand-

239 Perlbach, Max: G. C. Pisanski´s Entwurf einer preussischen Literaergeschichte in vier Büchern. Mit einer Notiz über den Autor und sein Buch, herausgegeben von Rudolph Philippi. In: Kwartalnik Historyczny 1 (1887) 607–609. 240 Małecki, Antoni: W kwestii fałszerstwa dokumentów. In: Kwartalnik Historyczny 18 (1904) 1–17, 411–480, hier 434f., 472. 241 Łaguna, Stosław: Rodowód Piastów. In: Kwartalnik Historyczny 11 (1897) 745–788. 242 Ders.: Pierwsze wieki kościoła polskiego. In: Kwartalnik Historyczny 5 (1891) 549–568. 243 Grodecki, Roman: Książęca włość trzebnicka na tle organizacyi majątków książęcych w Polsce w XII w. In: Kwartalnik Historyczny 26 (1912) 433–475, 27 (1913) 1–66. 244 Halecki, Oskar: Powołanie księcia Władysława Opolskiego na tron krakowski w r. 1273. In: Kwartalnik Historyczny 27 (1913) 213–315. 245 Łodyński, Marian: Udział książąt śląskich w zamachu z r. 1177 (Przyczynek do dziejów Bolesława Wysokiego i Mieszka Raciborskiego). In: Kwartalnik Historyczny 22 (1908) 16–45.

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lung über die freie Dorfbevölkerung, wobei er sich auf die Verzeichnisse im Gründungsbuch des Klosters Heinrichau stützte.246 Es lässt sich festhalten, dass das Gros an schlesienbezogenen Rezensionen in den ersten acht Jahresausgaben (1887 bis 1894) entstanden ist, in denen August Wagner den Großteil der Besprechungen vorlegte. In diesem Zeitraum wurden 99 Rezensionen (von insgesamt 126) verfasst, also knapp vier Fünftel. Davon stammten allein 69 Publikationen von Wagner, die restlichen 30 Beiträge wurden von 20 weiteren Autoren publiziert. In den folgenden Jahren fiel der Anteil an einschlägigen Rezensionen rapide ab. Während bis 1894 jährlich zwischen fünf und 31 Beiträgen veröffentlicht wurden, lag der Anteil ab 1895 zwischen einer und maximal fünf Rezensionen pro Jahr. Wenn man die Jahrhundertwende als Trennlinie nimmt, wird das Ungleichgewicht noch größer. In den ersten 14 Jahresausgaben (bis einschließlich 1900) wurden 114 Rezensionen vorgelegt, was einem Anteil von 90 Prozent entspricht. In den übrigen 14 Jahresausgaben des beginnenden 20. Jahrhunderts (1901 bis 1914) waren es dann lediglich noch zwölf Beiträge. Es wird deutlich, dass der unermüdliche Einsatz einer einzelnen Person die Statistiken in die Höhe getrieben hat, wodurch das allgemeine Interesse der polnischen Historikerwelt an der Geschichte und Kultur des Oderlands deutlich relativiert wird. Dies zeigt sich besonders an der fast unübersichtlich hohen Anzahl an Rezensenten, die größtenteils im Durchschnitt nicht mehr als einen oder zwei Beiträge ablieferten. Zum größten Teil handelte es sich um Forscher, die ein Werk aus ihrem engeren Fachgebiet besprachen und sich auf einen einzelnen fachlichen Aspekt fokussierten, so dass hierbei nicht von einer flächendeckenden oder gar systematisch betriebenen Schlesienforschung gesprochen werden kann. Ein weiteres Ungleichgewicht bekräftigt diesen Befund. 111 Rezensionen betrafen deutschsprachige Werke, das sind 88 Prozent aller eingereichten Beiträge. Nur 15 Originalpublikationen, die in der Zeitschrift besprochen wurden, waren in polnischer Sprache verfasst, so dass größtenteils die deutsche Schlesienforschung vorgestellt und kommentiert wurde.

5. Zusammenfassung Zu Beginn des Beitrags ist die Frage nach der Rezeption und nach der Gewichtung der historischen Schlesienforschung in bedeutenderen Rezensionszeitschriften vor 1914 gestellt worden. Wie gezeigt werden konnte, erfreute sich dieser Forschungszweig in den beiden untersuchten Periodika aus Deutschland und Polen eines regen Interesses. Im Fall von Österreichs dagegen kann ein solches Interesse nicht konstatiert werden. Das liegt nicht nur daran, dass mit lediglich 35 in den Jahren 1870 bis 1914 erschienenen Bänden deutlich weniger Untersuchungsmaterial vorlag, während 246 Małecki, Antoni: Ludność wolna w księdze henrykowskiej. In: Kwartalnik Historyczny 8 (1894) 391–423.

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die übrigen beiden Zeitschriften drei- bis viermal umfangreicher waren. Es hängt vor allem mit den politischen Umständen zusammen, da sich die österreichische Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert für Schlesien deutlich weniger interessierte als dies ein, zwei Jahrhunderte zuvor der Fall gewesen war. Mit lediglich 14 Rezensionen im gesamten Untersuchungszeitraum ist der Beitrag der österreichischen Fachwelt als marginal zu ­bezeichnen. Ganz anders war es in Deutschland und in Polen, das seit der Dritten Teilung 1795 zwar als politische Einheit nicht mehr existierte, dessen gebildete Elite im zu Österreich gehörigen Galizien mit den Zentren in Lemberg und Krakau jedoch eifrig historische Forschung betrieb. Zugleich unterschieden sich die deutsche und die polnische Wahrnehmung deutlich voneinander, sowohl was die thematische Schwerpunktsetzung als auch die in den Besprechungen geführte wissenschaftliche Diskussion betrifft. Für die in Deutschland erscheinende Historische Zeitschrift kann die eingangs formulierte These bejaht werden: Die Besprechung der historischen Literatur hatte eine funktionale Rolle in den zeitgenössischen nationalpolitischen Debatten und suchte die Geschichte und Kultur Schlesiens für den deutschen Kulturraum zu vereinnahmen. Schlesienspezifische Publikationen, die detailliertes Fachwissen erforderten, wurden von Rezensenten bearbeitet, die zu einem großen Teil der wissenschaftlichen Elite Breslaus entstammten (Cohn, Markgraf, Grünhagen, Wattenbach, Wutke, Ziekursch, Kalkoff, Gebauer). Diese für die Schlesienforschung wichtigen Persönlichkeiten nahmen häufig eine Doppelrolle ein, denn sie rezensierten nicht nur, sondern verfassten selbst historische Werke, die dann wiederum von anderen Fachleuten besprochen wurden. Sie verfolgten das Ziel, die Geschichte und Kultur der Region seit dem Mittelalter zu erforschen und in diesem Zuge die nach der Säkularisation nach Breslau transferierten, bisher meist unbekannten Urkunden auszuwerten. Die historische Landeskunde sollte nicht nur der gesamtdeutschen Fachwelt, sondern auch der Öffentlichkeit beweisen, dass Schlesien seit der „deutschen Ostkolonisation“ im Mittelalter zum deutschen Kulturraum gehörte und somit ein gewichtiger Bestandteil nicht nur des Herrschaftsraums, sondern eben auch der gesamtdeutschen historischen Forschung war. Unterstützt wurden diese Autoren von nichtschlesischen Rezensenten, die sich mit dem Oderland nur am Rande und vor dem Hintergrund deutschlandweiter Themen befassten, etwa mit der Reformationsgeschichte oder der Einverleibung Schlesiens durch Friedrich II. (Mollwo, Koser, Naudé). Deshalb stand die Orts- und Lokalhistorie im Vordergrund, in deren Rahmen die Geschichte zahlreicher Ortschaften und kirchlicher Einrichtungen seit der mittelalterlichen Ausstattung mit deutschem Recht beziehungsweise der Privilegierung durch die Landesherren erforscht wurde. Dies betraf ebenso den Verlauf der deutschrechtlichen Kolonisation wie auch die Frage nach der „Deutschwerdung“ der schlesischen Bevölkerung. Die Reformationsgeschichte wiederum war deshalb von großer Bedeutung, weil die landeskundliche Forschung darauf abzielte, den preußisch-deutschen und zugleich den protestantischen Charakter des schlesischen Kernlandes als eines integralen Bestandteils Deutschlands aufzuzeigen. Das erklärt den häufig scharfen, bisweilen auch

