Entgrenzen, Entfliehen, Entmachten: Zur sakralen Dimension in US-amerikanischen Hip-Hop-Videos 9783839438329

Until now, research in the area of hip-hop and religion has concentrated on rap lyrics - here, Eileen Simonow examines t

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German Pages 328 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Dank
Einleitung. Problemstellung, Begrifflichkeiten und Ziele
Forschungsüberblick. Religion, race und Hip-Hop
Georges Batailles Theorie des Sakralen und ihre Bezüge zur US-amerikanischen Hip-Hop-Kultur
Bataille und das Sakrale. Einleitende Bemerkungen
Unproduktive Verausgabung und verwandte Denkfiguren
Sakralität, Souveränität und Subversion
Eine Ästhetik des Sakralen?
Hip-Hop-Musikvideos als hybride Medien. Einleitende Bemerkungen
Institutionen der (Hip-Hop-)Musikvideogeschichte
Hip-Hop-Musikvideos – Medien des Sakralen? Einleitende Bemerkungen
Fallstudien
Boom Biddy Bye Bye – Das Sakrale der Marginalität
Von religiösen Stoffen zu sakralen Strategien in Puppet Master
Monster – Die Sakralität des Anderen
Sakralität, Macht und Souveränität in Power
Schlussbemerkungen
Literatur
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Entgrenzen, Entfliehen, Entmachten: Zur sakralen Dimension in US-amerikanischen Hip-Hop-Videos
 9783839438329

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Eileen Simonow Entgrenzen, Entfliehen, Entmachten

Studien zur Popularmusik

Eileen Simonow, Germanistin, Musikwissenschaftlerin sowie Medien- und Kulturwissenschaftlerin, ist Mitarbeiterin am Institut für Lebenslanges Lernen der Folkwang Universität der Künste und unterrichtet an der Heinrich-Heine-Universität sowie der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf. Neben Musikvideos und Hip-Hop interessiert sie sich für frühe Popmusik- und Jazzgeschichte, aktuelle interkulturelle Prozesse sowie Inszenierungspraktiken im zeitgenössischen Musiktheater.

Eileen Simonow

Entgrenzen, Entfliehen, Entmachten Zur sakralen Dimension in US-amerikanischen Hip-Hop-Videos

Gedruckt mit großzügiger Unterstützung der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post e.V. und des DFG-Graduiertenkolleg »Materialität und Produktion« (GRK 1678). Die Dissertation wurde unter dem Titel »›I Am a God‹. Inszenierungen des Sakralen in Musikvideos des US-amerikanischen Hip-Hops« bei der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf eingereicht. D61

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlag: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: BillionPhotos.com Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3832-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3832-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Dank | 9 Einleitung | 11 Forschungsüberblick | 21

G EORGES BATAILLES THEORIE DES S AKRALEN UND IHRE BEZÜGE ZUR US-AMERIKANISCHEN HIP -HOP-KULTUR Bataille und das Sakrale | 53

Batailles Religionskritik | 55 Acéphale – Geheimgesellschaften und Sakralität | 60 Das Sakrale im Kontext des Collège de Sociologie | 73 Unproduktive Verausgabung und verwandte Denkfiguren | 79

Unproduktive Verausgabung als Verschwendung | 79 Hip-Hop und Luxus | 84 Der Opfergedanke in der Erotik | 88 Hip-Hop, Körperlichkeit und Erotik | 92 Sakralität, Souveränität und Subversion | 99

Sakralität und Souveränität | 102 Die Instrumentalisierbarkeit des Sakralen | 108 Der souveräne Mensch und seine Bedingungen | 111 Kritikpunkte an Batailles Sakralsoziologie | 113 Eine Ästhetik des Sakralen? | 119

Michel Leiris’ Beitrag zu einem Sakralbegriff des Inszenierten | 121 Kunst und Poesie am Collège | 123 Poesie (und Rap) als ultimative Verausgabung | 126 Rap – Rhythmic American Poetry | 130

Hip-Hop-Musikvideos als hybride Medien | 135

Vergemeinschaftung in Tupacs TO LIVE AND DIE IN L.A. | 140 Produktionsökonomien | 144 Hybridität und Gemeinschaft | 148 Institutionen der (Hip-Hop-)Musikvideogeschichte | 153

Hip-Hop-Musikvideos in den 80er Jahren | 158 Hip-Hop-Musikvideos in den 90er Jahren | 165 Hip-Hop-Musikvideos 2000 und danach | 169 Hip-Hop-Musikvideos – Medien des Sakralen? | 177

Musikvideos in Batailles Kunstverständnis | 178 Musikvideo und Alltag | 181 Musik und Transzendenz | 191 Musikvideos in der Rezeptionssituation | 196 Überschussproduktion und Subversion in Hip-Hop-Musikvideos | 201

FALLSTUDIEN B OOM B IDDY B YE B YE – Das Sakrale der Marginalität | 209

Strategien der Marginalisierung und ihr Durchbrechen | 212 Die Transformation des Religiösen | 215 Opfer(n) | 221 Ein musikalisches Opfer | 224 Von religiösen Stoffen zu sakralen Strategien in PUPPET M ASTER | 233

Der Teufel als ausgeschlossene, sakrale Figur | 239 Mimikry als Prozessbeschreibung | 242 Eine fetischisierte Pietà | 244 Masken und Maskierungen | 248

M ONSTER – Die Sakralität des Anderen | 255

„Are you willing to sacrifice your life?“ | 256 Schwarze Identität: Monster-Werden und Monster-Sein | 259 Verausgabung und Überschuss | 272 Destruktion und Transgression christlicher Ikonografie | 278 Sakralität, Macht und Souveränität in P OWER | 285

Machtanspruch und Schwarze Identität | 287 Ästhetik der Überwältigung | 292 Sound und Gemeinschaft | 297 Souveränität oder Wille zur Macht? | 299 Schlussbemerkungen | 303 Literatur | 311

Dank

Diese Arbeit würde es nicht ohne die Menschen geben, die viele Jahre mit mir diskutiert haben, meinen hartnäckigen Zweifeln mit unermüdlichem Widerspruch begegnet sind und die jene Nerven hatten, die mir oft fehlten. Mein herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Reinhold Görling, der mir in der Medien- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität ein fachliches Zuhause gegeben und in zahlreichen Gesprächen an den richtigen Stellen insistiert hat. Genauso herzlich danken möchte ich meinem Zweitgutachter Herrn Prof. Dr. Roger Lüdeke für seine strategischen Hinweise, die mir bei Argumentation und Strukturierung der Arbeit sehr geholfen haben. Frau Prof. Carol Vernallis danke ich sehr für ihre Spontaneität, meine Musikvideoanalysen so engagiert mit mir diskutiert zu haben und für ihren Enthusiasmus, der mir viel Kraft beim Schreiben der Arbeit gegeben hat. Den Mitgliedern des Gör-Lü-Doktorand/-innenkolloquiums danke ich für ihre Neugier meinem Projekt gegenüber, für die anregenden Diskussionen und vielfältigen Denkanstöße, die diese Arbeit bereichert haben. Es war schön, einen Platz gehabt zu haben, über Hip-Hop-Musikvideos, Ideologie und mannigfache Zeichenexzesse diskutieren zu können. Ferner gilt mein herzlicher Dank Frau Dr. Ariane Neuhaus-Koch und Herrn Prof. Dr. Jürgen Wiener für ihre Gesprächsbereitschaft und die vielen hilfreichen Ratschläge, die mich manches Mal sicher durch den akademischen Betrieb gelotst haben. Julia Bee gilt mein lieber Dank für die vielen Gespräche, in denen sie mich mit ihrer fachlichen Expertise und ihrer beeindruckenden Klarheit beraten, mir Mut gemacht und mir immer das Vertrauen gespiegelt hat, die Doktorarbeit zu schaffen. Ebenso verbunden bin ich Karsten Lehl für seine Geduld und seine Haltung, kein wissenschaftliches Streitgespräch zu scheuen, sowie dafür, stets auf sein musikalisches und musikwissenschaftliches Knowhow zugreifen zu dürfen. Mein Dank gilt ebenso Jonas Lamik, der mir besonders auf den letzten Metern und bei der Erstellung des Manuskriptes sehr geholfen hat. Susanne Diesner und Kristin Wernicke danke ich für die wertvolle Freundschaft, vor allem für die Kontinuität, die Ablenkungen,

die Hinweise zur richtigen Zeit, dass es Wichtigeres gibt als die Doktorarbeit. Meinem Onkel Peter Bleses danke ich dafür, dass er immer an mich glaubt und immer für mich da ist.

Einleitung Problemstellung, Begrifflichkeiten und Ziele

„Er ist einfach Gott geworden“1 titelte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung nach einem Konzert von Hip-Hop-Superstar Jay Z in der Metropole am Main ehrfurchtsvoll und vielleicht ein bisschen ergeben. „Der Rapper Jay-Z ist genial, schlau, teuflisch perfekt,“2 heißt es in dem Beitrag. Jay Z wird dort auch als unnahbar, kühl und überlegen charakterisiert und sein Auftritt als minutiös durchgeplante Show der Superlative beschrieben. Von jungen Menschen werde Jay Z „angehimmelt wie ein Heiliger,“3 so der Artikel, der diese Anziehungskraft damit erklärt, dass der Rapper eine „mystische Aura“ um sich aufgebaut habe und in letzter Konsequenz, wie der Titel sagt, „einfach Gott geworden“ sei. Beschrieben werden in dem Feuilletonbeitrag zunächst einmal das Phänomen des Hip-Hop-Moguls und -Megastars, seine Live-Inszenierungspraktiken und die Reaktionen der Fans. Dabei ist ein Blick auf das gewählte Vokabular, das Jay Z und seinen Auftritt beschreibt, notwendig: Es offenbart sich eine scheinbar „religiöse“ Metaphorik: eine mystische Aura, teuflisch, ein Heiliger oder sogar Gott selbst geworden zu sein, stilisiert Jay Z zu einem Ideal und positioniert ihn an der Spitze einer offenbar

1

Antonia Baum: „Er ist einfach Gott geworden“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.06.2012 [Printausgabe vom 10.06.2012], http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/pop/ rapper-jay-z-er-ist-einfach-gott-geworden-11779645.html vom 16.08.2016. Auch Kanye West bezeichnet sich in einem seiner jüngeren Songs als Gott, siehe seinen Track „I Am A God“. Zur Schreibweise Jay Zs: Der Künstler trug früher einen Bindestrich in seinem Namen, heute erscheint er nur noch als Jay Z.

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Ebd.

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Ebd.

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immer noch gültigen (christlichen) Hierarchie. Die Produkte wie CDs, Musikvideos, aber auch die Werbung für diese sowie für Konzerte, arbeiten gehäuft mit Symbolen und Codes aus dem Bereich des „Religiösen.“ Meist, aber keinesfalls ausschließlich, wird auf den Zeichenvorrat des Christentums zurückgegriffen – Dornenkronen, die Rapper tragen, der Teufel (oder Gott), zu dem sie selbst werden, Engelsflügel, die sie zieren, diamantbesetzte Kreuzketten und Lichtinstallationen, die Heiligenscheine entstehen lassen – dies alles sind nur einige wenige Inszenierungsstrategien, die uns bei Live-Auftritten und in besonders dichter Weise auch in Musikvideos des HipHop-Genres begegnen. Es gibt sich ein Netz aus synkretistischen, widersprüchlichen und in unterschiedlichen Graden „religiösen“ Codes, Symbolen, Zeichen und Gesten zu erkennen, dessen sich für die Musikvideos bedient wird. Die feuilletonistische Charakterisierung Jay Zs hat uns also in einem ersten Schritt auf ein komplexes Phänomen der US-amerikanischen Hip-Hop-Kultur aufmerksam gemacht, welches, so wird im Folgenden argumentiert, mit Begriff und Konzept des Sakralen näher beschrieben und untersucht werden kann. Ferner macht der Artikel einen ganz wesentlichen Kontext für Jay Z und insgesamt für Schwarze in den USA auf, wenn die Autorin schreibt, „Kern seines Lebensthemas“ sei „der Versuch, als Schwarzer nach oben zu kommen, der große Kampf“. Die vorliegende Untersuchung verbindet die Inszenierungspraktiken des Hip-HopSuperstars mit dem „Lebensthema“, mit dem Kampf um Anerkennung und Souveränität in der US-amerikanischen Gesellschaft ohne dieses als „Prämisse“ zu nehmen. Viel zu oft bekäme Black Music dieselben Etiketten, nämlich die der Widerständigkeit, der moralischen Integrität und der Authentizität unter den Bedingungen des anhaltenden Rassismus, so der Musikethnologe Ronald M. Radano.4 Diese immer gleichen Geschichten seien es, die Black Music – und damit auch Hip-Hop – „Raum zum Atmen“ nehmen würden. Auf diesen Setzungen ruhe auch die Überzeugung eines Gros’ der Forschung auf, musikalische Ursprünge für jedwede von Schwarzen5 Künstler/-innen gemachte Musik direkt und eindeutig in Afrika zu suchen.6 Radano folgend wird in dieser Untersuchung kritisch mit der bisherigen Forschung auf dem Gebiet von Hip-Hop und Religion umgegangen, die all zu oft eben jene genealogische Verbindung zwischen heutiger Musikpraxis und einem ursprünglichen Afrika zieht und so oben beschriebene, heterogene Symbole und Zeichen, Zitate und Wörter in einen eindeutigen religiösen Rahmen stellt. Robin Sylvan hat diese

4

Vgl. Ronald Michael Radano: Lying up a Nation. Race and Black Music, Chicago 2003, S. xii.

5

Schwarz-Sein und Weiß-Sein werden in diesem Buch als Differenzkonstruktionen betrachtet; mit dem Großschreiben von sowohl Schwarz als auch Weiß soll dieser sozialen Konstruiertheit Rechnung getragen werden.

6

Vgl. R. M. Radano: Lying up a Nation, S. xiii und S. 33-34.

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Zusammenhänge am klarsten formuliert und rekurriert bei ihren Feststellungen auf die Ergebnisse namhafter Forscher, wie die Musikwissenschaftler Samuel A. Floyd Jr und Portia Maultsby. Sie erklärt: „[…] in Africa music and religion are not separate at all but are intimately interconnected aspects of a larger spiritual universe that provides the culture with its fundamental orientation.“7 Sie geht weiter davon aus, dass dieses Verwobensein von Musik und Religion sich in die Diaspora rettet und bis in die US-amerikanische Hip-Hop-Kultur der Gegenwart nachzuweisen ist. Die Afroamerikaner, deren Vorfahren als Sklaven in die USA gebracht worden waren, hätten durch die Religion in ihrer Musikpraxis eine Verbindung nach Afrika aufrechterhalten, so Sylvan. Gleichzeitig betont sie aber auch, dass dieses Aufrechterhalten in „radically changed forms“ geschehe, deren Erscheinen nicht mehr unmittelbar den ursprünglichen oder historisch rekonstruierten Praktiken in Afrika ähneln muss.8 Sylvan vertritt in ihrer Studie die These, dass verschiedene Jugendkulturen in lokaler Praxis immer noch eine „West African essence“9 in sich tragen und deutet sie als wichtiges religiöses Phänomen der Gegenwart.10 Sylvans Argumentation steht hier exemplarisch für eine Vielzahl an Arbeiten, die Hip-Hop-Kultur in den USA immer an ihre afrikanischen Wurzeln und religiösen Praktiken zurückbindet. Für regionale und lokale Jugendkulturen, wie Sylvan sie auch empirisch in ihrer Studie untersucht hat, mag dies sogar noch zutreffen. Für Musikvideos des US-amerikanischen Mainstreams jedoch, so argumentiert die hier

7

Robin Sylvan: Traces of the Spirit. The Religious Dimensions of Popular Music, New York

8

R. Sylvan: Traces, S. 16.

9

Ebd., S. 17. Spiritualität, Religiosität und Sakralität sind für viele Forschungsarbeiten

2002, S. 16.

Grundlage, neukontextualisierte Fragmente verschiedener Religionen und Weltanschauungen im Hip-Hop-Diskurs zu beschreiben und nach ihrem Wert für Gesellschaft und Individuum zu befragen. Dabei steht eine entweder meist nur veränderte Form von religiöser Praxis oder eine Abkehr von tradierter Religion und selten das Verneinen Gottes im Vordergrund, wenn Raptexte und -songs analysiert werden (siehe nachfolgendes Kapitel). Zitate von Bibelversen, religiöse Bildsprache in Musikvideos oder Samples von Gospel- und Soulmusik werden isoliert, fixiert und als Spuren von Religion gelesen, während die Kontexte und die vielen weiteren vorhandenen Symbole und Codes und die Art und Weise der Inszenierung vernachlässigt werden. Stattdessen werden die Umgebungen dieser vermeintlich auf Religion oder gar Religiösität (der Interpet/-innen) hindeutenden Symbole häufig als Widerspruch wahrgenommen, und weiter als eine lebendige Auseinandersetzung mit dem einen Fluchtpunkt, nämlich Gott, gefällig interpretiert. Musikvideos werden so implizit zum Ausdruck eines bestimmten religiösen Glaubens, der sich eines wissenschaftlichen Umgangs zu entziehen droht. 10 Vgl. ebd., S. 219.

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vorliegende Arbeit, trägt das Konzept der ererbten afrikanischen, religiösen Wurzeln nicht mehr. Eingebettet in globale kapitalistische Ökonomien und damit verbundene Produktionsbedingungen und -zwänge und als interkulturelle Phänomene verstanden, binden die in dieser Arbeit untersuchten Musikvideos zwar „religiöses“ Material auf visueller (und auditiver) Ebene ein, verwenden dabei jedoch Inszenierungsstrategien, die nicht mehr als religiös, sondern als sakral zu beschreiben sind.

Sakrale Inszenierungsstrategien Dieses Buch möchte entfalten, dass der immer wieder als „religiös“ oder in einem „religiösen“ Kontext stehend beschriebene Zeichenvorrat von Hip-Hop-Artefakten mit der Sakralsoziologie und -ästhetik Georges Batailles zu beschreiben und zu erklären ist. Rückbezüge auf Praktiken der „Black religion“, genauso wie Analysen mithilfe der üblichen Tropen des Signifyin(g)11, sind kulturimmanent, das heißt, dass die Analysemethoden aus der Analyse von Untersuchungsgegenständen der Schwarzen Kultur stammen und in diese Analysen wieder hineingegeben werden – meist mit dem Ziel, die „Blackness“ dieser Gegenstände zu beweisen. Diese von Radano kritisierten Fallstricke12 sucht die Arbeit mit dem Sakralen als einer kulturübergreifenden Kraft zu umgehen. In der Arbeit wird umgekehrt keinesfalls argumentiert, dass Wortspiele (dies ließe sich für auditive und visuelle Strategien der Musikvideos ebenso behaupten) in der Tradition des Signifyin(g) nicht mehr zu konstatieren seien und damit zum Beispiel das Aufgreifen von Material, um es neu zu kontextualisieren, es zu verdrehen, in seiner Bedeutung zu verändern, es indirekt und direkt zu kritisieren und damit Deutungshoheit über es zu erlangen, nicht mehr gegeben sei. Ihre vermeintlich implizite „Blackness“ jedoch, genauso wie die in dieser Studie besonders relevante und in Verbindung mit Argumentationen des Widerstandes und der Sub-

11 Das Signifyin(g) wird hier in Anlehnung an Henry Louis Gates, Jr. und Samuel A. Floyd verstanden als ein Oberbegriff für eine Vielzahl an Praktiken des verbalen, hier auch auf die visuelle Ebene übertragenen, ironischen und satirischen, humorvollen, immer indirekten Umgangs mit sprachlichem (hier eben auch visuellem) Material: „To ‚signify‘ is to repeat, revise, reverse, or transform what has come before, continually raising the stakes in a kind of expressive poker [...]“ Gena Dagel Caponi: „Introduction“, in: Dies. (Hg.): Signifyin(g), Sanctifyin', & Slam Dunking: A Reader in African American Expressive Culture, Massachusetts 1999, S. 1-41, hier S. 22. Radano leistet eine grundlegende Kritik am Signifyin(g)-Begriff, die in den einzelnen Analysen und im Forschungsüberblick thematisiert wird. 12 Siehe dazu die ausführliche Argumentation im Forschungsüberblick.

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version oft vorkommende Frage eines „Schwarzen“ Religionsausdrucks in den Artefakten, wird abgelehnt. Stattdessen wird das Sakrale als kulturübergreifende Größe angesetzt und gezeigt, dass es in den Musikvideos als musikindustriellen Marketinginstrumenten Impulse setzt, die eine hohe Faszinations- und Bindungskraft haben, die sowohl individuell und auf die Künstler/-inneninszenierung bezogen machtverstärkend sein können als auch durch Vielschichtigkeit und Uneindeutigkeit binäre Zuweisungen von Macht und Ohnmacht sowie Schwarz und Weiß umgehen. Die Arbeit legt den Blick auf Figuren, Zeichenvorräte, auditive und visuelle Codes frei, die mit dem Verweis auf den Kanon der Schwarzen Kulturpraktiken nicht ausreichend erklärt sind und zeigt, dass das Sakrale in Symbolen, Motiven und Strukturen bis in die medienspezifische Beschaffenheit der Musikvideos des US-amerikanischen HipHops hinein eine Rolle spielt. Die perfekt inszenierten und produzierten Songs und Videos verfolgen als ein Ziel, Stars zu überhöhen, sie mit einer Strahlkraft auszustatten, die ihre Fans an sie bindet, sie ihre Produkte kaufen und Konzerte besuchen lässt. Die Sakralität in Verbindung mit den Rappern, die mystische Aura und letztlich sogar die „Gottwerdung“ der Superstars, funktionieren nur unzureichend innerhalb eines religiösen Rezeptionsrahmens – sei es in affirmierender Weise als Zeichen von Religiosität oder in ablehnender Haltung, die sich bisweilen in Vorwürfen von Blasphemie (und im Beispiel des F.A.Z.-Artikels in dem Adjektiv „teuflisch“ findet) ausdrückt. Hier wird argumentiert, dass sie stattdessen mit einer Sakralsoziologie und -ästhetik zu lesen sind, wie sie Georges Bataille zeitlebens intensiv beschäftigt hat. „Er ist einfach Gott geworden“ ließe sich mit Batailles Forschung und bewusst zugespitzt als „Er ist einfach zum Führer geworden“ formulieren. Wenn Bataille über die Bindungskraft zwischen militärisch-religiösen Führern und ihren Untertanen nachdenkt, kommt er zu einer der oben zitierten Konzertretrospektive sehr ähnlichen Beschreibung: „Der Führer ist Emanation eines Prinzips, das nichts anderes ist, als die ruhmreiche Existenz des Vaterlandes zum Wert einer göttlichen Kraft erhoben.“13 Für Jay Z – der Beschreibung durch das Feuilleton folgend – ließe sich behaupten, er sei nichts anderes, als hervorgegangen aus der Hip-Hop-Gemeinschaft, die ursprünglich Ausdruck einer Widerstandsbewegung im Kampf der Hautfarben war. Jay Z als Heiliger, als Gott und als Führer wäre demnach Ausdruck der „göttlichen Kraft“ seiner Anhängerschaft. Das Prinzip, von dem Bataille spricht, funktioniert eben auch umgekehrt: In den sakralen Inszenierungen Jay Zs feiert sich auch die Hip-Hop-Gemeinschaft. In ihm heiligen sich auch die Fans. Diese Gemeinde ist, wenn wir für einen Moment

13 Georges Bataille: Die psychologische Struktur des Faschismus/Die Souveränität hg. v. Elisabeth Lenk, München 1978 [Originaltitel: „La structure psychologique du fascisme“, zuerst erschienen in: La Critique sociale Nr. 10-11, November 1933/März 1934], S. 34. Im Folgenden zitiert als: Bataille: Faschismus.

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an das Konzert in Frankfurt am Main denken, keinesfalls eine, die sich ausschließlich aus Schwarzen US-Amerikanern zusammensetzt. Das lässt für die Tragweite des Stars Jay Z – um in diesem Beispiel zu bleiben – und seiner sakralen Elemente vermuten, dass diese interkulturell wirksam sind. Es handelt sich um Mechanismen, die an den Kern des Sozialen gebunden sind – gewissermaßen ist das Sakrale ja das Soziale in einer bestimmten Form – zunächst relativ unabhängig von spezifischen Gesellschaftsstrukturen. Dennoch ist es notwendig, Mainstream-Hip-Hop aus den USA in einer wissenschaftlichen Arbeit im Kontext der US-amerikanischen Gesellschaftsstruktur zu denken. Der Graben, die sogenannte „color line“ zwischen den Hautfarben ist gesellschaftlich viel zu präsent und prägend, die soziale Konstruktion von Schwarz (und Weiß) konstituiert vielleicht sogar die US-amerikanische Gesellschaft als solche, als dass es wenig sinnvoll oder vielleicht unmöglich erscheint, Hip-Hop nicht in den Kontext eines race-Diskurses zu stellen. Vielmehr soll Hip-Hop-Musikvideos hier die Möglichkeit eröffnet werden, eine Vielzahl von Bedeutungen für ein interkulturelles Publikum tragen zu können. Dazu muss Radano folgend die zu einfache Logik von Schwarz und Weiß aufgebrochen werden mit dem Ziel „to propose a story without succumbing to the racial fixities and transcendental concepts that more conventional renderings suggest.“14 Mit der Sakralsoziologie ist es möglich, das Sakrale als eine Kraft eingesetzt für die Souveränitätsbewegung der Schwarzen, wie sie sich in einzelnen Elementen im Hip-Hop des Mainstreams auch gegenwärtig ausdrückt, zu lesen. Genauso und in denselben Analysen wird deutlich, dass das Sakrale jedoch weder Schwarz noch Weiß ist und sicher nicht christlich, sondern Gemeinschaften oder Momente von Gemeinschaften ermöglicht, die transkulturell sind und die neuere Musikvideos immer stärker inszenieren. Jay Z und andere Größen des Hip-Hops in den USA haben im Laufe ihrer Karriere immer wieder auf den Nexus von Gewalt, Religion und Erotik, wie Bataille ihn als den Wirkungsbereich des Sakralen beschreibt, zurückgegriffen, um sich aus einer gesellschaftlich unterlegenen Position heraus als mächtig zu etablieren.15 Die Geschichte des Hip-Hop-Musikvideos wird demnach als eine Geschichte gelesen, die von dem Kampf gegen Weiße Überlegenheit, hegemoniale

14 R. M. Radano: Lying up a Nation, S. 4. 15 Bataille schreibt an dieser Stelle freilich besonders deutlich vor einem politisch motivierten Hintergrund. In dieser Arbeit werden Hip-Hop und besonders seine Wurzeln durchaus auch als politische Bewegung betrachtet. Es sei an dieser Stelle aber betont, dass die Analogie zu Batailles Führerbeschreibung nicht so weit geht, Hip-Hop-Stars mit faschistischen Führern oder auch nur mit führenden Köpfen der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre gleichzusetzen. Vielmehr fungiert das Sakrale in seiner affektiven Dimension hier als Charisma, das sowohl Superstars als auch politisch-ideologische Führer zu haben scheinen.

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Machtstrukturen und für eine Sichtbarkeit in der US-amerikanischen Medienlandschaft sowie einer internationalen und interkulturellen Gemeinschaft erzählt. Die Mitglieder des Collège de Sociologie, dessen Gründungsmitglied Bataille war, vertraten die Auffassung, dass sich moderne Gesellschaften im „Zustand des ‚Post-Sakralen‘ oder der gefährlichen Metamorphosen des Sakralen“ befänden. Ferner seien sie „aufgrund ihrer geringen sozialen Kohäsion, ihres atomistischen und anomischen Zustands, der zu Unsicherheit führenden beschleunigten Transformationsprozesse sowie der zunehmenden Individualisierung besonders anfällig für faschistische Propaganda und deren Massenerregungen“16, fassen Albers und Moebius die Annahmen und Standpunkte des Zirkels um Bataille zusammen. Vor dem Hintergrund dieser noch immer treffenden Zeitdiagnose wird das Erscheinen des Sakralen in den Musikvideos des Mainstream-Hip-Hops aus den USA spannend. Nicht nur ist die Tatsache bemerkenswert, dass sich das vor mehr als 70 Jahren beschriebene Sakrale erstaunlich vielfältig in den Musikvideos zeigt, sondern auch die weitergehende Frage, wieso das Sakrale in den Musikvideos so prominent ist. Steht es für den post-sakralen Zustand der modernen (westlichen) Gesellschaften, wie ihn Albers und Moebius hier für die These des Collège de Sociologie bekräftigen? Oder sprechen die Musikvideos von dem nie verloren gegangenen Bedürfnis nach dem Sakralen und werden lesbar als Orte, in denen sich ein solches Sakrales momenthaft ausdrückt und unser Bedürfnis nach diesem zumindest ansatzweise bedient? Und in vielleicht letzter Konsequenz: Wirkt das Sakrale in seiner Ambivalenz und Flüchtigkeit gegen eine ideologische und kapitalistische Vereinnahmung der Musikvideos und damit auch gegen die binäre Logik der „color line“? Leisten sakrale Inszenierungsstrategien eine Befreiung aus der Schwarz-Weiß-Dichotomie?

Aufbau der Untersuchung Um umrissene Fragestellung zu diskutieren und die These zu entfalten, stellt das anschließende Kapitel einen forschungsgeschichtlichen Überblick über die Studien im

16 Irene Albers und Stephan Moebius: „Nachwort“, in: Denis Hollier (Hg.): Das Collège de Sociologie 1937-1939. Texte von Georges Bataille, Roger Caillois, Georges Duthuit, René M. Guastalla, Pierre Klossowski, Alexandre Kojève, Michel Leiris, Anatole Lewitzky, Hans Meyer, Jean Paulhan, Denis de Rougement, Jean Wahl und anderen, Berlin 2012, S. 757-828, hier S. 759. Dieser wertvolle Band vereint die in der Zeit des Collège entstandenen Texte und Vorträge seiner Mitglieder in deutscher Übersetzung sowie Briefe und Marginalien. Darüber hinaus stellt das umfangreiche Nachwort von Albers und Moebius eine der Säulen dieser Arbeit dar. [Denis Hollier (Hg.): Le Collège de Sociologie 1937-1939, zuerst erschienen Paris 1979.]

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Bereich von Religion und Hip-Hop vor. Das Kapitel diskutiert die Arbeiten entlang ihrer Versuche, Religion, Religiosität, Spiritualität und verwandte Konzepte für HipHop-Kulturforschung nutzbar zu machen und deckt Fallstricke in ihren Ansätzen auf, um dagegen die These der Arbeit, religiöses Material in Musikvideos sei schlüssiger als Inszenierung eines Sakralen zu verstehen, abzugrenzen. Im anschließenden Theorieteil wird zunächst Georges Batailles Sakralsoziologie in seinen relevanten Schriften und der einschlägigen Literatur nachgegangen, um einen Begriff des Sakralen zu entwickeln, der in seiner gesellschaftlichen Funktion und mehr noch in seiner ästhetischen Dimension für die Analyse der Musikvideos fruchtbar gemacht wird. Die im eher theoretischen Teil enthaltenen Kapitel beschäftigen sich mit Batailles für diese Arbeit zentralen Denkfiguren und Funktionen des Sakralen, wie der „Unproduktiven Verausgabung“, dem Opfer und der Erotik sowie Fragen der Souveränität und speziell der Möglichkeiten in der Kunst, diese auszudrücken oder zu erfahren. Bei allen Überlegungen zur Begriffsbestimmung werden bereits Bezüge zur Hip-Hop-Kultur hergestellt. Im Kapitel „Hip-Hop-Musikvideos als hybride Medien“ situiert die Arbeit Hip-Hop-Musikvideos in ihren Produktionskontexten an und geht kursorisch auf ihre historische Entwicklung ein. Im Kern der Auseinandersetzung mit den realhistorischen Produktionsbedingungen steht die These, dass sich Musikvideos als hybride Gebilde implizit und explizit immer mit Identitätskonfiguration der Schwarzen Bevölkerung in den USA auseinandersetzen. Dabei werden zeitgenössische US-amerikanische Hip-Hop-Videos freilich nicht wie die ersten Dokumente der Bürgerrechtsbewegung gelesen, sondern als Diskursobjekte verstanden, die Fragen der Souveränität, der Hegemonialität und Hybridität aufwerfen. In diesen Kontext der Identitätsstiftung und -konstruktion über und mit Stereotypen in der Hip-Hop-Kultur sowie der realen Distributionsumgebungen von Musikvideos wird das Sakrale gestellt und auf sein Potenzial in den Funktionskontexten der Starpersona und der Stiftung der Fangemeinde im Sinne einer frei wählbaren Gemeinschaft hin befragt. Das letzte, den einzelnen Analysen vorangestellte größere Kapitel „Hip-Hop-Musikvideos als Medien des Sakralen“ erörtert, wie die Clips in ihrer medienspezifischen Art und Weise dazu geeignet sind, ästhetische Strategien des Sakralen umzusetzen und wie in ihnen durch die Zeichen- und Affektdichte für den Rezipienten sakrale Momente entstehen können. Diese ästhetischen Strategien lassen sich auf den Nenner der momenthaften „Alltagsfluchten“ bringen, begreifen also das Sakrale als Wahrnehmungsmodus, der anders funktioniert als der des Alltags, in dem andere Regelmäßigkeiten und Muster vorherrschen, als in einem sakralen Seinsmodus des Überschusses. Das Kapitel geht der Frage nach, inwieweit Parameter des Musizierens (und gleichsam des Musikhörens) Momente besonders intensiver Emotionalität, besonderer Erregung im Sinne der sakralen Efferveszenz hervorbringen. Das Potenzial von Musik, uns dem (Arbeits-)Alltag zu entreißen und in die Sphäre des Sakralen zu

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überführen, wird besonders diskutiert, kommt doch Musik in ihrer historischen Betrachtung schon immer die Rolle der „transzendentesten“ der Künste zu. In diesem Kapitel wird untersucht, inwiefern Transzendenzbezüge mit dem Sakralen übereinstimmen. Ferner wird die Gemeinschaft stiftende Funktion der Musikvideorezeption ergründet und werden die Clips in Verbindung mit dem vorhergehenden Kapitel als „soziale Medien“ für die Vergemeinschaftung im Sinne der sozialen und politischen Agenda von Hip-Hop gelesen. Im Buchteil „Fallstudien“ werden die vier Musikvideos in ihrer chronologischen Erscheinungsreihenfolge analysiert. Den Anfang macht das Musikvideo BOOM BIDDY BYE BYE von Cypress Hill und den Fugees, das 1996 erschien. In ihm erscheint religiöses Material auf Bild- und Textebene sakral inszeniert und aus der Marginalität heraus wirksam. Ferner wird Batailles Mechanismus des Opferns als Prozess des Sakralisierens erkennbar. In PUPPET MASTER (1997) aus der Zusammenarbeit von Dr. Dre, B-Real und DJ Muggs (beide von Cypress Hill) erscheinen religiöse Versatzstücke mimikryartig und unauflöslich widersprüchlich inszeniert. In den verschiedenartigen Maskierungen und den grotesken Inszenierungen zeigt sich das Spiel mit dem Anderen und dem Fremden und bricht das Sakrale ein um letztlich den „American Dream“ zu verabschieden. Fallstudie Drei ist das Musikvideo MONSTER (2010) von Kanye West mit Jay Z, Nicki Minaj und Rick Ross, in dem sakrale Inszenierungen von Gewalt und Erotik Andersartigkeit und Überlegenheit artikulieren. Die letzte Fallstudie kontrastiert zwei Fassungen eines Videos im Hinblick auf Inszenierungen des Sakralen in Erotik und Exzess sowie der Machtfrage, wie sie schon im Titel von Song und Video aufgeworfen wird: POWER von Kanye West aus dem Jahr 2010 liegt in zwei Versionen vor; eine Fassung ist vonVideoregisseur Marco Brambilla in seinem Portfolio auf seiner Website zur Verfügung gestellt, während die andere Version, im Internet häufiger und vor allem auf Wests YouTube-Kanal zu sehen ist. Letztlich stellt die Arbeit mit dieser letzten Analyse die Frage, inwieweit Musikvideos sich verausgaben können und Souveränität, wie Bataille sie gedacht hat, möglich ist. Das Fazit greift die Befunde der Analysen auf und diskutiert ihre Implikationen für Überlegungen zur Einordnung in gegenwärtige soziale und mediale Sakralisierungsprozesse als Phänomene der Ausdifferenzierung, der Ambivalenz und auch der reartikulierten Hegemonialität.

Forschungsüberblick Religion, race und Hip-Hop

Der folgende Forschungsüberblick verortet die These der Arbeit in den betreffenden Forschungsfeldern und Fachdisziplinen. Er dient ferner dazu, die konzeptuellen Vorteile einer Vorgehensweise mit Georges Batailles Sakralsoziologie zu erörtern. Diese geben sich vor allem dann zu erkennen, wenn die ideologischen Setzungen eines Arbeitens mit dem Religionsbegriff offengelegt werden. Zurückgegriffen wird in der Argumentation dieses Kapitels auf die Arbeiten des Musikwissenschaftlers Ronald Radano, der zu Black Music1 und zur „color line“ in den USA forscht. In seinem instruktiven Buch „Lying up a Nation. Race and Black Music“ von 2003 untersucht er die Zusammenhänge von race, Popularmusik und dem nationalen Selbstverständnis in den USA. Er übt dabei Kritik an Forschung zu US-amerikanischer Popmusik und ihrer Geschichte, die in ihren Arbeiten die Setzungen von Schwarz und Weiß immer wieder festschreibe, anstatt sie als diskursiv und damit letztlich als veränderbar und instabil zu begreifen. In diesen Arbeiten werde Black Music als die letzte Bastion Schwarzen Widerstands und Schwarzer Authentizität gesetzt, kritisiert Radano.2 Obwohl sich Radanos Thesen weder explizit auf Hip-Hop und nur an wenigen Stellen auf Religion beziehen, sind sie für diese Arbeit sehr wertvoll. Radano zeigt, dass Weißes Publikum Mitte des 19. Jahrhunderts eine Vorstellung von Andersheit über Animalität auf Schwarze Musiker/-innen projiziert hat, die in der Black Music später wiederum zu Attributen wie beispielsweise der „hotness“ oder „soulfulness“ führten:

1

Radano dekonstruiert in seinen Arbeiten explizit und implizit die Kategorie „Black Music“ und fordert allein schon die Namensgebung heraus. Für diese Arbeit wird die Bezeichnung der „Black Music“ oder der „Schwarzen Musik“ für ein musikalisches Genre beibehalten, ohne zu vergessen, dass sie eine aus dem race-Diskurs hervorgegangene Konstruktion ist und in diesem Verständnis keinesfalls mehr die Gleichsetzung von Schwarzen Musiker/innen und ihrer musikalischen Praxis meint.

2

Vgl. R. M. Radano: Lying up a Nation, S. xii.

22 | Z UR SAKRALEN D IMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS „Around 1830 the American idea of ‚black music‘ emerges as both a reflection of and an informing influence on white determinations of African-American behavior. … Whereas eighteenth-century observers credited an otherwise barbaric African sensibility – noise makers, or ‚bruite beasts‘ – with an uncanny ability to imitate European musical models, nineteenthcentury writers introduced a new idea that attributed to the slaves inimitable, racially determined qualities of expression. African-American musical practices now revealed a natural creativity that stemmed from a pre-conscious, intuitive level.“3

Erkennbar wird hier die Naturalisierung Schwarzer Musiker/-innen. Es beginnt ein Mechanismus der rassistischen Differenzierung von Schwarz und Weiß, der sich bis heute auf die jeweiligen musikalischen Praktiken Schwarzer und Weißer Künstler/innen auswirkt.4 Dieser Diskurs ist so dominant, dass er Hip-Hop und die Forschung zu Hip-Hop bis heute stark beeinflusst. So werden wir in ihr Setzungen und Prämissen finden, die aus dem von Radano beschriebenen rassistischen Diskurs hervorgehen, die auch für Fragen nach Religion und religiösem Material in den Artefakten virulent sind. Wie wir sehen werden, figurieren Religion und religiöse Ursprünge als naturalisierte Essenz in der Forschung zu Hip-Hop, ähnlich der Beschreibung Radanos für die vermeintlich Schwarze Essenz von Black Music, den Rhythmus.5 Einen ersten Hinweis auf den Nexus von Black Music, race und Religion finden wir ebenfalls an oben zitierter Stelle bei Radano, wenn er schreibt: „Later in the nineteenth century, black musical expression would become admired particularly in intellectual, artistic, and religious contexts as the new height of a sublime, romantic expression.“6 Black Music wird somit zum urtümlichen und ehrlichen Ausdrucksmittel stilisiert, das sich unter anderem in religiösen Bereichen zu bisher nicht dagewesen Höhen

3

Ronald M. Radano: „Hot Fantasies: American Modernism and the Idea of Black Rhythm”, in: Ronald Radano/Philip V. Bohlman (Hg.): Music and the Racial Imagination, Chicago 2000, S. 459-480, hier S. 465.

4

Vgl. R. M. Radano: Lying up a Nation, S. 12.

5

Als Beispiel einer solchen rassistischen Essenzialisierung spezifischer Qualitäten Schwarzer Musik, wie beispielsweise des Rhythmus, sei hier kurz aus Radano zitiert, der Texte aus dem beginnenden 20. Jahrhundert ausgewertet hat: „Elaborations on the qualities of hot sound and rhythmic potency accumulated, piling one upon the other and producing a rich network of meaning that packed a punch with every affective rendering of racially pulsating heat. Henry Edward Krehbiel would offer extensive speculations on black music’s peculiar properties, proposing a physical basis in African-American bodily form (the vocal cords of blacks were ‚capable of longer vibrations‘) and a linkage between kinetic rhythms and the flow of hotness […]“ Als Grund nennt Krehbiel die höhere Temperatur des Blutes Schwarzer. R. M. Radano: Lying up a Nation, S. 276.

6

R. M. Radano: Hot Fantasies, S. 465.

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aufschwingt. Dass Black Music weniger Mittel und mehr biologischer Ausdruck Schwarzer werden sollte, schreibt auch Karl Hagstrom Miller in seiner Monografie „Segregating Sound. Inventing Folk and Pop Music in the Age of Jim Crow“. In der Einleitung weist er auf die Veränderung von Freiheit in der Wahl der Ausdrucksmittel hin, die er zwischen 1880 und 1920 ansiedelt: „At the beginning of my story black and white performers regularly employed racialized sounds. By the end, most listeners expected artists to embody them.“7 Während die Künstler/-innen zu Beginn Ausdrucksmittel gebrauchten, um die Erwartungen des Publikums an Schwarz-Sein und Weiß-Sein zu erfüllen – oder auch herauszufordern – so bildete sich mit der Zeit eine feste „color line“ und durften Schwarze nur „Schwarze Musik“ machen.8 Radano wird in „Lying up a Nation“ sehr deutlich, wenn er der zwar nachvollziehbaren, aber fatalen Verbindung von Forschung im Bereich Black Music und Kirche oder Religion nachgeht. In Anlehnung an die Sammlung von Michael S. Harper und Roberto B. Stepto bezeichnet er die Arbeiten von unter anderem Jon Michael Spencer und Portia K. Maultsby als „‚Chant of Saints,‘ a celebratory mix of songful rhetoric and eschatological theory honoring the African-American musical tradition.“9 Dass Forschung in diesem Bereich oft unkritisch und mit einem einfachen, binären Verständnis von Kultur und race operiere, liege in der Unterdrückung und Marginalisierung der Untersuchungsgegenstände innerhalb der universitären Institutionen selbst, wie Radano erklärt: „Marginalized within academic studies and segregated according to a racial binary in public conversations of high culture (e.g., classical music vs. classic jazz), black music as a subject of scholarly research has traditionally been left to those performers and listeners who cherish its power and effect. One of the most impressive concentrations grows out of the African-American Christian church (in its many guises), which, as an institution, has historically supported the propagation and interpretation of black music. Church-based organizations, notably the National Baptist Convention, had already begun to establish forums for performance and publication by the late nineteenth century, and their efforts eventually set the foundation for the ideologies of black musical history and perception that moved in and out of African-American contexts. Circulating within many black communities was an assumption of a religious-spiritualist background to musical practices that would inform perceptions of secular practices, reaching into popular depictions of rhythm’n’blues, jazz, and soul and informing the prophetic

7

Karl Hagstrom Miller: Segregating Sound. Inventing Folk and Pop Music in the Age of

8

Ebd. Miller bemerkt auch, dass diese Kanonisierung genauso Einschränkungen für Weiße

9

R. M. Radano: Lying up a Nation, S. 31-32.

Jim Crow, Durham/London 2010, S. 4. Musiker/-innen mit sich brachte.

24 | Z UR SAKRALEN D IMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS character of an emerging black musical scholastics. While Christian-based ecclesiastical interpretations have been part and parcel of the broader constructions of black musical meaning since the interracial conversion rituals of the early nineteenth century, the new intersection of church-based perceptions and musicology’s midcentury commitments to data collection and style history served to establish a mode of study seeking a racial ground of African-American originality. These approaches, replete with canons and formal modes of analysis, have functioned less to critique than to celebrate creative achievements realized in contexts of oppression.“10

US-amerikanische Forschung besonders auf dem Gebiet von Religion und Hip-Hop hat jenen Hintergrund, den Radano hier beschreibt, und kann aus diesem Grund kaum die Logik von Religion in Hip-Hop oder die von Hip-Hop als Religion verlassen. Religion und ihre vermeintlichen Spuren werden vielfach genealogisch in Hip-Hop hineingelesen, um eine Essenz des Schwarz-Seins zu konstruieren, die es freilich nicht gibt. Religion und religiöse Praxis waren zwar in der Geschichte der Sklaverei Orte für die Bewahrung Schwarzer Kultur, aber erscheinen nun essenzialisiert und figurieren in Hip-Hop-Forschung als feste Größen, die es in Hip-Hop-Songs und HipHop-Kultur wiederzuentdecken gilt. Bei der Lektüre solcher Forschungsarbeiten entsteht oft der Eindruck, dass den Artefakten ohne Religion oder religiöse Spuren, etwas fehlen würde. Die Prämisse, Religion sei immer schon ureigenste Essenz Schwarzer Musik gewesen, informiert das Gros der Forschung zu Religion und Hip-Hop und ist eine ähnlich problematische, nicht vom race-Diskurs zu lösende Setzung, wie die der Widerständigkeit Schwarzer Musik. Radano versteht diese Prämissen hervorgehend aus den „theories of retention“: „These theories are oversimplified because they give weight to the assumption that black music grows, like a living, organic form, from fixed, predetermined origins, an assumption that, after all, betrays the legacy of the color line.“11 Für Schwarze Musik und den problematischen Umgang der Forschung mit ihr hinsichtlich dieser Wünsche nach Beibehaltung, aber auch nach prädeterminierter kultureller Bedeutung im immer Neuen, schreibt er: „Finding the formal cultural essence linking early eighteenth-century South Carolina to late twentieth-century Los Angeles, or even the Mississippi Delta of the 1920s to the Bronx of the 1990s, might serve in one way to advance modern initiatives of emancipation and uplift, but it also extends racial mystifications by re-presenting the past with little regard for the vagaries of history. To draw simple relations between musical expressions of James Reese Europe, Bobby Short, Sister Rosetta Tharpe, Anthony Davis, Frank Johnson, Little Richard, Black Patti, Don

10 R. M. Radano: Lying up a Nation, S. 31. 11 Ebd., S. 10.

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Byron, Mariah Carey, Harry T. Burleigh, Muddy Waters, Andre Watts, Charlie Pride, Mos Def, and Simeon Gilliat (the famous slave fiddler) is to propose unities without seriously considering the enormous range of contingencies that divide them.“12

Bezogen auf die in dieser Arbeit untersuchten Hip-Hop-Musikvideos zeigt sich, dass Hip-Hop in vielerlei Hinsicht Widerstand gegen eine Weiße Dominanzmacht artikuliert. Diese These soll nicht bestritten, wohl aber relativiert werden. Wenn Public Enemy mit Unterstützung von Spike Lee in ihrem Musikvideo „Fight the Power“ den Kampf gegen soziale Strukturen, die sie unterdrücken, ausrufen und sich explizit vom Gestus des Marsches auf Washington distanzieren, können wir kaum mehr behaupten, der durch die Musik artikulierte Gestus sei derselbe wie 1963. Genauso wenig können wir sinnvoll argumentieren, dass Kanye West in POWER dieselben alten Rassismen kritisiere, wie Public Enemy 20 Jahre eher in Song und Musikvideo FIGHT THE POWER. Wests Gegenwart, die Gestalt des race-Diskurses und die Ästhetik sind eigene und andere. Während Radano für seine Studie also die Forschung hinsichtlich ihrer Festlegung auf ein Verständnis von Black Music als sich linear und ohne Einflüsse entwickelnd kritisiert, wird sein Argument hier ins Feld geführt, Kritik an den Ansätzen zu üben, die Religion und Religiosität als eine statische Größe begreifen, die von den Anfängen des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart und durch alle Musikgenres der Black Music hindurch zwar verändert, aber dennoch hartnäckig zu verfolgen sei. Jener Wunsch nach Beibehaltung und die Suche nach Essenzialismen verfehlt das komplexe Zusammenspiel und die Diskursivität der Hautfarben und ihrer anhängigen Konstruktionen in den USA („betrays the legacy of the color line“). An Hip-Hop der letzten 30 Jahre, an der Ästhetik des globalen und vielfach gebrochenen, heterogenen und oft disparaten Phänomens von Hip-Hop-Musikvideos, gehen diese Ansätze vorbei. In diesem Buch, wie auch in Radanos Arbeit, geht es in keiner Weise darum, Ursprünge zu verleugnen und Hip-Hop-Kultur als ohne Wurzeln oder ohne Gedächtnisfunktion darzustellen. Stattdessen soll in der Untersuchung von Spuren, Versatzstücken oder Resten von religiösem Material in den Musikvideos in Anlehnung an Radano der Fokus auf die kulturelle Bedeutung von Hip-Hop-Musikvideos im Verhandeln von Ethnizität und ihren Zuschreibungen durch ihren Umgang mit und ihre Verwendung von jenem Material gelegt werden. Radano zeigt, dass die Strategien eines Großteils der Forschung, Musik und race zu untersuchen, aus dem Wunsch hervorgehen, das genuin und ursprünglich Schwarze bestimmter Musikgenres gewissermaßen „retten“ zu wollen. Eine solche Strategie wäre, Schwarze Musik auf einige vermeintlich nur ihr eigene Merkmale zu

12 R. M. Radano: Lying up a Nation, S. 7.

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reduzieren. Radano nennt exemplarisch „soulfulness“, „depth of feeling“ und „realness“.13 Diese Strategie münde in folgendem Narrativ, gegen das Radano in seinem Buch anschreibt: „Black music of real worth speaks with certitude and conviction of the rightness of blackness against the wrongness of white supremacy.”14 Mit echten und tiefen Gefühlen werde gegen die Unterdrückung durch die „white supremacy“ gekämpft, so der Tenor einer Geschichte, die sich hartnäckig hält. Diese Widerständigkeit sei zwar nicht aus Black Music wegzudenken, habe sich aber gewissermaßen verselbständigt und figuriere als eine Setzung, die einer Forderung gleichkomme.15 Radano legt so den Blick frei auf bestimmte gesellschaftliche Mechanismen, die oft jeden anderen Ausdruck von Black Music überlagern, indem sie eine Widerständigkeit und andere Merkmale in Black Music hineinlesen. Statt an einfache Zusammenhänge in komplexer Kulturproduktion zu glauben, stellt Radano die Überlegung an, die auch diese Arbeit zugrunde legt: „[Black music’s; E.S.] power and significance relate not simply to racial and semiotic indicators but also to a flexibility in articulating a broad range of meaning. Seen this way, black music’s dynamism and heterogeneity become not limitations but sources of potency.“16 Das vorliegende Buch versucht anschließend an Radano, die stabilen Verbindungen zwischen Schwarzer Musik und Religion als zu hinterfragende Setzungen darzustellen und wagt mit dem Begriff des Sakralen von Georges Bataille einen Gegenentwurf zu dem der Religion. Im Folgenden lässt sich erkennen, dass die Forschung zu Hip-Hop und Religion immer wieder in den Modus verfällt, Religion zum einen implizit als genealogisch aus Gospel, Blues und Soul in Hip-Hop hineingerettet zu begreifen und zum anderen in ihrer spezifischen „blackness“ beschrieben als bewahrend und einer Weißen Dominanz gegenüber als widerständig zu betrachten. Hier taucht jene Widerständigkeit als Wunsch auf, Schwarze Identität in einer Weise zu affirmieren, wie sie Radano als das „Heldenlied“ der Forschung beschrieben und zugleich kritisiert hat. Vielmehr wird das Augenmerk darauf gerichtet, das heterogene, disparate und instabile Musikvideomaterial in dieser Arbeit zu analysieren. So wird zu fragen sein, ob nicht die affektive Macht der Musikvideos aus ihrer Instabilität hervorgeht – vielleicht mehr als aus den Zuschreibungen eines alten und limitierenden race-Diskurses.

13 Vgl. R. M. Radano: Lying up a Nation, S. xii. 14 Ebd., S. xii. 15 Vgl. ebd., S. xii. 16 Ebd., S. xiii.

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Die Forschungsliteratur zu Hip-Hop und Religion lässt sich grob in zwei Herangehensweisen einteilen, die zugleich oft auch ihre Untersuchungsgegenstände bestimmen.17 Entweder wird die übergeordnete Fragestellung von Religion in Hip-HopKultur verfolgt oder auf Hip-Hop-Kultur und einzelne ihrer Praktiken als Religion abgezielt. Beides ist für sich genommen und aus obiger Argumentation heraus als problematisch zu bezeichnen. Begonnen wird mit Ansätzen, die von der These dieser Arbeit, Hip-Hop-Musikvideos weisen sakrale, instabile und transgressive Inszenierungen auf, am weitesten entfernt sind, um die Notwendigkeit dieser neuen Perspektivnahme zu akzentuieren. Dabei blicke ich zuerst vor allem auf die Gleichsetzung von Hip-Hop-Kultur und Religion im „als“ sowie auf die damit verbundene, implizit vorhandene Voraussetzung der Existenz Gottes, wie man sie in Arbeiten aus der Theologie, der Religionswissenschaft, vereinzelt aber auch aus anderen Disziplinen, findet. Ein weiteres, besonderes Augenmerk gilt der Frage nach den Gegenständen der jeweiligen Betrachtung. Was wird analysiert? Songs, Songtexte, Live-Inszenierungspraktiken, die Rezeption von Hip-Hop durch jugendliche Fans? Werden überhaupt Musikvideos untersucht und wenn ja, unter welcher Fragestellung? Einer der prominentesten Forscher/-innen auf dem Gebiet von Religion und HipHop in den USA ist der Religionswissenschaftler und Theologe Anthony B. Pinn, der mehrere Sammelbände, Monografien und die Sonderausgabe einer Zeitschrift zu diesem Themenkomplex herausgegeben hat. Der von ihm 200318 veröffentlichte Sammelband „Noise and Spirit. The Religious and Spiritual Sensibilities of Rap Music“,

17 Die Forschung zu Hip-Hop und Religion steht wie alle Forschung zur Frage nach Religion und Religiosität in der Gegenwart indirekt auch unter den Paradigmen der Säkularisierung und Sakralisierung meist verstanden als gegenläufige mindestens aber auf einander bezogene gesellschaftliche Prozesse. Das Sakrale, wie im Collège und von Bataille gedacht, steht außerhalb dieser „modernen“ Prozesse und „bricht explizit mit den herkömmlichen modernisierungstheoretischen Narrativen einer unilinearen, fortschreitenden Entwicklung und einer Zunahme funktionaler Ausdifferenzierung, Säkularisierung, Rationalisierung und Autonomisierung von Literatur und Kunst.“ (Irene Albers/Stephan Moebius: Nachwort, S. 827. Sogar eine funktionale Ausdifferenzierung auf sozialer Ebene wird im Collège und besonders von Bataille nicht gedacht. Vielmehr finden wir durchgängig geschichtliche Rückgriffe und große Analogien, für die Bataille kritisiert wurde, die letztlich aber auch auf ein sich wenig veränderndes Grundbedürfnis nach dem Sakralen hinweisen. 18 Im selben Jahr erschien seine Monografie Terror and Triumph. The Nature of Black Religion, Minneapolis 2003, in der er sich schon für andere als die christlichen Wurzeln afroamerikanischer US-Amerikaner interessiert. Es gibt freilich auch frühere Publikationen auf diesem Gebiet, so zum Beispiel das 1996 erschienene Buch von Michael Eric Dyson: Between God and Gangsta Rap. Bearing Witness to Black Culture, New York 1996. Diese

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ist eine der früheren Auseinandersetzungen mit Hip-Hop und Religion. Er enthält neun Beiträge und untersucht Hip-Hop-Kultur auf den Umgang mit traditionellen Religionen sowie auf spirituelle Inhalte und stellt die Frage, inwieweit Hip-Hop theologisiert werden könne oder solle. Wie er in seiner ausführlichen Einleitung „Making a World with a Beat: Musical Expression’s Relationship to Religious Identity and Experience“19 darlegt, entstand der Band aus einer Verteidigungshaltung heraus. Hip-Hop, für sein oft erniedrigendes Frauenbild und seine genauso oft zu konstatierende Gewaltverherrlichung kritisiert, werde zu Unrecht in Kategorien von „gut“ und „böse“ gesteckt, argumentiert Pinn. Die Agenda des Bandes ist es, so zu argumentieren, dass sich die Produkte der Hip-Hop-Kultur als religiös bedeutsam zu erkennen geben.20 Während diese ideologische Tendenz kritisch zu bewerten ist, muss man dem Aufsatzband zu Gute halten, dass er den wissenschaftlichen Diskurs öffnet und nicht nur christliche und vor allem breitere weltanschauliche Perspektiven diskutiert werden. So widmen sich die Beiträge zum Beispiel Rastafari, dem Islam oder besonderen Gruppierungen wie der Nation of Islam oder der Five Percent Nation und ihren Berührungspunkten mit der Hip-Hop-Szene in den USA. Pinn betont: „Several essays within this volume thus break away from the religious-institution model and give attention to a more general religiosity or spirituality that informs the development and production of certain forms of rap.“21 Damit weist Pinn darauf hin, dass bis dato ausschließlich Arbeiten existierten, die Praktiken und vor allem Produkte der Hip-Hop-Kultur in den USA mit eng gefassten, institutionellen Konzepten von Religion abgleichen. 2004 gibt Anthony B. Pinn zusammen mit Dwight N. Hopkins den Sammelband „Loving the Body. Black Religious Studies and the Erotic“ heraus, in dem er Aufsätze aus den Religionswissenschaften versammelt, von denen sich einzelne der Hip-

Publikationen sind jedoch Einzelerscheinungen, während ab 2000 die Veröffentlichungsrate stark steigt. Da das früheste in dieser Arbeit untersuchte Mainstream-Musikvideo von 1996 ist – und in der Regel einige Zeit vergeht, bis sich die Forschung auf gegenwärtige popkulturelle Phänomene einlässt –, wird nicht weiter zurückgegriffen, und jene wichtigen Publikationen werden nur aus der Sekundärliteratur heraus aufgegriffen, um die traditionellen Argumentationslinien herauszuarbeiten. 19 Anthony B. Pinn: „Making a World with a Beat: Musical Expression’s Relationship to Religious Identity and Experience“, in: Ders. (Hg.): Noise and Spirit. The Religious and Spiritual Sensibilities of Rap Music, New York 2003, S. 1-26. 20 „[T]o respond to a basic question: Is there anything of religious significance in rap music?”, in A. B. Pinn: Making a World, S. 2. 21 Ebd., S. 22.

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Hop-Kultur in den USA annehmen.22 Seine Hinwendung zum wissenschaftlichen Umgang mit Körper und Sexualität, zur Sinnlichkeit im Zusammenhang mit Religion, ist als positiv zu bewerten, jedoch bleibt diese im Gestus der Befreiungstheologie stecken. Hip-Hop wird bei Pinn zum Ort von Widerstand und Subversion, der nichts Anderes als soziopolitische Umbrüche fordert. Es ist diese Perspektive, vor der Radano als „hero’s tale“ gewarnt hat.23 Mit dem Begriff des Sakralen hingegen ist es möglich, den Hip-Hop-Musikvideos als globalen Phänomenen in ihrer Widersprüchlichkeit und in ihrem Zugleich von Widerstand und Auflehnung gegen Hegemonialität sowie ihrem Aufnehmen hegemonialer Strukturen, ihrem Kapitalisieren von Weiß-Sein und Schwarz-Sein, gerecht zu werden. Ein Aufsatz in diesem Sammelband beschäftigt sich – wenn auch nur randständig – mit Hip-Hop-Kultur und Erotik. So entdeckt Cheryl A. Kirk-Duggan in der „Erotik“ in Tupac Shakurs Hip-Hop-Songs das „Religiöse“. Unter Rückgriffen auf die Bibel, konkret auf die Szenen von Salomes Tanz vor Herodes und Davids Tanz vor Gott, die sie je zu einer Figur oder Metapher, mit Erotik und Körperlichkeit umzugehen, stilisiert, analysiert sie Tupacs Musik: „As ‚Salome’s Dance‘, [...], Shakur’s eroticism sensationalizes sex and connects it with violence and death, with a strong objectification of the body due to all of the disrespect, drugs, and poverty he sees around him. Through ‚David’s Full Monty,‘ Shakur gives testimony to the beauty of the body through the adornment of his own body and he makes deep lament over all the pain around him.“24

Über die Analogien zwischen den Tänzen Davids und Salomes als biblische und damit für sie religiöse Referenzpunkte kommt sie zu dem Schluss, dass auch Tupac in seiner Musik religiöses Bewusstsein ausdrücke: „His music honors God and offers commentary on all of the problems he sees [...]“25 Mit diesem Fazit ist Kirk-Duggan symptomatisch für die oben schon angeklungene Rechtfertigungsargumentation zu nehmen, die Hip-Hop als Religion und sogar Gott nicht beschädigend ausweisen möchte. Merkantile Aspekte und Überlegungen zu einer postmodernen Dispersion von Formen und Zeichen finden in ihrer reinen Raptextanalyse keinen Platz. Auch

22 A. B. Pinn: „Introduction“, in: Anthony B. Pinn/Dwight N. Hopkins (Hg.): Loving the Body. Black Religious Studies and the Erotic, New York 2004, S. 1-8. 23 Vgl. R. M. Radano: Lying up a Nation, S. xii. 24 Cheryl A. Kirk-Duggan: „Salome’s Veiled Dance and David’s Full Monty: A Womanist Reading on the Black Erotic in Blues, Rap, R&B, and Gospel Blues“, in: Anthony B. Pinn/Dwight N. Hopkins (Hg.): Loving the Body. Black Religious Studies and the Erotic, New York 2004, S. 217-233, hier S. 227. 25 Ebd.

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wird der Blick durch die genealogische und überblicksartige Betrachtung von Blues über Gospel zu Hip-Hop nicht für die allein schon ästhetisch grundsätzlich verschiedenen Ausdrucksweisen dieser Genres geöffnet, sondern mit der Argumentation Radanos im Wunsch der Beibehaltung vereinfacht. Tanzen als Ausdruck der Wertschätzung gegenüber dem eigenen Körper und dem anderer, das erotische Zurschaustellen des Körpers, wie sie sie bei David und Salomé in der Bibel ausmacht, muss natürlich nicht notwendigerweise als religiös gedeutet werden. Für Kirk-Duggan ist ihr Kontext in den jeweiligen biblischen Szenen jedoch immer implizit religiös-funktional. Tanz und Tanzen und ein spezifischer Umgang mit dem Körper sind als Kulturtechnik jedoch nicht zwingend in religiöse Kontexte zu stellen. Tupacs Verbindung von Erotik, Gewalt und Tod, wie sie Kirk-Duggan benennt, ließe sich darüber hinaus mit Bataille als sakral begreifen, da alle drei in unsere profane Welt als „ein fremdes Geschehen die etablierte Ordnung der Dinge“26 sprengend einbrechen und uns jeweils mit existentiellen Fragen konfrontieren. Kirk-Duggan liegt also keineswegs falsch mit ihren Beschreibungen von Tupacs Themen, nur versperrt sie durch eine zwingende Rückbindung an eine religiöse und sogar biblische Thematik den Blick auf das sprengende und zerstörerische, verausgabende und exzessive Element in Tupacs Schaffen, das gerade bei ihm oft genug das bewahrende, religiöse Element kontrastiert und mit dem Sakralbegriff besser zu fassen wäre.27 2009 veröffentlicht Pinn in dem Sammelband „The Lure of the Dark Side: Satan and Western Demonology in Popular Culture“ (herausgegeben von Christopher Partridge und Eric Christianson) einen Aufsatz, in dem er sich am Rand mit dem „Dämonischen“ im Hip-Hop von unter anderem Scarface und Snoop Dogg beschäftigt. In der Frage nach dem Stellenwert des „Dämonischen“ – hier verstanden vor allem als die „Dämonen“ der menschlichen Existenz, charakterliche Laster und moralische Fehler – geht er hochgradig biografisch („autobiographical authenticity“28) vor und nimmt die Äußerungen der Künstler über sich und ihre Raps als Grundlage für die Interpretation der Songs. In den Lyrics macht Pinn ein Bewusstsein für „powers and principalities“29, eine biblische Formulierung für „dunkle Mächte“, aus:

26 Georges Bataille: „Die Tränen des Eros“, in: Gerd Bergfleth (Hg.): Georges Bataille. Das theoretische Werk in Einzelbänden, München 1981, [Originalititel: Les larmes d’Éros, Paris 1961], S. 35. 27 Zur Abgrenzung und zum Nebeneinander religiös bindender und sakral sprengender Formen, siehe das Kapitel zu Vergemeinschaftung in Tupacs „To Live and Die in L.A.“. 28 A. B. Pinn: „When Demons Come Calling: Dealing with the Devil and Paradigms of Life in African American Music“, in: Christopher Partridge/Eric Christanson (Hg.): The Lure of the Dark Side: Satan and Western Demonology in Popular Culture, London 2009, S. 60-73. 29 Ebd., S. 73.

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„The lyrical content offered by these artists [...] suggest [sic!] a theological articulation of life premised on the reality of the biblical notion of powers and principalities. While they might not approach such forces as did New Testament writers or as contemporary Christians might hope, they nonetheless move through the world sensitive to the host of forces and realties impinging on life [...]“30

Über Snoop Doggs autobiografische Äußerung, sich in den Raps mit Fragen rund um den Sinn des Lebens zu beschäftigen,31 kommt Pinn zu der Aussage, dass sich in den Lyrics genau diese Beschäftigung zeige und zwar als „eerie narrative of the battle for the human soul“.32 Der 2005 erschienene Aufsatz von Angela M. Nelson „God's Smiling on You and He’s Frowning Too. Rap and the Problem of Evil“, in dem sich die Autorin der Frage nähert, wie das Theodizee-Problem im Hip-Hop diskutiert werde, darf mit Pinns Aufsatz in eine Reihe gestellt werden. Sie macht das Leiden in Verbindung mit dem Schwarz-Sein in den USA stark und konstatiert: „[E]ighteenth- and nineteenth-century African-Americans were using essentially the same rhetorical language as late twentieth-century African-Americans regarding the nature of their suffering in American society. … We can conclude, then, that the social, economic, and political contexts of African-American life have remained relatively the same, thus allowing a theological discourse surrounding the nature of suffering to stay alive.“33

Nelsons pauschale Analogien sind dahingehend anzuzweifeln, als dass sich Hip-Hop und Hip-Hop-Künstler/-innen in einer sehr ähnlichen Erfahrungswelt bewegen müssten wie zum Beispiel Schwarze in der Kolonialzeit oder während der zweiten großen Erweckungsbewegung. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass „White supremacy“ und die rassistischen und hegemonialen Strukturen der US-amerikanischen Gesellschaft nicht als Kontexte dieser Arbeit gelten, sondern dass sie gerade mit den neuesten medialen Produkten der Hip-Hop-Kultur in Verbindung gebracht werden, um die aktuellen, diskursiven Formationen einer „White surpremacy“ und einer „Black subversion“34 kritisch zu hinterfragen.

30 A. B. Pinn: When Demons Come Calling, S. 73. 31 Vgl. ebd., S. 71. 32 Ebd., S. 73. 33 Angela M. Nelson: „God’s Smiling on You and He’s Frowning Too. Rap and the Problem of Evil“, in: Michael J. Gilmour (Hg.): Call Me the Seeker. Listening to Religion in Popular Music, New York 2005, S. 175-188, hier S. 185. 34 In Anspielung auf die Monografie von James W. Perkinson: Shamanism, Racism, and HipHop Culture. Essays on White Supremacy and Black Subversion, New York 2005. In die-

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Die bis hier vorgestellten Arbeiten geben vor allem zu erkennen, dass oft fundamentaltheologisch, zumindest aber ausgehend vom implizit vorhandenen Glauben an Gott oder Gottesbilder, argumentiert wird und die Untersuchungen kaum kultursoziologische Theoriebildung reflektieren. Ferner lassen die bisherigen Analysen von Hip-Hop-Songs durchweg Close-Readings, die über die Lyrics hinausgehen, vermissen. Vor allem fehlen vergleichende Case Studies einzelner Musikvideos, die Sound, die semantische Ebene der Raps, ihre Performance sowie die filmische Ebene der Clips untersuchen. In der ebenfalls 2009 erschienenen Sonderausgabe der Zeitschrift „Culture and Religion“, die ausschließlich Artikel zu Hip-Hop-Kultur und Religion versammelt und bei der Pinn als Mitherausgeber fungiert, formuliert er selbst Kritik am bisher verfolgten Weg. Er räumt ein: „[T]here are ways in which the interrogation of popular culture as a theological exercise can (and has at times) become a way of simply establishing signposts for understanding of the human/divine encounter. Such a move, at the extreme, can be considered a form of religious ‚imperialism‘. Or, a less aggressive categorisation of this tendency might entail recognition of it as being theologically obsessive.“35

Als „christozentrisch“ bezeichnet Pinn folglich Michael Eric Dysons, Cheryl A. Kirk-Duggans und Cornel Wests Herangehensweisen. Über Wests zahlreiche Publikationen in den letzten 20 Jahren urteilt er: „Jesus remains for West the exemplar of moral vision and the best approach to radical reconstruction of our troubled world.“36 Im Nachwort der Sonderausgabe reflektiert Pinn über die bisher gewählten theoretischen Zugänge zu religiösen Codes und Stoffen in der Hip-Hop-Kultur und schlägt vor, über einen intensivierten Blick auf die „uncomfortable corners of our cultural lives“ zu werfen, statt „institutional forms and easily identified and fixed modes of doctrine and organisationally sanctioned rituals“37 in den Artefakten zu suchen. Er fasst einen Paradigmenwechsel ins Auge, der es der Theologie ermögliche, zu einem

sem Buch steht nicht im Vordergrund, wie einzelne Künstler und ihre Artefakte im weitesten Sinne religiöses Material semiotisch in Songs und Videos für ihren Widerstand gegen Weiße Unterdrückung einsetzen, sondern wie Hip-Hop eine „new liturgical possibility“ wird (Introduction, S. xxvii). Diese neue liturgische Praxis ist keine primär institutionellreligiös verstandene, sondern eine widerständige Kulturpraxis – ein Ansatz, der Radano folgend jedoch für genau diese in Hip-Hop-Artefakte hineingelesene Widerständigkeit zu kritisieren ist. 35 A. B. Pinn: „Rap music, culture and religion: Concluding thoughts“, in: Culture and Religion: An Interdisciplinary Journal, 10 (1, 2009), S. 97-108, hier S. 98. 36 Ebd., S. 100. 37 A. B. Pinn, Concluding Thoughts, S. 104.

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theoretischen Werkzeug zu werden.38 Diese formulierten Vorsätze gereichen ihm dennoch lediglich zu dem Schluss, dass – so betrachtet, wie von ihm vorgeschlagen – Hip-Hop dazu beitrage, die „cartography of religious life“39 für immer zu verändern. Trotz aller Versuche und Bemühungen, die Produkte der Hip-Hop-Kultur aus einem theologischen oder religiösen Rahmen herauszunehmen und stattdessen tatsächlich einen Ansatz zu verfolgen, der die soziale Konstruiertheit sowohl von HipHop als auch von Religion und sozio-ökonomische sowie produktionsästhetische Zusammenhänge des Hip-Hops ernst nimmt, bleiben sie bei Pinn mehrheitlich Ausdrucksformen von „religious struggle and redemption.“40 Bei allen Beschränkungen sind dieser neu konturierte Ansatz Pinns wie auch die Arbeiten von Josef Sorett vor allem hinsichtlich einer nochmaligen Öffnung gegenüber nicht nur anderen großen Religionen neben dem Christentum, sondern auch gegenüber „heterodox spiritual musings“41 bedeutsam.42

38 Vgl. A. B. Pinn, Concluding Thoughts, S. 104. 39 Ebd., S. 106. Diese Formulierung ist wohl eine Anspielung auf seinen im selben Jahr erschienenen Aufsatz „Cultural Production and New Terrain: Theology, Popular Culture, and the Cartography of Religion“, in dem er die geschilderte Argumentation ausführt. Der Aufsatz ist unter seiner Mitherausgeberschaft erschienen in: Anthony B. Pinn und Benjamín Valentín (Hg.): Creating Ourselves. African Americans and Hispanic Americans on Popular Culture and Religious Expression, Durham und London 2009, S. 13-33. 40 Ebd., S. 106. 41 Josef Sorett: „‚Believe me, this pimp game is very religious‘: Toward a religious history of hip hop in African-American communities“, in: Culture and Religion: An Interdisciplinary Journal, 10 (1, 2009), S. 11-22, und African American Religion and Popular Culture, in: Anthony B. Pinn (Hg.): African American Religious Cultures, Santa Barbara 2009, S. 533-548. Hier: Sorett, Believe me, S. 11. 42 In dieser Sonderausgabe von Culture and Religion ist auch der Artikel „‚The Promiscous Gospel‘. The religious complexity and theological multiplicity of rap music“ (ebd., S. 3961) von Monica R. Miller erschienen. Ihr Ansatz ist Pinns Manöverkritik zu vergleichen; zudem bezieht sie sich explizit auf Pinns Arbeit. Sie schreibt einleitend: „I suggest that the slippery, messy and complex nature of the sacred dimensions of rap music can only be addressed in a rigorous way through the use of theoretical and methodological tools that are flexible. This article proposes this type of flexible framework can be achieved through combining Anthony B. Pinn’s notion of complex subjectivity and his nitty-gritty hermeneutic with Laurel C. Schneider’s theory of multiplicity“ (S. 39). Ihr geht es ähnlich wie Pinn, wenn sie schreibt: „[R]ap music challenges us to broaden our epistemological limits by confronting us with post-religion and post-modern questions“ (S. 58), sie aber nicht in Erwägung ziehen kann, dass religiöse Symbole und Stoffe ohne jede Rückbindung an „lived reality of religion“ eingesetzt werden könnten (vgl. S. 58).

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Diesen beschriebenen Paradigmenwechsel innerhalb der Religionswissenschaft scheint Daniel White Hodge in seiner Monografie „The Soul of Hip hop. Rims, Timbs and a Cultural Theology“ von 2010 nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Seiner Studie, die Gottes Existenz voraussetzt („God is a complex being that human minds cannot begin to understand“43) und immer wieder über diese argumentiert, schickt er in der Einleitung voraus: „While I do throughout the book engage with commercial Hip Hop, I derive most of my data and information from grassroots, socially conscious, neo-positive Hip Hop. There is simply not enough material in commercial Hip Hop to develop theologies from.“44 Die vorliegende Arbeit greift diesen Befund auf und schlägt für die Versatzstücke, die Hodge nicht genug Material für eine Theologie bieten, die Sakralsoziologie Batailles als analytisches Instrument vor.45 Die Aufsätze von William C. Banfield46 und Ralph C. Watkins47 etablieren Künstler/-innen wie Tupac, Notorious B.I.G, DMX, Ja Rule oder Mary J. Blige als „preacher“ und „new thinkers and theologians“48 und als „continuing in the Black

43 Daniel White Hodge: The Soul of Hip hop. Rims, Timbs and a Cultural Theology, Downers Grove 2010, S. 204. 44 Ebd., S. 29. 45 Obwohl sich in Hip-Hop-Songs oft kritisch zu institutionalisierten Religionen geäußert werde, wie Hodge selbst schreibt (vgl. ebd., S. 183), hält ihn dies nicht davon ab, sein Buch mit strategischen Ideen zur Missionierung von Jugendlichen mithilfe von Hip-Hop zu beschließen. 46 William C. Banfield: „The Rub: Markets, Morals, and the ‚Theologizing‘ of Music“, in: Anthony B. Pinn (Hg.): Noise and Spirit. The Religious and Spiritual Sensibilities of Rap Music, New York 2003, S. 173-183. In seinem Buch Cultural Codes. Makings of a Black Music Philosophy: An Interpretive History from Spirituals to Hip Hop, Lanham 2010, folgt Banfield der von Pinn kritisierten Dichotomie von „gutem“ und „bösem“ Hip-Hop, wenn er anschließend an seine kurze Rechtfertigung des „Hard Core Rap“ und die Feststellung „it became a poison“ (S. 175) anschließt: „In the 1990s, a new movement grew within hip hop, one that promoted a positive social/political response to the damage caused by gangsta rap. This movement within rap history includes Public Enemy, Chuck D, Queen Latifah, Eric B and Rakim, KRS-One, En Vogue, Salt-N-Pepa, and Arrested Development“ (S. 176). Diese Feststellung einer „neuen Bewegung“ verkennt, dass zeitlich parallel zum Gangsta Rap in den 80ern immer schon Gruppen mit anderen Inhalten populär waren, darunter De la Soul, A Tribe Called Quest, Gang Starr oder Biz Markie. 47 Ralph C. Watkins: „Rap, Religion, and New Realities: The Emergence of a Religious Discourse in Rap Music“, in: Anthony B. Pinn (Hg.): Noise and Spirit. The Religious and Spiritual Sensibilities of Rap Music, New York 2003, S. 184-192. 48 R. C. Watkins: Religious Discourse, S. 185.

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Arts’ prophetic vein“.49 Was bei diesen aus Sicht der Autoren wohl wünschenswerten Analogien zu kurz kommt, ist eine nachvollziehbare Analyse der immer wieder als widersprüchlich, da religiös und zugleich gewaltverherrlichend bezeichneten Raptexte, der Musik und der Musikvideos. Gerade die Theorie des Sakralen, wie sie hier vorgeschlagen wird, kann die vermeintliche Widersprüchlichkeit von Gewalt, Religion und Erotik in den Clips hinsichtlich ihrer Anziehungskraft erklären und besonders für Musikvideos als Strategie beschreiben. Ziel ist freilich nicht, Widersprüchlichkeit aufzulösen, sondern diese als Reibungen wahrzunehmen, zum Beispiel zwischen religiösen Inhalten und gewaltverherrlichenden Texten und Bildern, und durch eine Theorie des Sakralen noch zu rahmen und die binäre Opposition von Schwarz und Weiß zugunsten einer komplexen Diskussion des heterogenen Zeichenvorrats in den Clips aufzulösen. Dem Titel folgend ist man geneigt, in dem 2003 erschienenen Buch „The Holy Profane. Religion in Black Popular Music“ jene oben angesprochene vermeintliche Widersprüchlichkeit adäquat adressiert zu finden. Tatsächlich aber widmet sich die Musikwissenschaftlerin Teresa L. Reed Black Music – und in einem Schlusskapitel dann Hip-Hop – unter der Annahme, dass sich die enge Verbindung von Black Music und Religion von Gospel über Blues und Soul bis hin zu Hip-Hop gehalten habe. Dieser Annahme verleiht sie im Kapitel „God and Gangsta Rap“ zur Figur Tupac Shakurs mit einem bisher in diesem Kontext neuen Begriff Ausdruck, nämlich dem der „Theosophie“. Theosophie dient ihr als Begriff, institutionalisierte Religion zu umgehen, ist aber als ein Umdeklarieren zu verstehen, und so kommt die Autorin zu dem Schluss: „[T]wo things about Tupac’s theosophy are clear: He trusted God’s empathy, and he anticipated the afterlife.“50 Reed betont, dass die gewaltverherrlichenden Raptexte und die im Gangsta Rap erschaffenen Stereotype des thug, des gangster und des outlaw auf ein fürsorgliches Gottesbild verweisen.51 Aus diesem Fazit erschließt sich klar, dass der Zugang zu Tupacs Raptexten – seine Musik und seine Musikvideos finden keine nähere Erwähnung – ein rein persönlicher ist und wenig zur Problematisierung von religiösen Versatzstücken im Mainstream-Hip-Hop beitragen kann. Hier wird deutlich, dass Reeds Erkenntnisinteresse ebenfalls stark gefärbt ist von der Vorstellung einer „theory of retention“, wie Radano sie nennt. Vermutlich sogar ebenfalls aus dem Wunsch heraus, „blackness“ oder das spezifisch Schwarze herauszuarbeiten oder zu bewahren, legt Reed ihrer Arbeit unhinterfragt die Überzeugung zu Grunde, dass es über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg eine starke, durchgehaltene Linie in den Bezügen zwischen Religion und unterschiedlichen Genres der Black Music gibt.

49 W. C. Banfield: The Rub, S. 174. 50 Teresa L. Reed: The Holy Profane. Religion in Black Popular Music, Kentucky 2004, S. 159. 51 Vgl. ebd., S. 160.

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Die Monografie „Shamanism, Racism, and Hip-Hop Culture. Essays on White Supremacy and Black Subversion“ von 2005 des Religionswissenschaftlers Jim W. Perkinson ist unter verschiedenen Gesichtspunkten einzigartig. Zunächst einmal ist Perkinson Weiß und reflektiert seine Hautfarbe explizit in seinem Aufwachsen in einem Schwarzen Viertel in Detroit. Diese Reflexion erscheint positiv, ebenso die Absicht, Rassismus als das größte, anhaltende Problem der US-amerikanischen Gesellschaft zu adressieren. Außerdem bemüht Perkinson konsequent einen theoretischen Rahmen, wie es sonst für wenige Arbeiten auf diesem Forschungsgebiet behauptet werden kann. Perkinson nähert sich Hip-Hop kultur-soziologisch mithilfe der Denkfigur des Schamanismus, die ihm als Werkzeug dient, Schwarze Kulturpraktiken zu beschreiben. Im Zuge seiner Schrift demaskiert er „white Christianity as largely a failed middle-class prophylactic against its own violent underpinnings.“52 Mit seiner Denkfigur des Schamanismus liest er den Körper der Weißen, männlichen Mittelklasse als stille Norm, die Besitz ergriffen habe von der US-amerikanischen Kultur und gegen die Hip-Hop sich als eine kulturelle Praxis wehre.53 Letztlich aber nützen Perkinson die theoretischen Konstrukte nicht, die er bemüht, um Weißes Christentum von seiner Dominanz zu befreien und auf derselben Ebene anzusiedeln, wie jene Religionspraktiken, die aus der Position eines Weißen, dominanten Christentums und damit in kolonialistischer Perspektive als unterlegene Naturreligionen charakterisiert wurden54, weil er dabei die Essenz des Schwarz-Seins sucht, vor der Radano warnt. Vor dem Hintergrund der Lektüre Radanos, werden die Fallstricke in Perkinsons Argumentation deutlich. Anknüpfend an die Arbeiten von unter anderem Charles Long, Jon Michael Spencer und Paul Gilroy argumentiert er, dass Schwarze Kulturpraktiken den Terror der einmal erfahrenen Sklaverei in Form anhaltender Weißer Dominanz weiter erleben und weiter artikulieren.55 Unter Bezug auf Long hebt Perkinson hervor, dass die Faszination für Gott den Mächtigen vorbehalten sei, während die Unterdrückten sich mehrheitlich mit dem Teufel und den „dunklen Formen“ von Religion auseinandersetzen müssten.56 Das, was die Hip-Hopper in ihren Songs nicht nur sprachlich, sondern vor allem musikalisch und affektiv zitieren und inszenieren, sei eine Auseinandersetzung mit diesen „dunklen Formen“, die Perkinson für Schwarze Religion reklamiert, die aber gleichermaßen als Versatzstücke von Religion in den Artefakten ihren Platz fänden. Dort würden sie wiederum formverändert, verbogen, verdreht in den Schwarzen Praktiken des „Signifyin(g)“, der Inversion oder des „Testifyin(g)“ erscheinen. Diese Beobachtungen sind für sich genommen, nicht verkehrt, jedoch

52 W. Perkinson: Shamanism, S. xxvi. 53 Vgl. ebd., S. 199. 54 Ebd., S. xxiii. 55 Vgl. ebd., S. 126. 56 Vgl. ebd.

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gerät Perkinson mit dem Festhalten an dem distinkten Schwarz-Sein dieser Praktiken in ein Fahrwasser, das Radano als gefährlich kritisiert hat, da es schnell zu Essenzialismen verführt. Auch die Quellen, die Perkinson für seine Arbeit benutzt, sind zum Teil genau jene, die Radano als „chant of saints“ kritisiert hat. Zwar ist Perkinson bemüht Relationalität zwischen Schwarz und Weiß zu denken, jedoch gelingt ihm meist nur, die Form der Opposition zu entwerfen. Er schreibt seine Essays aus dem Wunsch heraus, Schwarze Kulturpraktiken als widerständig gegenüber der Weißen Dominanzmacht, die sich vor allem über das Christentum ausdrücke, zu etablieren. In den zwei Essays, die Perkinson dem Hip-Hop widmet, gerät dieser ihm so zu einer „new liturgical possibility“.57 Radanos Kritik trifft den Kern einer weiteren durchgehaltenen Besonderheit von Perkinsons Essays: der Schnelligkeit, mit der kulturtheoretische Begriffe und literaturwissenschaftliche Termini auf musikalische Phänomene und Sachverhalte appliziert werden. Der Rhythmus und der Fokus auf Rhythmusinstrumente des Hip-Hops werden so in einer großen Analogie zu einer „shamanistic grenade of sound“ und „hip-hop style and rhyme work appear as another riff on the theme of making hard circumstances yield astonishing remonstrance“.58 Ein hier bisher noch nicht diskutiertes Forschungsfeld findet sich bei der Musikwissenschaftlerin Robin Sylvan und ihrem 2002 erschienenen Buch „Traces of the Spirit. The Religious Dimensions of Popular Music“. Sylvan untersucht die religiösen Dimensionen subkultureller Praktiken in vier verschiedenen Jugendkulturen. Dabei geht sie der Verbindung von Religion und diesen Jugendkulturen nach. Im Fall von Hip-Hop zieht sie Parallelen zwischen westafrikanischen Religionspraktiken und Hip-Hop aus dem subkulturellen Sektor. Diese ergeben sich wie folgt: Die Autorin betont die rituelle Dimension von lokalen Hip-Hop-Praktiken wie der Blockparty, bei der sie vor allem der Wettbewerbscharakter des Rappens und die Techniken der Gemeinschaftsbildung interessieren. Wenn sie sich den religiösen Dimensionen von Hip-Hop widmet, dann geht sie empirisch vor und stützt sich auf Interviews mit Fans und Künstler/-innen, was ihre Arbeit neben ihrem fruchtbaren Vergleich verschiedener Hip-Hop-Praktiken mit liturgischem und rituellem Handeln in religiösem Kontext wertvoll macht. Sie arbeitet mit Hip-Hop auf einer Rezeptionsebene, die zum Vorschein bringt, dass Hip-Hop als „a source of spirituality“59 gesehen wird. Im Unterschied zu vielen Ansätzen werden nicht die Artefakte religiös oder einzelne Aussagen in diesen zu religiösen Dogmen, sondern sind unterschiedliche kulturelle Praktiken der Hip-Hop-Kultur als spezifischen religiösen Praktiken ähnlich zu beschreiben. In ihrem Fazit schreibt sie: „Both West African possession religion and contemporary musical subcultures are very different from most liturgical Western traditional

57 W. Perkinson: Shamanism, S. xxvii. 58 Ebd., S. xxvi-xxvii. 59 R. Sylvan: Traces, S. 212.

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religious traditions in that they are danced religions and the body is obviously central in the activity of dancing.“60 Die Kommunikationswissenschaftlerin Ebony Utley diskutiert in ihrer Monografie mit dem Titel „Rap and religion. Understanding the Gangsta’s God“, die auf ihre Dissertation von 2006 zurückgeht, die rhetorischen Strategien der Rapper, sich Macht einzuverleiben.61 Auf das Genre des Gangsta Rap konzentriert, analysiert Utley vor allem Raplyrics und CD-Booklettexte, vereinzelt und kursorisch auch Musik und Videos, auf zwei Gottesbilder hin, den Gott „out there“ und den Gott „down here“.62 Dabei arbeitet sie rhetorische Strategien der Rapper heraus, sich mit dem christlichen Gott oder mit Jesus zu identifizieren oder sich selbst als Gott zu inszenieren, um Hierarchien einzuziehen oder Widerstand gegen Unterdrückung zu leisten. Sie kommt zu der Feststellung: „[T]he gangsta’s God is more closely aligned with a set of social circumstances than a particular religion.“63 Diese Formulierung täuscht ein wenig: Sie diskutiert Religion implizit als sozial konstruiert, wenngleich es ihr als in der Tradition von Michael Eric Dysons Arbeiten64 stehender Wissenschaftlerin schwerfällt, den institutionalisierten, konfessionellen Religionsbegriff hinsichtlich hybrider sozialer Praktiken aufzubrechen. Über Strategien der Hierarchisierung durch Gottesvergleiche schreibt sie: „The most effective strategy for a rapper to amass power over white supremacy and patriarchy, especially as they are manifested through Christianity, is to declare that he or she is God or half God.“65 Die Erklärung, Gott zu sein, versteht diese Arbeit jedoch als eine von vielen brüchigen Strategien, die ein Sakrales

60 R. Sylvan: Traces, S. 217. Ähnlich argumentiert sie auch in ihrem Aufsatz „Rap Music, Hip-Hop Culture, and ‚The Future Religion of the World‘“, in: Eric Michael Mazur und Kate McCarthy (Hg.): God in the Details. American Religion in Popular Culture, New York und London 2001, S. 281-297 [Kursivierung wie im Original]. 61 Ebony Utley: Rap and Religion. Understanding the Gangsta’s God, Santa Barbara 2012. Ihre sechs Jahre ältere Dissertationsschrift, die mir auch vorliegt, beschäftigt sich mit denselben Gegenständen, argumentiert interessanterweise jedoch nicht über einen sozial konstruierten Gott, während sie hier eine Art Gottes-Typologie aufstellt und die zwei Gottesbilder weiter aufteilt in unter anderem Vaterfigur und Jesus („God ‚down here‘ takes the form of Jesus“ (140)) sowie andere göttliche Figuren. Referenzen an Gott sind für sie also eine rhetorische Strategie, die sie an Machterwerb und ein Hierarchisierungsstreben knüpft. (vgl. S. 99, 142-143.) Ferner ist Utleys Arbeit durchaus interessant, da sie eine von Wenigen ist, die Rapperinnen und ihren Umgang mit religiösen Stoffen und Symbolen erforscht. 62 Ebd., S. 7. 63 Ebd., S. 9. 64 Vgl. ebd., S. 4. Hier weist Utley darauf hin, dass sie von der Arbeit Dysons beeinflusst ist und seine Arbeit weiterführen möchte. 65 Ebd., S. 99.

