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German Pages 244 [246] Year 2015
Museumsverband des Landes Brandenburg (Hg.) Entnazifizierte Zone?
Edition Museum | Band 7
Museumsverband des Landes Brandenburg (Hg.)
Entnazifizierte Zone? Zum Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus in ostdeutschen Stadt- und Regionalmuseen
Mit freundlicher Unterstützung durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg und die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort
Gabriele Helbig | 7 Einführung
Susanne Köstering, Christian Hirte | 9 Der nationalsozialistische Zivilisationsbruch in der geteilten deutschen Geschichtskultur
Martin Sabrow | 17 Museale Entwicklungen in ostdeutschen KZ-Gedenkstätten vor und nach dem Fall der Mauer
Insa Eschebach | 43 „Gesellschaft im Blick“: Probleme der Musealisierung von NS- und DDR-Alltag aus zeitgeschichtlicher Sicht
Andreas Ludwig | 65 „Leere Gesten“? Darstellungsmuster in Ausstellungen zur NS-Zeit
Susanne Hagemann | 77 Die letzte ideologiefreie Bastion: der nationalsozialistische Angriff auf den Haushalt
Michael Lingohr | 93 „Jeder wird heute irgendwie in den Strudel der Ereignisse gezogen.“ Zum historiografischen und musealen Umgang mit Tagebüchern der 1930er und 1940er Jahre
Janosch Steuwer | 111 Zwischen Einschulung und Einberufung. Eine Ausstellung zum Alltag im „Dritten Reich“ im Stadtmuseum Schwedt/Oder
Anke Grodon | 127
In Trümmern. Die Zerstörung Rostocks im April 1942 . . Eine Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Rostock zur Auseinandersetzung mit problematischer Stadtgeschichte
Steffen Stuth | 137 Den Zweiten Weltkrieg in Ostdeutschland ausstellen
Jens Wehner | 147 Der Nationalsozialismus in Ausstellungen des Potsdam Museums – vor und nach 1989
Jutta Götzmann, Wenke Nitz | 163 Zeitgeschichtliche Archäologie und Ding-Pädagogik In der Gedenkstätte Buchenwald
Ronald Hirte | 177 Nationalsozialismus ausstellen: Zum Umgang mit NS-Objekten im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg
Martina Christmeier, Pascal Metzger | 191 Rechtsradikale im antifaschistischen Staat?
Patrice Poutrus | 209 Museen, Geschichte und rechte Milieus: Fallbeispiele aus Brandenburg
Dirk Wilking | 221 Bildnachweis | 237 Autorinnen und Autoren | 241
Vorwort
Die Geschichte des Nationalsozialismus ist in vielen Museen in Ostdeutschland immer noch ein Randthema. Zwar wurden seit den 1990er Jahren unter den ostdeutschen Gedenkstätten intensive Debatten über den erinnerungspolitischen Umgang mit dem Nationalsozialismus ausgetragen, diese Diskussionen erreichten die Mehrzahl der ostdeutschen Museen jedoch nicht. Die als unzeitgemäß empfundenen Antifa-Ausstellungen aus der Zeit der DDR waren nach 1990 abgebaut, neue Präsentationen aber kaum aufgebaut worden. Vielfach fehlten die Ansätze. Es erscheint plausibel, dass dies auch eine Nachwirkung des „verordneten Antifaschismus“ der DDR ist, der den Fokus der Erinnerung wesentlich auf den kommunistischen Widerstand beschränkt hatte und nach dem Zusammenbruch der DDR eine Leerstelle im historischen Bewusstsein hinterließ. Die Beschäftigung mit der NS-Alltagsgeschichte in Westdeutschland seit den 1980er und mit der DDR-Alltagsgeschichte in Ostdeutschland seit den 1990er Jahren hat neue Ansätze etabliert, die nun auch für die Darstellung von NS-Geschichte in Museen fruchtbar werden können. Vielfältige neue kultur-, sozial- und wirtschaftshistorische Zugänge und Sichtweisen sind neben die politikgeschichtliche Betrachtung getreten. Damit ist auch der mikrohistorische Ansatz gestärkt worden. Die lokalen und regionalen Museen sind in besonderer Weise geeignet, gerade diese Perspektive einzunehmen und dadurch das Eindringen des Nationalsozialismus in die Haltungen und Handlungen konkreter Gesellschaften zu thematisieren. Auf diese Weise kann der Bezug der Geschichte zur Gegenwart verdeutlicht und eine Sensibilität für die Entwicklung vor Ort geschaffen werden. Lokale und regionale Museen können zu einer aktiven Auseinandersetzung mit und zur Abwehr von rechtsradikalen Haltungen und Gesinnungen beitra-
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gen. Dafür ist die differenzierte Darstellung der örtlichen NS-Geschichte in den Museen unverzichtbar. Dennoch haben sich viele regionalgeschichtliche Museen in Ostdeutschland diesem Thema noch nicht gestellt. Die Gründe können verschieden sein: Sei es aus Mangel an einschlägigen Sammlungsbeständen oder aufgrund von Schwierigkeiten mit einem neu zu erlernenden Umgang mit zeitgeschichtlich relevanten Themen. Vermehrte Anfragen – sei es aus familiengeschichtlichem Interesse oder im Kontext von Forschungsvorhaben – fordern die Museen aber zunehmend heraus, sich verstärkt dieser Thematik zu widmen und eigene Projekte zu erarbeiten. Um diese Entwicklung voranzutreiben, lud der Museumsverband Brandenburg vom 17. bis 19. Oktober 2013 unter dem Titel „Entnazifizierte Zone? Zum Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus in ostdeutschen Stadt- und Regionalmuseen“ zu seiner Herbsttagung nach Potsdam ein. Die Referate dieser Tagung sind nunmehr in diesem Band versammelt. Wir danken den Referentinnen und Referenten, den Kooperationspartnern – dem Potsdam Museum/Forum für Kunst und Geschichte, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Brandenburgischen Landeszentrale für Politische Bildung und dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam – sowie dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg für ihre Unterstützung. Möge dieser Tagungsband die Kolleginnen und Kollegen nicht nur in ostdeutschen Museen bestärken, sich der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus immer wieder neu zu stellen.
Gabriele Helbig Museumsverband Brandenburg
Entnazifizierte Zone? S USANNE K ÖSTERING UND C HRISTIAN H IRTE
Die DDR hatte bereits bei ihrer Gründung den Antifaschismus per Verfassung zur Staatsraison erklärt. Eine dementsprechend „geschichtspropagandistische“ Zweckbestimmung war auch den Museen ins Programm geschrieben. Zweifellos gab es gute Ausstellungen zur Zeit des Nationalsozialismus, in der Regel blieb dessen Behandlung aber dogmatisch und formelhaft. Statt Fragen aufzuwerfen, wurden Antworten gegeben, die schon jedem Thälmann-Pionier in Fleisch und Blut übergehen sollten. Zur musealen Darstellung der vorbildhaft „guten“ Traditionen schien man des „schlechten“ Erbes der NS-Mehrheitsgesellschaft bestenfalls als Folie zu bedürfen. Das Museum als Volksbildungseinrichtung sollte zeigen, was gesetzmäßig richtig, nicht was falsch gelaufen war in der deutschen Geschichte. Allerdings dämmerte die Zeitgeschichte in Museen der DDR in einer ideologisierten Memosphäre dahin, die nur unter den anaeroben Bedingungen des SED-Staates lebensfähig war. Die Wende spülte sie dann auch rigoros fort. Das allerdings war mit Kollateralschäden verbunden. In der letzten November-Woche des Jahres 1989 reist eine Gruppe aus Westdeutschland zu einer Begegnung nach Dresden. Es handelt sich um Pädagogen, die besonders an der Antifa-Arbeit in der DDR interessiert sind. Der Besuch war lange vorher arrangiert worden, die Wende nicht eingeplant. So tappt die Gruppe unversehens mitten in den ideologischen Kehraus: „Im ‚Museum für Geschichte der Stadt Dresden‘ vor der Abteilung für jüngere Geschichte ein Schild ‚Wegen Renovierung geschlossen‘. Drinnen sieht es aus wie in
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einem geplünderten Warenhaus: leere Vitrinen und ausgeräumte Fenster, die Bilder abgehängt, Leitern stehen herum, an einem leeren Podest noch die Beschriftung ‚Iwan Stepanowitsch Konew, zweifacher Held der Sowjetunion – unter seiner persönlichen Führung wurde Dresden vom Faschismus befreit‘. Die Büste fehlt. Herr Reichert, der Abteilungsleiter, erläutert die Kritik an der bisherigen Faschismusdarstellung und der Präsentation der Nachkriegszeit. Widerstand, das war nicht nur KPD, und KPD, das war nicht die ganze Arbeiterbewegung, und die NS-Zeit, das war natürlich nicht nur der Widerstand. Eigentlich banal, aber bisher nicht präsent. Zum Alltag im Nationalsozialismus gibt es rein gar nichts in diesem Museum, einen HJ-Dolch, ein paar Püppchen vom Winterhilfswerk, ein Foto – und das soll den fragenden Jugendlichen eine Antwort sein auf ihr Insistieren, was die Mehrheit der Deutschen, was ihre Großeltern denn gemacht haben im Dritten Reich? Die Schliessung der Abteilung hat nichts zu tun mit den gegenwärtigen Umwälzungen, hören wir. Die Museumsleute haben schon bedauert, daß in den 50er Jahren alle Objekte der Nazi- und Kriegszeit ausgemerzt wurden. Und doch kann das nicht nur damit erklärt werden. Man wollte wohl auch die Assoziationen zwischen NS-Kult und stali1
nistischem Pomp oder kommunistischem Ritual verhindern.“
Ähnliche Situationen ließen sich 1989/90 in vielen Häusern der Noch-DDR 2 finden. „Objektiv vor diese Aufgabe [d.h. den Umbau der Ausstellung] gestellt, sind wir natürlich durch diese Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse, das steht fest“, rechtfertigt sich eine Kollegin im Frühjahr 3 4 1990. Von „Erscheinungen der Bilderstürmerei“ wurde gesprochen. Möglicherweise nur in einem Fall ging dem gut gemeinten Museoklasmus eine öffentlich geführte Debatte voraus: Gemeint ist das Projekt zum
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Martin Stankowski, Der Antifaschismus als Pflegeobjekt, in: Klaus I. Rogge/Leonie Wannenmacher (Bearb.), Mitten in die Wirren: Zwei Reisen in die DDR/BRD. Antifaschismus-Geschichte(n), Soest 1992,S. 22-47, hier: S. 43.
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Andreas Ludwig, Zum Wandel lokalgeschichtlicher Museen in der ehemaligen DDR nach der Wende 1989, in: Bernd Faulenbach/Franz Jelich (Hg.), Probleme der Musealisierung der doppelten deutschen Nachkriegsgeschichte, Essen 1993, S. 93-101.
3 4
Ebd. S. 93 f. Uwe Hecker/Wolf Karge, Museen im Umbruch: Zur Lage der Museen in den neuen Bundesländern. Brandenburgische Museumsblätter 14 (1995), S. 18-25, hier: S. 19.
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Traditionskabinett „Antifaschistischer Widerstand im Prenzlauer Berg“ in 5 Berlin 1991. Die Mitglieder einer Arbeitsgruppe „Kritische Kommentierung“ machten die Ausstellung nun selbst zum Exponat. Nie vorher und auch nie mehr danach ist ein DDR-Traditionskabinett einer vergleichbar kritischen, öffentlichen Auseinandersetzung unterzogen worden. „Je tiefer wir in die Struktur und Funktionsweise dieser Ausstellung eindrangen, desto schärfer wurde der Blick für jedes falsche Wort, jede leere Phrase, für die Kälte und Gleichgültigkeit, die nicht wenige der Texte ausstrahlten.“6 „Statt Zivilicourage, Toleranz, Mitleid, selbständigem Denken, werden hier Gehorsam, Disziplin, Autoritätsglaube und Begeisterung für Fahnen und Waffen propagiert. Vielen Jugendlichen wurde so der Zugang zu diesem Stück deutsche Vergangenheit verstellt.“7 „Heute, einige Wochen nach Neueröffnung der kommentierten Ausstellung, wird deutlich, dass wir uns mit dieser Arbeit zwischen alle Stühle gesetzt haben. Während uns die einen die Kritik am geheiligten Antifaschismus vorwerfen, können uns die anderen nicht verzeihen, dass wir die alte Ausstellung nicht abgebaut haben. Inzwischen haben wir verstanden, dass wir es niemandem recht machen können und dass gerade diese heftige Auseinandersetzung der einzige Zweck unserer Arbeit sein musste.“8
Bald darauf wurde das Traditionskabinett, gleich zahllosen anderen, dauer9 haft geschlossen.
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Mythos Antifaschismus: Ein Traditionskabinett wird kommentiert. Hg. vom Kulturamt Prenzlauer Berg und dem Aktiven Museum Faschismus und Widerstand in Berlin e. V., Berlin 1992; vgl. Martin Schönfeld, Die kritische Kommentierung. Zwei Beispiele eines veränderten Umgangs mit dem kulturpolitischen Erbe der DDR, in: Katharina Flügel, Musealisierung der DDR? Leipzig 1992, S. 88-105.
6
Annette Leo, Die zwiespältige Ausstellung, in: Mythos Antifaschismus 1992, wie Anm. 5, S. 7-11, hier: S. 9.
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Ebd. S. 10. Ebd. S. 10 f. Wolf Karge gibt deren Zahl mit zuletzt 1.400 an: Wolf Karge, Was bleibt von den DDR-Museen?, in: Vom Elfenbeinturm zur Fußgängerzone: Drei Jahrzehnte deutsche Museumsentwicklung. Hg. vom Landschaftsverband Rheinland, Opladen 1996, S. 177-194, hier: S. 18.
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Der Umgang mit zeitgeschichtlichen Ausstellungen im Rahmen der Wende 1989/90 ist ein noch ungeschriebenes Kapitel deutscher Museumsgeschichte. Oft erfolgten verändernde Eingriffe spontan durch die Museumsmitarbeiter, andernorts erst auf Druck eines „Runden Tisches“. Die überstürzten Schließungen zeithistorischer Ausstellungen waren der verzweifelte Versuch, in allerletzter Minute auf einen bereits abfahrenden Zug aufzuspringen. Die Wende bescherte den ostdeutschen Museen in den frühen 1990er Jahren eine schwere Existenzkrise. Zahlreiche Museumsleiter und Museumsleiterinnen wurden (aus welchen Gründen auch immer) abgesetzt. Angesichts eines teilweise erdrutschartigen Personalabbaus fürchteten Mitarbeiter um ihre Stellen. Viele Häuser sahen sich mit Formen neuer Trägerschaften konfrontiert. Man beschäftigte sich in erster Linie mit sich selbst und seiner institutionellen Existenz. Von 1989 bis 1991 verzeichneten die Museen in den ostdeutschen Flächenländern einen Besucherrückgang von 29,5 Mio. auf 18,5 Mio. – ein 10 Minus von ca. 37 Prozent! „Derzeit finden viele Ausstellungen ohne Be11 teiligung der Öffentlichkeit statt“, konstatiert Martin Roth 1991. Ein solches „Plebiszit“ dürfte in der deutschen Museumsgeschichte, von den beiden Nachkriegszeiten des 20. Jahrhunderts abgesehen, einzig dastehen. Die Museen wurden offenbar nicht als Institutionen wahrgenommen, die geeignet waren, den Menschen auf dem Weg in die neue Zeit Orientierung oder Rückhalt zu geben. Eher dürfte von einem tiefsitzenden Vertrauensverlust auszugehen sein, der mit einem offenbaren Legitimationseinbruch der Institution Museum im Osten Deutschlands verbunden war. In der ostdeutschen Museumslandschaft begann die Debatte über die Darstellung der NS-Geschichte in den Gedenkstätten, beschränkte sich aber auch weitgehend auf diese. Rückblickend erscheint es, als sei damit die
10 Erhebung der Besucherzahlen an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 1990. Materialien aus dem Institut für Museumskunde, Heft 34 (1991), S. 40, Tab. 23; Erhebung der Besucherzahlen an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 1991. Materialien aus dem Institut für Museumskunde, Heft 36 (1992), S. 38, Tab. 19. 11 Martin Roth, Freilichtmuseum oder: Der schnelle Abschied von der Geschichte, in: Flügel, 1992, wie Anm. 5, S. 114-116, hier: S. 116.
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Auseinandersetzung mit diesem Teil der Geschichte auf lange Sicht „zuständigkeitshalber“ allein den Gedenkstätten zugeordnet worden. Ende 1994 präsentierten die Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück ihre ersten neuen Dauerausstellungen. In vielen Stadt- und Regionalmuseen kamen diese Diskussionen nicht an. Man hatte andere Sorgen: „Während in elektronische Sicherungstechnik (...) erhebliche Mittel geflossen sind, mußte die Gestaltung der Ausstellungen, wie die Arbeit mit den Sammlungen überhaupt vernachlässigt wer12 den.“ An die Zeitgeschichte tastete man sich über das Themenfeld „Alltag 13 in der DDR“ heran. Mehrheitlich waren das diese „Weißt Du noch?“Ausstellungen, die Niemandem wehtun, sondern einfach ein Stück kultureller Heimat anbieten wollten. Spätestens jetzt musste die NS-Zeit in vielen stadtgeschichtlichen Dauerausstellungen als eigentümlich abwesend auffallen. Mittlerweile haben sich zwei Verfahrensmuster etabliert, die beide vorgeben, die Nazi-Zeit museal zu behandeln, genau dies aber eigentlich vermeiden: Mangels eigener Sammlungsbestände holt man die Exponate der alten Ausstellungseinheit „KPD gegen Hitler-Faschismus“ aus dem Magazin. In der Regel handelt es sich dabei um eine Hektographiermaschine, Totschläger und Schlagringe, vielleicht noch einen „Volksempfänger“ und die Jacke eines „politischen“ KZ-Häftlings. Umgetextet scheinen diese Dinge dann wieder ihre Schuldigkeit zu tun, als Exponate bleiben sie phrasenhaft. Die andere Tendenz geht in Richtung formelhafter Darstellungen auf der konsensualen Basis der Weizsäcker-Rede vom 8. Mai 1985 als Master14 Erzählung. Jede Opfergruppe wird nach Möglichkeit einmal angesprochen, die Benennung lokal verantwortlicher Repräsentanten des NSRegimes aber vermieden. Heraus kommt dann die Formel vom ubiquitären Normalfall: die NS-Zeit als Standardausführung, zum Beispiel so:
12 Wolf Karge, Museumspolitik im Osten Deutschlands. Kulturpolitische Mitteilungen 64 (1994), S. 30-31, hier: S. 31. 13 Andreas Ludwig, Zeitgeschichte in unseren Museen? Brandenburgische Museumsblätter 11 (1994), S. 26. 14 Peter Hurrelbrink, Der 8. Mai 1945 – Befreiung der Erinnerung: Ein Gedenktag und seine Bedeutung für das politisch-kulturelle Selbstverständnis in Deutschland, Bonn 2005.
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„Wie überall in Deutschland gab es in XY eine Bücherverbrennung, Aufmärsche, Maibaumplanzungen und Sonnenwendfeiern. Die Presse hat man gleich nach der Machtergreifung gleichgeschaltet. Vereine und Berufsorganisationen wurden entweder zwangsweise zu Untergruppen in Naziorganisationen gemacht oder gänzlich aufgelöst.“15
In beiden Fällen handelt es sich Notlösungen. Statt lokale Befunde individuell zum Sprechen zu bringen, scheinen sich viele Ausstellungen ungewollt einer Formelsprache zu bedienen, wie sie – wenn auch mit anderem Tenor – vor der Wende in den Museen Gang und Gäbe war. Merkwürdig, dass der hier formulierte Eindruck bislang kaum als Problem ausgemacht wurde. Und dies trotz eines anhaltenden Lamentos über rechtsextreme Gewalt im Osten Deutschlands. Wir wollten es nun genauer wissen und haben 2014 eine Umfrage gestartet. Wir fragten alle ostdeutschen Museen, ob sie vor bzw. nach 1989 Sonder- oder Dauerausstellungen zur NS-Zeit erarbeiteten. Darüber hinaus fragten wir Themen ab, den Stand der Dokumentation und Quellenüberlieferung. Alle ostdeutschen Museumsverbände und die Sächsische Landesstelle für Museumsberatung haben mitgemacht. Im Ergebnis haben sich 266 Museen beteiligt: 114 aus Sachsen (von knapp 1.000), 65 aus Brandenburg (von 300), 47 aus Thüringen (von 227), 28 aus Sachsen-Anhalt (von 423) und 12 (von 250) aus Mecklenburg-Vorpommern. Die Beteiligung war also gering, was als solches schon als Symptom gewertet werden mag. Wirklich belastbare Schlüsse lässt die geringe Zahl der Rückmeldungen kaum zu. Dazu sind systematischere und eingehendere Erhebungen nötig. Unbeschadet dessen haben wir uns entschlossen, dem Problemfeld eine Tagung zu widmen, die sich anhand von Beispielen mit der Darstellung des Nationalsozialismus in ostdeutschen Stadt- und Regionalmuseen beschäftigte, aber auch anhand einzelner Ausstellungen, Vermittlungsansätzen oder Quellengattungen Beispiele vorstellte, wie auch kleinere Museen an dieses Kapitel örtlicher Geschichte herangehen könnten. Die Tagung fand vom 17. bis 19. Oktober 2013 im Potsdam Museum – Forum für Kunst und Geschichte – statt. Die dreitägige Tagung gliederte sich in vier Teile. Der erste Teil näherte sich der Problemstellung aus drei Perspektiven: Dem Ost-West-Vergleich,
15 Text aus der Dauerausstellung im Stadtmuseum Fürstenwalde/Spree, 2013.
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der Transformation nach 1989/90 und der Alltagsgeschichte. Den Auftakt machte Martin Sabrow mit einem Vergleich zwischen dem Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik und in der DDR. Dem Antifaschismus der DDR stand der Antitotalitarismus der BRD gegenüber. Beide Staaten nahmen aber bei der Beschäftigung mit dem Thema aufeinander Bezug und arbeiteten sich aneinander ab. Der DDR und der BRD war gemeinsam, dass ihre jeweiligen dominierenden Verarbeitungsmuster als Mittel zur gesellschaftlichen Integration mit entlastender Funktion dienten. Sabrow zeigte auf, dass sowohl der westliche Antitotalitarismus als auch der ostdeutsche Antifaschismus bis heute fest in der deutschen Gesellschaft verankert sind und lange über den Umbruch 1989/90 hinaus nachwirken und so neue, direkte Zugänge erschweren. Insa Eschebach fächerte die Transformation der Erinnerungskultur vor und nach 1989 am Beispiel von KZ-Gedenkstätten auf. Kontextualisierung, Historisierung und Multiperspektivität kennzeichnen neue Ausstellungen zur NS-Geschichte in KZ-Gedenkstätten des Ostens, die damit eine Modernisierung der Gedenkstätten auch im Westen Deutschlands anstießen. Andreas Ludwig verfolgte die Spur der Alltagsgeschichte, die in unterschiedlichen Ausprägungen und Praktiken in der BRD und DDR vor 1989 aufkam – im Westen dynamisch, im Osten verhalten – und die dann nach 1990 in die Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR einfloss. Zeitweise wurde Alltagsgeschichte als Gegensatz zur politischen Geschichtsaufarbeitung aufgefasst, obwohl sie angetreten war, um ideologische Zurichtungen und Anpassungen an das Leben in der Diktatur zu analysieren. Zeitzeugeninterviews und alltägliche Dinge etablierte sie jedoch fest als Wissensquellen und bot dem Medium der Ausstellung neue Entfaltungsmöglichkeiten. Der zweite Teil widmete sich musealen Zugängen zur Darstellung des Alltags im „Dritten Reich“. Susanne Hagemann analysiert aktuelle Ausstellungsbereiche zur lokalen NS-Geschichte in Stadtmuseen – West und Ost. Sie stellte fest, dass „leere Gesten“ und schematische Herangehensweisen oftmals eine mangelnde Befassung mit der spezifischen lokalen Geschichte, ihren Akteuren und Ereignissen, verdecken. Anschließend wurden museumsrelevante Objektgruppen ins Licht gerückt: Michael Lingohr präparierte ideologische Zurichtungen und Kontexte keramischer Haushaltwaren heraus, während sich Janosch Steuwer individuellen Verarbeitungen des Lebens im Nationalsozialismus anhand von Tagebüchern näherte und Vorschläge für den Umgang mit diesen Quellen im Museum einbrachte.
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Im dritten Teil bekamen exemplarisch vier ostdeutsche Museen – in Potsdam, Schwedt, Rostock und Dresden – Raum, um neue Ausstellungen zur Geschichte des Nationalsozialismus vorzustellen und auf Ziele, Interessen und Arbeitsweisen, Akteure, Inhalte und Rezeptionsweisen einzugehen. Der letzte Teil rundete die Tagung mit vier Beiträgen ab, die die pädagogische Arbeit in den Mittelpunkt stellen, die zugleich als präventive Arbeit gegen Rechtsextremismus verstanden werden kann. Ronald Hirte (Gedenkstätte Buchenwald), Martina Christmeier und Pascal Metzger (Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg) stellten ihre Ansätze für Ding-Archäologie und Objektbefragung zur Diskussion. Abschließend klärte Patrice Poutrus über die Ursachen von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus in Ostdeutschland auf und Dirk Wilking steuerte Erfahrungen aus der Präventionsarbeit des „Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus“ in Brandenburg bei. Diese Beiträge verdeutlichen die Funktion von lokalen Museen als Korrektive einer sich dem wissenschaftlichen Diskurs entziehenden „parallelen Geschichtsschreibung“ und als Orte demokratischer Diskussionskultur. Ebenso wie die Tagung versteht sich der Tagungsband als Denkanstoß, Analysehilfe und Instrumentenbesteck für die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus im Museum. Möge er Mut machen, sich diesem Thema in der täglichen Museumsarbeit intensiver zu widmen als bisher. Möge er Museen – ob in West- oder Ostdeutschland – motivieren, ihre eigenen Ausstellungen und Vermittlungsangebote immer wieder selbstkritisch zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Wir hoffen damit Anstöße für neue, aus der kritischen Selbstbefragung heraus erwachsende Ausstellungs- und Vermittlungsansätze für lokale NS-Geschichte in Museen geben zu können – über das Land Brandenburg und die ostdeutschen Bundesländer hinaus. Denn letztlich bleibt jede Betrachtung ostdeutscher Museen einseitig, solange nicht der Vergleich mit westdeutschen Museen gezogen wird. Dafür möchte der hier vorgelegte Band Impulse geben.
Der nationalsozialistische Zivilisationsbruch in der geteilten deutschen Geschichtskultur M ARTIN S ABROW
In der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit fand die deutsche und europäische Systemkonkurrenz über vierzig Jahre hinweg einen Austragungsort ihrer politischen und weltanschaulichen Gegensätze, und zugleich zählt der geschichts- und vergangenheitspolitische Stellvertreterkrieg zu den gemeinsamen Feldern der geteilten deutschdeutschen Nachkriegsgeschichte; er entfaltete sich in der paradoxen Spannung der einerseits trennenden und andererseits verbindenden Doppelbe1 deutung, die dem Teilungsbegriff semantisch innewohnt. Eine solche Lesart muss auf den ersten Blick überraschen, denn eine Zusammenschau des ost-westlichen Umgangs mit der NS-Zeit zwischen 1945 und 1989/90 begegnet nicht geringen Schwierigkeiten: Zu unterschiedlich erscheinen zunächst die beiderseitigen Anstrengungen, die nahe Vergangenheit des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs für die Gegenwart handhabbar zu machen. Diesem bis heute vorherrschenden Befund einer fast polaren Entgegensetzung der beiden deutschen Wege zur Verarbeitung und Aneignung 1
Der Beitrag nimmt Überlegungen auf, die ich zuerst unter dem Titel „Die NSVergangenheit in der geteilten deutschen Geschichtskultur“ in: Christoph Kleßmann/Peter Lautzas (Hg.), Teilung und Integration. Die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte als wissenschaftliches und didaktisches Problem, Schwalbach/Ts. 2006, S. 132-151, entwickelt habe.
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einer gemeinsamen Vergangenheit gilt der erste Teil der folgenden Überlegungen.
Vergangenheitsvergegenwärtigung im beginnenden Systemkonflikt Nach 1945 waren beide aus den Trümmern des „Dritten Reiches“ geborenen deutschen Staaten vor die Aufgabe gestellt, Wege zum Umgang mit der jüngsten Vergangenheit und zur Bewältigung ihrer furchtbaren Hypothek zu finden. Der Nationalsozialismus war der deutschen Gesellschaft nicht von außen oktroyiert worden, sondern aus ihrer Mitte erwachsen. Der ostdeutsche Staat reagierte mit einer bis zum Untergang des SED-Staates offiziösen Kultur der Heroisierung des antifaschistischen Widerstands, die über dem Fokus auf den aktiven Kampf gegen das NS-Regime das passive Leiden an ihm ebenso überging wie den Massenkonsens mit ihm. Die kommunistisch dominierten Vorstände der Verfolgtenverbände drangen anfangs sogar darauf, Juden, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas und Homosexuelle als „Nur-Opfer“ und „Nicht-Kämpfer“ aus der Kategorie Opfer des Fa2 schismus auszugrenzen, zu der nach einer sächsischen Richtlinie vom September 1945 allein „Kämpfer gegen den Faschismus“ zu zählen seien, die in der Zeit ihrer NS-Haft und danach „ihre kämpferische Einstellung“ be-
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„Opfer des Faschismus sind Millionen Menschen, sind alle diejenigen, die ihr Heim, ihre Wohnung, ihren Besitz verloren haben, Opfer des Faschismus sind die Männer, die Soldat werden mußten und in die Bataillone Hitlers eingereiht wurden, sind alle, die für Hitlers verbrecherischen Krieg ihr Leben lassen mußten. Opfer des Faschismus sind die Juden, die als Opfer des faschistischen Rassenwahns verfolgt und ermordet wurden, sind die Bibelforscher und ‚Arbeitsvertragssünder’. Aber so weit können wird den Begriff ‚Opfer des Faschismus’ nicht ziehen. Sie haben alle geduldet und Schweres erlitten, aber sie haben nicht gekämpft.“ Vorläufige Richtlinien zur Betreuung der Opfer des Faschismus in Berlin und Sachsen, 28.6.1945, zit. n. Karin Hartewig, Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 301.
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wiesen hätten. Eine so enge Auslegung des „Kämpferideals“ musste zwar schon im September 1945 zugunsten einer Integrationspolitik wieder aufgegeben werden, die auch rassisch Verfolgte als Opfer des Faschismus an4 erkannte, sie setzte sich aber in einer Hierarchisierung der Opfergruppen fort, die den Kämpferstatus für die Gruppe der „politischen Überzeugungs5 täter“ reservierte. Schon 1948 war das Schicksal von Verfolgten außerhalb des kommunistischen Widerstandes und besonders der Opfer der nationalsozialistischen Rassenpolitik im Rundfunk der Sowjetischen Besatzungszo6 ne kein Thema mehr. Stattdessen stieg der im KZ ermordete KPD-Führer Ernst Thälmann, der in den ersten Nachkriegsjahren nur eine Randrolle in der kommunistischen Erinnerungspolitik gespielt hatte, zur Ikone eines parteisakralen Heldenkultes auf, der die Standhaftigkeit des Parteiführer-Märtyrers in die Unsterblichkeit verlängerte und sein passives Opferleiden zum aktiven Hel-
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Verordnung zur Wiedergutmachung für die Opfer des Faschismus in der Provinz Sachsen vom 9.9.1945, zit. n. ebd.
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„Juden sind auch Opfer des Faschismus“, betitelte die Deutsche Volkszeitung am 25.9.1945 ihren Bericht, dass dem Berliner Hauptausschuss der OdF vorgeschlagen worden war, „die rassisch Verfolgten in den Kreis der von ihm betreuten Opfer des Faschismus einzubeziehen“. Zit. n. Olaf Groehler, Integration und Ausgrenzung von NS-Opfern. Zur Anerkennungs- und Entschädigungsdebatte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945 bis 1949, in: Jürgen Kocka (Hg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 105-127, hier S. 109. Dieser Vorschlag blieb allerdings umstritten und ließ im Oktober 1945 einen thüringischen OdF-Vertreter erklären: „Opfer des Faschismus ist ein bestimmter Typ des Kämpfers, und den wollen wir erhalten. Können wir es vertreten, dass alle diese Leute nun auf einmal Opfer des Faschismus sind?“ Ebd., S. 110.
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Ebd., S. 110 f. Siehe auch Christoph Hölscher, NS-Verfolgte im „antifaschistischen Staat“. Vereinnahmung und Ausgrenzung in der ostdeutschen Wiedergutmachung (1945-1989), Berlin 2002.
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Christoph Classen, Faschismus und Antifaschismus. Die nationalsozialistische Vergangenheit im ostdeutschen Hörfunk (1945-1953), Köln/Weimar/Wien 2004, S. 263.
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denopfer überhöhte. Wie stark die offizielle Gedenkkultur der frühen DDR von einem heroischen Antifaschismus beherrscht wurde, die dem bloßen Opfer keinen nachdrücklichen Erinnerungswert beimaß, enthüllt der Arbeitsplan des Zentralvorstandes der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) für 1950, in dem unter dem Punkt „Beschaffung von Material für das National-Museum Auschwitz“ zur Erläuterung festgehalten wurde: „Fotografien, Lebensbeschreibungen usw. von den in Auschwitz ermordeten Widerstandskämpfern“ – für die ermordeten Juden sah der 8 Arbeitsplan offenbar keine Materialrecherchen vor. Der ostdeutsche Antifaschismus bewegte sich mit diesem Heroisierungsgestus auf einer Linie mit der politisch gelenkten Geschichtskultur des sozialistischen Lagers insgesamt. In Polen etwa wandte sich das 1948 enthüllte Denkmal zur Erinnerung an den Warschauer Ghetto-Aufstand von 1943 entschieden den „Helden und Märtyrern“ der jüdischen Nation zu. Aber die Millionen als Juden Verfolgten, die dem nationalsozialistischen Völkermord in den Vernichtungslagern von Auschwitz, Belzec und Treblinka zum Opfer fielen, spielten im polnischen Geschichtsdiskurs der fünfziger Jahre keine nennenswerte Rolle oder wurden umstandslos unter den nationalen Märtyrerkult sub9 sumiert. Damit stand er nicht allein. Auch in weiten Teilen der westlichen
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„Thälmann und Thälmann vor allen, Deutschlands unsterblicher Sohn, Thälmann ist niemals gefallen – Stimme und Faust der Nation“, lautet der Refrain des 1951 von Kurt Bartel („Kuba“) getexteten „Thälmannliedes“. Siehe auch Annette Leo, „Stimme und Faust der Nation …“ – Thälmann-Kult contra Antifaschismus, in: Jürgen Danyel (Hg.), Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995, S. 205-211.
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Arbeitsplan des Zentralvorstandes der VVN, Januar-März 1950, zit. n. Annette Leo, Das kurze Leben der VVN. Von der Vereinigung der Verfolgten des NaziRegimes zum Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR, in: Günter Morsch (Hg.), Von der Erinnerung zum Monument. Die Entstehungsgeschichte der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen, o.O. 1996, S. 93-100, hier S. 96.
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So in einem vom Politbüro der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei beschlossenen Grundsatzpapier vom März 1979: „Krieg und Okkupation brachten der polnischen Nation tragische Verluste bei. (...) In den Jahren 1939-1945 verloren als Ergebnis der Aggression, des Terrors und der Vernichtungspolitik des Drit-
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Welt und besonders in den USA war die Judenvernichtung in der Nachkriegszeit am Rand des öffentlichen Bewusstseins angesiedelt, weil sie das „Stigma des Juden als Opfer“ beförderte und dem aktivistischen Selbstbild einer ihr Schicksal optimistisch meisternden Nation weniger entsprach als die mutige Gegenwehr der Warschauer Ghettokämpfer, wie der Jüdische 10 Weltkongress 1954 feststellte. Grundsätzlich anders reagierten Staat und Gesellschaft in der Bundesrepublik. Hier herrschte in der Nachkriegszeit ein Habitus der Entlastung und Selbstversöhnung vor, der die eigene Teilhabe bis hin zur Täterschaft hinter der Selbstwahrnehmung als Opfer brauner Verführung, angloamerikanischer Bombardierung und sowjetischer Siegerwillkür zurücktreten ließ. In den Westzonen und der frühen Bundesrepublik führten die von den westlichen Besatzungsmächten in Gang gesetzten Kampagnen zur Aufarbeitung der deutschen Schuld oftmals zu einer abwehrenden Haltung; die Monstrosität des nationalsozialistischen Regimes und seiner Verbrechen wurden nach einer kurzen ersten Phase der öffentlichen Schulddiskussion überwiegend beschwiegen, ohne aber so sehr aus der gesellschaftlichen Erinnerung ausgegrenzt zu werden, wie das unzulässig vereinfachende 11 Schlagwort der verdrängten Vergangenheit rückblickend suggerierte. Die
ten Reiches über sechs Millionen polnischer Bürger ihr Leben. Die Schläge der Okkupanten richteten sich in erster Linie gegen die Avantgarde der Arbeiterklasse, gegen die Intelligenz, gegen die aktivsten und schöpferischsten Kräfte aller gesellschaftlichen Milieus.“ Zit. n. Florian Peters, Revolution der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg in der Geschichtskultur des spätsozialistischen Polens, 1976-1989, phil. Diss. HU Berlin 2014, S. 325. 10 „Die Vorstellung und das Herz der Menschen heften sich an mutige, aufopfernde und heldenhafte Taten, glänzende Beispiele von Selbstverteidigung. Stärke und Stolz (...). Der Aufstand des Warschauer Gettos (...) konnte daher die Vorstellung der Menschen fesseln und mehr (...) zum Symbol der Katastrophe werden als andere Ereignisse.“ Zit. n. Peter Novick, Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, Stuttgart/München 2001, S. 156. 11 Der Topos erlangte seine Geltungskraft am Ende der sechziger Jahre mit der Studie von Alexander und Margarete Mitscherlich über die „Unfähigkeit zu trauern“, wenngleich die mit ihm verbundene Engführung von Individual- und Sozialpsychologie im zeitgenössischen Feuilleton auch durchaus nachdenklich kommentiert wurde: „’Es bleibt gewagt, von der individuellen direkt auf die So-
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mit Hilfe von Fragebögen und Spruchkammerverfahren betriebene Entnazifizierungspolitik der West-Alliierten stieß nicht nur bei den Betroffenen auf Widerstand; sie löste in der vorwiegend auf die eigene Existenzsicherung und die Reorganisierung der Gesellschaft ausgerichteten Nachkriegszeit in der frühen Bundesrepublik eine Solidarisierungs- und Entlastungsbewegung gegen die angebliche Kollektivschuldzumessung der Sieger aus, die bis an das Ende der fünfziger Jahre anhielt und den westdeutschen Umgang mit dem Nationalsozialismus nachhaltig beeinflusste. Dass prominente NSGrößen zur Rechenschaft gezogen wurden, traf auf allgemeine Zustimmung; im Übrigen aber regierte eine nicht zuletzt von der evangelischen wie der katholischen Kirche massiv unterstützte „Persilschein“-Mentalität, die auch den am stärksten Verstrickten das Entlastungszeugnis nicht versagen wollte und der Entnazifizierungspraxis in der Forschungsliteratur das 12 Etikett einer „Mitläuferfabrik“ eintrug. In diesem Paradigma einer Selbstviktimisierung bewegte sich auch die historische Fachwissenschaft in den ersten Nachkriegsjahren. Das Bild der „deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke), das sie Studenten und Lesern nahezubringen versuchte, trug die Züge eines Unbegreiflichen, dem man zum Opfer gefallen sei und das sich nur in mythischen Wendungen vergegenwärtige lasse: „Wir sind allesamt im Dickicht. In einem dunklen Wald sind wir vom Weg abgekommen“, lauteten die Eröffnungsworte des Tübinger Historikers Rudolf Stadelmanns zu seiner Vorlesung im Wintersemester 1945/46, und ähnlich sprach Siegfried A. Kaehler vom „dunklen Rätsel deutscher Geschichte“, während es Johannes Haller erschien, „als 13 wären wir einem bösen Zauber erlegen“. Die umfassende und systematisch betriebene Ermordung der europäischen Juden war in der frühen Bundesrepublik noch kaum in das Bewusstsein der Deutschen vorgedrungen und wurde zum ersten Mal 1957 Thema
zialpathologie zu schließen.‘ Dennoch fördert dieses Wagnis wichtige und erstaunliche Erkenntnisse zutage.“ Hans Schwab-Felisch, Die verdrängte Vergangenheit. Nur eine winzige Minderheit war zum Trauern fähig, in: Die Zeit, 15.3.1968. 12 Lutz Niethammer, Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Bonn 1982. 13 Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, S. 16 f.
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einer Fernsehsendung. Nicht die nationalsozialistische Vernichtungspolitik bildete das zentrale Negativereignis der NS-Zeit im Bewusstsein der Zeitgenossen, sondern der Zweite Weltkrieg und dessen Auswirkungen auf das eigene Leben – Massenvertreibung, Bombenkrieg und schließlich die Niederlage. Selbst das 1946 veröffentlichte Buch von Eugen Kogon über den „SS-Staat“ schilderte entsprechend dem Erleben des Verfassers das System der Konzentrationslager, nicht jedoch der Vernichtungslager und ließ so das Schicksal der ermordeten Judenheit gegenüber dem der vergleichsweise 14 kleinen Gruppe der politischen KZ-Häftlinge in den Hintergrund treten. Das sich unter diesen Bedingungen bildende Geschichtsbewusstsein trug zugleich enthistorisierende und reduktionistische Züge. Es konturierte den Nationalsozialismus als Durchbruch einer im Menschen angelegten Destruktivität und blendete seine politischen und ideologischen Entstehungszusammenhänge so weit aus, dass das Hitlerreich als radikaler Bruch mit den Traditionen deutscher Geschichte erschien. Die Erklärung dafür, dass es dazu hatte kommen können, fand sich nach dieser Sicht in der dämonischen Gestalt Hitlers und seiner Clique, die Deutschland ideologisch verführt und durch einen übermächtigen Terrorapparat beherrscht hätten. Im Ergebnis setzte sich in der frühen Bundesrepublik in der staatlichen Gedenkkultur wie im gesellschaftlichen Umgang eine Abstrahierung und Entwirklichung des Nationalsozialismus durch, die die tatsächliche Verstrickung der Deutschen in die nationalsozialistische Konsensherrschaft und deren Verbrechen räumlich und mental in weite Ferne schob. Der Kontrast zwischen den beiden Geschichtskulturen in der Zeit der deutschen Teilung ist auf den ersten Blick also denkbar grell. In Ost und West schied sich die Erinnerung an die „zwölf Jahre des Tausendjährigen 15 Reichs“ nach den Grenzlinien des Kalten Krieges und diente der wechselseitigen Systemintegration mit Hilfe der spiegelbildlichen geschichtspolitischen Interpretationsmuster. Sie leiteten den Triumph der braunen Diktatur auf der einen Seite aus der verhängnisvollen Macht des Monopolkapitals ab
14 Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1946. 15 So der Buchtitel eines kurz nach der Auslieferung in der DDR verbotenen Buches von Günter Paulus: Die zwölf Jahre des Tausendjährigen Reiches. Streiflichter auf die Zeit der faschistischen Diktatur über Deutschland, Berlin (O) 1965.
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und auf der anderen aus der Verführungskraft von Umsturzideologien, und sie verhalfen im Osten dem kommunistischen Widerstand wie im Westen den nationalkonservativen bzw. christlichen Widerstand zu gedenkpolitischer Alleingeltung. Doch macht diese inhaltliche Polarität einen integrativen Blick auf die 16 doppelte deutsche Vergangenheitsverarbeitung keineswegs sinnlos. Hinter ihr verbergen sich bei näherem Zusehen doch auch Gemeinsamkeiten, die sich als realgeschichtliche Verflechtung, zeitliche Phasenparallelität und strukturelle Übereinstimmungen fassen lassen.
Vergangenheitsbewältigung als Beziehungsgeschichte Beide deutschen Wege des Umgangs mit der jüngsten Geschichte waren ungeachtet ihrer Gegensätzlichkeit in einer – wenngleich deutlich asymmetrischen – Wechselbeziehung gefangen. Allein die Existenz der Bundesrepublik als Projektionsfläche erlaubte der SED-Führung die integrationsfördernde Exterritorialisierung des NS-Erbes, die in den ersten zwanzig Jahren des zweiten deutschen Staates eine NS-Verfolgung in der DDR praktisch 17 zum Erliegen brachte; umgekehrt lieferten die angeblichen Lehren aus der Vergangenheit der Abgrenzungspolitik gegenüber dem westlichen Konkurrenten das antifaschistische Legitimationsfundament, auf dem die Rote Armee als Bundesgenosse und die sowjetische Besatzung als Befreiung gefeiert werden konnten. Ohne den Willen zur Abgrenzung vom kommunistischen Feind auf nationalem Boden wären auf der anderen Seite die Dynamik des restaurativen Umschwungs in der Vergangenheitspolitik der Bundesrepublik und der Siegeszug des Kommunismus und Faschismus parallelisierenden Totalitarismuskonzepts nicht zu erklären, ebenso wie in der
16 Zur Nützlichkeit einer komparatistischen Untersuchung der beiden deutschen Erinnerungskulturen: Jan Holger Kirsch, „Wir haben aus der Geschichte gelernt“. Der 8. Mai als politischer Gedenktag in Deutschland, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 140 ff. 17 Vgl. zu diesem Komplex die Studie von Annette Weinke, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigung 1949-1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn u.a. 2002, S. 314 ff.
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westdeutschen Geschichtswissenschaft die ideologische Offensive des SED-Regimes gegen die braune Belastung der historischen Ostforschung besonders seit dem Trierer Historikertag 1958 dazu beitrug, die Selbstreflexion der Disziplin über ihre personelle und inhaltliche Verstrickung in den 18 Nationalsozialismus bis nach 1989 hinauszuschieben. Neben dieser indirekten Rückwirkung des jeweils anderen auf den eigenen Umgang mit der Vergangenheit lassen sich aber auch unmittelbare Bezugnahmen anführen, die das Kontrastbild zweier einander polar gegenüberstehender Modi der Vergangenheitsverarbeitung relativieren. Hier ist vor allem auf die direkten Einwirkungsbemühungen der DDR-Führung auf die bundesdeutsche Innenpolitik hinzuweisen, wie sie sich in der publizistischen Beeinflussung von Amnestiedebatten zeigte, und natürlich an der strategischen Ausrichtung der KPD-Politik bis 1956 bzw. der DKP ab 1968. Eine besondere Rolle nahm hierbei das Ministerium für Staatssicherheit wahr: Auch wenn seine oft behauptete Täterschaft an den Kölner Synagogenschmierereien zu Weihnachten 1959 nach heutigem Kenntnisstand 19 wohl in das Reich der Legenden zu verweisen ist, unterstützte es nicht nur
18 Zur ebenso breiten wie kontroversen Debatte um die Rolle der deutschen Ostforschung in der NS-Zeit vgl. Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993; Michael Fahlbusch, Wissenschaftlich im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931-1945, Baden-Baden 1999; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus: Die deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Halle 1998. Den Selbstbefragungsschub der Zunft seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre dokumentieren: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1999; Rüdiger Hohls/Konrad H. Jarausch (Hg.), Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, Stuttgart/München 2000; Christoph Kleßmann, DDR-Historiker und „imperialistische Ostforschung“. Ein Kapitel deutsch-deutscher Wissenschaftsgeschichte im Kalten Krieg, in: Deutschland-Archiv 35 (2001), H. 1, S. 13-31. 19 Die in der Literatur nach 1990 angeführten Belege einer MfS-Täterschaft (Michael Wolffsohn, Die Deutschland-Akte. Juden und Deutsche in Ost und West. Tatsachen und Legenden, München 1996) wurden schon im zeitgenössischen Feuilleton als nicht substantiell zurückgewiesen. Vgl. Michal Bodemann, Die
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mit seinen Mitteln die von Ost-Berlin aus betriebene Entlarvung der „Nazis 20 in Bonn“ als „Gefahr für die Welt“, sondern war offenbar auch an der antisemitischen Schmierwelle beteiligt, die zur Jahreswende 1959/60 durch 21 die Bundesrepublik rollte und erhebliche öffentliche Wirkung zeigte. Die ostdeutsche Publizistik wurde nicht müde, gegen die behauptete Kontinuität
Protokolle der Weisen von Wandlitz, in: tageszeitung, 19.12.1995. Vgl. auch Henry Leide, NS-Verbrecher und Staatssicherheit: Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR. Analysen und Dokumente, Göttingen 2005, S. 76 f. 20 Auslandspresse empört über Antisemitismus im Westzonenstaat: Nazis in Bonn – Gefahr für die Welt, in: Neues Deutschland, 4.1.1960. 21 Dabei bediente das SED-Regime sich zur Erhöhung der eigenen Glaubwürdigkeit nicht zuletzt auswärtiger Stimmen, die gelegentlich auch auf eigene vergangenheitspolitische Problemlagen der DDR hinwiesen: „‘Ich bin tief beunruhigtüber das Ausmaß der antisemitischen Demonstrationen in (West-) Deutschland‘, schreibt der ehemalige Senator und Vizepräsident der französischen Vereinigung der ehemaligen Widerstandskämpfer, Debu-Bridel, in der Wochenzeitung ‚France Nouvelle’. (-) ‚Daß wir heute nach der Wiedergeburt des Militarismus auch den Antisemitismus erleben, ist fast natürlich. Die Anwesenheit eines Mannes wie des Hitlergenerals Speidel an der Spitze der Armee und eines Oberländer im Vertriebenenministerium in Bonn bedeutet nichts anderes als eine Sanktionierung der Wiederaufwertung des Hitler-Faschismus. Das ist das Drama der Bonner Bundesrepublik. Von bestimmter Seite wird mir gesagt, daß es auch ehemalige Nazis in der Deutschen Demokratischen Republik gibt. Das mag stimmen. Aber sie können dort nur auftreten, weil sie mit dem Nazismus völlig gebrochen haben und ihn verurteilen. In Bonn aber erleben wir Tag für Tag eine Rehabilitierung des deutschen Militarismus, dessen Konsequenz der Nazismus ist. Man muß das Übel an der Wurzel packen.‘“ Antisemitismus ist Folge des Militarismus. Weltweiter Protest gegen faschistische Welle hält an/Neue Schmierereien in Westdeutschland, in: Berliner Zeitung, 15.1.1960. Vgl. auch Juliane Schwibbert, Die Kölner Synagogenschmierereien Weihnachten 1959 und die Reaktionen in Politik und Öffentlichkeit, in: Geschichte in Köln 33 (1993), S.73-96; Hubertus Knabe, Die unterwanderte Republik. Die Stasi im Westen, Berlin 1999, S. 126-133. Zur Intensivierung der politischen Bildungsarbeit als Reaktion auf die Synagogenschändungen in Düsseldorf, Köln und anderswo: Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001, S. 147 ff.
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des NS-Regimes zu den „Bonner Ultras“ zu Felde zu ziehen, und sie beharrte in einer bemerkenswerten Offenlegung der eigenen vergangenheitspolitischen Handlungsmaximen darauf, die historische Schuldfrage allein an die bundesdeutschen Machteliten zu richten: „Diejenigen, die vor der ganzen Welt mit Makel behaftet sind, einen neuen Nazismus zu züchten, und die sich vorbereiten, die deutschen Grenzen durch einen Krieg zu revidieren, versuchen das ganze deutsche Volk mit der Nazischande zu identi22 fizieren.“ Einen ganz erheblichen Beitrag sowohl zur innenpolitischen Versteifung der bundesdeutschen Abwehrhaltung gegenüber der eigenen Belastung wie auch zu dem mit einsetzendem Generationswandel immer vehementeren Aufbrechen des gesellschaftlichen Schweigekonsenses leisteten die von der SED in der Folge initiierten Braunbuch-Kampagnen. Sie nutzten die seit den Kölner Vorfällen und besonders im Zuge des Eichmann-Prozesses gewachsene internationale Sensibilität gegenüber dem deutschen Völkermord, um mit teils echten, teils gefälschten Belegen die Rolle deutscher Politiker wie Hans-Maria Globke, Theodor Oberländer, Kurt-Georg Kiesinger oder Heinrich Lübke in der NS-Zeit offenzulegen 23 und die Bundesrepublik politisch international zu diskreditieren. Weniger stark sind Beeinflussungen in die umgekehrte Richtung nachweisbar, wenngleich auch sie nicht ganz fehlen. So führte ein justizieller Materialaustausch im Zuge des Limburger „Euthanasie“-Prozesses 1963 dazu, dass die ostdeutsche Seite sich zu einem Pendant-Prozess gedrängt sah, um sich hinsichtlich der Vergangenheitspolitik nicht in den Schatten 24 ihres westdeutschen Konkurrenten stellen zu lassen. In welcher Weise die Situation in der Bundesrepublik die Haltung der ostdeutschen Strafverfolgungsorgane bestimmte, illustriert ein MfS-Vermerk über die Zweckmäßigkeit eigener Ermittlungen gegen belastete DDR-Bürger: „Falls einzuleitende Feststellungen ergeben, dass keiner der belasteten westdeutschen
22 Stanley Harriton, Bonn sucht Prügelknaben. in: Berliner Zeitung, 15.1.1960. 23 Michael Lemke, Instrumentalisierter Antifaschismus und SED Kampagnenpolitik im deutschen Sonderkonflikt 1960-1968, in: Jürgen Danyel (Hg.), Die geteilte Vergangenheit, S. 61-86; Stephan Reinhardt, „Der Fall Globke“, in: Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte (1995), H. 5, S. 437-447; Philipp-Christian Wachs, Der Fall Theodor Oberländer (1905-1998). Ein Lehrstück deutscher Geschichte, Frankfurt a.M./New York 2000. 24 Weinke, Die Verfolgung von NS-Tätern, S. 328 ff.
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Ärzte strafrechtlich verfolgt werden, könnte unsererseits der Beweis angetreten werden, dass im Gegensatz zu Westdeutschland in unserem Staat 25 derartige Verbrechen geahndet werden.“ Auf der anderen Seite sah sich das SED-Regime nicht selten gezwungen, der innerdeutschen Konkurrenzsituation dadurch Rechnung zu tragen, dass es Fälle eigener NS-Belastung in besonderer Weise kaschierte oder besonders hart verfolgte. In jedem Fall richtete sich die ostdeutsche Bewältigungspraxis in entscheidendem Maße danach, ob die Strafverfolgung oder Strafvereitelung geeignet war, die eigene antifaschistische Legitimation zu erhöhen und die des Bonner Staa26 tes zu mindern. Im Westen wiederum wurde der kommunistische Widerstand unter dem Vorzeichen des Antitotalitarismus über Jahrzehnte institutionell bekämpft und personell ausgegrenzt: Die als verfassungsfeindlich angesehene VVN hatte in der Bundesrepublik lange Zeit mit Verbotsanträgen zu kämpfen, und Angehörige des kommunistischen Widerstands wurden von Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz ausgeschlossen, weil sie die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekämpft hätten. Die bis in die Gegenwart reichende Marginalisierung und Ausgrenzung des kommunistischen Widerstands gegen das NS-Regime wurde durch dessen staatsideologische Kanonisierung in der DDR mindestens erleichtert, wenn nicht befördert. Wie in der Bundesrepublik vor allem 27 Hermann Weber immer wieder darlegte, schrieb die DDR-Geschichtsschreibung die eigentlich katastrophale Niederlage der auf die Verfol-
25 Zit. n. Ute Hoffmann, „Das ist wohl ein Stück verdrängt worden ...“. Zum Umgang mit den „Euthanasie“-Verbrechen in der DDR, in: Annette Leo/Peter ReifSpirek (Hg.), Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 2001, S. 51-66, hier S. 56. 26 Henry Leide, Die verschlossene Vergangenheit. Sammlung und selektive Nutzung von NS-Materialien durch die Staatssicherheit zu justitiellen, operativen und propagandistischen Zwecken, in: Roger Engelmann/Clemens Vollnhals (Hg.), Justiz im Dienst der Parteiherrschaft: Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1999, S.495-530, bes. S. 505 ff. 27 Exemplarisch: Hermann Weber, Die Ambivalenz der kommunistischen Widerstandsstrategie bis zur „Brüsseler“ Parteikonferenz, in: Jürgen Schmädeke/Peter Steinbach (Hg.), Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München 1985, S. 73-85.
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gungshärte nicht vorbereiteten Partei konsequent zu einer heroischen Erfolgsgeschichte um. Sie überging die furchtbaren Verluste der selbstmörderischen „KPD-lebt“-Strategie, die sich bis Ende 1935 darauf konzentrierte, durch „Massenwiderstand“ sich und dem Terrorapparat des Nationalsozia28 lismus vor allem „zu beweisen, daß wir nicht unterzukriegen waren“. Sie unterschlug die verhängnisvolle Fehldiagnose der nationalsozialistischen Machtergreifung als Auftakt zur proletarischen Revolution, in dem es darauf ankäme, in erster Linie die Sozialdemokratie als sozialfaschistische Hauptstütze der „Kapitalsdiktatur“ zu bekämpfen, um dann die vermeintlich ganz kurzlebige Hitler-Diktatur zu beerben; und sie kaschierte die Wirklichkeitsferne der von der Komintern festgelegten „Generallinie“, die die Arbeiterklasse als unbesiegt ausgab, fortwährend Erfolge in der illegalen Arbeit für die Einheitsfront von unten behauptete und im noch freien Saargebiet erst für dessen Anschluss an ein revolutionäres SowjetDeutschland kämpfte, dann auf die Status-quo-Haltung der SPD einschwenkte und schließlich 1935 mit ihr von der vernichtenden Abstimmungsniederlage überrascht wurde. Die geschichtspolitische Kanonisierung 29 als „klandestinen Siegeszug“ erzwang eine über die DDR-Zeit hinauswirkende Entkonkretisierung des kommunistischen Widerstands, den etwa die Stellungnahme eines DDR-Verlags über eine ihm 1981 vorgelegte Darstellung zum deutschen Widerstand 1933-1939 so veranschaulicht: „Das Buch können wir in der vorliegenden Form nicht veröffentlichen. Die gravierendsten Einwände sind: - Von bürgerlichen Historikern wird immer wieder behauptet, der kommunistische Widerstand sei zwar heroisch, aber politisch sinnlos gewesen, weil die auf Außenaktivität und ansatzweise auf Massenarbeit gerichtete KPD-Strategie unrealistisch war und unnütze Opfer verursachte. [...] Der hiesige Leser kann den Eindruck gewinnen, daß die Dar30 stellung dies unfreiwillig bestätigt.“
28 Klaus-Michael Mallmann, Kommunistischer Widerstand 1933-1945. Anmerkungen zu Forschungsstand und Forschungsdefiziten, in: Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 113-125, hier S. 122. 29 Ebd., S. 123. 30 Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (i.f. ABBAW), AV 3082, Mammach, Geschichte der deutschen antifaschistischen Widerstandsbewegung 1933 bis 1945, Band 1 , 1933 bis 1939, o.D. [1981].
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Die zeitlichen Parallelen der NS-Aufarbeitung Neben der beziehungsgeschichtlichen Verflechtung lassen sich auch zeitliche Übereinstimmungen in den einzelnen Phasen des Umgangs mit der NSVergangenheit in Ost- und Westdeutschland erkennen. In allen vier Zonen ließen der Zusammenbruch der Wirtschaft, die Auflösung der staatlichen Strukturen und die Millionen durch Deutschland irrenden Displaced Persons nach dem Untergang des NS-Staates den besiegten und befreiten Deutschen wenig Raum über die unmittelbare Existenzsicherung hinaus: „Ein ‚Aufarbeiten der Geschichte‘, mit leerem Magen und in Trümmern, konnte schwerlich stattfinden“, fasste Annemarie Renger das Gefühl der 31 „Stunde Null“ im Rückblick zusammen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren der Genozid an den Juden und auch die Erinnerung an die Lagerhaft in allen Besatzungszonen aus unterschiedlichen Gründen nicht im öffentlichen Bewusstsein – aus tatsächlicher Unkenntnis, aus verdrängter Schuld, aus alles andere überdeckender Selbstsorge und in der SBZ auch aus politischer Rivalität zwischen den tonangebenden Moskauer Emigranten und den von ihnen mit Misstrauen bedachten Rückkehrern aus dem Exil im Westen und aus der deutschen Lagerhaft. In allen vier Zonen lagen die politische und symbolische Säuberung von den Resten der nationalsozialistischen Vergangenheit und die Umerziehung der Bevölkerung zunächst ausschließlich bei den Besatzungsmächten. Aber auch nach der weitgehenden Rückübertragung der politischen Verantwor-
31 Annemarie Renger, Die Trümmer in den Köpfen der Menschen, in: Gustav Trampe (Hg.), Die Stunde Null. Erinnerungen an Kriegsende und Neuanfang, Stuttgart 1995, S. 225-233, hier S. 231. Ebenso Karl Jaspers: „Wir leben in Not, ein großer Teil der Bevölkerung in so großer, so unmittelbarer Not, dass er unempfindlich geworden zu sein scheint für solche Erörterungen. Ihn interessierte, was in der Not steuert, was Arbeit und Brot, Wohnung und Wärme bringt. Der Horizont ist eng geworden. Man mag nicht hören von Schuld, von Vergangenheit, man ist nicht betroffen von der Weltgeschichte. Man will einfach aufhören, zu leiden, will heraus aus dem Elend, will leben, aber nicht nachdenken. Es ist eher eine Stimmung, als ob man nach so furchtbarem Leide gleichsam belohnt, jedenfalls getröstet werden müßte, aber nicht noch mit Schuld beladen werden dürfte.“ Karl Jaspers, Die Schuldfrage, in: ders., Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945-1965, München 1965, S. 67-149, hier S. 75.