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polemischen Tonfall in den Besprechungen, vor allem bei Studien von Katholiken, die als hagiographisch und „ultramontan“ attackiert wurden. Die Rezensenten setzten sich dabei auch mit der (zu jener Zeit vorwiegend in Oberschlesien ansässigen) slawischen Bevölkerung des Oderlands auseinander. Dies geschah sowohl im Kontext des mittelalterlichen Landesausbaus als auch vor dem Hintergrund der neueren Geschichte des Hohenzollernstaates. Es wurde jedoch stets betont, dass die slawophone Bevölkerung jahrhundertelang getrennt von Polen gelebt habe und an der deutschen Kultur und Geschichte partizipiert habe, auch wenn sie ihre kulturelle Eigenständigkeit zumindest teilweise behalten habe. Eine ganz andere Rolle nahmen die Rezensionen im polnischen Kwartalnik Historyczny ein. Hierbei kann die eingangs formulierte These einer Vereinnahmung oder gar Instrumentalisierung der Schlesienforschung für (in diesem Fall polnische) nationalpolitische Ambitionen klar verneint werden. Das liegt letztlich daran, dass die polnischen Rezensenten überhaupt nicht das Ziel verfolgten, das gegenwärtige Schlesien in seiner Gesamtheit als einen integralen kulturpolitischen Bestandteil eines neu zu gründenden polnischen Staates zu reklamieren. Das zeigt schon die Struktur der besprochenen Literatur und der Rezensionen selbst auf. Wenn knappe 90 Prozent der gesamten besprochenen Literatur deutschen Werken galten, kann von einer polnischen Schlesienforschung nicht ernsthaft gesprochen werden. (Einzelne von polnischen Historikern wie Wojciech Kętrzyński auf Deutsch publizierte Fachartikel in deutschen Zeitschriften sind bei dieser Statistik zu vernachlässigen.) Ähnlich verhält es sich mit den Rezensionen. Mehr als die Hälfte aller Besprechungen wurde in nur wenigen Jahren von einem deutschen Breslauer, von August Wagner, vorgelegt. Wagner unterschied sich von den Rezensenten der Historischen Zeitschrift dahingehend, dass er dem katholischen Milieu nahestand und sich für polenrelevante Themen interessierte, auch im Zusammenhang mit der Existenz polnischsprachiger Bevölkerungsgruppen im niederschlesisch-polnischen Grenzgebiet. Deshalb zielten seine Rezensionen nicht darauf ab, den deutsch-(preußisch)-protestantischen Charakter Schlesiens zu propagieren. Dennoch kann Wagner mit der wissenschaftlichen Elite Breslaus auf eine Ebene gestellt werden, da er deren Werke mit größtem Wohlwollen besprach und deren wissenschaftlichen Erkenntnisse teilte, solange sie nicht in ungebotener Weise auf deutschnationale Forderungen oder Ansichten abzielten. Dass die Redaktion die Arbeiten Wagners und anderer deutscher Autoren, welche die innerdeutsche wissenschaftliche Diskussion referierten, unkommentiert – und teils sogar auf Deutsch – abdruckte, zeugt vom Interesse der Historikerzunft in Polen an der deutschen Forschung. Das erklärt den ausgewogenen und sachlichen Stil der im Kwartalnik Historyczny gepflegten Diskussionskultur. Die übrigen polnischen Rezensenten unterscheiden sich von ihren deutschen Kollegen in der Historischen Zeitschrift dahingehend, dass sie allesamt Nichtschlesier waren und auch keine eigenständige Schlesienforschung betrieben. Für schlesienbezogene Themen interessierten sie sich lediglich im Kontext ihres engeren Fachgebiets oder vor dem Hintergrund der Geschichte Polens. So konzentrierten sie sich in den Rezensionen oft auf genuin polnische Aspekte der besprochenen Geschichtsdarstellungen. Die For-

Die Bewertung der geschichtswissenschaftlichen Forschung in Schlesien vor 1914

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schungsergebnisse der bereits benannten Breslauer Eliten wurden sorgsam zur Kenntnis genommen, die Publikationen der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens wurden stets beachtet und wohlwollend aufgenommen. Für ergänzungswürdig wurden nicht die Arbeiten an sich gehalten, sondern nur einzelne Aspekte, die um spezifische Informationen zur Kultur und Geschichte Polens ergänzt wurden. Die Rezensenten interessierten sich einerseits für die mittelalterliche Geschichte Schlesiens vor dem Hintergrund der Zugehörigkeit zum Piastengeschlecht. Ihnen war es wichtig aufzuzeigen, dass die schlesischen Piasten bis ins 14. Jahrhundert hinein regen Kontakt zur Krone Polen unterhalten hätten und ein gegenseitiger Einfluss fortbestanden habe, weshalb sie häufig mit deutschen Autoren polemisierten, die das Gegenteil zu beweisen suchten. Andererseits wurden auch deutsche Arbeiten zu landeskundlichen und neuzeitlichen Themen ausgewertet und um polnische Bezüge ergänzt. Die wenigen rezensierten polnischen Originalwerke betrafen entweder die bereits erwähnten Themen zum Mittelalter oder einzelne ethnographische Aspekte der polnischen Kultur, etwa polnische Volkslieder in Oberschlesien. Insgesamt kann dem Kwartalnik Historyczny sowohl von seiner inhaltlichen Ausrichtung als auch den einzelnen Rezensenten her im Untersuchungszeitraum eine hohe Aufgeschlossenheit gegenüber der deutschen Schlesienforschung attestiert werden, auch wenn wiederholt konstatiert und bedauert wurde, dass diese Aufgeschlossenheit nicht auf Gegenseitigkeit beruhe.

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VI. Anhang

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Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Prof. Dr. Joachim Bahlcke, Universität Stuttgart, Historisches Institut, Keplerstraße 17, D-70174 Stuttgart Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg, Universität Gießen, Historisches Institut, Otto Behaghel-Straße 10d, D-35394 Gießen Dr. Urszula Bończuk-Dawidziuk, Muzeum Uniwersytetu Wrocławskiego, pl. Uniwersytecki 1, PL-50-137 Wrocław Prof. Dr. Sebastian Brather, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für Archäologische Wissenschaften, Belfortstraße 22, D-79098 Freiburg im Breisgau Prof. Dr. Roland Gehrke, Universität Stuttgart, Historisches Institut, Keplerstraße 17, D-70174 Stuttgart Prof. Dr. Michael Hirschfeld, Universität Vechta, Fakultät III, Fach Geschichte, Driverstraße 22, D-49377 Vechta Priv.-Doz. Dr. Tomasz Jurek, ul. Głazowa 32, PL-60-116 Poznań Prof. Dr. Ryszard Kaczmarek, Uniwersytet Śląski, Instytut Historii, ul. Bankowa 11, PL-40-007 Katowice Dr. Dr. h.c. Norbert Kersken, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Gisonenweg 5-7, D-35037 Marburg an der Lahn Prof. Dr. Wojciech Kunicki, Uniwersytet Wrocławski, Instytut Filologii Germańskiej, Biskupa Nankiera 15b, PL-50-140 Wrocław Dr. Dietrich Meyer, Zittauer Straße 27, D-02747 Herrnhut Dr. Gregor Ploch, St. Otto Zinnowitz, Dr.-Wachsmann-Straße 29, 17454 Ostseebad Zinnowitz Prof. Dr. Tomasz Przerwa, Uniwersytet Wrocławski, Instytut historiczny, ul. Szewska 49, PL-50-139 Wrocław Prof. Dr. Steffen Schlinker, Universität Würzburg, Juristische Fakultät, Domerschulstraße 16, D-97070 Würzburg Dr. Ulrich Schmilewski, Berliner Ring 37, D-97753 Karlstadt Priv.-Doz. Dr. Tobias Weger, Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Halskestraße 15, D-81379 München

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Personenregister Adams, John Quincy 303 Adams, Louisa Catherine 303 Adams, Thomas Boylston 303 Adenauer, Konrad 196 Aelurius, Georg 338, 347f. Agricola der Jüngere, Rudolph 42 Alexander I., Zar von Russland 377 Alexander Jagiełło, Kg. von Polen 374 Allert, Zacharias 68 Altdorfer, Georg 64 Althoff, Friedrich 357, 376 Ambrosch, Julius Athanasius 271, 298 Anders, Friedrich Gottlob Eduard 170, 177–179 Andreae, Friedrich 70, 136 Angelus Silesius → Scheffler, Johannes Appelt, Heinrich 74 Aristoteles 150 Arndt, Wilhelm 50f., 53 Arneth, Alfred von 193, 433 Arnold, Franklin 182 Assenheimer, Leonhard 57 Assig, Andreas 143 Aubin, Hermann 23, 359, 399 August III., Kg. von Polen, als Friedrich August II. Kfst. von Sachsen 372 Aust, Otto 176 Awdance, Fam. 122 Bach, Alois 338, 344, 346f. Bach, Karl Daniel Friedrich 225 Bachler, Karl Leopold 245 Baeumker, Clemens 284 Bahlcke, Joachim 29, 136 Bahrfeldt, Emil 127 Balzer, Oswald 118, 322 Bandtke, Georg Samuel ( Jerzy Samuel) 116, 307f., 321, 366 Bank, Alexius 64 Barelkowski, Matthias 369 Baring, Daniel Eberhard 111 Bauch, Gustav 41–43, 56, 71, 94, 170, 246, 470 Baudouin de Courtenay, Jan 308

Baumann, Fam. 244 Baumann, Georg 245 Baumgarten, Konrad 244 Becker, Robert 296, 298 Beer, Karl 470 Bellée, Hans 95 Bellrode, Bruno 213 Benda, Johann Wilhelm Otto 307 Berding, Helmut 406 Berg, Julius 173 Bergemann, Johann Gottlieb 234 Bernhardi, Wilhelm 174 Bernheim, Ernst 47 Bersu, Gerhard 263 Bess, Bernhard 491 Beyer, Otto 44 Bezruč, Petr → Vašek, Vladimír Biefel, Richard 257, 259 Bielowski, August 53, 322 Biermann, Gottlieb 116, 174, 181, 193f., 464, 470 Bismarck, Otto von 326, 369, 373f., 380, 476 Bittner, Ludwig 471 Blaźek, Konrad 108f. Bobertag, Georg 137, 150 Bobrzyński, Michał 364 Bodjanskij, Osip Maksimovič 384 Böhme, Jacob 181f. Böhme, Johann Ehrenfried 76 Böhme, Johann Gottlob 76 Böhmer, Johann Friedrich 83f. Bömelburg, Hans-Jürgen 26 Bönisch-Brednich, Brigitte 300, 302 Böttiger, Karl August 65, 254 Bohn, Emil 241f., 247 Bohusz, Ksawery 321 Bolesław I., der Tapfere, Kg. von Polen 368, 472, 482, 493 Boleslaw II., Hzg. von Liegnitz 113 Bolesław III. Schiefmund, Kg. von Polen 368 Bolko, Hzg. von Beuthen 66 Bolko II., Hzg. von Schweidnitz 113, 493