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als Kraft hevorbringen, das in einzelnen Fällen Widerständigkeit unterstreicht, in anderen Fällen vornehmlich an die Starpersona und deren machtvolle Inszenierung anschließt. Sich selbst als Gott zu inszenieren, funktioniert als ein ultimativer, sehr weltlicher Machtanspruch und ist weder in Blasphemie noch sonstwie religiös zu rahmen. Auf der Suche nach dem „Spirit“ im Hip-Hop hat die Musikethnologin Christina Zanfagna schon 2006 einen Aufsatz veröffentlicht, in dem sie konstatiert, dass es zu diesem Zeitpunkt wenig Literatur im Forschungsfeld Hip-Hop und Religion gebe (sie arbeitet mit dem Begriff „spirituality“, sagt aber, dass sie beide Begriffe synonym verwendet) und bemerkt als Musikethnologin, dass insbesondere Analysen der Musik und des Sounds von Hip-Hop fehlen. In Abgrenzung zur bis dato geleisteten Forschungsarbeit formuliert sie als Ziel: „to account for a spiritual worldview or belief system that is experimental as opposed to juridical, personal as opposed to institutional, and integrative as opposed to divided.“66 Den Fallstrick, Hip-Hop auf religiöse Grundsätze abzuklopfen, hat sie erkannt; sie schreibt: „[I]t is not my intention to give a hardfast definition of hip-hop’s spirituality or even define what kind of Godfigure hip-hop music might point to, for such theological preoccupations would obscure the flexible, adaptive, ecumenical nature of hip-hop’s anatomy of belief and the spiritual experience it produces.“67 Sie operiert stattdessen mit Begriffen wie „spirituality of the everyday“ und geht aus von einer Bewegung im Hip-Hop, die das Alltägliche sakralisiere. Auf Cheryl L. Keyes’ Aufsatz „At the Crossroads: Rap Music and Its African Nexus“ zurückgreifend beschreibt Zanfagna anhand einer Raptextanalyse, dass Hip-Hops spirituelle Kräfte aus Gebieten wie Sexualität, Leiden und Materialismus hervorgingen und Hip-Hop auch im spirituellen Bereich sampelt, also Versatzstücke unterschiedlichster Herkunft – sie nennt unter anderem Bürgerrechtsreden und Shout-outs an Jesus – zusammenfügt. Zanfagna ist in ihrem Ansatz also deutlich offener gegenüber den vermeintlichen Widersprüchen, die Hip-Hop innewohnen; so erkennt sie in Erotik und Ekstase-Beschwörung in Hip-Hop-Songs ein „sexualized soul-searching“ und keinen moralisch fragwürdigen Tatbestand.68

66 Christina Zanfagna: „Under the Blasphemous (W)Rap. Locating the ,Spirit̒ ‘ in Hip-Hop“, in: Pacific Review of Ethnomusicology (PRE) 12, (Fall 2006), o.S. 67 Ebd. 68 C. Zanfagna: Under the Blasphemous (W)Rap, o.S. Cheryl L. Keyes, „At the Crossroads: Rap Music and Its African Nexus“, in: Ethnomusicology 40 (2, 1996), S. 223-248. Keyes arbeitet zu den Referenzen an ein reales oder ideal-imaginiertes Afrika in Songs und Musikvideos des Hip-Hops. Sie weist auf die afrikanischen Wurzeln der in Musikvideos oft zu sehenden Handlung des religiösen Trankopfers hin: „[T]he African ritual gesture generally known as a libation – the pouring of a beverage towards the ground in acknowledging deceased relatives, community members, or ancestors – is adopted in the videos of gangsta-

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Von der in vielen Clips vorhandenen Szene eines männlichen Rappers mit einem diamantbesetzten Kreuzanhänger an einer Kette, der zu fast nackten Frauen in einen Jacuzzi steigt, schreibt sie, was an Batailles Überlegungen zu Erotik und Exzess erinnert: „By pushing the limits of excess and hedonism, hip-hoppers hint at the other dimension of their being: their stripped down and naked souls. This scene may also speak to the ubiquitous presence of the sacred in popular culture and places regarded as unholy.“69 An jene Beobachtungen, wie Zanfagna sie hier macht, möchte diese Arbeit mit einem theoretisch belastbareren Vokabular anknüpfen. Auch ihre Ausführungen zur Medialität von Hip-Hop sind ein erster Anhaltspunkt für die Arbeit, wo und wie sich ein mit Georges Bataille verstandenes Sakrales finden lässt: „Text and image, aural and visual performative modes, live and mediated events function together to compose a constellation of varied spiritual (or transcendent) experiences within hip-hop that speaks to the omnipresent, shifting nature of the sacred.“70 Die vorliegende Arbeit knüpft also an einzelne Feststellungen Zanfagnas an, wenngleich sie ihr Ziel, den spirituellen Wert von Schwarzer Musik auch im Hip-Hop zu finden, nicht verfolgt, sondern das Sakrale zunächst einmal wertfrei (und als gegenüber Zanfagna noch stärkeren Gegensatz zum Religiösen) in den Musikvideos konstatiert, um es im jeweiligen Kontext mit Bataille durchaus auch als bloßen Schein des Sakralen zu entlarven. Zanfagna hat neben diesem Artikel einen weiteren veröffentlicht, in dem sie sich erneut dem Hip-Hop zuwendet. In ihrem Artikel „Kingdom Business: Holy Hip Hop’s Evangelical Hustle“ untersucht sie Hip-Hop, der eine ausdrückliche christliche Botschaft vermitteln möchte. Dieses kleine Genre des Hip-Hops, das sie „gospel rap“, „holy hip hop“, „Christian rap“ und „gospel hip hop“ nennt, geht im Vergleich zum Mainstream grundverschieden mit materiellem Reichtum um. Im Unterschied zu Mainstream-Hip-Hop-Künstlern wie Jay Z oder Kanye West können die meisten

labeled rappers such as Geto Boys and Tupac Shakur. In music videos, rappers are occasionally observed pouring beer from a 40 (quart of beer) towards the ground in recognition of ,dead homies‘ (neighborhood peers) whose lives have been lost through gang related violence.“ S. 241-242. Diese Referenz liest sie im Sinne einer Abgrenzungsbewegung von Schwarzen in den USA auch als politisches Statement der Rapper. 69 Ebd. 70 Ebd. Problematisch ist Zanfagna auch in einem anderen Punkt, nämlich dem Rückschluss von persönlichem und privatem Glauben der Künstler/-innen auf deren Artefakte. So resümiert sie für Hip-Hop-Künstler/-innen des Mainstreams wie zum Beispiel Kanye West: „[A]rtists struggle to reconcile the almighty dollar with their almighty God and join together who they are with what they buy.“

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Gospel-Rapper nicht von den Einnahmen ihrer Auftritte oder CDs leben.71 Die Künstler/-innen dieses Genres grenzen sich stark von dem sogenannten „Prosperity Movement“ ab, in dessen Selbstverständnis man gottgefällig handelt, wenn man viel Geld und nur zum eigenen Wohl verdient. „The stigmatization of money and materialism in holy hip hop extends to how people acquire and spend money, making it either benevolent capital or dirty money.“72 Gospel-Rapper stehen in einer dem Kapitalismus fremden Ordnung: „[G]ospel rappers defy financial logic in favor of a faithbased conviction in the (re)circulation of money, gifts, and blessings.“73 Zanfagna diskutiert anhand von Interviews mit Künstler/-innen aus diesem Subgenre des HipHops, inwiefern sich Strategien der christlichen Missionierung mit Kapitalisierungstendenzen des Musikgeschäfts und eigenen Lebensentwürfen sowie der Notwendigkeit, Geld zu verdienen, vereinbaren lassen. Diese empirische Studie von lokalen Künstler/-innen in Los Angeles lässt nur indirekt Rückschlüsse auf die Gegenstände dieser Arbeit zu. Zanfagna stellt fest, dass die Künstler/-innen diverse Strategien haben, die im Gospel-Rap vorherrschenden „polyvalent power relations, moral codes, and structures of legitimacy“74 zu managen und zu bedienen. Während im Mainstream-Hip-Hop alles unter den Vorzeichen einer kapitalistischen Ökonomie steht und die Hip-Hop-Superstars Zeichen ihres Reichtums und ihrer finanziellen Potenz in ihren Musikvideos zur Schau stellen, wandern die Gospel-Rapper/-innen auf dem schmalen Grat, „echten“ Hip-Hop zu produzieren und dabei außerhalb oder zumindest am Rande der kapitalistischen Ökonomie zu stehen. Wie diese Gratwanderung konkreten ästhetischen Ausdruck in einem Musikvideo findet, zeigt Martina Viljoen anhand des Gospel-Rap-Duos Dawkins & Dawkins in ihrem Aufsatz „‚Wrapped up‘: ideological setting and figurative meaning in AfricanAmerican gospel rap“.75 Im Musikvideo WRAPPED UP weist Viljoen sowohl viele Referenzen an afrikanische religiöse Rituale als auch die aus dem Mainstream bekannten Starnarrative nach. Besonders auf der Bildebene sei die Starnarration präsent: „The star narrative projected by the visual track of Wrapped Up is complicated by the message of the lyrics and by the second embedded narrative, which tells not of glamour and stardom, but of the grace, love and sacrifice of God.“76 Ein zur Dekonstruktion freigebenes Gangsta-Idiom findet sich ebenfalls, wenn der Gangsta von

71 Vgl. Christina Zanfagna: „Kingdom Business: Holy Hip Hop’s Evangelical Hustle“, in: Journal of Popular Music Studies 24 (2, 2012), S. 196-216, hier S. 203. 72 Ebd., S. 203 73 Ebd., S. 205. 74 Ebd., S. 199. 75 Martina Viljoen: „‚Wrapped up‘: ideological setting and figurative meaning in AfricanAmerican gospel rap“, in: Popular Music 25 (2, 2006), S. 265-282. 76 Ebd., S. 271, vgl. auch S. 279.

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Gottes Gnade bekehrt wird.77 Viljoen stellt heraus, dass Religion in Form der „danced religion“, des ekstatischen Singens mit seiner „shouting practice“ aus der Tradition des Pentecostal-Singens78 als eine ideologische Diskursformation musikalisch in Song und Musikvideo präsent ist, wenngleich die visuell dominantere die ideologische Konstruktion des Hip-Hop-Stars sei: „In terms of clashing identities, the ambiguous presence of both the dominating star narrative and the all-pervasive danced religion metaphor evokes a complex set of domninating ideological discourses within this text.“79 Die Argumentation Viljoens für dieses Beispiel des Gospel-Raps ist überzeugend. Ebenso lesenswert ist die Monografie von Felicia M. Miyakawa „Five Percenter Rap. God Hop’s Music, Message, and Black Muslim Mission“.80 Miyakawa untersucht das künstlerische Schaffen von Rapper/-innen, die sich der religiösen Gruppe der Five Percenter zugehörig fühlen und deren Ideale und Ideologie sie in ihren Songs thematisch und auf der formalästhetischen Ebene ausdrücken. An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, dass Fragestellungen zur Beeinflussung von Hip-Hop durch religiöse Ideen und Praktiken wichtig und erkenntnisreich sind, wenn Künstler/-innen vordergründig eine religiöse Botschaft verbreiten wollen und dies zu erkennen geben. Das ist kein Plädoyer für eine biografische Lesart, sondern für ein Ernst nehmen der Künstler/-innen. Hip-Hop wird also durchaus benutzt, um religiöse Botschaften zu verbreiten.81 Für weltweit in Charts erfolgreiche Hip-Hop-Künstler/-innen und ihre Musikvideos, so die These der vorliegenden Arbeit, ist Religion nicht die dominante Kraft in ihrem Musikvideoschaffen. Ergänzend zu Viljoens und anderen Arbeiten, die zurecht Genres wie Gospel-Rap hinsichtlich des musikalisch-stilistischen durchaus konfliktreichen Ausdrucks religiöser Botschaften untersuchen, wird für Musikvideos des Mainstream-Hip-Hops in diesem Buch eine andere Perspektive eingenommen. Hier wird die These entfaltet, dass Mainstream-Hip-Hop Versatzstücke und Zeichen aus dem religiösen Bereich nicht in einen religiösen Narrativ einbindet, sondern sie sakral im Sinne stetigen

77 Vgl. ebd., S. 271. 78 Ebd., S. 274. 79 Ebd., S. 279 [Kursivierung wie im Original]. 80 Felicia M. Miyakawa: Five Percenter Rap. God Hop’s Music, Message, and Black Muslim Mission, Bloomington 2005. 81 Das massenmediale Verbreiten von religiösen Botschaften hat in der Schwarzen evangelikalen Kirche freilich eine lange Tradition, die so alt wie das Medium Schallplatte ist. Die Geschichte der sogenannten „Phonograph Religion“, die Predigten, die zuerst auf Schallplatten und später dann über das Radio und das Fernsehen verbreitet wurden, hat Lerone A. Martins Buch, Preaching on Wax. The Phonograph and the Shaping of Modern African American Religion, New York 2014, zum Gegenstand.

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Überschuss produzierender Affektivität verknüpft. Das Starnarrativ des MainstreamHip-Hops wird wesentlich gespeist durch religiöse Referenzen, die in den Musikvideos sakral inszeniert und nicht so dominant und geschlossen erscheinen, wie im Gospel-Rap und daher auch nicht mehr unter den Vorzeichen von Religion und Religiosität gelesen werden sollten. Eine der jüngeren Monografien, die sich ausschließlich dem Komplex Religion und Hip-Hop in den USA zuwendet, ist das 2013 erschienene Buch „Religion and Hip Hop“ der US-amerikanischen Religionswissenschaftlerin Monica R. Miller. Ziel von Millers Arbeit ist es, die Kategorie „Religion“ neu zu hinterfragen und gegenüber den diversen, „postmodernen“ Praktiken der Hip-Hop-Kultur zu öffnen: „This project critically takes up the category of religion as an object, a unit, a social function of analysis. I start form the assertion of McCutcheon, whose work this project is muched informed by, that there is nothing in and of itself unique and irreducible – „sui generis“ – about religion outside of its „disciplinary manufacturing. […] I consider how complex configurations of human actions/ activities/ practices in Hip-Hop culture at times accomplish certain effects through religious rhetorics. Through what material means do such configurations make their appearances?“82

In ihrer Arbeit vertritt Miller eine deutliche Hinwendung zu den Artefakten und Praktiken der US-amerikanischen Hip-Hop-Kultur (ihren Fokus legt sie auf jene produziert durch Jugendliche) und stellt ansatzweise Fragen zur Materialästhetik anhand des Films „RIZE“ und Tanzstilen wie dem „krumping“, in denen sie die Effekte untersucht, die das Ein- und Verarbeiten religiöser Rhetorik hat. In diesem Bestreben und auch in ihrer Überzeugung, dass Gegenstände der Untersuchung im Forschungsfeld Hip-Hop und Religion auch außerhalb von Raptexten liegen müssen, ist die vorliegende Arbeit mit der Millers grundsätzlich einverstanden. Auch ihre Kritik an dem ihrer Meinung nach ideologisch belasteten Begriff „Religion“ in ihrem Forschungsbereich teilt diese Arbeit durchaus. Ihrer Ablehnung jedweder phänomenologischen Überlegungen zum Vorhandensein von Religion in der Gesellschaft und sowie der Art und Weise ihrer Definition der sozialen Konstruktion von Religion kann so jedoch nicht zugestimmt werden:

82 Monica R. Miller: Religion and Hip Hop, New York 2013, S. 8-10. Miller hat zusammen mit A. B. Pinn den Hip Hop and Religion Reader (London 2015) herausgebracht, der einige der hier diskutieren Aufsätze sowohl der Herausgeber als auch anderer Forscher neu herausgibt. Da er keine bis dato unveröffentlichten Aufsätze beinhaltet, wird er hier nicht weiter diskutiert. Der Rückgriff auf einzelne Artikel dieses Bandes erfolgte über die Ersterscheinungen der jeweiligen Aufsätze.

44 | Z UR SAKRALEN D IMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS „Claims to uniqueness don’t hold; they do however represent a type of scholarship, according to McCutcheon, represented by the traditions of Immanuel Kant, Rudolf Otto, Mircea Eliade, William James, and Paul Tillich among others. These figures, in various ways, express a desire for understanding religion as obscure, hidden, and concealed yet made manifest in religious experience. … I advocate for a social construction and understanding of the category of religion when analyzing Hip-Hop culture.“83

Diese Zusammenfassung offenbart eine zu pauschale und einseitige Lesart der unterschiedlichen theoretischen Ansätze, wie sie die einzelnen von ihr genannten Philosophen, Psychologen, Religionssoziologen und -wissenschaftler vertreten. Die Diversität ihrer Ansätze ergibt sich schon aus ihren jeweiligen sehr unterschiedlichen universitären Fachdisziplinen und ihre Kritik scheint sich vor allem an der „religious experience“ festzumachen, die sie für nicht nachvollziehbar hält. In James’, Ottos und Eliades Arbeiten geht es stark um die Frage, wie das grundlegende Gefühl, der Wunsch oder die Not des Menschen entstehen, sich mit einem Gott, einer höheren Macht oder etwas Sakralem zu verbinden. Sie hat die Frage beschäftigt, was dem Religionsbedürfnis zugrunde liegt oder diesem vorgängig ist. Besonders dem Denken von James liegt, anders als Miller es hier konturiert, sehr wohl die Überzeugung zugrunde, dass Religion aus dem Sozialen hervorgeht, sozial konstruiert ist. Miller kritisiert zudem die persönliche Erfahrungsdimension von Religion in der Argumentation von zum Beispiel Kant oder Schleiermacher. Sie schreibt: „Couching the taxonomy of religion within the affective – innate inner expressions, motivations, intentions, and behaviors – inevitably forces religion to be reliant upon these things, constructing a modernist (similar problematics can be seen in the work of Immanuel Kant and Friedrich Schleiermacher among others) framing of religion as feeling, unique, interior, and therefore universalizable (because it’s dependent on the interior comportment of subjectivity).“84

Sie scheint das Affektive als Dimension zu lesen, der sich nur über ein einzigartiges und inneres Gefühl zu nähern ist. Das stößt ihr dann besonders auf, wenn diese Subjektivität zur Annahme gereicht, Religion sei eine Universalie und damit – so lese ich Miller im Kontext ihrer Kritik an der Phänomenologie Kants oder Eliades – ein „unwissenschaftlicher“ Umgang mit ihr vorgezeichnet. Mit den Gedanken Georges Batailles wird in der vorliegenden Arbeit ein theoretischer Ansatz fruchtbar gemacht, der eben nicht nur „innere Erfahrung“ thematisiert, sondern Sakrales als Gemein-

83 M. R. Miller: Religion, S. 120. 84 Ebd., S. 99.

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schaftserlebnis und als gemeinschaftsbildend verstanden hat ohne dabei notwendigerweise Schwarze Gemeinschaften zu verweisen. Religion, religiöse Phänomene und das Sakrale als in Religion gebunden sind „genuin soziale Phänomene bzw. faits sociaux“.85 Worin Miller zugestimmt werden kann, ist ihre ablehnende Haltung gegenüber den Forschungsansätzen, die Religion und Hip-Hop miteinander verschmelzen lassen und so gleichsetzen. Sie schreibt, dass Folgendes zu oft geschehe: „Hip Hop becomes conflated with religion“ und sie nennt das ein „collapsing that confuses the categories and constructions of both religion and culture.“86 In ihrer Analyse von KRS Ones Buch „The Gospel of Hip Hop: The First Instruments“ kommt sie zu einer Feststellung, die auch für die vorliegende Arbeit zutrifft: KRS „constructs an essence of meaning and cosmic order of Hip Hop by using the social power of established Christian theology.“87 Die religiösen Symbole scheinen auch in den Musikvideos in ihrer sozialen Macht eine Rolle zu spielen – ein Phänomen, das gerade das Collège de Sociologie in Folge von Durkheims Formel, die Religion sei die hypostasierte Gesellschaft, verfolgt hat. Der jüngst erschienene Sammelband „Religion in Hip Hop: Mapping the New Terrain in the US“ wurde von Miller zusammen mit Pinn und dem Rapper Bernard ‚Bun B‘ Freeman herausgegeben. Im Vorwort erklären die Herausgeber ihre wissenschaftliche Agenda. Im Zentrum steht dabei für sie, den Diskussionen und Analysen in dem Band ein ganz bestimmtes, für sie neues Verständnis von Religion zugrunde zu legen:

85 Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937-1939), Konstanz 2006, S. 156 [Kursivierung wie im Original]. 86 M. R. Miller: Religion, S. 58. Zu Arbeiten, die Religion und Hip-Hop nicht voneinander trennen, gehört auch Martin Lüthes Monografie: „We Missed a Lot of Church, So the Music Is Our Confessional“: Rap and Religion, Berlin 2008. Lüthe setzt Interviewäußerungen und Songlyrics gleich und beschreibt das Ziel seiner Arbeit wie das von Hip-Hop: „At its best, rap discourse becomes religious discourse and vice versa.“ S. 5. Das Buch Hip-hop Redemption. Finding God in the Rhythm and the Rhyme von Ralph Basui Watkins, Grand Rapids 2011, verfolgt dieselben Ziele. Bei der harschen Kritik darf nicht vergessen werden, dass die Autoren für einzelne zum Beispiel den Native Tongues zugehörigen Künstler/innen wie A Tribe Called Quest gute Gründe haben, deren Hip-Hop-Produkte als Predigtwerkzeuge zu betrachten – wenngleich es genauso gute Gründe gibt, deren Musikvideos, von Plattenfirmen beauftragt, von oft Weißen, oft nicht US-amerikanischen Regisseuren und Teams umgesetzt, auf die vermeintlich durchgehaltene „Black practice“ in diesen kritisch zu überprüfen. Unabdingbar ist auch jene „blackness“ als über Jahrzehnte sozial konstruiert zu begreifen. 87 M. Miller: Religion, S. 59.

46 | Z UR SAKRALEN D IMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS „By religion, we mean the manner in which the existential and metaphysical arrangements and rhetoric of meaning are developed, worked out, and (re)arranged. That is to say, we do not use this conceptual category as proxy for institutions, doctrines, beliefs and creeds defining particular religious traditions.“88

Dabei ist das Verständnis von Religion ein immer noch stark untertheoretisiertes, jedoch vom Gegenstand her zugängliches, das auch aktuellsten Trends gegenüber offen ist. So wird beispielsweise im Aufsatz von Elonda Clay „#NOWTHATSRELIGIONANDHIPHOP: Mapping the terrain of religion and hip hop in cyberspace“ die Bewegung im Internet, die sich „Yeezianity“ nennt und in Anlehnung an Kanye Wests Wortspiel „Yeezus“ (dem Albumtitel) von Fans gegründet wurde, als „new religion“ untersucht.89 Einzelne Aufsätze des Buches begreifen „Religion“ also als gemeinschaftsbildend und aus einem menschlichen Bedürfnis sich herausbildend und nicht als überlieferte, starre Repräsentationssysteme, von denen sich Überbleibsel mit verschiedenen Funktionskontexten in der Hip-Hop-Kultur zeigen. Diese Ansätze stehen dem Sakralen dieser Arbeit hinsichtlich des gemeinschaftstiftenden Impetus, der sich in „Yeezanity“, aber in anderen Formen auch in den Musikvideos nachweisen lässt, am nächsten. Im Folgenden sollen zwei Ansätze diskutiert werden, die am elaboriertesten und für diese Arbeit am fruchtbarsten mit Hip-Hop-Kultur und ihren Ausdrucksformen umgehen. Der einzige der Autorin bekannte Ansatz, Hip-Hop-Kultur – und (sicher nicht zufällig) erneut den Rapper Tupac Shakur – mit der Kultursoziologie aus dem Umfeld des Collège de Sociologie zu lesen, ist das Kapitel „The Rebirth of Tragedy Out of the Spirits of Gangsta Rap and Death/Black Metal“ des Soziologen Alexander T. Riley.90 Riley versteht die kulturellen Praktiken und den Habitus des Gangsta-Raps

88 M. Miller/A. B. Pinn: „Introduction“, in: M. Miller et al. (Hg.): Religion in Hip Hop: Mapping the New Terrain in the US, London 2015, e-Book o.S. [Introduction]. 89 Elonda Clay: „#NOWTHATSRELIGIONANDHIPHOP: Mapping the terrain of religion and hip hop in cyberspace“, in: Monica Miller et al. (Hg.): Religion in Hip Hop: Mapping the New Terrain in the US, London 2015, e-Book o.S. [Kapitel 6]. Ein Beitritt in diese Glaubensgemeinschaft oder neutraler: die Gruppe ist über eine Mail mit einem Selfie, das auf einem Zettel bekundet „I believe in Yeezus“, möglich. Vgl. Timo Brücken: „‚Yeezianity‘. Kanye West hat jetzt seine eigene Religion“, http://www.stern.de/lifestyle/leute/yeezianity—kanye-west-hat-jetzt-seine-eigene-religion-3142248.html vom 16.08.2016. 90 Alexander T. Riley: Impure Play. Sacredness, Transgression, and the Tragic in Popular Culture, Lanham 2010, dieses Kapitel: S. 49-76. Riley hat seine Gedanken zu Hip-HopKultur fünf Jahre eher in dem Aufsatz „The Rebirth of Tragedy out of the Spirit of Hip Hop: A Cultural Sociology of Gangsta Rap Music“, in: Journal of Youth Studies 8 (3, 2005), S. 297-311, veröffentlicht.

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als „impure play“ und verknüpft sie mit „something arguably more serious even than politics: the sacred“.91 Mit Roger Caillois kritisiert er Spiel als zu Unrecht nicht ernst genommene und nicht produktive, nicht nützliche Tätigkeit verstanden.92 Caillois steht mit seinem Spiel-Begriff freilich in der Nähe von Batailles „Unproduktiver Verausgabung“, die in dieser Arbeit herangezogen wird, und die auch Riley aufgreift, wenn er das Spiel mit dem Sakralen verbindet. Über Caillois’ Geschichte vom König, der als sakrales Objekt von seinen Untertanen verehrt wurde und gleichermaßen als sozialer Körper nur durch die Verehrung durch sein Volk überhaupt König und sakral wurde, und nach dessen Tod sich das geordnete, strukturgebende, bindende Sakrale in ein exzessives, grenzüberschreitendes, zerstörerisches Sakrales verwandelte, stellt Riley die These auf: „[T]he transgressive festival that was once provoked by the death of the king and the dissolution of his body did not disappear. It was partially and imperfectly transplanted, by processes we can trace, to the areas of cultural production that it inspired in its own forms.“93

Riley setzt sich dementsprechend noch einmal anders als Sylvan mit den Praktiken der Hip-Hop-Kultur und im Speziellen des Gangsta-Raps auseinander. Der deutlichste Unterschied in der Gegenstandswahl von Sylvan und Riley ist der, dass Sylvan vor allem lokale Praktiken (hinzu kommen Interviews) in ihrer Arbeit untersucht, während Riley Hip-Hop im gesamtkulturellen Kontext der USA in den Blick nimmt. So schreibt er über Rock- oder Hip-Hop-Konzerte, dass diese als Orte für die Ekstaseerfahrungen und damit für das Sakrale in Frage kämen. Genauso wäre eine solche Erfahrbarkeit des Sakralen auch mediatisiert über Fernsehen oder das Internet möglich.94 Riley zieht überzeugende Analogien zwischen den von Roger Caillois in seiner Spieltheorie grundlegend definierten Formen des unreinen und transgressiven Sakralen und der Hip-Hop- bzw. Black-Metal-Kultur. In erster Instanz sei Popkultur, so Riley auf Bakhtin bezugnehmend, aus der „festival and Carnival tradition“95 hervorgegangen, in der rituelle Handlungen stattfanden, in denen „community solidarity“ ausgedrückt und zeitlich beschränkte Überschreitungen dem Verlangen nach Entgrenzung entgegen kamen, während die soziale Ordnung aufrecht erhalten wurde.96

91 Ebd., S. 2. 92 Vgl. ebd., S. 3. 93 Ebd., S. 12. 94 Vgl. ebd., S. 18. 95 A. T. Riley, Impure Play, S. 57. 96 Vgl. ebd.

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Über diese Definition von Popkultur hält bei ihm der Begriff des „unreinen Sakralen“, wie Caillois ihn definiert, Einzug in seine Lesart von Gangsta-Rap als Ort für die sakralen Erfahrungen US-amerikanischer Jugendlicher. Er schreibt: „[S]o gangsta rap youth cultures have their networks of such sacred spaces and collectivities. Discussions in gangsta rap texts of house parties, dance and strip clubs, rap concerts, gang or (in more middle-class and suburban settings) other close-knit and deviant youth collectivities that function in some situations like quasi-families, and the transgressive activities (drinking and drug rituals and games, sexual license and debauchery) that occur in these gatherings are myriad, and consumers of this music clearly experience the music and its meanings at least sometimes from within these kinds of spaces.“97

Das Erleben von Ekstase und Transgression beim Hören von Gangts-Rap sei bedingt durch die musikalischen Qualitäten des Genres (Gangsta-Rap sei „structurally transgressive“98), was er klassisch musiksoziologisch über Tia de Noras Grundlagenwerk „Music in Everyday Life“ herleitet. Im Battling (nicht nur) des Gangsta-Raps sieht Riley Caillois’ „agon“ am Werk und betont trotz der offensichtlichen Gefahren, dass das verbale Battling in ein physisches umschlagen könne, dessen Beliebtheit bei den Fans.99 Es ist das dunkle, zerstörerische und bedrohliche Element, das die Fans an Gangsta-Rap bindet. Während Riley dieses Phänomen mit dem „agon“ Caillois’ beschreibt, sieht diese Arbeit im Bereich des Battlings und des potentiell vernichtenden Gestus desselben mit Bataille die affektive Kraft des Sakralen am Werk. Statt im „agon“ und damit im Spiel eine einzelne vom Alltag getrennte Sphäre auszumachen, stellt Bataille mit der „unproduktiven Verausgabung“ ein Konzept in den Vordergrund, das Künste, Kriege und auch Spiele zusammen mit anderen Kulturpraktiken gemeinsam unter den Vorzeichen einer bestimmten Ökonomie denkt. Das Battling wäre mit Bataille Teil der heterogenen Welt verstanden als die andere Seite oder das Pendant der alltäglichen Welt des Arbeitens und der rationalen Produktivität. Rileys Arbeit ist für die auch in diesem Buch immer wieder thematisierte Rezeption von Songs und Musikvideos (und auch Live-Events) der Hip-Hop-Kultur für die Erfahrbarkeit des Sakralen wichtig. Sein Verständnis des Schwarzen als Dionysos für eine Weiße Dominanzgesellschaft impliziert die vorliegende Arbeit insofern, als dass sie die sakralen Elemente und Inszenierungen in den Musikvideos unter anderem als Teile subversiv wirkender Strategien in einem postkolonialen Diskurs begreift ohne dabei in die Hautfarbenbinarität zu verfallen, wie Radano sie kritisiert hat.

97 Ebd., S. 57. 98 Ebd. S. 58. 99 Ebd., S. 71.

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Diese Arbeit schließt ferner implizit an Rileys Hinweis an, es sei zunächst wichtig, eine Gruppe an Rezipienten zu definieren, bevor ein komplexes Phänomen wie HipHop in seinen unterschiedlichen Manifestationen untersucht werden könne. Wenn Riley über die Dionysos-Funktion das Weiße, männliche Mittelschichtspublikum des Gangsta-Rap in den USA erklärt, so nimmt diese Arbeit die globale Rezeption der Musikvideos des US-amerikanischen Hip-Hop des Mainstreams an und ernst. Fokussiert wird in den Musikvideoanalysen des vorliegenden Buches also eine Relationalität und Diskursivität von Kategorien wie Schwarz und Weiß sowie die soziale Konstruiertheit dieser. Das Sakrale, so wird diese Arbeit zeigen, ist zu verstehen als aus dieser Relationalität der Hautfarben und dem Figurieren dieser in den Musikvideos des Hip-Hop hervorgehend. Statt von Religion im Sinne einer ursprünglich festzumachenden, transzendenten Bezüglichkeit auszugehen, diskutiert die Arbeit Hip-Hop-Musikvideos und religiöses Material in einem race-Diskurs, wie ihn Radano überzeugend nachzeichnet. Das Sakrale wiederum wird nur verständlich als immanent, als in diesem race-Diskurs entstehend und gegen seine Binarität arbeitend. Als Abschluss dieses forschungsgeschichtlichen Überblicks, der keinesfalls den Anspruch erhebt, vollständig und erschöpfend zu sein, und um eine letzte Situierung der Leitthese dieses Buches vorzunehmen, sei Riley noch einmal ausführlicher wiedergegeben: „There is some good recent evidence to support the notion that America is becoming more secular. In the 2008 survey from Trinity College on American religious values, we learn that non-believers are the only group growing in all 50 American states and that Christianity is on the decline…, but it is not clear exactly what kind of category ‚non-believers‘ actually is. Religion, especially in some of its historical forms, may be on the wane, but this does not necessarily mean secularization theory in its purer forms is correct. The non-religious may in fact be experiencing some of what traditionally was experienced in the realm of religion elsewhere, and otherwise. Instead then of secularization or desecularization, impure play is a third way of understanding some of what might be happening in cultures like ours.“100

Anschließend an Rileys „impure play“ und die sich aus dem Forschungsüberblick ergebene Notwendigkeit, für Musikvideos des US-amerikanischen Mainstreams einen anderen Weg als die Suche nach religiöser Bedeutsamkeit einzuschlagen, formuliert die Arbeit die These, dass die Musikvideos religiöses Material sakral – verstanden als ein transgressiver, heterogener Umgang mit diesem – inszenieren und als Kunst begriffene Alltagsfluchten auf Smartphones, Tablets und Laptops für ein potentiell globales, alle Hautfarben meinendes Publikum bereithalten. Das ständige Vorhandensein dieser Geräte und der hohe Grad ihrer Integration in unseren Alltag

100 A. T. Riley: Impure Play, S. 23.

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löst die von Bataille recht binär gedachte Opposition von Alltag und Fest zugunsten eines momenthaften Verschmelzen oder kontinuierlichen Fließens zwischen diesen Polen auf.

Georges Batailles Theorie des Sakralen und ihre Bezüge zur US-amerikanischen Hip-Hop-Kultur

Bataille und das Sakrale Einleitende Bemerkungen

Für die erste These dieser Arbeit, der disparate Zeichenvorrat, der unter anderem auch religiöse Symbole und Codes enthält, erschaffe oder verweise auf Sakrales, greift die Arbeit auf die Forschungen Georges Batailles zurück. Seine Vorträge am Collège de Sociologie1, sein Projekt Acéphale sowie seine Monografien bieten durch die breite Wahl ihrer Forschungsgegenstände innerhalb der Kultursoziologie, Ethnologie, Philosophie und Literaturwissenschaft die wohl umfassendste und flexibelste wissenschaftliche Beschäftigung mit der Denkfigur und dem Diskursobjekt des Sakralen. Gerade das Collège de Sociologie sei besonders und unterscheide sich von vielen anderen intellektuellen Gemeinschaften des 20. Jahrhunderts, betonen Irene Albers und Stephan Moebius im Nachwort zu dem von Denis Hollier herausgegebenen Band „Das Collège de Sociologie“.2 Dies sei zurückzuführen auf das Sakrale selbst als Hauptforschungsinteresse. Es wurde am Collège im Sinne der Durkheim-Schule verstanden als eine vom Profanen abgegrenzte, sowohl anziehende als auch abstoßende Sphäre von Gegenständen, Personen, Orten und sozialen Praktiken, über die sich auch unabhängig von religiösen Institutionen Gemeinschaften in kollektiven Erfahrungen von „Efferveszenzen“ konstituieren.3 Ein so definiertes Sakrales geht also weit hinaus über religiöse Institutionen, die man noch am ehesten mit ihm zu assoziieren geneigt ist, und ist für die Fragestellung der Arbeit deshalb so interessant. Der im Folgenden zu entwickelnde Sakralbegriff bietet sich für zunächst scheinbar disparate, gesamtgesellschaftliche Phänomene und auf der Ebene der ästhetischen Inszenierung im Musikvideo auf den ersten Blick disparaten und zusammenhangslosen Zeichen an. Bataille nämlich hat sich im Laufe der Zeit mit dem Sakralen in unterschiedlichsten Manifestationen beschäftigt. In seinem 1

Das Collège de Sociologie war ein loser Zusammenschluss Intellektueller in Frankreich in den Jahren 1937 bis 1939. Zu seinen Gründungsmitgliedern gehörten Georges Bataille, Michel Leiris und Roger Caillois.

2

I. Albers/S. Moebius: Nachwort, S. 757.

3

Ebd.

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Aufsatz „Die psychologische Struktur des Faschismus“ (1933)4 entwickelt er die Vorstellung einer „heterogenen“ Welt, ihrer Produktion (oder Anti-Produktion) und der Bedeutung der heterogenen Elemente – nämlich solcher des Sakralen – für die Herausbildung von Faschismus als Herrschaftsform. Im selben Jahr erscheint der Aufsatz „Der Begriff der Verausgabung“ (1933)5, in der er die in „Die psychologische Struktur des Faschismus“ dargelegten Mechanismen abstrahiert und über „das Prinzip des Verlusts“ eine „allgemeine Ökonomie“ der Verschwendung erarbeitet. Besonders in seinem Aufsatz „Der verfemte Teil“ (1949)6 entfaltet er diese Denkfigur auch historisch, indem er unterschiedliche Gesellschaftsformen an konkreten gegenwärtigen und vergangenen Beispielen typologisiert und sie auf ihre Mechanismen der unproduktiven Verausgabung als Strategie des Sakralen befragt. In der Zeit der „Documents“ (1929–1931) wählt er einen spielerischen, kommunikativen, direkt am Phänomen orientierten, aber nicht weniger theoretischen und wissenschaftlichen Zugang zum Sakralen. Während der Jahre des Collège (1937–1939) und des Austauschs in der Gruppierung Acéphale (1936–1939) erhebt Bataille das Sakrale zum Kernbegriff seiner Forschung, indem er dezidiert von einer Sakralsoziologie als ausgeführter Wissenschaft spricht. Auch Roger Caillois, Michel Leiris und Pierre Klossowski arbeiten im Collège an und unter diesem Leitbegriff. Am 22. Januar 1938 hält Bataille im Collège einen Vortrag, indem er sein Vorhaben konkretisiert und benennt: „Es wurde sehr deutlich hervorgehoben, daß die Soziologie, die wir ausarbeiten wollen, nicht die allgemeine Soziologie ist, auch nicht die Religionssoziologie, sondern in einem sehr genauen Sinne die Sakralsoziologie.“7 Er teilt die Gesellschaftsformen in „präsakral“ und „postsakral“ und fügt zu Letzteren, auch für diese Arbeit besonders von Interesse erscheinenden, postsakralen Gesellschaften an: „Es wäre natürlich absurd, wenn ich … den Eindruck erwecken würde, das Sakrale existiere nicht mehr, könne jetzt nur noch in Gestalt von Überbleibseln existieren. … [E]s gibt Gesellschaften, in denen das Sakrale zumindest auf den ersten Blick zu verschwinden scheint – die Gesellschaften der fortgeschrittenen

4

G. Bataille: Faschismus.

5

Georges Bataille: „Der Begriff der Verausgabung“, in: Gerd Bergfleth (Hg.): Die Aufhebung der Ökonomie, 5. erw. Auflage, München 2001, S. 7-31. [Originaltitel: „La notion de dépense“, zuerst erschienen in: La Critique sociale 7 (Januar 1933)].

6

Georges Bataille: „Der verfemte Teil“, in: Gerd Bergfleth (Hg.): Die Aufhebung der Ökonomie, 5. erw. Auflage, München 2001, S. 33-234. [„La Part maudite“, zuerst erschienen als: Georges Bataille (Hg.): L’Usage des richesses, Paris 1949].

7

Georges Bataille: „Anziehung und Abstoßung I. Tropismen, Sexualität, Lachen und Tränen“ Vortrag am Collège, Samstag, 22. Januar 1938, in: Denis Hollier (Hg.): Das Collège de Sociologie, S. 114-129, hier S. 115.

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Zivilisation, in denen wir leben.“8 Bataille ist also nicht den Überbleibseln eines Sakralen auf der Spur, sondern wird in seinen Überlegungen das Sakrale in seiner Gänze und in seiner früheren, offensichtlicheren Macht als Triebfeder für gegenwärtige Gesellschaften etablieren. Die Funktionsweisen des Sakralen in der Gesellschaft bezeichnet er an selber Stelle emphatisch als „die komplizierteste und erstaunlichste Maschinerie, der man begegnen kann“.9

Batailles Religionskritik Für die vorliegende Arbeit ist Batailles Verständnis von Religionen, gegen die er seinen Begriff des Sakralen stark macht, wichtig, da das strukturelle Argument dieser Arbeit direkt aus Batailles Religionskritik stammt. Bataille kritisiert Religionen und besonders das Christentum im Laufe seines Denkens und Schreibens zunehmend und entdeckt im Sakralen als losgelöst von einer Bindung in Religion befreiende und revitalisierende Impulse. Die Frage nach der Möglichkeit, sich von oppressiven Machtstrukturen, die in den USA unter anderem an Religionen gekoppelt sind, zumindest in den Musikvideos zu lösen, diese subversiv zu unterwandern oder Gegenentwürfe zu wagen, bestimmt diese Arbeit, wie sie Batailles theoretisches Werk durchzogen hat. Batailles deutliche Kritik am Christentum ist eine Schlüsselstelle für eine Rückkehr des „echten“ Sakralen und leitet ein in die Bestimmung der Qualitäten eines Sakralen, wie es Bataille versteht.10 Was also ist sein Verständnis von Religion und was kritisiert er am Christentum? In seiner „Theorie der Religion“ definiert er das Wesen von Religion als „die Suche nach der verlorenen Intimität“.11 Dabei ist zu berücksichtigen, dass Bataille ein besonderes Verständnis von Intimität zugrunde legt. Sie ist für ihn so etwas wie das Aufgehen eines einzelnen Menschen in der Welt,

8

G. Bataille: Anziehung, S. 116. Vgl. auch Carlos Marroquìn, Die Religionstheorie des Collège de Sociologie: Von den irrationalen Dimensionen der Moderne, Berlin 2005, S. 74.

9

G. Bataille: Anziehung, S. 115-116.

10 Interessant ist die Bemerkung Bergfleths in seinem Aufsatz „Die Religion der Weltimmanenz“ in: Gerd Bergfleth (Hg.): Georges Bataille. Theorie der Religion, (= Das theoretische Werk in Einzelbänden), München 1997, S. 205-245, hier S. 209, Bataille ließe sich „über seine Stellung zum Christentum nicht“ aus und „Das Christentum als solches kommt bei Bataille so gut wie gar nicht vor.“ In diesem Kapitel werden mehrere Stellen diskutiert, an denen Bataille wesentliche Weichenstellungen in der Entwicklung des Christentums in Bezug auf das Sakrale scharf kritisiert. 11 G. Bataille: Theorie der Religion, S. 50.

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das Einssein mit der Welt. In seinem Aufsatz zur Ausgabe von „Theorie der Verschwendung“ schreibt Gerd Bergfleth, Intimität sei „ein anderer Name für die exzessive Selbstverschwendung, in der wir uns selbst vergessen und die Welt wiederfinden. Sie ist das innere Außersichsein, das das Einssein ermöglicht“.12 Diese verlorene Intimität ist bei Bataille die Welt des Sakralen, zu der es Zugänge wieder zu entdecken gelte. Früher regelte jene Zugänge das Christentum, heute aber sei die Wirkung des Christentums, seiner Rituale und Verbote nicht mehr in der Lage, diese Zugänge zu gewährleisten.13 Kernprobleme des Christentums seien dessen Fixierung auf einen Gott, also einen, der das Sakrale verkörpert oder verspricht sowie ein Jesus, der für den Menschen, genauer: für die Schlechtigkeit des Menschen, gestorben ist, wie Bataille schreibt: „Der Gläubige trägt zum Kreuzesopfer nur durch seine Verfehlungen, seine Sünden bei. Deshalb ist die Einheit der Sphäre des Heiligen zerbrochen. [...] Das Christentum [...] verwarf die Schuld, ohne die das Heilige nicht vorstellbar ist, denn nur die Verletzung des Verbots öffnet den Zugang zu ihm.“14

Das Christentum hat das Unreine, Schlechte, Dunkle, Abgründige ausgemerzt – ohne dies natürlich wirklich zu können. In seiner Grundidee aber hat es das getan, und der Christ lebt mit der Konsequenz eines geteilten Sakralen, lebt mit der Binnendifferenz von rein und unrein. Dies hat konkrete Auswirkungen auf u.a. die Teufelsfigur, denn sie ist es, die eine moralische Umwertung erfährt und folglich aus dem reinen Sakralen ausgeschlossen wird: In der heiligen Welt des Christentums konnte nichts bestehen, was offensichtlich den Grundcharakter der Sünde, der Überschreitung besaß. Der Teufel – der Engel oder Gott der Überschreitung (der Widersetzlichkeit und der Revolte) – wurde aus der göttlichen Welt verjagt. [...] Er war nicht eigentlich profan geworden: er behielt von der Welt des Heiligen, aus der er hervorgegangen war, den übernatürlichen Charakter. Aber man tat alles, um ihn der Folgen seiner religiösen Natur zu berauben.15 Das mag sich ja noch als nüchterne Abhandlung über die Folgen des Christentums auf das Sakrale in der Welt lesen, doch darf man dabei nicht vergessen, dass

12 Gerd Bergfleth: „Theorie der Verschwendung“, in: Gerd Bergfleth (Hg.): Georges Bataille. Das theoretische Werk Band 1, München 1975, S. 289-407, hier S. 405. 13 Vgl. Georges Bataille: „Die Erotik“, in: Gerd Bergfleth (Hg.): Georges Bataille. Das theoretische Werk in Einzelbänden, München 1994, S. 114 [Originaltitel: „L’Érotisme“ zuerst erschienen Paris 1957]. 14 Ebd., S. 116-117. 15 Ebd., S. 117.

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Bataille in all seinen Studien auf der Suche nach dem Sakralen, seinen Formen, Zugängen und möglichen Rettungen vor oder Abgrenzungen von faschistischer Vereinnahmung dieses Sakralen war. Vor diesem Hintergrund liest sich die Feststellung, das Christentum habe das Sakrale in seiner archaischen Form abgeschafft, nicht mehr ganz unbeteiligt. Die Mythen des Christentums, schreibt er in „Der Begriff der Verausgabung“, „verbinden soziale Schmach und die Verwesung des zu Tode Gemarterten mit göttlichem Glanz“.16 Und wenig später im Text schreibt er von der „christlichen Demütigung“, die den Menschen in eine Knechtschaft bringt, den wirklichen Klassenkampf zugunsten der Reichen behindere und auch sonst der menschlichen Souveränität in jeder Hinsicht im Wege stehe. Ähnliches hatte er schon einige Seiten vorher geschrieben, wo es im Kontext der Opferhandlung heißt: „Besonders der Erfolg des Christentums muß durch den Wert der schimpflichen Kreuzigung des Gottessohns erklärt werden, die die menschliche Angst zu einer Vorstellung grenzenloser Verlorenheit und Erniedrigung erweitert.“17 Carlos Marroquìn hebt die Kreuzigung als Paradebeispiel für eine Verausgabung hervor, lässt sich aber auf keine Bewertung ein: „Gerade der Grund für den Erfolg des Christentums als Weltreligion liegt für unseren Autor in seiner nature sacrificielle, das heißt in der Kreuzigung des Gottessohnes. Der Tod am Kreuz wäre also die große Verschwendung [...], die die christliche Tradition begründet.“18 Er bestätigt jedoch, dass Bataille besonders die evangelische Religionstradition und ihre Moral als der unproduktiven Verausgabung und damit dem Sakralen feindlich gegenüber eingestellt ansieht.19 Kontinuität oder die verlorene Intimität wiederzufinden, sei ein menschliches Grundbedürfnis, das von den Religionen bedient werde und das Christentum, so Bataille, habe in spezieller Weise hierauf reagiert.20 Das Christentum schaffe zum einen ein reines Sakrales, indem destruktive, potenziell gefährliche Impulse abgespalten wurden, und zum anderen verabschiede es mit seiner Unsterblichkeitsvorstellung den Tod als Bedrohung der Kontinuität. Damit aber betäube es grundsätzlich auch den Wunsch nach dem Sakralen, denn mit dem Unsterblichkeitsversprechen sei dieser vermeintlich erfüllt. Das Christentum „[...] machte durchgängig aus dem Jenseits dieser wirklichen Welt ein Fortdauern aller diskontinuierlichen Seelen. Es bevölkerte den Himmel und die Hölle mit Massen, die gleich Gott zur ewigen Diskontinuität des Einzelwesens verurteilt waren. Erwählte und Verdammte, Engel und

16 G. Bataille: Der Begriff der Verausgabung, S. 28. 17 Ebd., S. 13. 18 C. Marroquín: Religionstheorie, S. 160 [Kursivierung wie im Original]. 19 Vgl. ebd., S. 167. 20 Vgl. G. Bataille: Erotik, S. 115.

58 | Z UR SAKRALEN DIMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS Dämonen wurden zu unvergänglichen, für immer geteilten, willkürlich unterschiedenen Fragmenten, willkürlich losgelöst von jener Totalität des Seins, auf die man sie dennoch beziehen muß.“21

Dieser Wunsch nach dem Sakralen ist hingegen im Menschen noch vorhanden, argumentiert Bataille, auch wenn das Christentum versucht habe, diesen wegzurationalisieren. In dieser Folge begreift die Arbeit das Sakrale in seiner archaischen Qualität als immer noch existent und vom Menschen gewünscht. Musikvideos, so wird in der Arbeit argumentiert, bieten eine Möglichkeit, Sakrales zu erfahren. Batailles Schrift „Die innere Erfahrung“22 stellt den frühen Versuch – nach dem Scheitern von Acéphale und nach dem Collège – dar, dem Sakralen als Erfahrung nachzugehen. Der Religionswissenschaftler Alexander C. Irwin erklärt, inwiefern Bataille dabei an Mystik anknüpft: „Bataille acknowledges that his concept of inner experience is comparable to forms of mysticism known in the great religious traditions. Yet ‚the experience‘ as Bataille wishes to describe and to live it is stripped of the dogmatic labels and qualifications attached to mystical states in traditional religious frameworks.“23

Irwin weist auf die Diskrepanz zwischen dem Ansatz Batailles in „Die Innere Erfahrung“ und dem vorhergehenden Bemühen, eine Sakraltheorie in Form einer Zeitschrift und einer wissenschaftlich arbeitenden Einrichtung wie dem Collège zu etablieren hin.24 In der Tat scheint es so, als hätte Bataille nach dem Scheitern Acéphales der Erfahrung und Praktik des Sakralen in seinem eigenen Leben entsagt und sich für eine theoretische Auseinandersetzung am Collège entschieden, um danach in der in-

21 G. Bataille: Erotik, S. 116. 22 Georges Bataille: „Die innere Erfahrung nebst Methode der Meditation und Postskriptum 1953 (Atheologische Summe I)“, in: Gerd Bergfleth (Hg.): Georges Bataille. Das theoretische Werk in Einzelbänden, München 1999 [Originaltitel: L’Expérience intérieure suivie de Méthode de méditation et de Post-scriptum 1953 (Somme Athéologique 1), Paris 1954]. Die innere Erfahrung erschien zuerst im Januar 1943 bei Gallimard in Paris, vgl. die bibliografischen Hinweise des Herausgebers im selben Band, S. 286.] 23 Alexander C. Irwin: „Ecstasy, Sacrifice, Communication: Bataille on Religion and Inner Experience“, in: Soundings: An Interdisciplinary Journal 76 (1, 1993), S. 105-128, hier S. 108. 24 Vgl. ebd., S. 113.

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neren Erfahrung das wissenschaftliche Arbeiten wieder zu reduzieren und die Erfahrbarkeit des Sakralen in Form eines oft sehr persönlichen Mystizismus wiederzuentdecken.25 In seiner späteren Schrift „Die Erotik“ (1957) wird das Sakrale vor allem im Bereich der Erotik und der Sexualität zu einem Begriff und Bataille spricht fortan von einer „heiligen Erotik“26. In seinem Buch „Theorie der Religion“ beschreibt Bataille den Zugang zum Sakralen über einen bestimmten Bereich kulturellen Zusammenlebens, den er bisher weitgehend gemieden hat und den er in seinem fiktiven Schreiben immer wieder adressiert hat: den der Religion, die das Sakrale und seine Zugänge reguliert und ihre „Spitzenposition“, nämlich Gott, geschaffen habe und die der Mensch besser wieder abschaffe, folgt man Bataille in seiner Radikalität.27 Alexander Kuba fasst die drei genannten Hauptwerke Batailles in ihrer Bedeutung für das Sakrale zusammen: „La part maudite, die Théorie de la religion und L’Erotisme lassen sich als umfangreiche Variationen über das Denkbild des Heiligen verstehen. Bataille lokalisiert das Wechselspiel von Abstoßung und Anziehung, Rudolf Ottos mysterium tremendum et fascinans, auf zwei Ebenen. Es ist einerseits ein Grundprinzip genuin menschlichen Empfindens und andererseits ein sozialer Mechanismus, den Bataille schon am Collège de Sociologie postuliert hatte. Mit L’Erotisme schließt er die beiden ökonomischen Operationen Akkumulation und Verausgabung an dasselbe Schema an und schlägt damit die Brücke zu La part maudite.“28

25 Bergfleth greift in seinem Aufsatz „Die Resakralisierung der Welt“, in: Gerd Bergfleth (Hg.): Georges Bataille. Die Freundschaft und Das Halleluja (Atheologische Summe II), (= Das theoretische Werk in Einzelbänden), München 2002, S. 257-302, das „neue Feld“, wie Bataille es in seinem Essay „Das Heilige“ genannt hat, das nach Loslösung vom Christentum für das Sakrale in der Welt vorhanden sei, auf, schreibt aber, Batailles Atheologie laufe „tendenziell auf eine neue Theologie“ hinaus, die „‚neue mystische Theologie‘ der ‚Inneren Erfahrung‘“, S. 279. Bataille macht den Menschen zu seinem eigenen Gott, wie Bergfleth später selbst schreibt, was angesichts der Drastik des Gedankens und der jahrhundertelangen Prägung des Begriffes „Theologie“ zunächst einmal irreführend ist. Vgl. Bergfleth, Resakralisierung, S. 239. 26 G. Bataille: Erotik, S. 18. 27 G. Bataille: „Theorie der Religion“, in: Gerd Bergfleth (Hg.): Georges Bataille. Das theoretische Werk in Einzelbänden, München 1997, [Originaltitel: Théorie de la religion zuerst erschienen Paris 1974]. Siehe die bibliografischen Angaben von Bergfleth auf S. 246. 28 Alexander Kuba: Anziehender Schrecken. Das Denkbild des Heiligen im anthropologischen und ästhetischen Diskurs der Moderne, Berlin 2010, S. 136-137 [Kursivierung iwe im Original].

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Die Arbeit verfolgt also mit dem Sakralen als Kraft und Affekt menschlichen Zusammenlebens eine vielperspektivische Beschäftigung mit dem Sakralen und legt mit Batailles Schriften eine belastbare Theorie zugrunde, die die Gegenstände erst angemessen sprechen lässt, indem das Sakrale nicht nur in religiösen Zeichen und Symbolen gefunden wird, sondern auf unterschiedlichste Weise in einer Vielzahl verschiedener Szenen in den Musikvideos relevant wird. Zentral ist dahingehend die Überzeugung, von der aus hier gedacht wird, dass das Sakrale in der Gegenwart und in der US-amerikanischen Welt sowie dem, was man gemeinhin als die „westliche“ Welt bezeichnet, vorhanden ist und eine besondere Funktion erfüllt. Kunst und Literatur sind bei Bataille mehr und mehr zu Orten des Sakralen geworden, weil das Sakrale in den postsakralen Gesellschaften aus den Gesellschaftsritualen und den Alltagspraktiken zurückgedrängt wurde.29 Für diese Arbeit ganz zentral ist freilich ein soziologisch verstandenes und zugleich inszeniertes Sakrales. Aus letzterem folgt die Frage nach einer Ästhetik des Sakralen, die Bataille sich durchaus selbst gestellt hat. So hat er sich mit Fragen nach dem Sakralen in der erotischen Erfahrung und der Gewalt in ihrer literarischen Darstellung zum Beispiel bei Marquis de Sade gewidmet. Weitere theoretische Auseinandersetzungen zur Funktion der Kunstformen im Hinblick auf das Sakrale und seine Erfahrbarkeit durch Kunst finden wir in seiner Schrift „Die Souveränität“.30 Zunächst geht die Arbeit einzeln den Aktivitäten und Schriften Batailles nach, um den Sakralbegriff und seine Veränderungen über die Zeit zu verstehen, um danach mit der Frage nach der Ästhetisierung des Sakralen oder einer sakralen Ästhetik den direkten Boden für die Musikvideoanalysen zu bereiten.

Acéphale – Geheimgesellschaften und Sakralität Dieses Kapitel erkundet die u.a. von Bataille gegründete Zeitschrift „Acéphale“ und ihr thematisches, motivisches, aber auch strukturelles Aufgreifen des Sakralen. Acéphale, darauf macht uns Stephan Moebius in seinem Aufsatz „Über die kollektive

29 Eine (für Bataille besonders wichtige) Möglichkeit, Souveränität zu erfahren oder momenthaft souverän zu sein, sieht er im Sakralen. Rita Bischof schreibt für uns an dieser Stelle erklärend: „Bataille stellt die These auf, daß die Souveränität in dem Maße an die Kunst fällt, in dem sie aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit verschwindet.“ (Rita Bischof, „Über den Gesichtspunkt, von dem aus gedacht wird“, in: Elisabeth Lenk [Hg.]: Georges Bataille. Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, München 1978, S. 87-120, hier S. 119, FN 9a).

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30 Die Schrift „Die Souveränität“ ist im oben zitierten Band von Elisabeth Lenk in einer deutschen Übersetzung erschienen.

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Repräsentation des Lebens und des Sakralen“31 und in seiner Studie „Die Zauberlehrlinge“32 aufmerksam, bezeichnete zudem eine Geheimgesellschaft, die Bataille gründete und deren Mitglied er war. Auch dieser Geheimgesellschaft, die ihrem Wesen gemäß subversiv wirkt und damit, wie gezeigt wird, entscheidende Gemeinsamkeiten und Bezugspunkte zum Sakralen hat, wird nachgegangen.33 Beides geschieht aus guten Gründen: Zum einen gehen wir einen ersten Schritt auf das Sakrale Batailles zu, zum anderen ergeben sich für die Hip-Hop-Kultur erstaunliche Bezüge zum Motiv der Geheimgesellschaft. „Acéphale war die Zeitschrift des Collège und als ihr Organ maßgeblich an der Verbreitung des intellektuellen Austauschs über den Zirkel des Collège hinaus beteiligt.“34 Den Impetus aller Aktivitäten des Collège beschreibt Moebius anhand des Titelblatts der Publikation: „Eine Zeichnung des surrealistischen Malers André Masson, der die Ausgaben von Acéphale illustrierte, zeigt sehr eindrücklich die Verbindung zwischen kopflosem Gott, Dionysos und vulkanhaften Ausbrüchen des Lebens. Acéphale vereinigt die kollektive Efferveszenz, das Sakrale und den nietzscheanischen Dionysos.“35

Zwar war die Zeitschrift eine Publikation des Collège, doch gleichzeitig war das Collège ihr Sargnagel: In ihr fand sich 1937 die Gründungserklärung des Collège, eine Gründung, die die „Einstellung der Zeitschrift Acéphale zur Folge“36 hatte: „War diese „Erklärung“ der Todesstoß für die Zeitschrift, die ihn veröffentlichte? Tatsächlich kann man dieses Heft – in dessen Spalten die Namen derer erschienen, mit denen

31 S. Moebius: „Über die kollektive Repräsentation des Lebens und des Sakralen. Die Verknüpfung von Durkheim und Nietzsche in Geschichte und Gegenwart der Soziologie und Kulturanthropologie“, http://www.stephanmoebius.de/MOEBIUSDurkheimNietzsche.pdf vom 16.08.2016 [Kursivierung wie im Original]. 32 S. Moebius: Zauberlehrlinge, Konstanz 2006. 33 Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den in der Zeitschrift veröffentlichten Texten vollzieht diese Arbeit nicht. Die genannten Texte und die später zitierte Monografie Tragisches Lachen. Die Geschichte von Acéphale, Berlin 2011, von Rita Bischof gehen ausführlich auf sowohl die Inhalte der Zeitschrift als auch die realen Kontexte der Geheimgesellschaft ein. Wohl aber wird im anschließenden Kapitel, das sich dem Collège de Sociologie und seiner Arbeit am Sakralen widmet, auf die Inaugurationserklärung zum Collège eingegangen, die Bataille in Acéphale veröffentlicht hat. 34 Vgl. S. Moebius: Über die kollektive Repräsentation, S. 7. 35 Ebd., S. 7 [Kursivierung wie im Original]. 36 D. Hollier: „Erklärung zur Gründung eines Collège de Sociologie“, in: Denis Hollier (Hg.): Das Collège de Sociologie, S. 20-33, hier S. 28 [Kursivierung wie im Original].

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Bataille gerade das Collège aufzuziehen begann, Caillois und Monnerot – als die letzte Nummer von Acéphale betrachten.“37 Bataille und Leiris waren an dem Versuch beteiligt, „Acéphale“ über diese dritte Ausgabe zu retten, indem in einer Art Fortsetzung der Zeitschrift die Reihe „Collection Acéphale“ mit Leiris’ „Spiegel der Tauromachie“ veröffentlicht wurde und Bataille eine letzte Ausgabe der Zeitschrift alleine herauszugeben versuchte.38 Entscheidend letztlich für ein Verständnis des Collège und des Sakralen ist die Ausrichtung der Zeitschrift und der Geheimgesellschaft mit gleichem Namen. Bischof zufolge wurde die Geheimgesellschaft in Abgrenzung zu Contre-Attaque, dem ebenso kurzlebigen Zusammenschluss linksradikaler Intellektueller, „nicht mehr primär als eine politische definiert“.39 Die Absicht von Acéphale besteht Rita Bischof zufolge darin, „alles zu zerstören, was zu einer begrenzten – nationalen, rassischen, völkischen oder religiösen – Gemeinschaft führt“.40 Moebius gewichtet den Bezug Acéphales (sowohl der Zeitschrift als auch der Gruppe) zum Politischen und Religiösen anders und schreibt auf Batailles Äußerungen rekurrierend, Acéphale gehe es „um die Formierung eines Ordens, der eine religiöse Macht ausübe“ und verfolge – hier zitiert Moebius den Terminus Batailles – eine „Nietzscheanische Politik“.41 An anderer Stelle schreibt er: „Es ging dabei weniger um einen Rückzug aus der Politik, als vielmehr um die Aufhebung von Politik im Religiösen, um eine Sakralisierung des Politischen.“42 Die Motivation, primär eine politische Bewegung sein zu wollen, scheint eher nicht vorhanden gewesen zu sein, wohl aber die, über eine Kritik am Religiösen eine gesellschaftliche Reformierung anzustoßen und dabei herrschende, politische Strukturen in Frage zu stellen. Das Titelblatt der Zeitschrift ziert ein kopfloser Mann – eine Zeichnung von André Masson nach den Hinweisen von Bataille –, der als Symbol für den Mythos, auf den sich die Gruppierung bezieht und den sie (re)aktivieren möchte, fungiert.43 Der Mann hält in seiner linken Hand ein Schwert und in seiner rechten einen brennenden Granatapfel. An der Stelle seiner Genitalien befindet sich ein Totenkopf, seine Gedärme sind als Labyrinth sichtbar, seine Brustwarzen Sterne.44 Er steht für

37 D. Hollier: Erklärung, S. 27 [Kursivierung wie im Original]. 38 Vgl. ebd., S. 27. 39 R. Bischof: Lachen, S. 46. 40 Ebd., S. 47. 41 S. Moebius: Zauberlehrlinge, S. 271. 42 Ebd., S. 275, siehe auch S. 254. 43 Vgl. R. Bischof: Lachen, S. 46. 44 Vgl. ebd., S. 45-46. Bischof zitiert Masson, der das „Unbewusste“ oder „Automatische“ im Entstehungsprozess der Zeichnung betont und sie keinesfalls als ein bewusst aussagekräftiges Symbol entworfen haben will. Moebius weist darauf hin, dass es zumindest zwei

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die menschlichen Abgründe, die die Gemeinschaft sowohl ergründen als auch vor dem Hintergrund des herrschenden Faschismus im Sinne eines Widerstands funktionalisieren möchten.45 Mit dem Verlust des Kopfes wird die Abkehr von der Autorität und eine Affirmation der Freiheit ausgedrückt, wie sie den Mythos von Acéphale ausmache.46 Bataille, so schreibt Bischof, entwerfe ein „neues Gesellschaftsmodell“, „das aus der Aufhebung der Prinzipien des Nationalstaates erst hervorgeht“ und eine singuläre Souveränität radikal ablehne.47 Der kopflose Mann ist Symbol für die führerlose Gemeinschaft, die Bataille sucht, und als Mythos zugleich deren Fluchtpunkt oder Zentrum: „Der so bestimmte Mythos sollte als noyau sacral das affektive Zentrum einer neuen, führerlosen Gesellschaft bilden, das heißt: er sollte genau an jene Stelle treten, die in den traditionellen Gesellschaften die monumentalen Symbole der Macht und der Autorität eingenommen hatten.“48 Acéphale affirmiert also die Abschaffung von bestehender Ordnung und eine Neuordnung rund um einen sakralen, anziehenden und zugleich abstoßenden Pol, der die Gemeinschaft selbst ist. In „Die Zauberlehrlinge“ bietet Moebius einen Exkurs zur Herkunft des Namens Acéphale, den er auf die Gottheit Akephalos zurückführt und erläutert, dass Bataille diesen auf Schmuckstücken in der Bibliothèque Nationale gesehen hatte.49 Wichtig ist hier seine Feststellung, dass es sich bei Akephalos um eine synkretistische Gestalt

Lesarten dieses brennenden Granatapfels gibt: zum einen das flammende Herz, zum anderen die Hoden, die der Acéphale-Figur fehlen, die sich ohnehin mit dem Dolch selbst geopfert habe, (vgl. S. Moebius: Zauberlehrlinge, S. 263). 45 Bischof verweist an anderer Stelle auf diese Stoßrichtung schon bei dem Vorläufer sowohl des Collège de Sociologie als auch Acéphale als Geheimbund, nämlich Contre-Attaque, vgl. S. 41. Bischof liest Acéphale als eine Distanzierung von den Ideen Contre-Attaques: „Bataille bleibt politisch, nur dass er sich nicht mehr in den geläufigen Kategorien ausdrückt, alles Manifesthafte unterdrückt und insbesondere jede Anleihe beim marxistischen Vokabular vermeidet. Das unterscheidet den neuen Ansatz nicht nur von Contre-Attaque, sondern dokumentiert auch die Nähe zu seinen früheren soziologischen Analysen“ (S. 63). Es ist auch möglich, Batailles Veränderungen in der Herangehensweise an ähnliche Ideen oder Vorhaben wie zu Zeiten von Contre-Attaque als Weiterentwicklung zu lesen, die der verfehlten Wirkung einerseits Rechnung trägt, andererseits aber den Schwerpunkt des Unterfangens in Richtung offenerer Untersuchung und Forschung und damit weg von der Ideologie bringt. 46 Vgl. R. Bischof: Lachen, S. 106. 47 Ebd., S. 107. 48 Ebd. 49 Vgl. S. Moebius: Zauberlehrlinge, S. 257.

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handelt, die im Laufe ihrer Entwicklung und Fortschreibung mit Elementen verschiedenster Herkunft ausgestattet wurde und in Gebrauchskontexten der alten Ägypter, der Juden und der alten Griechen auftaucht.50 Auch eine Nähe zu Dionysos weist Moebius bei Akephalos nach und verweist auf die besondere Bedeutung von Dionysos für Bataille und die Mitglieder von Acéphale: „Dionysos [...] galt als Referenzpunkt und Sinnbild der unproduktiven Verausgabung, des Wahnsinns und der kollektiven Ekstase [...]“51 Moebius resümiert: „Bataille wollte eine neue Religion ohne Gott gründen, eine Religion ohne Kopf.“52 Für ein Verständnis des Sakralen ist das Wesen einer Geheimgesellschaft und im Fall von Acéphale das Teilhaben an dieser erhellend: Geheim zu sein und eine Gegengesellschaft, eine kleine Gruppe zu formieren, die gegen herrschende Ideen oder Ideologien angeht, ist mit dem Gedanken des Sakralen als subversive Kraft eng verbunden. Verbotenes, Verschwörerisches, Magisches – dies sind die gesellschaftlichen und emotionalen Bereiche, in die Acéphale als praktizierte Geheimgesellschaft eintauchen will. Bataille und seine Mitstreiter wollten sich einen eigenen Mythos erschaffen, der sie zu einer starken, widerständigen Gemeinschaft zusammenschweißt, und die Kraft des Sakralen am eigenen Leib erfahren.53 Nicht nur haben die Mitglieder von Acéphale am Sakralen geforscht, sondern wollten es erleben und darüber hinaus selbst zu einem sakralen Element der Welt werden. Über einen gemeinsamen Opferkult sollte diese Gemeinschaft entstehen. Bischof betont, was ihrer Ansicht nach in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geheimgesellschaft Acéphale bisher vernachlässigt wurde. Sie sieht die Gruppe von Anfang an als ein soziologisches Experiment, bei dem es darum ging, „die Genese des kommuniellen Bandes aus einem gemeinsam erfahrenen Schrecken und der Darstellung dieser Erfahrung im sakralen Ritual mimetisch zu verstehen“.54 Auf den Punkt gebracht, schreibt sie, wurde der Frage nachgegangen, „ob und unter welchen Bedingungen es möglich ist, einer aufgelösten Gesellschaft, einer Gesellschaft ohne Mythos, einen „Sakralkern“ zurückzugeben, über den ihre Mitglieder wieder in Kommunikation miteinander treten könnten [...]“55 Über den Charakter oder die Art der Geheimgesellschaft geben sowohl Bischof als auch Moebius unter Verweis auf Georg Simmels Studien zu Geheimbünden Auskunft. Neben einigen Un-

50 Vgl. ebd., S. 258-261. 51 Ebd., S. 261. 52 Ebd., S. 262. Die Kopflosigkeit wird konkret für die Analyse des Musikvideos MONSTER relevant. 53 Siehe auch R. Bischof: Lachen, S. 114. 54 Ebd., S. 113. 55 Ebd., S. 116.

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terschieden weist Moebius auf drei Gemeinsamkeiten hin, nämlich „spirituelle Verbundenheit“, „Vollzug gemeinschaftlicher Riten“56 und „Vertrauen“ oder „Geheimhaltung“57, die das Wesen von Acéphale bestimmen. Zu gemeinsam zu vollziehenden Riten Acéphales zählt das Selbstopfer nicht nur des azephalischen Mannes, der die Zeitschrift ziert, sondern in konkreter Gestalt Bataille selbst. Hier finden wir, was Bataille in „Der Begriff der Verausgabung“ ausführlich entwickelt hat, nämlich eine der Grundfiguren in seinem Denken über das Sakrale: Opfern heiligt oder, wie das Unterkapitel in der deutschen Ausgabe betitelt ist: „Das Prinzip des Verlusts“. Bataille hatte sich selbst als Opfer vorgeschlagen, aber zu dieser Opferung kam es nicht. Moebius bezieht sich auf den ein wenig lakonisch klingenden Caillois: Es sei „einfacher gewesen, ein freiwilliges Opfer zu finden, als einen, der freiwillig das Opfer vollzogen hätte“.58 Moebius und Bischof berichten ausführlich über die Orte der Treffen, die Riten und die Erfahrungen einzelner Mitglieder.59 Der kleine Exkurs in die Mitte von Acéphale war kein Selbstzweck, sondern die Vorbereitung, Parallelen zu einem Phänomen des Hip-Hops zu entwickeln und damit wiederum die Brücke zum Sakralen zu schlagen. Die erste Analogie, die recht augenfällig ist und der hier nachgegangen wird, um zu schauen, ob sie sich bewahrheitet oder nur oberflächlich als eine solche erscheint, geht in den Bereich der Rezeption von Jay Zs Musikvideos hinein, und in den Diskurs zu ihnen, der sich im Internet entfaltet. Es handelt sich um das Musikvideo ON TO THE NEXT ONE, das Jay Z 2009 veröffentlicht hat und in dem er mit dem Produzenten des Tracks, Swizz Beatz, zu sehen ist.60 Ich werde die Besonderheiten des Clips nur kurz skizzieren – hier geht es mir vor allem um die Rezeption, da in dieser viel von geheimen Machenschaften, Geheimbünden, konkret von den Illuminati und den Freimaurern, gesprochen wurde. Der Clip beinhaltet den für Hip-Hop-Musikvideos des Mainstreams typischen Zeichenvorrat, wozu ich teure Autos, tanzende, schöne und erotisierte Frauen, Sportund besonders Basketball-Symbole und teure Kleidung zähle. Entscheidend ist hier jedoch nicht das Vorkommen dieser, sondern die Art und Weise, wie das Musikvideo sie inszeniert, wie es Gegenstände als explizit symbolhaft präsentiert. Die Gegen-

56 S. Moebius: Zauberlehrlinge, S. 272. 57 Ebd., S. 273. 58 Ebd., S. 272. 59 Vgl. S. Moebius: Zauberlehrlinge, S. 262-266. An dieser Stelle soll nicht darauf eingegangen werden, da die Parallele zwischen Hip-Hop-Geheimbünden oder der Idee dieser und Acéphale nicht im Vollzug konkreter Riten besteht, sondern im Wesen von Geheimgesellschaften, nämlich Sakrales hervorzubringen oder sakral zu sein. 60 Das Video ist nicht mehr auf seinem Youtube-Kanal verfügbar. Hier findet sich der Clip aktuell: https://vimeo.com/74044121 vom 16.08.2016.

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stände erscheinen sehr explizit, sehr singulär und klar. Das Musikvideo gibt fast jedem Gegenstand Raum, ihn genau zu studieren, was selten ist für die Geschwindigkeit, in der Musikvideos normalerweise operieren. Es gibt nur sehr wenige Momente, in denen etwas nicht klar und deutlich zu sehen ist. Dazu trägt der Drehort des Musikvideos in hohem Maße bei. Es handelt sich dabei um einen weißen Raum, einem Museum ähnlich, in dem die Gegenstände so viel Aufmerksamkeit bekommen, dass sie dezidiert als Ausstellungsgegenstände mit dem impliziten Verweis, sie sich genau anzusehen, wahrgenommen werden. Wie aus der Einleitung schon hervorging, erschafft Jay-Z bei seinen Live-Shows um sich eine Aura des Erhabenen, des Unantastbaren, indem er sich perfektionistisch inszeniert und Symbole und Codes gebraucht, die auf eine außeralltägliche, erhabene Ebene verweisen, mit der er sich als Superstar über sein Publikum stellt. Auch in seinen Songs gibt es auf der sprachlichen Ebene Metaphern und Allegorien, mit denen er sich rhetorisch geschickt nicht nur außerweltliche, sondern göttliche Fähigkeiten verleiht. In seiner Autobiografie „Decoded“ benutzt Jay-Z diese rhetorische Strategie immer wieder, um sich und Hip-Hop als etwas Besonderes darzustellen: So berichtet er darüber, wie er in der Nachbarschaft der Marcy Projects, einem Wohnblock für sozial Schwache in Brooklyn, seine erste Begegnung mit einer Straßenkunst hatte, die später Hip-Hop heißen sollte und seine Profession werden würde. Zu dieser Begegnung gehört ein regelrechtes Ritual. Er schreibt: „I shouldered through the crowd toward the middle [...] but it felt like gravity pulling me into that swirl of kids, no bullshit, like a planet pulled into orbit by a star. His name was Slate and he was a kid I used to see around the neighborhood, an older kid who barely made an impression. In the circle, though, he was transformed, like the church ladies touched by the spirit, and everyone was mesmerized.“61

In diesem Erlebnis, das er hier als Initiationsritus beschreibt, verbündet sich Jay Z elegant mit dem Universum. Nimmt man den Vergleich ernst, so war er ein Planet, der angezogen von einem Stern – hier dürfen wir Startum und -kult gleich mitdenken – in seine Umlaufbahn gebracht wurde. Den „religiösen Touch“ fügt Jay Z durch einen Vergleich hinzu: „like the church ladies touched by the spirit“. Derjenige, der im Kreis steht, rappt, tanzt, performt, wird hier durch diesen Vergleich von Jay Z als Gottes Medium beschrieben, und Hip-Hop wird ein außeralltäglicher und außerweltlicher Rahmen verliehen. Von diesem Erlebnis an, so schreibt Jay Z weiter, sah er Rappen als „a way to re-create myself and reimagine my world“.62 Er erinnert sich

61 Jay-Z: Decoded, New York 2010, S. 4. Bei der Beschreibung fühlt man sich unwillkürlich an das afroamerikanische religiöse Ritual des Ring Shout erinnert. 62 Jay-Z: Decoded, S. 5.

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an das Emporkommen des Hip-Hops mit den Worten: „I remember the mainstream breakthroughs like they were my own rites of passage.“63 Der Kulturwissenschaftler T. Hasan Johnson ordnet Jay Z in die Kategorien nicht-konfessioneller Religionen ein, indem er seinen Aussagen in seinen Songs eine „spirituelle Message“ attestiert, von der er aber nicht genau sagen kann, was diese beinhaltet. Auch weist uns Johnson auf den Charakter religiöser Bezüge in Jay Zs Texten im folgenden Zitat, nämlich auf die „short statements“ und „occasional references“ hin: „Tangentially, Jay-Z’s approach to spirituality also caught a lot of people’s attention. He is abstract, vague, and yet inspiring for many hip hoppers navigating the difficult spaces of nondenominational forms of spiritual inquiry. Jay speaks with the boldness of a member of the Gods and Earths, the casual practicality of a Sunni Muslim (almost lackadaisically so), and the popular appeal of a Catholic pope. His spiritual message, albeit unclear, has used short statements and occasional references to provide his listeners with a non-traditional approach to spirituality that may be more reflective of today’s post-religiousity than anything else. Non-religious, non-denominational, and yet open to the possibility of a spiritual force in the universe, many of Jay-Zs fans identify with his approach to spirituality (often articulated through hard and gritty stories about life, death, violence, and survival.)“64

Diese schwer einzuordnende „Spiritualität“, die Johnson anspricht, und all die Anspielungen und Äußerungen Jay Zs zu seinen kreativen Quellen oder seiner Verbindung zu Gott, haben besonders im Fall von ON TO THE NEXT ONE zu einer Rezeption geführt, die Jay Z als Geheimbündler – als Illuminatus, Teufelsanbeter oder Freimaurer – begreift. Ganze Verschwörungstheorien um ihn und seine Frau, den R’n’B- und Pop-Superstar Beyoncé, haben sich im Internet ausgebreitet. Das Portal 20min.ch zum Beispiel beleuchtet die vor allem in Blogs und Newsportalen kursierenden Verschwörungstheorien und findet sehr Naheliegendes zu möglichen Gründen: „Das Illuminati-Paar schlechthin kann natürlich niemand Geringeres als Beyoncé und Jay Z sein. Dass die beiden etwa regelmässig mit ihrer Hand Dreiecke formen – das Symbol von JayZs Label ‚Roc Nation‘ – ist Wasser auf die Mühlen der Verschwörungstheoretiker. Der Name von Töchterchen Blue Ivy sei zudem ein Akronym für ‚Born Living Under Evil, Illuminati’s Very Youngest‘. Zu deutsch: ‚Geboren unter der Macht des Bösen, die Allerjüngste der Illuminati‘ – klar, oder? Genau das werden sich Beyoncé und Jay Z dabei gedacht haben. Anhänger

63 Ebd., S. 7. 64 T. Hasan Johnson: „The Prodigal God and the Legacy of Socially Responsible Hip Hop“, in: Julius Bailey (Hg.): Jay-Z. Essays on Hip-Hop’s Philosopher King, Jefferson 2011, S. 84-95, hier: S. 90.

68 | Z UR SAKRALEN DIMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS rationalen Denkens finden eine plausible Erklärung für die okkulten Symbole: Die Pop-Industrie ist sich längst bewusst, dass diese Verschwörungstheorien eine breite Anhängerschaft haben und baut deshalb absichtlich Anspielungen auf Satan, Illuminati und andere Ammenmärchen ein. Werden die Videos nämlich weiterhin in Blogs von Verschwörungstheoretikern analysiert, so ist das keineswegs schädlich für die Künstler – sondern vor allem Gratiswerbung.“65

Diese Verschwörungstheorien finden bis in die Wissenschaft hinein Gehör und werden mit bisweilen kruden Herleitungen zu Wesen und Genese von Verschwörungstheorien bedacht: Ein Interview mit Ebony Utley, Professorin an der California State University Long Beach, in der Interviewserie „Left of Black“ (vom 21.03.2011) zeigt ein auffällig unreflektiertes Aufgreifen von Verschwörungstheorien. Mark Anthony Neal, Professor für Black Popular Culture an der Duke University, hostet die Serie und ist ihr Gesprächspartner. Neal fragt Utley, wie es dazu komme, dass besonders gutverdienenden Hip-Hop-Künstler/-innen zurzeit unterstellt werde, sie seien mit dem Teufel im Bund, Teil von Geheimbünden oder würden allgemein okkulte Praktiken pflegen, und fragt dabei gezielt nach der Diskussion um Jay Z. Utley antwortet: „For most young people, well, for everyone times are hard, economically, times are very hard, so when the social environment starts to change, people start to look for answers, so conspiracy theories are more likely to be found when people are not sure, when they don’t know what’s going on and they are definitely not sure what is going to happen in the future. So I think the social conditions are right for conspiracy theories in general. I think the reason why the most popular conspiracy theories have to do with hip hop and the occult and the illuminati is because now we are having lots of brown and black people who are starting to make money, real money, they are starting to encounter wealth and I think that makes lots of individuals uncomfortable. So when white folks could identify themselves based on their racial status class didn’t matter that much, but now, but now, class is tenuous for everybody, whiteness isn’t enough, so you have to be white and you have to have money. When African-Americans make about as much money as Whites then we have to find new ways to explain again. The best way to take someone down in purgatory is to say „Well, you only have your money because you worship the devil.“66

65 Neil Werndli, „Die Illuminati und das Musikbusiness“, http://www.20min.ch/entertainment/musik/story/Die-Illuminati-und-das-Musikbusiness-17779094 vom 16.08.2016. 66 Ebony Utley in einem Interview mit dem Kulturwissenschaftler Mark Anthony Neal in dem Online-Format „Left of Black“ der Duke University: John Hope Franklin Center at Duke University: „Left of Black with Ebony Utley and Jasiri-X“, https://www.youtube.com/watch?v=fH8MvhCJ09M&feature=results_main&playnext=1&list= PLBEF73A21DAA138A vom 16.08.2016. Eigene Transkription.

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Neal nimmt diese Äußerungen zustimmend auf und kommentiert sie nicht weiter. Dieses Zitat vor dem Hintergrund der dargestellten Argumentationsstrategie macht die Absurdität dieser „Weiß-gegen-Schwarz-Argumentation“ deutlich. Hier wird weder wissenschaftlich noch kritisch, sondern rassistisch argumentiert und diskutiert. Teufelsanbetung oder die Anspielung an okkulte Rituale in Musikvideos werden als (inszenierte) Symbole gar nicht gesehen. Utley geht auf die Nachfrage von Neal lediglich dahingehend ein, dass Gott eine große Rolle im Hip-Hop spiele, weil mit ihm – hier eben von anderer Seite her – Reichtum legitimiert werde. „I make money, because god wants me to.“67 Die Behauptung Utleys, Verschwörungstheorien seien eher zu finden, wenn Menschen nicht wüssten, was sie zu erwarten hätten, ist freilich ebenfalls nicht haltbar. Der Aussage, Menschen könnten dieser Tage nicht in die Zukunft sehen, haftet der Umkehrschluss an, dass sie es je gekonnt hätten. Darüber hinaus erklärt der Geschichtswissenschaftler Dieter Groh, dass konspirative Theorien im Gegenteil zu den wenigen Konstanten im Verlauf der Geschichte68 gehören, und erklärt, warum der Teufel in den Argumentationen so präsent ist: „[...] [A]uf dem Boden christlicher Theologie geraten konspirationstheoretische Vorstellungen sofort in die Nähe des Theodizeeproblems.“69 Gott könne im Fall, dass guten Menschen etwas Böses geschieht, nur als in der Vorstellung gerecht aufrecht erhalten werden, wenn der Teufel den Part des Übeltäters bekomme.70 Dieses Auslagern oder Abspalten der schlechten Eigenschaften auf eine andere, externe Person oder ein weiteres Objekt, ist ein psychologisch nachvollziehbarer, regulatorischer Mechanismus, der hier auf gesellschaftlicher Ebene passiert. Er zieht eine buchstäbliche „Schwarz-Weiß“-Dichotomie nach sich, die eben Schwarz und Weiß als distinkte und starre Kategorien etabliert, was mit Radano bereits als fatal und als rassistische Matrix der US-amerikanischen Gesellschaft erklärt wurde. Utleys Argumentation wiederum, es handele sich bei den Analogien zu Teufelsanbetung um

67 Siehe John Hope Franklin Center at Duke University: „Left of Black with Ebony Utley and Jasiri-X“, https://www.youtube.com/watch?v=fH8MvhCJ09M&feature=results_ main&playnext=1&list=PLBEF73A21DAA138A vom 16.08.2016. 68 Vgl. Dieter Groh: Die verschwörungstheoretische Versuchung oder: Why do bad things happen to good people?, in: Ders. (Hg.): Anthropologische Dimensionen in der Geschichte, Frankfurt a.M. 1992, S. 267-305, hier S. 282. 69 Ebd., S. 268. 70 Vgl. ebd.

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von Weißen geschaffene, neidvolle Legitimationen für den steigenden Wohlstand einer Schwarzen Bevölkerungsschicht, offenbart sich bei näherem Hinsehen als die Verschwörungstheorie, an die Utley glauben möchte.71 An dieser Stelle sei noch ein Gedanke ausgeführt, der Verschwörungstheorie und Religion in eine hier ganz fruchtbare Verbindung bringt und der erhellt, dass Utley aus ihrer eigenen Sozialisation nicht herauskommt. Verschwörungstheorien werden hier genauso als „religiös“ gedeutet wie Fragen nach dem Teufel, der Funktion Jesu für die Erlösung der menschlichen Seele und Fragen nach Transzendenz. Sie bedienen nämlich das gleiche Verlangen nach Auflösung der Kontingenz in Konsistenz, wie Religionen es tun. „Die seit Jahrhunderten ungebrochene Attraktivität jener ‚Systeme kollektiver Imagination‘ erklärt sich vor allem durch ihre epistemologische Funktion als ‚Reduktion von Komplexität‘ und Ordnung ‚dissonanter Wahrnehmungen.‘“72 Das Florieren von Verschwörungstheorien in der US-amerikanischen Gesellschaft erklärt sich von ihrer ausgeprägten Religiosität her. Bei dem Versuch, sich religiösen Fragen im Hip-Hop wissenschaftlich zu widmen, fällt Utley der nächstliegenden, nur scheinbar nichtreligiösen Form von Weltdeutung anheim, indem sie Verschwörungstheorien entwirft und bedient. Über die Gedanken zu Acéphale verortet diese Arbeit Jay Z und auch die so gelegene Rezeption in der Nähe des Sakralen und nicht des Religiösen oder Teuflischen. Moebius schreibt zur inneren Motivation Acéphales:

71 Ein Aufsatz, der in sehr konstruktiver Weise mit den Verschwörungstheorien rund um Jay Z umgeht, ist „Conspiracy is the sincerest form of flattery: Hip hop, aesthetics, and suspicious spiritualities“ von John L. Jackson, Jr., der in dem kurz vor Fertigstellung dieser Arbeit erschienenen Band Religion in Hip Hop: Mapping the New Terrain in the US, hrsg. von Monica R. Miller et. al., New York 2015, e-Book o.S. [Kapitel 11]. Jackson erkennt das historisch stabile Vorhandensein von Verschwörungstheorien an und argumentiert auch über eine „rassistische Struktur“, die diesen Verschwörungstheorien zugrunde liege. Diese Perspektive auf Verschwörungstheorie funktioniert aber nicht über Materialismus und Wohlstand bzw. Neid auf diesen, wie Utley eher einfach argumentiert, sondern über die lang tradierte Skepsis vor „dem Anderen“ Schwarzer, religiöser Praktiken, was viel eher einleuchtet. Dies ordnet die Phänomene der Musikvideos von u.a. Jay Z und Beyoncé wieder in den Kontext der (weiter verstandenen) Religion ein und zeigt, dass die Argumentation über das Sakrale, wie sie diese Arbeit vollzieht, auf einer anderen Abstraktionsebene funktioniert und arbeiten muss, wenn sie die Phänomene der Musikvideos in ihrem gesellschaftlichen Funktionshorizont begreifen will. 72 Marian Füssel: „Weishaupts Gespenster oder Illuminati.org revisited“, http://www.unimuenster.de/PeaCon/conspiracy/Weishaupt.htm vom 16.08.2016.

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„Die rituell und zeremoniös bekräftigte Exklusivität ermöglicht eine Überschreitung des Gewöhnlichen zu einem Lebensgefühl der Besonderheit. Der Bezugspunkt bleibt jedoch die anderen – die Normalen, das Profane, die Öffentlichkeit, gegen die es sich zu unterscheiden gilt.“73

Genauso anziehend wie die Idee einer Geheimgesellschaft als Experiment, das Sakrale zu erfahren, für die Mitglieder Acéphales war, so sehr erfüllt sie im Fall von Jay Zs Selbstinszenierungspraktiken und von Seiten der Rezeption den Wunsch nach dem Sakralen. Die These lautet also, dass in die Nähe zu Geheimbünden gerückt zu werden und das Beteiligtsein Jay Zs an diesen Spekulationen durch seine Inszenierungen wegen des Sakralen und für dieses geschieht. Populäre xenophobe Lesarten rahmen diese Inszenierungen rassistisch, während die Inszenierung Jay Zs jedoch bewusst mehrdeutig und letztlich überschüssig und entfliehend ist. Jay Z nutzt die Anspielungen, um sich zu vermarkten und bedient den Wunsch nach dem Sakralen, der sich hier mit ökonomischen Interessen vermischt, aber letztlich nicht in diesen aufgeht, wie die unterschiedlichen Lesarten und insbesondere die rassistische Interpretation zeigen. „Bataille sagt im Rückblick, daß er die religiöse Erneuerung mißverstanden habe, nämlich als Auftrag, eine Religion zu gründen,“74 schreibt Gerd Bergfleth in seinem Nachwort zur „Atheologischen Summe II“. Batailles Äußerung ist bemerkenswert und von besonderer Bedeutung für die nachfolgende Abgrenzung von einem in Religion gebundenen Sakralen: Zu viele Gemeinsamkeiten mit institutionalisierter Religion hat sein Unterfangen Acéphale gehabt, als dass es hätte funktionieren können. Bergfleth resümiert: „Der Mythos der Azephalität versinkt mit der Geheimgesellschaft, die ihn aktivieren sollte. Und doch bleiben alle entscheidenden Elemente dieses Mythos in der nachfolgenden, vornehmlich kontemplativen Phase erhalten: nicht nur die Suche nach einem neuen Heiligen, sondern auch Kommunion und Opfer als Agenzien der Resakralisierung: Acéphale überlebt seinen Untergang in der Atheologie.“75

Atheologie bei Bataille bezieht sich als Name zum einen auf die Trilogie „Atheologische Summe I“, die „Die innere Erfahrung“, „Die Freundschaft“ und „Nietzsche und der Wille zur Chance“ umfasst. Zum anderen ist Atheologie bei Bataille ein Terminus, der die Ablösung des Sakralen von Gott beschreiben will. In einem kurzen Essay mit dem Titel „Das Heilige“ sagt er über das Sakrale in Verbindung mit Gott:

73 S. Moebius: Zauberlehrlinge, S. 276. 74 G. Bergfleth: Resakralisierung, S. 285. 75 Ebd., S. 286.

72 | Z UR SAKRALEN DIMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS „Das Christentum hat das Heilige substantialisiert, aber die Natur des Heiligen, in dem wir heute die glühende Wirklichkeit der Religion erkennen, ist vielleicht das Ungreifbarste, was sich unter den Menschen vollzieht, indem das Heilige nur ein privilegierter Augenblick kommunieller Einheit ist, ein Augenblick der konvulsivischen Kommunikation dessen, was gewöhnlich erstickt wird. Eine solche Disjunktion zwischen dem Heiligen und der transzendenten (das Schaffen folglich unmöglich machenden) Substanz eröffnet der Erregung, die sich des lebendigen Menschengeistes bemächtigt hat, plötzlich ein neues Feld [...] Das Ereignis, daß ‚Gott für tot erkannt‘ wird, kann nicht eine weniger entscheidende Konsequenz nach sich ziehen: Gott stellte die einzige Grenze dar, die sich dem menschlichen Willen widersetzte; frei von Gott, ist dieser Wille unverhüllt der Leidenschaft preisgegeben, der Welt eine Bedeutung zu verleihen, die ihn berauscht.“76

Bataille distanziert sich hier radikal von einer Gottesvorstellung, die er als Hindernis für die menschliche und insbesondere künstlerische Selbstbestimmung sieht. Das Sakrale bestimmt er nicht substantiell, sondern entstehe es in besonderen Momenten der Gemeinschaft zwischen Menschen. Der Gedanke der Vermittlung des Sakralen spielt an dieser Stelle bereits eine implizite Rolle.77 Besonders das letzte Zitat macht deutlich, dass der christliche Gott als Instanz bei Bataille abgeschafft wurde. Der Sakralbegriff wird nicht nur in Abkehr von institutionalisierter Religion entworfen, sondern auch in einer Abkehr von einem einzelnen Gott mit dem Ziel, den Menschen das Potenzial zur Göttlichkeit zu geben. In der Abschaffung der Gottesfigur sieht Bataille die Möglichkeit für eine Rückkehr des Menschen zu den Praktiken und Formen des Zusammenlebens, die das Sakrale ermöglichen. Das Denken auf ein rauschhaftes, erschreckendes und verausgabendes Sakrales hin, wie das Unternehmen Acéphale es gesucht hat, findet sich im Verständnis der Atheologie ebenfalls wieder. Der Geheimbund Acéphale war Batailles früher Versuch, eine Religion zu gründen, um den Dogmen des Christentums etwas entgegenzuhalten. Bataille schreibt zwanzig Jahre nach dem Scheitern von Acéphale, dass gerade Ziel und Akt des Gründens und Bestimmens einer Religion es unmöglich mache, wirklich religiös zu sein:78

76 Georges Bataille: „Das Heilige“, in: Gerd Bergfleth (Hg.): Georges Bataille. Die Freundschaft und Das Halleluja (Atheologische Summe II), (= Das theoretische Werk in Einzelbänden), München 2002, S. 235-240, hier S. 239-240. [Originaltitel: „Le Sacré“ zuerst erschienen in Cahiers d’art, Nr. 1-4, 1939, S. 74-50.] 77 Künstler/-innen, so wird Bataille später argumentieren, können mit seinen/ihren Werken Sakrales ausdrücken, es den Rezipient/-innen „vermitteln“. 78 Interessant ist, dass in der Forschung die Worte „religiös“ und „Religion“ im Bezug auf Batailles Verhältnis zu diesen offenbar abweichend zu Batailles Verständnis gebraucht werden. Stoekl bemerkt: „Despite the fact that Bataille at this time [zur Zeit Acéphales,

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„Heute scheint mir nichts fernliegender als das Vorhaben, eine Religion zu gründen. […] Nicht nur die Intention ist komisch, nicht nur gründet sich meine gegenwärtige Intention auf das Gefühl der tiefen Lächerlichkeit, das mir davon zurückgeblieben ist, sondern die Gründung und die Anstrengung, die sie erfordert, stehen im Gegensatz zu dem, was ‚die Religion‘ nach sich zieht. Wir können alles tun, sie zu suchen. Nicht, sie zu entdecken. Die Entdeckung hätte notwendig den Wert oder die Form einer Definition. Aber ich kann religiös werden, und insbesondere kann ich religiös sein, indem ich mich vor allem davor hüte, zu definieren, worin und auf welche Weise ich es bin.“79

Das Sakrale im Kontext des Collège de Sociologie Als realhistorische Institution ist das Collège de Sociologie auf die Zeit zwischen 1937 und 1939 zu datieren.80 Carlos Marroquìn stellt in seiner Studie die These auf, dass „religionswissenschaftliche Fragestellungen von Anfang an für die Interessen der Vertreter des Collège zentral waren“.81 Irene Albers und Stephan Moebius charakterisieren die Ziele und Inhalte des Collège anders. Den Mitgliedern sei es darum gegangen, „eine Soziologie des Sakralen zu etablieren. Das Sakrale sollte dabei aus den religionswissenschaftlichen und -ethnologischen Bezügen herausgelöst und für eine allgemeine Wissenschaft moderner Gesellschaften fruchtbar gemacht werden.“82 Was zunächst als fundamentaler Unterschied in der Einordnung der Ziele des Collège erscheint, liegt vermutlich in der unterschiedlichen Motivation der Studien und der Perspektive auf das Collège begründet. Während Moebius besonders in seiner Monografie „Die Zauberlehrlinge“ eine fachgeschichtliche Einordnung aller Teilnehmer und ihrer Arbeiten in die Disziplin der Soziologie leistet, leitet Marroquìn

E.S.] was calling himself ‚ferociously religious,‘ it must be understood that this was a religion celebrating a total lack of religion.“ Allan Stoekl: „Introduction“, in: Georges Batailles. Visions of Excess. Selected Writings 1927-1939, Minnesota 1985, S.ix-xxv, hier S. xx. Gefeiert wurde von Bataille das Religiössein ohne christliche Gottesfigur, aber gerade zu der Zeit und mit seinen eigenen Worten eben nicht die Abwesenheit von Religion – zumindest nicht in Batailles eigener Retrospektive. 79 Georges Bataille: „Notizen zur Atheologie“, in: Gerd Bergfleth (Hg.): Georges Bataille. Die Freundschaft und Das Halleluja (Atheologische Summe II), (= Das theoretische Werk in Einzelbänden), München 2002, S. 217-224, hier S. 222. 80 Eine an der Theoriebildung unter den Vorzeichen des Collège orientierte Datierung sei seiner Meinung nach sinnvoller und betrachte eine viel längere Zeitperiode (1933-1936). Vgl. C. Marroquìn: Religionstheorie, S. 7. 81 Ebd., S. 12. 82 I. Albers/S. Moebius: Nachwort, S. 758.