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tung von den Alliierten an die Deutschen folgte die „Vergangenheitsbewältigung“ in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre ungeachtet ihrer unterschiedlichen Ausrichtung in der Substanz analogen Bewältigungsstrategien, die sich als antinomische Kongruenz von hier restaurativer und dort fortschrittsorientierter Entlastung fassen lassen: In beiden Gesellschaften griff eine soziale Integration bei politischer Distanzierung vom Nationalsozialismus, die zugleich eine tendenzielle Ausblendung des Holocaust in beiden deutschen Historiographien bedeutete, wobei im Westen die Vertreibungsperspektive dominierte und im Osten der Blick auf den Mord an der polnischen und sowjetrussischen Bevölkerung. Beide Staaten verabschiedeten nach ihrer Gründung in kurzer Zeit eine Reihe von Amnestiegesetzen, die die politische Integration der Bevölkerung erleichterte, wenngleich die administrative Amnestierung in der Bundesrepublik erheblich weiterging und ungleich stärker als in der DDR auch ehemalige NS-Eliten in soziale und politische Führungspositionen aufsteigen ließ. Wohl führte die schon 1946 von Wilhelm Pieck ventilierte Überlegung, zum Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung auch „nominelle Mitglieder der Nazipartei heran(zu)ziehen“ nach der in Befehl 201 der Sowjetischen Militäradministration in der SBZ 1947 gezogenen Trennlinie zwischen „aktiven“ und „nominellen“ Nazis dazu, dass die SED Anfang der fünfziger Jahre nicht weniger als 100.000 ehemalige NSDAP-Mitglieder in 32 ihren Reihen hatte. Doch dass Ende der fünfziger Jahre noch Hunderte ehemalige Kriegs- und Feldrichter und Angehörige von NS-Sondergerich-
32 Heinrich Best, The Formation of Socialist Elites in the GDR: Continuities with National Socialist Germany, in: Historical Social Research/Historische Sozialforschung 35 (2010), H. 3, Integration or Exclusion, S.36-46, hier S. 39; Tobias Haberkorn, Kriegsverbrecherverfolgung in der SBZ und frühen DDR 1945–1950. Legenden, Konflikte und Mängel, in: Deutschland Archiv 4/2012, URL: http:// www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/132873/kriegsverbreche rverfolgung-in-sbz-und-frueher-ddr?p=all (Letzter Zugriff vom 27.6.2014). Als Einzelbeleg eindrucksvoll: Fabian Riedel, „Braun“ und „Rot“ – Akteur in zwei deutschen Welten. Der Jurist Dr. Walter Neye (1901–1989). Eine Fallstudie, in: ebd. (Letzter Zugriff vom 27.6.2014). Zur Amnestie- und Integrationspolitik der SED gegenüber minderbelasteten Mitläufern: Weinke, Die Verfolgung von NSTätern im geteilten Deutschland, S. 63 ff., vgl. auch Harry Waibel, Diener vieler Herren. Ehemalige NS-Funktionäre in der SBZ/DDR, Frankfurt a. M. 2011.
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ten in der bundesdeutschen Justiz tätig waren oder die Richter und Staatsanwälte mit früheren NSDAP-Parteibuch in den einzelnen Bundesländern 33 während der fünfziger Jahre erdrückende Mehrheiten bildeten, fand in der DDR keine Parallele und ebensowenig das offensiv gelebte Zusammengehörigkeitsgefühl alter und neuer Funktionseliten, das etwa im „Geist der Rosenburg“ des neugegründeten Bundesjustizministeriums auflebte und jede Schuld des eigenen Berufsstandes an den nationalsozialistischen Verbre34 chen ausklammerte. Nach unterschiedlichem Maß wurden biographische NS-Belastungen auch in höheren politischen Funktionen gemessen. Anders als Staatssekretär Hans-Maria Globke für die Bundesregierung, wurde DDR-Verteidigungsminister Willi Stoph für das SED-Regime sofort untragbar, nachdem eine westdeutsche Veröffentlichung publik gemacht hatte, dass er 1944 in einer Betriebszeitung der Deutschen Arbeitsfront eine „Ge-
33 So resümierte für Nordrhein-Westfalen eine vom Justizministerium des Landes 1996 in Auftrag gegebene Untersuchung: „Das Gesamtergebnis der Entnazifizierung war niederschmetternd. 1952, ein Jahr nach dem Ende der Überprüfungen, lag der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften des Landes Nordrhein-Westfalen bei über 80 Prozent.“ Die nordrheinwestfälische Justiz und ihr Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Resümee des Abschlussberichts. http://www.jm.nrw.de/WebPortal/JM/haus_und_ historie/zeitgeschichte/4forschung.pdf (Letzter Zugriff vom 13.7.2014). Selbst im Bundesjustizministerium betrug der Anteil von ehemaligen Parteigenossen auf der insgesamt zwischen 36 und 83 Personen umfassenden Leistungsebene 1950 nicht weniger als 47 Prozent und stieg in den Folgejahren noch weiterhin leicht an: „Der Belastungshöhepunkt liegt mit 48% im Ganzen schon hier, um 1959. Für die Leiterebene kommt er aber erst 1966 mit überraschenden 60% der Abteilungsleiter, nämlich 3 von 5.“ Joachim Rückert, Einige Bemerkungen über Mitläufer, Weiterläufer und andere Läufer im Bundesministerium der Justiz nach 1949, in: Manfred Görtemaker/Christoph Safferling (Hg.), Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit – eine Bestandsaufnahme, Göttingen 2013, S. 60-87, hier S. 67. 34 Manfred Görtemaker, In eigener Sache. Das BMJ und seine Beiträge zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, in: ders./Safferling (Hg.), Das Bundesministerium der Justiz, S. 17-42.
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burtstagsparade vor dem Führer“ als „Erlebnis von bleibendem Wert“ ge35 priesen hatte. Analog aber operierte die Politik beider Staaten in der Kriegsgefangenenfrage, die besonders nach dem Juniaufstand von 1953 zu parallelen Offensiven gegenüber der Sowjetunion führte und beiden Regierungen einen nicht geringen Legitimationszuwachs bescherte. In der Bundesrepublik wie in der DDR lief die Strafverfolgung von NS-Tätern zu Beginn der fünfziger Jahre im Zeichen der Blockkonfrontation und ihrer Folgen aus. Das SEDRegime schloss seine strafrechtliche Bereinigung 1950 mit den Waldheimer Prozessen gegen ehemalige Internierte der nun aufgelösten sowjetischen Speziallager ab und projizierte in der Folge „die Täterfrage auf das politi36 sche und wirtschaftliche System der Bundesrepublik“, während das strafpolitische Interesse in der Bundesrepublik sich ein Jahrzehnt lang bis zum Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958 und der ihm folgenden Gründung 37 der Ludwigsburger Vorermittlungsstelle sowie der 1960 einsetzenden Verjährungsdebatte fast ganz vom NS-Unrecht auf die Abwehr einer kommunistischen Bedrohung verlagerte. Die Arbeit der NS-Ermittler wurde überdies davon behindert, dass die nationalsozialistische Vernichtungspolitik sich überwiegend im sowjetischen Herrschaftsbereich abgespielt hatte, der für eine juristische Kooperation schon aus rechtsstaatlichen Gründen ausfiel. Erst in den siebziger und achtziger Jahren relativierte eine zunehmende Differenzierung von West und Ost aufgrund gesellschaftlicher und systembezogener Eigenlogik die zeitlichen Übereinstimmungen, die die Auseinandersetzung mit der furchtbaren Hypothek des „Dritten Reiches“ in der Frühphase der beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften prägte. In der Bundesrepublik brach der bisherige Schweigekonsens mehr und mehr auf und führte zu einer auch generationell bedingten Aufkündigung der restaurativen „Stille“ der fünfziger Jahre. Im letzten Jahrzehnt der deutschen Teilung durchlief die Bundesrepublik schließlich eine veritable „historische
35 Ulrich Mählert, Willi Stoph – Ein Fußsoldat der KPD als Verteidigungsminister der DDR, in: Hans Ehlert/Armin Wagner (Hg.), Genosse General! Die Militärelite der DDR in biografischen Skizzen, Berlin 2003, S. 279-303, hier S. 283. 36 Weinke, Die Verfolgung von NS-Tätern, S. 336. 37 Annette Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958-2008, Darmstadt 2008.
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Revolution“, die in eine bis heute immer weiter ausgreifende und vielfach beschriebene Grundhaltung der Memorialisierung und Viktimisierung mündete und im Zeitalter der Zeitzeugenschaft und der Erinnerungskultur eine gedenkpolitisch wie geschichtskulturell allgemein anerkannte Kultur 38 der Vergangenheitsaufarbeitung hervorgebracht hat. Für die DDR und ihren historischen Herrschaftsdiskurs mit seiner staatlich sanktionierten Sicht auf die Geschichte sind bis in die Mitte der achtziger Jahre solche Brüche hingegen nicht oder nur in Ansätzen feststellbar. Vom ersten bis zum letzten Tag behielt die NS-Zeit zentrale geschichtspolitische Bedeutung für das historische Selbstverständnis des ostdeutschen Teilstaates. Ungeachtet einer zögernden Entkopplung von Kapitalismus und Genozid besonders in den achtziger Jahren, die nicht mehr starr darauf beharrte, dass die nationalsozialistische Massenvernichtungspolitik primär ökonomischen Interessen des deutschen Imperialismus gehorcht habe, blieb die Ermordung der europäischen Judenheit in der DDR auch später noch ein verschwiegenes, wenngleich nicht mehr gänzlich unterdrücktes The39 ma. Das erste Jahrbuch für Geschichte in der DDR, das im Kontext des auch in der DDR offiziell gewürdigten 50. Jahrestags der Pogromnacht vom 9. November 1938 Antisemitismus und Judenvernichtung zum Thema machen wollte, fiel dem Zusammenbruch des SED-Staates zum Opfer und 40 wurde nicht gedruckt. Immer lastete die „antizionistische“ Israel-Politik
38 Ulrike Jureit/Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung,Stuttgart 2010; Muriel Blaive/Christian Gerbel/Thomas Lindenberger (Hg.), Clashes in European Memory. The Case of Communist Repression and the Holocaust, Innsbruck/Wien/Bozen 2011; Etienne François u. a. (Hg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989, Göttingen 2013; Martin Sabrow, Zeitgeschichte schreiben. Von der Verständigung über die Vergangenheit in der Gegenwart, Göttingen 2014. 39 Detailliert zu den vereinzelten Vorstößen der DDR-Geschichtsschreibung, die politisch gewollte Verdrängung der Judenvernichtung aus dem Geschichtsdiskurs zu durchbrechen: Olaf Groehler, Der Holocaust in der Geschichtsschreibung der DDR, in: Herbert/Groehler, Zweierlei Bewältigung, S. 41-66. 40 Die einzelnen Beiträge befinden sich im Ms. in: ABBAW, ZIG 161/6. Die staatlichen Aktivitäten im Umfeld des 50. Jahrestages behandelt Angelika Timm, Der 9. November 1938 in der politischen Kultur der DDR, in: Rolf Steiniger
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des SED-Staates auch auf der historischen Forschung und sorgte dafür, dass die Erinnerung an das jüdische Leiden in der NS-Zeit als unliebsame Legitimationskonkurrenz empfunden wurde. Bis zum Ende – und nicht zuletzt aus Furcht vor Restitutionsansprüchen – war das 1945 in die Hände der Roten Armee gefallene und vom Zentralen Staatsarchiv der DDR übernommene „Gesamtarchiv der Juden“ wie andere jüdische Archivalien in der DDR für jede Nutzung gesperrt. Selbst die ehemalige „Sippenkartei“ der Gestapo, also die Gesamtkartei der deutschen Juden 1939, wurde 1981 eilends aus der Jüdischen Gemeinde in das Zentrale Staatsarchiv überführt und damit unter staatlichen Verschluss genommen, um einen Kopier41 wunsch des New Yorker Leo Baeck-Instituts abzuwehren. Erst in den achtziger Jahren lockerte die antizionistische Haltung der SED-Führung, die im Gefolge der stalinistischen Verfolgungskampagnen das Bekenntnis zu einer jüdischen Identität jahrzehntelang nahezu unmöglich gemacht und zahlreiche jüdische Bürger in den Westen getrieben hatte, sich zugunsten einer vorsichtigen und zögernden, auch außenpolitisch motivierten Öffnung gegenüber dem jüdischen Leid, während gleichzeitig eine immer stärkere Ritualisierung und Entleerung des Antifaschismuskonzepts 42 die politische Kultur des SED-Staates prägte.
Strukturelle Gemeinsamkeiten der deutsch-deutschen Vergangenheitsbewältigung Noch bemerkenswerter aber sind nach der beziehungsgeschichtlichen Verflechtung und der zeitlichen Parallelität die strukturellen Ähnlichkeiten der beiden deutschen Auseinandersetzungskulturen. Befördert durch die politischen Entwicklungen der Zeit, namentlich den Kalten Krieg, entwickelten beide Gesellschaften ein kohärentes Konsensmodell der Vergangenheits-
(Hg.), Der Umgang mit dem Holocaust. Europa – USA – Israel, Wien/Köln/ Weimar 1994, S. 246-262, hier S. 260 f. 41 Joachim Käppner, Erstarrte Geschichte. Faschismus und Holocaust im Spiegel der DDR-Geschichtswissenschaft und Geschichtspropaganda der DDR, Hamburg 1999, S. 212. 42 Annette Leo, Antifaschismus, in: Martin Sabrow (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 30-42.
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aneignung, das die Erinnerung an die NS-Geschichte in politischer Absicht nutzte und das in beiden Fällen als Integrationskonzept sehr erfolgreich war. Im Osten trat es als Antifaschismus, im Westen als Antitotalitarismus in Erscheinung und besaß auf beiden Seiten einerseits hohe politische Instrumentalität, trug andererseits starke tabuisierende Züge und konnte deswegen trotz seiner inhaltlichen Gegensätzlichkeit eine in West und Ost 43 gleichermaßen ausgeprägte Entlastungsfunktion wahrnehmen. 44 Der „Legitmationsantifaschismus“ in der DDR wurde zu einem wirkungsmächtigen Mittel der kommunistischen Herrschaftsetablierung im Osten Deutschlands – etwa in der Beseitigung alter und in der Schaffung neuer sozialer Eliten – und zu einem schlagkräftigen Argument im propagandistischen Kampf gegen die demokratische Ordnung im Westen Deutschlands. Aus der Gleichsetzung von Nationalsozialismus und westlicher Demokratie, Faschismus und Antikommunismus erwuchs die ideologische Begründung, die Bodenreform und nicht anders die Verstaatlichung industrieller Schlüsselbetriebe seien Ausdruck antifaschistischer Politik und dienten der Abrechnung mit Kriegsverbrechern und nationalsozialistischen Volksfeinden. Ein geplantes Entschädigungsgesetz für jüdische Opfer des Faschismus scheiterte nach langen Verhandlungen in Übereinstimmung mit dem sowjetischen Kurswechsel gegenüber Israel von 1948. Die DDR, die sich nicht als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches betrachtete, zeigte sich von vornherein nicht bereit, „die Verletzung kapitalistischer Interessen 45 vieler Rasseverfolgter wiedergutzumachen“. Entschädigungszahlungen an Israel wehrte die SED mit dem Argument ab, dass die DDR ein „unschuldiger“, weil nämlich antifaschistischer Staat sei, während Israel dem impe-
43 Zur wechselseitigen Abgrenzungsqualität von ostdeutschem Antifaschismus und westdeutschem Antitotalitarismus gegenüber dem jeweils anderen Staat s. Jürgen Danyel, Die geteilte Vergangenheit. Gesellschaftliche Ausgangslagen und politische Dispositionen für den Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten nach 1945, in: Jürgen Kocka (Hg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 129-147, hier S. 133 ff. 44 Jürgen Danyel, Zum Umgang mit der Widerstandstradition und der Schuldfrage in der DDR, in: ders. (Hg.), Geteilte Vergangenheit, S.31-46, hier S. 35. 45 Hartewig 2000, S. 295.
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rialistischen Weltsystem angehöre und mit dem faschistischen Nachfolge46 staat in Bonn Geschäfte mache. Der ostdeutsche Antifaschismus war zugleich verordneter Antifaschismus, insofern er das parteioffizielle Geschichtsdenken gegen konkurrierende und zuwiderlaufende Deutungsmuster der Vergangenheit durchsetzte. Für die Zeit ab 1948 lässt sich in Bezug auf den antifaschistischen Widerstand immer deutlicher die Überlagerung eines kommunikativen Gedächtnisses durch ein homogenisiertes kulturelles Gedächtnis beobachten, das an die Stelle vieler individueller Erfahrungen die „institutionalisierte Mnemotechnik“ der geltenden Parteilinie in Form von historischen Erzählungen, literarischen und medialen Vergegenwärtigungen und öffentlichen Gedenkritualen setzte. Den entscheidenden Schritt auf diesem Weg ging die SED, als sie im Februar 1953 die VVN und deren Verlag mit der Begründung auflöste, sie seien nicht in der Lage gewesen, „ernsthafte Werke zur Geschichte des illegalen Kampfes unter dem Hitlerregime oder über einzelne 47 Helden des Widerstandskampfes zu gestalten“. Die VVN wurde durch ein neugegründetes „Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer“ ersetzt, an dessen politischer Willfährigkeit sich in der Folge keine Zweifel mehr erhoben. Der ostdeutsche Legitimationsantifaschismus wies schließlich tabuisierende Züge auf, indem er wesentliche Aspekte des Nationalsozialismus aus dem kollektiven Gedächtnis wie aus der wissenschaftlichen Forschung verbannte – darunter so zentrale Fragen wie die Massenattraktivität des HitlerRegimes und die Teilhabe der Bevölkerung an Verfolgung und Vernichtung. Nie brachte die DDR-Geschichtswissenschaft eine Hitler-Biographie hervor, und bis zum Schluss hielt sie an einem dogmatisierten Denken fest, welches Hitler als bloßen Handlanger der Monopole verstand, die KPD als führende Kraft des Widerstandes und das deutsche Volk als verführtes Opfer der Fremdherrschaft einer kleinen Clique. Die erste Überblicksdarstellung der DDR-Geschichtswissenschaft zur NS-Zeit widmet der Shoah kein Kapitel und keinen Unterabschnitt, sondern konzentriert sich in den vier von 260 Seiten, die der „faschistische(n) Barbarei in den okkupierten Gebieten“ gewidmet waren, auf die deutschen Greueltaten in den besetzten Teilen der Sowjetunion. Juden werden als Opfergruppe in diesem Zusam-
46 Ebd., S. 299. 47 Ebd., S. 289 f.
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menhang nur ein einziges Mal und zwar als Teil der sowjetischen Bevölkerung erwähnt, und auch der Leidensbilanz dieses Opferkapitels, das mit den zukunftsgerichteten Ausbeutungsplänen der deutschen Okkupanten schließt, vermag der Verfasser noch einen heroisierenden Schlusssatz ab48 zugewinnen: „Die Sowjetvölker vereitelten alle diese Pläne.“ Dennoch besteht kein Zweifel, dass das Deutungs- und Legitimationsmodell „Antifaschismus“ in der DDR-Gesellschaft bis zum Ende des zweiten deutschen Staates – und darüber hinaus – hohe soziale Eindringtiefe besaß und ein Legitimationspotential entfalten konnte, das weit über die Anziehungskraft des Marxismus-Leninismus oder sozial- und nationalstaatli49 che Abgrenzungsversuche gegenüber der Bundesrepublik hinaus ging. Wie tief der antifaschistische Konsens tatsächlich ging, wird sich allerdings wohl nie überzeugend feststellen lassen. Von der Kraft des antifaschistischen Ideals zeugen die Verständnislosigkeit und oft auch Empörung, die seine kritische und selbstkritische Befragung nach 1989 unter DDRHistorikern hervorrief, oder der Widerstand in der Bevölkerung, auf den die 50 Auflösung antifaschistischer Traditionskabinette in Berlin stieß. Vor der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestag sprach der PDS-Abgeordnete Dietmar Keller nicht nur für seine Fraktion, als er 1994 in der Öffentlichen Anhörung zu „Antifaschismus und Rechtsradikalismus“ Missbrauch und Instrumentalisierung des Antifaschismus in der DDR einräumte und doch als „ein Bekenntnis zum Frieden“ verstanden wissen wollte: „Ich weiß über den Mißbrauch und die Instrumentalisierung (…), aber mir hat niemand Antifaschismus verordnet. Ich bin groß geworden mit ‚Nackt unter Wölfen’, ich bin groß geworden mit Literatur, mit Film, mit Erzählungen und mit einer wahnsinnigen Scham vor den Verbrechen der Deutschen im
48 Walter Bartel, Deutschland in der Zeit der faschistischen Diktatur 1933-1945, Berlin (O) 1956, S. 215. 49 Martin Sabrow, Sozialismus, in: ders. (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, S 188204. 50 Mythos Antifaschismus. Ein Traditionskabinett wird kommentiert, hg. vom Kulturamt Prenzlauer Berg und dem Aktiven Museum Faschismus und Widerstand in Berlin e. V., Berlin 1992.
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Zweiten Weltkrieg. Und wenn das Wort ‚Antifaschismus‘ fiel, war das für 51 mich immer das Wort, etwas für den Frieden tun zu müssen.“ Eine vergleichbare politische Instrumentalität und Tabuisierungskraft besaß auf der anderen Seite der Grenze der bundesdeutsche Antitotalitarismus, der bis in der Wiedergutmachungspolitik gegenüber den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft durchschlug: Der zur westlichen Hemisphäre zählende Staat Israel erhielt Entschädigungsleistungen, osteuropäische Staaten erhielten sie bis 1989 nicht. Seine tabuisierende Kraft bewies der bundesdeutsche Antitotalitarismus, indem er das Bild des christlichen und konservativen Widerstands ebenso von unwillkommenen Zügen zu reinigen erlaubte, wie es der Antifaschismus in Bezug auf den kommunistischen Widerstand vermochte. Die antidemokratischen und teils sogar antisemitischen Grundüberzeugungen vieler Männer des 20. Juli, die in den Anfangsjahren der NS-Herrschaft oft überzeugte Hitler-Anhänger gewesen waren, blieben auch nach ihrer zögerlichen Anerkennung als Repräsentanten des besseren Deutschland ebenso im Verborgenen wie die erst Jahrzehnte später näher beleuchtete Frage der Verstrickung des militärischen 52 Widerstandsflügels in den nationalsozialistischen Genozid. Diese von kritischen Zeitgenossen wie Dolf Sternberger schon früh als „vitale Vergeß53 lichkeit“ bewertete Haltung belastete die frühe Bundesrepublik mit einer unheilvollen und bis zum Anschein der Komplizenschaft reichenden Symbiose von Amnesie und Amnestie,54 die aus heutiger Sicht als ein empören-
51 Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland“, Bd. III, 1: Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer Faktoren und disziplinierender Praktiken in Staat und Gesellschaft der DDR, Baden-Baden 1995, S. 155. 52 Christian Gerlach, Männer des 20. Juli und der Krieg gegen die Sowjetunion, in: Hannes Heer/Klaus Naumann (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, Hamburg 1995, S. 427-446. Zu den Thesen Gerlachs: Klaus Jochen Arnold, Verbrecher aus eigener Initiative? Der 20. Juli 1944 und die Thesen Christian Gerlachs, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 53 (2002), S. 4-19. 53 Dolf Sternberger, Versuch zu einem Fazit, in: Die Wandlung 4 (1949), S. 700710, hier S. 701. 54 Eine besonders eindringliche Interpretation, die die „Geschichte des Verbrechens und die Amnestierung der Verbrecher (…) als zusammengehörigen Akt,
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der „Triumph des ‚Beschweigens’“ vor uns steht. Sie erlaubte aber zugleich analog zur staatlich verfolgten und gesellschaftlich verlangten Wiedereingliederungspolitik die unzweideutige Verurteilung des NS-Systems, 56 ohne seine ehemaligen Träger und Anhänger auszugrenzen.
Geteilte Vergangenheit und gemeinsame Gegenwart Die inhaltlichen Kontraste im Umgang mit der Last der NS-Vergangenheit in der DDR und in der Bundesrepublik sollten nicht über die wechselseitige Verflochtenheit der vergangenheitspolitischen Bewältigungsmuster und deren phasenweise bis zur Spiegelbildlichkeit reichenden Strukturgemeinsamkeiten hinwegtäuschen. Deutsch-deutsche Entgegensetzung und Verflochtenheit prägen die Geschichtskultur der vereinigten Bundesrepublik bis heute. Zu den Gemeinsamkeiten zählt das in seinen Grundsätzen weitgehend einheitliche Reservoir an Erinnerungen, Traditionen und Werten in Bezug auf die NS-Zeit. Der identitätsbildende Glaube an die überragende Bedeutung des Holocaust für die deutsche Geschichte, das Bekenntnis zu einer geschichtlichen Gebrochenheit, die einem nationalen Geschichtsstolz nach amerikanischem oder französischem Muster fernsteht, einigen heute im Grundsatz die öffentliche Meinung in Ost und West.
der die Bundesrepublik und das III. Reich unselig miteinander verbindet“, lieferte Jörg Friedrich, in: Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1984 (das Zitat ist dem Klappentext entnommen). 55 Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 15. 56 Entsprechend definierte Frei die von einem breiten Konsens bis in die Opfergruppen hinein getragene „Vergangenheitspolitik“ der Adenauer-Zeit als „Prozeß der Amnestierung und Integration der vormaligen Anhänger des ‚Dritten Reiches’ und der normativen Ausgrenzung vom Nationalsozialismus“. Ebd., S. 397. Zur „Doppelstrategie der frühen Bundesrepublik“, die großzügige soziale Integration der NS-Belasteten an die politische Distanzierung vom Nationalsozialismus zu binden, s. auch: Helmut König, Die Zukunft der Vergangenheit – Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 2003, S. 24 ff.
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Daneben zeigten sich in den ersten Jahren nach dem Umbruch von 1989/90 aber auch fortwirkende Ost-West-Akzentunterschiede hinsichtlich des geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Stellenwerts der NSZeit und besonders der Judenvernichtung. Tatsächlich schien zumindest bis zu der von der Wehrmachtsausstellung in den späten neunziger Jahren erzeugten Aufmerksamkeit nur in der Erinnerung der Ostdeutschen auch der deutsche Angriffskrieg und das Schicksal der unter deutscher Verantwortung umgekommenen über drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen ähnlich intensiv wahrgenommen worden zu sein, während in der Bundesrepublik das Holocaust-Gedenken zu einer politisch unmittelbar umsetzbaren Staatsräson als „Geschäftsgrundlage und Mittel der internationalen Politik“ 57 wurde, wie sich etwa im Kosovo-Konflikt zeigte, als Befürworter und Gegner eines deutschen Militäreinsatzes gleichermaßen auf die Lehren von 58 Auschwitz rekurrierten. Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass das moralische Singularitätspostulat des Holocaust im zusammenwachsenden Europa bis heute umso mehr an Gewissheit und Prägungskraft verliert, je weiter man von West nach Ost geht. Die geschichtskulturellen Unterschiede in Europa sind offenbar noch keineswegs völlig eingeebnet, und wenn auch die Binnendifferenzen im vierzig Jahre lang geteilten deutschen Geschichtsbewusstsein in dieser Hinsicht marginal geworden sein mögen, so zeigt sich doch allein schon in der geschichtspolitischen Aufladung des Ukraine-Konflikts 2014 samt der wechselseitigen Diffamierung der Konfliktparteien als „Faschisten“ und der unterschiedlichen Bewertung von nationalsozialistischer und stalinistischer Verfolgung, dass die ost-westliche Auseinandersetzung mit der NS-Zeit immer noch im doppelten Sinn geteilt geblieben ist.
57 Michael Jeismann, Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen, S. 141. 58 In kritischer Abgrenzung: Hartmut Kühne, Rot-Grün als Retter vor einem neuen Faschismus. Wie Schröder und Fischer mit der Vergangenheit Politik machten, in: Manfred Agethen/Eckhard Jesse/Ehrhart Neubert (Hg.), Der mißbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg/Basel/Wien 2002, S. 354-360.
Museale Entwicklungen in ostdeutschen KZ-Gedenkstätten vor und nach dem Fall der Mauer I NSA E SCHEBACH
Anfang der 1990er Jahre sind zeitgeschichtliche Ausstellungen in den Museen Ostdeutschlands – häufig sogar im Handumdrehen – abgebaut worden. Viele Museumsleiter zogen sich, wie Thalia Gigerenzer treffend bemerkt, „auf den festen Boden der ‚guten alten Zeiten‘ vor dem ‚Dritten Reich‘ wie 1 vor der DDR“ zurück. In einigen wenigen Fällen verhielt es sich jedoch anders: Um das „Traditionskabinett Antifaschistischer Widerstand im Prenzlauer Berg“ in Berlin hatte sich 1991 eine Arbeitsgruppe „Kritische Kommentierung“ gebildet, die ihre Empfindungen, ihre Ablehnungen und Korrekturen der Präsentation kommentierend zur Seite stellte. Annette Leo, ein Mitglied dieser Gruppe, beschrieb das „seltsame Gefühl, durch diese verlassenen Räume zu gehen, die Fahnen, Symbole und Losungen zu betrachten, die ein Selbstverständnis offenbarten, das aus der Welt außerhalb dieser Mauern schon 2 verschwunden war.“ Von einem zweiten Beispiel berichtet Andreas Ludwig: Das Museum Salzwedel integrierte im Jahr 1990 Relikte der nahen 1
Thalia Gigerenzer, Gedächtnislabore. Wie Heimatmuseen in Ostdeutschland an die DDR erinnern. Berlin-Brandenburg 2013, S. 34.
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Annette Leo, Die zwiespältige Ausstellung, in: Mythos Antifaschismus. Ein Traditionskabinett wird kommentiert, Kulturamt Prenzlauer Berg und Aktives Museum Faschismus und Widerstand e. V. (Hg.), Berlin 1992, S. 7-11, hier S. 8.
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deutsch-deutschen Grenze in seine Dauerausstellung: „Am Eingang geht man durch den Maschenzaun des ehemaligen Grenzstreifens hindurch und 3 kommt in die frühere DDR-Ausstellung.“ Die Darstellung der politischen Entwicklung wurde also optisch der alten Ausstellung zur Seite gestellt, so dass das Vergangene auch in den Präsentationsformen des Vergangenen wahrnehmbar blieb – ein geglücktes Beispiel eines selbstreflexiven Umgangs mit den langjährig eingeübten Geschichtsbildern der DDR-Ausstellungen. Ähnlich verfuhr das Ostprignitzmuseum in Wittstock, wo man eine alte Ausstellung zur Geschichte der DDR als „Gesamtexponat“ in eine neue 4 Dauerausstellung integrierte. Die nach dem Fall der Mauer notwendig gewordene Neubetrachtung der zeitgeschichtlichen Ausstellungen der DDR betraf selbstverständlich auch die Ausstellungen in den drei großen „Nationalen Mahn- und Gedenkstätten“ der DDR, Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen. Die Frage, wie mit den alten Ausstellungen zu verfahren und wie die neuen zu gestalten seien, war Anfang der 1990er Jahre Thema zweier Historikerkommissionen: Die in Brandenburg eingesetzte Gruppe wurde vom damaligen Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur Hinrich Enderlein im Juni 1991 einberufen, in Thüringen erfolgte die Berufung einer Kommission Mitte September 1991. Beide Kommissionen veranstalteten Hearings mit Vertretern der Häftlingsverbände, der Kirchen, des Zentralrates der Juden sowie der Sinti und Roma, der Homosexuellen, der Kommunen und den Gedenkstättenmitarbeitern. Die Botschaft war klar: Die Neukonzeption der Gedenkstätten, die bisher dem Kulturministerium der DDR unterstellt waren, sollte fortan nicht mehr nach staatlichen und damit politischen Vorgaben erfolgen. Für Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück bedeuteten die Empfehlungen der beiden Historikerkommissionen und die sich daran anschließende Gründung der brandenburgischen und der thüringischen Gedenkstättenstiftungen eine historische Chance: Die Chance einer Professionalisierung, wie sie bis zu diesem Zeitpunkt auch in den mehr als 80 westdeutschen NS-Gedenkstätten keineswegs üblich war: „Eine kritische
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Andreas Ludwig, Zum Wandel lokalgeschichtlicher Museen in der ehemaligen DDR nach der Wende 1989, in: Bernd Faulenbach/Franz-Josef Jelich (Hg.), Probleme der Musealisierung der doppelten deutschen Nachkriegsgeschichte, Münster 1993, S. 93-101, hier S. 98.
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Vgl. Gigerenzer, a.a.O. S. 91-97.
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Betrachtung dieser Gedenkstätten und ihrer Entwicklung steht im übrigen noch aus“, notierte die Brandenburger Kommission deshalb damals auch 5 hellsichtig. In der Tat waren die Prozesse der Modernisierung und Professionalisierung der westdeutschen Gedenkstätten – die ja vorwiegend in den 1980er Jahren von einer regionalgeschichtlich und zivilgesellschaftlich orientierten Gedenkstättenbewegung erstritten worden waren – eine Folge der Transformation der ostdeutschen Gedenkstätten. Dass es sich bei KZGedenkstätten heute um lebendige, multifunktionale Einrichtungen handelt, die über ihre Funktion als zeithistorische Museen hinaus mit dem Erhalt historischer Relikte und der Pflege von Friedhöfen beauftragt sind, humanitäre Aufgaben gegenüber Überlebenden und der zweiten und dritten Generation der Nachkommen der Opfer erfüllen, als Orte der historischen Bildung dienen und pädagogische Projekte entwickeln – dieser Umstand ist in erster Linie eine Folge der deutschen Vereinigung. Dabei sind, wie Günter Morsch und Volkhard Knigge beide betonen, „die Defizite der NSGedenkstätten erst im Gefolge der Diskussion über neu einzurichtende 6 SED-Gedenkstätten in den Blick geraten“, das heißt, erst „der Reformzwang und der dezidierte Wille zur zügigen Aufarbeitung des SED7 Unrechts haben die NS-Erinnerung umwegig befördert.“ Einen Beleg dieser These sehe ich beispielsweise in der Tatsache, dass die erste neue Dauerausstellung, die die Gedenkstätte Sachsenhausen nach der Vereinigung im Jahr 1993 realisierte, nicht etwa das Konzentrationslager zum Thema
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Empfehlungen zur Neukonzeption der Brandenburgischen Gedenkstätten, in: Brbg. Gedenkstätten für die Verfolgten des NS-Regimes, Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brb., in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für polit. Bildung (Hg.), Berlin 1992, S. 215-270, hier S. 221.
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Günter Morsch, Perspektiven und Entscheidungslagen. Chancen und Risiken der Entwicklung deutscher NS-Gedenkstätten, in: Zeiten des Wandels, in: Gedenkstätten Rundbrief Nr. 128, 12 (2005), S. 3-14, hier S. 8.
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Volkhard Knigge, Zweifacher Schmerz. Speziallagererinnerung jenseits falscher Analogien u. Retrodebatten, in: ders., Petra Haustein et al. (Hg.), Instrumentalisierung, Verdrängung, Aufarbeitung. Die sowjetischen Speziallager in der gesellschaftlichen Wahrnehmung 1945 bis heute, Göttingen 2006, S. 250-264, hier S. 252.
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hatte, sondern das „Speziallager Nr. 7.“ Die Gedenkstätte Buchenwald hatte gleich 1991 eine „museale Dokumentation“ zur Geschichte des dortigen 9 sowjetischen Internierungslagers erarbeitet. Im Unterschied zu Buchenwald und Sachsenhausen hatte die sowjetische Armee in Ravensbrück kein Speziallager, sondern ein Tanklager eingerichtet. Die erste neue Dauerausstellung war hier der „Topographie und der Geschichte“ des FrauenKonzentrationslagers gewidmet und wurde am 23. Mai 1993 eröffnet. Nach der großen Metaerzählung der Vorgängerausstellung aus der DDR-Zeit, die ausführlich den Antifaschismus und sehr wenig „Ravensbrück“ zum Thema hatte, wollte man nun quasi induktiv mit der Geschichte des Ortes, mit der Topographie des Lagers beginnen. Bevor ich auf diese Ausstellung näher eingehe, sollen am Beispiel der im Jahr 1984 eröffneten Ausstellung der Gedenkstätte Ravensbrück Darstellungsparameter der Ausstellungspraxis der DDR-Zeit diskutiert werden und zwar insbesondere der Umgang mit Fotografien, Exponaten und künstlerischen Darstellungen. In einem zweiten Schritt geht es um die museale Praxis der Gedenkstätte Ravensbrück in den 1990er Jahren und schließlich
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Die Ausstellung wurde am 24. Juni 1993 eröffnet, das heißt, wenige Monate nach der Gründung der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Während hinsichtlich einer notwendigen Veränderung der Ausstellungen zur KZ-Geschichte weitgehender Konsens herrschte, entstanden Konflikte um die Bewertung und Einordnung der Geschichte der sowjetischen Speziallager, die schließlich zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen und parlamentarischer Debatten wurden. Vgl. dazu Günter Morsch, Der Umgang mit dem Erbe der DDR in den früheren Mahn- und Gedenkstätten: Das Beispiel Sachsenhausen, in: Bernd Faulenbach/Franz-Josef Jelich (Hg.), „Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte“? Die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR in Ausstellungen, Museen und Gedenkstätten, Essen 2005, S. 123-144, insbesondere S. 125-127.
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Thomas Hofmann, Vorwort. Buchenwald 1991 – ein Jahr des Umbruchs, der Krise und des Neubeginns, in: Jahresinformation der Gedenkstätte Buchenwald 1991, Gedenkstätte Buchenwald (Hg.), Weimar-Buchenwald 1992, S. 5-8, hier S. 6. Die Erinnerung an das Speziallager Nr. 2 war Inhalt gleich der ersten Empfehlung der Thüringer Kommission, wenn auch der Schwerpunkt auf der Geschichte des KZ liegen sollte. Vgl. Die Empfehlungen der Historikerkommission zur Neuorientierung der Gedenkstätte Buchenwald, in: Jahresinformation der Gedenkstätte Buchenwald 1991, ebd. S. 9-15, hier S. 9.
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um die methodischen Zugänge der 2013 eröffneten neuen Dauerausstellung.
Präsentationsstrategien im Ravensbrücker „Museum des antifaschistischen Widerstandskampfes“ Das topographische und administrative Zentrum des 1939 eröffneten Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück war die SS-Kommandantur. (Abb. 1) Nach der Befreiung des Lagers wurde das Gebäude von der sowjetischen Armee genutzt, die es Anfang der 1980er Jahre dem Ministerium für Kultur der DDR übergab. 1984 bis 1992 war hier das „Museum des antifaschistischen Widerstandskampfes“ untergebracht. In Buchenwald wurde 1985 ein Museum gleichen Namens eröffnet. Wie der Name schon sagt, sollte es in diesen Museen nicht primär um die Geschichte des Ortes gehen. Vielmehr präsentierte man den Besuchern ein monodimensionales und entkontextualisiertes Masternarrativ, das den antifaschistischen Widerstand pauschal als Vorgeschichte der DDR darstellte. Aufschlussreich ist die doppelte Zielsetzung, die die Ausstellungsmacher mit ihrer Arbeit verbanden. In einer vermutlich 1975 entstandenen Konzeption zur Erarbeitung des Drehbuches heißt es: „Das im Museum Dargestellte muß Haß und Verurteilung bei den Besuchern gegenüber den historischen Verbrechen des deutschen Imperialismus und Faschismus erzeugen und sie gleichzeitig, durch aktuellen Bezug zur Gegenwartspolitik des Imperialismus (...), zum aktiven Handeln (...) für den gesellschaftlichen Fortschritt und für 10 die Erhaltung und Sicherung des Friedens motivieren.“ Neben der Erzeugung negativer Affekte sollte die Ausstellung zum Handeln in der Gegenwart motivieren. Der Blick auf das Vergangene sollte nicht etwa dort verweilen, sondern sich der bundesrepublikanischen „Gegenwartspolitik“ zuwenden. Vergangenes wurde zugerichtet, um der Gegenwart zu Diensten zu sein. Die Besucher sollten keine eigenen Schlussfolgerungen aus dem Dargestellten ziehen, vielmehr wurden sie einem festgefügten Wahrheits-Regime unterworfen. Die kuratorische Position behauptete eine objektive Sicht auf die Ge-
10 Konzeption zur Erarbeitung des Drehbuches und Modells für das neu einzurichtende Lagermuseum in der NMG Ravensbrück, Bl. 2; NMG/32-32, Obj. 6193, MGR/SBG.
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schichte, die als logischer und einheitlich bis in die Gegenwart verlaufender Prozess dargestellt wurde.
Abb. 1 Die SS-Kommandantur, die heute die Hauptausstellung der Gedenkstätte Ravensbrück beherbergt, bildete das topographische Zentrum der gesamten Anlage. Zum Bildprogramm Auf der Stirnseite des ersten Raumes ist ein Ensemble von Bildern angebracht. (Abb. 2) Was ist zu sehen? Auf insgesamt sieben stark vergrößerten Aufnahmen sind nahezu ausschließlich Frauen und Kinder dargestellt. Männer sind in der Täterposition – als SS- und Einsatzgruppenangehörige – abgelichtet, Frauen und Kinder hingegen in eindeutigem Opferstatus. Ins Zentrum des Ensembles hat man die Fotografie eines Krematoriums montiert, die Aufnahme einer Toten im Stacheldraht bildet den dramaturgischen Endpunkt dieser Reihung. Keine der Fotografien stammt aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Zwei wurden in Auschwitz aufgenommen, zwei weitere in
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Warschau. Die zweite oben links ist die überaus bekannte Fotografie eines Jungen mit erhobenen Armen, die während des Warschauer Ghetto-
Abb. 2 Wandabwicklung Raum I im „Museum des Antifaschistischen Widerstandskampfes“, 1984-1992 Aufstandes 1943 entstanden und im Kontext des Stroop-Reports überliefert ist. Rechts oben sind Überlebende des Warschauer Aufstandes 1944 zu sehen, die von der SS abgeführt werden. Auch die Erschießungsszene am linken Bildrand ist bekannt. Die Rückseite der Fotografie war ursprünglich beschriftet mit: „Judenaktion in Iwangorod, Ukraine 1942“. All das erfuhren die Besucher dieser Ausstellung nicht. Entsprechend dem Ausstellungsthema traten die abgelichteten Frauen den Besuchern allesamt als verfolgte Antifaschistinnen entgegen. Tatsache und Umstände einer rassisch motivierten Verfolgung bzw. des Genozids an den Juden wurden hier nicht erwähnt. Keine der Fotografien war mit einer Bildunterschrift versehen, die den Fotografen, den Zeitpunkt, die Entstehung der Aufnahme erläutert. Die historisch entkonkretisierte Pauschalbotschaft des Bild-Ensembles lautete: Uniformierte Männer verfolgten und töteten Frauen und Kinder. Weil Fotografien gemeinhin als Abbild und Garant von Wirklichkeit gelesen werden, werden sie häufig – und so auch in diesem Fall – zum Zweck der Erzeugung von Evidenz eingesetzt.
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Ein zweiter Punkt kommt hinzu: In der Gedenkstättenkonzeption der DDR wurde Ravensbrück immer auch zur Agitation weiblicher Bevölkerung in Ost- und Westdeutschland genutzt. Ravensbrück galt als Ort der „Frauen und Mütter“, weshalb auch die Mahnmale der Gedenkstätte – und natürlich auch die Ausstellung – explizit mit Weiblichkeitsbildern arbeiteten. Dass im Männerlager Ravensbrück bis zu 20.000 Männer inhaftiert waren, wurde zugunsten der propagandistischen Vereindeutigung vergessen 11 gemacht.
Zum Umgang mit Exponaten Im sechsten Raum befand sich eine Vitrine mit vier verschiedenen, jedoch nicht als solche gekennzeichneten Objektgruppen (Abb. 3): Erstens Dinge aus dem Inventar des Lagers wie Kleidung, Holzschuhe, Bürsten, Geschirr, Besteck und seriell hergestellte Häftlingsnummern. Zweitens Dinge, die von den Frauen im Lager gefertigt wurden, wie die Armbinden, die die Häftlinge zur Bezeichnung bestimmter Aufgaben am Arm trugen. Drittens waren Dinge aus dem Privatbesitz der Häftlinge ausgestellt, wie das heruntergetragene Paar Schuhe im Bildzentrum. Viertens sehen wir Objekte, die erst nach der Befreiung des Lagers entstanden sind: Der mit Name und Haftdatum von Marianne Horn beschriftete Teller wurde offensichtlich erst zu Erinnerungszwecken beschriftet – ebenso wie der kleine, mit identischer Haftnummer ausgezeichnete Becher. Geradezu willkürlich wurden völlig heterogene Dinge zusammengestellt. Die Präsentationsstrategie macht klar, dass es hier nicht um die Exponate ging, das heißt, nicht um ihre je eigene Geschichte, die Bedingungen ihrer Fertigung, nicht ihre Materialität, auch nicht um ihre Nachkriegsgeschichte, gar um die Frage, auf welche Weise sie Jahre später in das „Museum des antifaschistischen Widerstandskamp-
11 Vgl. Insa Eschebach, Frauen – Mütter – Frieden. Zur Entstehungsgeschichte der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, in: Gedenkstätten Rundbrief Nr. 82, 4 (1998), S. 3-13 sowie dies., Heilige Stätte – imaginierte Gemeinschaft. Geschlechtsspezifische Dramaturgien im Gedenken, in: dies., Sigrid Jacobeit/ Silke Wenk (Hg.), Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids, Frankfurt am Main 2002, S. 117-135.
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fes“ gelangten. Ausgeleuchtet in einer Vitrine haben die vormals alltäglichen Gegenstände ihre ursprünglichen Kontexte und Funktionen verlassen. Ausgestellt sind sie als Attribute der antifaschistischen Häftlinge und damit als Beweise und als Zeichen des Sieges über die Armseligkeit und das Elend des Konzentrationslagers, das ihnen gleichwohl noch anzusehen ist. Diese Präsentationsstrategie erinnert an die jahrhundertealte Tradition des Ausstellens erbeuteter Kriegswaffen: Der Akt des Ausstellens nimmt die Objekte aus ihrem vormals alltäglichen Gebrauchscharakter heraus und lässt sie nun als Zeichen des Triumphs erscheinen. Darüber hinaus bleiben die Objekte stumm.
Abb.3 Vitrinengestaltung zum Lageralltag im „Museum des Antifaschistischen Widerstandskampfes“
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Zum Umgang mit Kunst Die dritte und letzte Anmerkung zu den Präsentationsstrategien der alten Ausstellung betrifft den Umgang mit Kunst. Im fünften Raum waren Wandbilder des Künstlers Friedrich Porsdorf zu sehen: In Kohle und Kreide auf Putz sind Szenen aus dem Lageralltag Ravensbrück dargestellt. Doch als würde die künstlerische Arbeit selbst nicht ausreichen, hat man sie erstens durch eine Installation von Stacheldraht und zweitens mit vergrößerten Fotografien des Kriegsgeschehens gewissermaßen verstärkt. (Abb. 4 und 5) Die Wandbilder wurden auf diese Weise zu Kulissen depotenziert. Die künstlerische Gestaltung der Ausstellung sollte, wie es dementsprechend in der bereits zitierten Konzeption heißt, zur „emotionalen 12 Einstimmung“ der Besucher dienen. Bei der Präsentation künstlerischer Arbeiten ging es also nicht um das Angebot einer Reflexion, Ziel war vielmehr die affektive Übermächtigung der Besucher.
Abb.4 „Museum des Antifaschistischen Widerstandskampfes“ Ravensbrück. Für die Ausstellung gestaltete der Berliner Künstler Friedrich Porsdorf vier Szenen aus dem Lageralltag mit Kohle und Kreide auf Putz.
12 Konzeption, a.a.O., Bl. 6.
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Die 1991 eingesetzte Brandenburger Historikergruppe beurteilte die Ausstellung als „für die künftige Gedenkstättenarbeit nicht brauchbar“. Grund sei die unzureichende Darstellung der Lagergeschichte, die einseitige Hervorhebung der kommunistischen Häftlinge, die Ausblendung der rassistischen Verfolgungshintergründe, die unzureichende Darstellung der Täter und die Stilisierung des Widerstandes zur Vorgeschichte der DDR. Nicht zuletzt bemängelte sie das „Stereotyp der Rolle des ‚Monopolkapitals‘“ und damit die „fehlende Einbeziehung der übrigen Gesellschaft und ihres Ver13 hältnisses zum Geschehen in den Konzentrationslagern.“ Dieser Punkt ist besonders wichtig, denn in der Tat wurden die nationalsozialistischen Verbrechen dargestellt, als wären sie von einem bösen Geist namens „Monopolkapital“ inspiriert; die Konzentrationslager wirkten wie isolierte, quasi vom Himmel gefallene Schreckensorte. Das Ausstellungsnarrativ war streng dichotomisch strukturiert, indem man sauber zwischen dem guten
Abb. 5 Hier ist der Alltag in einem überfüllten Häftlingsblock dargestellt.
13 Empfehlungen, a.a.O., S. 224.
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Eigenen – den Häftlingen und den Bewohnern der DDR – und dem bösen Anderen – den Tätern und der Bundesrepublik – trennte. Die Verbrechen wurden als erlittenes Unrecht dargestellt und nicht als Manifestation einer selbst verursachten Gewalt- und Verbrechensgeschichte.
Die Entwicklung in den 1990er Jahren Die erste nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung in Ravensbrück eröffnete Ausstellung war, es wurde bereits erwähnt, der Topographie und Geschichte des Lagers gewidmet. Nach Abzug der GUS-Truppen war das etwa 60 Hektar große Lagerareal überhaupt erstmals öffentlich zugänglich. Dass Konzentrationslager „einer geschlossenen Ortschaft“ ähneln, „mit Einrichtungen, die der Infrastruktur einer Stadt entsprechen“ – diese 1993 14 von Wolfgang Sofsky formulierte Beobachtung steht gewissermaßen für ein neues bauhistorisches Interesse an den Relikten und damit an den präzisen Funktionsweisen von Orten, die zum Zweck der Massenkasernierung 15 von Frauen, Männern und Kindern geschaffen worden waren. Zugleich artikulierte sich aber auch ein lokalgeschichtliches Interesse, indem Gedenkstättenmitarbeiter begannen, den Bewohnern der Stadt Fürstenberg Fragen zu stellen und die Gespräche – mit allerdings zunächst noch sehr wackliger Technik – aufzuzeichnen. Von ähnlich vorrangiger Bedeutung war das Interesse an den Häftlingen: Im November 1994 eröffnete die Ausstellung „Ravensbrückerinnen“. Die unterschiedlichen Portraits sollten einen Eindruck des breiten Spektrums der Häftlingsgesellschaft vermitteln. Wie sehr die ersten, nach dem Fall der Mauer entwickelten Ausstellungen der ostdeutschen Gedenkstätten das Ziel verfolgten, die Defizite der Vergangenheit zügig zu kompensieren, zeigen auch die Ausstellungen der Gedenkstätte Buchenwald: In der neuen, 1995 eröffneten ständigen Aus-
14 Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt am Main 1993, S. 63. 15 Vgl. Sigrid Jacobeit, Kontinuität im Wandel. Die Gedenkstätte Ravensbrück in der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, in: GedenkstättenRundbrief Nr. 58 (1993), S. 12-15.
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stellung verwiesen „kleine Relikte (...) auf persönliche Schicksale“. Zwei Jahre zuvor wurde den Besuchern erstmals ein Rundweg durch das Areal angeboten, der das historische Lager lesbar machen sollte; auch hier war – nach den Überformungen der DDR-Zeit – das topographische Interesse leitend. Der Vorspann der 1995er Ausstellung war „...mitten im deutschen Volke“ benannt worden, denn, so Rikola-Gunnar Lüttgenau: „Die Verantwortung für die Konzentrationslager lässt sich nicht an das imaginäre Subjekt eines ‚Großkapitals‘ delegieren. Und auch die zahlreichen Bezüge zur Stadt Weimar sollen zeigen, dass das deutsche Volk kein Opfer des Natio17 nalsozialismus war, sondern eine Mittätergesellschaft.“ Präziser lässt sich der Paradigmenwechsel historischer Thematisierung nach der deutschen Vereinigung kaum auf den Punkt bringen. Wenn sich auch das neue topographische Interesse in erster Linie auf Fragen an die Funktionsweisen des Konzentrationslagersystems richtete, war es doch gleichermaßen auch durch lokalgeschichtliche Interessen inspiriert: Wie weit waren die Arbeitskommandos und Außenlager in der Region verzweigt, in welchen Firmen leisteten die Häftlinge Zwangsarbeit, wie erinnern die Einwohner der umgebenden Städte und Dörfer heute das Lager? So und ähnlich lauteten die Fragen. Ein kurzer Rückblick: Mit der Aufzeichnung und Sammlung von Audio- und Videointerviews mit Zeitzeugen hatte man in Westdeutschland im Laufe der 1980er Jahre begonnen, wobei die Methoden der Oral History von der britischen History-Workshop-Bewegung inspiriert waren. Diese Entwicklung war ein Ausdruck des generellen Interesses an der Alltagsund Lokalgeschichte, das sich in Westdeutschland Ende der 1970er Jahre entwickelt hatte. „Das späte Interesse am Volk“, so Lutz Niethammer, wurde einerseits befördert durch den verbreiteten Gebrauch von Kassettenrecordern, andererseits aber auch durch die „Abwendung vom politischen
16 Rikola-Gunnar Lüttgenau, „Dem Besucher wird gleichsam das Archiv der Gedenkstätte geöffnet“: Konzentrationslager Buchenwald 1937-1945. Die neue Dauerausstellung der Gedenkstätte Buchenwald, in: Gedenkstätte Buchenwald (Hg.), Jahresinformation der Gedenkstätte Buchenwald 1995, Göttingen 1996, S. 78-90, hier S. 79. 17 Ebd. S. 89.
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Handlungssubjekt und der Zuwendung zu den vielen Subjekten historischer 18 Erfahrung und ihrer Verarbeitung.“ Die bereits erwähnte westdeutsche, in den 1980er Jahren entstandene Gedenkstättenbewegung verfolgte ihrerseits – getreu dem Motto „Grabe wo Du stehst!“ - alltags- und lokalgeschichtliche Ansätze. Es handelte sich um eine Generation, die, wie Detlef Garbe formuliert, „im Anschluss an die durch die Studentenbewegung hervorgerufene Delegitimierung der gesellschaftlichen Autoritäten zutiefst über das Maß der Erinnerungsverweigerung ihrer Mütter und Väter“ erschrocken war und die deshalb Spuren si19 chern und das Verdeckte freilegen wollte. Ich glaube, dass dieses westdeutsche Generationenprojekt auf die Arbeit ostdeutscher KZ-Gedenkstätten Einfluss genommen hat. Lokal-, alltags- und sozialgeschichtliche Forschungsansätze setzten sich nicht nur im Kontext der fachspezifischen NS- und KZ-Forschung durch, sondern begannen auch die Ausstellungspraxis der Gedenkstätten zu prägen. Der Überdruss an einem eindimensionalen Politikverständnis war ein Movens für das Interesse an der Erfahrungsgeschichte, ein Interesse, das in unserem postheroischen Zeitalter gegen die „Sieger“ der Geschichte gerichtet war und sich eher auf die Seite der „outcasts“ und der Verlierer schlug. Damit einher ging, wie Dirk van Laak zutreffend bemerkt, eine „starke Neigung 20 zur Opferperspektive“, die sich nicht zuletzt auch in den großen biografischen Forschungs- und Sammlungsprojekten der KZ-Gedenkstätten bemerkbar machte. Gerade weil in der DDR nie eine Gesellschaftsgeschichte 21 des Nationalsozialismus geschrieben wurde, vollzog sich nun auch hier eine „Wendung aufs Subjekt“: Der Blick richtete sich auf die sozialen Ver-
18 Lutz Niethammer, Oral History, in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.), Paradigmen deutscher Geschichtswissenschaft, Berlin 1994, S. 189-210, hier S. 192. 19 Detlef Garbe, Von den „vergessenen KZs“ zu den „staatstragenden Gedenkstätten“? in: GedenkstättenRundbrief Nr. 100, 4 (2001), S. 75-82, hier S. 78. 20 Dirk van Laak, Alltagsgeschichte, in: Michael Maurer (Hg.), Aufriss der historischen Wissenschaften, Stuttgart 2003, Bd. 7, S. 14-80, hier S. 37. 21 Vgl. eine entsprechende Bemerkung von Volkhard Knigge, Die Umgestaltung der DDR-Gedenkstätten nach 1990. Ein Erfahrungsbericht am Beispiel Buchenwald, in: Peter März/Hans Joachim Veen (Hg.), Woran erinnern? Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur, Köln 2006, S. 91-106, hier S. 104.
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hältnisse im Lager, aber auch auf das SS-Personal bzw. auf die Mittätergesellschaft, die diese Lager überhaupt erst möglich gemacht hatte. Die alltags- und sozialhistorischen Forschungsansätze beförderten den Abschied von den Metaerzählungen. Gender studies, Diskurs- und Kulturanalyse, Bild- und Medienwissenschaft prägen heute die Debatten um die Frage, wie denn die NS-Geschichte in Ausstellungen zu thematisieren sei. Abschließend also einige Beispiele aus der 2013 eröffneten neuen Dauerausstellung der Gedenkstätte Ravensbrück.
Ravensbrück: Die neue Hauptausstellung Im April 2013 haben wir eine neue Hauptausstellung fertig gestellt, die sich über zwei Geschosse der ehemaligen SS-Kommandantur erstreckt. (Abb. 6) Auf rund 900 Quadratmetern erzählt die Ausstellung die Geschichte des Lagerkomplexes Ravensbrück von 1939 bis 1945, wie auch die Nachgeschichte. Mit diesem Projekt verfolgen wir drei inhaltliche Ziele: Erstens geht es um die Darstellung und Vermittlung der Geschichte des FrauenKonzentrationslagers Ravensbrück als Herrschafts- und Verfolgungsinstrument des NS-Regimes. Ravensbrück steht als Paradigma der KZ-Haft von Frauen und weiblicher Täterschaft für einen, durch andere KZ-Gedenkstätten nicht repräsentierten Typ innerhalb des Systems der NS-Konzentrationslager. Zweitens wird die Internationalität und Vielzahl unterschiedlicher Haftgruppen dargestellt und damit die geschlechtsspezifischen Verfolgungskontexte im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten. Schließlich geht es um die Darstellung und Vermittlung der Nachkriegsgeschichte des Lagers und der Geschichte der Erinnerung an Ravensbrück in West- und Osteuropa. Nun sind Museen und damit auch Ausstellungen stets „Gradmesser für 22 die Signifikanz historischer Ereignisse“. Sie geben Auskunft darüber, welche Themen zu einer gegebenen Zeit von Interesse sind und welche in den Hintergrund treten. Aufgrund der aktuellen Forschungslage konnten wir in diese neue Ausstellung Themen aufnehmen, die lange weitgehend
22 Katrin Pieper, Resonanzräume. Das Museum im Forschungsfeld Erinnerungskultur. In: Joachim Baur (Hg.), Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Wetzlar 2009, S. 187-212, hier S. 203.
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unberücksichtigt geblieben waren. Es handelt sich dabei in erster Linie um bislang marginalisierte Häftlingsgruppen, wie beispielsweise die Gruppe der „Ostarbeiterinnen“, die im „Jugendschutzlager“ Uckermark inhaftierten Mädchen, die Zwangsprostituierten oder auch die Gruppe der Frauen, die wegen „Verkehrs mit Fremdvölkischen“ inhaftiert war. Museale Geschichtsinterpretation sucht in der Regel, über das Ausstellen von Artefakten und Dokumenten das Vergangene in Erinnerung zu rufen, um gleichzeitig eine objektive Sicht auf Geschichte zu behaupten. Da23 bei ist jede Sicht auf die Geschichte doch in höchstem Maße interpretativ. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die methodischen Zugänge zu benennen, die der neuen Ausstellung zugrundeliegen: Dies sind Kontextualisierung, Historisierung und Multiperspektivität. Diese drei Verfahrensweisen sollen im Folgenden skizziert werden:
Abb. 6 Die neue Hauptausstellung „Das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück: Geschichte und Erinnerung“, erster Raum, im Hintergrund (Wand rechts) das digitale Lagermodell
23 Marion von Osten, Eine Bewegung der Zukunft. Die Bedeutung des Blickregimes der Migration für die Produktion der Ausstellung Projekt Migration, in: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.), Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld 2007, S. 169-186.
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Kontextualisierung Kontextualisierung bedeutet, ein Datum oder eine Sache nicht für sich stehen zu lassen. Für sich allein sagen die Dinge bekanntlich wenig. Deshalb haben wir den einzelnen Themen sogenannte Vertiefungsebenen in Form von Themenbüchern und Terminals beigegeben. Interessierte Besucher können sich hier in einzelne Aspekte der Verfolgungsgeschichte vertiefen.
Abb. 7 Vertiefungsangebote in Form von Themenbüchern und Terminals
Historisierung Der Begriff zeigt an, dass eine Geschichte als vergangen erkennbar wird. Nun vermitteln Orte wie Ravensbrück Besucherinnen und Besuchern häufig die Illusion, die Vergangenheit würde andauern und man könne etwas aus der Zeit der Konzentrationslager hier wiederfinden. Historisierung ist deshalb ein unabdingbarer Teil von Gedenkstättenarbeit schlechthin. Das gilt vor allem auch für den Umgang mit Exponaten und Bildern. Bilder und Exponate werden in historischen Ausstellungen häufig als Beleg einer verbal gefassten Information gezeigt, als Illustration eines Textes über die Geschichte. Dieses „Zeigen“ wird aber, so Mieke Bal, eine „zur Schau stellende Prahlerei“, wenn man im Akt des Ausstellens auf das Erzählen der Ge-
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schichte des Objekts verzichtet. Oder in den Worten von Didier Maleuvre: „Wissen sollte nicht nur die Dinge beschreiben, wie sie sind, sondern auch, 25 wie sie zu dem wurden, was sie sind.“ Wo das nicht geschieht und Objekte als quasi geschichtslos präsentiert werden, erhalten sie schnell einen reliquien-ähnlichen Status und scheinen damit dem Weltlichen enthoben. Ein Exponat der Ausstellung sei als Beispiel genannt: Miniaturen wie der aus einem Zahnbürstenstiel gefertigte Hund sind in unseren Sammlungen zahlreich vertreten. (Abb. 8) In der neuen Ausstellung haben wir dieser Miniatur einen Kommentar zur Seite gestellt, der erstens Größe und Material des Objekts benennt, zweitens biografische Angaben der früheren Eigentümerin vermittelt und drittens ein konservatorisches Problem skizziert: Das aus dem Kunststoff einer Zahnbürste gefertigte Objekt kann nicht restauriert werden 26 und wird im Laufe der Zeit verfallen. In früheren Ausstellungen war die unkommentierte Präsentation von Miniaturen wie dieser vielleicht als Zeichen des Überlebenswillens der Häftlinge lesbar. Im Kontext der neuen Ausstellung ist das Exponat in drei unterschiedlichen Wissensfeldern situiert und kann so Kenntnisse in mehrfacher Hinsicht vermitteln.
Abb. 8 Die in der Breite 3,2 cm und in der Höhe 2,3 cm große Figur wurde aus einem Zahnbürstenstiel geschnitzt. Sie gehörte der Belgierin Elisabeta Kraft (1911-1995), die Ende 1942 in das KZ Ravensbrück deportiert und im April 1945 befreit wurde. 24 Mieke Bal, Kulturanalyse, Frankfurt am Main 2002, S. 116. 25 Didier Maleuvre, Von Geschichte und Dingen. Das Zeitalter der Ausstellungen, in: Dorothea von Handelmann/Carolin Meister (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Zürich/Berlin 2010, S. 19-46, hier S. 19. 26 Aus diesem Grund – und um durch die Ausdünstungen des Kunststoffs die übrigen Exponate nicht zu gefährden – wird die Figur in einer luftdichten Einzelvitrine ausgestellt.