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Personenregister

Bończuk-Dawidziuk, Urszula 27 Boniecki, Michał 92 Bońkowski, Hieronim Napoleon 384 Boregk, Martin 402 Borgeni, Caspar 52 Borovička, Josef 429 Bouterweck, Friedrich Ludewig 235 Brann, Markus 66, 198f. Brather, Sebastian 27 Braun, Fam. 486 Bredow, Gabriel Gottfried 398 Breitenbach, Oskar 481 Brentano, Clemens 238 Brentano, Ludwig Josef (Lujo) 203–205 Bressler, Johann Matthäus 55 Bressler und Aschenburg, Ferdinand Ludwig von 48 Bretholz, Berthold 470–472 Breyher, Ernst 159 Bruchmann, Karl Friedrich Heinrich 416 Brückner, Aleksander 309 Buchwald, Conrad 285f., 291, 296, 298 Buchwald, Sigmund 244 Büsch, Otto 196 Büsching, Johann Gustav Gottlieb 18, 27, 49f., 53f., 57, 67, 78f., 110–112, 189, 220–225, 234, 240, 245, 251–257, 265, 269f., 274–277, 295f., 298, 484 Bujak, Franciszek 492 Burgemeister, Ludwig 247, 286, 295, 298 Butschky, Samuel von 235 Caro, Jacob 29, 142, 152, 187, 191, 198f., 353–358, 366, 369, 372–381, 391, 422 Carracci, Annibale 225 Cauer, Eduard 208 Čelakovský, František Ladislav 387, 423 Celichowski, Zygmunt 354 Černý, Pavel 424 Chebde von Nyewyesch (Chebda z Niewiesza), Johann ( Jan) 64 Chlumecký, Peter von 442 Christian Ulrich II., Hzg. von Württemberg-Wilhelminenort 152 Chrząszcz, Johannes 192, 331f., 408, 442 Clapis, Peter Anton von 64 Clericus, Ludwig August 103f., 106

Cochlaeus (Dobeneck), Johannes 65 Cohn, Ludwig Adolf 455–461, 469, 499 Cohn, Margarete 286 Colbovius, Petrus 434 Conrad, Heinrich 68 Corvinus (Rabe), Laurentius (Lorenz) 43, 244 Cosimo, Piero di 285 Courbet, Gustave 290 Cranach der Ältere, Lucas 290 Cranz, David 165, 174 Crato von Krafftheim, Johann 125, 173 Creizenach, Wilhelm 231 Croon, Gustav 94f., 148f., 163, 204 Cunitz, Maria 129 Cureus, Joachim 198 Ćwikliński, Ludwik 51 Cybulski, Wojciech 426 Czartoryski, Fam. 371 Czartoryska, Izabela 321 Czepko, Daniel 236 Czihak, Eugen von 258, 260, 496 Czoernig, Karl von 307 Dahn, Felix 135, 231, 237, 343 Danneil, Johann Friedrich 256, 266 Deitenbeck, Ernst 127 Delbrück, Hans 355 Dengel, Ignaz Philipp 492 Dersch, Wilhelm 16, 136, 178 Dewerdeck, Gottfried 123, 126 Dieck, Rudolph 258 Diels, Paul 426 Diepenbrock, Melchior von 457 Ditters von Dittersdorf, Carl 243 Dittman, Martin Sebastian 62 Dittrich, Johann Joseph 348 Długosz, Jan 38, 368, 373 Dobenecker, Otto 86 Doebner, Richard 159 Donatello (Donato di Niccolò di Betto Bardi) 282 Dorst (von Schatzberg), Leonhard 108 Drechsler, Paul 56, 231 Drescher, Johann Gottlieb 76 Drews, Paul 179 Droysen, Johann Gustav 47, 333

Personenregister

Du Mont, Jean 75 Dubravius, Johannes 67 Dudík, Beda 431, 435, 442 Dürer, Albrecht 225 Dybek, Erwin 54 Dyon, Adam 242 Działyński, Jan 374 Działyński, Tytus 363, 367, 369, 374 Dziatzko, Karl 57, 232, 245 Eber, Paul 55 Eberlein, Gerhard 167f., 174 Ehrhardt, Siegismund Justus 76f. Eichendorff, Joseph von 239 Eichhorn, Friedrich 386 Eichhorn, Karl Friedrich 147, 161 Eitner, Karl 236 Elisabeth von Thüringen, Hl. 237 Elyan, Caspar 244 Emler, Josef 91, 198, 442 Ens, Faustin 314 Erben, Josef 91 Erdmann, David 171, 182 Ermisch, Hubert 152, 462 Ernst von Pardubitz (Arnošt z Pardubic) 337 Eschenloer, Peter 50, 53, 69, 74 Eugen IV., Papst 479 Eulenburg, Franz 203 Eva Christine, Hzgn. von Württemberg 61 Faber, Heinrich 242 Faber, Karl-Georg 196 Falkenberg, Johannes 491 Faulhaber, Andreas 340, 343f. Fechner, Christian Gottfried 268 Fechner, Hermann 195, 203, 209, 212, 214, 462, 466 Feist, Martin 152 Ferdinand I., röm.-dt. Ks. 147, 150–152 Ficker, Julius (von) 333 Finck von Finckenstein, Leopold 69 Fischer, Albert 168 Fischer, Christian Friedrich Emmanuel 268 Fischer, Ernst 462 Fischer, Tobias 69 Flam, Cosmus → Pietsch, Josef

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Fliegel, Maria 61 Foerster, Richard 273, 289, 295, 298 Fraenkel, Siegmund 231 Frahne, Kurt 210 Franckenberg, Abraham von 182 Franke, Edmund 411 Frankenberg, Fam. 67 Frantz, Erich 282 Franz, Adolph 64 Franz, Agnes 234 Frech, Fritz 215, 246 Freher, Marquard 48 Frenzel, Otto 44, 60, 97 Freytag, Gustav 52, 68, 193, 225, 236f., 240 Friedensburg, Ferdinand 86, 124–127, 130f., 152, 211 Friedjung, Heinrich 333 Friedländer, Max Jacob 282 Friedrich I., Kg. von Böhmen, als Friedrich V. Kfst. von der Pfalz 416 Friedrich II., der Große, Kg. von Preußen 87, 144, 148f., 151, 156, 175, 187, 193, 195, 202, 212, 245, 326–329, 331, 334, 343, 420, 458f., 466, 468, 485, 487f., 495, 499 Friedrich II., Hzg. von Liegnitz, Brieg und Wohlau 64f. Friedrich V., Kfst. von der Pfalz → Friedrich I., Kg. von Böhmen Friedrich August II., Kfst. von Sachsen → August III., Kg. von Polen Friedrich I. Barbarossa, röm.-dt. Ks. 144f. Friedrich Wilhelm, Kfst. von Brandenburg 358 Friedrich Wilhelm III., Kg. von Preußen 176, 459 Friedrich Wilhelm IV., Kg. von Preußen 188, 386 Froben, Johannes 54 Froissart, Jean 279 Frycz Modrzewski, Andrzej 354 Fuchs, Gottlieb 165 Fülleborn, Georg Gustav 218f., 234 Fuscinus (Brauner), Caspar 57 Gallus, Józef 495 Garampi, Giuseppe 492

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Personenregister

Garthener, Jakob 55 Gaß, Joachim Christian 166 Gatterer, Johann Christoph 75f. Gaupp, Ernst Theodor 46, 135, 386 Gebauer, Curt 155 Gehrke, Roland 29 Geiger, Ludwig 70 Geisheim, Carl 221, 234 Georg der Fromme, Mkgf. von Brandenburg-Ansbach 65, 171 Georg II., Hzg. von Brieg 65 Gerlich, Hubert 370 Gerstmann, Martin (von) 172, 466 Gervinus, Georg Gottfried 233, 369 Geschwendt, Fritz 265 Gierke, Otto von 135 Gillet, Johann Franz Albert 173 Gindely, Antonín 422, 426, 435 Glafey, Adam Friedrich 403 Gleich, Hermann 478 Göbel, Johann Wilhelm von 111 Goebel, Gregor 337, 347 Göppert, Heinrich Robert 258 Görlich, Franz Xaver 57 Görres, Joseph 233 Goethe, Johann Wolfgang von 238f. Götzen, Friedrich Wilhelm von der 344 Goldast (von Haiminsfeld), Melchior 48 Goll, Jaroslav 426 Górka, Olgierd 92, 94, 471, 494 Gospos, Erich 493 Gotschall, Rudolf von 239f. Grabski, Andrzej Feliks 363 Graetz, Heinrich 198f. Graff, Anton 284 Gramis, Nikolaus 66 Granier, Hermann 69 Gregor von Sanok 57 Grempler, Wilhelm 255, 258–260, 275 Grimm, Jacob 226f., 231, 453, 490 Grimm, Wilhelm 226, 453, 490 Grodecki, Roman 497 Grotefend, Hermann 34, 87, 117f., 120 Grünhagen, Colmar 11f., 18, 20–23, 29, 34, 36, 49–55, 57–59, 62, 65, 71, 75, 82, 84–87, 91–95, 98, 112, 118, 141, 144, 147f., 150–152, 154f., 161, 163,

166, 168f., 175, 177f., 187, 191, 193f., 197, 202f., 206, 209, 229, 258, 322, 329f., 346, 348, 361, 405–408, 412, 416–422, 427f., 430–442, 460f., 464, 466–468, 470f., 479, 484f., 487–489, 491, 493f., 497, 499 Gruttschreiber, Carl Ferdinand von 120 Gryphius, Andreas 75, 238 Gude, Heinrich Ludwig 402 Günther, Johann Christian 238 Günther, Karl Ehrenfried 396 Günzel, Gerhard 155, 163 Gürtler, Hieronymus 171 Gummel, Hans 254 Gusinde, Konrad 311 Haberfeld, Hugo 285f. Hadrian IV., Papst 91, 159 Hänsel, Georg 70 Häusser, Ludwig 440 Hagen, Friedrich Heinrich von der 221, 223f. Hahn, August 176 Halecki, Oskar 366, 497 Halling, Karl 384 Hallmann, Johann Christian 115 Hatscher, Isidor Dionis 348 Hatzfeld, Fam. 430 Hatzfeld, Melchior von 66 Hatzfeldt-Schönstein, Hermann von 258 Haugwitz, Fam. 122 Haugwitz, Eberhard von 122 Hauptmann, Gerhart 194, 240 Hedwig von Andechs, Hl. 40, 57, 233, 237, 459, 480, 489 Heeren, Arnold Hermann Ludwig 358, 366, 384f. Heffter, Moritz Wilhelm 390 Hegel, Karl 451 Hein, Paul 63 Heine, Heinrich 194 Heinrich I., der Bärtige, Hzg. von Schlesien 35, 321, 480, 482 Heinrich II., der Fromme, Hzg. von Schlesien 221, 237 Heinrich III., der Weiße, Hzg. von Schlesien 35