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aus den Arbeiten Implikationen für Religion und Religionswissenschaft ab. Er hebt jedoch auch hervor, dass Batailles Verdienst gerade darin liege, das Sakrale von Religion zu lösen: Bataille habe sich, so Marroquìn, in Weiterentwicklung der Begriffsbestimmungen von Mauss und Durkheim auf eine Definition des Sakralen festgelegt, die losgelöst von der „Bindung an den [sic!] Kategorien der (institutionalisierten) Religion“ funktioniert.83 Gegründet wurde das Collège de Sociologie aus einem Mangel heraus. Die Soziologie, wie sie besonders von Émile Durkheim als wissenschaftliche Disziplin betrieben wurde, reichte Bataille, Roger Caillois und anderen nicht aus. „[W]esentliche Elemente in der Konstitution der modernen Gesellschaft“ seien von ihr missachtet geblieben, fasst Marroquìn die Stoßrichtung der Kritik an der Soziologie bis dato zusammen. 84 Ausgangspunkt für die Arbeit aller Collège-Mitglieder ist Durkheims grundsätzliche Überzeugung: „Objekt religiöser Verehrung ist die Gesellschaft selbst.“85 Dieser Leitidee folgend ist das Sakrale bei allen Mitgliedern des Collège im Sozialen verortet, geht aus diesem hervor oder – wenn sie Durkheim komplett folgen – ist das Soziale.86 „Es sind die starken emotionalen Erfahrungen kollektiver Erregung, die dann als Wirkungen externer Mächte religiös gedeutet werden, statt sie als das zu erkennen, was sie wirklich sind: die Effekte der Sozialität selbst.“87 Symbole von Religionen, Inszenierungen von Ritualität und Gewaltexzessen werden so als Zeichen eines Sakralen im Sinne des Collège lesbar. Religion, Gott oder Glaube stehen

83 C. Marroquìn: Religionstheorie, S. 70. 84 Ebd., S. 66. 85 I. Albers/S. Moebius: Nachwort, S. 773. 86 Alexander Riley arbeitet in seiner Studie über das Collège und die Durkheim-Schule zu den Zusammenhängen des Intellektuellenbildes und -selbstverständnisses mit dem Sakralen heraus, was die Grundlegung, das Sakrale sei die Gesellschaft, eigentlich für Durkheim und die Soziologie als Disziplin bedeutet: „If the true sacred object of religion was the social, and if a secular morality had to teach an adherence to social solidarity as its central objective, there could be no better educational program for the inculcation of this new sacred practice than the teaching of sociology, the discipline Durkheim was attempting to place in the seat once held by philosophy as the queen of the human sciences.“ (A. T. Riley, Godless Intellectuals? The intellectual pursuit of the sacred reinvented, New York 2012 [2010], S. 157). Sich mit dem Sakralen innerhalb einer Wissenschaftsdisziplin zu beschäftigen, heißt, dass diese selbst wieder eine herausgehobene und abgesetzte Position dem Sakralen gleich bekommt. Da das Sakrale in Durkheims Definition nicht mehr religiös war, sondern als die Gesellschaft selbst gedacht wurde, wurde die Soziologie als Disziplin aufgewertet. 87 I. Albers/S. Moebius: Nachwort, S. 775.

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nicht mehr am Ende einer wissenschaftlich nicht zu beantwortenden Fragekette, sondern mitten in dieser als eine Form der Deutung von sozialen Mechanismen, die sich in einem Sakralen verschränken oder mitten in, wie Baxmann formuliert, „der Präsenz des Sakralen in allen Manifestationen des Sozialen“ stehen.88 Bataille selbst hat in der ersten Sitzung des Collège de Sociologie am 20. November 1937 die Kernaufgabe von dessen Sakralsoziologie formuliert: „Die Sakralsoziologie läßt sich als Untersuchung nicht nur der religiösen Institutionen, sondern der Gesamtheit der kommuniellen Bewegung der Gesellschaft auffassen: So betrachtet sie unter anderem die Macht und die Armee als Gegenstände, die in ihren Bereich fallen, sowie überhaupt sämtliche menschliche Aktivitäten – Wissenschaften, Künste und Techniken –, insofern sie einen vergemeinschaftenden Wert im Sinne des Wortes haben, das heißt, insofern sie einheitsstiftend sind.“89

Im Januar des darauffolgenden Jahres hält Bataille einen Vortrag über Kommunikation im weitesten Sinne, genauer über einen nichtsprachlichen Kommunikationsweg, nämlich das Lachen. Das Lachen des Kindes einem Erwachsenen gegenüber, so Bataille, stelle eine Form der „tiefen Kommunikation“90 dar. Lediglich „die Ansteckung der Tränen und die erotische Ansteckung werden die menschliche Kommunikation später noch vertiefen.“91 Bataille spricht von einem „elektrischen Strom“, „der die fast zufällig in Kontakt getretenen Individuen mehr oder weniger dauerhaft vereint“.92 Von Bataille systematisiert und theoretisiert werden affektive Beziehungen zwischen Menschen, die sich spontan ereignen und nicht statisch, sondern flüchtig sind. Über das Beispiel eines Mädchens, das ob des Todes einer Person lacht – was

88 Inge Baxmann: „Das Sakrale im Rahmen einer Kulturanthropologie der Moderne: Das Collège de Sociologie“, in: Bernhard J. Dotzler und Ernst Müller (Hg.): Wahrnehmung und Geschichte. Markierungen zur Aisthesis materialis, Berlin 1995, S. 279-298, hier S. 281. Baxmann behandelt in ihrem kurzen Aufsatz das Sakrale als Zentrum einer „Kulturanthropologie“, die das Collège nur „in Fragmenten“ entwickelt habe, S. 281. 89 Sein Vortragstitel lautete „Die Sakralsoziologie und die Beziehungen zwischen ‚Gesellschaft‘, ‚Organismus‘ und ‚Wesen‘“, S. 43; zit. nach Irene Albers und Stephan Moebius: Nachwort, in: Denis Hollier (Hg.): Das Collège, S. 788-789 [Kursivierung wie im Original]. 90 Später wird er diese Arten der Kommunikation als „starke“ Kommunikation bezeichnen. 91 G. Bataille: Anziehung, S. 125. 92 Ebd.

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Bataille als „verfehltes Lachen“ charakterisiert –, kommt er zu der Frage, wie es möglich sei, dass sich der Affekt verkehrt, Bestürzung in ein Lachen mündet, eine Depression zu einer Spannung werde.93 Um diesen seiner Meinung nach zutiefst sozialen Mechanismus zu erklären, stellt er die Idee des sakralen Kerns vor, „um den herum sich das fröhliche Strömen der menschlichen Kommunikation zusammensetzt“.94 Bataille richtet seine Aufmerksamkeit ausgehend vom bindenden und verbindenden Aspekt des Lachens auf die abstoßenden und explosiven Anteile ein und desselben sakralen Kerns. Er entwirft die Polarität des Sakralen, die für seine Begriffsbestimmung des Sakralen zentral ist.95 Marroquìn erläutert ergänzend, „dass die Objekte, die nach Bataille den sakralen Kern (noyau sacré) bilden, ihre Sakralität nicht dadurch besitzen, dass sie im Kontext einer bestimmten Religion als geweiht gelten; ihre Kennzeichnung als sakrale Objekte leite sich vielmehr aus ihrer gesellschaftlichen Bewertung her als vom normalen, das heißt „profanen“, Leben abgegrenzte Bereiche.“96

Die Gesellschaft bestimmt, was sie als sakral bewertet, als „abgegrenzte Bereiche“, von denen Bataille vor allem jene wirklich exkludierten, weil tabuisierten, reglementierten oder verbotenen Bereiche fortan interessieren. Bataille selbst spricht am 5. Februar 1938 ein weiteres Mal über Anziehung und Abstoßung und besonders über die Polarität sakraler Objekte. Er führt aus, dass jene Objekte nicht strikt in entweder rechts oder links sakral, also anziehend oder abstoßend, eingeordnet werden können, sondern vielmehr in gesellschaftlichen Bewertungsprozessen eher in ihrem linken als ihrem rechten Aspekt erfasst werden würden.97 Sakrale Objekte verändern die Art ihrer Sakralität in dem Prozess oder dem Ritual, in das sie eingebunden sind. Dies erklärt Bataille am Leichnam, der zunächst eindeutig links zu verorten sei, also abstoßend und der im Verlauf des Verwesungsprozesses auf die rechte Seite wandert und dessen Knochen dann heilbringende Reliquien werden.98 Wie die Analysen der Musikvideos zeigen werden, bewegen wir uns in diesen mehrheitlich auf der linken Seite des Sakralen oder begegnen uns Objekte und Szenen, die abstoßend und anziehend zugleich sind.

93 Vgl. G. Bataille: Anziehung, S. 127. 94 Ebd., S. 125. 95 Vgl. C. Marroquín: Religionstheorie, S. 75. 96 Ebd., S. 75 [Kursivierung wie im Original]. 97 Vgl. Bataille: Anziehung, S. 145. 98 Vgl. ebd.

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Bataille, Caillois und Leiris formulieren im Collège und unter dem Eindruck des nahenden Krieges einmal mehr die Aufgabe des Collège in der Erforschung des Sakralen gegenwärtiger Gesellschaften. Hier zeigt sich eine Nähe zum früheren Versuch, mit Acéphale eine Geheimgesellschaft zu gründen und Sakrales erfahrbar zu machen, um der Dominanzgesellschaft subversiv entgegen zu wirken. Auch das Collège verfolgt die Idee, mit „selbstgewählten“ Gemeinschaften, drohender Gleichschaltung und dem Versagen der Demokratie etwas entgegenzuhalten. In der „Erklärung des Collège de Sociologie zur internationalen Krise“ vom 1. November 1938 heißt es zur Identität des Collège, dass es mehr denn je „ein Herd von Energie“ sein möchte und dass es jene Menschen aufruft, sich dem Collège anzuschließen, „denen die Angst die Schaffung eines vitalen Bandes zwischen den Menschen als einzigen Ausweg gezeigt hat“.99 In Acéphale und wieder im Collège verfolgen die Mitglieder die Idee einer Gegengemeinschaft, die sich anderer Strukturen bedient und letztlich andere „Existenzweisen“ realisiert, als die Gesellschaft gegenüber der sich abgegrenzt werden soll. „Diese ‚Existenzweise‘ meint klandestine Strukturen, wie sie dem Collège als Muster dienen: eine existentielle Geheimgesellschaft oder ein supranationaler Orden, der die Willkür der Grenzen leugnet oder umgeht.“100 Um den von den Collège-Mitgliedern als schwach empfundenen Demokratien, sowie extrem polarisierenden Strukturen wie dem Faschismus (und auch rassistischen gesellschaftlichen Strukturen, wie wir sie in den USA finden) zu kontern, schlagen Bataille und seine Kollegen frei wählbare, sich um einen sakralen Kern zusammenfindende, momenthafte Gemeinschaften vor, die zusammenhalten eben nur durch das „vitale Band“ zwischen den einzelnen Menschen. Ihr Funktionieren stützt sich nicht auf ein Äußeres, nicht auf willkürliche Faktoren, wie Geburtsort und daraus resultierende nationale Zugehörigkeit, sondern auf eine Art innerer Verbundenheit. Diese Gedanken rund um Gemeinschaft und ihre freie Wählbarkeit werden im weiteren Verlauf der Arbeit und in den Analysen immer wiederkehren, da ihr Bezug zu den global sichtbaren und internationale (oder supranationale) Fangemeinschaften schaffenden Musikvideos auf der Hand liegt. Sie schließen auch an die immer wieder aufkommenden Diskussionen um „blackness“, „kulturelle Aneignung“ und Intersektionalität an. Die Hybridität und Widersprüchlichkeit der Musikvideos affirmieren keine „blackness“ oder „whiteness“ und Rezipient oder Fan dieser Musikvideos oder ihrer Künstler/-innen zu sein, ist somit auch keine illegitime Aneignung anderer, fremder kultureller oder sozialer Identität. Die Möglichkeit an verschiedenste, unauf-

99 G. Bataille, R. Caillois und M. Leiris in „Erklärung des Collège de Sociologie zur internationalen Krise“, 1. November 1938, in: Denis Hollier (Hg.): Das Collège de Sociologie, S. 311-317, hier S. 317. 100 D. Hollier: Das Collège de Sociologie, S. 395.

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lösbar widersprüchliche Symbole, Zeichen, Szenen und Sounds affektiv anzuschließen, ist die Möglichkeit, Teil einer frei wählbaren Gemeinschaft zu sein, wie die Collège-Mitglieder sie rund um das Sakrale entworfen haben.101

101 Es wird an anderer Stelle weiter auf das Sakrale und den Gemeinschaftsbegriff, dann mit Jean-Luc Nancy, eingegangen.

Unproduktive Verausgabung und verwandte Denkfiguren

„Unproduktive Verausgabung“ ist ein Schlüsselkonzept und eine zentrale Denkfigur in Batailles Gesamtwerk und besonders für die Sakralsoziologie relevant. In „Der Begriff der Verausgabung“ versteht Bataille zunächst die Verschwendung im Kauf von Juwelen als eine solche unproduktive Verausgabung, nämlich als Verlusthandlung.1 Ihr Wert ließe sich nur über ihre Funktion im gesellschaftlichen Kontext erklären, argumentiert Bataille dort. Der Kauf von Juwelen ginge einher mit der Opferung eines großen Vermögens.2 Die unproduktive Verausgabung ist mit der Opferhandlung gleichzusetzen und zeigt sich in allen Lebensbereichen. Opfern erzeuge „heilige Dinge“, schreibt er, und so ist die unproduktive Verausgabung zentral für die Möglichkeit der Erfahrbarkeit des Sakralen.3 In allen so verstandenen Funktionskontexten und Lebensbereichen zeigt sich ein Sakrales. In diesem Kapitel wird diese grundsätzliche Figur in der Produktion des Sakralen zunächst anhand des Begriffes „unproduktive Verausgabung“ erläutert, der gewissermaßen innerhalb einer Ökonomie der Anti-Produktion oder der „Allgemeinen Ökonomie“ steht. Erst wird er in Batailles Gesamtwerk eingebettet in verschiedene andere, zentrale Funktionskontexte, wie die des Festes, des Opfers oder der Souveränität. Ferner werden in einem weiteren Schritt in diesem Kapitel Übertragungen auf die Hip-Hop-Kultur in den USA – besonders hinsichtlich des Luxus’, des Einsatzes und des Stellenwerts von Geld – geleistet.

Unproduktive Verausgabung als Verschwendung Bataille entwickelt den Begriff der „Unproduktiven Verausgabung“ im Aufsatz „Der Begriff der Verausgabung“ in der Zeitschrift „La Critique Sociale“ Nr. 7 vom Januar 1

G. Bataille: Verausgabung, S.13.

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Vgl. ebd., S.13.

3

Ebd.

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1933. In diesem Aufsatz stellt Bataille seine Kritik an der gängigen Auffassung von nützlicher Produktion dar, für welche er einen Gegenentwurf, eine Theorie der Verschwendung, entwirft.4 Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass Motive wie Ehre, Pflicht und ein allgemeines Verständnis von Nützlichkeit verschleiern und verdrängen, dass eigentlich andere Motive und Mechanismen im gesellschaftlichen Zusammenleben bestimmend sind. Ein materieller Nutzen, schreibt Bataille, „habe theoretisch die Lust zum Ziel – allerdings nur in gemäßigter Form, da heftige Lust als pathologisch gilt –, und er läßt sich reduzieren einerseits auf die Erwerbung (d. h. Produktion) und Erhaltung von Gütern, andrerseits auf die Fortpflanzung und Erhaltung von Menschenleben [...]“5

Die wirklich tiefen, starken Emotionen oder Affekte aber, so argumentiert er, seien tabuisiert. Gesellschaftliche Bereiche, in denen diese gewöhnlich ausgelöst werden oder ihren Platz finden, fasst er unter dem Begriff der unproduktiven Verausgabung zusammen: „Luxus, Trauerzeremonien, Kriege, Kulte, die Errichtung von Prachtbauten, Spiele, Theater, Künste, die perverse (d. h. von der Genitalität losgelöste) Sexualität“, zählt er auf.6 Sie sind den vorherrschenden Prinzipien in der Ökonomie der Nützlichkeit und Akkumulation sogar untergeordnet, wie Bataille in seiner Referenz auf die „primitive“ und unserer Praxis vorgängige Form des Potlatsch, einer Art des „archaischen Tauschens“, unter Bezug auf Marcel Mauss’ Theorie der Gabe bemerkt.7 Umgekehrt begreift Bataille die Formen unproduktiver Verausgabung als die Ziele der ökonomischen Tätigkeit, die gewissermaßen die Basis für sie schafft.8 Die Denkfigur der unproduktiven Verausgabung gereicht Bataille nicht nur zur Beschreibung einer verkannten Ökonomie, einer antiproduzierenden Ökonomie, sondern zum Klassenkampf. Jene, die maßlos verschwenden, sind die, die an der Macht sind, so die basale Logik einer Welt, wie Bataille sie denkt. Die eigentlich wünschenswertes Potenzial für Veränderung beinhaltende unproduktive Verausgabung im Rahmen einer neuen oder rehabilitieren Ökonomie der Verschwendung ist pervertiert und habe zu einem Stillstand und zur Unterdrückung immer der Gleichen geführt. Fast unweigerlich ziehe das einen Klassenkampf nach sich:

4

Peter Wiechens macht in seiner Einführung zu Bataille auf die Unkonventionalität dieser Überlegung Batailles aufmerksam, vgl., Bataille zur Einführung, Hamburg 1995, S. 32.

5

G. Bataille: Verausgabung, S. 9 [Kursivierung wie im Original].

6

Ebd., S. 12.

7

Vgl. ebd., S. 16-20.

8

Vgl. ebd, S. 22.

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„Da die Macht von den verschwendenden Klassen ausgeübt wird, ist, damit diese Vorrangigkeit erhalten bleibt, das Elend von jeder gesellschaftlichen Tätigkeit ausgeschlossen worden, und die Elenden haben keine andere Möglichkeit, in den Kreis der Macht zurückzukehren, als die revolutionäre Vernichtung der Klassen, die sie besitzen, das heißt eine blutige und grenzenlose soziale Verausgabung [...]“9

Bataille spricht – freilich kapitalismuskritisch – von einer Stabilisierung in der merkantilen Ökonomie.10 Verluste oder Verausgabungen verlieren ihren existentiellen und eigentlichen Charakter. „[D]ie Verausgabung ist zwar immer noch dazu bestimmt, einen Rang zu erwerben und zu erhalten, aber sie hat nicht mehr grundsätzlich zum Ziel, einem anderen seinen Rang zu nehmen.“11 Dieser Stillstand führe Bataille folgend zu einer Perversion, die die soziale Verausgabung dysfunktional mache oder ganz abgeschafft habe. Der Kapitalismus, auf Individualbesitz angelegt, bringe das Produzieren und Verausgaben, ein sich bedingender Kreislauf, wie Bataille ihn für frühere Gesellschaften (und noch immer existierende Naturvölker) reklamiert, aus dem Gleichgewicht.12 Bataille ist in all seinen Herleitungen und Entwürfen immer historisch, das heißt, er geht chronologisch vor, indem er einen Urzustand der Welt als eine geschlossene sakrale Welt denkt und von dort in zwei großen Einschnitten durch die Entdeckung der Arbeit und die Etablierung des Christentums ein Zurückdrängen des Sakralen konstatiert. Soziale Institutionen, die früher das Sakrale in Form von exzessiver Verausgabung für sich und andere erfahrbar gemacht haben, gibt es heute nicht mehr. Spiele, Kulte, Feste, Feiern und Rituale aus den heidnischen Bräuchen sind durch das Christentum abgeschafft worden: „[A]n die Stelle der vom Brauch her vorgeschriebenen heidnischen Verausgabung setzt das Christentum das freiwillige Almosen, entweder in Form einer Austeilung durch die Reichen an die Armen oder in Form ungeheurer Schenkungen an Kirchen und später an Klöster [...]“13 Nachdem das Bürgertum den Adel in seiner Machtposition abgelöst hat, nimmt der Untergang der „gesunden“ unproduktiven Verausgabung weiter seinen Lauf und Bataille findet deutliche Worte: „Indem sich die bürgerliche Gesellschaft in Bezug auf die Verausgabung zur Sterilität zwang, ihrer buchführenden Vernunft gemäß, ist es ihr schließlich gelungen, nichts als die universelle Schäbigkeit zu entwickeln.“14

9

G. Bataille: Verausgabung, S. 16.

10 Vgl. ebd., S. 21. 11 Ebd. 12 Vgl. G. Bergfleth: Verschwendung, S. 302. 13 G. Bataille: Verausgabung, S. 22. 14 Ebd., S. 24.

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Bergfleth resümiert für Verausgabung im Kapitalismus, die Bataille vehement kritisiert: „Das, was einmal Verschwendung war, ist also auf doppelte Weise verdrängt: in einem ersten Schritt werden alle Überschüsse in die Produktion gesteckt, so daß die Verschwendung als Überschußproduktion selbst erscheint, in einem zweiten, gegenläufigen verwandelt sich dieser Segen in den Fluch, der eine Ideologie der Sparsamkeit auf den Plan ruft.“15

Ergebnis der unproduktiven Verausgabung müsse Bataille zufolge also sein, jene verlorengegangenen Elemente des Zusammenlebens, die eben nicht unter Sparsamkeit, Produktion und Konsum zu erfahren sind, zu suchen. In seiner im Vergleich zur „Theorie der Verausgabung“ umfangreicheren Schrift „Der verfemte Teil“ entwickelt Bataille die Theorie einer Allgemeinen Ökonomie im Gegensatz zu einer Beschränkten Ökonomie. Als „verfemten Teil“ bezeichnet er den Überschuss, den die Handlungen der unproduktiven Verausgabung verlieren oder verschwenden. Bataille ist in dieser Schrift daran gelegen, die menschliche Produktion wie die unproduktive Verausgabung „im Rahmen eines viel größeren Komplexes“16 zu betrachten. Er beabsichtigt, seine in der „Theorie der Verausgabung“ dargelegten Überlegungen auszuweiten auf die „Bewegung der Energie auf dem Erdball.“17 Dabei macht er eine grundlegende Setzung, hinter die wir nicht treten können, ohne sein Theoriegebäude empfindlich zu schwächen. Bataille setzt als gegeben voraus, dass es auf der Erde einen Energieüberschuss gibt, den wir „ohne Gewinn“ verlieren oder verschwenden müssen – in „glorioser oder in katastrophalischer Form.“18 Zustande kommt dieser Energieüberschuss Bataille zufolge durch das Sonnenlicht und seine Wirkung auf „lebende Materie“.19 Das Sonnenlicht produziere immer mehr lebende Materie, als auf dem Erball akkumuliert werden könne.20 Die so immer vorhandene überschüssige Energie sei die größte Gefahr von Gesellschaften und müsse sich entladen. Dafür haben Gesellschaften zu allen Zeiten Mechanismen gehabt. Die Antike habe sich dieser in Festen entledigt, während wir in Batailles Gegenwart „den

15 G. Bergfleth: Verschwendung, S. 295. 16 G. Bataille: Der verfemte Teil, S. 43. 17 Ebd., S. 43. 18 Ebd., S. 45. 19 Ebd., S. 47. 20 Ebd.

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Überschuß zur Vermehrung der ‚Dienstleistungen‘ verwenden“.21 Werden wir die Energie nicht in Form von Investitionen in Industrie oder eben in Dienstleistungen los, kommt es zu Kriegen oder Katastrophen. Wiechens hebt hervor, dass es sich bei dieser Setzung um im Verständnis Batailles „natürliche“ Energiekreisläufe handelt, die auf der Erde nun einmal vorhanden seien, und dass der Mensch in diese durch seine Beschränkte Ökonomie empfindlich eingreife: „Insofern die erwirtschafteten Reichtümer möglichst ohne Verlust wieder in den Produktionsprozeß hineingesteckt werden, werden für Bataille die „natürlichen“ Prozesse der Energiebewegungen auf fatale Weise mißachtet. Zwar wird durch den Prozeß der Akkumulation, der die vorhandenen Energiebeträge weiter vergrößert, der Zeitpunkt einer Entladung und Verschwendung dieser Energie zunächst aufgeschoben, in letzter Konsequenz lassen sich diese Energieentladungen jedoch nicht verhindern.“22

Ein Zeichen des herrschenden Überschusses auf der Erde ist für Bataille die „Erzeugung immer kostspieligerer Lebensformen“, also die Produktion und Konsumtion in der Kategorie des Luxus.23 Bataille entwirft in den anschließenden Kapiteln eine dreiteilige Systematik des Luxus in der Natur, zu der er das gegenseitige sich Auffressen, den Tod und die geschlechtliche Fortpflanzung zählt.24 Der Mensch, so hebt Bataille in seiner Allgemeinen Ökonomie hervor, habe auf der Erde das größte Potenzial, „luxuriös den Energieüberschuß zu verzehren.“25 Hier treten die Denkfiguren (oder deren Pendants in der tierischen oder natürlichen Welt) zu Tod und Erotik in den Vordergrund, wie Bataille sie in „Die Erotik“ und „Theorie der Religion“ behandelt hat. Da diese in den beiden anschließenden Kapiteln erörtert und für eine Diskussion der Hip-Hop-Kultur herangezogen werden, wird an dieser Stelle nicht weiter auf sie eingegangen. Bataille nennt im Rahmen seiner Aufzählung jener Mechanismen, die er unter unproduktiver Verausgabung subsumiert, ferner noch Kunstproduktion unterteilt in tatsächliche und symbolische Verausgabung, die im Kapitel „Sakralität und Souveränität“ im Hinblick auf die Möglichkeit des Menschen, Souveränität zu erlangen, diskutiert wird.

21 Bataille sieht auch die Industrieentwicklung in den Jahren 1815-1914 als einen großen Abbau überschüssiger Energie, dem wir die anschließende lange Zeit „relativen Friedens“ in unseren Breitengraden zu verdanken hätten, vgl. Bataille: Der verfemte Teil, S. 49. 22 P. Wiechens: Einführung, S. 39. 23 G. Bataille: Der verfemte Teil, S. 59. 24 Vgl., ebd., S. 59. 25 Ebd., S. 64.

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Hip-Hop und Luxus Konkrete Hip-Hop-Musikvideos vor Augen stellt sich deutlich die Frage nach der Bedeutung von Luxus im Hip-Hop und in diesem Zusammenhang nach einer Diskussion von Batailles Luxus-Begriff. Wenn wir an Musikvideos spätestens seit Mitte der 90er Jahre denken, dann kommen einem für gewöhnlich gleich Bilder von teuren Autos, riesigen Villen mit Pools und einem Überfluss an Frauen in Bikinis in den Kopf. „Some have dubbed the mid-1990s the Bling Era for its displays of conspicuous consumption and material excess.“26 Besonders das Genre des Gangsta-Raps ist zu dieser Zeit mit eben jenen Bildern von schier grenzenlosem Reichtum bekannt geworden, in denen Kleidung, Accessoires und Autos Statussymbole27 sind. Gangsta-Rap als Teil der Hip-Hop-Kultur und die Figur des „Gangsta“ haben eine interessante Wandlung durchgemacht. War er in den 80ern noch vor allem als brutales, harte Straßenszenen, Gewalt, Drogenhandel und -konsum in Szene setzendes Subgenre des Hip-Hops bekannt, zeigte Gangsta-Rap ab Mitte der 90er Jahre ein anderes Bild. In Clips von Künstlern wie Dr. Dre, Snoop Dogg, Notorious B.I.G. und später dann 50 Cent und anderen zeigten sich gewissermaßen die Früchte des Dealens und Hustlens aus den Narrativen früherer Songs und Videos. Jetzt waren die Rapper mit Statussymbolen zu sehen, die sie als an der Spitze des Kapitalismus angekommen auswiesen.28 „[T]he successful gangsta presents his pool, cars and low riding, mobile

26 Adam Bradley und Andrew Lee DuBois (Hg.): The Anthology of Rap, New Haven 2010, S. 325. 27 Eins der frühesten Beispiele für ein durch ein Hip-Hop-Musikvideo vermarktetes Produkt ist Run DMCs MY ADIDAS von 1986. In diesem Clip besingen die Künstler ihre AdidasSneaker nicht nur, sondern sind auch immer wieder zu sehen, wie sie die Schuhe tragen; meist sogar sind Nahaufnahmen der Schuhe oder ihre grafische Umsetzung im Clip im Mittelpunkt. Run DMC haben für den Song einen millionenschweren Werbevertrag bekommen. Seit dieser Zusammenarbeit von Adidas und Run DMC hat es immer wieder Verbindungen zwischen Hip-Hop-Künstler/-innen und vor allem Sportmode- und Softdrinkherstellern gegeben. Auch der Aufbau eines eigenen Modelabels (beispielsweise RocA-Wear von Jay Z, Sean John von Puff Daddy und G-Unit als Modeimperium von 50 Cent) ist seitdem ein vielfach gewählter Geschäftszweig für Hip-Hop-Künstler/-innen. Diese Beispiele seien hier lediglich genannt, um auf die Prozesse der Mainstreamisierung der Hip-Hop-Kultur seit Mitte der 80er hinzuweisen und zu verdeutlichen, dass die Bezüge von Hip-Hop-Kultur zu teurer Kleidung und Lifestyle-Produkten eine lange Tradition haben. 28 Birgit Richard und Heinz-Hermann Krüger: „Techno/House, Hip Hop Clubs, and Videos“, in: Shirley R. Steinberg u.a (Hg.): Contemporary Youth Culture: An International Encyclopedia, Westport 2006, S. 101-115, hier S. 110.

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phone, bathtubs, whirlpools, luxurious interiors, gambling, and innumerable women, barely dressed and wiling, as attributes of his status.“29 Ein großer Teil des US-amerikanischen Mainstream-Hip-Hops spielt mit übersteigertem, scheinbar exzessivem Luxus materieller Art. Extrem auffallende Designer-Kleidung, teure Sportwagen, Yachten und Villen sind in den Musikvideos Statussymbole und Zeichen, es in den USA „geschafft“ zu haben. Das bloße Entdecken von materiellem Überschuss in den Hip-Hop-Clips trifft Batailles Luxus-Begriff jedoch nicht genau. Bataille hat in seiner Hasstirade auf das Bürgertum klargemacht, dass das stille Ansammeln von materiellen Gütern in buchhalterischer Manier und das Verweigern einer allgemein sichtbaren und erfahrbaren Verschwendung katastrophale Folgen hat. Zum einen ist das Bürgertum im Kern bigott, weil es verschwendet – jedoch nur im kleinen, privaten Rahmen und in einer abgeschwächten, armseligen Form. Zum anderen – und das ist schlimmer – hat ein sehr großer Teil der Menschheit keine Möglichkeit zur Partizipation an dieser Verschwendung und im Kapitalismus auch praktisch nichts, um zu verschwenden. Luxus als sakral in Batailles Verständnis setzt also das Verschwenden und zugleich Ausstellen desselben voraus. Nicht das bloße Vorhandensein von Luxusgütern, sondern der Umgang mit diesen, das Partizipierenlassen an ihrer Verschwendung nämlich, ist ein Ausweis für unproduktive Verausgabung und für einen Eintritt in den Bereich des Sakralen. Eines der besten Beispiele für Akkumulation und Zurschaustellung von Reichtum – jedoch mangelnder Partizipationsmöglichkeiten – ist das Musikvideo WINDOW SHOPPER des Hip-Hop-Künstlers 50 Cent.30 Gemeinsam mit dem Rapper Mase und seiner Crew ist er in Monaco, dem Staat der Reichen und Berühmten, auf Einkaufstour. Dieses Einkaufen beschränkt sich nicht nur auf Geschäfte, sondern wird derart

29 Ebd., S. 109. Werbedeals wie sie Run DMC bekommen haben, wären für einen GangstaRapper wie Ice Cube zu dieser Zeit undenkbar gewesen. Ice Cube, Mitglied von N.W.A. und für Songs wie „Fuck tha Police“ und „Ghetto Bird“ verantwortlich, ist ein gutes Beispiel dafür, wie vormalige Gangsta-Rapper zu Mainstream-Künstler/-innen geworden sind, deren Songs und Musikvideos für die US-amerikanische Gesellschaft so ungefährlich und – im Gegenteil – deren Image so positiv ist, dass man sie als Werbefigur einsetzt. Cube macht Werbung u.a. für Bier (Coors Light) und die Kosmetikmarke CoverGirl Cosmetics. 30 Von diesem Musikvideo existieren zwei Versionen. Ich beziehe mich auf die seltener zu findende Version, die mit den beiden Rappern in einem Schuhgeschäft in Monaco beginnt. Die andere Version ist die, die zu der Filmbiografie von 50 Cent Get Rich or Die Tryin’ erschienen ist. Sie beinhaltet Szenen aus dem Film. So beginnt diese Version mit einer Szene, die den jungen 50 Cent vor einem Schaufenster stehend und Sneaker bewundernd zeigt, die er sich nicht kaufen kann. Der Clip in beiden Versionen zeigt uns, dass 50 Cent sich jetzt alles leisten kann und liest sich vor dem Hintergrund der Szene vor dem Sneakergeschäft als kompensatorisch.

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praktiziert, dass auch von Menschen auf der Straße getragener Schmuck oder gerauchte Zigarren von den beiden gekauft werden. Sie vermitteln den Eindruck, als könnten sie alles kaufen. Die Preise erscheinen für uns im Clip eingeblendet und sind völlig überzogen. Auch in Monaco kostet ein Milchshake an einer Bude am Pier keine 75 US-Dollar – ganz abgesehen davon, dass die Währung Euro sein müsste. Die überzogenen Preise dienen dazu, uns sehen zu lassen, dass den Rappern nichts zu teuer ist – und wohl auch dazu, dass das auch in den USA so verstanden wird. Passend dazu wird ein Mann im Musikvideo eingeführt, der ebenfalls in Monaco unterwegs ist, der sich aber nur Mietwagen und Mietboot anstelle einer gekauften Luxuslimousine und einer Yacht leisten kann. Dieser ist im Jargon der Rapper ein „Window Shopper“, also jemand, der sich die Waren, die er sich in den Schaufenstern ansieht, aus Gründen mangelnder finanzieller Potenz nicht kaufen kann und so als bedauernswert erscheint. Inwiefern aber handelt es sich bei den Kaufhandlungen von Luxusgütern im genannten Musikvideo um eine unproduktive Verausgabung im Sinne Batailles Allgemeiner Ökonomie? Die für uns sichtbar erworbenen Luxusgüter dienen einer Statusbefestigung und führen nicht zum finanziellen Bankrott, wie in extremen Formen der Verausgabung (zum Beispiel dem von Bataille angeführten Potlatsch31) vorgesehen. 50 Cent und Mase lassen uns dennoch an ihrem Kaufrausch durch das Musikvideo teilhaben. Sie inszenieren eine Überbietung im Clip, in dem sie den „Window-Shopper“ und sein Kaufverhalten enttarnen, und sie überbieten uns, die wir uns in aller Regel nicht dieselben Luxusgüter kaufen können wie die beiden Rapper im Musikvideo. Dieses Kriterium der unproduktiven Verausgabung, die direkt die Erhöhung des eigenen Status zum Ziel hat, ist erfüllt. Was diesem Beispiel im Hinblick auf das Sakrale jedoch anhaftet, ist die Ausdrücklichkeit, mit der wir auf die Verausgabung hingewiesen werden. Die eingeblendeten Preise verdeutlichen dies. Ist diese Art von unproduktiver Verausgabung eine, die Sakrales produziert, oder steht sie mit dem Einblenden der Preise nicht auch in der Nähe der Buchhaltung, die Bataille so verurteilt hat? Ist die gezeigte Weise nicht auch eine sehr buchführende Art, Luxus zu leben? Womöglich liegt die Überbietungsgeste, die einer unproduktiven Verausgabung am nächsten kommt, darin, dass die Rapper nicht nur teure Luxusgüter erwerben, sondern bereit sind, überhöhte Preise dafür zahlen, weil der Überfluss an Geld es ihnen erlaubt.32

31 Vgl. G. Bataille: Verausgabung, S. 18. 32 In Batailles buchhalterischen Beschränkten Ökonomie würde sich darin eine Geschäftsuntüchtigkeit zeigen. Unter Annahme der Allgemeinen Ökonomie des Überschusses und Exzesses sind die überhöhten Preise Zeichen einer unproduktiven Verausgabung. Besonders interessant ist an dieser Stelle, dass die Medien kürzlich die Insolvenz der Privatperson 50 Cent vermeldet und von 45 Millionen Dollar Schulden berichtet haben. Der im Musikvideo

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Als ein kontrastives Beispiel sei hier auf das Musikvideo OTIS von Jay Z und Kanye West eingegangen. In OTIS können wir von einer extremeren Form der unproduktiven Verausgabung sprechen. OTIS ist verglichen mit dem Kaufrausch, der uns durch die eingeblendeten Preise „buchhalterisch“ vorgeführt wird, eher als eine Inszenierung des Sakralen zu beschreiben: Der Song ist eine Hommage an den Soulsänger Otis Redding, dessen „Try a Little Tenderness“ für den Song gesampelt wurde. Konkret ist einmal ein 25-sekündiger Teil für das Intro zum Song von Jay Z und Kanye West verwendet worden; zum anderen werden etwa 15 Sekunden aus Reddings Song gesampelt, die dann regelmäßig wiederholt den Beat von „Otis“ bilden. Im Musikvideo lassen Jay Z und Kanye West einen 350.000 US-Dollar33 teuren Maybach so herrichten, dass er zu einer Art Strandbuggy wird, und tun nichts, als vor der gehissten USamerikanischen Flagge auf dem Gelände zwischen Werkshallen ihre Runden zu drehen – mit auf dem Rücksitz sind die obligatorischen Frauen. Gerade das Video OTIS lässt sich ohne Schwierigkeiten mit Batailles unproduktiver Verausgabung lesen, da es sich sehr deutlich um einen unproduktiven Akt der Zerstörung des Maybachs und der Verausgabung und Verschwendung seines Wertes handelt. Hätte im Zentrum des Clips ein Twingo gestanden, würde das Video seines Effekts beraubt, der daher rührt, dass das verwendete Auto in den herrschenden ökonomischen Bewertungsskalen sehr hoch anzusetzen ist und dass Jay Z und Kanye West es sich leisten können, so viel Geld zu verschwenden. Das Video besteht also aus einer einzigen unproduktiven Verausgabung, die die Künstler sakralisiert und uns Rezipient/-innen staunend partizipieren lässt. Eingefangen und zurückgenommen wird diese inszenierte unproduktive Verausgabung jedoch vollständig mit dem am Ende des Clips eingeblendeten Disclaimer, der uns mitteilt: „The vehicle used in this visual will be offered up for auction. Proceeds will be donated towards the East African drought desaster.“ Das Verwenden der aus einer Versteigerung des Autos gewonnenen Gelder revidiert die im Clip inszenierte Verschwendung, deren moralischer Verurteilung die Künstler so entgehen. Luxusgüter und ein exklusiver Lebensstil dominieren Hip-Hop-Musikvideos spätestens seit Mitte der 90er Jahre. In einer kapitalistischen Gesellschaft wie der der

gezeigte Lebensstil scheint auch privat gelebt worden zu sein, was den Authentizitätsansprüchen der Fans gegenüber diesem Genre Genüge tun könnte. Vgl. Frédéric Schwilden: „Durch eine Pleite rappt 50 Cent jetzt nachhaltiger“, http://www.welt.de/kultur/pop/article144014190/Durch-eine-Pleite-rappt-50-Cent-jetzt-nachhaltiger.html vom 16.08.2016. Der Artikel stellt zudem Parallelen her zwischen der Insolvenz und dem nicht mehr tragfähigen Materialismus im Hip-Hop auf der einen Seite und den neuen Strategien, dem Publikum gerecht zu werden, wie der Nachhaltigkeit oder dem Carsharing auf der anderen Seite. 33 http://www.mtv.com/news/1669022/otis-video-maybach/ vom 16.08.2016.

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USA wird über dieses Ausstellen von Reichtum ein Ringen um Status und Anerkennung lesbar. Für eine Analyse von Musikvideos durch die Linse unproduktiver Verausgabung, besonders auf dem Gebiet des Luxus, stellt sich die Frage nach dem Grad der Verschwendung von Geld. Das Herumwerfen von Scheinen, das Verbrennen von teurer Kleidung, das Sprengen von Schmuck und das Zerstören von Luxuslimousinen drücken eher Verausgabung im Sinne Batailles aus als das bloße Kaufen von diesen Gütern. In den folgenden Kapiteln geht es darum, die Formen unproduktiver Verausgabung, die sich speziell in der US-amerikanischen Hip-Hop-Kultur finden lassen, herauszuarbeiten. Diese Formen der unproduktiven Verausgabung finden wir vor allem in den Bereichen der Erotik, des Todes, der Künste, der Feste und der Kriege. HipHop-Songs und Musikvideos weisen einen lebhaften Umgang mit diesen Bereichen und Formen der unproduktiven Verausgabung auf, der in den folgenden Kapiteln herausgearbeitet wird. Diese Bereiche sind Teil einer heterogenen Welt oder der Welt des Sakralen. In ihnen können wir das Sakrale momenthaft erfahren. Hip-Hop-Kultur als heutzutage im Kern kapitalisiert und damit im Sinn Batailles in einer Beschränkten Ökonomie verhaftet tritt in diesen Praktiken der unproduktiven Verausgabung in die Allgemeine Ökonomie.

Der Opfergedanke in der Erotik Opfer und Erotik In „Die Erotik“ schreibt Bataille: „Das Opfer [...], das wie der Krieg eine Aufhebung des Tötungsverbots darstellt, ist [...] die religiöse Handlung par excellence.“34 Schon früher in Der Begriff der Verausgabung führt er als zentrale Kategorie seiner Theorie über das Sakrale die Opferhandlung ein: „Die Kulte verlangen eine blutige Vergeudung von Menschen und Tieren als Opfer. Das ‚Sakrifizium‘ ist jedoch etymologisch nichts anderes als die Erzeugung heiliger Dinge.“35 Opfern wird zum Medium des Sakralen und wird, je weiter wir mit Bataille in die Neuzeit und dann in die Moderne gehen, dringlicher oder notwendiger, weil die Dominanz der Arbeits- und Vernunftswelt mehr und mehr nach dem Ausgleich, nach dem Sakralen fragt.36

34 G. Bataille: Erotik, S. 80. 35 G. Bataille: Verausgabung, S. 13. 36 Vgl. G. Bergfleth: Weltimmanenz, S. 233-234.

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Um den Zusammenhang zwischen der Erotik und dem Sakralen herzustellen, müssen wir uns erneut auf die Denkfiguren des Opfers und der Verausgabung einlassen. Erotik, als Kommunikation zwischen zwei Menschen verstanden, ist bei Bataille die Entgrenzung beider Partner auf den jeweils anderen hin. Sie impliziert einen Selbst- oder Subjektverlust, eine Verausgabung par excellence und in der sexuellen Handlung eine Überschreitung der Körper. „Die Erotik kann man bestimmen als das Jasagen zum Leben bis in den Tod“37 – so beginnt Bataille die Einführung in „Die Erotik“, das Werk, das eine Art Zusammenfassung und zugleich Weiterentwicklung seiner bisherigen Theorien ist. Im Bereich des Heterogenen liegt für Bataille vor allem die Erfahrung der Erotik, die er eng mit Verausgabung und Verlust verknüpft und die für ihn eine sakrale Erfahrung ist. Er beschreibt eine Erotik der Körper, eine der Herzen und letztlich eine heilige Erotik. Gemeinsam ist allen, dass in ihnen versucht wird, die Diskontinuität durch ein zumindest punktuelles, momenthaftes Gefühl von Kontinuität zu ersetzen.38 Und er fügt hinzu: „Der Ausdruck [heilige Erotik, Anm. E.S.] ist übrigens insofern zweideutig, als jede Erotik heilig ist [...]“39 Während die Erotik der Herzen eine Intensivierung oder Konsolidierung der Erotik der Körper und des liebenden Paares ist, ist die heilige Erotik die Liebe zu Gott.40 Andererseits ist auch Bataille sich der Unterscheidung und des Zusammenhangs nicht so sicher, wenn er in seinem Vortrag schreibt: „Der Übergang von der Erotik zur Heiligkeit hat größte Bedeutung. Es ist der Übergang von dem, was verflucht und verworfen ist, zu dem, was verheißungsvoll und gesegnet ist [...]“41 Batailles gesamte Studie „Die Erotik“ widmet sich der Gemeinsamkeit von Erotik und dem (religiösen) Sakralen, über die er zu einem erotischen Sakralen bzw. zu einer sakralen Erotik kommt, denen gemeinsam ist, dass die „innere Erfahrung“, die gemacht wird, beide Male von einem transgressiven Charakter ist. Er führt dazu aus: „Die Erkenntnis der Erotik oder der Religion erfordert eine persönliche gleichmäßige und widersprüchliche Erfahrung des Verbots und der Überschreitung.“42 Bei der näheren Bestimmung seiner „Inneren Erfahrung“ schreibt Bataille 1953 im ersten Band seiner „Atheologischen Summe“ dazu: „[...] ich denke weniger an die glaubensmäßige Erfahrung, an die man sich bisher halten mußte, als an eine entblößte Erfahrung, die selbst ihrer Herkunft nach von Bindungen an einen beliebigen Glauben frei ist.“43 Dieses Zitat

37 G. Bataille: Erotik, S. 13. 38 Vgl. ebd. [Kursivierung wie im Original]. 39 Ebd., S. 16. 40 Ebd., S. 18. 41 Ebd., S. 256. 42 Ebd., S. 37. 43 G. Bataille: Innere Erfahrung, S. 13 [Kursivierung wie im Original].

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macht noch einmal deutlich, dass Glaube und Religion von Batailles Sakralbegriff explizit gelöst sind. Die Entgrenzung des eigenen Körpers hin auf den des Partners, der geschlechtliche Akt also, steht bei Bataille in direktem Zusammenhang mit der „inneren Erfahrung“ und unterscheidet sich im grundsätzlichen Prinzip auch nicht von Subjektüberschreitungen oder -verlusten durch Gewalt und Folter als Erfahrungen einer Todesnähe. „Die ‚innere‘ Perspektive der körperlichen Empfindung fürchterlicher Schmerzen, die Menschen beispielsweise bei Folterungen oder schweren Krankheiten erdulden müssen, macht – wenn auch auf makabre Weise – diesen vollständigen Umsturz, diese totale Umwälzung des Subjekts am deutlichsten sichtbar.“44 Marroquìn erklärt den Zusammenhang zwischen Erotik und Gewalt: „Die körperliche Liebe ist der eigentliche Raum (le domaine) der erotischen Erfahrung und als solche von Bataille als das Gebiet der Gewalt (le domaine de de (sic!) la violence) bezeichnet und deshalb dem Tabu unterworfen. Unter Erotik ist eine Art Simulacrum zu verstehen. Es handelt sich also um eine Art von Gewalt, die an das Opfer erinnert.“45 Bataille rechnet Religion, sakrale Kunst (zu der wir später noch kommen) und Erotik demselben sakralen Bereich jenseits der homogenen Welt zu: „Die Religion, die sakrale Kunst und die Erotik (l’érotisme) werden als souveräne Handlungen definiert, weil sie, zumindest in ihrem Ursprung [, E.S.] ihre Rechtfertigung und ihren Sinn in sich hatten, unabhängig von den Kriterien der Nützlichkeit und des Profits.“46

Erotik ist für Bataille Selbstverlust und zum Menschsein notwendige Erfahrung. Die Erotik in der Paarbeziehung hat bindende Funktion. Gemäß Batailles Interesse an den zerstörerischen Elementen menschlichen Zusammenlebens sucht er auch in der Erotik nach ihren dunklen Seiten. In diesen wird deutlich, dass Bataille Erotik nicht als eine Handlung begreift, sondern als eine momenthafte Kraft, die einen Sog entfaltet. Erotik ist am ehesten ein Modus des Sich-Begegnens. Bergfleth schreibt erklärend: „Erotik und Tod stellen schwere Störungen der Arbeitswelt dar, deren verderbliche Auswirkungen durch besondere Restriktionen eingegrenzt werden müssen.“47 Im Folgenden wird Erotik im Verständnis der Transgression und des Nah-Seins im Bereich der Musik und des Musikvideos diskutiert.

44 P. Wiechens: Einführung, S. 71. 45 C. Marroquìn: Religionstheorie, S. 179 [Kursivierung wie im Original]. 46 Ebd., S. 176. 47 Gerd Bergfleth: „Leidenschaft und Weltinnigkeit. Zu Batailles Erotik der Entgrenzung“, in: Gerd Bergfleth (Hg.): Georges Bataille. Die Erotik (= Das theoretische Werk in Einzelbänden), München 1994, S. 315-396, hier S. 323.

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Dietrich Helms entwickelt in seinem Aufsatz „Theoretische Überlegungen und historische Schlaglichter zum Thema ‚Erotik und Musik‘“ Musik als das Hauptmedium der Erotik. In einer Formulierung, die von Bataille stammen könnte, schreibt er: „Musik als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium markiert eine Sonderwelt der Kommunikation, die sich vom Alltag abhebt.“48 In seinen Gedanken zum Unterschied zwischen Alltagswelt und Sonderwelt, zwischen Alltag und Fest, in seiner Konzeption der „Nahwelt“ von Musik und in seinen Vergleichen zwischen religiösen Riten und privaten Partys steht Helms Bataille und seinen Lebensbereichen des Sakralen sehr nahe. Die Dichotomie von homogener und heterogener Welt, die Intimität oder die „innere Erfahrung“ Batailles finden wir bei Helms in anderen Begriffen und in der Analyse der Beziehung zwischen Musik und Erotik wieder.49 Hier interessieren uns vor allem zunächst die Zusammenhänge von Erotik und Popmusik. Musik – auch in der Performance-Situation eines Konzertes – ist also eine Sonderwelt, in der Kommunikation auf eine nicht-alltägliche Art zustande kommen kann, und in der Menschen auf eine besondere Art in Beziehung zueinander treten. Helms und Bataille betonen beide die Notwendigkeit von Sonderwelten bzw. der heterogenen Welt für die Gesellschaft: Was Helms als „sozial kontrollierte Triebabfuhr“ beschreibt, ist bei Bataille die „unproduktive Verausgabung“. „Musik kann durch die Sonderwelt, die sie schafft, in der Alltagswelt tabuisierte oder unmögliche Kommunikation möglich machen.“50 In dieser durch Musik markierten Sonderwelt und vermittelt durch Musik dürfen Erfahrungen der (erotischen) Ekstase gemacht werden, die in anderen gesellschaftlichen Kontexten nicht erlaubt und nicht möglich wären.51 Die für uns interessanteste Einordnung von Erotik und Musik, die Helms vornimmt, ist jene der „Repräsentationen körperlicher Identität durch Musiker als Teil ihres Sounds“.52 Die Wortwahl „Repräsentation“ kann hier leicht suggerieren, es handele sich um einen rein symbolischen Akt, Erotik in der Musik darzustellen. Helms jedoch arbeitet mit Begriffen wie „Gestik“ und „Motorik“ in der Musik und spricht letztlich von „vokaler Erotik“.53 Dies lässt deutlich erkennen, dass er auf etwas ab-

48 Dietrich Helms: „Theoretische Überlegungen und historische Schlaglichter zum Thema ‚Erotik und Musik‘“, in: Dietrich Helms und Thomas Phleps (Hg.): Thema Nr. 1. Sex und populäre Musik, Bielefeld 2011, S. 9-43, hier S. 14. 49 Im Kapitel „Hip-Hop-Musikvideos – Medien des Sakralen“ ab. S. 175 wird auf die Besonderheit der Musik für die Erfahrbarkeit des Sakralen detaillierter eingegangen. 50 D. Helms: Erotik, S. 15. 51 Ebd., S. 17 und S. 19. 52 Ebd., S. 32. 53 Vgl. ebd., S. 34.

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zielt, das als etwas Vorsprachliches zwischen Musiker/-innen und Hörer/-innen geschieht, was mit „Affekt“ begrifflich vielleicht eher zu fassen ist als mit „Repräsentation“. Helms definiert erotische Musik in erster Linie als „gemachte“ und nicht komponierte Musik: „In erotischer Musik wird die geschlechtliche Körperlichkeit der Musik selbst repräsentiert, durch sie führt der Musiker seine geschlechtliche körperliche Identität dem Hörer vor.“54 Mit Blick auf das Sakrale von Erotik und Musik und letztlich mit Blick auf die zu analysierenden Musikvideos der US-amerikanischen Hip-Hop-Kultur interessieren uns die „Präsenz“ von Erotik in Musik und Musikvideos. Dazu gehört die Ebene der Repräsentation, beispielsweise in Tanz- oder Bettszenen in Musikvideos, in denen Berührungen von Körpern in erotischer Weise inszeniert werden, aber auch die „körperliche Unmittelbarkeit“55 erotischer Musik. Die Erotik und die Unmittelbarkeit des Musiker/-innenkörpers treten hervor durch zum Beispiel „ein Hauchen oder kehliges Knurren [...] bis hin zum Stöhnen“, nicht selten gepaart mit Gesten der Dominanz in der virtuosen Beherrschung des Instruments oder dem Ausdruck der körperlichen Überlegenheit der Musiker/-innen durch ihre stimmliche Leistung.56 Nach Helms können auch Instrumente die stimmliche Erotik nachahmen und ausdrücken, „besonders deutlich in Instrumenten, die der menschlichen Stimme nahe kommen, die hauchen können, knurren, stöhnen oder schreien“.57

Hip-Hop, Körperlichkeit und Erotik Die Erfahrbarkeit körperlicher Unmittelbarkeit ist im Hip-Hop von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die Soundästhetik des Hip-Hops mit seiner Rhythmik, den in der Lautstärke hervorgehobenen, oft pumpenden Bässen ist auf eine körperliche Erfahrung angelegt. Christian Bielefeldt hat am Beispiel von CANDY SHOP des Rappers 50 Cent den Zusammenhang zwischen Stimme und Musiker/-innenindividualität, wie ihn Helms herstellt58, analysiert. Seine Analyse soll hier dazu dienen, Erotik im Hip-Hop zunächst ästhetisch und dann soziologisch in ihren Zusammenhängen mit Macht- und Genderfragen zumindest kursorisch zu erörtern.59 Mit Simon Frith

54 D. Helms: Erotik, S. 33. 55 Ebd., S. 35. 56 Vgl. ebd., S. 34. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 37. 59 Die Verbindungslinie von Erotik zur Macht zieht natürlich Helms auch in seinem Aufsatz, macht sie aber nicht zum Thema. Hier kann sie nur kurz und nur mit Blick auf die im Hip-

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argumentiert er, dass Stimme vor allem als „personal kommunizierendes Medium“ wahrgenommen wird.60 „Im Zentrum der Wahrnehmung von Stimme in der populären Musik [...] öffnet sich der Bruch zwischen inszenierter und wirklicher Bedeutung und die Kluft zwischen Star und Mensch.“61 Hier kommt die Erotik ins Spiel, die uns eine Nahwelt baut. Durch die Erotik können wir in der Rezeptionssituation dem Musiker/der Musikerin, unserem Star, so nah sein, als wären wir in einer persönlichen Begegnungssituation mit diesem Menschen. Um das Ausmaß der Erotik und auch expliziten, sexuellen Handlungen im von Bielefeldt untersuchten Song hier wiederzugeben, sei aus seiner Studie noch einmal ausführlich zitiert: „Selbstinszenierung des Stars als sexuell potenter ‚african-american hero‘, von süßen Nymphen umschwärmt: ‚Yeah... / Uh huh / So seductive‘. Die luxuriöse Villa als Schauplatz nächtlicher erotischer Szenen und obszöner Doppeldeutigkeiten: ‚Got the magic stick, I’m the love doctor [...] / I melt in your mouth girl, not in your hands (haha)‘. Fließende Zuckerströme, geheimnisvolle Verwandlungen und Schnitte, die den Rapper immer wieder aus den Armen der jungen Frauen samt ihrer wunderbaren Sirupwelt reißen. Das Pendeln zwischen Akteurs- und VoyeursPerspektive: ‚Lights on or lights off, she likes it from behind / So seductive, you should see the way she wind / Her hips in slow-mo on the floor when we grind.‘“62

Dieses Zitat enthält interessante Punkte, an denen Entscheidendes über Hip-Hop verraten wird. Die Inszenierung des Rappers 50 Cent als sexuell potenter Schwarzer Held ist für eine Vielzahl an Hip-Hop-Clips nachzuweisen. Schon alleine das quantitative Verhältnis von Männern und Frauen in den Musikvideos verrät, dass es sich bei vielen Clips um das Verfügbarmachen einer Auswahl an Frauen für wenige, ausgewählte Männer handelt. Dieses Verhältnis, die Art und Weise, wie die Kamera die weiblichen Körper inszeniert und ausstellt, lässt keinen Zweifel daran, dass Frauen hier objektifiziert werden. Hier wird im „Pendeln zwischen Akteurs- und VoyeursPerspektive“ ein Nahraum geschaffen, der die Zuschauer/-innen mal aktiv, mal passiv, am Musikvideogeschehen teilhaben lässt. Die Leinwand hinter dem Bett, auf dem 50 Cent und eine der Frauen, sich vergnügen, zeigt die Szene, die wir sehen, und doppelt so die Voyeursperspektive, und unterstreicht die Lust am Zuschauen. Das bei

Hop so präsente gender-Diskussion thematisiert werden. Der male gaze produziert im HipHop-Clip ein starkes Machtgefälle mit der Frau als Unterlegene. 60 Vgl. Christian Bielefeldt: „Hip Hop im Candy Shop. Überlegungen zur populären Stimme“, in: Dietrich Helms und Thomas Phleps (Hg.): Cut and paste. Schnittmuster populärer Musik der Gegenwart, Bielefeld 2006, S. 135-152, hier S. 138. 61 Ebd., S. 140. 62 C. Bielefeldt: Candy Shop, S. 149.

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Nacht spielende Video zeigt eine außerhalb der Stadt liegende, große Villa, ein Bordell, das durch Ort und Uhrzeit als Ort des Außeralltäglichen markiert ist. Körper, Sex und Erotik spielen in Videos des US-amerikanischen Hip-Hops (wie in vielen Gegenständen der Popkultur) eine große Rolle. Der Grad der Explizitheit und die spezifische Verschränkung mit Zuschreibungen entlang der Leitdifferenzen von race und gender unterscheiden Hip-Hop von anderen Popkulturgenres. Für den Bezug zum Sakralen sei hier festgehalten, dass gerade der transgressive Charakter von Erotik und die Inszenierungen von Körperlichkeit in den Musikvideos weiter anzuschauen sein wird. Sex und Erotik sind freilich deutlich voneinander zu unterscheiden – oder wie Helms schreibt: „Erotik macht das Zustandekommen von Sex wahrscheinlicher. Der tatsächliche Vollzug ist jedoch weder zwangsläufig Folge noch unbedingte Voraussetzung.“63 Im Hip-Hop ist meist eine heterosexuelle (und oft zugleich homophobe), männliche Sexualität in den Musikvideos inszeniert. Sexismus und Misogynie im Hip-Hop sind von der Forschung vielfach thematisiert worden. Tricia Rose gibt schon 1994 eine Einschätzung ab, die männliche Hip-HopKünstler für ihren Sexismus kritisiert, und die gleichzeitig betont, dass das dominierende Frauenbild im Hip-Hop Resultat eines in den USA tief verwurzelten Sexismus ist, der über musikalische Genres und Hautfarben weit hinausgeht und den die Gesellschaft und die Musikindustrie dominiere. „Rap’s sexist lyrics are also part of a rampant and viciously normalized sexism that dominates the corporate culture of the music business.“64 In einer vergleichenden Studie sich am besten verkaufender männlicher Mainstream-Künstler und ihrer Songs und Videos aus den Jahren 2007 und 2008 zeigt Margaret Hunter eine Kommerzialisierung von Sexualität zu Lasten des Frauenbildes und der Frauen im Hip-Hop. Sie stellt fest, dass Musikvideos im Hip-Hop oft eine Art Strip-Club-Setting realisieren. „The gender dynamic of the strip club is actually an extension of the mandate of consumption. Instead of jeans, phones, or liquor, men consume women’s sexual performances.“65 Musikvideos des US-amerikanischen Hip-Hops zeigen oft einen eng verwobenen Nexus aus Kommerzialisierung, Konsum und Körper, der Frauen meistens objektifiziert. Dass die Hautfarbe ein bestimmtes Bild von Sexualität in sich eingeschrieben hat, zeigen u.a. Railton und Watson in ihrem Buch „Music Video and the Politics of Representation“. Gerade weibliche Sexualität ist bei Weißer und Schwarzer Hautfarbe fundamental verschieden kodiert und gereicht dazu, wiederum Hierarchien zu etablieren und vor allem die Möglichkeiten der selbstbestimmten Inszenierung von

63 D. Helms: Erotik, S. 13. 64 T. Rose: Black Noise, S. 15 und S. 16. 65 Margaret Hunter: „Shake It, Baby, Shake It: Consumption and the New Gender Relation in Hip-Hop“, in: Sociological Perspectives 54 (1, 2011), S. 15-36, hier S. 30.

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Schwarzen Frauen einzuschränken. Für Christina Aguilera und Lil Kims Zusammenarbeit in CAN’T HOLD US DOWN kommen sie zu dem Schluss: „[W]hile Kim is able to author her own image as sexual predator, Aguilera is able to exploit Kim’s parenthetical inscription of otherness to re-author her won identity as (non)-white. To put it another way, Kim’s possibilities for self-determination are circumscribed by discourses of blackness [...] The discursive resources open to Aguilera, by contrast, are various and fluid in the possibilites they offer for self-inscription.“66

In Sexualität und Erotik drücken sich im US-amerikanischen Hip-Hop Machtverhältnisse sowohl zwischen den Geschlechtern als auch zwischen den Hautfarben aus.67 Erotik in Hip-Hop-Musikvideos kann sich ästhetisch über Techniken der extremen, übersteigerten und sichtbaren Körperlichkeit ausdrücken oder über Techniken des Hyperembodiment realisiert werden. Vernallis bemerkt für Rihannas Musikvideo ROCK STAR 101 die „slick viscosity of the lips; their lurid shine; the sharp points of the spiky headdress and the eyelashes with their smeared brushstroke-like traces; followed by an ‚rrrr‘ sound, which seems to smear the visual stroke into an aural blur; the smoke and the digital pixels so sharply demarcated, cloaking the body. All these features meticulously placed against each other, give the sense of overwhelming tactility – ultra physical.“68

Was Vernallis beschreibt sind auditive und visuelle Strategien, die Hand in Hand arbeiten, um eine exzessive Körperlichkeit auszudrücken und dadurch eine ultimative Erfahrbarkeit des weiblichen Körpers zu ermöglichen. Für männliche Körper in Mu-

66 Diane Railton und Paul Watson: Music Video and the Politics of Representation, Edinburgh 2011, S. 90. Siehe auch den Aufsatz „‚Where My Girls At?‘: Negotiating Black Womanhood in Music Videos“, von Rana E. Emerson in: Gender and Society 16 (1, 2002), S. 115-135, der Schwarze Künstlerinnen wie Missy Elliott und Erykah Badu und die Möglichkeiten und Grenzen einer selbstbestimmteren Inszenierung von Weiblichkeit und Sexualität diskutiert. 67 Besonders in der Analyse von MONSTER in diesem Buch wird dieser Sachverhalt diskutiert. 68 Carol Vernallis: Unruly Media. Youtube, Music Video, and the New Digital Cinema, New York 2013, S. 282.

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sikvideos scheint dies anders zu funktionieren. Sie werden in der Regel durch tanzende Frauen, die sich auf die männlichen Rapper konzentrieren, sie umkreisen oder hinter ihnen für sie tanzen, als begehrenswert inszeniert.69 Der Musikwissenschaftler Stan Hawkins reflektiert in seiner Analyse von Rihannas Musikvideo UMBRELLA ebenfalls über Hyperembodiment und weist uns darauf hin, dass alle Körperteile in jedem Schritt der Produktion übersteigert werden: „Legs, face, hands, and torso are meticulously edited and enhanced by everything from airbrushing to lighting, costume, makeup choreography, and stage props.“70 Auch auditive Strategien des Hyperembodiment in Musikvideos kommen im Sinne einer obsessiv übersteigerten Körperlichkeit durch den gezielten Einsatz von Musik- und Soundproduktion zum Tragen. Er schreibt: „Hyperembodied display implies an obsession with the look that is governed by the technologies of musical production as much as the decisions that go into directing the video.“71 Ein Beispiel für Hyperembodiment ist eine Szene in Kanye Wests MONSTER. In diesem Video wird Wests Körper als extrem fleischlich, lustvoll und begehrenswert inszeniert. Relativ zu Beginn des Clips lehnt Kanye West mit nacktem Oberkörper an einem massiven und doch filigran verzierten, schwarzen Gitter. Aus dem dunklen Hintergrund und durch das Gitter hindurch greifen zahlreiche Frauenhände mit pink lackierten Fingernägeln nach seinem Körper und in sein Fleisch. Abbildung 1 und 2: Kanye Wests Körper wird begehrt

Stills aus MONSTER 69 Männliche Hip-Hop-Künstler inszenieren ihre Körper auch mit einer Tendenz zum Hyperembodiment, das ihre physischen Kräfte und ihre Potenz betont, jedoch meist flankiert von einer Überzahl an Frauen(körpern), die sexualisiert und erotisiert werden. Das alleinstehende Hyperembodiment von männlichen Künstlern scheint eher die Ausnahme zu sein. D’Angelos UNTITLED (HOW DOES IT FEEL) (2000) aus dem Genre des Neo-Soul wäre ein Beispiel für eine exzessive Zurschaustellung und Erotisierung allein des männlichen Körpers. 70 Stan Hawkins: „Aesthetics and Hyperembodiment in Pop Videos: Rihanna’s ‚Umbrella‘“, in: John Richardson et al. (Hg.): The Oxford Handbook of New Audiovisual Aesthetics, New York 2013, S. 466-482, hier S. 467. 71 Ebd., S. 481.

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Die Einstellung dauert mehr als 20 Sekunden, was für ein Musikvideo eine sehr lange Zeitspanne ohne Jump Cuts zu anderen Settings ist. Stattdessen wird zwischen Slo mo- und Realtime-Abläufen hin- und hergewechselt. Wenn die Hände ihn berühren, dann sind wir in der Slow motion, die uns den Moment des Anfassens unserer Begierde auskosten lässt. Die Hände greifen in seine Haut und in sein Fleisch hinein, berühren ihn an den Schultern, der Brust und im Gesicht. Uns wird mehr als der Eindruck seiner Haut – samt Hautfarbe durch die mehrheitlich weißen Frauenarme – vermittelt, wir bekommen ein Gefühl für seine Körperlichkeit. Die Kamera zeigt uns Wests Körper und sein in Schmerz oder Ekstase verzerrtes Gesicht so nah, dass wir die Poren seiner Haut sehen können. Er windet sich in den Armen, die ihn greifen, und rappt dabei unter anderem „I’m a motherfucking monster.“ Seine Stimme ist dabei plötzlich und für uns unvorbereitet tief und verzerrt. Er wird auditiv zu dem Monster, das unsere Begeisterung und unsere Begierde braucht, um zu existieren, wie er rappt: „I’m a need to see your fucking hands at the concert.“ Hawkins begreift Musikvideos als „a foil for everyday life“72, eine Formulierung, die sie in die Nähe unseres Verständnisses des Sakralen rückt. Auch Strategien, die zu dem Eindruck des Hyperembodiments beitragen, gehören aufgrund der Figur des Exzesses in ihnen und der Begehrensstruktur, die sie bedienen, zu den Formen des Sakralen. Die Repräsentation von Körper und die Affekte von Körpererfahrung durch das Musikvideo (und hier speziell das des Hip-Hop-Genres) im Hinblick auf Erotik mit Bataille im Sinne der Grenzüberschreitung zwischen Subjekt und Objekt und damit als Erfahrungsraum des Sakralen zu beschreiben, ist nur eine Möglichkeit, jene im Musikvideo repräsentierten, uns verführenden Blicke (Augen), Gesten (Hände, Körper) und Tänze (Körper) zu analysieren. In dieser Lesart steht die Verschmelzung von betrachtendem Subjekt und angeschautem Objekt in einem erotischen Moment im Vordergrund. Mit Bataille ergibt sich in Anlehnung an Hawkins’ Ausführungen und mit dem eigenen Blick auf Kanye Wests Körper in oben genanntem Beispiel durchaus für einzelne Musikvideoszenen auch die Frage nach dem Fetisch und dem Fetischbegriff und zwar entweder als Abgrenzung zur Erotik und zum Sakralen oder als Teil der sakralen Ökonomie – eine Frage, die im Folgenden gestellt wird. Ferner wird an die kursorische Erörterung zum Verhältnis von Sakralität und Fetisch bei Bataille die übergeordnete Frage nach den subversiven Möglichkeiten des Sakralen (im Rahmen der Hip-Hop-Musikvideos) gestellt.

72 S. Hawkins: Aesthetics, S. 481.

Sakralität, Subversion und Souveränität

Bevor in diesem Kapitel auf das Sakrale und die beiden Pole der Subversion und Souveränität eingegangen wird, soll eine knappe Diskussion des Fetischbegriffes vorgeschaltet werden. Die Notwendigkeit, den Fetischbegriff hier zu diskutieren, ergibt sich aus zweierlei Gründen: Zum einen müssen Hip-Hop-Musikvideos mit ihren erotischen, auch objektifizierenden Inszenierungen von Frauen als für den heterosexuellen männlichen Blick mit fetischisierenden Strategien arbeitend beschrieben werden. Zum anderen hat auch Bataille als Herausgeber der „Documents“ einen Fetischbegriff, den es von Erotik abzugrenzen und in die sakrale Ökonomie der unproduktiven Verausgabung einzuordnen gilt. Für Gangsta-Rap als Teil der US-amerikanischen Hip-Hop-Kultur beschreibt bell hooks 1994, dass er „sexist, misogynist, patriarchal ways of thinking and behaving“1 glorifiziere und ein Spiegel der (auch Weißen) US-amerikanischen Gesellschaft sei. Durch unkritischen Konsum der Massenmedien seien junge, Schwarze Männer zu jenen Gangsta-Rappern geworden, die die Werte der breiten US-amerikanischen Gesellschaft in ihren Musikvideos ausdrücken und inszenieren, argumentiert hooks. Diese zentrale Argumentation von hooks wird hier nicht weiter aufgegriffen, sondern lediglich als Beleg für die Beschreibung des durchschnittlichen „Hip-Hop-Musikvideo-Inventars“ angeführt, das zu einem Teil eben aus leicht bekleideten Frauen besteht, die ausschließlich für die Augen heterosexueller Männer sowohl im Clip als auch vor den Bildschirmen zu existieren scheinen. Als Beispiel sei hier Sir Mix-aLots Clip BABY GOT BACK2 von 1992 angeführt, der sowohl in einen postkolonialen race- als auch in einen gender-Diskurs zu stellen ist. Zu Beginn des Clips, in dem Sir Mix-a-Lot frei heraus den Po der afroamerikanischen Frau fetischisiert, drücken zwei

1

bell hooks: „Sexism and Misogyny: Who Takes the Rap? Misogyny, gangsta rap, and The Piano“, in: Z Magazine, February 1994, http://race.eserver.org/misogyny.html vom 16.08.2016.

2

Sir Mix-a-Lot: BABY GOT BACK, http://www.dailymotion.com/video/xm6ws_sir-mix-alot-baby-got-back_music vom 16.08.2016.

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Weiße junge Frauen ihr Unverständnis über eine Schwarze Frau aus, die ihren Po der Kamera präsentiert. Sie sagen unter anderem.: „I mean, her butt, is just so big. I can’t believe it’s just so round, it’s like, out there, I mean — gross. Look! She’s just so... black!“ Hautfarbe und Po werden hier durch Weiße Frauen auf ein erniedrigendes Stereotyp reduziert und kritiklos von Schwarzen Männern fetischisiert. Sir Mix-aLot sagt im Refrain, dass sein Penis (und nicht etwa er, sondern nur sein Penis) keinen Sex mit der Frau haben möchte, wenn sie keine ordentlichen Gesäßbacken hat: „My anaconda don’t want none unless you’ve got buns, hun.“ Der Song wird 2014 von Nicki Minaj in ANACONDA3 durchaus parodistisch gesampelt und auch das Musikvideo zeigt Minajs Spiel mit der Fetischisierung ihres eigenen Pos. Die Frage, die sich geradezu aufdrängt, ist, ob Minaj mit ihrer Performance den male gaze subversiv unterlaufen kann, indem sie ihn durch Überzeichnung kritisiert, oder ob die Parodie unerkannt und Minaj als Rapperin im objektifizierenden Blick des heterosexuellen Mannes gefangen bleibt. Diese zwei Beispiele seien hier nur exemplarisch für die Fülle von Hip-Hop-Musikvideos angeführt, die sich mühelos in den Diskurs zu Gender- und Ethnizitätsfragen stellen lassen. Der in der Reduzierung auf den Hintern beschriebene Fetisch sei nun in Verbindung mit Batailles Fetischbegriff gebracht. Der Fetisch ist bei Bataille ein „‚Gebrauchen von‘ [...], das keiner Ordnung der Nützlichkeit und somit auch keiner Verwertungslogik entspricht.“4 Mit dieser Bestimmung steht er in Verbindung mit der sakralen Ökonomie, wie Bataille sie für die absolute Verschwendung des Potlatsch beschreibt und die wir als „unproduktive Verausgabung“ kennengelernt haben. Andreas Oberprantacher macht auf Batailles immer wiederkehrenden Bezug zum Schuh, der nicht zum Laufen verwendet wird, aufmerksam. Unter Bezug auf Denis Hollier betont er Batailles Interesse an diesem Schuh als das Interesse an dem Gebrauchswert des Schuhs, wenn er gerade nicht zum Laufen gebraucht werde.5 Oberprantacher macht seine Thesen in seinem Artikel an den Fotos aus „Documents“ fest, welche Großzehen zeigen, und diskutiert den zuge-

3

Nicki Minaj: ANACONDA, https://www.youtube.com/watch?v=LDZX4ooRsWs vom

4

Andreas Oberprantacher: „Batailles großer Zeh. Fetischismus und Subversion in der Poli-

16.08.2016. tischen Ästhetik von Documents“, in: Christina Antenhofer (Hg.): Fetisch als heuristische Kategorie. Geschichte – Rezeption – Interpretation, Bielefeld 2011, S. 253-274, hier S. 267. 5

Ebd., S. 268.

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hörigen Aufsatz „Der große Zeh“, den Bataille ebenfalls in „Documents“ veröffentlicht hat.6 Jene Bilder beschreibt Oberprantacher als „irritierend und erotisch aufgeladen“7, und ersteres sind sie zweifellos. Die extremen Nahaufnahmen des einzelnen großen Zehs, die Wahl des Objektes für eine solche Nahaufnahme, das Erscheinen des Zehs ohne den Rest des Fußes irritieren. In der Argumentation des Autors verfolge Bataille mit diesen Fotos das Ziel, „Alternativen anzubieten angesichts von Verführungsstrategien, die unser Begehren hegemonial regulieren und berechneten Zwecken unterstellen“.8 Der Fetisch mit Bataille wird zu einem subversiven Instrument, vornehmlich eingesetzt, um kapitalistische Begehrensstrukturen aufzubrechen.9 Gilt denn dieses Verständnis vom Fetisch für das durchschnittliche Hip-Hop-Musikvideo, zum Beispiel für den Po in Sir Mix-a-Lots BABY GOT BACK und Nicki Minajs ANACONDA oder für Kanye Wests Körper in MONSTER? Können wir über den Fetisch in diesen Clips zu einer „neuen Sprache des Begehrens“ gelangen?10 Für die oben genannten Beispiele und für das Gros an Fetischen des US-amerikanischen Hip-Hop-Musikvideos kann Batailles Fetischbegriff nicht beansprucht werden. Wenn die Clips mit ihren visuellen (und auditiven) Strategien des Hyperembodiments Körperpartien hervorheben, vereinzeln und in ein Regime der Blicke und des Begehrens einbetten, dann geschieht das unter gängigen Schönheitsidealen. Die Musikvideos fetischisieren in der Regel weibliche Körperteile, den Hintern, den Busen, die Lippen oder die Augen. Die audiovisuellen Strategien kommen im Interesse des männlichen Blicks zur Anwendung und zeigen makellose, perfekte Bilder. Die so erschaffenen Fetische des Hip-Hop-Clips bekräftigen eher jene hegemonialen Begehrensstrukturen, die Bataille hätte umstürzen wollen. Anwendbar wird dieser Fetischbegriff für die Clips des Hip-Hops jedoch in jenen Momenten, in denen die Musikvideos mit Schönheitsidealen jenseits des gängigen Ideals, jenseits von Perfektion und Makellosigkeit arbeiten. Dann können sie als subversive Strategie im Sinne Batailles verstanden werden und es wäre denkbar, den Fetischbegriff Batailles zu gebrauchen. Sexualisierte und erotisierte Körper gehören zum Vokabular vieler Hip-Hop-Musikvideos. Exzessive Körperlichkeit wie im Hyperembodiment des Musikvideos beschrieben mag als Zeichen männlicher Überlegenheit, die sich Frauen gegenüber über sexuelle Dominanz ausdrücken möchte, interpretiert werden. Die Reduzierung auf

6

G. Bataille: „Le gros orteil“, in: Documents 1 (6, 1929), S. 297-302.

7

A. Oberprantacher: Fetischismus, S. 268.

8

Ebd.

9

Vgl. ebd., S. 270.

10 Laura Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino, in: Gislind Nabakowski et al. (Hg.): Frauen in der Kunst, Band 1, Berlin 1980, S. 30-46, hier S. 33.

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einen Po im Fall Sir Mix-a-Lots und Nicki Minajs lässt sich in die Tradition der Reduzierung Schwarzer Körper auf eine omnipräsente, unzähmbare Sexualität lesen. In beiden Fällen manifestieren sich Hierarchien entlang der Leitdifferenzen „MannFrau“ und „Schwarz-Weiß“. Die Inszenierung eines Hyperembodiments über visuelle und auditive Strategien in den Musikvideos schafft aber auch eine Nahwelt, wie sie Helms beschrieben hat, in der unsere Blicke einem Begehren folgen.11 In diese Nahwelt treten wir mit den Hauptfiguren des Hip-Hop-Musikvideos wie am Ausschnitt aus MONSTER gezeigt. Das Ermöglichen eines Verschmelzens mit dem Künstler oder der Künstlerin für die Zeit des Musikvideos lässt sich mit Batailles Formulierungen aus „Die Erotik“ als potentielle Grenzüberschreitung zwischen Subjekt und Objekt und als Übergang von der Diskontinuität eines einzelnen Wesens in die Kontinuität beschreiben. So sind diese Momente des Musikvideogenusses mit Bataille als sakral zu begreifen und wesentlich für die Faszination der Rezipienten. Die sakralen Momente, hier in der erotischen Nahwelt der Hip-Hop-Musikvideos erfahrbar, sind Teil einer sakralen Inszenierungsstrategie vor allem des Stars und wesentlich verantwortlich für die Bindungskraft der Musikvideos und ihre Faszinationskraft.

Sakralität und Souveränität Die Studie „Die Souveränität“ aus dem Jahr 1956 ist ein relativ spätes Werk Batailles. In ihm entwickelt er seine Souveränitätsvorstellung auf gesellschaftlicher Ebene insgesamt wie für die Rolle von Kunst und Literatur innerhalb der Gesellschaft. Ziel jeder Souveränitätsbewegung sei das Subjekt oder die Behauptung des Subjektes.12 Er widmet sich also der Frage, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen Souveränität gegeben sein kann und wie der Künstler und die Künstlerin (und das liebende Paar) souverän sein können. Besonders die Affirmierung des Subjekts kritisiert Jean-Luc Nancy, denn er liest sie als getrennt von Gemeinschaft und damit in Batailles Theorie als ein Paradoxon mit Blick auf die Gemeinschaft oder das Erleben der Gemeinschaft, das für Bataille bis dato das zentrale Anliegen seiner theoretischen Forschung wie seiner Praktiken im Kreis von Acéphale war. Souveränität ist für Bataille – erstaunlicherweise – in der sonst zweckfreien Ökonomie eine Frage nach dem Zweck, nämlich nach dem Zweck des eigenen Lebens,

11 Batailles Fetischbegriff bietet zudem ein Instrument, extreme Abweichungen von im Musikvideo ansonsten porträtierten Schönheitsidealen zu analysieren. 12 Georges Bataille: Die psychologische Struktur des Faschismus/Die Souveränität, in: Elisabeth Lenk (Hg.), München 1978, S. 72. [Originaltitel: „La Souveraineté“, zuerst erschienen in: Monde nouveau 101-103 (Juni-September 1956).] Im Folgenden zitiert als G. Bataille: Souveränität.

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und jeder muss sich entscheiden, für welchen souveränen Wert er lebt. „Schließlich muß ich sagen können, für welchen Zweck ich lebe, muß ich den souveränen Wert bestimmen, in Hinblick auf den ich bin.“13 Diese Frage führt ausschließlich auf das Selbst zurück und auf die Möglichkeiten der Bestimmung des Selbst. Bataille stellt in „Die Souveränität“ die Frage, die ihn in allen seinen Werken beschäftigt hat und der in dieser Arbeit implizit schon in der Erörterung der unterschiedlichen Bereiche des Sakralen nachgegangen wurde: Wie wird das Sakrale zu einer Möglichkeit für den Menschen, souverän zu sein?14 Dieses Kapitel diskutiert, welche Möglichkeiten bestehen, an Souveränität heranzureichen – denn letztlich bleibt die Souveränität eine Utopie –, und welche Arten oder Abstufungen des Souveränseins bei Bataille gedacht werden. In diesem Zusammenhang geht es der Frage nach, wie Verdinglichung funktioniert, das heißt, wie Objekte (und Subjekte) entstehen und wie diese in Bezug zur Souveränität zu setzen sind. Das Kapitel arbeitet heraus, welchen Stellenwert Dinge für das Souveränsein des Menschen gegenwärtig haben, um in letzter Konsequenz zu erörtern, wie der Mensch einmal verloren gegangene Souveränität wieder erleben und wie sie als subversive Kraft gegen Herrschaft und Homogenität wirken kann. Diese Fragen werden nicht für sich oder für eine Bataille-Diskussion gestellt, sondern um in einem letzten Schritt zu fragen, ob unter den gegebenen Vorgaben von Souveränität und durch die Inszenierung des Sakralen in Musikvideos eine momenthafte Befreiung aus der Subalternität des verlängerten, im Hip-Hop gegenwärtigen verlängerten postkolonialen Diskurses möglich wird. Bei Bataille gibt es mehrere Arten oder graduelle Abstufungen des Souveränseins und der Souveränität: Auf der einen Seite ist der Mensch in der archaischen, immanenten Welt souverän, da diese Souveränität das Sakrale ist. Als Teil dieser Welt ist er unbedingt souverän. In der gegenwärtigen Welt oder überhaupt nach Erschaffung der profanen Welt und nachfolgenden Gesellschaftsordnungen ist das anders. Dort denkt Bataille Souveränität, indem er vor allem Kunst – und damit den/die Künstler/in – als souverän entfaltet. Er setzt einmal „die Welt des Sakralen in ihrer ursprünglichen polytheistischen Bestimmung vor aller historischen Zeit“ und zum anderen „die souveräne Kunst, die als authentische der Geschichte immer auch enthoben ist“ als Möglichkeiten, authentische Souveränität zu denken.15 Aus diesem Grund schließt an dieses Kapitel eine einzelne Betrachtung der souveränen Möglichkeiten von und in Kunst und Literatur an.

13 G. Bataille: Souveränität, S. 48 [Kursivierung wie im Original]. 14 Vgl. Rita Bischof: Souveränität und Subversion. Georges Batailles Theorie der Moderne, München 1984, S. 94: „[...] das Sakrale ist nicht die einzige und nicht die höchste Form der Souveränität [...]“ 15 R. Bischof: Gesichtspunkt, S. 95.

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Eine Möglichkeit des Souveränseins ist, Zugang zum Sakralen zu haben. Hier kommen die Verbote, ihre Überschreitung und insgesamt die heterogene Welt, zu der wir momenthaften Zugang erfahren, wie wir sie weiter oben aus unterschiedlichen Perspektiven kennengelernt haben, ins Spiel. Souveränität und das Erfahren des Sakralen ist bei Bataille gewissermaßen immer ein letztes Ziel, zu dem wir von einem gegenwärtigen Standpunkt aus gelangen müssten. Im Denken Batailles ist dieses „Gelangen“ ein „Zurückkehren“, denn wir haben das Gefühl oder den momenthaften Zustand der Souveränität im Laufe unserer Entwicklung verloren. In einer im Grad der Souveränität absteigenden zeitlichen Reihenfolge denkt Bataille die archaischen Gesellschaften als von einer größtmöglichen Souveränität gekennzeichnet, die Gesellschaft der „Priester und Könige“ als die, in die das Homogene, die Arbeitswelt oder Dinge bereits eingezogen sind, und die gegenwärtige Welt, die von einer zunehmenden Verbindung von Macht und Souveränität, die dann in dieser Verbindung keine wirkliche mehr ist, geprägt ist.16 An die vorgeschichtliche Phase („vor aller historischen Zeit“) schließen sich Gesellschaftsformen an, die alle nicht mehr an echte Souveränität heranreichen. In ihnen ist Souveränität nur noch in widersprüchlichen Formen möglich.17 In der zweiten Gesellschaftsform, die wir von Batailles Einteilung in Religionsformen kennen und die dazu analog entwickelt ist, haben wir es mit der Herrschaft der Priester, Könige und Fürsten zu tun. Diese „imperative monarchische Souveränität ist dadurch definiert, daß in ihr zwar die Verausgabung die Produktion bestimmt, daß aber nicht alle Elemente der Souveränität eingesetzt werden“.18 Zu Beginn seiner Ausführungen erzählt Bataille vom Umzug der Königsfamilie durch die Menschenmenge, bei dem die Menschen ein Wunschbild von sich selbst vorbeiziehen sehen als „letzte Zuckungen traditioneller Souveränität.“19 Ähnlich wie er es in seinem Aufsatz zum Faschismus für die Figur des Führers herleitet, denkt er den Monarchen als leibgewordene Gesellschaft.20 Der Rapper, als Prophet und Heiliger von seinen Fans bewundert, von der Forschung konkret so beschrieben und in

16 Vgl. R. Bischof: Souveränität und Subversion, S. 21-23. 17 Das ist der Fluchtpunkt, der meines Erachtens bei Nancy aus dem Blick gerät. Bataille war sich bewusst, dass Souveränität a) utopisch und b) in mehreren, für sich genommen je widersprüchlichen Formen zu erleben ist – auch die vermeintliche Widersprüchlichkeit zwischen Intimität im liebenden Paar und der Gemeinschaft, die Bataille gesucht hat, ist bei ihm letztlich keine so scharfe, wie Nancy sie sieht. 18 R. Bischof: Gesichtspunkt, S. 98. 19 G. Bataille: Souveränität, S. 73. 20 Hier zeigt sich bei Bataille – grob gesprochen – die grundlegende Überzeugung, die schon Durkheim ausformuliert hat: In der Religion zeigt sich die Gesellschaft, oder Religion ist die Gesellschaft.

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der Bataille’schen Terminologie auch als solcher fassbar, ist demnach die Inkarnation der US-amerikanischen Gesellschaft. Religion, so Bataille, habe lange die Subjektivität, die die Souveränität verlange, in ihren Versprechungen und vor allem in der Figur Gottes geboten und diese gegenwärtig verloren.21 Auch der Authentizitätsanspruch, der in der Hip-Hop-Kultur kursiert und den Fans an die Künstler/-innen stellen und dem diese versuchen, gerecht zu werden, lässt sich in Batailles Formulierung zur affektiven Kraft des Führers wiederfinden. Die sogenannte „street credibility“ beschreibt Tricia Rose: „[R]appers’ own credibility rests on convincing their fans that they are telling the truths in their rhymes about having come from the toughest urban poor environments and thus knowing personally what it's like to experience drug dealing, street crime, jail, and so on.“22 Bataille formuliert: „Des Führers tiefgreifende Wirkung besteht darin, daß er die Verlassenheit und das Elend des Proletariats durchlebt hat.“23 Ihr vormaliges „Elend“ verkehrt sich ins Gegenteil und macht die Strahlkraft der Hip-Hop-Superstars aus. Die Rapper als Propheten und Heilige sind dies am ehesten noch in Batailles Verständnis eines transgressiven Sakralen, denn sie umarmen geradezu Erotik, Sex, Gewalt und Tod in einer Weise, wie es geballt keine vergleichbare gegenwärtige kulturelle Praxis inszeniert. Damit nehmen sie genau nicht die Position des Souveräns ein, die Bataille als verhängnisvoll beschreibt, sondern sind eine Antwort auf diese Figur. Erklärend dazu führt Rita Bischof aus, wie das Sakrale in eine linke und rechte Seite gespalten wird und wie Macht jetzt außerhalb des Sakralen, aber an und mit ihm zum Tragen kommt: „Die Position des Souveräns ist nunmehr mit einer Funktion verknüpft, die im sadistischen Akt des Ausschlusses der Elemente eines niederen Heterogenen besteht. In den ursprünglichen grenzenlosen Raum des Sakralen wird eine Grenze eingeführt, durch die das unreine Sakrale ferngehalten und auf diffuse Weise mit dem Profanen vermischt wird. Gleichzeitig wird ein höheres, als vollendet gedachtes Sein oder Wesen hypostasiert, auf das sich die Aspirationen aller richten. [...] Durch den Ausschluß des unreinen Sakralen aus der Sphäre der Souveränität wird dem sozialen Sein eine hierarchische Form aufgeprägt. [...] Der Souverän steht an der Spitze der sozialen Hierarchie, die ihn trägt und deren Sinn er determiniert. Ihm, der darin die Form einer exklusiven, eifersüchtigen Autorität annimmt, so nahe wie möglich zu kommen, ist der Sinn jener atemlosen Gravitation auf der Stufenleiter der sozialen Würden.“24

21 Vgl. G. Bataille: Souveränität, S. 74. 22 Tricia Rose: The Hip Hop Wars. What We Talk About When We Talk About Hip Hop – and Why It Matters, Philadelphia 2008, S. 189. 23 G. Bataille: Faschismus, S. 35. 24 R. Bischof: Souveränität und Subversion, S. 23-24.

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Es ergibt sich eine Hierarchisierung, die es, nimmt man Batailles Ideal des souveränen Wesens ernst, zu sprengen gilt, um überhaupt wieder zur Möglichkeit eines solchen souveränen Seins zu gelangen. Wenn Rapper als Souveräne gedacht werden – die Attribute als Stars haben sie ja –, welche Konsequenz ergibt sich hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Position? Der Rapper als leibgewordene US-amerikanische Gesellschaft im Sinne des Souveräns in Batailles traditioneller Ordnung (Stufe 2) wäre ein aus gegenwärtiger Perspektive und mit Bataille sprechend vollzogener Rückgriff: Der Rapper bedient sich sakraler Elemente und es ist im Hinblick auf den race-Diskurs nur zu folgern, dass er dies mit dem Ziel, sich aus einer Unterlegenheit zu befreien, tut. Welcher aber Qualität ist die Souveränität, die er zu erreichen sucht? Batailles „dritte Stufe“ in der historischen Entwicklung des Sakralen und gleichermaßen der Souveränität ist die bürgerliche Gesellschaft. Der feudalen wie der bürgerlichen Gesellschaft ist gemein, dass sie „der unproduktiven Verausgabung keine soziale Funktion mehr“ zubilligen. „Die Werte der Produktion und der Erhaltung, also nützliche und reaktive Werte, nehmen in ihnen die Stelle ein, die zuvor Souveränität innehatte.“25 Auf dieser gesellschaftlichen Entwicklungsstufe, die er als eine „post-religiöse“ kennzeichnet, denkt er den Tod Gottes und eine dementsprechende Atheologie. Das Fehlen der einen transzendenten Größe bedingt, dass es kein Sakrales in einer Transzendenz mehr gibt, und damit muss das Sakrale in seiner Ambivalenz in der Welt des Profanen, in der Immanenz, gedacht werden. Auf der dritten Stufe in Batailles Chronologie des „Rückzugs der rein sakralen Welt“ entfaltet sich eine Gesellschaft, in der der Tod Gottes „stattgefunden hat“ und in der sich dem Menschen neue Möglichkeiten bieten, sich selbst ein „Gott zu werden“, wie die F.A.Z. über Jay Z getitelt hat.26 Bataille betont den „sich jetzt erst eröffnenden Erfahrungsraum, innerhalb dessen der Mensch die früher von Gott in Anspruch genommene Totalität, Freiheit und Souveränität für sich selbst reklamieren kann“.27 Hier übernimmt Kunst die Funktionen, die vorher Religion erfüllte, folgt man Bataille: „Die Suche nach der Subjektivität hat sich zunächst in Richtung auf die Religion verlagert. Doch dann haben die offiziellen Religionen ihre einstmals ausschließliche Anziehungskraft verloren. [...] So hat die Menge sich seit Urzeiten spektakuläre Individuen erwählt, die ihr stellvertretend vorlebten, was sie selbst unmittelbar nicht leben konnte, sondern nur im Blick auf diese souveränen Individuen (in gleicher Weise wurde der Tod nur im Schauspiel des Opfers

25 R. Bischof: Gesichtspunkt, S. 98. 26 A. Baum: Er ist einfach Gott geworden, o.S. 27 P. Wiechens: Einführung, S. 17.

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erfahren und gewürdigt). Aus den gleichen Gründen erfahren wir heute die Intensität des inneren Lebens nur vermittels der Betrachtung von Dingen, wie beispielsweise von Kunstwerken, die für uns letztlich die Rolle spielen, die einst die Könige spielten.“28

„Die Ordnung der traditionellen Souveränität“, wie es oben hieß, ist die des Sakralen. Das Sakrale selbst ist die Sphäre der Souveränität, oder vielmehr wird das SouveränSein erst möglich, wenn das Sakrale evoziert oder produziert wurde. In der Ordnung des Sakralen kann der Mensch wirklich souverän sein. Als das Profane in diese Ordnung einbrach, wurden Mittel gefunden, das Sakrale zu halten: Religion übernahm die Funktion, Sakrales erfahrbar sein zu lassen. Mit dem Rückgang ihrer Wirkungskraft, so argumentiert Bataille, komme die Funktion des Erfahrbarmachens von Sakralität Kunst und Literatur zu. Religiöse Symbole in den Musikvideos wären demnach als Zugänge zu einem Sakralen lesbar. Ihre Einbindung, Zitation oder Inversion wäre ein Versuch des Heranreichens an das Sakrale. „Souverän ist die menschliche Aspiration nach einem Wunderbaren, das den Gesetzen der Subordination entzogen ist; souverän ist die Negation der Bedingung, an die die menschliche Existenz normalerweise gebunden ist; souverän ist mit einem Wort der Augenblick, in dem das von Knechtschaft gezeichnete Leben seine Fesseln abschüttelt und in einen Bereich eintritt, der durch die Gegenwart des Göttlichen hinreichend bezeichnet wird. Es ist dies eine Sphäre, in der das Unmögliche plötzlich möglich wird: impossible et pourtant là. Die Gegenwart des Souveränen wird dadurch markiert, daß sie eine plötzliche Umkehrung des gewöhnlichen Laufs der Dinge suggeriert.“29

Mit diesen Worten beschreibt Bischof das subversive Element, auf das Bataille in all seinen Studien hinauswill. Diese Ausführungen geben zu erkennen, dass der Mensch nach „dem Wunderbaren“ strebt, um sich aus Konstellationen, die Herrschaft und Knechtschaft möglich machen, zu lösen. Das Souveräne ist das Sakrale und wirkt, wie Bischof beschreibt, subversiv; Gegensätze werden nivelliert. Das Sakrale selbst ist die Sphäre der Souveränität und das Souverän-Sein wird erst möglich, wenn das Sakrale evoziert oder produziert wurde. Dieses Sakralen, das das Potenzial zur Souveränität des Menschen oder von Gruppen in sich birgt, bedienen sich US-amerikanische Hip-Hop-Musikvideos, so die These, die für die nachfolgenden Analysen zu bekräftigen gesucht wird. Zur Erläuterung des Subversionspotenzials sei an dieser Stelle erneut ein Zitat aus Batailles Schrift „Die Souveränität“ angeführt:

28 G. Bataille: Souveränität, S. 74 [Kursivierung wie im Original]. 29 R. Bischof: Souveränität und Subversion, S. 12 [Kursivierung wie im Original].