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Multiperspektivität Multiperspektivität bedeutet im Kontext der neuen Ausstellung zweierlei: Zum einen gab es im Lager selbst himmelweite Unterschiede zwischen den einzelnen Häftlingsgruppen und unter Angehörigen von Staaten, die sich im Krieg miteinander befanden. Die Vielzahl unterschiedlicher Erinnerungen ist aber ebenso Ausdruck der Veränderungen, die das KZ Ravensbrück Zeit seines Bestehens erfuhr, so dass sich Erinnerungen an die Anfangszeit schon aus diesem Grund gravierend von Schilderungen der letzten Phase unterscheiden. Kurz: Die Erinnerungen an Ravensbrück sind nicht ein27 heitlich. Dementsprechend setzt die Ausstellung, wo dies möglich ist, konträre Erinnerungen aneinander, um Eindrücke von der Vielfalt der Existenzbedingungen und der Erfahrungen der Gefangenen im Lager zu vermitteln. Ein Beispiel ist eine Zitatcollage zum Thema der Befreiung des Lagers (Abb. 9): Viele erinnern diesen Moment als eine glückbringende Erfahrung wie Zdena Nedvědová-Nejedlá, die im Lagerrevier als Häftlingsärztin eingesetzt war: „Das Lagertor stand weit offen! Ich ging in den Raum der Oberschwester, die mich an meisten erniedrigt hatte, setzte mich an ihren Schreibtisch und erfasste erst jetzt, dass ich wieder ein freier Mensch bin.“ Für Irma Trksak steht eine andere Begebenheit im Vordergrund: „Und da kommt uns ein Russe entgegen, ein Befreier. Und er schaut uns an, (richtet) sein Gewehr auf mich und sagt, leg dich nieder. Vier Jahre habe ich mich gefreut auf die Freiheit. Soll ich mich niederlegen oder soll ich mich erschießen lassen? Also, es kam dazu. Es war furchtbar.“ Die Vielstimmigkeit der Erfahrungen einzelner wird auch in den künstlerischen Produktionen deutlich, die als eigenständige Gattung präsentiert werden: Auf Zeichnungen von Häftlingen, zum Beispiel zum Thema „Konflikte in der Häftlingsgesellschaft“, sind gänzlich unterschiedliche Szenarien dargestellt. (Abb. 10) Die „Frauen von Ravensbrück“ werden von uns 28 nicht mehr als ein solidarisches Kollektivsubjekt angesprochen. Die
27 Vgl. dazu ausführlich Insa Eschebach, Die Frauen von Ravensbrück. Geschlechterbilder im Ravensbrück-Gedächtnis, in: dies. (Hg.), Homophobie und Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, Berlin 2012, S. 149-166. 28 Vgl. ebd.
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Abb. 9 Eine Zitatcollage
Zwangskasernierung von Tausenden von Frauen interessiert heute auch als Konfliktgeschichte und damit auch aus sozialhistorischer Perspektive. Neben der Darstellung der faktischen Vielstimmigkeit der Wahrnehmungen und Erinnerungen verfolgt die Ausstellung mit ihrem multiperspektiven Ansatz aber noch ein zweites Ziel: Die Geschichte dieses Lagers kann nicht im Sinne eines einzigen Masternarrativs erzählt werden, so „wie sie eigentlich gewesen“. Nicht nur das Ensemble unterschiedlicher Erinnerungen macht dies unmöglich, sondern auch die diskrepanten Darstellungsweisen der übrigen Quellen: Aktenüberlieferungen, Bauzeichnungen, Fotografien, Prozessunterlagen, Erinnerungsberichte – um nur einige zu nennen – folgen jeweils eigenen Darstellungsparametern. Indes eröffnet die Ausstellung die Chance, unterschiedliche Narrative und Bildstrategien jenseits ihrer Gattungszugehörigkeit zu verknüpfen.
Abb. 10 Zeichnungen ehemaliger Häftlinge
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Abb. 11 Tableau zum Thema „Krankenrevier“
Ein Beispiel ist die Montage zum Thema des Krankenreviers (Abb. 11): Das linke Tableau zeigt fünf Aufnahmen aus einem von der SS zusammengestellten Fotoalbum. Abgelichtet wurden strahlend saubere Räume und Apparaturen und in der Tat könnte man glauben, alles sei in bester Ordnung. Rechts außen ist ein zweites Tableau montiert, das Zeichnungen ehemaliger Häftlinge versammelt: Zu sehen ist eine lange Schlange wartender Frauen, viele können sich kaum auf den Beinen halten. Rechts oben befindet sich eine Darstellung des „Idiotenstübchens“, in dem geistig verwirrte Frauen dahinvegetierten. Das mittig gesetzte Tableau präsentiert Planskizzen ehemaliger Häftlinge: Dargestellt ist das Krankenrevier auf wiederum unterschiedliche Weise. Es zeigt sich, dass es das eindeutige, ultimative Bild des Krankenreviers in Ravensbrück nicht gibt. Es ist den Besuchern überlassen, sich ihr eigenes Bild zusammen zu setzen.
Resümee Der Eindruck entsteht, die Ausstellungen ostdeutscher KZ-Gedenkstätten vor 1989 ähnelten einem Dunkel, vor dem sich unsere aktuelle, durch westdeutsche Entwicklungen geprägte, museale Praxis umso lichtvoller abhebe. Dieser Eindruck muss korrigiert werden, denn „die reine Dichotomie“ führt, wie Christoph Kleßmann formuliert, nicht weiter. Sie lenkt vielmehr „allzu selbstgerecht ab von Versäumnissen, strukturellen Defiziten und mühsamen Lernprozessen 29 im Westen.“ Eine profunde Analyse westdeutscher Ausstellungen zum Nati29 Christoph Kleßmann, Die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR – Erfolgs- kontra Misserfolgsgeschichte? In: Faulenbach/Jelich (Hg.), „Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte?“, a.a.O., S. 15-31, hier S. 31.
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onalsozialismus hat beispielsweise Irit Rogoff vorgelegt. Die alltagsgeschichtlich geprägte Ausstellungskultur der 1970er und 80er Jahre, so merkt sie kritisch an, „stellt die kleinen, bescheidenen, verbrannten und zerknitterten Reste einfachen, alltäglichen Lebens in den Mittelpunkt. Indem das Darstellungssystem umgewertet wird, von einer ursprünglich männlichen Ästhetik zu einer, die ich als ‚feminisiert‘ bezeichnen würde, indem die Wirklichkeit des Frauenlebens (Zivilleben) hervor gekehrt wird und indem auf Reste als Trümmer und nicht als Ruinen und auf die Protagonisten als Opfer und nicht als Besiegte die Konzentration gelegt wird, wird die Beziehung der Nation zu ihrem faschistischen Erbe als solche um- und neugeschrieben. Ferner funktionieren die dramatischen und pathetischen Ausstellungsstrategien dahingehend, die gegenwärtigen Besucher als vergleichbar bestrafte Erben dieser nationalen Hinterlassen30 schaft hinzustellen.“ Als weiteres Stichwort sei der Antikommunismus genannt, der die westdeutsche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus lange Zeit grundierte. Die westdeutschen Ausstellungen der frühen Nachkriegszeit arbeiteten kaum weniger plakativ, dramatisierend und ungenau wie die in der DDR. Die Thematisierung der Konzentrationslager war immer wieder von Verweisen auf den ostdeutschen „Unrechtsstaat“ begleitet, wo sich, wie beispielsweise der damalige Bundespräsident Theodor Heuss 1952 in Ber31 gen-Belsen formulierte, „nur die Embleme“ gewandelt hätten. Die kritische Betrachtung der ostdeutschen Ausstellungspraxis bleibt solange einseitig, wie nicht vergleichbare Ausstellungen in Westdeutschland kritisch in den Blick genommen werden. Hier bleibt noch einiges zu tun.
30 Irit Rogoff, Von Ruinen zu Trümmern. Die Feminisierung von Faschismus in deutschen historischen Museen, in: Silvia Baumgart (Hg.), Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft. 5. Kunsthistorikerinnentagung in Hamburg 1991, Berlin 1993, S. 259-285, hier S. 277. 31 Vgl. Insa Eschebach, Deutsche Geschichtsbilder zu Zeiten des Kalten Krieges. Gedenkfeiern an Orten ehemaliger Konzentrationslager, in: SOWI, Sozialwissenschaftliche Informationen Jg. 30, 2 (2001), S. 104-111.
„Gesellschaft im Blick“ Probleme der Musealisierung von NS- und DDR-Alltag aus zeitgeschichtlicher Sicht A NDREAS L UDWIG
Die Erforschung des Nationalsozialismus in den beiden deutschen Gesellschaften ist bereits durch Martin Sabrow in seinem Eröffnungsvortrag thematisiert worden. Über die vielfältigen Gründe einer defizitären Musealisierung des Nationalsozialismus in der DDR kann noch kein abschließendes Urteil gefällt werden: Zunächst war die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit für die Zeitgenossen absolut traumatisch, die Situation für die Museen nach 1945 desolat. An ein systematisches, zeitnahes Sammeln konnte deshalb kaum gedacht werden. Wenn in den Museen Sammlungsstücke zur NS-Geschichte erhalten geblieben waren, dann waren sie vermutlich nicht aus wissenschaftlichen, sondern eher aus ideologischen Gründen zusammengetragen worden. Vieles, was als „faschistisches und militaristisches Kulturgut“ angesehen wurde, wurde zudem nachträglich 1 aus den Museen entfernt. Während in der Bundesrepublik vor 1989 die Alltagswelt des Nationalsozialismus vor Ort eine gegen ritualisiertes Gedenken gerichtete Brisanz 1
Brandenburg, LHA, Rep. 205 a, Nr. 615, Ausführung SMAD-Befehle 19451947, Bl. 183, Bericht der Landesregierung Brandenburg an die SMAD v. 28.5.1948. Ich danke dem Museumsverband Brandenburg für den Hinweis auf dieses Dokument und die freundliche Bereitschaft zur Einsichtnahme in die dort zusammengestellten Arbeitsunterlagen zur Museumsgeschichte nach 1945.
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erhielt, stellte sich die Lage nach 1989/90 in Ostdeutschland anders dar. Die selektive, vor allem auf den antikommunistischen Widerstand fokussierte Darstellung des Nationalsozialismus in den Museen und Gedenkstätten sollte überwunden werden, unklar war aber, was stattdessen entstehen sollte. Symptomatisch fragte Bernd Faulenbach, ob man weiterhin der Aussagekraft der Objekte vertrauen könne, wo sich doch der Nationalsozialismus gerade durch die Inszenierung seiner Herrschaft auch über Alltagsdin2 ge ausgezeichnet habe.
Die Entwicklung des Alltags-Paradigmas als gesellschaftliches Projekt in den 1980er Jahren Die Beschäftigung mit dem Alltag im 20. Jahrhundert ist beeinflusst vom allgemeinen gesellschaftlichen Aufbruch seit den 1960er und 1970er Jahren, ebenso von einer Öffnung der historischen Wissenschaften zum Konkreten, die zu Veränderungen in den Museen in den 1980er Jahren geführt haben. Die Hinwendung zum Alltag im Nationalsozialismus ist Teil dieses Prozesses, der provisorisch als „Vergegenwärtigung des Vergangenen“ bezeichnet werden kann, in den ein allgemein seit den späten 1970er Jahren ansteigendes Interesse an Geschichte eingebettet ist und der schließlich auch in musealen Aktivitäten zum Tragen kam.
2
Bernd Faulenbach, Der Nationalsozialismus in historischen Museen und Ausstellungen. Zum Thema der Tagung, in: ders., Franz-Josef Jelich (Hg.), Reaktionäre Modernität und Völkermord. Probleme des Umgangs mit der NS-Zeit in Museen, Ausstellungen und Gedenkstätten. Dokumentation einer Tagung des Forschungsinstitutes für Arbeiterbildung und der Hans-Böckler-Stiftung, Essen 1994 (Geschichte und Erwachsenenbildung. 2), S. 10 f. Vgl. bes. Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg, Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Brandenburgische Gedenkstätten für die Verfolgten des NS-Regimes. Perspektiven, Kontroversen und internationale Vergleiche, Berlin 1992. Zur NS-Ästhetik vgl. Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.), Inszenierung der Macht. Ästhetische Faszination im Faschismus, Berlin 1987, sowie die Auseinandersetzung um diese Ausstellung in: dies. (Hg.), Erbeutete Sinne. Nachträge zur Berliner Ausstellung „Inszenierung der Macht, ästhetische Faszination im Faschismus“, Berlin 1988.
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Ich möchte deshalb auf einige Aspekte hinweisen, die ab den 1980er Jahren vermehrt zu einer Betrachtung und Untersuchung des Alltags in der nationalsozialistischen Gesellschaft geführt haben. Nach einer Zeit, in der der Nationalsozialismus vor allem als System der politischen Herrschaft untersucht worden war, setzte nun die Frage nach der Gesellschaft im Nationalsozialismus ein, konkreter die nach dem täglichen Funktionieren der Diktatur unter dem Aspekt der Partizipation einer überwältigenden Mehrheit der Deutschen. Ausgangspunkt war die erneute Rezeption von sozialpsychologischen Texten, die im Exil entstanden waren: Wilhelm Reichs „Die Massenpsychologie des Faschismus“ (1933) und Erich Fromms „Die Furcht vor der Freiheit“ (1947). Neu waren zudem Arbeiten, die die Sozialgeschichte und Sozialpolitik im Nationalsozialismus zum Thema machten und in denen herausgearbeitet wurde, wie es zu einer ökonomisch begrün3 deten Massenloyalität mit dem System kommen konnte und wie, zumindest bis zum Beginn des Feldzuges gegen die Sowjetunion, eine Mehrheit 4 der Zeitgenossen der Fiktion einer Normalität erlagen. Durch Martin Broszats Projekt „Bayern in der NS-Zeit“ (1977-1983) wurde erstmals versucht, ein Gesellschaftspanorama des Alltäglichen zu entwerfen, um das Funktio5 nieren der NS-Gesellschaft zu verstehen. Kurzum: Das Bild einer verführten Nation löste sich ebenso auf, wie Dimitroffs These der Naziherrschaft als höchste Form des Kapitalimus. Der Nationalsozialismus fand, so der Paradigmenwechsel, vor Ort statt, und ihn dort zu untersuchen, war eine neue Qualität lokalgeschichtlicher Arbeit in den 1980er Jahren, an der zunächst Geschichtswerkstätten, bald aber auch Kirchengemeinden, Gewerkschaften, Schulen und nicht zuletzt lokalgeschichtliche Museen beteiligt waren. Um die Breite dieser Hinwendung zur Geschichte vor Ort zu vergegenwärtigen, sei auf das Jahr 1983 hingewiesen, den 50. Jahrestag der Machtergreifung Hitlers. Allein in West-Berlin gab es zahlreiche, eng vernetzte
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Timothy W. Mason, Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, Opladen 1977; David Schoenbaum, Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches, München 1980 (engl. 1966).
4
Hans Dieter Schäfer, Das gespaltene Bewußtsein. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933-1945, München/Wien 1981.
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Martin Broszat (Hg.), Bayern in der NS-Zeit. 6 Bde., München 1977-1983.
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Initiativen, die teilweise bei den Bezirksmuseen angesiedelt waren. Die Folge war eine Innovation lokaler Geschichtsarbeit. Aus den örtlichen Gruppen und Projekten entstand in der Folge das „Aktive Museum Faschismus und Widerstand“, das sich für die Errichtung eines Ortes der Erinnerung auf dem ehemaligen Gestapo-Gelände einsetzte, wo später die 7 Gedenkstätte „Topographie des Terrors“ entstehen sollte. Viele Heimatund Bezirksmuseen widmeten sich zunehmend der Stadt des 20. Jahrhun8 derts. Die örtlichen Spurensuche-Projekte erweiterten sich im Verlauf der 1980er Jahre auf Themen wie das jüdische Leben vor Ort und den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Methodisch neu war diesen Initiativen erstens, dass Erinnerungen durch 9 lebensgeschichtliche Interviews gesichert und publiziert wurden, und sie zweitens die Form der Ausstellung als geeignet erscheinendes Medium wählten. Die mikrogeschichtliche Spurensuche vor Ort war mit einer schwierigen Quellenlage konfrontiert, unter anderem weil die Stadt- und Heimatmuseen noch nicht auf Fragen zur Sozial- und Alltagsgeschichte eingerichtet waren. Zeitgeschichte spielte in ihnen noch keine Rolle, es
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Vgl. Zusammenstellung der Mehrzahl der Publikationen „Wer sich nicht erinnern will...“ Kiezgeschichte Berlin 1933, Berlin 1983; als Einzelpublikationen Kunstamt Kreuzberg u. a. (Hg.), Kreuzberg 1933. Ein Bezirk erinnert sich, Berlin 1983; Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Projekt: Spurensicherung. Alltag und Widerstand im Berlin der 30er Jahre, Berlin 1983.
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Heute unter öffentlicher Trägerschaft die Gedenkstätte „Topographie des Terrors“, vgl. 25 Jahre Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin, Das Jubiläumsheft, Mitgliederrundbrief 59, Juli 2008.
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Bezirksamt Charlottenburg von Berlin (Hg.), Stadtgeschichte als Kulturarbeit. Beiträge zur Geschichtspraxis in Berlin-Ost und -West, Berlin 1991.
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Jochen Köhler, Klettern in der Großstadt. Geschichten vom Überleben 1933 bis 1945, Berlin 1981. Zur Debatte um mündliche Geschichte vgl. Lutz Niethammer (Hg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History“, Frankfurt/Main 1980; in diesem Zusammenhang entstand unter anderem ein Befragungsprojekt zu DDR-Erfahrungen, vgl. ders., Alexander von Plato/Dorothee Wierling, Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biographische Eröffnungen, Berlin 1991.
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überwog der traditionelle Heimatgedanke. In den Museumssammlungen fand sich fast nur das, was das propagandistische Selbstbild der Nationalsozialisten reproduzierte: Fotos vom Eintopfsonntag, Abzeichen des Winterhilfswerks und anderes mehr. Das „Museum der Dinge“ (Werkbundarchiv) in Berlin bildete mit seinen Beständen eine seltene Ausnahme. All11 tagsobjekte befanden sich in der Hand privater Sammler und in den seit Ende der 1970er Jahre in der Bundesrepublik neu entstandenen Industriemuseen, wie dem Centrum Industriekultur in Nürnberg und dem Museum 12 der Arbeit in Hamburg. Wie schon deren Museumsbezeichnungen zeigen, beschränken sie sich nicht nur auf die Sammlung von Maschinen, sondern beschäftigen sich auch mit der Lebensweise in einer Industriegesellschaft. Sie sind hier von Interesse, weil sie die oben genannten Methoden der Spurensuche und der „Oral History“ dezidiert mit museumsspezifischen Zugängen, nämlich der Sammlungsarbeit in alltags- und lebensgeschichtlichen Zusammenhängen und aus der Gegenwart heraus, vereinen. Zusammengefasst erbrachten die 1980er Jahre eine mikrogeschichtliche, auf die Spurensuche vor Ort ausgerichtete Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, die unter Bezug auf das Alltagsparadigma als Blick in die Gesellschaft verstanden wurde. Dies war Teil einer allgemeiner gefassten „alternativen“ Bewegung mit innovativen Wirkungen auf das Museumswesen. Die Historizität des Lebensumfeldes wurde Teil einer politischen Kultur, an der zunächst weniger Berufshistoriker beteiligt waren, die sich aber schnell professionalisierte. Eine längerfristige Folge war die institutionelle Verstetigung, die Erweiterung der bestehenden Geschichtsforschung, Innovation bestehender Museen, die Gründung neuer Institutionen
10 Heinz Reif/Sigrid Heinze/Andreas Ludwig, Schwierigkeiten mit Tradition. Zur kulturellen Praxis städtischer Heimatmuseen, in: Gottfried Korff/Martin Roth (Hg.), Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt am Main/New York 1990, S. 231-247. 11 Ludwig Fischer et al. (Hg.), Zur Archäologie der Popularkultur. Eine Dokumentation der Sammlungen von Produktion von Massenkunst, Massenliteratur und Werbung, 2 Bde., Berlin 1979. 12 Hermann Glaser u. a., Museum und demokratische Gesellschaft. Vorüberlegungen zum Konzept eines historischen Museums für Nürnbergs Industriekultur, Nürnberg 1979; Museum der Arbeit (Hg.), Europa im Zeitalter des Industrialismus. Zur „Geschichte von unten“ im europäischen Vergleich, Hamburg 1993.
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wie Gedenkstätten und Museen. Geschichte wurde wieder Thema von gesellschaftlicher Brisanz, wie nicht zuletzt im Jahr 1986 der Historiker13 streit um die Einmaligkeit der NS-Verbrechen oder die Auseinandersetzungen um die Gründung der beiden (west-)deutschen Nationalmuseen (Deutsches Historisches Museum, Haus der Geschichte der Bundesrepublik 14 Deutschland) gezeigt haben.
Der DDR-Alltag in der Kontroverse um die DDRAufarbeitung seit den 1990er Jahren Wenn also die 1980er Jahre im Westen als ein Jahrzehnt der Wiedergewinnung der Geschichte als gesellschaftliches Projekt charakterisiert werden können, wie stand es dann um seine Folgen nach 1990 im Osten? Alltag war ja in der DDR, vor allem in den 1980er Jahren, durchaus ein Thema. Erinnert sei hier nur an Jürgen Kuczynskis sechsbändige Geschichte des Alltags sowie Sigrid und Wolfgang Jacobeits „Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes“. Beide umfassten die Zeit bis 1945, thematisierten 15 die DDR selbst aber nicht. Neben literarischen Protokollen wie Maxie Wanders „Guten Morgen, Du Schöne“ in den 1970er Jahren, gab es seit 1987 das „Museum Berliner Arbeiterleben um 1900“, hervorgegangen aus der Arbeit einer Gruppe von Volkskundlern und Kulturwissenschaftlern an der Humboldt-Universität Berlin, die die Programmatik einer „sozialisti-
13 Vgl. u. a. Dan Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt am Main 1987. 14 Für das Berliner Projekt, leider unvollständig, dokumentiert in: Christoph Stölzl (Hg.), Deutsches Historisches Museum. Ideen – Kontroversen – Perspektiven, Frankfurt am Main/Berlin 1988. Einige kritische Positionen in Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Die Nation als Ausstellungsstück. Planungen, Kritik und Utopien zu den Museumsgründungen in Bonn und Berlin, Geschichtswerkstatt Heft 11 (1987). 15 Jürgen Kuczynski, Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Berlin (DDR) 1980-1985; Sigrid und Wolfgang Jacobeit, Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes, 2 Bde., 1550-1900, Leipzig/Jena/Berlin (DDR) 1985/86. Bd. 3 für die Zeit 1900 bis 1945 ist erst 1995 erschienen.
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schen Lebensweise“ für breit angelegte Studien eines historischen Alltags nutzten. 16 Das Museum widmete sich nach 1990 auch der DDR-Arbeitswelt, allerdings nur für kurze Zeit, denn mit der Eingliederung in das Stadtmuseum Berlin wurde es 1995 geschlossen. Auch in den ostdeutschen Stadt- und Regionalmuseen wurden die Ausstellungen zur Geschichte der DDR bald 17 nach 1990 geschlossen, sicher auch, weil es in der DDR für die musealen Darstellungen klare inhaltliche und ideologische Vorgaben gegeben hatte, die nicht nur im „Museum für Deutsche Geschichte“ gezeigt, sondern in der „Neuen Museumskunde“ auch ausführlich besprochen worden waren. Das DDR-offizielle Bedürfnis nach Selbstrepräsentation entlang einem klaren Interpretationsschema war ausgeprägt. Was und wie in den Museen entsprechend gesammelt wurde, bleibt noch näher zu untersuchen. Man kann zumindest einen klaren Bruch konstatieren, indem nur ganz wenige in der 18 DDR produzierte Ausstellungen in kommentierter Form weiterbestanden. Eine Wiederannäherung an das Thema DDR fand zunächst in kulturhistorischen Ausstellungen statt, dann zögerlich auch in Stadt- und Regionalmuseen anlässlich des 10. Jahrestags der Maueröffnung 1999, während 2009 aus Anlass des 20. Jahrestags des Mauerfalls ein regelrechter Boom ein19 setzte.
16 Vgl. den Ausstellungskatalog Märkisches Museum/Museum Berliner Arbeiterleben, Manöver Schneeflocke. Brigadebücher 1960-1990, Berlin 1994. 17 Andreas Ludwig, „Objektiv vor diese Aufgabe gestellt sind wir natürlich durch diese Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, das steht fest.“ Beobachtungen in Heimatmuseen der früheren DDR, in: Ostberliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltäglicher Stalinismus, WerkstattGeschichte Heft 1 (1992), S. 41-45. 18 So im Stadtgeschichtsmuseum Salzwedel. Weiteres Beispiel siehe Annette Leo, Mythos Antifaschismus. Ein Traditionskabinett wird kommentiert, in: Bernd Faulenbach/Franz-Josef Jelich (Hg.), Reaktionäre Modernität und Völkermord. Probleme des Umgangs mit der NS-Zeit in Museen, Ausstellungen und Gedenkstätten, Geschichte und Erwachsenenbildung, Bd.2, Essen 1994, S. 153-160. 19 Andreas Ludwig, Objektkultur und DDR-Gesellschaft. Aspekte einer Wahrnehmung des Alltags, in: APuZ 28 (1999), S. 3-11; ders., Representations of the Everyday and the Making of Memory: GDR History and Museums, in: David Clarke/Ute Wölfel (Hg.), Remembering the German Democratic Republic. Divided Memory in an United Germany, Basinstoke 2011, S. 37-53; zur Integra-
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Das kritische Potenzial einer Alltagsgeschichte zeigte sich nun auf andere, überraschende Weise, nämlich auf dem Feld der politischen Geschichte. Viele der Initiativgruppen, die um die Jahreswende 1989/90 mit der Besetzung und Kontrolle der Stasi-Zentralen entstanden waren, sind den Initiativen der 1980er Jahre im Westen nicht unähnlich. Ihr Arbeitsfeld konzentriert 20 sich, sofern die wenigen Gründungen nach 1990 heute noch bestehen, auf das Ministerium für Staatssicherheit und die Tätigkeit seiner Organe. Heute sind viele von ihnen eng an Gedenkstätten oder Institutionen der politischen Bildung gebunden, bzw. betreiben sie sogar. Eine Integration in alltagsgeschichtlich-lebensweltliche Zugriffe, wie sie die Arbeit der Geschichtswerk21 stätten in den 1980er Jahren prägten, hat sich dagegen nicht entwickelt. Politische Zeitgeschichte, vor allem auch die der DDR, ist Teil einer höchst ausdifferenzierten „Erinnerungslandschaft“ geworden, die Gedenk22 stätten und eine Vielzahl größerer und kleinerer Erinnerungsorte umfasst. Dies auch dank einer Institutionalisierung und damit verbesserten finanziellen Ausstattung, die Ergebnis einer verstärkten staatlichen Wahrnehmung 23 ist. Das DDR-„Diktaturgedächtnis“, auf politische Prozesse fokussiert, hat sich zugleich vom kommunikativen, lebensweltlichen Gedächtnis der Gesellschaft in der DDR abgekoppelt. Dies scheint heute eher in privaten Museen und Sammlungen gespeichert, soweit es überhaupt einen öffentlichen Ort gefunden hat. Man spricht deshalb auch von einem gespaltenen Gedächtnis, wenn der Widerspruch zwischen öffentlicher Aufarbeitung und 24 privater Erinnerung gemeint ist. Die Situation ist mit derjenigen der NSAufarbeitung kaum vergleichbar. Das Schweigen der „Erlebnisgeneration“
tion von DDR-Geschichte in Dauerausstellg. heute vgl. Thalia Gigerenzer, Gedächtnislabore. Wie Heimatmuseen an die DDR erinnern, Berlin 2013. 20 Axel Doßmann, Geschichtswerkstätten in der DDR?, in: Geschichtswerkstatt 22 (1990), S. 63 f. 21 Eine frühe Übersicht bietet Petra Clemens, „Geschichte von unten“ in der DDR?, in: Geschichtswerkstatt 24 (1991), S. 15-22. 22 Annette Kaminsky, Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, Leipzig 2004. 23 Martin Sabrow, Die DDR erinnern, in: ders. (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S.18. 24 Vgl. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Bonn 2007.
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in den 1950er Jahren, gegen die sich die 68er Generation aufgelehnt hat, die in den 1980er Jahren durch mikrogeschichtliche Spurensuche angegangen wurde, ist in Bezug auf die DDR eher einer Beredsamkeit gewichen. Die zahlreichen Erinnerungsbände mehr oder weniger prominenter Beteiligter belegen dies. Zeitgeschichte als „Geschichte der Miterlebenden“ (Hans Rothfels) zeigt sich hier als Intervention gegen eine auf den Diktaturcharakter der DDR zielende Geschichtspolitik. Auch sind die differenzierten Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit über die DDR nur unzureichend in diese öffentliche Auseinandersetzung eingegangen. Die Musealisierung der DDR weist gravierende Unterschiede zur Musealisierung des Nationalsozialismus auf. Während letztere eigentlich erst in den 1980er Jahren einsetzte, begann die Musealisierung der DDR unmittelbar mit Öffnung der Grenze im Herbst 1989 und bezog sich in hohem Maße auf Objekte des Alltags. Schließlich war die Öffnung der Grenze und das staatliche Ende der DDR ein überaus deutlicher historischer Bruch, der die DDR schlagartig zur Geschichte werden ließ. Da dieser Bruch für die meisten Zeitgenossen, im Vergleich zum Kriegsende 1945, keineswegs traumatisch verlief, war auch einer Musealisierung keine psychische oder moralische Grenze gesetzt. Im Gegenteil führte sie zu einer Bewahrungs25 tendenz, deren institutionelle Ziele eben die Museen waren. Ebenso bewirkte die Erfahrung einer plötzlichen Historizität der DDR auch eine extreme Verkürzung jenes Latenzzustandes, dem die materielle Kultur zwischen ihrem Gebrauchswert und ihrem kulturellen Wert gewöhnlich unter26 liegt. Die Dinge mussten nicht mehr erst über Jahrzehnte auf Dachböden verstauben, um als kulturell interessant zu erscheinen. Mit dem Untergang des Landes DDR wurden auch seine Dinge schlagartig historisch.
25 Es ist noch nicht untersucht worden, welche Objekte des DDR-Alltags von den Museen tatsächlich gesammelt wurden. Zu den Neugründungen von DDR-Museen vgl. Verein zur Dokumentation der DDR-Alltagskultur, DDR-Museumsführer 2011 von Rügen bis zum Erzgebirge, Berlin 2011; DDR Museum. Führer durch die Dauerausstellung „Alltag eines vergessenen Staates zum Anfassen“, Berlin 2006; Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Hg.), Alltag: DDR. Geschichten, Fotos, Objekte, Berlin 2012. 26 Michael Fehr, Müllhalde oder Museum: Endstationen in der Industriegesellschaft, in: ders., Stefan Grohé (Hg.), Geschichte – Bild – Museum. Zur Darstellung von Geschichte im Museum, Köln 1989, S. 182-196.
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Kurzum: Während bei der Erforschung des Nationalsozialismus vor Ort Objekte der Alltags- und Sozialgeschichte kaum in Museen aufzufinden waren, sind wir heute mit einer riesigen Menge an musealisierten DDRObjekten konfrontiert. Allerdings hat sich inzwischen die Bedeutung dieser Objekte verschoben. Während die wenigen musealisierten Alltagsgegenstände aus dem Nationalsozialismus helfen sollten, eine Vorstellung vom alltäglichen Funktionieren der Gesellschaft unterhalb der Ebene „großer Politik“ zu gewinnen und dieses neu gewonnene Wissen kritisch auf die eigene Gesellschaft anzuwenden, unterliegen die Objekte des Alltags mit Blick auf die DDR-Aufarbeitung dem Verdacht einer Verharmlosung der Diktatur, eine Sichtweise, die als Folge totalitarismustheoretischer Interpretationsansätze nach 1990 entstand, die das kritische Potential der Alltagsgeschichte negierte und die sich heute erst zögerlich auflöst. Diese Dichotomie von „Politik“ und „Alltag“ halte ich weder aus geschichtswissenschaftlicher noch aus musealer Sicht für tragfähig.
Aktuelle Fragen des Umgangs mit dem Nationalsozialismus in Museen heute Inwieweit können nun alltagsgeschichtliche Forschungs- und Sammlungsansätze zum Nationalsozialismus heute in der musealen Praxis umgesetzt werden? Die archivalische Funktion von Museumssammlungen vorausgesetzt, nach der nur erforscht werden kann, was zuvor auch gesammelt wurde, verweist auf die beschränkte Verfügbarkeit der materiellen Kultur: Da nicht zeitnah gesammelt wurde, stehen nur selektive Relikte zur Verfügung – ein altes Problem in der Museumspraxis. Während für Devotionalien des NS-Regimes ein internationaler Sammlermarkt besteht, sind die Alltagsgegenstände der Zeit wohl weitgehend verloren, so sie überhaupt als „na27 tionalsozialistische“ erkennbar sind. Eine nachholende sammelnde, dokumentarische Arbeit wird sich deshalb stark auf private Hinterlassenschaf-
27 So hat sich das Design von Gebrauchsgütern zwischen Mitte der 1920er und mindestens Mitte der 1950er Jahre kaum verändert, vgl. Paul Betts, The Authority of Everyday Objects. A Cultural History of West German Industrial Design, Berkeley 2004, S. 11.; Sabine Weißler (Hg.), Design in Deutschland 1933-45. Ästhetik und Organisation des Werkbundes im „Dritten Reich“, Gießen 1990.
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ten stützen müssen, deren Besitzer wohl vor allem durch ein öffentliches Zur-Sprache-Bringen zu erreichen sind. Es steht zu erwarten, dass die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und seine Darstellung im Museum, allein schon wegen der notwendigen Kontextualisierung privater Quellen, die ja nicht unbedingt eine regimekritische Grundhaltung zeigen, Auseinandersetzungen hervorrufen. Wenn die Funde Träger unterschiedlicher Perspektiven sind, werden sie zum Auslöser für Fragen, ja oft auch Debatten, wie die Auseinandersetzung im Jahr 1999 um die Weimarer Ausstellung „Aufstieg und Fall der Moderne“ – der sogenannte Weimarer Bilderstreit – gezeigt hat. Hier ging es um konfligierende Erinnerungskulturen, vor allem zur Frage der partiellen Vergleichbarkeit von Nationalsozialismus und DDR. Normative Sichtweisen sind bei einer musealen Beschäftigung mit der Zeitgeschichte nicht ausgeschlossen, auch wenn museale Objekte sie aufbrechen können. Schließlich zwingt die Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte die Museen zur Aufgabe des antiquarischen Prinzips, zwingt sie in eine unmittelbare Vergangenheit hinein. Auch wenn Martin Broszat bereits in den 1980er Jahren eine Historisierung des Nationalsozialismus gefordert hat, bleiben dessen konkrete Wirkungen auf eine örtliche Gesellschaft doch langfristig virulent. Das 20. Jahrhundert als 28 „Zeitalter der Extreme“ hinterlässt eben immer auch auf Entlastung zielende Erinnerungsgemeinschaften, die vom voraussetzungslos einbrechenden Nationalsozialismus 1933, von der Stunde „Null“ oder dem „schwierigen Anfang“ 1945 erzählen. Die Alltagsgeschichte hat dafür sensibilisiert, 29 dass dies mit dem Wunsch nach Lebensnormalität verbunden war, eine Erkenntnis, die für kontroverse Debatten sorgen dürfte, wenn sie in musealen Ausstellungen öffentlich gemacht wird. Jenseits dieser wohl immer noch brisanten öffentlichen Erinnerungskultur ist die Erforschung des Nationalsozialismus auch in Hinsicht auf die Integration der Jahre 1933 bis 1945 in eine langfristige historische Entwick-
28 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995. 29 Ulrich Herbert, „Die guten und die schlechten Zeiten“. Überlegungen zur diachronen Analyse lebensgeschichtlicher Interviews, in: Lutz Niethammer (Hg.), „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll.“ Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet, Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960, Bd. 1, Berlin/Bonn 1993, S. 67-96.
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lung notwendig. Aus der Perspektive einer wirtschafts- und sozialgeschichtlich orientierten Stadtgeschichtsforschung kann man den Nationalsozialismus nicht ausklammern und unter der Rubrik „dramatische Zeiten“ abhandeln, denn viele langfristige Entwicklungen haben nicht 1933 oder nach 1945 einfach geendet. Gemeint sind damit zum Beispiel Wirtschaft und Demografie, Infrastruktur und Stadtentwicklung, Religion und Verwaltung. Diese langfristigen Strukturentwicklungen sind durch die markanten Umbrüche des 20. Jahrhunderts – 1918/19, 1933, 1945, 1989/90 – nicht außer Kraft gesetzt, sondern modifiziert, verstärkt oder zeitweise verhindert worden. Dies lässt es sinnvoll erscheinen, über alternative Periodisierungen nachzudenken. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Geschichte einer industriepolitischen Staatsintervention, die als Ansiedlung von Rüstungsindustrien während des Nationalsozialismus vertraut ist, beginnt in Deutschland bereits 1916 und wird unter veränderten Vorzeichen nach 1945 als Implantierung von Großindustrien fortgesetzt. Mit dem Erbe dieser industriell überformten Regionen müssen wir heute umgehen. Kurzum: Die Einbeziehung des Nationalsozialismus, aber auch der DDR in die lange Geschichte der industrialisierten Gesellschaft vor Ort trägt erheblich zum Verständnis der Gegenwart bei. Dabei liegt ihre Brisanz auf der Hand: Angesichts der dramatischen Deindustrialisierung in Ostdeutschland und der damit verbundenen Abwanderung richtet sich der Blick sinnvoller Weise auf eine längere historische Perspektive. Schließlich machen auch aktuelle politische Gründe eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus notwendig. Gemeint ist das Eindringen neonazistischer Gruppen in die Zivilgesellschaft. Über Ursachen und Erscheinungsformen ist in den vergangenen 20 Jahren vielfach berichtet worden. Obwohl es sich statistisch gesehen meist um ein Randphänomen handelt, sind die Entwicklungen vor Ort oftmals dramatisch und die Parallelen mit dem Erstarken des Nationalsozialismus während der 1920er Jahre liegen auf der Hand: Wirtschaftliche Krisenerfahrungen, damit einhergehende soziale Depravation, der Zerfall traditioneller politischer und kultureller Strukturen und in der Folge das politisch ausgerichtete Angebot von Parallelstrukturen seien hier als Punkte genannt, die eine Herausforderung für die Gesellschaft und eben auch für die Museen darstellen. Historiker schreiben die Geschichte eben nicht für die Vergangenheit sondern für ihre Gegenwart – mit der „Gesellschaft im Blick“.
„Leere Gesten“? Darstellungsmuster in Ausstellungen zur NS-Zeit S USANNE H AGEMANN
Jüngst fragte der Spiegel in seiner Titelgeschichte zum Thema Glauben: „Würden Sie einen tadellosen, frisch gereinigten Pullover aus dem Nachlass Adolf Hitlers überziehen?“ Und antwortete selbst: „Mit solchen Selbstversuchen kann jeder prüfen, wie es um seinen kühlen Verstand bestellt ist. Schließlich gibt es keinen Teufel, und ein Pullover ist nicht böse. Also was ist schon dabei? Viel zu viel: Angst. Wer weiß, vielleicht tut sich doch noch die Hölle auf? Und Hitlers Pulli – ekelhaft! Der muss verseucht sein, irgendwie, mit den Toxinen des Grauens, das sein Vorbesitzer verbrei1 tet hat. Wir wissen: So ist es nicht. Aber wir können nicht anders.“ Was dieses nachvollziehbare Beispiel mit historischen Museumsobjekten zu tun hat, wird noch zu zeigen sein. Zunächst geht es um die Frage: Wie wird gegenwärtig in stadthistorischen Museen die Geschichte des 20. Jahrhunderts – und darin der 1930er und 1940er Jahre – dargestellt? Ich gehe in meiner Arbeit der Frage nach, welche Aspekte der jüngeren Geschichte hier mit welchen musealen Mitteln erzählt werden. Mich interessiert vor allem, wie die Tradierung von Geschichte und Erinnerung in der musealen Praxis verstanden wird – und ob und wie sie im Museum funktioniert. Es wird zu zeigen sein, dass der Umgang mit den Dingen aus der Zeit des Nationalsozialismus nicht immer ganz unproblematisch ist. Denn sie erfordern von der Institution Museum, vielleicht mehr als andere
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Spiegel 5 (2013), S. 113.
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Objekte, sich zu positionieren, Stellung zu nehmen, Werturteile zu formulieren, kurz: eine Haltung. Nicht alle Museen nehmen diese Herausforderung an. Und doch ist es gerade für die Vermittlung einer eigenen historischen Identität wichtig, Besucher mit Transparenz und Klarheit und weniger mit scherenschnitthaftem „Geschwurbel“ zu konfrontieren. Weil es eine der wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben der Stadtmuseen ist, Fragen zu stellen, Denk- und Bewusstwerdungsprozesse anzustoßen und Interpretationsangebote für eine heterogene Besucherschaft zu machen. „Angebote“ verwende ich hier in bewusster Abgrenzung zu bevormundender Deutung. Hätten die Museen nicht das Potenzial dazu? Mit dieser Vorannahme ging ich in die zu recherchierenden Ausstellungen. Was mich dort erwartete, löste vor allem eines aus: Irritation. Ich möchte mit meinem Beitrag einen Eindruck davon vermitteln, wie ich Ausstellungen lese, welche Elemente der Ausstellung mir dabei was erzählen und welche Muster ich in diesen Museumserzählungen finde. Ich werde dazu anhand von einigen Beispielen einen Querschnitt von Objekten und Inszenierungen vorstellen, die gegenwärtig in deutschen Museen zum Thema zu sehen sind. Im Zentrum stehen dabei in erster Linie stadthistorische Museen, keine NS-Dokumentationszentren, keine Gedenkstätten an Orten ehemaliger Konzentrationslager – also keine Institutionen, deren inhaltlicher Fokus ohnehin auf den 1930er und 1940er Jahren liegt. In Deutschland gibt es laut Institut für Museumskunde knapp 1.900 Museen mit regional- oder stadtgeschichtlichem Schwerpunkt. Ich habe davon etwa 40-50 besucht. Nicht alle bilden die Zeit des Nationalsozialismus in ihren Ausstellungen ab. Daher habe ich mich leiten lassen von der häufig anzutreffenden Ankündigung der Museen „Wir präsentieren die Geschichte der Stadt XY von den Anfängen bis zur Gegenwart.“ Doch häufig endet der Erzählhorizont der Ausstellungen um 1900. Oder aber es finden sich zwar Objekte aus der Zeit der 1930er und 1940er Jahre, der Nationalsozialismus wird jedoch nicht thematisiert – durchaus aber der Bombenkrieg. Gravierende Unterschiede in ost- und westdeutschen Museen konnte ich nicht feststellen. In Ostdeutschland liegt vielleicht eher der Anzug eines politischen Häftlings mit aufgenähtem rotem Dreieck in der Vitrine, wo in Westdeutschland ein jüdischer Häftling Subjekt der Erzählung wäre. Das hängt oft auch mit der Geschichte der Sammlungen zusammen. Viele ostdeutsche Museen wurden nach 1990 westdeutsch geleitet und so finden sich ähnlich schematische Narrative hier wie dort.
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Zunächst sind einige grundlegende Aspekte zur Funktionsweise von Ausstellungen zu benennen, um dann anhand von konkreten Beispielen und Bildern die Vielschichtigkeit der musealen Darstellungsmuster zur NSGeschichte zu beschreiben. Mit Blick auf die spezielle Objektgruppe der „ideologisch kontaminierten“ Dinge werde ich abschließend einige Überlegungen und Fragen zum Umgang mit dieser „Aufladung“ in Ausstellungen formulieren.
Funktionsweise von Ausstellungen In meiner beschreibenden Herangehensweise verstehe ich das Museum als öffentliche Institution, deren Medium die Ausstellung ist. Über die Ausstellung kommuniziert es mit der Öffentlichkeit. Diese Ausstellung ist in ihrer Gesamtheit les- und interpretierbar, ähnlich wie ein Text oder Film. Sie enthält eine dreidimensionale, räumliche Erzählung. Um diese zu entschlüsseln, bedarf es natürlich so etwas wie Medienkompetenz. Welche Elemente bilden nun dieses museale Narrativ? Es gehören dazu die verschiedenen Kategorien von Objekten – in unserem Fall vom Flakabwehrgeschütz bis zur Christbaumkugel, von der Grammophonplatte über das Parteiabzeichen bis zur Blumenvase aus einer Granathülse. In deutschen stadthistorischen Museen wird zum Thema NS-Geschichte mit 2 einem auffallend begrenzten Objektkanon gearbeitet. Dazu kommen weitere Exponate, die Bilder: Fotos unterschiedlichster Provenienz, mal aus der Propagandaberichterstattung, mal aus dem privaten Familienalbum, Gemälde brennender Städte, Porträts bekannter Persönlichkeiten, Filmplakate usw. Des Weiteren originale Dokumente wie Schriftstücke, Zeitungsartikel, Flugblätter, Bescheinigungen, Ausweise und Bücher. Akustische Elemente unterschiedlicher Art werden ebenfalls ausgestellt: Musik, Zeitzeugeninterviews, Geräusche, wie zum Beispiel Sirenengeheul oder Geschirrklappern, Tondokumente aus Rundfunk oder Wochenschau. Wichtig für die museale
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Zum Begriff des Objektkanons vgl. Susanne Hagemann, Volksempfänger, Bombe, Salatsieb – Geschichtsnarrative in deutschen Museen, in: Zeitschrift für Politische Psychologie 12 (2004), Nr. 3/4, 391-411.
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Erzählung ist schließlich der begleitende Text. Der Interpretation der gezeigten Dinge wird bereits im Text eine Richtung gegeben. Charakteristisch für Museumstexte ist, dass deren Autorschaft für den Besucher meist unklar bleibt. Wer spricht hier eigentlich? Aber auch: Von wem wird erzählt? Und von wem nicht? Wessen Geschichte wird in der Ausstellung erzählt? Unsere, aber – wer ist eigentlich dieses „Wir“? Die Bürger der Stadt? Reichen die Narrative auch über die Grenzen der Stadt hinaus, etwa an die Front, ins Exil, Deportation oder „Kinderlandverschickung“? Normierte Narrative haben sich – was Themen, Subjekte, Deutungen und Sprachgebrauch betrifft – „postwendend“, also seit den 1990er Jahren in west- und ostdeutschen Museen etabliert. Hierbei hat sich eine Art politisch korrekter Sprachgebrauch durchgesetzt, der wohl der konsensuellen Einschätzung durch Politik und Gesellschaft sowie dem Stand der Geschichtswissenschaft entspricht. Verschiedene Opfergruppen des nationalsozialistischen Terrors – Juden, politisch Verfolgte, Roma und Sinti, Homosexuelle – werden benannt, manchmal auch, dass Deutschland den Krieg angefangen hat. Der Bombenkrieg bleibt das zentrale Thema, ebenso wie Flucht und Vertreibung. Aber nicht nur durch die Texte wird eben ein Narrativ produziert, sondern auch mittels der Objekte. Diese sprechen nicht für sich, sondern werden in einer Art semantischer Reihung platziert. Die Aussagenproduktion erfolgt hierbei sowohl gesteuert als auch ungesteuert und ist vielleicht noch vielschichtiger als im geschriebenen Wort. Viele Bedeutungsaspekte transportieren sich auf der Ebene der Assoziationen und im Subtext. Die Bedeutungszuschreibung beginnt bereits beim Eingang des Objektes in die Sammlung und der gezielten Auswahl eines Objektes für die Ausstellung. Und dort wird sie fortgesetzt bei der Kontextualisierung zu anderen Objekten und Dokumenten sowie ihrer Inszenierung mittels Vitrinen, Podesten, szenischen Nachbauten, Figurinen als auch der hervorhebenden oder verbergenden räumlichen Gestaltung mit Licht.
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Vgl. Susanne Hagemann, Museale Narrationen lokaler NS-Geschichte – „Auch in Paderborn kam es zu antisemitischen Ausschreitungen“ und „Männer starben als Soldaten bei der Wehrmacht“, in: Charlotte Martinz-Turek/Monika SommerSieghart (Hg.), Storyline. Narrationen im Museum, schnittpunkt-Reihe, Wien 2009, S. 93-110.
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Für die Formung einer musealen Erzählung ist natürlich auch die Besucherführung durch den Raum mit entscheidend. Sie und die inhaltliche Strukturierung mittels Textschildern und farblicher Gestaltung – oft chronologisch, ähnlich den Kapiteln eines Buches, oder auch in „ThemenModulen“ – bilden den mehr oder weniger eng oder weit gefassten Rahmen für die Rezeption durch die Besucher. Besucherinnen und Besucher haben erheblichen Anteil daran, welche Geschichten im Museum letztlich entstehen, denn sie „lesen“ die Ausstellung und interpretieren sie – gemäß ihrem Vorwissen, ihren Interessen oder auch ihrer emotionalen Verfasstheit – auf ganz individuelle Art und Weise. Die Bedeutung einzelner Objekte wird also konstruiert durch die Art des Zur-Schau-Stellens, die damit immer schon einhergehende Interpretation – und eben durch die Rezeption. Die üblichen Darstellungsmuster gegenwärtiger Ausstellungen unterscheiden sich in ihrer Wirkweise. Ich fasse sie pragmatisch in drei Formen: die Dokumentation, die Inszenierung, das Ensemble. Der zeitliche Wandel in den theoretischen Ansätzen und ausstellerischen Praxen wirkt wie eine stete Gegenbewegung zur jeweils vorherigen Vorgehensweise. Mir scheint es wie eine Art Pendelbewegung, was sich dennoch in bemerkenswerter Gleichzeitigkeit in deutschen Museen findet. Aufgrund der Langlebigkeit von Dauerausstellungen, die statt etwa zehn häufig auch fünfzehn bis zwanzig Jahre gezeigt werden, kommt es zu einer Parallelität von unterschiedlichen Mustern. Die genannten drei Formen möchte ich näher erläutern: Die nüchterne Dokumentation spricht die Besucher kognitiv an und vermittelt Faktenwissen. Sie ist politisch und fachwissenschaftlich präzise, aber unlebendig. Und ohne Gefühl entsteht bekanntlich keine Erkenntnis. Die nachempfindende Inszenierung versucht daher, Geschichte „erlebbar“ zu machen. – Im Falle der NS-Geschichte darf man vielleicht dankbar sein, wenn dieser Vorsatz nicht immer aufgeht (auch der Zirkus des „Reenactment“ ist hiervon nicht weit entfernt). Assoziativ, collagenartig, manchmal auch nur dekorativ, transportiert das Ensemble seine Erzählung. Man will nicht mehr alle Antworten geben, die Besucher sind zum assoziativen Nachdenken aufgefordert. Hier kommt es dann auf die museumspädagogische Vermittlungsarbeit des Museums an, wie sie die Ausstellung als Kulisse nutzt.
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Objekte und Kontexte Die Alltagsdinge aus der NS-Zeit sind „auf uns gekommen“, das bedeutet, sie sind ererbt, überliefert und in den Museen gesammelt und bewahrt worden. Zu deren Aufgaben gehört es auch, mit den vielfältigen Dingen im gedachten Dialog mit einem Publikum umzugehen. Über das Medium der Dauerausstellung bringen sie Besucherinnen und Besuchern etwas über die Zeit der 1930er und 1940er Jahre in der jeweiligen Stadt näher. Dazu wählen die Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter Objekte aus der Sammlung aus, die ihnen für diesen Zweck besonders geeignet erscheinen. Zum bereits erwähnten Objektkanon der Museen gehören, um nur einige zu nennen: Parteiabzeichen und Orden der NS-Organisationen, Spielsachen mit ideologischem und militärischem Inhalt, Geschirr und Haushaltsdinge, Waffen und Uniformen, Gasmasken und Luftschutzgerät, der obligatorische Volksempfänger, so genannte Notgegenstände aus der Kriegs- und 4 Nachkriegszeit und nicht zuletzt Bomben. Dass die Dinge Museumsobjekte geworden sind, heißt, dass sie vom Museum angekauft oder dem Museum geschenkt oder gestiftet wurden. Schon dieser erste Schritt trägt zur Bedeutungskonstruktion bei: Mit welcher Intention wurde das Ding erworben oder dem Museum vermacht? Der nächste entscheidende Schritt in der Bedeutungskonstruktion ist die Auswahl für die Ausstellung. Warum wird dieses Ding als Exponat präsentiert und nicht ein anderes? Entscheidend dafür ist der thematische Kontext, in den das Objekt in der Ausstellung gestellt werden soll. Egal ob Dauer- oder Sonderausstellung, immer gibt es für das Objekt eine fast unbegrenzte Vielzahl von möglichen Kontexten. Die Kategorien von Dingen, die ich hier als Beispiel wähle, bilden sich entsprechend des Umgangs, den sie erfordern und der heutigen Bedeutungsspektren, die sie – ausgestellt – eröffnen. Da sind zunächst die tatsächlichen Alltagsdinge: Kleider, ein Fahrrad, Kaffeegeschirr, Stadtansichten, gemalt oder als Fotografie. Allesamt harmlose Dinge, deren Präsentation keine politischen Implikationen zu haben scheint. Doch wie harmlos sind
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Vgl. Susanne Hagemann, The Bomb and the City: Presentations of War in German City Museums, in: Wolfgang Muchitsch (Hg.), Does War belong in Museums? The Representation of Violence in Exhibitions, Bielefeld 2013, S. 131141.
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diese harmlosen Dinge? Strahlen nicht schon die Jahreszahlen auf ihren Objektschildchen etwas diffus Düsteres aus?: 1933. 1937. 1939. 1942. ... Die Jahre 1933-45 sind doch in Deutschland keine „normalen“, keine alltäglichen Jahre gewesen! Das ist doch das „dunkle Kapitel der deutschen Geschichte“! – so die gängige Formulierung bis heute. Aus diesem Grunde ist vermutlich ein großer Teil der historischen Ausstellungen vor allem mit der politischen Geschichte, dem NS-System und der Führungsriege der Nationalsozialisten befasst. Ein dokumentarisch-sachlicher Stil herrscht hier vor, es dominieren (im Vergleich zu anderen Abschnitten der Ausstellung) die Dokumente – also Fotos, Akten, Schriften – über dreidimensionale Objekte. In der farblichen Raumgestaltung dominieren Rot, Weiß und viel Schwarz. Dies ist nicht nur in den größeren Stadtmuseen der Fall, wie in München oder Hamburg, sondern auch in Oldenburg, Bonn oder Weimar. Hier steht ein Verständnis vom Geschichtsmuseum als Lernort, als Ort der Aufklärung im Vordergrund. Man kann sagen, die distanzierte geschichtswissenschaftliche Perspektive ist hier handlungsleitend. Und doch kann ja nicht alles aus dieser Zeit offensichtlich mit dem NS zu tun gehabt haben, es muss einen „normalen“ Alltag, mit Schule, Arbeit in Büro, Firma oder Laden gegeben haben, es wurde Essen gekocht, Kleidung genäht, Weihnachten gefeiert, es gab Sportwettbewerbe, Ferienfahrten, Arbeitsdienst. Kann man also von so etwas wie einem „politikfreien“ Raum sprechen? Von diesem „Alltag“ jedenfalls sind oft die Erinnerungen der so genannten „Zeitzeugen“ geprägt, vor allem derjenigen, die jung oder noch Kinder waren in den 1930er und 1940er Jahren. Und von dieser Welt erzählen auch viele stadthistorische Museen. Ihr Ansatz ist damit viel stärker sozial- und kulturgeschichtlich, als politikgeschichtlich. Sie sind in ihren Narrativen dem, was man in der Sozialpsychologie Familiengedächtnis nennt, wesentlich näher als der akademischen Geschichtswissenschaft. Hier wird deutlich, was die Begriffe „Erinnerung“ und „Geschichte“ unterscheidet.
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Abb. 1 Inszenierung Wohnzimmer, Stadtmuseum Schwabach Ein Beispiel aus dem Museum in Schwabach. (Abb. 1) Hier wird vom Alltag erzählt, bisweilen wird eine Lebenswelt zu rekonstruieren versucht. Es war die mitreißende Zeit der neu entstehenden Organisationen, die die Vereine ersetzten, die Zeit der keck-schräg aufgesetzten Hütchen, der Mode der langen Zöpfe für Mädel und ausrasierten Nacken mit Seitenscheitel für Jungs. Die Zeit von Mottos wie „Eine deutsche Frau raucht nicht.“, Kino mit Heinz Rühmann, klobige Wohnzimmergarnituren und das „Radio für jeden Stand“. Man hatte Hobbys, betrieb Sport, sammelte und fuhr in die Ferien mit „Kraft durch Freude“. Für manch einen bedeutete „Gleichschaltung“ eben auch soziale Eingebundenheit. (Abb. 2) Einige konkrete Umgangsweisen in der musealen Praxis: Im Stadtmuseum Paderborn lässt man den zeitlichen Abschnitt 1933-45 und alle entsprechenden Objekte gleich ganz aus. Auf das 19. Jahrhundert folgt in der Ausstellung nahtlos das Kapitel „Zerstörung und Wiederaufbau Paderborns 1945“. Im Stadtmuseum Neumarkt in der Oberpfalz wird einzig die Bombardierung der Stadt – voraussetzungs- und folgenlos – dargestellt. Am Beispiel eines Familienunternehmens wird minutiös die fast hundertjährige Geschichte der Fahrradproduktion erzählt. Jacob Goldschmidt leitete das ortsansässige Unternehmen nach dem Tode seines Vaters 1896 weiter.
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Abb. 2 „Sammeln am Feierabend“, Märkisches Museum Berlin 1947, als die Fahrradproduktion nach dem Krieg wieder aufgenommen wurde, heißt der Firmenleiter Victor Lentz. Der Wechsel in der Firmenleitung lässt den Besucher mit etwas Vorwissen stutzig werden. Es handelt sich um eine jüdische Familie. Warum wird der Besitzerwechsel im Begleittext nicht begründet? Selbst, wenn es keine „Arisierung“ gewesen sein sollte? Stattdessen konzentriert sich die Ausstellung auf technische und ökonomische Neuerungen und die erfolgsgekrönte Entwicklung des Radsports in Deutschland. Es war aber eben doch auch die Zeit der politischen Aufmärsche, so möchte man als Nachgeborene einwenden, des Rassekundeunterrichts, der beginnenden Luftschutzvorkehrungen, der Nürnberger Gesetze, der zahlreichen auffälligen Besitzerwechsel von Geschäften und Wohnungen (d. h. Arisierungen), der Diffamierung von Jüdinnen und Juden auf offener Straße, der Auswanderung, des Kriegsbeginns, die Zeit in der Männer Soldaten wurden, die Zeit der Mutterkreuze, der sogenannten „Rassenschande“ und so weiter. Eine Parallelwelt? Wohl kaum. Diese beiden „Welten“ waren, besonders auf lokaler Ebene, aufs Engste miteinander verknüpft, ineinander verflochten. Wie erzählen die Museen davon? Wie wird diese Verschränkung verstehbar? Das wäre meines Erachtens das eigentliche Ziel musealer Vermittlungsarbeit.
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Aufladung und Brechung Ganz schnell fällt jeder Besucherin, jedem Besucher auf: Da gibt es in den Vitrinen jede Menge Alltagsdinge, die mit nationalsozialistischen Symbolen versehen sind. Es werden in den meisten Museen solche „Nazi-Dinge“ gezeigt: Parteiabzeichen, Hakenkreuzarmbinden, HJ-Uniformen. Sie stehen für Ideologie, Rassismus und Verbrechen. Manche Dinge evozieren diese Assoziation auf etwas andere, beinahe ins gruselige verstärkte Art, durch ihren „kuriosen“ oder „dubiosen“ Charakter.
Abb. 3 und 4 „Nazi-Kitsch“, Stadtmuseum Schwabach Noch einmal eine Szene aus dem Museum in Schwabach. (Abb. 3 und 4) Im Ausstellungstext dazu heißt es vergleichsweise deutlich: „NAZI-KITSCH Dem Bedarf nach einfachen, billigen, aber trotzdem die richtige ‚Gesinnung‘ verkörpernden Gegenständen kam man auch im ‚Dritten Reich‘ schnell nach: Krawatten, Tassen und Dosen mit Hakenkreuzsymbolen tauchten allenthalben auf. Besonders kurios sind die ‚Hakenkreuz-Weihnachtskugel‘ oder die ‚Hakenkreuz-Zuckerdose‘. Diese Art von dubiosen Bekenntnissen zur ‚Bewegung‘ provozierte schon im April 1933 einen Aufruf Goebbels gegen den nationalen Kitsch, dem damit allerdings kaum Einhalt geboten werden konnte: So sind von 1940/41 beispielsweise Verdunkelungsrollos aus Kunstleder in Hakenkreuzmanier überliefert.“
Von Seiten des Museums wird der ideologische Kitsch sprachlich zu dekonstruieren und zu diffamieren versucht. Man distanziert sich. Gleichzeitig wird er hier als Beleg dafür verwendet, dass die Menschen in Deutschland diese Produkte wollten. In welchem Maße allerdings Produktion und Konsum einander bedingten, geht aus dem Text nicht hervor.
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Es gibt aber auch subtiler ideologisch aufgeladene Dinge. Im Falle von Frankfurt an der Oder und dem münsterländischen Werne ignoriert man alle problematischen Konnotationen der Objekte. Diese werden in thematischen Kontexten ausgestellt, die nicht mit dem Nationalsozialismus verbunden sind und in denen die zeitliche Parallelität von Ereignissen nicht erwähnt wird. So beispielweise dieser Becher im Museum Viadrina, Frankfurt an der Oder, feierlich verliehen beim Schützenfest 1937. (Abb. 5) Kontext der Ausstellung ist hier „Vereine in Frankfurt an der Oder“. Von der Existenz und dem Ende jüdischer Sport- und Kulturvereine, die es bis in die 1930er Jahre auch hier gegeben hat, erfährt der Besucher nichts.