Personenregister

Heinrich III., Hzg. von Glogau 114 Heinrich IV., der Gerechte, Hzg. von Schlesien 35, 238 Helcel, Antoni Zygmunt 367, 370 Held, Franz 312 Helitz, Paul 245 Hellmich, Max 263 Helwig, Martin 128 Hendrik, Gerhard 281 Henel von Hennenfeld, Nikolaus 54 Hensel, Johann Adam 165, 268 Hensel, Johann Daniel 267f. Herber, Carl Johann 166 Herder, Johann Gottfried 219, 390, 445 Hermann, Leonhard David 251 Herodot 223 Herzig, Arno 208, 335 Hess, Johann 43, 171 Heyer, Alfons 68, 129 Heyne, Johann 37, 89, 169f. Hildebrand, Bruno 424 Hildebrandt, Adolf Matthias 109 Hildebrandt, Alfred 231 Hiller, Adam 243 Hintze, Erwin 286, 296f. Hintze, Otto 196 Hippe, Max 68, 70 Hirschfeld, Michael 28, 335 Hirt, Ferdinand 120 Hirtz, Albert 122 Hobsbawm, Eric 299 Hochberg, Fam. 66, 104, 122, 199, 213f., 245 Hoernes, Moritz 262 Höfler, Constantin (von) 418f., 427, 435, 439 Hoffmann, Adalbert 68 Hoffmann, Carl Julius Adolph 241 Hoffmann, Caspar 70 Hoffmann, Christian Gottfried 48 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 223, 225f., 234–236 Hoffmann von Hoffmannswaldau, Christian 235, 238 Hohaus, Wilhelm 59, 89, 339, 342, 345, 348

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Hohenwart, Karl Sigmund von 440 Holtzmann, Robert 36, 207 Holz, Albert 230 Holz, Arno 238 Hora, Engelbert 58 Hosemann, Abraham 497 Hoser, Joseph Karl Eduard 220 Hoverden-Plencken, Johann Adrian Joseph von 258 Hoym, Karl Georg von 218f. Huber, Alfons 470 Humboldt, Wilhelm von 166, 218 Hupp, Otto 106f. Hus, Jan 169, 408 Hyazinth von Polen, Hl. 40 Idzikowski, Franz 458, 486 Innozenz III., Papst 39 Irgang, Winfried 94 Isler, Balthasar 56 Jacobi, Theodor 226, 412 Jäkel, Hugo 35 Jänike, Karl 238 Jaeschke, Emil 285f. Jahn, Martin 264 Janáček, Leoš 197 Jarick, Johann Karl Friedrich 79 Jecht, Richard 421 Jerin, Andreas (von) 172 Jessen ( Jessenius), Johannes 125 Jireček, Hermenegild 91 Jireček, Josef 426 Jiriczek, Otto Luitpold 230f. Joachim Friedrich, Hzg. von Liegnitz-Brieg 113f. Joannis, Georg Christian 48 Johann von Luxemburg, Kg. von Böhmen 144f., 412, 421, 460f. Johann Georg, Mkgf. von Brandenburg, Hzg. von Jägerndorf 61, 151 Jordan, Jan Pětr ( Johann Peter) 389f. Jordan, Wilhelm 362 Joseph II., röm.-dt. Ks. 328 Jungnitz, Joseph 63, 91, 166f., 172, 179 Junkmann, Wilhelm 188 Jurek, Tomasz 24

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Personenregister

Kaczmarek, Ryszard 28 Kadłubek, Wincenty 489 Kaffler, Albert 61 Kahl, Robert 296 Kahlert, August Timotheus 225f., 232– 236, 241, 304, 393 Kahlo, Johann Gottlieb 338, 348 Kaisig, Karl 246 Kalinka, Walerian 364, 372 Kalinowska-Wójcik, Barbara 213 Kalkoff, Paul 462, 499 Kampers, Franz 188, 215, 246 Kapras, Jan 59, 443 Karl IV., röm.-dt. Ks. 36, 65, 144f. Karl XII., Kg. von Schweden 148, 484 Karl Friedrich, Hzg. von Oels und Münsterberg 70 Karlowicz, Jan Aleksander 309 Karpiński, Franciszek 321 Kasimir III., der Große, Kg. von Polen 353 Kasimir IV., der Jagiellone, Kg. von Polen 57 Kastner, August 22, 178, 181, 342 Katharina II., Zarin von Russland 372 Kaufmann, Alois 188 Kaufmann, Georg 136, 269, 428 Kaufmann, Johannes 444 Kautzsch, Rudolf 280, 291, 298 Kawczyński, Maksymilian 489f. Kawerau, Gustav 172 Kerber, Paul 159 Kern, Arthur 203 Kersken, Norbert 24 Kętrzyński, Wojciech (Adalbert von Winkler) 62f., 198, 379, 483, 494, 499 Kinkeldey, Otto 242f. Kirchner, Caspar 70 Klambt, Wilhelm Wenzel 344 Klapper, Joseph 56 Klawitter, Willy 444 Klein, Josef 258 Klemenz, Paul 240 Klinggräf, Konrad von 237 Klöber, Karl Ludwig von 267 Klopstock, Friedrich Gottlieb 235 Klose, Samuel Benjamin 49, 76, 268 Klossowski, Erich 285f.

Knauer, Paul 158 Kneschke, Ernst Heinrich 121 Knoblich, Augustin 60f., 69, 459 Knötel, Paul 52, 60, 66, 107f., 130 Knothe, Hermann 121 Koberstein, Karl August 235 Koblitz, Martin 56 Koch, Max 232, 236–240 Koebner, Richard 44, 392 Kögler, Joseph 28, 335f., 338, 346 Köhler, Joachim 180 König, Arthur 63 Kötzschke, Rudolf 20, 45, 70 Koffmane, Gustav 172, 177, 181f. Kolbenheyer, Erwin Guido 238 Kolberg, Oskar 308 Kollár, Jan 391 Kołłątaj, Hugo 321 Kollmann, Hynek 476f. Koneczny, Feliks 322 Konitzer, Clemens 273 Konopczyński, Władysław 366 Konrad, Paul 167, 170 Konrad II., Hzg. von Sagan 114 Konrad IV., Hzg. von Oels 39 Kopetzky, Franz 91, 117 Kopietz, Johannes Athanasius 60 Kopp, Georg 90 Korn, Georg 69, 85–88 Korn, Georg Anton 232 Korn, Johann Jakob 245 Korn, Wilhelm 286 Korzeniowski, Józef 492 Korzon, Tadeusz 365 Kosch, Wilhelm 239 Koser, Reinhold 462, 468, 499 Koß, Rudolf 444 Kossinna, Gustaf 262, 264 Koßmaly, Carl 241 Krabbo, Hermann 86 Kraffert, Adalbert Hermann 67 Krane, Alfred von 108f. Kraus, Franz Xaver 180 Kraushar, Aleksander 354, 376, 378f. Krebs, Julius 142, 155, 158f., 172, 410, 414f., 429 Kries, Karl Gustav (von) 150f., 163

Personenregister

Krofta, Kamil 429 Kromer, Marcin 198 Kronthal, Berthold 65, 142, 492 Krüger, Franz 285 Krummel, Leopold 418f. Krusch, Bruno 39 Kruse, Friedrich 220–223, 253, 255 Kühnau, Richard 240, 304 Kürschner, Franz 65 Kundmann, Johann Christian 123 Kunicki, Wojciech 26 Kunisch, Johann Gottlieb 53f., 56 Kunowski, Georg Carl Friedrich 223 Kusy, Emanuel, Ritter von Dúbrav 305 Kutzen, August 236 Kvačala, Ján 432, 434 Laband, Paul 58 Lachmann, Karl 231 Łaguna, Stosław 497 Lamprecht, Karl 12, 14, 16, 20, 401, 444 Landsberger, Franz 283, 286, 289, 298 Langhans, Carl Gotthard 225 Laslowski, Ernst 41 Lauffer, Otto 300 Lehmann, Emil 313 Leibniz, Gottfried Wilhelm 48 Leistner, Ernst 68 Lelewel, Joachim 362, 370 Leonardo da Vinci 285, 290 Leopold I., röm.-dt. Ks. 115, 485 Lepszy, Leonard 496 Lessing, Gotthold Ephraim 235f., 238 Levison, Wilhelm 39 Lewicki, Anatol 491f. Liebental, Nikolaus 62 Lindenschmit, Ludwig 266 Lindner, Arthur 296 Lippert, Julius 427 Lisch, Georg Christian Friedrich 113, 256, 266 Liske, Ksawery 363f., 366, 472, 474 Łodyński, Marian 35, 493, 497 Löschke, Theodor 35, 489 Loewe, Victor 14–16, 102, 128, 415 Logau, Friedrich von 238 Logau, Georg von 43