108 | Z UR SAKRALEN DIMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS „Die Eigengesetzlichkeit der subversiven Formen erfordert, daß das, was niedrig ist, erhöht und das, was hoch ist, erniedrigt werden soll; in dieser Forderung drückt sich das Wesen der Subversion aus. Wenn die souveränen Formen der Gesellschaft immobil und beschränkt sind, bleibt den diversen, durch soziale Zersetzung in die Heterogenität verwiesenen Elementen nur übrig, sich den Gruppierungen anzuschließen, die sich als Resultat der Aktivierung der unterdrückten Klassen gebildet haben: ihr Los ist die Subversion.“30

Bataille erklärt einen grundlegenden und vor allem immer wiederkehrenden, scheinbar unumstößlichen Prozess des Ineinandergreifens von Homogenität auf der einen und Heterogenität auf der anderen Seite. Die einzelnen „sozialen Elemente oder Gruppierungen“, von denen er auf der Ebene der Unterdrückten spricht, ergeben analog zum Hip-Hop als einer von mehreren möglichen und tatsächlich subversiven Gesellschaftsbewegungen Sinn. Die Hip-Hop-Bewegung wäre demnach nur eine von mehreren möglichen Gruppierungen, die subversiv und in Abgrenzung zu einer Dominanzgesellschaft agieren. Mainstream-Hip-Hop greift möglichst viele der bisher beschriebenen heterogenen Elemente auf und kann so vereinzelte Gruppen ansprechen und als eine größere Zielgruppe mobilisieren. Darin zeigt sich zugleich die Macht der Mainstreamisierung: Die heterogenen Zeichen und Codes in einem einzelnen Musikvideo machen es für eine größere Zielgruppe interessant. Es ist in diesem Befund also gleichzeitig auch ein ökonomisches Kalkül zu vermuten. Genauso gibt es heterogene Elemente, die in einer bestimmten Konstellation nur im Hip-Hop vorkommen, und nicht im Rock oder im Heavy Metal. Daraus lässt sich die These formulieren, dass Hip-Hop ein nur ihm spezifisches Sakrales hervorbringt.

Die Instrumentalisierbarkeit des Sakralen In seiner Schrift über den Faschismus erklärt Bataille das Sakrale grundsätzlich für instrumentalisierbar. Die Kraft des Sakralen und seine Verbindung zum Faschismus zu Batailles Lebzeiten ist für ihn und die Mitglieder des Collège de Sociologie mithin auch der Grund, sich forschend mit ihm zu beschäftigen. Verschiedene Wissenschaftler thematisieren die wichtige Frage nach der Instrumentalisierbarkeit mit dem Moment, an dem das transgressive Sakrale in die eine oder die andere Richtung kippt, wann es positiv gemeinschaftsstiftend und wann es faschistisch und vernichtend wird. Stoekl macht uns auf diese Problematik des Unentscheidbaren in der Bestimmung des Sakralen aufmerksam und leitet aus Batailles Kritik am Christentum ab: „Bataille [...] indicates with what ease impure heterogeneity, in the form of the bleeding body of Christ, comes to be imperative heterogeneity: Christ after he has died

30 G. Bataille: Souveränität, S. 40.

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ascends to heaven and guarantees a finally regressive social structure.“31 Ausgehend von dieser schwierigen Trennung der zwei Färbungen des Heterogenen folgert er: „Could we not argue that [...] as soon as a given form of impure heterogeneity comes to be seen as a positive value, it will itself become imperative?“32 Daran hängt ein weiteres Problem bei Bataille, das Stoekl thematisiert: Das Sakrale in Batailles Theorie wird als für Gesellschaften zwingend notwendig erachtet und auch so aufgebaut: Es ist eine Kraft, die Gesellschaften hervorbringen, um sich ihrer zu versichern oder sich zu modifizieren – immer aber bleibt das Sakrale in der Sozialtheorie Batailles zweckgebunden; dies auch, wenn von zweckfreier Verschwendung oder in Batailles Terminologie von unproduktiver Verausgabung die Rede ist.33 Stoekl bietet mit Bataille selbst eine wenn auch eher unkonkrete Lösung an: „Effervescence, the subversive violence of the masses, the baseness of their refusal to enter into boring discussion – all these things, then, without a clear and correct (even if boring) theory behind them, could easily be reversed into fascism, as Bataille quickly became aware.“34 Auch ein subversives, nicht imperatives und über den Verlust positiv gemeinschaftsstiftendes Sakrales brauche Regeln oder Ordnung, eine dahinterliegende Theorie, argumentiert Stoekl mit Bataille. Dieses dürfe aber keinesfalls von einem Führer ausgehen; es dürfe keine statische Ordnung, keine Hierarchie entstehen.35 Vielmehr müsste sich idealiter gesprochen Sakrales und Profanes, Heterogenes und Homogenes prozesshaft in einem kontinuierlichen, aber unvorhersehbaren Nach- und Miteinander abwechseln. Das Sakrale müsste Ordnung außer Kraft setzen, ohne dabei Ordnung zu affirmieren, was schwer vorstellbar erscheint, bleibt das Sakrale doch funktional eingebunden, um die Arbeitswelt zu ermöglichen oder zu erhalten. Homogenität und Heterogenität bleiben untrennbar miteinander verbunden. Kennzeichen des Sakralen nach Bataille, wie es Stoekl hier zu betonen versucht, wäre demnach die Spannung zwischen Ordnung und deren Subversion, der Moment, indem weder das eine noch das andere Oberhand gewinnt. Der Theaterwissenschaftler Alexander Kuba sieht das Sakrale – nicht nur in Batailles Konzeption – als eine „politisch funktionalisierte Form der Remythisierung“36 und damit per se als eine instrumentalisierte Kraft und Größe. Er kommt in seiner Geschichte des Sakralen in der Gegenwart zu dem Schluss, dass sich folgende Umwertung vollzogen habe: „Die ordnungsstiftende, heilbringende Seite des Heiligen

31 A. Stoekl: Introduction, S. xvii. 32 Ebd. 33 Vgl. ebd. 34 Stoekl spielt hier auf Batailles Vorwurf der Langweiligkeit von Gesellschaftstheorie an, wie er ihn bei einem Contre-Attaque-Treffen im November 1935 äußerte, vgl. S. xvii. 35 Vgl. ebd. 36 A. Kuba: Schrecken, S. 25.

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wird als oppressive Struktur und Machtdispositiv lesbar, die desintegrative, gefährliche, linke Seite als subversiv.“37 Er konstatiert weiter, dass es bezüglich der Polarität des Sakralen, die es vom einen in den anderen Moment umschlagen lassen könne, zu einer Aufwertung des linken Pols gekommen sei: „Ambivalent ist nun, was sich der (sprachlichen, sozialen, sexuellen, rechtlichen, moralischen, kurz: symbolischen) Ordnung nicht vollständig unterordnet, was sich der Kodierung entzieht und so ein spezifisch subversives Pathos des Ausgeschlossenen begründet, das die Instanz der Ausschließung fortan heimsucht.“38

Innerhalb dieses Fazits zum Sakralen in Moderne und Postmoderne siedelt sich auch Batailles Definition eines Sakralen an. Kubas Aussage trifft in den Kern: Die subversive Seite des Sakralen, die in ihm für den Menschen liegenden Möglichkeiten zur Souveränität, sind Batailles ureigenstes Forschungsinteresse. Zwar ist bei Kuba zu lesen, dass sich bei Bataille die Dichotomie von Anziehung und Abstoßung als Leitdifferenz innerhalb des Sakralen entspinne, doch scheint sie mir zur oben zitierten These, das rechte Sakrale sei ein Machtdispositiv, im Widerspruch zu Batailles Konzeption zu stehen. Das linke Sakrale bei Bataille, hergeleitet aus den dunklen, überschüssigen und intimen Lebensbereichen, birgt in sich ein hohes Gefahrenpotenzial für Individuum und Gesellschaft. Das ist jedoch keine Frage von links oder rechts. Das Sakrale droht immer, das Individuum in seinem Kern, in seiner Intimität zu berühren und Gemeinschaften auch unter faschistischer Fahne zu bilden – trotz allen subversiven Potenzials gegen oppressive Machtdispositive, um Kubas Formulierung noch einmal aufzugreifen. Deswegen stellt sich überhaupt erst die Frage, in welchen Kontexten und unter welchen Bedingungen sich ein subversives Sakrales entfalten kann, genauso, wie die Frage nach der Wirksamkeit erst dann aufkommt, wenn das Sakrale (als Kraft immer vorhanden) sich mit etwas verbindet, das es zu einem Machtdispositiv werden lässt. Das Sakrale ist potentiell gefährlich – sowohl in seiner Anziehung als auch seiner gleichzeitigen Abschreckung.

37 A. Kuba: Schrecken, S. 185. 38 Ebd., S. 185.

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Der souveräne Mensch und seine Bedingungen Bergfleth schreibt, dass der „souveräne Mensch zugleich der heillose, der böse, der unmögliche Mensch“ sei.39 Damit ist gemeint, dass Souveränität bei Bataille per se als Utopie angelegt ist. Gleichzeitig bewegen wir uns mit dem Souveränitätsbegriff wieder in einer der „umgedrehten“ Denkfiguren, die wie immer bei Bataille auf ihre Art „andersherum“ funktionieren. Der Mensch ist nicht heilvoll und gut, sondern heillos und böse, wenn er souverän ist – und das kann er maximal in Graden, aber nie total sein. Souveränität passiert: „Die Souveränität kann nicht intendiert werden –: Sie ist kein Ziel, das beharrlich verfolgt werden könnte, bis es erreicht wäre. Gerade wenn wir nach ihr streben, verfehlen wir sie, weil wir sie dann zu einem Projekt herabwürdigen, das dem Vernunftkalkül der Machbarkeit unterworfen ist.“40 Bei Bataille selbst heißt es dazu: „In der Ordnung der traditionellen Souveränität, deren Prinzip es ist, nicht zu der Welt der Dinge (der Arbeit) zu gehören, entspringt die Würde nicht unmittelbar aus den Dingen, sondern aus dem Subjekt. [...] Die souveräne Qualität gleitet unmerklich von der Person, die die Dinge benutzt, auf die besessenen Dinge. Der Souverän ist nicht dieses Wesen hier, dessen Name so oder so lautet; er ist der Besitzer seiner Güter, seiner königlichen Residenzen.“41

In der Gegenwart liegt die Souveränität dem Schein nach bei den Dingen oder Objekten. Wir müssen uns selbst zu Objekten werden, um uns zu erkennen. Bataille leitet das wie folgt her: Neben dem Werkzeug haben die Menschen „Tiere, die Pflanzen, andere Menschen“42 auf dieselbe Ebene des Werkzeugs gestellt, sie zu Objekten und Dingen gemacht. Letztlich, schreibt Bataille weiter, müsse auch das diese Ordnung festlegende Subjekt sich selbst zum Objekt werden. Diese Vergegenständlichung meint „die Herstellung einer objektiven Gegenstandswelt, die sich auf dem Wege des Transzendierens aus der ursprünglichen Immanenz herauslöst“.43 Transzendieren ist also Vergegenständlichen, womit Dinge per se transzendent sind und so

39 Gerd Bergfleth: „Die Souveränität des Bösen. Zu Batailles Umwertung der Moral“, in: Gerd Bergfleth (Hg.): Georges Bataille. Die Literatur und das Böse (= Das theoretische Gesamtwerk in Einzelbänden), München 1987, S. 189-236, hier S. 197. Im Prinzip ist bei Bataille der souveräne Mensch auch der tote Mensch, denn der Tod ist der Fluchtpunkt jeder Entgrenzungsbewegung in der Theorie Batailles. 40 G. Bergfleth: Souveränität des Bösen, S. 199. 41 G. Bataille: Souveränität, S. 56. 42 G. Bataille: Theorie der Religion, S. 29. 43 Vgl. G. Bergfleth: Weltimmanenz, S. 214.

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überhaupt erst als vom Subjekt verschieden wahrgenommen werden können. Wir haben Gegenstände und Besitz mehr und mehr zu Dingen gemacht, die eine Macht über uns haben. Wir meinen, mit den Dingen Souveränität zu erlangen – tun dies letztlich aber nicht. Einen besonderen Stellenwert haben Dinge und der Besitz von Gegenständen offensichtlich im Hip-Hop. Für die materialistische Welt der Hip-Hop-Musikvideos mit ihren religiösen, königlichen, Status und Macht suggerierenden Symbolüberlasten, den SUVs, Goldketten und Platinuhren stellt sich die Frage: Kann sich in diesen Musikvideos eine echte Souveränität im Verständnis Batailles entfalten? Oder eher: In welchem Grad ließe sich von einer Souveränität der Rapper als „Souveräne“, als Könige oder Priester sprechen? „[N]ur den Sinn, der den Aufstieg rechtfertigte, gibt es nicht mehr“, resümiert Bataille nach einer Aufzählung von Dingen, die Statussymbole sind („diese Kleider, diese Möbel, diese Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände [...]“).44 Der Sinn, nämlich das letzte Ziel aller Bewegungen, das souveräne Wesen, souverän aus sich selbst heraus, ist nicht mehr im Blick. Dinge als Vermittler sind in den Fokus gerückt, doch „die immense Summe der Anstrengungen, die beträchtlichen Verausgabungen, die in die Klassifikation des Menschlichen eingegangen sind, werden nicht mehr auf das Bild von Souveränität bezogen, das ihnen Sinn gab: was bleibt, ist die bloße Hülle eines menschlichen Lebens, um dessentwillen jeder einen unversöhnlichen Kampf gegen alle führt.“45

In seiner „Theorie der Religion“ schreibt er: „Die profane Welt muß als solche zerstört werden, das heißt, alles, was in der kapitalistischen Welt als ein Ding gegeben ist, das den Menschen transzendiert und ihn beherrscht, muß auf den Zustand eines immanenten Dinges reduziert werden, indem es der Konsumtion durch den Menschen untergeordnet wird.“46 Aus welchen Bereichen kommen die Gegenstände, die als Props in Musikvideos ähnlich dem Film eine zentrale Funktion haben? Haben Gegenstände, die aus sakralen Bereichen stammen oder die symbolhaft für Bereiche des Sakralen stehen, das Potenzial, den Rapper zu sakralisieren und damit souverän sein zu lassen? Bataille würde mit „Nein“ darauf antworten. Er schreibt: „Einzig der Glaube an eine objektive Überlegenheit schafft also eine tatsächliche Unterlegenheit, eben aufgrund der modernen Unfähigkeit, die Objektivität der Macht von der souveränen Subjektivität zu trennen: unterlegen ist allein der Glaube an eine von Dingen sich herleitende Überlegenheit.“47 Durch Gegenstände aus dem Bereich des Sakralen

44 G. Bataille: Souveränität, S. 61. 45 Ebd. 46 G. Bataille: Theorie der Religion, S. 145. Auch von Bergfleth zitiert in Weltimmanenz, S. 244. 47 G. Bataille: Souveränität, S. 84.

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oder durch eine sakrale Inszenierungsstrategie, wie sie Musikvideos oft gebrauchen, entsteht der Schein der Souveränität, denn diese Inszenierungen sind mit Bataille der Ausweis des Mächtigseins. Nur unterscheiden können wir dies nicht mehr; wir unterliegen der „modernen Unfähigkeit“, Macht und Souveränität voneinander zu trennen. Deswegen können props im Clip sakral sein und den Rapper sakralisieren (dem Anschein nach) und ihn in einer zweiten Stufe souverän machen –, aber ihn nicht zum souveränen Subjekt ersten Grades werden lassen. Bataille unterscheidet demnach zwei Kategorien von Souveränität: „Einer gewissermaßen entstellten Form einerseits, die sich der ursprünglichen Souveränität [in der archaischen Welt, in der Immanenz, Anm. E.S.] entgegensetzt, und andererseits einer Form von Souveränität, die diese Entstellungen entlarvt.“48 Ein Rapper kann sich letztlich in Batailles Denken mit noch so viel sakraler Symbolik oder bei noch so vielen Opfer- und Verschwendungsgesten versuchen, Sakrales für sich zu inszenieren oder sich als sakral zu präsentieren – wahre Souveränität wird ihm durch sein Machtstreben nie zuteil.49

Kritikpunkte an Batailles Sakralsoziologie Bis hierher wurde in diesem Kapitel vor allen Dingen die Souveränität im Hinblick auf ihre Erreichbarkeit, ihre Abstufungen und die Wirkungen von Souveränität im gesellschaftlichen System diskutiert. Dabei muss zunächst festgehalten werden, dass Souveränität mit Bataille nie ganz oder endlich zu erreichen ist, sondern eine momenthafte Erfahrung ist, die u.a. im Erleben des Sakralen möglich ist. Batailles Sakralsoziologie ist freilich vielfach kritisiert worden.50 In diesem Abschnitt werden Kritikpunkte aufgegriffen und diskutiert, wenn sie ein besseres Verständnis des Sakralen für diese Arbeit ermöglichen. Das Sakrale in Batailles Theorie schafft es zumindest, momenthafte Verbindungen zwischen einzelnen Menschen herzustellen, und wird so zum Bindemittel für die von Bataille gewünschten, frei wählbaren Gemeinschaften. Mit der Suche nach der verlorenen Intimität, die im Selbstverlust des Individuums liegt, wie auch mit seinem Begriff von Souveränität stärkt Bataille das Individuum und den Subjektbegriff, wie Wiechens in seiner Einführung abschließend bemerkt.51 Bataille, so verstehe ich Wiechens hier, leistet einen wesentlichen Beitrag für ein Verständnis eines modernen

48 R. Bischof: Gesichtspunkt, S. 95. 49 Besonders die Analyse von Kanye Wests POWER zeigt, wie Macht und Sakrales verknüpft werden können. 50 Diskutiert oder aufgenommen haben Batailles Sakralbegriff u.a. Jean-Luc Nancy, Maurice Blanchot, Claude Lévi-Strauss und Georges Sadoul. 51 Vgl. P. Wiechens: Einführung, S. 117.

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Subjekts. In transgressiven Handlungen wie dem Opfern, in Erotik, Krieg und Folter ist der Mensch als handelndes Subjekt definiert, das physische wie psychische Grenzen überschreitet und damit mächtig ist.52 Durch die Betonung des Subjekts halte Batailles Theorie Antworten bereit auf die Frage, wie sich das Subjekt in der Gegenwart konstituieren könne, schreibt Peter Wiechens in seiner Einführung in Batailles Denken: „Da Bataille das Subjekt nicht lediglich in einen sich explosionsartig ausbreitenden Raum zerstreut, sondern seine Auflösung und Zerstreuung mit einer – wenn auch augenblickhaften – subjektiven Erfahrung souveräner Freiheit und Kommunikation verbindet, dürften seine theoretischen und literarischen Entwürfe vor allem auf die Frage, ob bzw. in welcher Form sich Subjekte überhaupt noch innerhalb des destruktiven poststrukturalistischen Universums zu konstituieren vermögen, interessante Antworten bereithalten.“53

Mit Boris Groys würden die im Medium des Musikvideos auftretenden sakralen Formen als Versuche des verzweifelten Subjekts lesbar, sich jenseits einzelner und unterschiedlicher Sprachen zu finden und auszudrücken. Das Rekurrieren auf Motive und Gesten des Sakralen in den Clips wäre eine „Universalsprache“ (Groys), die immer noch zu funktionieren scheint.54 Auch Jean-Luc Nancy hat sich in seinen Werken über „Gemeinschaft“ explizit auf Bataille bezogen und seinen Sakralbegriff thematisiert. Im folgenden Zitat hebt er Batailles Leistung, Gemeinschaft als Erfahrung (nämlich über das Sakrale) uns als das „Außer-Sich-Sein“ des Subjekts zu definieren, hervor: „So gesehen hat Bataille sicher als erster oder zumindest am intensivsten diese moderne Erfahrung der Gemeinschaft gemacht: die Gemeinschaft ist weder ein herzustellendes Werk, noch eine verlorene Kommunion, sondern der Raum selbst, das Eröffnen eines Raums der Erfahrung des Draußen, des Außer-Sich-Sein. Im Zentrum dieser Erfahrung stand die Forderung nach einem „klaren Bewußtsein“ der Trennung, das heißt nach einem „klaren Bewußtsein“ (nichts anderem als dem hegelschen Selbstbewußtsein nämlich, das jedoch an der Grenze des Zugangs zu sich selbst in der Schwebe bleibt,) darüber, daß die Immanenz, die Vertrautheit, nicht wiedergefunden werden kann und letztlich auch nicht soll, weil sie eben nicht wiederzufinden ist; diese Forderung kehrte zugleich die ganze Sehnsucht, die ganze Metaphysik der Einswerdung um.“55

52 Vgl. P. Wiechens: Einführung, S. 117-118. 53 Ebd. 54 Nach P. Wiechens: Einführung, S. 118. 55 Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1998, S. 45 [Kursivierung wie im Original].

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In seiner Aufsatzsammlung „Am Grund der Bilder“ ergründet Nancy u.a. die Kraft der Bilder, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und mehr noch: Intimität herzustellen. In den einleitenden Worten zum Aufsatz „Das Bild – das Distinkte“ schreibt Nancy von der Trennung zwischen dem Sakralen und der Religion, um in seiner Argumentation Bilder als distinkt und damit sakral erscheinen zu lassen. Er formuliert: „In einem gewissen Sinne stehen sich Religion und das Heilige so gegenüber wie die Verbindung dem Riß. In einem anderen Sinne kann die Religion als das dargestellt werden, was eine Verbindung zu dem abgetrennten Heiligen herstellt.“56 In diesen Gedanken bezieht er sich auch auf Bataille, wie er in einer Fußnote angibt, der, folgt man Nancy, über das Sakrale auch nicht anders gedacht habe, als es als „das Entfesselte – das Unanschließbare“57 zu begreifen. In diesem Aufsatz werden wir von Nancy also dezidiert auf ein Missverständnis aufmerksam gemacht, das es hier kurz anzusprechen gilt, weil es auch für das Sakrale in Batailles Verständnis und damit für diese Arbeit von Bedeutung ist. Das Sakrale bei Bataille ist zwar das Distinkte; in seinem sprengenden und entfesselnden Charakter, der es in Opposition zur Bindung und Einheitsstiftung von Religion stellt, ist es jedoch auch bindend – nur in anderer Weise. Für Bataille ist zentral, dass das Sakrale gemeinschaftsstiftend und damit implizit immer kurzfristig bindend ist. Bataille haben die frei wählbaren Gemeinschaften interessiert, die letztlich über eine Verlusthandlung „entstehen“. In „Der verfemte Teil“ schreibt er: „Es geht darum, den Punkt zu erreichen, an dem das Bewußtsein nicht mehr Bewußtsein von etwas ist. Mit anderen Worten, sich der entscheidenden Bedeutung des Augenblicks bewußt zu werden, in dem das Wachstum (der Erwerb von etwas) sich in Verlust auflöst, und genau das ist das Selbstbewußtsein, das heißt ein Bewußtsein, das nichts mehr zum Gegenstand hat.“58

In diesem (durchaus mystisch angehauchten) Nachdenken über den Verlust der Außenbezüge (nichts mehr zum Gegenstand zu haben) findet sich das Selbstbewusstsein, um sich im nächsten Moment wieder sehnsuchtsvoll zu entgrenzen und Gemeinschaft möglich zu machen. Batailles Gemeinschaftsverständnis ist ein nicht statisches, also prozesshaftes, ein Oszillieren zwischen Selbstbewusstsein und dessen Verlust, aber keinesfalls sind der Gemeinschaftsgedanke, die Kommunität, die Immanenz oder das Sakrale bei Bataille gänzlich utopisch. Eine Reinform des Sakralen, wie Nancy sie als Opposition zu Religion denkt, scheint hingegen utopisch. Aus diesem Missverständnis und der Deutung Batailles mithilfe Nancys wird für diese Arbeit

56 Jean-Luc Nancy: Am Grund der Bilder, Berlin 2006, S. 9. 57 Ebd., S. 13. 58 G. Bataille: Verfemter Teil, S. 233 [Kursivierung wie im Original]. .

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also die Idee aufgegriffen, dass das Sakrale gemeinschaftsstiftend wirken kann, dabei aber oktroyierten Bindungsmodellen wie dem der Religion abschwört. An dieser Stelle sei zum Zweck der weitergehenden Definition des Sakralen auf einen Kritikpunkt an Batailles Denken hingewiesen. Am meisten Kritik wurde Bataille für seinen Ursprungsmythos zuteil, also für seine chronologische Herleitung der Welt aus einem archetypischen Zustand des Sakralen hin zu einer Welt, die durch Arbeit, klare Herrschaftsverhältnisse und ein Rationalitäts- und Ökonomieprinzip gekennzeichnet ist. In seiner Studie zu Begriff und Konzept des Sakralen im theoretischen Diskurs verweist Alexander Kuba auf diesen Kritikpunkt: „Der Ursprungsmythos, den Bataille in der Théorie de la religion und in Lascaux ou la naissance de l’art entwirft, hat die narrative Grundform einer Verfallsgeschichte, die pragmatische Erklärungsansätze recht zügig beiseite schiebt. Die Vehemenz, mit der Bataille seine Argumentation forciert, zeugt auch von der Erklärungskraft, die dem Denkbild des Heiligen in der Moderne zugetraut wird.“59

Die Arbeit thematisiert Kritik an Bataille durchaus, schließt sich jedoch der von Kuba ausgemachten Erklärungskraft seines Modelles an, weil die Analogien zwischen Batailles Oeuvre im Hinblick auf die Bereiche und Funktionen des Sakralen und seinem Vorkommen in den zur Disposition stehenden Musikvideos für sich überzeugend sind. Dass die archetypische Konstruktion einer Welt des reinen Sakralen eine (zu) idealtypische und anhand historischer Fakten nicht immer belegbare ist, bringt am Phänomen Beschreibbares und in der Kultur des Hip-Hops zu Verordnendes nicht zu Fall. Letztlich ist das erklärte Ziel der Arbeit, die komplexen und oftmals inhärent widersprüchlichen Musikvideos gegen eine Vereinnahmung durch rein religiöse und religiös-konfessionelle Lesarten zu verteidigen. So sollen sie als Untersuchungsgegenstände mit einem eigenen Wert analysiert und diskutiert werden – eine Aufgabe, bei der Batailles Überlegungen zum Sakralen als äußerst nützlich und fruchtbar erscheinen. Umgekehrt gereichen die Musikvideoanalysen der Arbeit nicht dazu, Batailles Sakralsoziologie zu falsifizieren oder gar zu bewahrheiten. Auf einen wesentlichen Kritikpunkt, den der Sakralbegriff im Theoriediskurs immer wieder erfahren hat und den auch Bataille nicht gänzlich entwerten kann, verweist Moebius indirekt, wenn er im Nachwort zu seiner Mauss-Ausgabe Mauss an entscheidender Stelle zitiert, an der dieser durch die Nähe des „mana“ zum Sakralen auf die begriffliche Weite und damit die fehlende Trennschärfe und Schwäche des Begriffes hinweist:

59 A. Kuba: Schrecken, S. 121 [Kursivierung wie im Original].

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„Die Qualität des mana oder des Sakralen haftet an Dingen, die in der Gesellschaft eine ganz speziell definierte Position einnehmen, so daß sie häufig den Eindruck erwecken, als fielen sie aus der Alltagswelt heraus und entzögen sich dem alltäglichen Gebrauch.“60

Das „mana“ ist dem dichotomen Denken in profan und sakral vorgeschaltet, es bezeichnet eine Urform des Existierens außerhalb eines alltäglichen, logischen und rationalen Bereichs. Für Mauss’ Magiekonzept bedeutet dies zum Beispiel, dass Magie auch eine Form ist, die „mana“ freisetzen kann, während wiederum Religion dieses „mana“ in einer anderen Weise freisetzt. Mit dem Rückbezug auf das „mana“ als Grundlage für das Sakrale soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass in der begrifflichen Nähe zu Religion und zum Sakralen auch Konzepte wie Magie stehen, die nicht mehr schlüssig voneinander zu trennen sind. Bemühungen, sie zu beschreiben oder zu differenzieren, sind keine Reaktion etwa auf Phänomene der jüngeren Popkultur, wie zum Beispiel die Verwendung von religiösen Symbolen gemeinsam mit Zauberkraft und Magie in TV-Serien. Das theoretische Ausloten der dem Sakralen verwandten Konzepte ist so alt wie die Beschäftigung mit dem Sakralen selbst und keinesfalls eine Reaktion auf sich religiös ausdifferenzierende oder als Zeichen einer Säkularisierungs- oder Sakralisierungsbewegung zu lesende kulturelle Produkte. Wir werden durch diesen Umstand jedoch zu Recht darauf hingewiesen, dass das Sakrale begriffstheoretisch früh im 20. Jahrhundert problematisch war und es immer noch ist. Kuba stellt in seiner Studie zum Sakralbegriff einen Bezug zu Lévi-Strauss her und referiert dessen Kritik.61 Das „mana“, so Lévi-Strauss in der Einleitung zu Mauss’ Studie zur Magie, sei ein „Symbol im Reinzustand“ oder „ein symbolischer Nullwert.“62 In einer Fußnote wird Lévi-Strauss expliziter, wenn er schreibt, „[...] daß die Funktion der Begriffe vom Typus mana darin besteht, sich der Abwesenheit von Sinn entgegenzusetzen, ohne selber irgendeinen Sinn mitzubringen.“63 Was sich als vernichtendes Urteil liest, bekommt von Lévi-Strauss eine große Würdigung, nämlich in der Anerkennung des unermüdlichen Vorstoßens in „jene dunkle Zonen“, „in denen schwer zugängliche, zugleich in die entferntesten Bezirke der Welt und in die

60 Marcel Mauss zitiert nach Stephan Moebius: „Die Religionssoziologie von Marcel Mauss“ in: Stephan Moebius et al. (Hg.): Marcel Mauss. Schriften zur Religionssoziologie, Berlin 2012, S. 617-682, hier S. 662. Kuba zitiert dieselbe Stelle bei Mauss, vgl.: A. Kuba, Schrecken, S. 84. 61 A. Kuba: Schrecken, S. 89. 62 Claude Lévi-Strauss: „Einleitung in das Werk von Marcel Mauss“, in: Marcel Mauss. Soziologie und Anthropologie. Band I, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1999, S. 7-41, hier S. 40. 63 Ebd., S. 40 (FN 34).

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verschwiegensten Winkel unseres Denkens zurückgedrängte Formen oft nur gebrochen in einem trüben Nimbus von Affektivität wahrgenommen werden können“.64 Kubas Kritik ernst zu nehmen bedeutet, die Frage zu stellen, wie wir „es“ dann nennen wollen? Wie wollen wir transzendente Bezüge jenseits von (christlichen) Gottesvorstellungen, die Kraft und Affekte, die in Gemeinschaftserfahrungen zu spüren sind, Erotik, Todesangst und -sehnsucht in ihrer gemeinsamen Qualität benennen? Bataille bietet für diese Qualität grenzüberschreitender Erfahrungen die komplexeste und bisher ausdifferenzierteste, zusammenhängende Theoriegrundlage.

64 C. Lévi-Strauss: Einleitung, S. 41.

Eine Ästhetik des Sakralen?

Dieses Kapitel widmet sich dem Bataille’schen Sakralbegriff in seinen Bezügen zu Kunst und Inszenierungspraktiken. Zunächst wird die Frage beantwortet, wie es ausgehend von der Soziologie des Sakralen möglich ist, dessen Ästhetik zu denken. Folgt man der 2014 erschienenen Studie „Towards an Aesthetic Sovereignty“, die gemäß ihrem Untertitel Batailles theoretisches Werk von seinen Bezügen zu Kunst und Literatur ausdenkt, müsste die Wirkungsästhetik des Sakralen ganz zu Beginn des Theorieteils dieser Arbeit stehen. Kevin Kennedy kritisiert den Kunstbegriff Batailles, was an sich schon verwunderlich ist, worauf Irene Albers in ihrem Vorwort zu „Towards an Aesthetic Sovereignty“ aufmerksam macht. Dort schreibt sie, dass gerade Batailles Schriften der 30er Jahre, die ja im Kontext des Collège de Sociologie im Mittelpunkt der theoretischen Auseinandersetzung der Arbeit stehen, einen antiästhetischen und anti-literarischen Standpunkt einnehmen. Sie führt aus: „Even though Bataille explicitly engages with art (Manet, Picasso, the Lascaux Caves) and poetry/literature (in Literature and Evil) in his later work, it almost seems paradoxical within this context of his oeuvre to see this as turn to questions of aesthetics and literary theory, especially because for Bataille the very concept of „art“ is unsuitable to contain its social, political and existential dimension.“1

Bataille stört sich also, wie Albers betont, nicht etwa an der Kunst seiner Zeit (und beschäftigt sich sogar ausführlich mit dem, worin er den Ursprung von Kunst ausmacht, den Höhlen von Lascaux), sondern an dem Konzept von Kunst, das die ihm besonders wichtigen Dimensionen seiner Theorie, die ihn zu seinen Wurzeln im Collège zurückführen, nämlich die sozialen und politischen Dimensionen, nicht einholt.

1

Kevin Kennedy: Towards an Aesthetic Sovereignty. Georges Bataille’s Theory of Art and Literature, Palo Alto 2012, darin Vorwort von Irene Albers, S. vii-ix, S. ix.

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Dezidiert thematisiert hat Bataille seinen Kunstbegriff – und damit ist hier besonders, aber nicht ausschließlich, die Frage nach der Verbindung des Sakralen zu Kunstformen gestellt – jedoch nur in seinen zeitlich nach den Collège-Jahren entstandenen Schriften, etwa in „Die Erotik“ und „Die Tränen des Eros“. Kennedy geht darauf ein und betont: „[...] the enthusiasm with which Bataille’s writings from the thirties have been received has unfortunately created a very one-sided and limited picture of Bataille’s work in general, especially of his theory of art, largely ignoring much of his later work, where he explicitly engages and reformulates some of the problems inherent in his earlier approach.“2

In ihrem Nachwort zum von Denis Hollier herausgebenen Band „Das Collège de Sociologie 1937-1939“ bezieht Albers noch einmal deutlich Position, was den Stand der expliziten Ausarbeitung einer eigenen Ästhetik in Batailles Oeuvre anbelangt. In diesem Nachwort geht sie anders als im Vorwort zu Kennedys Monografie dezidiert auf das Sakrale innerhalb einer vermeintlich ausgearbeiteten Ästhetik Batailles ein und schreibt: „Die Sakralsoziologie ist als Theorie des Sozialen gemeint und gerade nicht als Ästhetik. Die kollektiven Efferveszenzen und der anziehend-abstoßende ‚sakrale Kern‘ einer Gemeinschaft scheinen keiner sprachlichen oder ästhetischen Vermittlung zu bedürfen.“3 Albers geht noch weiter, wenn sie schreibt: „Nichts läge den Mitgliedern des Collège ferner, als eine Ästhetisierung des Sakralen zu proklamieren oder sich mit der Feststellung aufzuhalten, daß in der Moderne das Religiöse (also mit Durkheim: das Soziale) ästhetisch wird.“4 Von dieser Seite her, also einer direkten Übertragung der Wirkung eines sozialen Sakralen auf den Bereich der Kunst, darf man sich Bataille im Versuch, eine Ästhetik zu formulieren, die das Sakrale mitdenkt, nicht nähern, will man ihn nicht über Gebühr strapazieren. Und doch ist es möglich, eine Ästhetik des Sakralen und später womöglich auch eine sakrale Ästhetik zu entwickeln. Mit einem Zitat Batailles aus der ersten Sitzung des Collège macht Albers darauf aufmerksam, dass Bataille selbst die Künste als Gegenstand der Sakralsoziologie und damit auch als Wirkungsort des Sakralen gesehen hat.5 Er hat vormalige Funktionen im Bezug auf das Sakrale ganz klar auf den Bereich des Ästhetischen und dort konkret auf die Literatur (und die Poesie) als Kunstform übertragen.6 Batailles eigener Wortwahl folgend sucht Albers den „vergemeinschaftenden Wert“ der Künste und

2

K. Kennedy: Aesthetic Sovereignty, S. 3.

3

I. Albers/S. Moebius: Nachwort, S. 787.

4

Ebd., S. 788.

5

Vgl. ebd.

6

Vgl. G. Bergfleth: Souveränität des Bösen, S. 192.

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führt mit Verweis auf die Studie Falasca-Zamponis den fehlenden kritischen Umgang mit dem Faschismus ins Feld, welcher mangels einer ausgearbeiteten Ästhetik des Sakralen eben nicht in den Blick genommen worden sei, obwohl dessen Gefahren für Bataille erkennbar gewesen sein müssten.7 Zwar sei nicht über „die ästhetischen Inszenierungen des Faschismus“ gesprochen worden, so Albers, doch seien sehr wohl Literatur und bildende Kunst im Zirkel des Collège diskutiert worden und letztlich habe der „späte Bataille [...] das Sakrale und die ästhetische Erfahrung“ gleichgesetzt.8 Und das ist auch hier der entscheidende Punkt: Es geht Bataille um die Erfahrbarkeit des Sakralen, eine Erfahrbarkeit, die nicht planbar ist. Die Erfahrung des Sakralen kann in der Rezeption eines Kunstwerks geschehen, kann genauso aber auch ausbleiben. Diese Erfahrung des Sakralen macht den Menschen letztlich souverän, wie oben argumentiert wurde.9

Michel Leiris’ Beitrag zu einem Sakralbegriff des Inszenierten An die Möglichkeit der Inszenierung des Sakralen schließt der Sammelband „Michel Leiris – Szenen der Transgression“ von Irene Albers und Helmut Pfeiffer an. Bei Leiris wird die Inszenierung des Sakralen zu einer Bedingung. Die Herausgeber betonen die „poetologischen und ästhetischen Momente der vor allem von kulturwissenschaftlicher Seite beschriebenen Akte der Übertretung von Verboten und der Überschreitung von Ordnungen“. In besonderem Maße gelte für Leiris, „daß die Transgression eine ‚Szene‘ braucht, eine Bühne und eine Inszenierung“.10 Die Transgression als wesentliche Voraussetzung des Sakralen „wird zu einer Kunst, die nicht ohne ästhetische und inszenatorische Elemente auskommt“.11 Leiris geht es demnach in seinen Autobiografien und Aufsätzen um ästhetische Inszenierungen des Sakralen. Dies sieht er vor allem im Theater und in der Oper, während es ihm in diesen nicht um eine Ästhetisierung um der Ästhetik willen geht. Leiris definiert Kunst als eine Quelle sakraler Erfahrungen, die sie dennoch letztendlich nicht biete: Die Kunst provoziere den Wunsch nach einer Grenzüberschreitung, löse ihn aber dann nicht ein. Gerade in der Oper sehe Leiris eine besondere Nähe zum Ritual, das er vorher vor allem in afrikanischen Gemeinschaften und im Fall des Stierkampfes im europäi-

7

I. Albers/S. Mobius: Nachwort, S. 790f.

8

Ebd.

9

Vgl. G. Bergfleth: Souveränität des Bösen, S. 199.

10 Irene Albers und Helmut Pfeiffer: „Einleitung“ in: Irene Albers/Helmut Pfeiffer (Hg.), Michel Leiris – Szenen der Transgression, Paderborn 2004, S. 7-25, hier S. 9. 11 Ebd., S. 11.

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schen Kontext untersucht hat. Die Oper, so Albers und Pfeiffer, werde im Sinne Leiris’ für die Zuschauer/-innen zu einem „kathartischen Ereignis“12, das er mit den Besessenheitskulten in Verbindung bringt: „Bei aller Differenz fasziniert Leiris an der Oper dasselbe wie an den Besessenheitskulten: die Tatsache, daß das Subjekt, wie er sich immer wieder ausdrückt, ‚hors de soi‘ ist und ‚un autre que soi‘, entgrenzt und verwandelt.“13 Für die Vorbereitung der Musikvideoanalyse sind diese grundsätzlichen Überlegungen zu Leiris’ Blick auf die Oper wichtig, lassen sie sich doch auf den Gegenstand des Musikvideos übertragen. Für Leiris hat neben der Verwandlung des „Ich“ in ein anderes „Ich“, also dem Rollenspiel, gerade das Zusammen von Musik mit theatraler Performanz den entscheidenden Ausschlag gegeben, um von Oper als Ritual zu sprechen. Das kann als Argument ins Feld geführt werden, um die Nähe des Musikvideos zum Ritual, zu Ritualisierungen oder Ritualhaftem als Arbeitshypothese bei den Analysen zu untersuchen, weil Oper und Musikvideo zumindest das Maß an Musik und auch das Zusammenspiel von Bild und Musik in der Lippensynchronität (im Gegensatz zur Filmmusik!) teilen. Es handelt sich bei dem Musikvideo um ein inszeniertes Stück Musik, das in Anlage und Form, in Entstehungsprozess und in kulturellem Kontext und Gebrauchsart stark von der Oper als Gattung des Musiktheaters abweicht; dennoch aber teilt es die Inszeniertheit und die Bedeutsamkeit der Musik in ihm. Eine Oper wird konzertant aufgeführt, aber nie ohne Ton gegeben. Beim Musikvideo hat der Song schon vor Entstehen des Videos ein „Eigenleben“ gehabt, während das Video ohne die Musik nicht mehr funktioniert. Die Ritualhaftigkeit und die Affekte, von denen Leiris im Zusammenhang mit der Oper spricht, sind auf die Musik zurückzuführen – vor allem auf Rhythmisierungen, so schreibt er. Deswegen und wegen oben aufgeführter Parallelen dürfen die Überlegungen Leiris’ zur Oper in den Musikvideoanalysen zum Sakralen aufgegriffen werden. Interessant an der Denkfigur Leiris’, die Oper als Ritual mit kathartischem Ergebnis zu betrachten, ist die Wendung, dass das Inszenieren von Ritual, also das Inszenieren von Transgression innerhalb von Opernproduktionen – so spricht sich Leiris entschieden gegen Wagner und sein Gesamtkunstwerk aus – eben gerade zu einer Wirkungslosigkeit des Rituals „Oper“ führe. Demnach scheint es das Gewolltsein der Inszenierungen Wagners, die (pseudo)-religiöse Thematik u.a. eines Parsifals, die gewollte Überhöhung von Wagners Opern als Gesamtkunstwerke zu sein, die Leiris das Scheitern der Transgression in Wagners Opern sehen lassen. Leiris spricht sich dagegen aus, expressis verbis Ritualisierungen in Opern auszustellen, denn dadurch misslängen diese. Vielmehr könne Oper sich entgrenzen und die Zuschauer/-innen eine solche Entgrenzungserfahrung beim Ansehen machen, wenn sie nicht ständig

12 I. Albers/H. Pfeiffer: Einleitung, S. 21. 13 Ebd.

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mit der Nase darauf gestoßen werden, dass es sich bei dieser Inszenierung um ein Ritual handelt. Es ist nicht das reine Vorkommen religiöser Symbolik, wie beispielsweise bei Wagners Parsifal, was Leiris zufolge eben nicht zu einer Transgression führe, sondern das Gewollte und Forcierte, was eine Transgression verhindere. In kollektiven Ritualen kennt jeder seinen Platz und seine Rolle und ihr Funktionieren ist über die Weitergabe des richtigen und wichtigen Wissens gesichert. Von diesem Standpunkt aus scheint Leiris nur im Punkt der Forciertheit zugestimmt werden zu können. Das Moment des In-den-Bann-gezogen-Werdens, das Fesselnde und die Momente des noch zu Entschlüsselnden scheinen für ihn Voraussetzungen beim Gelingen des Rituals aus Publikumsperspektive (bei Leiris befinden wir uns ja in der Oper) zu sein. Gibt sich aber das Ritual als ein inszeniertes auf der Bühne zu erkennen, funktioniert es für die Zuschauer/-innen nicht mehr, so Leiris. Diese Arbeit wird nicht klären können, ob sich eine Transgression bei den Zuschauer/-innen und Zuhörer/-innen der Musikvideos „ereignet“. Was sie jedoch untersuchen kann ist, inwiefern das Videomaterial sich transgressiver Materialbestände und Techniken des Umgangs mit diesen bedient und welche semantischen und affektiven Dimensionen in ihm potentiell angelegt sind.

Kunst und Poesie am Collège Kunst, so Albers, sei zunächst, will man den Collège-Mitgliedern folgen, immer noch im Bereich des Nicht-Ästhetischen anzusiedeln.14 Kunst sei eine kulturelle Praxis der Verausgabung. Wenn das Collège fiktives Schreiben ablehnt und den Mythos aufwertet, dann geschehe dies Hand in Hand mit einer ausgelassenen Bejahung der Poesie.15 Bataille schreibt in „Der Begriff der Verausgabung“ über Poesie: „Der Begriff der Poesie, der die am wenigsten verdorbenen, am wenigsten intellektualisierten Ausdrucksformen eines Verlorenseins bezeichnet, kann als Synonym von Verschwendung angesehen werden. Poesie heißt nämlich nichts anderes als Schöpfung durch Verlust.“16

Man darf zwar vermuten, dass Bataille Rap zumindest in seinem Poesieanteil zugesprochen hätte und er an ihm mit Albers das „Sakrale der poetischen Sprache“17 entdeckt hätte. Man würde ihm jedoch Unrecht tun, nähme man an, er hätte den Stempel

14 Vgl. I. Albers/S. Moebius: Nachwort, S. 791. 15 Vgl. ebd. 16 G. Bataille: Verausgabung, S. 15. 17 I. Albers/S. Moebius: Nachwort, S. 792.

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„Poesie“ leichtfertig verteilt. Was für ihn „Poesie“ ist und als solche gelten darf, bespricht er in seinem Essay „Das Prinzip des Verlusts“ nicht ausführlich, deutet aber an, dass folgender Tatbestand erfüllt sein muss, um von Poesie sprechen zu können, und dass dies eher selten der Fall sei: „[...] daß für die wenigen Menschen, die über dieses Element [das Element der Poesie, Anm. E.S.] verfügen, die poetische Verschwendung in ihren Folgen aufhört, symbolisch zu sein: die Aufgabe der Darstellung bedeutet für den, der sie übernimmt, sozusagen den Einsatz seines Lebens.“18

Mit der Aufwertung der Poesie gerät Literatur zum negativen Gegenpol. Bataille und die Collège-Mitglieder kritisieren die Selbstbezüglichkeit der Literatur. Ihnen missfällt, dass von ihr kein Handlungsimpuls, keine Anregungen zur Veränderung gesellschaftlicher Prozesse ausgingen.19 An dieser Stelle ist eine kurze Diskussion des Poesie-Verständnisses, wie es René M. Guastalla entwirft, hilfreich. Im Collège de Sociologie war er nur als Randfigur präsent und hat lediglich einen Vortrag mit dem Titel „Die Geburt der Literatur“ gehalten. In diesem diskutiert er die Entstehung der Literatur aus dem Mythos heraus und definiert Poesie in einer Weise, wie sie auch für unsere Überlegungen zum Sakralen nützlich ist. Albers und Moebius zitieren Guastalla in seiner These, dass sich zu Beginn der abendländischen Zivilisation die Polis aufgelöst und sich an ihre Stelle einen Individualismus gesetzt habe, der wiederum Ausdruck in der Literatur finde.20 Mit diesem Gedanken geht die These von der „Sakralisierung des Autors“ einher. Diese besondere Funktion des Autors/ der Autorin, der/ die an die Stelle der gemeinschaftlichen Polis getreten ist, berge erhebliche Gefahren, so die Stoßrichtung Guastallas. Die antiken, kollektiven Mythen seien durch individuelle, literarische Mythen ersetzt worden, so Albers in Bezug auf Guastallas Kernthesen. Die verlorengegangene Kraft des Mythos sei es dann, die Autor/-innen dazu verleite, eigene, „erlogene“ Mythen zu erstellen, um an die verlorene Macht der Polis anzuknüpfen, um einen Teil von ihr wieder zugänglich und erfahrbar zu machen.21 Mit der Formulierung der „erlogenen Mythen“ klingt es schon deutlich an: Die Gefahr liegt im Potenzial der Verblendung der Menschen. Mit „Autoren“ meint Guastalla die ideologischen Führer seiner Zeit und darunter besonders Hitler.22 Die große Entwicklungslinie vom Mythos zur Literatur erscheint in Guastallas Arbeit

18 G. Bataille: Verausgabung, S. 15. 19 Vgl. I. Albers/S. Moebius: Nachwort, S. 798. 20 Vgl. ebd., S. 800. 21 Vgl. ebd., S. 801. 22 Vgl. ebd., S. 802.

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keinesfalls positiv, sondern versehen mit einer Warnung an die Collège-Mitglieder mit ihrem Wunsch nach Mythos und damit dem Sakralen: „Durch die Nostalgie des Mythos werden die Menschen zur Beute für Propaganda und Lüge [...], soziale Kohäsion kann nur mit Lügen und Gewalt hergestellt werden [...]“23 Albers verweist darauf, dass nach Guastalla diese individuellen Mythen, vor allem die des Romans, scheitern und dass nur die Poesie das Rüstzeug, die Beschaffenheit habe oder den richtigen Umgang mit dem Material der Sprache aufweise, diese Mythen anzufechten und echte, kollektive Entgrenzung und damit letztlich Erfahrung des Sakralen zu schaffen. Für Guastalla sei „die unauflösliche Verbindung von Semantik und Musik bzw. Rhythmus“ konstitutiv für Poesie.24 Auch steht die Poesie in direkter Verbindung zum Opfer, das eingangs in der Denkfigur des SichOpferns für die Gemeinschaft erwähnt wurde. Hier ist es ein Opfer für die Kunstproduktion und damit indirekt, weil vermittelt, wiederum ein Opfer für die Gemeinschaft. „Auch nach dem Ende der Polis bleibe die Poesie deshalb die ‚Sprache des Festes‘ und der ‚kollektiven Rhythmen‘, bewahre sie Spuren ihres kultischen Ursprungs. [...] Mit dieser emphatischen Aufwertung (und quasi Sakralisierung) der Poesie gegenüber der (Roman-)Literatur ist Guastalla nicht allein, sie findet sich auch bei Leiris, Bataille und Paulhan.“25

An dieser Stelle kann eine wichtige Analogie zu dem Charakter und der spezifischen Beschaffenheit von Musikvideos gezogen werden. Um Motivik und punktuell auch Beschaffenheit der Musikvideos zu analysieren, war das Sakrale bis hierher in seinen gesellschaftsimmanenten Funktionalisierungen betrachtet worden. Durch den Einbezug von Kunstwerken in ihre Theorie des Sakralen können die Collège-Mitglieder und kann diese Arbeit wirkungsästhetische Kriterien und Prozesse untersuchen. Neben der Ebene der Motive in den Musikvideos, in denen Orte des Sakralen, darunter ausgelassene Feste, Verkleidungsspiele, Szenen der körperlichen Gewalt bis hin zum Tod durch Fremdeinwirkung, Tanz und Sex sowie religiöse und Todes-Symboliken wichtige Motive sind, können nun auch die wirkungsästhetischen Prozesse der Musikvideos beschrieben und Thesen entwickelt werden. Im folgenden Abschnitt werden der Begriff der Poesie im Gegensatz zur Literatur sowie ihre Funktionen im Hinblick auf die Erfahrbarkeit des Sakralen bei Bataille erörtert. Guastallas „unauflösliche Verbindung von Semantik und Musik bzw. Rhythmus“ könnte eine Beschreibung von Rap sein. Auch in Batailles dichotomen Kate-

23 I. Albers/S. Moebius: Nachwort, S. 802. 24 Ebd., S. 802-803. 25 Ebd., S. 803.

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gorien von Literatur und Poesie, wie sie dieser Abschnitt entwickelt, steht der Sprechgesang des Hip-Hops deutlich in der Nähe der Poesie. Bataille hat nur wenige Autoren und ihre Werke als in seinem Sinne wertvoll betrachtet, darunter jene, denen er sich in „Die Literatur und das Böse“ gewidmet hat: Baudelaire, Sade, Blake und Kafka. Um vor Bataille bestehen zu können, muss Literatur gesellschaftskritisch, aufrührerisch und damit letztlich fundamental gegen Gesetze und Regeln verstoßen. Hip-Hop als in seinen Ursprüngen sozialkritische Bewegung, die Minderheiten über mediale Praktiken in die Mitte der Gesellschaft holen wollte26, ist ein mit Worten, aber auch mit musikalisch-ästhetischen sehr probaten Mitteln um Aufmerksamkeit und soziale Veränderung kämpfendes kulturelles Phänomen. Hip-Hop steht dem Poesiebegriff Batailles in gewissen Aspekten näher, als man vermuten mag.

Poesie (und Rap) als ultimative Verausgabung Das Sakrale als das Heterogene auszudrücken gesschieht nach Bataille in der Poesie. Bataille „entwickelt hier einen Gegensatz zwischen Poesie als ‚sakraler Sprache‘ und der profanen Alltagssprache. Die Poesie sei der Versuch, dem ‚Schrei der Emotion‘ eine sprachliche Form zu geben“.27 Die sprachliche Ausdrucksform der Hip-HopKultur tut das in einer Weise, die es erlaubt, sie mit Guastallas Abgrenzung zu Literatur sowie mit Batailles Begriff der Poesie zu betrachten und das Sakrale mit ihr in Verbindung zu bringen. Poesie ist in ihrer Art und Weise mit Sprache umzugehen näher am Sakralen oder an der Möglichkeit, Sakrales erfahrbar zu machen, als Literatur, wobei sie beide bei Bataille dem Prinzip des Opfers und Opferns unterstehen. Bataille weist in „Die innere Erfahrung“ auf die Grenzen der Poesie hin: „Die Poesie ist trotz allem der beschränkte Teil – an den Bereich der Wörter gebunden. Der Bereich der Erfahrung ist alles Mögliche.“28 Bataille sieht den Bereich der Wörter als begrenzt an, während er der Erfahrung ein unbegrenztes Potenzial zuschreibt. Unter Hinzunahme von Musik, Ausdruck und Bildern wird das Maximale an Erfahrung getriggert. Musikvideos lassen sich mit Bataille als die Orte der maximal möglichen Erfahrung, zumindest aber als Orte der Überwindung rein sprachlicher Beschränkung beschreiben. Diese Überwindung leitet Bataille schon innerhalb der Sprache her, wenn er beschreibt, dass die Worte in der Poesie ihrem täglichen, nützlichen und rationalen Gebrauch entzogen

26 Vgl. dazu T. Rose: Black Noise, S. 70: „[M]usic is fundamentally related to the social world [...], fulfills and denies social needs, [...] embodies assumptions regarding social power, hierarchy, pleasure, and worldview“. 27 I. Albers/S. Moebius: Nachwort, S. 811. 28 G. Bataille: Innere Erfahrung, S. 48.

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werden. Gerade die Wortspiele im Sinne von Wortneuschöpfungen, Worten, die etwas Neues hervorbringen, eine neue Erfahrung in uns anregen, machen die Poesie in Batailles Augen wertvoll. Bataille radikalisiert seinen Anspruch an die Poesie, indem er ein „endgültiges, unzweideutiges, rückhaltloses Opfer“ fordert.29 Über diese Radikalisierung wird die Poesie, auf die die Forderung zutrifft, zu einer Chiffre des Exzesses.30 Bergfleth nimmt den Standpunkt ein, Souveränität nach Bataille könne kein Ziel sein, das in einem geplanten Prozess erreicht werden kann, verortet Souveränität aber in der Literatur, indem er schreibt, Souveränität sei „der vornehmste Gegenstand der Literatur“.31 Bei näherem Hinsehen entsteht ein Widerspruch, der hier fruchtbar gemacht werden muss, um den Bedingungen von Souveränität und letztlich damit auch denen des Sakralen näher zu kommen. Wenn Souveränität Gegenstand oder Thema von und in Literatur wird, wie kann sie von einem Literaten nicht planvoll vollzogen und doch indirekt erreicht werden? Diese Frage nach Autorschaft stellt sich in ähnlicher Weise für Hip-Hop und dort zunächst für Rap, also für das gesprochene, rhythmisierte Wort – für Batailles Poesie.32 Bergfleth zitiert Bataille an einer wichtigen Stelle in „Die Literatur und das Böse“: „Ein literarisches Werk zu schaffen kann meiner Ansicht nach nur ein souveränes Unternehmen sein, insofern, als das Werk vom Autor erfordert, in sich die un-

29 G. Bataille: Innere Erfahrung, S. 209. 30 Siehe dazu auch den Aufsatz „Georges Bataille und der Hass auf die Poesie“ von Daniel Leuwers, in: Gerd Bergfleth (Hg.): Georges Bataille. Die Literatur und das Böse (= Das theoretische Gesamtwerk in Einzelbänden), München 1987, S. 237-246. 31 G. Bergfleth: Souveränität des Bösen, S. 199. Kennedy formuliert dies ein wenig positiver, wenn er seine Studie „Towards an Aesthetic Sovereignty“ nennt, worauf Albers im Vorwort zu dem Buch hinweist: „[...] ‚towards‘symbolizes the utopian dimension of this ‚aesthetic sovereignty‘“, (S. viii). 32 Für Musikvideos, in denen wir das Sakrale vermuten oder zumindest sakrale Formen, Symbole und Codes entdecken, stellt sich die Frage erst in einem nächsten Schritt der Übertragung, den wir allgemein halten können, weil wir Musikvideos schlicht unter Kunst fassen und Kunst bei Bataille die Möglichkeit hat, Ort der Erfahrbarkeit des Sakralen und damit von Souveränität zu sein. Die Künstler/-innen, die auf der visuellen Ebene im Clip präsent sind, sind in der Regel die, deren Song wir hören, wenn wir das Musikvideo sehen. Hinter einem Musikvideo ist vielmehr ein Autorenkollektiv zu sehen, das aus Musiklabelverantwortlichen, Musikvideoproduzent/-innen, Kameramann/-frau, Cutter/-in, den Musikkünstler/-innen oder der Band zu unterschiedlichen Anteilen der Einflussnahmemöglichkeiten besteht.

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zulängliche Person, die ihren souveränen Augenblicken nicht gewachsen ist, zu überschreiten.“33 Er formuliert, dass eine „souveräne Schöpfung die Souveränität des Autors voraussetze; wiederum souverän mache ihn lediglich seine volle Hingabe, die Opferung seiner selbst im Schreiben34: „Die Poesie führt zu demselben Punkt, zu dem jede Form der Erotik führt – zur Ununterscheidbarkeit, zur Verschmelzung der unterschiedlichen Gegenstände. Sie führt uns zur Ewigkeit, sie führt uns zum Tod und durch den Tod zur Kontinuität: die Poesie ist Ewigkeit. Sie ist das Meer, das mit der Sonne verschwand.“35

Sich selbst zu opfern, sich selbst zu riskieren bis zu dem Punkt der Selbstzerstörung (oder sogar über diesen hinaus) heiligt Autor/-innen und macht sie souverän. Bergfleth lässt daran keinen Zweifel und spricht von der „Aufsprengung der Isolierung“ und damit von der „intensiven Kommunikation“.36 Damit gemeint ist die Kommunikation, die sich als Gegenstand in der Literatur festmachen lässt, zum Beispiel in „profanierender Erotik“, wie Bergfleth über Batailles Proust-Studie schreibt. Genauso aber gebe es eine Kommunikation zwischen Autor/-innen und Leser/-innen, die in der Rezeption stattfinde.37 Interessanterweise liest Bergfleth Bataille hier so, dass dieser der Poesie eine direkte Wirkung auf die Gesellschaft abspreche. Dies würde das Sakrale der Poesie letztlich profanieren. Bergfleth: „Denn die Souveränität ist nicht mit der politischen Befreiung zu verwechseln, die immer nur eine Herrschaft durch die andere ersetzen kann und insofern unwiderruflich subordiniert ist.“38 Es scheint jedoch möglich, Bataille an dieser Stelle auch etwas anders zu denken. Bataille hat nicht der Kunst (souveräne) Wirkung auf die Gesellschaft versagt, sondern den/ die politisch aktive/n Künstler/-in als solche/n desavouiert. Die Nichtplanbarkeit von Souveränität und die

33 G. Bataille nach G. Bergfleth: Souveränität des Bösen, S. 200. 34 Ebd. [Kursivierung wie im Original]. Die Frage der Autorschaft ist keine, die für Hip-HopMusikvideos im Sinne Batailles ausgelegt wird. Freilich sind schon an der Musikproduktion viele unterschiedliche Personen an verschiedenen Phasen einer Aufnahme beteiligt, was eine Analogie zum Autorenverständnis Batailles nicht zulässt und weswegen vom „Autorenkollektiv“ gesprochen werden kann. Die Arbeit denkt hier für die Musikvideos jene Rapper/-innen, die in den Clips performen, im Sinne Batailles als Autor/-innen – ohne sie mit dem Begriff „Autor“ zu benennen, da gerade in der Rezeption eine Gleichsetzung von Performenden und Autor/-innen geschieht. 35 G. Bataille: Erotik, S. 27 [Kursivierung wie im Original]. 36 G. Bergfleth: Souveränität des Bösen, S. 200. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 207.

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mit politischer Motivation agierenden Künstler/-innen widersprechen sich insofern, als dass sie die Bedingungen für Souveränität abgeschafft haben, wenn sie sie unter ein Nutzen-Kalkül stellen. Tritt Souveränität als Exzess, als Transgression von Autor/-in auf die Leserschaft hin, als Kommunikation auf, kann sie Gesellschaft verändern. Nur lässt sie sich so nicht mehr direkt instrumentalisieren und sicher nicht auf die Seite des gesellschaftlich Guten schlagen.39 Kennedy weist darauf hin, dass „for Bataille the essential factor in the experience of art and literature, its aesthetic sovereignty, is precisely what escapes theoretical discourse“40 und dass genau diese Unmöglichkeit Anlass für Bataille selbst gewesen sei, eine „rational analysis of the conditions that facilitate and necessitate this experience, such as social realities, historical developments and material necessities“41 vorzunehmen. Bataille hat sich einer theoretisierenden Untersuchung der inneren Erfahrung also keinesfalls widersetzt, sondern sie sogar selbst gefordert. Ihn „…fasziniert die Analogie zwischen Potlatsch und Opfer. Kunst und Literatur zählt er zu den Praktiken, in denen sich dieses Prinzip auch unter den Bedingungen der Moderne noch wiederfindet: wie im Opfer wird hier ein Gegenstand seinem Gebrauch entzogen, die Welt der Arbeit und die Logik der Nützlichkeit suspendiert.“42

Kunst und Literatur werden als symbolische Opferhandlung begriffen, in denen sich mit Symbolen und mit Worten verausgabt wird.43 In „Die innere Erfahrung“ verfasst Bataille unter dem Abschnitt „Ausschweifung über die Poesie und Marcel Proust“ eine Herleitung des symbolischen Opferns unter Berücksichtigung des Christentums, das diese symbolische Opferform im Gegensatz zum wirklichen Mord im Kerngedanken Jesu Christi Tod für uns aufgenommen hat. „Ein für allemal am Kreuz vollbracht, war das Opfer das schwärzeste aller Verbrechen: wenn es erneuert wird, dann im Bilde.“44 Die Literatur tritt an die Stelle des Christentums, indem sie „Verbot und Überschreitung“ sowie „Tabu und Transgression“ übernimmt und fortan produziert.45 Dieses symbolisch gewordene Opfer sieht Bataille in der Kunst („im Bilde“). Während Knecht und Magd von Pferd und Butter sprächen und damit von ihrer unmittelbar

39 Vgl. G. Bergfleth: Souveränität des Bösen, S. 206. Er schreibt, dass Batailles Kommunikationstheorie „keine Theorie des Gemeinwohls“ sei. 40 K. Kennedy: Aesthetic Sovereignty, S. 16. 41 Ebd., S. 16. 42 I. Albers/S. Moebius: Nachwort, S. 808. 43 Vgl. ebd., S. 809f. 44 G. Bataille: Innere Erfahrung, S. 189. 45 Vgl. G. Bergfleth: Souveränität des Bösen, S. 193.

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erfahrbaren Lebensumwelt, könne Poesie ein „Butterpferd“ hervorbringen und damit Neues schaffen, so Bataille. Die Poesie führe „vom Bekannten zum Unbekannten.“46 Die Poesie wird zum Opfer der Wörter, indem ein Butterpferd „Bilder von Pferden und Butterformen“ evoziere, „um zu sterben.“47 Das Butterpferd also hat keinen Bestand, es ist nicht von Dauer. Es ist eine momenthafte Erfahrung. Das Butterpferd wird im Vorübergehen wieder zurückgeworfen in den Bereich des Bekannten, es zerfällt wieder in Butterformen und Pferde. Daher kommt es, dass Bataille selbst die Poesie als eine extreme, besondere Form von Literatur noch weiter radikalisiert, wenn er schreibt, „daß fast die gesamte Poesie eine heruntergekommene Poesie ist, ein Genuß von Bildern, die zwar dem servilen Bereich entzogen sind [...], sich jedoch dem inneren Ruin verweigern, der der Zugang zum Unbekannten ist“.48 Stattdessen fordert er ein „endgültiges, unzweideutiges, rückhaltloses Opfer“.49

Rap – Rhythmic American Poetry „I got seven MAC-11s, about eight 38s / nine 9s, ten MAC-10s, the shits never ends / You can’t touch my riches / Even if you had MC Hammer and them 357 bitches“50 freestylte Notorious B.I.G. 1993 in New York zu den Beats von DJ Mr Cee.51 Auf der entsprechenden Aufnahme ist zu hören, wie das Publikum im ausverkauften Madison Square Garden nach diesem ersten Vers frenetisch zu jubeln beginnt. Eingeleitet hatte er seinen Freestyle mit den legendären Worten „One, two, one, two / Where Brooklyn at? Where Brooklyn at? / Where Brooklyn at? Where Brooklyn at? / Gonna do it like this /Anytime you’re ready, check it“, mit denen er Anlauf auf seine Raps nimmt und in der Sprechgeschwindigkeit schneller und schneller wird. Nachdem er mit diesen einleitenden Versen das Publikum und sich selbst auf seinen Freestyle vorbereitet hat, springt er in einem Auftakt mit „I got“ auf den einsetzenden Beat auf, um mit „seven“ auf der Zählzeit 1 zu landen. Nach „end“ nimmt Mr Cee den Beat weg und lässt Notorious B.I.G. bis zu „bitches“ komplett ohne Beat rappen. Dieses

46 G. Bataille: Innere Erfahrung, S. 190. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 208-209. 49 Ebd., S. 209. 50 Es kursieren verschiedene Transkriptionen im Netz. Hier wird auf die Version aus der Anthology of Rap hrsg. von Adam Bradley und Andrew DuBois zurückgegriffen, S. 471ff. 51 Andrew Barber, „The Notorious B.I.G. f/ 2pac ‚Live Freestyle‘ (1993)“ (Video), http://www.complex.com/music/2012/03/the-50-best-notorious-big-songs/garden-freestyle vom 16.08.2016.

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retardierenden Moments bedient er sich während des Freestyles immer wieder und zwar mit dem Effekt, dass jedes Mal die Spannung steigt, ob der Rapper wieder auf dem einsetzenden Beat landen kann. Gelingt das, johlt das Publikum. Adam Bradley und Andrew DuBois schreiben dieser Zusammenarbeit von Rapper und DJ Hip-Hops Erfolg zu: „The synergy of driving beats and ingenious vocal cadences largely accounts for rap’s popularity.“52 Dieser Freestyle von Notorious B.I.G. hat das, was man gemeinhin „Flow“53 nennt – dem Rapper gelingt es, mit seinen Versen den Beat zu reiten wie ein Surfer eine Welle und sich dabei zu verausgaben. Auch semantisch ist der erste Vers eine extreme Steigerung in der nicht mehr enden wollenden Aufzählung des Waffenarsenals im Besitz des Rappers und eines in dem Sprachfeld der Waffen bleibenden Verbalangriffes auf MC Hammer und der von ihm gegründeten, aus Frauen bestehenden Rapgruppe 357.54 Der mittlerweile als Klassiker anerkannte Freestyle von Notorious B.I.G. wird in der Sekundärliteratur als ein magischer Moment beschrieben: „Big hit the stage like a cannon, kicking off his firearm-inspired verse with the classic ‚I got seven Mack-11’s, about eight 38’s, nine 9’s, 10 Mack-10’s‘“55 oder „Biggie blustered through a countdown of his arsenal.“56 Rap ist Poesie und ein komplexes Spiel mit dem Klang der Sprache. Binnenreime, Assonanzen und Alliterationen sind häufig verwendete Stilmittel auf der Ebene des Klangs.57 So auch in den ersten Versen von Notorious B.I.G.s Freestyle. Die Verwendung ähnlich klingender (7–11) oder sogar gleicher Zahlen zweifach (8, 9 und 10) in

52 Bradley und DuBois: Introduction, S. xxxiii. Die Anthologie spricht sich dafür aus, Rap und Hip-Hop als nicht synonym zu begreifen, vgl. S. xxix. Im deutschsprachigen Raum scheint mir Rap ebenfalls als die sprachliche Komponente des Hip-Hops (seiner Musik und seiner Kultur) zu firmieren. Diese Arbeit benutzt durchgängig den Terminus Hip-Hop, um auf Kultur und Musik, also auf das Genre zu verweisen, während „Rap“ allein die Praxis des Rappens meint. 53 Die Anthology of Rap gibt eine knappe, aber gute erste und hier genügende Definition für Flow in der Einleitung: „Flow is the word MCs use for synching their voice in rhythm to the beat – a fitting term given that rhythm comes from the Greek rheo, meaning flow“ (S. xxxiv). 54 Die 357 ist eine 357er Magnum. 55 Andrew Barber, „The Notorious B.I.G. f/ 2pac ‚Live Freestyle‘ (1993)“ (Video), http://www.complex.com/music/2012/03/the-50-best-notorious-big-songs/garden-freestyle vom 16.08.2016. 56 Jeff Weiss und Evan McGarvey: 2pac vs. Biggie. An Illustrated History of Rap’s Greatest Battle, Minneapolis 2013, S 120. 57 Bradley und DuBois: Introduction, S. xxxiii.

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der Aufzählung der Waffen und der Waffennamen ist wesentlich dafür verantwortlich, dass der Vers seine Flucht nach vorne antritt, einen Flow hat. Er endet auf „ends“ als Assonanz zu „10s“ mit Aussetzen des Beats, um kurz innezuhalten. Die nächsten zwei Verse sind durch einen Endreim miteinander verbunden (riches – bitches) und über einen Gleichklang auch mit „shits“ aus dem vorherigen Verspaar. Die vier ersten Zeilen des Raps oder die vier Verse sind auf „bitches“ erst abgeschlossen. Raps favorisierte Erzählperspektive ist die des „Ich“, so auch im obigen Beispiel. Notorious B.I.G. ist anzumerken, wie er sich als lyrisches Ich verausgabt. Er erfindet immer neue sprachliche Bilder, um sich zu erhöhen und seinen imaginierten Gegner zu erniedrigen.58 Er gebraucht dabei Slang oder zumindest Umgangssprache, zum Beispiel in „I give MCs the runs“ (er verursacht Durchfall bei anderen MCs) oder „I shot Dread in the head, took the bread and the lambsbread“ (er hat einem Dreadlocks tragenden Mann in den Kopf geschossen, sein Geld und sein Marihuana genommen) und „Lil’ Gotti got the shotty to your body“ (Lil’ Gotti [ein Mitglied der Mafiafamilie Gotti] hat Schrot in deinen Körper gebracht (=dich angeschossen/erschossen).59 Rap ist sprachlich innovativ und die Verwendung von möglichst vielen mindestens doppeldeutigen Vergleichen und Sprachbildern ist ein Gradmesser für die Beurteilung, ob ein MC gut ist. Dieses Verlangen nach mehrfacher Bedeutung im Sprachspiel suspendiert aber auch einen festgelegten Sinn oder wie Bradley und DuBois schreiben „[O]bfuscation is often the point, suggesting coded meanings worth puzzling over.“60 Der Musikwissenschaftler Adam Krims hat drei Hauptunterschiede in der Art und Weise des Rappens definiert. Aus zwei der Termini geht die hier argumentierte Überschussproduktion hervor. Krims nennt die Stile „speech-effusive“ und „percussioneffusive“.61 In der ersten Variante erinnert das Rappen an gesprochene Sprache, in der jedoch viele Reime, Binnenreime und ähnlich klingende Silben gehäuft vorkommen. „[T]he rhythms outlined are irregular and complex, weaving unpredictable polyrhythms.“62 Der zweite Rap-Stil ist durch rhythmische Klarheit und ein exaktes Treffen der Beats gekennzeichnet: „[W]hat marks it out are the focused points of staccato and pointed articulation, often followed by brief caesuras that punctuate the musical texture [...]“63 Der dritte Stil ist der der gesungenen Rap-Performance. Krims

58 Vgl. ebd., Introduction, S. xxxi. 59 Hier ist die Seite Rapgenius.com von unschätzbarem Wert; darauf weist auch die Anthology of Rap hin (S. xxxvii), Siehe auch Rapgenius.com: „Biggie/Tupac Live Freestyle“, http://genius.com/2813672 vom 16.08.2016. Wenn man dem Portal glauben darf, dann ist es hier Eminem selbst, der diese Raps interpretiert. 60 Bradley und DuBois: Introduction, S. xxxvi. 61 Adam Krims: Rap Music and the Poetics of Identity, Cambridge 2000, S. 50-51. 62 Ebd., S. 51. 63 Ebd.

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weist darauf hin, dass diese Stile nicht immer sauber voneinander zu unterscheiden sind, wohl aber mit den Identitäten der Rapper in den jeweiligen Subgenres des HipHops korrespondieren. Percussion-effusive steht laut Krims in der Nähe zur gesangsähnlichen Rap-Darbietung und findet sich in populären Sub-Genres des Hip-Hops, wie dem „mack rap“ (eines der Genres, die Krims definiert), während ein speecheffusive Rap mehr in Genres wie dem des „reality rap“ zu finden sei.64 Notorious B.I.G.s Performance im Madison Square Garden ist eher als percussion-effusive mit Elementen des „sung rap“ zu beschreiben. In den poetischen Techniken auf Ebene des Klangs und der Semantik setzt Rap das Poesieverständnis Batailles um und übertrifft es in dessen Forderung nach Radikalität womöglich noch. Hip-Hop entstand in den Armenvierteln wie der South Bronx, und als Antwort auf diese Umstände lässt sich Hip-Hop lesen. Hip-Hop-Chronist David Toop sieht im Hip-Hop ebenfalls eine direkte Verbindung zu der sozialen Wirklichkeit, nämlich „eine Alternative zu den Bandenkriegen, die in den späten 60ern wiederaufgeflammt waren“.65 Die Existenzialität, die Rappen für die jungen MCs hatte, drückt sich in Eminems Versen aus „Lose yourself“ aus, einem Song, dessen Refrain ein Motto zu Batailles Theorie des Sakralen sein könnte. Eminem rappt: „I’ve got to formulate a plot or end up in jail or shot / Success is my only motherfuckin’ option, failure’s not.“ Bradley und DuBois zitieren Hip-Hop-Pionier KRS-One: „Rap was the final conclusion of a generation of creative people oppressed with the reality of lack.“66 Aus diesem Mangel heraus kreiert Hip-Hop sprachlichen, visuellen und materiellen Überschuss – um das Sakrale als Gegenentwurf zur tristen Realität zu inszenieren.

64 Vgl. A. Krims: Rap Music, S. 75-76 und S. 86-87. 65 David Toop: Rap Attack, St. Andrä-Wördern 1992, S. 19. 66 KRS-One nach Bradley und DuBois, „Introduction“, in: The Anthology of Rap, S. xxix.

Hip-Hop-Musikvideos als hybride Medien Einleitende Bemerkungen Keep in mind, in the late ’80s it was still difficult to get rap songs on the radio. A video gave you nationwide exposure. BIG DADDY KANE1

In diesem Kapitel stehen Überlegungen zum Musikvideo des US-amerikanischen Hip-Hops als Medium der Identitätskonstruktion und als Marketingtool im Vordergrund. In der zu Beginn der 80er Jahre einsetzenden Mainstreamisierung von Popkultur in den USA werden Musikvideos des Hip-Hops zu einem Medium der landesweiten (und sogar globalen) Sichtbarmachung der Schwarzen und ihres gesellschaftlichen Status in den USA, wie in diesem Kapitel gezeigt wird.2 Zunächst wird anhand einer kurzen Analyse eines Mainstream-Musikvideos aus den 90er Jahren gezeigt, mit welchen Strategien Musikvideos Gemeinschaft entwerfen und befördern und wie sie die US-amerikanische Gesellschaft infrage stellen. Dafür wird neben Verweisen auf einzelne wichtige Hip-Hop-Videos exemplarisch auf den Clip TO LIVE AND DIE IN L.A. des Rappers Tupac eingegangen, der sich überwiegend religiöser und einiger

1

Rob Tannenbaum und Craig Marks: I want my MTV. The uncensored story of the music video revolution, London 2012, S. 388.

2

Will Straw schreibt zur Transformation der Musikindustrie in Nordamerika Anfang der 80er Jahre von einem neuen „pop music mainstream“, zu welchem gehörten: „the rebirth of Top 40, singles-based radio, and with it significant shifts in the relative influence of different music audience groups; an increase in the rate of turnover of successful records and artist career spans; the recov-ery of the record industry after a four-year slump; and the beginning of music video programming on a national scale“. Will Straw: „Popular Music and Post-Modernism in the 1980s“, in: Simon Frith et al. (Hg.): Sound and Vision: The Music Video Reader, New York 1993, S. 3-24, hier S. 3-4.

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weniger sakraler Elemente und Inszenierungsstrategien bedient.3 Er fungiert als Gegenbeispiel zu den mehrheitlich und deutlich das Sakrale zitierenden und inszenierenden Musikvideos des Analyseteils. Tupac bietet dabei ein gutes, kontrastierendes Beispiel zum Umgang mit religiösen Codes und Verweisen, weil er trotz der schwerpunktmäßigen Zugehörigkeit zum Gangsta-Rap – ähnlich übrigens wie auch Dr. Dre – so populär und vor allem in seinen Veröffentlichungen stilistisch so divers war, dass er besonders mit seinem späten Musikvideo TO LIVE AND DIE IN L.A. durchaus als Mainstream-Rapper seiner Zeit betrachtet werden kann. Der Mehrheit der US-amerikanischen Hip-Hop-Musikvideos ist gemein, dass sie Vergemeinschaftung intendieren – ob im Sinne einer eher unkritischen Fanbase oder weitergehend als gesellschaftspolitische Größe für einen Widerstand gegen Weiße Dominanz. Manche von ihnen beziehen dabei das Sakrale ein, andere entfalten ihre Bindungskraft eher auf eine in Nancys Sinne „religiöse“ Weise, also als bindend und ideologisch dominant und eindeutig. Manche sind sogar als ein eigenes Genre zu betrachten, wie das Genre des Gospel-Hip-Hops deutlich macht. Sich selbst ausdrücklich als christliche MCs verstehende Rapper, wie Stephen Wiley, Michael Peace oder Dawkins & Dawkins, rappen und tanzen ihre christlich-theologischen Inhalte für ihre Gemeinden.4 Mehr als dass es sich um zwei dichotome Pole handelt, scheint sich zwischen dem Sakralen und seiner Bindung in Religion ein Kontinuum aufzutun, in

3

Hiermit ist die Differenzierung zwischen „religiös“ und „sakral“ gemeint, wie sie Nancy in seinem Aufsatz „Das Bild – das Distinkte“, in: Am Grund der Bilder, Berlin 2006, auch in Anlehnung an Bataille entwickelt (vgl. S. 9-10.) Religiös ist für ihn das Bindende, einem Ritual folgende, Strukturierte, während das Sakrale für ihn zum „Distinkten“ wird, etwas Brüchiges oder Rissiges hat, woraus er folgert, dass Kunst nie religiös sein kann, weil sie „Bild von“ etwas ist und keine Verbindung stifte (vgl. S. 17). Wenngleich die Terminologie Nancys für diese Arbeit nicht weiter verwendet wird, so ist die Unterscheidung zwischen religiös und sakral wichtig, weil sie uns konkret am Gegenstand des Musikvideos TO LIVE AND DIE IN L.A.

erkennen lässt, welche Inszenierungsstrategien religiöser Zeichen in dem

Clip eher religiös und welche eher sakral sind, um sie letztlich in ihrer starken Bindungskraft und für diesen Clip durchaus in ihrer vereinheitlichenden Vergemeinschaftung, die so frei wählbar gar nicht mehr ist, zu begreifen. 4

Vgl. Josef Sorett: „African American Religion and Popular Culture“, in: A. B. Pinn (Hg.): African American Religious Cultures, Santa Barbara 2009, S. 533-548, hier S. 541. Siehe ebenfalls Martina Viljoen und ihre Analyse des Musikvideos WRAPPED UP des christlichen Hip-Hop-Duos Dawkins & Dawkins: „‚Wrapped up‘: ideological setting and figurative meaning in African-American gospel rap“, in: Popular Music 25 (2, 2006), S. 265-282. Sie zeigt in ihrer Analyse, dass das Musikvideo „black religious identity“ feiere, „without distancing it from underlying ideological formations associated with collective suffering and social injustice“, vgl. S. 265.

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das auch afroamerikanisch-muslimische Künstler/-innen, wie zum Beispiel jene der Five Percent Nation, einzuordnen sind und in dem Musikvideos je nach Subgenre unterschiedliche Funktionen erfüllen. Gleichzeitig problematisiert das Kapitel, an welchen Instanzen der Musikindustrie die Clips beeinflusst und verändert werden und wie die Musikindustrie auf das Aufkommen von Hip-Hop und den Wunsch Schwarzer, Musikvideos zu drehen, reagiert. Produktion und Ausstrahlung von Musikvideos sind wirtschaftlichen Bedingungen und Zwängen unterworfen, die Musikvideos aller Genres in ihrer Ästhetik massiv beeinflussen.5 Für Hip-Hop-Musikvideos und ihre Produktionsprozesse sowie die Menschen, die an diesen beteiligt sind, gilt, dass sie u.a. durch die Politik der Musikfernsehsender und -programme – allen voran MTV – in komplexen Prozessen von Marginalisierung und Entmarginalisierung stehen. Dieses Kapitel arbeitet diese sozioökonomischen Kontexte der Clips heraus und steckt einen Rahmen für die Frage nach dem Entfaltungspotenzial des Sakralen ab. Musikvideos werden in diesem Abschnitt vor dem Hintergrund ihrer ursprünglichen Aufgabe in der Musikindustrie dargestellt und nur für diesen Moment als Werbeträger, um Absatz von Tonträgern zu generieren, betrachtet. Es wird versucht nachzuvollziehen, wie einzelne Instanzen der Musikvideoindustrie auf Form und Inhalt von Hip-Hop-Clips Einfluss genommen haben, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie Künstler/-innen durchaus „durchkommerzialisiert“ werden und ihre Texte, der Sound und die Videos komplexen Anpassungsprozessen unterworfen sind. Schließlich lassen sich an Musikvideos der Hip-Hop-Kultur von Beginn an und auch heute immer noch Spuren einer Souveränitätsbewegung Schwarzer Künstler/-innen feststellen, wenngleich glaubhafte, nichtökonomisierte Opposition gegen eine hegemoniale Musikindustrie und letztlich innerhalb des race-Diskurses gegen Weiße Dominanzkultur in den USA aufgegeben worden ist. Ein besonderes Augenmerk liegt auf einer Diskussion der Prozesse, die zu negativer Stereotypenbildung führen, wie sie im Diskurs um Hip-Hop-Künstler/-innen immer wieder vorkommen. Musikvideoproduktionskontexte spielen dabei eine wichtige Rolle: In ihnen lässt sich eine tiefe Spaltung zwischen Schwarz und Weiß erken-

5

Die einzige wirklich relevante Monografie, die Musikvideos und die Zensur durch MTV untersucht, ist Monopoly Television. MTV’s Quest to Control the Music, Colorado 1996, von Jack Banks. Aufgrund der dünnen Quellenlage wird neben den wenigen Monografien, die die Musikvideogeschichte in den USA und im Besonderen die des Hip-Hops aufarbeiten, auf „graue“ Literatur mit unterschiedlicher Belastbarkeit sowie auf Online-Quellen wie Fanzines oder Online-Ausgaben von Tageszeitungen oder als solche ausgewiesenen Fachportale zurückgegriffen.

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nen, wie sie die Gesellschaft der USA prägt. Musikvideoproduktion in ihren wichtigsten Instanzen (Produktionskontext, Finanzierung, Sendebedingungen im Musikfernsehen, neue Musikvideoumgebungen im Internet) wird also nachvollzogen und ihre Einflussnahme auf die Inhalte und die Ästhetik von Musikvideos des Hip-Hops herausgearbeitet. Für Musikvideos, wie für alle anderen Medien auch, wird das Moment der Mitwirkung an sozialer, kultureller und sogar individueller Identitätskonstruktion angenommen. Es ist die wohl wichtigste Funktion, die sich von Musikvideos ableiten lässt – neben der direkteren Funktion der Absatzsteigerung der Tonträger (freilich auch digitaler Einheiten). Es ist sogar so, dass die Hip-Hop-Kultur von Anfang an stark und aktiv das Ziel verfolgte, Gemeinschaft und Sichtbarkeit der afroamerikanischen Bevölkerung zu erreichen. Die Zulu-Nation, wie sie 1973 von Hip-Hop-Pionier Afrika Bambaataa gegründet wurde, ist nur eines der Beispiele für Gemeinschaften, die aufgrund von gemeinsamen Werten, (Bildungs-)Aufträgen und Zielen gegründet wurden und eng mit der Hip-Hop-Kultur verbunden sind.6 Diese gesellschaftlichen Organisationen, die als religionsähnliche Gruppierungen einzuordnen sind, sind als Teile einer Empowerment-Bewegung zu verstehen. Das Ziel ist immer die Schwarze Bevölkerung der USA (im Fall der Zulu-Nation sind auch Weiße ausdrücklich mit einbezogen – siehe die weltweiten Chapter) mit Bildung (und Ideologie) zu stärken und zu einer Gemeinschaft unter diesen Zielen zu formieren.7 Die vielen Rapsongs von Künstler/-innen, die zum Beispiel der Five Percent Nation angehören oder dieser nahestehen, sind auf der Ebene gelebter Praxis Zeugnis der Durchdringung der HipHop-Kultur mit Werten dieser religionsähnlichen oder religiösen Gemeinschaften. Auch in den Untersuchungsobjekten dieser Arbeit lässt sich bereits in der Anfangszeit des medialisierten Hip-Hops diese Vergemeinschaftungsbewegung erkennen: Clips, in denen die „Posse“, der eigene erweiterte Freundes- und Bekanntenkreis, bei Blockpartys oder auf der Straße posierend zu sehen ist, rücken die Sichtbarkeit einer großen, Schwarzen Community in den Vordergrund. „Over most of its brief history (rap video production began in earnest in the mid-to-late 1980s), rap video themes have repeatedly converged around the depiction of the local neighborhood

6

Siehe: Zulu Nation: „What is The Universal Zulu Nation???????“, http://www.zulu nation.com/about-zulunation/ vom 16.08.2016. Weitere Organisationen, die eine durchaus auch kritisch zu sehende Vergemeinschaftung Schwarzer verfolgen und mit Hip-Hop eng verbunden sind, wären zum Beispiel die Nation of Islam oder die Five Percent Nation.

7

Siehe Miyakawa: Five Percenter Rap, für weitere Informationen zu religiösen und religionsähnlichen Gruppierungen und Künstler/-innen, die sich als zu diesen zugehörig positionieren. Siehe zum Beispiel die Alben des Wu-Tang-Clan, von Ice Cube oder Busta Rhymes. Eine umfangreiche Liste mit 90 Namen findet sich bei Miyakawa, S. 41-42.

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and the local posse, crew, or support system. Nothing is more central to rap’s music video narratives than situating the rapper in his or her milieu and among one’s crew or posse.“8

N.W.A.s STRAIGHT OUT OF COMPTON, KRS-Ones SELF-DESTRUCTION und Public Enemys FIGHT THE POWER sind markante Videos aus der frühen Musikvideophase des Hip-Hops und – so unterschiedlich die Lyrics und der Sound sind – gute Beispiele für das Inszenieren Schwarzer Gemeinschaft. Gerade bei dem Video FIGHT THE POWER, das von Spike Lee gedreht wurde, werden der vergemeinschaftende Impetus und die Protestkultur des Hip-Hops besonders deutlich: Für den Dreh wurde eine Demonstration im Schwarzen Viertel Bedford-Stuyvesant in New York organisiert, in deren Mittelpunkt ein Konzert von Public Enemy stand. „The clip documents a large rally in Bed-Stuy against the racially motivated violence that had plagued the city-red, black, and green pan-African imagery, civilian militia in black suits and gumby fades, and a well-placed Decepticons flag all flash by before the beat even drops. This landmark song and video are widely considered hip-hop’s greatest, and helped to mobilize a new youth culture with a civil rights movement of their own.“9

Tricia Rose weist im Zusammenhang von Hip-Hop-Musik und kommunitärer Bewegung ferner auf den wichtigen Anteil hin, den die Soundästhetik an dieser Bewegung hat, indem sie betont, dass das Sampling ganz klar eine vergemeinschaftende Technik, ein auditiver örtlicher und zeitlich-historischer Brückenschlag ist.10 Doch nicht nur vergangenheitsbezogen können Musikvideos Gemeinschaft vermitteln oder befördern. Auch in der Gegenwart stellen sie über örtliche Distanz hinweg eine Möglichkeit dar, sich zu verbinden und momenthaft einer frei wählbaren Gemeinschaft anzugehören. Der Moment der sakralen Erfahrung der Musikvideorezeption wird in diesem Kapitel diskutiert, indem mit Jean-Luc Nancy zunächst die Differenzierung zwischen „sakral“ und „religiös“ aufgegriffen wird. An einem Beispiel wird gezeigt, wie religiös-bindende Elemente in Musikvideos inszeniert werden, um Gemeinschaft zu stiften. Ferner zeigt das gewählte Beispiel, dass „sakral“ und „religiös“ nicht etwa als distinkte Pole fungieren, zu denen sich ein Musikvideo zuordnen ließe. Ferner lassen sich Anteile von religiösen und sakralen Inszenierungsweisen in den meisten Musikvideos in unterschiedlichen Graden feststellen. In dem nachfolgend analysierten Clip, der sich vieler religiös-bindender Elemente und Strategien bedient, sind die

8

T. Rose: Black Noise, S. 10.

9

Matthew Trammell et al.: „The 25 Most Important Civil Rights Moments in Music History“,

http://www.complex.com/music/2013/02/the-25-most-important-civil-rights-mo-

ments-in-music-history/elton-john-eminem vom 16.08.2016. 10 Vgl. T. Rose: Black Noise, S. 83-84.

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Momente für die Arbeit am spannendsten, in denen ein als zerstörerisch verstandenes Sakrales einbricht und die etablierte Ordnung des Musikvideos auf mehreren Ebenen stört.

Vergemeinschaftung in Tupacs T O LIVE AND DIE IN L.A. In den 90er Jahren haben im Mainstream-Hip-Hop vor allem die Künstler Notorious B.I.G. (auch Biggie Smalls) und Tupac (auch 2Pac oder Makaveli) für Aufsehen gesorgt. Beide Rapper haben mit dazu beigetragen, eine bestimmte Art von Hip-Hop Mitte der 90er zu einem globalen, massenmedialen Phänomen zu machen. Ihre Alben „Me Against the World“, „The Don Killuminati: The 7 Day Theory“ und „Ready to Die“ gehören zu den Verkaufsschlagern der 90er und sind mehrfach mit Platin ausgezeichnet worden. Beiden Künstlern gemein ist der traurige Umstand, zur Zeit ihres größten Erfolges von Unbekannten erschossen worden zu sein, was erheblich dazu beigetragen hat, sie als Märtyrer zu rezipieren. Im Folgenden wird eines der letzten Musikvideos, in denen Tupac zu sehen ist, analysiert, um die dort transportierte Idee von Gemeinschaft und in diesem Kontext auch von Religion zu verstehen. Es handelt sich um den Clip zu TO LIVE AND DIE IN L.A., der 1996 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde. Anhand einer kurzen Analyse des Clips im Hinblick auf die Repräsentation von Stadt, Straße sowie die Inszenierung von Gemeinschaft soll exemplarisch verdeutlicht werden, wie auf der visuellen Ebene Identitäten repräsentiert werden und wie reale Orte darin eine entscheidende Rolle spielen. Im Fokus der Analyse steht ein Stadt- und Straßenporträt von Los Angeles, das durch lokale Verortung Identität stiftet und Tupac in besonderer Weise in L.A. verankert. Dabei zeigt es überwiegend ein idealisiertes und romantisiertes Bild der Stadt als einen Gegenentwurf zu den vielen negativen Ereignissen, die die Stadt und ihre Bevölkerung im Anschluss an die Rodney-King-Unruhen 1992 erleben mussten. In TO LIVE AND DIE IN L.A. gibt uns Tupac eine Tour durch „sein“ Los Angeles. Mit seinen Stadt- und Straßenportraits und den vielen Gruppenszenen, die die Schwarze bzw. andere Minderheitengruppen in der Stadt in den Mittelpunkt rückt, hat der Clip viele für sein Genre typische Merkmale, weicht an interessanten Stellen allerdings auch ab. Der Clip beginnt mit einem Sonnenuntergang, Palmen und dem berühmten Hollywood-Schriftzug, zu dem wir das Intro zum Song hören. Tupac wird dann von vier jungen Frauen mit dem Auto abgeholt, als er an einer verwaisten Straße steht und Orangen verkauft. Er wird also für den Moment aus seiner prekären Tätigkeit herausgeholt und geht Vergnügungen nach. In einer Stadt noch heute ohne öffentlichen Nahverkehr in nennenswerter Größenordnung ist das Auto als Fortbewegungsmittel zentral, und so wird Tupac im Auto durch L.A. gefahren.