Abb. 5 Becher Schützenfest 1937, Museum Viadrina, Frankfurt an der Oder
Abb. 6 Meisterbrief 1938, Stadtmuseum Werne
Das Stadtmuseum Werne hat als ein besonders schönes Exponat eine vollständige Schusterwerkstatt in seine Räume transloziert. Die Urkunde des
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Meisters ist ebenfalls ausgestellt. (Abb. 6) Die Handwerkskammer Münster in Westfalen verlieh ihm diese, so liest man, am 30. November 1938 – drei Wochen nach den gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden in der so genannten Reichspogromnacht. Hier gibt es also Exponate, Dinge aus dieser Zeit, doch an keiner Stelle im Museum ausdrückliche Informationen über die Jahre 1933-45 in Werne. Was löst nun aber das Unbehagen an diesen Objekten aus? Ich möchte an dieser Stelle die Vermutung formulieren: Diese Dinge sind gewissermaßen „kontaminiert“, sie „strahlen“ noch. Es handelt sich bei den eben vorgestellten Beispielen, plakativ gesagt, um „böse Dinge“. Vielleicht im Sinne dessen, was das Eingangszitat aus dem „Spiegel“ benennt. „Böse Dinge“, diesen Begriff verwende ich hier aber ebenso in Anlehnung an den Titel des Buches „Böse Orte“, in dem die Autorinnen und Autoren sich mit den (so der Untertitel) „Stätten nationalsozialistischer Selbstdarstellung – heute“ befassen, wie zum Beispiel dem Führerbunker und 5 dem Olympiastadion in Berlin. Am Beispiel des „Großbelastungskörpers“, dessen Bedeutung heute nur noch Spezialisten bekannt ist, nämlich ein Testbau zu sein für das gigantomanische Projekt „Germania“, erläutern die Herausgeber, was ihrer Analyse nach die beschriebenen Orte verbindet: „Zwölf Tonnen reine Belastung, die man nicht wegbekommt, die aber auch nicht berührt werden dürfen, weil niemand weiß, was man mit der Erinnerung anfangen soll.“ Und weiter: „Gerade weil die Aufgabe [des Gedenkens] so schwierig ist, haben sich diese Orte in den letzten Jahrzehnten mit einer bösen Aura aufgeladen; sie wirken auf viele Beobachter doppelbödig, 6 bedrohlich, gefährlich.“ Die Dinge, um die es hier geht, sind wesentlich kleiner und mobiler als Orte und Bauten, doch um nichts weniger „böse“ im genannten Sinne, d. h. mit „einer bösen Aura aufgeladen“ und „unberührbar“ aufgrund der schwierigen, ja unbequemen Erinnerung, die damit verbunden ist. Daher wirken auch sie „doppelbödig, bedrohlich, gefährlich“. Ich will nicht esoterisch um diesen Begriff der „bösen Aura“ herumorakeln und damit eine mögliche Aufladung noch vorantreiben. In den Museen jedoch bedarf es offenbar eines sehr sensiblen Umgangs mit den Dingen aus der Zeit des Nati-
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Stephan Porombka/Hilmar Schmundt (Hg.), Böse Orte. Stätten nationalsozialistischer Selbstdarstellung – heute, Claassen 2005.
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Porombka/Schmundt (2005), S. 8, 10.
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onalsozialismus. Sie sind immer noch heiße Dinge, heikle Dinge, denn sie fordern Antworten auf schwierige Fragen nach Verbrechen, nach Schuld und Unschuld, nach Mittäterschaft und Verantwortung, nach Handlungsspielräumen gestern und heute. Diese schwierigen Herausforderungen entstehen insbesondere durch den lokalen Bezug. Viele Fragen sind nicht abschließend zu klären, sondern nur immer wieder aufs Neue zu stellen. Museen stehen also sehr praxisbezogen vor dem Problem: Was soll man heute mit diesen Dingen tun? Stellt man sie aus? Belässt man sie im Depot? Man wird sie nicht los! Wohin damit? Man könnte sie aus den Sammlungen entfernen, sie vernichten, aber die Vorstellung, dass aus der Geschichte gelernt werden muss, ist gesellschaftlich zu stark verankert. Die Dinge sollen als Beweisstücke dienen. Wofür eigentlich? Sie erfordern aufgrund ihrer Aufgeladenheit eine institutionelle Positionierung, eine Stellungnahme der Ausstellungsmacher zu diesen Dingen – durch die Präsentationsweise und durch Texte. Da läuft man Gefahr, sich in ein Minenfeld zu begeben, etwas „Falsches“ zu sagen. Die Empfindlichkeiten, mehr aber noch die Unsicherheiten, vor allem auf lokaler Ebene, sind groß. Abb. 7 Suppenkelle, Stadtmuseum Schloss Wolfsburg
Eine bestimmte Objektgruppe mit Nazisymbolen ist schon im vormusealen Kontext, also noch im alltäglichen Gebrauch, als „gefährlich“ eingestuft worden, weil sie um 1945 gegenüber den Alliierten verräterisch war, indem sie auf die Gesinnung ihrer Besitzer hindeutete. Heute, im Museum, werden sie als gefährlich erachtet, weil es immer noch möglich wäre, dass eine gewisse, unerwünschte Faszination von ihnen ausgehen könnte. Eine Bedeu-
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tungsverschiebung auf ganz materieller Ebene präsentieren beispielsweise die Ausstellungen in Wolfsburg, Münster und Köln. Hier sind Dinge ausgestellt und erläutert mit Emblemen und Symbolen der Nationalsozialisten, die später entfernt wurden – doch auch die Leerstellen sind noch gut erkennbar. Ganz bewusst werden hier also Objekte für die Präsentation ausgewählt, deren symbolische Aufladung bereits vorab gebrochen wurde. Zitat Objekttext: „Auf dem Griff ist die Gravur eines Reichsadlers zu sehen. Das Hakenkreuz wurde weggeschliffen.“ (Abb. 7) In Münster stehen in einer Vitrine mit ideologischen Spielsachen auch diese Nazifiguren (Abb. 8). Der Objekttext erläutert: „Die Spielzeugfiguren tragen schwarze SSUniformen mit roten Hakenkreuzbinden an den Armen. Die Hakenkreuze sind wahrscheinlich nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg weggekratzt worden.“ Ein besonders eindringliches Beispiel für den affektgeladenen Umgang mit „bösen“ Dingen findet sich im Kölnischen Stadtmuseum. (Abb. 9) Dieses Porträt Adolf Hitlers stammt von dem in Köln ansässig gewesenen Künstler Karl Rickelt. Es liegt ganz unten, flach am Boden einer Vitrine. Laut Objekttext malte er zahlreiche Bildnisse Hitlers: „Die Beschädigungen stammen nach Auskunft der Familie von der Ehefrau des Malers, Maria, geb. von Lauff, die ‚aus Enttäuschung über den Führer’ dessen Gesicht verkratzt habe.“ Für den „mündigen“ Besucher ist es offen gelassen, zu interpretieren. Den möglichen Schluss, dass Frau Rickelt keine Antifaschistin und Hitlergegnerin gewesen sein muss, obwohl sie dem „Führer“ das Gesicht zerkratzte, kann er oder sie selbst ziehen.
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Abb. 8 Ideologische Spielsachen, Stadtmuseum Münster
Abb. 9 Zerkratztes Hitlerporträt, Kölnisches Stadtmuseum
Schluss Für das Geschichtslernen im Museum lässt sich zusammenfassend sagen, dass es von entscheidender Relevanz ist, wie und in welchen Kontext ein Objekt in der Ausstellung gestellt wird. Sicherlich erfordert es Mühe, sich mit der Vergangenheit, mit den Nationalsozialisten in der eigenen Stadt zu beschäftigen. Aber Beispiele aus verschiedenen Museen zeigen, dass Wege gefunden werden können, eine ergebnisoffene, vielschichtige Präsentation zu gestalten, die den Besucher nicht bevormundet, sondern zum Nachdenken auffordert. Neben der politischen Geschichte können auch alltagsgeschichtli-
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che und biographische Elemente eine Ausstellung attraktiver gestalten und andere Zugänge zum Verständnis der Jahre 1933-45 eröffnen, als nur denjenigen über Faktenwissen. In umgekehrter Praxis, mit einem Fokus auf der Alltagsgeschichte, welche die Bedingungen des Systems ausblendet, wird erreicht, dass Besucher in ihren familiär tradierten Geschichtsbildern vorrangig bestätigt werden. Dass darin die Deutschen meist Opfer waren, ist bekannt. Noch viel mehr als bisher wäre es allerdings wünschenswert, dass die Museen ihre Arbeitsweisen offen legten, die Konstruiertheit von Geschichte beim Namen nennen und nicht den Anspruch aufrecht zu erhalten versuchen, auf alle Fragen abgeschlossene Antworten zu finden. Häufige Argumente für „Leerstellen“ im Ausstellungsnarrativ lauten: „Unser Budget ist beschränkt“, „unsere Räumlichkeiten sind beschränkt – wir müssen Schwerpunkte setzen“, „wir haben nicht genügend Personal“ usw. Ein Gegenbeispiel, das ich hierauf immer gerne anführe, ist das kleine Stadthistorische Museum im fränkischen Schwabach, das seine Ausstellung ganz explizit mit dem 20. Jahrhundert beginnt: „Zu besichtigen ist bereits der ca. 250 m² große Bereich ‚Das 20. Jahrhundert: Beispiel Schwabach‘ (1914 bis 1992). Das Museum geht hier einen ungewöhnlichen Weg: Die neuere Geschichte Schwabachs einschließlich der Zeit der NS-Diktatur wurde zuerst fertiggestellt, um den Besuchern einen unmittelbaren, zeitna7 hen Einstieg in die Stadtgeschichte zu ermöglichen.“ Auch Formulierungen wie „die jüdischen Potsdamer/Hamburger/Rostocker“ zu wählen, anstatt zu unterteilen in „die Potsdamer/Hamburger/Rostocker Juden“ und „die Bürger der Stadt“, wäre ein kleiner, aber wichtiger Schritt in Richtung mehr Selbstreflektion. Museen können die Herausforderung annehmen, transparent und offen auch die problematischen Aspekte der NS-Geschichte zu vermitteln, und sie müssen sie annehmen. Sie müssen weder auf alle Fragen Antworten geben, noch müssen sie allwissend auftreten. Aber – und hier will ich ermutigen – Museen sind auch Vorbilder für die Entwicklung eines Urteilsvermögens, das verantwortliches politisches Handeln überhaupt erst möglich macht. Wenn Museumsmacher eine eigene klare, integre Haltung zu Ihren Themen entwickeln, können sie mit den Mitteln von Ausstellung und Vermittlungsarbeit in die Zukunft wirken.
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Zitat von der Museumswebsite http/www.schwabach.de/stadtmuseum/00282. html, Zugriff vom 3.7.2014
Die letzte ideologiefreie Bastion? Der nationalsozialistische Angriff auf den Haushalt M ICHAEL L INGOHR
Im vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen aufzuzeigen, auf welchen (Um)Wegen NS-Ideologie und -Kulturpolitik in die deutschen Haushalte gelangten oder wenigstens gelangen sollten. Unter den vielen Facetten, aus denen sich die NS-Kulturarbeit zusammensetzte, interessiert hier die Instrumentalisierung der Sachkultur am Beispiel keramischer Produkte. Als Musterfall dient das von Hermann Gretsch entworfene Tee-, Kaffee- und Speisegeschirr, das die Porzellanfabrik Arzberg zur Leipziger 1 Herbstmesse 1931 unter der Modellbezeichnung 1382 präsentierte. (Abb. 1 und 2) Gemeinsam mit Modellen der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Berlin, der Porzellanfabrik Friedrich Kästner in Oberhohndorf und wenigen anderen wird es als „Pionierleistung moderner Industrieform“ eingeordnet,
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Die gründlichste Quellenrecherche dazu: Kunst der 20er und 30er Jahre. Sammlung Karl H. Bröhan, Berlin. III. Gemälde, Skulpturen, Kunsthandwerk, Industriedesign, Bearb. Karl H. Bröhan; Dieter Högermann, Bröhan-Museum, Berlin 1985, S. 9-15 Nr. 1-5. Zum zeitgenössischen Kontext: Peter Schmitt, Die Zeit des Zeitlosen: zu einigen Entstehungsbedingungen moderner Gebrauchsformen, dargestellt am Beispiel „Arzberg 1382“ von Hermann Gretsch, in: Jahrbuch der Staatlichen Sammlungen in Baden-Württemberg 12 (1975), S. 213-224. Zuletzt: Marc Cremer-Thursby, Design der dreißiger und vierziger Jahre in Deutschland – Hermann Gretsch, Architekt und Designer (1895-1950) [zugl. Diss. Uni Bonn 1993], Frankfurt am Main u. a. 1996, S. 41-48, 142-154 Nr. 26.
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Abb. 1 Kaffee- und Teegeschirr Porzellanfabrik Arzberg, Modell 1382 2
die Klaus-Jürgen Sembach mit „Stil 1930“ überschrieben hat. Den Status als Design-Klassiker kann es in besonderem Maße beanspruchen, da es noch heute produziert wird. Aus den Auseinandersetzungen zwischen Fachleuten war vor allem durch die Bestrebungen des 1907 gegründeten Deutschen Werkbundes nach dem 1. Weltkrieg eine vielfältige, bisweilen vehement geführte öffentliche Diskussion zur zeitgemäßen Wohnkultur hervorgegangen, die in Journalen, Wohnwegweisern und Ausstellungen anschaulich wurde. Über diese Medien und Foren wurden auch neue Entwürfe bekannt gemacht. So stellte die Zeitschrift „Die Kunst“ ihren Lesern das Arzberger Geschirr Ende 1931 3 vor, die Fotos lieferte der einschlägig bekannte Photograph Adolf Lazi. Dieselben Bilder kamen in der Folge mehrfach zum Einsatz, 1938 schließlich auch, um das Geschirr in der „Deutschen Warenkunde“ zu illustrieren, dem im Auftrag der Reichskammer der bildenden Künste erstellten Muster2 3
Klaus-Jürgen Sembach, Stil 1930/Style 1930, Tübingen 1971, Abb. 100. Hans Franke, Gebrauchsporzellan der Porzellanfabrik Arzberg, in: Die Kunst. Monatshefte für freie und angewandte Kunst 33 (1931-32), S. 66. Angewandte Kunst, S. 288 f. Zu Lazi: Cremer-Thursby 1996 [zit. n. 1], S. 95-97.
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Abb. 2 Speisegeschirr Porzellanfabrik Arzberg, Modell 1382 4
katalog deutschen Hausrats. Derselbe Entwurf, dieselben Fotos, nur der Kontext war mittlerweile ein anderer: Gretschs Modell 1382 war zwischenzeitlich, wie sich zeigen wird, für die Kulturarbeit des NS-Systems in 5 Dienst genommen und damit politisiert worden. Die Arbeitshypothese lautet überspitzt: Alle Objekte der Alltagskultur haben während des Nationalsozialismus eine mehr oder weniger ausgeprägte Politisierung erfahren. Daraus ergibt sich für die folgende Untersuchung
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Deutsche Warenkunde, Hg. Kunst-Dienst im Auftrag der Reichskammer der Bildenden Künste, Bearb. Hugo Kükelhaus/Stephan Hirzel, Berlin 1938-44: WaGr 01/01 (Tafelgeschirr) Bl. 5; 01/02 (Kaffeegeschirr) Bl. 8. Digitalisiert: Archiv des deutschen Alltagsdesigns: Warenkunden des 20. Jahrhunderts, Hg. Hasso Bräuer, Berlin 2001 (Digitale Bibliothek; Bd. 56). Zuletzt: Sabine Zentek, Design(er) im Dritten Reich: gute Formen sind eine Frage der richtigen Haltung, Dortmund 2009, S. 216-258; Dieter Kusske, Zwischen Kunst, Kult und Kollaboration: der deutsche kirchennahe „Kunst-Dienst“ 1928 bis 1945 im Kontext [zugl. Diss. Uni Bremen 2013], S. 168-172, 271 [online unter: http://nbnresolving.de/urn:nbn:de:gbv:46-00103288-10]. Für den Hinweis auf Kusskes Studie danke ich Wilfried Funke.
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Aus Platzgründen wird das chronologische und personelle Spektrum der NSZeit auf Begriffe wie System, Regime und Führung reduziert, für vertiefte Analysen wäre es unbedingt auszudifferenzieren.
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ein Ansatz, der die Instrumentalisierung des Objektes in den Fokus rückt, die Fragestellung also aus dem Objekt auslagert. Die öffentliche Geschichte der Form 1382 setzt mit der produkteinführenden Werbung im Vorfeld der Leipziger Herbstmesse 1931 ein. Dabei fällt angesichts der wortgewandten Ankündigungen anderer Unternehmen auf, dass Arzberg in der ersten Werbeanzeige für ihr Modell im Fachblatt „Die Schaulade“ dieses nur mit der Formnummer benannte und dem Ein6 zelhandel gar keine Deskriptoren zur Vermarktung an die Hand gab. Auch die gleichzeitige Mitteilung an die Redaktion war kaum werbetauglich, suggerierte allenfalls soziales Engagement seitens des Unternehmens: „Die Herstellerfirma (…) schreibt uns, daß sie mit dem Entwerfer, dem Stuttgarter Architekten Hermann Gretsch, darin einig gewesen sei, ein Geschirr zu schaffen, das durch seine klare und selbstverständliche Form beruhigend auf Menschen wirkt, die abgearbeitet zu ihrer Mahlzeit kommen.“ Bernhard Siepen, Mitherausgeber der „Schaulade“, öffnete immerhin erste Werbefenster, indem er das Modell unter der Überschrift „Porzellan-Geschirr als schöne Dauerware“ als Seriengeschirr, also in Einzelteilen erhältlich, und als Gegenpol zu einer das natürliche Geschmacksempfinden verderbenden 7 „Neuheitensucht“ empfahl. Nach der erfolgreichen Produkteinführung legte Siepen nach und erklärte die miteinander inkompatibel erscheinenden Forderungen nach guter Qualität bei schöner Form und niedrigem Preis im 8 Modell 1382 für eingelöst. Fachblätter wie „Die Schaulade“ entfalteten in erster Linie Wirkung auf den Vermittler zwischen Hersteller und Verbraucher, den Einzelhandel. Der direkte Weg zum Kunden führte dagegen über Zeitungen, Kunstmagazine und (Frauen)Zeitschriften, deren Bedeutung in diesem Kontext allerdings kaum erforscht ist. Die Frauenzeitschrift „Neue Frauenkleidung und Frauenkultur“ empfahl noch 1931 die Neuheit aus Arzberg als „gut geformt“,
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Firmenwerbung mit 2 Abb.: Die Schaulade 7 (1931), 11-12, S. 748. Erst nach dem Messeerfolg wurden die Werbeanzeigen mitteilsamer: „(…) Das neue Kaffee- und Tafelgeschirr Modell 1382 mit Rotbanddekor 4884 verbindet neuzeitige Form mit überraschender Preiswürdigkeit (…)“, in: Die Schaulade 7 (1931), 14, S. 833.
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Die Schaulade 7 (1931), 11-12, S. 715.
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Bernhard Siepen, Guter Scherben, schöne Form, niedriger Preis, in: Die Schaulade 7 (1931), 16, S. 991 f.
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das Lifestylejournal „die neue linie“ präsentierte das „in seinen ruhigen Formen unbegrenzt verwendbare Tischporzellan“ in der Rubrik „Schönes 9 und Nützliches“ im Jahr darauf. Hans Franke bezeichnete den Entwurf in „Die Kunst“ gar als absolut: „In idealer Ausgeglichenheit ist alles formal und statisch ausgewogen, jedes der Stücke ist praktisch und schön: das Bes10 te, was man über ein Porzellan sagen kann!“ Die lobende Erwähnung in der Zeitschrift „Moderne Bauformen“ lenkte zudem die Aufmerksamkeit 11 der noch jungen Berufsgruppe der Raumgestalter auf das Modell. Werbewirksam und verkaufsfördernd war auch die Aufnahme neuer Entwürfe in Hausratausstellungen und in Musterschauen bekannter Möbelhersteller. So darf wohl als erster wichtiger Vermarktungserfolg gewertet werden, dass „Der gedeckte Tisch“ in der Ausstellung der Deutschen 12 Werkstätten in München 1932 Gretschs Tafelgeschirr präsentierte. Von überregionaler Wirkung war im selben Jahr die anspruchsvolle Stuttgarter 13 Werkbund-Ausstellung „Wohnbedarf“. Für die weiträumige Bekanntmachung vieler dort gezeigter Produkte sorgte die Werkbund-Mitarbeiterin Mia Seeger mit einer in der Zeitschrift „Moderne Bauformen“ eigens geschaffenen Rubrik „Der neue Wohnbedarf“ – 1935 in Seegers gleichnami14 gem Buch zusammengefasst. Das Arzberger Service war hier gleich 15 mehrfach plaziert. So wundert es nicht, dass andere Verfechter des „Modernen Wohnens“, unter ihnen Werner Graeff und Gustav Adolf Platz, den Entwurf in ihre Publikationen aufnahmen. Als Ergänzung zu seinem Ratge-
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Neue Frauenkleidung und Frauenkultur 28 (1931-32), 2, Abb. S. 40; die neue linie 4 (1932-33), 4, S. 5.
10 Franke 1931-32 [zit. n. 3]. 11 H. H. [Herbert Hoffmann], Ein vorbildliches Speisegeschirr. Formentwurf Dr.Ing. Gretsch, Dekor Fritz v. Stockmayer, Hersteller Porzellanfabrik Arzberg, Oberfranken, in: Moderne Bauformen. Monatshefte für Architektur und Raumkunst 31 (1932), 1, S. 54. 12 Deutsche Kunst und Dekoration 70 (1932), S. 101-106, hier Abb. S. 105. 13 Wohnbedarf. Werkbund-Ausstellung Stuttgart 1932, Stuttgart 1932, Abb. S. 26. 14 In loser Folge in: Moderne Bauformen [zit. n. 11] 31 (1932), 10 – 34 (1935), 4; Mia Seeger, Der neue Wohnbedarf: 321 ausgewählte Industrieerzeugnisse als Ratgeber beim Einkauf auf Grund der Werkbundausstellung „Wohnbedarf“, Stuttgart 1935. Für Seegers Biographie vgl. Kusske 2013 [zit. n. 4], S. 375. 15 Seeger 1935 [zit. n. 14], Abb. S. 1, 3 f., 9 f., 12.
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ber „Zweckmässiges Wohnen für jedes Einkommen“ von 1931 publizierte Graeff im Januar 1933 den als Warenbuch konzipierten Bildband „Jetzt wird Ihre Wohnung eingerichtet“, der sich auf Abbildungen und Nachweise beschränkte. Platz wartete im Sommer desselben Jahres mit „Wohnräume der Gegenwart“ auf, einer Luxuspublikation als Supplement zur Propyläen Kunstgeschichte, und führte das Modell 1382 als Beispiel für die „technische, abstrakte, reine Form“ an, Ergebnis eines Klärungsprozesses, der zur formalen Eindeutigkeit und in der Industrie endlich zur Umsetzung der Se16 rienproduktionsbedingungen geführt habe. Fachpresse und Journale lieferten somit eine Reihe guter Argumente für das neue Service: Funktionalität in sachlicher Umsetzung, aber mit eigenem Charakter, nicht technisch-leblos, Zeitlosigkeit der Form im Gegensatz zu effekthascherischer Mode, Qualität der Verarbeitung, günstiger Preis, Nach- und Zukaufoption. Mit dem Stichwort „gut zu reinigen“ positionierte die Fachzeitschrift „Deutsche Wertarbeit“ das Produkt 1933 auch in der 17 Hygienefrage. Damit waren wichtige Anliegen des Werkbundes und der Vertreter des neuen Wohnens angesprochen und das Modell in die aktuellen Diskurse eingebettet. Da sich die Diskussion um die Wohnkultur teilweise zu einer Frage der Weltanschauung – modern versus konservativ; sozial(istisch) versus großbürgerlich etc. – entwickelt hatte, war sie für eine Vereinnahmung durch die NS-Weltanschauung und die damit einhergehen18 de politische Festlegung latent anfällig.
16 Werner Gräff [Graeff], Jetzt wird Ihre Wohnung eingerichtet: das Warenbuch für den neuen Wohnbedarf, Potsdam 1933, Nr. 239, 271; Gustav Adolf Platz, Wohnräume der Gegenwart, Berlin 1933, S. 134-138, 464 f. [Abb.]. Zu Graeff zuletzt: Werner Graeff 1901-1978, der Künstleringenieur, in: Gerda Breuer (Hg.), Berlin 2010; zu Platz: Roland Jaeger, Gustav Adolf Platz und sein Beitrag zur Architekturhistoriographie der Moderne, Berlin 2000 (Architektur-Archiv; Bd. 1). 17 NN, Arzberg-Porzellan, in: Deutsche Wertarbeit in Gebrauchs- und Geschenkartikeln [8] (1933), 15, S. 8. 18 Für einen Überblick: Georg Himmelheber, Kunsthandwerk im Deutschland der dreißiger Jahre, in: Schön und gut: Positionen des Gestaltens seit 1850. Tagungsband des Symposiums München 2001, Hg. Zentralinstitut für Kunstgeschichte; Bayerischer Kunstgewerbeverein e. V., München/Berlin 2002 (Schriftenreihe des Bayerischen Kunstgewerbe-Vereins e. V.; Bd. 32), S. 202-214.
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Abb. 3 „Gutes und schlechtes Geschirr“, Heimberater 1937 Die offizielle Kulturarbeit, der seit 1933 alle Medien zur vollen Verfügung standen, wurde dabei von verschiedenen Seiten flankiert. Die inoffizielle Propaganda übernahmen unter anderem selbsternannte Geschmacksapostel, die ihre Mission aggressiv, ideologisch aufbereitet oder aber weitgehend unpolitisch vortrugen und damit allesamt im System arbeiteten. (Abb. 3) Aggressiv meldete sich Carl Burchard gleich 1933 mit dem Titel „Gutes 19 und Böses in der Wohnung“ zu Wort. Als Beispiel für ideologisch aufgeladene Missionierung hinter harmlos erscheinender Fassade lässt sich 20 Marga und Heinrich Lützelers Buch „Unser Heim“ anführen. Ganz sachlich brachte andererseits Alfons Leitl das Anliegen in seinem Heft „Behag-
19 Carl Burchard, Gutes und Böses in der Wohnung in Bild und Gegenbild: Grundlagen für neues Wohnen, Leipzig/Berlin 1933. Zweite Auflage: Der HeimBerater. Gutes und Böses in der Wohnung: wenig Worte, viele Bilder und Einkaufsquellen, Bearb. Hilde Glenewinkel, Berlin 1937. 20 Marga u. Heinrich Lützeler, Unser Heim, Bonn 1939 (Belehrende Schriftenreihe).
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Abb. 4 „Behaglich wohnen“, Bauwelt Sonderheft, 1934 21
lich wohnen – und was dazu gehört“ vor (Abb. 4). In allen drei Schriften 22 gehörte das Modell 1382 zu den wenigen Geschirrempfehlungen. Dabei setzten die Autoren auf Anschaulichkeit und die Suggestionskraft von Beispiel und Gegenbeispiel, drastischer als „Gut und Böse“ bezeichnet. Sie gingen stillschweigend davon aus, dass die Abbildungen sich selbst erklärten, so lautete der Untertitel zum „Heim-Berater“ bezeichnenderweise: „Wenig Worte, viele Bilder“. Der Einfluss der Publikationen ist im Einzelnen kaum zu bestimmen, hing von Auflage, Preis, Verbreitungskanälen und Rezensionen sowie vom Renommee der Autoren ab. Leitls preiswerter Ratgeber dürfte mit seinen fünf Auflagen bis 1941 ein breiteres Publikum erreicht haben. Burchards Buch und der „Heim-Berater“ waren zum Preis von knapp 4,- RM wohl erschwinglich, Lützelers Buch dagegen für die angesprochene Zielgruppe der Jungvermählten zu Kriegsbeginn mit 6,- RM eher teuer. Zu den allgemeinen Ratgebern gesellten sich Publikationen zu 21 Alfons Leitl, Behaglich wohnen – und was dazu gehört, Berlin o. J. [1934] (Sonderheft 14 der Zeitschrift Bauwelt). 22 Burchard 1933 [zit. n. 19], Abb. 104, 106, 108, 481-483, 525, 528; HeimBerater [zit. n. 19], Abb. 50, 292, 298, 325 f.; Lützeler 1939 [zit. n. 20], Abb. 156, 286; Leitl [zit. n. 21]51941, Abb. S. 23.
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Einzelaspekten oder mit speziellen Anliegen, erwähnenswert sind die von Walter Dexel, Hermann Gretsch und Walter Passarge. Passarge kam nicht umhin, in seinem der gleichnamigen Mannheimer Ausstellung von 1936 folgenden Buch „Deutsche Werkkunst der Gegenwart“ auch die reinen Zweckformen von Gebrauchsgeschirr für den Massenbedarf zu erwähnen. Dabei lobte er Modell 1382 für „wohlgerundete und im besten Sinne des 23 Wortes behagliche Formen“. Walter Dexel, der kompromisslos für die Vorbildfunktion der in jahrhundertelanger praktischer Erprobung entwickelten traditionellen Formen warb, reproduzierte das Service 1938 in seinem der Jugend gewidmeten „Hausgerät das nicht veraltet“, und Gretsch nahm es 1940 selbstverständlich in das erste Heft seiner kleinen Ratgeber24 reihe „Hausrat, der zu uns paßt“ auf. Nach wie vor spielten Möbelhersteller, Möbelhäuser und das Tischlerhandwerk für die allgemeine Geschmacksbildung eine nicht zu unterschätzende Rolle, da sie regelmäßig mit Inventar bestücktes Mobiliar und komplette Raumensembles präsentierten, seit 1933 meist unter dem ideologisch besetzten Stichwort „deutsch“. 1935 präsentierte das Berliner Möbelhaus Albert Gleiser seine fünfte Sonderschau unter dem Titel „Deutsche Möbel unserer Zeit“ und stattete das Speisezimmer nach Entwurf des Architekten Julius Rücker mit Gretschs Kaffeeservice aus. Das Tafelgeschirr kam unter anderem in dem von Hilde Zuse entworfenen „Speisezimmer in deutscher Esche“ der Firma „Die Heimgestalter“ zum Einsatz sowie in einem SpeiseWohnzimmer von Karl Nothhelfer, das im Frühjahr 1939 im Leipziger Grassimuseum auf der „Deutsches Wohnen 1939“ betitelten Jahresschau des „Reichsinnungsverbandes des deutschen Tischlerhandwerks“ und da25 nach in Antwerpen vorgeführt wurde.
23 Walter Passarge, Deutsche Werkkunst der Gegenwart, Berlin o. J. [1937] (Die Kunstbücher des Volkes; Bd. 20), S. 81 [o. Abb.]. 24 Walter Dexel, Hausgerät das nicht veraltet. Grundsätzliche Betrachtungen über die Kultur des Tischgeräts: Versuch einer Geschmackserziehung an Beispiel und Gegenbeispiel, Ravensburg 1938, Abb. 82, 90; Hermann Gretsch, Hausrat, der zu uns paßt. 1. Essgeräte: ein Wegweiser für alle, die sich zeitgemäß einrichten wollen, Stuttgart o. J. [1940] (Wachsen und Reifen), Abb. S. 10. 25 G. L., Deutsche Möbel unserer Zeit, in: Die Innen-Dekoration. Das behagliche Heim 46 (1935), 3, S. 100-103, hier: Abb. S. 100 f. [Gleiser]; Friedrich Pütz, Neues Handwerk: Anmerkungen zu den Arbeiten der „Heimgestalter“, in: op.
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Natürlich hielt auch die Porzellanfabrik Arzberg das Publikumsinteresse an ihrem Modell 1382 wach, aktualisierte es durch neue Dekore und errang mit ihm auf der Leipziger Herbstmesse 1936 beim Preisausschreiben 26 „Welche Form halten Sie für die beste?“ die meisten Stimmen. Unter dem Schlagwort „zeitlos“ blieb die Form als Gegenpol zur „Neuheiten-Sucht“ Dauerempfehlung der „Schaulade“ und Dauerbrenner für den Einzelhandel, wie das ihr gewidmete, „vorbildliche“ Schaufenster der Firma Wolff in Ulm von 1936 unter dem Motto „Das zeitlose formschöne Porzellan“ bele27 gen kann. Außerdem fand sie ihren Weg auch in Werbeanzeigen anderer 28 Firmen, so 1935 für den Weinbrand Asbach Uralt. Dank geschickter Unternehmenspolitik, häufiger Empfehlung durch die (Fach)Presse und Gretschs kompromissloser Ausnutzung seiner einflussreichen Positionen unter anderem als Baurat im Landesgewerbeamt Stuttgart, Leiter des Stuttgarter Landesgewerbemuseums und Vorsitzender des Bundes deutscher Entwerfer feierte der aus der Weimarer Zeit stammende Entwurf Erfolg um Erfolg. Insbesondere der Deutsche Werkbund, in dessen Vorstand Gretsch im Herbst 1931 gewählt worden war, setzte sich auch nach seiner Über29 nahme durch NS-Parteigänger nachhaltig für das Modell ein.
cit., S. 104-110, hier: Abb. S. 105 [Heimgestalter]; NN, Ausstellung „Deutsches Wohnen 1939“, in: op. cit. 50 (1939), 7, S. 233-237, hier: Abb. S. 235 [Jahresschau 1939]; Huisraad en leven in Duitschland: inleiding tot de Duitsche Tentoonstelling, Hg. Deutsch-Belgische Gesellschaft, Berlin. Ausst. Antwerpen 1939, Berlin 1939, Abb. S. 15 [Antwerpen]. 26 Die Schaulade 12 (1936), 12B, S. 456. 27 NN, Kampf der Neuheiten-Sucht!, in: Die Schaulade 12 (1936), 2B, S. 51-53, hier: Abb. S. 51. Op. cit., 12B, Abb. S. 478 [Schaufenster]. 28 Die neue Linie 7 (1935-36), 4, S. 61. 29 Deutsche Wertarbeit [zit. n. 17]. Zum DWB in den 30er Jahren: Design in Deutschland 1933-45: Ästhetik und Organisation des Deutschen Werkbundes im ‚Dritten Reich’, Hg. Sabine Weißler im Auftrag des Werkbund-Archivs, Gießen 1990 (Werkbund-Archiv; Bd. 20); Roland Günter, Der Deutsche Werkbund und seine Mitglieder 1907-2007: ein Beitrag des Deutschen Werkbunds zur Kulturhauptstadt Ruhr im Jahr 2010, Essen 2009, (Einmischen und mitgestalten; Bd. 10), S. 288-353. Zu Gretschs Karriere: Cremer-Thursby 1996 [zit. n. 1], S. 1318, 117-125.
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So konnte das Modell auch und gerade im NS-Staat seine Karriere fortsetzen. Zu seiner Popularisierung trug in nicht unerheblichem Maß auch die institutionelle Kulturarbeit bei, die auf Anschauung in unendlicher Wiederholung als erzieherisches Mittel setzte. Diese Aufgabe nahm innerhalb der Reichsgrenzen eine Flut von (Wander-) Ausstellungen, Sonder- und Musterschauen sowie Beratungsstellen wahr, in unterschiedlicher Regie und demzufolge uneinheitlichem Erscheinungsbild. Auf allen Ebenen machten Funktionäre die Heimkultur zu ihrem Anliegen, förderten die Propaganda und initiierten entsprechende Präsentationen, so nicht zuletzt der Thüringer Gauleiter Fritz Sauckel, der noch im Mai 1940 in der Otto-EberhardtGartenstadt in Weimar eine Ausstellung zur Wohnkultur veranlasste. Sein „Beauftragter für die bauliche Gestaltung“ in Thüringen, Prof. Rogeler, beschloss dazu „zugleich auch gediegenen Hausrat“ zu zeigen. (Abb. 5) Dieses Projekt wurde vom thüringischen Facheinzelhandel in den Umgängen der Weimar-Halle realisiert. Das Arzberger Modell sollte wie schon so oft 30 zur Tischeindeckung nicht fehlen. Als Botschafter deutscher Kulturleistungen wurde das Geschirr schließlich auch auf internationaler Bühne intensiv in Dienst genommen und durfte unter anderem seit 1935 durch Südosteuropa, 1936 zur Triennale nach
Abb. 5 Hausrat-Ausstellung Weimar-Halle 1940 30 Clemens Richter, Erfolgreiche Gemeinschaftsarbeit, in: Die Schaulade 16 (1940), 12A, S. 252 f.
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Mailand - „Kommissar“ der deutschen Abteilung war Gretsch - und 1939 31 nach Antwerpen reisen. Herausragende Bedeutung kam vor allem der Weltausstellung in Paris 1937 zu. Dieses Forum ließ sich bei weit mehr als 30 Mio. Besuchern als Exportmotor und internationale Werbeplattform für deutsche Wertarbeit nutzen, hatte zugleich auch systemstabilisierende Rückwirkungen, insofern allein die enorme Ausbeute von fast 1000 Auszeichnungen für deutsche Aussteller die NS-Kultur- und Wirtschaftspolitik 32 mit internationalem Gütesiegel versah. Die Hersteller versäumten nicht, in ihrer Werbung auf die Ehrungen zu verweisen, so auch die Porzellanfab33 rik Arzberg für ihr mittlerweile berühmtes Modell. (Abb. 6)
Abb. 6 Porzellanfabrik Arzberg, Werbeanzeige für Modell 1382 im Jahr 1938
31 Deutsche Kunst und deutsches Kunstgewerbe der Gegenwart in Belgrad, Sofia, Athen, Ankara und Istanbul. Wanderausst. 1935-36. Red. Otto Pelka, Leipzig o. J. [1935], Abb. 20; Huisraad 1939 [zit. n. 25]; Michael Lingohr, Keramische Produkte als Repräsentanten nationalsozialistischer Kulturpolitik auf internationaler Bühne, in: Form, Funktion, Ideologie: Keramik in Deutschland 1933 bis 1945, Hg. Heinz-J. Theis für den Förderverein Keramik-Museum Berlin [erscheint 2015]. 32 Lingohr 2015 [zit. n. 31]. 33 Die Schaulade 14 (1938), 3B, S. 103.
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Der Erfolg der NS-Kulturmissionierung blieb trotz vielversprechender Ansätze aber wohl hinter den offiziellen Erwartungen zurück. Das Erscheinungsbild der materiellen Kultur blieb aufgrund der Vielzahl der Akteure, der Verteilung der Kompetenzen, hartnäckiger Verbrauchervorlieben und der Marktmechanismen uneinheitlich. (Abb. 7) Daher wurde 1938 als ultimatives Kompendium geprüfter Entwurfsqualität die „Deutsche Warenkunde“ begründet. Deren Aufgabe als Propaganda-Instrument der Kulturarbeit umriss Adolf Ziegler, Präsident der Reichskammer der bildenden Künste, am 1. März 1939 anlässlich ihrer offiziellen Vorstellung: „Darüber hinaus aber soll sie eine große und umfassende Erziehungsarbeit leisten. Dadurch, daß die ‚Deutsche Warenkunde‘, so hoffe ich, nicht nur in die Hände der direkt interessierten Kreise, sondern auch zu all denen gelangt, die in irgendeiner Art an der Führung des deutschen Menschen mitarbeiten, 34 sei es in der Partei, der Frauenschaft, der Hitler-Jugend, dem BDM.“ Mit der Umsetzung war der „Kunst-Dienst“ beauftragt, dessen Mitarbeiter bis
Abb. 7 Kunst-Dienst-Ausstellung Berlin 1939
34 Magdalena Droste, Deutsche Warenkunde, in: Archiv 2001 [zit. n. 4], S. 99-131, hier S. 125. Preis und Bündelung zu Lieferungen dürfte den Abonnentenkreis der „Deutschen Warenkunde“ weitgehend auf den Einzelhandel beschränkt haben.
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zur Einstellung des Unternehmens 1944 um die 3.500 Warenblätter erstell35 ten. Die Erfassung keramischer Produkte oblag Hermann Gretsch. Unter den ersten von ihm bearbeiteten Entwürfen war selbstverständlich auch sein 36 Modell 1382. Dieses wurde so einmal mehr zum Inbegriff der NS-Kultur erklärt. Gegenüber der bloßen Anschauung schien den NS-Kulturideologen und -Funktionären täglicher Umgang mit den „richtigen“ Gegenständen noch größere Tiefenwirkung zu entfalten. Ihm vor allem traute man zu, deutschem Stilempfinden und Geschmack durch einen simpel gedachten Prägungsprozess wieder zum Durchbruch zu verhelfen. Dieser Überzeugung verlieh HJ-Bannführer Heinrich Hartmann 1938 Ausdruck: „Vom Heim der Hitler-Jugend geht eine gerade Linie zur Wohnung des Volkes. Was Jungen und Mädel in ihrem Heim als eine sichtbare Verkörperung ihrer Art bejahen, werden sie später einmal für ihre Wohnungen verlangen. Der Raum, in dem sie durch acht Jahre hindurch ihren Dienst taten, mit dem ihr ganzes frohes und starkes Jugendleben verbunden war, wird dann als Vorbild des nationalsozialistischen Raumes in ihrer Erinnerung sein, wenn sie selbst da37 rangehen, sich ein Heim zu schaffen.“ Zu den „kleinen Dingen“ in diesem Prozess zählte nicht zuletzt das Geschirr – unter den wenigen Beispielen für reine, nach „uralten Gesetzmäßigkeiten“ gestaltete Formen kam das Ge38 schirr 1382 zu Ehren. Allerdings war es für den Privathaushalt, nicht für maximale Materialbelastung in Kantinen entwickelt worden. Somit bestätigt Hartmanns Empfehlung das erwähnte Grundsatzproblem: Die staatlichen Einrichtungen, in denen der Volksgenosse nationalsozialistisch geprägt werden sollte, Arbeitsdienstlager, HJ-, BDM- und Schulungs-Heime, Wehrmachtsquartiere und dergleichen, lagen in unterschiedlicher Zuständigkeit, daher folgte auch ihre kulturelle Herrichtung und Ausstattung keinem einheitlichen Plan, keiner Systematik. Eigens zum Zwecke der Vereinheitlichung und planvollen Umsetzung der Kulturarbeit wurde 1935 in-
35 Zu Präsentationen der Warenkunde: Kunst-Dienst (Hg.), Der Kunst-Dienst: ein Arbeitsbericht, Berlin 1941 (Werkstattsbericht 15 des Kunstdienstes), S. 21, 23. 36 Vgl. n. 4. 37 K. W. Heinrich Hartmann, Werkhefte für den Heimbau der Hitler-Jugend. II. Die Gestaltung des Innenraumes, Hg. Reichsjugendführung der NSDAP, Leipzig 1938, S. 283. 38 Hartmann 1938 [zit. n. 37], S. 178-189, 358 [Bezugsnachweis zu Abb. 200].
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nerhalb des von Albert Speer geleiteten Amtes „Schönheit der Arbeit“, das in erster Linie auf die Betriebe abzielte, die Abteilung IIa „Musterentwür39 fe“ eingerichtet. Ihr Leiter, Hans Stolper, sah die Aufgabe des Amtes darin, eine „deutsche Gebrauchskultur, wie sie uns bitter not tut“, zu befördern, was schließlich in eine wie auch immer geartete Schönheit des Woh40 nens münden sollte. Mit dieser Zielsetzung wurden in Regie des Amtes auch Möbel- und Geschirrmodelle entwickelt, also ästhetische Normen für Alltagsgerät vorgelegt, vermittelt und in „sozialistischem Gestus“ teils sogar rechtefrei zur Verfügung gestellt. Zur Stärkung regionaler Identität bezog das Amt auch Handwerk und lokale Traditionen in die Planungen ein und ließ keramische Service in den wichtigsten Töpferzentren des Reiches, in Höhr im Westerwald, in Bürgel und in Bunzlau, entwerfen, zudem war ein eigenes Service für jeden Gau geplant. (Abb. 8) Reichsübergreifende Identität sollten ab 1936 von Heinrich Löffelhardt gestaltete, später noch 41 überarbeitete Porzellangeschirrmodelle stiften. Das Amt „Schönheit der Arbeit“ bildete einen wichtigen Baustein im Versuch, die Sachkultur am Arbeitsplatz zu prägen und damit einen Rückübertragungseffekt auf die Heimkultur zu erzeugen. Jedoch war von Anfang an klar, dass die Werktätigen nicht die Hauptadressaten für nachhaltige Kulturlenkung sein konnten, da sie mehrheitlich über eingerichtete Haushalte verfügten und bereits einen eigenen Geschmack ausgeprägt hatten. Wichtigste Zielgruppen waren vielmehr die Heranwachsenden, die kommende, die erste durch und durch nationalsozialistische Generation, die Bannführer Hartmann im Visier hatte, sowie die jungen Erwachsenen. Bei letzteren setzte die kurzfristige NSKulturpolitik mit einem in vielerlei Hinsicht brillanten Mittel an: dem Ehestandsdarlehen. Dieses wurde an frischgebackene Ehemänner in Form von Bedarfsdeckungsscheinen ausgegeben, für die ausgewählter Hausrat allein
39 Zu „Schönheit der Arbeit“: Chup Friemert, Produktionsästhetik im Faschismus: das Amt „Schönheit der Arbeit“ von 1933 bis 1939 [zugl. Diss. Uni Bremen 1977], München 1980, (Kultur – Theorie und Politik); Zentek 2009 [zit. n. 4], S. 108-172. 40 Hans Stolper, Warum entwickelte das Amt „Schönheit der Arbeit“ Mustermodelle?, in: Schönheit der Arbeit 1 (1936-37), 9, S. 410 f. 41 Franz Günter Schäfer, Die Porzellangeschirre „Schönheit der Arbeit“ (19351945): das Inventar, in: Id., Sechs Aufsätze zur oberfränkischen und oberpfälzischen Wirtschaftsgeschichte, Marktredwitz 2001, S. 80-184.
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in zugelassenen Geschäften bezogen werden konnte. Damit war das Darlehen ein Instrument der Konsumlenkung von direkter Wirkung auf Hersteller, Einzelhandel sowie Verbraucher, das die Wirtschaft ankurbelte und zugleich geschmacksbildend wirkte – bis Ende 1939 waren angeblich fast 1,5 Mio. Darlehen im Gesamtvolumen von über 900 Mio. RM bewilligt wor42 den. Lützeler und andere Verfasser von Ausstattungsratgebern sahen in diesem Umfeld Chancen oder Handlungsbedarf und sprachen gezielt die Heiratswilligen an. Das hatte mit Erfolg bereits die 1934 vom Landesgewerbemuseum Stuttgart organisierte Wanderausstellung „Die Aussteuer“ getan. Als Leiter der Institution hatte Gretsch selbst die Schau zusammen43 gestellt und natürlich auch sein Modell 1382 einbezogen.
Abb. 8 Speisegeschirr Amt „Schönheit der Arbeit“, Modell I, 1936
42 Erich Berlitz, Ehestandsdarlehen, Berlin/Wien 1940 (Bücherei des Steuerrechts; Bd. 30), passim. 43 Die Aussteuer. Ausst. des Landesgewerbemuseums, Abt. Sammlungen. 2. erw. Aufl. des Merkblattes von 1934, Stuttgart 1937, S. 10, 12, 24; Die Schaulade 12 (1936), 9B, S. 325 [Abb. Mannheim 1936].
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Für den Haushalt und seine Einrichtung war nach allgemeiner Einschätzung die Frau zuständig. Gerade sie aber wurde durch die NS-Familienpolitik, nicht zuletzt durch die explizit rassen-, bevölkerungs- und arbeitspolitische Zielsetzung des Ehestandsdarlehens, verstärkt aus dem Berufsleben gedrängt – erst Ende 1937 bewirkte der Arbeitskräftemangel einen Umschwung. Der direkte Zugriff auf die Frau war der offiziellen Kulturlenkung somit erschwert. Die Lücke im Propagandasystem versuchten die (Haus-)Frauenverbände zu schließen, so nahm sich unter anderem die Reichsfrauenführung der Frage der Heimgestaltung und der korrekten Umsetzung der Ehestandsdarlehen mit Rat und Tat an. (Abb. 9) Im Rahmen diesbezüglicher Aufklärung fand 1938 wiederum das Modell 1382 Berücksichtigung und zwar unter Zusammenfassung aller ideologisch verwertbaren Pluspunkte: einzeln käuflich, preiswert, hygienisch, funktional, werkgerecht, verzierungslos und formal endgültig, also immer modern, 44 im Dekor individuell anpassungsfähig.
Abb. 9 Ratgeber zur Heimgestaltung der Reichsfrauenführung1938
44 Heimgestaltung mit deutschem Hausrat: ein Wegweiser für die Verwendung des Ehestandsdarlehns. Gemeinschaftsarbeit der Reichsfrauenführung und des Reichsheimstättenamts der DAF. Hg. Reichsfrauenführung, o. O. [Berlin] o. J. [1938], Abb. Titel, S. 15, 19, 26.
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Am Beispiel des Arzberg-Geschirrs konnten beispielhaft die Aneignung der materiellen Kultur sowie ihre resultierende Politisierung und Ideologisierung durch das NS-System beleuchtet werden. Bezeichnend ist dabei, dass ein Entwurf aus der Weimarer Zeit, wie auch Trude Petris Modell „Urbino“ für die Staatliche Porzellan-Manufaktur Berlin, zu einer Ikone der NSHeimkultur werden konnte. Der Hersteller vermarktete sein Geschirr und aktualisierte es durch Dekorvariation, die Fachpresse und verschiedene Vermittler versahen es mit relevanten Deskriptoren und betteten es so in wichtige aktuelle Diskurse ein, derer sich die NS-Propaganda bemächtigte. So eroberte das Modell nach und nach verschiedene Kundenkreise – eine soziale Zuordnung bestand allenfalls im Moment der Markteinführung als billiges Seriengeschirr – und entwickelte sich zu einem komplexen Bedeutungsträger, der vielseitig anschlussfähig war, aus der Perspektive historischer Forschung also multiple Potentialität birgt. Für die Museumspraxis ergibt sich die keineswegs neue Erkenntnis, dass jede isolierte Präsentation eines solchen Objekts als Reduktion dieser Potentialität anzusehen ist. So ist eine (Re)Kontextualisierung im armen oder jungen Haushalt [billiges Ausbaugeschirr] ebenso „richtig“ wie im preisbewussten bürgerlichen Haushalt [Preis-Leistungs-Verhältnis], im modernen [sachliche Zweckform] wie im konservativen [zeitlose Form] oder im linientreuen Haushalt [Absage an Modeartikel] wie im unpolitischen Milieu [praktisch und schön], auf dem Land [Streublumenmuster] wie in der Stadt [Festrand] – ein Nebeneinander solcher Rekonstruktionen wäre, wenigstens virtuell, sicher ein lohnender Versuch. Selbst damit wäre das Potential keineswegs ausgeschöpft. Die Ausführungen haben gezeigt, welche Bedeutung der Kulturlenkung im nationalsozialistischen Staat zukam und welche Wege sie nahm oder zumindest nehmen sollte. Zugleich ist deutlich geworden, dass die „Mission Heimkultur“ aus verschiedenerlei Gründen nur bedingt erfolgreich war und sein konnte, dass das deutsche Heim weitgehend eine private Sphäre selbstbestimmter ästhetischer Vorlieben und kultureller Vielfalt blieb. Die Analyse der Instrumentalisierung von Gretschs Geschirr-Modell hat exemplarischen Charakter, da der offengelegte Mechanismus eine Bedeutungsdimension der gesamten materiellen Kultur während der NS-Zeit bezeichnet. Das Arzberg-Geschirr hat sich dabei fraglos als besonders dankbares Demonstrationsobjekt erwiesen.
„Jeder wird heute in irgendeiner Form in den Strudel der Ereignisse hineingezogen“ Zum historiografischen und musealen Umgang mit Tagebüchern der 1930er und 1940er Jahre J ANOSCH S TEUWER
Innerhalb der historiografischen wie der musealen Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit spielen Tagebücher eine wichtige, aber spezifische Rolle. Insbesondere werden sie gerne herangezogen, wenn es darum geht, sich den individuellen Erfahrungen von Gewalt und Ausgrenzung, politischer Kontrolle und kollektiver Begeisterung zu nähern. Der Zugriff auf diese Dokumente bleibt jedoch zumeist in doppelter Hinsicht begrenzt: Erstens werden Tagebücher in den meisten Fällen als ergänzendes Material für illustrative Zwecke herangezogen. In historischen Studien zum Nationalsozialismus sollen aus ihnen in der Regel keine allgemeinen Erkenntnisse gewonnen, sondern die Auswirkungen allgemeiner Entwicklungen am Einzelfall veranschaulicht werden. Ihr Gebrauch besitzt damit neben einer erkenntnisfördernden auch die stärker moralisch begründete Funktion, bei der Analyse der NS-Diktatur die Auswirkungen der nationalsozialistischen Politik nicht 1 aus dem Blick zu verlieren. Diese Funktion erfüllen Tagebücher vielfach auch in Museen und Gedenkstätten, die besonders um nicht-kognitive Zugänge zur nationalsozialistischen Vergangenheit bemüht sind. Entsprechend bildet das „Konzept der Individualisierung“ ein „zentrales Darstellungs- und 1
Programmatisch dazu Saul Friedländer, Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrativen Geschichte, Göttingen 2007, S. 7-27.
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Erzählprinzip“ in Ausstellungen zum Holocaust und Nationalsozialismus, für das immer wieder auch Tagebücher als prominente Exponate genutzt 3 werden. Dabei wählen Museen zumeist einen anderen Zugang zum Tagebuch, als die akademische Forschung. Dieser konzentriert sich weniger auf einzelne Eintragungen, als auf das Objekt Tagebuch, das qua seiner Materialität epistemische wie emotionale Einsichten vermitteln soll. Dennoch unterscheidet sich die diesem Objekt als Exponat zumeist zugewiesene Funktion kaum von jener in wissenschaftlichen Texten: Ebenso wie anderen „Objekte[n] mit biografischen Bezügen“ wird dem Tagebuch ein besonders hohes Identifikationspotenzial und eine starke emotionale Ansprache der Betrachter zugeschrieben und dieses damit als besonders geeignet betrachtet, die Folgen 4 nationalsozialistischer Verfolgung am Einzelfall sichtbar zu machen. Vor dem Hintergrund dieser erzählerischen Funktion rücken innerhalb der NSForschung wie in Museen und Gedenkstätten vor allem bestimmte Tagebücher in den Blick. Durch sie werden die Tagebuchschreiber vor allem als passiv und von der nationalsozialistischen Politik Betroffene konzeptualisiert, es sind die Tagebücher der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung, so dass diese in historischen Studien und Ausstellungen, aber auch in der gesellschaftlichen Selbstverständigung über die nationalsozialistische Vergangenheit insgesamt eine wichtige Rolle spielen. Nicht zuletzt die großen Publikumserfolge der veröffentlichten Tagebücher von Anne Frank und Victor Klemperer, von Willy Cohn und Friedrich Kellner sind dafür sprechende Bei5 spiele.
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Katja Köhr, Die vielen Gesichter des Holocaust. Museale Repräsentationen zwischen Individualisierung, Universalisierung und Nationalisierung, Göttingen 2012, S. 110.
3
In der Konzeption für das United States Holocaust Memorial Museum war etwa ursprünglich vorgesehen, die Besucher mit sechs ausgewählten persönlichen Gegenständen von Holocaustopfern zu empfangen, die als „single examples of the vestiges of the lives of individuel victims“ in Distanz zueinander aufgestellt und separat beleuchtet werden sollten. Zu diesen, die persönliche Dimension des Massenverbrechens repräsentierenden Objekten sollte auch ein Tagebuch aus dem Konzentrationslager Groß-Rosen gehören. Ebd., S. 172 f.
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Ebd., S. 171.
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Anne Frank, Gesamtausgabe. Tagebücher, Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus, Erzählungen, Briefe, Fotos und Dokumente, Anne Frank Fonds
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Haben wissenschaftliche Studien und Ausstellungen zur NS-Geschichte so vor allem Tagebücher bestimmter Autoren der 1930er und 1940er Jahre im Blick, wird der Zugriff auf diese Quellen zweitens noch dadurch beschränkt, dass diese Tagebücher zumeist nur als „Steinbrüche“ für besonders eindrückliche Zitate genutzt werden. Dies ist innerhalb der histori6 schen Forschung bereits verschiedentlich kritisiert worden. Dennoch werden in den meisten Studien zur NS-Geschichte, in denen Tagebücher Verwendung finden, diese vor allem nach Zitaten durchsucht, die in die eigene, an anderem Material entwickelte Argumentation passen und die dann als vermeintlich direkte Verschriftlichung zeitgenössischer Erfahrungen und Emotionen den politischen Entwicklungen zur Seite gestellt werden. Gleiches gilt, wenn zeithistorische Ausstellungen mit „O-Tönen aus Tagebüchern“ arbeiten, wobei nicht zuletzt die „klassische“ Präsentationsform des in der Vitrine aufgeschlagenen Tagebuchs diese, auf wenige und bestimmte 7 Zitatstellen beschränkte Lesart von Tagebüchern stützt. Dabei sind es im Museum nicht nur die Spuren am Exponat, die von der Benutzung durch einen konkreten Autor zeugen, durch die das Tagebuch als „authentischauratisches Objekt“ den Eindruck einer unmittelbaren Wiedergabe von Erlebtem besonders nachhaltig unterstreicht. Dessen „auratischer“ Charakter wird durch die Art der Präsentation oftmals erst geschaffen, wenn dem Blick des Besuchers mit dem an einer Stelle aufgeschlagenen Buch weit mehr vorenthalten als offengelegt wird.
(Hg.), Frankfurt/Main 2013; Victor Klemperer, Die Tagebücher (1933-1945). Kommentierte Gesamtausgabe (CD-ROM), Berlin 2007; Willy Cohn, „Kein Recht, nirgends.“ Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums 1933 – 1941, Norbert Conrads (Hg.), 2 Bd., Köln 2006; Friedrich Kellner, „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne.“ Tagebücher 1939–1945, Sascha Feuchert et al. (Hg.), Göttingen 2011. 6
Siehe etwa Dagmar Günther, „And now for something completely different”. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 25-61.
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Zitat „O-Töne“: Brigitte Vogel, Wie viel Geschichte darf es sein? Zeitgeschichtliches Lernen am Beispiel der Ausstellungsprojekte des Deutschen Historischen Museums, in: Michele Barricelli, Julia Horing (Hg.), Aufklärung, Bildung „Histotainment“? Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute, Frankfurt am Main 2008, S. 85-96, hier S. 93.
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Diese, nur die Aufzeichnungen bestimmter Autoren und nur bestimmte Einträge wahrnehmende Lesart von Tagebüchern ist nicht grundsätzlich problematisch. In der Tat ermöglichen es Tagebücher, dem Erleben der Opfer der verbrecherischen Politik des NS-Regimes deutlich näher zu kommen und so deren tiefgreifende Auswirkungen am Einzelfall greifbar zu machen, als es mit den meisten anderen Quellen möglich ist. Doch auch in diesen Fällen bleibt eine nicht auflösbare Differenz zwischen dem Tagebuchtext und dem Erleben von Stigmatisierung, Ausgrenzung und Gewalt bestehen, die oftmals kaum reflektiert wird. Mit Blick auf Opfertagebücher ist denn auch verschiedentlich davor gewarnt worden, diese schlicht als Ausdruck vergangener Gefühle und Erfahrungen zu begreifen bzw. mit ih8 nen das Erleben konkreter Personen bruchlos vermitteln zu wollen. Dennoch bleibt die Untersuchung und Vermittlung der Folgen nationalsozialistischer Ausgrenzungs- und Gewaltpolitik am Einzelfall eine erkenntnistheoretisch wie politisch wichtige Herausforderung. Sowohl in wissenschaftlichen Studien als auch in zeithistorischen Ausstellungen lassen sich eindrückliche Beispiele finden, die zeigen, welchen fundamentalen Beitrag 9 Tagebücher dazu leisten können. Doch damit ist das Spektrum an Einsichten in die nationalsozialistische Vergangenheit, die mit Tagebüchern gewonnen werden können, keineswegs ausgeschöpft. Vielmehr ermöglichen diese Dokumente umfassendere Einblicke in die Funktionsweise der Gesellschaft des Nationalsozialismus und deren Bedingungen alltäglicher Lebensgestaltung in den 1930er und 1940er Jahren, die jedoch erst sichtbar werden, wenn man die Selbstbeschränkung des tradierten Blicks auf Tagebücher dieser Zeit hinter sich lässt.
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Siehe etwa, auch mit Blick auf den Gebrauch von Tagebüchern in Gedenkstätten: Alfons Kenkmann, Schriftzeugnisse, Bildquelle, Re-enactment. Emotionen und Medien im Prozess historischen Lernens, in: Juliane Brauer/Martin Lücke (Hg.), Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktisches und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013, S. 261-275.
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Siehe etwa Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Verfolgung und Vernichtung 1933-1945, 2 Bd., München 1998/2006; Alexandra Garbarini, Numbered Days. Diaries and the Holocaust, New Haven/London 2006. Einen gelungenen musealen Einsatz von Tagebüchern zeigt etwa der Ort der Information unter dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin.
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Mit den folgenden Überlegungen möchte ich deshalb für einen anderen Umgang mit während der nationalsozialistischen Diktatur entstandenen Tagebüchern plädieren, der diesen Dokumenten nicht von vornherein eine wichtige illustrative, aber dennoch periphere Funktion zuweist. Stattdessen möchte ich sie ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und dabei in einer an fachwissenschaftliche wie museale Fragestellungen gleichermaßen anschlussfähigen Perspektive Tagebücher sowohl als historiografische Quellen wie als historische Objekte betrachten: Um den Erkenntniswert der Quelle Tagebuch auszuschöpfen, muss meiner Einschätzung nach die Historiografie ihren starken Fokus auf den eingetragenen Text hinter sich lassen und Tagebücher auch als historische Objekte ernstnehmen, wie umgekehrt Museen Tagebücher auch als Schriftquellen verstehen müssen, um ihnen als Ausstellungsobjekt gerecht zu werden. In diesem Sinne schlage ich in den folgenden Ausführungen eine andere Lesart von Tagebüchern der 1930er und 1940er Jahre vor, die gerade die Bücher solcher Zeitgenossen in den Mittelpunkt rückt, die von den Verfolgungspolitiken des NSRegimes nicht unmittelbar betroffen waren. Mir geht es dabei weniger um eine ausführliche Analyse der jeweiligen Dokumente, als Möglichkeiten deren Interpretation wie das ihnen innewohnende Erkenntnispotenzial aufzuzeigen, das sich aus der engen Verflechtung ergibt, in der auch diese Ta10 gebücher mit der politischen Geschichte des Nationalsozialismus standen. Tagebücher können vor allem dann tiefgreifende Einsichten in die Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur liefern, wenn man in ihnen nicht nur auf der Suche nach besonders eindrücklichen Eintragungen ist, die unser Wissen über die NS-Zeit mit subjektiven Eindrücken bebildern. Tagebücher sind vielmehr in erster Linie selbst historische Objekte, die in dieser Eigenschaft ernst genommen werden müssen, wenn man sie als Quellen zum Sprechen bringen möchte. Denn, so banal es ist, sie sind nicht dafür geführt worden, uns über die Vergangenheit zu informieren. Selbst dort, wo Tagebuchautoren schrieben, um für die Nachwelt Zeugnis abzulegen, sind doch nicht wir jene Nachwelt, die die Autoren in den 1930er und
10 Diese Überlegungen habe ich im Rahmen des DFG-Projektes „Der Nationalsozialismus als biografische und gesellschaftliche Herausforderung. Formen des individuellen Umgangs mit dem Nationalsozialismus nach 1933 und nach 1945“ entwickelt, in dessen Rahmen ich derzeit an der Ruhr-Universität Bochum mit einer Analyse von etwa 150 Tagebüchern aus den 1930er Jahren promoviere.