513

Lohenstein, Daniel Caspar von 238 Lompa, Józef 229f., 310 Lorenz, Ottokar 49, 435 Lucae, Friedrich 120, 233 Luchs, Hermann 60, 65, 103, 110, 117, 251, 255–260, 277, 292, 298 Luck, Maria von 480 Ludewig, Johann Peter (von) 75 Ludwig II., Kg. von Böhmen und Ungarn 186 Lück, Heiner 162 Lüdecke, Carl 295, 298 Lünig, Johann Christoph 75 Łuszczkiewicz, Władysław 496 Luther, Martin 171, 177, 181 Lutsch, Hans 258, 260, 295, 298, 487, 496 Mabillon, Jean 75 Mader, Wilhelm 345 Maetschke, Ernst 21, 23, 59, 194, 412 Mailáth, Johann 433 Maior, Elias 68 Małecki, Antoni 497 Malinowski, Bronisław 308 Malinowski, Lucjan 308f. Manso, Johann Kaspar Friedrich 65, 235, 239, 254 Maria Theresia, Kgn. von Böhmen und Ungarn 193, 470 Markgraf, Hermann 18, 44, 50, 52–56, 62, 65, 67, 87, 94, 97, 116–118, 124, 126, 136, 141, 168, 215, 348, 392, 399, 402, 407, 435, 438, 444, 461, 463, 467–469, 479, 484f., 492, 499 Martin von Bolkenhain 52 Martin von Kotbus 52 Masner, Karl 70 Matthias Corvinus, Kg. von Ungarn und Böhmen 37, 142, 150, 466, 485, 488, 492 Matuszkiewicz, Felix 71, 150, 163 Maydorn, Bernhard 39 Meinardus, Otto 12–14, 46, 95, 140f. Meisner, Heinrich Otto 102 Meitzen, August 82, 139f., 158, 163 Meltzer, Otto 67

514

Personenregister

Menzel, Adolf (von) 282 Menzel, Josef Joachim 74, 359, 399 Menzel, Karl Adolf 143f., 161, 163, 267, 396, 404 Merhart, Gero von 264 Mertins, Oskar 258, 260, 275 Mestenhauser, Eduard 306 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 387 Meyer, Arnold Oskar 172 Meyer, Dietrich 25 Meyer, Friedrich 462 Miaskowski, August von 195 Miaskowski, Kazimierz 496 Michelozzo di Bartolomeo 285 Mieczyński, Stanisław 374 Mieszko III., der Alte, Hzg. von Polen 321, 497 Milkau, Fritz 245 Milkowicz, Wladimir 35 Minsberg, Ferdinand 234 Moeller, Ernst von 143 Moiban, Ambrosius 171 Mollwo, Ludwig 462, 499 Molsdorf, Wilhelm 243–245 Mommsen, Theodor 135 Montbach, Mortimer von 62 Montelius, Oscar 262 Morgenbesser, Michael 404, 483f. Mosak-Kłosopólski (Mosig von Aehren- feld), Korla Awgust (Karl August) 388f. Mosch, Carl Friedrich 234 Motte Fouqué, Heinrich August de la 347 Mozart, Wolfgang Amadeus 243 Mrongovius, Christoph Cölestin 366 Mückusch und Buchberg, Franz von 314 Mülbe, Wolf-Heinrich von der 286 Müllenhoff, Karl 490 Müller, Artur 239 Müller, Joseph 349 Müller, Karl 172 Müller, Sophus 259 Münster, Sebastian 128 Münzer, Georg 242 Muther, Richard 269f., 284–286, 289– 291, 293, 295f., 298

Napoleon I., Ks. der Franzosen 149, 328, 451, 484, 489 Naruszewicz, Adam 367 Naso, Ephraim Ignaz 67 Naudé, Albert 462, 499 Nehring, Władysław 197, 230, 355, 426, 443, 489 Neisser, Albert 291 Neisser, Toni 291 Neubeck, Valerius Wilhelm 239 Neugebauer, Wolfgang 357, 399 Neuhoff, Wiesława 269 Neustadt, Louis 118 Nieländer, Franz 69 Niemcewicz, Julian Ursyn 321 Niger, Antonius 43 Nikolaus II., Hzg. von Oppeln 57, 488 Nikolaus IV., Papst 39 Nimptsch, Fam. 66 Nováček, Vojtěch Jaromír 429 Nowack, Karl Gabriel 225 Nucius, Johannes 242 Nürnberger, Augustin 339f., 343f., 348 Oeftering, Wilhelm Engelbert 68 Oelrichs, Heinrich 152 Oesterley, Hermann 68 Oncken, Hermann 462 Opitz, Martin 70, 234f., 238, 251, 463 Oppersdorff, Fam. 488 Otto, Carl 117, 159 Pachaly, Friedrich Wilhelm 267f. Palacký, František 383, 405, 417–420, 426, 435–442 Palm, Hermann 55, 142, 236, 413–415, 435 Papebroch, Daniel 75 Papée, Fryderyk 322 Paprocký, Bartoloměj 403 Partsch, Joseph 178, 311, 394, 487 Passow, Franz 270f., 298 Pater, Mieczysław 269 Patzak, Bernhard 280, 286–288, 291, 298 Paulus, Nikolaus 40 Paur, Theodor 22, 178, 236 Pawiński, Adolf 367

Personenregister

Pawłowska, Katarzyna Krystyna 481 Pega, Andreas Franz 244 Pekař, Josef 441f., 445 Perlbach, Max 59, 67, 347, 488, 497 Peter, Anton 306 Pez, Hieronymus 48 Pfeiffer, Christoph 403 Pfeiffer, Friedrich 227f. Pförtner, Blasius 54 Pförtner, Franz 54 Pfotenhauer, Paul 54, 62, 113, 478 Philippi, Rudolf 496 Philippine Charlotte, Hzgn. von Württemberg-Wilhelminenort, geb. von Redern 152 Piekosiński, Franciszek 422, 488, 494f. Pietsch, Josef (Pseud. Cosmus Flam) 264f. Pietsch, Paul 231f. Piotrowicz, Karol 322 Pisanski, Georg Christoph 497 Pistorius, Johann 48 Ploch, Gregor 30 Podiebrad (z Poděbrad), Georg ( Jiří) von, Kg. von Böhmen 45, 141, 396, 435, 438, 485 Pogarell, Preczlaw von 461 Pogodin, Michail Petrovič 384f. Pohl, Dieter 336 Pol, Nikolaus 50, 54f. Pol, Wincenty 321 Polaczek, Ernst 462 Poniatowski, Fam. 371 Popiołek, Franciszek 194, 322 Poser und Groß-Naedlitz, Heinrich von 68 Prasek, Vincenc 65, 443 Přemysl Otakar II., Kg. von Böhmen 435, 489, 493 Preuß, Georg Friedrich 206f. Preußler, Georg 68 Prinet, Max 107 Prittwitz, Bernhard von 55 Przerwa, Tomasz 26 Przezdziecki, Aleksander 353, 375 Purkyně, Jan Evangelista 386, 423–425 Puschmann, Adam 238, 243 Quidde, Ludwig 476

515

Rachfahl, Felix 187, 379f., 422, 462, 471 Raczyński, Edward 367 Raffael (Raffaello Sanzio da Urbino) 285 Raich, Franz Xaver 341 Rakowiecki, Ignacy Benedykt 391 Randt, Erich 95 Rangone, Gabriele 57 Ranke, Leopold (von) 88, 191, 333f., 347, 406, 428, 433f., 453 Raphael, Lutz 350 Raumer, Friedrich von 224 Reden, Friedrich Wilhelm von 329 Regell, Paul 231 Rehme, Paul 58 Reichel, Albrecht von 67 Reinelt, Paul 340 Reinkens, Joseph Hubert 456f. Reis, Karl 211 Reusner, Elias 115 Rezek, Antonín 426, 443 Rhenisch der Jüngere, David 67 Richter, Johannes 264 Richter, Paul Emil 302 Richthofen, Bolko von 265 Riedel, Adolph Friedrich 82 Riegl, Alois 298 Riehl, Wilhelm Heinrich 299f. Rinkenberg, Martin 61 Ritscher, Rudolf Martin 175 Ritschl, Friedrich Wilhelm 271, 298 Röder, Ewald 241 Römer, Hans 211 Roepell, Henriette Magdalena, geb. Geysmer 366 Roepell, Richard 22, 29, 51f., 64, 81, 151f., 154, 177f., 191, 199, 337, 346, 350, 355f., 363, 366–374, 376f., 380, 385, 391f., 409–411, 416, 455, 473, 484 Roesler, Adolph 424 Romanowski, Jan Nepomucen 370 Rosa, Reinhard 68 Rosenberg, Hans 196 Rosenberg (z Rožmberka), Jost von 39 Rosenthal, Friedrich 158 Rossbach, August 271–273, 278, 297f. Rossbach, Otto 273 Rostock, Sebastian (von) 172

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Personenregister

Roth, Johann IV. 61, 64 Roth, Stephan 64 Rother, Karl Heinrich 61 Ruchniewicz, Małgorzata 335f. Rudkowski, Wilhelm 246 Rudolf I., röm.-dt. Kg. 145 Rudolf von Rüdesheim 38, 64, 466 Rückert, Heinrich 228, 231f. Runge, Christian 49 Rybka, Heinrich 70 Šafařík, Pavel Josef 383–388, 390f., 423f. Sailer, Johann Michael 457 Sammter, Ascher 155 Santi, Giovanni 282 Santifaller, Leo 99 Sauermann, Franz 340 Sauermann, Georg 43 Saurma von und zu der Jeltsch, Hugo 103f., 106, 111, 113, 124 Schaffgotsch, Fam. 74, 104, 245, 430, 444 Schaffgotsch, Friedrich von 444 Schaffgotsch, Hans Ulrich von 467 Schaffgotsch, Philipp Gotthard von 243, 460 Schall, Carl 223 Schard, Simon 48 Schaube, Kolmar 462 Schaubert, Eduard 273 Scheffler, Johannes (Angelus Silesius) 236 Scheibel, Johann Gottfried 182 Scheps, Daniel 55 Scherer, Wilhelm 237, 239 Scherschnik (Šeršnik, Szersznik), Leopold Johann 188, 314 Schian, Martin 179 Schieche, Emil 429 Schiemann, Theodor 355 Schiller, Friedrich 239 Schimmelpfennig, Adolph 55 Schirrmacher, Friedrich Wilhelm von 88 Schlegel, Wilhelm August 239 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 166, 178 Schleugner, Sebastian 478 Schlinker, Steffen 25