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Zwischendurch werden Luftaufnahmen von L.A.s Verkehrsknotenpunkten gezeigt, die sicher auch in der Motivtradition stehen, Urbanität zu repräsentieren. Im Zusammenhang mit dem Raptext und dem weiteren Kontext der Hip-Hop-Kultur wirken jedoch wie eine ironische Anspielung auf die Hubschrauberüberwachung der von der Polizei als problematisch wahrgenommenen Stadtviertel. Die sogenannte „ghettobird“-Überwachung wird im Song thematisiert, wenn Tupac rappt: „It’s the City of Angels in constant danger / South Central LA, can’t get no stranger / Full of drama like a soap opera, on the curb / Watching the ghetto bird helicopters, I observe“ Eingeblendet werden jedoch Aufnahmen konstant fließenden Verkehrs auf den großen Autobahnknoten in Los Angeles und nicht etwa soziale Dramen einer Seifenoper ähnlich oder die „konstant gegenwärtige Gefahr“ in Los Angeles, wie es in den Raps heißt. Die „Crew“ oder „Posse“, bestehend aus meist männlichen gleichaltrigen Bekannten, Freunden, Nachbarn und Verwandten, die laut Rose als elementares Motiv für Hip-Hop-Clips gilt, finden wir in TO LIVE AND DIE IN L.A. nicht wieder, wohl aber Gruppenportraits der Stadtbewohner/-innen. Das Video zeigt Tupac ohne jede typische Hip-Hop-Crew, dafür umringt von Frauen und Kindern in Einkaufszentren, auf öffentlichen Plätzen oder im Auto durch die Stadt fahrend, Spaß habend. Dabei gibt er uns ein Bild der Stadt mit Kirchen, anderen religiösen Institutionen, Schulen, Gemeindezentren, öffentlichen Plätzen und Treffpunkten und rückt immer wieder die Gemeinschaft und dezidiert eine Minderheitenthematik in den Blick. Auch biografisch ist dieser Clip nachvollziehbar: Tupac ist zu diesem Zeitpunkt „alleine“, er hat sich mit langjährigen Weggefährten zerstritten, was nicht nur das Outro des Songs, in dem er seinen vormaligen Produzenten Dr. Dre als „gay-ass“ bezeichnet, deutlich macht, sondern schon der Vers „I’m just a nigga on his own now“ artikuliert. Es gibt zwei Kategorien oder Arten von Orten im Videoclip. Zum einen sind es die, die wir als Zuschauer/-innen gemeinsam mit Tupac im Bild aufsuchen, und zum anderen die, an denen wir vorbeifahren oder die wir als Einblendungen teils in Splitscreen-Technik – verwendet, um ein facettenreiches, mehrteiliges Bild von L.A. darzustellen – gezeigt bekommen. In diesen Einstellungen sehen wir vor allem Gegenden des südlichen L.A.s11, darunter Shoppingzentren und Straßenzüge in Crenshaw, Baldwin Hills, Watts und der an L.A. angrenzenden Stadt Compton. Gleichberechtigt neben den Shoppingzentren, vor allem dem Crenshaw Plaza, sind Bilder religiös prägender Einrichtungen wie der Nation of Islam, der Verbum Dei High School (einer von Jesuiten in Watts angesiedelten Schule, die sich männlicher

11 Der visuelle Befund passt genau zum Vers „South Central L.A., can’t get no stranger“ – bis auf die Tatsache, dass er ein friedliches und fröhliches Bild von Los Angeles zeichnet. Eine Version des Videos findet sich hier: 2 Pac: „To Live and Die in L.A“, https://www.youtube.com/watch?v=1Jp20gOwlS4 vom 16.08.2016.

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Jugendlicher ohne finanzielle Unterstützung annimmt), der Iglesia Cristiana Hebron und einem Jesus Loves You Worship Center zu sehen. Diese Verweise auf lokale Repräsentanzen von Religion und konkret einzelnen Kirchengemeinden sind das visuelle, religiös bindende Element, ähnlich wie Nancy es beschreibt.12 Vor Roscoe’s House of Chicken and Waffles entspinnt sich ein für Hip-Hop-Musikvideos mildes, gar harmloses, Interagieren der Geschlechter, wenn Frauen und Männer sich eine Schlacht mit Hühnchen und Waffeln liefern. Diese flirtende Interaktion lässt sich mit Bataille durchaus als Geste der Verschwendung lesen, wird hier doch immerhin mit Essen geworfen und dieses damit der ursprünglichen Bestimmung der Nahrungsaufnahme entzogen. Die Szene ist die einer fast natürlichen und kaum gekünstelten Unbeschwertheit, die in dem Clip in einer sehr alltäglichen Umgebung mitten in L.A. einen sakralen Moment der Vergemeinschaftung zwischen den Geschlechtern einstreut. Durch die Überblendungen sowie die direkte Schnittabfolge von religiösen Institutionen, Einkaufszentren und beliebten Restaurants sowie Schildern, die die Stadtteile und Straßen benennen, werden die einzelnen Orte zu einem Ganzen verbunden, in dessen Zentrum die Vergemeinschaftung steht. Die Splitscreen-Technik, die immer wieder zum Einsatz kommt, macht einen parallelen Bestand der Orte und ihren Facettenreichtum deutlich. Das Musikvideo zeigt Minderheiten, die keine sind oder keine sein wollen. So ist Tupac ausschließlich von Afroamerikanern umgeben und kommt im Clip eine Sequenz von Einstellungen mit Menschen lateinamerikanischer Herkunft vor, die mit dem Still eines Graffitis eingeführt werden, auf dem steht: „Not a Minority“. Auch die Radiostationen, die Tupac im Outro nennt, 92.3 und 106, sind die Radiosender, die sich mit ihrer Musikauswahl an Schwarze und Hispanics richten.13 Bis auf drei Fotos, die kurz und unvermittelt eingeblendet werden, zeigt das Musikvideo helle, fröhliche, lebendige Szenen und Orte in einem Los Angeles, das sich deutlich auf öffentliche Plätze in seinen südlichen Stadtteilen beschränkt. Umso interessanter sind die Stills, die in den Clip etwa in der Mitte, parallel zum Ende der 2.

12 An dieser Stelle sei noch einmal erwähnt, dass Nancy freilich Kunst nie als „religiös“ gelten lässt, sondern sie immer als das „Distinkte“ bzw. als sakral begreift. Die Terminologie wird hier jedoch dahingehend verwendet, dass sich zwischen einem religiösen Sakralen und einem Sakralen ohne Bezug zu Religion ein Unterschied konstatieren lässt, der sich in der Qualität der Bindung und der Gemeinschaft bis hin in die Struktur des Musikvideos nachweisen lässt. Eine Unterscheidung in „Verbindung“ und „Riss“, wie Nancy sie vornimmt, ist also für die Beschreibung des Clips hilfreich, ohne dabei weitere Kunstdiskussionen unter Nancys Paradigmen führen zu müssen. Vgl. J.-L. Nancy: Bilder, S. 9. 13 Vgl. www.hot923.com und www.power106.com vom 16.08.2016, das bis vor Kurzem den Claim, „Where Hip-Hop Lives“ hatte.

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Strophe, wenn Tupac rappt „We might fight amongst each other“, eingeblendet werden. Sie zeigen Aufnahmen eines ausgebrannten Autos und eines Geschäftes sowie Rauchwolken über einem Gebäude in der Stadt und bringen die L.A.-Riots von 1992 für einen sehr kurzen Moment in das Stadtbild. Doch davon möchte Tupac eigentlich nichts zeigen – wohl aber möchte er daran erinnern, dass die soziokulturelle Entwicklung und seine Identitätsbestimmung von diesem Punkt in der Vergangenheit, der sich gegen Polizeigewalt auflehnenden Minderheitengemeinschaft, herrührt. Er entwirft in dem Clip ein ausgesprochen friedliches und gemeinschaftliches Los Angeles, eine Utopie der Stadt, die im Gesang des Engels im Refrain (von Tupac im Song angesagt mit: „Let my angel sing“, womit er die Soulsängerin Val Young meint) aufzugehen scheint. Die Strophen des Songs sagen jedoch etwas Anderes aus. In ihnen zeichnet Tupac das Bild eines von gewalttätigen Auseinandersetzungen geprägten Los Angeles. Er spricht von rivalisierenden Gangs, unterstellt dem damaligen republikanischen Gouverneur von Kalifornien, dem Hardliner Pete Wilson, mit dem Vers „Pete Wilson wants to see us all broke“ eine minderheitenfeindliche Politik und verurteilt sein „Three Strikes“-Gesetz, das bei Wiederholungstätern beim dritten Vergehen lebenslange Haft vorsieht.14 Das Los Angeles, was er im Text beschreibt, ist keinesfalls das, was wir im Clip zu sehen bekommen und auch keinesfalls ein realistisches Stadtporträt. Tupac nutzt hier jedoch den entspannten Beat, den melodiösen Bass und die Soul-Stimme von Val Young gemeinsam mit dem Filmmaterial eines sonnigen, familienfreundlichen Los Angeles’, um seine Utopie entstehen zu lassen. Wie an diesem Beispiel sehr gut zu sehen ist, sind die Orte und die Art und Weise ihrer Repräsentation von zentraler Bedeutung. Real existente Straßenzüge werden oft zum Schauplatz von Handlung oder sind zumindest als lose Motive in sehr vielen Hip-Hop-Musikvideos der 90er präsent. Der kurz analysierte Clip und auch die anderen im Zuge dieses Kapitels erwähnten, sind solche, die deutlich sozialkritische Positionen beziehen und dadurch per se durch die Raps Gemeinschaft, Zugehörigkeit oder Ausgeschlossensein thematisieren. Zu behaupten, dass die meisten Musikvideos des US-amerikanischen Hip-Hop so funktionieren, wäre verkürzt. Alleine in der Zeit, aus der die Beispiele stammen – und auch heute (vielleicht mehr) noch –, gibt es eine große Anzahl an Hip-Hop-Songs und -Clips, die ausgelassene Partys inszenieren und nicht zum Nachdenken, sondern zum Tanzen anregen. Auch in Clips des für diesen Zweck als „Party-Hip-Hop“ bezeichneten Subgenres, zeigt sich der Vergemeinschaftungsaspekt des Hip-Hops, wie Justin Williams unter Bezug auf Richard Middleton schreibt:

14 Siehe dazu auch die Kommentare auf rapgenius.com, einer Seite, die es ihren Nutzern ermöglicht, Raptexte zu kommentieren. Rapgenius.com: „To Live & Die in L.A.“, http://rapgenius.com/2pac-to-live-and-die-in-la-lyrics vom 16.08.2016.

144 | Z UR SAKRALEN DIMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS „The early hip-hop focus on the party conjures up notions of the pleasure-field, as described and theorized by Richard Middleton, a ‚loss of the subject‘ in experience jouissance. ... the notion of the collective (crews, audience, battles, community, diversity) became intertwined with hip-hop.“15

Die Vergemeinschaftung, die im sozialkritischen Hip-Hop gilt, findet im „Party-HipHop“ ebenso statt, geschieht nur in anderem Gewand, in einer anderen Ästhetik. In den Unterkapiteln, die zwecks einer Kontextualisierung der Fallstudien exemplarisch und überblicksartig Musikvideos des US-amerikanischen Hip-Hop aus den vergangenen Jahrzehnten behandeln, wird deutlich werden, wie Musikvideos des „PartyHip-Hop“ immer wieder Übergänge aus dem Alltag und der Arbeitswelt zu einer Umgebung und Situation der Feste und Feiern inszenieren, in denen sich Sakrales wiederfinden lässt. Im direkt anschließenden Kapitel zu Produktionsökonomien der Musikvideos werden Zusammenhänge von Medialisierung, Kommerzialisierung und Stereotypisierung erörtert, um die Produktionsbedingungen und ihre Konsequenzen für Inhalt und Gestaltung der Clips einordnen zu können.

Produktionsökonomien Die Entstehung des Musikvideos als Genre, wie wir es heute noch kennen, fällt in etwa zeitgleich zusammen mit dem Beginn der Medialisierung des Hip-Hops, also der Aufnahme der US-amerikanischen Hip-Hop-Kultur durch die Massenmedien. Musikvideos nehmen den Schwarzen Künstler/-innen die Unsichtbarkeit; so kommen sie nach und nach in die Wohnzimmer der USA und (sogar im Fall MTVs zeitlich eher) Europas. Dabei wird die Praxis des Rappens u.a. mit anderen Elementen der Hip-Hop-Kultur wie Graffiti16 und Bboying oder anderen Tänzen in Musikvideos sichtbar und es werden städtische Lebensräume von Schwarzen gezeigt, die bis dato

15 Justin A. Williams: Rhymin’ and Stealin’. Musical Borrowing in Hip-Hop, Ann Arbor 2013, S. 25 [Kursivierung wie im Original]. 16 Das Musikvideo zu WRONG SIDE OF DA TRACKS (1994) von Artifacts hat Graffiti als Kernthema. Eine ästhetische Strategiewird Graffiti in der Nachbearbeitung, wenn Einspieler eines animierten Graffiti-Schriftzugs (des Tags „Artifacts“) gezeigt werden. „Artifacts ‚Wrong Side of Da Tracks‘ (1994)“ (Video), http://www.complex.com/music/2013/02/the50-best-rap-videos-of-the-90s/artifacts-wrong-side-of-da-tracks vom 16.08.2016. Des Weiteren sind in fast jedem Musikvideo, das Filmmaterial von der Straße oder der „hood“ zeigt, Graffitis in unterschiedlicher Gewichtung vorhanden.

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der breiten Masse nicht zugänglich waren.17 Es finden eine Visualisierung und Vermittlung im Musikvideo statt, die auf einer quantitativen Ebene (zum Beispiel Sender, TV-Formate, Reichweiten) und als oberflächlich betrachtetes Phänomen als eine Entmarginalisierung aufgefasst werden können. Gleichzeitig findet auf einer inhaltlich-qualitativen Ebene, in den Narrationen, den Bildwelten und dem Gestus der Musikvideos eine zunehmende negative Stereotypisierung statt, die sich besonders im Gangsta-Rap feststellen lässt und die durch programmatische Entscheidungen der Musikvideosender und Musik-TV-Shows beeinflusst wird. Diese Stereotypisierung als eine qualitative Gegenbewegung zur Entmarginalisierung durch zahlenmäßige Präsenz kann als erneute Marginalisierung begriffen werden. Die im Laufe der Musikvideogeschichte des Hip-Hops zunehmende Mainstreamisierung einer kulturellen Praxis kommt also nur scheinbar einer Entmarginalisierung gleich, birgt sie doch durch einen extremen und höchst ambivalenten Umgang mit Stereotypen Potenzial für eine negative, ausgrenzende Identitätsbestimmung. Diese Stereotypenbildung, die von Marketingstrategien und kalkulierten Verkaufserfolgen wesentlich mit erzeugt wird, wird in diesem Kapitel in Beziehung zum Sakralen gesetzt. Das „Wie“ des Sakralen in den Clips ist Zeichen der Marginalisierung, drückt diese immer noch aus und wirkt gegen und mit dieser in den Clips. Das Musikvideo stellt visuell dar und macht affektiv erlebbar, dass die Schwarze Bevölkerung einen dominierenden Großteil der US-amerikanischen Gesellschaft stellt, was in Zahlen und sicher in der Wahrnehmung der Bevölkerung nicht stimmt. Im Jahr 2012 machten Schwarze 13 Prozent an der Bevölkerung in den USA aus.18

17 C. Bielefeldt bemerkt dies sogar für die Stimme im Hip-Hop in seinem Aufsatz „HipHop im Candy Shop“: „Die Rap-Stimme wird in dem Maße zum zentralen Aufmerksamkeitsmedium des HipHop, in dem die Rapper in den späten 1970er Jahren die DJs, Sprayer und Breakdancer an Popularität zu übertreffen beginnen. Zumindest für einige Zeit erscheint es möglich, über ethnische, soziale und räumliche Grenzen hinweg einer glaubwürdigen öffentlichen Stimme der afrikanisch-amerikanischen Unterschicht Gehör zu verschaffen“, S. 147. 18 Es konnten nur verlässliche Angaben zu 2012 gefunden werden. Die Argumentation wird durch diese Angabe dennoch bestätigt, da die Prognose lautet: „Bis zum Jahr 2060 werden sich laut Prognosen des US Census Bureau die Anteile der Ethnien in den USA deutlich verschieben: Demnach wird die Bevölkerung der USA im Jahr 2060 zu 43 Prozent aus Weißen (ohne Hispanics), 31 Prozent Hispanics, 15 Prozent Schwarzen und 8 Prozent Asiaten bestehen.“ Die Angaben stammen von statista.com, einem Angebot der Statista GmbH, die zu den führenden Anbietern für quantitative Daten zählt. Statista: „Bevölkerung der USA“, http://de.statista.com/statistik/faktenbuch/332/a/laender/usa---vereinigte-staaten-von-amerikaBevoelkerung-der-USA/ vom 16.08.2016.

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Dabei standen neue Formen der Gemeinschaft und der Inanspruchnahme von städtischem Raum und deren Sichtbarmachung im Vordergrund, wie Stuart Borthwick und Ron Moy schreiben: „Hip-hop culture rose out of, and was directly determined by, the experience of African-American New Yorkers living amid these economic changes. A general philosophical shift towards individualism (which was already prevalent in mainstream American society) was contested by hip-hop’s articulation of new forms of community and new forms of occupying the urban space bequeathed to African-Americans.“19

Aus diesem Gedanken begründet sich auch die These dieser Arbeit, die das Sakrale als Gemeinschaft stiftende Kraft ansieht und sein Vorkommen in den Clips dem Ziel, oppositionäre Gemeinschaft zu bilden, zuordnet. Das Sakrale wird so zu einem wichtigen Moment, die Massen zu bewegen oder wie in der Terminologie des Hip-Hops zu sagen wäre: „to move the crowd“.20 Mit der Entwicklung und Diversifizierung der Hip-Hop-Musikvideos in den letzten 15 Jahren – eine Entwicklung, die im finanzstarken Mainstream konträr zu den in der Branche sinkenden Budgets steht – ist sogar eine Zunahme des Sakralen zu verzeichnen. Eine Vermutung ist die Notwendigkeit der globalen Zielgruppenansprache: Eine weltweite Vermarktung macht es notwendig, die Videos von großen, Mitte der 90er weltweit bekannt gewordenen Künstler/innen wie den Fugees, Dr. Dre oder Cypress Hill und den heute noch tonangebenden Megastars Jay Z und Kanye West mit lang tradierten, kulturübergreifenden Symbolen und Codes derart zu gestalten, dass sie ein breites Publikum ansprechen. Die Entstehungsbedingungen und -kontexte der Musikvideos zeigen einmal mehr, dass Clips wichtige Instrumente der Vermarktung von Musik und im Kern an Ausrichtung, Entwicklung und Verbreitung einer bestimmten Ausprägung eines Musikstils (beispielsweise des Gangsta-Raps als einem Subgenre des Hip-Hops) beteiligt sind. Als solche sind sie für Absatzzahlen von (digitalen) Tonträgern direkt und indirekt verantwortlich, weil sie das Image des Stars wesentlich prägen. Das Sakrale in Batailles Definition und wie es in den einzelnen Musikvideoanalysen beschrieben wird, konstituiert wesentliche Inhalte und Qualitäten der befragten Musikvideos und zeigt sich somit als Teil nicht nur einer globalisierenden Vergemeinschaftungsästhetik, sondern genauso innerhalb einer Warenästhetik und damit als Ergebnis produktionsökonomischer Zwänge. Es werden in diesem Kapitel die Grundlagen gelegt, die

19 Stuart Borthwick und Ron Moy: Popular Music Genres: An Introduction, Edinburgh 2004, S. 163. 20 Rakim in seinem Song „Paid in Full“. Dies setzt nicht etwa eine konkrete Rezeptionssituation in einer Menschenmenge voraus, sondern meint genauso das geistige In-BewegungSetzen durch Anregungen oder Aufrufe, wie wir sie in Hip-Hop-Songs finden.

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sozioökonomischen Bedingungen konkret auf Musikvideos bezogen zu verstehen, unter denen das Sakrale in jenen dann in den Clips erscheint. Plattenfirmen haben von Beginn an großen Einfluss auf die Inhalte von Hip-HopSongs genommen. Besonders Anfang der 90er wurde auf die von politischer Seite kommenden Vorwürfe der Jugendgefährdung wegen Obszönität und Gewaltverherrlichung im Hip-Hop und im Speziellen im Gangsta-Rap reagiert, und die vorwiegend männlichen Künstler wurden ermutigt oder unter Druck gesetzt, bestimmte Inhalte zu produzieren. Greg Wahl analysiert in seinem Aufsatz „‚I Fought the Law (And I Cold Won!)‘: Hip-Hop in the Mainstream“ die Einflüsse der Musikindustriestrukturen auf die Inhalte von Hip-Hop-Songs: „If [...] we see the problems of the marketplace as primary in relation to the moral content of entertainment, a more complex picture emerges, one in which it is not so easy or useful to differentiate rappers’ social production from their marketing strategies, or indeed from the uses made of rap by consumers. Of particular importance in the nebulous relationship between the marketplace and moral content is the dichotomy between entertainment that is seen to comprise an “authentic” threat to deep-seated inequality, and is therefore doomed to embrace commercial and popular obscurity; and entertainment that does not threaten the socioeconomic status quo and so may become “mainstream,” commercially successful on a mass scale.“21

Mainstream kann Wahl zufolge keine Gefahr mehr für gesellschaftliche Ordnung, zum Beispiel für alte hegemoniale Strukturen, sein, was die Relevanz des Vorhabens, Sakrales aus den Randbereichen der Gesellschaft in der Mainstream-Umgebung des Musikvideos auf seine Wirkmächtigkeit zu untersuchen, betont. An Künstlern wie Run-DMC, De la Soul, den Beastie Boys und Public Enemy kann Wahl zeigen, dass Mainstream im Hip-Hop ein Mikrosystem ist, in dem sich gesamtgesellschaftliche Strukturen von sozioökonomischer Dominanz und Unterordnung spiegeln. Dieses System, so Wahl, werde durch die Köpfe der Musikindustrie erhalten, um Gewinne zu maximieren, und erhalte Rassismus und Diskriminierung im Hip-Hop in der sich gut verkaufenden Waage.22 Als eine direkte Konsequenz aus der von Verantwortlichen der Musikindustrie wie vom Geschmack der Mehrheit geschaffenen und erhaltenen Figur des Hustlers im sich sehr gut verkaufenden Gangsta-Rap zeigt Jennifer Lena, dass dieselben unterdrückenden Strategien, unter denen die Schwarze Bevölkerung gelitten hat, kommerziell erfolgreich und mehrheitlich akzeptiert eingesetzt

21 Greg Wahl: „‚I Fought the Law (And I Cold Won!)‘: Hip-Hop in the Mainstream“, in: College Literature 26 (1, 1999), Cultural Violence (Winter), S. 98-112, hier S. 100. 22 Ebd., S. 109-110.

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werden.23 Den Hustler definiert sie dabei wie folgt: „[O]ne foot in the world of extreme bourgeois consumption and success and the other in the ghetto.“24 Dieser schaffe es, eine notwendige Authentizität im Sinne einer (scheinbaren) Non-Konformität zu behalten und dabei gleichzeitig geschäftlich erfolgreich zu sein.25 Wegen und mit der Figur des Hustlers, eines negativen Stereotyps Schwarzer, bleibt die bestehende hegemoniale Ordnung erhalten.

Hybridität und Gemeinschaft Die oben beschriebenen Prozesse von Marginalisierung und Stereotypisierung sind nur unter der Prämisse eines Verständnisses von Kultur und Gesellschaft als hybride sinnvoll denkbar. In diesem Kulturverständnis stehen Musikvideos als eben solche „hybriden Gebilde“, die „als zusammengesetzte Gebilde der Montage und der Implantation, des Arrangements“26 zu betrachten sind. „Diverse, teilweise scheinbar inkommensurable Code- und Sinnelemente werden miteinander montiert und arrangiert, eines wird ins andere implantiert. Differenzmuster, die einander scheinbar widersprechen, finden sich in einem hybriden Gebilde in eigentümlicher Kombination wieder […]“27 Auch auf einer den einzelnen ästhetischen Formen – die in gewisser Weise als Aktualisierungen eines Diskurses gelesen werden können – übergeordneten Ebene lassen sich Reckwitz zufolge hybride Gebilde beschreiben. Felder oder Systeme wie die des Politischen, Ästhetischen oder Ökonomischen lassen sich ebenso also hybride Gebilde, die in Relation und Überschneidung miteinander stehen, begreifen:

23 Vgl. dazu Jennifer C. Lena: Social Context and Musical Content of Rap Music, 1979-1995, in: Social Forces 85 (1, 2006), S. 479-495. Lenas Aufsatz enttarnt die Einflussnahme der Musikindustrie auf frühe Hip-Hop-Musik. Die folgende Untersuchung sozioökonomischer Bedingungen der Musikvideoproduktion für den US-amerikanischen Hip-Hop lässt ähnliche Ergebnisse erkennen, wie sie Lena und Wahl für Alben und Songinhalte erarbeitet haben. 24 Ebd., S. 486. 25 Vgl. ebd. S. 490. 26 Andreas Reckwitz: „Generalisiserte Hybridität und Diskursanalyse. Zur Dekonstruktion von ‚Hybriditäten‘ in spätmodernen populären Subjektdiskursen“ in: Britta Kalscheuer und Lars Allolio-Näcke (Hg.): Kulturelle Differenzen begreifen. Das Konzept der Transdifferenz aus interdisziplinärer Sicht, Frankfurt 2008, S. 17-39, hier S. 19 [Kursivierung wie im Original]. 27 Ebd., S. 19.

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„Tatsächlich lassen sich innerhalb der gesellschaftlichen Praxis der Moderne sowohl simultan als auch in ihrer diskontinuierlichen historischen Entwicklung eine Reihe differenter, ja zunächst logisch inkommensurabler Codes rekonstruieren: Unterscheidungen von Produktion und Konsumtion, von Recht und Gewalt, von Ästhetischem und Zweckvollem, etc. Aber jene institutionalisierten Cluster sozialer Praktiken, die auf den ersten Blick auf der Grundlage jeweils einer Leitunterscheidung ein Feld/System, wie das „der Ökonomie“, zu begründen scheinen, stellen sich tatsächlich regelmäßig als historisch veränderliche hybride Montagen unterschiedlicher Codes verschiedener Herkunft dar, die sich in diesem Cluster von Praktiken miteinander kombinieren und damit potenziell Friktionen und Instabilitäten produzieren.“28

In Form von konkreten Aktualisierungen werden diese Grenzen der sich diskursiv konstituierenden Felder permanent überschritten und, so Reckwitz, immer wieder als Grenzen zu einem Außen, einem Anderen und Fremden markiert.29 Diese Prozesse der Differenzmarkierung sind in den Musikvideos des Hip-Hops ganz entscheidend, da die Clips als wesentlich für die Identitätskonfiguration Schwarzer Künstler/-innen (als stellvertretend für den Schwarzen Teil der Gesellschaft in den USA) in gleichzeitiger Abgrenzung und Bestätigung einer Weißen Dominanzkultur oder Mehrheitsgesellschaft sind. Differenzmarkierungen als Prozess der Marginalisierung und Stereotypisierung sind in der Institutionengeschichte von Hip-Hop-Musikvideos in den USA genauso nachvollziehbar wie innerhalb der Clips selbst als ästhetische Aktualisierungen des Identitätsdiskurses. Das Sakrale wird hier besonders wichtig: Es wird als auf einer gesellschaftlichen Ebene Felder und Systeme überschreitende Leitdifferenz in den einzelnen Clips auf einer ästhetischen Ebene so inszeniert, dass es zum Instrument in der Auseinandersetzung mit dem Fremden und dem Eigenen, dem Kampf um Identität und Zugehörigkeit wird. Als weiterführende Erklärung, warum das Sakrale von Religion zu unterscheiden ist, sei hier nochmals auf Jean-Luc Nancy verwiesen, der in „Am Grund der Bilder“ das Sakrale als das Getrennte und das Ausgegrenzte versteht. Bataille hat das Sakrale genauso definiert,30 aber bei Nancy findet sich eine explizite Erklärung zum Unterschied zwischen Religion und dem Sakralen. Religion stehe für Bindung, sie komme gewissermaßen ins Spiel, um das Sakrale einzufangen und Gemeinschaft (im Bereich der Religion auch Gemeinde) hervorzubringen. Das Sakrale hingegen versteht er als das Getrennte, das Ausgegrenzte, das immer außerhalb von dauerhaften Bindungen steht, die Religion geradezu fordert: „In einem gewissen Sinne stehen sich Religion und das Heilige so gegenüber wie die Verbindung dem Riß. In einem anderen Sinne kann die Religion als das dargestellt werden, was eine

28 A. Reckwitz: Hybridität, S. 21. 29 Vgl. ebd., S. 23. 30 Nancy verweist in einer Fußnote auch direkt auf Bataille.

150 | Z UR SAKRALEN DIMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS Verbindung zu dem abgetrennten Heiligen herstellt. In einem wieder anderen Sinne besteht das Heilige nur durch seine Trennung, und es kann zu ihm keine Verbindung geben. Es gibt strenggenommen also keine Religion des Heiligen.“31

Demnach wird das Sakrale (und eben nicht Religion) zum Instrument der Abgrenzung vom Anderen, aber auch des Überhöhens und bewussten Exkludierens des Eigenen. Im Diskurs um Hegemonialität und Vormachtstellung ist das Sakrale das Instrument zur Markierung des Anders- und Souveränseins. Dass das Sakrale dennoch Gemeinschaft stiftet, bringt Inge Baxmann auf den Punkt: „Das Sakrale findet seinen Niederschlag insbesondere in allen kommuniellen Bestrebungen. [...] Das Sakrale ist in allen ‚mouvements communiels‘ präsent.“32 Es funktioniert mit Bataille und den Collège-Mitgliedern, auf die Baxmann sich hier bezieht, insofern als gemeinschaftsstiftend, als dass es Gemeinschaft als subversiven Gegenentwurf zur dominierenden Gesellschaft hervorbringt. Dabei behält es die Brüchigkeit, von der Nancy schreibt, denn es erscheint momenthaft und aufblitzend, niemals aber als dauerhaft stabiles Ganzes. Auf diese Brüchigkeit und den „Mangel an Einheit“ geht Bataille in einem Vortrag zu Beginn des Collège de Sociologie ein und betont für die soziale Einheit: „Und auch wenn man ohne weiteres zugeben kann, daß die soziale Einheit äußerst brüchig ist und daß eine Gesellschaft im selben Augenblick aus mehreren, gleichermaßen einhelligen Massen bestehen kann, die sich ignorieren und wieder zerstreuen, ist nicht zu verkennen, daß eine gewisse Struktur, zu der Institutionen, Riten und gemeinsame Vorstellungen beitragen, letztlich die kollektive Identität bewahrt.“33

Bataille sieht also im Sakralen, wie es durch Riten und gemeinsame Vorstellungen (an anderer Stelle thematisiert er in diesem Zusammenhang den Mythos) hervorgebracht wird, trotz des Risses und der sprengenden Kraft eine gemeinschaftsstiftende Instanz. Die Institutionengeschichte der Musikvideos in den USA begriffen als Facette der Kulturgeschichte von Hip-Hop offenbart, was Hip-Hop in seinen Songs und in

31 J.-L. Nancy: Bilder, S. 9. 32 Inge Baxmann: „Das Sakrale im Rahmen einer Kulturanthropologie der Moderne: Das Collège de Sociologie“ in: Bernhard J. Dotzler und Ernst Müller (Hg.): Wahrnehmung und Geschichte. Markierungen zur Aisthesis materialis, Berlin 1995, S. 279-298, hier S. 284-285. 33 G. Bataille: „Die Sakralsoziologie und die Beziehungen zwischen ‚Gesellschaft‘, ‚Organismus‘ und ‚Wesen‘, (Vortrag am Collège, Samstag, 20. November 1937)“, in: Denis Hollier (Hg.): Das Collège de Sociologie 1937–1939, S. 43-62, hier S. 55.

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den Clips thematisiert: die Schwierigkeiten rund um Identität und Verortung34 oder die Differenzmarkierung zu einem Außen und Anderen, das Verhandeln von Subalternität und ein Auflehnen und Unterwandern von institutionalisierter (Weißer) Macht. US-amerikanische Hip-Hop-Musikvideos35 sind als Orte zu betrachten, in denen unter produktionsökonomischen Zwängen Kämpfe um Symbole, Codes und Identität ausgetragen werden. Das Leben des amerikanischen Traums in Villen mit Jacuzzis, auf Yachten und mit vielen Partys sind nur die Inhalte eines Teils der Mainstream-Clips, und selbst dieser liest sich gegen die Folie eines verlängerten postkolonialen Diskurses als extreme Reaktion auf eine (scheinbar) überwundene Ausgrenzung durch ein Leben in prekären Verhältnissen. Luxus – hier in Form von Villen, Autos und Designer-Kleidung inszeniert – ist einer der Orte, an denen sich in unserer Welt das Sakrale ausdrückt. Durch den Mechanismus der Verschwendung – das Herumwerfen mit Geld und Gold, das Tragen schwerer Goldketten; auch Diamanten sind bei Bataille Opfer im Sinne der Verausgabung – schaffen gerade die Musikvideos ab Mitte der 90er, als die Produktionen die größten Budgets hatten, ein Sakrales, das sich auf den Star überträgt. Dieser Hip-Hop-Star und seine sakrale Anziehungskraft wiederum machen ähnlich jenen kurzfristigen, kollektiven Erregungen „selbstgewählte Gemeinschaften“36 möglich.

34 T. Rose zu „Identity and Location“, Black Noise, S. 10. 35 Ist ein Musikvideo dieser Kategorie so einwandfrei zuzuordnen, wenn der Regisseur aus Schweden stammt, die Künstler/-innen aber aus den USA – oder anders herum: Konstituiert dieses Genre auch ein Clip, der einen kanadischen Rapper zeigt und von einem USamerikanischen Regisseur gedreht wurde? Die Kategorie scheint sich vor allem an der Nationalität des Künstlers/der Künstlerin des Songs festzumachen. 36 „Selbstgewählte Gemeinschaft“ ist eine Formulierung Batailles, die er in Abgrenzung zu „traditionaler Gemeinschaft“ benutzt. Vgl. Georges Bataille: „Die Sakralsoziologie und die Beziehungen zwischen ‚Gesellschaft‘, ‚Organismus‘ und ‚Wesen‘“, Samstag, 20. November 1937, in: Denis Hollier (Hg.): Das Collège de Sociologie 1937-1939, S. 43-62, hier S. 56.

Institutionen der (Hip-Hop-)Musikvideogeschichte

Im Folgenden wird die Musikvideogeschichte unter sozioökonomischen Bedingungen an wichtigen Stationen beispielhaft nachvollzogen. Eine prägnante Beschreibung der Anfänge des Mainstream-Hip-Hops in den USA bietet Tricia Rose in Black Noise: „Rap went relatively unnoticed by mainstream music and popular culture industries until independent music entrepreneur Sylvia Robinson released ‚Rapper’s Delight‘ in 1979. Over the next five years rap music was ‚discovered‘ by the music industry, the print media, the fashion industry, and the film industry, each of which hurried to cash in on what was assumed to be a passing fad. During the same years, Run DMC (who recorded the first gold rap record Run DMC in 1984), Whodini and the Fat Boys became the most commercially successful symbols of rap music’s sounds and style.“1

Hip-Hop war um 1980 herum also bereits eine etablierte und gängige kulturelle Praxis, die aus Graffitikunst in den Straßen New Yorks, verschiedenen Tanzstilen und praktiken, aus Rap und kunstfertigem DJing besteht. Wenn in 2015 vom Mainstream im Hip-Hop (und dies gerne im alltäglichen Diskurs auch geringschätzig) gesprochen wird, so setzt dieser nicht Mitte der 90er Jahre mit den millionenschweren Albenund Musikvideoproduktionen ein: Schon die in der Forschung und der Hip-Hop-Geschichtsschreibung immer wieder als eine Art Initiationshandlung beschriebene Produktion und Vermarktung der Single „Rappers Delight“ war ein großer Schritt in Richtung Mainstream. Wenig verwunderlich, aber doch wenig aufgegriffen und diskutiert ist die spätestens von da an betriebene Geschichtsschreibung innerhalb des Hip-Hops, von Hip-Hop-Künstler/-innen in ihren Songs und Musikvideos. Diese

1

T. Rose: Black Noise, S. 3-4.

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wird schon 1984 in Whodinis Song und Musikvideo MAGIC WAND2, der den RadioDJ Mr. Magic lobpreist, sichtbar: „Well, rapping’s always been around (Well, it says that it’s big time now) Every neighborhood had its own crew (That meant you against me) and me against you (They would jam every weekend at the neighborhood center) And charge a small price for the crowds to enter (The parties would be packed inside and out) To see who was best at rockin the house (It’s all in Mr. Magic’s ...Wand) Cause then Magic went on the radio And everybody said: ‚What a way to go!‘ The moment he went on the air It was plain to see a new phase was here He started out playing mostly rap Then they all said: ‚Nobody’s into that‘ Well, they all turned out to be wrong Cause rappin on the mike had caught on strong Some still say it’s not what’s happenin After ‚Rapper’s Delight‘ went triple platinum The record world was in for a smash Sugarhill, Kurtis Blow, to Grandmaster Flash Blondie, Stevie Wonder, Teena Marie They even made a rapper out of me“

Die Rapper von Whodini erzählen die Anfänge des Hip-Hops schon 1983 als ein sich Behaupten, Auflehnen, Durchhalten und letztlich Siegen. Es wird für Hip-HopKünstler/-innen als erstrebenswert dargestellt, hohe Verkaufszahlen zu erreichen und damit zum Mainstream zu gehören (triple platinum). Auffallend ist auch die letzte Zeile des Zitats „They even made a rapper out of me“ – das Gemachtwerden, hier konkret durch die „record world“, ist 1984 voll reflektiert und gleichermaßen im Bewusstsein der Künstler/-innen und Rezipierenden vorhanden.

2

Die hier abgedruckte Version stammt von Whodini: Magic’s Wand, http://www.dailymotion.com/video/x7jxh_whodini-magic-s-wand_news vom 16.08.2016.

I NSTITUTIONEN

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Im Musikvideo sind bereits einige der zentralen visuellen Motive des heute kommerziell erfolgreichen Hip-Hops vorhanden: Es gibt zum einen zahlreiche Tanzszenen: stark durchchoreografiert und auch frei, Gruppen und einzelne Tänzer auf einer Party. Zum anderen fokussiert die Kamera nicht nur tanzende Körper und stellt sie alleine ins Bild, sondern sie fängt den Po einer Tänzerin ein.3 Die Körperrückseite der Tänzerin wird gefilmt und der Zoom sukzessive verringert, bis eine tanzende Gruppe zu erkennen ist. Mithilfe des Zauberstabs, den der DJ im Musikvideo in der Hand hat, wird der Rapper in einen Star verwandelt und so der Erfolg des Hip-Hops bildlich dem Zauber zugeschrieben.4 Die Herleitung von Hip-Hops Kraft über Zauberei oder Magie ist nicht die einzige Analogie, die auffällig ist. Der Zauberstab mag sich auch als phallisches Symbol interpretieren lassen – zumindest aber konnotiert er hier bereits männliche Potenz, wie sie im Mainstream-Hip-Hop der nachfolgenden Generationen maßgeblich inszeniert wird. Rose erklärt weiter, dass das rasante Wachstum des Kabelfernsehens in den 80er Jahren erheblichen Einfluss auf das Musikgeschäft und damit auch auf Hip-Hop hatte.5 Die Entstehung des Musikfernsehens war die Motivation, überhaupt Musikvideos zu produzieren, und liegt in etwa zeitgleich mit der Mainstream-Offensive des Hip-Hops durch Künstler/-innen wie Run DMC, Whodini oder Roxanne Shanté. Seit 1989, so Rose, habe MTV regelmäßig Hip-Hop-Musikvideos ausgestrahlt, weil es einen Markt in der Weißen Zuschauerschaft zu sehen begann.6 Wenn Dan Charnas schreibt, 2010 seien 10 von 20 Künstler/-innen in den Top Twenty der USA Rapper/-innen und die meisten ihrer Fans Weiße, kommt er zu dem Schluss: „America has officially been remixed“7 – eine Feststellung, die in Zweifel gezogen werden sollte. Rose stellt ebenfalls jene Zusammenhänge zwischen Schwarzer Kulturpraxis und Weißen Rezipienten her, macht auch eine große Beliebtheit des Hip-Hops bei einem Weißen Publikum aus, aber kommt nicht unkritisch zu dem

3

Dies ist nicht der Ort für die Geschichte des weiblichen Pos im Hip-Hop, die zurückgeht auf die karikierenden Darstellungen von Frauen der Hottentotten in Afrika und bis hin zu Nicki Minajs Po in ANACONDA zu betrachten ist. Die erste Einstellung auf den Po einer Frau in Hip-Hop-Musikvideos findet sich wahrscheinlich hier.

4

Die zufällige Parallele zwischen Rappern und Batailles Zauberlehrlingen, wie er die Mitglieder des Collège nannte, verweist auf die Außeralltäglichkeit des Raps und von HipHop allgemein. Zauberei und Magie stehen ganz in der Nähe des Sakralen und im konkreten Beispiel ist die deutliche Wirkungsmacht von Hip-Hop auf seine Zuhörer/-innen (und Tänzer/-innen) bezeichnet.

5

Vgl. T. Rose: Black Noise, S. 8.

6

Vgl. ebd.

7

Dan Charnas: The Big Payback. The History of the Business of Hip-Hop, New York 2011, S. 637.

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Schluss, dass die USA nun „officially remixed“ seien und spricht auch nicht wie Charnas von einem „takeover“ Schwarzer Künstler/-innen.8 Stattdessen weist sie darauf hin, dass die Faszination Weißer Teenager für Schwarz kodierte kulturelle Praktiken im 20. Jahrhundert viele Gesichter hat und führt Jazz, Rock ’n’ Roll, Soul und R’n’B als Beispiele an. Ferner kritisiert sie mit Blick auf die kapitalistische Ökonomie, die sich in einer Aneigung von durch Schwarze populär gemachten Kulturpraktiken durch Weiße Künstler/-innen zeige: „There is abundant evidence that white artists imitating black styles have greater economic opportunity and access to larger audiences than black innovators.“9 Nicht die Vorgänge des Aneignens, Tauschens, Kopierens und Weiterentwickelns sind problematisch, sondern dass diese in direktem Zusammenhang mit ökonomischer Ausbeutung Schwarzer Künstler/-innen, dem systematischen Fernhalten dieser von Produktions- und Distributionsmöglichkeiten durch Weiße stehen. Auch Hip-Hop-Chronist Jeff Chang bestätigt, dass die Manager und Produzenten des frühen Hip-Hops Weiße sind, was Hip-Hop in diesem direkten Zusammenhang als hybride Kulturpraxis zu erkennen gibt: „The emerging leaders of the rap industry were often whites comfortable and conversant with a nonwhite world. Monica Lynch, who ran Tommy Boy’s operations, was a feminist ex-go-go dancer with a canny eye for urban style and a golden ear for leftfield acts. Dave ‚Funken‘ Klein, The Source columnist, left Def Jam to start the first globally minded hip-hop label, Hollywood/BASIC, where he plucked artists from Zimbabwe and England, and signed seminal acts like Organized Konfusion, Peanut Butter Wolf, and DJ Shadow.“10

Als ein weiteres, zeitlich frühes Beispiel für Hybridität in der Produktion und Distribution von Hip-Hop sei die Figur Rick Rubin ins Spiel gebracht. David Samuels beschreibt Rubin in seinem 1995 erschienenen Essay „The Rap on Rap. The ‚Black Music‘ that isn’t either“ als einen „Jewish punk rocker from suburban Long Island.“11 „Like many New Yorkers of his age, Rick grew up listening to Mr. Magic’s Rap Attack, a rap radio show on WHBI. In 1983, at the age of nineteen, Rubin founded Def Jam Records in his NYU dorm room. ... Rubin’s next group, the Beastie Boys, was a white punk rock band whose

8

Vgl. ebd., S. 637.

9

T. Rose: Black Noise, S. 5-6.

10 J. Chang: Can’t Stop, S. 418, [Kursivierung wie im Original]. 11 David Samuels: „The Rap on Rap. The ‚Black Music‘ that isn't either“, in: Adam Sexton (Hg.): Rap on Rap. Straight-up Talk on Hip-Hop Culture, New York 1995, S. 241-252, hier S. 245.

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transformation into a rap group pointed rap’s way into the future. The Beasties’ first album, Licensed to Ill, ... became the first rap record to sell a million of copies.“12

Weiße Künstler/-innen, von einem Weißen produziert, bereiteten dem Hip-Hop den kommerziellen Durchbruch. Rick Rubin war es dann auch, der die Gruppe Public Enemy produzierte und vermarktete, wie wir weiter bei Samuels lesen, jene Gruppe, die u.a. mit ihrem Song „Fight the Power“ für eine politisch radikale Haltung bekannt wurde. Von Samuels wird der Erfolg von Public Enemy direkt aus der Nachfrage eines Weißen Publikums hergeleitet: „[W]hite demand indeed began to determine the direction of the genre, but what it wanted was music more defiantly black. The result was Public Enemy.“13 Public Enemy habe 1995 zur Hälfte Weiße Fans gehabt, während sie vorrangig Lebensrealitäten der Schwarzen Bevölkerung kommentieren, thematisiert der Musikwissenschaftler Robert Walser: „For while Public Enemy often addresses specifically black experiences, the group has cultivated and secured a fan base that is half white. So while analysis of rap music must be grounded in the African American context of its creation, its reception is more complex and multi-cultural.“14 Während Walser dies positiv bewertet: „While the pro-black rhetoric of rap is often perceived as promoting separatism, in fact many white youth develop black friends and reject their parents’ racism because of the respect they have developed for black rappers“,15geht Samuels weiter als Rose, wenn er zu dem Schluss kommt, dass das Schauen von Hip-Hop-Musikvideos und Kaufen von Hip-Hop-Platten ein Konsumieren rassistischer Stereotype sei, die letztlich nur wieder Segregation und Marginalisierung unterstützten.16 Musikvideos sind als wesentliche Medien und Orte für die Verhandlung von Schwarz und Weiß und der sich ergebenden kulturellen Differenz zu sehen. Auch in einem konkreten wirtschaftlichen Rahmen, so Rose, haben Musikvideos des HipHops eine Veränderung hervorgebracht, indem sie Schwarzen Künstler/-innen hinter der Kamera zu verschiedenen Berufsbildern Zugang ermöglicht haben, wenngleich Rose einschränkt, dass diese Berufe oftmals prekäre Lebenssituationen hervorgebracht hätten: „The emergence of rap music video has also opened up a previously nonexistent creative arena for black visual artists. Rap music video has provided a creative and commercially viable arena

12 D. Samuels, Rap on Rap, S. 245 [Kursivierung wie im Original]. 13 Ebd., S. 245. 14 Robert Walser: „Rhythm, Rhyme, and Rhetoric in the Music of Public Enemy“, in: Ethnomusicology 39 (2, 1995), S. 193-217, hier S. 210. 15 Ebd. S. 210-211. Walser bezieht sich auf Artikel in Village Voice von 1988 und 1990. 16 Vgl. D. Samuels: Rap on Rap, S. 252.

158 | Z UR SAKRALEN DIMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS where black film, video, set design, costume, and technical staff and trainees can get the crucial experience and connections to get a foot in the world of video and film production. Before music video production for black musicians, these training grounds, however exploitative, were virtually inaccessible to black technicians.“17

Jack Banks kommt in „Monopoly TV“ zu einer ähnlichen Beobachtung, aber zu einer schlechteren Bewertung der Chancen für Schwarze: Er beschreibt, dass Ende der 80er und Anfang der 90er Schwarze kaum Arbeitsplätze hinter der Kamera haben, und wenn, werden sie im Hip-Hop-Genre eingesetzt und dies auch nur in den Anfängen der Karriere aufstrebender Hip-Hop-Künstler/-innen. Er zitiert die Schwarze Musikvideoregisseurin Millicent Shelton: „Black directors do black artists, they do R&B and rap. They tend not to do rap and R&B artists with video budgets over $100,000. As soon as the artist starts to cross over and the budgets start to exceed $100,000, the black director that brought the artist up is no longer considered for the video.“18 Dass Schwarze, wie Rose schreibt, die Aufgaben von Regisseuren (und andere Funktionen hinter der Kamera) wahrnehmen können und Hip-Hop-Musikvideos ein Sprungbrett in die für Schwarze schwer zugängliche Filmindustrie gewesen sind, wird in dieser Perspektive relativiert und gibt sich ein weiterer rassistisch motivierter Mechanismus in einer hegemonial strukturierten Musikindustrie zu erkennen.

Hip-Hop-Musikvideos in den 80er Jahren Den Anfang der Musikvideoproduktion hat Rose (siehe oben) als eine Zeit künstlerischer Freiheiten beschrieben, die sehr schnell und mit dem ersten kommerziellen Erfolg von Hip-Hop immer mehr eingeschränkt wurden. Plattenfirmen hätten begonnen, durch die Auswahl der Regisseure und Gestaltungswünsche bei der Postproduktion vermehrt auf die Gestaltung der Clips Einfluss zu nehmen. Schon 1994, als Rose ihr Buch veröffentlicht, ist deutlich, dass Musikvideos als kommerzielle Produkte zu verstehen sind, die sich Anfang der 90er Jahre besonders an der Zensur durch MTV orientieren (müssen), um gesendet zu werden. Zu diesen Richtlinien MTVs gehört u.a. das Verbot, eine Erschießungsszene in der Form zu senden, dass eine Einstellung gezeigt wird, in der jemand eine Waffe auf jemand anderen richtet, abdrückt und die andere Person getroffen wird.19 Dass diese Richtlinie 2004 noch griff, zeigt das Musikvideo 99 PROBLEMS von Jay Z und die Prämissen seiner Ausstrahlung auf MTV deutlich. Im Clip wird auf Jay Z vor einer Kirche stehend frontal über eine lange

17 T. Rose: Black Noise, S. 9. 18 J. Banks: Monopoly Television, S. 171. 19 Vgl. T. Rose: Black Noise, S. 13-15.

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Sequenz hin geschossen. Der Clip bekam einen Disclaimer in Form eines Interviews mit Jay Z, in dem der Künstler die Erschießungsszene als keinesfalls gewaltverherrlichend, sondern metaphorisch intendiert bezeichnet. Es sei ihm um den Tod der Figur Jay Z und die Wiedergeburt von Shawn Carter (sein bürgerlicher Name) gegangen. In Musikvideos aus dem Hip-Hop und R&B-Bereich werden oft auch die Lyrics im Vergleich zur Albumversion entschärft, indem als jugendgefährdend geltende Inhalte, einzelne Worte oder sogar ganze Verse verändert werden, um so die Werbewirksamkeit des Musikvideos nicht einbüßen zu müssen.20 MTV war 2004 noch eine Instanz in der Musikvideoproduktion, die massiv in die Ästhetik von Musikvideos eingegriffen hat. MTV verfolgte einerseits die Strategie, Musikvideos in ihrer finalen Entstehungsphase zu sichten und zu entscheiden, ob sie gesendet werden oder ob Änderungen vorgenommen werden müssen. „Three possible actions are taken after evaluating a submission: The channel may accept the clip for airplay, reject it completely for standards violations, or require specific editing of the video [...] In 1993, MTV was sending back one out of every four videos it received, and became even more selective in 1994, rejecting one out of every three.“21

Zum anderen entschied der Sender über die Vergabe von Sendezeiten, welches Video (und welche Art von Video, welches Genre) wann zu sehen war und regulierte so auch die Zielgruppe von Hip-Hop in entweder willkürlich anmutenden Entscheidungen oder aber solchen, die erkennen lassen, dass eine beabsichtigte Mainstreamisierung und Absatzgenerierung mit einer strenger werdenden Zensur einhergeht: Während 1992 Sir Mix-A-Lots BABY GOT BACK nach vielfachen Beschwerden in die Sendezeit nach 21 Uhr verlegt wurde, war LL Cool Js BIG OLE BUTT drei Jahre zuvor ganztägig gesendet worden.22 Den großen Einfluss von MTV auf die Vermarktung von Hip-Hop an ein Weißes Publikum greift Jeff Chang auf, wenn er an den Essay „We Use Words Like Mackadocious“ vom Mai 199323 erinnert, in dem der Weiße Graffiti-Künstler William „UPSKI“ Wimsatt die Entstehung des „Wiggers“ kritisiert: „[...] Wimsatt ripped on the sudden influx of what he called ‚wiggers‘ into hip-hop culture that the success of The Source and Yo!MTV Raps has made possible.“24 Diese konsumierten Schwarz-

20 Vgl. Michael Rappe: Under Construction. Kontextbezogene Analyse afroamerikanischer Popmusik, Köln 2010, S. 186. 21 J. Banks: Monopoly TV, S. 178-179. 22 Vgl. ebd., S. 180. 23 Vgl. J. Chang: Can’t Stop, S. 421-422. 24 Ebd., S. 421-422.

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Sein lediglich, anstatt es zu respektieren, so die Kernkritik von Wimsatt. Das Paradigma der Polykulturalität habe sich zu dieser Zeit im Hip-Hop entwickelt, so Chang, und die Idee vom Underground als einem Ort befördert, der frei sei von Marketingbestimmungen und der es ermögliche, Hip-Hop wieder von den Menschen, die ihn machen, zu kontrollieren. Chang liest Wimsatt radikal und kommt zu dem Schluss: Die Welt müsse nicht nur polykulturell sein, sondern vor allem „postwhite“.25 Bereits 1993, so zeigt uns Changs Rückgriff auf Wimsatt, war die Diskussion um Authentizität der Hip-Hop-Produktionen in vollem Gange und die Rolle von MTV in dem Prozess der Entwicklung einer Identität der Hip-Hop-Künstler/-innen maßgeblich.26 Auf den ersten Blick erstaunlich ist, dass eine Diskussion des Senders BET (Black Entertainment Television), der ebenfalls zu einem großen Teil Musikvideos aussendete, wenig Raum bei Rose einnimmt. Auch in den Hip-Hop-Geschichtsdarstellungen von Toop und Chang findet BET kaum Erwähnung. Die Gründe dafür werden

25 Vgl. J. Chang: Can’t Stop, S. 422. 26 Ein weiterer, oft unterschätzter Faktor in der Darstellung der Mainstreamisierung des HipHops zu Beginn der 90er Jahre ist die Einführung des Trackingsystems SoundScan. Anstatt Verkaufszahlen per Telefon von Musikgeschäften abzufragen und daraus Charts zu generieren, hat Billboard 1991 begonnen, die Verkaufszahlen elektronisch automatisiert einzuholen. (Vgl. T. Rose: Black Noise, S. 7 und D. Samuels: Rap on Rap, S. 242, mit Verweis auf die SPIN vom April 1992). Die Argumentation, die Samuels und auch Rose aus steigenden Verkaufszahlen für Hip-Hop ziehen, ist die, dass mehr Weiße als gedacht Hip-HopPlatten kaufen, da an SoundScan vor allem die in Weißen Vororten gelegenen, großen Ketten angehörigen Plattenläden partizipiert hätten und nicht mehr die in von Minderheiten bewohnten Stadtzentren liegenden. Dazu D. Samuels: Rap on Rap, S. 242: „So it was that America awoke on June 22, 1991, to find that its favorite record was not Out of Time, by aging college-boy rockers R.E.M., but Niggaz4life, a musical celebration of gang rape and other violence by N.W.A., or Niggas With Attitude, a group from the Los Angeles ghetto of Compton whose records had never before risen above No.27 on the Billboard charts.“ Die genauen Zahlen bleiben für diesen Zeitraum (und auch für diese Arbeit) im Unklaren. Bei der Einschätzung von Kauf und Verbreitung von Tonträgern unter Weißen und Schwarzen Bevölkerungsanteilen Anfang der 90er ist noch folgender Hinweis von Rose wichtig, der auf die Ökonomie der Distribution jenseits der Plattenläden zielt: „In condition to inconsistent sales figures, black teen rap consumers may also have a larger ‚pass-along rate‘, that is, the rate at which one purchased product is shared among consumers“ (T. Rose: Black Noise, S. 8). Dieses Weitergeben von einmal gekauften Tonträgern macht die wirkliche Reichweite wie die demografische Zusammensetzung der Menge, die letztlich die Tonträger konsumiert, unbestimmbar.

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im Folgenden dargestellt, verraten sie uns doch Wesentliches über die mediale Verbreitung und damit die gesellschaftliche Wahrnehmung von Hip-Hop-Musikvideos in den 80ern und Anfang der 90er Jahre. BET wurde 1980 von den Unternehmern Robert L. und Sheila Johnson gegründet und ging 1983 Vollzeit auf Sendung. Der Journalist Brian Dumaine bringt die Politik des Senders auf den Punkt: „Rather than pursue lots of expensive original work, Johnson mostly aired already produced music videos and reruns of sitcoms such as The Jeffersons and Benson.“27 Das Senden von älteren Produktionen ist ein Faktor, der BET gegenüber MTV ins Hintertreffen bringt. In einer Fußnote erwähnt Rose das im Vergleich zu MTV viel kleinere Budget als Grund für die mangelnde Aktualität.28 Tatsächlich aber hatte MTV jahrelang exklusive Senderechte zu Musikvideos einiger Hip-Hop-Künstler/-innen großer Plattenfirmen, was seitens BET 1991 zu einem Boykott aller Künstler/-innen, die bei MCA unter Vertrag standen, führte.29 Für die geringe Ausstrahlung von Hip-Hop-Musikvideos macht Rose die Zielgruppenausrichtung von BET verantwortlich (und nicht die exklusiven Rechte seitens MTV) und erklärt, dass die Programminhalte einem aufstrebenden, Schwarzen Bürgertum Rechnung tragen und deswegen Hip-Hop-Kultur marginalisierten: „[...] although BET programms black music almost exclusively, MTV offered the first all-rap video show, ‚Yo MTV Raps‘. BET has consistently aired rap videos, but it did not offer a rap show (Rap City) until after the MTV success story. [...] Rap music, which dominates the black music charts and is clearly the music of choice for black urban teenagers, is relatively marginalized on BET.“30

BET war also trotz der explizit Schwarzen Zielgruppe nicht der favorisierte Ausstrahlungsort für Hip-Hop-Musikvideos, was noch einmal betont, dass Hip-Hop über seine Musikvideos einen Weißen Markt erreichte und erreichen sollte und früh schon durch die Programmgestaltung von BET eine Ausgrenzung urbaner, Schwarzer Teenagerkultur durch Schwarze erfolgte. BET hat seither immer wieder Kritik für seine Programmgestaltung erfahren, u.a. von Sheila Johnson, die das Unternehmen 2001 an Viacom verkauft hat und in einem Interview 2010 zu den Anfängen von BET und den gegenwärtigen ihrer Meinung nach viel zu niedrigen Qualitätsstandards des Senders meint:

27 Robert Johnson und Brian Dumaine: „The Market Nobody Wanted“, http://money.cnn.com/magazines/fsb/fsb_archive/2002/10/01/330571/index.htm vom 16.08.2016. 28 Vgl. T. Rose: Black Noise, S. 206 FN 35. 29 J. Banks: Monopoly Television, S. 59. 30 T. Rose: Black Noise, S. 206, FN 35.

162 | Z UR SAKRALEN DIMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS „When we started BET, it was going to be the Ebony magazine on television. [...] We had public affairs programming. We had news [...] I had a show called Teen Summit, we had a large variety of programming, but the problem is that then the video revolution started up [...] And then something started happening, and I didn’t like it at all. And I remember during those days we would sit up and watch these videos and decide which ones were going on and which ones were not. We got a lot of backlash from recording artists [...] and we had to start showing them. I didn’t like the way women were being portrayed in these videos.“31

Johnson schreibt hier implizit der Hip-Hop-Musikvideokultur eine Schuld am von ihr so gesehenen qualitativen Verfall von BET zu. Eine zunehmende Sexualisierung der Clips und frauenfeindliche Darstellungen bestimmten ihrer Meinung nach die Programmgestaltung von BET. Im Zusammenhang mit ihrer Kampagne gegen AIDS sagt sie: „BET is making matters worse, and potentially contributing to the spread of AIDS, by promoting promiscuous, unprotected sex in raunchy late-night rap videos.“32 Der Comicautor Christopher James Priest schreibt in seinem Blog unter dem Titel „My Beef with BET“ hingegen, dass BET gerade in seinen Anfängen versucht habe, die von MTV kaum oder gar nicht gespielten Schwarzen Künstler/-innen ins Programm zu nehmen: „BET embraced openly and enthusiastically what MTV only reluctantly and grudgingly featured. The subsequent seismic shift in music industry numbers and immense popularity of urban, hip-hop and rap eventually forced MTV to change its model, but that change came much too slowly as increasing segments of MTV’s audience turned their dials to BET and other emerging sources.“33

Die Darstellung, erst eine Hip-Hop-Show kreiert zu haben, als klar war, dass HipHop Weiße Anhänger gefunden hat, ist bei ihm wie bei Rose zu lesen, doch gereicht sie hier zum Argument, MTV würde Hip-Hop widerwillig ausstrahlen, während BET dies von Anfang an gerne getan hätte. Das erscheint eher eine wunschgemäße Interpretation, zieht man folgende Darstellung Changs in Betracht, der als Quelle die Los Angeles Times von 1989 zitiert und über den Anteil von Hip-Hop an der Sendezeit bei MTV schreibt:

31 Lloyd Grove: „Sheila Johnson Slams BET“, http://www.thedailybeast.com/articles/2010/ 04/29/sheila-johnsons-fight-against-hiv-in-dc.html vom 16.08.2016. 32 Ebd. 33 Christopher James Priest: „My Beef With BET“, http://lamerciepark.com/lp/id11/111003/ vom 16.08.2016.

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„MTV added former WBAU DJ and Original Concept leader Andre ‚Dr. Dre‘ Brown and radio host Ed ‚Ed Lover‘ Roberts as additional hosts, and gave Yo!MTV Raps daily airings. Within a year, MTV had gone from almost no rap videos to twelve hours of rap programming.“34

MTV hat Hip-Hop also nicht zögerlich aufgenommen, sondern schnell auf die guten Einschaltquoten reagiert. Da sich bei Priest keine Quellenangaben finden, sei seine Stimme hier als Meinung eines Zeitzeugen verstanden, die darauf verweist, dass der Einfluss von BET und MTV auf den Wandel von Hip-Hop im Bewusstsein einer Weißen oder Schwarzen Bevölkerungsgruppe oder überhaupt der Kabelfernsehen schauenden Gesellschaft gerade in den Anfängen der beiden Sender unterschiedlich bewertet wird. BETs Programmverantwortliche werden von Priest kritisiert, weil sie in der Entwicklung ihrer Sendeformate und in der Auswahl von Hip-Hop-Clips, wie sie Sheila Johnson beschrieben hat, in den vergangenen Jahren negative Stereotype von Schwarzen unterstützt haben. Die Auswahl bei Yo!MTV Raps bewertet er positiv, weil heterogen: „Hip-Hop of the Yo! MTV Raps variety included hopeful and positive pro-black and even pro-feminist artists like Queen Latifah, Jazzy Jeff and The Fresh Prince, Eric B. and outspoken Muslim activist Rakim.“35 Dies habe auch für BET gegolten, jedoch habe der Sender diese Gestaltung zunehmend aufgegeben – besonders seit Beginn des neuen Jahrtausends, was in etwa mit dem Verkauf von BET an Viacom zusammenfällt.36 Die Sendung Video Music Box von WNYC startete 1983 und war Yo!MTV Raps damit um fünf Jahre voraus. Wenngleich keine eigene Hip-Hop-Musikvideo-Show, so strahlte sie doch Jahre früher Musikvideos dieses Genres NewYork-weit aus, wie bei Charnas zu erfahren ist.37 Die Anfangssequenz der Show ist eine Montage aus Musikvideos verschiedenster Genres und anderem Videomaterial, darunter Sequenzen mit Run DMC, den Fat Boys, LL Cool J genauso wie mit Madonna, A-ha und den Talking Heads sowie Musikern einer anderen Generation wie James Brown oder Bob Marley. Die Musik zur Montage liefert Whodinis „Five Minutes of Funk“.38 Der

34 J. Chang: Can’t Stop, S. 419 [Kursivierung wie im Original]. Diese Angaben widersprechen denen bei Charnas um 2 Stunden Sendeumfang. Charnas beschreibt denselben schnellen Anstieg des Sendezeitumfangs, allerdings gibt er im Sommer 1989 14 Stunden Yo!MTV Raps an. Vgl. D. Charnas: Payback, S. 248. 35 C. J. Priest: „My Beef With BET“, http://lamerciepark.com/lp/id11/111003/ vom 16.08.2016 36 Vgl. ebd. 37 D. Charnas: Payback, S. 232. 38 WNYC-TV: Video Music Box opening, 1989https://www.youtube.com/watch?v=t7CJXV sRJ10 vom 16.08.2016.

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Song stammt von dem 1984 erschienenen Album „Escape“. Es ist an dieser Stelle nicht ganz klar, ab wann der Song für die Montage genutzt wurde, da er erst etwa ein Jahr nach Start der TV-Sendung veröffentlicht wurde. Die zitierte Version von Youtube ist dort auf das Jahr 1989 datiert. Zumindest lässt die Verwendung dieses frühen Hip-Hop-Songs in dem avantgardistischen Sendeformat erkennen, dass HipHop im Fernsehen angekommen ist – zumindest New-York-weit – und mit seinen, wie oben gezeigt, auf den Mainstreamerfolg ausgelegten Künstler/-innen im Fernsehen prominent vertreten war. Charnas führt die Musikvideos der Gruppe Whodini dann auch als Grund an, dass in Video Music Box zunehmend mehr Hip-Hop-Musikvideos zu sehen waren – und weiter noch: „As Video Music Box became a guarantor of local sales, it became a reason for rap labels to invest in doing even more videos.“39 Die Ausstrahlung und der gesteigerte Absatz von Hip-Hop-Musik in der tonangebenden Metropole New York darf also als Grund für Plattenlabels gesehen werden, in die Musikvideoproduktion zu investieren, was wiederum zur Folge hatte, dass so mehr Schwarzen Künstler/-innen ein (stereotypisiertes) Musikvideo-Gesicht gegeben wurde. Yo!MTV Raps war in der historischen Reihenfolge betrachtet ebenso eine Reaktion auf das Pay-TV-Angebot Video Jukebox40 (nicht zu verwechseln mit obiger Video Music Box) von HBO, das 1988 bereits seine Hip-Hop-Musikvideo-Sparte erweitert hatte.41 Mit dem Erfolg von Yo!MTV Raps und dem Ausweiten der Sendezeit für Hip-Hop-Musikvideos auf HBO beginnt der zweite große Abschnitt der Mainstreamisierung. Nun werden Hip-Hop-Musikvideos für ein breites Publikum produziert und Künstler/-innen gezielt von Plattenfirmen unterstützt, um Musikvideos zu produzieren, da sie als sehr wirksames Marketinginstrument erkannt wurden. „Soon after Yo! debuted, MTV went went black: Starting in early ’89, comedian Arsenio Hall’s talk show darkened the complexion of late night and regularly gave a spotlight to rappers; In Living Color introduced the idea of a black Saturday Night Live (complete with a token white cast member) and brought hip-hop dance to prime time; and Will Smith, whose charming disposition had helped ease rap onto MTV, became a bigger star via The Fresh Prince of Bel-Air. Rap hadn’t just entered the mainstream – it had taken over.“42

39 D. Charnas: Payback, S. 232. 40 Das Angebot bestand von 1985 bis zum Verkauf 2001 an Viacom, an die auch MTV bereits 1985 verkauft wurde. 41 Vgl. J. Chang: Can’t Stop, S. 418. Daraus lässt sich schließen, dass die Video Jukebox vorher schon Hip-Hop-Musikvideos im Angebot gehabt haben muss; mehr valide Informationen liegen mir nicht vor. 42 R. Tannenbaum: I want my MTV, S. 410.

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Die Verkaufszahlen von Hip-Hop-Platten stiegen aufgrund des Erfolgs von Yo! MTV Raps stark an und Hip-Hop wurde von da an vermehrt im Radio gespielt.43

Hip-Hop-Musikvideos in den 90er Jahren Yo! MTV Raps’ Stern begann schon bald zu sinken und bereits 1992–93 wurde die Sendung nur noch einmal in der Woche ausgestrahlt. Die letzte Folge lief am 17. August 1995 über den Bildschirm. Unter dem Namen Yo! und in verändertem Format bot MTV Freitagnacht eine Stunde Sendezeit für Hip-Hop-Musikvideos. Ab 2000 wurde Direct Effect das Format für Hip-Hop-Musikvideos.44 Ab 1992 haben HipHop-Clips weniger Sendezeit innerhalb eines eigenen Formates bekommen, was darauf hinweist, dass sie zu der Zeit im Mainstream angekommen waren und in regulären Sendeformaten auf MTV ihren Platz fanden. Andererseits ist die Sendung Direct Effect (später dann unter dem Namen Sucker Free) eine der wenigen auf MTV, die im Kern noch Musikvideos als Inhalt hat und trotz der ab 2000 veränderten Programmplanung MTVs, die eine Abkehr von Musikvideos beinhaltet, produziert wurde. Die 90er Jahre waren für das Genre des Musikvideos und seine Entwicklung entscheidend: „The music video began to reach its full potential in the 1990s. With new technology emerging and a decade of familiarity with the format in the bank, expressing a song’s concept via the relatively young visual medium was just starting to hit its stride.“45 Die Autor/-innen betonen, dass sich diese Entwicklung besonders im Hip-Hop ablesen lasse, der durch den begonnenen Prozess der Popularisierung und der stetig größer werdenden Aufmerksamkeit mehr und mehr Geld für Musikvideoproduktionen bekam.46 Sie beschwören den Zauber der Musikvideos der 90er Jahre und betonen ihre Bedeutung für Rezeption und Absatz und machen dabei auf den Unterschied zu heutiger Musikvideokultur auf Plattformen aufmerksam: „While there’s a certain appeal to the ‚anyone can do it‘ mantra of today’s YouTube-uploading youth, the exact opposite is what was so staggering about rap videos in the ’90s. Everyone couldn’t do it. The guys and girls up on the screen during Rap City, TRL, and The Box marathons were heroes. Hip-Hop Gods. You didn’t know what they had for lunch because of social

43 Vgl. D. Charnas: Payback, S. 114 und S. 248. 44 Vgl. IMDb: Direct Effect!, http://www.imdb.com/title/tt0318878/ vom 16.08.2016. 45 Ernest Baker et al.: „The 50 Best Rap Videos of the ‘90s“, http://www.complex.com/music/2013/02/the-50-best-rap-videos-of-the-90s/ vom 16.08.2016. 46 Ebd.

166 | Z UR SAKRALEN DIMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS media. The only glimpse you had into the lives of the people making your favorite music was these videos.“47

Die Chance, seinen Star zu sehen und ihm nah zu sein, war zu dieser Zeit auf Musikvideos beschränkt. Durch Social Media hat sich diese Möglichkeit heute verschoben und hat sich eine andere Art von Interaktion mit dem Star entwickelt. Musikvideos sind heute ein Teil einer Starinszenierung neben allen Kanälen der sozialen Medien, auf denen die Musikvideos angekündigt oder Verbreitet werden. Dort stehen sie neben kurzen Videos von zum Beispiel Making-Offs, Interviews oder anderer Arten von Inhalten. Ab Mitte der 90er Jahre erleben Musikvideos allgemein und mit ihnen jene von Hip-Hop-Künstler/-innen die Budgetierung betreffend ihren Höhepunkt.48 Sie werden zu Kurzfilmen, die oft ein dem Song vorangestelltes Intro bekommen, eine Hinführung zum Kern des Clips – also zum Song – und manchmal Zwischenspiele enthalten, in denen der Song unterbrochen wird, um eine Dialogszene unterzubringen. Hip-Hop-Musikvideos arbeiten in dieser Zeit vermehrt mit Blockbuster-Referenzen, die sich in stilistischer Ähnlichkeit zeigen, aber auch darin, dass Musikvideos einzelne Szenen von Filmen nachstellen oder sogar Material aus Filmen „samplen“. Dabei sind hier noch nicht einmal die vielen Filme gemeint, deren Soundtrack zum Teil oder ganz aus Hip-Hop-Songs besteht (deren Musikvideos wiederum mit Filmszenen gespickt sind), sondern das bewusste Anleihenehmen an bekannten Kinoproduktionen besonders mit ihren Action- und Stuntszenen.49 Die Bezüge zum Film sind mannigfach: So wurde CALIFORNIA LOVE von Tupac und Dr. Dre am Original-Set von

47 Ernest Baker et al.: „The 50 Best Rap Videos of the ‘90s“, http://www.complex.com/music/2013/02/the-50-best-rap-videos-of-the-90s/ vom 16.08.2016. 48 Für Informationen über Budgets und Hintergründe zu einzelnen Musikvideoproduktionen scheinen Interviews mit Regisseuren die beste Quelle zu sein, da außer Monopoly TV keine Monografie über die Geschichte von MTV und außer andere Schwerpunkte fokussierenden Publikationen wie denen von Gershwin und Vernallis keine zitierfähigen Veröffentlichungen existieren. 49 Ernest Baker et al.: „Fugees ‚Ready or Not‘ (1996)“ (Video), http://www.complex.com/music/2013/02/the-50-best-rap-videos-of-the-90s/fugees-ready-or-not

vom

16.08.2016, siehe die Schlussfolgerung der Autor/-innen als Erklärung für die filmreifen Actionszenen aus dem Video READY OR NOT der Fugees: „The visuals fit right in with the over-the-top action sequences popular in ’90s films, and also made it clear that the Fugees were now superstars. You don’t get helicopters and motorcycle chase scenes added into the budget for any other reason.“ Gleiches lässt sich über Notorious BIGs HYPNOTIZE sagen. Auch Parodien von TV-Werbung gehören dazu.

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MAD MAX BEYOND THUNDERDOME gedreht50, dient Busta Rhymes’ PUT YOUR HANDS WHERE MY EYES COULD SEE motivisch der Film COMING TO AMERICA als Inspiration, Ol’ Dirty Bastard und Kelis’ Video zu GOT YOUR MONEY besteht aus Szenen des Blaxploitation-Films DOLOMITE – mit dem Gesicht des Rappers in das Originalmaterial montiert –51 und Jay Zs BLUE MAGIC zeigt im Intro Einspieler aus FRANKENSTEIN von 1931. Diese Filmreferenzen legen die Vermutung nahe, Hip-Hop möchte mit diesen Clips an die epische Länge von Filmen und ihren Produktionsaufwand heranreichen. Interessanterweise fallen in die 80er auch die sogenannten „HipHop-Filme“ wie WILD STYLE und BREAKIN’, die mit Tanz und Graffiti zwei zentrale Praktiken der Hip-Hop-Kultur einem großen Publikum bekannt machten.52 Hip-HopFilme haben – darauf weist Kimberley Monteyne hin – die oben ausgeführte Vergemeinschaftung zum Thema. Hip-Hop-Filme „…offered an appealing alternative to the limited pleasures offered by mall culture and private social rituals in suburban centered teen movies. Such an alternative viewpoint directly engaged with the historical crisis of the black urban family in the 1980s. It celebrated new forms of filial relations and public rituals emerging through hip hop culture.“53

Monteynes Lesart von Hip-Hop-Filmen als Bühne für eine bis dato verborgene Großstadtkultur bestätigt die von Borthwick/Moy54 gemachte allgemeinere Beobachtung, Hip-Hop-Kultur sei eine Reaktion auf die stark gestiegene Individuation in den USA und präsentiere neue Formen von kultureller Gemeinschaft und Zusammenleben.

50 Ernest Baker et al.: „2Pac f/ Dr. Dre ‚California Love‘ (1996)“ (Video), http://www.complex.com/music/2013/02/the-50-best-rap-videos-of-the-90s/2pac-dr-dre-california-love vom 16.08.2016. 51 Ernest Baker et al.: „Ol‘ Dirty Bastard f/ Kelis ‚Got Your Money‘ (1999)“ (Video), http://www.complex.com/music/2013/02/the-50-best-rap-videos-of-the-90s/ol-dirty-bastard-kelis-got-your-money vom 16.08.2016. 52 Interessanterweise fand Hip-Hop-Kultur den Weg auf die große Leinwand durch seine Tanzstile; wie marginalisiert Hip-Hop zum ersten Mal in den Kinosälen erschien, ist in der kurzen Breakdance-Sequenz in Flashdance zu sehen. Siehe dazu die ausführliche Analyse von Flashdance in Kimberley Monteyne: Hip Hop on Film. Performance Culture, Urban Space, and Genre Transformation in the 1980s, Jackson 2013, S. 164-208. 53 Ebd., S. 211. 54 Siehe meine Argumentation weiter oben und S. Moy/R. Borthwick: Popular Music Genres, S. 163.

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Hip-Hop-Songs des Mainstreams wollen jetzt am liebsten auf die ganz große Leinwand. Die Narrationen (und dass sie Narration haben ist auch ein Merkmal für die 90er Jahre) erzählen vom Filmanspruch der Musikvideos:55 In Wu-Tang-Clans TRIUMPH (1997) fallen die Mitglieder der Gruppe als ein Schwarm von Killerbienen über New York her, sind ein Teil der von Gott gesandten Plagen, lassen einen Blinden sehen, klettern Wolkenkratzer empor und fallen wieder herunter, um sukzessive die Stadt einzunehmen. Notorious B.I.G. und Puff Daddy sind in HYPNOTIZE (1997) auf einer Yacht zu sehen, als sie von Armeehubschraubern eingeholt werden, um sich dann an Land in einem Cabrio eine wilde Verfolgungsjagd mit Motorrädern zu liefern (die sogar noch ein retardierendes Moment kennt, in dem die Musik stoppt und die Motoren aufheulen). „Sky’s the Limit“ – wie ein weiterer Song von Notorious B.I.G. heißt – ist das Motto Mitte der 90er. Bei den Recherchen zur Budgetierung von Musikvideos fällt erneut auf, was symptomatisch für viele Forschungsfragen im popkulturellen Bereich ist: die unsichere Quellenlage. Hier kommt jedoch noch hinzu, dass nicht nur viele verstreute Online-Quellen, Fanzine-Schnipsel und Interviews herangezogen werden, sondern bedingt durch das Thema „Geld“ viele Halbwahrheiten kursieren:56 so zum Beispiel die Anekdote zu Wu-Tang-Clans Video TRIUMPH. Das 1997 von Regisseur Brett Ratner produzierte Video war ihm zufolge: „the first million dollar rap video“,57 was nicht zu stimmen scheint, vergleicht man die verfügbaren Angaben zu Hype Williams Budget für Puff Daddys VICTORY 1993, bei dem ihm 2,7 Millionen US-Dollar zur Verfügung standen.58 Dass die Budgets in den 90ern für Musikvideos Schwarzer

55 Die 90er sind auch das Jahrzehnt des Hip-Hop-Films, und die komplizierten Diskurse um Hautfarbe und Zugehörigkeit entfalten sich in Filmen wie zum Beispiel BOYZ IN THE HOOD. Siehe dazu allgemein S. Craig Watkins: Representing. Hip-Hop Culture and the Production of Black Cinema, Chicago 1998. 56 Dazu gehört das sicher nicht absichtliche Fortschreiben der Aussage, Michael und Janet Jacksons „Scream“ von Regisseur Mark Romanek sei bis 1995 mit einem Budget von 7 Millionen US-Dollar das teuerste Musikvideo, was Romanek bestreitet. Drew Tewksbury: „Mark Romanek: ‚Never Let Me Go‘ Director On His Music Video Career“, http://www.npr.org/blogs/therecord/2010/09/15/129890627/speaking-of-the-vmas-markromanek-wasn-t-there vom 16.08.2016. 57 Complex Magazine: „Director‘s Commentary: Brett Ratner‘s Music Video Classics“, http://www.complex.com/music/2009/09/directors-commentary-brett-ratnersmusic-video-classics vom 16.08.2016. 58 Ernest Baker et al.: „Craig Mack f/ The Notorious B.I.G., Rampage, LL Cool J & Busta Rhymes ‚Flava In Ya Ear (Remix)‘ (1994)“ (Video), http://www.complex.com/music/2013/02/the-50-best-rap-videos-of-the-90s/craig-mack-the-notorious-big-rampage-llcool-j-bus vom 16.08.2016.

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Künstler/-innen auch außerhalb des Hip-Hops stiegen, zeigt sich in den 650.000 USDollar für Jodecis FREAKIN’ YOU.59 Ein weiterer Beleg für die großen Budgets von Hip-Hop-Clips ist die Tatsache, dass unter den 25 teuersten Musikvideoproduktionen aller Zeiten (Stand: 2013) alleine neun Hip-Hop- und R’n’B-Musikvideos sind.60

Hip-Hop-Musikvideos 2000 und danach Anfang des neuen Jahrtausends haben wir es Jeff Chang zufolge mit einer „new corporate order“ zu tun: „At the beginning of the new millennium, five of these companies – Vivendi Universal, Sony, AOL Time Warner, Bertelsmann and EMI – controlled 80 percent of the music industry. Another, Viacom, owned both MTV and BET.“61 Musikvideos werden nicht mehr im Fernsehen ausgestrahlt, sondern finden seit 2005 im Internet auf den Videoplattformen Youtube, Dailymotion, Vevo oder tape.tv ihren Platz. MTV hat den Zusatz „Music Television“ 2010 aus seinem Logo entfernt, was Conrad Fritzsch, Gründer und CEO der tape.tv-AG als „Verschiebung der Markenpositionierung“ interpretiert.62 MTV und auch VIVA erschließen ein neues Marktumfeld und eine neue Zielgruppe, indem der Anteil an Musikvideos drastisch gesenkt wird. Klug/Neumann-Braun bestätigen die neue Ordnung auch hinsichtlich der Strukturen der Musikvideoverbreitung: „Spätestens mit dem Internet als wachsender Konkurrenz für die Musikbranche sanken die Budgets für Musikclips jedoch schlagartig, so dass der Pop-Musikclip zu Beginn der 2000er Jahre eher zu einer künstlerisch unbedeutenden Massenware verkam.“63 Doch statt „künstlerisch unbedeutende“ Wege zu gehen, wie Klug und Neumann-Braun meinen, arbeiten Musikvideos womöglich mit anderen, günstigeren Produktionsmitteln und anderen ästhetischen Strategien, wie Vernallis betont:

59 Complex Magazine, „Director‘s Commentary: Brett Ratner‘s Music Video Classics“, http://www.complex.com/music/2009/09/directors-commentary-brett-ratners-musicvideo-classics vom 16.08.2016. 60 http://www.vh1.com/music/tuner/2013-09-26/25-most-expensive-music-videos/13/ vom 16.08.2016. 61 J. Chang: Can’t Stop, S. 443. 62 Vgl. Diverse Autoren: „Die Perspektiven des Videoclips/Interviews“, in: rock’n’popmuseum et al. (Hg.): Imageb(u)ilder. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Videoclips, Münster 2011, S. 112-125, hier S. 115. 63 Daniel Klug und Klaus Neumann-Braun: „All eyes on...music?“, in: rock’n’popmuseum et al. (Hg.): Imageb(u)ilder. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Videoclips, Münster 2011, S. 52-71, hier S. 64.

170 | Z UR SAKRALEN DIMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS [I]n the last 15 years, music video budgets have dropped dramatically, to such an extent that directors can no longer make a living in the industry. The new aesthetic necessitates doing things as cheaply as possible, which most often means shooting on green screen and then adding animation effects in post-production because it’s less expensive to hire kids right out of film school with MacBooks rather than to employ a crew and shoot on location.64

„Von Jahr zu Jahr werden weniger Tonträger verkauft. Die an dieser Stelle sinkenden Einnahmen haben unmittelbaren Einfluss auf die Budgets der Musikvideos, deren noch vor wenigen Jahren normale Höhe heute alle Einnahmen aus den CDs wieder zunichte machen würde“, schreibt der Musikvideoproduzent Thomas Sandmann 2011.65 Der Verkauf physischer Tonträger ist aber gar nicht mehr alleine entscheidend für die Einnahmen. Es ist sogar so, dass die gesunkenen CD-Einnahmen durch den Verkauf über Online-Music-Stores wie iTunes teilweise wieder aufgefangen worden waren. Doch es lässt sich erkennen, dass auch diese Entwicklung schon wieder hinfällig ist bzw. ergänzt werden muss: Streaming-Dienste wie Spotify oder Deezer lassen auch diese Absatzzahlen und Gewinne auf Seiten der Künstler/-innen und Plattenfirmen 2013 sinken: „Digital music sales, once believed to be the record industry’s savior after years of Napsterinduced piracy, dropped for the first time since the iTunes store launched in 2003, according to new year-end data from Nielsen SoundScan. Track sales decreased 6 percent, despite massive hits such as Robin Thicke’s ‚Blurred Lines‘ (at nearly 6.5 million) and Macklemore and Ryan Lewis’ ‚Thrift Shop‘ (6.1 million), while overall album sales, including CDs, were down 8 percent. Streaming services including YouTube and Spotify picked up some of the slack, increasing 32 percent, to more than 118 billion total streams, which, according to SoundScan, is the revenue equivalent of 59 million in sales.“66

Der Halbjahresbericht 2014 von Nielsen Soundscan fasst die wichtigste Entwicklung auf dem Absatzmarkt von Musik in den USA (!) zusammen:

64 C. Vernallis: „Featured Book | Joanna Demers – Steal This Music: How Intellectual Property Law Affects Musical Creativity“, http://www.echo.ucla.edu/featured-book-stealthis-music/#fn-502-1 vom 16.08.2016. 65 Thomas Sandmann: „Die Musikvideoproduktion im zeitlichen Wandel. Kreativität statt Budget, Demokratisierung der Produktionsmittel“, in: rock’n’popmuseum et al. (Hg.): Imageb(u)ilder. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Videoclips, Münster 2011, S. 32-51, hier S. 49. 66 Steve Knopper: „Digital Music Takes a Dive as Record Sales Slip Again in 2013“, http://www.rollingstone.com/music/news/digital-music-takes-a-dive-as-record-sales-slipagain-in-2013-20140108 vom 16.08.2016.

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„For the first six months of 2014, sales of albums were down 14.9 percent vs. the first six months of 2013. Vinyl Album Sales and On‐Demand streaming continue to show strong gains: Vinyl LP sales were up 40.4 percent and overall On‐Demand streaming was up 42 percent over last year, with on‐demand audio up 50.1 percent and on‐demand video up 35.2 percent.“67

Dabei ist es keinesfalls so, dass sich eine eindeutige Entwicklung hin zu Streamingdiensten behaupten ließe: Der Absatz von Vinyl ist um 40 Prozent gestiegen. „While the U.S. music industry suffered through its worst sales year since the advent of SoundScan (now Nielsen Music) in 1991, streaming was so strong last year that the industry nevertheless saw growth -- yes, growth -- in 2014, when new metrics to measure music revenue are taken into consideration.“68

Es kann auf dieser Grundlage und einer Reihe von einzubeziehender Faktoren nicht eingeschätzt werden, wie sich Gewinne und Verluste im Musikgeschäft entwickeln, und daher lassen sich auch keine handfesten Schlüsse für die Budgets von Musikvideos aus den Verkaufszahlen ableiten. Für die sich rasant verändernde Musikindustrie stehen die Zeichen aber keinesfalls schlecht: „The annual cost of a streaming subscription (about $120 for Spotfiy, $100 for Beats) is well above what the average consumer spends on music, $50 a year. If streaming goes mainstream, a lot of people could be spending more on music than ever before.“69 Klug/Neumann-Braun schätzen das Musikvideo 2011 trotz der ihrer Meinung nach schwächeren künstlerischen Umsetzungen aus der jüngeren Vergangenheit und

67 Nielsen Entertainment & Billboard’s 2014 Mid-Year Music Industry Report, siehe: http://www.nielsen.com/content/dam/corporate/us/en/public%20factsheets/ Soundscan/nielsen-music-2014-mid-year-us-release.pdf vom 16.08.2016. 68 Ed Christman, „Music in 2014: Taylor Takes the Year, Republic Records on Top, Streaming to the Rescue“, http://www.billboard.com/articles/business/6436399/nielsenmusic-soundscan-2014-taylor-swift-republic-records-streaming?page=0%2C0 vom 16.08.2016. Dabei misst Nielsen SoundScan sogenannte Album-Equivalente: „Sales are still the dominant revenue generator for the industry, and record labels have adapted other measures in an effort to try and capture that industry’s economic output. To that end, the industry recognizes 10 tracks as equaling one track equivalent album (TEA). (The average wholesale price per song is $0.75, with 10 tracks equaling the average wholesale album price of $7.50.) The industry calculates that a stream equivalent al-bum (SEA) equals 1,500 streams. (That’s an average payout of half a cent per stream, totaling $7.50. In 2013, the average payout per stream was $.0.00375, thus in that year 2,000 streams equaled one SEA unit.)“ 69 John McDuling: „An epic battle in streaming music is about to begin, and only a few will survive“, http://qz.com/232834 vom 16.08.2016.

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des Umzugs vom Fernsehen auf die Internetplattformen als „das wichtigste Instrument zur massenmedialen Bewerbung eines Pop-Stars und seiner Songs“ ein.70 Mit dem im November 2014 von YouTube71 auf den Markt gebrachten Streaming-Dienst Music Key, der es Abonnenten ermöglicht, Musikvideos (und auch Songs oder Alben) ohne Werbung zu streamen und offline auf ihren Geräten zu speichern und abzurufen, bekommt das Musikvideo eine Aufwertung, die 2011 noch nicht absehbar war. Innerhalb kürzester Zeit hat sich bei YouTube die Strategie erneut geändert: Mittlerweile firmiert der Dienst Music Key unter dem Namen YouTube Red und streamt auch eigens produzierte Serien und Dokumentationen. Der Dienst ermöglicht eine werbefreie Rezeption der Videos gegen eine monatliche Gebühr.72 Auch die Definition von Musikvideo ist heute offener als je zuvor: „We used to define music video as a product of the record company in which images are put to a recorded pop song in order to sell the song. None of this definition holds any more.“73 Für die Analysebeispiele der Arbeit mag die Definition noch am ehesten zutreffen. Die gewählten Clips scheinen in dieser Hinsicht „klassisch“ zu sein. Für den Begriff „Musikvideo“ aber gilt, dass unter ihn die verschiedensten Ton-Film-Verbindungen

70 D. Klug/K. Neumann-Braun: All eyes, S. 65-66. Klug und Neumann-Braun erwarten in der weiteren Entwicklung der Musikvideokultur „künstlerisch anspruchsvolle(re) Werke“ und sehen schwerpunktmäßig die Kategorie der Vermarktung und weniger die der Partizipation einer großen Fangemeinschaft in immer wieder neuen Formen der eigenen Musikvideoproduktion. 71 Mit bei Youtube eingestellten Videos lässt sich viel Geld machen: Über das Tracksystem ContentID werden Inhalte von Musikvideos erfasst und mit einer Datenbank abgegblichen, die den Rechteinhaber erfasst und evtl. Werbung oder dergleichen schaltet und Gebühren an den Rechteinhaber abführt. 72 Es handelt sich bei YouTube Red keinesfalls um eine Plattform, die dem Musikvideo um des Musikvideos Willen mehr Platz einräumt und zuerst die Künstler/-innen unterstützt. Music Key und auch YouTube Red haben Verträge mit den großen Plattenfirmen geschlossen und kleine Plattenfirmen, die sich benachteiligt sahen, bedroht, dass sollten diese nicht unterschrieben, ihre Musikvideos auf Youtube gesperrt würden. Auch hier zeigen sich das erwartbare Machtgefälle und die kapitalistische Produktionsökonomie. Musikvideos werden so zu einer direkten Einnahmequelle vor allem für YouTube und die großen Lizenzgeber der Clips. Siehe dazu: Danish Independent Record Labels: „Youtube Issues Content Blocking Thre-ats to Independet Labels“, http://dup.nu/news/youtube-issues-content-blocking-threats-independent-labels vom 16.08.2016. Music Key war im Rahmen einer Testphase in den USA, Spanien, Italien, Portugal, Irland, Großbritannien und Finnland verfügbar. YouTube Red steht derzeit Nutzern in den USA, Neuseeland und Australien zur Verfügung. 73 C. Vernallis: Unruly Media, S. 208.

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fallen. Die Länge dieser Clips kann in großem Rahmen variieren, sie können „professionell“ produziert sein oder durch ihr Erscheinen offenbaren, dass sie von ungeübter Hand gemacht sind, wobei es natürlich heute schon am heimischen PC möglich ist, „professionell“ aussehende Musikvideos anzufertigen. Die Technik ist für vergleichsweise geringe Beträge zu kaufen, was einen Effekt auf die Genrehybridität hat, den Vernallis als die „Demokratisierung“ von Musikvideos bezeichnet.74 Es wird auditives Material frei mit visuellem verbunden; das Sujet des visuellen Materials muss kein Künstler/keine Künstlerin sein – die zahlreichen Videos auf YouTube, die Fotos oder Filmaufnahmen von Landschaften oder vom Meer zeigen, sind gute Beispiele für „Musikvideos“, an die wir in der Regel nicht sofort denken. Ferner sind auf YouTube auch solche Musikvideos zu sehen, die von Handykameras auf Konzerten aufgezeichnet wurden. „We can thus define music video, simply, as a relation of sound and image that we recognize as such. Such a broad definition might seem too sweeping – [...] but it’s the most, we can say.“75 Ferner sei mit Vernallis noch darauf hingewiesen, dass die Art des Eingebundenseins und damit der Rezeption der Musikvideos auf YouTube sich in den letzten Jahren stark verändert hat. Unter den Möglichkeiten der weiteren Kapitalisierung der Clips werden diese durch Werbesequenzen eingeleitet oder unterbrochen.76 Auch der ästhetische Einfluss von Musikvideos auf andere audiovisuelle Genres oder Konventionen ist groß, ein Prozess, den Vernallis als „Youtube-ification“ bezeichnet.77 Neben oben genannten Indikatoren spricht im Rahmen der Arbeit für die kontinuierliche Wichtigkeit von Musikvideos für den Konsum, die Vermarktung oder einfach den Genuss von Popmusikprodukten die Tatsache, dass die Künstler/-innen jeweils einen eigenen Vevo- und/oder Youtube-Kanal betreiben: Kanye West, Jay Z und Cypress Hill haben einen eigenen Vevo-Kanal, über den ihre Musikvideos (und anderes Videomaterial) auf beispielsweise Youtube und Dailymotion eingespeist wird. Jay Z hat einen eigenen Youtube-Kanal, der „JAY Z's Life+Times“ heißt. Auf diesem sind Videos zu sehen, die nicht bei Vevo verfügbar sind (und umgekehrt). Ferner geben die Stars durch Kurzfilme, die immer wieder mit auditiven Schnipseln ihrer Musik unterlegt sind, Einblicke in die Arbeit im Studio oder zeigen Making-ofs der Musikvideos. Musikvideos sind gegenwärtig ein zentraler Aspekt der Vermarktung und Verbreitung der Künstler/-innen und ihrer Produkte.