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1940er Jahren imaginieren konnten. Tagebücher erfüllten vor allem in der Zeit, in der sie verfasst wurden, für ihre Autoren bestimmte Zwecke, die rekonstruiert und berücksichtigt werden müssen, wenn konkrete Tagebucheinträge interpretiert werden. Philippe Lejeune, ein französischer Literaturwissenschaftler, der sich intensiv mit Tagebüchern auseinandergesetzt hat, hat dies nachdrücklich betont. Im Gegensatz zum populären Bild des Tagebuchs als „Spiegel“ seines Autors und dessen Alltags macht Lejeune das Bild eines „Filters“ stark, durch den die jeweiligen Autoren sich und ihre Umwelt betrachten. Tagebücher enthalten kein Abbild der Persönlichkeit ihrer Autoren, deren alltäglichen Lebens oder des sozialen Umfeldes, in dem sich diese bewegten. Gerade in dem Filtern der eigenen Wahrnehmung liegt der zentrale Wert des Tagebuchschreibens: Im Verlauf der Zeit verschaffen sich Autoren durch das regelmäßige Schreiben Ordnung und Orientierung über sich selbst, die Zeit in der sie leben und bzw. oder die eigene Beziehung zu dieser. Bei der Analyse von Tagebüchern, so hat Lejeune gefordert, sollte man sich deshalb nicht zu sehr auf den Text konzentrieren, sondern anerkennen, dass das Tagebuch eigentlich nur das Beiprodukt eines kontinuierlichen Deutungsprozesses darstellt, der das eigentliche Zentrum der Analyse bilden 11 müsse. Lejeune entwirft so eine andere Vorstellung des Tagebuchs als die eines „verschriftlichten Lebens“. Statt der abbildenden, dokumentarischen Qualität betont er gerade den performativen Charakter des Tagebuchschreibens: Tagebuchautoren geben in ihren Eintragungen nicht einfach Gedanken wieder, die sie sich bereits vorher gemacht haben. Natürlich spielen zurückliegende Erlebnisse, Ereignisse oder Gedanken, die die Autoren schon länger beschäftigten, eine wichtige Rolle beim Verfassen eines Tagebuchs. Doch diese werden, wenn sie im Tagebuch zum Thema gemacht werden, durch das Schreiben stets neu geordnet, sortiert, manches weggelassen, Ereignisse in neue Sinnzusammenhänge gestellt und so mit Bedeutungen versehen, die zuvor nicht bestanden. Tagebücher, so kann man Lejeunes Überlegungen zusammenfassen, müssen weniger als Berichte über die Vergan-
11 Zu den Überlegungen von Philippe Lejeune siehe die Textzusammenstellung ders., On Diary, hg. von Jeremy D. Popkin/Julie Rak, Honolulu 2009, vor allem die Aufsätze, The Continuous and the Discontinuous, S. 175-186 und The Diary as „Antifiction“, S. 201-210.
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genheit verstanden werden, denn als ein Werkzeug. Sie offenbaren nicht die Persönlichkeit ihrer Autoren, sondern dokumentieren eine in diesem und mit diesem Medium vollzogene Suche nach Deutungen, die im Schreiben gefunden werden. Diese Überlegungen mindern den Quellenwert von Tagebüchern für eine ganze Reihe von Fragen, die klassischerweise an Tagebücher gestellt werden: Fragen nach der Persönlichkeit der Tagebuchautoren, den sie prägenden Gefühlen, Verhaltensweisen und Gedanken. Aber die Zeitgenossen begegnen uns in ihren Tagebüchern eben nur in ihrer Rolle als Autoren, die natürlich über sich selbst und ihr Leben schreiben, aber so dennoch stets nur einen vermittelten, ausschnitthaften und verzerrten Zugang hierzu bieten. Dies zeigt sich in den Quellen besonders deutlich bei Zeitgenossen, die mehr schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben als ihre Tagebücher. Hans Maschmann ist dafür ein Beispiel. Der 1887 geborene Lehrer schrieb intensiv Tagebuch, das er seit 1933 mit regelmäßigen und ausführlichen Einträgen dazu nutzte, sich mit den neuen politischen Entwicklungen auseinander- und sich selbst in ein Verhältnis zu diesen zu setzen. Und Maschmann rang dabei intensiv mit dem politischen Geschehen, kritisierte das neue Regime immer wieder deutlich und klagte darüber, durch die Politik „niedergedrückt“ zu sein. Doch gleichfalls sind eine große Anzahl Liebesbriefe überliefert, die der verheiratete Mann an eine Bekannte schrieb, mit der er ebenfalls im Jahr 1933 ein langjähriges Verhältnis begann. In diesen Briefen spielte Politik keine Rolle. Der sich in seinem Tagebuch als durch die politische Entwicklung niedergeschlagen präsentierende Maschmann erscheint in diesen Briefen als lebensfroh, empfindsam und von der politischen Entwicklung wie unberührt. Es sind unterschiedliche Personen, die uns im Tagebuch und den Liebesbriefen entgegentreten und keine von diesen ist mit der realen Person identisch, bestenfalls zeigen sie einen be12 stimmten Ausschnitt von ihr. Der Nachlass von Hans Maschmann zeigt beispielhaft, wie schwierig der Rückschluss auf die Persönlichkeit des Autors jenseits des Tagebuchs ist und dass es Tagebücher kaum erlaubten, genauer einzuschätzen, wie
12 Akademie der Künste Berlin (AdK), Kempowski-Biographienarchiv, Konvolut 5965. Ähnliches zeigt Peter Fritzsche, The Turbulent World of Franz Göll. An Ordinary Berliner Writes the Twentieth Century, Cambridge, MA/London 2011, S.74-77.
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stark etwa politisches Geschehen die Gefühle und Gedanken ihrer Autoren tatsächlich bestimmt. Gleichzeitig macht sein Beispiel aber besonders deutlich, warum Tagebücher dennoch für die NS-Geschichte eine besonders interessante Quelle bilden. Maschmann hatte vor allem in seiner Jugend- und Studienzeit Tagebuch geführt, doch dieses in den 1920er Jahren schließlich beendet. Erst im März 1933 griff er – nach einer über vierjährigen Schreibpause – wieder zum Tagebuch und machte in diesem seitdem bis zum Kriegsende zunächst täglich, später immer noch mehrmals die Woche ausführliche Eintragungen. Der Zeitpunkt des Beginns seines erneuten Schreibens fiel keinesfalls zufällig mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft zusammen. Vielmehr nutzte Hans Maschmann sein Tagebuch in den Jahren 1933-1945 fast ausschließlich dazu, sich mit den politischen Entwicklungen, dem neuen Regime und seiner Stellung zu diesem auseinanderzusetzen. Die hunderten engbeschriebenen Seiten, die er in dieser Zeit in seinem Tagebuch füllte, kennen so gut wie kein anderes Thema als die Politik des NS-Regimes und sein Verhältnis hierzu – obwohl politische Themen sein früheres Tagebuchschreiben keinesfalls in diesen Maße dominiert hatten. Doch vor dem Hintergrund einer sich rasant verändernden politischen und gesellschaftlichen Umwelt schien Hans Maschmann sein Tagebuch der geeignete Ort zu sein, nach Orientierung und einem eigenen Umgang mit den neuen Gegebenheiten der nationalsozialistischen Diktatur zu suchen. Hans Maschmann war damit nicht allein. Auch wenn sein Tagebuch in dem Umfang, in dem es sich der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur widmete, außergewöhnlich war, so nutzten doch gerade zu Beginn der NS-Herrschaft, aber auch in den späteren Jahren zahlreiche Zeitgenossen ihre Tagebücher als Werkzeug dazu, nach einem eigenen Umgang mit der NS-Diktatur zu suchen. Dies traf dabei nicht nur auf Zeitgenossen zu, die dem Regime wie Hans Maschmann mit viel Kritik begegneten. Allgemein lässt sich in Tagebüchern der 1930er und 1940er Jahre eine intensive Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus beobachten, die Kritiker wie Sympathisanten des neuen Regimes gleichermaßen umfasste. Dies hing in starkem Maße damit zusammen, dass die „Machtergreifung“, die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933, von vielen Zeitgenossen als etwas Außergewöhnliches, als eine einschnei-
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dende und weitreichende Zäsur wahrgenommen wurde: Zahlreiche Tagebuchautoren beschrieben den Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft – teils noch am 30. Januar 1933 – als Wendepunkt, als einen Moment, an dem ein Zeitabschnitt sein Ende gefunden habe und etwas Neues im Entstehen sei. Und dies nicht nur in einem politischen und historischen Sinne, sondern gerade auch mit Blick auf das eigene Leben: „Ein neues Blatt im Buche der Geschichte ist aufgeschlagen“, hielt in diesem Sinne etwa ein Göttinger Student im Sommer 1933 in seinem Tagebuch fest, „sowohl für 14 die Geschichte Deutschlands wie für meine eigene Geschichte.“ Vor diesem Hintergrund berichten Tagebücher nicht einfach nur vom politischen Geschehen – von der Gewalt, die mit der „Machtergreifung“ einherging; von Aufmärschen und Siegesfeiern der NSDAP-Mitglieder und Anhänger; von politischen Entscheidungen, privaten Möglichkeiten und Problemen, die sich daraus ergaben – vielmehr kam für viele Autoren dem Tagebuchschreiben selbst in dieser historischen Situation eine wichtige Funktion zu. Dies führte zu einer wechselseitigen Verflechtung von politischem Geschehen und Tagebuch: Politik spielte seit 1933 in den Tagebüchern eine deutlich größere Rolle als zuvor und umgekehrt hatte vielfach das Tagebuchschreiben Auswirkungen darauf, welchen und wie die jeweiligen Autoren an dem politischen Geschehen Anteil nahmen. In der als offen wahrgenommenen Situation, in der relativ eindeutig erschien, was beendet, aber noch nicht, was begonnen worden war, nutzten viele Autoren gerade 1933/34 das Tagebuch gezielt als Instrument, um schreibend nach Orientierung zu suchen – etwa mit Blick auf die Frage, in welchem Verhältnis man selbst zu dem neuen Regime stand. Fritz Koch, ein 1896 geborener Rechtsanwalt, begann etwa im Frühjahr 1934, auf losen Zetteln mit einem Tagebuch: „Es ist jetzt Mai 1934. Über ein Jahr bereits steht das Leben der Deutschen unter dem Zeichen des Hakenkreuzes und vieles ist verändert. Gebessert? – Verschlechtert? Ach, ich kann nicht unbefangen urteilen! Mein Gefühl sagt so laut nein, nein, dass es mir schwer fällt die übrigen Stimmen in mir und die Stimmen der Umwelt einigermaßen richtig zu ver-
13 Anderes vermutet etwa Andreas Wirsching, Die deutsche „Mehrheitsgesellschaft“ und die Etablierung des NS-Regimes im Jahre 1933, in: Ders. (Hg.), Das Jahr 1933. Die nationalsozialistische Machteroberung und die deutsche Gesellschaft, Göttingen 2009, S. 9-29, hier S. 23. 14 AdK, Kempowski-Biographienarchiv, 1174, 12.7.1933.
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stehen.“ Gerade deshalb bemühte sich Koch wie zahlreiche seiner Zeitgenossen nun im Medium der Schrift um Klarheit und Orientierung und suchte in den folgenden Wochen mit schriftlichen Erörterungen nach einer nicht nur gefühls-, sondern auch verstandesmäßigen Position zum NS-Regime. Auch über die ersten Monate der nationalsozialistischen Herrschaft hinaus blieb das Tagebuch für zahlreiche Zeitgenossen ein Werkzeug, um sich mit dem NS-Regime auseinanderzusetzen. Insofern war nicht allein die Überraschung, die der Regierungsantritt des Reichskanzlers Adolf Hitler für die meisten Zeitgenossen bedeutete, für die intensive Beschäftigung zahlreicher Tagebuchautoren mit der NS-Diktatur verantwortlich. Vielmehr hing dies mit dem spezifischen Charakter der nationalsozialistischen Herrschaft zusammen: Das NS-Regime war von Beginn an nicht allein um politische Machtsicherung bemüht, sondern zielte vor allem auf eine grundlegende Neuordnung der deutschen Gesellschaft. Im Kern bildete der Nationalsozialismus eben dies: Ein Gesellschaftsprojekt, das auf den vermeintlich notwendigen „Wiederaufbau“ der deutschen Nation durch die Schaffung einer „wirklichen Volksgemeinschaft“ zielte. Was genau dies bedeuten sollte, blieb ebenso diffus und umstritten wie der Zentralbegriff „Volksgemeinschaft“, der extrem vieldeutig war und während der NSDiktatur von zahlreichen Akteuren in sehr unterschiedlicher Weise gebraucht wurde. Gerade dadurch unterstrich er den breitgeteilten Anspruch auf Veränderungen umso stärker und ließ sich in vielfältiger Weise dazu nutzen, von den einzelnen Zeitgenossen Unterstützung und Mitarbeit einzu16 fordern. Die angestrebten weitreichenden Veränderungen, darüber war man sich allgemein einig, konnten nicht allein durch staatliche Maßnahmen erreicht werden, sondern bedurften der aktiven Mitwirkung der deutschen Gesellschaft und ihrer einzelnen Mitglieder. Deshalb erhob das Regime von Beginn an weitreichende Forderungen gegenüber dem alltäglichen Verhalten und den persönlichen wie politischen Ansichten der einzelnen Zeitgenossen: Forderungen nach der loyalen Zuordnung zum NS-Regime, aber ebenso, um zur sozialen Isolation der jüdischen Deutschen und anderen
15 Staatsarchiv München, Nachlass Fritz Koch, Nr. 31, Tagebuch Mai 1934. 16 Siehe hierzu ausführlich Janosch Steuwer, Was meint und nützt das Sprechen von der „Volksgemeinschaft“? Neuere Literatur zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, in: Archiv für Sozialgeschichte 53 (2013), S. 487-534, hier vor allem S. 500-503.
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„Volksfeinden“ beizutragen. Forderungen nach der Veränderung der subjektiven Selbstvorstellungen der einzelnen Zeitgenossen, in denen nun neue ideologische Kategorien wie „Rasse“ oder „Gemeinschaft“ einen zentralen Platz einnehmen sollten. Und Forderungen nach der Beteiligung am politischen System des NS-Regimes, das etwa durch die zahlreichen Unterorganisationen der NSDAP vielfältige Angebote zum Mitwirken machte. All diese herrschaftlichen Ansprüche fanden Niederschlag in den Tagebüchern der 1930er und 1940er Jahre, indem Zeitgenossen schreibend einen eigenen Umgang mit diesen Erwartungen und Anforderungen suchten; und dies waren nicht nur Tagebuchautoren wie Hans Maschmann und Fritz Koch, die auch in der Weimarer Republik von politischen Themen geschrieben hatten. Sehr direkt sprachen Tagebuchautoren nach 1933 vielmehr immer wieder an, dass die individuelle Auseinandersetzung mit dem NS-Regime keine Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit wurde. „Politisch stand das Jahr im Ausbau und in der Festigung der Autorität des Dritten Reichs“, notiert ein Hamburger Seemann, der sich in den 1930er Jahren als Maler versuchte und sich im Tagebuch zunächst kaum mit dem neuen Regime befasst hatte. Doch in seiner Jahresbilanz Ende Dezember 1934 betonte er: „Von allen Vorgängen wird man heute berührt, jeder wird heute in irgendeiner Form in den Strudel der Ereignisse hineingezogen und will er 17 weiterleben, so muss er schwimmen um sich zu halten.“ Wie richtig dieser Eindruck war, zeigen vor allem Tagebücher, deren Autoren sich bisher nicht mit politischen Entwicklungen befasst hatten. Als Werkzeug ließen sich Tagebücher grundsätzlich für zahlreiche Zwecke gebrauchen und natürlich bildete die Politik keineswegs für alle Tagebuchautoren das zentrale Thema – auch nicht nach 1933. Luise Klempt, eine 1889 geborene Freskenmalerin aus München, gehörte zu denjenigen Tagebuchautoren, die sich vor allem mit eigenen Nöten und Sorgen befassten und politischen oder gesellschaftlichen Entwicklungen keinen Raum widmeten. Für Klempt, die seit ihrer Jugend intensiv Tagebuch schrieb, waren dies vor allem Beziehungssorgen, die ihr die langjährige Liebesbeziehung mit einem Mann bereitete, der zahlreiche Affären hatte. Ähnlich wie Hans Maschmann hatte sie Anfang der 1930er Jahre das Tagebuchschreiben für mehrere Monate unterbrochen und es 1933 wiederaufgenommen. Doch bei ihr hing dies nicht mit dem politischen Geschehen zusammen. Vielmehr
17 Staatsarchiv Hamburg, 622-1/174, 2, 31.12.1934.
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endeten für sie im Sommer 1933 „zwei glückliche Jahre“ der „freudigen Gelassenheit“, weil ihr Partner, der ihr die letzten Monate treu gewesen war, jetzt wieder „im Bannkreis fremder Frauen“ stand. Wie in den Jahren zuvor begann Klempt sich „schreibend von [der] innere[n] Spannung zu lösen“, die die Beziehungskonflikte bei ihr auslösten. Doch dieses Mal war dies etwas Anderes: „Die Welt, die wildbewegte, das ‚Erwachen‘ eines ganzen Volkes braust irgendwie an mir vorbei. Ich schäme mich, wie sehr persönliches Herzensleid mich ausfüllt, und bin doch zu sehr mit meinen Wurzeln in einem individualistischen Zeitalter verankert, um diesen Kollektivismus mitmachen zu können“, notierte Klempt bereits in ihrem zwei18 ten Eintrag nach der Unterbrechung im Juli 1933. So erprobt ihr auf die eigene Innerlichkeit fokussiertes Tagebuchschreiben durch jahrelanges Schreiben auch war, so ließ der Beginn der nationalsozialistischen Diktatur Luise Klempt im Sommer 1933 doch daran zweifeln, ob sie dies so fortsetzen sollte: Konnte man nach dem 30. Januar 1933 einfach so weiter vom „persönlichen Herzensleid“ schreiben wie bisher oder gab es nicht andere Dinge, denen jetzt mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden musste? Luise Klempt behielt im Sommer und Herbst 1933 ihre bewährte Art der Tagebuchführung bei, aber die Zweifel blieben. „In diese Blätter“, so notierte sie im November 1933, „ist so wenig von der großen Umwälzung gedrungen – fast schäme ich mich, daß das Erleben des Weibes mich mehr beschäftigte als alles äußere Geschehen. Nie haben politische Dinge mich so erschüttert und aufgewühlt, daß ich mich schriftlich damit auseinandersetzen mußte, um mit mir ins Reine zu kommen. Ja, ich schäme mich, vor mir selbst und vor den anderen, das dem so war, aber ich kann es nicht ungeschehen ma19 chen und es wird wohl in Zukunft nicht viel anders werden.“ Irritationen und Veränderungen des Tagebuchschreibens durch das NSRegime und dessen Politik lassen sich in Tagebüchern der 1930er Jahre immer wieder beobachten. Und sie müssen dabei keineswegs immer solch einen expliziten Charakter besitzen wie bei Luise Klempt, sondern können auf den ersten Blick auch völlig unspektakulär erscheinen. Der 1892 geborene Franz Wallner, wie Klempt ein Münchner, der sich jedoch als Arbeitsloser Anfang der 1930er Jahre mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten als
18 Münchner Stadtbibliothek/Monacensia, Literaturarchiv, Nachlass Luise Klempt, Nr. 83, 8.7.1933. 19 Ebd., 14.11.1933.
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Monteur, Wachmann, Lagerarbeiter und Lieferfahrer über Wasser zu halten versuchte, führte sein Tagebuch seit 1910 täglich mit äußerst kurzen Notizen. Meist enthielten diese nur ein stichpunktartiges Protokoll darüber, wo er an diesem Tag gewesen war und wen er getroffen hatte sowie der finanziellen Einnahmen und Ausgaben: „Mittags zu Fuß zum Stempeln, hernach ins Rathaus. Bürgersteuer von 18 M erlassen bekommen, hernach ins Finanzamt. Steuerkarte von 1932 abgegeben, hiernach zu Familie M. mit dieser Familie G. besucht, dann zurück zu M.“, führte der Eintrag in für sein Tagebuchschreiben typischer Manier am 31. Januar 1933 aus, vermerkte 20 jedoch abschließend noch: „3 nachm. wurde Adolf Hitler Reichskanzler“. So unspektakulär diese, auch noch um einen Tag falsch datierte Bemerkung zunächst erscheinen mag, so sehr erzählt doch gerade sie von dem besonderen Einschnitt, den der Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft auch für Franz Wallner bedeutete. Denn den Antritt einer neuen Regierung hatte sein Tagebuch seit 1910 noch nie vermerkt. Politik oder politische Ereignisse hatten in Wallners Tagebuchschreiben bisher eigentlich keine Rolle gespielt. Zwar vermerkten die Einträge während der Weimarer Republik manche der Reichstags- und Reichspräsidentenwahlen, aber zum einen war dies nur bei knapp der Hälfte der Wahltermine der Fall und zum anderen waren diese politischen Ereignisse durch das Wählen eben auch Teil von Wallners Tagesablauf gewesen. Erst die Ernennung Adolf Hitlers erschien Wallner bedeutend genug, sie in sein „Memorial“ genanntes Tagebuch aufzunehmen. Und bei dieser Bemerkung blieb es nicht: Im Frühjahr 1933 vermerkte das Tagebuch noch weiter den Besuch einer „Hitlerkundgebung“ am 24. Februar, die Reichstagswahlen am 5. März, bei denen Wallner für die Bayrische Volkspartei stimmte, den Sieg der NSDAP, den ersten „Zusammentritt des Reichstages in Potsdam“, den 44. Geburtstag Adolf Hitlers, den „Tag der nationalen Arbeit“ am 1. Mai sowie das Bestehen des Konzentrationslagers in Dachau, das Wallner im Rahmen einer Radtour am 21 Ostersonntag besichtigte. Immer waren es äußerst knappe Bemerkungen ohne persönliche Kommentare, mit denen Wallner diese Ereignisse des Beginns der nationalsozialistischen Herrschaft im Tagebuch festhielt, was deren einzelne Interpretation schwierig macht. Doch zusammengenommen
20 Stadtarchiv München, Nachlass Wallner, Bd. 1, 31.1.1933. Die Familiennamen im Zitat sind aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen abgekürzt worden. 21 Ebd., 24.2., 5.3., 21.3., 9.4. und 20.4.1933.
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und im Kontrast mit seinen sonstigen Eintragungen gelesen, zeigen sie, dass kein anderes politisches Ereignis der wahrlich ereignisreichen Jahre seit dem Beginn der Weimarer Republik in vergleichbarer Weise Eingang in sein eigentlich unpolitisches Tagebuch gefunden hatte. Die Tagebücher von Hans Maschmann, Fritz Koch, Luise Klempt und Franz Wallner deuten an, wie vielfältig Tagebücher der 1930er und 1940er Jahre sind. Sie alle zeigen die enge Beziehung zwischen Tagebuchschreiben und politischem Geschehen, aber ebenso, wie unterschiedlich sich diese in den schriftlichen Aufzeichnungen niederschlagen konnte. Für zahlreiche Zeitgenossen bildeten Tagebücher ein wichtiges Instrument, um sich mit den fundamentalen politischen und sozialen Veränderungen auseinanderzusetzen, die mit der NS-Diktatur einhergingen und nach einem eigenen Umgang mit den vom Regime erhobenen, herrschaftlichen Ansprüchen gegenüber dem eigenen Leben zu suchen. Aber die Art und Weise wie Tagebuchautoren dies taten, unterschied sich deutlich. Natürlich war es auch nach 1933 keineswegs zwingend, sich im Tagebuch mit dem NSRegime und dessen Politik zu beschäftigen und die Mehrzahl der Zeitgenossen suchte jenseits des Tagebuchs nach dem eigenen Umgang mit der nationalsozialistischen Herrschaft. Gleichwohl bot sich das Tagebuch aus verschiedenen Gründen in den 1930er und 1940er Jahren dafür an, dort nach einem individuellen Umgang mit der NS-Diktatur zu suchen. Dies ermöglicht es heute, diese Suche in Tagebüchern exemplarisch nachzuverfolgen, – wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise: Das Tagebuch von Franz Wallner etwa zeigt, wenn seine kurzen Einträge des Frühjahrs 1933 mit dem bisherigen Schreiben kontrastiert werden, sehr deutlich, dass der Beginn der NS-Herrschaft für ihn von Bedeutung war. Die knappen Bemerkungen lassen gleichzeitig jedoch weitgehend offen, von welcher. Sein Tagebuch dokumentiert damit anschaulich, dass den Einsichten, die Tagebücher ermöglichen, immer Grenzen gesetzt sind. Und so muss deutlich davor gewarnt werden, Auslassungen und Lücken von Tagebüchern zu interpretieren: Als Werkzeuge geben Tagebücher immer nur über dasjenige Auskunft, von dem sie handeln – und auch dies keineswegs vollständig. So wie sich von ihnen nicht auf die Persönlichkeit ihrer Autoren schließen lässt, so erlauben sie auch keine Aussagen über jene Dinge, die sie nicht thematisieren. Wenn Tagebücher nicht über Politik sprechen, so bedeutet dies keineswegs, dass diese für ihre Autoren nicht von Interesse war. Es bedeutet eben nur, dass sie nicht Thema im Tagebuch war. Ob politische
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Themen den Autor jenseits des Tagebuchs beschäftigten oder nicht, wissen wir schlicht und einfach nicht. Aber dort, wo Zeitgenossen in den 1930er und 1940er Jahren von der Politik sprachen, lässt sich eben wegen der besonderen Beziehung zwischen politischem Geschehen und Tagebüchern der individuelle Umgang mit der NS-Diktatur in einer Art und Weise nachverfolgen und nachvollziehbar machen, wie es andere Quellen nicht ermöglichen. Tagebücher aus den 1930er und 1940er Jahren ermöglichen es historiografischen Untersuchungen wie musealen Präsentationen zur NS-Geschichte damit nicht allein, die Perspektive der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung im Blick zu behalten, sondern ebenso tiefgreifende Einblicke in die Formen des Umgangs einzelner Zeitgenossen mit den Herausforderungen ihrer individuellen Ansichten und Lebensweisen durch das NS-Regime. In dieser Perspektive zeigen sie die Autoren nicht als passiv und von der Politik Betroffene, sondern gerade als Akteure und ermöglichen damit fundamentale Einsichten in die Funktionsweise der Gesellschaft des Nationalsozialismus und deren Bedingungen individueller Lebensgestaltung. Dafür ist aber eine spezifische Lesart notwendig, die nicht nur besondere Anforderungen an die Auswertung von Tagebüchern stellt, sondern gerade auch an deren Darstellung in wissenschaftlichen Studien und zeithistorischen Ausstellungen. Anders als das Leiden unter Ausgrenzung und Gewalt lässt sich die mit dem Tagebuch vollzogene Suche nach der eigenen Position zum Nationalsozialismus und den neuen Verhältnissen angepassten Sichtund Verhaltensweisen oftmals nicht mit besonders eindrücklichen Einzelzitaten zeigen, sondern erfordert andere Darstellungsweisen. Tagebücher und deren Einträge sprechen selten für sich, sondern bedürfen einer Präsentation, die sie für die Leser wissenschaftlicher Studien wie für Ausstellungsbesucher lesbar macht – im direkten wie im übertragenen Wortsinn: Indem Informationen zum Autor wie zu dessen Schreibweise des Tagebuchs gegeben werden, indem Zusammenhänge zwischen Einträgen aufgedeckt oder Beziehungen zu weiteren Dokumenten offengelegt werden, die möglicherweise vom Autor überliefert sind. Wie Philippe Lejeune mit Blick auf die wissenschaftliche Analyse von Tagebüchern betont hat, dass diese als Nebenprodukte eines kontinuierlichen Selbst- und Weltdeutungsprozesses der jeweiligen Autoren zu verstehen sind, der das Erkenntnisinteresse bilden müsste, so gilt es auch für die Präsentation von Tagebüchern in Studien und Ausstellungen nach Wegen zu suchen, mit Tagebüchern den Autor und
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seine Orientierungsversuche in den Mittelpunkt zu rücken. Wie dies in wissenschaftlichen Texten geschehen kann, hoffe ich mit diesem Text angedeutet zu haben. Natürlich lassen sich diese darstellerischen Prinzipien nicht einfach in museale Darstellungen übersetzen, aber sie können hoffentlich Anregung sein, über räumliche und objektzentrierte Präsentationsformen hierfür nachzudenken. Mir schiene dabei zentral, Tagebüchern mehr Raum in Ausstellungen einzuräumen als einen Platz in der Vitrine, so dass diese umfangreicher erkundet und gelesen sowie durch andere Objekte und Begleittexte kommentiert und kontextualisiert werden können. Vor allem gilt es, sie nicht von vornherein auf die erzählerische Funktion einer emotionalen Ansprache der Besucher festzulegen. Auch jenseits davon besitzen Tagebücher das Potenzial, zu Recht zu den prominenten Exponaten zeithistorischer Ausstellungen zur NS-Geschichte zu gehören.
Zwischen Einschulung und Einberufung Eine Ausstellung zum Alltag im „Dritten Reich“ im Stadtmuseum Schwedt/Oder A NKE G RODON
Die Stadt Schwedt Die Geschichte der Stadt Schwedt/Oder ist durch Brüche gekennzeichnet, die bis heute das Stadtbild, aber auch die Zusammensetzung der Bevölkerung prägen. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Oder zum Grenzfluss und Schwedt plötzlich zur Grenzstadt. Für den Aufbau der bei Kriegsende zu 85% zerstörten Stadt standen nur geringe Mittel zur Verfügung. Kriegsverluste, der Geburtenrückgang zwischen 1943 und 1948 und Mangel an Arbeitsplätzen führten zu einer starken Abwanderung. Die Be1 völkerung überalterte. Die Stadt dämmerte in einer gewissen Bedeutungslosigkeit dahin. Erst mit dem V. Parteitag der SED 1958 begann ihr Weg zu einer überregional bedeutenden Stadt der Papier- und Chemieindustrie. Der Ausbau des Petrolchemischen Kombinats (PCK) zählte damals zu den wirtschaftspolitischen Schwerpunktprojekten der DDR. Etwa zeitgleich wurde Schwedt zum Standort der Papierindustrie ausgebaut. Beide Entscheidungen hatten auch politische Gründe: Durch die Ansiedlung von großen Industriebetrieben sollte der Arbeiteranteil in der Region erhöht und die Teile der Landbevölkerung „industrialisiert“ werden. 1958 lebten in Schwedt et1
Philipp Springer, Verbaute Träume. Herrschaft, Stadtentwicklung und Lebensrealität in der sozialistischen Industriestadt Schwedt, Berlin 2006, S. 33 f.
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wa 6.000 Menschen. Die jährlichen Zuzugswellen in den 1960er Jahren steigerten sich von 900 Einwohnern in den Jahren 1960/61 auf bis zu 4.300 im Jahre 1966. In den 1970er Jahren war die Stadt Schwedt auf über 2 50.0000 Einwohner angewachsen. Vorrangig erfolgte der Aufbau der Industriebetriebe. An Menschen, die hier leben sollten, dachten die Stadtplaner erst im zweiten Schritt. Die Stadt mit ihren Industriekomplexen war damals besonders für junge Menschen attraktiv. Sie fanden moderne Arbeitsbedingungen, warme Neubauwohnungen und ein gesellschaftliches Gefüge von jungen, gut ausgebildeten Gleichgesinnten vor. Die „neuen Schwedter“ kamen aus allen Teilen der DDR, gründeten Familien und bekamen Kinder. In den 1970er Jahren entwickelte sich so aus einer ehemaligen Schlafstadt eine Wohnstadt mit Einkaufkomplexen, Kulturangeboten, Bildungs- und Betreuungseinrichtungen. Viele Angehörige der sog. Aufbaugeneration wollten eigentlich nur zwei Jahren bleiben, schlugen dann aber Wurzeln in der Oderstadt. Schwedt ist also eine Stadt mit Migrationshintergrund. Das hat für die Arbeit des Stadtmuseums einschneidende Folgen.
Das Stadtmuseum 3
Das Stadtmuseum Schwedt ist Teil der Städtischen Museen Schwedt/Oder. Unsere Dauerausstellung umfasst die Vor- und Frühgeschichte der Region und erstreckt sich bis in die Zeit um 1900. Darüber hinaus greifen wir in wechselnden Sonderausstellungen Aspekte der Zeitgeschichte auf, die am konkreten örtlichen Beispiel untersucht werden. So zeigten wir im Jahr 4 2005 eine Ausstellung zum Kriegsende 1945 und nahmen 2012 eine Ausstellung im Bauensemble des jüdischen Ritualbades und Synagogendienerhauses zum Anlass, uns mit der Geschichte des jüdischen Lebens in
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Stadt Schwedt/Oder Statistikstelle (Hg.), Statistischer Jahresbericht 2002, Mai 2003, S. 1 f.
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Ferner gehören das Tabakmuseum Vierraden und das Bauensemble jüdisches Ritualbades und Synagogendienerhauses zum Verbund.
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„Wir wollten eigentlich nicht fliehen...“. Schwedt im Frühjahr 1945, Schwedt 2007.
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Schwedt zu befassen. Beide Projekte lebten wesentlich von Zeitzeugenaussagen. Zwischen dem einstigen jüdischem Leben und der Zerstörung der Stadt 1945 blieb mit der Zeit des Nationalsozialismus noch ein weißer Fleck. Den sollte die nächste Sonderausstellung füllen. Wie beschrieben, sind jedoch die zeitgeschichtlichen Erfahrungen der meisten heutigen Einwohner eher mit ihren einstigen Herkunftsorten verbunden. Dies gilt auch in Hinsicht auf ihr Wissen um familiäre Schicksale und Verstrickungen in der Zeit des „Dritten Reiches“. Was bedeutet es, wenn deren Namen und Geschichten in einer stadtgeschichtlichen Ausstellung zur NS-Zeit nicht zu finden sind? Dafür hatten wir uns nämlich entschieden.
Recherchen Der eher nüchterne Titel der Ausstellung stand schnell fest. Die Lebensdaten eines unserer Zeitzeugen, der 1933 eingeschult und 1945 zur Wehrmacht eingezogen worden war, regten uns noch zu einem Untertitel an: „Leben im Dritten Reich. Zwischen Einschulung und Einberufung. Schwedt in der Zeit von 1933 bis 1945“ sollte die Ausstellung nun heißen. Konzeptionell war sie in fünf Themenkomplexe gegliedert: NSDAP im öffentlichen Leben, Jugend und Schule, Arbeit und Freizeit, Leben in Stadt und Land, Krieg und Zerstörung. Zu diesen Bereichen recherchierten wir Exponate und Archivalien aus dem eigenen Fundus. Die Auswahl hatte in erster Linie den Alltag im Blick. Die Erfahrungen der Menschen in der scheinbar friedlichen, durch nationalsozialistische Propaganda durchsetzten Lebenswelt sollten im Fokus stehen. Bereits die Ankündigung der Ausstellung stieß in der Stadt auf ein großes Echo. Zahlreiche private Leihgeber, Institutionen und Vereine meldeten sich, um Exponate und Geschichten beizutragen. Am Ende standen 25 Exponaten aus dem Museumsbestand 220 Leihgaben überwiegend aus Privatbesitz gegenüber. Um dem damaligen Alltag näher zu kommen, recherchierten wir u. a. in der örtlichen Tagespresse, dem 1940 verbotenen „Schwedter Tageblatt“. Die von dessen Verleger von 1933 bis 1944 zusammengestellten Jahres-
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Gestern: Jüdische Bürger in Schwedt. Rückblick und Spurensuche.
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chroniken erwiesen sich als wahre Fundgrube. Parallel zur Recherche und Abwicklung des Leihverkehrs erfolgten Interviews mit Zeitzeugen der Geburtsjahrgänge 1927-1935. Die Lebensberichte und Mitschnitte von Gesprächen mit den Kindern und Jugendlichen von damals machten das Bild der Zeit des Nationalsozialismus erst lebendig. In zwei Fällen wurden uns auch schriftliche Lebensberichte zur Verfügung gestellt. Auch während der Ausstellung meldeten sich Bürgerinnen und Bürger. Anhand ihrer sehr lebendigen Erinnerungen, Dokumente und Fotografien konnten viele, sonst in Vergessenheit geratene Details dokumentiert werden. So wurde die Zeit des Nationalsozialismus zunehmend greifbar. Oftmals belegten Archivalien die persönlichen Berichte. Aus diesen Quellen verdichtete sich das Bild der Inszenierung eines kontrolliert ablaufenden täglichen Leben. Gleichzeitig kristallisierten sich besondere Begebenheiten heraus, die mit der Ausstellung in das kollektive Gedächtnis der Stadt zurückgeholt wurden: das Tabakblütenfest im September 1939, die standrechtliche Erschießung des 1945 geflohenen Bürgermeisters von Königberg/Neumark (heute: Chojna), nicht abreißende Flüchtlingstrecks, die durch die Stadt zogen, erhängte Deserteure, die Sprengung der Stadtbrücke über der Oder im April 1945.
Abb. 1 Ausflug des Jungvolk („Pimpfe“) zur alten Mühle bei Penkun. Fotografie Ende 1930er Jahre.
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Umsetzung Unsere Ausstellung wurde vom November 2012 bis September 2013 in Schwedt gezeigt. Sie entstand als reine Eigenproduktion. Forschung (Archivund Textrecherche, Zeitzeugengespräche), Texte, Layout und Satz, Ausstellungsgestaltung und -aufbau, Vorbereitung einer Begleitpublikation, Besucherverkehr, Museumspädagogik, Öffentlichkeits- und Veranstaltungsarbeit 6 lagen komplett bei den Mitarbeiterinnen des Stadtmuseums. Den Raumeindruck bestimmten die Farben Schwarz, Weiß und Rot – Farben, die zwischen 1933 und 1945 für das diktatorische System des Nationalsozialismus standen. Ein umlaufendes dunkelrotes Band bestimmte die Wandabwicklung. Auf diesem Band wurden Schwarz-Weiß-Fotografien der Zeit thematisch montiert. Zugleich verknüpfte es die fünf Themenkomplexe.
Abb. 2 Kundgebung auf dem Marktplatz anlässlich des Malertages. Fotografie vor 1939. 6
Im Museum sind zwei Museumspädagogen fest angestellt. Außerdem hat die Leiterin der Städtischen Museen und des Archivs dort ihren Sitz. Sie werden unterstützt von Mitarbeiterin auf Basis von Mehraufwandsentschädigung (MAE) und einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin.
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Abb. 3 Karte an die Ortsgruppenleitung der NSDAP Schwedt, 1929. Hier eine kleine Objektchronik einiger Exponate: eine Postkarte an die Ortsgruppenleitung der NSDAP Schwedt 1929; das Zeitungsbild, auf dem das Hissen der Hakenkreuzfahne auf dem Schwedter Rathaus am 8. März 1933 festgehalten wurde; die Postkarte zur „Braunen Ostermesse“ 1934; die Vorladung zur polizeilichen Vernehmung des reformierten Pfarrers Eberhard Dusse 1935; den letzten Einzug des Schwedter DragonerRegiments 6 1937; ein mit dem Einberufungsvermerk vorzeitig zuerkannte Reifezeugnis; Zeitungsberichte über Beschlüsse des Stadtrats zum Erwerb und Weiterverkauf jüdischen Besitzes 1941; eine Nähmaschine der nach Schwedt evakuierten Berliner Firma Hauptmann 1942; das Zeugnis über bestandene Schwimmprüfungen in der Schwedter Badeanstalt 1943; die Häftlingspersonalkarte für den Schwedter Lehrer und Sozialdemokraten Paul Meyer, ausgestellt im KZ Sachsenhausen 1944; die Erstkommunion des polnischen Jungen Miroslaw 1944; ein durchschossener Stahlhelm von 1945 und der Blick auf das zu 85 Prozent zerstörte Schwedt 1945. Mit beinahe jedem Stück dieses scheinbaren Sammelsuriums warfen sich Fragen auf: Spiegelt ein Werbeschild für „Karpe’s Bock-Wurst“ Alltag im Nationalsozialismus? Welche Rolle spielte der Sport oder das Kinoprogramm? Wie kam die Gleichschaltung in einer Provinzstadt an? Wo trugen vielleicht kleine Konflikte schon Züge von Widerstand? Dazu äußerten sich Jugendliche von damals. Überwiegend werden unsere Berichterstatter na-
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mentlich und möglichst mit einem Foto von damals vorgestellt. Man lernt Hitlerjungen und BDM-Mädchen kennen, eine Rotkreuz-Schwester, junge Soldaten, Kriegskinder. Es sollten für unsere Besucher Begegnungen auf Augenhöhe werden.
Abb. 4 Die vierjährige Liane mochte immer nicht ihren kleinen „Notrucksack“ aufsetzen, wenn die Familie in den Luftschutzkeller musste. Eine Nachbarin steckte diese Puppe von ihrer großen Tochter hinein und ließ den Kopf und Arme rausschauen. Ab diesem Zeitpunkt wollte das Mädchen den Rucksack mit der Puppe Anni gar nicht mehr absetzen. Um 1944.
Abb. 5 Kalenderblatt. Ein Weihnachtskalender für die ganze Familie. Ab 1939 fanden sich verstärkt Kriegsthemen in den alljährlichen Weihnachtskalendern. 1943.
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Vermittlung Begleitend zur Ausstellung wurden Führungen, Filmvorführungen, auch eine Exkursion zu zeithistorischen Erinnerungsorten der Region beiderseits der Oder angeboten. Aus den im Zuge unserer Recherchen gewonnenen Informationen ergaben sich darüber hinaus zahlreiche Fragen, die in Form von Projekten oder mittels eines ausstellungsbezogenen Fragebogens museumspädagogisch aufgegriffen wurden.
Abb. 6 Traueralben der Familie Görlitz Speziell an Schüler der Oberstufe richtete sich das Projektangebot „Traueralbum“. Zwei von einer Schwedter Mutter für ihre beiden gefallenen Söhne angelegte Traueralben wurden in Arbeitsgruppen untersucht, die Fotografien analysiert, die biografischen Fakten zusammengetragen und besprochen. Anschließend folgte die gemeinsame Auswertung: Der Lebensweg von der Geburt bis zum Tod mit 19 Jahren wurde in einen Zeitstrahl mit den allgemeinen Ereignissen in Deutschland zwischen 1933 und 1945 eingefügt, um Schnittpunkte herauszuarbeiten. Neben den ganz alltäglichen Lebensstationen wie Geburt, Einschulung und Lehre fanden die Projektteilnehmer Fotografien mit Hitlerjugenduniform, Pokalen für Schießwettbewerbe, den letzten Brief von der Front und schließlich die Todesnachricht. Fragen wurden aufgeworfen und diskutiert: Wie reagierte man auf den Verlust von Schulkameraden und Freunden? Warum wünschte sich ein Junge, Soldat zu werden und an der Front zu kämpfen? Wie konnte eine Mutter mit Stolz ihre Söhne in den Krieg ziehen lassen? Wie trauert man ohne ein Grab? Hatten die jungen Soldaten ausreichend Lebenszeit? Auch die jungen Menschen von damals hatten Ideale und Träume, die aber von den Na-
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tionalsozialisten besetzt und missbraucht wurden. Das Erwachen aus diesem kollektiven Alptraum 1945 war brutal und desillusionierend. Wie hätte man selbst reagiert? Wäre man ein Mitläufer oder ein Täter gewesen?
Abb. 7 Die vier Kinder der Familie Görlitz tragen die Uniformen der Allgemeinen Hitlerjugend, der Marine-Hitlerjugend und des Jungvolks. Der Vater Karl Görlitz betrieb eine Maschinenfabrik in Schwedt/Oder. Foto um 1936. Ganz besondere Projekte waren die gemeinsamen Ausstellungsbesuche mit Zeitzeugen, die im Anschluss in einer lockeren Gesprächsrunde Fragen der Jugendlichen beantworteten. Die Jugendlichen hörten genau zu, stellten unbefangen Fragen. Es herrschte eine Atmosphäre des Vertrauens. Das nachhaltigste Vermittlungsmedium dürfte unsere Begleitbroschüre darstellen, die nicht nur die Ausstellung und unsere Forschungsergebnisse 7 dokumentiert, sondern darüber hinaus weitere Beiträge umfasst. So konnten u. a. das Feuerlöschwesen oder die Geschichte der Schwedter Adlerapotheke in jener Zeit behandelt werden. Es ist die bisher aufwändigste und wichtigste Publikation unseres Museums geworden.
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Schwedt von 1933 bis 1945: Leben im Dritten Reich. Zwischen Einschulung und Einberufung. Hg. von den Städtischen Museen Schwedt/Oder, Schwedt 2013.
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Fazit In einer Stadt mit einer so heterogenen Bevölkerung wie Schwedt kann sich ein Stadtmuseum nicht auf ein kollektives Gedächtnis berufen, das weiter als bis 1958 zurückreicht. Frühere Erinnerungsschichten müssen mühevoll aus Überresten und den Erlebnissen der wenigen „alten“ Schwedter rekonstruiert werden. Mit unserem Projekt haben wir tatsächlich Neuland betreten. Es war das erste Mal, dass die NS-Zeit in Schwedt aus Sicht der Alltagserfahrung zum Thema gemacht und zur Diskussion gestellt wurde. Wir glauben, dass auch die Geschichte dieser sperrigen Zeit eine Anregung sein kann, sich mit „seiner“ Stadt zu identifizieren, auch wenn man erst nach den Ereignissen hinzugekommen ist. Gerade wenn hinter der Überlieferung der Vergangenheit wirkliche Menschen mit ihren Erlebnissen stehen, ist dies immer auch eine Einladung an ihrem Schicksal persönlich Anteil zu nehmen. Wir haben aber auch erfahren, wie wichtig es für die Zeitzeugen war, ihre Erzählungen weiter zu geben. Geschichte hat schließlich so viele Gesichter, wie Menschen an ihr Anteil hatten.
In Trümmern. Die Zerstörung Rostocks im April 1942 Eine Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Rostock zur Auseinandersetzung mit problematischer Stadtgeschichte S TEFFEN S TUTH
Rostock sieht sich selbst gern als die Stadt der Hanse, der Schifffahrt, des Handels und der Backsteingotik. Problematische Seiten der Stadtgeschichte, darunter die Zeit des Nationalsozialismus, klammerte die Stadtbevölkerung dagegen lange Zeit vollkommen aus. Allein die fast komplette Zerstörung der historischen Innenstadt in vier Bombennächten zwischen dem 23. und 27. April 1942 hat sich tief in die Erinnerung eingegraben. Die Bevölkerung betrauert noch heute den Verlust der historischen Gebäude, der Kulturschätze, des historischen Stadtbildes. Die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs schmilzt im schmerzlichen Gedenken an dieses traumatische Ereignis zusammen. Rostock sieht sich selbst daher eher als Opfer des Nationalsozialismus an. Ein großformatiges Bild des renommierten Malers Egon Tschirch bringt dieses Selbstbild zum Ausdruck. Dieses Gemälde bildete den Auftakt einer Sonderausstellung, die wir 2012 anlässlich des 70. Jahrestages der Zerstörung im Kulturhistorischen Museum zeigten. Auf das Bild wird noch näher einzugehen sein. Rostock entwickelte sich im 20. Jahrhundert zur größten Industriestadt in Mecklenburg. Die Stadt war Wirtschaftszentrum und, in der DDR, Be-
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zirksstadt. Heute erlebt sie einen tiefgreifenden Identitätswandel – als Historiker möchte man zuspitzend formulieren: Eine Identitätskrise. Die Stadt sucht ihr Bild von ihrer Rolle im 20. Jahrhundert. Ein wahrhaftiges Selbstbild kann aber nur entstehen, wenn sie sich mit ihrer Rolle im Nationalsozialismus kritisch und allseitig auseinandersetzt. Als Impuls zu dieser Auseinandersetzung verstanden wir unsere Sonderausstellung „In Trümmern. Die Zerstörung Rostocks im April 1942“.
Abb. 1 Veranstaltungsplakat zur Sonderausstellung „In Trümmern“, 2012
Umstrittene Geschichte Die Ausstellung hatte eine konfliktbeladene Vorgeschichte. Zwischen den Jahren 2000 und 2010 wurde in Rostock kontrovers über die Rolle der Stadt in der Rüstungsindustrie und den Einsatz von Zwangsarbeitern gestritten. Hier lagen die Heinkel-Werke, in denen unter anderem das Strahlentriebwerk und der Schleudersitz entwickelt wurden, sowie die auf den UBootbau spezialisierte Neptunwerft. In diesen industriellen Großbetrieben, aber auch in zahlreichen mittelständischen Unternehmen, wurden in großer Zahl Zwangsarbeiter eingesetzt. Das geschah vor den Augen der Bevölke-
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rung. In Rostock bestanden zwanzig Zwangsarbeiterlager mitten in der Stadt. In der damals geführten Debatte griffen sich diejenigen, die deren Geschichte aufdeckten und jene, die die technische Seite der Rüstungsindustrie „wertfrei“ darstellen wollten, scharf, teilweise auch persönlich an. Eine von der Kommune eingesetzte Historikerkommission formulierte daraufhin Empfehlungen, wie mit dem Thema umzugehen sei. Da aber die Bevölkerung in deren Erarbeitung nicht eingebunden war und die Stadt das Thema in der Folgezeit nicht weiter berührte – etwa indem Forschungsprojekte gestartet worden wären – blieb die Debatte ohne produktive Konsequenzen. Als dann der 70. Jahrestag der Bombardierung nahte, beschloss man, es sei davon abzusehen, sich mit dem Thema näher zu befassen. Man fürchtete eine Vereinnahmung des Gedenkens durch rechtsradikale Kreise. Als sich dann aber private Initiativen anschickten, Veranstaltungen zum Jahrestag vorzubereiten und dabei allein die Opferrolle in den Blick nahmen, entschlossen wir uns, trotz des Verdikts (immerhin sind wir ein kommunales Museum) offensiv zu agieren und eine Sonderausstellung zu entwickeln.
Ein Auftragswerk als Auftakt Die Ausstellung bestand aus zwei Teilen. Im ersten Teil wurde die Bombardierung in den historischen Kontext der Aufrüstung und der besonderen Rolle der Stadt Rostock eingebettet. Im zweiten Teil sollte die Zerstörung der Stadt dokumentiert werden. Bei den Exponaten handelte es sich überwiegend um historische Fotos, zum Teil aus Privatbeständen. Den Auftakt zur Ausstellung bildete aber, wie bereits erwähnt, das großformatige Gemälde „Zerstörte Stadt Rostock“ von Egon Tschirch, datiert Juni 1942 (Abb. 2). Dieses Bild zeigt das Rostocker Rathaus, mithin ein ikonografisches Gebäude, unzerstört inmitten der Trümmer. Bis zu unserer Ausstellung galt es als DIE bildliche Reflexion der Trauer über die unwiederbringlich zerstörte Altstadt. Schaut man jedoch näher hin, zeigt sich eine andere Intention des Bildes. Das große und teure Gemälde war von der NS-Stadtregierung zu einem Zeitpunkt in Auftrag gegeben worden, als Kriegsschäden eigentlich nicht mehr gezeigt werden sollten. Hier aber wurden sie zum Propagandamittel, das den Hass auf die englischen Angreifer schüren sollte. Auf dem Bild
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stemmt sich das Rathaus trotzig in den grauen Himmel. Tschirch, ein dem NS-Regime nahestehender Maler, etablierte eine Opfersicht, die sich lange über das Kriegsende hinaus in der Bevölkerung halten sollte. In der DDR kursierte das Wort vom „imperialistischen Bombenterror“. Unsere Neuinterpretation des ikonografischen Gemäldes schlug in der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in Rostock einen ganz anderen Ton an, als man jahrzehntelang gehört hatte.
Abb. 2 „Zerstörte Stadt Rostock“ Gemälde von Egon Tschirch
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Vom Industriestandort zur NS-Musterstadt In den 1920er und 1930er Jahren wandelte sich Rostock zum bedeutendsten Industriestandort Mecklenburgs. Dennoch blieb die Wirtschaft Rostocks von Klein- und Mittelbetrieben geprägt. Gerade für diese hatte die Inflation Anfang der 1920er Jahre schwere Folgen gehabt. Auch die Weltwirtschaftskrise traf die Rostocker Betriebe schwer. Ende Mai 1932 lagen die Handelsflotte und der Hafen still. Die Neptunwerft war 1932 zahlungsunfähig. Arbeitslosigkeit und Verarmung stellte die Stadt vor große Herausforderungen. 1930 zog die NSDAP erstmals in das Stadtparlament ein. Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933 begannen die Nationalsozialisten, die demokratischen Strukturen zu zerstören. Mitglieder der SPD, der KPD und der bürgerlichen Parteien und Einwohner jüdischen Glaubens wurden verfolgt. Die Synagoge in der Augustenstraße brannte im November 1938. In der Stadtverwaltung wurde 1935 das „Führerprinzip“ eingeführt, die Stadtverordnetenversammlung aufgelöst. Bereits in den 1920er Jahren war Adolf Hitler zu Wahlkämpfen in Rostock vor Tausenden begeisterter Menschen aufgetreten. Ein Foto aus der Ausstellung zeigt einen dieser Auftritte in der Pferdrennbahn vor 23.000 Menschen. Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 wurde die Stadt zur „Musterstadt“ ausgebaut. Ein Foto zeigt den NS-Oberbürgermeister Volkmann auf dem Weg von der Marienkirche zum Rathaus anlässlich einer „Weihefeier“ zur Ratseinführung 1935. Volkmann verkündete in seiner Rede das „Führerprinzip“: Gleichgültig, was der Rat debattiere, am Ende entscheide er allein. Das Foto zeigt auch, dass die NS-Propaganda bemüht war, die konservative Haltung vieler Rostocker zu bedienen, indem traditionelle „Ratsdiener“ vor dem uniformierten Bürgermeister herschreiten. Ein anderes Foto zeigt Menschenmengen am 1. Mai 1935 auf dem zentralen Platz der Stadt. Diese Fotografien haben wir in unserer Ausstellung erstmals öffentlich gezeigt. Sie beweisen, dass die Nationalsozialisten durchaus breite Unterstützung in der Bevölkerung hatten und dass die nationalsozialistische „Gleichschaltung“ sehr öffentlich geschah. 1935 wurde die „Hanse- und Seestadt“ offiziell zur Großstadt ernannt. 1934 fand hier die erste „Kulturwoche“ unter reger Beteiligung von Vereinen und Kultureinrichtungen – auch unserem Museum – in einer neu er-
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richteten „Thingstätte“ statt. 1937 fand in Rostock – nicht in der Gauhauptstadt Schwerin – die zentrale Feier anlässlich der Vereinigung von Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz zu Groß-Mecklenburg statt. Ebenfalls nicht in Schwerin, sondern in Rostock fanden auch die Gauparteitage statt. Dafür wurde ein auf 80.000 Menschen ausgelegtes „Gauparteitagsgelände“ erschlossen. Diese zeithistorischen Zusammenhänge und die aktive Teilnahme der Bevölkerung am Ausbau der NSMusterstadt Rostock haben wir in unserer Sonderausstellung erstmals museal thematisiert. Zugleich präsentierten wir auch Fotos von Boykottaktionen gegen Juden, von der Zerstörung und dem Abriss der Rostocker Synagoge, von Deportationen. Fotos, die auch Schaulustige zeigen. (Abb. 3)
Abb. 3 Boykott des Kaufhauses Wertheim 1933 Ab 1935 war es die Rüstungsindustrie, die die Stadt wirtschaftlich aufblühen ließ. Durch staatliche Kredite großzügig gefördert, entwickelten sich die Firmen des Flugzeug- und Schiffbaus, vor allem die Ernst-HeinkelFlugzeugwerke, die Arado-Werke und die Neptunwerft, zu modernen und leistungsfähigen Rüstungsbetrieben. Zugleich siedelten sich Zulieferbetrie1
Die „Thingstätte“ wurde in der DDR als Freilichtbühne weiterverwendet, nachdem die Nazi-Embleme entfernt worden waren.
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be für die Flugzeugindustrie an und sorgten für eine stetige Zuwanderung von Facharbeitern. Die Verbesserung der Lebensverhältnisse und der Wohnverhältnisse, die Überwindung der Arbeitslosigkeit und das geistigkulturelle Leben, transportiert durch eine perfekt inszenierte Propaganda, förderten die zunehmende Identifikation der Bevölkerung mit dem NSStaat.
Rostock im Luftkrieg Die Konzentration der Rüstungsindustrie und der Altbaubestand ließen Rostock zum Ziel der britischen Royal Air Force werden. Ein nach Brandanfälligkeit erstellter Katalog nannte die Stadt 1941 neben Aachen, Bremen, Freiburg und Lübeck mit an erster Stelle. Für die Erprobung der Strategie des Flächenbombardements in Rostock sprachen der Anteil an leicht entzündbaren alten Häusern, eine günstige Entfernung, die Konzentration der Rüstungsindustrie, die schwache Luftabwehr und die leichte Auffindbarkeit der Stadt an der Küste. Im Juni 1940 fielen erstmals Bomben auf die Stadt. Der Angriff in der Nacht vom 11. auf den 12. September 1941 und folgende Aufklärungseinsätze erprobten die flächendeckende Brandbombentaktik. In den Nächten vom 23. bis 27. April 1942 legten Bomben die Stadt in Schutt und Asche. Ein Viertel der Maschinen griff die Heinkel-Werke an, die neben der geplanten „Totalausbrennung“ der Stadt zusammen mit dem Hafen und der Werft die Begründung für den Angriff lieferten, während die Mehrheit die Innenstadt verheerte. Rostock verzeichnete 221 Tote und 30.000 bis 40.000 Obdachlose. Über 17 Prozent aller Wohnungen waren total zerstört, mehr als die Hälfte beschädigt. Zahlreiche historische Gebäude waren Ruinen, die Petrikirche, die Jakobikirche und die Nikolaikirche ausgebrannt, das Stadttheater weitgehend verloren. Verkaufs- und Versorgungseinrichtungen, Wasser-, Strom-, Gas- und Energieversorgung waren empfindlich gestört. Die Rüstungsbetriebe registrierten schwere Zerstörungen. Die Stadt bot ein Bild der Verwüstung. Am 28. April wurde der Ausnahmezustand verhängt. Am 8. und 9. Mai 1942 waren die Warnemünder Arado-Werke Angriffsziel. Weitere britische Angriffe auf Rostock in den Nächten vom 1. auf den 2. Oktober 1942 und vom 20. auf den 21. April 1943 zielten vorrangig auf die Rüs-
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tungsindustrie. Während die britischen Nachtbombardements hauptsächlich gegen Flächenziele gerichtet waren, um die Moral der Bevölkerung zu brechen, richteten sich die 1943 beginnenden amerikanischen Tagesangriffe zuerst hauptsächlich gegen Industrieziele. Am 29. Juli 1943 flogen Bomberverbände einen Angriff auf die Arado-Werke in Warnemünde. Da die Präzisionsangriffe die Rüstungsindustrie nicht langfristig schädigten, traten nun Bombenteppiche in das Zentrum der amerikanischen Planungen.
Abb. 4 Zerstörte Steinstraße mit Blick auf den Neuen Markt, Ende April 1942
Dieser Taktik folgten die Angriffe auf Rostock vom 9. und 11. April 1944. Während sich der erste gegen Heinkel und Arado richtete, traf der zweite das Stadtgebiet. Präzisionsangriffe auf die Heinkel-Werke waren die letzten Bombardements vom 4. und 25. April 1944. Im Sommer 1944 suchten die alliierten Luftkriegsplaner nach effektiveren Mitteln. Diskutiert wurden Erntevernichtungsmittel sowie biologische und chemische Kampfstoffe. Unter den 60 deutschen als Ziel für – dann jedoch aufgegebene – Angriffe mit chemischen Kampfstoffen vorgesehenen Städten war auch Rostock. Am Ende hinterließen NS-Diktatur und Krieg eine schwer getroffene Stadt. Von 124.000 Einwohnern waren nur 69.000 verblieben. Von 10.535
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Wohnhäusern waren 2611 (24,7 %) zerstört und 6735 (60,5 %) beschädigt. Stadttheater, Post- und Telegrafenamt, Oberlandesgericht, Amtsgericht, Landratsamt, zwei Kliniken, acht Schulen, Petrikirche, Jakobikirche, Nikolaikirche, Steintor, Petritor und Kuhtor waren zerstört, das Versorgungsund Verkehrswesen zusammengebrochen. Dennoch folgte die Mehrheit der Bevölkerung den NS-Machthabern bis zum Schluss.
Abb. 5 Krämerstrasse, Anfang Mai 1942 Fazit Die Sonderausstellung „In Trümmern. Die Zerstörung Rostocks im April 1942“ hatte das Ziel, die traumatische Zerstörung der historischen Stadt in ihre Vor- und Wirkungsgeschichte einzubetten. Sie bildet den Anfang einer weitergehenden und intensivierten Erforschung der Zeit der NS-Diktatur für die stadtgeschichtliche Dauerausstellung, die 2018 eröffnet werden soll. Die Sonderausstellung hatte innerhalb ihrer knapp dreimonatigen Laufzeit 18.000 Besucher. Für uns bemerkenswert und auch ein wenig überraschend waren deren Reaktionen: Es kamen sehr viele jüngere Menschen, oft Familien, die sich ruhig, konzentriert und gesprächsbereit auf die Inhalte einlie-
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ßen. Auch über das kontroverse Thema „Zwangsarbeit“ konnte in einer sachlichen Atmosphäre gesprochen werden. Einzelne ältere Besucher öffneten sich während unserer Führungen und Gespräche und teilten lange gehütete persönliche Erlebnisse mit. Die in der Ausstellung gemachten „Denkangebote“ wurden offen angenommen. Die Ereignisse um die Apriltage 1942 sind nicht zu verstehen ohne die Ereignisse der Jahre zwischen 1933 und 1945, die Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft. Sie waren Folge und Wirkung einer Kette von Geschehnissen. Wir müssen innehalten, um Vergangenes zu erfahren, zu begreifen, in uns aufzunehmen und zu verarbeiten, daraus Schlüsse für unser Leben ziehen und Verantwortung für die Zukunft übernehmen. Geschichte lässt sich auf Dauer nicht verdrängen. 70 Jahre nach der Zerstörung Rostocks im April 1942 gibt es nur noch wenige Zeitzeugen, die jene Stunden des Grauens miterlebt haben. Erinnerungen leben aber auch vom Gedächtnis. Oft verändern sich eingeprägte Geschehnisse in der Rückschau, werden überlagert und gebrochen von anderen, folgenden Impulsen. So müssen wir unsere Fragen auch an die Dokumente wenden, die nüchtern von den Vorgängen berichten, um historische Entwicklungen und ihre Folgen zu begreifen. Die emotionale Seite der Bombardierungen in der Ausstellung zu dokumentieren, war nahezu unmöglich. Zu den Menschen, die umkamen oder verletzt wurden, tritt der Verlust eines über die Jahrhunderte gewachsenen Stadtbildes. Die Trauer über diesen Verlust kann die Ausstellung „In Trümmern. Die Zerstörung Rostocks im April 1942“ nur erahnen lassen.