Schmarsow, August 269, 279–282, 284, 289, 292–294, 298 Schmidt, Adolf 453 Schmidt, Joseph 340f. Schmidt, Julius 54 Schmidt, Ludwig 58 Schmidt, Odilo 62 Schmidt, Wilhelm Adolph 428 Schmilewski, Ulrich 25 Schmoller, Gustav (von) 16, 203f., 214 Schnabel, Joseph Ignaz 242 Schönborn, Theodor 55 Schönwälder, Karl Friedrich 181 Schössler, Johann Josef 314 Scholz, Chrysostomus 235 Scholz, Edmund 335, 339, 342 Schorn-Schütte, Luise 359 Schott, Clausdieter 162 Schroetter, Friedrich 210 Schroller, Franz 231, 487 Schubert, Fritz 59 Schubert, Heinrich 69, 404 Schuchhardt, Carl 262 Schück, Carl Eduard 208 Schück, Robert 209 Schulte, Aloys 14, 188 Schulte, Joseph Wilhelm → Schulte, Lambert Schulte, Lambert ( Joseph Wilhelm) 38, 41, 45, 50f., 62, 94, 117, 154, 159, 428f., 493f. Schultz, Alwin 43, 53f., 60, 64, 111–113, 208, 278, 281, 292, 295, 298 Schultz, Hieronymus 66 Schulz, Hans 61, 70, 151 Schumacher, Karl 262 Schummel, Johann Gottlieb 220 Schuster, Alphons 60 Schweinichen, Fam. 67, 122 Schweinichen, Constantin von 120, 122 Schweinichen, Hans von 50, 67f., 238 Schwenckfeld (von Ossig), Caspar 181 Scultetus, Andreas 234f., 238, 463 Sdralek, Max 179f. Sebisch, Albrecht von 67 Seger, Hans 27, 125, 127, 251, 258, 260– 266, 275f., 298

Personenregister

Sehling, Emil 167 Seidel, Viktor 471 Semkowicz, Aleksander 58, 322, 473, 488f. Semkowicz, Władysław 122 Semrau, Max 270, 280, 282f., 298 Seppelt, Franz Xaver 58 Serlo, Albert 213 Seydel, Hugo 315 Sickel, Theodor 84, 93, 454, 469 Siebs, Theodor 230–232, 394, 399 Sigismund von Luxemburg, röm.-dt. Ks. 37 Sigismund I., der Alte, Kg. von Polen 365 Simon, Heinrich 175 Sinapius, Johannes 76, 120 Sinzendorf, Philipp Ludwig von 466 Sitsch, Johann von 172 Skalitzky, Augustin 339, 343 Sláma, František 194, 306, 331 Slavík, František August 429 Smoleński, Władysław 365f. Smoler, Jan Arnošt 424 Smolka, Stanisław 35, 51, 321, 422 Sobieski, Jakob Ludwig 486 Sobieski, Wacław 321f. Soerensen, Asmus 475f. Soffner, Johannes 160, 170, 173, 478 Sokołowski, Marian 494 Sombart, Werner 195, 203, 205 Sommer, Fedor 239, 407f. Sommersberg, Friedrich Wilhelm von 34, 49, 51, 53f., 75, 80, 115, 118, 121 Staender, Joseph 496 Staszic, Stanisław 321 Stęczyński, Maciej Bogusz 321 Steffens, Henrik (Heinrich) 221, 394 Stehr, Hermann 240 Stein, Bartholomäus (Barthel) 42, 56 Stein, Friedrich Karl vom und zum 149, 156, 463 Steinbeck, Aemil 212 Steinberg, Michael 55 Steinberger, Johann Georg 468 Steinmetz, Johann Adam 174 Stenzel, Gustav Adolf Harald 18, 29, 33, 45, 50f., 57, 61f., 71, 79–81, 84, 88, 112, 116, 137–141, 144–148, 153f., 156–158, 161, 163, 166, 190f., 226,

517

357–361, 366f., 370, 380, 387f., 398– 401, 403–405, 409f., 412, 422f., 433, 453, 456–458, 462, 484f. Stenzel, Karl Gustav Wilhelm 358 Stieda, Wilhelm 462 Stillfried-Alcántara, Rudolf von 112f., 425 Stobbe, Otto 135 Störtkuhl, Beate 269, 283 Storck, Wilhelm 238 Stopler, Abraham 56 Stopler, Stanislaus 56 Stronczyński, Kazimierz 58 Surman, Zdzisław 206 Svátek, Josef 426 Sybel, Heinrich von 11f., 333, 453f. Szajnocha, Karol 362, 374 Szujski, Józef 364, 367 Tackenberg, Kurt 265 Talleyrand-Périgord, Dorothea de 69 Tauchen, Jodoc 278 Tentzel, Wilhelm Ernst 123 Thamm, Joseph 344, 349 Thamm, Paul 241 Theses, Fam. 67 Thoma, Walter 471 Thomas, Johann George 102, 115, 121f., 128, 433 Thomas I. von Breslau 39 Thomas II. von Breslau 39 Thommendorf, Hieronymus 55 Thommendorf, Wenzel 55 Thomsen, Christian Jürgensen 256 Thurzo, Johann V. 171, 460 Tischbein, Wilhelm 285 Tischler, Otto 262 Trampler, Richard 443 Treitschke, Heinrich von 16, 178, 333f. Treu, Daniel Gottlieb 243 Troger der Jüngere, Johannes 64 Trotzendorf, Valentin 171 Tscherning, Andreas 463 Tschesch, Johann Theodor von 182 Tschitschke, Maximilian 341, 348 Tümpel, Wilhelm 168 Türk, Gustav 56 Tymieniecki, Kazimierz 322

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Personenregister

Tzschoppe, Gustav Adolf (von) 45, 138– 140, 148, 156, 358, 360 Uhlirz, Karl 472 Ukert, Friedrich August 358, 366, 384f. Ulanowski, Bolesław 489, 491 Unverzagt, Wilhelm 262 Unwerth, Wolf von 228, 232 Ursinus, Caspar Velius 171 Vasari, Giorgio 267 Vašek, Vladimír (Pseud. Petr Bezruč) 196f. Vincentius, Petrus 171 Virchow, Rudolf 259f. Vischer, Friedrich Theodor 281 Vischer, Robert 281, 292, 298 Vogel, Roman 303 Vogt, Friedrich 228, 230f. Vogt, Hugo 339 Voigt, Johannes 91, 360, 367 Volger, Ernst 69 Volkmer, Franz 28f., 59, 89, 336, 338f., 341–349, 351 Volkmer, Paul Albert 346 Volz, Berthold 230 Voßberg, Friedrich August 104 Vries, Adriaen de 285 Vulturinus (Geyer), Pancratius (Pankraz) 56 Wachler, Ludwig 212, 235, 277, 298, 386 Wachter, Franz 52, 62, 427 Wackernagel, Philipp 168 Wagner, August 230, 476–488, 498, 500 Wagner, Christoph 69 Wagner, Richard 238 Wahner, Ernst 486 Waitz, Georg 321 Waliszewski, Kazimierz 371f. Wallenstein (z Valdštejna), Albrecht Wenzel Eusebius von 415f., 441, 445 Walter, Rolf 202 Walther, Anton Balthasar 75, 83 Waniek, Gustav 306 Warburg, Aby 282 Warnatsch, Otto 231 Warschauer, Adolf 189, 198

Wattenbach, Wilhelm 18, 21, 29, 51, 55, 62f., 81–85, 97, 112, 137, 190, 337, 346, 350, 360f., 432, 455, 460f., 484, 491, 499 Weber, Karl von 434 Weber, Tobias 28 Wedekind, Eduard Ludwig 346 Wegele, Franz Xaver von 15 Weigelt, Carl 122, 479 Weinhold, Karl 45, 55, 225–232, 300, 312, 391, 393, 445, 482 Weiß, Friedrich G. Adolf 485 Weiß, Karl Franz Joseph 240 Weltzel, Augustin 117, 192, 331f., 442, 464, 479f. Wendeler, Nikolaus 69 Wendroth, Emil 59 Wendt, Georg 481 Wendt, Heinrich 44, 65, 142f., 156, 163, 215, 462 Wenzel II., Kg. von Böhmen 145 Wenzelides, Otto 310 Werner, Friedrich Bernhard 129 Wernicke, Ewald 53, 55f., 58, 60, 160 Wesemann, Hermann 88 Wetzel, Johann Christian Friedrich 267 Wiese, Leopold von 341 Wiese und Kaiserswaldau, Hugo von 341– 344, 347 Wilbrandt, Robert 210 Wilda, Wilhelm Eduard 135 Wilhelm I., dt. Ks. 180, 193 Wilhelm II., dt. Ks. 215, 236, 328, 476 Wilhelmi, Karl 266 Willmann, Michael 285 Winiarz, Alojzy 493 Winkler, Adalbert von → Kętrzyński, Wojciech Winkler, Andreas 244 Wittich, Karl 462 Wladislaw II., Kg. von Böhmen und Ungarn 57 Władysław I. Ellenlang, Kg. von Polen 493 Władysław I., Hzg. von Oppeln-Ratibor 497 Władysław II., der Vertriebene, Seniorhzg. von Polen 35f.