74 Vgl. ebd., S. 156. Das ist freilich ein wenig euphemistisch gedacht. Die Zugänge zu Musikvideos und überhaupt Videos auf YouTube sind stark reglementiert. Der eigene Dienst YouTube Red ist bisher nur in drei Ländern und nur gegen Gebühr verfügar. Kapital wird durch das Schalten von Werbung generiert. 75 C. Vernallis: Unruly Media, S. 211. 76 Vgl. ebd., S. 208. 77 Ebd., S. 14.

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Die Diskussion um die Mainstreamisierung von Hip-Hop, die oben anhand seiner Musikvideogeschichte an wichtigen Stationen und Institutionen nachvollzogen wurde, hat immer wieder die Frage nach der Hautfarbe von Künstler/-innen und deren Zielgruppe in den Mittelpunkt gerückt – so auch in Stephany Roses Artikel „Black Marketing Whiteness“, in dem sie Kulturpraktiken von Schwarzen nicht nur als sich immer auf den „Weißen Meister“ beziehend dekonstruiert, sondern sogar als Weiße Überlegenheit (white supremacy) fördernd entlarvt. Sie schreibt sehr kritisch: „Hip-hop culture in many ways has become paltry and immersed in the normalized rhetoric of white American society. Contemporarily, American hip hop largely is a manifestation of neocolonialism in a Fanonian perspective where the oppressed have become the oppressors.“78

Im Musikfernsehen zur besten Sendezeit angekommen zu sein, ging einher mit einer Stereotypisierung, die als nachteilig für Schwarze Künstler/-innen bewertet werden kann. Diese Beobachtung an den Musikvideos stützt Roses kritische Einschätzung, dass Schwarze Künstler/-innen in ein Weißes System eingepasst wurden. Rose kritisiert ferner einen Teil der Forschung dahingehend, dass sie die Strukturen der HipHop-Kultur (besonders in ihren Anfängen) als einen Gegenentwurf zu dominanten Gesellschaftsstrukturen lese, während Hip-Hop ihrer Meinung nach von Anfang an produziert worden sei, um eine gewinnbringende Teilhabe an der Dominanz- oder Mehrheitskultur zu ermöglichen, und diese damit bestärke und nicht unterwandere.79 Die Geschichte der Hip-Hop-Videos in den USA scheint vor allem zu zeigen, dass Schwarze Künstler/-innen sich in der Musikvideoproduktion und -distribution von Beginn an bis heute in graduell unterschiedlicher Ausprägung in Strukturen der Unterdrückung, Ausgrenzung und Stereotypisierung bewegen. Musikvideos haben als die Formen medialer Visualisierung das Potenzial und stehen wie gezeigt oft unter dem Zwang, diese Strukturen zu bedienen. Diese noch immer bestehenden Bedingungen für die ästhetische Gestaltung, die Produktionsumgebung und die Distribution von Musikvideos machen die Frage, wie das Sakrale in Musikvideos gegenwärtiger US-amerikanischer Hip-Hop-Stars vorkommt, umso spannender. Vielleicht ist es so, dass das Sakrale doch noch eine Kraft ist, um Gegenentwürfe und subversive

78 Stephany Rose: „Black Marketing Whiteness. From Hustler to HNIC“, in: Julius Bailey (Hg.): Jay-Z. Essays on Hip Hop’s Philosopher King, S. 117-131, hier S. 120. Ähnlich hat bell hooks dies für den Gangsta-Rap in „Gangsta Culture – Sexism and Misogyny: Who Will Take the Rap“ dargestellt. Roses Artikel stellt dies nun für Jay Z dar, der außerhalb dieses Subgenres und inmitten des Mainstreams zu verorten ist. 79 Vgl. S. Rose: Black Marketing Whiteness, S. 121. Umgekehrt ist Rose sich durchaus der Grenzen ihrer indirekten radikalen Forderung bewusst: „[...] how possible is it to destroy the master’s house while living in it [...]?“ (S. 122).

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Strategien eingebettet in die Dominanzkultur zu ermöglichen, während es zu einem großen Teil kommodifiziert und seiner Subversivität beraubt erscheint. Denn während die Forschung bisher den Verlust der eigenen Identität Schwarzer Künstler/innen zu Gunsten eines Materialismus als Quelle von Macht, Dominanz und Hierarchie beschreibt80, ist das Sakrale als Instrument dieser Machtverhandlungen bisher nicht betrachtet worden.

80 Vgl. S. Rose, Black Marketing Whiteness, S. 126.

Hip-Hop-Musikvideos – Medien des Sakralen? Einleitende Bemerkungen

Im vorhergehenden Kapitel wurden Musikvideos in ihrer spezifischen Bedeutung für die Hip-Hop-Kultur und ihren erweiterten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontexten historisch untersucht. Es konnte festgestellt werden, dass sie einen erheblichen Anteil am Prozess der Sichtbarmachung von Schwarzen in der US-amerikanischen und sogar der internationalen Medienlandschaft hatten. Die Musikvideos des US-amerikanischen Hip-Hops inszenieren scheinbar vornehmlich Schwarze Gemeinschaft und stehen damit immer auch in Diskursen von Rassismus, Hautfarbe und Chancengleichheit. Dieses Kapitel beginnt mit der Frage nach dem Stellenwert des Musikvideos innerhalb der Kunsthierarchie Batailles. Freilich hat Bataille keine Musikvideos in seine Diskussion der Künste aufnehmen können, wohl aber können wir Batailles implizit hochkulturelles Verständnis von Kunst auf popkulturelle, massenmediale Phänomene wie Musikvideos übertragen oder zumindest prüfen, inwieweit Bataille sie als Träger des Sakralen gedacht hätte. Damit verbunden steht das Musikvideo an entscheidender Schnittstelle zwischen Alltagserfahrung und Erfahrung des Sakralen. Auf der Motivebene wird der inszenatorische Umgang mit Alltagsszenen in HipHop-Musikvideos diskutiert. Unter dem Sammelbegriff der „Alltagsszene“ sind vor allem jene typischen „Hood“-Szenen gemeint, die Straßenzüge und Wohnblocks zeigen, die Autos und Innenstädte aufgreifen sowie Inszenierungen von Straßenszenen und Alltagshandlungen, in die durchaus immer wieder Sakrales einbricht. Ein Beispiel wäre das Inszenieren von Partyvorbereitungen in Musikvideos. Jene Inszenierungen könnten als eine Art Übergangspassage zu einem Ort und einer Handlung des Sakralen, wie Bataille es in Festen und Feiern gesehen hat, gelesen werden. Im Zuge dessen wird das Sakrale motivisch kurz rekapituliert, um es formal-ästhetisch in Musikvideos zu etablieren, also Musikvideos auf die These hin zu überprüfen, ob sie „ideale“ Medien für das Sakrale sind. Ferner rückt eine Diskussion des Stellenwerts von Alltag für die Musikvideorezeption in den Blickpunkt: In welchem Verhältnis

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steht die Rezeptionssituation der Clips zu einem Alltagsverständnis? Widerspricht ein alltäglicher Musikvideokonsum womöglich gerade dem Sakralen oder ist das Musikvideoschauen eine Alltagsflucht in kurze sakrale Momente?

Musikvideos in Batailles Kunstverständnis Bataille sieht Kunst im Zeitalter der gänzlich sakralen, archaischen Welt als abhängige Dienerin des Sakralen: „Schriftsteller und Künstler dienten auf jeden Fall einer von der eigenen Subjektivität unabhängigen, wirklichen Souveränität, auch wenn sie affektiv mit jener eins waren.“1 Hier sieht Bataille Künstler/-innen mit dem Souverän – das kann ein König oder ein Priester sein – in der Sphäre des Sakralen als untrennbar zusammengehörig. Kunst kann in dieser Phase gar nicht anders als abhängig vom Souverän sein und auch nur dessen Souveränität und Subjektivität ausdrücken. Für Künstler/-innen bedeutet dies umgekehrt, dass er oder sie in dieser Phase der Bataille’schen Zeiteinteilung gar nicht sich selbst oder Subjektivität ausdrücken kann. Überhaupt möglich wird ein solcher Ausdruck der eigenen Subjektivität erst nach der Trennung der Erfahrungswelt in sakral und profan.2 Ist diese Trennung erfolgt, sind wir in Batailles Zeiteinteilung einen Schritt weiter und befinden uns in der profanen Welt, in der zunächst auch Kunst profan ist. Bataille schreibt: „In all ihrer imposanten Vielheit vermögen die profane Kunst und Literatur doch nur einen Ersatz jener Emotionen zu evozieren, die man zuvor im Heiligtum, in dem sich das Göttliche offenbarte, erfuhr.“3 Profane Kunst – und dazu werden Musikvideos gezählt – versucht also zumindest, auch wenn sie es nie schafft, Sakrales erlebbar zu machen. Inge Baxmann geht in ihrem Buch vom Mythos der Gemeinschaft der Idee nach, dass das Sakrale als kollektive Energie in der Moderne in Poesie, Kunst und Musik vorhanden ist.4 Auch Bataille hat das so gesehen, wenngleich er in manchen zeitgenössischen Kunstformen mehr „sakrales Potenzial“ erkannte als in anderen (siehe Ausführungen zum Rap und zur Poesie). Für Künstler/-innen wiederum bedeutet das Stadium der profanen Kunst, wie Bataille es beschreibt, dass er nicht mehr komplett im Dienst von Herrschenden steht, sondern weitergehende Souveränität und Subjektivität ausdrücken kann, er jedoch der Kunst eine „menschliche Subjektivität hinzufügt.“5 Damit seien Künstler/-innen ein Stück weit unabhängig

1

G. Bataille: Souveränität, S. 75 [Kursivierung wie im Original].

2

Vgl. G. Bataille: Souveränität, S. 75.

3

Ebd.

4

Vgl. I. Baxmann: Mythos Gemeinschaft, S.13.

5

G. Bataille: Souveränität, S. 76.

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DES

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von den herrschenden Formen, folgt man Bataille. In der Betonung des „Menschlichen“ liegt jedoch auch ein Gegenpol zum „Göttlichen“, in dem Bataille, wie im obigen Zitat schon angeklungen, einen Verfall sieht. Der Künstler/die Künstlerin habe sich in den „Schoß der gedemütigten Gesellschaft“6 zurückgezogen und die „Rolle des Dekorateurs“7 angenommen. Bataille argumentiert, dass in der profanen Kunst die Mühe sichtbar sei, das Sakrale zu inszenieren oder sakrale Emotionen zu evozieren: „Man sieht nur noch einen servilen Künstler, der ganz damit beschäftigt ist, die wirksamsten Mittel zu finden.“8 Dieses bewusste Streben nach Wirkung und Effekt, die Mühe, machen das Sakrale in „Reinform“ oder in der idealen Erfahrbarkeit, wie Bataille sie sieht, unmöglich. Bataille hat ein hochkulturelles Verständnis von Kunst oder Kunstproduktion. In seiner chronologischen Abhandlung von einer rein sakralen Welt hin zu einer profanen oder post-sakralen Welt begegnen uns Könige, Priester und Mächtige,9 finden sich Verweise auf die „romantische Kunst“10 und bearbeitet Bataille ein konkretes Beispiel, nämlich Nietzsches „Zarathustra“11. Hier finden wir Hip-Hop-Künstler/-innen zunächst nur schwer wieder. Sie gehören nicht zur Hochkultur – man denke an all die Auseinandersetzungen zu Beginn der 90er Jahre, in denen die akademische Beschäftigung mit Hip-Hop nur über eine ausdrückliche Rechtfertigung von HipHop als „wertvoll“ im Sinne eines Hochkulturverständnisses geschehen konnte. Zudem sind Schwarze in den USA in ihrer Alltagswelt keine Königinnen und Könige, keine Fürsten oder Mächtige – ganz im Gegenteil: Besonders in den Anfängen des Hip-Hops sind sie marginalisiert und ohnmächtig, was in Songs und Videos ganz spezifisch Ausdruck gefunden hat. Auch heute sind Marginalisierung und Stigmatisierung immer noch große Themen in Hip-Hop-Songs und Anlass für Kritik vieler Hip-Hop-Künstler/-innen.12 Gerade spannend ist dann, dass sie sich als Könige und Mächtige in ihren Musikvideos inszenieren. Diese spezifische Inszenierungspraxis der vorwiegend männlichen Rapper als überlegen oder souverän kann mit Bataille als Sakralisierungspraxis gelesen werden und im Hinblick auf die angeschnittene Differenz zur Alltagswelt als eine Transgression dieser verstanden werden.

6

G. Bataille: Souveränität, S. 78.

7

Ebd., S. 79.

8

Ebd., S. 77 [Kursivierung wie im Original].

9

Ebd., S. 80.

10 Ebd., S. 78. 11 Ebd., S. 82 12 Als Beispiele seien hier Kendrick Lamars Auftritt bei den MTV Music Awards 2015 oder sein Musikvideo ALRIGHT genannt.

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In der profanen Kunst kommen spezifische nicht-alltägliche Inszenierungspraktiken zum Tragen, die es den dargestellten13 Personen erlauben, zumindest eine graduelle, vage souveräne Subjektivität zu entwickeln.14 Unterworfen sei diese profane Kunst jedoch dem Dogma des Maßvollen und der „bescheidenen Haltung“.15 Bataille argumentiert, dass eine Souveränität nicht gelingen würde, „hätte man sie im Zusammenhang mit einer beschränkten Realität dargestellt, mit einem alltäglichen Geschehen im Laden oder im Büro“.16 „Die so gezeichneten Personen werden vielleicht nicht gerade in einer unbedeutenden Haltung festgehalten, aber doch in ihrer Unfähigkeit, die Totalität des Seins auf sich zu nehmen. Das Gleitende, das der profanen Kunst eigentümlich ist, hat die Konsequenz, daß, wenn es trotz allem dem Künstler gelingt, seine Subjektivität auszudrücken, diese immer nur als aufblitzende Subjektivität, die beliebigen Wesen geliehen wird, erscheinen kann.“17

Die Künstler/-innen und die dargestellten Personen seien sich im Unklaren darüber, dass ihre Subjektivität das alles Entscheidende sei, so Bataille.18 Ein Nichtwissen darüber hindere sie am Erreichen einer souveränen Position. Nun werden gerade (männliche) Hip-Hop-Künstler als Mächtige und Könige inszeniert19 und verweigern sich geradezu dem Maßvollen. Diese Inszenierungsgeste, die Hip-Hop-Musikvideos in der Regel in graduell unterschiedlicher Intensität immer auszeichnet, bietet in Batailles Kontinuum von sakraler und profaner Kunst dem flüchtig „aufblitzenden“ Sakralen ein Refugium in einer ansonsten profanen Kunst. Nicht nur die Musikvideos des US-amerikanischen Hip-Hops, sondern Musikvideos als popkulturelles Phänomen der Gegenwart sind freilich mit Bataille allein schon in historischer Konsequenz in eine profane Welt eingebettet zu denken. Das sakrale „Einssein“ von Welt und Subjekt gibt es seit dem Zusammenbruch der archaischen Welt oder seit Entwicklung des Werkzeugs in Batailles Herleitung nicht

13 Bataille hat hier bildende Kunst, im Besonderen Malerei im Blick, daher das Verb „darstellen“. 14 Vgl. G. Bataille: Souveränität, S. 82. 15 Ebd., S. 82. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Vgl. ebd. 19 Siehe dazu u.a. Fugees feat. Bounty Killer HIP-HOP OPERA (1997), GangStarr ROYALTY (1998), das berühmte Foto mit Notorious B.I.G., der eine goldene, schräg von seinem Kopf rutschende Krone trägt, das Album „Watch the Throne“ von Kanye West und Jay Z (2011) und Snoop Doog in KING (mit Amitis) (2015) und viele andere.

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mehr.20 Für ein Gros der Hip-Hop-Musikvideos kann jedoch die These aufgestellt werden, dass sie in einer profanen Welt auf unterschiedliche Weise immer wieder Sakrales inszenieren. Sie gehen motivisch mit dem Alltäglichen, mit der „hood“ und der „street-credibility“, mit den „liquor stores“ und dem Herumstehen auf dem Gehsteig, den Basketball- und Spielplätzen und den Shoppingcentern um, inszenieren und erheben allein schon durch die Inszenierung in Musikvideos den Alltag zur Kunst. „I want my shit to be in my hood. [...] we got this dope old parking lot where I used to hang out when I was a kid“,21 zitiert Musikvideoregisseur Kevin Bray einen Rapper. Das Erheben alltäglicher Orte zu Musikvideomaterial ist zunächst schon ein Prozess der Transgression. Hip-Hop-Künstler/-innen und die für sie wichtigen Orte treten mit der Aussendung eines Musikvideos aus Marginalität und Anonymität heraus. Sie überschreiten ihre Alltagswelt schon durch die Musikvideo- bzw. Kunstproduktion. Gleichzeitig macht das Musikvideo durch seine mediale Besonderheit von Ton- und Bewegtbildbezügen sowie seine Rezeptionssituationen immer wieder Angebote der Überschreitung.

Musikvideo und Alltag Die Erfahrung des Sakralen ist ein Seinsmodus, in dem das Subjekt auf andere Weise Bezüge zur Welt herstellt, als es das in einem profanen Erfahrungsmodus tun würde.22 In Formen des Exzesses und der Entgrenzung erfährt sich das Subjekt selbst aber auch die Welt (und ihre Objekte) anders als im Modus der Vernunfts- und Arbeitswelt. Im Folgenden soll der eher motivische Bereich des Sakralen noch einmal über seine Verbindung zum Alltag und zum Alltäglichen aufgegriffen werden, um ihn in Richtung einer möglichen Verbindung der medialen Besonderheit von Musikvideos und dem Sakralen als Affekt zu verlassen (soweit Motive oder Szenen von

20 Siehe bei G. Bataille dazu das Kapitel „Das Menschsein und die Herstellung der profanen Welt“ in Theorie der Religion, S. 26-38. 21 T. Rose: Black Noise, S. 10. 22 Vgl. Charlie Blake: „Dark Theology. Dissident Commerce, Gothic Capitalism and the Spirit of Rock and Roll“, in: Christopher Partridge/Eric Christianson (Hg.): The Lure of the Dark Side. Satan and Western Demonology in Popular Culture, London 2009, S. 74-86, hier S. 81.

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ihrer Art der Inszenierung überhaupt zu trennen sind). Lässt sich für Musikvideos letztlich eine Ästhetik des Sakralen formulieren?23 Musikerleben heißt Außeralltägliches erfahren und ist mit dieser Bestimmung bei Bataille Gegenpol zur Welt der Arbeit. Dies mag recht eindeutig für bestimmte Kontexte des Musikeinsatzes gelten – man denke hier an Batailles „Feste und Feiern“. Musik kann dort einen Einsatz erfahren, der in seiner Funktion und durch Befolgen von Vorgaben als rituell beschrieben werden kann. Das Live-Musik-Erlebnis, sei es im Konzertsaal oder im Rockstadion, ist ein außeralltägliches Ereignis, das Sakrales erfahrbar machen kann. Die Erfahrbarkeit des Außeralltäglichen scheint jedoch schon in historischen Beispielen wie den Work Songs nicht von der Arbeitswelt zu trennen und in besonderer Weise mit ihr veschränkt zu sein. Beim Arbeiten wurde gesungen, um die harte Arbeit durchzuhalten, um die Laune zu heben. Gleichzeitig fungierten sie als Ventil für Protest gegen die Arbeitsbedingungen in einer für jene, die die Kritik betraf, nicht zu verstehenden Form. Die in einer für die Sklaven alltäglichen Arbeitssituation zum Einsatz kommende Musik hatte durchaus die emotionale Funktion, die Arbeit in dieser Hinsicht zu überschreiten, sie aushaltbar(er) zu machen, wenngleich der Einsatzort dem einer Party fundamental entgegensteht. Ob Musik Außeralltägliches erfahrbar macht, scheint abhängig vom Einsatzort oder von der Situation, in der das Individuum oder eine Gruppe Musik hört oder macht. Die nicht ganz durchzuhaltende Dichotomie von Arbeitswelt und Musikerfahrung greift eine Diskussion im Bereich der klassischen Musik erneut und etwas anders gelagert auf. Musik werde von „geschichtlich konkreten Subjekten gestaltet“, rage „aber dennoch in den Bereich des Göttlichen, Transzendenten hinein“ oder habe an diesem teil.24 Folgende Qualitäten klassischer Musik lassen sich scheinbar mühelos auf die Soundkultur des US-amerikanischen Hip-Hops übertragen:

23 „Die Sakralsoziologie ist als Theorie des Sozialen gemeint und gerade nicht als Ästhetik. Die kollektiven Efferveszenzen und der anziehend-abstoßende ‚sakrale Kern‘ einer Gemeinschaft scheinen keiner sprachlichen oder ästhetischen Vermittlung zu bedürfen.“ (I. Albers/S. Moebius: Nachwort, S. 787). 24 C. Kaden/V. Kalisch: Artikel „Musik“, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Band 4, Stuttgart 2010 [2002], S. 256-308, hier S. 291. Der klassische Musik und damit komponierte Werkmusik meinende Artikel spricht etwas aus, das auch für Popularmusik gilt. Es geht um Musik als Kunstform und um ihr Material, wenn von der Erfahrbarkeit des Sakralen die Rede ist. Dies steht keinesfalls im Widerspruch zum Gegenstand. Wie das vorhergehende Kapitel ausgeführt hat, sind Musikvideos als hybride Gebilde sowohl Werke künstlerischen Ausdrucks als auch von ökonomischen Bedingungen und Funktionen geprägt. Es liegt in der Beschaffenheit von Musikvideos als Genre innerästhetisch, werkimmanent Grenzen zu überschreiben. Somit ist es eigentlich ein Leichtes, sie als

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„Musik als Kunst wird in die Aura des Numinosen eingetaucht, angetrieben und begleitet von einer Musikästhetik, die auf permanenter Suche nach Neuem und Originellem sowohl das Feld des musikalisch Einbeziehbaren ständig ausweitet als auch das solcherart Einbezogene seiner möglicherweise alltäglichen, usuellen Herkunft entkleidet.“25

DJs des Hip-Hops haben in der Vergangenheit bis heute wie in keinem anderen Genre das „diggin’ in the crates“ – das Graben in den Plattenkisten – auf der Suche nach Material für ihre Samples betrieben. Die Suche nach Neuem und Originellem geschieht im Hip-Hop über den Rekurs auf Musik aus vergangenen Jahrzehnten, die in einem neuen Kontext aktualisiert wird. Die originelle Verwendung von einzelnen Rhythmuspattern oder Bläsersätzen oder einer ganzen Phrase eines Songs ist kennzeichnend für sample-basierten Hip-Hop.26 Oft genug nimmt Hip-Hop Geräuschhaftes auf – man denke nur an die zahlreichen Sounds aus japanischen Martial-ArtsFilmen in frühen Produktionen des Wu-Tang-Clans – und lässt es zum Teil des Rhythmus werden. In Cypress Hills „Hand on the Pump“27 zum Beispiel wird ein Kratzer in der Platte, also dem ursprünglichen Aufnahmemedium des Samples, zum konstitutiven Element des Rhythmus. Die sich hartnäckig haltende Unterscheidung von Hochkultur und Popkultur offenbart sich gerade im obigen Zitat und für das Beispiel der Hip-Hop-Kultur als obsolet. Vielmehr schafft Hip-Hop eine Materialgerechtigkeit, die diese Unterscheidung nicht priorisiert. In der Soundgestaltung geht Hip-

Kunstwerke genauso wie Marketing-Tools zu begreifen. Die Inanspruchnahme des Musikvideos als ästhetisch zu beschreibendes Kunstwerk macht es möglich, Annahmen aus der klassischen Werkmusik für Musik in Musikvideos zu überprüfen. (Vgl. zur Stellung von Hip-Hop zwischen Kunstproduktion und Kommerzialisierung, T. Rose in Black Noise, bes, S. 64) Ferner treffen sich klassische Musik und Popularmusik in einer für dieses Kapitel wesentlichen Gemeinsamkeit: im Hörbaren. Das heißt, Töne, Harmonien, Rhythmen und Geräusche sind akustische Phänomene, die beiden Genres in je unterschiedlicher Ordnung gemein sind. Das Hörbare ist in unterschiedliche Ordnungen eingebunden und wird gesellschaftlich – zumindest graduell – unterschiedlich funktionalisiert. Nichtsdestotrotz ist dem komponierten Werk und dem produzierten Musikvideo gemein, dass sie mit der „Komponente“ der Musik die Macht haben, Alltägliches zu erheben. 25 C. Kaden/V. Kalisch: Artikel „Musik“, S. 291. 26 Siehe dazu im Allgemeinen Joseph G. Schloss: Making Beats. The Art of Sample-Based Hip-Hop, Middletown 2004. 27 In den ersten 10 Sekunden etabliert sich durch das wiederholte Sample „Duke, Duke, Duke, Duke of“ und den genauso wiederholten zu hörenden Kratzern auf der Platte ein rhythmisches Motiv. Wunderbar erkärt wird dieser Sachverhalt von DJ Funktual in seinem auf Youtube eingestellten Video DJ Funktual: „Top 10 Samples in Hip-Hop History – Part 29“, https://www.youtube.com/watch?v=SmIl4L8-NXE vom 16.08.2016.

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Hop ständig den Weg, immer Neues, Originelles zu verwenden – im Mainstream vielleicht weniger als in kleinen, regionaleren Produktionen. In der Soundgestaltung offenbart sich so erneut ein Spannungsverhältnis zwischen Alltäglichem und Sakralem. Hip-Hop stellt durch seine sozialen Kommentare in Wort und Bild, aber auch durch das Einbinden von Alltagssounds permanent Alltagsbezüge her und ist dabei Kunst. Michel Leiris hat in einem Vortrag mit dem Titel „Das Sakrale im Alltag“ sein ganz persönliches Sakrales und die Möglichkeiten der Erfahrbarkeit im Alltag in einer Weise beschrieben, die uns weiterhelfen kann, dem Musikvideoschauen im Alltag und einer sakralen Dimension dieses Schauens näher zu kommen. In der Einleitung seines Vortrags schreibt er: „Es geht [...] darum, mit Hilfe einiger unauffälliger, dem Alltag entnommener Tatsachen – die außerhalb dessen liegen, was heute das offizielle Sakrale ausmacht (Religion, Vaterland, Moral) – die Züge herauszuarbeiten, die es erlauben, die Eigenschaften meines Sakralen zu charakterisieren und die Grenze zu bestimmen, von der an ich weiß, daß ich mich nicht mehr auf dem Boden der gewöhnlichen (unwichtigen oder ernstzunehmenden, angenehmen oder quälenden) Dinge bewege, sondern in eine ganz und gar eigene Welt eingetreten bin, die von der profanen Welt so verschieden ist wie Feuer von Wasser.“28

Das Musikvideoschauen als eine Alltagssituation kann als Alltagsflucht begriffen werden, deuten doch schon so viele Musikvideos zu Beginn die Inszenierung einer Party an und entfalten so ihren Sog hinein in Batailles „Feste und Feiern“ als Momente des Sakralen. Es ist gar nicht so selten, dass Hip-Hop-Musikvideos in gewisser Weise Übergänge von der Alltagswelt in die des Sakralen inszenieren. In R. Kellys und Keith Murrays HOME ALONE29 verwandelt sich eine wohl nicht ganz alltägliche, äußerst luxuriöse Villa mit dem Türöffnen des Hausherren gegenüber der draußen wartenden, feierwütigen Masse erst mit Einsetzen des Beats in eine groß angelegte Partyszene. Auch TQs DAILY30 ist ein gutes Beispiel für die spielerische Inszenierung des Alltäglichen. In seiner großen Villa beherbergt er widerwillig zahlreiche „Homies“, die auf Sofas, dem Boden und in der Spüle übernachten und zunächst von ihm

28 Michel Leiris: „Das Sakrale im Alltag“ Vortrag am Collège gehalten am Samstag, 8. Januar 1938, in: Denis Hollier (Hg.): Das Collège de Sociologie 1937-1939, S. 98-111, hier S. 98. 29 R. Kelly feat. Keith Murray: „Home Alone“ (Video), http://www.dailymotion.com/video/ xluocg_r-kelly-feat-keith-murray-home-alone-1997-vhs-best-quali_music vom 16.08.2016. 30 TQ: „Daily“ (Video), http://www.dailymotion.com/video/x7jzj_tq-daily_music vom 16.08.2016.

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geweckt werden. Alltägliche Szenen wie die des Wässerns des Rasens, des Frühstückens, des Gangs zum Briefkasten, des Streits mit der Freundin – alle werden nach einem großen Kameraschwenk und kurzen Flug in die bessere Gegend der Stadt mit einem noch luxuriöseren Anwesen, bei dem nun auch Frauen (vor allem in Bikinis) mit von der Partie sind, überschritten und kontrastiert. Dort wird jetzt eine Poolparty inszeniert – das „Daily“ der lästigen Dinge (des Streits, der Hausbesetzung durch Kumpel, der Gartenarbeit) wird durch ein „Daily“ des exzessiven Musikmachens, Tourens und Feierns im letzten Drittel des Clips abgelöst. Alltag wird auch in den nachfolgend angeführten Hip-Hop-Musikvideos unterschiedlich stark inszeniert und steht in einem Spannungsverhältnis zum Sakralen. Zum einen sei hier Tupacs TO LIVE AND DIE IN L.A. noch einmal erwähnt. Im vorigen Kapitel als eher „religiös“ im Sinne Nancys beschrieben sei hier betont, dass es mit Einfangen von Straßenzügen, mit Zeigen der vielen Außenansichten der unterschiedlichsten religiösen Institutionen, der Shoppingzentren, der Fastfood-Ketten und Bürgersteigszenen deutlich Alltägliches inszeniert und somit erhebt. Die Begegnung mit Tupac im Einkaufszentrum wird zu einer Feier, alle tanzen zu seinem Song, alle sind fröhlich. Der Alltag wird in einer als bindend und vergemeinschaftend beschriebenen Weise transzendiert. 99 PROBLEMS von Jay Z arbeitet ebenfalls mit vielen Straßen- und Gebäudeaufnahmen; so sehen wir unter anderem Jay Zs früheren Wohnblock in BedfordStuyvesant, sehen ihn in einem alten Lexus durch die Stadt fahren und wie er von der Polizei kontrolliert wird. Uns werden ein billiges Café, der Straßenstrich sowie ein Streetbasketballspiel und eine Motorradgang präsentiert. Ein Junge sitzt in ein Laken eingehüllt auf der Treppe eines Hauseingangs, einer Madonnenfigur ähnlich.31 Im nächsten Moment ist er aufgesprungen und faltet das Laken explosionsartig auseinander. In der Szene werden Alltag und Außeralltägliches blitzschnell miteinander kombiniert; das eine geht aus dem anderen hervor. Das Außeralltägliche kann durchaus mit Batailles Sakralem beschrieben werden; vor allem in der Art und Weise, wie religiöse Symbole und Szenen in den Clip integriert werden, spricht dies für eine Verwendung des Begriffes in Batailles Sinn. Immer wieder werden mit einer Handkamera gefilmte Szenen von Menschen in religiös konnotierter Kleidung oder Umgebung gezeigt: Wir sehen einen jüdisch-orthodoxen Mann, einen Voodoo-Priester mit Maske und Stab, behangen mit langen Halmen von Stroh, barfuß in der New Yorker U-Bahn tanzend, Jay Zs Produzenten Rick Rubin als meditierenden Buddhisten, einen Gospelchor, unter dessen ekstatischen Schreien Jay Z vor einer Kirche stehend mehrfach von Kugeln getroffen wird, bevor er zu Boden geht. Die scheinbar im

31 Siehe dazu die Analyse des Clips von Henry Keazor in „Performanz als Ausweg? Der Videoclip 99 Problems von Jay-Z und Mark Romanek“, in: Tanzende Bilder. Interaktion von Musik und Film hrsg. von Klaus Krüger und Matthias Weiß, München 2008, S. 149-172.

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Vorbeigehen aufgenommenen Bilder der in einer Verbindung zu einer Religion stehenden Menschen vereinen erneut in musikvideospezifischer Weise Alltag und Sakrales. Zwischen Einstellungen von Häuserfassaden, Straßenzügen und Stadtansichten werden immer wieder sehr kurze Aufnahmen der erkennbar einer Religion zugehörigen Menschen eingeblendet. Versatzstückartig und vor allem durch den ununterbrochenen Fluss des Songs zusammengehalten ergeben die Bilder eine kontinuierliche Bewegung von Alltagsansichten und deren Überschreitung – motivisch wie formal-ästhetisch. Die ausführliche Erschießungsszene des Clips, für die der musikalische Track auf exakt 99 Takte verlängert wurde, ist ein Plädoyer für Phänomen und Begriff des Sakralen. Jay Z stirbt erschossen vor der verschlossenen Tür einer Kirche und inszeniert damit seinen eigenen Tod, um im nächsten Schnitt schelmisch lachend in anderer Kleidung und anderer Umgebung in die Kamera zu blicken. Damit hat er sich selbst zunächst scheinbar (letztlich nicht) geopfert – etwas, das Bataille in seinem realhistorischen Unternehmen Acéphale nicht gelungen ist. Damit hat sich Jay Z in dieser Geste im Sinne Batailles sakralisiert. Es wurde jedoch von Seiten MTVs (und womöglich Jay Zs) befürchtet, dass dieser Moment trotz der Auflösung durch die Sequenz des munteren Jay Zs am Ende des Clips so schockierend sein könnte, dass MTV einen Disclaimer mit Jay Z produzierte, in dem jener den künstlerischen Wert des Clips und vor allem das Symbolhafte der Erschießungsszene betont. Henry Keazor hat diesen Disclaimer im Rahmen seiner Analyse des Clips diskutiert: „Zunächst führte John Norris in die Problematik des Clips ein, in dem er zum einen daran erinnerte, dass ‚precipitated by rising gun violence amongst young people, MTV has for more than a decade now discouraged videos containing any kind of gun imagery or fortuitous violence.‘ Zum anderen aber wies er auf die Beweggründe für eventuelle diesbezügliche Ausnahmen hin: ‚On very rare occasions, however, when compelled by the artistic merits of a particular clip, MTV has offered at least some form of limited airplay to just a handful of controversial videos.‘ Norris führte sodann einzelne Beispiele an und fügte dieser Liste schließlich JayZs 99 Problems hinzu, womit er zu einem Interviewausschnitt überleitete, der den MTV Korrespondenten, Produzenten und Rapper Sway Calloway im Gespräch mit JayZ zeigte. Als wäre er besorgt, dass man die dort formulierte Anweisung zum richtigen Verständnis des Clips nicht begreifen würde, fasste Norris die zentralen Aussagen des Gesprächs vorab schon einmal zusammen: „Jay insists that the dramatic conclusion to his music video career is not fortuitous but rather [ ] ripe with symbolism, showing the death of JayZ and the rebirth of Shawn Carter.“32

32 H. Keazor: Performanz, S. 152.

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Dieser Disclaimer ist ein Beispiel für den Grad der Problematik in der Rezeption der Gewalt- und Opferszene mit Jay Z. Genauso spricht der Umgang mit der Szene für deren besondere emotionale Wirksamkeit – eine emotionale Wirksamkeit, die in der Beschreibung der inszenierten Tötung als Opferung von Jay Z mit Bataille als eine sakrale gelesen werden kann. Jay Z selbst begreift die Szene als „Wiedergeburt“, als Schwellenritus, in der er von der Figur des Jay Z hin zur (erwachseneren) Künstlerperson Shawn Carter (gleichzeitig sein bürgerlicher Name) schreitet. Das Musikvideo kann – muss es aber nicht in jedem Fall – Sakrales als der Alltags- und Arbeitswelt in dem Sinne entzogen ausgestalten, sodass alltägliche Wahrnehmungsmodi in Extreme überführt werden. Das Sakrale ist bei Bataille mit dem Begehren nach Intimität und Kontinuität, nach dem Einssein mit der Welt gleichzusetzen oder als „lebensweltliche Transzendenz“ zu begreifen.33 Das Sakrale erfahren zu wollen, ist damit ein menschliches, sehr grundsätzliches Begehren. Das Sakrale als Begehren nach Intimität und Kontinuität drückt sich in Musikvideos vor allem im erotischen oder sexuellen Begehren aus. Musikvideos sind noch mehr als der Film auf dieses menschliche Verlangen zugeschnitten. Begehren zu inszenieren, mit Aussicht auf dessen Erfüllung zu spielen, ist für viele Musikvideos die zentrale Strategie der Starinszenierung. Tanzende, mehrheitlich weibliche Körper gehören zur Grundausstattung von Mainstream-Hip-Hop- und R’n’B-Musikvideos. Sich zur Musik bewegende Frauen in knapper Kleidung, die mit den Tänzen und der Kleidung ihre Körper als begehrenswert „verkaufen“, also auch kommensurabel machen, und ein im Mittelpunkt stehender, männlicher Hip-Hop-Künstler bilden eine oft gesehene Grundkonstellation von Mainstream-Hip-Hop-Clips.34 Hip-Hop-Musikvideos inszenieren Begehren, das im Prozess des Anschauens spürbar wird und einen Teil der

33 G. Bergfleth: Weltimmanenz, S. 232. 34 Viele Musikvideos wären da zu nennen: Notorious B.I.G.s HYPNOTIZE in seinem Kontrast zwischen sehr ausdrucksstark, in sportlich anspruchsvollen Bewegungen tanzenden Frauen und einem fast nur nickenden, auf einen Gehstock gestützten Notorious B.I.G. exemplifiziert den Einsatz des weiblichen Körpers, um den männlichen Hip-Hop-Künstler als begehrenswert zu inszenieren. Dass sie für ihn tanzen und ihn anhimmeln machen die Sängerinnen des Chorus deutlich, indem sie hauchen: „Biggie, Biggie, Biggie, can’t you see, sometimes your words just hypnotize me, and I just love your flashy ways, Guess that's why they broke, and you’re so paid.“ Ein anderes, extremes Beispiel, das Begehren auf vielfältigen Ebenen inszeniert, ist LL Cool Js DOIN’ IT. Der Song entspinnt einen erotischen Dialog zwischen LL Cool J und einem weiblichen Gegenüber, in dem es um die (in Aussicht gestellte) Erfüllung sexueller Fantasien geht. Das Musikvideo besteht zu einem größeren Teil aus Sequenzen, die LL einen Apfel (als Symbol für die biblische Sünde der Frau) essend durch ein Fenster in einen Raum schaut, in dem Frauen für ihn und immer

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Wirkungskraft dieser Medienart ausmacht. Der Körper steht im Mittelpunkt von Musikvideos, Lust und Erotik sind große Themen (nicht nur) vieler Hip-Hop-Musikvideos, wie ausführlich in Zusammenhang mit der Verbindung von Erotik und Begehren zum Sakralen herausgearbeitet wurde. Was Laura Mulvey im folgenden Zitat über Codes im Spielfilm schreibt, lässt sich auf Musikvideos übertragen: „Dadurch, daß sie mit der Spannung spielen, die den Film als Gegenstand auszeichnet, der die Dimension der Zeit (Schnitt, Erzählung) und des Raumes (Veränderung der Distanz, Schnitt) kontrolliert, inaugurieren die filmischen Codes einen Blick, eine Welt und ein Objekt, die eine Illusion erzeugen, die auf den Maßstab des Verlangens zugeschnitten sind.“35

Mulvey schreibt dies aus einer feministischen Perspektive und mit dem deutlichen Appell, diese filmischen Codes und letztlich das herrschende Geschlechterverhältnis zu durchbrechen. Im Musikvideo sind diese Codes jedoch in Extreme überführt. Gerade Musikvideos weiblicher Hip-Hop- und R’n’B-Künstlerinnen (zum Beispiel Foxy Brown, Khia, Beyoncé, Nicki Minaj) zeigen, dass diese Codes (und noch weitere) fast ununterbrochen eingesetzt werden und ganz bewusst das Begehren des weiblichen Körpers und, um Mulvey weiter zu folgen, den männlichen Blick inszenieren und herausfordern.36 Hier rücken mit Mulveys Bemerkungen zum male gaze aber auch die spezifische Machart des Films bzw. hier des Musikvideos, seine Kameraeinstellungen und -perspektiven in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Auch über diese werden Strukturen des Begehrens in Musikvideos eingeschrieben. Wenn-

auch für den Videozuschauer erotisch tanzen. Weitere prominente Videos, in denen ausführliche, choreografisch abwechslungsreiche Sequenzen des Tanzens für den männlichen Rapper (und den Zuschauer) zu sehen sind, wären Busta RHYMES’ PUT YOUR HAND WHERE MY EYES CAN SEE

(1997) und Jay Zs CAN I GET A (1999). Unter den Hip-Hop-Künstlerin-

nen, die ihr eigenes Begehren selbstbestimmt ausdrücken und die sich gleichsam als begehrenswert inszenieren, wären beispielhaft Salt’n’Pepa, Eve und Missy Elliott für den Mainstream zu nennen (siehe zum Beispiel Salt’n’Pepa WHATTA MAN, Eve GANGSTA LOVIN’ oder Missy Elliott HOT BOYZ). Eine Künstlerin der neuen Generation, die verschiedenste Weiblichkeitsentwürfe in ihren Musikvideos wagt, ist Wavy Spice, auch unter dem Namen Destiny oder Princess Nokia bekannt. Siehe von ihr zum Beispiel das Video TOMBOY. 35 L. Mulvey: Visuelle Lust, S. 45. 36 Miriam Strube diskutiert in ihrem Buch Subjekte des Begehrens. Zur sexuellen Selbstbestimmung der Frau in Literatur, Musik und visueller Kultur, Bielefeld 2009, weibliche Künstlerinnen und ihre visuellen Strategien, sich nicht dem männlichen Blick zu unterwerfen, sondern Begehren und Verführen selbstbestimmt zu inszenieren.

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gleich Mulvey vom „illusionistisch-narrativen“ Film spricht und die narrative Struktur des Films im Musikvideo zugunsten eines assoziativen, versatzstückartigen Editings zurücktritt und dort anders „erzählt“ wird als im Film, können die Begehrensstrukturen des Films auch im Musikvideo wiedergefunden werden, wie nachfolgend argumentiert wird. Musikvideos inszenieren immerzu Objekte des Verlangens, die Stars, auf die wir uns hin entgrenzen wollen. Stars sind das unhintergehbare Zentrum des Musikvideos, alles, was in einem Clip geschieht, scheint sich um sie zu drehen. Begehren ist die zentrale Kategorie in der Definition des Stars: „Stars are defined by an attractiveness usually experienced as sexual, but that may be a more general personal magnetism or ‚star quality‘. The components of star quality correspond to two components of audience response: desire and identification. The star's attractiveness works both directly and vicariously in the minds of the fans, who want either to have the star or to be the star.“37

Dieses erotische Verlangen, mit dem Musikvideos inszenatorisch spielen, ist bei Bataille mit dem Sakralen verknüpft: Erotik und Sakrales haben „grundlegend an demselben Impuls“ teil, schreibt Bataille.38 „Die Arbeiten Freuds haben einsichtig gemacht, daß die Sexualtriebe sich auch in unseren höheren Bestrebungen kundgeben: sie drücken sich insbesondere in der Religion aus und schließlich in Kunst und Literatur.“39 Über diese Verknüpfung des Sakralen mit der Erotik und dem sexuellen Verlangen wird deutlich, dass Musikvideos über die Inszenierung von Begehrensstrukturen innerhalb des Musikvideos und deren Wirksamkeit in der Rezeption in unterschiedlichen Intensitäten und Formen sakral aufgeladen sind. Musikvideos inszenieren allgemeiner gesprochen Welten jenseits unserer Lebenswelt, in denen Charakterisierungen auf die in den Clips präsenten Personen zutreffen, die sie als außerweltlich, omnipotent oder unsterblich ausweisen. Gumbrecht schreibt von dem besonderen Merkmal der Lebenswelt, „daß wir uns Fähigkeiten ausmalen und wünschen, die jenseits der Grenzen der Lebenswelt liegen.“40 Diese Lebenswelten werden in den Musikvideos folglich ständig überschritten.

37 David R. Shumway: „Rock Stars as Icons“, in: Andy Bennett und Steve Waksman (Hg.): The Sage Handbook of Popular Music, London u.a. 2015, S. 301-331, hier S. 303. 38 G. Bataille: Die Erotik, S. 279. 39 Ebd., S. 278. 40 Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004, S. 143.

190 | Z UR SAKRALEN DIMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS „Wenn wir nun [...] behaupten, das, was nach unserer Vorstellung jenseits der Grenzen der Lebenswelt liegt, sei konstitutiv für – metahistorisch stabile – Objekte des Verlangens, können wir darüber hinaus die Vermutung anstellen, es sei möglich, daß verschiedene Wünsche, die Grenzen der Lebenswelt in unterschiedliche Richtungen zu überschreiten, verschiedene Grundströme von Energie erzeugen können, die ihrerseits alle geschichtlich spezifischen Kulturen tragen.“41

Gumbrecht und Bataille haben beide etwas Ähnliches im Blick: Nicht nur die Objekte des Verlangens sind über die Zeit stabil, auch „Grundströme von Energie“, die durch unsere Wünsche, die Grenzen der alltäglichen Lebenswelt zu überschreiten, in allen Kulturen und allen Zeiten vorhanden sind. Gumbrecht gibt diesen Energien nicht den Namen des Sakralen, aber seine Herleitung kann für das Sakrale Batailles in Anspruch genommen werden. Auch das Sakrale ist historisch konstant insofern, als dass es per se immer vorhanden ist, wenngleich seine Erscheinungen, seine Formen und der Grad der Verdrängung gerade in post-sakralen Gesellschaften stark variiert. Batailles Arbeit und die der anderen Mitglieder des Collège de Sociologie sind so zu verstehen, dass sie den Blick öffnen für soziale Praktiken und durchaus auch ästhetische Phänomene, die in der Gegenwart sakral aufgeladen sind.42 Musikvideos gehören zu jenen medialen Formen, in denen das Sakrale besonders intensiv in Erscheinung tritt. Bataille zufolge zeigt sich das Sakrale, wie im Theorieteil ausführlich dargelegt, in „Symbolisierungen des Todes oder Träumen, in der Verschwendung und Verausgabung bei Festen, aber auch in Gefühlen, Sexualität, Erotik, Nacktheit, Ekstase, Tanz, Wahnsinn, irrationalen Handlungen und [...] in Gewalt.“43 Aus diesen Bereichen speisen sich wesentliche Bildwelten der analysierten Musikvideos. Auch formal-ästhetisch lässt sich aus dem Begehren des Stars des Musikvideos und der Abkehr vom Alltag ein Argument formulieren. Durch ästhetische Strategien auf Ebene der Postproduktion und des Editings, in Rhythmus, Schnittgeschwindigkeit und in Raum- und Zeiterfahrung des Musikvideoschauens – Slow Motion ist beispielsweise ein häufig eingesetztes Verfahren, um Erfahrung zu intensivieren – werden sie graduell zu einem Medium, in dem und durch das das Sakrale als außeralltägliche Erfahrung möglich ist, was in den folgenden Ausführungen im Mittelpunkt steht.

41 H. U. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 143. 42 Vgl. S. Moebius: „Die sozialen Funktionen des Sakralen Marcel Mauss und das Collège de Sociologie“, in: Revue du MAUSS permanente, 16. März 2008, http://www.journaldu mauss.net/./?Die-sozialen-Funktionen-des vom 16.08.2016. 43 S. Moebius: Zauberlehrlinge, S. 14.

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Im folgenden Kapitel werden die Bestandteile oder Ebenen des Musikvideos, zunächst vor allem Musik, auf ihre „Sakralität“ hin befragt. Musik ist in einem historischen Diskurs wohl die Kunstform, die uns am ehesten Alltag transzendieren lässt. Ihre Bezüge zu einem Sakralen jenseits leichtfertiger Zuschreibungen, sei es in liturgischem Kontext oder in ihren alltäglichen Funktionen, sind mannigfach und können hier nur punktuell erläutert werden.

Musik und Transzendenz Musik hat eine lange und enge Verbindung zum Transzendenzgedanken, zum Sakralen und Religiösen und nimmt unter den Künsten eine besondere Position ein: Im romantischen Musikverständnis schließt Musik dem Menschen etwas auf, „was er sonst, im Alltag, im alltäglichen Umgang mit ihr, mit sich und seiner Welt, nicht zu erfahren vermag. [...] Musikerleben trägt quasi-religiöse Züge in sich, bringt den Menschen vor die Erfahrung des Numinosen.“44 Was uns hier begegnet ist ein alter und sich hartnäckig fortschreibender Diskurs, der Musik jenseits wissenschaftlich nachvollziehbarer Erklärungen zu Musikerfahren oder Musikerleben als „außerweltlich“ und damit überhöht verstanden wissen möchte. E.T.A. Hoffmanns Verständnis der Musik in der Romantik hat in den nachfolgenden Epochen den westlichen Musikbegriff geprägt.45 Die Musikwissenschaftlerin Robin Sylvan beschreibt die Verbindung von Musik und Religion gar als universell und zieht Analogien zwischen der Multidimensionalität von Musik und Religion. Zu den Gründen, warum Musik ideal für die Übermittlung eines „religiösen Impulses“ sei, zählt sie: „[...] the fact that music is capable of functioning simultaneously at many different levels (physiological, psychological, sociocultural, semiological, virtual, ritual, and spiritual) and integrating them into a coherent whole. So for a complex multidimensional phenomenon like religion, which also functions simultaneously at multiple levels, the fact that music is capable of conveying all these levels of complexity in a compelling and integrated package makes it a vehicle par excellence to carry the religious impulse.“46

44 C. Kaden/V. Kalisch: Artikel „Musik“, S. 290. 45 Die Diskussion zwischen Absoluter Musik und Programmmusik wiederzugeben oder die Standpunkte Liszts und Hoffmanns zu diskutieren, ist hier nicht zielführend. Es geht darum, den Diskurs zu beschreiben, der Musik als in oben angesprochener Weise „besonders“ markiert und um Möglichkeiten, Musikerfahrung als Alltagspraxis in Bezug zum Sakralen als affektiver Kraft zu setzen. 46 R. Sylvan: Traces, S. 6.

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Ganz besonders betont sie die Möglichkeiten der vielsinnigen Erfahrbarkeit von Musik und bezeichnet Musikerleben als eine besondere Art des In-der-Welt-Seins, das sie als „religiös“ deutet und das wir ähnlich dem sakralen Erfahrungsmodus, den Blake in seinem Aufsatz zur „Dark Theology“ erwähnt, verstehen können. Sie schreibt: „[T]he musical experience that integrates all these levels represents a unique phenomenological and ontological mode of being-in-the-world in which the dualities of subject-object, body-mind, and spiritual-material are transcended.“47 Der Kulturwissenschaftler Ulf Poschardt geht in seinem Buch über u.a. Hip-Hop-Kultur von einem vergleichbaren Punkt aus, bleibt aber weniger komplex als Sylvan, wenn er sagt, dass sich (eine nicht näher bestimmte) „Sakralität“ in der Popmusik erhalten habe. An den Anfang eines von ihm beschriebenen Säkularisierungsprozesses setzt er den Gospel, der sich in den sich nachfolgend entwickelten Musikgenres des Soul, Funk und House immer wieder abgewandelt zeige: „Aus dem Glauben an Gott wurde der Glaube an das Gute im Menschen, und diese Botschaft ließ sich in jeder Form, auch in der Popmusik, gut transportieren.“48 Poschardt argumentiert hier gleichzeitig für die Beibehaltung und genealogische Fortschreibung von „Sakralität“ in Popmusik wie für die Veränderung dieser innerhalb eines Säkularisierungsprozesses. Batailles Sakralbegriff lässt sich an Poschardt nicht ohne weiteres anschließen, würde die Formel vom „Glaube an das Gute im Menschen“ jene zerstörerischen und dunklen Seiten eines Sakralen, wie Bataille es gesehen hat, verdecken. Im folgenden Abschnitt wird argumentiert, dass Musik (und das Musikvideo) formalästhetische Strategien hat, Sakrales zu inszenieren ohne dabei den dominanten Diskurs der scheinbar immer schon dagwesenen Transzendenz heranzuziehen. Das Musikvideo, so wird gezeigt, hat gegenüber anderen Medienformen mehr Möglichkeiten, das Sakrale in Form affektiver Überschüssigkeit zu inszenieren. Wie wir uns zu Musik verhalten oder wie wir von Musik angesprochen werden, ist für Vernallis’ Suche nach neuen Relationen zwischen Musik und Video im Musikvideo wichtig. Sie sucht jene neuen Relationen jenseits von starren formalen musikalischen Parametern in Möglichkeiten der Interpretation, der individuellen Art und Weise, Musik zu machen: „intangibles [...] like syncopation, rubato, articulation, and grain.“49 Der Terminus „rubato“ weist in die Richtung des Verhältnisses von Musik

47 R. Sylvan: Traces, S. 6. 48 Ulf Poschardt: DJ-Culture. Diskjockeys und Popkultur, Hamburg 1997, S. 157-158. 49 Carol Vernallis: „Music Video’s Second Aesthetic?“, in: John Richrdson et al. (Hg.): The Oxford Handbook of New Audiovisual Aesthetics, New York 2013, S. 438-465, hier S. 441. Vernallis Hinweis auf die Spielweise des „rubato“ ist im Zusammenhang mit dem Sakralen und der Musik als Zeitkunst spannend, denn aus dem Italienischen übersetzt heißt der Fachterminus soviel wie „gestohlener Zeitwert.“ Vgl. Carl Dahlhaus und Hans Heinrich Eggebrecht (Hg.), Brockhaus Riemann Musiklexikon Band 2, Wiesbaden 1979,

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und Zeit, das im Tempo eines Musikstückes ausgedrückt wird und für unser „Gestimmtsein“ eine große Rolle spielt. Vernallis macht nur kursorisch durch den Verweis auf einen Leitartikel in der New York Times darauf aufmerksam. In diesem Artikel werden neue Forschungsergebnisse im Bereich der Wahrnehmung von Musik auf der Ebene der Affekte vorgestellt. Eine wichtige Erkenntnis ist: Tempo und vor allem leichte Abweichungen in diesem können entscheidend sein für die Stärke oder Deutlichkeit in emotionaler Wahrnehmung: „Changes in the expected timing of a note might generate the emotional equivalent of ‚depth perception, where slightly different images going to your two eyes allows you to see depth,‘ said Joseph E. LeDoux, a neuroscientist at New York University.“50 Eine direkte Verbindung zwischen Musik und unseren Körpern findet sich in dem Terminus bpm (beats per minute). Dieser ist in der Medizin und in der Musik gebräuchlich und bezeichnet den Herzschlag oder die Schläge pro Minute eines Musikstücks. Musik, die eine bpmZahl über unserem Puls hat, wird in der Regel als anregend empfunden, während eine geringere bpm-Zahl uns tendenziell eher beruhigt.51 Vernallis betont mit der Nennung der vier Merkmale (syncopation, rubato, articulation, grain) für die Untersuchung der audiovisuellen Verbindung im Musikvideo die Affektebene. Auch die These, die sie für ihren Aufsatz aufstellt, zeigt deutlich, dass sie auf Affekt und Wirkung aus ist: „I will float the claim that many eighties videos possess more charm, allure or power than their contemporaries today, [...] because the audiovisual relations were special.“52 Vernallis sucht in Produktionsweisen

S. 585. Vernallis gebraucht das Wort „Immaterielles“, was unglücklich gewählt erscheint. Nur weil etwas nicht in Noten eindeutig fixiert ist, heißt das nicht, dass es „immateriell“ ist. Auch hier sollte die soziale Konvention betont werden, die bei Stilen oder gar Schulenbildung in der Interpretation von Musik entscheidend ist. 50 Pam Belluck: To Tug Hearts, Music First Must Tickle the Neurons, http://www.nytimes.com/2011/04/19/science/19brain.html?_r=0 vom 16.08.2016. 51 Vgl. Volkmar Kramarz: Warum Hits Hits werden: Erfolgsfaktoren der Popmusik, Bielefeld 2014, S. 121. Auch hier ist sich die Forschung nicht einig – es gibt auch Arbeiten, die keinen direkten Zusammenhang zwischen bpm in der Musik und dem menschlichen Puls sehen. Die Bedeutung des Beats für den Hip-Hop kann gar nicht genug betont werden. Joseph G. Schloss reduziert Hip-Hop auf zwei Kernelemente: zum einen die Reime und zum anderen den Beat, nämlich „musical collages composed of brief segments of recorded sound.“ (Schloss: Making Beats, S. 2.) Die körperliche Erfahrbarkeit von Beats ist nicht nur in der Live-Performance oder im Club von zentraler Bedeutung, sondern schwingt im Hip-Hop als Medium der Massenbewegung ohnehin übertragen immer mit. Aber auch für das private Hören kann die besondere Betonung der Beats und des Basses im Hip-Hop angeführt werden. 52 C. Vernallis: Second Aesthetic, S. 441.

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und Material von Musikvideos Charme, Anziehungskraft und „Kraft“ im Sinne von Macht oder gar Energie, uns zu affizieren und uns zu synchronisieren. Das Sakrale als eine Kraft oder ein Affekt hat verschiedene Anknüpfungspunkte an Musik und Video genauso wie an die audiovisuellen Bezüge, denen Vernallis mit u.a. den genannten Merkmalen näherzukommen versucht. Zunächst einmal sind Synkopierung, Rubato, Artikulation und Körnung auf ganz unterschiedlichen Ebenen individuelle Parameter oder Techniken und Mittel, eine musikalische Performance oder ein Musikstück unverwechselbar und einzigartig zu gestalten. Sie sind damit auch immer zugleich „Abweichungen“ von einer konstruierten Norm. Es ist das Imperfekte gemessen an Exaktheit und Reinheit, was uns Musik als emotional berührend wahrnehmen lässt: „It’s deviation from a pattern,“ wird der Star-Cellist Yo-Yo Ma in dem NY-Times-Artikel zitiert, und auch die Autorin des New York-Times-Artikels zieht das Fazit: „Emotion in music depends on human shading and imperfections.“53 Ein neurowissenschaftliches Korrelat zu diesen vielen, subjektiven Eindrücken liefert der Artikel ebenfalls: „During the original performance [hier die Aufnahme des Spiels eines Konzertpianisten, E.S.], brain areas linked to emotion activated much more than with the uninflected version [eine auf einen konstruierten Mittelwert verschiedener Parameter berechnete Version der Aufnahme, E.S.], showing bursts of activity with each deviation in timing or volume.“54 Könnten diese Parameter der intensiven, emotionalen Wahrnehmung von Musik uns der Erfahrungsdimension des Sakralen näher bringen? Sind sakrale Elemente im Musikvideo dort zu konstatieren, wo schockartige Einbrüche geschehen, wo abgewichen wird vom Vorhersehbaren, wo Außergewöhnlichkeit und Überraschung festzumachen sind? Sind diese Parameter besonders emotionaler Musikerfahrung Vehikel für Erfahrungen des Sakralen? Hinter diesen von Vernallis ins Spiel gebrachten Ausdrucksmerkmalen von Musik steht noch mehr. Sie verweisen indirekt auf die körperliche Erfahrungsdimension von Musik. Wie hängen Körperlichkeit oder körperliche Erfahrbarkeit von Musik und hier konkret von Hip-Hop mit dem Sakralen in Batailles Konzeption zusammen? In ihrem Aufsatz im „Oxford Handbook of New Audiovisual Aesthetics“ sucht Vernallis nach einem neuen Ansatz, sich der Ästhetik von Musikvideos unabhängig von einem inhaltlichen Kanon oder einer bestimmen (Musik-)Genre-Zugehörigkeit zu nähern. Als einen Effekt und eine vermutete „Absicht“ von Musikvideos, sieht sie „[...] to pull us out of the recession and sync us up with one another.“55 Musik und Musikvideos haben den Effekt, uns zu koordinieren oder aufeinander abzustimmen, schreibt sie und stellt die These auf, dass wir so synchronisiert womöglich besser

53 P. Belluck: To Tug Hearts. 54 Ebd. 55 C. Vernallis: Second Aesthetic, S. 441.

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Kapitalismus oder Umweltkatastrophen adressieren können: „[I]f we can get coordinated around a hook (a syllable like ‚ga‘, a visual stutter, a ‚beep beep beep‘ buzzy tone, or a simple image like that of a kiss), perhaps we’ll be attuned enough to address corporate domination and environmental disaster.“56 Vernallis’ Aussage lässt sich direkt auf die Vergemeinschaftungsbewegung der Hip-Hop-Kultur, wie sie im vorigen Kapitel erläutert wurde, beziehen. Musikvideos sprechen von der Art und Weise, wie wir Arbeit, Alltag und Umwelt wahrnehmen und verarbeiten. Gleichzeitig organisieren und koordinieren wir uns zu Musik und Musikvideos. Greg Dimitriadis beschreibt in seinem Aufsatz „Hip-Hop: From Live Performance to Mediated Narrative“ eine historische Entwicklung der Hip-Hop-Kultur von einer auf Live-Performance ausgerichteten Praxis hin zu einer fast ausschließlich durch Tonträger konsumierten, mediatisierten Praxis. „The majority of rap is now produced in-studio and is received in solitary settings, such as in jeeps, home stereos and Walkmans.“57 Aus dieser Zustandsbeschreibung leitet er für Hip-Hop gegenwärtig ein geringeres Potenzial ab, resistente Gemeinschaften (er argumentiert vor allem für Unterstützungsstrukturen für Schwarze auf lokaler Ebene) herauszubilden. Diese Arbeit hingegen möchte für das Musikvideo und seine Rezeption in seiner globalen Verbreitung die These aufstellen, dass in ihm und in der Rezeption diverse Strategien zum Einsatz kommen, die Gemeinschaft auch in „solitary settings“ schaffen. Spezifische filmisch-musikalische Mittel und Produktionsweisen lassen Gemeinschaft erfahren. Diese Gemeinschaft ist durchaus denkbar in einer Rezeptionssituation, die keinesfalls das gemeinsame Musikvideoschauen impliziert. Vielmehr meint Vergemeinschaftung hier, wie in vorhergehenden Kapiteln dargelegt, eine ideelle Form, ein Gefühl der Verbindung oder Zusammengehörigkeit durch teilhabendes Erleben des Musikvideos. Ein vergemeinschaftendes Erlebnis „realerer Natur“ ist wohl eher der Funktionskontext der Party. Hier liegt freilich auch ein besonderes Verhältnis zwischen Alltag und Sakralem vor. Der Einsatz von Hip-Hop kann zu

56 C. Vernallis: Second Aesthetic, S. 441. Wichtig ist hier die direkte Verknüpfung von Musik und gemeinschaftlichem Handeln, für die Vernallis plädiert. Es muss aber klar gesagt werden, dass es strittig ist, ob eine musikalische Selbstgleichschaltung – Vernallis spricht vom Koordiniertwerden um und durch eine eingängige, auf den Refrain hinführende Songzeile – über eine vom Kapitalismus oder überhaupt eine ideologisch verordnete Gleichschaltung zu erheben ist. Letztlich entscheidend sind Fragen nach Dauer, Grad und Kontext einer Gleichschaltung oder Vergemeinschaftung. 57 Greg Dimitriadis: „Hip-Hop: From Live Performance to Mediated Narrative“, in: Murray Forman und Mark Anthony Neal (Hg.): That’s the Joint! The Hip-Hop-Studies Reader, 2. Auflage, New York 2012, S. 580-594, hier S. 591.

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Festen und Feiern geschehen, wie Bataille sie als Orte des Sakralen in der Gesellschaft beschreibt. Hip-Hop kann genauso gut aber im Alltag, ja sogar bei der Arbeit gehört werden. Vielleicht ist ein Entscheidungskriterium, um zu beurteilen, wann Musik uns in sakrale Bereiche führt, jenes, dass sie in Alltagssituationen wie dem Straßenbahnfahren oder dem Arbeiten in unterschiedlichen Graden im Mittelpunkt ist. Während Musik beim Arbeiten vielleicht eher im Hintergrund läuft, kann sie in der Straßenbahn aus Kopfhörern kommend schnell dazu führen, dass man die Haltestelle verpasst, weil man ganz in die Musik vertieft war. Als Musik hat Hip-Hop das Potenzial, kleine (ein Musikvideo lange) oder größere (eine Partynacht dauernde) Alltagsflüchte zu bieten.

Musikvideos in der Rezeptionssituation Die Verbindung von Musik und Sakralem ist oben adressiert worden. Hier schließt nun eine Beschreibung der wichtigsten Parameter der Musikvideogestaltung an. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei darauf, wie sie Zeit und Raum konstituieren und zugleich auflösen. Sakrales – als auf Außeralltägliches und damit auf andere Räume und Zeiten Verweisendes verstanden – wird durch die mediale Beschaffenheit von Musikvideos, durch die spezifischen Kamerawinkel, Schnitte und hohe Schnittfrequenzen sowie durch die Farbgestaltung wesentlich mitkonstruiert. Musik und Video beziehen sich dabei komplex und im Musikvideo durchaus wechselnd in unterschiedlichen Intensitäten aufeinander. Dabei gilt jedoch, dass die Musik dem Video nicht untergeordnet wird: „[M]usic videos avoid continuity editing because such techniques would give the visual track too strong a forward trajectory: the image might seem to overtake the song.“58 Außer dem Vermeiden von Kontinuität wie im filmischen Editing, sind Musikvideos aber kaum Grenzen gesetzt. Im Vergleich zum Film wird in ihnen mit Kamera und Nachbearbeitung freier umgegangen. Als Hauptgrund dafür gilt, dass Musikvideos keine Narration im eigentlichen Sinne verfolgen, sondern vielmehr möglichst assoziativ arbeiten. Vernallis diskutiert in ihrem Aufsatz „Accelerated Aesthetics“ sieben Parameter oder Protokolle, wie sie sie nennt, die eine neue, andere Wahrnehmung von Musikvideos beschreiben können sollen und sich um das Auflösen oder Angreifen unseres gängigen, alltäglichen Raum- und Zeitgefüges drehen. Vernallis bemerkt für das Musikvideo L.E.S. ARTISTES von Santigold: „The music video quivers between an arty, fashion-plate tableau and a narrative with current, pressing global issues, like

58 Carol Vernallis: „The kindest cut: functions and meanings of music video editing“, in: Screen (2001) 42 (1), S. 21-48, zitiert nach Julie McQuinn (Hg.): Popular Music and Multimedia, Farnham 2011, S. 367-394, hier S. 369.

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militant activism in the face of violent repressive regimes.“59 „Blurred sectional demarcations“ nennt Vernallis die Strategie, Imaginiertes, Buntes oder Utopisches in ein eindrückliches Reales, Gegenwärtiges zu überführen, sie also in einer Weise zu verbinden und ineinander übergehen zu lassen, wie nur das Musikvideo in seiner Art, zu verdichten und anzuspielen, es kann. Diese verwischten Grenzen kennzeichnen die Ästhetik von Musikvideos: Das verwendete Zeichenrepertoire kommt aus unterschiedlichsten kulturellen Feldern und wird genauso divers übereinander gelagert. Es produziert stets grenzüberschreitend Bedeutung und Wirkung, springt mit jump-cuts von einem Ort zum nächsten, ohne dass diese irgendwie miteinander verbunden sein müssten. Es folgt in der Regel keiner filmischen Narration, höchstens einer losen, und steht außerhalb filmischer oder narrativer Konventionen, Zeit und Ort zu repräsentieren. In eine ähnliche Richtung geht Vernallis auch mit der Strategie, die sie „All-atonce“ nennt. Sie argumentiert, dass wir heute mediale Möglichkeiten wie noch nie zuvor haben, die wiederum dazu führen, dass wir eine ästhetische Strategie des „Allat-once“ realisieren. Das „All-at-once“ sieht Vernallis als eine Analogie zu den an Geschwindigkeit und Komplexität – bis hin zur Gleichzeitigkeit – gestiegenen Arbeitsanforderungen. Dabei hätten Studien gezeigt, dass in unseren Fähigkeiten gar kein wirkliches „alles zugleich“ im Sinne eines echten Multitaskings liege. Unterschiedliche Kompetenzen oder Arbeitsschritte würden nur scheinbar gleichzeitig, in Wirklichkeit aber mit ganz kleinen Verschiebungen immer und immer wieder unterbrochen, sodass dieser Arbeitsmodus wie das gleichzeitige Bewältigen von Arbeitsaufgaben aussieht, jedoch ein kleiner Arbeitsschritt der einen Aufgabe sich an den der anderen hänge.60 Vernallis beschreibt hier eine Analogie zwischen ästhetischer und postfordistischer Produktion oder Arbeit. Sie schreibt: „[C]ontemporary digital media present forms of space, time, and rhythm we haven’t seen before, and these new forms bear some similarities to contemporary experiences like work speedup, multitasking, and just-in-time labor.“61 Baxmann leitet in ihrer Studie „Mythos: Gemeinschaft“ her, dass Rhythmus etwa Anfang des 20. Jahrhunderts als ein „sozial vereinheitlichender Faktor“ entdeckt und „zum einheitsstiftenden Element und Mittel gegen die Kultur der Individuation stilisiert“ werde und besonders seine Bedeutung

59 Carol Vernallis: „Accelerated Aesthetics. A New Lexicon of Time, Space, and Rhythm“, in: Carol Vernallis et al. (Hg.): The Oxford Handbook of Sound and Image in Digital Media, Oxford 2013, S. 707-731, hier S. 722. 60 Vgl. ebd. 61 Ebd., S. 707.

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für die Arbeitswelt in der Literatur der Zeit beschrieben sei.62 Auffallend ist hier natürlich sofort die Übereinstimmung mit Vernallis’ Gedanken der synchronisierenden Funktion, die sie für die Musikvideos reklamiert, und zur Analogie zwischen neuen, postfordistischen Arbeitsformen und Musikvideoästhetik, die sie erklärt. Vernallis leitet diesen Gedanken interessanterweise auch aus Forschungen eines ähnlichen Zeitraums (hier aus den 30er Jahren) wie Baxmann her, wenn sie auf Siegfried Kracauer zurückgreifend schreibt: „According to Siegfried Kracauer, Busby Berkeley’s musicals with lines of chorines helped capitalism going. Why not music video today?“63 Was Baxmann für fordistisches, in besonderer Weise geordnetes, ein klares Nacheinander voraussetzendes Arbeiten und die Musik beschreibt, finden wir bei Vernallis für postfordistische Arbeitsweisen und Musikvideos. Musikvideos bedienen sich dieses „All-at-once“, wie Vernallis es beschreibt, und wirken in ihrer Vielschichtigkeit simultan auf uns. In dieser Beschaffenheit liegt ein Anknüpfungspunkt für ein spezifisches Merkmal des Sakralen. Musikvideos reflektieren Vernallis zufolge ästhetisch unsere neuen Arbeitsformen, und in diesem „Allat-once“ liegt ein Bruch zum Arbeiten und zu Batailles „Arbeitswelt“. In dieser Weise übersteigern Musikvideos die alltägliche, leicht nacheinander und fragmentarischen Arbeitsformen in eine sakrale Ästhetik der Gleichzeitigkeit und des Überschusses. Das Sakrale hat den Anspruch, zu überwältigen und intensiv zu wirken. Es ist in jeder Hinsicht transgressiv und entsteht aus Momenten des Exzesses heraus, welche Musikvideos scheinbar gut inszenieren können. Hier konkret können Musikvideos in ihrer medialen Beschaffenheit aus den gegenwärtigen Arbeitsanforderungen erwachsene Wahrnehmungsmodi übersteigern und auf eine sakrale Ästhetik hin überschreiten. Musikvideos bieten sich aufgrund ihrer medialen Beschaffenheit besonders an für etwas, was als Überschuss an Signifikation beschrieben werden kann. Vernallis schreibt: „Music video’s disjunctive editing keeps us within the ever-changing surface of the song.“64 Die vielen jump-cuts halten uns im Prozess des Videoschauens; wir wollen keinen Augenblick dieser Intensität verpassen. Damit ist das Überraschungsmoment, der oben als wesentlicher Trigger für Emotion beschrieben wurde, per se auf der Seite des Musikvideos, denn der Moment, in dem die vielen Puzzleteile der visuellen Ebene einen Zusammenhang offenbaren,

62 I. Baxmann: Mythos Gemeinschaft, S. 68. Baxmann macht an dieser Stelle einen Zeitbefund und es geht ihr um eine Rekapitulation des Anfang des 20. Jahrhunderts gehäuft auftauchenden Themas in der Literatur der Zeit. Wenn man an Militärmusik und ihre Funktionen denkt, wird Rhythmus schon früher in seinem sozial vereinheitlichenden Wesen entdeckt. 63 Vgl. C. Vernallis: Second Aesthetic, S. 441. 64 C. Vernallis: Kindest Cut, S. 369.

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kann für den Rezipienten/die Rezipientin sehr überraschend kommen. Anstatt mit Narration im engeren Sinne zu arbeiten, setzen Musikvideos ein Spiel mit Intensitäten um.65 Vernallis schreibt, dass das Video musikalische Parameter auf verschiedenste Weise und auf unterschiedlichen Ebenen – in der Aufnahme oder in der Nachbearbeitung – nachahmt: „The cinematographic features and mise-en-scene of music video – extreme high, low and canted angles, long tracking shots, unusual camera-pans and tilts, and the lively features within the frame, glittering surfaces, rippling light – can mimic sonic processes.“66 Auch Henry Keazor und Thorsten Wübbena machen auf die Vielfältigkeit der Materialbestände und dementsprechend mannigfachen Bezugnahmen aufmerksam: „Diese spannungsvolle Konstruktion von hoher Bilddichte bei gleichzeitiger Heterogenität der Bildinhalte fand in neuen Musikstilen wie z. B. dem Hip-Hop mit seinen Zitat- und Collageverfahren auf der Ebene der musikalischen und textuellen Faktur ein Äquivalent. Durch dieses Verfahren konnte in den Clips eine enorme Komplexität der Musik-Bild-Text-Verschränkung erreicht werden: Das 2002 von Dave Meyers gemeinsam mit der Interpretin Missy Elliott gedrehte Video zu ihrem Titel Work it! evoziert mithilfe der dort verwendeten Sample-Bausteine und Zitate beständig neue Bild-Assoziationen, die ein Eigenleben zu führen beginnen und schließlich wieder auf die sie ursprünglich provozierenden Ebenen von Musik und Liedtext zurückwirken.“67

Hip-Hop-Songs werden oft aus einem oder mehreren Samples entwickelt und vom Produzenten „gebastelt“ oder konstruiert. Samples können ganz allgemein zunächst Versatzstücke, dekontextualisierte Teile aus Musikstücken unterschiedlichster Herkunft und Aufnahmequalität sein. Sie können in unterschiedlichen Graden verändert werden: in Geschwindigkeit des Abspielens, meist dadurch auch in der Tonhöhe, sie können anderweitig hörbar manipuliert, zum Beispiel verzerrt, werden, und ergeben mit anderen Tonspuren ein neues Ganzes. Oliver Kautny weist auf die Hybridität der Soundbestandteile und die Intermedialität des Samplings im Hip-Hop hin: „Produzenten sammeln für ihre Audiomontagen Ausschnitte existierender Aufnahmen aller erdenklicher Musikgenres: von klassischer Musik über Soul, Funk, Rock, Electro-Pop bis hin zu elektronischer Tanzmusik. Aber auch Alltagsgeräusche oder sprachliche Quellen sind beliebte Fundstücke, die von den Archäologen des Rap zu bisweilen komplex geschichteten Beats zu-

65 Vgl. C. Vernallis: Kindest Cut, S. 383. 66 Ebd., S. 384. 67 Henry Keazor und Thorsen Wübbena: „Musikvideo“, http://www.see-this-sound.at/ kompendium/text/44/7 vom 16.08.2016.

200 | Z UR SAKRALEN DIMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS sammengefügt werden. In Rap-Songs steht die Praxis des Samplings im Kontext von Songtexten und nicht selten auch von Musikvideos, die ihrerseits eigene Verweisstrukturen auf bereits existierende textliche bzw. visuelle Quellen, auf bekannte Bücher, Filme, Comics, Videos oder Songtexte, zeitigen können. Und oft beziehen sich jene innerhalb eines Rapsongs zusammengefügten sprachlichen, musikalischen und visuellen Verweise auf mannigfaltige Weise aufeinander.“68

Aus Kautnys den Aufsatz einleitender Passage ist zu entnehmen, dass Musikvideos wahre Fundgruben intermedialer Bezüge sind, sie sich aus Versatzstücken unterschiedlichen Klang- und Bildmaterials zusammensetzen. Kautnys Wortwahl der „Verweisstrukturen“ legt nahe, dass das Sampling eine semantische Strategie ist, die das Ziel verfolgt, kulturelle historische oder aktuelle, bedeutsame „Texte“ neu zu kontextualisieren und somit auf mögliche Ursprungstexte zu verweisen und dem aus Samples bestehenden Song zusätzliche oder tiefere Bedeutung zu verleihen.69 Genauso gibt es eine affektive Wirkweise, eine affektive Strategie in der Intermedialität des Musikvideos. Kautnys Beschreibung des Samplings macht einmal mehr deutlich, dass Musikvideos sich als Gattung scheinbar besonders für eine Überschussproduktion anbieten. Durch die Gleichzeitigkeit von auditiver und visueller Ebene, von Sound, Worten, die gerade im Rap durch Ambivalenz in der Verwendung erscheinen, von Filmmaterial, das in assoziativer Weise innerhalb von Musikvideos verwendet wird, erzählt und bedeutet oder einfach auf uns wirkt, bieten sich Musikvideos geradezu an als Orte für Überschussproduktion. Dieser Überschuss an Zeichen und Intensität hat sowohl auf der technischen Ebene von Musikvideos seinen Ursprung als auch auf einer inhaltlichen70, die zweifelsohne nicht voneinander zu trennen sind. Betrachtet man die Hip-Hop-Musikvideos chronologisch, so lässt sich eine zunehmende Zeichendichte ebenso wie eine Hybridisierung und Diversifikation von Zeichen und Codes in ihnen beschreiben. Diese Überschüssigkeit der Zeichen kann auch als Teil einer

68 Oliver Kautny: „Talkin’ all that jazz – ein Plädoyer für die Analyse des Sampling im HipHop“, in: Ralf von Appen et al. (Hg.): Samples. Online-Publiktionen des Arbeitskreis Studium Populärer Musik e.V. (ASPM), Jahrgang 9 (2010), S. 1-11, hier S. 1 [Kursivierung wie im Original]. 69 Einer der besten Beiträge zum Samplen (nicht nur im Hip-Hop) ist Joanna Demers Buch Steal this Music. How Intellectual Property Law Affects Musical Creativity, Georgia 2006. So kann sich zum Beispiel im Verwenden besonders teurer Samples erneut eine Figur der Dominanz und Überlegenheit etablieren. 70 Mit der „inhaltlichen Ebene“ ist die Heterogenität und Diversität des verwendeten Videound Musikmaterials gemeint.

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affektiven Intensivierung begriffen werden, wie in den folgenden Abschnitten diskutiert wird. Auch auf der auditiven Ebene zeigen sich diese Kämpfe um Macht und Anerkennung; darauf macht Wallach in seinem Aufsatz aufmerksam: „Often overlooked is the way cultural struggles are played out in the realm of sound itself.“71 Innerhalb des Soundmaterials lassen sich demnach auch soziale Gefüge, Positionen in einem sozialen Gefüge oder Kämpfe um diese ablesen. „[...] recorded music can open up new kinds of social space – even anti-social space. Sound’s ability to construct and expand beyond social boundaries and transform perceptions of place is crucially important in determining its deployment as a social agent.“72 Musik und Sound für sich und innerhalb der erschaffenen visuellen Welt der Musikvideos bekommen einen besonderen Stellenwert für die Anordnung, Organisation und Struktur der Materialbestände. Musik und Sound machen dabei Zeit- und Ortsangaben, indem sie unser sozialisiertes und geprägtes Ohr mit Infos über Alter und kulturellen Kontext versorgen. Damit ist besonders Hip-Hop in seiner Praktik des Samplens rückbezüglich und vergegenwärtigt Vergangenes durch das Hervorbringen von Neuem.

Überschussproduktion und Subversion in Hip-Hop-Musikvideos Hip-Hop-Musikvideos stehen in einem verlängerten, auch gegenwärtig sich fortschreibenden postkolonialen Diskurs. Die Clips inszenieren auf verschiedenen Ebenen Positionen zu race- und ethnicity-Fragen und werfen mit diesen Inszenierungen in den jeweiligen Rezeptionskontexten wieder neue Fragen auf. Hip-Hop-Musikvideos lassen sich auch als komplexe Ausdrucksgefüge der „black experience“ in der Gegenwart lesen. Das Sakrale, mit Bataille als gemeinschaftsfördernd und gesellschaftskritisch verstanden, bietet die Möglichkeit eines subversiven Umgangs mit Machtzuschreibungen und scheinbar festen hierarchischen Gefügen – mit dem Ziel, eine (so erlebte) Unterlegenheit zu überwinden.73 Diese im race-Diskurs angesiedelte Unterlegenheit ist mit Homi K Bhabha zunächst einmal als kulturelle Differenz zu beschreiben. Bhabha entwickelt im Rahmen

71 Vgl. Jeremy Wallach: „The poetics of electrosonic presence: recorded music and the materiality of sound“, in: Journal of Popular Music Studies 15 (1, 2003), S. 34-64, hier S. 47. 72 Ebd., S. 48. Wallach weist zudem auf ein wesentliches Forschungsdesiderat hin: „There has not yet been a high-profile attempt in ethnomusicology or popular music studies to construct a music-specific body of cultural theory that takes into account the material, embodied aspects of culture as well as the symbolic realm.“ 73 Bataille sieht die frei wählbaren Gemeinschaften als wirksame Strukturen gegenüber einer dominanten Gesellschaft.

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seiner Definition des Stereotyps das Konzept eines Überschusses an Signifikation, der zu einer Strategie zur Verhandlung von kultureller Differenz wird. Er schreibt: „Die Differenz anderer Kulturen ist etwas anderes als der Überschuß an Signifikation oder die Übertragung (trajectory) des Begehrens. Letztere sind theoretische Strategien, die notwendig sind, um den ‚Ethnozentrismus‘ zu bekämpfen, aber sie können jene Andersheit nicht aus sich heraus und ohne entsprechende Rekonstruktion repräsentieren.“74

Damit meint Bhabha, dass wir uns immer als Interpretierende in die kulturellen Artefakte hineinlesen und -interpretieren. Gleichzeitig lesen wir Differenz im Bezug zu uns selbst aus diesen heraus und stellen Differenz her. Kulturelle Differenz ist nicht statisch und nicht fest eingeschrieben in Momente der semiotischen Überschüssigkeit. Sie repräsentieren Andersheit immer nur im Abgleich mit „Anderem“. Semiotische Überschussproduktion ist also eine theoretische Strategie gegen die Vereinnahmung durch einen herrschenden Diskurs.75 Das Sakrale, mit Bataille kulturtheoretisch aber auch konkret musikvideoästhetisch als Überschuss an Zeichen und Intensität verstanden, lässt sich mit Bhabhas beschriebener theoretischer Strategie zur Verhandlung kultureller Differenz direkt verknüpfen. Es wird in den Musikvideos, so die These der nachfolgenden Analysen, als eine Strategie begriffen, kulturelle Differenz zu verhandeln, eigene Identität gegen einen herrschenden (verlängerten postkolonialen) Machtdiskurs zu behaupten, subversiv zu wirken und so Subalternität zugunsten einer Hierarchielosigkeit auszuhebeln. Hierarchielosigkeit erscheint hierbei als Ideal oder als eine Utopie, da es im Hip-Hop wohl mehrheitlich um das Etablieren einer neuen Ordnung, an deren Spitze eben die Rapkünstler/-innen stehen, geht. Im Hip-Hop gereicht die Überschussfigur zur Etablierung einer neuen Hierarchie und damit einer eigenen, dominanten Position, denn die Rapkünstler/-innen stellen fast immer einen Machtanspruch und beanspruchen auch und gerade in der Logik der vormals Beherrschten nun selbst Herrschaft. Das Sakrale als die Figur der Ambivalenz (wir erinnern uns an das AnziehendeAbschreckende in der Definition des Sakralen bei Bataille und dem Collège de Sociologie) wird mit Bhabha zu jener Form, die Begehren und Abscheu zugleich76 in sich trägt. Über das ambivalente Sakrale, über die Doppel- und Uneindeutigkeit von Symbolen und Codes aus den Lebensfeldern, die Bataille für das Sakrale ausgewiesen hat,

74 Homi K. Bhabha: „Die Frage des Anderen. Stereotyp, Diskriminierung und der Diskurs des Kolonialismus“, in: Homi K. Bhabha (Hg.): Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 97-124, hier S. 103. 75 Bei H. K. Bhabha: Stereotype, heißt es „Machtapparat des kolonialen Diskurses“, S. 104. 76 Karin Struve: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden 2013, S. 63.

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besonders der Erotik, der Religion und dem Tod, inszenieren die analysierten Musikvideos Störungen und unterminieren so in vielen Momenten eine dominante Lesart. Das Sakrale als affektiv-ambivalente Kraft, die mit Bhabha eine subversive, antihegemoniale Seite entfaltet, bietet für die Analysen des US-amerikanischen HipHops großes Potenzial: In seiner Widersprüchlichkeit und seinem subversiven Umgang mit Symbolen aus religiösen und politischen Machtdiskursen sperrt sich das Sakrale gegen einen Vereinnahmung und eindeutige Auslegung und damit gegen eine starre Zuschreibung von Oppositionen, überhaupt gegen feste binäre Strukturen, wie wir sie im race- und ethnicity-Diskurs der USA viel zu oft haben. Das Sakrale Batailles, entsprungen aus intensiven Auseinandersetzungen in der französischen Kultursoziologie der 30er Jahre, ist für die Hip-Hop-Forschung für Diskussionen von Hautfarbe, Hegemonalität und Subversion eine Chance, Prozesse der spielerischen Auseinandersetzung in ästhetischen Artefakten wie Musikvideos zu erkennen und adäquat zu beschreiben. Hieran anschließend stellt die Arbeit in den einzelnen Analysen die Frage nach dem Spielraum des Sakralen in den Musikvideos im Hinblick auf das Erlangen von Souveränität. Dieses Kapitel hat Musikvideos als profane Kunstwerke in der Definition Batailles verortet und sie als Medien der Erfahrbarkeit eines momenthaften, aufblitzenden Sakralen entwickelt. Dieses Sakrale ist brüchig, rissig oder versatzstückartig und bricht schockartig in die Musikvideos ein oder aber ist in der grundsätzlichen erotischen Verführungsgeste der Clips als Verschmelzungsangebot immer vorhanden. Musikvideos inszenieren Sakrales einerseits auf einer Motivebene, indem sie Außeralltägliches in Form von Partys, Ritualhaftes in Form von Gruppentänzen oder Erotisches in der extrem betonten Körperlichkeit von (in Hip-Hop-Musikvideos in fast allen Fällen) als heterosexuell kodierten Männern und Frauen inszenieren. Jenseits dieser Motivebene verfügen Musikvideos über formalästhetische Strategien, Momente sakraler Erfahrung zu ermöglichen. Mediale Strategien des Anspielens und Andeutens, die Leerstellen lassen und unsere Fantasie zum Ausfüllen dieser ansprechen, und Strategien der visuellen und auditiven Inszenierung von extremer Körperlichkeit schaffen einen (oft) erotischen Nahraum, der Star(s) und Rezipient/-innen umschließt. Dieser erotische Nahraum ist nur eine Beziehungsstrategie von Musikvideos, die Zuschauer/-innen lockt und bindet. Wenn Bataille schreibt, Erotik und Sakrales hätten „grundlegend an demselben Impuls“ teil77, gelingt es ihm, einen Bogen zwischen der sakralen Erfahrung des Einzelnen (der hier der Musikvideorezipient/die Musikvideorezipientin wäre) und der „kommuniellen Bewegung“ ganzer Menschenmengen zu schlagen. An eine Diskussion um den Unterschied des einzelnen Bewusstseins zum kollektiven Bewusstsein

77 G. Bataille: Erotik, S. 279.

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anschließend schreibt Bataille: „Zwischen der Masse, die einhellig, mit einer Stimme schreit, und dem Zustand eines zerrissenen Bewußtseins fällt die Entscheidung schwer, auf welcher Seite der größere Mangel an Einheit herrscht.“78 Bataille plädiert hier, das Bewusstsein des Einzelnen als untrennbaren Teil des kollektiven Bewusstseins (und umgekehrt) zu betrachten. „Ich“ habe Bewusstsein über mich überhaupt nur in der Erfahrung der Gemeinschaft, schreibt Nancy im Zusammenhang mit Batailles Überlegungen zur Gemeinschaftserfahrung.79 Das Musikvideoschauen des Einzelnen kann so als Teil einer kommuniellen Bewegung vieler begriffen werden. Analog zu Vernallis’ Aussage: „[W]e can get coordinated around a hook (a syllable like ‚ga‘, a visual stutter, a ‚beep beep beep‘ buzzy tone, or a simple image like that of a kiss)“, verfolgen Musikvideos Strategien, Gemeinschaft zu stiften, uns kurzzeitig zu versammeln, vielleicht uns gleichzuschalten. Raum- und Zeiterfahrung des Musikvideos mit seinen Brüchen und Sprüngen (stutter, jump-cuts), der oft eingesetzten Slow-Motion oder den hohen Schnittfrequenzen lassen das Musikvideoschauen zu einem außeralltäglichen Wahrnehmungsmodus werden. Dieses Kapitel hat auf einen Diskurs in der Philosophie und anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen aufmerksam gemacht, der Musik unter den Künsten einen hohen Stellenwert hinsichtlich des Bezuges zum Transzendenten, Grenzüberschreitenden und letztlich zum Sakralen einräumt. Jenseits dieses Zugeschriebenen scheint es dennoch plausibel, zu argumentieren, dass in dieser Arbeit gemeinte sakrale Erfahrungen von Musik induziert oder begleitet werden können. Naturwissenschaftliche Disziplinen wie die Medizin oder Psychologie weisen bestimmte Parameter in der musikalischen Darbietung als verantwortlich für intensive Musikerfahrung aus. Diese überraschenden, „unsauberen“ und „ungenauen“ (Intonation, Tempo) Abweichungen oder Vereinzelungen ermöglichen eine potenziell intensivere und eindrücklichere Musikerfahrung. Treten diese Parameter und Merkmale in den Musikvideos auf, ließen sich diese durchaus als Einbrüche des Sakralen verstehen. Schließlich hat dieses Kapitel ein „postkoloniales Sakrales“ angerissen und für die nachfolgenden Analysen auf einen entscheidenden Punkt aufmerksam gemacht, den schon Bataille in seiner Sakralsoziologie immer impliziert hat: Musikvideos bringen frei wählbare, fast willkürliche und extrem heterogene, kurzlebige, durch kollektive Erregungszustände induzierte Gemeinschaften hervor. Musikvideos sind in der Hip-Hop-Kultur als vergemeinschaftend zu sehen, indem sie eine der traditionellen

78 G. Bataille: „Die Sakralsoziologie und die Beziehungen zwischen ‚Gesellschaft‘, ‚Organismus‘ und ‚Wesen‘, (Vortrag am Collège, Samstag, 20. November 1937)“, in: Denis Hollier (Hg.): Das Collège de Sociologie 1937-1939, S. 43-62, hier S. 53. 79 Vgl. J.-L. Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 46.

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Gemeinschaft und der übergreifenden Gesellschaft gegenläufige Bewegung verfolgen.80 In der in diesem Kapitel diskutierten ästhetischen Überschüssigkeit in Bildund Tonbezügen ist das Musikvideo geradezu ideal geeignet, einen Überschuss an Bedeutung, an Signifikation hervorzubringen, der, so Bhabhas Argumentation, eine Strategie der kulturellen Grenzziehung oder Differenz ist.

80 Siehe G. Bataille: Sakralsoziologie, S. 43-44.

Fallstudien

BOOM BIDDY BYE BYE – Das Sakrale der Marginalität

Der Songtitel „Boom biddy bye bye“ verweist auf zwei Songs, nämlich zum einen auf das „Original“ – wenn man so will –, den 1995 auf Cypress Hills drittem Studioalbum III: Temples of Boom erschienenen Track und zum anderen auf den in kurzem zeitlichen Abstand erfolgten Remix des Songs in Zusammenarbeit mit dem Hip-HopTrio The Fugees.1 Analysiert wird hier der Remix, zu dem das vorliegende Musikvideo produziert wurde. In einem solchen Fall, bei dem uns zwar nicht zwei Versionen desselben Songs, aber doch mindestens zwei in enger Beziehung zueinanderstehende Songs vorliegen, drängt sich die Frage auf: Was wurde im Remix geändert oder worin unterscheiden sich beide Songs? Für eine erste Beantwortung dieser Fragen auf einer rein inhaltlichen Ebene sei an dieser Stelle kurz und punktuell eingegangen auf die Bandbiografie Cypress Hills und den Punkt ihrer Karriere, den sie 1996 erreicht hatten, als sie sich entschieden, mit den Fugees zusammenzuarbeiten. Cypress Hill erreichten den ersten großen Publikumserfolg mit ihrem 1991 veröffentlichten, den Bandnamen tragenden Album. 1993 schlossen sie mit dem Album Black Sunday an diesen Erfolg an. Zu diesem Zeitpunkt waren sie die ersten HipHop-Künstler mit lateinamerikanischem Hintergrund, denen ein Durchbruch in den

1

Von ihrem dritten Studioalbum III: Temples of Boom 1995 Ruffhouse/BMG/Sony Music.