Den Zweiten Weltkrieg in Ostdeutschland ausstellen J ENS W EHNER
In diesem Beitrag wird versucht, die Besucherresonanz auf die Ausstellungen des Militärhistorischen Museums Dresden (MHM) zum Zweiten Weltkrieg zu erfassen. Zweifellos ist der Umgang mit dieser Zeit nicht zuletzt auch eine Nagelprobe für die Ernsthaftigkeit des kritischen Ansatzes im Museum der Bundeswehr. Da es bislang keine repräsentative Analyse der Besucherschaft des MHM gibt, stützen sich die folgenden Hypothesen ausschließlich auf meine Beobachtungen innerhalb der Ausstellungsräume, auf Eintragungen in Gästebüchern und auf Internetplattformen sowie auf Bemerkungen, die entweder gegenüber Museumsmitarbeitern geäußert oder von ihnen gehört wurden.
Ausstellungen im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr Die Dauerausstellung des MHM teilt sich in einen chronologischen und einen themenbasierten Strang. Im chronologischen Dauerausstellungsteil wird die gesamte deutsche Militärgeschichte vom Spätmittelalter bis zum 21. Jahrhundert dargestellt. Der Ausstellungssteil im vom Architekten Daniel Libeskind entworfenen Erweiterungsbau beruht auf einem themenorientierten kulturhistorischen Ansatz. Die Besucher können immer wieder zwischen chronologischem und thematischem Bereich wechseln.
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In der chronologischen Dauerausstellung nimmt die Zeit des Nationalsozialismus breiten Raum ein. Nach einer Darstellung der 1930er Jahre, der die Machtdurchsetzung der Nationalsozialisten mit Hilfe von Mord, Terror, Lagersystem und rassistischer Ausgrenzung schildert, wird der Verlauf des Zweiten Weltkrieges erzählt. Das narrative Kontinuum wird hier durch einen Erzählstrang gebildet, der im Wesentlichen auf der Darstellung von Militärtechnik beruht. Diese Ebene wird immer wieder von Durchgängen unterbrochen, über die vier verschiedene Ausstellungskabinette zu betreten sind. Im ersten Kabinett wird das erste Kriegsjahr geschildert, im darauf folgenden der technisierte Krieg gegen die Westalliierten von 1940 bis etwa 1944. Das dritte Kabinett thematisiert den Überfall auf die Sowjetunion und den Holocaust. Dazu gehören zwei wichtige Leit-Exponate: Eine Torarolle aus der polnischen Kleinstadt Wielun, die im Zuge der ersten Kampfhandlung des Zweiten Weltkrieges durch Feuer beschädigt und anschließend von der jüdischen Gemeinde versteckt wurde; und 60 Schuhe aus dem Vernichtungslager Majdanek: große, kleine, abgetragene, fast neue, Frauen, Männer- und Kinderschuhe. Es sind nur einige von vielen Tausend erhaltenen Schuhen von Ermordeten, die den Besuchern einen symbolhaftemotionalen Zugang zum fabrikmäßigen Massenmord ermöglichen sollen. Die Vitrine ist zugleich eine Art Kulminationspunkt der Erzählung zum Zweiten Weltkrieg. Im vierten Kabinett wird das letzte Kriegsjahr in Ost und West beschrieben. Eine Tischvitrine ist dem Widerstand innerhalb der 1 Wehrmacht gewidmet. Über die Kabinette wird ein weiterer Ausstellungsbereich erschlossen, der vergleichende Fragestellungen zum Ersten und Zweiten Weltkrieg stellt, nämlich nach Militärtechnik, Taktik, Ökonomie im Zeitalter der Weltkriege, nach dem Verhältnis von Heimat und Hinterland, nach Rollen und Funktionen von Frauen in den Weltkriegen, nach Ideologie und Propaganda sowie schließlich nach Verwundung, Tod und Gefangenschaft. Exponate zum Zweiten Weltkrieg finden sich darüber hinaus auch in einzelnen Themenbereichen der kulturhistorischen Dauerausstellung. Im Ausstellungsbereich „Krieg und Spiel“ wird beispielsweise das im Jahr 1944 „luftschutztauglich“ ausgestattete Puppenhaus eines Londoner Mäd-
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Zu den Inhalten der Dauerausstellung des MHM siehe Gorch Pieken/Matthias Rogg (Hg.), Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr. Ausstellungsführer, Dresden 2011.
D EN ZWEITEN W ELTKRIEG O STDEUTSCHLAND
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chens gezeigt. Eine stark korrodierte Schreibmaschine aus dem Führerbunker in Berlin steht im Bereich „Politik und Gewalt“, während die V-2Rakete den Bereich „Militär und Technik“ dominiert. Weitere Exponate zum Zweiten Weltkrieg finden sich in den Bereichen „Leiden am Krieg“, „Tiere beim Militär“ und „Schutz und Zerstörung“. Mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte sich weiterhin die erste große Sonderausstellung des MHM, die im Dezember 2012 eröffnet wurde und der Schlacht um Stalingrad gewidmet war. Sie führte weg von einer aus der deutschen Perspektive geprägten Erzählung hin zu einer starken Fokussie2 rung auf die Rote Armee und die sowjetische Bevölkerung. 40 Prozent der Exponate waren Leihgaben aus russischen Museen. Bei dieser Ausstellung herrschte eine seltene Einmütigkeit von Feuilleton und Besuchern im Urteil über die Ausstellung. Kritik gab es nur sehr vereinzelt.
Abb. 1 Blick in den Ausstellungsbereich zum Vernichtungskrieg in der Sowjetunion
Die Besucherresonanz Dass die Konzeption des MHM grundsätzlich funktioniert, zeigt sich schon anhand der Besucherzahlen. Die Schwelle zur halben Million wurde binnen
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Zu den Inhalten der Stalingrad-Ausstellung siehe Gorch Pieken/Matthias Rogg/ Jens Wehner (Hg.), Stalingrad, Dresden 2012.
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zweier Jahre überschritten. Die Besucher des MHM stammen zum großen Teil aus Ostdeutschland. Es kommen sehr viele „untypische“ Besucher, die man in einem Militärmuseum eigentlich nicht vermuten würde: An vielen Tagen ist fast die Hälfte der Besucher weiblich. Von dieser „untypischen“ Besuchergruppe gibt es in der Regel keine Kritik, sondern eher Zustimmung zum Konzept des MHM. Insgesamt schätzen wir, dass rund 80 Prozent der Besucher mit ihrem Besuch im MHM zufrieden sind. Bei Fachkollegen und in den Medien hat das MHM ebenfalls sehr große Zustimmung erfahren. Zweifellos kam besonders in den ersten Tagen nach der Neueröffnung des Museums auch rechtsradikal gesonnenes Publikum ins Museum. Es wurden Besucher mit relativ eindeutiger Kleidung beobachtet, die hin und wieder ins Gespräch mit dem Aufsichtspersonal kamen. In einigen Fällen beschwerten sich andere Besuchern beim Aufsichtspersonal über die Anwesenheit solcher Besuchergruppen. Nennenswerte Zwischenfälle – wie etwa das Zeigen strafrechtlich relevanter Symbole – gab es jedoch nicht. Wie kommt die Dauerausstellung nun bei den Besuchern an? Mehr als die Hälfte aller Einträge des Gästebuches sind positiv, ein Besucher schrieb 3 sogar: „Vielleicht besser als Guggenheim.“ Eine recht ungewöhnliche 4 Kritik lautete dagegen: „Die Ausstellung ist zu militaristisch.“ Kritik betrifft sonst meist einzelne Gestaltungsmittel der Ausstellung, inhaltliche Einwände sind eher selten. Ein Besucher brachte auf den Punkt, was die meisten derjenigen, die kritische Einträge im Gästebuch des Museums hinterließen, störte: „Wo zur Hölle sind hier eigentlich die Panzer und 5 Flugzeuge? Alles Mist. Was soll das Hippiegedudel!“ Es gibt kaum Einträge, die einem eindeutig rechtsradikalen Publikum zuzuordnen sind. Schwierig ist zu bewerten, wie das MHM und seine Ausstellung(en) innerhalb der rechtsradikalen Szene aufgefasst werden. Im Internet lassen sich lediglich zur Architektur eindeutig negative Aussagen im Internet feststellen. Insbesondere wird dort der Architekt Daniel Libes-
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Besucherbuch des MHM vom 15.10.2011-29.11.2011, Dresden, 2011, befindet sich im Sachgebiet Schriftgut unter der Inventarnummer BBAP7831, ohne Seitenzahlen.
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kind, der polnisch-jüdischer Herkunft ist, in ausfälliger und antisemitischrassistischer Weise diffamiert. Eine spezifisch ostdeutsche Wahrnehmung spiegelt sich darin, das neue MHM mit dem alten Armeemuseum der DDR zu vergleichen: „Zu DDR 6 Zeiten war es interessanter“ , meinte etwa ein Besucher aus Dresden. „Hat nichts mit Militärhistorischem Museum zu tun“, schrieb jemand aus Thüringen. Die kurze Begründung dazu lautet: „Wird nur Wert auf politische Korrektheit gelegt! Viele Ausstellungsstücke werden nicht mehr ausge7 stellt.“ Ein weiterer ostdeutscher Besucher bemängelte das Fehlen von technischen Exponaten und benannte diese auch konkret: „Ich vermisse jegliche Exponate, von der Sammlung von Panzern (…), den Flugzeugen, 8 MIG-17, L-29 Delfin, AN-14 (…)“ Auch diese Kritik ist mit dem Verweis auf das alte Armeemuseum versehen. Ein 38-jähriger Dresdner meinte: „Ich (,) aufgewachsen in Dresden und Vater eines Sohnes, weiß jetzt: Ich gehöre zum Tätervolk“, und versah das Ganze noch mit einem PS: „Militärhistorisches Museum ist der falsche 9 Name. Besser wäre Wir sind schuld! Zeitgeist der BRD 2011.“ Auch ein Blick auf das NVA-Forum im Internet kann hilfreich sein, um spezifisch ostdeutsche Perspektiven herauszufiltern. Nach meinem Dafürhalten ermöglicht diese Plattform einen gewissen Eindruck von der Einstellung ostdeutscher Männer zum Militär und seiner Geschichte, denn in diesem Forum schreiben überwiegend ehemalige Berufs- und Zeitsoldaten der Nationalen Volksarmee (NVA). Es finden sich dort vereinzelt positive Einträge zum Militärhistorischen Museum in Dresden, aber die Kritik scheint zu überwiegen, zumindest ist sie voluminöser. Besonders prägnante Zitate dazu sind folgende: „Aber seitens der Verantwortlichen sollte man nicht (was unterschwellig immer wieder gern gemacht wird) die anderen, 10 kritischen für blöd, ewig gestrig und waffennärrisch erklären.“ Weiter 11 heißt es: „(…) mangelt es beinah überall an militärischem Sachverstand.“
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10 Entsprechender Thread zum MHM: http://www.nva-forum.de/nva-board/index. php?showtopic=3322&st=0, dieses Zitat Zugriff vom 1.6.2013. 11 Ebd. 3.6. 2103
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„Die haben dort ein immenses Arsenal von wirklich interessanten Expona12 ten aller Zeiten: Nichts wird richtig dar- und ausgestellt.“ Positive Meinungen zur Stalingrad-Ausstellung im NVA Forum betonten vor allem, dass Großtechnik, etwa in Form von Panzern, gezeigt wurde.
Abb.2 Stahlfragment aus Stalingrad, Leihnahme Staatliches Historisches Museumsreservat „Stalingrader Schlacht“, Wolgograd
Hypothesen zur Militäraffinität Die meisten der kritischen Einträge im Gästebuch lassen darauf schließen, dass ihre Verfasser eine besondere Affinität zum Militärischen bzw. zur Militärtechnik haben. Nicht selten – aber längst nicht immer – ist diese Begeisterung für das Militär mit einer politischen Einstellung verbunden, die diffus gegen den politischen Mainstream der Bundesrepublik gerichtet ist. Diese Einstellung, die man am ehesten im Spektrum der sogenannten „Neuen Rechten“ vermuten kann, findet sich auch in einer Ausstellungsrezension der Stalingrad-Ausstellung in der Wochenzeitung „Junge Freiheit“. Wird die Ausstellung anfangs noch gelobt, – „Das Ergebnis kann sich
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sehen lassen“ –, heißt es dann weiter: „Wer allerdings genau die den Exponaten beigefügten Texte studiert, bemerkt rasch, dass die Ausstellungsmacher bemüht waren, der Political Correctness zu entsprechen, indem immer wieder auf Kriegsverbrechen der 6. deutschen Armee hinge14 wiesen wird.“ Dieser Argumentation zufolge wurde in der Stalingradausstellung nicht auf die Verbrechen der 6. Armee hingewiesen, weil sie tatsächlich stattgefunden haben, sondern weil das politisch erwünscht sei. Noch ausgeprägter als der Vorwurf der Political Correctness ist die Kritik an der vergleichsweise geringen Zahl militärtechnischer Exponate. Viele Besucher assoziieren mit Militär und seiner Geschichte einfach Dinge wie „Panzer!“. Wie verbreitet das Interesse an Militärtechnik ist, zeigt auch ein Blick in die nächste Bahnhofsbuchhandlung oder in das Programm privater Info-TV-Sender. In Filmen und Bildbänden wird Militärtechnik meist in einer geradezu fetischisierender Form dargeboten, wie sie von der Kulturhistorikerin Jutta Nowosadtko als „Kriegspornographie“ bezeichnet wur15 de. Mir sind keine wissenschaftlichen Untersuchungen zum Umfang dieses „militärtechnikaffinen“ Personenkreises bekannt. Meiner persönlichen Einschätzung nach dürfte er bundesweit schätzungsweise etwa 20 Prozent der männlichen deutschen Bevölkerung umfassen. Diese latente Affinität zum Militärischen ist meiner Meinung nach in Ostdeutschland stärker ausgeprägt als im Westen. Militäraffine Ostdeutsche können aus jedem politischen Spektrum kommen, auch von links. In Westdeutschland ist dagegen Militäraffinität fast ausschließlich mit dem politisch rechten Spektrum verknüpft. Ein wesentlicher Grund dafür liegt in der hohen Militarisierung der DDR-Gesellschaft. Die SED stellte positive Bezüge zur Militärgeschichte des Zweiten Weltkrieges heraus. Die Rote Armee wurde als Vorbild propagiert, wofür natürlich bestimmte Aspekte der Geschichte ausgeblendet
13 Paul Leonhard, Vieles bleibt ausgeblendet, in: Junge Freiheit, Nr. 13 (2013), 22.3.2013, S. 16. 14 Ebd. 15 Jutta Nowosadtko, Krieg, Gewalt und Ordnung; Einführung in die Militärgeschichte, 2002.
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werden mussten. Technik und besonders Militärtechnik spielten darüber 17 hinaus generell in der kommunistischen Ideologie eine große Rolle. Technikkritische Bewegungen, wie es sie etwa in der Bundesrepublik mit der Anti-AKW-Bewegung gab, wurden in der DDR systematisch unterdrückt. Militarisierung prägte daher auch die Alltagserfahrung in der DDR 18 bis in die Kindergärten hinein. Fast jeder Mann musste Wehrdienst leisten, die heutige männliche Generation 40plus im Osten ist nahezu komplett militärisch ausgebildet. Das wirkt sich auch auf deren Kinder aus: Die Bundeswehr hat in den ostdeutschen Bundesländern besonders hohe Rekru19 tierungsraten, auch unter Abiturienten.
16 Vgl. Christina Morina, Legacies of Stalingrad. Remembering the Eastern Front in Germany since 1945, Cambridge 2011. 17 Dazu auch das Teilforschungsprojekt M: „Das Fortschrittsversprechen von Technik und die Altruismusbehauptung der Ingenieure in der technokratischen Hochmoderne (ca. 1880 - 1970)“ im Dresdner Sonderforschungsbereich „Transzendenz und Gemeinsinn“, http://www.sfb804.de/forschung/teilprojekte/teilpro jektuebersicht/teilprojekt-m.html, Zugriff vom 10.9.2013. 18 Der NVA-Forscher Torsten Diedrich meint sogar: „dass es sich bei der DDR um einen der militarisiertesten Staaten der Welt handelte.“ Vgl. Tagungsbericht Mauerbau, Grenze und Militarisierung in der DDR. 24.6.2011-26.6.2011, Magdeburg,
in:
H-Soz-u-Kult,
, Zugriff vom 12.9.2011. 19 In: Mitteldeutsche Zeitung; ohne Autor, Rekrutenzahl in Ostdeutschland sinkt deutlich, http://www.mz-web.de/politik/bundeswehr-rekrutenzahl-in-ostdeutsch land-sinkt-deutlich,20642162,17418792.html, Zugriff vom 13.10.2011. Die hohen Rekrutierungszahlen der Bundeswehr im Osten werden in der Regel mit der wirtschaftlichen Situation in Ostdeutschland begründet. Das Absinken der ostdeutschen Rekrutierungsrate mit dem Geburtenknick nach 1990. Diese Annahmen beruhen jedoch nicht auf wissenschaftlichen soziologischen Untersuchungen sondern Vermutungen einiger Professoren, Beispiel etwa: Der Historiker Michael Wolffsohn spricht bereits von einer „Ossifizierung“ der Bundeswehr. „Er vermutet, dass der Arbeitsmarkt die Entwicklung auch künftig vorgibt.“, in: Stuttgarter Nachrichten, Claudia Lepping, Die Zukunft der Truppe liegt im Osten, http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.ossifizierung-die-zukunft-dertruppe-liegt-im-osten.9ff87c74-f259-4e53-b6bd-d41b120b0d02. html, Zugriff vom 16.6.2010.
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Als Indizien für meine Hypothese möchte ich die Bildsprache der Zeitungsberichte zur Stalingrad-Ausstellung anführen. Die Abbildungen zeigen drei Zeitungsartikel mit überregionalem Anspruch (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Zeit, Die Welt), einen Artikel einer westdeutschen Zeitung mit regionalem Anspruch (Rheinische Post) und drei Artikel ostdeutscher Tageszeitungen mit regionaler Leserschaft (Sächsische Zeitung, 20 Dresdner Neueste Nachrichten, BILD Dresden). Es fällt auf, dass bei den ostdeutschen Blättern militärtechnische Motive bevorzugt werden. Illustrationen mittels nicht-technischer Motive waren in Artikeln ostdeutscher Printmedien weit weniger häufig. Dagegen war das Motiv „Panzer“, von einer Mitteilung der Deutschen Presseagentur, die auch ostdeutsche Zeitungen beliefert, in Zeitungen der Altbundesländer nicht zu finden. Diesen Befund würde ich so lesen, dass sich ostdeutsche Regionalmedien ihrer 21 Klientel in der Bildsprache durchaus anpassen.
Hypothesen zur Historischen Forschung Zweifellos gibt es im deutschen Politik- und Medienalltag wie letztlich auch in der historischen Forschung ein freundliches Desinteresse an rein militärtechnischen Themen. Sie gelten bei vielen Intellektuellen als unan-
20 In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Stefan Locke, Nur 5000 kamen wieder zurück, 22.12.2012, S. 3; in: Die ZEIT; Christoph Diekmann, Stalingrad, Massengrab, 13.12.2012, S. 13; in: Die WELT (online), Sven Felix Kellerhoff, Görings künstliche Weihnachtsbäume für Stalingrad, 18.12.2012, http://www. welt.de/112091207; in: Rheinische Post, Ulli Tückmantel, Stalingrad 1942 – Weihnachten in der Hölle, 22.12.2012, S. A6; in: Sächsische Zeitung, ohne Autor, Nach der Schlacht ist vor der Schau, 8.12.2012, S. 19; in: Dresdner Neueste Nachrichten, Armin Götz, Mythos Stalingrad, 7.12.2012, S. 3; in: BILD Dresden, B. Schilz, Erster Blick in die Stalingrad-Schau, 14.12.2012, S. 4. 21 Dies kann auch nicht im Verständnis ostdeutscher Journalisten gesucht werden, da etwa drei Viertel bis die Hälfte aller Journalisten in Ostdeutschland aus Westdeutschland stammen. Die Anzahl ostdeutscher Journalisten ist seit Anfang der 1990er Jahre sogar gesunken. Vgl. Ostdeutsche Perspektiven bleiben Mangelware, Essay von Raj Kollmorgen, http://www.mdr.de/mdr-figaro/hoerspiel/ essay/kollmorgen-mangelware100.html, Letzter Zugriff vom 15.9.2013.
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genehm, kompliziert oder uninteressant. Nicht umsonst kam die These von der neuen „Militärgeschichte ohne Krieg“ Mitte des letzten Jahrzehnts 22 auf. Während auf der einen Seite reißerisch aufgemachte Veröffentlichungen zu Hitler und anderen Größen des NS-Regimes bis heute gute Verkäufe oder Einschaltquoten garantieren, gelten andererseits die spezifischen Mittel und Werkzeuge des Krieges – das Militär und seine Technik – kaum als nennenswerte Betrachtungsgegenstände. Bestenfalls liefern Rüstungsskandale eine Folie für die Berichterstattung. Hier tut sich nun eine Betrachtungsdivergenz zu jenem Teil der Bevölkerung auf, der oben als militäraffin beschrieben wurde und dem die tech23 nischen Details besonders wichtig sind. Zugespitzt formuliert: Ein falsch beschrifteter Karabiner oder eine falsch beschriftete Uniform kann dazu führen, dass eine ganze Ausstellung als inkompetent entlarvt wird. Nun könnte man einwenden, dass Besserwissen unter Ausstellungsbesuchern generell verbreitet ist. In Fragen des Umgangs mit dem Zweiten Weltkrieg und der Rolle der Wehrmacht geht es jedoch immer auch um Haltungen – um die Haltung der Besucher zu diesem Thema, um die Haltung der Kuratoren, um die Haltung, die die Besucher in die Ausstellung bzw. die Kuratoren hineininterpretieren, und um die Haltung, mit der die Besucher die Ausstellung verlassen. Jene militäraffine Gruppe meint „den Krieg“ aus Erzählungen der Vorfahren oder populären Medien zu kennen, die dem Zweiten Weltkrieg anhaltend gewidmet werden. Brisant wird dies dann, wenn sich militärhistorisches Halbwissen mit den Geschichtsdeutungen und Mythen aus dem rechten Spektrum verbinden. Undemokratische Kräfte
22 Sönke Neitzel, Militärgeschichte ohne Krieg? Eine Standortbestimmung der deutschen Militärgeschichtsschreibung über das Zeitalter der Weltkriege, in: Historische Zeitschrift, Beiheft 44, München 2007, S. 287-307; Beatrice Heuser, Kriegswissenschaft, Friedensforschung oder Militärgeschichte?; vgl. dazu auch Jörg Echternkamp, Militärgeschichte (Werkstatt-Version), in: DocupediaZeitgeschichte, URL dieser Version: http://docupedia.de/zg/Werkstatt:Militaer geschichte?oldid=86724, Zugriff vom 31.1.2014, 16:42 Uhr. In diesem Aufsatz wird ein Fehlen der Operationsgeschichte konstatiert. 23 Militäraffin meint ausdrücklich nicht militaristisch. Militäraffin meint ein stärkeres Interesse am Militär und seiner Geschichte, womit nicht notwendigerweise eine höhere Akzeptanz des gegenwärtigen Militärs, seiner Einsätze oder seiner Notwendigkeit einhergehen müssen.
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nutzen das militärfachlich-intellektuelle Vakuum in klassischen Kernbereichen der Militärgeschichte, um durchaus etablierte Forschungsergebnisse 24 als Produkte der als „politischen Korrektheit“ zu diskreditieren. Während dies aus meiner Sicht in Westdeutschland auf eine politisch rechte Tendenz deuten kann, ist in Ostdeutschland auch eine andere Haltung möglich. Viele ehemalige NVA-Angehörige waren auch Mitglieder der SED und haben alte politische Überzeugungen konserviert und geben sie innerfamiliär weiter. Aber diese Zuschreibungen sollen nicht den falschen Eindruck erwecken, dass hinter dem Interesse der meisten Besucher fragwürdige politische Einstellungen stehen. Vielmehr gibt es ein breiteres und legitimes Interesse an der Geschichte des Militärs und seiner Technik. Dieses sollte von allen in Frage kommenden Institutionen, zu denen die Museen gehören, bedient werden. Ähnlich wie es ein Besucher des MHM im NVA-Forum ausdrückte: „Mensch – Militär – Gewalt kann man schon unter einen Hut 25 bringen, ohne die Technik zu vergessen.“ Welche Rückschlüsse ergeben sich nun daraus für Geschichtsvermittler, seien sie Schreibende oder Ausstellende? Die Antwort darauf ist aus meiner Sicht, den Gegenstand der historischen Militärtechnik eben nicht den
24 Siehe weiter oben „Militärgeschichte ohne Krieg“, daran wird sich so schnell nichts ändern, denn in Deutschland gibt es lediglich eine Professur für Militärgeschichte an der Universität Potsdam. Gerade auf den für Museen wichtigen Bereich der Militärtechnikgeschichte wird in der deutschen Forschung kein Wert gelegt. Vgl. dazu auch die drei Rezensionen von Benjamin Ziemann, Rezension zu: Roger Chickering/Dennis Showalter/Hans van de Ven (Hg.), War and the Modern World. Cambridge 2012, in: H-Soz-u-Kult, , Zugriff vom 26.11.2013; Benjamin Ziemann, Rezension zu: Christian Th. Müller/Matthias Rogg, (Hg.), Das ist Militärgeschichte! Probleme – Projekte – Perspektiven, Paderborn 2013, in: H-Soz-u-Kult, , Zugriff vom 26.11.2013; Benjamin Ziemann, Rezension zu: Bernd Hüppauf, Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Krieges, Bielefeld 2012, in: H-Soz-uKult, , Zugriff vom 26.11.2013. 25 Entsprechender Thread zum MHM: http://www.nva-forum.de/nva-board/index. php?showtopic=3322&st=0, dieses Zitat Zugriff vom 27.4. 2013.
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selbsternannten „Spezialisten“ zu überlassen, sondern offensiv andere, disfaszinose Deutungsansätze ins Spiel zu bringen. Militärtechnik wird nicht selten eine besondere Aura zugeschrieben, mit der Gewalt, Macht und bestimmte ideologische Konnotationen verbunden werden. Daher ist unter Kuratoren oft die Befürchtung zu hören, das Ausstellen militärischer Technik könne den Krieg oder die Wehrmacht verherrlichen. Mögen diese Befürchtungen auch nicht ganz unbegründet erscheinen, so scheint es mir noch problematischer, auf das Ausstellen der Technik zu verzichten. Dabei sollten verschiedene Methoden zu deren Einordnung und Kontextualisierung eingesetzt werden. Eine sehr starke Kontextualisierung kann bereits durch die Grundkonzeption der Ausstellung angelegt sein. So hat die Dauerausstellung des MHM in absoluten Zahlen zwar mehr Militärtechnikobjekte aufzuweisen, als die alte Dauerausstellung des Armeemuseums. Technik steht in der Dauerausstellung jedoch nicht im Zentrum der Betrachtung, wie das bei vielen militärhistorischen Museen bis heute üblich ist. Zudem wurde auf die bekannten Ikonen des Militärs wie Kampfpanzer in der Dauerausstellung gänzlich verzichtet. Eine Variante (Groß-)technik auszustellen, ist die Kontextualisierung am Objekt selbst. So wird die Rakete V-2 im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr einerseits durch Hinterlassenschaften von KZ-Häftlingen aus dem Produktionsort dieser Waffe in Mittelbau-Dora (Abb.3), andererseits durch die Sojus-29 Kapsel des ersten deutschen Kosmonauten Sigmund Jähn eingeordnet. Von hier aus geht eine lange Sichtachse auf das Puppenhaus eines Londoner Mädchens aus dem Jahr 1944 zu, das während der Zeit der V-2 Einschläge in die britische Hauptstadt von dem Kind mit Luftschutzutensilien ausgerüstet wurde. Vorbehalte gegenüber einem möglicherweise faszinosen Potenzial jener Rakete haben sich nicht zuletzt aufgrund dieser Kontextualisierung als gegenstandslos erwiesen.
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Abb. 3 Rakete A4 (V-2) in der Dauerausstellung des MHM, im Vordergrund die Vitrine zum Schicksal der KZ-Häftlinge in Mittelbau-Dora
Neben solchen Kontextualisierungsstrategien kann auch der Präsentationszustand der Exponate zum Bedeutungsträger werden. Gewöhnlich werden Waffensysteme glatt poliert und in zumindest äußerlich einwandfreien Zustand präsentiert. Dabei sind Waffen etwa des Zweiten Weltkrieges viel häufiger als lädierte Bodenfunde von den Gefechtsfeldern überliefert. Die Präsentation solcher Fragmente kann die Wirkung des Kriegsgeschehens sehr eindrücklich vermitteln. So geschehen mit der Präsentation des Wracks einer Junkers Ju 87 „Stuka“ im Deutschen Technikmuseum Berlin, der Ausstellung eines Fragmentes der Messerschmitt Bf 108 im Luftwaffenmuseum Berlin-Gatow oder des Wracks eines T-34 Wracks im Wolgograder 26 Museum zur Schlacht von Stalingrad (Abb. 4). Gefragt nach der suggestiven Wirkung militärischer Technik im Museum, stehen seitens der Besucher Panzer im Zentrum der Aufmerksamkeit. Diese „special interest“
26 „В Волгограде появится памятник погибшим танкистам“, http://v1.ru/text/ news/380670.html“, Zugriff vom 26.11.2013.
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Abb. 4 Ein während der Stalingrader Schlacht zerstörter T-34 in Wolgograd Objekte sind meist mythenüberweht. Hier wird die kritische Kontextualisierung unmittelbar auf Auratisierungen zu antworten haben. Ralf Raths, Leiter des Panzermuseums Munster, listet Gründe auf, die maßgebend für die unkritische Betrachtung und Faszination der Besucher für die dort ausgestellten Kampfpanzer sind. Unter anderem nennt er eine gewisse gefühlte „Übersättigung“ mit der Geschichte des Holocausts und deutscher Kriegsverbrechen zu Ungunsten der übrigen Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Die Panzer scheinen dagegen für ein technisches Feld zu sprechen, das mit den deutschen Verbrechen scheinbar nichts zu tun hat. Eine kritische Kontextualisierung könnte hier etwa auf deren Produktion unter Einsatz von 27 Zwangsarbeitern verweisen. Der Zweite Weltkrieg ist untrennbar mit dem deutschen Besatzungsregime und dem Holocaust verbunden. Darüber hinaus sind viele interessante Fragestellungen wie nach Genderverhältnissen, Kunst und Kultur, Alltagsleben oder sozialen Bewegungen möglich und sollten selbstverständlich dargestellt werden. Doch was ihn als Krieg definiert sind die kriegerischen Handlungen mit ihren technischen Mitteln und den dadurch verursachten Leiden. Das sollte Eingang in Ausstellungen zu
27 Ralf Raths, From technical Showroom to Full-fledged Museum: The German Tank Museum Munster; in: Wolfgang Muchitsch, Does War belong in Museums?, Bielefeld 2013, S. 85.
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diesem Thema finden, es ist eine zu Recht weitverbreitete Erwartungshaltung vieler Besucher mit der museal offensiv umzugehen ist – besonders in Ostdeutschland.
Der Nationalsozialismus in Ausstellungen des Potsdam Museums – vor und nach 1989 J UTTA G ÖTZMANN UND W ENKE N ITZ
Museen und Ausstellungen sind Orte erinnerungskultureller Aushandlung von Geschichtsbildern in einem sehr konkreten Sinne. Damit sind sie materielle Manifestationen zeitgenössischer Diskurse über mögliche Inhalte und Repräsentationsformen von Vergangenheit. Der vorliegende Text versucht, zwei Ausstellungen über den Nationalsozialismus auf diese medialinhaltlichen Zusammenhänge hin lesbar zu machen, die zwar im selben Museum, aber zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen entstanden. Die Untersuchung fokussiert auf die Darstellung der Geschichte Potsdams zwischen 1933 und 1945 in der Dauerausstellung des Potsdam Museums von 1986 und in der 2013 eingerichteten 1 aktuellen ständigen Ausstellung. Die Gründung des Potsdam Museums geht auf bürgerliche Initiativen um 1900 zurück. Es besitzt also eine mehr als 100jährige Geschichte, die 2 auch als Spiegel der Umbrüche des 20. Jahrhunderts gelesen werden kann. Der Vergleich zweier Dauerausstellungen aus unterschiedlichen politischen Systemen und Zeiten könnte daher erhellende Einblicke in Formen der musealen Aufbereitung lokaler NS-Geschichte geben.
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Zum Format und zur Geschichte von Dauerausstellungen und neueren Trends siehe Bettina Habsburg-Lothringen (Hg.), Dauerausstellungen: Schlaglichter auf ein Format, Bielefeld 2012.
2
Siehe Katalog, Privates und öffentliches Sammeln in Potsdam. 100 Jahre „Kunst ohne König“, hg. V. Potsdam-Museum u. Potsdamer Kunstverein, Berlin 2009.
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Die Darstellung der „Zeit des Hitlerfaschismus“ 1986-1989/90 Das damalige Bezirksmuseum Potsdam war ein „Vorzeigemuseum“. Es residierte in den für Friedrich II. errichteten spätbarocken „Hiller-Brandtschen Häusern“ an der Ecke der heutigen Breiten Straße und Yorckstraße. In den 1980er Jahren sollte das Museum eine neu gestaltete Dauerausstellung zur Stadtgeschichte erhalten. Ein erster Teil, der inhaltlich um 1900 endete, konnte 1984 eröffnet werden. Zwei Jahre später folgte die Darstellung des Zeitraums von 1900 bis 1945, der hier näher betrachtet werden soll. Ein abschließender Teil zur „Stadtgeschichte im Sozialismus“ war geplant, wurde aber aufgrund der politischen Ereignisse 1989/90 nicht mehr verwirklicht. Im Themenabschnitt 1900-1945 wurden 700 Objekte, 260 Fotografien und 113 Dokumente präsentiert. Da im Hausarchiv und in der Fotosammlung des Museums sowohl die Wandabwicklungen als auch eine umfangreiche Fotodokumentation erhalten sind, können wir uns ein gutes Bild von der Ausstellung machen. Die Darstellung folgte einer chronologischen Erzählung. Dabei hob sie die historischen Zäsuren 1918 und 1933 besonders hervor. Inhaltlich fokussierten die Ausstellungsmacher weniger auf ereignisorientierte Diktaturgeschichte als auf die Alltagswelt des NS-Regimes. Ausdruck dieses alltagsgeschichtlichen Ansatzes waren vor allem sogenannte „Zeitgeistvitrinen“ (Abb. 1). In Wandvitrinen wurden zahlreiche alltagsübliche Kleinobjekte des jeweiligen Zeitabschnitts gezeigt, so etwa Postkarten, Abzeichen, Werbezettel und Briefmarken, aber auch Cremedosen und ähnliches. Im Sinne der SED-Geschichtsdoktrin rückten mit dieser Schwerpunktsetzung auch das Leben der Arbeiterklasse und die Geschichte der Arbeiterbewegung stärker in den Blick. In einem Raum war unter dem Motto „Gebt uns Arbeit! Gebt uns Brot!“ eine beengte Arbeiterwohnküche inszeniert, in der sich in den 1920/30er Jahren der familiäre Alltag abspielte (Abb. 2).
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Abb. 1 „Zeitgeistvitrine“zu den 1930er Jahren
Abb. 2 Inszenierung einer „Arbeiterwohnküche“
Abb. 3 Die Garnisonstadt als Symbol des „reaktionären Militarismus“
Mit dem Fokus auf die Geschichte der Arbeiterklasse ging einher, dass das preußische Erbe nahezu ausschließlich unter dem Signum des Militarismus betrachtet wurde. So firmierte das militärische Leben in der Garnisonstadt
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Abb. 4 Der „Tag von Potsdam“ 1933
Potsdam unter dem Titel „Symbol des reaktionären preußischen Militarismus“ (Abb. 3). Besonderen Ausdruck fand die enge Verknüpfung von preußischem Militarismus und Nationalsozialismus in der Behandlung des „Tags von Potsdam“: Unter dem Großfoto des berühmten Handschlags zwischen Reichspräsident Paul von Hindenburg und Reichskanzler Adolf Hitler am 21. März 1933 vor der Garnisonkirche befand sich eine Vitrine, die in typologischer Reihung Pickelhaube, Stahlhelm, Zylinder und SAMütze zeigte und die Verbindung von reaktionärem Bürgertum, Militär und nationalsozialistischer Bewegung repräsentieren sollte (Abb. 4). Unter der Überschrift „Wachsende Faschisierung der Residenzstadt“ waren an der folgenden Wand Fotografien und Dokumente zu Antisemitismus, Verfolgung und Ausgrenzung versammelt. Angesprochen wurden die Pogromnacht 1938 und die Arisierung des Potsdamer Kaufhauses Hirsch ebenso wie das rassistische Erbhofgesetz. Entgegen der ideologisch geforderten Fokussierung auf die Verfolgung von Kommunisten und Sozialdemokraten äußerte sich in der Darstellung der Verfolgung der jüdischen Potsdamer an prominenter Stelle ein weit über die gängige DDR-Geschichtsdoktrin hinausgehender Eigensinn der Ausstellungsmacher. Ein gesonderter Ausstellungsbereich war dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Potsdam gewidmet. Unter dem Titel „Trotz alledem!“ wurden die Porträts von
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14 überwiegend kommunistischen Widerstandskämpfern gezeigt. Nichtsdestotrotz fanden sich in dieser Liste auch bürgerliche Personen, wie der Verleger August Bonneß und der preußische Major Adolf von Schack. Bonneß wurde wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt, weil er einen regimekritischen Witz erzählt hatte. Major von Schack gehörte, wie viele Potsdamer Offiziere, zum Umkreis des militärischen Widerstands am 3 20. Juli 1944. Auch in diesem Punkt ließen sich die Ausstellungsmacher durch das erinnerungspolitische Dogma des SED-Staates keineswegs einengen. Gestalterisch fallen an der Ausstellung besonders zwei Aspekte ins Auge: Der Umgang mit faschistischen Symbolen und der Einsatz „starker“ Inszenierungen. Von vorgesetzter Dienststelle gab es die Vorgabe, das Symbol der nationalsozialistischen Bewegung, das Hakenkreuz, in der Aus4 stellung möglichst nicht zu verwenden. An Originalobjekten wie Uniformen und Fahnen wurde selbstverständlich nichts geändert, aber die Grafik der Ausstellung sollte nicht mit diesem Symbol arbeiten. Da die Ausstellungsmacher jedoch nicht vollkommen auf dessen grafische Verwendung verzichten wollten, griffen sie auf eine künstlerisch verfremdete Version des Malers und Grafikers John Heartfield zurück, dessen kritische Fotomontagen beispielsweise in der Arbeiter Illustrierten Zeitung (AIZ) erschienen waren. Seine Version des Hakenkreuzes hatte Heartfield aus vier kreuzweise verbundenen Henkersbeilen montiert (Abb. 5). Inszenierungen nahmen in der Ausstellung von 1986 eine prominente Rolle ein. Unter der Überschrift „Target Potsdam“ wurde die Bombardierung der Stadt 1945 dargestellt. In einem Schutthaufen waren geborgene Symbolobjekte arrangiert: Gefallene Hoheitszeichen und Fluchtgepäck waren dort ebenso zu 5 finden wie der Blindgänger einer Bombe. Darüber schwebte das Modell eines britischen Lancaster-Bombers. (Abb. 6) Mit der „Befreiung vom Faschismus“ und der Potsdamer Konferenz endete die Ausstellung von 1986. Hier stand ein Laternenpfahl mit von Potsdamer Bürgerinnen selbstgenähten Flaggen der Siegermächte im Mittelpunkt der Inszenierung.
3
Siehe hierzu Ines Reich (Hg.), Potsdam und der 20. Juli 1944, Freiburg 1997.
4
So die Angabe von ehemaligen Museumsmitarbeitern.
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Vgl. den Artikel von Susanne Hagemann in diesem Band.
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Abb. 5 Grafische Verwendung des Hakenkreuzes nach John Heartfield
Abb. 6 Die Bombardierung Potsdams 1945
Welche Folgen hatte nun der politische Umsturz von 1989 für die Ausstellung? Die Museumsmitarbeiter begannen im Frühjahr 1990 die Ausstellung inhaltlich zu überarbeiten. Die starke Betonung der Rolle der Sowjetunion und die Heraushebung der Arbeitergeschichte wurden nun deutlich abgeschwächt. Ein Beispiel: Vor 1990 lief die Hauptsichtachse des Ausstellungsbereichs 1900 bis 1945 auf ein Großfoto zu, auf dem eine Demonstration des Potsdamer Rotfrontkämpferbundes zum Antikriegstag 1926 zu sehen war. In den Raum hinein hingen Fahnen verschiedener sozialdemokratischer und kommunistischer Verbände. Nach der Überarbeitung der Ausstellung verlief die Hauptsichtachse auf ein Großfoto der Garnisonkirche zu, von der Decke hing nun die Reichskriegsflagge des Kaiserreichs, die seit 1921 in dieser Form nur noch von der politischen Rechten verwendet wurde. Diese Flagge war im Zuge des Umbaus 1990 von der ursprünglichen Hängung im Themenbereich des Ersten Weltkriegs nun in die Hauptsichtachse „gewandert“. Zu spekulieren wäre, ob mit Garnisonkirche und Fahne bereits der „Tag von Potsdam“ visuell vorbereitet werden sollte.
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Im Zuge der Eröffnung der Sonderausstellung „Aufbruch in Potsdam. Oktober bis Dezember 1989“ wurde die Dauerausstellung des Potsdam Museums Ende 1990 dann endgültig geschlossen. Eine zeitgleiche Präsentation beider Ausstellungen erschien den Museumsmitarbeitern aus inhaltlichen Gründen unmöglich, da die bereits ausgeführten Überarbeitungen aus ihrer Sicht nicht umfassend genug waren. Der Nationalsozialismus in der ständigen Ausstellung des Potsdam Museums „Potsdam. Eine Stadt macht Geschichte“ 2013 Ein Jahr nach abgeschlossener Sanierung des Museumsstandortes am Alten Markt wurde 2013 die ständige Ausstellung unter dem Titel „Potsdam. Eine Stadt macht Geschichte“ eröffnet. Die Ausstellung erstreckt sich auf einer Fläche von ca. 800 m2 über das gesamte erste Obergeschoss. Bereits der Beginn der Planung war von der Frage bestimmt, wie über 1000 Jahre Stadtgeschichte auf entsprechender Fläche angemessen zu präsentieren und dem Umstand Rechnung zu tragen sei, dass eine museale Präsentation niemals den Anspruch auf Vollständigkeit stadthistorischer Entwicklungsprozesse besitzen könne, sondern sich immer auf eine materielle Überlieferung und Auswahl stütze. Die Entscheidung fiel zugunsten eines themengestützten Konzepts, das mit biografischen Ansätzen neue Kategorien bürgerlicher Identität schafft und durch eine besondere Flexibilität gekennzeichnet ist, die einen Wechsel von Exponaten und Unterthemen ermöglicht. Insgesamt 485 Objekte sind in elf Themenmodulen in einer lockeren Chronologie angeordnet, die für die Stadtgeschichte eine zeitliche Orientierung geben. Das Besondere an ihnen ist jedoch, dass sie Themen zeitübergreifend behandeln und somit Entwicklungslinien und Kontinuitäten über längere Zeiträume deutlicher hervortreten lassen, die für Potsdam kennzeichnend sind. So wird zum Beispiel die dauerhafte Präsenz von Militär in der Stadt, die Potsdam über Jahrhunderte prägte, in der Ausstellung mittels der Themensektion „Einquartieren und Paradieren“ veranschaulicht. Sie spannt den Bogen vom Beginn als Garnisonstadt 1713 bis zum Abzug der sowjetischen Truppen 1994. Die einzelnen Module, überschrieben mit Begriffspaaren, die inhaltliche Schwerpunkte aufnehmen, bilden thematische Räume. Bestimmte Leitthemen, wie Architektur und Städtebau, ebenso wie auch kulturelle und künstlerische Phänomene finden sich an verschiedenen
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Punkten der Ausstellung wieder. Die Themenmodule sind nicht kategorisch voneinander getrennt, sondern ermöglichen Verbindungen.
Abb. 7 Die Hauptachse 1986 (links) und 1990 (rechts) im Vergleich Entsprechend der Gesamtkonzeption fiel die Entscheidung, die deutsche Diktaturgeschichte Potsdams im 20. Jahrhundert innerhalb des Moduls „Weltbühne Potsdam. Potsdam in der Zeit zweier Diktaturen. 1933-1989“ gemeinsam zu behandeln. Die beiden deutschen Diktaturen werden hierzu keineswegs gleichgesetzt, vielmehr dient die Gegenüberstellung dem Ver6 gleich beider Systeme. Der Titel „Weltbühne Potsdam“ verweist auf die
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Mit der vergleichenden Diktaturforschung und in Verknüpfung mit der Museumsarbeit beschäftigt sich ein eigens an der Humboldt-Universität eingerichtetes „Zentrum für vergleichende Diktaturforschung“. Zum Programm siehe http://www.hu-berlin.de/foerdern/was/projekte/forschung/zentrum-fuer-diktatur forschung. Siehe auch Günther Heydemann/Heinrich Oberreuter (Hg.), Diktaturen in Deutschland. Vergleichsaspekte, Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen, Bonn 2003; Detlef Schmiechen-Ackermann, Diktaturen im Vergleich, Darmstadt 2002.
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bedeutende, von Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky herausgegebene Wochenzeitschrift, die in Potsdam gedruckt und nach dem Reichstagsbrand 1933 von den Nationalsozialisten in Deutschland verboten wurde. Zur symbolischen „Weltbühne“ wurde Potsdam aber auch mit drei verschiedenen Orten, die die Stadt in den Blick der Weltöffentlichkeit treten ließen. Potsdams „Weltbühnen“ sind durch drei Bauwerke repräsentiert: In der Garnisonkirche begingen die Nationalsozialisten am 21. März 1933 den propagandistisch inszenierten „Tag von Potsdam“, die Eröffnung des Reichstages. Als Bühne diente auch Schloss Cecilienhof, als die drei Hauptalliierten des Zweiten Weltkrieges 1945 auf der sogenannten „Potsdamer Konferenz“ über die gemeinsame Deutschlandpolitik berieten. Die Glienicker Brücke als dritte „Weltbühne“ steht sowohl für die deutsche Teilung und den Agentenaustausch im Kalten Krieg als auch für die Öffnung der Mauer 1989.
Abb. 8 Weltbühne Potsdam, Potsdam in der Zeit zwischen zwei Diktaturen
Die Ausstellungssektion zum Nationalsozialismus beginnt mit einem Prolog zur Residenzstadt Potsdam in der Weimarer Zeit bis zur Reichstagswahl 1933. Entsprechend dem konzeptionellen Ansatz, in größerem Umfang Bi-
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ographien einzusetzen, wird die private Einrichtung des Reichsarchivrats Karl Heinrich Schäfer – Möbel im Stil der bürgerlichen Wohnkultur des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts – an den Beginn gestellt. Schäfer steht exemplarisch für die konservative Prägung des Potsdamer Bürgertums. Hegte er wie viele Konservative anfangs durchaus Sympathien für den Nationalsozialismus, wurde er 1934 aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus politischen Gründen entlassen, 1942 denunziert und ins KZ verbracht, wo er im Januar 1945 starb. Der Ausstellungsbereich zum Nationalsozialismus zeigt das Wechselverhältnis zwischen Weltgeschehen und Potsdamer Alltag auf. Zum Alltag gehörte die Einbindung in verschiedene staatliche und parastaatliche Organisationen unter dem Titel der „Volksgemeinschaft“ ebenso wie die Unterdrückung und Verfolgung von unerwünschten Personen(-gruppen). Das System benötigte für die vermeintliche Einbindung die Abgrenzung nach außen und kennzeichnete ihre „Feinde“. Eine Kennkarte zeigt die Stigmatisierung von deutschen Juden in Ausweisen am Beispiel des Potsdamers William Hoffmann. Als Hinweise für die umfassende antisemitische Verfolgung sind Anschläge mit Verkaufsverboten in jüdischen Geschäften aus dem Jahr 1933 ausgestellt. Unter dem Titel „Leben unterm Hakenkreuz“ gerät dann die zunehmende Durchdringung des Alltags und die Einbindung der Bevölkerung in verschiedenste nationalsozialistische Organisationen in den Blick, wie zum Beispiel die Hitlerjugend oder das Winterhilfswerk. Daneben werden anhand persönlicher Zeugnisse die Facetten nationalsozialistischer Verfolgung aufgezeigt – über die Verdrängung politischer Oppositioneller in den Untergrund, den Antisemitismus und die Etappen der Verfolgung bis zum Massenmord. Zum Konzept der Ausstellung gehört es unter anderem Spolien einzusetzen, die aus dem Stadtraum stammen und häufig auf Architekturen und Gebäude verweisen. Als „Realie“ findet sich die Tür des Potsdamer Gestapo-Gefängnisses in der Ausstellung. Sie ist ein Synonym für die „Entmachtung der Justiz“, Dissidenten jeglicher Couleur waren hier inhaftiert. (Abb. 9)
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Abb.9 In die Dauerausstellung integrierte Tür aus dem Potsdamer Gestapogefängnis Potsdams Stadtbild ist vom architektonischen Gestaltungswillen der Nationalsozialisten ebenso geprägt wie von den städtebaulichen Veränderungen der DDR-Zeit. Für den Themenbereich dient das exemplarische Beispiel des Siedlungsbaus unter Oberbürgermeister Hans Friedrichs – die sogenannte „Friedrichsstadt“. Im NS-Modul wird in Potsdam entstandene Kunst ebenso berücksichtigt, wie für Potsdam gewählte Ankäufe von der Großen Deutschen Kunstausstellung in München. Ausgestellt ist ein Halbakt, den der Potsdamer Maler und Grafiker Ernst Ludwig Kretschmann 1932 schuf und der im gleichen Jahr vom Museum erworben wurde. Mit seiner heroisierenden Formensprache nimmt das Gemälde wesentliche Aspekte vorweg, die nationalsozialistische Kunstfunktionäre wenig später propagieren sollten. Kretschmanns Biographie, die ihn als überzeugten Nationalsozialisten Propagandamaler an vorderster Front werden ließ, konnte aufgearbeitet werden. Ebenso wissen wir, dass das Gemälde „Halbakt“ ab 1934 der Saalausstattung des Regattahauses am Luftschiffhafen diente, die für Veranstaltungen der NSDAP genutzt wurde. Der NS-Bürgermeister Friedrichs hatte auch Ambitionen hinsichtlich der vom Museum und der Stadt angekauften
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Kunst: Der ausgestellte „Amazonenkopf“ wurde auf sein persönliches Geheiß von der Großen Deutschen Kunstausstellung 1942 in München für Potsdam erworben. (Abb. 10)
Abb. 10 Kunst im nationalsozialistischen Potsdam Von herausragender Bedeutung für Potsdam, wie für die jüngere deutsche Geschichte insgesamt, ist der Widerstand vom 20. Juli 1944: Weite Teile der Bewegung hatten einen Bezug zu Potsdam, viele der Verschwörer hatten zumindest einen Teil ihrer militärischen Ausbildung in der Stadt absolviert. Die Ausstellung zeigt Orte, an denen wichtige Exponenten verkehrten und gibt die Möglichkeit, in Prozessakten des Volksgerichtshofes zu blättern. Kriegsvorbereitung, Widerstand und Kriegsfolgen bilden den Abschluss vor dem Übergang zur zweiten Weltbühne – zum Schloss Cecilienhof und der „Potsdamer Konferenz“.
Zur Schwerpunktsetzung sowie zur Gestaltung und Präsentation Die Ausstellung verzichtet weitgehend auf Inszenierungen – einzig die Weltbühnen haben in ihrem architektonischen Aufbau Assoziationen an einen bühnenähnlichen Standort, der Ort und Ereignis über Fotos und Exponate berücksichtigt – die Seitenflügel zeigen hingegen die Wirkung und Folgen des jeweiligen Ereignisses. Es setzt zudem ein Wechsel der Farbigkeit ein – die Modulfarbe ist Anthrazit.
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Um Objekte durch Fotos, durch Grafiken oder mittels medialer Ebenen ausführlicher zu kontextualisieren, findet sich in der Ausstellung zum Beispiel eine grafisch gestaltete Blätterstation zu Potsdam in der Spätphase der Weimarer Republik mit Fotos, politischen Flugblättern und Wahlzetteln. Ein Tisch mit „Multitouch-Screen“ bietet Informationen zur Museumsgeschichte ebenso wie zu wichtigen Potsdamerinnen und Potsdamern des 20. Jahrhunderts, unter denen sich der Oberbürgermeister Hans Friedrichs befindet, aber auch der letzte offiziell Deportierte der jüdischen Gemeinde Potsdams, Wilhelm Kann. Die medialen Stationen sind so angelegt, dass neue Erkenntnisse jederzeit vom eigenen Team eingespeist werden können.
Die Ausstellungen von 1986 und 2013 im Vergleich Stellt man abschließend die beiden Dauerausstellungen von 1986 und 2013 vergleichend gegenüber, so ergeben sich Unterschiede wie auch Gemeinsamkeiten: Verfolgten die Ausstellungsmacher in den 1980er Jahren eine chronologische Gliederung und setzten die Jahren 1933-1945 als eigenständiges Kapitel, so entschied man sich 2013 für eine themenorientierte Darstellung, die den Nationalsozialismus vergleichend mit der DDR-Diktatur erzählt und in eine deutsche Diktaturgeschichte des 20. Jahrhunderts einordnet. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Ausstellungskonzeptionen zeigt sich in der Frage von Inszenierung: Spielte diese in den 80er Jahren eine herausgehobene Rolle, so verzichtet die gegenwärtige Ausstel7 lung weitgehend auf diese didaktische Form der Darstellung. Inhaltlich hält die Ausstellung von 2013 eine thematische Erweiterung bereit, die
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Zu Forschungskontroversen um Fragen der Inszenierung, des Erzählens und Vermittelns von Geschichte im Museum siehe Dorothea von Hantelmann/Carola Meister (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Berlin 2010; Kurt Dröge (Hg.), Museum Revisited. Transdisziplinäre Perspektiven auf eine Institution im Wandel, Bielefeld 2010; Ulrich Borsdorf (Hg.), Das Zeigen der Dinge. Wahrnehmung und Erkenntnis im Museum, Böhlau, Köln 2008; Christine Braunerreuther (Hg.), Historische Wirklichkeitskonstruktion und künstlerische Gestaltung im Museum, Innsbruck u.a. 2007. Zur Frage des „Sprechens“ von Objekten siehe Anke te Heesen (Hg.), Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Köln u.a. 2005.
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Fragen von Architektur und Städtebau ebenso einbezieht, wie Fragen der Kunst und der Kunstpolitik. Insgesamt betrachtet sind aber auch parallele Themen erkennbar. Aufgrund der unterschiedlichen staatlichen Erinnerungskultur und Geschichtspolitik zeigen sich selbstverständlich andere Schwerpunktsetzungen und 8 Kontextualisierungen. Es ist den Mitarbeitern des Museums jedoch auch zu DDR-Zeiten gelungen, Spielräume der Darstellung Potsdamer Geschichte zu nutzen und Themen zu setzen, die in der offiziellen Geschichtspolitik nicht vorgesehen waren.
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Die Erforschung verschiedener Geschichtsbilder unternimmt Olaf Hartung (Hg.), Museum und Geschichtskultur. Ästhetik, Politik, Wissenschaft, Bielefeld 2006.
Zeitgeschichtliche Archäologie und Ding-Pädagogik in der Gedenkstätte Buchenwald R ONALD H IRTE
Es gibt einige sehr genaue Beschreibungen von Gebäuden des Konzentrationslagers Buchenwald. In seinen „Erinnerungen eines Normannen 19391945“ liefert der Franzose Paul Le Goupil eine solche Beschreibung von „Block 40“ des Buchenwalder Hauptlagers: „Der Block 40 war ein einstöckiger Zementbau, der in vier Flügel unterteilt war, zwei im Erdgeschoss und zwei im ersten Stock, in den man über eine Außentreppe gelangte. Ich wurde dem Flügel B unten rechts zugeteilt. [...] Ich hatte ein Bett für mich allein, ein Schrankfach, in dem ich einige persönliche Gegenstände oder Lebensmittelvorräte unterbringen konnte. [...] Die verschiedenen, voneinander unabhängigen Flügel des Blocks waren in mehrere Teile aufgegliedert. Wenn man einen Flügel betrat, befand man sich in einer Diele, die zum Waschraum führte, in dem das Wasser von allen Seiten in zwei große Becken lief. In diesem Raum befanden sich auch Gemeinschaftstoiletten mit Einzelsitzen, eine Wand mit Pinkelbecken und Wannen zum Abspülen von Schüsseln und Schuhen. Vor der Tür waren auf dem Boden Fußabtreter aus Eisen zum Reinigen der Holzschuhe befestigt. Von der Diele aus ging es in den Gemeinschaftsraum, in dem sich Schränke mit Fächern, mehrere große Tische und Bänke befanden, an denen jeder seinen festen Platz hatte, obwohl wir uns nicht alle gleichzeitig setzen konnten. Meine Suppenschüssel und meine
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Brot- und Margarine-Ration waren die vierzehnte auf der rechten Seite des ersten 1
Tisches links vom Eingang.“ (Abb. 1 und 2)
Abb. 1 Eingangsbereich „Block 40“ Wer den Ort, der hier beschrieben wird, aufsucht, kann das längst verschwundene Gebäude „Block 40“ nicht mehr sehen. Stattdessen finden sich Bodenplatten-, Estrich- und Bodenbelagsreste; Beton-, Ziegel- und FliesenBruch, Sanitärkeramik-Teile, Kiesflächen und verbogene metallene Fußabtreter. Doch eine – im besten Falle vielleicht mit anderen gemeinsame – Lektüre vor Ort, zum Beispiel eben von Le Goupils Erzählung, kann den alten Zustand erfassbar machen, ohne den Ort in ihn zurückzuversetzen. Die Lektüre kann auf den konkreten Ort bezogen werden, und auf den Zusammenhang von Überresten und das Zeugnis eines Wissenden setzen. Die Dinge vor Ort können präzise mit den im Text benannten Räumen wie Vorraum, Waschraum, Toilette oder Gemeinschaftsraum verknüpft werden. Die noch vorhandene Substanz der verschiedenen Baumaterialien ermöglicht eine räumliche Erschließung dieser ehemaligen „Unterkunft“. Unbedingte Referenz ist der deformierte Ort. Es wird hochgradig imaginiert beim Schauen am „Schauplatz des Verschwindens“, den das Ruinenfeld
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Paul Le Goupil, Erinnerungen eines Normannen 1939-1945, Paris 1995, S. 188 f.
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der Gedenkstätte eben auch bedeutet. Es ist der Raum, in dem sich Menschen gegenwärtig bewegen, und immer zugleich ein anderer Raum, der sich entzieht, weil er vergangen ist und nur noch individuell, immer auch unterschiedlich, eigensinnig, imaginiert werden kann.
Abb. 2 Fußabtreter „Block 40“ Die Dinge vor Ort wirken in diesen Imaginationen, die bei allen Akten des Rezipierens, Deutens und Rekonstruierens von Vergangenem immer schon beteiligt sind. Zeitschichten und Raum überlagern sich in der Begegnung. Der historische Ort und der jeweils gegenwärtige Zustand werden aufgerufen und in eine Schwebe gebracht, durch einfaches Vorlesen, Zuhören, Schauen und Zeigen. Der Akt der Lektüre weist die Lesenden, Hörenden, Schauenden und Zeigenden als Akteure in einem konkreten Hier und Jetzt aus; eine spezifische Räumlichkeit entsteht in Überblendung von Orten, Räumen und Dingen – kurzum: Räumlichkeit ereignet sich. Im Folgenden werden einige zeitgeschichtlich archäologische Aspekte in Bezug auf die dinglichen Zeugnisse und die spezifische Räumlichkeit in Gedenkstätten thematisiert, und zwar vordergründig aus Perspektiven der Bildungsarbeit in der Gedenkstätte Buchenwald und vertretungsweise für ähnliche Arbeiten in anderen Gedenkstätten an Orten ehemaliger Konzent-
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rationslager. Es sei vorangestellt, dass der Grad an Vermittlung des Wissens um Buchenwald über Formen zeitgeschichtlicher Archäologie und die Partizipation von Besuchern an denkmalpflegerischen Arbeiten in Buchenwald ungewöhnlich hoch ist. Ein gemeinsames Lernen im Umgang mit den überkommenen Materialien vor Ort, die durch die Befragung und Auseinandersetzung mit ihnen zu Quellen und Denkmalen gemacht werden, ist zentral. Dies setzt voraus, dass Gedenkstätten an Orten ehemaliger Konzentrationslager eben auch als Lernorte, Museen und Denkmale verstanden werden, – ein Verständnis, das nach wie vor nicht unfraglich ist. Ideen und Praktiken zeitgeschichtlicher Archäologie in Gedenkstätten jedoch stärken genau solch ein Verständnis und folgen, wie andere authentifizierende (und damit oft vereinfachende Strategien) ebenso, einer Logik der Sichtbarmachung der dinglichen Substanz und der räumlichen Information über diese – entsprechend der für wesentlich befundenen Narrative. Archäologie generell arbeitet mit den materiellen Hinterlassenschaften des Vergangenen, die abgelagert in Schichten, in Straten, überdauert haben. Die archäologische Praxis setzt fragmentierte und verteilte Dinge in räumliche Beziehungen, die interpretiert und rekonstruiert werden können, wobei es hauptsächlich darum geht, historischen Wandel – Geschichtlichkeit – zu erkennen. Raum ist also eine wesentliche Kategorie und gleichzeitig Modus der Argumentation in der stratigraphischen Methode, die dem aus der Geologie importierten Paradigma des raumzeitlichen Verhältnisses von Schichten-Abfolge und Schichten-Inhalt nachkommt. Die archäologische Analyse beginnt konventionell mit dem Fundort. Dieses „Wo“ der Dinge löst den Impuls für die Deutungen aus und fordert Methoden der Verortung wie zum Beispiel der Kartierung ein, um Situierungen und Lage-Relationen erkennbar machen zu können. Mit archäologischen Methoden wird dabei auf immer mehr Raum zugegriffen, auch in Gedenkstätten. Wer die Vielfalt des Archäologie-Machens betrachtet, dem offenbart sich schnell, dass Archäologie eben Raum nicht nur als zu erkundenden Gegenstand impliziert, sondern als Disziplin selbst mit effektiven Methoden in Bezug auf ihre Erkenntnisinteressen eigenen Raum schafft. Archäologie verteilt, trennt, verbindet zum Beispiel im Raum und etabliert Positio-
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Eine Einsicht in das Bildungsangebot der Gedenkstätte Buchenwald bietet die Homepage der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora unter www.buchenwald.de.