Personenregister

Wölffin, Heinrich 289, 298 Wojciechowski, Tadeusz 472 Wolf, Johannes 342 Wolff, Christian 239 Wolff, Fritz 286 Wolfskron, Adolf von 58 Wolzogen, Ernst 68 Worbs, Johann Gottlob 77, 79, 173, 181, 268 Woyssel, Gottfried 125 Würben, Fam. 122 Würben, Heinrich von 39, 64 Wunster, Karl 234 Wutke, Konrad 13, 16, 34, 67, 69, 86f., 94f., 118, 120, 122, 178, 190, 195, 209, 211–214, 462, 472, 479–481, 489, 499 Wuttke, Heinrich 149, 163, 373, 376, 385, 387f., 391

519

Zawiliński, Roman 495 Zedlitz, Fam. 66 Zedlitz-Neukirch, Leopold von 121 Zeißberg, Heinrich von 49, 57, 354 Zernack, Klaus 359 Ziegler, Heinrich 186, 478 Ziekursch, Johannes 94, 136, 149, 155, 163, 187, 195–197, 199, 205–209, 211, 214–216, 462, 499 Zimmer, Emanuel 341, 348 Zimmermann, Albert Friedrich 218, 267 Zimmermann, Alfred 204, 208, 210, 214 Zivier, Ezechiel 198f., 213, 374, 442 Zukal, Josef 174, 331, 429, 443

520

521

Ortsregister Aachen 281 Albendorf (poln. Wambierzyce) 341, 345, 348 Aschaffenburg 204 Augsburg 479 Aurich 87 Auschwitz (poln. Oświęcim) 92, 117 Avignon 435 Bad Landeck (poln. Lądek-Zdrój) 340 Bad Reinerz (poln. Duszniki-Zdrój) 345f., 348 Bad Warmbrunn (poln. Cieplice ŚląskieZdrój) 104, 245, 315, 444 Bardo → Wartha Basel 479 Bautzen (sorb. Budyšin) 48 Berlin 14, 81, 102–104, 113, 124, 127, 175f., 189, 199, 214, 222, 230, 252, 260, 262, 264, 284, 289, 300, 308, 334, 336, 347, 355, 357f., 363, 374, 386f., 420, 422, 428, 453, 455, 488, 490 Beuthen O.S. (poln. Bytom) 66, 127, 151, 231, 240 Bielitz (poln. Bielsko) 174, 311 Bielsko → Bielitz Bierdzan (poln. Bierdzany) 496 Bierdzany → Bierdzan Bohumín → Oderberg Bojków → Schönwald Bolesławiec → Bunzlau Bolkenhain (poln. Bolków) 52 Bolków → Bolkenhain Bologna 42 Bonn 189, 341 Brandenburg an der Havel 390 Braunau (tsch. Broumov) 55, 332 Breslau (poln. Wrocław) 11–14, 16–18, 20, 23–27, 29, 33–35, 37–46, 48–71, 73–82, 84f., 87f., 90–92, 94, 96–99, 102, 104, 111f., 115–118, 121, 123f., 126f., 129, 137, 140–148, 150, 152– 156, 159, 166–170, 172f., 175–179, 181f., 184, 188–193, 195–199, 203–

208, 213, 215, 218–233, 235–238, 240–247, 252–254, 256f., 259–262, 264f., 269–283, 286–290, 292, 294– 298, 300, 303, 305, 307, 310f., 316, 323, 325f., 329–331, 334, 336f., 340f., 343, 345–351, 353–358, 360f., 363, 366f., 370, 372, 374, 377, 379f., 385– 389, 391f., 394, 396, 398, 400–402, 404f., 407, 409–413, 415–417, 419, 421–428, 430–433, 435f., 438, 442– 446, 453, 455–457, 459–464, 466, 468, 470, 472f., 476–483, 485, 487–489, 491–497, 499–501 Brieg (poln. Brzeg) 62, 69, 86, 115f., 181, 187, 387, 430, 463 Brno → Brünn Broumov → Braunau Brünn (tsch. Brno) 300, 313, 442, 470 Brüssel (ndl. Brussel, frz. Bruxelles) 224, 362 Brussel → Brüssel Brzeg → Brieg Brzeg Dolny → Dyhernfurth Budapest 435 Budyšin → Bautzen Bunzlau (poln. Bolesławiec) 463 Byczyna → Pitschen Bystrzyca Kłodzka → Habelschwerdt Bytom → Beuthen O.S. Carlsruhe O.S. (poln. Pokój) 263 Český Těšín → Teschen Chełmsko Śląskie → Schömberg Chemnitz 475 Chojnów → Haynau Cieplice Śląskie-Zdrój → Bad Warmbrunn Cieszyn → Teschen Cosel (Kosel, poln. Koźle) 192, 332, 480 Cottbus 461 Crossen an der Oder (poln. Krosno Odrzańskie) 346 Czarnowanz (poln. Czarnowąsy) 63, 485 Czarnowąsy → Czarnowanz

522

Ortsregister

Danzig (poln. Gdańsk) 95, 366, 373, 385 Dobrodzień → Guttentag Dobromierz → Hohenfriedeberg Dorpat (estn. Tartu) 255, 432 Dresden 65, 113, 118, 254, 374, 431, 434 Düsseldorf 453 Duszniki-Zdrój → Bad Reinerz Dyhernfurth (poln. Brzeg Dolny) 263 Dzierżoniów → Reichenbach Eger (tsch. Cheb) 65 Eger (Ungarn) → Erlau Eisdorf (poln. Idzikowice) 68 Emmendingen 418 Erfurt 42, 369 Erlau (ung. Eger) 57 Firenze → Florenz Florenz (ital. Firenze) 244, 282, 293f. Frankenstein (poln. Ząbkowice Śląskie) 56 Frankfurt am Main 49, 80, 87, 280, 361, 440 Frankfurt an der Oder 171, 189, 218, 246 Fraustadt (poln. Wschowa) 70 Freiburg im Breisgau 14, 339, 380, 474 Freudenberg (poln. Radosno) 68 Friedek (tsch. Frýdek) 196 Frýdek → Friedek Fürstenstein (poln. Książ) 35, 54, 104, 159, 245, 463 Gdańsk → Danzig Gellendorf (poln. Skokowa) 258 Gera 237 Gießen 380 Glatz (poln. Kłodzko) 28f., 34, 59, 63, 89, 97, 127, 160, 247, 335–351, 463f., 482 Gleiwitz (poln. Gliwice) 192, 311, 331 Gliwice → Gleiwitz Glogau (Groß-Glogau, poln Głogów) 34, 40, 52, 59f., 66, 75, 88, 107, 127, 148, 150, 152f., 159, 186, 427, 479, 487 Głogów → Glogau Głogówek → Oberglogau Głubczyce → Leobschütz Gnadenfrei (poln. Piława Górna) 165

Gnesen (poln. Gniezno) 38, 63, 426, 431, 460, 497 Gniezno → Gnesen Görlitz 108, 242, 421, 463 Göttingen 42, 76, 175, 281, 321, 341, 455, 461 Goldberg (poln. Złotoryja) 42, 60, 67, 484f. Gotha 358, 434 Gramschütz (poln. Grębocice) 66 Graz 227, 305 Grębocice → Gramschütz Greifswald 231, 298 Grodków → Grottkau Groß Tschansch (poln. Księże Wielkie) 263 Groß-Glogau → Glogau Grottkau (poln. Grodków) 114 Grünberg (poln. Zielona Góra) 61, 160, 341 Grüssau (poln. Krzeszów) 52, 75 Guttentag (poln. Dobrodzień) 192, 332 Habelschwerdt (poln. Bystrzyca Kłodzka) 89, 335f., 339–346, 349f. Halberstadt 63 Halle an der Saale 46, 58, 67, 75, 140f., 150, 153, 255, 380, 385, 394, 488, 497 Hamburg 300, 358 Hannover 48, 286 Haynau (poln. Chojnów) 67, 463 Heidelberg 21, 64, 81, 238, 286, 360, 432 Heinrichau (poln. Henryków) 50, 63, 74, 169, 481, 494, 498 Henryków → Heinrichau Hermsdorf (poln. Sobieszów) 430 Herrnhut 166, 174 Himmelwitz (poln. Jemielnica) 242 Hirschberg (poln. Jelenia Góra) 56, 231, 314 Hohenfriedeberg (poln. Dobromierz) 187, 468 Hradec Králové → Königgrätz Hundsfeld (poln. Psie Pole) 245 Idzikowice → Eisdorf Innsbruck 454, 470

Ortsregister

Istanbul (Konstantinopel, türk. İstanbul) 68 İstanbul → Istanbul Jägerndorf (tsch. Krnov) 59, 120, 127, 147, 151, 174, 181, 464 Jauer (poln. Jawor) 95f., 116, 145, 148, 152, 186, 430, 484 Jauernig (tsch. Javorník) 243 Javorník → Jauernig Jawor → Jauer Jelcz → Jeltsch Jelenia Góra → Hirschberg Jeltsch (poln. Jelcz) 484 Jemielnica → Himmelwitz Jena 115, 179, 308, 373 Jerusalem 224 Jever 13 Jordanów Śląski → Jordansmühl Jordansmühl (poln. Jordanów Śląski) 263 Kaliningrad → Königsberg i. Pr. Kamenz (poln. Kamieniec Ząbkowicki) 38, 63, 86, 159, 169, 463 Kamieniec Ząbkowicki → Kamenz Karlsruhe 68, 360 Kaschau (slow. Košice) 431 Kasimir (poln. Kazimierz) 479 Kazimierz → Kasimir Kiel 231, 273, 391 Kieslingswalde (poln. Sławnikowice) 337, 347 Kłodzko → Glatz København → Kopenhagen Köln 196 Königgrätz (tsch. Hradec Králové) 435 Königsberg i. Pr. (russ. Kaliningrad) 176, 199, 260, 262, 273, 360, 380, 455, 496 Kohlendorf (poln. Kolno) 340 Kolno → Kohlendorf Konstantinopel → Istanbul Konstanz 491 Kopenhagen (dän. København) 256, 259, 435 Kórnik → Kurnik Kosel → Cosel Košice → Kaschau