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Mainstream der USA und international gelang.2 Ihre dritte Studioveröffentlichung „III: Temples of Boom“ erfolgte 1995, wurde von der Kritik jedoch nicht eindeutig positiv aufgenommen, was u.a. darauf zurückgeführt wird, dass sich das große Thema der Gruppe – die Forderung nach der Legalisierung von Marihuana – totgelaufen hatte.3 1996 mag es also für Cypress Hill strategisch sinnvoll gewesen zu sein, eine Zusammenarbeit mit den Fugees zu realisieren, die gerade einen fulminanten Durchbruch erreicht hatten. Mit „The Score“ hatten die Fugees ein Album veröffentlicht, dass „[a] breath of fresh air in the gangsta-dominated mid-’90s“4 darstellte und mit einem Grammy in der Kategorie „Best Rap Album“ gewürdigt wurde.5 Die Kernthemen des Albums kommen aus der Mitte der Schwarzen Bevölkerung und der HipHop-Kultur: Es sind Versuche, Identität zu konstruieren, die Suche nach ihr kritisch reflektierend zum Thema zu machen und dabei auf Alltagserfahrungen wie Polizeiwillkür und die Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen einzugehen. Their protest tracks are often biting, yet tempered with pathos and humanity, whether they’re attacking racial profiling among police (‚The Beast‘), the insecurity behind violent posturing (‚Cowboys‘), or the inability of many black people in the Western Hemisphere to trace their familial roots (‚Family Business‘).6

So sind es auch die Fugees, die dem Remix eine ganz andere Richtung geben, denn der Song war bei Cypress Hill 1995 eine der vielen Kifferhymnen7 des Albums und

2

Die zwei vermutlich bekanntesten Rapper lateinamerikanischer Abstammung sind Fat Joe

3

„Although B Real remained an effective lyricist and Muggs’ musical skills did not dimi-

und Big Punisher, die jedoch ihre Goldauszeichnungen erst 1998 bekamen. nish, the group’s third album, Temples of Boom, was perceived by many critics as selfparodic, and the group appeared to disintegrate shortly afterward.“ http://www.allmusic.com/artist/cypress-hill-mn0000147315/biography vom 16.08.2016. 4

http://www.allmusic.com/album/the-score-mw0000646570 vom 16.08.2016.

5

Das Cover „Killing me softly“ wurde ebenfalls mit einem Grammy in der Kategorie „Best R&B Performance by a Duo or Group with Vocals“ ausgezeichnet.

6

http://www.allmusic.com/album/the-score-mw0000646570 vom 16.08.2016.

7

Für die Legalisierung von Cannabis haben sich Cypress Hill von Beginn ihrer Karriere an eingesetzt. Dass „Kifferhymne“ nicht einfach dahergesagt, sondern eine Beschreibung ihres musikalischen Stils sowie unterfüttert von ihrer politischen Haltung ist, möge ein Zitat von allmusic.com verdeutlichen: „Not only did the group campaign for its legalization, but their slow, rolling bass-and-drum loops pioneered a new, stoned funk that became extraordinary influential in ’90s hip-hop -- it could be heard in everything from Dr. Dre’s G-funk to the chilly layers of English trip-hop.“ Hier verquicken sich Qualitäten der Musik mit

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nicht mehr als ein Battle um des Battles willen. Praz von den Fugees bringt mit seinen vielschichtigen und metaphernreichen Raps eine sozialkritische Ebene und eine Tiefe in den Remix, die Cypress Hills Version nicht hat. Das heißt nicht, dass kein Kampf im Sinne des Battlens mehr stattfindet oder dass das bragging und boasting des Rappens nicht mehr eingesetzt würde, sondern dass diese polternden, großspurigen und aggressiven Verse durch Reime eng verflochten sind mit Versen, in denen Sozialkritik geübt wird. Die Reime der Fugees bringen eine neue Vielschichtigkeit in den Song. Dass dieser Stil von den Fugees mit eingebracht wird, sieht man deutlich an ihrem Album „The Score“ und besonders in ihrer ersten Singleauskopplung „Fu-geela“, auf der sie komplett im Battle-Stil rappen. Dort stehen Zeilen wie: Nobody’s shootin’, my body’s made of hand grenade Girl bled to death while she was tongue-kissing a razor blade. That sounds sick maybe one day I’ll write a horror Blackula comes to the ghetto, jacks an ACURA Stevie Wonder sees Crack Babies Be-Coming Enemies of their own families.

Nach auftrumpfenden und gewalthaltige Bilder evozierenden Versen, die gleichzeitig auch witzig mit Stereotypen des Klauens spielen – so ist das erste, das Blackula (der Schwarze Dracula) bei Ankunft im Ghetto tut, einen Honda Acura stehlen – endet diese Strophe mit: „Stevie Wonder sees crack babies becoming enemies of their own families“, einem pointierten Verweis auf das Drogenproblem (nicht nur) Schwarzer in den USA, denn selbst ein Blinder könne sehen, wie Cracksüchtige zu Feinden ihrer eigenen Familien werden. Auch in der Wahl ihrer Coversongs „Killing Me Softly with His Song“, in der Version Robert Flacks, der Anfang der 70er sehr erfolgreichen Schwarzen Soulsängerin populär geworden, und Bob Marleys „No Woman, No Cry“ stellen sich die Fugees bewusst in eine musikalische und politische Tradition des Schwarzen Empowerments oder der Protestbewegungen vorhergehender Generationen. Insgesamt ist auffallend, dass für die Markierung von Dominanz und Macht im Remix wie im zugehörigen Clip weder Autos noch Frauen, also nicht die üblichen Statussymbole, die zur Kompensation von Unterlegenheit oder Minderwertigkeit zum Repertoire von einer Mehrheit von Hip-Hop-Musikvideos seit Mitte der 90er gehören, herangezogen werden. Daraus zu schließen, Subalternität und Hegemonialität würden nicht zum Thema, ist falsch: Über das Inszenieren des Sakralen tragen die Rapper einen Machtkampf aus, indem aus der Marginalität heraus für eine eigene Position gekämpft wird, so die These. Dabei wählen sie einen Weg, den Künstler/-

dem Jargon („stoned funk“) des Kiffens und der politischen Haltung von Cypress Hill. http://www.allmusic.com/artist/cypress-hill-mn0000147315/biography vom 16.08.2016.

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innen des Mainstreams gehen, um Teil des Mainstreams sein zu können und dabei gleichzeitig noch immer die ureigensten Themen des Hip-Hops, wie Kritik an Weißer Dominanzmacht, strukturelle Unterlegenheit und Rassismus, ausdrücken zu können. Die Soziologin Jennifer C. Lena schreibt bezogen auf das Hip-Hop-Duo Dead Prez, was auch auf die Fugees und besonders die vorliegende Zusammenarbeit mit Cypress Hill zutrifft: „For politically engaged artists whose lyrics and imagery are an extension of their political views, the market place presents a fertile, though complicated location. On the one hand, the marketplace offers the widest audience possible for many of these artists, but it also increases the heavy scrutiny of their lyrics.“8

Lena stellt für Dead Prez einen ganz bestimmten Umgang mit dem „white voyeuristic gaze“ vor, der es den Künstlern erlaube, gesellschaftliche Strukturen in ihrem Sinne zu unterlaufen.9 Ähnliches wird in der vorliegenden Analyse des Clips zu sehen sein, der das Sakrale als Potenzial entdeckt und ausschöpft, um gesellschaftliche Strukturen zu untergraben oder sogar für die Dauer des Clips umzukehren oder auszuhebeln. Auch die visuelle Ebene des Musikvideos trägt erneut und erheblich zu einer Vertiefung des sozialbewussten und -kritischen Impetus des Remix im Vergleich zum „Original“ bei.

Strategien der Marginalisierung und ihr Durchbrechen Die Orte, die das Musikvideo zeigt (und nicht zeigt), die surrealen und schemenhaften Nahaufnahmen, die dezidierte Thematisierung des Todes und der Umgang mit religiöser Symbolik sowie die gewaltsame Zerstörung eines Klaviers führen uns in die Mitte des Bataille’schen Sakralbegriffes. Erst mit diesem Verständnis wird deutlich, dass die verwendeten, synkretistischen und divergenten Symbole und Codes einem gemeinsamen Bereich zuzuordnen sind, und damit fangen weite Teile des Videos überhaupt erst an, „Sinn zu ergeben“ bzw. lassen sich lesen und verstehen, ohne dass ihnen affektive Kraft genommen werden würde.

8

Jennifer C. Lena: „Voyeurism and Resistance in Rap Music Videos“, in: Murray Forman und Mark Anthony Neal (Hg.): That’s the Joint! The Hip-Hop-Studies Reader, 2. Auflage, New York 2012, S. 462-475, hier S. 462.

9

Vgl. ebd., S. 462.

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Beim ersten Anschauen ist der Clip10 in jeder Hinsicht auffallend, weil er von GenreKonventionen des Hip-Hop-Musikvideos (sicher Mitte der 90er Jahre mit den großspurigen Gangsterspielfilm-Hommagen) abweicht. Der Clip gehört zu den frühen Arbeiten der Regisseure Dante Ariola11 und Jamie Caliri. Caliri hat neben Musikvideos Spiel- und Zeichentrickfilme produziert und Werbefilme gedreht. 1997 hat er das Musikvideo zu SEX AND CANDY für Marcy Playground und EARLY TO BED für Morphine gedreht, für das er eine Grammynominierung für das beste Musikvideo erhielt. Ariola ist zunächst vor allem als Grafikdesigner u.a. für Albumcover und Bandlogos hervorgetreten. Auch die Logos für die Fugees und Cypress Hill sowie das Albumcover und Booklet zu „Temples of Boom“ stammen von ihm. Weiter ist er bekannt für Werbefilme für große Marken, u.a. für Coca-Cola, Pepsi, Wrigley und HP. In den letzten Jahren konzentriert er sich auf Spielfilme.12 Gedreht wurde der Clip in einer Seitenstraße in New Yorks Viertel Chinatown.13 Vernallis betont, dass Hip-Hop-Musikvideos gewöhnlich eindeutig zu identifizierende Orte und Städte repräsentieren: „Although rap videos may seem at first glance to depict ‚the city‘ or ‚the ghetto‘, broadly defined, they work hard to represent specific places and people. Rap is the single genre consistently committed to creating a sense of place [...]“14 Zwar werden wir in BOOM BIDDY BYE BYE mit der Stadt als Umgebung bekannt gemacht, aber entgegen dem Gros der Clips dieses Genres hier nur kursorisch und auch auf ungewohnte Weise. Um zu sagen, dass Teile des Clips in einer Seitenstraße in Chinatown gedreht wurden, muss man um dieses Faktum wissen – erkennen lässt es sich, zumindest für Nicht-New Yorker, nicht. Wenn wir davon ausgehen, dass Rapvideos, wie Vernallis es beschreibt, häufig Straßenschilder und eindeutig identifizierbare Orte zeigen, dann liegt die Besonderheit des vorliegenden Clips in der Abweichung von Genrekonventionen15, denn die kleine, nicht belebte Straße steht für Nebenstraßen im Allgemeinen, für abseitige, wenig betretene

10 Der Clip ist 1996 erschienen. Der Analyse wurde die hier zu findende Version des Videos zugrunde gelegt: http://www.dailymotion.com/video/x3o3fn_cypress-hill-boom-biddybye-bye-fug_music vom 16.08.2016. Alle Stills ohne Quellenangabe in diesem Kapitel stammen aus diesem Video. Auf andere wird separat verwiesen. 11 Dante Ariola war künstlerisch bereits 1991 für Cypress Hill für ihr gleichnamiges Debütalbum tätig. 12 Vgl. Peter Sciretta: „Commercial Director Spotlight: Dante Ariola“, http://www.slashfilm.com/commercial-director-spotlight-dante-ariola/ vom 16.08.2016. 13 Ricky Powell: „Shoot: Cypress Hill“, in: VIBE, November 1996, S. 130. 14 C. Vernallis: Experiencing music video. Aesthetics and cultural context, New York 2004, S. 78. 15 „Videos can play against expectations by departing from a genre’s iconography [...]“, C. Vernallis: Experiencing, S. 79.

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städtische Gegenden, für unsichtbare Orte abseits der geschäftigen Hauptstraßen, in die man sich normalerweise nicht verirrt. Die gezeigte Straße in ihrer Allgemeingültigkeit und Belanglosigkeit (keine Geschäfte, keine repräsentativen Gebäude, kein Reichtum, keine Menschen) und vor allem keine eindeutige Identifizierbarkeit steht für Marginalität an sich und verweist auf den Prozess der Marginalisierung, der die Künstler/-innen als Schwarze oder im Falle Cypress Hills als Latinos in den USA ausgesetzt sind. Murray Forman hat gezeigt, dass die Aufteilung von Raum und Ort im Hip-Hop in einen Ethnizitätsdiskurs zu stellen ist: „Struggles and conflicts as well as the positive attachments to place are all represented in the spatial discourses of rap.“16 Hier wird jedoch keine positiv konnotierte Verbindung zu der Straße aufgebaut. Sie bleibt anonym, großstädtisch und verlassen. Vielmehr erscheint diese Seitenstraße als ausgeschieden, vom Leben der Stadt abgetrennt und die Künstler/-innen um Wyclef Jean und B-Real als von der Mitte der Stadt und der Gesellschaft ausgeschlossen. Überhaupt sind die weiteren Orte des Clips solche, die schwierig zu definieren, nicht dingfest zu machen scheinen sind. Auch der Songtext ist ortslos und damit bewusst in der Schwebe von möglichen Realisierungen oder Lokalisierungen gehalten: „Go meet me on the island where the Cubans meet the Haitians“, verweist vermutlich rein geografisch auf Jamaika; zwei Zeilen weiter heißt es schon: „From L.A. to Brooklyn, why you doin’ all that talkin’?“, was den Bogen von der West- bis an die Ostküste der USA spannt und die Heimat der beiden Rapper benennt. Am Ende des Songs erklingen dann auch die üblichen „Shout-outs“ an Stadtteile L.A.s und New Yorks. Festzuhalten bleibt, dass der Song selbst in keiner auf der Karte zu lokalisierenden Stadt spielt, sondern eher eine übergreifende örtliche wie zeitliche Gültigkeit beansprucht, die wir auch im Video umgesetzt finden. Zwischen extremen und dabei verzerrten Close-ups der beiden Rapper bekommen wir Einblicke in eine blaugraue, dunkle, surreale und symbollastige Welt – ein Totenkopf und eine Figur mit Seilwinde in der Brust begegnen uns in der Form, dass sie in Parallelmontagen wie für Musikvideos üblich immer wieder zwischen Aufnahmen der Rapper geschnitten sind. Es werden im Musikvideo verschiedene Strategien eingesetzt, die verschleiern, verstecken und verbergen, wie zum Beispiel ein extremes Spiel mit Licht und Schatten sowie ein sehr beschränkter Bildausschnitt.

16 Murray Forman: „‚Represent‘ Race, Space, and Place in Rap Music“, in: Murray Forman und Mark Anthony Neal (Hg.): That’s the Joint! The Hip-Hop-Studies Reader, 2. Auflage, New York 2012, S. 248-267, hier S. 268.

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Abbildungen 3 bis 5: Spiel mit Sichtbarkeit und Verstecken

Wir werden nicht wirklich eingelassen in die Welt des Clips, die nicht unsere ist. Passepartouts vor der Linse lassen nur begrenzte Einblicke zu, genauso wie die beiden Rapper durch solche Rahmungen zu uns blicken und wir zum Beispiel nur ihre Augen erkennen. Auch mit unterschiedlichen Schärfeeinstellungen wird gearbeitet; so sind oft entweder nur kleine Bildausschnitte scharf oder ganze Einstellungen sogar unscharf. Auch das ist für Musikvideos eher untypisch, denn sie arbeiten meist mit einer hohen Schärfentiefe, das heißt, Vorder- wie Hintergrund sind klar und deutlich zu erkennen.17 Hier wird eine geringe Schärfentiefe zum Stilmittel. Würde man eine hohe Schärfentiefe erreichen wollen, bräuchte man eine kleine Blende und ein entsprechend helles Setting. Hier aber haben wir viel Dunkelheit und ein Spiel mit Licht und Schatten, das eine Spannung zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit inszeniert. So kommen die Köpfe in den Nahaufnahmen der Rapper aus dem Schatten auf die Kamera zu ins Licht und bewegen sich wieder zurück, sodass das sprichwörtliche „aus dem Schatten treten“ hier immer wiederholend inszeniert wird. Aus der Unsichtbarkeit, Abseitigkeit und Marginalität treten die Rapper zumindest innerhalb des Clips (und mit diesem auf diversen Musikfernsehsendern und Internetplattformen) in die Sichtbarkeit.

Die Transformation des Religiösen Die Raps umkreisen besonders die Themen Gewalt, Sklaventum und Tod. Die Rapper bauen in der Tradition der Battle-Raps stehend sprachliche Figuren des Dissens auf und nutzen die im Hip-Hop üblichen Techniken des braggings und boastings. In einer der Rappraxis eigenen, wortspielerischen Manier inszenieren die Rapper ein unterlegenes Gegenüber: „You duck as I fluff the feathers from ya skin / How ya gonna win that’s like Satan with no sin“, heißt es in der zweiten Strophe. Was viel-

17 Vgl. Thomas Sandmann: Die Musikvideoproduktion im zeitlichen Wandel. Kreativität statt Budget, Demokratisierung der Produktionsmittel, in: rock’n’popmuseum et al. (Hg.): Imageb(u)ilder. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Videoclips, Münster 2011, S. 32-51, hier S. 39.

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leicht übersetzt am ehesten heißen würde: „Du duckst dich, während ich dir die Federn rupfe / Wie willst du gewinnen; das wäre wie der Teufel ohne Sünde.“ Dem Adynaton wird in abgewandelter Form von Lauryn Hill bestätigend hinzugerufen: „without no sin“ und das absolute „nie“ der Möglichkeit, zu gewinnen, bekräftigt. Es wird Zeichen einer kulturellen Praxis, die in Beziehung zum Bildmaterial zu setzen ist und die überdies erst mit dem Begriff des Sakralen zu verstehen ist. Dazu ist es wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass einige Referenzen an religiöse Praktiken im Raptext vorhanden sind. Die Erwähnung Satans ist nur eine von mehreren Referenzen, die einen christlichen kulturellen Kontext anzitiert, der freilich für die USA auch anzunehmen ist. Wichtig ist hier jedoch, wie mit diesen christlichen Versatzstücken umgegangen wird. Die Raps liefern weitere christlich-religiöse Referenzen: „They’ll never happen while I’m rappin I be watchin / The Philistines, creepin up in Manhattan / The sun turn up though Wyclef produce a track with Muggs / But there’s no survivors, they all died in the flood.“ Dies ist sehr wahrscheinlich eine Referenz an die in der Bibel erzählte kriegerische Auseinandersetzung zwischen Israeliten und Philistern, in der die Philister durch eine große Flut, durch Gottes Macht geschlagen werden. Biblische Referenzen im Hip-Hop sind oft auch gezielt aus der Nähe der Moses-Erzählung gewählt, da die Analogie zwischen der Sklaverei in den USA und der durch die Ägypter in der Bibel naheliegt. Hier sind es die Philister, welche in der Bibel als konstante Bedrohung der Israeliten gewirkt haben, die Wyclef als Parallelerzählung dienen. Ihre Zusammenarbeit, so Wyclef im Rap, wird durch das Aufziehen von Gegnern in Manhattan gefährdet, aber sie alle sterben in der Flut. Die Flut in der Bibel ist eine von Gott legitimierte, und so ist auch dieser Vers zu verstehen. Nicht jedoch der christliche Gott ist hier eine unhintergehbare Größe, sondern die übernatürliche Macht, mit der sich Dinge ereignen bzw. die sich die Rapper in einer Metapher selbst zuschreiben: Die produzierten Beats und Reime sind im Rap ja die Kampfmittel, und die sind es, die durch die losen Referenzen, durch das spielerisch uneindeutige Anzitieren von religiösen Referenzen eine höhere Macht bekommen, die dem Bataille’schen Sakralbegriff nähersteht als einer einzelnen religiösen Praxis, wie im Folgenden an einem Beispiel gezeigt wird. Im Vers über das Federrupfen zu Anfang des Raptextes heißt es: „Think you got a soul but you’re a Dead Man Walking“. Neben den Film- und Fernsehreferenzen, die ebenso in diesem dichten Textteppich vorhanden sind – DEAD MAN WALKING, CASPER – THE FRIENDLY GHOST, SOLDIER MAN, die Real-TV-Serie COPS –, ist der „dead man walking“ ein Zombie und der Vorwurf folgender: „Du denkst, Du hättest

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eine Seele, dabei bist Du ein Zombie“. Der Zombie18 ist in der afroamerikanischen Kultur eine Figur, die Fremdbestimmtheit meint, erklärt der Medienwissenschaftler Marcus Stiglegger: „Untote kommen in den Mythen nahezu aller dokumentierten Kulturen vor. Der Begriff Zombie jedoch bezieht sich auf den afrikanischen Voodoo-Kult, der durch den Menschenhandel des 18. Jahrhunderts auch auf den amerikanischen Kontinent kam und sich dort – speziell auf Haiti – verbreitete. Die geschah in Form eines Synkretismus‘, also in der Verschmelzung afrikanischer und christlicher Elemente. Im Voodoo ist ein Zombie eine verfluchte Person, die stirbt und nach ihrer Wiedererweckung als willenloser Sklave für einen Voodoozauberer [Anm.: ‚Bokor‘] arbeiten muss.“19

Abbildungen 6 bis 8: Wyclef in unterschiedlichen Bewusstseinsmodi

Wyclef – immer wieder in Close-ups im Bild – befindet sich in extremen Zuständen, expressiv aus sich heraus tretend oder deutlich in sich versunken; im letzten Still „trägt“ er eine Dornenkrone, sitzt auf einer Art Thron und hat die Hände in Gebetshaltung

18 An dieser Stelle sei auch die Analyse von Tupacs Wirken vor dem Hintergrund postkolonialer Debatten von Jim Perkinson genannt, der Tupac als den Gott Ogou Achade konstruiert und dabei ähnlich der Funktion des Besessenheitskultes des Zombies und seiner Ambivalenz und Subversion gegenüber Weißer bzw. westlicher Dominanz (auch in der Art, sein Werk zu lesen) zu dem Schluss kommt: „But from the angle of possession cult cultures, no! Prophesy about divinity in older elaborations of spirituality meant exactly to ‚host‘ the spirit towards which one pointed. This is the real challenge of the Makavelian epiphany for white America.“ Jim Perkinson: „Tupac Shakur as Ogou Achade: Hip hop anger and postcolonial rancour read from the other side“, in: Culture and Religion: An Interdisciplinary Journal 10 (1, 2009), S. 63-79, hier S. 74. 19 Andreas Müller: „Zombies einmal anders: Interview mit Dr. Marcus Stiglegger“, http://www.polygamia.de/zombies-interview-dr-marcus-stiglegger vom 16.08.2016.

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Genau den von Stiglegger beschriebenen Synkretismus inszeniert dieses Musikvideo – aber nicht um seiner selbst willen. Wyclef Jean ist gebürtiger Haitianer und verkörpert im Clip einen Zombie20, der, wie in den Stills zu erkennen ist, eine Dornenkrone „trägt“. Diese ist hinter ihm auf eine Fläche gemalt. Durch den Kamerawinkel sieht es so aus, als hätte Jean sie auf dem Kopf. Der Zombie trägt also die Dornenkrone Jesu auf dem Kopf. In anderen Einstellungen ist zu erkennen, wie Wycelf Jean sitzt und sich hinter ihm ein wie die Krone auf die Wand aufgemalter Thron abzeichnet. Die Transformation Wyclef Jeans zum verfemten Jesus mit Dornenkrone auf dem Thron sitzend, die hier zu erkennen ist, ist ein weiterer sakraler Umgang mit religiösem Material. Durch seine Gesten des hektischen und wirren Kopfschüttelns und des Verdrehens der Augen sowie die Assoziation durch andere Bilder, die Fremdbestimmung ausdrücken, wird Jean für einen Moment auch zum Untoten, zum Zombie. Ferner ist der „dead man walking“ auch jenseits des Films die Bezeichnung für den auf die Vollstreckung der Todesstrafe wartenden Häftling in US-amerikanischen Gefängnissen. Für Musikvideos typisch geschieht hier eine Überlagerung von Motiven und kommt es zu einer unauflösbaren Mehrdeutigkeit. In dieser Überlagerung hier deutet sich an, dass das Sakrale jenseits der Bildebene, jenseits einzelner Motive auftritt, nämlich in der Überschüssigkeit an Zeichen und Bedeutung. Die Dornenkrone, die Jesus im biblischen Kontext zum Hohn von den Römern aufgesetzt bekam, um kenntlich zu machen, dass er kein König ist, erzielt zugleich Degradierung und Erhöhung bei Jean, die im Folgenden detaillierter beschrieben werden sollen. Zunächst halten wir fest, dass Hierarchien an und mit religiösen Bildern inszeniert und verhandelt werden. Das Christentum wird als das Andere oder Fremde verstanden und der Refrain lässt keinen Zweifel: „Now he rest in the place that they [sic!] call paradise“21 heißt es dort. Es gibt uns und die anderen, so der Refrain, und die christliche Paradiesvorstellung ist keine, die wir teilen. Das oben genannte Federrupfen ist eine Praktik eben dieses Voodoo-Kultes, den Stigleggers Zitat umreißt. Jean ist es, der sowohl den Zombie gibt als auch VoodooPraktiken in seinen Raps beschwört. Die Dornenkrone und damit das Christentum geben hier die Referenzkultur an, die über den Schwarzen Rapper spottet, während dieser die Augen verdreht und durch wildes Schütteln seines Kopfes den Zombie markiert und sich als fremdbestimmt inszeniert. Gleichzeitig beansprucht Jean durch die Inszenierung auch den Thron Jesu. Er rappt: „I’m doomed join the son of man in

20 Im Musikvideo wird noch ein weiteres Bild immer wieder eingeblendet, das an die Zombie-Figur erinnert: ein schemenhafter Mann ist zu erkennen, aus dessen Oberkörper sich eine Seilwinde abrollen lässt. 21 In der dritten Wiederholung des Refrains heißt es: „that we call paradise.“ Die Abrechnung ist also vollzogen.

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the tomb“. Er solle dem Menschensohn – also Jesus, wie ihn die Bibel neutestamentarisch kennt – in seinem Grab Gesellschaft leisten. Die Analogisierung des Todes Jesu Christi und Wyclef Jeans erhebt den Rapper und macht ihn quasi Gott gleich. Gleichzeitig spottet die Inszenierung als Zombie mit Dornenkrone der christlichen Vorstellung: Der verspottete Jesus ist in Form von Jean unter uns. Der Religionswissenschaftler Lorand Matory nennt einen solchen spöttischen Umgang mit autoritärer Symbolik eine „Banalisierung des autoritären Idioms.“22 Ihm folgend ist die Inszenierung im Clip als eine Kritik an herrschenden Strukturen zu verstehen. Die komplexen und semantisch dichten Bilder von Fremdbestimmtheit sind im Kontext von Hegemonialität und Handlungsmacht zu verstehen und handeln soziale Strukturen und das Existieren in diesen aus. Das an den üblichen Statussymbolen in Hip-Hop-Clips arme Musikvideo arbeitet Gefühle von Unterlegenheit und Minderwertigkeit anhand religiöser (Denk-)Bilder aus. Bei einer Dichotomie zwischen Zombie und Jesus oder zwischen Referenzen an Voodoo-Praxis und christlich-religiöse Szenen möchte die Analyse jedoch nicht stehen bleiben. Vielmehr muss die Figur des Zombies, desjenigen, dessen Seele versklavt wurde, in ihrer Ambivalenz begriffen werden. Nur als Grenzgänger zwischen profaner und sakraler Welt, so die These, entfaltet der Zombie seine ganze Macht und die Rapper ihre mit seiner Hilfe. Matory hat in einem Essay die seiner Meinung nach verkannte Seite des Sklaven und der Sklaverei in afroamerikanischen und lateinamerikanischen Kulturen untersucht. Er stellt die These auf, dass in Praktiken der Religionen Candomblé, Santería und Voodoo der Sklave oft verstanden wird als „the most effective spiritual actor, either as the most empowering servant of the supplicant’s goals or as the most effective model for supplicants’ own action upon the world.“23 Als wirksamstem spirituellen Akteur komme dem Sklaven eine entscheidende, soziale Rolle zu. So werden bei Matory auch ausdrücklich „Bittsteller“ und nicht Sklavenhalter, Master oder andere Begriffe gebraucht, die ein umgekehrtes Hierarchieverhältnis markieren würden. Das Rollenverständnis eines Sklaven ist in diesen Kulturen also ein fundamental anderes als in den USA. Soziale Hierarchien werden in den genannten Kulturen in religiösen Praktiken ausgedrückt und zur Disposition gestellt, so Matory, der für sein Beispiel Haiti ausführt: „Haitian religious discourses generate particularly vivid metaphors of hierarchy and personal efficacy in the real, daily lives of twenty-first-century people.“24

22 J. Lorand Matory: „Free to Be a Slave: Slavery as Metaphor in the Afro-Atlantic Religions“, in: Journal of Religion in Africa 37 (2007), S. 398-42, hier S. 411. 23 J. L. Matory: Free, S. 399. 24 Vgl. ebd., S. 410.

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Besonders der Zombie sei eine Figur, die komplexe Hierarchieverhältnisse in der Gesellschaft Haitis verhandele.25 „Afro-Atlantic imagery of mystical and mental enslavement captures important truths about the local social order where these vocabularies of human relations to the divine are employed.“26 Im Musikvideo geschieht genau das, wenn Zombietum inszeniert wird. Anhand der Figur des Zombies und ihrer zahlreichen Anspielungen werden Hierarchieverhältnisse ausgetragen und letztlich umgestürzt. Alexandra Boutros schreibt auf Hjarvards Konzept der „banal religion“ rekurrierend: „Pop culture Voodoo certainly seems to function as a form of banal religion, but what does it mean to frame representations of Voodoo within this analysis? Hjarvard seems to suggest that banal religion is determined less by the religious content of a particular form of media and more by the genre of media itself.“27

Innerhalb des Musikvideos im Hip-Hop als Ort der Verhandlung von Identität und sozialem Status einer ganzen Bevölkerungsgruppe bedeutet dies, dass das Musikvideo Vodoo-Repräsentation beeinflusst und gestaltet und Vodoo der Logik des Musikvideos angepasst wird. Innerhalb der Frage nach Identität, innerhalb der Matrix von Unter- und Überlegenheit bekommt das Zombie-Portrait und bekommen die Vodoo-Anspielungen im Clip eine entscheidende Funktion: „Vodou does not have a protracted history as a ‚public religion‘. On the contrary, the secrecy that surrounds Vodou is characteristic not only of the religion itself but also of how the religion comes to be understood outside of Haiti. Vodou is an initiatory religion that entails progression through a series of rituals that are both secret (in that only ritual specialists and those initiated are privy to the full ritual) and transmit secret knowledge. Secrecy is also part of some of the defining and foundational narratives of both Vodou and Haiti.“28

Das oben erwähnte Grenzgängertum der beiden Rapper zieht sich als roter Faden durch die Gestaltung des Musikvideos. Verstecktsein und sich nur halb zu erkennen geben sind Strategien der Inszenierung, die mit dieser Kenntnis von Vodoo und der Bedingung des Geheimhaltens und des Insiderwissens auf Wyclefs kulturelle Wur-

25 Vgl. J. L. Matory: Free, S. 409-410. 26 Ebd., S. 411 [Kursivierung wie im Original]. 27 Alexandra Boutros: „Gods on the move: The mediatisation of Vodou“, in: Culture and Religion: An Interdisciplinary Journal 12 (2, 2011), S. 185-201, hier S. 193. 28 A. Boutros: Gods, S. 188.

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zeln zurückzuführen sind. Dass Wyclef und B-Real gleich zu Beginn als Geister erscheinen, passt zur Figur des Zombies, dem eine andere geheime und verborgene Welt zugänglich ist. Extreme Nahaufnahmen, superimposition, geringe Tiefenschärfe und ein immer wieder beschränkter Bildausschnitt sind Gestaltungsmittel des Versteckens und Verschleierns. Wir bekommen Einblicke in die Welt, die nur den Rappern zugänglich ist. Auch der in einer längeren Einstellung (von 03:09 bis 03:11) zu sehende Schädel am Ende einer Art Tunnel im Clip spricht unter Kenntnis der verschiedenen Zombie-Praktiken, wie Matory sie beschreibt, noch einmal anders zu uns. Abbildungen 9 und 10: Ein Schädel und eine Figur mit Seilwinde im Brustkorb als Metaphern für Fremdbestimmung

Der Schädel ist das Erkennungszeichen Cypress Hills und u.a. als eine Reviermarkierung im Videoclip zu sehen ähnlich dem lateinamerikanischen Idiom im Intro des Songs. Als allgemeines Symbol des Todes fügt es sich nahtlos in das Musikvideo. In den Praktiken, die Matory untersucht hat und die dem haitianischen Vodoo nahestehen, ist der Schädel Zeichen für eine seelische Versklavung.29 Auch die Figur des Mannes mit Seilwinde in der Brust steht für Fremdbestimmung – jemand anderes zieht seine Strippe.

Opfer(n) Die oben herausgearbeiteten Themen des Clips – Gewalt, Sklaventum und Tod – sind mit Batailles Sakralsoziologie lesbar, wenn wir die im Clip inszenierten Pole „Zombie/Sklave“ und „Jesus/König“ erneut miteinander in Verbindung bringen. Für Bataille-Forscher Cochetti ist das „prototypische Opfer“ in Batailles Denken der König, „denn ein König repräsentiert vorbildlich das, was infolge seiner privilegierten Rangordnung als etwas von allen anderen Wesen Getrenntes gelten kann“.30 Die Opferung 29 Vgl. J. L. Matory: Slavery, S. 411. 30 Stefano Cochetti: „Die Aporie des Heiligen. Der Opferbegriff bei Bataille und Girard“, in: Andreas Hetzel und Peter Wiechens (Hg.): Vorreden zur Überschreitung, Würzburg 1999, S. 243-256, hier S. 247.

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des Königs stelle demnach die für die Gesellschaft stellvertretende „institutionalisierte Transgression“ dar, „indem sie ein besonders diskontinuierliches Wesen in die Kontinuität gleichsam ‚hineinglättet‘“.31 In militarisierten Gesellschaften allerdings sei die Opferung, so Cochetti mit Bataille, nicht mehr möglich und es trete an die Stelle des Königs der Sklave. Versklavung wiederum sei „nichts anderes als ein Ersatz für seine Tötung“32, also die Tötung des Sklaven. Die Opferung des Königs bzw. des Sklaven stellt demnach eine Transgressionshandlung dar, die wir im Musikvideo umgesetzt finden. Wyclef als Zombie und als König/Jesus ist dieser Grenzgänger zwischen zwei Welten oder zwischen dem Sakralen und dem Profanen. Versklavtsein mit Bataille gelesen ergibt also eine ähnliche Kraft, wie Matory sie für die sozialen Gefüge der Kulturen, die er untersucht hat, erkennt. Das Versklaven ist die Opferung des Menschen, die diesen wiederum sakralisiert. Unter im Clip gegenwärtiger, permanenter Bedrohung, ja unter Todesgegenwart, wie der Refrain sie wiederholend thematisiert („Hi, boom biddy bye bye / You open up your eyes you’ll be the next one to die“) und sie im Raptext inszeniert wird, wird eine Art Stellvertreterfunktion für den eigenen Tod und auch die eigene Abhängigkeit erfüllt: Der Clip, verstanden als Opfer, wie Bataille Kunst als Opfer begreift, ist die Befreiung aus Hegemonialität mithilfe des Sakralen. Über die symbolische Tötung des Gegenübers wird ebenfalls eine Stellvertreterfunktion erfüllt und der eigene Tod in den des Gegenübers verlegt und an diesem miterlebt. „[D]ie rituelle Zerstörung des Opfers stellt den Tod des Opfernden dar“ und ist Mittler zwischen dem Profanen und dem Sakralen, dessen Kontinuität im eigenen Tod (da er den endgültigen Endpunkt allen Begehrens markiert) nicht erfahrbar ist und der Stellvertreterhandlung bedarf.33 Dies macht das Musikvideo als Ganzes, aber eben auch seine Thematik und motivische Umsetzung zum Kern von Batailles Sakralsoziologie. Eine weitere Form der Sakralisierung finden wir in Einstellungen, in denen religiöse Motive zitiert und inszeniert werden. Im Refrain auf visueller Ebene gegeneinander geschnitten erscheinen die Einstellung mit dem versklavten Mann, der die Seilwinde in der Brust hat, und eine zerstückelte Sequenz, in der Lauryn Hill zum betenden Engel stilisiert wird.

31 Ebd. 32 Ebd. 33 S. Cochetti: Aporie, S. 248.

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Abbildungen 11 und 12: Lauryn Hill wird durch Graffiti-Flügel zum Engel

In der im Clip gezeigten direkten Gegenüberstellung beider Bildwelten wird ihre antagonistische Beziehung offenbar: Die Engelsflügel sind wie die Dornenkrone gezeichnet und haben einen sehr alltäglichen, durch die Mauer auch städtischen Charakter. Die Flügel wirken wie ein Graffiti, in das Lauryn Hill sich im Clip integriert und das sie zu einem Engel komplettiert. Dieses Motiv ist eines der Sakralisierung, indem es sie vom Menschen zum Engel erhebt und damit als Gegenspieler zu dem versklavten Mann begreifen lässt. Folgende Motive sind derselben Funktion zuzuordnen: Abbildungen 13 und 14: Der Stern zeichnet DJ Muggs und den Rapper Pras als erhaben aus

Diese Stills blitzen sehr kurz und unvermittelt auf und erscheinen im Musikvideo wie regelrechte Einbrüche des Sakralen

Diese religiösen Praktiken und sozialen Konzepte, wie sie mithilfe Lorand Matorys Aufsatz entfaltet wurden, bringt das Musikvideo mediatisiert mit in die US-amerikanische Gesellschaft, aber auch in die weltweite Rezeption. An dieser Stelle muss man sich fragen, inwieweit die detaillierte Diskussion der Herkunftsbereiche von Zeichen und Codes, Bildern und Videosequenzen mit der üblichen, alltäglichen Rezeption von Musikvideos zusammengeht. Natürlich ist es in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Artefakten immer möglich und notwendig, sie zu dekonstruieren, zu zerteilen, anzuhalten, sie neu zu kontextualisieren und sie so anders sprechen zu lassen, als sie es ohne die wissenschaftliche Arbeit tun würden. Vergegenwärtigt man sich aber den Vorgang der Re-

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zeption eines Musikvideos, wird hier mehr noch als bei anderen Rezeptionssituationen deutlich, dass sich das Musikvideoschauen massiv von der Analyse unterscheidet. In der Geschwindigkeit, in der die Versatzstücke auf visueller Ebene über den Bildschirm laufen, dabei mit komplexen Raptexten und eindrücklichen Sounds einhergehend, sind sie auf eine unmittelbare Wirkmächtigkeit angelegt und nicht auf ein analytisch-reflektierendes Verstehen. Das Musikvideo arbeitet im Visuellen fragmentarisch, es reißt an und spielt an, aber überlässt den Rezipient/-innen das Verbinden der einzelnen Fragmente während des Schauens. Dies geschieht nicht in erster Linie in einer analytischen Rezeption, sondern in einer affektiven. Dies wiederum führt uns erneut zum Sakralen, das mehr als Kraft und Affekt wirkt als in einer theoretischen Auseinandersetzung mit ihm. Es ist die Mächtigkeit der Symbole und Codes, die Macht der Bilder und Sounds, die auf die Rezipient/-innen wirkt, mehr als dass diese konkret etwas bedeuten. Das Musikvideo geht noch einen Schritt weiter und erhebt sich über die oben beschriebenen synkretistischen Verschmelzungen religiöser Stoffe unterschiedlichster Herkunftskulturen. Es inszeniert das Sakrale, wie wir es in den Beschreibungen Batailles kennengelernt haben.

Ein musikalisches Opfer Neben der oben ausgearbeiteten Argumentation, Kunst und damit auch das Musikvideo als Opfer und somit als sakral zu verstehen, haben wir im Musikvideo auch motivisch eine Opferhandlung. Dafür werden im Folgenden die Zerstörung des Klaviers und das zu hörende Sample in Verbindung zueinander gesetzt. Das Sample ist ein Baustein des Songs und um ihn zu verstehen, schließt sich hier eine kurze Analyse des musikalischen Materials an. Noch vor der ersten Aufblende hören wir den Ton g auf dem Klavier – der Ton kommt aus dem visuellen „Off“ und fordert für diesen Moment die volle Aufmerksamkeit der Zuschauer/-innen oder der Zuhörer/-innen. Er ist Teil einer sechstönigen Folge mit charakteristischem, zweifachem Oktavsprung zwischen den ersten drei Tönen: g-G-g-fis-d-fis. Die zwei tiefsten Töne G und d erklingen als Grundbausteine der Strophen. Die Strophen sind im Vergleich zum Refrain hinsichtlich ihrer Instrumentation abgespeckt. Hinzu treten im Refrain der Gesang von Lauryn Hill, B-Real und Wyclef Jean sowie ein E-Bass-Motiv. Das fis am Ende der Folge flieht leittonähnlich in das g vom Anfang des nächsten Zyklus. So ergibt sich eine stark zwingende Wiederholung der Folge, die für den Song auch durchgehalten wird. Das Sample hat musikimmanent also einen Zwang zur Wiederholung, zur Persistenz und Durchsetzung. Maßgeblich beteiligt am Erschaffen der parallelen Welten und in der Musikvideoanalyse oft vernachlässigt ist das „sonic material“ (Wallach), das dem Musikvideo

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überhaupt erst einmal seine Daseinsbegründung gebende Klangmaterial, der Song. Dieser macht in und durch seinen Sound Zeit- und Ortsangaben, schafft so Räume, aber triggert auch Affekte und trägt so jenseits von Semiotik und Sprachlichkeit Bedeutung für die Zuschauer/-innen oder Zuhörer/-innen. Diese Soundmaterialität meint keine Zeichenqualität, indem ein Klang auf seinen Ursprung verweist, sondern kreiert Sound und dabei auch gleich eine fühlbare materielle Kopräsenz34: „Often overlooked is the way cultural struggles are played out in the realm of sound itself.“35 Innerhalb des Soundmaterials lassen sich demnach auch soziale Gefüge, Positionen in einem sozialen Gefüge oder Kämpfe um diese ablesen. „[...] recorded music can open up new kinds of social space – even anti-social space. Sound’s ability to construct and expand beyond social boundaries and transform perceptions of place is crucially important in determining its deployment as a social agent.“36 Dass im Soundmaterial Welten aufeinandertreffen, mag schon das Intro verdeutlichen. Was Wallach als „space of encounter between music and ‚noise‘-embodied and disembodied sounds“37 bezeichnet, gestaltet sich im Intro des Songs aus. Auf der einen Seite wird Außerweltlichkeit kreiert (man bedenke nur, wie ein satter Rockband-Sound aus E-Gitarre, E-Bass, Gesang und Schlagzeug gerade eben das nicht will und tut), indem ein an ein Theremin erinnernder Klang zu hören ist. Die Töne g und fis flirren fortan durch den Song. Spannung für die Aufblende und die zahlreichen Überblendungen der schwer erkennbaren Nahaufnahmen der Klaviatur erzeugt ein dominantes Tremolo38, das an lateinamerikanische Idiome erinnert. In der Soundgestaltung Cypress Hills kommen solche Klänge öfter vor (vgl. zum Beispiel den Song „Tequila Sunrise“) und sind damit eine Reviermarke von Cypress Hill im Remix der Fugees. Diese zwei Welten werden auch im Video durchgehalten und das Thema des Clips ist das Crossing dieser Welten, die Übergänge von einer Welt in die andere. Dies ist zugleich eine Grundfigur des Sakralen: Die Übergänge, die das Musikvideo zeigt und mit uns geht, die es aber auch fließend und ineinander übergehend gestaltet, markieren wiederum das Profane und das Sakrale. Schon in der Art, wie die sakralen Symbole der Engelsflügel, der Dornenkrone und der Sterne um die Protagonisten des Clips gestaltet werden, nämlich als Street Art mit Sprühfarbe graffitiartig,

34 Vgl. J. Wallach: Materiality, S. 37 u. S. 42. 35 Ebd., S. 47. 36 Ebd., S. 48. 37 Ebd., S. 43. 38 Dieser spezielle Tremolo-Sound mag von einem Melotron aus den 70ern stammen. Genau ließe sich dies nur im Vergleich und durch das Spielen eines solchen Instruments sagen. Auch an dieser Stelle danke ich Karsten Lehl für das Mithören und anschließende Mitteilen dieses Sachverhaltes.

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zeigen den transgressiven Charakter des Sakralen, indem die Motive vom Profanen ins Sakrale übergehen. Unter Verweis auf den Ritornellbegriff Deleuze/Guattaris leitet Reinhold Görling die Expressivität des Graffitos jenseits von Semantik her.39 Graffiti würden so zu einer (fast) nicht lesbaren Schrift und damit ein westlich-europäisches Verständnis der Grundfunktion von Schrift unterlaufen. Wiederum Ausdruck jenseits von Funktionalität sieht er in der Wiederholung, die für Hip-Hop charakteristisch ist.40 Über die Wiederholung im Hip-Hop-Song und über die des Samples im Besonderen werden Zeitlichkeit und Zeit erschaffen. Wiederholung wird im Verständnis Deleuze/Guattaris zur Inanspruchnahme und Markierung von Zeit: „Wiederholungen sind Territorialisierungen von Zeit, die sich nicht auf die Vorstellung von Raum als gegebenen Container stützen.“41 Semantisch auf die Wiederholung aufmerksam macht uns Wyclef Jean am Ende des Songs/Clips, wenn er im Outro ruft: „Rewind Selectah“42 und damit sagt: Spiel es nochmal! Die Musik des Hip-Hops ist durch die Wiederholung „Ausdrucksmaterie“ und als solche soll sie hier abschließend auch noch einmal betrachtet werden – jenseits der von Wallach ins Spiel gebrachten sozialen, semantischen Dimension von Klang als sozialem Ausdruck oder wie Görling schreibt: „Hip Hop ist eine Technik zur Produktion von Stil. Dazu gehört, dass er die Ausdrucksmaterie, den Körper, die Materialität der Sprache, den Rhythmus ins Spiel bringt. Dies sind Ebenen einer inter- und transkulturellen Kommunikation, die, wie mir scheint, die Dynamik solcher Prozesse in einem viel stärkeren Maße bestimmen als etwa hermeneutische Probleme.“43

Das in die tiefste Oktave des Klaviers hineinreichende, gerade, starr gespielte Sample ist unerbittlich dominant. Zusammen mit dem flirrenden thereminartigen Klang, den

39 Vgl. Reinhold Görling: „Hip-Hop-Kultur(en)“, in: Ulrich J. Beil et al. (Hg.): Blickwechsel. Akten des XI. Lateinamerikanischen Germanistenkongresses, Band 2, Sao Paulo u.a. 2003, S. 199-205, hier S. 201. 40 Vgl. ebd., S. 203. 41 Ebd., S. 203. 42 Der System Selectah ist ein wichtiger Agent vor allem in der jamaikanischen Reggae-Kultur. Durch die Verwendung dieses Ausdrucks stellt Jean den Bezug zur Reggaekultur und schließt implizit an ihre Rolle in der Schwarzen Befreiungsbewegung an. „[...] [R]eggae, perhaps more than any other music in the world, also privileged the invisible music men, the sonic architects – the studio producer and the sound system selector. Together, during the seventies, these two secretive orders emerged as sources of power in Jamaica“, J. Chang: Can’t Stop, S. 28. 43 Görling: Hip-Hop-Kultur(en), S. 204-205.

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schrillen, peitschenden E-Gitarren-Einwürfen und der harten Snare-Drum auf den Zählzeiten 2 und 4 entsteht ein Klangteppich, der eine unheimliche Sphäre aufbaut. Der harmonische Aufflösungsdrang des Samples hält uns gebannt im Song, während die nasalen Raps von B-Real beinahe in den Ohren schmerzen. Für die Materialität der Sprache, wie sie im obigen Zitat angesprochen wird, findet sich im Rap von BReal zu Beginn der zweiten Strophe ein eindrückliches Beispiel. Aus dem Refrain heraus und noch vor Einsetzen des Beats der Strophe rappt er „Fools run up“ und startet dann auf dem Beat in die eigentliche Strophe: „but they’ve never seen the last / Spread your last lyrics get broken like glass“, um mitten im dritten Vers das bisherige Schema zu durchbrechen und in eine andere Reimform überzugehen: „Can he pass“ heißt es dort noch mit dem „pass“, dass in der Folge auf „last“ und „glass“ steht und die Reime rein klanglich zusammenhält. Die Betonung auf „last“, „glass“ und „pass“ und das jeweils scharfe, piercende „s“ in den Wörtern haben ihre ganz eigene angriffige Materialität. Wyclef Jean spielt schon zu Beginn des Videos „Luftklavier“ auf seinen Tasten, die dem Video als ein weiteres, wiederkehrendes Motiv dienen. Zu Beginn des Clips läuft eine schemenhafte Gestalt auf ihnen hin und her. Später spielt Wyclef das Klavier exaltiert und übertrieben (er spielt übrigens nicht, was wir hören) und vernichtet es in einem Gewaltausbruch. Für auditives und visuelles Material ist das Klavier entscheidend, zieht es sich doch durch den gesamten Song auf beiden Ebenen als Motiv. Das gerade, starre und simple Klaviermotiv mit der zwingenden Wiederholung wird in den Strophen von den Rappern und ihren Versen zurückgedrängt bzw. auf zwei Töne reduziert. Im Refrain und während des Outros ist es jedoch wieder komplett und durchgehend vorhanden. Zum Schluss will Wyclef Jean das Klavier nicht mehr spielen, er reißt sich von ihm los und zerstört es. Vielleicht soll es keine Macht mehr über ihn haben, doch das Zerstörungsritual, das Opfern des Klaviers durch den Akt der Zerstörung und symbolischen Tötung heiligt es und verlagert es in die Sphäre des Sakralen. Und so spielt der Geist gewordene Wyclef gegen Ende des Videos Luftklavier und wir sehen, dass er von diesem Instrument nicht losgekommen ist. Für die Rezipient/-innen ist das Sample ohnehin durchgängig zu hören, was heißt: Auf der auditiven Ebene hat das Klavier, hat der Grundbaustein des Songs, das Klaviersample, gesiegt und überdauert. Nirgendwo könnte das Klavier, ursprünglich als Symbol einer Weißen, bürgerlichen Mittelschicht, dann – beim Ragtime angefangen musikalisch mehr und mehr eingebunden in Popkultur – deplatzierter stehen, als mitten auf der Straße einer Großstadt. Was uns in diesem Musikvideo begegnet ist ein weiterer Schritt in der Aneignung ursprünglich Weißer, bourgeoiser Musikinstrumente. Wurde das Klavier im Ragtime zu einem Rhythmusinstrument, ist es hier ebenfalls verantwortlich für Rhythmik und die Kadenz, die in Sample-Bauweise eingesetzt die klangliche Basis des Songs ist. Natürlich liegt das Sample für die Produktion des Songs „gesampelt“ und digital vor, doch werden wir visuell an die Herkunft des Sounds erinnert.

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Hinzu kämen die postindustrielle Veränderung des städtischen Lebens und der gegenwärtige Stand der Technologieentwicklung.44 „Many of its [Hip-Hop; E.S.] musical practitioners were trained to repair and maintain new technologies for the privileged but have instead used these technologies as primary tools for alternative expression.“45 Was Rose für den Sampler beschreibt, gilt für das hier gesampelte Klavier in ähnlicher Weise. Es wird auf der visuellen Ebene in das Ghetto und sogar wörtlich auf die Straße verlagert, dort zerstört und bildlich seines Körpers und Ursprungs beraubt; zuletzt existiert es nur noch im Sampler als Sound. Die Opferung des Klaviers wird so im hegemonialen Diskurs lesbar als eine Abrechnung mit dem Weißen, bürgerlichen Ursprung. Das Klaviermotiv und seine Vergegenständlichung im Videoclip werden zu einer großen Metapher, die in postkolonialer Lesart auf den Sound als Machtinstrument verweist, und das große Ritual des Hip-Hops, das Battlen mit Beats und Rhymes, mit der hohen Kunst der Soundproduktion, wird symbolisch im Musikvideo zu BOOM BIDDY BYE BYE umgesetzt. Auch visuell erscheint das Klavier als außerordentlich, außeralltäglich und mächtig. Es wird inszeniert als von einer Macht beseelt, wie in folgender Einstellung zu erkennen ist: Abbildung 15: Ein Klavier auf der Straße

Über Weiß wird zu dem hell aufleuchtenden, überbelichteten Klavier in der linken Bildhälfte in schräger Draufsicht geblendet

Das Klavier wird zur Waffe, deren unheimliche Macht durch Zerstörung freigesetzt werden muss. In Batailles Sprachgebrauch wird das Klavier der Zerstörung freigegeben, es wird geopfert. Die stellvertretende Zerstörung eines Dings ist zugleich auch die Sakralisierung seines Zerstörers.46 Wyclef zerstört das ihn panisch affizierende Klavier und sakralisiert stellvertretend viel mehr als sich, nämlich seine musikalische Produktion und damit letztendlich den Hip-Hop.

44 T. Rose: Black Noise, S. 63. 45 Ebd. 46 Vgl. S. Cochetti: Aporie, S. 248.

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Abbildungen 16 und 17: Wyclef spielt und zerstört das Klavier

Eine weitere argumentative Fluchtlinie sei hier ausgezogen, um das Finale des Musikvideos in seiner sakralen Dimension vollständiger zu begreifen. Dazu wird auf die Wendung von Batailles Sakralbegriff durch Jean-Luc Nancy eingegangen. Nancy kritisiert Batailles über Ekstase und Entgrenzung gedachte und in die „Einswerdung“ mündende Gemeinschaft als gescheitert, da sie zum Faschismus führte.47 Als Ausweg konzipiert Nancy die Vorstellung von einer „ent-werkten“ Gemeinschaft, die kein Eins-Sein und keine totalitäre, gleichgeschaltete Masse meint, sondern ein „Gemeinsam-Sein“, das sich aus der Entfesselung der Leidenschaften des Subjektes und dessen Drang des Mit-Teilens ergibt, genauso wie umgekehrt das Subjekt die anderen brauche, um den Drang des Mit-Teilens zu spüren. Das Sakrale ist dieses Mit-Teilen, ist wiederum die Erfahrung der mit Nancy entwerkten Gemeinschaft. Das Sakrale ist vor allem nicht mehr das Versprechen auf eine Unendlichkeit oder Unsterblichkeit, auf ein Leben nach dem Tod im Himmelsreich, sondern es ist im „Hier und Jetzt“ das „Mit-teilen“ der Endlichkeit und der Bedrohung durch das „Todeswerk“, wie Nancy die Wirkung des unausweichlichen Todes nennt. Am Ende des Clips zerstört Wyclef Jean in einem plötzlichen Wutanfall das Klavier, auf dem er kurz zuvor noch gespielt hat. Das Klaviermotiv jedoch erklingt durchgängig auch noch dann, wenn das Klavier auf der Straße zerstört ist.48 47 Vgl. J.-L. Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 51-54. Konkret verweist uns Nancy in seinem Essay „Die entwerkte Gemeinschaft“ darauf, dass er Gemeinschaft auch immer wieder gescheitert sei, weil sie eben noch stets als operativ zu bewerkstelligen betrachtet wird und eben noch nicht „ent-werkt“ ist: „„In diesem Sinn ist die Forderung nach der Gemeinschaft für uns und von uns noch unerhört geblieben, bleibt sie für uns zu entdecken und zu denken. Zumindest wissen wir jetzt, daß bereits die Begriffe, mit denen uns das gemeinschaftliche Werk verheißen wurde, in sich selbst den unerhörten „Sinn“ der „Gemeinschaft“ verfehlten, und letztlich das Projekt „Gemeinschaft“ als solches am „unermeßlichen Scheitern“ teilhat. Wir wissen dies zum Teil dank Bataille…“, in: J.-L. Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 53. 48 Weiter oben wurde bereits kurz festgehalten, dass die Verbindung zwischen dem zu sehenden und dem zu hörenden Klavier lediglich eine lose ist. Wyclef Jean spielt nicht die Töne, die wir hören, wohl aber sind seine exaltierten Gesten darauf ausgelegt, uns das zu suggerieren. So gehen Töne und Geste einigermaßen zusammen.

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Die ungezügelte, brutale Zerstörung des Klaviers mit der Axt fügt sich in die vielen todesgegenwärtigen Szenen des Clips und setzt auf der visuellen Ebene verstanden in einer Opfergeste und als Teil eines künstlerischen Produktionsprozesses Sakrales frei. Die Zerstörung des zu sehenden Klaviers drückt Endlichkeit aus und ist damit in Nancys Sinne „Mit-Teilung“ von Gemeinschaft. Musikimmanent jedoch markiert der Klang des Klaviers durch seine Kontinuierlichkeit ein Gegengewicht zur Todesbedrohung und Endlichkeit im Clip, wie wir sie im Refrain auf den Punkt gebracht finden: Dort heißt es: „Boom biddy bye bye, you open up your eyes you’ll be the next one to die“. Es ergibt sich eine nicht aufzulösende Spannung zwischen Sound und Bild, aber auch zwischen dem Klavier und dem Rest der Produktion: Während die Bildebene und auch die Soundproduktion Todesgegenwart artikulieren, bleibt uns doch nach Ende des Clips das ewig wiederholte Klaviermotiv in den Ohren. Es scheint hier so, als würde dem Sample und der künstlerischen Praxis des Sampelns im Hip-Hop eine besondere Wertigkeit der Unvergänglichkeit zuteil. Religiöses Material in Raps und Motiven auf der visuellen Ebene erscheint hier als Teil einer sakralen Inszenierungsstrategie, für die charakteristisch ist, dass sie keine Eindeutigkeit produziert, sondern sich immer wieder übersteigenden Bedeutungen anbietet. Dabei unterläuft sie den herrschenden Diskurs von Religion und religiöser Zugehörigkeit im Sinne einer Verweigerung der Vereinnahmung. Das Sakrale, wie es in dem Musikvideo durch die Opferungen erscheint, funktioniert als subversive Macht, indem es die strukturell marginalisierten Individuen mit einer Kraft und Macht ausstattet, die sie zum Zentrum der Aufmerksamkeit werden lässt. Diese Beispielanalyse hat gezeigt, wie die verschiedenen Ebenen des Musikvideos ineinander verwoben sind und gemeinsam nicht nur Bedeutung, sondern auch Wirkung erzeugen. Im Musikvideo wird klanglich, sprachlich-semantisch und visuell das Bataille’sche Sakrale inszeniert und bewusst als Kraftquelle für den kriegerischen Feldzug, von dem die Raps sprechen, gebraucht. Ganz am Ende des Songs ruft Wyclef Jean zur Vergemeinschaftung der Zuhörerund Zuschauerschaft auf, wenn er über den ausklingenden Song spricht: „Refugee soldier man, Brooklyn soldier man, L.A massive soldier man, New Jersey massive soldier man, Uptown massive soldier man, Long beach massive soldier man, You know the whole world watches soldier man.“49 Der „Soldier“ (und hier besonders in der Verwendung des „soldier man“) im Kontext des Hip-Hops ist ein aus dem jamaikanischen Englisch übernommener Begriff, der die für den Widerstand und die Befreiung der Schwarzen Kämpfenden bezeichnet.50 Der Appell Jeans – zunächst an die für ihre lebendige Hip-Hop-Kultur bekannten Ost- und Westküstenregionen, dann

49 „Soldier Man“ ist zusätzlich wiederum eine filmische Referenz. Gemeint ist der 1926 erschienene US-amerikanische Film mit Harry Langdon. 50 Am bekanntesten ist vielleicht der Song „Buffalo Soldier“ von Bob Marley.

BOOM BIDDY BYE BYE – DAS S AKRALE DER M ARGINALITÄT

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aber auch die ganze Welt – ist also der, dass alle zu Soldaten in der eigenen Sache werden und sich anschließen. „I see the soldiers, coming from out of the shadows“ aus dem Vers B-Reals in der vorhergehenden Strophe meint hier das in die Sichtbarkeit treten Marginalisierter. Das Sakrale dient in diesem Sinne der Vergemeinschaftung im Kampf gegen Subalternität und die gesellschaftliche Dominanzmacht, die diese bedingt. Die Symbole und Codes und sogar die Sphäre des Sakralen, die in dem Musikvideo fast durchgängig inszeniert werden, entstehen aus der Marginalität, aus dem Verborgenen, Geheimen und Ausgestoßenen.

Von religiösen Stoffen zu sakralen Strategien in PUPPET MASTER

Ausgangsüberlegung für dieses Projekt war, wie in der Einleitung beschrieben, religiöse Symbole und Codes im US-amerikanischen Hip-Hop und speziell in den Musikvideos als sakral inszeniert zu begreifen und damit speziell ihrer Brüchigkeit und Überschüssigkeit sowie ihrer widersprüchlichen Kontextualisierungen Rechnung zu tragen. Die folgende Beispielanalyse des Musikvideos PUPPET MASTER der Soul Assassins – einem Zusammenschluss der Rapper B-Real, Dr. Dre und dem Produzenten DJ Muggs – setzt genau an diesem Punkt an. Sie wirft die Arbeit nach den ausführlichen Diskussionen des Bataille’schen Sakralen und seiner Orte in der USamerikanischen Hip-Hop-Kultur noch einmal gezielt auf diese Ausgangsüberlegung zurück. Ein aufmerksamer Blick soll in der Analyse zunächst folglich den religiösen Symbolen und Codes in diesem Musikvideo zuteilwerden, da dieser Clip unmittelbarer als das im vorangehenden Kapitel analysierte Video BOOM BIDDY BYE BYE religiöse Stoffe aufgreift und diese auch als Leitmotive durchhält. In diesem Fall sind es eindeutig christlich-religiöse Stoffe, die uns auf der Bildebene begegnen, was eine Zuspitzung der Frage nach ihrem Eingebundensein in dieses Musikvideo besonders notwendig macht. Diese Stoffe werden zum Teil einer sakralen Strategie, wie die Analyse zeigt. Das Sakrale in diesem Musikvideo geht hier aus Praktiken hervor, die mit dem Begriff des Signifyin(g)s, aber auch dem der Mimikry von Bhabha beschrieben werden können. In diesem Kapitel wird eine begriffliche Synthese versucht und zudem die Problematik dieses Vokabulars für diese Arbeit diskutiert.1

1

In diesem Kapitel werden bewusst das in der postkolonialen Theorie Homi K. Bhabhas geprägte Konzept der Mimikry und das ursprünglich aus den Black Cultural Studies kommende und dort von Henry Louis Gates entwickelte Konzept des Signifyin(g)s verschränkt. Beide Begriffe sind wegen der unterschiedlichen wissenschaftlichen Traditionen, aus denen sie stammen, für die Analyse des Clips interessant. Im Clip geht es um Christozentrismus, Rassismus und Sexismus als Diskurse, die immer auch Machtfragen verhandeln und

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In PUPPET MASTER inszenieren sich die Musikproduzenten und Rapper Dr. Dre, DJ Muggs und B-Real als Puppenspieler, die metaphorisch die Schicksale und ganz bildlich an Fäden die Körper von anderen Figuren im Clip in den Händen haben. DJ Muggs erzählt in einem Interview von seiner ursprünglichen Idee zu dem Song: „So I had the idea for ‚Puppet Masters,‘ (sic!) because between us and them, we’re kind of pulling the strings of the artists, and controlling a lot of the things that are happening in the music business.“2 Interessant ist, dass er keine Kritik an der Plattenindustrie intendierte, wie sie in der stark hierarchischen Metapher der Puppenspieler hätte vermutet werden können, sondern dass sich die Musikproduzenten, also Muggs und Dr. Dre in diesem Fall, als diejenigen sehen, die die Fäden in den Händen halten. Es geht aus der Äußerung von DJ Muggs also nicht die übliche Kritik am Ausgeliefertsein der Künstler/-innen gegenüber ihren Plattenlabeln hervor; DJ Muggs und Dr. Dre fühlen sich vielmehr in einer mächtigen Position gegenüber Künstler/-innen, mit denen sie zusammenarbeiten. In der Wahrnehmung von DJ Muggs sind sie es, die über die Künstler/-innen, die sie musikalisch produzieren, bis zu einem gewissen Grad bestimmen. DJ Muggs war es seiner Schilderung nach auch, der den Musikvideoregisseur Dean Karr3 für die Arbeit an dem Clip gewonnen hat. Er beschreibt dessen Freiheiten bei der Gestaltung des Clips: „So I got Dean Karr, who did the Marilyn Manson videos [to do it]. I said, ‚I want you to do this video.‘ He said, ‚How far do you want me to go?‘ I said, ‚Go for it. Do whatever the fuck you want. Make it sick.‘ He was like, ‚How about the Devil against a [sic!] Pope. The ultimate ‘Puppet Masters.‘ So I got there, and I was like, ‚Whoa, they made B-Real a Devil, and this guy a dark-ass Pope.‘“4

die sich besonders gut mit den Prozessbeschreibungen der Mimikry und des Signifyin(g)s und der jeweiligen Kritik an den Konzepten verstehen lassen. 2

Daniel Isenberg: „DJ Muggs Tells All: The Stories Behind His Classic Records (Part 2)“, http://www.complex.com/music/2013/02/dj-muggs-tells-all-the-stories-behind-his-classic-records-part-2/dr-dre-b-real-puppet-master vom 16.08.2016.

3

Dean Karr ist Mitte der 90er vor allem mit dem Clip SWEET DREAMS von Marilyn Manson bekannt geworden und hat dann schnell Angebote von anderen bekannten Künstler/-innen bekommen. So hat er im Verlauf seiner Karriere mehrfach für Cypress Hill gearbeitet. Vgl. http://www.deankarr.com/new-page-2/ vom 16.08.2016. Karr ist sonst noch vor allem im Bereich der Werbefilme sowie als Fotograf tätig. Auf Twitter bezeichnet er sich selbst als Filmregisseur, Fotograf und Händler von Rock’n’Roll-Souvenirs. Vgl. Karr, Dean: @DEANKARRPHOTO, http://www.twitter.com/deankarrphoto vom 16.08.2016.

4

D. Isenberg: „DJ Muggs Tells All: The Stories Behind His Classic Records (Part 2)“, http://www.complex.com/music/2013/02/dj-muggs-tells-all-the-stories-behind-his-classic-records-part-2/dr-dre-b-real-puppet-master vom 16.08.2016.

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In diesem Zitat zeigt sich die empfundene Dominanz und manipulative Kraft des Christentums. Muggs, der nicht etwa Schwarzer ist, sondern italienische Wurzeln hat, rekurriert auf ein Zitat Karrs, der Papst und Teufel als die „ultimativen Strippenzieher“ sieht. Es wirkt, als stünden Teufel und Papst in der Wahrnehmung Karrs (und auch der Rapper, die sich für seinen Vorschlag entschieden haben) an der Spitze eines Machtregimes, an dem die Rapper gerne selbst stünden, indem sie mimikryartig zu diesen Figuren werden. Die Bedeutung des Christentums als Dominanzmacht darf also für den US-amerikanischen Kontext und die Analyse des Musikvideos nicht unterschätzt werden, aber bezieht sich hier keinesfalls nur auf Schwarze. Der Gedanke, dass das Christentum Schwarzen aufoktroyiert wurde und die Befreiung aus diesen Fesseln hier primär inszeniert sei, ist zu kurz. DJ Muggs und auch Dean Karr mit ihrer jeweiligen Sozialisation finden sich in diesen Inszenierungen genauso wieder und verweisen damit auf die Gesamtheit der US-amerikanischen Gesellschaft, die das Musikvideo auch in dieser Gänze in den Blick nimmt. PUPPET MASTER ist wie BOOM BIDDY BYE BYE kein typisches, klischeehaftes Musikvideo des Mainstreams. Es zeigt nicht die Gang, die Nachbarschaft oder die Stadt und auch nicht die typische Partysituation. DJ Muggs kommentiert diese Entscheidung im Nachhinein kritisch: „I might have made a mistake here, because I didn’t want to do video [sic!] in the hood. […] I think once they put it on BET, and people got scared, it just stopped everything. And I think the record did about 350,000, but if we just did a regular hood video, we would’ve had a platinum album.“5

Muggs betont den seiner Meinung nach negativen Einfluss, den der Clip auf die Verkaufszahlen des Albums hatte. In Muggs Argumentation ist interessanterweise von der Angst der Menschen („people got scared“) die Rede, die durch die Ästhetik des Clips entstanden sei. Zu dieser gehört sicher maßgeblich, dass Dr. Dre als ein Zombie-Bischof und B-Real als Teufel gezeigt werden. Das Zitat offenbart die massive Wirkung, die Musikvideos (in den USA) auf ihre Zuschauer/-innen haben können. Es liegt nahe, zu vermuten, dass nicht nur die simple Abweichung von Genrekonventionen ausschlaggebend war, sondern auch die starke Inversion religiöser Ikonografie als wesentlicher Bestandteil des Clips für den ausbleibenden Publikumserfolg verantwortlich zu machen ist.

5

D. Isenberg: „DJ Muggs Tells All: The Stories Behind His Classic Records (Part 2)“, http://www.complex.com/music/2013/02/dj-muggs-tells-all-the-stories-behind-his-classic-records-part-2/dr-dre-b-real-puppet-master vom 16.08.2016.

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Abbildung 18: Dr. Dre als Zombie-Bischof

Die visuelle Ebene des Clips PUPPET MASTER6 zeigt uns Dr. Dre als Zombie-Bischof und B-Real als Teufel in Gold mit Hörnern und nacktem Oberkörper. Dr. Dre ist nicht allein als kirchlicher Würdenträger verkleidet, sondern deutet die Figur des Bischofs um. Er trägt einen schwarz-purpurnen Übermantel, die Zimarra, sowie eine Mitra, die beide seinen Status unverwechselbar betonen. Die Kleidung mit ihrer typischen Farbgebung weist Dr. Dre als einen anglikanischen Bischof aus, was in den USA natürlich naheliegt. Bemerkenswert ist hier die Vermischung von Alltagskleidung (die Zimarra) und liturgischer Tracht in Form der Mitra. Beide würden im kirchlich-religiösen Kontext nicht gleichzeitig getragen werden, was deutlich auf die hochgradig synkretistische Verwendung der Symbole und auch auf ihre Überschüssigkeit hinweist. Die verfolgte Strategie scheint zu sein, die Mächtigkeit all dieser Insignien zugleich zu nutzen, sie sich einzuverleiben, und nicht um einen der Kirche folgenden, in sich schlüssigen Umgang mit ihnen. Die scheinbare Unvereinbarkeit zwischen Zombie und Bischof schmälert den Effekt der Insignien der Macht und Herrschaft nicht, sondern macht gerade die Wirkmächtigkeit der Bilder aus: Er wird zum Zombie-Bischof in einer Inszenierung des Signifyin(g), der „[r]epetition…with a signal difference“7 oder der Mimikry Bhabhas, die in einem Prozess des Abgleichs und der Nachahmung ein Subjekt erschafft, „das fast, aber doch nicht ganz dasselbe“8 ist und die demjenigen, der sie nutzt, die Deutungshoheit verleiht. Besonders auffällig und unmittelbar eindrücklich in einer Nahaufnahme zu Beginn des Musikvideos inszeniert – und immer wieder im Clip, auch im Close-up – sehen wir Dr. Dre als Bischof und zugleich als einen Untoten oder Zombie. Seine Augen sind komplett weiß, es sind weder Iris noch Pupille zu erkennen. Sein Gesicht

6

Der Clip stammt aus dem Jahr 1997. Der Analyse wurde die hier zu findende Version des Videos zugrunde gelegt: Dr. Dre ft. B-Real: „Puppet Master“, https://www.youtube.com /watch?v=Yz81vwHWZSU vom 16.08.2016.

7

Henry Louis Gates: The Signifyin(g) Monkey. A Theory of Afro-American Literary Criti-

8

Homi K. Bhabha: „Von Mimikry und Menschen“, in: Ders. (Hg.): Die Verortung der Kul-

cism, New York 1988, S. 51. tur, Tübingen 2011, S. 125-136, hier S. 126.

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ist mit weißer Farbe zu einem Totenschädel geschminkt, seine Lippen dabei so visagiert, dass sie aussehen, als seien sie zugenäht. Er erscheint zunächst vor einem feuerroten und Feuer suggerierenden Hintergrund, was ihn sogleich als diabolisch ausweist.9 Später wechselt die Farbe in ein dunkles Lila und Braun, und es wirbeln Geldscheine als erste Zeichen eines Überflusses und einer Verschwendung um ihn herum. Im Bild verschränken sich Machtanspruch und die Vorstellung von einer unbegrenzten Verfügbarkeit von Geld. Neben der Verquickung von Macht und Geld werden hier auch Außerweltlichkeit und Weltlichkeit eng miteinander verknüpft und die Heiligkeit des kirchlichen Würdenträgers durch die um ihn herumfliegenden Geldscheine profaniert. In einer Geste am Ende des Clips, in der Dr. Dre wütend die Fäuste zum oberen Bildrand reckt, dabei einen tiefen Schrei ausstößt und ein Beben (inszeniert durch eine wackelnde Kamera) hervorruft, wird ebenfalls der Eindruck des Wilden und Unkontrollierten erweckt. Die Figur des Zombie-Bischofs vereint rein auf visueller Ebene mehrere Zeichen unterschiedlicher Herkunft oder Bedeutung. Sie stellt das Wilde, Unbeherrschbare dar, die Repräsentation der Andersheit, wie sie durch den Weißen Blick auf den Schwarzen Mann in einer langen Tradition steht. Daneben vereint sie das ChristlichReligiöse mit dem Überschreitenden und dessen Rahmen Sprengenden – besonders in der eigentlichen Unvereinbarkeit der Konzepte des Untoten und des christlichen Würdenträgers. In der Figur liegt also eine hohe Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit, die Bhabha für die Definition des Mimikry-Prozesses und für seinen Begriff des Stereotyps zugrunde gelegt hat. Die Zombie-Bischofsfigur und auch der kurz eingeblendete „Mensch“ B-Real, der durch Dornenkrone zum verfemten Jesus geworden ist, während er die meiste Zeit über im Clip doch den Teufel spielt, sind beides instabile und ambivalente Identitäten. Das Musikvideo spielt mit dieser Instabilität, mit dem „Gleiten“ von Bedeutung, um noch mal einen Terminus Bhabhas anzuziehen: „…die Mimikry muß beständig ihr eigenes Gleiten, ihren Überschuß, ihre Differenz produzieren, um effektiv zu sein.“10 Bei Bhabha heißt es weiter: „Die Mimikry ist jedoch auch das Zeichen des Un(an)geeigneten (inappropriate), eine Differenz oder Widerspenstigkeit, die [...] für ¸normalisierteʻ Arten des Wissens und disziplinäre Mächte eine immanente Bedrohung darstellt.“11

9

Im unteren Bildrand des Clips sind immer wieder Schatten von flackerndem Feuer zu sehen. B-Real und Dr. Dre befinden sich womöglich in der Hölle oder im Fegefeuer.

10 H. K. Bhabha: Mimikry, S. 126. 11 Ebd.

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Als Differenz in der Begegnung des Schwarzen Rappers Dr. Dre, des Outlaws und Gangstas mit der Figur des Bischofs lässt sich die Maskierung zum Zombie begreifen. Über dem Gewand trägt er eine eng am Hals anliegende Kette, die aus Zähnen besteht und freilich nicht zum Bestand der Insignien kirchlicher Würde gehört, sondern eher an einen außerkirchlichen Ritus oder Kult, vielleicht an eine Naturreligion, erinnert und die zusammen mit dem zugenähten Mund Vorstellungen des Wilden und Unbeherrschbaren evoziert, was an rassistische Stereotype erinnert. Hinzu kommt, dass es wenig gibt, was die christliche Kirche so sehr fürchtet wie den Untoten, hat dieser doch seine Seele verloren oder an den Teufel verkauft. Diese Furcht als Bedrohung der christlichen Dominanzkultur finden wir im Zombie-Bischof wieder, gewissermaßen auf ihn vereint. In dieser mimikryartigen Inszenierung wird die Dominanzreligion als sehr mächtig gezeigt, ist jedoch unterwandert von dem, was sie am meisten fürchtet. Dieser Zombie herrscht über andere und ist überdies ein Verbündeter des Teufels. Der Wert der Freiheit, der in den USA schon in der Unabhängigkeitserklärung festgeschrieben wurde, nämlich in der Trias „Life, Liberty and the Pursuit of Happiness“, wird anhand des Zombies kritisch in seiner Existenz hinterfragt. Der Zombie, der auch schon in der vorherigen Videoanalyse eine große Rolle gespielt hat, ist die Suspension des Freiheits- oder Souveränitätsgedankens und eine der wichtigsten Metaphern für Sklaverei. Dieser Zombie als Metapher für Sklaverei zeigt in diesem Musikvideo seine Macht in der Übernahme des Bischofs und mit ihm der christlichen Kirche. Ob nun Zombie oder Bischof mehr wiegen, lässt sich aus Gründen des „Gleitens“ nicht festlegen. Die hier inszenierte Mimikry produziert einen ständigen Überschuss, der wiederum auch mit dem Sakralen beschrieben werden kann. Die Mimikry in diesem Clip ist als eine Spielart des Sakralen zu begreifen. Das Musikvideo spielt auf eine ungewöhnliche Weise mit der Sichtbarkeit von Differenz, wie Bhabha sie in „Die Frage des Anderen“ für den Signifikanten der Hautfarbe beschrieben hat.12 Dr. Dre trägt mit der weißen Farbe auch eine weiße Maske, B-Real ist komplett goldfarben angemalt, in der Hierarchie der Farben geht damit auch eine Aufwertung des Teufels einher, die sexualisierten Teufelinnen haben komplett rot angemalte Körper, während der eindeutig Weiße DJ Muggs ohne jede Färbung gezeigt wird. Im Clip ist für aus dem Westcoast-Umfeld stammende Produktionen auffallend wenig schwarze Hautfarbe zu sehen. Die veränderten, bunten Hautfarben verweisen hier zurück auf die Hautfarbe als unhintergehbares Zeichen der Differenz. Durch das Färben der Haut wird hier auf die Hautfarbe als der große Marker von Differenz verwiesen, und durch die Hinzunahme von nicht als Hautfarben zu denkenden Tönen wie Gold, Knallrot und auch Blaugrün der einzelnen Tänzerin, die in einer offensiven Verführungsgeste ihre Beine spreizt, eine Öffnung oder

12 Vgl. H. K. Bhabha: Stereotyp, S. 117-118.

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Sprengung dieses gemeinhin als dichotom konstruierten Schwarz-Weiß Bezuges versucht.13

Der Teufel als ausgeschlossene, sakrale Figur Der Zombie-Bischof ist im ganzen Clip konstant präsent und befehligt die anderen Figuren. Eine ähnlich dominante Position nimmt der Teufel im Clip ein. Eine in christlichem Vorstellungsrahmen relative Unvereinbarkeit wir hier inszeniert: Auch, wenn es zunächst so aussieht, als würden Bischof und Teufel sich bei einem Brettspiel mit Totenköpfen als Spielsteinen einen Wettkampf liefern und im Armdrücken ihre Kräfte messen, so wird durch die Lyrics doch klar, dass sie gemeinsame Sache machen. Sie, die sie für die Musik, also den Track, verantwortlich sind, haben uns und das Musikvideopersonal als Marionetten in ihrer Hand und rappen: „You are the puppet, I pull your string, I’m makin moves, I’m the master, causing you to do what you do“. B-Reals Oberkörper und Gesicht sind golden geschminkt, seine schwarzen Fingernägel sind extrem lang und spitz und er trägt einen sehr langen, ebenso spitzen Kinnbart und spitz zulaufende Ohren. Zudem hat er Hörner auf seinem Kopf, wie sie an die eines Geißbocks oder Widders erinnern und wie sie zu volkstümlichen Darstellungen des Teufels seit Jahrhunderten dazugehören. Das Spiel wird im Hintergrund von DJ Muggs bewacht, der durch eine Kutte an einen Mönch erinnert und den bei Dr. Dre nicht zu findenden Bischofsstab in der rechten Hand hält. Die drei Protagonisten sind alle dem kirchlich-religiösen Repertoire entnommen und verbünden sich. Bischof zu sein schützt also nicht vor der Hölle – so könnte eine religionskritische Lesart des gesamten Settings lauten. Dem Christentum, dem wir nicht nur in der Argumentation Batailles die Trennung des Sakralen in unrein und rein überhaupt erst zu verdanken haben, schulden wir ebenfalls die Figur des Teufels. Bataille schreibt: „In der heiligen Welt des Christentums konnte nichts bestehen, was offensichtlich den Grundcharakter der Sünde, der Überschreitung besaß.“14 Der Teufel wurde, so Bataille weiter, seiner „religiösen Natur“ beraubt, aus der reinen heiligen, also der religiösen, Sphäre verdammt und mit ihm auch seine Anhänger abgewertet: „Jedem,

13 Ein weiteres Musikvideo, das in besonderer Weise und sehr explizit mit Stereotypen des wilden, animalischen Schwarzen und mit Hautfarbe(n) spielt, ist Hype Williams’ Arbeit zu Busta Rhymes’ PUT YOUR HANDS WHERE MY EYES CAN SEE, das den Rapper und anderes Personal des Clips mit bunten, fluoreszierenden Hautbemalungen im Stile von wilden Kriegern und in Anlehnung an Raubtiere zeigt. 14 G. Bataille: Erotik, S. 117.

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der sich weigerte, zu gehorchen, und aus der Sünde die Macht und das Gefühl des Heiligen bezog, wurde der Tod in Flammen angedroht.“15 Als Herr über Sünde und Laster ist der Teufel in diesem Musikvideo in Form des verkleideten B-Reals zugegen sowie in den lasziv tanzenden, spärlich bekleideten, weiblichen Teufeln und den männlichen Nonnen als Inversion religiöser Symbolik.16 Auch in den männlichen Nonnen zeigt sich das visuelle Siginfyin(g), das männliche Keuschheit andeutet und verwirft, wenn weibliche Teufelinnen mit den männlichen Nonnen eng umschlungen tanzen. Enthaltsamkeit als christlich-religiöses Konzept wird als unglaubwürdig dargestellt, gleichzeitig Frauen in Form von leicht bekleideten Teufelinnen in einer für Hip-Hop-Videos üblichen Manier übersexualisiert. Für Bataille ist der Teufel „der Engel oder Gott der Überschreitung“17 und er charakterisiert ihn auch nach dem Ausschluss aus der göttlichen Welt noch als sakral: „Er war nicht eigentlich profan geworden: er behielt von der Welt des Heiligen, aus der er hervorgegangen war, den übernatürlichen Charakter.“18 Im Kult um den Teufel, so meint Bataille weiter, könne man noch immer religiöse Aspekte erkennen, die allerdings abschätzig bewertet und verboten wurden. „Gerade insofern, als er heilig schien, sah man in ihm eine Profanierung.“19 Der Clip scheint wie eine kultartige Inszenierung dieser profanierten und als blasphemisch lesbaren Macht des Sakralen. Der Grundkonflikt des Christentums wird inszeniert, ist aber schon entschieden – die Kirche hat sich auf die Seite des Teufels geschlagen, nimmt ihre ordnende, schützende Funktion nicht wahr, sondern nutzt ihre Macht zur Unterdrückung – in diesem Fall der Rezipient/-innen, denn unsere Strippen werden gezogen. Die mit Bataille mögliche sakrale Einordnung des Clips verdeutlicht die Religionskritik im Clip und gleichermaßen die Inanspruchnahme der Deutungshoheit. Durch die Mimikry verstanden als Strategie der Ambivalenz und Mehrdeutigkeit auf der Bildebene des Clips – und damit auch als Teil einer sakralen Strategie – werden die christlich-religiösen Zeichen umgedeutet. Sie verlieren ihre Macht über die Rapper, denn als Inkarnationen des Signifyin(g) Monkey herrschen die Rapper in ihrem

15 G. Bataille: Erotik, S. 117. 16 Auch diese Inversion ist als eine rhetorische Strategie des Signifyin(g) zu beschreiben. An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Hip-Hop eine ganze Reihe Strategien des Signifyin(g) einsetzt, von denen manche sich als sakrale Strategien im Sinne Batailles beschreiben lassen. 17 G. Bataille: Die Erotik, S. 117. 18 Ebd. 19 Ebd.

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Dickicht aus Zeichen: „Signifyin(g), then, is the sign of rule in the kingdom of Signification: neither the Lion nor the Elephant – both Signified upon – is the King of the Jungle; rather, the Monkey is King, the Monkey as Signifier.“20 Abbildungen 19 und 20: B-Real als Teufel und ungeschminkt mit Dornenkrone

Mit einer vermeintlichen Inkongruenz sind wir auf den ersten Blick konfrontiert, wenn wir sehr kurz Einstellungen präsentiert bekommen, in denen B-Real ungeschminkt und nicht als Teufel zu sehen ist, während im Vergleich dazu Dr. Dre oder DJ Muggs nie unverkleidet auftreten. Es wirkt, als müsse B-Reals Teufelsbild relativiert werden, indem man seinen Kopf vor einem kreisrunden, mit Spitzen besetzten Rad zeigt, dessen innere Streben auf ihn zulaufen, ihn also von der Linienführung her als Mittelpunkt der Bildkomposition zu erkennen geben. Die Inszenierung stattet ihn so mit einer Art Dornenkrone aus, die auf den verspotteten Sohn Gottes verweist. In der hier abgebildeten Einstellung ist sogar die Dornenkrone im Hintergrund scharf und damit betont, während B-Reals Kopf leicht unscharf erscheint. B-Real ist in diesem Bild also Jesus – und nicht wie vorher und nachher im Clip der Teufel. Das ist eine erstaunliche Relativierung der vorhergehenden Inszenierung als Teufel, die sich jedoch besonders vor dem Hintergrund von DJ Muggs Äußerung, dass sich Menschen beim Sehen des Clips zu fürchten begannen, interpretieren lässt: Es scheint, als könne oder gar dürfe das Musikvideo B-Real nicht ausschließlich als Teufel zeigen. Einerseits darf der Teufel nicht ohne ein (gutes) Gegenüber im Clip stehen bleiben; die Eindeutigkeit im Sinne des Bösen in der Figur des Teufels hätte dann kein Gegengewicht und würde vermutlich besonders im Religionskontext der USA zu schwer wiegen. Andererseits heißt das Inszenieren des Teufels und zugleich das Sakralisieren der eigenen Person durch die Dornenkrone im Spiel des Signifyin(g), dass beide, scheinbar widersprüchlichen Figuren, sich auf dem König des Signifyin(g)s vereinen. Die Rapper schlüpfen in religiös stark aufgeladene Rollen, die sich aufgrund ihrer im christlich-religiösen Bedeutungskosmos so großen Widersprüchlichkeit, gegenseitig übersteigen und aufheben. B-Real als Mensch kann Teufel und verspotteter Jesus sein, er verkörpert die Stereotype des Ausgestoßen- und Marginalisiertseins und entkräftet mit Jesus und Teufel (wie Dr. Dre mit Zombie und Bischof) den religiösen und den Menschen auf seinen Platz verweisenden Rahmen. 20 H.-L. Gates: Monkey, S. 63.

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Mimikry als Prozessbeschreibung Das Zusammenfallen von Zombie und Bischof in seinem Widerspruch erinnert wie eingangs angerissen an die von Bhabha beschriebene Mimikry als Strategie der Subversion der herrschenden Macht und zugleich an die Markierung der eigenen Machtposition und Identität. Bhabha hat seinen Mimikry-Begriff21 in seiner Aufsatzsammlung Die Verortung der Kultur und dort besonders in dem Essay „Von Mimikry und Menschen“ entwickelt. Innerhalb eines postkolonialen Diskurses steht bei ihm die Mimikry im Zentrum. Seiner Definition nach ist sie „Zeichen einer doppelten Artikulation, eine komplexe Strategie der Reform, Regulierung und Disziplin, die sich den Anderen ¸aneignetʻ (¸appropriatesʻ), indem sie die Macht visualisiert.“22 Sie ist „beinahe dasselbe, aber nicht ganz“23, das heißt, Bhabha begreift Mimikry als eine Strategie, bei der der Kolonisierte den Kolonisator nachahmt, wobei er wesentliche Unterschiede offenbart, die den Kolonisator infrage stellen oder in seiner Machtposition angreifen. Bhabhas Mimikry ist eine Widerstandsstrategie, von der nicht klar ist, ob sie intentional oder zufällig ist.24 Die Mimikry lässt sich als eine Strategie verstehen, der es „um die Infiltration des Anderen in die dominante symbolische Ordnung“25 geht. Bei der Produktion eines Musikvideos handelt es sich freilich um eine künstlerische Produktion im Gegensatz zu von Bhabha theoretisch reflektierten gesamtgesellschaftlichen Prozessen. Insofern weist die Inszenierung des Zombie-Bischofs oder die Verkörperung des Teufels oder Jesus hier keine Selbstschutzfunktion im Sinne einer Anpassung an die Kolonisatoren auf.26 Diese Rahmung der Kolonisierung ist selbstverständlich gar nicht mehr gegeben, wohl aber geltend gemacht werden kann hier eine stark hierarchisierende gesellschaftliche Ordnung, die beson-

21 Als letzte Einschränkung, bevor weiter auf Bhabhas Mimikry eingegangen wird, sei hier darauf hingewiesen, dass das Musikvideo als Inszenierung verstanden wird, die zwar Resultat ihrer verschiedenen, sozialen und produktionsökonomischen Kontexte ist, aber erst in einem zweiten Schritt, nämlich dem der Rezeption, an Identitätsbildung in den USA (und freilich darüber hinaus) beteiligt ist. Eine unmittelbare Übertragung des MimikryKonzeptes ohne den Filter der Inszenierungspraxis und Produktionsökonomie von Musikvideos zu versuchen, wäre verkürzt und würde dem künstlerischen Gegenstand nicht mehr gerecht. 22 H. K. Bhabha: Mimikry, S. 126-127. 23 Ebd., S. 127. 24 Vgl. María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, 2. komplett überarbeitete und erweiterte Auflage, Bielefeld 2015, S. 238. 25 Ebd. 26 Vgl. ebd. S. 239.

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ders deutlich wird, wenn die Geschichte der Sklaverei mitgedacht ist. Eine Übertragung postkolonialer Theorie auf zeitgenössische, US-amerikanische Hip-Hop-Musikvideos darf also zweifelsohne nicht unkritisch geschehen. Für dieses Musikvideo jedoch hält die Mimikry-Denkfigur und auch die an ihr geübte Kritik so viel kritisches Potenzial bereit, dass ein Aufgreifen dieser für die Analyse gerechtfertigt erscheint. Die Betonung des Signifyin(g) als Metakonzept Schwarzer kultureller Praxis in Literatur (und auch Musik) durch Henry Louis Gates macht uns das Verständnis der Mimikry als einem Aspekt des Signifyin(g) ebenfalls einfach, wenn er seinen Signifyin(g)begriff öffnet: „… Signifyin(g), it is clear, can mean any number of modes of rhetorical play.“27 Gleichzeitig offenbart sich in dieser Pauschalität die Undefinierbarket oder Flüchtigkeit von Gates’ Theorie. Die Mimikry verstanden als rhetorisches Spiel der Wiederholung mit Differenz, als Spiel der Andeutung und Uneigentlichkeit, erscheint als Teil der übergeordneten Praxis des Signifyin(g) und vermeidet dabei die definitorische Schwäche von Gates’ Begriff, der alle rhetorischen Figuren in die Nähe des Signifyin(g)s rückt. Zora Neale Hurston wiederum hat die Mimikry als besondere Schwarze kulturelle Praxis ausgewiesen: „[L]et us say that the art of mimicry is better developed in the Negro than in other racial groups. He does it as the mocking-bird does it, for the love of it, and not because he wishes to be like the one imitated.“28 Mit der Betonung der Mimikry oder des Signifyin(g) als einer dezidiert Schwarzen Strategie des Widerstands, wie Gates und Hurston sie entfalten, gerät das rhetorische oder perfomative Spiel mit Aneignung und Veränderung zu einer Essenzialisierung von Schwarz und Weiß. Damit käme eine Starrheit in die Lesart gerade der hier untersuchten Musikvideos, die ihnen aufgrund ihrer medialen Beschaffenheit schon unrecht tut und sie leicht als entweder Schwarz oder Weiß begreifen würde. Bhabhas Mimikry verstanden als auftretend an einem Ort der Begegnung mit dem Anderen und mit Betonung des prozessualen Charakters in diesen Begegnungen vermeidet diese Arretierung. Bhabhas Mimikry wird daher mit der Ironie in Gates’ Theorie des Signifyin(g) verschränkt, um ein für die Analyse brauchbares Werkzeug zu erhalten, das ungeahnte Lesarten des Musikvideos freilegt. An Hurston anschließend lässt sich die Liebe für das Spiel mit Bedeutungen auch direkt für diesen Clip behaupten: Sicher möchten die Rapper nicht wie die sein, die sie imitieren, sondern über die vereinnahmende und gleichzeitig abgrenzende Praxis der Mimikry in diesem Musikvideo deren Macht über sich brechen und stattdessen selbst die Mächtigen sein.

27 H.-L. Gates: Monkey, S. 65. 28 Zora Neale Hurston: „Characteristics of Negro Expression“ [1933], in: Gena Dagel Caponi (Hg.): Signifyin(g), Sanctifyin’, & Slam Dunking: A Reader in African American Expressive Culture, Amherst 1999, S. 293-308, hier S. 302.

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Eine fetischisierte Pietà Die erste Einstellung von PUPPET MASTER zeigt uns ein skurriles Duo: Auf einem antiken Klappstuhl sitzen zwei weiß gefärbte Gestalten. Die eine hat die langen, weißen Haupthaare über dem Gesicht, sodass zunächst nur die Nase hervorsticht. Die andere Figur befindet sich links neben ihr halb auf ihrem Schoß. Diese Figur scheint eine Art Mitra zu tragen, ihre Augen sind geschlossen und sie wirkt eher leblos. Sie hält in der linken Hand eine Kugel, die nicht weiter zu erkennen ist, an die aber vom ersten Moment des Clips an von der Kamera herangezoomt wird, bis sie in einer Detaileinstellung zu sehen ist. Dies geschieht unruhig wackelnd, in stets verändernder Schärfe, sodass Unschärfen im Bild für das Musikvideo an dieser Stelle schon als Stilmittel etabliert werden.29 Nachdem wir bis fast in die Kugel hineingezoomt haben, was durch einen leicht in der Tonhöhe steigenden, spaceigen Sound akustisch unterstützt wird, führt ein Schnitt auf die rechte Hand der Figur, die eine Spastik zeigt und deren Finger sich mit Einsetzen des Beats sowie des zweitaktigen Samples zu bewegen beginnen. Der beginnende Beat weckt diese schlafende Person auf oder haucht ihr gar Leben ein, möchte man die Szene, wie im Folgenden analysiert, als PietàDarstellung begreifen. Abbildung 21: Pietà-Szene

Die Pietà als ikonografisches Motiv stellt vor allem das Mitleid mit und das Leid um Jesus dar, der tot von Maria in den Armen gehalten wird. In diesem klassischen kunstgeschichtlichen Sujet finden wir den „Ausdruck religiöser Ideen“30 und zwei Grundmotive des menschlichen Daseins, die Liebe und den Tod, vereint. Hier wird offenbar 29 Diese Analyse kann einige Ähnlichkeiten zum Musikvideo BOOM BIDDY BYE BYE herausarbeiten. Für das Gros der Musikvideos – sicher in den letzten zehn Jahren – muss jedoch gesagt werden, dass diese vor allem im Stilmittel der fehlenden Tiefenschärfe und überhaupt des unscharfen Bildmaterials keinesfalls repräsentativ sind. Vielmehr sind die klassischen Mainstream-Hip-Hop-Musikvideos bestechend scharf, mittlerweile in HD gefilmt, sind auf Hochglanz und Brillanz bearbeitet. Es scheint also eher darauf hinzudeuten, dass das Abseitige, Dreckige, Entstellte und Marginale hier mit der Ästhetik der Clips und mit dem Sakralen zusammenhängt. 30 Carl Justi: Michelangelo. Neue Beiträge zur Erklärung seiner Werke, Berlin 1909, S. 98.