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nen, von denen aus wahrgenommen und kommuniziert werden kann – bei Bildwerken, Skulpturen, Ruinen genauso wie bei kleinen Fundstücken. Um die Sichtbarkeit erhöhen zu können, muss Archäologie in welcher Form auch immer verräumlichen und gleichzeitig das Unsichtbare mitdenken, schließlich wird beim archäologischen Arbeiten Material unsichtbar gemacht und zerstört, wenn mittlerweile wohl auch begleitet und kontrolliert. Und mehr noch als dass Schichten beräumt werden müssen, um tiefer liegende erreichen zu können, kommen archäologische Zugriffe in der Regel erst im Nachhinein, erst dann zum Zuge, wenn das Vergangenheitsmaterial verfallen, manipuliert, abgeräumt oder zerstört worden ist. Umso mehr gilt es in diesem Verständnis von Archäologie als raumkonstituierender Kraft zu fragen, was diese archäologischen Praktiken eigentlich bedeuten und welche performativen Züge sie tragen, zum Beispiel, was sie in den jeweilig gebildeten „modernen“ Ruinen und ergrabenen Fundlagen semantisieren – gerade in Gedenkstätten an Orten ehemaliger Konzentrationslager. Mehr als um die einfache Bezeichnung eines jeweiligen „Hier“ – wofür Archäologie sicherlich hervorragend taugt – geht es jedoch bei zeitgeschichtlich-archäologischen Praktiken in Gedenkstätten darum, ortsspezifische Recherchemethoden, kollektive Aushandlungsprozesse, Materialkompetenzen, kommunikative Fähigkeiten und Visualisierungsstrategien zu entwickeln. In der Gedenkstätte Buchenwald sind durch solche Praktiken in den letzten Jahren einige optisch und haptisch präsente Orte geschaffen worden – auch in Reaktion auf die Rezeptionsgeschichte der Gedenkstätte voller Marginalisierungen, Umnutzungen, Verklärungen oder Instrumentalisierungen. In der Anstrengung, dem Vergangenen vor Ort näher zu kommen, wird das Gedenkstättengelände vielfältig gestaltet. Vegetation wird beschnitten, Bäume werden gefällt und angepflanzt, Rasen gepflegt, Plätze begrünt, um die historische Topographie erahnen lassen zu können. Flächen werden von Schutt und Erde befreit, andere dagegen nach ihrer Freilegung und Dokumentation mit dem Abrissschutt der Gebäude selbst aufgeschüttet, um an bereits tradierte Gestaltungsformen – wie markierende, mit Geotextil unterlegte Schlackefelder – anzuknüpfen. (Abb. 3) Wege zu wieder eingeholten Überresten werden angelegt, Ruinen gestützt oder restauriert, der Verlust an baulicher Substanz hinaus gezögert, Architekturteile rekonstruiert, Fundstücke restauriert, konserviert und in Sammlungen aufbewahrt; es wird immer qualifizierter dokumentiert, beschildert, kartographiert.
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Abb. 3 Bauschuttfeld „Baracke III / OP II“ Zu dieser die möglichen Bewegungen strukturierenden, gleichsam choreographischen Durcharbeitung des Raums treten bewusste künstlerische Formungen, aber auch Praktiken, die diese Regulierungen des Raums nicht reproduzieren, sondern vielmehr unterminieren und wiederum weitere, aktualisierende Gestaltungen nach sich ziehen. Innerhalb dieser fortwährend umfassenderen Gliederung und Durchdringung des Raums greifen zunehmend archäologisch-denkmalpflegerische Praktiken, bei denen immer wieder, am jeweiligen konkreten Beispiel vor Ort, neu darüber nachgedacht werden muss, wie es gelingen kann, die Dinge über die bloße Sichtbarkeit hinaus in ihrer Geschichtlichkeit kenntlich und erzählbar zu machen, ohne die Gedenkstätte zu einem archäologischen Park oder zu einem Garten geraten zu lassen. Geschichtsdidaktisch gewendet und etwas enggeführt bedeutet dies, dass die Fragen, nach welchen Erkenntnis- und Vermittlungsinteressen die Dinge vor Ort bewahrt, sorgfältig erschlossen und kommuniziert werden sollen, ständig neu und im besten Sinne immer wieder auch selbstlernend verhandelt werden müssen: Werden die Orte und Dinge als epistemische wahrgenommen und behandelt, geht es weniger um die Lager als bauliche Gesamtkomplexe und infolgedessen um Gedenkstätten als Felder prinzipieller Denkmalpflege, sondern mehr um die Lager als Schauplätze von und
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vielschichtige Beweise für Verbrechen, die in ihren Wirkungen auf Menschen als Erfahrungsräume von Menschen, als Orte und Dinge multiperspektivisch in Gedenkstätten dargestellt und didaktisch problematisiert einbezogen werden können. Diese Perspektiven und Umgangsformen meinen keine Fetischisierung der Orte und Dinge, sondern schlichte Heuristik; sie seien hier probeweise – und geschichtsdidaktisch zugespitzt – als DingPädagogik gefasst. Diese Pädagogik mit den Dingen vor Ort bezieht die kleinen Dinge, die Fundstücke, genauso ein wie die großen Relikte, die Ruinen. In der Gedenkstätte Buchenwald führten diese Erfahrungen in der Vermittlung des Wissens um Buchenwald zu weit über Führungen hinausreichenden Formaten und Methoden der Bildungsarbeit, wie den Tätigkeiten im Gelände der Gedenkstätte, in der Restaurierungswerkstatt oder mit dem so genannten „Fundstückkoffer“. Schautafeln mit den „Sieben Schritten der archäologischen Denkmalpflege in Buchenwald“ bezeichnen Tätigkeitsfelder wie Recherche, Freilegung / Ausgrabung, Geländegestaltung, Bergung / Aufbewahrung, Restaurierung, Inventarisierung und Präsentation. (Abb. 4)
Abb. 4 Schautafel in der Gedenkstätte Buchenwald
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Gruppen, die sich für mehrere Tage in der Gedenkstätte aufhalten, können an einen oder mehreren dieser Arbeitsschwerpunkte partizipieren: Das so genannte forschende Lernen bekommt hier eine außergewöhnliche Kontur. Grundmotiv und Anspruch ist, möglichst viele Menschen aus möglichst vielen Dingen möglichst viele „Denkmale“ machen zu lassen, indem man die kleinen und großen Dinge der Lager in die Wahrnehmung rückt und über sie kommuniziert, also mit den Dingen und durch sie eine offene, menschenzugewandte Gesprächskultur in Aufklärung über die nationalsozialistische Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik schafft – jenseits von wohlfeilen Geschichtsbildern, aber auch jenseits von Selbstquälerei und sozial erwünschtem Sprechen. Eine Art fortlaufender Lehrgrabung, leider gestört von Raubgrabungen, entstand zum Beispiel an der so genannten Halde II, einer Müllhalde im nördlichen Bereich der Gedenkstätte. Dort fand eine Bochumer Schülerin im Sommer 2010 einen besonderen Gegenstand. Inmitten hunderter anderer Dinge barg sie einen neuneinhalb Zentimeter hohen, obeliskförmigen Stein aus so genanntem Ruinen- oder Landschaftsmarmor, der unter einem Palmwedel den Schriftzug „Im Gedenken an meine Brüder: Lojze, gestorben 12. Februar 1943 in Renicci und Lovrenc, gestorben 11. Mai 1942 in Livold“ in slowenischer Sprache trägt und mit dem Kürzel „S.B.“ gezeichnet ist. Infolge der Recherchen im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald konnte Bernard Smrtnik als Unterzeichnender ermittelt werden. Er war im Alter von neunzehn Jahren mit fünfhundert anderen Gefangenen, darunter drei männliche Mitglieder seiner Familie, am 22. Oktober 1943 als „Politischer Jugoslawe“ aus Flossenbürg nach Buchenwald deportiert worden. Im Totengedenken an seine beiden Brüder, der eine gestorben noch im Heimatland, der andere im Lager Renicci in Italien, hatte der seit September 1942 inhaftierte Bernard Smrtnik diesen handgefertigten, mobilen Grabstein herstellen und bis nach Buchenwald bringen können. (Abb. 5) Nur selten gelingt es, eine solch klare biographische Geschichte an die gefundenen Dinge zu binden. Die meisten der Fundstücke bleiben anonymer und werden nicht in einem solchen Maß zu Dingen von Belang. Einige Dinge werden kaum wahrgenommen oder mit dem Geschehen vor Ort in Verbindung gebracht, andere rufen als übermäßig emotionalisierte Spuren billige, gar trügerische Vorstellungen hervor. Besonders den Ruinen hinzugefügte Dinge wiederum können die überlieferte essenzielle Substanz marginalisieren, die Aufmerksamkeit behindern und Einsichten in das vor Ort
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Abb. 5 Erinnerungszeichen, Fundstück an „Halde II“
Geschehene erschweren. In Gedenkstätten lassen sich mittlerweile viele Beispiele gestalteter Dinge und Orte finden, bei denen der ästhetische Eindruck die Imagination der sie Besuchenden oft eher vom Schauplatz entkoppelt als an ihn anschließt. Generell gilt, dass die überkommenen wie die hinzugefügten Dinge sich zwar visuell präsentieren, Geschichte an ihnen trotz all deren Anschaulichkeit jedoch nicht gesehen werden kann, Geschichtlichkeit hingegen schon. Anders formuliert: Die Substanz der Überreste wie der Rekonstruktionen ist zuvorderst nur selbstevident, weshalb vieles hinzukommen muss. Das Hinzukommende hängt von den Interessen, den Ansprüchen und Möglichkeiten der Akteure vor Ort ab. Was eben auch hinzukommt bei Dingen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen lange Zeit nicht sichtbar, vernachlässigt oder getilgt waren und erst durch Formen zeitgeschichtlicher Archäologie wieder hervorgeholt wurden, ist die Suche selbst, die Arbeit mit dem Gefundenen, die Bewertung des Hervorgeholten und der Umgang mit ihm – resultieren doch bereits aus der schlichten Tatsache, dass die Dinge aus dem Boden stammen, ganz spezifische Geschichten. Mit Blick auf Gedenkstätten als Denkmale gehören demzufolge vielleicht genau solche Denkmalseigenschaften bestärkt, die auf Fragmentierung, gar Beschädigung, zumindest aber auf Zeitlichkeit, Verfall und Wandel orientieren. Auch das qualifiziert Gedenkstätten als Orte selbstreflexiven Lernens, weil sie stetig Differenzen setzen und ausgiebige Auseinandersetzungen fordern und fördern.
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„Aber das KZ als Ort? Ortschaft, Landschaft, landscape, seascape – das Wort Zeitschaft sollte es geben, um zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher. [...] Es ist unsinnig, die Lager räumlich so darstellen zu wollen, wie sie damals waren. Aber fast so unsinnig ist es, sie mit Worten beschreiben zu wollen, als liege nichts zwischen uns und der Zeit, als es sie noch 3
gab.“
„Zeitschaften“ – mit dieser Chiffre will die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth Klüger – auch aus einem Misstrauen gegenüber „KZ4 Gedenkstätten, diesen Antimuseen“ – zum einen die Unmöglichkeit signalisieren, sich durch das Aufsuchen einer Gedenkstätte in die Zeit des Lagers zurück versetzen zu können, zum anderen will sie die Schwierigkeiten der narrativen und räumlichen Vermittlung der nationalsozialistischen Verbrechen verdeutlichen. Klüger geht es in ihrem textlichen Zeugnis um die Abgründe, die zwischen den Zeiten liegen; zwischen den Erinnerungen der Überlebenden und den vermittelten Eindrücken derer, die keine Lagererfahrungen machen mussten; zwischen leiblicher und psychischer Erfahrung und dem im Nachhinein erworbenen Wissen über die vergangenen Geschehnisse: Das Leiden eignet denen, die es erlebt haben, es ist nicht für Nachinszenierungen verfügbar. Die Lager lassen sich als Orte nicht in einem „Jetzt“ vergegenwärtigen – wer sollte das auch wollen? –, sondern nur als Orte aus einer vergangenen Zeit. Die meisten Menschen, die einen solchen Ort aufsuchen, werden sich spätestens vor Ort darüber bewusst, dass sie sich nicht in einem Lager be5 wegen. Eine archäologische Sichtweise einzunehmen, mag dabei von Nützen sein. Der Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman be3
Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, München 1994, S. 78.
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Ebenda, S. 258. Jahre später formuliert Klüger, etwas weniger skeptisch gegenüber Gedenkstätten, diese Kluft so: „Die Stätten sind dieselben, sie sind anders in jeder Phase. Und das KZ als Gedenkstätte ist nicht mehr das KZ, in dem Menschen ermordet wurden. Man kann das eine nicht mit dem anderen gleichsetzen. Um das richtig zu machen, braucht es ein bisschen Verstand und Vernunft und Sympathie und Phantasie.“ (Ruth Klüger, zitiert nach: Jan-Hendrik Wulf, „Manchmal schiere Wut“, Ein Gespräch mit Ruth Klüger, in: die tageszeitung vom 27. April 2005, S. 14.)
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Kaum ein Kommentar der Besucher ist öfter zu hören als: „Hier hat sich aber viel verändert.“
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nennt es so: „Die Dinge aus archäologischer Sicht betrachten heißt vergleichen, was wir gegenwärtig sehen, was übrig geblieben ist, mit dem, was, 6 wie wir wissen, verschwunden ist.“ Entgegen der Rede von den „authentischen Orten“ sind Gedenkstätten zu erkennen als gegenwärtige, transformierte, eben historische Orte mit all ihren Schichten, Deutungen und Abwandlungen – Orte, die immer wieder performativ zu Räumen geworden sind und weiterhin werden können. (Abb. 6) Und gerade die Dinge vor Ort, die mehr oder weniger aufbereiteten baulichen Überreste und Funde, „die zwar als ‚Zeichen von etwas Vergangenem’ gelten, tatsächlich aber [...] erst in diesen Status versetzt worden 7 sind“ , verhelfen zu vermittelnden Narrativen. Sie inspirieren, fungieren als
Abb. 6 Barackenfeld (im Hintergrund „Lagertor“)
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Georges Didi-Huberman, Borken, Konstanz 2012, S. 47. In seinem Bericht über einen Besuch in Auschwitz-Birkenau im Juni 2011, einer Art persönlicher Archäologie, heißt es angesichts der transformierten Orte: „Auch der Boden lügt nicht. Auschwitz ist heute auf dem Weg zum Museum, Birkenau kaum mehr als ein archäologischer Fundort.“ (Ebenda, S. 29.)
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Insa Eschebach/Andreas Ehresmann, „Zeitschaften“. Zum Umgang mit baulichen Relikten ehemaliger Konzentrationslager, in: Petra Frank/Stefan Hördler (Hg.), Der Nationalsozialismus im Spiegel des öffentlichen Gedächtnisses. Formen der Aufarbeitung und des Gedenkens, Berlin 2005, S. 114.
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beglaubigende Dinge, gestatten Anknüpfungen an das Vergangene und ermöglichen es, Orte in ihren Beziehungen zu ergründen. So gehört denn auch, zusammen mit der „Zeitschaft Buchenwald“, Weimar ähnlich eingeholt, wie das Ruth Klüger mit ihrer bis „ins Mark hinein judenkinderfeind8 lichen“ Geburtsstadt Wien macht und im Zuge dessen die erlittenen, zunehmend restriktiveren Lebensbedingungen im nationalsozialistischen Wien als ihre früheste „Zeitschaft“ anführt. Für Klüger, die seit September 1942 Gefangene in verschiedenen Konzentrationslagern war, ist Auschwitz eben nur ein wesentliches Ereignis in ihrem Leben: „Das war ein einschlägiges Erlebnis, wenn Sie wollen, aber weiß Gott nicht das ein9 zige.“ Eine archäologische Sichtweise hat in diesem Sinne nicht nur einen analytisch-deskriptiven, sondern auch einen normativen Gehalt. Es geht dabei nicht mehr um die heikle Beschwörung der „Aura eines authentischen Ortes“, sondern um ein Bewusstwerden über die Art, wie und warum Menschen und Dinge Orte und Räume performativ bilden, welche Bezüge und Relationen sie dabei herstellen und in welche Beziehungen sie nicht nur zu Vergangenem, sondern auch zu Gegenwärtigem treten wollen. Mit diesem Bewusstsein können Gedenkstätten auf produktive Art und als Möglichkeitsräume wahrgenommen werden, als Räume, die „Erinnerungsmomen10 te“ , also vielschichtige Erlebnisse als Lernereignisse ermöglichen. Es macht das Zustandekommen von Kommunikation wahrscheinlicher und vermag Dynamiken in Gang zu setzen, welche die oft arg dichotomen Schemata zwischen Vergangenheit und Gegenwart und vorschnellen Gedächtniskonstruktionen zumindest irritieren können. Zum Beispiel lässt die häufige Rede davon, dass die baulichen Zeugnisse an die Stelle der Zeugnisse der Überlebenden treten würden, vergessen, dass beide schon immer einander bedingten. So wurden nicht nur in (Gedenkstätten-) Museen die Berichte der Zeitzeugen zur Authentifizierung
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Ruth Klüger, wie Anm. 3, S. 68.
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Ruth Klüger zitiert nach Klaus Naumann, „Ich komm nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien“, Gespräch mit Ruth Klüger, in: Mittelweg 36/2 (1993), S. 39.
10 Vgl. Gabi Dolff-Bonekämper, Memorable moments – chosen cultural affiliations, in: Muriel Blaive et al. (Hg.), Clashes in European memory. The case of communist repression and the holocaust, Innsbruck 2011, S. 143-153.
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und Emotionalisierung von banalen und gleichzeitig alles andere als bana11 len Dingen – dem „erbärmlichen Reichtum“ – genutzt wie umgekehrt die dinglichen Zeugnisse die Erzählungen der ehemaligen Häftlinge belegten. Nichts ersetzt da das andere, vielmehr stützt sich beides – wie im Falle des spurenhaften Fußabtreters und Paul Le Goupils präziser Beschreibung – und weist sich einander neue Plätze zu. Und beides richtet sich als Zeugnis wiederum an andere, beanspruchen Zeugnisse als solche doch stets Wahrnehmung und Handlung. Zeugnisse entfalten sich im wahrnehmenden Gegenüber und können durch Vorstellungskraft und Wissen bei anderen zu einer Art stellvertretender Zeugenschaft führen. Vergangenes Geschehen wird erzählbarer, obgleich Unausgesprochenes oder Beschwiegenes, Verfallenes oder Zerstörtes in den Zeugnissen, also Abwesenheiten immer als Teil der Zeugnisse verstanden und reflektiert gehören. Der Entstehung der Dinge, ihrer Überlieferung, ihrer Sperrigkeit und Widerständigkeit, ihrer Beschädigung sowie erneuten Wahrnehmung – oder allgemeiner –, den potenten Mensch-Ding-Konstellationen näher zu kommen, beanspruchen auch die soziologischen Konzepte verteilter Handlungsmacht und der damit verbundenen Neubestimmung des Sozialen in 12 der Sozialphilosophie zum Beispiel Bruno Latours. Nach ihnen wohnt Handlungspotential den menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren nicht statisch inne, vielmehr werden seine Eigenschaften erst durch ihre netzwerkartigen Interaktionen, durch Verkettungsprozesse, definiert. Menschliche und nichtmenschliche Akteure, eben auch Dinge, arrangieren sich stetig neu, womit immer zugleich Verschiebungen ihrer Potentiale einhergehen. Die Vertreterinnen und Vertreter solch erkenntnistheoretischer Perspektiven zielen auf eine Erneuerung empiristischer Formen des Wissens, ohne dabei Vorstellungen vom Sozialen nur platt auf Dinge auszudehnen. Zweifellos können derartige Ideen die Ressourcen der Dinge stärken und dekonstruierende Narrative öffnen, ohne andere gleich zu denunzieren.
11 Jean-François Forges/Pierre-Jerôme Biscarat, Guide historique d’Auschwitz et les traces juives de Cracovie, Paris 2011, S. 182. 12 Vgl. Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt 2007.
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Abschließend noch einmal Paul Le Goupil, seines Zeichens Lehrer, über den „Block 40“ in Buchenwald: „Auf unseren Platz auf der Bank legten wir am Abend vor dem Zubettgehen unsere Kleidung. [...] Von diesem Raum, in dem man kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte, so eng standen die Tische und Bänke zusammen, kam man in den Schlafraum, in dem Reihen dreistöckiger Pritschen standen; in jedem Bett schlief nur eine Person. Mein Bett war ganz hinten rechts, im zweiten Stock. Der Stubendienst achtete darauf, dass die Decke gut gespannt war und nichts auf den Betten herumlag. Die Betten standen so eng zusammen, dass ich mich seitlich zwischen sie quetschen musste, um mühsam die zweite Etage zu erreichen. Später, in schwierigen Zeiten, teilten sich zwei Häftlinge ein Bett: ein Arbeiter der Tagschicht und einer der Nachtschicht wechselten sich ab. Die Organisation, Sauberkeit und Disziplin waren für mich eine erholsame Veränderung zu den verrotteten Kojen, in denen ich bisher gehockt hatte.“
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Le Goupil war im Oktober 1943 als Mitglied der Résistance verhaftet und über Compiègne nach Auschwitz deportiert worden; im Mai 1944 wurde er von dort nach Buchenwald, in „Block 57“ des Kleinen Lagers, verlegt. Paul Le Goupil hatte also vor „Block 40“ schon mindestens drei völlig andersartige „Unterkünfte“ in Lagern kennen lernen müssen.
13 Paul Le Goupil, wie Anm. 1, S. 189 f.
Nationalsozialismus ausstellen: Zum Umgang mit NS-Objekten im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände M ARTINA C HRISTMEIER UND P ASCAL M ETZGER
Ausstellungskonzeption und -praxis Von 1933 bis 1938 hielten die Nationalsozialisten auf einem ca. 11 km² großen Areal im Südosten Nürnbergs ihre Reichsparteitage ab. Für diese jeweils einwöchigen Propagandaveranstaltungen, zu denen jedes Jahr bis zu eine Million Menschen nach Nürnberg kamen, wurden unter der Gesamtleitung von Albert Speer Bauten errichtet, die einzig und allein den Sinn hatten, als Kulissen für die Aufmärsche und Masseninszenierungen der Nationalsozialisten zu dienen. Fertig gestellt wurden bis 1945 lediglich die Luitpold-Arena und das Zeppelinfeld mit Tribüne. Unvollendet blieben die Kongresshalle, das Märzfeld, das Deutsche Stadion und die Große Straße. Als aufwändige Selbstdarstellungen des Regimes waren die Reichsparteitage der Höhepunkt des nationalsozialistischen Feierjahres. In Nürnberg galt es, die sogenannte Volksgemeinschaft auf gemeinsame Ziele einzuschwö1 ren und Adolf Hitler per Akklamation symbolisch als Führer zu bestätigen.
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Zur Baugeschichte des Geländes und den Veranstaltungen der Reichsparteitage vgl. u. a. Siegfried Zelnhefer, Die Reichsparteitage der NSDAP. Geschichte, Struktur und Bedeutung der größten Propagandafeste im nationalsozialistischen Feierjahr, Nürnberg 2002.; Alexander Schmidt, Geländebegehung. Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, Nürnberg 2002 (komplett überarbeitete Neuauf-
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Abb. 1 Luftaufnahme der Kongresshalle mit Dokumentationszentrum Im Jahr 2001 wurde das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in der unvollendet gebliebenen Kongresshalle eröffnet. Das Dokumentationszentrum versteht sich nicht als Gedenkstätte, sondern als ein Mosaikstein in der deutschen Erinnerungslandschaft. Die Inhalte der Dauerausstellung „Faszination und Gewalt“ konzentrieren sich vor allem auf die NSGeschichte Nürnbergs, insbesondere die Darstellung und Erklärung der Reichsparteitage und ihrer Bauten. Dieses Kapitel ist eingepasst in die Dar2 stellung zur Gesamtgeschichte des „Dritten Reiches“. Der historische Ort Reichsparteitagsgelände und der Ausstellungsort Kongresshalle sind von entscheidender Bedeutung für die Konzeption und Gestaltung der Ausstellung gewesen. Wichtigstes Exponat der Ausstellung ist die Kongresshalle selbst. Der nördliche Kopfbau der Kongresshalle als Standort des Dokumentationszentrums wird durch moderne Einbauten erschlossen. So legt ein 130 m langer gläserner Gang, dessen Beginn als signifikantes Architekturzeichen den Eingang markiert, den Kopfbau der lage).; Eckart Dietzfelbinger, Gerhard Liedtke, Nürnberg – Ort der Massen. Das Reichsparteitagsgelände, Vorgeschichte und schwieriges Erbe, Nürnberg 2004. 2
Vgl. Martina Christmeier, Besucher am authentischen Ort. Eine empirische Studie im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, Idstein 2009, S. 88-99.
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Kongresshalle wie mit einem chirurgischen Schnitt frei. Damit wird zum einen die rechtwinklige, auf Achsensymmetrie angelegte Architektur der Nationalsozialisten gebrochen, zum anderen erhält der Besucher beim Durchlaufen des Pfahls auch Einblicke in Räumlichkeiten der Kongresshalle, die nicht direkt zum Museumsbereich gehören. Die Kongresshalle mit 3 ihrer spezifischen NS-Architektur wird zum begehbaren Exponat. Auch die Gestaltung der Dauerausstellung im Dokumentationszentrum nutzt das Exponat Kongresshalle. Architektur und Ausstellungsgestaltung gehen ineinander über, verflechten und ergänzen sich. Die Räume der Kongresshalle wirken, in ihrer Mischung aus Gigantomanie und rudimentärer Unfertigkeit, stark auf die Besucher, entwickeln ihre eigene Atmosphäre. Das durchführende Ausstellungsbüro nahm Impulse der alten und neuen Architektur auf und vertiefte sie im Sinne der inhaltlichen Erzählung. Bei der Darstellung der Geschichte des Reichsparteitagsgeländes hatten sich die Ausstellungsmacher in ihrer Konzeption auf eine narrative Ebene festgelegt. Das Dokumentationszentrum präsentiert vorwiegend sekundäre, d. h. reproduzierte Materialien wie Fotos, Filme, Tonträger oder schriftliche Unterlagen. Auf dreidimensionale Objekte, die das traditionelle Museum charakterisieren, hat man eher verzichtet, nicht zuletzt mangels einer geeigneten Sammlung. Wissenschaftlicher Beirat und Ausstellungsmacher waren sich einig, dass eben die wichtigsten Exponate auf dem Gelände selbst zu finden wären. Bei anderen möglichen Exponaten wie Fahnen, Uniformen oder „NS-Devotionalien“, die es in Nürnberg zuhauf gegeben hatte, stellten sich die Ausstellungsmacher immer wieder die Frage nach dem Erkenntniswert. Was sagt eine einzelne Standarte aus, was eine Waffe? Diese Objekte müssten in einen erläuternden Kontext gestellt werden, der von vielen Besuchern, unter anderen den jüngeren, gegebenenfalls nicht mehr wahrge4 nommen würde. Derartige Originalexponate führten, so die Befürchtung Ende der 1990er Jahre, „an diesem Ort zu einer Massierung der Wirkung beider Komponenten – Originalschauplatz und Devotionalien – was durch eine nüchterne Darstellung der Wirkungsgeschichte nicht mehr auszuglei5 chen wäre“. (Abb. 2)
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Vgl. ebd. S. 100-105.
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Ebd.
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museen der stadt nürnberg, Spezifikation für eine neue Dauerausstellung „Faszination und Gewalt“, Juni 1999, S. 8.
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Abb. 2 Ausstellungsraum „Die Reichsparteitage als Ritual“ Nur an wenigen Stellen in der Ausstellung hat man sich dann doch entschlossen, Objekte zu präsentieren. Dabei wurde versucht, den Objekten aus der NS-Zeit nicht die Aura zu verleihen, der Musealien eigentlich immer ausgesetzt sind, wenn man sie angestrahlt hinter Glas stellt. Zwei Beispiele dazu finden sich im Ausstellungsraum mit dem Thema „Führermythos“. Hier befindet sich eine Vitrine mit diversen Hitler-Bildnissen – als Gobelin, Butzenscheibenfenster, Holzeinlegearbeit, Glasschale, Bildband, Wandbild und dergleichen. Gezeigt werden sollte einerseits die ikonographische Präsenz Hitlers im Alltag. Zum anderen verdeutlichen sie, dass sein Bild mit nicht unerheblichem Gewinn bis aufs Letzte vermarktet wurde. Bewusst wurde die Vitrine übervoll gestaltet und kein einzelnes Stück besonders hervorgehoben. Vielmehr überlappen sich die einzelnen Objekte, um so einen Eindruck der Beliebigkeit und Auswechselbarkeit der Art der Bildträger zu demonstrieren. Ähnlich verhält es sich mit einer ausgestellten Hitlerbüste. Sie wird absichtlich nicht hinter Glas präsentiert, um keine Aura des Geheimnisvollen und Unnahbaren entstehen zu lassen. Im Prinzip kann sie von jedem Besucher angefasst werden. Gleich hinter der Büste ist ein großformatiges Foto zu sehen, das Arbeiterinnen zeigt, die eben solche Hitlerbüsten in großer Anzahl produzieren. Durch diese Zusammenstellung von Objekt und Bild
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wird die Büste an sich konterkariert, wird von einem einzelnen besonderen Ausstellungsstück zu einem Beispiel für Massenware. (Abb. 3)
Abb. 3 Hitlerbüste im Ausstellungsraum „Führer-Mythos“ Weitere Exponate in der Ausstellung finden sich beispielsweise in Form von Elastolin-Figuren in SA-Uniform. In einer Bodenvitrine im Sand als Kolonne aufgestellt, marschieren sie symbolisch aus dem Raum mit den Erläuterungen zu den Anfängen der NSDAP in den 1920er Jahren in Richtung des Raumes, der die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 erläutert. Sie sind ein Bild dafür, dass nun aus Sandkastenspielen tatsächlich Ernst wurde. Zudem werden selbstverständlich die Souvenirs und „Merchandisingprodukte“ zur Finanzierung der Reichsparteitage gezeigt: von der Postkarte über Bierkrug und Plaketten bis hin zu Leporellos mit Bildern der Bauten auf dem Gelände. Auch sie sind so präsentiert, dass vor allem der Massencharakter dieser Produkte und der dahinter steckende wirtschaftliche As6 pekt sichtbar werden.
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Katalog zur Dauerausstellung vgl. Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände (Hg.), Faszination und Gewalt. Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg, Nürnberg 2006.
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Die ausgestellten Objekte hat das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände vor seiner Eröffnung in erster Linie über öffentliche Aufrufe erhalten. Noch heute erhält das Zentrum jede Woche Sachspenden von Leuten, die meist beim Entrümpeln von Häusern verstorbener Verwandter auf Dinge gestoßen sind, die sie dort vielleicht nicht erwartet hatten und die sie durch die oft unerwartete Präsenz einer ebenso persönlichen, wie ungeliebten Vergangenheit nicht selten vor den Kopf stoßen: Fotos, Orden und Plaketten, Dokumente, Bücher, aber auch Porzellan deutlicher Herkunft und ähnliches. Selbst ein Stopfpilz mit intarsiertem Hakenkreuz kam dabei zum Vorschein. Viele Menschen möchten diese Dinge nicht in den Abfall werfen, jedoch, um Missbrauch zu vermeiden, auch nicht auf dem braunen Markt verkaufen. Sie möchten die Sachen in der Regel in guten Händen wissen und geben sie daher im Dokumentationszentrum ab. Seit der Eröffnung ist der Sammlungsbestand an diversen Überbleibseln der Zeit 1933 bis 1945 durch Spenden kontinuierlich gewachsen. Befürchtungen, Besucher könnten in der Ausstellung der Faszination des Ortes und der Thematik erliegen, haben sich dagegen nicht bestätigt. Aus diesem Grund greift das Dokumentationszentrum nun für Sonderausstellungen vermehrt auf Objekte aus dem eigenen Bestand zurück. Dazu einige Beispiele: Aus einem Nachlass hatten die städtischen Museen Relikte einer Jugend erhalten, die 1943 beim Einsatz als Flakhelfer ihr plötzliches Ende fand: kurze schwarze Hose, braunes Hemd mit Sieg-Rune und schwarzes Schiffchen; Fotos aus Kindheit und Schulzeit, Schreibhefte, Zeichnungen und schließlich Dokumente wie Mitgliedsausweis der Hitlerjugend, Durchschläge von Befehlen, einige Briefe und Postkarten an Freunde, dann Todesanzeigen und die Trauerrede eines Schulleiters. Diese Fragmente zogen sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung „Verführt. Verleitet. Verheizt. Das kurze Leben des Nürnberger Hitlerjungen Paul B.“ im Jahre 2004. Präsentiert wurden die Objekte so, wie sie über Jahrzehnte in liebevoller Erinnerung aufbewahrt wurden: zusammengefaltet in einem Karton, in einer Kiste. Die Präsentation erfolgte ohne Pathos. Die Objekte sprachen durch ihren explizit biographischen Bezug nicht nur jüngere Besucher sehr emotional an. Durch den gegebenen Zusammenhang, dem eines
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verschenkten jungen Lebens, verloren sie auch jene suggestive Wirkung, 7 die Uniformen im Museum oftmals haben. (Abb. 4)
Abb. 4 Truhe mit dem Nachlass Paul B.s Im Jahr 2012 zeigte das Dokumentationszentrum unter dem Titel „Notre Combat – Unser Kampf“ das Projekt einer französischen Künstlerin, die über sechshundert Menschen aus siebzehn Ländern Seiten einer französischen Ausgabe von Hitlers Buch „Mein Kampf“ künstlerisch bearbeiten ließ. Der Kunstausstellung vorgeschaltet war eine kurze wissenschaftliche Erläuterung zur Entstehungsgeschichte, zu Inhalten und Hintergründen und zur Rezeption dieses Buches. Im Team wurde kontrovers diskutiert, ob man es wagen könne, eine Originalausgabe von „Mein Kampf“ als Leseexemplar in der Ausstellung zu präsentieren. Einerseits schien es methodisch sinnvoll, sich dem Besucher ein eigenes Bild von den Ausführungen des Autors machen zu lassen – auch um dem Mythos des angeblich verbotenen Buches zu brechen. Andererseits war nicht abzusehen, inwiefern das 7
Vgl. Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände (Hg.), Verführt. Verleitet. Verheizt. Das kurze Leben des Nürnberger Hitlerjungen Paul B., Nürnberg 2004 (Mappe zur Ausstellung).
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ausgelegte Original-Exemplar von den Besuchern kommentiert, beschädigt oder anderweitig gegen die ursprüngliche Intention genutzt werden würde. Das Buch wurde schließlich ausgelegt und ihm ist nichts passiert. Die meisten Besucher sagten, sie hätten das Buch zum ersten Mal in Händen gehalten und das Blättern und Lesen darin bedeutete für sie einen zusätzlichen 8 Erkenntnisgewinn zu den anderen Inhalten der Ausstellung. In der 2012/13 gezeigten Ausstellung „Entrechtet. Entwürdigt. Beraubt. ‚Arisierung’ in Nürnberg und Fürth“ haben es die Ausstellungsmacher gewagt, neben einer Schreibmaschine, die mit einer eigenen SS-Funktionstaste die Verstrickung der Bürokraten in die Praxis der „Arisierung“ symbolisierte, eine Bronze-Büste des fränkischen Gauleiters Julius Streicher auszustellen. Streicher war bei den „Arisierungen“ in Nürnberg und Fürth eine zentrale Figur. Dabei bereicherte er sich derart, dass er seine Fürsprecher verlor und in Ungnade fiel. Der Bronzekopf gelangte aus dem Nachlass der Witwe des Künstlers in das Dokumentationszentrum. Die Büste war eine von dreien, die an exponierter Stelle Streichers Macht in Nürnberg symbolisieren sollten, jedoch aufgrund seiner Verfehlungen niemals zur Aufstellung kamen. In der Ausstellung wurde die Büste in einer Kiste liegend, noch halb in Zeitungspapier eingewickelt, präsentiert. In dieser Inszenierung kam die ganze Geschichte von Streichers Aufstieg und Fall bildlich zum Ausdruck. Eine Glorifizierung Streichers wurde mit diesem Arrangement eindrücklich konterkariert. Die Sonderausstellung „WortGewalt. Vom rechten Lesestoff“ aus dem Jahr 2013 war wohl die bisher exponatorientierteste Ausstellung des Dokumentationszentrums. Ursprung zur Idee der Ausstellung waren zwei Gedankengänge: Zum einen wollte das Dokumentationszentrum zum anstehenden Jahrestag der Bücherverbrennung keine Ausstellung zeigen, die sich wie zahlreiche Ausstellungen der Jahrzehnte zuvor ausschließlich den Autoren und Inhalten der verbrannten Bücher widmete – dies schien zu vorhersehbar. Zum anderen verfügt das Dokumentationszentrum inzwischen über eine stattliche Sammlung von über 2.000 Büchern, die der Zeit des Nationalsozialismus zuzuordnen sind. Die Ausstellung zeigte nun, was
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Zur Ausstellung vgl. Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände (Hg.), Notre Combat – Unser Kampf. Ein Kunstprojekt von Linda Elia zu Mein Kampf, Nürnberg 2012.
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die Deutschen anstelle der verbrannten Bücher lasen bzw. lesen sollten, was sie interessierte und was ihr Denken formte. In handelsüblichen Bücherregalen, schlicht präsentiert, eines jeglichen Mythos beraubt, waren Bücher zu sehen, wie Hitlers „Mein Kampf“, Rosenbergs „Mythus des XX. Jahrhunderts“ oder Goebbels „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“. Die Veröffentlichungen von Heinrich Hoffmann mit Hitler auf der Titelseite fanden ebenso Platz wie das antisemitische Kinderbuch „Trau keinem Fuchs auf grüner Heid‘….“, Günthers „Kleine Rassenkunde“, Zöberleins „Glaube an Deutschland“ oder auch Schenzingers „Hitlerjunge Quex“. Auf den Regalen selbst standen Aufsteller mit exemplarischen, sich selbst entlarvenden Passagen ausgewählter Bücher. Einige der ausgestellten Titel waren für die Besucher sicher überraschend und nicht klar der nationalsozialistischen Ideologie zuzuordnen: beispielsweise Spoerls „Feuerzangenbowle“ oder Steinbecks „Früchte des Zorns“. Die Besucher waren zunächst irritiert, konnten sich mit Hilfe der Kommentare aber die Zusammenhänge erschließen. (Abb. 5) Auf einem Podest in der Mitte des Raums luden Kissen zum Hinsetzen und Blättern oder Lesen in ausgewählten Büchern ein. Bewusst wurden, neben den bekannten ideologischen Texten, auch unbekanntere Romane ausgewählt, um aufzuzeigen, auf welch subtilen Wegen nationalsozialistische Ideen in der Literatur transportiert wurden. Der mündige Besucher sollte sich beim Lesen selbst einen Einblick verschaffen. Die ausgelegten Bücher wurden auf größere Holzplatten montiert. Darauf befand sich eine kleine Objektbeschreibung. Auf diese Weise wurde vermieden, dass die Bücher aus der Ausstellung entfernt wurden, zudem erhielten auch die „Leseexemplare“ Exponatscharakter. Das Holzbrett schuf die nötige Distanz zwischen Leser und Buch. Die Besucher, auch die Schüler, nutzten dieses 9 Angebot rege.
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Zur Ausstellung vgl. Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände (Hg.), WortGewalt: Vom rechten Lesestoff. Bücher aus der Sammlung des Dokumentationszentrums, Nürnberg 2013 sowie Christine Sauer (Hg.), „Für den deutschen – wider den undeutschen Geist“. Von verbotener und regimekonformer Literatur im ‚Dritten Reich‘, Nürnberg 2013.
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Abb. 5 Sonderausstellung „WortGewalt“ Im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände sind weder in der Dauer- noch in den Sonderausstellungen Fahnen, Uniformen oder Waffen im herkömmlichen Sinne zu sehen – was laut einer Umfrage vor allem von
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jugendlichen Besuchern bedauert wird. Wie die genannten Beispiele gezeigt haben, bietet die Auswahl anderer Exponate und eine für den Besucher eher unerwartete Präsentationsform weit über den Schauer- und Gruseleffekt hinausgehende Möglichkeiten. Besucher sollen ein Verständnis 11 für die Geschichte entwickeln und zu eigenen Erkenntnissen gelangen. Das Dokumentationszentrum stellt seine Objekte nicht zum Selbstzweck aus. Es geht um mehr: Um Kultur- und Alltagsgeschichte zu zeigen, um Fragen zu beantworten, die diese Dinge beim Betrachter hervorrufen, um den Umgang mit diesen Dingen heute zu thematisieren – und um Mythenbildung vorzubeugen, die immer dann entsteht, wenn Dinge unter Verschluss gehalten werden.
Pädagogische Bildungsarbeit Das Reichsparteitagsgelände ist für die Stadt Nürnberg ein bedeutender touristischer Faktor. Ein kurzer Blick in einen beliebigen Reiseführer genügt, um zu erfahren, was man in Nürnberg unbedingt gesehen haben muss: die Kaiserburg, das Wohnhaus von Albrecht Dürer, den Schönen Brunnen, vieles weitere und natürlich das Reichsparteitagsgelände. Etwa 200.000 Besucher verzeichnet das Dokumentationszentrum in jedem Jahr, weit mehr Menschen aus aller Welt betrachten die öffentlich zugänglichen Bauruinen, wie zum Beispiel das Zeppelinfeld, ohne die Dokumentation zu besuchen und von der Statistik erfasst zu werden. (Abb. 6)
10 Vgl. Christmeier 2009, S. 225ff. 11 Vgl. zur Möglichkeit neuer Präsentationsformen Martina Christmeier, Strategien für den Wandel: Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg – Ein Praxisbeispiel, in: Charlotte Bühl-Gramer/Wolfgang Hasberg/Susanne Popp (Hg.), Antike – Bilder – Welt. Forschungserträge internationaler Vernetzung. Elisabeth Erdmann zum 70. Geburtstag, Schwalbach/Ts. 2013, S. 47-59, hier S. 52-56.
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Abb. 6 „Tag der Gemeinschaft“ auf dem Zeppelinfeld 1938 Das Dokumentationszentrum führt pädagogische Programme nicht in Eigenregie durch, diese Aufgabe übernehmen Kooperationspartner, darunter Geschichte Für Alle e. V. – Institut für Regionalgeschichte. Im Jahr 1985 von Geschichtsstudenten gegründet, bietet dieser Verein seither stadtge12 schichtliche Themenrundgänge jenseits klassischer Touristenrouten an. Ziel ist es, Stadtgeschichte nachvollziehbar darzustellen, Zusammenhänge zu erfassen und Anregungen zum Weiterdenken zu geben. Bevorzugt werden in der Vermittlungsarbeit ungewöhnliche Blicke und Perspektiven auf das (scheinbar) Normale und Alltägliche. Theoretische Sachverhalte werden nicht im „luftleeren“ Raum präsentiert, sondern haben stets einen greifbaren Bezug. Seit der Eröffnung des Dokumentationszentrums im Jahr 2001 bietet Geschichte Für Alle e. V. dort Rundgänge durch die Dauerausstellung und Sonderausstellungen sowie Workshops und Filmdiskussionen für Jugendliche und Erwachsene an. Im Kern stehen dabei die Aufschlüsselung der NSPropaganda, besonders der Rolle, die der Architektur dabei zukam, sowie die Fragen, wie man nach 1945 bis heute mit dem nationalsozialistischen Erbe umgegangen ist und wie sich diese Kultur des Erinnerns verändert hat.
12 www.geschichte-fuer-alle.de.
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An diesem historischen Ort ist man unausweichlich mit Objekten, mit Bauwerken konfrontiert, die zur Auseinandersetzung zwingen. Sie lassen sich nicht in Depots verstecken. Der pädagogischen Bildungsarbeit bleibt es überlassen, die heutige Wahrnehmung der steinernen Zeitzeugen zu beeinflussen und zu verhindern, dass das Denkmuster entsteht: Große Bauten stehen für große Zeiten.
Abb. 7 Rundgang über das ehemalige Reichsparteitagsgelände Fast täglich führen Mitarbeiter von Geschichte Für Alle e. V. mehrere Besuchergruppen zum Zeppelinfeld und zu Hitlers Rednerkanzel. Die Erfahrungen seit 1985 haben gezeigt, dass dabei nicht das „falsche“ Publikum bedient und kein rechtsradikaler Tourismus gefördert wird. Die Bauwerke auf dem Reichsparteitagsgelände kann man betrachten, betreten und berühren. Sie erlauben mehrdimensionales Erfahren und multisensorisches Lernen. Hier lässt sich die eine Seite des Nationalsozialismus, der „schöne Schein“ nachvollziehen, die Kehrseite wird beim Besuch einer KZ-Gedenkstätte unmissverständlich deutlich. Besucher des Reichsparteitagsgeländes fragen oft: „Ist das hier eine Pilgerstätte für Rechtsradikale?“ Guten Gewissens lässt sich die Antwort geben „Nein, ist es nicht.“ Gelegentlich teilen Lehrkräfte im Vorfeld mit, dass sie einen oder mehrere Schüler in ihrer Klasse hätten, die rechtsextre-
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mes Gedankengut vertreten. Manchmal sieht man es Jugendlichen auch an, wenn ihre Kleidung gewisse Symbole aufweist. So gut wie nie treten diese Personen jedoch während der Veranstaltung mit entsprechenden Äußerungen in Erscheinung, offensichtlich möchten sie mit pädagogischen Mitarbeitern nicht über ihr Weltbild diskutieren. Von erwachsenen Teilnehmern sind hin und wieder Aussagen zu vernehmen, die den Nationalsozialismus verharmlosen oder verklären. Zum Beispiel, dass „Hitler doch Arbeitsplätze geschaffen hat“, oder dass „die alliierten Kriegsgegner auch Verbrechen begangen haben und unbehelligt davon kamen“. Es sind Ansichten, die nicht unbedingt auf ein geschlossen-rechtsradikales Weltbild schließen lassen. Es handelt sich um Einzelfälle, die während einer Veranstaltung nicht unkommentiert bleiben. Die Mitarbeiter sind auf solche Situation vorbereitet und lassen sich nicht in lange und unergiebige Diskussionen verstricken. Eine besondere Qualität hat es, wenn Zeitzeugen berichten. Immer wieder melden sich während eines Rundganges ältere Teilnehmer zu Wort, die selbst als Kinder oder Jugendliche bei den Reichsparteitagen gewesen sind, als Zuschauer, Angehörige der Hitlerjugend oder des Bundes Deutscher Mädel. Sie berichten oft voller Begeisterung, es sei das Erlebnis ihrer Jugend gewesen, am Reichsparteitag teilzunehmen, mal von zuhause weg zu kommen, Menschen aus ganz Deutschland zu treffen, den Gemeinschaftssinn in Zeltlager zu erleben usw. Manchen dieser Zeitzeugen gelingt es selbst zu reflektieren, eine Trennlinie zwischen ihren persönlichen Erlebnissen zu ziehen und den Absichten des Regimes. Manche erkennen selbst, wie ihre jugendlichen Ideale und ihre Begeisterungsfähigkeit ausgenutzt wurden, andere muss man in dieser Situation darauf hinweisen, ohne sie anzugreifen und ohne ihnen ihre Kindheitserlebnisse zu nehmen. Zum thematisch und methodisch breit gefächerten Bildungsangebot des Dokumentationszentrums gehört u. a. das moderierte Programm „Nationalsozialismus ausstellen“, in dem die Teilnehmer hautnah mit authentischen 13 Objekten aus der NS-Zeit konfrontiert werden. Das Programm existiert als zwei-, drei- und sechsstündige Version. Zielgruppe sind Schüler der Oberstufe sowie Studierende. Als roter Faden zieht sich die Frage durch die Veranstaltung, wie man in einer Ausstellung mit Objekten aus der NS-Zeit
13 Geschichte Für Alle e. V. und das Kunst- und Kulturpädagogische Zentrum der Museen in Nürnberg (KPZ) erstellten das Konzept gemeinsam und führen es im Studienforum des Dokumentationszentrums durch.
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umgehen kann. Ziel ist es, bei den Teilnehmern den Blick für den Besuch von Museen, Gedenkstätten usw. zu schärfen, in dem sie sich fragen: Was wird uns hier gezeigt? Wie wird es uns gezeigt? Welche Botschaften werden gesendet? Und was fehlt? Im sechsstündigen Studientag werden die Teilnehmer nach einer Einführung in die Geschichte der Reichsparteitage mit einer Liste verschiedener Medien der Geschichtsvermittlung konfrontiert: Sachbücher, Historische Romane, TV-Dokumentationen, Spielfilme, Internet, Ausstellungen, Museen, Gedenkstätten, Archive, Zeitzeugen, Originalobjekte. Dann wird über die Frage „Welche Medien findest Du am spannendsten, wenn Du Dich mit der Geschichte des Nationalsozialismus beschäftigst?“ ein Meinungsbild bzw. eine Rangliste erstellt. An vorderster Stelle stehen in der Regel das Internet und TV-Dokumentationen. Ausstellungen erhalten gewöhnlich kaum Punkte. Das Ergebnis wird diskutiert und die einzelnen Medien kritisch bewertet. Als nächstes tragen die Teilnehmer zusammen, welche formalen Kriterien bei der Gestaltung einer Ausstellung zu beachten sind: Architektur und Raumstruktur, Raumdesign, Dramaturgie, Szenografie, Medieneinsatz und dergleichen mehr. Jeder dieser Aspekte wird an konkreten Beispielen aus Museen und Gedenkstätten, die den Nationalsozialismus thematisieren, erläutert. Anschließend nehmen die Teilnehmer eine Erkundung und Bewertung der Dauerausstellung im Dokumentationszentrum in Kleingruppen und mit Fragebögen zu den eben genannten Kriterien vor. Nach der Arbeitsphase präsentiert jede Gruppe ihre Ergebnisse. Schließlich bekommen die Teilnehmer originale Objekte in die Hand. Jede Kleingruppe erhält eine Objektkiste, in der sich ein Original aus dem Sammlungsbestand des Dokumentationszentrums zusammen mit einer kurzen Beschreibung befindet. Es sind Stücke unterschiedlicher Art und Provenienz: Orden, Spielzeugfiguren von SA-Männern, Geschirr mit Hakenkreuzstempel, Sammelalben usw. Die erste Aufgabe ist es, anhand eines Fragebogens das Objekt zu bewerten. Die gestellten Fragen lauten etwa: Erweckt das Objekt Neugier? Verdeutlicht es historische Tatsachen und Zusammenhänge? Ermöglicht es einen Bezug zur Gegenwart? Danach dürfen sich die Teilnehmer selbst als Ausstellungsmacher versuchen. (Abb. 8)
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Abb. 8 „Ehrenkreuz der Deutschen Mutter“ mit Objektbeschreibung Bei dieser Übung erfolgt ein Perspektivwechsel: Die Teilnehmer berücksichtigen die Interessen und Strategien der „Ausstellungsprofis“ und entwickeln für ihr Objekt ein Präsentationskonzept im Rahmen einer fiktiven Ausstellung, deren Inhalt und Titel freigestellt sind. In der selbsttätigen, kreativen Beschäftigung soll u. a. deutlich werden, dass Ausstellen eben mehr ist als bloßes Hinstellen. Jede Gruppe erhält ein Flipchart, um die Ausstellungssituation zu skizzieren. Nach der Arbeitsphase stellen die Teilnehmer ihre Konzepte vor und unter anderem auch deren Besucherfreundlichkeit zur Diskussion. Wenn zum Abschluss des Studientages erneut die Medien der Geschichtsvermittlung hinsichtlich der persönlichen Vorlieben der Teilnehmer zur Abstimmung stehen, erhalten Ausstellungen, Museen und Gedenkstätten in aller Regel deutlich mehr Punkte. (Abb. 9) Welche generellen Erfahrungen wurden bei der Durchführung des Programmes „Nationalsozialismus ausstellen“ gemacht? Welche Verhaltensweisen sind häufig zu beobachten? Wie reagieren die Teilnehmer auf die Objekte und was zeichnet ihre Ausstellungsentwürfe aus? Manchem Jugendlichen merkt man eine gewisse Faszination an, die von den Objekten ausgeht. Der Gegenstand, bei dem es sich besonders deutlich zeigt und auch von Teilnehmern so geäußert wurde, ist ein Dolch der Hitlerjugend. Hierzu fiel mehrmals der Kommentar, und zwar von männlichen
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Abb. 9 „Volksgasmaske“ in Objektkiste Teilnehmern, dass sie sehr gut nachvollziehen können, welche Wirkung es auf einen Zwölfjährigen gehabt haben dürfte, wenn er einen solchen Dolch überreicht bekam. Man fühlte sich stolz, stark, erwachsen, ernst genommen. In diesem Moment kann die Entstehung von Faszination durchaus zugelassen werden, da man sie dann auch offen ansprechen und ergründen kann. Eine derartige Reflexion oder Abstraktion in der Wahrnehmung der Teilnehmer ist bei anderen ausgegebenen Objekten, zum Beispiel dem „Mutterkreuz“ oder der „Volksgasmaske“, kaum zu beobachten. Der Bezug zur eigenen Lebenswelt dürfte dabei jeweils von Bedeutung sein. In ihren Ausstellungskonzepten bevorzugen die Jugendlichen objektzentrierte Präsentationen. Der Gegenstand, versehen nur mit einem kurzen Textblatt, liegt meist in einer sonst leeren Glasvitrine, die sich in der Mitte des Raumes befindet. Solche Darstellungsformen gibt es in der Dauerausstellung des Dokumentationszentrums nicht. Hier orientieren sich die Teilnehmer also nicht am zuvor Gesehenen. Anders in der Raumgestaltung: Wie im Dokumentationszentrum haben die fiktiven Ausstellungsräume der Jugendlichen meist keine Fenster und kein Tageslicht. Es wird intensiv mit künstlichen Licht- und Schatteneffekten gearbeitet. Was selten fehlt ist ein
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Computerterminal mit Touchscreen, auf dem sich weiterführende Informationen abrufen lassen. Hauptanliegen des Programmes „Nationalsozialismus ausstellen“ ist, Jugendliche für Ausstellungbesuche zu sensibilisieren und zu vermitteln, wie ein Originalexponat eine ganz eigene Wirkung bzw. Ausstrahlung entwickeln kann. Diese Wirkung mag im Einzelfall durchaus vom eigentlichen Ausstellungsthema und vom historischen Kontext ablenken. Jugendlichen Objekte aus der NS-Zeit in die Hand zu geben, kann in der historischpolitischen Bildungsarbeit hilfreich sein. Wichtig ist jedoch die Form, in der dies geschieht. Eingebettet in einen solchen Studientag, umrahmt von der kritischen Diskussion um die Metaebene, den richtigen Umgang, werden die Teilnehmer auf den Kontakt und die Wirkung der Objekte vorbereitet und einer mystisch beladenen Langzeitwirkung vorgebeugt.
Rechtsradikale im antifaschistischen Staat? P ATRICE G. P OUTRUS
Gerade in Sachen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus scheint die bundesdeutsche Öffentlichkeit unversehens von Konjunktur zu Konjunktur zu jagen. Allerdings bleibt festzustellen, dass ohne die immer wieder aufflammende öffentliche Debatte um die Ursachen der im bundesweiten Vergleich signifikant höheren Fremdenfeindlichkeit im heutigen Ostdeutschland auch die zu diesem Themenkomplex am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) erfolgten Untersuchungen sich sicher weitaus weniger 1 dynamisch gestaltet hätten. Wenn auch nicht jede Journalistenanfrage an einen Zeithistoriker diesen in seiner Forschungsarbeit weitergebracht hat, so belegt das wiederkehrende mediale Interesse an dergleichen Untersuchungen doch das nicht zu unterschätzende und dynamische Verhältnis von 2 Öffentlichkeit und Zeitgeschichte im vereinten Deutschland. So war der eigentliche Ausgangspunkt für die entsprechenden zeithistorischen Untersuchungen, die seit der ersten Hälfte der neunziger Jahre vor allem von Sozialwissenschaftlern, Politikern und Journalisten intensiv geführte Debatte um die Ursachen der sich seit dem Ende des SED-Regimes geradezu dramatisch manifestierenden Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland. Dabei kristallisierten sich im Wesentlichen zwei konkurrierende Erklärungsmuster
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Christian Th. Müller/Patrice G. Poutrus (Hg.), Ankunft – Alltag – Ausreise. Migration und interkulturelle Begegnungen in der DDR-Gesellschaft, Köln 2005.
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Dazu Hans Günter Hockerts, Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: APuZ 28 (2001), S. 15–30.
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heraus. Das erste – an die klassische Autoritarismusforschung angelehnte – Erklärungsmuster sieht die Nachwirkungen autoritärer und militanter Wertvorstellungen aus dem Erziehungssystem des Staatssozialismus und die daselbst propagierte „Hasserziehung“ als den Nährboden an, auf dem sich mit Entwertung der marxistisch-leninistischen Ideologie rechtsradika4 les und rassistisches Gedankengut ansiedeln konnte. Demgegenüber verortet der zweite Erklärungsansatz die Entstehung fremdenfeindlicher Einstellungen und Handlungsmuster vor allem in der krisenhaften Transformation von staatssozialistischer Diktatur und Planwirtschaft zu bürgerlichliberaler Demokratie und Marktwirtschaft, wobei Fremdenfeindlichkeit und Rassismus durch das Zusammenwirken von Identitätsverlust, Statusangst 5 und realen Interessenkonflikten induziert würden. Etwaige mentale Kontinuitäten wurden dabei weitgehend ausgeblendet.
Alles unter Kontrolle? Mit der Feststellung, dass das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) die Rechten gut beobachtet habe, versuchte der Politologe und ehemalige SEDReformer Michael Brie im Sommer 2000 die in seinen Augen offenkundigen Vorteile eines autoritären Antifaschismus in der DDR gegenüber dem von ihm ausgemachten „Verordneten Liberalismus“ in der bundesdeutschen Gegenwart der „Neuen Bundesländer“ unter anderem herauszustel6 len. In dem hier vorgestellten BStU-Dokument wird allerdings schlaglichtartig deutlich, wie sehr die Verhältnisse in der DDR selbst geeignet waren, rechtsextremes Auftreten zu ermöglichen und wo die immanenten
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Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M. 1993. Gerda Lederer/Peter Schmidt (Hg.), Autoritarismus und Gesellschaft. Trendanalysen und vergleichende Jugendanalysen 1945–1993, Opladen 1995.
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Andreas Wimmer, Der Appell an die Nation. Kritische Bemerkungen zu vier Erklärungen von Xenophobie und Rassismus, in: Hans-Ulrich Wicker et al. (Hg.), Das Fremde in der Gesellschaft. Migration, Ethnizität und Staat, Zürich 1996, S. 173–198.
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Michael Brie, Verordneter Liberalismus. DDR und Rechtsradikalismus. Wer ein autoritäres Erbe antreten will, muss ihm auch gerecht werden, in: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung v. 18.8.2000.
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Grenzen des SED-Staates lagen, die letztlich dem MfS die Fähigkeit nahmen, diesen innergesellschaftlichen Entwicklungen nicht nur als Beobach7 ter zu begegnen. Eröffnet wird der Bericht über Tendenzen des Neofaschismus und der Ausländerfeindlichkeit im Bezirk Rostock mit einer offenkundig unvermeidbaren und externalisierenden Schuldzuweisung an den kapitalistischen Westen: „Die mit einem wachsenden Einfluss neonazistischer und ausländerfeindlicher Kräfte verbundene Rechtsentwicklung in der BRD und deren zunehmende Publizität in westlichen Funkmedien hat im Bezirk Rostock unter bestimmten Jugendlichen und Jungerwachsenen zu einer intensiveren Beschäftigung und teilweise auch Identifizierung mit nationalistischen, militaristischen, rassistischen und neonazistischen Auffassungen geführt.“
Also nicht erst die sozialen Härten des Transformationsprozesses nach dem Ende des SED-Staates hatten die Jugendlichen im heutigen MecklenburgVorpommern vom Pfad der antifaschistischen Tugend abkommen lassen. Vielmehr war noch unter den Bedingungen der sozialen Sicherheit in der DDR offene Ausländerfeindlichkeit in auch für die MfS-Kader bemerkenswertem Umfang verbreitet: „Die Handlungen der betreffenden Personen sind gegenüber den Vorjahren zum Teil mit einer wachsenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit verbunden, insbesondere durch eine Zunahme von Gruppendelikten. Seit Januar 1989 leitete die Bezirksverwaltung Rostock des MfS 18 Ermittlungsverfahren ein wegen Äußerungen faschistischen und rassistischen Charakters in der Öffentlichkeit. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es zwei Ermittlungsverfahren. Weitere elf Ermittlungsverfahren bzw. strafprozessuale Prüfungshandlungen werden voraussichtlich im Monat August 1989 eingeleitet. Die Anzahl der Ermittlungsverfahren und aufgenommenen Anzeigen der DVP zu solchen Delikten erhöhte sich 1989 gegenüber dem Vorjahr auf 175 Prozent. Das Potenzial der Personen im Bezirk Rostock, die sich mit neofaschistischen Auffassungen identifizieren bzw. sympathisieren umfasst gegenwärtig ca. 100 Personen.“
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Alle folgenden wörtlichen Zitate stammen aus folgendem Dokument: Einschätzung der Erscheinungen und Tendenzen des Neofaschismus und der Ausländerfeindlichkeit im Bezirk Rostock; BStU, MfS, BV Rostock, AKG 1045, Bl. 39– 47.