523

Koźle → Cosel Krakau (poln. Kraków) 42, 92, 118, 144, 230, 307f., 321, 353, 355, 364–367, 370–372, 380, 431, 452, 488–493, 495–497, 499 Kraków → Krakau Krnov → Jägerndorf Krosno Odrzańskie → Crossen an der Oder Krzeszów → Grüssau Książ → Fürstenstein Księże Wielkie → Groß Tschansch Kunersdorf (poln. Kunowice) 468 Kunowice → Kunersdorf Kupferberg (poln. Miedziana) 444 Kurnik (poln. Kórnik) 354, 374 Kynau (poln. Zagórze Śląskie) 295 Lądek-Zdrój → Bad Landeck Lauban (poln. Lubań) 48 Legnica → Liegnitz Leipzig 12, 20, 42, 45, 70, 76, 222, 231, 264, 281, 293, 308, 334, 358, 363, 373, 376, 387–389, 399, 424, 444, 472, 475 Lemberg (ukr. Ľviv) 51, 57f., 92, 198, 321, 363f., 379, 452, 454, 472–475, 480, 483, 488f., 492–494, 497, 499 Leobschütz (poln. Głubczyce) 59, 120, 479 Leszno → Lissa Leubus (poln. Lubiąż) 45, 50f., 62f., 92, 94, 112, 169, 283, 471, 480–482, 493f., 497 Leuthen (poln. Lutynia) 187 Lewin (poln. Lewin Kłodzki) 345 Lewin Kłodzki → Lewin Liegnitz (poln. Legnica) 41, 59, 67, 88, 116, 124, 147, 155, 187, 222, 237, 247, 264, 462f., 478, 482, 487 Lissa (poln. Leszno) 435 Löwenberg in Schlesien (poln. Lwówek Śląski) 45, 52, 59, 88, 115, 169, 235 Loslau (poln. Wodzisław Śląski) 486 Lubań → Lauban Lubiąż → Leubus Lutynia → Leuthen Ľviv → Lemberg Lwówek Śląski → Löwenberg in Schlesien

524

Ortsregister

Magdeburg 46, 69, 140, 147, 150, 153f., 156, 161f., 171, 482 Mainz 48, 262, 266 Malonne 39 Małujowice → Mollwitz Marburg an der Lahn 264, 424 Melk 48 Mertschütz (poln. Mierczyce) 264 Miedziana → Kupferberg Międzylesie → Mittelwalde Mierczyce → Mertschütz Mittelwalde (poln. Międzylesie) 345 Moczydlnica Klasztorna → Mönchmotschelnitz Mönchmotschelnitz (poln. Moczydlnica Klasztorna) 264 Mollwitz (poln. Małujowice) 187, 327 Moskau (russ. Moskva) 384f. Moskva → Moskau München 225, 260, 281, 284, 286, 299, 340, 453, 476 Münster/Westfalen 14 Münsterberg (poln. Ziębice) 116, 119 Mysłowice → Myslowitz Myslowitz (poln. Mysłowice) 340 Namslau (poln. Namysłów) 54, 68 Namur 39 Namysłów → Namslau Neisse (poln. Nysa) 22, 40, 57, 96, 114, 178, 181, 326, 328f., 332, 488 Neumarkt in Schlesien (poln. Środa Śląska) 46, 54, 57, 95, 140f., 153, 239 Neurode (poln. Nowa Ruda) 340, 342, 344 Neustadt O.S. (poln. Prudnik) 192, 332 Neuweistritz (poln. Nowa Bystrzyca) 340 Nowa Bystrzyca → Neuweistritz Nowa Ruda → Neurode Nürnberg 224, 266 Nysa → Neisse Ober Peilau → Gnadenfrei Oberglogau (poln. Głogówek) 40, 479 Oderberg (tsch. Bohumín) 151, 431 Oels (poln. Oleśnica) 34, 88, 116, 121, 152, 243f., 396, 403, 463, 480f., 486

Ohlau (poln. Oława) 142, 410, 482, 484, 486 Oława → Ohlau Oldenburg in Oldenburg 222 Ołdrzychowice Kłodzkie → Ullersdorf an der Biele Oleśnica → Oels Olmütz (tsch. Olomouc) 403 Olomouc → Olmütz Oltaschin (poln. Ołtaszyn) 170 Ołtaszyn → Oltaschin Opava → Troppau Opole → Oppeln Oppeln (poln. Opole) 40, 59, 120, 247, 264, 307f., 325, 328, 330, 332, 479, 486, 489, 496 Ostrov → Schlackenwerth Oświęcim → Auschwitz Otmuchów → Ottmachau Ottmachau (poln. Otmuchów) 40, 486 Paczków → Patschkau Paderborn 231 Paris 285, 362 Patschkau (poln. Paczków) 59f. Peiskretscham (poln. Pyskowice) 35, 192, 329, 331 Pesaro 287 Piława Górna → Gnadenfrei Pitschen (poln. Byczyna) 495 Pogrzebień → Pogrzebin Pogrzebin (poln. Pogrzebień) 480 Pokój → Carlsruhe O.S. Polkowice → Polkwitz Polkwitz (poln. Polkowice) 66 Posen (poln. Poznań) 15, 189, 198, 231, 264, 363, 365, 367, 369f., 373f., 378f., 384, 431, 496 Poznań → Posen Prag (tsch. Praha) 40, 51, 59, 67f., 85, 147f., 172, 186, 198, 305, 336f., 348, 383, 385f., 389, 407, 410, 417f., 426f., 429, 431–433, 435f., 438, 440–444, 464 Praha → Prag Priebus (poln. Przewóz) 77 Pruchna 431 Prudnik → Neustadt O.S.

Ortsregister

Przewóz → Priebus Psie Pole → Hundsfeld Pyskowice → Peiskretscham Racibórz → Ratibor Radosno → Freudenberg Raigern (tsch. Rajhrad) 62 Rajhrad → Raigern Ratibor (poln. Racibórz) 34, 52, 59, 64, 120, 192, 332, 464, 479f. Rauden (poln. Rudy) 64, 459 Rawicz → Rawitsch Rawitsch (poln. Rawicz) 231 Regensburg 225, 457 Reichenbach (poln. Dzierżoniów) 226 Reinerz → Bad Reinerz Rom (ital. Roma) 66, 92, 172, 180, 188, 272 Roma → Rom Rosenthal (poln. Różanka) 341, 343, 345, 348 Rostock 88 Różanka → Rosenthal Sackrau (poln. Zakrzów) 259f., 275 Sagan (poln. Żagań) 34, 61, 108, 242 Salzburg 182 Sankt-Peterburg → St. Petersburg Schandau → Bad Schandau Schlackenwerth (tsch. Ostrov) 58 Schmalkalden 273 Schömberg (poln. Chełmsko Śląskie) 422 Schönau an der Katzbach (poln. Świerzawa) 66 Schönwald (poln. Bojków) 311 Schweidnitz (poln. Świdnica) 41, 53–56, 60, 69, 95f., 116, 119, 145, 147f., 152, 186, 222f., 247, 430, 463 Schweinern → Weidenhof Schwerin 87, 118 Ścinawa → Steinau an der Oder Skokowa → Gellendorf Sławnikowice → Kieslingswalde Sobieszów → Hermsdorf Sohrau (poln. Żory) 192, 332, 464, 480 Sorau (poln. Żary) 181 Środa Śląska → Neumarkt in Schlesien

525

St. Petersburg (russ. Sankt-Peterburg) 308 Steinau an der Oder (poln. Ścinawa) 41, 76, 239, 463 Stettin (poln. Szczecin) 422 Stockholm 262 Strasbourg → Straßburg Straßburg (frz. Strasbourg) 281 Strehlen (poln. Strzelin) 57, 482 Striegau (poln. Strzegom) 60, 155, 263, 484 Strzegom → Striegau Strzelin → Strehlen Stuttgart 118, 228 Sulechów → Züllichau Świdnica → Schweidnitz Świerzawa → Schönau an der Katzbach Świniary → Weidenhof Szczecin → Stettin Tarnowitz (poln. Tarnowskie Góry) 159 Tarnowskie Góry → Tarnowitz Tartu → Dorpat Teschen (poln. Cieszyn, tsch. Český Těšín) 34, 59, 120f., 127, 174, 187, 193, 196, 300, 309, 314, 317, 322, 331, 431, 442, 464, 470, 488 Těšín → Teschen Thommendorf (poln. Tomisław) 56 Thorn (poln. Toruń) 340 Tomisław → Thommendorf Toruń → Thorn Tost (poln. Toszek) 35, 192, 329, 331 Toszek → Tost Trachenberg (poln. Żmigród) 258, 430 Trebnitz (poln. Trzebnica) 38, 66, 84, 169, 244, 480, 494, 497 Trier 350 Troppau (tsch. Opava) 59, 65, 91, 117, 120, 127, 181, 306, 310, 314, 331, 438, 442, 464 Trzebnica → Trebnitz Tübingen 273, 281 Tworkau (poln. Tworków) 331, 464, 479 Tworków → Tworkau Ullersdorf an der Biele (poln. Ołdrzychowice Kłodzkie) 336, 338

526

Ortsregister

Venzone 66 Vilnius → Wilna Wałbrzych → Waldenburg Waldenburg (poln. Wałbrzych) 68 Wambierzyce → Albendorf Warmbrunn → Bad Warmbrunn Warschau (poln. Warszawa) 57, 92, 308, 354, 362f., 365f., 370, 374, 452, 497 Warszawa → Warschau Wartha (poln. Bardo) 169 Weidenhof (Schweinern, poln. Świniary) 263 Welun (poln. Wieluń) 198 Wieluń → Welun Wien 19, 28, 35, 49, 68, 81, 85, 93, 99, 112, 193, 285, 305, 307, 336, 344, 363, 384, 431, 433, 435, 437, 441, 451, 464, 469, 470–472 Wierzbna → Würben Wiesbaden 12, 95 Wilkau (poln. Wilków) 66 Wilków → Wilkau Wilna (lit. Vilnius) 362 Wittenberg 171

Wodzisław Śląski → Loslau Wohlau (poln. Wołów) 187, 430 Woischwitz (poln. Wojszyce) 263 Wojszyce → Woischwitz Wołów → Wohlau Wreschen (poln. Września) 379 Wrocław → Breslau Września → Wreschen Wschowa → Fraustadt Würben (poln. Wierzbna) 481 Ząbkowice Śląskie → Frankenstein Żagań → Sagan Zagórze Śląskie → Kynau Zakrzów → Sackrau Żary → Sorau Zerbst 398 Ziębice → Münsterberg Zielona Góra → Grünberg Złotoryja → Goldberg Żmigród → Trachenberg Żory → Sohrau Züllichau (poln. Sulechów) 181 Zweibrücken 48 Zwickau 64