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Nach Angaben der MfS-Ermittler lag der Anteil von Skinheads bei dem festgestellten Personenkreis nicht höher als 10 Prozent. Immerhin konnten im DDR-Verwaltungsbezirk Rostock sieben „Zusammenschlüsse“ mit rechtsradikaler Orientierung festgestellt werden. Offenkundig hatte die antiwestliche Propaganda der DDR-Medien, in denen der Bundesrepublik zunehmende neofaschistische Tendenzen unterstellt wurden, diese ausgemachten Feinde des SED-Staates zu ihren Handlungen noch ermutigt. Besonders das zeitweise Erstarken der Republikaner galt diesen nicht als Abschreckung, sondern als Bestätigung der eigenen Haltung. Wobei sich aber die Ablehnungen der Unzulänglichkeit des DDR-Alltages mit ausländerfeindlichen Einstellungen amalgamierten: „Als handlungsbestimmende Motive zeigen sich insbesondere ein Oppositionsverhalten gegen die von ihnen geforderte Disziplin, Einordnung und Unterordnung, ablehnende Einstellungen gegenüber einer ihrer Meinung nach sich ausweitenden Korruption, ‚Privilegienwirtschaft’, ‚Konsumideologie’ und anderen kleinbürgerlichen Verhaltensweisen sowie spekulativen Handlungen von Ausländern in der DDR (insbesondere Vietnamesen, Kubanern, Polen).“
Auch wusste man zu berichten, dass die Faszination an der Militanz des Nationalsozialismus wie auch die als revanchistisch gewertete Befürwortung der Wiedervereinigung unter diesen mehrheitlich jugendlichen Männern genauso nachweisbar war, wie eine starke Neigung zur Gewalttätigkeit. Überwiegend stammten diese aus Arbeiterfamilien und waren selbst noch Schüler, Lehrlinge oder bereits in Facharbeiterberufen beschäftigt. Zu den festgestellten Tatbeständen gehörten das Absingen von Naziliedern, das Skandieren von faschistischen Parolen, sogenannte Schmierereien von NS-Symbolen und ein provokatives Auftreten in der lokalen Öffentlichkeit. Letztlich hatten die MfS-Ermittler der Bezirksverwaltungen keine andere Begründung für diese Vorfälle parat, als dies alles als »qualitativ neue Erscheinung in Auswirkung neofaschistischer Tendenzen in der BRD« immer wieder darzustellen. Dieses bemerkenswerte und sicher ungewollte Eingeständnis der ideologischen Schwäche des SED-Staates im Jahr 1989 ist rückschauend nicht überraschend. Diese Entwicklung aber als reine Verfallserscheinung der kommunistischen Diktatur zu erklären, kann kaum ausreichen. Immerhin kamen auch die Geheimdienstler aus dem Norden der DDR nicht umhin, aus dem Kreis Wolgast von zwei rechtsradikalen Grup-
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pierungen zu berichten, welche dort schon über längere Zeit und teilweise mit konspirativen Methoden aktiv waren: „Der Organisator und Initiator der im OV ‚Rune’ der KD Wolgast bearbeiteten Gruppierung (überwiegend mehrfach vorbestrafte Personen) beschäftigte sich bereits seit mehreren Jahren mit faschistischem Gedankengut und der Bildung einer geheimen faschistischen Organisation. Der personelle Zusammenschluss, der sich als ‚SSDivision Walter Krüger’ bezeichnete, verfolgte das Ziel der Pflege der Traditionen der SS. Alle Mitglieder hatten Dienstgrade der SS. Die in Privatwohnungen durchgeführten regelmäßigen Zusammenkünfte wurden nach dem ›Führungsprinzip‹ straff organisiert. Es erfolgte eine monatliche Zahlung von Mitgliedsbeiträgen und die Ausstellung von Mitgliedsausweisen. Während der Zusammenkünfte trugen die Personen an ihrer Kleidung selbstgefertigte faschistische Symbole, darunter auch der SS.“
Anscheinend ist das MfS auf diese Gruppierung aufmerksam geworden, weil anlässlich einer „Feier für den Führer“ gefertigte Fotos von daran Beteiligten an den Parteivorstand der Republikaner in der alten Bundesrepublik versandt werden sollten und so in den Besitz des DDR-Überwachungsapparates gelangten. Diese Gruppierung wie auch die im Operativen Vorgang „Verein“ der KD Wolgast festgestellte „Freiheitliche Organisation zur Neugestaltung Deutschlands“ aus dem Seebad Ahlbeck waren für die Verantwortlichen im Bezirk Rostock sicher ein höchst problematischer wie auch ungewöhnlicher Fall. Die politischen Anschauungen der Beteiligten waren eindeutig am Nationalsozialismus ausgerichtet. Solche Merkmale wie ein positiver Bezug auf das Führerprinzip und die NS-Rassenideologie bei gleichzeitiger Verherrlichung von Kriegsverbrechen der Waffen-SS wurden in programmatischen Schriften in beiden Fällen nachgewiesen. Neben den im Einzelfall sehr brutal begangenen Gewalttaten von Mitgliedern dieser neofaschistischen Untergrundgruppen ist aber an dieser Stelle von besonderer Bedeutung, dass die Ermittler des MfS feststellen mussten, dass dieser rechtsradikale Untergrund im lokalen Umfeld durchaus bewusst seine konspirative Deckung verließ: „Von dieser neofaschistischen Gruppierung im Seebad Ahlbeck wurden Aktivitäten entwickelt, einen faschistischen Untergrund aufzubauen, wobei die Gruppierung den Kern eines verzweigten Systems selbstständig wirkender konspirativ arbeitender neofaschistischer Gruppierungen im Territorium des Kreises mit überörtlichen Verbindungen bilden soll. Die Mehrzahl der Erscheinungen des Neofaschismus, der Aus-
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länderfeindlichkeit und des Antisemitismus sowie der schriftlichen Verbreitung faschistischen Gedankengutes im Bezirk war vordergründig auf ein provozierendes Auftreten in der Öffentlichkeit gerichtet (mündliche Äußerungen vor allem in Gaststätten, Jugendclubs und öffentlichen Transportmitteln). Die bei mündlichen neofaschistischen und ausländerfeindlichen Äußerungen festgestellten Täter traten selbstbewusst auf und spielten dabei gegenüber anderen Bürgern ihre körperliche Überlegenheit aus. Das provozierende Auftreten wird zum großen Teil mit der Androhung oder Anwendung körperlicher Gewalt verbunden.“
Mit Verwunderung wird im Bericht der BV Rostock weiter festgestellt, dass über einen längeren Zeitraum dieses Auftreten der rechtsradikalen Jugendlichen nicht zur Anzeige gebracht wurde. Bei Untersuchungen im Umfeld dieser Vorkommnisse trafen die MfS-Ermittler auf ein gesellschaftliches Klima, das mit Verschweigen, Abwiegeln und Verharmlosen beschrieben werden kann. Offenkundig waren für viele der Befragten aus dem Umfeld der rechtsradikalen Jugendlichen die Folgen eines drakonischen Einschreitens der Staatsgewalt vor Ort bedeutend problematischer als die Einstellungen und Verhaltensweisen der betroffenen Jugendlichen: „Die mit diesen feindlich-negativen Handlungen konfrontierten Bürger waren vielfach verängstigt oder unterschätzten die von diesen Personen ausgehenden Gefährdungen für die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Vergleichbare begünstigende Bedingungen bieten sich vielfach auch für einzeln handelnde Täter, die solche Verhaltensweisen in der Schule und in den Arbeitskollektiven zeigen. Andere Schüler, Lehrlinge, Arbeitskollegen und zum Teil auch Lehrer tolerieren derartige Äußerungen. Das trifft in einem besonderen Maße für Äußerungen ausländerfeindlichen Charakters zu. Solche Personen werden in der Regel als nicht ernst zu nehmende Außenseiter betrachtet. Von dem Staatsbürgerkundelehrer [geschwärzt durch BStU] und der Klassenleiterin [geschwärzt durch BStU] der BBS ‚August Lütgens’ des VEB DSR wurde wiederholten faschistischen und nationalistischen Äußerungen von fünf Lehrlingen eines Klassenkollektivs während des Unterrichtes nicht die notwendige Beachtung geschenkt. Während der Untersuchung dieser Vorkommnisse durch die KPKK der IKL Hafen versuchten sie das Auftreten der Jugendlichen zu verharmlosen. Auch der Heimleiter des zuständigen Lehrlingswohnheimes bagatellisierte die Äußerungen der Lehrlinge als ‚dumme Jungenstreiche’. An der POS des Kreises Bad Doberan ist bei Direktoren und Lehrern verbreitet das Bestreben festzustellen, derartige Probleme in eigener Zuständigkeit zu klären. Festgelegte Informationspflichten an übergeordnete Stellen werden bewusst verletzt, um ihre Schule
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nicht in ‚Misskredit’ zu bringen. Im Sprachgebrauch Jugendlicher/Jungerwachsener finden faschistische und rassistische Begriffe zunehmend Verwendung, ohne dass darauf im Umgangskreis reagiert wird. So gehören faschistische Ausdrücke und Parolen unter negativen Jugendlichen aus dem Anhang des FC Hansa Rostock in Wismar zum festen Vokabular.“
Ratlos und fast resignierend stellten die MfS-Ermittler in diesem Zusammenhang fest, dass viele der Befragten die apokalyptische Berichterstattung der DDR-Medien vom angeblichen Aufstieg des Neofaschismus in der Bundesrepublik nicht nur für vollständig überzogen hielten, sondern gerade deshalb auch davon ausgingen, dass die rechtsradikalen Jugendlichen im eigenen Umfeld keine wirkliche Gefahr für die Gesellschaft darstellten. Demgegenüber galt es auch noch 1989 als eigentliche Provokation, wenn aus der sich formierenden Opposition Positionen bekannt wurden, die Neofaschismus und Ausländerfeindlichkeit in der DDR aus den inneren gesellschaftlichen Verhältnissen erklären: „In einem tendenziös abgefassten Arbeitspapier des Mitarbeiters des Evangelischen Jungmännerwerkes [geschwärzt durch BStU], das dem Landesjugendwart der ELK Greifswald [geschwärzt durch BStU] zur Kenntnisnahme übergeben wurde, versucht der Verfasser nachzuweisen, dass eine Ursache für diese Erscheinungen in der Entwicklung der DDR selbst und in der aktuellen innenpolitischen Situation bestehe. Folgende wesentliche Argumente werden angeführt:
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Die Gewalt des Staates, auch gegenüber ‚Andersdenkenden‘, erzeuge Gegengewalt.
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Das ‚Führerprinzip’ habe in der DDR unter anderen Vorzeichen eine Renaissance erlebt.
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Das mit der ‚These der sozialistischen deutschen Nation’ verdrängte Nationalgefühl der Deutschen schlage in einen extremen Nationalismus um.
Das Arbeitspapier soll eine Grundlage bilden für die vorgesehene Diskussion auf der Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen im September 1989 zum Thema Neofaschismus in der DDR.“
Für das MfS waren solche Positionen und Pläne dieser vermeintlich „feindlich-negativen Kräfte“ im Umfeld der evangelischen Kirche offenkundig problematischer als die nachweisbaren Umtriebe von rechtsradikalen Jugendlichen im Bezirk Rostock, die bei Weitem kein Einzelfall waren. Lohnend ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf das Verhältnis des MfS zu den auch in der DDR existenten Skinheadgruppen. In den BStU-Akten zum
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Skinheadüberfall auf die Ostberliner Zionskirche von 1987 wird deutlich, wie stark die Denkschemata der Ermittler durcheinandergerieten. Waren doch die Opfer – Ziel des Überfalls war ein Punkkonzert – durch ihren Non-Konformismus bis dahin selbst Objekt von Beobachtung und Verfolgung der Sicherheitsorgane, weil ihre Einstellung als systemfeindlich galt. Was die Skinheads betrifft, so reichen die Akten über rechtsextreme Vorfälle bis 1978 zurück. Gleichwohl passte die „faschistische“ Orientierung dieser Tätergruppe nicht in das Raster der klassenkämpferisch geschulten Geheimdienstler, hatten die Skins doch wesentliche „sozialistische Werte“ wie Arbeitsliebe, Ordnung, Sauberkeit und Bereitschaft zum Militärdienst 8 für sich angenommen. Dieses Beispiel verdeutlicht die „sozial-hygienischen“ Gemeinsamkeiten staatssozialistischer und rechtsextremer Leitbilder. Diese Übereinstimmung war es, die eine couragierte und offene Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus unmöglich machte, wären damit doch die genannten Grundwerte der DDR und letztlich der beschriebene Herrschaftsmodus der SED in Mitleidenschaft gezogen worden. Das alles zeigt, dass in der DDR der Umgang der herrschenden SED mit Erscheinungen von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus prekär und ambivalent waren. Ein kritischer Blick auf die Geschichte der DDR macht zugleich deutlich, dass es sich dabei um keine späte Krisenerscheinung des untergehenden SED-Staates handelte.
Antifaschismus und Nationalismus in den Farben der DDR Letztlich stand auch der SED-Staat in der Nachfolge des nationalsozialistischen Dritten Reiches. Von Beginn der SED-Herrschaft an war jedoch in der SBZ/DDR keine öffentliche Debatte darüber möglich, sondern es herrschte ein parteioffizieller Diskurs vor, der weniger der persönlichen Auseinandersetzung mit dem NS-Regime als der polemischen Abgrenzung vom Westen diente. De facto war die öffentliche Rede über den Nationalsozialismus identisch mit einer Brandmarkung der Bundesrepublik als „klerikalfaschistisch“, „restaurativ“ etc. – und das machte die Rede über den Nationalsozialismus an sich bei der Mehrheit der deutschen Bevölke-
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Vgl. Heinrich Sippel/Walter Süß, Staatssicherheit und Rechtsextremismus, Bochum 1994.
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rung unglaubwürdig. Hinzu kommt, dass die drakonischen Säuberungen in der öffentlichen Verwaltung der SBZ während der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht nur ehemaligen Nazis galten, sondern sich in zunehmendem Maße gegen Gegner der kommunistischen Herrschaft richteten. Das schnelle Bekenntnis zur neuen „antifaschistischen Ordnung“ und zur SED konnte dagegen eine Möglichkeit bieten, den Systemwechsel zu mildern und per10 sönliche Konsequenzen abzufedern. An die Stelle offener Rede über die Zeit des Nationalsozialismus trat vierzig Jahre lang der Versuch, die DDRBevölkerung auf die Minderheitenperspektive der kommunistischen Widerstandskämpfer, die in radikaler Opposition zum Nationalsozialismus ge11 standen hatten, einzuschwören. Es erscheint jedoch fraglich, ob die rassistischen und nationalistischen Stereotype der NS-Propaganda, die in der deutschen Bevölkerung zweifelsohne verbreitet waren, allein durch die gebetsmühlenartige Wiederholung des antifaschistischen Gründungsmythos der DDR tatsächlich aus dem Wertekanon der Bevölkerung getilgt wurden. Jedenfalls hat die SED während ihrer Herrschaft stets die historische Mitverantwortung der DDR für die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland bestritten und konsequenterweise auch – nach dem Ende der unfreiwilligen Reparationszahlungen an die Sowjetunion – keine Wieder12 gutmachungszahlungen geleistet. Diese aus der Externalisierung der historischen Verantwortung abgeleitete Verweigerungspolitik konnte von der Bevölkerung auch als Freispruch der (ost-)deutschen Bevölkerung verstanden werden – ein attraktives Integrationsangebot gerade auch für diejeni-
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Olaf Groehler, Antifaschismus – Vom Umgang mit einem Begriff, in: Ders., Ulrich Herbert, Zweierlei Bewältigung. Vier Beiträge über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten, Hamburg 1992, S. 29–40.
10 Andreas Malycha, Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946–1953, Paderborn 2000. 11 Christoph Classen, Fremdheit gegenüber der eigenen Geschichte. Zum öffentlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus in beiden deutschen Staaten, in: Jan C. Behrends/Thomas Lindenberger/Patrice G. Poutrus (Hg.), Fremde und Fremd-Sein in der DDR. Zu historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, Berlin 2003, S. 101–126. 12 Christoph Hölscher, NS-Verfolgte im „antifaschistischen Staat“. Vereinnahmung und Ausgrenzung in der ostdeutschen Wiedergutmachung (1945-1989), Berlin 2002.
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gen, die der SED eher fern standen. Die Mehrheit der Deutschen hatte die NS-Diktatur aber eher als Unterstützer oder als Mitläufer erlebt, so dass schon früh eine Lücke zwischen den Erfahrungen und Einstellungen der Menschen und der Propaganda der SED entstand. Letztlich vermochte sich die Mehrheit der DDR-Bevölkerung „ohne Gewissenskonflikte und ohne große Brüche in ihrer bisherigen politischen Mentalität mit dem antifaschistischen Selbstverständnis des Staates zu arrangieren bzw. es selbst verinner14 lichen“. Konkret gefragt war Loyalität zur SED-Politik und Konformität im Alltag. Folgt man jedoch den offiziellen Verlautbarungen der DDR, so hatte jede Form von Nationalismus im Arbeiter- und Bauernstaat durch die „antifaschistisch-demokratische Umwälzung“ ein Ende gefunden. Gleichwohl nutzte der SED-Staat während der gesamten Zeit seiner Existenz nationale 15 Legitimationsmuster. Bereits in der Ikonographie der frühen DDR mischten sich nationale mit sozialistischen Komponenten. Während Westdeutschland in der SED-Propaganda – an ältere antiwestliche und antiliberale Elemente des deutschen Nationalismus anknüpfend – als „Kolonie des amerikanischen Imperialismus“ angegriffen wurde, bezeichnete sich die Regierung der DDR als „wahrhaft deutsche Regierung“. Das Kalkül der SED, mit dem Appell an das nationale Empfinden der DDR-Bürger gewissermaßen über einen Anker in der Gesellschaft zu verfügen, erfüllte sich allerdings nur teilweise. Unabhängig vom SED-Bemühen erhielt sich eine nationale „deutsche“ Identität in verschiedenen Abbildungsfolien, bei Industriearbeitern etwa durch den Bezug auf die aus der Zeit vor 1945 tradierte
13 Herfried Münkler, Antifaschismus und antifaschistischer Widerstand als politischer Gründungsmythos der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B45 (1998), S. 16–29. 14 Jürgen Danyel, Die Opfer- und Verfolgtenperspektive als Gründungskonsens? Zum Umgang mit der Widerstandstradition und der Schuldfrage in der DDR, in: ders. (Hg.), Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995, S. 31–46. 15 Ute Frevert, Die Sprache des Volkes und die Rhetorik der Nation. Identitätssplitter in der deutschen Nachkriegszeit, in: Arnd Bauerkämper et al. (Hg.), Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-Deutsche Beziehungen 1945–1990, Bonn 1998, S. 18–31.
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„Qualitätsarbeit“. Im ländlichen Bereich bemühte sich die Bevölkerung trotz der mit der Kollektivierung verbundenen Zumutungen, ihre Wertewelt 17 von Bodenständigkeit und bäuerlichem Selbstbewusstsein zu erhalten. Die patriotischen Gesten der SED gewannen dagegen nur an Glaubwürdigkeit, wenn sie mit der etablierten Vorurteilsstruktur der Bevölkerung korrespondierten. Hilflos gegenüber der Allgegenwart des Westfernsehens und der wirtschaftlichen Überlegenheit der Bundesrepublik versuchte die Staatspartei durch den Vergleich mit den sozialistischen Bruderländern bzw. den Verweis auf die eigene Spitzenstellung (hinter der Sowjetunion), Punkte zu sammeln. Insbesondere in Krisensituationen war die Parteiführung auch bereit, ungeniert antipolnische Stereotype zu bedienen. Auch bei ihrem Bemühen um nationale Legitimation stand die SED vor dem Dilemma, entweder den sozialistischen Gehalt ihrer Herrschaftspraxis zurückzustellen oder aber mit ihrer Ideologie in Isolation von der Bevölkerung zu 18 verharren. Diese Perspektive schließt jedoch die ökonomischen und mentalen Verwerfungen der Systemtransformation als Erklärung für die Gegenwart aus, im Gegenteil: Rezente und weiter zurückliegende Faktoren verstärken sich durch solche gesellschaftlichen Lagen. In ihrer wechselseitigen Verschränkung vervielfachten sie deren Wirkungen und trugen zur heutigen Lage bei. Nach 1989/90 kam es folglich zur Steigerung eines bereits vorhandenen gesellschaftlichen Spannungszustandes. Wie Heute und Gestern zusammenhängen, insbesondere, wie in den 90er Jahren jener intergenerationelle Wertetransfer funktionierte, der aus Kindern von passivfremdenfeindlichen DDR-Eltern aktiv-rassistische gewaltbereite Jugendliche machte, kann nur durch weitere interdisziplinäre Forschungen aufgeklärt werden.
16 Alf Lüdtke, „Helden der Arbeit“ – Mühen beim Arbeiten. Zur missmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR, in: Hartmut Kaelble et al. (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 188–213. 17 Dagmar Langenhan, „Halte dich fern von den Kommunisten, die wollen nicht arbeiten!“ Kollektivierung der Landwirtschaft und bäuerlicher Eigen-Sinn am Beispiel Niederlausitzer Dörfer (1952 bis Mitte der sechziger Jahre), in: Thomas Lindenberger (Hg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 119–165. 18 Jonathan R. Zatlin, Polnische Wirtschaft, deutsche Ordnung? Zum Umgang mit den Polen in der DDR, in: Müller/Poutrus 2005, S. 295–316.
Museen, Geschichte und rechte Milieus Fallbeispiele aus Brandenburg D IRK W ILKING
Gegen Rechtsextreme, die ein Museum besuchen, kann man nichts machen. Rechtsextremisten haben denselben Anspruch auf einen Museumsbesuch wie jeder andere Bürger auch. Es kann und soll keinen Filter geben, der die Besucherschaft sortiert. Etwas anders sieht das aus, wenn sich andere Museumsbesucher durch die Anwesenheit von erkennbaren Rechtsextremen bedroht fühlen. Da kann durch einen klaren Paragrafen in der Hausordnung Klarheit geschaffen werden. Bei Bedarf wenden sie sich an das Mobile Beratungsteam oder den Museumsverband. Ein spezielles Museumsprogramm, das für Rechtsextreme als Zielgruppe aufgelegt wird, dürfte scheitern. Wenn Rechtsextremismus eine Weltanschauung ist, die langfristig erworben wird, dann kann man keinen „Schalter“ erwarten, an dem diese ausgeknipst werden kann. Was ein Museum allerdings leisten kann, ist in seinen Ausstellungen die NS-Zeit nicht entkontextualisiert ausschließlich aus der „Froschperspektive“ darzustellen. Ein gutes Ausstellungskonzept vermeidet es, etwa bei dem Thema „Einmarsch der Roten Armee 1945“ nur den lokalen Kontext darzustellen. Dort wären die Neonazis begeistert, weil in dem schmalen Begriff zum Beispiel die SS durchaus als „Retter“ der Bevölkerung gefeiert werden könnte, statt als eigentlicher Grund für das grausame Ende des Krieges. Die Kontextualisierung schützt das Museum vor einer Umdeutung durch die Rechtsextremisten.
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Sowohl aktuell wie auch historisch ist auffällig, dass der deutsche Rechtsextremismus kein kohärentes Geschichtsbild entwickelt hat. Heute kann das sehr erfolgreich verkürzt werden zu: „Opa war in Ordnung! Unsere Großväter waren keine Verbrecher!“ Mit diesem T-Shirt gelang es Steffen Richter aus Hoyerswerda gegen Ende der 1990er Jahre sehr erfolgreich, in Mecklenburg-Vorpommern eine Kampagne um Anklam (inklusive rechtsextremer Lokalzeitung und Eventagentur) zu gestalten, die dazu geführt hat, dass die Region heute eine Hochburg der NPD ist.
Abb. 1 T-ShirtAufdruck „Opa war in Ordnung! Unsere Großväter waren keine Verbrecher!“
Im Kern geht es Rechtsextremisten in der Regel nicht darum, ein Geschichtsbild aus Fakten zu entwickeln, sondern eher um ein „Geschichtsgefühl“, also einen gewollten Irrationalismus. Gideon Botsch hat das so formuliert: „(…) rechtsextreme Geschichtserzählungen verweigern systematisch historische Kontextualisierung und kontrollierte Vergleiche auf synchroner Ebene“ und „rechtsextreme Geschichtserzählungen ignorieren die Ergebnisse historischer Forschung, soweit sie nicht in ihr Weltbild pas-
M USEEN , G ESCHICHTE UND
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sen.“ Michael Kohlstruck formuliert das rechtsextreme Geschichtsbild als Konglomerat von völkischer Geschichtsauffassung, Volksfeindsyndromen, Verschwörungstheorien, Entmoralisierung der NS-Zeit und der Umerzie2 hung als Grundannahme. Zusammengefasst kann man sagen, dass Rechtsextremisten ein eklektisches und hedonistisches Geschichtsbild pflegen, das auch völlig entkontextualisiert bestehen kann. Geschichte wird den aktuellen Bedürfnissen angepasst und dazu zeithistorisches Wissen punktuell herausgegriffen und benutzt. Bei nächster Gelegenheit kann ohne weiteres sogar das Gegenteil behauptet werden. Ein ernsthafter Dialog mit Rechtsextremisten ist dadurch faktisch unmöglich. Entsprechend fällt auf, dass in den einschlägigen rechtsextremen Veröffentlichungen Museen zwar heftig angegriffen werden („entartete“ Kunst, Gedenkstätte Yad-Vashem, Jüdisches Museum Berlin etc.), aber kaum ein eigener Anspruch an Museen formuliert wird. In Brandenburg versucht sich diese Geschichtsauffassung vor allem als eine Art „Gegen“-Geschichte zur wissenschaftlich begründeten ins Spiel zu bringen. Ob es um den „Bombenholocaust“ in Cottbus 1945 geht, um SSEinheiten in der Endphase des Krieges, Anschläge auf Gedenkstätten oder um Kriegerdenkmale: Stets wird von rechtsextremer Seite behauptet, dass das allgemein akzeptierte Geschichtsbild gefälscht sei und man selbst nur die Wahrheit dagegen setze. Das macht es für Museen in der Regel schwierig, sich auf das Publikum „Rechtsextremisten“ einzustellen. Eine im Selbstbewusstsein der Rechtsextremisten vorhandene Konstante zur NS-Ideologie stellen diffuse Vorstellungen des Völkisch-Rassistischen dar. Als Beispiel mag die Behandlung des Themas der sorbischen Minderheit durch den Vizevorsitzenden der brandenburgischen NPD, Ronny Zasowk, dienen: „Aufgrund vieler europäischer Wirren wie der Völkerwanderung, der Dreißigjährige Krieg, zahlreicher anderer innereuropäischer Völkerschlachten und hoheitlicher Bevölkerungspolitik in den letzten 2000 Jahren ist die deutsche Nation ein Völkergemisch (mit keltischen, slawi-
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Gideon Botsch, Die historisch-fiktionale Gegenerzählung des radikalen Nationalismus über den rechtsextremen Zugriff auf die deutsche Geschichte, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 2 (2011), S. 29.
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Michael Kohlstruck, Völkische Geschichtsauffassung und erinnerungspolitische Argumentationen im deutschen Rechtsextremismus der Gegenwart, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 2 (2011).
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schen und germanischen Anteilen), dieses gilt es zu bewahren.“ Das kollidiert natürlich mit der NS-Konstruktion der Arier und Germanen. Ein Gemisch soll bewahrt werden. Dieses Gemisch wird dann aber von den überlegenen Germanen dominiert: „Seither haben sich die Sorben logischerweise mit den später hier siedelnden Stämmen vermischt, die heute meist 4 als Ostgermanen bezeichnet werden.“ Zasowk hat damit das ideologische Substrat Hitlers und Himmlers rhetorisch an die demographischen Realitäten angepasst und kompatibel zur rechtsextremen amerikanischen Rassendefinition der „White-Masterrace“ gemacht. Des Weiteren bestreitet der Autor im gleichen Text geschichtsklitternd, dass Himmler plante, die Sorben als „slawische Untermenschen“ nach dem Krieg nach Osteuropa umzu5 siedeln. Museen spielen nur dann eine Rolle, wenn etwas gegen sie angewendet werden kann – mangels eigener Konzepte. Rechtsextreme verfolgen politisch keine „Sachpolitik“ auf irgendeinem Gebiet, sondern benutzen sachliche Themen, um zum vorgefertigten Ergebnis zu kommen: „Das System muss weg!“ Rechtsextreme verfolgen entsprechend keine „historische Diskussion“ die irgendwelchen fachlichen Ansprüchen genügt. Sie wollen die Macht, zu sagen was Geschichte ist. Da bei Rechtsextremisten wie bei der NSDAP auch, keinerlei Interesse besteht, eine wissenschaftliche Geschichtsschreibung zu betreiben, kommt man mit einem Aufklärungskonzept nicht an diese Zirkel heran. Sie wollen die Repräsentation von rassistisch begründeter Macht in ihrem Sinne: Etwa SS-Symbole, das U-Boot am Marine-Ehrenmal in Laboe oder der 2009 unternommene Versuch ein eigenes „KdF-Museum“ in Wolfsburg zu gründen. In der selektiven Wahrnehmung eignen sich Technikmuseen besonders für diesen Bedarf an Machtsymbolen. Sofern diese konzeptionell gut aufgestellt sind und ihre Exponate gut kontextualisiert haben, wird das keinen Gewinn für Rechtsextremisten bringen. Anders sieht dies mitunter bei Einrichtungen der Geschichtsvermittlung auf kommunaler Ebene aus.
3
Ronny Zasowk, Klarstellung der NPD-Position zu den Sorben und Wenden, 25.02.2009,
http://www.npd-lausitz.de/klarstellung-der-npd-position-zu-den-
sorben-und-wenden/1292 (Letzter Zugriff vom 23.7.2013). 4
ebd.
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Wolfgang Wippermann, Sind die Sorben in der NS-Zeit aus „rassischen“ Gründen verfolgt worden?, in: Letopis 43 (1996), S. 32-38.
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Die „Unterwanderung“ und „Nutzung“ bestehender Einrichtungen oder Gründung von kompatiblen Einrichtungen spielt für die rechtsextreme Szene eine wesentliche Rolle. Eine besonders perfide Form der „Zweckentfremdung“ konnte der Autor in einer Diskothek in der Niederlausitz Ende der 1990er Jahre beobachten: Aus einem Aufklärungsfilm für Schulen wurden Filmsequenzen von der Befreiung Buchenwalds zur Tanzmusik als Lightshow vorgeführt. In eine ähnliche Kategorie fallen „Wallfahrten“ von Neonazis nach Auschwitz. In der Niederlausitz wurde Mitte der neunziger Jahre eine Fahrt unter dem Motto „Auschwitzlüge“ veranstaltet. Die Besichtigung der Gedenkstätte verlief unauffällig, doch außerhalb der Gedenkstätte wurden in einem Graben vermeintliche „Judenknochen“ geborgen, in Fläschchen abgefüllt und später daheim in der Schrankwand als Souvenir aufgestellt. Die Paradoxie der Leugnung des Holocaust im Ver6 hältnis zur mitgebrachten „Trophäe“ ist für den Rechtsextremisten keine. Die radikalste missbräuchliche „Nutzung“ des Gedenkens sind Anschläge – sie sind hierzulande sattsam bekannt: So der Brandanschlag auf die „jüdische Baracke“ in der Gedenkstätte Sachsenhausen 1992 oder der Angriff auf die „Wehrmachtsausstellung“ in Saarbrücken 1999 – und haben weniger die Vernichtung der Gedenkstätte selbst zum Ziel, als den gesellschaftlichen Konsens. Solche Aktionen brauchen Rechtsextremisten, um sich als kommunikations- und durchsetzungsfähig in Szene zu setzen. Neben den spektakulären Fällen gibt es auch weniger pressetaugliche Attacken: Etwa den Brandanschlag auf die „Gedenkstätte Todesmarsch im Belower Wald“ 2002. Das in der Prignitz gelegene Museum brannte völlig aus und die Rechtsextremisten hinterließen deutlich ihre Spuren. Die Täter konnten bis heute nicht ermittelt werden. Neben den subkulturellen Angriffen auf den bestehenden Geschichtskonsens kann aber noch die „alternative Geschichtsschreibung“ treten, die bis zur Ideen einer eigenen Museumsgründung gehen kann. Dazu ein Beispiel aus dem Havelland. Reenactment stellt für Archäologen, Historiker und Museen ein janusköpfiges Phänomen dar. Das Bemühen bei der Rekonstruktion von Artefakten zur Gewinnung praktischer Erkenntnisse für
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Dazu auch Agata Siwek, Paul van den Berkmortel, Original Souvenirs Auschwitz-Birkenau, in: Ulrike Dittrich/Sigrid Jacobeit (Hg.), KZ-Souvenirs. Erinnerungsobjekte der Alltagskultur im Gedenken an die nationalsozialistischen Verbrechen, Potsdam 2005.
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die Wissenschaft kollidiert häufig mit Konzepten eines historisierenden „Disneylands“. Die Darstellung vom „mittelalterlichen“ Alltag etwa wird zum beliebigen Kirmesereignis, das Konzepte der Völkerschauen des 19. Jahrhunderts perpetuiert. Am Beispiel Nauen soll gezeigt werden, welche Affinität eine entkontextualisierte Populär-Archäologie zum Dunstkreis der Rechtsextremen entfalten kann. 1935 hatten die renommierten Prähistoriker Alexander Langsdorff und Wilhelm Unverzagt im Auftrag des SS-Ahnenerbes bei Nauen-Bärhorst ein germanisches Dorf der römischen Kaiserzeit ausgegraben. Es war die vollständigste bis dahin bekannte Anlage. Die Grabungen bei Bärhorst sind im lokalen Bewusstsein noch heute präsent, weil Nauen durch sie damals in das Rampenlicht der NS-Propaganda geraten war und dadurch scheinbar nationale Aufmerksamkeit bekam. 1936 erschien über die Ausgrabungen ein „Kulturfilm“ der Reichsführung-SS „Deutsche Vergangenheit wird le7 bendig“, der teils geradezu okkulte Züge trug. Inspiriert von den Grabungen, wurde vor einigen Jahren die Idee geboren, bei Nauen das archäologische Freilichtmuseum „Gannahall“ zu errichten. Die Akteure des Projekts waren anfänglich überwiegend Jugendliche aus dem Ort, also mussten sie entsprechend in ihr Milieu kommunizieren. Der Kopf des Vereins war in den neunziger Jahren selbst Schläger in der rechtsextremen Szene, hat sich aber über die Beschäftigung mit dem Germanenstamm der Semnonen aus der Szene heraus gearbeitet. Dass Jugendliche überhaupt auf den Gedanken kommen ein Reenactment-Museum in Angriff zu nehmen, ist außerordentlich selten, und wurde von der Stadt zunächst begrüßt. Um die entsprechenden finanzielle Ressourcen aufzutreiben, eröffnete man den Laden „Der Hain“ in der Stadt, in dem „germanische“ Kleidung und Accessoires verkauft wurden. Als im Schaufenster eine Tasche mit aufgesticktem Hakenkreuz auftauchte, kamen erste öffentlich geäußerte Zweifel auf. Auch über die veranstalteten Konzerte, die ebenfalls zur Finanzierung des Projektes beitragen sollten, kam anfänglich Freude auf. Als sowohl auf Seiten der Bands als auch im Umfeld der Händler zunehmend Anhänger des „NS-Metals“ in Erscheinung traten, konnte und
7
„Deutsche Vergangenheit wird lebendig“ Deutschland 1936, 15 Min. KurzDokumentarfilm, dazu Kerstin D Stutterheim, Okkulte Weltvorstellungen im Hintergrund dokumentarischer Filme des „Dritten Reiches“, Berlin 2000, S. 223-226.
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wollte die Stadt das nicht länger übersehen. Auch NPD und DVU umwarben den Verein. Der ließ sich nicht darauf ein, suchte aber weiterhin die Grenze zur rechtsextremen Szene offen zu halten. Schließlich war es dieses lokale Milieu, von dem die stärkste Unterstützung kam. Die erfolgten Distanzierungen waren seitens der Stadtverwaltung abgenötigt und gegen interne Widerstände durchgesetzt worden. Zwar sind nicht alle Mitglieder des Vereins unmittelbar der rechtsextremen Szene zuzurechnen, doch haben sich fast alle diffus historisch-völkische Denkmuster zu eigen gemacht. Rechtsextreme gehören wie selbstverständlich in ihr Alltagsmilieu. Dazu muss man wissen, dass Nauen bis vor wenigen Jahren erhebliche Probleme mit seiner rechtsextremen Szene hatte. Dort agierte das „Freikorps Havelland“ und hatte eine militante Szene aufgebaut. 2003 bis 2005 wurden in Nauen und Umgebung etliche Imbissbuden von Betreibern mit Migrationshintergrund angezündet. Täter waren regelmäßig Mitglieder der 8 Kameradschaft „Freikorps“. Die Gruppe wurde 2006 wegen terroristischer 9 Aktivitäten verboten, aber die Mitglieder liefen noch im Ort herum. Die Kommune war klar in rechtsextreme Hoheitsgebiete gegliedert, in die sich 10 Migranten und alternative Jugendkulturen nicht hinein wagten. Es gab ei11 ne rechtsextreme Musikszene mit der Band „Schwarzgraue Wölfe“, die neben den Konzerten befreundeter Bands auch über ihre Techniker und Verwandtschaft eine erhebliche Wirkung in der Kommune hatte. Es gab eine Gaststätte „Residenz“, die überwiegend von Rechtsextremen besucht
8
Opferperspektive e. V. (Hg.), Angriffsziel Imbiss. Rechte Gewalt gegen Imbissbetreiber mit Migrationshintergrund, Potsdam 2005, S. 23 f.
9
Bundesgerichtshof, Mitteilung der Pressestelle Nr. 36/2006, Urteil gegen fünf Mitglieder
des
„Freikorps
Havelland“
rechtskräftig,
http://juris.bundes
gerichtshof.de/cgibin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&sid= a107734dff877b763e6f5c299ead12e4&nr=35521&anz=1&pos=0&Blank=1 (Letzter Zugrif vom 21.8.2013) 10 Michael Kohlstruck, Jugendliche in Nauen. Gruppendiskussionen zur Freizeitsituation, zu Jugendkulturen und dem Verhältnis zu Ausländern, Arbeitspapier 1/2002, Technische Universität Berlin, Zentrum für Antisemitismusforschung, 2002. 11 Ministerium des Innern des Landes Brandenburg, Verfassungsschutzbericht Brandenburg 2005, S.75.
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wurde, und den Jugendclub „Braunes Haus“ (eigentlich „Blaues Haus“), in dem Rechtsextremisten das Sagen hatten. Ebenso bedenklich ist, dass die Interessen, die das SS-Ahnenerbe mit den Ausgrabungen verfolgte, weder reflektiert noch öffentlich thematisiert 12 werden. In seinem Exposé gibt der Verein auch ausdrücklich an, dass er sich auf diese Ausgrabung bezieht: „Als Grundlage für die Planung dient der Plan zur archäologischen Erschließung am Standort der germanischen 13 Siedlung von 1935 (...).“ Wohlgemerkt geht es nicht darum, die fachlich unzweifelhaften Forschungsergebnisse zu entwerten, sondern sie in ihrer 14 Funktion für die SS zu kontextualisieren. Das Projekt „Historisches Dorf Gannahall“ am Standort der Ausgrabung war 2006 nach fast dreijähriger Planung zunächst gescheitert. Das Forstamt hatte schließlich das gesamte Gebiet zu Waldland erklärt und damit jeglichen baulichen Eingriff ausgeschlossen.
12 Uta Halle, Germanien im NS-Alltag, in: Focke-Museum (Hg.), Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz, Bremen 2013, S. 113. Die Ausgrabungen in Nauen-Bärhorst durch das SS-Ahnenerbe 1935 wurden durch Alexander Langsdorff und Wilhelm Unverzagt durchgeführt: Alexander Langsdorff/ Hans Schleif, Die Ausgrabungen der Schutzstaffeln, in: Germanien 8 (1936), S. 391–399; dies., Die Ausgrabungen der Schutzstaffeln, in: Germanien 10 (1938), S. 6–11. Eine Besichtigung der Ausgrabung durch Himmler und eine Filmdokumentation „Deutsche Vergangenheit“ belegen, dass diese Ausgrabung von wesentlicher Bedeutung für die SS war. 13 http://gannahall.de/html/home.htm, (Letzter Zugriff vom 25.7.2013) 14 Dazu Michael H. Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935-1945, München 2006. Zu der Dekontextualisierung trägt regional bei, dass Günter Eitel Behm-Blancke nach dem Krieg in der DDR an der Universität Jena arbeitete und seine Ahnenerbe-Vergangenheit verschwiegen wurde, vgl. Roman Gabrolle/Uwe Hoßfeld/ Klaus Schmidt, Ur- und Frühgeschichte in Jena 1930-1945. Lehren, Forschen und Graben für Germanien?, in: Uwe Hoßfeld et al. (Hg.), Kämpferische Wissenschaft: Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln 2003, S. 894 und 896. Alle an der Ausgrabung beteiligten Archäologen waren NSDAPMitglieder.
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Abb. 2 Informationsschild auf dem Projektgelände „Historisches Dorf Gannahall“, Sommer 2014
Da Nauen seit 2004 kein Heimatmuseum mehr besitzt, gibt es lokal auch kein institutionelles Korrektiv, das die Kontexte der Ausgrabung wieder herstellen könnte. Derzeit besitzt der Verein ein neues Gelände in Nauen, doch waren dort bis zum Sommer 2013 keine erkennbaren Aktivitäten zu sehen. Der Verein hat seit November 2013 eine vertragliche Grundlage mit der Stadt und will in absehbarer Zeit mit den Arbeiten für das Museumsdorf beginnen. Das Freilichtmuseum mit seinen Nachbauten rekurriert an eine verbreitete Haltung, die sich tatsächlich weitgehend aus der NS-Zeit überliefert hat: „Wir sind Germanen“ dürfte noch immer identitärer Konsens in der Region sein. Es bleibt abzuwarten, ob dort ein rechtsextremes Eventzentrum oder tatsächlich ein Museum entsteht.
Abb. 3 Projekt „Historisches Dorf Gannahall“ Vereinsgelände Sommer 2014
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Nach der Wende wurden in vielen kommunalen Museen die Passagen zur NS-Zeit als ideologieverdächtig abgehängt. Es wurde aber kein Ersatz geschaffen. Vielmehr ist es häufig so, dass die NS-Zeit gar nicht mehr erwähnt wird oder einige entkontextualisierte Aspekte der Lokalgeschichte gezeigt werden. Ausnahmen bilden die Gedenkstätten. Sich der Annahme anschließend, dass Rechtsextremisten ein Geschichtsgefühl brauchen und keinen kritischen Diskurs, findet man auf lokaler Ebene so gut wie keine Aktivisten an historischen Debatten beteiligt. Die beobachtbaren Aktivitäten der rechtsextremen Szene im Bereich der Museen beziehen sich im Wesentlichen auf drei Bereiche: Das Besetzen von Tabuzonen, das Pflegen von Opfermythen und deren Dokumentation in Form privater Sammlungen als den „eigentlichen“ Museen. Viele Museen halten sich in der Regel an die brandenburgischen Tabus. Nicht thematisiert werden: •
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Vertriebene (sog. Umsiedler): Die enormen Schwierigkeiten und Leistungen der Vertriebenen vor allem in den ländlichen Räumen werden von lokalen Museen nur sehr selten thematisiert. Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter auf dem Land: In jedem Dorf und jeder Stadt waren viele Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter auf Bau15 ernhöfen und in Firmen zur Zwangsarbeit verpflichtet. NSDAP-Akteure: Die Haupttäter sind statistisch gesehen mehrheitlich in den Westen geflüchtet. Daher blieben vor Ort häufig nur noch „kleine Lichter“ – das ist der Mythos und zum Teil Realität. Diese kleinen Lichter will man nicht als „Täter“ in der Öffentlichkeit nennen. Sorbische Wurzeln werden in den vermeintlich deutschen Städten außerhalb des heutigen sorbischen Siedlungsgebietes gern geleugnet. Auch wenn die Bevölkerung deutsch war, die Umgangssprache war über Jahrhunderte häufig sorbisch, es gab zahllose Heiraten zwischen
15 Dazu Uwe Mai, Sedimente des Dritten Reiches im Alltag des ländlichen Raumes, in: Mobiles Beratungsteam (Hg.), Hightechlandwirtschaft und sterbende Dörfer? Chancen und Probleme der Zivilgesellschaft in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands, Dokumentation der Fachtagung, Potsdam 2005, S. 89-96.
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Deutschen und Sorben, so dass es eben eine Mischkultur war (und 16 ist). Religiös Verfolgte: Die Bekennende Kirche ist selten Thema, desgleichen verfolgte Katholiken. Zeugen Jehovas werden gar nicht thematisiert, obwohl sie zumeist in KZ inhaftiert waren und nach dem Krieg in der DDR nicht als Opfer des Faschismus anerkannt waren. Das Kriegsende wird auf kommunaler Ebene gewöhnlich nur mit spitzen Fingern angefasst.
Diese Tabuthemen (mit Ausnahme der Kriegsgefangenen und Religion) werden von Rechtsextremisten gern und häufig aufgegriffen und demagogisch kommuniziert. Vom „Bombenholocaust“, dem „Völkermord im Sudetenland“, der „Waffen-SS als Retter vor russischen Vergewaltigern“ und den „germanischen Sorben“ rutschen die rechtsextremen Geschichten in die Alltagskultur und setzen sich dort fest. Aber Rechtsextremisten sind nicht nur auf Steilvorlagen durch Inaktivität angewiesen. Wie das folgende Beispiel zeigt, geht es auch ohne gesicherten historischen Kontext. In einem Waldstück nahe der Hermsdorfer Mühle in der Gemeinde Münchehofe, Landkreis Dahme-Spreewald, wurde im August 2011 ein Gedenkstein mit folgender Inschrift entdeckt: „In Erinnerung an die über 100 Nachrichtenhelferinnen, welche hier in den letzten Tagen des April 1945 von der Roten Armee auf grausamste Weise misshandelt und ermordet wurden. Kriegsverbrechen verjähren nie! August 2011.“ (Abb. 4) Dieser Stein war nicht von einer staatlichen oder kirchlichen Stelle gesetzt, sondern von Unbekannten „wild“ im Wald aufgestellt worden. Der professionell gefertigte Gedenkstein – er dürfte mehrere tausend Euro gekostet haben – wurde solide fundamentiert, mit einer Begrenzung versehen und bepflanzt. Rechtlich hätte der zuständige Bürgermeister die sofortige Beräumung veranlassen können. Ihn interessierten aber die Verantwortlichen für die Aufstellung und woran diese mit dem Stein appellieren wollten. Einer Ahnung folgend, wartete er den Volkstrauertag ab. Am Volkstrauertag und am Totensonntag wurden dort Kränze niedergelegt. (Abb. 5)
16 Ronny Zasowk (stellvertretender Vorsitzender der NPD Brandenburg) etwa konstruiert die „germanischen Sorben“ – das ist nur vor der Folie einer ethnisierenden Geschichtsauffassung sinnvoll.
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Abb. 4 Ohne behördliche Genehmigung aufgestellter „Gedenkstein“, Ursprung unbekannt
Die Initiatoren der gesamten Aktion wurden nie festgestellt, doch kamen sie zweifellos aus dem rechtsextremen Milieu. Es gibt Hinweise auf die Beteiligung der inzwischen durch das brandenburgische Innenministerium verbotenen „Freien Kräfte Teltow Fläming“ (FKTF). Zudem hat in einem Brief an den Bürgermeister die bekannte Holocaust-Leugnerin und Gründerin des inzwischen verbotenen „Collegium Humanum“, Ursula Haverbeck (Jg. 1928), aus Vlotho angefragt, wo denn der Gedenkstein zu finden sei. Auf Weisung der Kreisverwaltung wurde der Stein im November 2011 abgeräumt. Damit war die Gedenkstätte allerdings nicht beseitigt. Noch im November tauchte als Ersatz für den Stein eine Fototafel an derselben Stelle auf, die den Stein in seinem ursprünglichen Zustand dokumentierte. (Abb. 6) Diese Tafel gedenkt jetzt nicht mehr nur der „Blitzmädels“ sondern auch des Gedenksteins. Nachdem auch diese Tafel entfernt worden war, wurden ein halbes Jahr später die umliegenden Bäume des Waldes weiträumig mit Fotos des Gedenksteins beklebt. (Abb. 7)
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Abb. 5 Geschmückter Stein nach Volkstrauertag
Inzwischen ist Ruhe eingekehrt. Die „Täter“ wurden nie ermittelt. Die bisherige Geschichte des Gedenksteins aus einer rechtsextremen Initiative heraus ist besonders in Hinsicht der kommunikativen Praxis interessant: •
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erst wird vordergründig der ermordeten Frauen gedacht – d. h. man reklamiert die Opfer im Schulterschluss für sich, weil „der Staat“ ein Gedenken verweigert; dann wird des Gedenksteins gedacht, der an die „Blitzmädels“ erinnert, d. h. die Initiatoren gedenken ihrer eigenen Aktion; schließlich wird durch die massenhafte Anbringung der Fotos eine obrigkeitliche Zensur gegenüber den engagierten Patrioten kommuniziert. Spätestens ab jetzt gedenkt man in erster Linie der eigenen Opferrolle.
Auf welches Ereignis bezogen sich nun die heimlichen Initiatoren bei ihrer Aktion? Niemand vor Ort weiß von dem angeblichen Ereignis, auch die Gedenkattacken der Rechtsextremisten geben keine Quellen für jenes Massaker an. Ortskundigen Einwohnern (auch der Kriegsüberlebenden) und dem Dorfchronisten war eine solche Begebenheit nicht bekannt. Erst nach umfassender Recherche wurde man fündig. Offenbar bezogen sich die Denkmalerrichter auf einen knappen Bericht Herbert Maegers, eines Angehörigen der Waffen-SS, der in seinen Memoiren folgenden Hinweis gibt: „In einem Wald bei Märkisch Buchholz hatte ich das grauenvollste Erlebnis meiner ganzen Kriegszeit. Wegen der Bombenangriffe aus Berlin hatte man dorthin in Zelte und Nissenhütten Wehrmachtsstäbe und Nachrichtenhelferinnen ausgelagert. Offenbar waren sie von sowjetischen Truppen
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überrascht worden. Hunderte junger Frauen lagen, so weit ich blicken konnte, im Wald, ihnen allen waren die Kleider vom Leib gerissen und die 17 Bäuche aufgeschlitzt worden...“ Abb. 6 Tafel, die an den geräumten Stein erinnert
Abb. 7 Plakatierte Bäume mit Foto des geräumten Steins
17 Herbert Maeger war seit 1941 bei der Leibstandarte SS „Adolf Hitler“. Herbert Maeger, Verlorene Ehre, verratene Treue – Zeitzeugenbericht eines Soldaten, Rosenheim 2003.
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Es spielte für Rechtsextremisten im Zweifelsfall keine Rolle, ob und wo sich das Ereignis tatsächlich abgespielt hat. Entscheidend ist vielmehr der Transport einer ideologischen Botschaft, die sich von belegbaren historischen Inhalten völlig entkoppeln kann. Dass dies auch in der Gegenrichtung funktionieren kann, soll das nächste Beispiel zeigen. Plessa ist ein 1.200 Seelen-Dorf im Süden Brandenburgs mit einem musealisierten Kraftwerk. Zu Spitzenzeiten erreichte die NPD bis zu 12 Prozent der Wählerstimmen. Durch die Befragung von Wahlhelfern bekamen wir heraus, dass die NPD-Wähler überwiegend aus PlessaSüd stammten, einem Ortsteil in dem ab 1945 Flüchtlinge und Vertriebene angesiedelt worden waren. Die hatten in der DDR in der Elektroindustrie Karriere gemacht, während die Alt-Dörfler dagegen Land besaßen und weiterhin ihre Landwirtschaft betrieben. Nach der Wende und der Schließung des örtlichen Kraftwerks verschlechterte sich das Einkommen vieler Vertriebenenfamilien erheblich. Die Männer radikalisierten sich nach Rechts. Arbeit vor Ort war nicht vorhanden, um die Familie zu ernähren, mussten sie nun die Woche über auswärts auf Montage gehen. In dieser Situation haben wir mit dem Plessaer Museumsleiter ein spezielles Projekt aufgelegt. Den im Ort lebenden Frauen wurde ein Kochkurs angeboten und daraus sollte ein Kochbuch „Heimatküche“ unter anderem mit schlesischen, ostpreußischen, brandenburgischen Rezepten entstehen. Im Rahmen des Kurses wurde auch die Vertriebenengeschichte, politische Kontexte, Internationalisierung und ähnliches thematisiert – also unterschwellig ein wenig politische Bildung durchgeführt. Ausgegangen sind wir von der Annahme, dass die Frauen diejenigen sind, die den Männern am Wochenende berichten, was sich während deren Abwesenheit unter der Woche im Dorf ereignete, und dann treffen sich die Männer auf dem Fußballplatz und tauschen sich darüber aus. Auf diese Art der Informationsverbreitung haben wir gebaut und gehofft, dass sich das Wissen aus dem Kochkurs bis zu den Männern weitertragen würde. Und das hat scheinbar geklappt. Die Zahl der NPD-Wähler hat sich in der Folgezeit mehr als halbiert. Dies war nur möglich, weil der Museumsleiter über diese genauen Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten verfügte und so präzise das Problemfeld bestimmen konnte, vor dem wir standen. Rechtsextremisten stoßen mit ihren Interpretationen oft in die Lücken, die lokale Geschichtsschreibung und Museen lassen und besetzen sie im regionalen Kontext. Damit vermeiden sie für sie unangenehme fachhistori-
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sche Auseinandersetzung und können empathische Bilder ohne Kontexte entwickeln. Museen im Land Brandenburg können hier einen Kontrapunkt setzen, indem sie in ihren Ausstellungen und Veröffentlichungen diese Lücken besetzen. Dabei ist es durchaus wichtig, auch emotionale Seiten der in der Bevölkerung vorhandenen Bilder zu berücksichtigen und angemessen darauf zu reagieren. Es reicht nicht aus, sie lediglich als unwissenschaftlich abzutun. In einer demokratisch verfassten Gesellschaft kommt den Stadtund Regionalmuseen eine Dialogfunktion zwischen Wissenschaft und lokaler Bevölkerung zu, die weder ein zentralistisches Interpretationsmonopol beansprucht, noch dem Bedarf nach lokaler Jubelchronik nachkommt. Es ist der Weg eines mühsamen Dialogs, der auch konfliktreich sein kann, den die Museen gehen sollten, um aus dem gegebenen Spannungsfeld eine „stimmige“ Darstellung lokaler Geschichte zu kommunizieren. Wenn Museen nicht die richtigen Fragen aufwerfen, geben die falschen Leute die falschen Antworten.
Bildnachweis
Insa Eschebach, Museale Entwicklungen in ostdeutschen KZ-Gedenkstätten vor und nach dem Fall der Mauer. Abb. 1
Foto: Cordia Schlegelmilch, 2010, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück (MGR)/Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten (SBG)
Abb. 2-5 Foto: Annelise Bonitz, 1980er Jahre, MGR/SBG Abb. 6
Foto: Britta Pawelke, 2013 MGR/SBG
Abb. 7
Foto: Britta Pawelke, 2013 MGR/SBG
Abb. 8
Foto: Cordia Schlegelmilch, 2013 MGR/SBG
Abb. 9-11 Foto: Britta Pawelke, 2013 MGR/SBG
Susanne Hagemann, „Leere Gesten“? Darstellungsmuster in Ausstellungen zur NS-Zeit. Abb.1, 3, 4 Foto: Hagemann, Stadtmuseum Schwabach Abb. 2
Foto: Hagemann, Märkisches Museum Berlin
Abb. 5
Foto: Hagemann, Museum Viadrina Frankfurt/Oder
Abb. 6
Foto: Hagemann, Stadtmuseum Werne
Abb. 7
Foto: Hagemann, Stadtmuseum Schloss Wolfsburg
Abb. 8
Foto: Hagemann, Museum Münster
Abb. 9
Foto: Hagemann, Stadtmuseum Köln
Michael Lingohr, Die letzte ideologiefreie Bastion? Der nationalsozialistische Angriff auf den Haushalt. Abb. 1
PORZELLANFABRIK ARZBERG, Modell 1382 Kaffee- u. Teegeschirr, Entw. Hermann Gretsch, 1931. Foto Lazi. Die Kunst 33 (1931-32), 66 AK, S. 288.
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Abb. 2
PORZELLANFABRIK ARZBERG, Modell 1382 Speisegeschirr, Entw. Hermann Gretsch, 1931. Foto Lazi, Die Kunst 33 (1931-32), 66 AK, S. 289.
Abb. 3
Gutes und schlechtes Geschirr. Heim-Berater 21937 [zit. n. 19], S. 112f.
Abb. 4
Gutes Geschirr. Leitl 51941 [zit. n. 21], Titel u. S. 23.
Abb. 5
Hausrat-Ausstellung Weimar-Halle 1940. Die Schaulade 16 (1940), 12A, S. 252.
Abb. 6
PORZELLANFABRIK ARZBERG, Werbeanzeige für Modell 1382. Die Schaulade 14 (1938), 3B, S. 103.
Abb. 7
KUNST-DIENST-Ausstellung zur Einführung der DEUTSCHEN WARENKUNDE,
Abb. 8
Berlin 1939. Kunst-Dienst 1941 [zit. n. 35], S. 21.
AMT „SCHÖNHEIT DER ARBEIT“, Speisegeschirr Modell I, Entw. Heinrich Löffelhardt, 1936. Schönheit der Arbeit 1 (1936-37), 9, S. 445.
Abb. 9
Ratgeber zur Heimgestaltung der Reichsfrauenführung, 1938. Heimgestaltung 1938 [zit. n. 44], Titel.
Ronald Hirte, Zeitgeschichtliche Archäologie und Ding-Pädagogik in der Gedenkstätte Buchenwald. Abb. 1-3 Foto: Ronald Hirte 2012, Gedenkstätte Buchenwald Abb. 4
Screenshot 2013 Gedenkstätte Buchenwald
Abb. 5
Foto: Peter Hansen 2010, Gedenkstätte Buchenwald
Abb. 6
Foto: Claus Bach 2012, Gedenkstätte Buchenwald
Martina Christmeier, Pascal Metzger, Nationalsozialismus ausstellen: Zum Umgang mit NS-Objekten. Ausstellungspraxis im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände. Abb. 1
Foto: Heiko Stahl, Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände
Abb. 2
Foto: Stefan Meyer, Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände
Abb. 3
Foto: Stephan Minx, Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände
Abb. 4-5 Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Abb. 6-9 Geschichte Für Alle e.V.
Jens Wehner, Den Zweiten Weltkrieg in Ostdeutschland ausstellen. Abb. 1-4 Foto: Brandt, MHM
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Jutta Götzmann, Wenke Nitz, Der Nationalsozialismus in Ausstellungen des Potsdam Museums – vor und nach 1989. Abb. 1-7 Potsdam Museum Abb. 8-10 Foto: Lorenz Kienzle, Potsdam Museum
Steffen Stuth, In Trümmern. Die Zerstörung Rostocks im April 1942. Eine Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Rostock zur Auseinandersetzung mit problematischer Stadtgeschichte. Abb. 1
Kulturhistorisches Museum Rostock
Abb. 2
Gemälde von Egon Tschirch, Kulturhistorisches Museum Rostock
Abb. 3-5 Kulturhistorisches Museum Rostock
Anke Grodon, Zwischen Einschulung und Einberufung. Eine Ausstellung zum Alltag im „Dritten Reich“ im Stadtmuseum Schwedt/Oder. Abb. 1
Stadtmuseum Schwedt/Oder
Abb. 2
Wolfgang Kaddatz und Stadtmuseum Schwedt/Oder
Abb. 3
Schenkung Gunter Freyhoff, Stadtmuseum Schwedt/Oder
Abb. 4
Liane Morgner, Fotografie Stadtmuseum Schwedt/Oder
Abb. 5
Jörg Wilke Stadtmuseum Schwedt/Oder
Abb. 6
Stadtmuseum Schwedt/Oder
Abb. 7
Familie Görlitz und Stadtmuseum Schwedt/Oder
Dirk Wilking, Museen, Geschichte und rechte Milieus: Fallbeispiele aus Brandenburg. Abb. 1
http://www.front-records.com/images/sweatshirtopaschwarz300.gif (Letzter Zugriff vom 21.7.2014)
Abb. 2-3 Foto: Dirk Wilking Abb. 4
Foto: Ralf Irmscher, August 2011
Abb. 3
Foto: Ralf Irmscher, 14.11. 2011
Abb. 4
Foto: Ralf Irmscher, 27.4.2012
Abb. 5
Foto: Ralf Irmscher, 18.7.2012
Autorinnen und Autoren
Dr. Martina Christmeier, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg Dr. Insa Eschebach, Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück Dr. Jutta Götzmann, Direktorin des Potsdam Museums – Forum für Kunst und Geschichte Anke Grodon M.A., Leiterin der Städtischen Museen Schwedt/Oder Susanne Hagemann M.A., freiberufliche Museumswissenschaftlerin, Berlin Gabriele Helbig, Leiterin Museum und Galerie Falkensee, Erste Sprecherin des Vorstandes des Museumsverbandes des Landes Brandenburg e.V. Dr. Christian Hirte, Kurator und Museumsberater, Berlin Ronald Hirte M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora Dr. Susanne Köstering, Geschäftsführerin des Museumsverbandes des Landes Brandenburg e.V. PD Dr. Michael Lingohr, 2013 Vertretungsprofessur Kunstgeschichte Ostmitteleuropa (Prof. Marek) an der Universität Leipzig
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Dr. Andreas Ludwig, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam Dr. Pascal Metzger, Geschichtspädagoge für Geschichte Für Alle e.V., Nürnberg Dr. Wenke Nitz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Potsdam Museum Dr. Patrice Poutrus, Lise-Meitner-Fellow am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien Prof. Dr. Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, Prof. für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Potsdam und an der Humboldt-Universität zu Berlin Janosch Steuwer M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Ruhr-Universität Bochum Dr. Steffen Stuth, Leiter des Kulturhistorischen Museums Rostock Jens Wehner M.A., Sachgebietsleiter Bildgut und Kurator am Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden Dirk Wilking M.A., Geschäftsführer Demos - Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung, Potsdam
Edition Museum Felix Ackermann, Anna Boroffka, Gregor H. Lersch (Hg.) Partizipative Erinnerungsräume Dialogische Wissensbildung in Museen und Ausstellungen 2013, 378 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2361-1
Sophie Elpers, Anna Palm (Hg.) Die Musealisierung der Gegenwart Von Grenzen und Chancen des Sammelns in kulturhistorischen Museen 2014, 218 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2494-6
Katerina Kroucheva, Barbara Schaff (Hg.) Kafkas Gabel Überlegungen zum Ausstellen von Literatur 2013, 328 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2258-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Museum Luise Reitstätter Die Ausstellung verhandeln Von Interaktionen im musealen Raum April 2015, ca. 264 Seiten, kart., farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2988-0
Ulli Seegers Ethik im Kunstmarkt Werte und Sorgfaltspflichten zwischen Diskretion und Transparenz Januar 2016, ca. 200 Seiten, kart., ca. 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2625-4
Stapferhaus Lenzburg, Sibylle Lichtensteiger, Aline Minder, Detlef Vögeli (Hg.) Dramaturgie in der Ausstellung Begriffe und Konzepte für die Praxis 2014, 134 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2714-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Museum Britta Hochkirchen, Elke Kollar (Hg.) Zwischen Materialität und Ereignis Literaturvermittlung in Ausstellungen, Museen und Archiven März 2015, 224 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2762-6
Monika Kaiser Neubesetzungen des Kunst-Raumes Feministische Kunstausstellungen und ihre Räume, 1972-1987 2013, 298 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2408-3
Karin Mihatsch Der Ausstellungskatalog 2.0 Vom Printmedium zur Online-Repräsentation von Kunstwerken Mai 2015, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2959-0
Nadine Pippel Museen kultureller Vielfalt Diskussion und Repräsentation französischer Identität seit 1980 2013, 274 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2549-3
Leo von Stieglitz, Thomas Brune (Hg.) Hin und her – Dialoge in Museen zur Alltagskultur Aktuelle Positionen zur Besucherpartizipation Januar 2015, 144 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2761-9
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