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mehrfach mit der klassischen Pietà-Darstellung gebrochen und eine eigene geschaffen. Auch diese Inszenierung lässt sich als eine Mimikry begreifen. Zum einen ist die sitzende Figur nicht als Maria zu identifizieren, sondern viel eher als antiker Seher, der schlohweiße, lange Haare über den Augen trägt, die jedes Sehen verhindern. Zum anderen ist die liegende der beiden kreidebleichen und zugestaubten Figuren nicht bewegungs- und damit nicht leblos. Stattdessen wird gleich zu Beginn des Clips ein Close-up auf ihre rechte, von einer Spastik gezeichnete Hand, eingesetzt, um zu zeigen, dass diese sich bewegt. Die Person, die den Platz Jesu eingenommen hat, ist nicht tot oder aber erwacht mit Beginn des Musikvideos zum Leben. Es ist für sich schon bemerkenswert, dass eine Pietà in einem Hip-Hop-Musikvideo inszeniert wird. In dieser Inszenierung ist die Maria keine Maria, sondern ein Zwitterwesen, vielleicht auch ein Mann. Die Figur ist nicht schön, nicht anmutig und schon gar nicht makellos – im Gegenteil zeigt ein Close-up des Gesichtes die körnige, weiß übertünchte Haut sowie die spröden, trockenen Haare.31 Abbildungen 22 und 23: Seher-Figur und Close-up der Handhaltung der Jesus-Figur

In dieses klassische religiöse Bild, in dem die Mutter Gottes um ihren für die Menschen gestorbenen Sohn trauert, wurde ferner eine erotische Komponente eingeschrieben.32 Wenn die zwei gegen Ende des Musikvideos noch enger beieinander ge-

31 Dass wir nicht sagen können, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt, trifft auch auf die Figur zu Beginn des Musikvideos zu: Die Figur erinnert stark an den Seher Teiresias, der in seinem Leben beide Geschlechter hatte. Es scheint wenig sinnvoll, sich auf eine bestimmte Seher-Figur zu versteifen, aber dass es sich um eine Personifizierung der Gabe der Prophetie handelt, scheint mir vor allem in Verbindung mit dem im Clip wiederkehrenden Kugel-Motiv haltbar. Die Kugel, die ja ebenso wie die Hand zuerst in den Fokus des Clips gerät, taucht auch bei den Wettkämpfern – wenn auch als Holzgeflecht – wieder auf. Ich lese sie als ein Symbol für eine Wahrsagerkugel und zumindest als Teil eines Okkultismus, der wiederum die Teufelinnen, den Geißbock-Teufel und den Zombie-Priester und die im Musikvideo angedeutete Orgie einholen würde. 32 Dorothee Böhm bemerkt in ihrer Untersuchung der Pietà-Darstellung in der Popkultur, dass bei vielen dieser Darstellungen eine erotische Komponente mitschwingt. Schon bei

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zeigt werden, die eine Figur die andere jetzt nur in Wäsche bekleidete Figur am nackten Oberschenkel festhält, bekommt diese Szene einen erotischen Anstrich. Die hier inszenierte Pietà vereint zentrale Bereiche des Sakralen, nämlich das Religiöse, dann aber auch den Tod, der hier nicht zu gelten scheint, und die Erotik. Dorothee Böhm schreibt über Pietà-Darstellungen in der Popkultur, dass sie einen fetischistischen Blick fordern: „Fasziniert haftet er am schönen Schein der Oberflächen und transformiert den Wunsch zur Anteilnahme in ein Begehren nach Teilhabe, das den modernen Warenfetischismus bestimmt.“33 Die Oberflächen sind hier weder schön noch sind diese eigentlich oberflächlich. Hier ist nichts poliert oder zum Vorteil der Gezeigten nachbearbeitet. Vielmehr ist der Blick der Kamera ein entblößender, der die intime Szene der Pietà für uns ausstellt. Den Ausstellungscharakter betont einmal mehr der aufgezogene Vorhang im Hintergrund der Szene. Die entstellten Körper entfachen jenen fasziniert-angewiderten Blick des Begehrens, den Bataille als Funken des Sakralen beschrieben hat. Diese Begehrensstrukturen sind nicht solche, wie wir sie in sonstigen Hip-Hop-Musikvideos finden. Wir haben keine reine, glänzende Haut, kein straffes Fleisch, keine manikürten Nägel, kein schillerndes Makeup, keine prallen Oberweiten oder Hintern – und auch die langen, weißen und spröden Haare fallen nicht mit dem gängigen Schönheitsideal zusammen. Batailles Fetischbegriff, unter anderem im Aufsatz „Der große Zeh“34 entwickelt, kommt hier zum Tragen: Es handelt sich bei der beschriebenen Szene des Clips um ein Fetischisieren des Makels und der Entstellung, um unsere hegemonialen Begehrensstrukturen aufzudecken und zu unterlaufen. Tot-lebendig, Mann-Frau, Mensch-Tier, dominant-unterlegen sind als Leitdifferenzen nicht durchgehalten, sondern als unbestimmt inszeniert. Diese Welt der Unstimmigkeiten wird uns bereits mit Erklingen der ersten Takte musikalisch angedeutet. Das zweitaktige Klaviersample besteht aus einem sechsmal erklindene dissonanten Akkord, Folge von sechs dissonanten Akkorden. Vier Viertel erklingen im ersten Takt, worauf eine Variation mit einer schnellen Kadenz auf den beiden letzten Zählzeiten des Taktes folgt, die das Sample wieder zum Anfang, also zu den Viertelakkorden führt.

Michelangelo sieht sie diese Dimension „latent angelegt; ist der Altersunterschied zwischen Maria und ihrem Sohn doch – im Unterschied zu vielen anderen Pietà-Darstellungen – auffällig gering.“ Dorothee Böhm: „Scheinheilig? Religiöse Phänomene in Kunst und Popkultur der Gegenwart“, in: Dorothee Böhm et al. (Hg.): Erscheinungen des Sakralen, Berlin 2011, S. 99-122, hier S. 109. 33 Ebd., S. 115. 34 G. Bataille: „Le gros orteil“.

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Bewusst grotesk und irritierend inszeniert ist auch folgendes Duo (bzw. Quartett, wenn man die maskierten, als Reittiere inszenierten, Schauspieler mitzählt) aus körperbehinderten Darstellern35: Abbildungen 24 und 25: Zwei Reiter mit Atemschutzmasken

Die Figur links im Bild (im rechten Still in der Nahaufnahme zu erkennen) ist die, die wir schon aus der vorherigen Szene kennen – die Kopfbedeckung sowie die Handhaltung lassen eindeutig darauf schließen. Die beiden Kleinwüchsigen reiten auf zwei korpulenten Menschen, die Masken über dem Kopf tragen und ansonsten fast nackt sind. Auch die Reiter in der Szene tragen kaum Kleidung, dafür aber beide Atemschutzmasken. Bei der rechten Figur scheint es sich um eine Frau zu handeln. Bei der linken Figur können wir erkennen, dass sie ein Mann ist. Am rechten Arm trägt er zudem eine Sanitäterbinde. Sie begegnen sich in einer Art Wettkampf- oder Kampfsituation. Bedeutsam ist hier vor allen Dingen die Absonderlichkeit der Situation und das Transzendieren der großen Leitdifferenzen Mann-Frau und Mensch-Tier. Bewusst verstörend inszeniert und – der Zoom ganz zu Beginn des Musikvideos zeigt es – bewusst in den Blick genommen und fokussiert werden Abweichungen vom normalen Körper. Es ist eine Zuspitzung und Überzeichnung von Abnormalität. Die Inversion der religiösen Symbole und Codes hat es schon gezeigt und auch hier finden wir, wenn schon nicht eine Verkehrung der Verhältnisse Mann-Frau oder Mensch-Tier, dann zumindest eindeutig das Verschwimmen ihrer Grenzen bis zur Unkenntlichkeit inszeniert. Auch dass es sich um Reiter handelt ist bedeutsam, ist die Metapher von Reiter und Pferd doch eine der wichtigsten für das Markieren von Fremdbestimmung.36 Ähnlich dem Zombie stellt diese bildliche Metapher Dominiert- und Fremdbestimmtsein aus, gewinnt durch die Inszenierungsweise der Körperbehinderten einen besonderen Nachdruck. Die grotesken Inszenierungen Körperbehinderter verdienen noch einmal unter dem Aspekt des Sakralen unsere Aufmerksamkeit. Nicht nur gucken wir bei Musikvideos, die gerade im Hip-Hop meist makellose Körper inszenieren, erstaunt, wenn wir Abweichungen von diesem Bild der Perfektion entdecken. Hier 35 Die vielen körperbehinderten Darsteller/-innen und die Art ihrer Inszenierung erinnern auch stark an den frühen Horrorfilm FREAKS (1932) von Tod Browning. 36 R. Sylvan: Traces, S. 10.

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kommen die grotesken Verkleidungen, die wechselnde, durchaus für die Haut unvorteilhafte Ausleuchtung des Settings hinzu, die uns zunächst vielleicht zurückweichen, dann aber genauer hinschauen lassen. Durch ihre Kostümierung und ihre verwunderlichen Handlungen im Clip wollen wir genau hinsehen, um zu verstehen, was dort gezeigt wird, um zu begreifen, warum die Figuren im Clip sind und vor allem, um genau zu erfahren, in welchen Punkten sie von unserer Erwartung abweichen. Von ihnen geht eine Verführungskraft aus, die Bataille in seinem Essay „Les écarts de la Nature“ in „Documents“ beschrieben hat: „Un ‚phénomène‘ de foire quelconque provoque une impression positive d’incongruité agressive, quelque peu comique, mais beaucoup plus génératrice de malaise. Ce malaise est obscurément lié à une séduction profonde.“37 Faszination, aber auch abstoßende Impulse erfahren wir im Anblick der Inszenierung Körperbehinderter in diesem Clip. Das Sakrale geht aus der starken, vielschichtigen Metapher der Fremdbestimmung hervor, die ein Beispiel für die semantische und affektive Dichte der Musikvideos und des in ihnen geführten, verlängerten postkolonialen Diskurses ist.

Masken und Maskierungen Nicht nur Dr. Dre ist mit einem Totenkopf und B-Real als Teufel maskiert, sondern in direkter Weise spielen Masken in Form von Atemschutzmasken, die die anderen Personen des Musikvideos tragen, eine wichtige Rolle. Sie spielen mit der Idee des Verkleidens und Verdeckens des Menschlichen. So können die Atemschutzmasken mit ihren langen Schläuchen und den angeschlossenen Apparaten durchaus als Aufbrechen einer weiteren Leitdifferenz, nämlich der von Mensch und Maschine gelesen werden. Zusammen mit der Sanitäterbinde und den fragil oder beschädigt wirkenden Körpern, sticht die lebensrettende oder lebenserhaltene Funktion der Atemschutzmasken hervor. Die Umwelt aber scheint so giftig, dass sie lebensbedrohend ist. Bataille beschreibt das Gefühl, das Masken und Maskierungen in uns auslösen können: „Nichts ist menschlich in der Welt, die undurchschaubar ist außer in den nackten Gesichtern, den einzigen Fenstern, die in einem Chaos von fremden oder feindlichen Erscheinungen offenstehen. Der Mensch taucht aus seiner unerträglichen Einsamkeit erst in dem Augenblick auf, in dem das Gesicht eines Wesens, das ihm ähnelt, aus der Leere alles Anderen hervortritt. Aber die Maske gibt ihn in eine furchtbarere Einsamkeit zurück; denn ihre Gegenwart bedeutet, dass etwas, das für gewöhnlich Sicherheit gibt, plötzlich mit einer dunklen Absicht zu erschrecken

37 G. Bataille: „Les écarts de la Nature“, in: Documents 1930 (2), S. 79-83, hier S. 79.

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beladen ist, wenn das, was menschlich ist, maskiert wird, gibt es keine Gegenwart mehr außer der Animalität und dem Tod.“38

Abbildung 26: Maskenträger mit Kugel als über das gesamte Video wiederkehrendem Motiv

Wenn wir in die Gesichter von Dr. Dre, B-Real und den anderen Figuren des Clips schauen, dann blicken wir in Masken und mögen erschrecken. In den folgenden Gedanken bezieht sich Bataille auf die sein Denken bestimmende Dichotomie von homogener und heterogener Welt und siedelt die Maske als Schwellenobjekt zwischen beiden an. Die Maske, so schreibt Bataille weiter, sei in der Lage, „auf der Schwelle dieser durchsichtigen und vertrauten Welt der Langeweile als undurchsichtige Fleischwerdung des Chaos zu erscheinen“.39 Über die Animalität und das Chaos, also durch die Hintertür, führt Bataille das Sakrale ein, das mit der Maske Einzug in unsere Welt hält: „[...] eine göttliche Kraft, die aus den Abgründen natürlicher Animalität herkommt, tritt in Erscheinung, wenn sie auftaucht. Regeln und Vorschriften, die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens oder der Natur unterwerfen sich weder die Maske noch die Gottheit.“40 Als „geheiligte Gestalten“41 bezeichnet Bataille die Maskenträger. Sie sind in der Lage, uns und unsere Ordnung auf das Tiefste zu erschüttern. Die körperbehinderten Maskenträger, die sich bekämpfen und dabei ihre Verwundbarkeit in der Blöße ihrer Körper zeigen – sie tragen keine Rüstungen oder anderes zum Schutz –, erzählen uns von einer Welt, die die Individuen schutzlos lässt. Das Musikvideo in seiner unauflöslich widersprüchlichen Symbolik drückt besonders in den körperbehinderten Figuren Chaos und Entgrenzung aus und entfaltet gleichsam ihre sakrale Kraft. Auch das „Erschüttern“ wird ins Material des Musikvideos, in seine Beschaffenheit übertragen. Wenn Dr. Dre in einer Einstellung (Oberkörper) erscheint, beginnt das Kamerabild zu wackeln, als würde die Erde beben. Gegen Ende des Musikvideos

38 G. Bataille: „Masken“, in: Daniel Arasse (Hg.): Bildnisse des Teufels, Berlin 2010, S. 7176, hier S. 71. 39 G. Bataille: Masken, S. 72. 40 Ebd. 41 Ebd.

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(bei 03:10) ist Dr. Dre in einer kraftvollen, wütenden Geste zu sehen und in der nächsten Einstellung fallen Steinchen von der Decke herab. Der Nexus von Erotik, Religion und Tod führt uns mit Bataille immer wieder zurück in den Kern des Sakralen und seiner Erfahrbarkeit. In diesem Musikvideo haben wir es mit Andeutungen eines rauschhaften Festes, bei der die Grenzen zwischen Teufel und Kirchenvertretern aufgehoben werden, und mit der Verschwendung von Geld in Form von durch die Luft wirbelnden Geldscheinen zu tun.42 Der Tod ist in der Maske Dr. Dres präsent, aber auch in den Totenköpfen, die die Allegorie der USA umgeben (siehe Stills weiter unten), in der Pietà-Inszenierung und in den Totenköpfen auf B-Reals und Dr. Dres Spielbrett. Diese Motive in der Bildebene berühren Batailles Themen wie Erotik, Religion und Tod – wenngleich freilich andere Musikvideos gerade den erotischen Bereich viel deutlicher inszenieren. Das Vorhandensein der drei Bereiche, die bei Bataille untrennbar miteinander verwoben sind, fordert eine Untersuchung ihres Zusammenhangs. Über das Fest und die rituelle Orgie schreibt Bataille in „Die Erotik“: „Die Lebendigkeit des Festes wird in der Orgie zu jener überschäumenden Kraft, die in der Regel jede Grenze verleugnet. Das Fest ist an sich eine Verneinung der Schranken des Arbeitslebens, aber die Orgie ist das Zeichen für eine völlige Umkehrung. Es ist kein Zufall, daß bei den Orgien der Saturnalien auch die soziale Ordnung umgekehrt wurde, der Herr den Sklaven bediente, der Sklave sich auf dem Bett des Herrn ausstreckte. Diese Zügellosigkeiten bezogen ihren höchsten Sinn aus dem archaischen Einklang von sinnlicher Wollust und religiöser Entzückung.“43

Und weiter schreibt er, hätten wir „keinen Anlaß, in der Orgie ganz allgemein eine Praxis der Lockerung zu sehen, sondern im Gegenteil ein Moment der Intensität, der Unordnung zwar, aber zugleich des religiösen Fiebers. In der verkehrten Welt des Festes ist die Orgie der Augenblick, in dem die Wahrheit der Kehrseite ihre umstürzende Kraft offenbart. Diese Wahrheit hat die Bedeutung einer unbegrenzten Verschmelzung. Die bacchantische Gewaltsamkeit ist das Maß der entstehenden Erotik, deren Bereich ursprünglich mit der Religion identisch ist.“44

42 Ein Musikvideo des Mainstreams, das eine Orgie inszeniert – ähnlich einem Gruppenporno oder dergleichen – ist natürlich unter gängiger Zensur und Marktpolitik gar nicht denkbar. 43 G. Bataille: Erotik, S. 109. 44 G. Bataille: Erotik, S. 109-110.

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Wir finden in PUPPET MASTER die Ordnung vor allem von Kirche und Religion umgekehrt. Die Rapper sind das Böse in der Person des Teufels und des Zombie-Bischofs und haben Gewalt über Teufelinnen und lüsterne männliche Nonnen sowie über Mensch, Tier und sogar die USA insgesamt. Die kirchlichen Würdenträger schützen nicht vor dem Bösen, sondern erscheinen im Gegenteil korrumpiert und bereits vom Bösen bestimmt. Die Figuren, Symbole und Codes der Kirche sind in ihrer ursprünglichen Bedeutung umgedreht worden. Leicht bekleidete Teufelinnen und Männer in Nonnenkostüm tanzen eng umschlungen oder liegen dicht nebeneinander wie paralysiert von der Musik und den Worten der beiden Rapper. Im Kern der Bereiche Religion und Erotik kommt Bataille immer wieder auf das Sakrale als Erfahrung zurück und die Bildwelten im Musikvideo lassen sich als Sakrales produzierend begreifen. Wie oben eingeleitet dominieren Dr. Dre und B-Real das Musikvideo und die Personen in ihm als Puppenspieler. Die Figur des Zombies, als eine Chiffre der Versklavung, wird um die der Puppenspieler ergänzt.45 Innerhalb eines verlängerten, postkolonialen Diskurses wird das Master-Slave-Verhältnis hier erneut umgedreht und vormalig subalterne Hegemonialität gesprengt. Wer wird also versklavt? In PUPPET MASTER sind vor allem zwei Figuren an Fäden zu sehen: Zum einen begegnet uns jene Figur wieder, die schon im Bild gemeinsam mit dem Seher in Erscheinung getreten ist. Sie trägt hier die Haube der Nonnentracht, nicht aber das Habit. Stattdessen wird ihre Brust durch eine Sanitäterbinde verdeckt und ihre Scham durch einen Schurz in Form eines Tintenfisches – sonst ist sie unbekleidet. Abbildung 27: Eine körperbehinderte Darstellerin als Marionette

Sie blickt an den oberen Bildrand, abwesend und fremdgesteuert als Marionette, mit der gespielt wird. Der Tintenfischschurz überträgt das Schleimige, Kalte und Nasse eines Tintenfisches auf den Genitalbereich und stigmatisiert so Sexualität – und hier vor allem weibliche Sexualität. Unter der Haube der Nonne wird Sexualität zu etwas Animalischem, das gleichzeitig mit Ekel besetzt wird. In dieser Figur drängt sich die Lesart der christlichen Kirche als moralisierende Instanz, die Sexualität stigmatisiert und dabei selbst entartet, geradezu auf. 45 Für eine ausführliche Diskussion des Zombies siehe die Analyse zu BOOM BIDDY BYE BYE im vorhergehenden Kapitel.

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Die zweite Inszenierung einer Marionette finden wir in einer ebenfalls kleinwüchsigen Darstellerin, die in die US-amerikanische Flagge gehüllt ist und das Skelett eines Babys auf ihren Armen hält. Mit ihrem ebenen, porzellanartigen Gesicht und der Haube, die sie trägt, erinnert sie an eine Madonna. Sie hat die Augen die meiste Zeit geschlossen oder aber blickt traurig nach unten. Abbildung 28 und 29: Detailaufnahme Skelett eines Säuglings und eine die US-amerikanische Flagge tragende Marionette

Umgeben von Totenschädeln als Symbolen des Todes ist die Figur die Allegorie der USA, die durch die Ähnlichkeit mit einer Madonnenfigur religiös aufgeladen zur Mutter wird, deren Kinder tot sind. In der Allegorie bleibend hieße dies, die USA kümmern sich nicht um ihre Bürger. Die Sanitäterbinde drückt Versehrtheit aus. Die US-amerikanische Gesellschaft bringt in ihrer Religiosität entstellte und groteske Menschen hervor – es bleibt in diesem Clip nichts mehr übrig vom „American Dream“. Den Lyrics ist bisher wenig Beachtung geschenkt worden, da das Bildmaterial auch abzüglich des ohnehin gegebenen visuellen Paradigmas gerade in diesem Beispiel sehr dominant ist. Die Lyrics stehen ganz im Dienst des „braggadocios“, einer rhetorischen Strategie im Hip-Hop, die Überbietungsfiguren ins Zentrum stellt. Es geht darum, sich selbst als den größten, besten und fähigsten MC darzustellen. Der Definition des Literaturwissenschaftlers Adam Bradley folgend ist „braggadocio“ eine Strategie, sich über andere zu erheben: „While dissing concerns someone else, braggadocio centers on the self. More than just bragging, braggadocio consists of MCs’ verbal elevation of themselves above all others. Like the diss, braggadocio can range from the straightforward [...] to the more ingenious.“46

Diese Strategie, die auf der Bildebene ausreichend nachvollzogen wurde, findet sich in B-Reals und Dr. Dres Lyrics durchgehalten. Ob Dr. Dre rappt „My reputation’s like a Tec-9 / Knock out the best in a circle, three minutes wreck time“ oder B-Real „I took a pull from the blunt, inhaled it / blew the smoke from my lungs into the world of hip-hop“ – sie dominieren ihr Gegenüber, sind sogar allmächtig. Die Musik, die 46 Adam Bradley: Book of Rhymes. The Poetics of Hip Hop, New York 2009, S. 187.

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sie produzieren, bekommt wie schon in BOOM BIDDY BYE BYE eine besondere Macht, die sich der Rezipient/-innen bemächtigt: „Executive order make your time shorter, get your recorder, play it back, puff your chronic sack / Your mind body and soul have been captured, And taken captive, by the motherfuckin puppet masters.“ Der Song hat den in diesem Buch mehrfach erörterten Vergemeinschaftungssinn zum Ziel. Die Rezipient/-innen werden zu Soldaten in der eigenen Sache: „Civilians turn into soldiers by the millions / Assassins, we multiply, by the masses.“ Mit „Assassins“ sind die Anhänger des Künstlerkollektivs Soul Assassins um DJ Muggs gemeint – also auch die Fans. Das Musikvideo inszeniert auf die Frage nach dem Erreichen von Souveränität als eine klassische Antwort das Aufbrechen und subversive Unterwandern vormaliger Herrschaftsverhältnisse sowie die Machtergreifung. Selten konnte ein neues Herrschaftsverhältnis so klar etabliert werden, wie es der Titel „Puppet Master“ ausdrückt. Umgekehrt und auf die US-amerikanische Bevölkerung rückgeschlossen mag diese extreme Hierarchisierung als Umkehrverhältnis für das erhebliche Maß an erfahrener Ohnmacht der Rapper als stellvertretend für Schwarze und Latinos sprechen. Bataille hätte diese Inszenierung jedoch nicht als eine Form echter Souveränität begriffen, worauf Bergfleth hinweist: „Die wirkliche Souveränität bestünde nicht darin, sich selbst zum Herrn zu machen und derart Knecht zu bleiben, sondern in einer Entgrenzung die mit der Knechtschaft zugleich die Herrschaft hinter sich läßt.“47 Kehren wir für einen Moment zur Triebfeder des Hip-Hops zurück. Diese lautet, aus der Marginalisierung heraus in die Wahrnehmung und die Mitte der Gesellschaft zu treten. Christine Matter schreibt, dass das amerikanische Individuum „sich in eine geschichtliche und gesellschaftliche Dynamik hineingezogen [findet; E.S.], die von der Spannung von Ideal und Wirklichkeit lebt, vom Versprechen und seiner in die Zukunft aufgeschobenen Realisierung – vom „American Dream“ und der in ihm symbolisierten Vorstellung, dass das fehlerhafte und unvollständige Kosmion der Gegenwart den perfekten Kosmos bereits in sich enthält – ein Zusammenhang, der von jeder Gegenwart neu „aufzudecken“ ist.“48

Der „Amerikanische Traum“ ist innerweltlich das Heilsversprechen, das Sakrale der US-amerikanischen Gesellschaft, auf das sich hin verschworen wird. Nur finden wir den amerikanischen Traum in diesem (und nicht nur diesem) Musikvideo des HipHops angegriffen und entstellt (die körperbehinderte Marionette, eingewickelt in die US-amerikanische Flagge, ein totes Kind auf ihren Armen wiegend). Als Mythos der

47 G. Bergfleth: Verschwendung, S. 387. 48 Vgl. Christine Matter: New World Horizon. Religion, Moderne und amerikanische Individualität, Bielefeld 2007, S. 232-233.

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US-amerikanischen Nation ist der vereinende amerikanische Traum zu einem linken sakralen Objekt geworden, also von rechts nach links gewandert. Hier zeigt sich das linke, sprengende und zerstörerische Sakrale.49 Als Puppenspieler oder Strippenzieher (im Englischen in „master“ noch viel eindrücklicher) wird die Tragweite des Ausdrucks deutlich. In einem postkolonialen Diskurs und selbst in der Gegenwart in den USA beziehen die Rapper sich aus der subalternen Position heraus auf die Master-Erzählung. Sie nehmen durch die Mimikrystrategie als Teil der Signifyin(g)-Praxis und durch die Inkarnation des Teufels die Rolle der Master oder der Dominierenden ein und drehen das Machtverhältnis um. Der nicht mehr als Schutz vor dem Teufel, sondern als dessen Verbündeter fungierende Bischof spricht klar davon, dass es keine eindeutige Seite des „Guten“ mehr in diesem Musikvideo gibt. Christliche Religion, vorhanden in Form ikonografischer Anspielungen, funktioniert nicht als religiöse Bezugsgröße, auf die sich als stützende Kraft zurückfallen gelassen wird. Die Brüchigkeit der Anspielungen, ihre Uneindeutigkeit oder ihr „Gleiten“ zeigt, dass sie in einen größeren, nicht- und vielleicht sogar vor-religiösen Rahmen zu stellen sind. Die Anleihen an christlichen Insignien und christlicher Ikonografie tragen noch immer Sakrales, das vormals religiös gebunden war, in diesem Clip jedoch als Sakrales freigesetzt worden ist. Die religiösen Stoffe werden transformiert, von ihrem ordnenden, heilbringenden Charakter befreit und in ihrer Sakralität im Musikvideo eingesetzt, um hegemoniale Machtstrukturen zu erodieren. In seinen Inszenierungen in den miteinander verwobenen Bereichen der Erotik, der Religion und des Todes desavouiert das Sakrale institutionalisierte Religion. Das Musikvideo zeigt Anderssein und Exkludiertsein als Schlüsselmomente der Selbsterfahrung, die hier wütend und kraftvoll gegen Autorität gewendet werden, indem immer wieder ausgerufen wird: „I pull your strings, I’m the master“. Dr. Dre und B-Real als repräsentativ für Schwarze bzw. Latinos in den USA dominieren erniedrigte und als degeneriert dargestellte Körperbehinderte. Bei allem ästhetischen Anspruch darf nicht verkannt werden, dass auch hier eine Hierarchisierung inszeniert wird, die nicht einfach zutiefst unethisch ist, sondern auch unsere Begehrensstrukturen und unsere Ansprüche als hegemonial und unethisch entlarvt.

49 Vgl. C. Marroquín: Religionstheorie, S. 98.

MONSTER – Die Sakralität des Anderen

Das Musikvideo MONSTER des Rappers und Produzenten Kanye West zeigt in den letzten 20 Sekunden die biblische Verkündigungsszene, in der der Engel Gabriel Maria von der bevorstehenden Geburt Jesu berichtet. Erneut wird in einem Hip-HopMusikvideo christliche Ikonografie zitiert. In einem Clip, in dem eine gewaltverherrlichende Bildsprache dominiert, in dem Frauen ermordet, Leichen geschändet werden und Monster wüten, wirkt diese auch musikalisch abgesetzte Schlusssequenz befremdlich oder bezugslos. Entscheidend an der Sequenz, die ein Relief zeigt, das an das Cavalcanti-Tabernakel erinnert, ist ein Detail: Der steinernen Maria fehlt der Kopf. Anstatt diese Szene isoliert zu betrachten oder sie gar nicht in die Analyse einzubeziehen1, wird eine Spur des Sakralen durch den gesamten Clip bis hin zur Verkündigungsszene aufgedeckt. Es lassen sich im Clip Zeichen der Bataille’schen Verausgabung, seine Denkfiguren zu Opfer und Überschuss beschreiben, die die Gesamtästhetik des Musikvideos bestimmen Mit der Sakraltheorie Batailles wird die christliche Ikonografie verständlich und nicht wieder zurück in einen religiösen und Halt gebenden Rahmen gestellt. Der Track „Monster“ erschien auf dem 2010 veröffentlichten Konzeptalbum „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“, das in den US-amerikanischen Leitmedien des Musikjournalismus größtenteils sehr gute Kritiken2 bekommen und sich im Jahr seines

1

Ein Beispiel für einen kursorischen Blick auf einzelne, isolierte Szenen von MONSTER bietet der Aufsatz „Afrofuturism. The Digital Turn and the Visual Art of Kanye West“, in dem der Wert von Kanye Wests Arbeiten für das Selbstverständnis afroamerikanischer Identität untersucht wird. Dabei fällt u.a. die Abschlusssequenz mit der Verkündigungsszene heraus. Die Musik spielt in der Analyse keine Rolle. Reynaldo Anderson und John Jennings: „Afrofuturism. The Digital Turn and the Visual Art of Kanye West“, in: Julius Bailey (Hg.): The Cultural Impact of Kanye West, New York 2014, S. 29-44, siehe hier besonders S. 41-42.

2

U.a. sehr positive Kritiken im Rolling Stone, im Guardian und bei All Music. Auch die Tageszeitungen in den USA nahmen das Album positiv auf, darunter die Washington Post,

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Erscheinens 1.378.000-mal allein in den USA verkauft hat.3 Kanye West arbeitet in MONSTER mit seinem Entdecker, dem Hip-Hop-Mogul Jay Z, zusammen.4 Weitere Künstler/-innen in Song und Video sind Nicki Minaj und Rick Ross. Das Musikvideo5 wurde von dem britischen Regisseur Jake Nava gedreht. Nava ist vor allem für seine Musikvideos für Beyoncé und für Werbefilme für Marken wie Pepsi, Armani oder Puma bekannt. Besonders seine Arbeiten für eine sich selbst behauptende, in manchen Clips gar feministisch auftretende und unerreicht erfolgreiche Künstlerin wie Beyoncé stehen in scharfem Kontrast zu MONSTER, das aufgrund von Beschwerden, es sei in seiner Darstellung sexistisch, nicht mehr auf MTV ausgestrahlt wird.6

„Are you willing to sacrifice your life?“ MONSTER eröffnet in den ersten Sekunden einen Imaginationsraum des Unheimlichen und Drohenden. Aus der Dunkelheit heraus öffnet sich das Video mit einem Blick auf eine an einem Strick von der Decke hängende junge und äußerlich gänzlich unversehrte, nicht entstellte und wie vom Tod unangetastete und doch als tot markierte Frau. Nebelschwaden steigen auf, während der Frauenkörper leicht hin und her schaukelt. Das Unheimliche wird durch das gesamte Setting des Clips evoziert. So befinden wir uns auf einem Schloss, abgeschottet und außerhalb von Zivilisation, es ist Nacht, der Vollmond scheint, von außen schlagen Zombies gegen die Scheiben und im Schloss finden Tabubrüche in Form von Leichenfledderei und Mord statt. Das Unheimliche ist nach Bhabha neben der in der vorherigen Analyse diskutierten Mimikry eine weitere Kategorie und seine Inszenierung eine Strategie der Differenzmarkierung. Für ein Musikvideo ist dieses Setting zutiefst verunsichernd, weil nicht

SF Gate, Boston Globe. Die NY Times ist mit ihrer durchwachsenen Kritik eine deutliche Ausnahme. 3

http://www.kanyetothe.com/forum/index.php?topic=358972.0 vom 16.08.2016.

4

Auf die Zusammenarbeit von Jay Z und Kanye West in „Monster“ folgte ein gemeinsames Studioalbum „Watch the Throne“, aus dem die Singleauskopplungen „H•A•M“, „Otis“, „Lift Off“, „Niggas in Paris“, „Why I Love You“, „Gotta Have It“ und „No Church in the Wild“ veröffentlicht wurden. Zu „Otis“, „Niggas in Paris“ und „No Church in the Wild“ wurde jeweils ein offizielles Musikvideo gedreht.

5

Der Analyse wurde folgende Version zugrunde gelegt: http://www.dailymotion.com/

6

Vgl. http://www.essence.com/2011/03/06/kanye-west-monster-video-banned-on-mtv-

video/xj4gln_monster_webcam vom 06.11.2016. nicki-minaj-rick-ross-jayz/ vom 16.08.2016.

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zur üblichen Musikvideosprache der Hip-Hop-Kultur gehörig. Im Setting des Unheimlichen begegnen uns als Rezipient/-innen die Anderen, die nicht eindeutig einzuordnenden, die Monster, die nicht menschlich und doch Menschen sind. Im Sinne Bhabhas sind wir Rezipient/-innen diejenigen, die die Anderen definieren (und umgekehrt).7 Das Monstersein im Clip wird so möglich als Lesart des stereotypisierten Anderen, hier des Schwarzen, wie weiter unten ausgeführt wird. Die den Clip beherrschende Atmosphäre des Unheimlichen ist ein inszenatorisches Mittel zur Markierung von Differenz, das hier auch einen besonderen Unterschied zu anderen HipHop-Clips markiert, die in der Regel das Nachtleben mit exzessiven Partys inszenieren und die alles andere als in diesem Sinne unheimlich sind.8 Die stark verzerrte und verfremdete Stimme des Sängers Bon Iver erklingt, die lasziv und bedrohlich singt: „I shoot the lights out, hide til it’s bright out, woah, just another lonely night, are you willing to sacrifice your life?“ Seine Stimme, die mehr durch die technische Verzerrung und das Layern der Stimme als durch das gekonnte Singen Bon Ivers die Tonart G-Dur zu erkennen gibt, klingt wenig menschlich, wie es der Titel des Tracks auch vermuten lässt. Die sich leicht bewegenden, unberührten Frauenkörper sind nur wenig bekleidet, auffallend erotisiert geschminkt und haben Highheels an den Füßen. Sie sind auch im Tod noch Objekte männlicher Fantasien. Schaut man weiter auf den in einem üppig verzierten Stuhl thronenden, in roten Brokat und einen Anzug gekleideten Rick Ross, scheinen sie nur Staffage zu sein; in jeder Hinsicht sind sie stumme Zeugen und Opfer von Morden und lassen sich durch nichts als den Strick und das Herabhängen als tot identifizieren – keine Male, keine Flecken, kein rotes, aufgedunsenes Gesicht, wie ein Tod durch Ersticken sie hervorgebracht hätte.9 Zugleich sind die hängenden Frauen im Zeichendickicht des Musikvideos auch lesbar als Zeitzeugen: Sie erinnern an die Lynchjustiz gegenüber der afroamerikanischen Bevölkerung, an die unter dem Terminus „Lynching“ praktizierten systematischen Einschüchterungen, Verfolgungen und Ermordungen von Afroamerikanern durch Organisationen der „White supremacy“ wie zum Beispiel des Ku-Klux-Klans.

7

Bhabha „[...] betont, dass Identifikationen oder Subjektkonstruktionen nur durch die Interdependenz mit dem Anderen funktionieren, sich sogar nur durch den Anderen komplettieren können.“ K. Struve: Einleitung, S. 133.

8

Das Musikvideo ist insofern erneut genreabweichend. Ein weiteres Musikvideo, dass das Unheimliche als unbekannten, dunklen Ort inszeniert und auch im gesungenen Chorus und das Flüstern im Intro hörbar macht, ist der Clip „Zoom“ von Dr. Dre und LL Cool J. Natürlich ist in MONSTER immer auch eine Referenz an Michael Jacksons THRILLER zu lesen.

9

Die Inszenierung von Frauen und ihrer Körperlichkeit wird die Analyse an verschiedenen Stellen ausführlicher beschäftigen.

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Dass hier nun (mehrheitlich) Weiße Frauen hängen und, mit Bataille gesprochen, geopfert wurden, um die Schwarzen Rapper zu erhöhen, ist ein symbolischer Akt des Aneignens (und Abwehrens) der ursprünglich gegen Afroamerikaner gerichteten Praxis und deren Traumata. Dass es schöne Frauen in Unterwäsche sind, die hier hängen, fügt sich dennoch auch nahtlos in den männlich-heterosexuellen Blick, der das gesamte Video konstituiert, und bekräftigt die weiterzuentwickelnde These, dass sich in diesem Musikvideo männliche Überhöhung durch weibliche Erniedrigung vollzieht – dass Sakrales hier eng an zu stellende Genderfragen geknüpft erscheint. Doch zunächst befinden wir uns als Rezipient/-innen noch in den Zeilen Bon Ivers, gefangen in dessen langgestreckten Worten und überrascht von den unrhythmischen, da zu kurzen Pausen des Viervierteltaktes, zwischen denen Iver uns fragt: Bist du gewillt, dein Leben zu opfern? Als Aufforderung der totalen Hingabe an das, was in Song und Clip folgt, wenn der Beat einsetzt, zielt diese Frage auf das Opfer im Tod und damit auf den äußersten Fluchtpunkt innerhalb von Batailles Sakraltheorie. Der immer in Diskontinuität lebende Mensch sehnt sich nach Kontinuität, die er, so eine grundlegende Überzeugung Batailles, letztendlich nur im Äußersten, im Tod oder im Todesbewusstsein findet. Wie im Theorieteil zu Batailles Band „Die Erotik“ ausgeführt, findet der Tod an der Seite von Liebe, Sex und Erotik seinen Platz, da es in allen Bereichen und Formen um die Entgrenzung und das Opfern des Ichs oder des Körpers geht. Auch ohne die direkte sprachliche Aufforderung im Intro, unser Leben opfern zu wollen, entfaltet sich das Musikvideo zu einer Opferung der Körper, zu einer orgiastischen Inszenierung von Grenzüberschreitungen par excellence. Die einleitende Frage Bon Ivers, sadistisch-genüsslich gestellt, findet ihren Höhepunkt in einem an die letzte Silbe anschließenden Urschrei, den eine mit Hörnern und Knochenvorwölbungen maskierte Frau im Video „ausführt“ – „ausführt“, weil der Schrei technisch natürlich nicht von ihr stammen muss, sondern auf verschiedene Arten tontechnisch produziert worden sein kann. An der ästhetischen Produktion dieses Urschreis, zu dem das weibliche Monster eine furchteinflößende Grimasse zieht, ist zu bemerken, dass der Schrei exakt zwei Oktaven über dem letzten Ton des Gesangs liegt, soll heißen, es findet ein extremer Sprung von e zu e'' statt. Der wilde, freie und animalische Schrei ist fein säuberlich auf den Gesang gestimmt – ein Faktum, das eine wie auch immer geartete Wildheit oder Animalität als perfekt inszeniert ausweist und damit relativiert. Von diesem Schrei gelingt der Fall auf den Vers von Rick Ross und den einsetzenden Beat des Songs.10 West, Jay Z, Ross und Nicki Minaj

10 West sagt über Twitter, dass den „tribal voices“ besondere produktionstechnische Aufmerksamkeit zuteilwurde und er dafür extra den Produzenten Benjamin Bronfman engagiert hat. West zeigte sich sehr zufrieden mit dem Resultat. „Yet another collaborator on the track is M.I.A.’s producer husband Benjamin Bronfman, whom Kanye thanked via

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rappen davon, selbst Monster zu sein, brüsten sich damit, derweil die männlichen Rapper in feinste Zeichen der Zivilisation gekleidet sind und die meisten anderen Figuren im Clip als nicht-menschliche Kreaturen erscheinen.

Schwarze Identität: Monster-Werden und Monster-Sein MONSTER thematisiert durch sein Sujet, nämlich das Monstersein und Monsterwerden, schon im Titel und sehr grundsätzlich eine Identitätsfrage: So ruft Kanye West (genauso wie Mitstreiter Jay Z und Nicki Minaj) im Song immer wieder „I’m a motherfucking monster“ und gibt sich selbst eine Identität, die jedoch wie von Dritten zugeschrieben wirkt. Als Monster geschminkt und verkleidet sind die anderen Personen im Clip. Zum einen sind das die Fans der Künstler/-innen, die in Massen ihre Gesichter von Außen an die Scheibe drücken und dabei als Untote oder Zombies inszeniert sind. Auch die Frauen, die in einer langen Sequenz mit ihren Händen nach Wests Körper greifen, zeigen in der Szene tierische Augen (Kontaktlinsen) und verhalten sich ebenso animalisch, sind also mehr Monster, als es bei West den Anschein hat. Dass eine Frage nach Identität sich für US-amerikanische Hip-Hop-Musikvideos besonders deutlich stellt, wurde von Tricia Rose schon 1994 betont, indem sie als die zwei wichtigsten Themen des Hip-Hops „identity and location“11 nennt. Als Zeugnisse einer Identitätssuche und gleichsam -stiftung wurden die vielen Straßenschilder und -züge, die Ghettos, Park- und Spielplätze in den Musikvideos gelesen. Als Ausdruck veränderter sozialer Verortung sind die ab Mitte der 90er mehrheitlich nur mit viel Geld zugänglichen Orte in den Musikvideos zu betrachten, die als extreme Gegenpole zum Ghetto der Anfangstage entworfen wurden. So ist es auch in MONSTER: Wir befinden uns in einer Burg oder einem Schloss – ein Ort, den man in der Regel nur mit einer großen Menge Geld mieten oder kaufen kann. Das Schloss dient den Rappern als Zufluchtsort immer noch am Rand der Gesellschaft, im Versteckten. Statt der Stereotype eines früheren Hip-Hops, wie dem Gangsta oder Thug, erscheinen die Rapper als „Andere“, nämlich als gut gekleidete und zivilisierte „Monster“. Im Clip gibt es zudem noch andere Arten von vor allem weiblichen Monstern, die sich durch ihre maskenbildnerischen Abweichungen vom durchschnittlichen Menschen auf Anhieb unterscheiden. Sie haben kleine Hörner im Gesicht, Reißzähne

Twitter: „The tribal voices [on „Monster“] are so amazing.“ Becky Bain: „Kanye West And Jay-Z’s “Monster” Track Features Nicki Minaj, Rick Ross & Bon Iver“, http://www.idolator.com/5609121/kanye-west-jay-z-nicki-minaj-monster vom 16.08.2016. 11 T. Rose: Black Noise, S. 10.

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und auch als unverkennbar weibliche Monstergestalten Haare auf der Brust, sodass nicht nur die Leitdifferenz Mensch-Tier hier ausgelotet wird, sondern auch an der Mann-Frau-Differenz gerüttelt wird – wenngleich wohl dosiert als Spielart des „wilden Weiblichen“. Ferner bekommen wir im Musikvideo zwei weibliche Monster zu sehen, die mit blutverschmierten Mündern über einem jungen Mann kauern. Wir sehen weiter eine Frau, die einen leblosen Mann hinter sich herschleift, und ein siamesisches Zwillingspaar sowie einen Mann, der aufgrund extremer Flexibilität in den Gelenken Verrenkungen mit seinen Gliedmaßen machen kann, die weit außerhalb jeder Norm liegen. Abbildungen 30 bis 32: Animalisierte und mordende Frauen

Abbildung 33: Körperliche Besonderheiten als Abweichung von der Norm

Zu guter Letzt widmen wir uns den Personen, die von sich behaupten, Monster zu sein, aber dabei höchst menschlich und im Code der Zivilisation, nämlich in Anzug und Krawatte, daherkommen. Die Szenen jedoch zeigen sie immer in unmittelbarer Nähe von toten Frauen(körpern).

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Abbildung 34 und 35: Rick Ross und Jay Z

Rick Ross ist umgeben von aufgehängten Frauen und hinter Jay Z hat sich zwischen Sofakissen ein toter Frauenkörper „versteckt“

Diese Szenen lassen sich auch auf ironische Weise interpretieren: Allein die Szene, in der Jay Z im Anzug, die Hände in den Hosentaschen, in die Kamera blickt und rappt, während im Hintergrund ein Frauenkörper zwischen Sofa und Sitzkissen verstaut zu sehen ist, scheint Misogynie und Sexismus zu deutlich auszubuchstabieren. Es ist ein bisschen so, als würde uns das Musikvideo sagen: „Klar sind wir als Rapper frauenfeindlich, klar sind wir die Monster, als die uns der Diskurs immer schon bezeichnet hat.“12 Dazu passt, dass West im Zentrum der Begierde und des „gossips“ gleichermaßen steht: Er rappt: „Gossip, gossip, nigga just stop it, everybody knows I’m a motherfucking monster.“ Eine mögliche Lesart des Videos wäre, es als Inszenierung dessen, was ihm Verwerfliches oder „Monsterhaftes“ nachgesagt wird, zu lesen.13 Dies geht über die persönliche Ebene hinaus, wenn im Clip zum Beispiel an 12 Auf die Zuschauer/-innen als Monster weisen auch Anderson und Jennings in ihrem Aufsatz hin: R. Anderson/J. Jennings: Afrofuturism, S. 41, auf den weiter unten detaillierter eingegangen wird. 13 Die produktionsästhetische Betrachtung verlassend soll der „gossip“ kurz kontextualisiert werden. Es muss nicht erst die vielfache Lyrics-Exegese im Internet darauf hinweisen, auch die Nachrichten sind immer wieder voll von Wests vermeintlichen Eskapaden oder der political correctness, die er vermissen lässt. 2009, bevor MONSTER oder das Album „My beautiful dark twisted fantasy“ veröffentlicht wurden, waren die Medien voll von Berichten über Kanye Wests verbalen Angriff auf Taylor Swifts Auszeichnung bei den MTV Music Video Awards. Er hatte ihr während ihrer Dankesrede auf der Bühne das Mikrofon entrissen und verkündet, Beyoncé habe eines der besten Videos aller Zeiten produziert und den Award verdient. Unter anderem dieser Auftritt hat ihm viel negative Presse eingebracht, und sein Verhalten war vielfach kritisiert worden – schon von Beyoncé selbst, indem sie später Taylor Swift erneut auf die Bühne holte, um ihre Rede beenden zu können. Kanye Wests Verhältnis zur Öffentlichkeit und zu den Medien ist schon lange ein schwieriges und lässt Beobachter und Fans seine Texte auch dahingehend interpretieren. Als jüngeres Beispiel eines angespannten Verhältnisses zwischen Kanye West und der Berichterstattung wäre das „wheelchair misunderstanding“ anzuführen. Bei einem Konzert in Sydney hatte

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das Stereotyp des Schwarzen Vergewaltigers erinnert wird, das oben im Verweis auf das Lynching schon erwähnt wurde und auf das weiter unten ausführlich eingegangen wird. In MONSTER wünscht West also, dass das Gerede über ihn und seine vermeintliche Schlechtigkeit aufhört – nicht, weil er ausdrückt, sich missverstanden zu fühlen, sondern weil ohnehin jedem klar sei, dass er ein Monster ist. Das Musikvideo wird so lesbar als eine Replik, in der er inszeniert, was andere ihm unterstellen. Medial auf sich aufmerksam machte Kanye West nicht nur dadurch, missverstanden zu sein, sondern auch dadurch, mit mangelnder Anerkennung nicht umgehen zu können: Im Jahr seines Debüts verließ er wütend die VMAs, bei denen er leer ausgegangen war, und sagte der Presse: „I felt like I was definitely robbed. [...] I was the best new artist this year.“14 Der Künstler ist also seit Langem – wahrscheinlich zu Recht – bekannt dafür, ein großes Ego und demnach ein großes Anerkennungsbedürfnis zu haben. Ein Anerkennungsbedürfnis ist auch in MONSTER Thema, wenn Kanye im Chorus wiederholt rappt: „I’m-a need to see your fucking hands at the concert“. Produktionsästhetisch wird das Verlangen nach Aufmerksamkeit oder die wechselseitig schier grenzenlose Begierde zwischen Fans und Kanye ebenfalls hörbar: Immer wieder wird ein etwa zweisekündiges Sample vom Jubel der Massen in den Song gespielt, zuerst hörbar bei 00:36. Gerade in der Hip-Hop-Kultur, in der verbale Prügel in Rapsongs nicht selten in der Wirklichkeit körperlich ausagiert werden, also zumindest der Schein erweckt wird, ein Leben zu führen, wie die Raps es beschwören, ist ein Vergleich zwischen Künstler/-innen und „lyrischem Ich“ oder den jeweiligen im Musikvideo gespielten Alter Egos erlaubt – und notwendig. Theoretisch untermauert wird dieser Schritt mit Cheryl Keyes’ Herleitung in ihrem Kapitel „Visualizing Beats and Rhymes“, in dem sie Jean Beaudrillards „hyperreal“ auf Gangsta-Rap-Videos bezieht. Unter Bezugnahme auf Boyd liest sie die Grenze zwischen Fiktionalität und Non-Fiktionalität

West seine Performance erst weiterführen wollen, wenn auch wirklich der Letzte/die Letzte im Publikum aufgestanden wäre, „unless you got a handicap pass“, wie er sagte. Durch die Medien ging daraufhin, dass Kanye von zwei Rollstuhlfahrern verlangt habe, bei seinem Konzert aufzustehen. Wests mehr als ungeschickter Aufruf wurde in den Medien als diskriminierend von verschiedenen Verbänden von Menschen mit Behinderungen kritisiert und sehr breit diskutiert. Siehe zum Beispiel Kathleen Hawkins, „Kanye West tells wheelchair-user to stand up“, http://www.bbc.com/news/blogs-ouch-29203790 vom 16.08.2016. 14 Topher Gauk-Roger: „Kanye West fires back over wheelchair incident“, http://edition.cnn.com/2014/09/16/showbiz/celebrity-news-gossip/kanye-west-concert-controversy-response/ vom 16.08.2016.

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analog zu Beaudrillards „Realem und Imaginärem“ als ausgelöscht in den Musikvideos dieses Genres. Als Beispiele führt sie die juristischen Auseinandersetzungen von Tupac, Snoop Doog und Jay Z an, die von den Medien öffentlich gemacht worden seien und von den Künstlern in ihren Musikvideos instrumentalisiert und kommentiert werden. In der so erreichten Hyperrealität der Musikvideos sei es möglich, dass die Clips die Aufmerksamkeit von realen Geschehnissen abziehen.15 Weiter soll hier darauf verwiesen sein, dass eine „neue“ Wirklichkeit etabliert wird, die in der Medienwelt für die Zuschauer/-innen und gerade für den Fan mehr (Hyper)-Validität hat als die Nachrichten. Wenngleich Grenzen hier sicher nicht „ausgelöscht“ werden, wie Keyes es formuliert, sondern eher verwischt werden oder mit ihnen gespielt wird, so findet sich hier doch ein aus der Tradition der Hip-Hop-Kultur heraus erwachsenes Argument für die Herstellung von Bezügen zwischen Hip-Hop-Künstler/-innen in den Medien außerhalb ihrer eigenen, musikalischen und visuellen Repräsentationen und innerhalb dieser. Die Interpretation der Frauenkörper als Mittel zum Zweck, als ironisierender Umgang mit den Unterstellungen und Beschuldigungen in der öffentlichen Wahrnehmung lässt die Strategien des Musikvideos nicht weniger objektifizierend und sexistisch sein. Jede wie auch immer geartete Überlegenheit der männlichen Rapper – sei es gegenüber dem Gerede, der öffentlichen Meinung über sie oder in einem raceDiskurs ihre Hautfarbe und die empfundene Unterlegenheit überwindend – wird im Clip fortwährend über die Erniedrigung der Frau konstruiert. Es begegnen uns gehäuft Frauen, die tot inszeniert sind, ihre leblosen Körper ausgestellt und erotisiert, oder solche, die als Monster morden und wüten. Die Bilder des Musikvideos sind zu flüchtig, zu flexibel und die Zusammenhänge zu durchlässig, um nur eine Interpretation zu ermöglichen. Überdies ist gerade das Kennzeichen von Ironie Uneindeutigkeit, und diese macht eine eindeutige Aussage hinsichtlich der Ironie in der Inszenierung der Frauenfiguren im Clip noch schwieriger. Die Einblendung zu Beginn des Clips, die uns darauf hinweist, dass nichts von den folgenden Bildern als „frauenfeindlich“ interpretiert werden solle16 – alleine die Formulierung lässt am mündigen Betrachter zweifeln und an dem, was die Musikvideomacher über ihre Zuschauer/innen denken – nimmt dem Eindruck der Bilder nichts. Wir sehen Frauen entweder als Monster, meist jedoch als leblose Objekte absoluter Verfügbarkeit. Sie haben durch ihre Leblosigkeit und ihre ästhetische Aufbereitung einen Großteil an Individualität eingebüßt und scheinen für das weibliche Opfer per se einzustehen. Sie sind einerseits zur Heiligung ihres Selbst – und zwar ihrer Körper und ihrer sexuellen

15 Vgl. Cheryl L. Keyes: Rap Music and Street Consciousness, Urbana 2002, S. 215. 16 Es heißt dort: „The following content is in no way to be interpreted as misogynistic or negative towards any groups of people. It is an art piece and it shall be taken as such.“

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Verfügbarkeit – geopfert, mehr noch zur Überhöhung derjenigen, die sie opfern. Für die Täter werden sie zu Insignien der Macht. Zunächst zu den weiblichen, maskenbildnerisch verwandelten Monstern, die tanzen, sich räkeln und schreien: Monster sind per se grenzüberschreitende Figuren, da sie das Menschliche überschreiten, meist und in dem Clip besonders hin zum Animalischen und Wilden. Bataille hat sich in zwei Aufsätzen dem grenzüberschreitend Menschlichen gewidmet. Der Aufsatz „Die Abweichungen der Natur“, 1930 in „Documents“ erschienen, behandelt die natürlichen, physischen Veränderungen, die wir als nicht normal bezeichnen würden, und stellt die These auf, wir behaupteten anhand dieser Abweichungen lediglich eine konstruierte Norm, die es gar nicht gibt. Der zweite Aufsatz „Masken“ behandelt essayistisch-philosophisch die Funktionen von Masken als Vehikel und Zeichen der Grenzüberschreitung, deren Aufgabe es sei, Menschliches zu maskieren: „[...] wenn das, was menschlich ist, maskiert wird, gibt es keine Gegenwart mehr außer der Animalität und den Tod.“17 Bataille schreibt weiter von den durch Maskierung entstehenden „geheiligten Gestalten“18, die den Alltag und die Normalität zerstörten und eine „göttliche Kraft“ mobilisierten.19 Der frappierende Unterschied zwischen denjenigen, die behaupten, Monster zu sein, und denen, die tatsächlich als solche erscheinen, weist auf einen Grundcharakter dieses Musikvideos hin: Das relative Unbeteiligtsein der Rapper und das Sich-Schmücken mit den Opfern, die sie und ihre Produzenten sowie Regisseur Jake Nava erschaffen haben (lassen). Sie sind nie mit Monstern im Bild, sondern immer nur mit den Opfern – mit den Objekten der Heiligkeit in Batailles Sakralsoziologie. Abbildung 36 und 37: Siamesische Zwillinge im Video und bei Bataille

Still aus MONSTER mit „siamesischen Zwillingen“ durch Videobearbeitung in der Postproduktion erschaffen und in einer Zeichnung, die Bataille in seinem Aufsatz „Les écarts de la nature“ in: Documents 2 (2, 1930), S. 81, verwendet hat.

17 G. Bataille: Masken, S. 71. 18 Ebd., S. 73. 19 Ebd.

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Die siamesischen Zwillinge, die keine sind, sondern in der Postproduktion erschaffen wurden, finden in Batailles Aufsatz über die Abweichungen der Natur eine erstaunliche Entsprechung. In den „Documents“ hat Bataille zwei Zeichnungen aus dem 17. Jahrhundert zur Illustration gewählt, die an Kopf bzw. an Kopf und Rumpf zusammengewachsene siamesische Zwillinge zeigen. Das eigentlich Spannende ist Batailles Argumentation, die das Musikvideo beinah als ein Plädoyer für Individualität lesen lässt. Bataille bricht nämlich eine Lanze für alle „Abweichungen“, seien diese doch ein Zeichen für eine schützenswerte Individualität. Letztlich hat ein jeder eine graduelle Abweichung. Addiert man die Abweichungen aller und teilt sie wieder, ergibt sich eine Norm, die ein imaginäres Konstrukt der Durchschnittlichkeit sei. Monster, so überlegt Bataille, seien nur deutlichere Abweichungen und damit in einer Linie mit jedem Menschen: „Les monstres seraient ainsi situés dialectiquement à l’opposé de la régularité géometrique, au même titre que les formes individuelles, mais d’une façon irreducible.“20 Im Musikvideo sind die Zwillinge ausschließlich Ausstellungsobjekte, die passiv auf der Couch sitzen und vom Kamera-Zoom immer näher betrachtet werden. Sie zeigen wie der Körperkünstler, der in einem Flur turnt und immer wieder eingeblendet wird, körperliche Besonderheiten. Sie sind viel passiver und geradezu friedfertig verglichen mit den Gestalten, die als Monster zu beschreiben sind und die ihre Klauen wetzen oder ihre Reißzähne zeigen. Beide stehen für das Ausloten von körperlichen Grenzen und für eine Entgrenzung: Bei den Zwillingen sind die normalerweise vorhandenen Grenzen überschritten und verschmolzen, bei dem Körperkünstler wird die Grenze der menschlichen Beweglichkeit exzessiv ausgereizt. Die Grenzen zur Animalität oder zum Nicht-Menschlichen und Monsterhaften sind fließend, wie auch Bataille sie beschreibt. Die übergreifenden Funktionsäquivalente der Sakralsoziologie des Collège de Sociologie und der Musikvideos sind damit einmal mehr jene des Überschusses, der Entgrenzung sowie der Opferung. Auch Jay Z wird mit einer toten Frau im Musikvideo inszeniert. In langen Closeups wird er gezeigt, jedoch unterbrochen von langen, ganz langsam näherzoomenden Detail-Einstellungen auf Körperteile einer auf und teils unter einem Sofa liegenden fast nackten Frauenleiche. Im Video wird die Leiche durch den Blick der Kamera, durch voyeuristische Blicke auf ihre leblose Hand mit lackierten Fingernägeln, ihre rote Stilettos tragenden Füße und ihren weit geöffneten Mund fragmentiert. Zum anderen wird sie mit diesen drei Detail-Einstellungen auf gepflegte, mit rotem Nagellack erotisierte Hände, der ebenso einer expressiven Weiblichkeit Ausdruck verleihenden Schuhwahl und dem lasziv geöffneten Mund eindeutig sexualisiert. Sie ist

20 G. Bataille: Les écarts, S. 82. Vgl. auch den Aufsatz von Dawn Ades: „Beaux-Artes“, in: Dawn Ades und Simon Baker (Hg.): Undercover Surrealism: Georges Bataille and Documents (Ausstellungskatalog), London 2006, S. 51-57, hier S. 57.

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durch schwere, steife, auf ihr liegende Sitzteile des Sofas nur teilweise bedeckt und den Blicken durch die Kamera ausgeliefert. Bataille habe mit den Studien von Körperteilen eine „Umwertung anatomischer Bestände und Proportionen und ihrer moralischen Innenbestände“21 beabsichtigt, schreibt Annette Bitsch in ihrem Artikel über Batailles Beiträge zu den „Documents“. Die Studien des Musikvideos verfolgen in ihrer Beschränkung auf den weiblichen Körper und die expressive sexuelle Verfügbarkeit der Frau anscheinend ein anderes Ziel, nämlich die Frau mit Blicken auszuweiden und ihre Verfügbarkeit noch im Tod zu erhalten. Umgewertet wird die Inszenierung von Frauen nicht. Der langsame, kaum merkliche Zoom auf ihren geöffneten Mund hin wirkt wie ein Beinahe-Eindringen in den Körper der Frau. Ihre in einem Close-up erkennbaren, weit aufgerissenen Augen lassen den Mund wie zum Schrei geöffnet erscheinen. Doch ihr Schrei ist ein stummer. Sehr schön kontrastiert wird diese Aufnahme durch das Detail auf Kanye Wests sehr lebendigen, weil rappenden Mund, der einen „grill“22, den Ausweis protzigen Neureichtums, auf der unteren Zahnreihe offenbart – ein Detail, das wir zu diesem Zeitpunkt schon kennen, weil es etwa eine Minute eher im Video erscheint. Der Zugang zu seinem Körper ist den Blicken der Zuschauer/-innen verwehrt. Im „Kritischen Wörterbuch“, einem Teil der „Documents“, hat Bataille den Mund als animalisches Überbleibsel am zivilisierten Menschen beschrieben23 oder wie Annette Bitsch formuliert: „[D]er Mensch wird von seiner horizontalen, bestialischen, tierischen Vergangenheit eingeholt und überrannt. In der Sekunde mächtiger emotionaler Erschütterungen reisst er kataplektisch den Mund auf und nimmt eine tierische Stellung ein: Kopf im Nacken, Mund nach vorne, Rücksturz in frühe vorsokratische Reiche.“24

Animalisierung in diesem Musikvideo lässt sich – wie die Beschreibung als Monster – als eine Strategie der Sakralisierung im Sinne eines Aufladens mit einer zerstörerischen Kraft begreifen. Das weibliche schreiende Monster zu Beginn, aber auch die

21 Annette Bitsch: „Georges Batailles, Heterologie und die Documents“, in deutscher Sprache sowie in russischer Übersetzung erschienen in: Victor Mazin und Joulia Strauss (Hg.): Kabinet. Deutsch-russische Zeitschrift von Freuds Museum der Träume und dem Institut für Psychoanalyse, St. Petersburg 2003. (Erweiterte Fassung), Internetversion, S. 1-30, hier S. 13. 22 Ein „grill“ ist ein aus Metall oder Edelmetallen hergestellter Zahnbesatz, der die vorderen Zähne verdeckt und schmücken soll, oft mit Edelsteinen besetzt. 23 G. Bataille: Dictionnaire-Eintrag „La Bouche“, in: Documents 2 (5, 1930), S. 298-300. 24 A. Bitsch: Georges Batailles Heterologie, S. 14.

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immer wieder weit zu Schreien aufgerissenen Münder der Frauen lassen sich im Video als Einbrüche des Animalischen lesen. Auch hier ist eindrücklich, dass das Animalische in der visuellen Umsetzung eindeutig zu Lasten der Frauen geht – nur sie sind im Clip Monster und Tiere. Der zum Schrei geöffnete Mund der Toten erinnert an das begleitende Foto zu Batailles Eintrag im „Kritischen Wörterbuch“. Die Einstellung stellt eingereiht in die schreienden Frauen im Clip das Verstummtsein im Anblick des Schreckens dar; ihr Gesicht mit den weit geöffneten Augen hat diesen Schrecken für uns eingefangen. Abbildungen 38 und 39: Der Mund in Detailaufnahme im Video und bei Bataille

Still aus MONSTER und Screenshot aus Bataille, Dictionnaire-Eintrag „La Bouche“, in: Documents 2 (5, 1930), S. 298.

Dass der Fokus durch die Postproduktion des Clips auf die immobile, weil kaum noch agierende Frau gelegt wurde (sieht man ab von der in wenigen Shots zu sehenden femme fatale, die einen Männerkörper hinter sich herzieht), ist zu erkennen, wenn man die vorab geleakte, unfertige Version des Videos mit der offiziellen Version vergleicht. In Letzterer fehlt das Bild eines Close-ups auf einen schwarzen Stiletto, mit dem die femme fatale eine Männerbrust perforiert, es fehlen Close-ups auf das lustvolle Gesicht der Frau, die den Männerkörper hinter sich herzieht; auch der Closeup auf die schwarzen Plateau-Highheels von Nicki Minajs Alter Ego Roman, einer durchaus sehr lebendigen und dominanten Figur, fehlen genauso im offiziellen Musikvideo wie die Nahaufnahme der weißen, hohen Schuhe vom zweiten Alter Ego Minajs, von Barbie. Auf das Bildmaterial, das die Frau als Handelnde zeigt, wurde im Nachhinein weitgehend verzichtet. Ferner wurde auch auf eine Einstellung verzichtet, die eine Frau in unnatürlich verrenkter Pose in einem Treppenhaus liegend zeigt. Auch eine blutige, abgeschlagene Frauenhand kommt im offiziellen Musikvideo nicht zum Einsatz. Wahrscheinlich zeigen diese Bilder Gewalt zu direkt, als dass

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sie in einem Musikvideo ihren Platz hätten finden können. Genauso sehen wir die zwei Frauen, die den Jungen ausweiden, in der offiziellen Version nur von der Leiche aufschauend, aber nicht beim Ausweiden selbst. Abbildungen 40 bis 45: Stills aus der unfertigen, geleakten Version25

Von links oben nach rechts unten: Genussvolles Töten; Tod durch Stiletto; Die Plateauschuhe von Nicki Minajs Alter Ego; abgerissene Hand; Tote im Treppenhaus; Ausweiden eines Mannes in extremerer Form als im offiziellen Clip. Die Stills sind sehr dunkel und in schlechter Qualität, da das Video nur so im Internet für kurze Zeit verfügbar war.

Doch was heißt es nun, anatomische Bestände und ihr moralisches Innen umzuwerten? Bei Bataille folgt dies der Logik, die wir bei ihm immer schon finden, eine Logik der Dichotomien, ein seiner Heterologie treubleiben. An den Zehen, die für seinen Aufsatz „Le gros orteil“ in den „Documents“ fotografiert sind, macht er eine unhintergehbare Individualität wie schon in „Die Abweichungen der Natur“ aus. Die im Musikvideo zu sehenden Körperteile – und für ein Musikvideo sogar in einer Länge, in der sie eingehend zu betrachten sind – sind jedoch einer Individualität beraubt. Vielmehr scheinen sie auf wenige, gemeinsame Nenner herunter gebrochen: An Frauenfüße gehören hochhackige Schuhe, Fingernägel gehören in Rot- und Lilatönen 25 Das unfertige Video kann hier abgerufen werden: http://antiquiet.com/music/2010/12/ kanye-monster-video/ vom 16.08.2016.

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lackiert und Frauen entweder nackt oder leicht bekleidet – und wenn willenlos nicht reicht, dann mögen sie am liebsten tot sein. Die Blicke auf die Körperteile erzählen also von keiner moralischen Umwertung, sondern von einem ästhetisierten und sexualisierten Tod; im Video wird Eros’ und Thanatos’ Verbundenheit inszeniert, wie Bataille sie in „Die Erotik“ beschrieben hat: „Was, meiner Meinung nach, den Übergängen von der Diskontinuität zur Kontinuität in der Erotik ihre Besonderheit verleiht, ist das Wissen um den Tod: ein Wissen, das von Anfang an im Geist des Menschen den Bruch der Diskontinuität – und das darauffolgende Hinübergleiten in eine mögliche Kontinuität – mit dem Tod verknüpft.“26

Im Video ist in der Erotik der Tod nicht nur als möglicher Fluchtpunkt vorhanden, sondern der Tod ist erotisiert oder die Erotik direkt und augenfällig mit dem Tod verbunden. Der einmal eingetretene Tod ist für das Subjekt ein Endpunkt in Batailles Theorie – ist dieser erreicht, gibt es keine Todesfurcht mehr, sondern absolute Kontinuität, die keine Diskontinuität mehr kennt. Es gibt im Tod keine Begierde mehr, die wohl als wesentliches Movens von Batailles Überlegungen in „Die Erotik“ gelten darf. Für den Betrachter dieser erotischen, toten Objekte oder toten, erotischen Objekte ergibt sich jedoch eine Transgression par excellence. Für manche mögen die Grenzen des guten Geschmacks überschritten sein, jedoch ist alleine der berührende, offene Umgang mit einem Leichnam ein Tabubruch. Das Zersägen mit einer Kettensäge erfüllt mehr noch den Bestand der Leichenfledderei, der eine Grenze des gesellschaftlich tolerierten Umgangs mit dem toten Körper markiert. Jay Z, Kanye West und Rick Ross überschreiten diese Grenzen im Video permanent, und auch die Zuschauer/-innen tun dies teilhabend an ihren Grenzüberschreitungen hin zu einer Kontinuität. Die Studien über Körper und Körperteile in dem Musikvideo sind mit Bataille also eher als Bestätigungen lang gepflegter Deutungshoheiten zu verstehen, die den Frauenkörper hier sogar noch als im Tod offen für Penetration, als jederzeit verfügbar und willenlos zeigen und die „Täter“, die Kunstfiguren von Jay Z, Kanye West und Rick Ross, als am Sakralen partizipierend im Sinne der Sakralsoziologie Batailles erscheinen lassen.

26 G. Bataille: Erotik, S. 101.

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Abbildungen 46 und 47: Tod und Erotisierung

Stills einer leblos daliegenden Hand mit rot lackierten Fingernägeln und roter, glänzender Stilettos an reglosen Füßen

Auch die Manipulation von Stimmen ist für die Soundproduktion von MONSTER und von Monstern wesentlich, wie sich an Nicki Minajs Strophe gut erkennen lässt. Diese stellt in vielerlei Hinsicht den Höhepunkt des Songs und des Clips dar. Ihre Strophe nimmt 30 Takte ein und ist damit am längsten im Vergleich zu den zwei vorhergehenden. Sie bekommt also mehr Spielraum als die anderen, 2010 weitaus bekannteren männlichen Rapper. Inhaltlich macht sie daraus „50 k for a verse no album out“ und betont den monetären Gegenwert ihrer Verse, während sie noch nicht einmal ein eigenes Album veröffentlicht habe, ohne Kanye West den Rang ablaufen zu wollen: „besides ’Ye they can’t stand besides me“. Ihre weibliche Selbstbehauptung ist wohl dosiert und auch ihre Performance lässt das durchblicken: Anstatt ihre Stimme alleine zu präsentieren, wie dies bei Jay Z getan wurde, und um einen Fokus auf sie zu legen, wird ihre Stimme immer wieder gelayert und mit einem Delay-Effekt versehen. Dies geschieht bei „You could be the king but watch the queen conquer“ und ab der Zeile „Pink wig, thick ass, give them whiplash“ und von da bis zum Ende. In der letztgenannten Zeile kommt ein schneller Stottereffekt zum Einsatz, der vor, über und nach dem Rappart von Nicki Minaj zu hören ist und für das Gefühl einer Geschwindigkeitssteigerung und sogar für Hektik sorgt.27 Nicki Minaj bewegt sich in ihrer Performance hörbar zwischen einer übertriebenen, hohen Barbie-Stimme, ihrer Rapstimme und einer dritten, der satt grollenden Monsterstimme. Das akustische Monster lässt sie immer wieder durchbrechen. Für ihre Stimmproduktion kommen diverse Filter und Strategien zum Einsatz, darunter vocal layering, ein Reverb oder ein Delay.28 Dennoch klingen die Übergänge zum 27 Die Schnittfrequenz liegt bei etwa zwei Schnitten pro Takt, was der von Jay Zs Strophe entspricht. Der Stottereffekt, den wir auf der auditiven Ebene haben, wird konsequent auf der visuellen Ebene wiederholt, das heißt, dass das Bild gewollt stockt. 28 Damit ist nicht gemeint, dass die Stimmen nicht alle im Musikvideo „produziert“ wären. Freilich ist das der Fall. Bei Minaj ist aber eine erstaunliche Flexibilität in der stimmlichen Performance zu erkennen, die sie in diesem Song deutlich von den anderen Rappern abhebt.

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grollenden Monster (bei 4:05; 4:12; 4:32) danach, als hätte sie sie allein mit ihrem stimmlichen Einsatz produziert, was sie als mit einer Fertigkeit ausgestattet zu erkennen gibt, die die anderen Rapper nicht präsentieren. Sie nutzt zudem einen viel größeren Stimmumfang als diese. Verglichen mit ihren männlichen Kollegen wird Minaj als animalisch und sexualisiert inszeniert. Nicki Minaj hat als Schwarze Frau nicht nur mit der Stereotypisierung hinsichtlich ihrer Hautfarbe zu kämpfen. Diese alleine, so mag man die gesamte Kritik an der Zuschreibung, ein Monster zu sein, verstehen, reicht schon, um als „die Andere“ in den Augen Weißer konstruiert zu werden. Als Frau hat sie – und auch das ist in der Inszenierung zu erkennen, m.E. aber zu wenig kritisiert – doppelt zu kämpfen und zwar mit den Extremen männlicher Weiblichkeitsimagination. So ist sie im Clip visuell gefangen zwischen einer Barbie, einer femme fragile und ihrem auch offiziell als solchem bekannten Alter Ego Roman, der femme fatale. Allein über ihre Rapfertigkeit kann sie sich über die anderen Rapper erheben, wahrt zugleich inhaltlich jedoch die Unterwürfigkeit gegenüber West. Abbildungen 48 und 49: Die zwei Alter Egos von Nicki Minaj in MONSTER

Nicki Minaj als Barbie und als Roman

Mit den beschriebenen Strategien, Frauen zu repräsentieren und zu instrumentalisieren, steht der Clip in einer Tradition und Entwicklung von Hip-Hop-Musikvideos, die Jeff Chang gegen Ende seines Buches „Can’t Stop, Won’t Stop“ analysiert. Das Eintreten des Hip-Hops in den Mainstream habe dazu geführt, dass es nunmehr schwer sei, sich vorzustellen, dass Schwarze Jugendliche nicht in den Medien präsent sind. Genauso aber, so argumentiert er, habe diese Mediatisierung einen Einfluss auf Hip-Hop in einer Weise gehabt, dessen Konsequenz Chang auf den Punkt bringt: „Women in hip-hop lost the most.“29 Im folgenden Zitat beschreibt er überblicksartig eine Entwicklung, an deren gegenwärtigem offenen Ende Musikvideos wie MONSTER stehen: „During the late 1980s, videos had been a boon to women rappers. Queen Latifah, for instance, presented herself in the Fab 5 Freddy-directed video for ‚Ladies First‘ as a matriarch, military strategist and militant. Others – Salt-N-Pepa, MC Lyte, Roxanne Shante – established their own

29 J. Chang: Can’t Stop, S. 445.

272 | Z UR SAKRALEN DIMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS personalities, equals alongside their male peers. A decade later, successful female artists like Missy Elliott and Lauryn Hill were the exceptions rather than the rule. Scantily-clad dancers seemed in endless supply, while women rappers were scarce.“30

Unter anderem die Kommodifizierung und Mainstreamisierung von Hip-Hop haben dazu geführt, dass sich der Sexismus, der die US-amerikanische Gesellschaft durchzieht, in den Musikvideos zeigt. In der Opfergeste und der (symbolischen) Tötung schöner, Weißer Models liegt auch der Ausdruck eines herrschenden Rassismus und Sexismus, den Gabriele Dietze in ihrem Aufsatz „Der ‚Rape-Lynching-Komplex‘ als soziale Pathologie“ analysiert. Dietze erklärt die realhistorisch ständig präsent gewesene Lynchpraxis oder auch nur die Drohung des Lynchens als Mechanismus, den Schwarzen Mann von der Weißen Frau fernzuhalten, von der er durch die permanente Möglichkeit der Unterstellung, sexuell übergriffig gewesen zu sein, abermals unterworfen wurde.31 Die im Musikvideo hängenden Weißen Frauen lassen sich – neben der Opfergeste, die die Frauen in Batailles Lesart (und hier pervertierend) sakralisiert – mit Dietze als eine Replik oder einen kritisierenden Umgang mit den überlieferten Unterstellungen des Schwarzen Mannes als Vergewaltiger lesen. Tricia Rose hat schon 1994 für Hip-Hop eine andere Seite der Bedrohungs- und Unterdrückungserfahrung des Schwarzen Mannes ausgelotet. Ihr zufolge habe diese sexuelle Dominanz und die beschriebene Darstellung von Frauen in Hip-Hop-Musikvideos als sexuell verfügbar die Funktion, den Mangel an Selbstwert und den begrenzten Zugang zu ökonomischen und sozialen Zeichen heterosexueller maskuliner (und Weißer) Macht zu kompensieren.32

Verausgabung und Überschuss Die Figur der Überschussproduktion zeigt sich auf Wests Album „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ in der vielschichtig-dichten Verwendung von sehr heterogenem musikalischem Material und wurde von der Musikkritik verschiedentlich hervorgehoben. So schreibt der Rolling Stone: „My Beautiful Dark Twisted Fantasy is his most maniacally inspired music yet, coasting on heroic levels of dementia, pimping on top of Mount Olympus. Yeezy goes for the grandeur of

30 J. Chang, Can’t Stop, S. 445. 31 Gabriele Dietze: „Der ‚Rape-Lynching-Komplex‘ als soziale Pathologie“, in: Christina von Braun et al. (Hg.): Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften. Studien zum Verhältnis von Wissen und Geschlecht, Bielefeld 2009, S. 281-300, hier S. 290. 32 Vgl. R. Rose: Black Noise, S. 15.

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stadium rock, the all-devouring sonics of hip-hop, the erotic gloss of disco, and he goes for all of it, all the time. Nobody halfway sane could have made this album.“33

Das Verwenden affektiver Qualitäten von grundsätzlich verschiedenen Musikstilen und -praktiken wird hier nicht nur in extremer Ausprägung bemerkt, sondern mit Kanyes Geisteszustand in Verbindung gebracht. „Maniacally inspired“, „coasting on heroic levels of dementia“ und „nobody halfway sane“ sind Beschreibungen, die die unklare Grenze zwischen Wahnsinn und Genius ansprechen. Die Washington Post schreibt ebenfalls von „maniac choirs“ und „grandeur“: „Crowded with maniac choirs, alien drum machinery and instrumental interludes that toggle between decorative and devastating, the grandeur never feels excessive. It feels necessary.“34 Größe, Pracht, Erhabenheit und Herrlichkeit schwingen in dieser „grandeur“ hier mit, die sich nie exzessiv, also übermäßig oder gar übertrieben, sondern notwendig anfühlt. Diese beinahe mit den Vokabeln Batailles arbeitende Bemerkung scheint die Musik des gesamten Albums in einer Ökonomie der Notwendigkeit und der Produktion stehend zu betrachten, also vermeintlich Batailles unproduktiver Verausgabung widersprechend, während die Beschreibungen vorher so gut an Batailles Gedanken anschließen. Hier sei angemerkt, dass der Kritiker (freilich) keinerlei explizite Referenz auf Bataille ausspricht und in der Rezension aus einer gegenwartskritischen Perspektive auf das Album schaut. Mithilfe der Wertung von Wests auf dem Album inszenierten Pracht und Erhabenheit als Notwendigkeit wird argumentiert, dass West womöglich als einziger Künstler der Gegenwart das Talent habe, eben die Gegenwart (neu) zu definieren. Dazu ist ein exzessiver Größenwahnsinn nie übertrieben, so lese ich die Musikkritik, sondern eben „notwendig“.35 Bataille beschreibt seine Exzesse, das Opfer und die Überschreitungen gesellschaftstheoretisch als genauso funktional notwendig – nur eben im Vergleich mit herrschendem Ökonomieverständnis in einer „unproduktiv“ geprägten Weise. Dass die Stilmittel und Strategien, die für das Erreichen der schon von der Musikkritik beschriebenen Größe und Erhabenheit mit Batailles Sakralbegriff erklärt werden können, wird nachfolgende Analyse zeigen.

33 Rob Sheffield: „Kanye West: My Beautiful Dark Twisted Fantasy“, http://www.rollingstone.com/music/albumreviews/my-beautiful-dark-twisted-fantasy-20101109 vom 16.08.2016. [Kursivierung wie im Original]. 34 Chris Richards: „Kanye West's ‚My Beautiful Dark Twisted Fantasy‘: A masterpiece“, http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2010/11/19/AR2010111903704. html vom 16.08.2016. 35 „But West isn’t trying to redefine hip-hop so much as define our times – a task maybe only he has the ambition (and talent) to attempt.“ C. Richards: „Kanye West’s ‚My Beautiful Dark Twisted Fantasy‘: A mas-terpiece“, http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2010/11/19/AR2010111903704.html vom 16.08.2016.

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Die Forschung geht mit ähnlichem Vokabular in der Betrachtung von MONSTER zu Werk und verortet den Clip in der Nähe des Gothic-Genres. Reynaldo Anderson und John Jennings schreiben in ihrem Aufsatz „Afrofuturism“, dass das Album „a vault of tropes“ offenbare, die leicht dem Schauergenre (the Gothic) zugeordnet werden könnten. „‚Monster,‘ one of the many hits from this album, sees West truly embrace the nihilistic aspects of his psyche and his public persona. This track features guest stars Jay-Z, Rick Ross, and Nikki Minaj, who join West in celebration of the macabre. The video truly embraces almost every aspect of the traditional Gothic movement. It depicts opulence, vanity, sexuality, the doppelganger, the supernatural, and the grotesque. It relates all of these to the black body and how it reifies the alien and the monstrous other.“36

Während Anderson und Jennnings die Motive und Szenen des Clips dieser Arbeit ähnlich beschreiben, lesen sie diese doch in einem anderen Rahmen als dem des Bataille’schen Sakralen. Sie binden ihre Beobachtungen ebenfalls ein in die Ökonomie der Starproduktion, wenn sie sagen, dass u.a. die Merkmale des Gothic dazu beitragen, dass wir aus den Stars die ultimativen Konsumprodukte machen: „It’s the personification of celebrity; the godlike qualities that we give media stars is the ultimate consumable product.“37 Diese Beobachtungen stehen der hier angelegten Lesart der Sakraltheorie Batailles nicht entgegen. Vielmehr sind einige Konstitutive des Gothic (u.a. das Groteske, Opulenz und Vergänglichkeit) ebenfalls zentral in Batailles Sakraltheorie entwickelt, wie die Analyse zeigen wird. Das Sakrale Batailles setzt sich, was Gothic thematisch nicht tut – es dient ohnehin nicht als Theorie, sondern als Genrebeschreibung – mit Gott, Religion und Religiosität als sozial konstruiert auseinander und bindet das Dunkle, Abseitige und Groteske mit ein. Vereint werden diese Merkmale auf den Schwarzen Körper Wests, wie Anderson und Jennings bemerken. West (und die anderen Künstler/-innen in dem Musikvideo) rufen immer wieder aus, was ihnen scheinbar von Außen auferlegt wird, nämlich „I’m a motherfucking monster“. Als Monster verkleidet und geschminkt in dem Clip sind allerdings die anderen, was ihnen den Spiegel vorhält. Das musikalische Feuilleton hat Kanyes MONSTER und sein gesamtes Album wie oben schon erwähnt sehr wohlgesonnen aufgenommen (in den Feuilletons ist die Rede von „grandeur“, „excess“ und „nobody half way sane“, wenn es um die musikalischen Qualitäten und das Können Kanyes geht, siehe oben). Die dort beschriebenen musikalischen Qualitäten lassen erkennen, dass eine überbordende Pracht und Größe nicht nur sichtbar in den Clips und der Medienpräsenz Kanye Wests, sondern

36 R. Anderson/J. Jennings: Afrofuturism, S. 41. 37 Ebd., S. 42.

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auch hörbar inszeniert wird. Die Bemerkungen über die „wahnsinnigen Chöre“, den Spagat zwischen Dekor und Zerstörung, seinen Stilmix aus u.a. den alles verschlingenden Klängen des Hip-Hops und dem erotischen Glanz von Disco mündend in der Feststellung, dass Kanye alles zur gleichen Zeit will, führen uns schnell zu einer Betrachtung von MONSTER mit Batailles Begriff der Verausgabung. Auf der Ebene der Produktionsästhetik lassen sich verschiedene Techniken der Musikvideogestaltung und -produktion beschreiben, die oben ausgeführten Funktionsäquivalenten zugehörig sind. Auf der auditiven Ebene wurde schon von der Stimmproduktion gesprochen, die in den ersten Sekunden des Songs ausschlaggebend ist. Die Stimme Bon Ivers wurde vielfach im Abstand von Terzen und Oktaven übereinandergeschichtet (= vocal layering)38, sodass ein breiter und satter Sound entsteht, der im Sinne Batailles als Überschussproduktion bezeichnet werden kann. Ein verzerrtes Stimmsample kommt auch jeweils etwa auf den Zählzeiten 1 sowie 2+ vor und ist einer der vielen Sounds, die im Hintergrund der Produktion liegen, wie zum Beispiel das Klatschen und Jubeln eines nur im Sound anwesenden Publikums. Ein ebenfalls auf der auditiven Ebene eingesetzter Effekt ist der der schnellen Wiederholung. Worte oder nur einzelne Silben werden so rasch hintereinander wiederholt, dass ein Effekt wie der des Stotterns oder Scratchens entsteht. Das visuelle Pendant dazu ist das bildliche Ruckeln, „Hängen“, das hier in der Postproduktion durch sehr kurze Schnittfolgen erreicht wurde.39 Zu Recht wirft Vernallis bei der Beobachtung des „stutter“ die Fragen auf: „Is it that nothing is more piercing than a stutter?“ und „Does stutter suggest mechanical failure? A brain misfiring?“ und sie bemerkt: „Recent media are so taken up by the stutter it seems like it’s the central meme.“40 In der Tat ist der auditive und visuelle Stutter eine ästhetische Strategie, die den Fehler zum Kalkül erhebt und auf das „von Hand gemacht“-Sein sowie die „Fehlbarkeit“ der Produktion hinweist. Doch scheint der stutter noch mehr zu sein: Ich möchte ihn gern im Rahmen der Bataille'schen Überschussproduktion lesen, da der Effekt auf beiden Sinnesebenen der ist, dass ein Überangebot an Sinneseindrücken zu einer Nichtnachvollziehbarkeit des Gesehenen oder Gehörten führt. Es bleibt so der Eindruck der Reizüberflutung, die im Musikvideo ohnehin eine gegebene Strategie ist und im stutter ihren Höhepunkt findet. In dieser Lesart wird der stutter zum Gipfel der Überschussproduktion und zum Merkmal der Affektintensität des Musikvideos. Auf einem abstrakten Level können wir das Rappen als die Verausgabung des Rappers betrachten, der alles gibt, um seine sprachliche Kunstfertigkeit unter Beweis zu stellen und vor allem seine Kollegen oder Rivalen in den Schatten zu stellen. Dass

38 Zudem ist die Stimme mithilfe einer Vocoding-Software synthetisiert. 39 Vgl. dazu C. Vernallis „Stutter and Focus“ in: Accelerated Aesthetics, S. 713. 40 Ebd.

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Rapper einen besonderen Zugang zum Sakralen haben, ist mit Bataille ein Leichtes zu behaupten. Versteht man Rapper als Poeten, lesen sich die folgenden Worte Batailles als Zeugnis des besonderen Zugangs zum Sakralen: „alle Arten von gewalttätigen oder renitenten Individuen (Verrückte, Aufrührer, Dichter etc.)“41 haben ihm zufolge einen besonderen Zugang zum Sakralen bzw. gehören zu den heterogenen Elementen. „Neben den eigentlich sakralen Dingen, die gleichermaßen den Bereich der Religion und der Magie konstituieren, begreift die Welt des Heterogenen alles in sich, was durch unproduktive Verausgabung hervorgebracht worden ist. [...] Man könnte auch sagen: alles, was die homogene Welt von sich abstößt. [...] [D]ie zahlreichen sozialen Elemente oder Formen, die von der homogenen Seite nicht assimiliert werden können“42, gehören nach Bataille zu der Welt des Heterogenen und haben damit sakralen Charakter. Aber gilt dies auch für Rapper des Musikvideos? Wenn ja, so verausgaben Rick Ross, Kanye West und Jay Z sich zumindest in unterschiedlicher Intensität und erzeugen gemeinhin alle durch Auftreten, Kleidung und Gestus einen Widerspruch zur unterstellten Heterogenität, indem sie mit ihrer Arriviertheit, ihren schwarzen Anzügen und Dinnerjackets die Welt des Homogenen, des wohl geordneten Kapitalisten symbolisieren. So wirkt auch der erste Vers des Songs kühl und unnahbar, und Rick Ross lapidarer Anfang „Bitch, I’m a monster“ verpufft, um einen Spannungsbogen zu Kanyes Rap herzustellen – ein gekonnter Schritt, denn Ross rollt Kanye den verbalen Teppich aus, indem er auf seine Fertigkeit als Produzent hinweist: „As you run through my jungle, all you hear is rumbles, Kanye West sample, here's one for example“. Kanye West stellt mit seinem Körper und seinen Raps im Musikvideo ein anderes Level von Verausgabung aus: Wir sehen ihn, wie er gegen ein Gitter gelehnt mit nacktem Oberkörper von hinten von mehreren Frauenhänden mit pinkfarbenen Fingernägeln auf Körper und Gesicht berührt wird und sich unter diesen Berührungen windet, während er über den „gossip“ rappt, der endlich aufhören solle, denn jeder wisse doch: „I’m a motherfucking monster“. Dem Usus der Rap-Praxis folgend setzen sich ihre Strophen aus transgressiven Überbietungsfiguren zusammen, mithilfe derer sie sich zum Monster machen. Bei West heißt es: Egal ob unter den Lebenden oder den Toten, er sei der Beste, brauche für seine Hits keine Unterstützung im Studio. Im für Hip-Hop typischen bragging fährt er fort, sich nicht nur als erfolgreicher Hip-Hop-Produzent – egal, was er anfasst – zu inszenieren, sondern selbstverständlich auch als erfolgreich bei den Frauen darzustellen. Für die rhetorischen Überbietungsfiguren dienen ihm Vergleiche wie: „my eyes more red than the devil is“ oder indirekte Parallelen, wenn er fragt: „Have you ever had sex with a pharaoh?“ Der Pharao ist natürlich er, denn er rappt weiter: „I put

41 G. Bataille: Faschismus, S. 17. 42 Ebd. S. 16-17 [Kursivierung wie im Original].

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the pussy in a sarcophagus“. Verletzungen beim Oralverkehr seien von der Frau nur vorgetäuscht, letztlich habe sie sich doch gerade ihren Studienkredit finanziert. Überhaupt steht West weit über allem: „My presence is a present, kiss my ass“ endet er seine Strophe. Der Teufel und der Pharao dienen West als Gewährmänner für seine Mächtigkeit – ebenso wie für seine Schlechtigkeit. Von Gott keine Spur, sieht man davon ab, dass der Teufel eine christliche Erfindung ist. Während seines Raps arrangiert Kanye zwei weibliche Leichen mit offenen Augen, die nur Negligés tragend in einem Bett gemeinsam mit ihm liegen. Er fasst sie vorsichtig an Kopf und Armen an. Die Anspielung auf Nekrophilie ist da, und doch ist klar – denken wir an filmische Möglichkeiten außerhalb des Genres des Musikvideos –, dass hier nur angedeutet und nicht ausinszeniert wird. Die Andeutungen sind hochgradig ästhetisiert, glatt und in gewisser Hinsicht makellos. Bei Jay Z verhält es sich ähnlich, nur ist im Anlauf seines Raps gleich eine Steigerung zu erkennen. Er zählt beinah alle Monster der Filmwelt auf und fragt: Was haben diese gemeinsam? Dass sie erfunden sind? Dass sie alle unterschiedlich brutal und grausam sind? Dass sie hässlich sind? Folgt man dem Rap weiter, scheint es ihre Brutalität zu sein, die sich Jay Z durch die Vergleiche einverleiben möchte. Wenn Brutalität das Kriterium ist, so ist Jay Z bis hierher mehr Monster als Kanye. Im Überbietungsgestus rappt er davon, dass niemand so ein Blutbad gesehen habe wie er, dass er Frauen und Kinder vergewaltigt habe – dabei möchte er doch nur geliebt werden, denn Liebe, so Jay Z, sei seine Achilles-Ferse. Er sei ständig nur umgeben von Blutsaugern, die seine kühlen Venen anzapfen wollen – hier ist Geld gemeint, denn er hat sie zu Millionären gemacht und doch saugten und nutzten sie ihn nur aus. Zum Schluss seiner Strophe „riecht“ er als einzigen Ausweg ein Massaker („I smell a massacre“). Während Jay Zs Performance hat das Musikvideo Geschwindigkeit aufgenommen, das heißt, die Schnittfrequenz hat sich erhöht. Kanyes Rap ist 28 Takte lang und während dieser wird 37-mal geschnitten (1,3-mal pro Takt); Jay Zs Rap dauert 20 Takte und bringt 42 Schnitte (2,1-mal pro Takt).43 Die Schnitte geschehen jedoch

43 Jay Z ist während seiner Strophe an drei Stellen stimmlich plötzlich präsenter, was insgesamt den Effekt einer Intensitätssteigerung innerhalb seiner Strophe wie auch im Vergleich zu Kanyes vorhergehenden Strophen darstellt. Die Aufzählung der Monster läuft auf die Phrase „Everybody knows, I’m a motherfucking monster“ zu, die auch akustisch zum Höhepunkt wird, da der Sound bis auf Jay Zs Stimme komplett verstummt, um auf der nächsten 1 wieder geballt einzusetzen. Dies hat den üblichen, retardierenden Effekt auf der Ebene des Beats zur Folge und stellt Jay Zs Stimme in den Vordergrund. In kurzem Abstand, nämlich bei „Milling about, spilling they feelings in the air“ und am Schluss der Strophe unter der Zeile „Seems to be the only way to back you bastards up“ wird derselbe Effekt wieder angewandt.

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nicht etwa rhythmisch gleichbleibend, sondern werden schnelle Sequenzen mit schnell aufeinander folgenden Schnitten mit längeren, ruhigen Sequenzen verbunden. Da die erste schnelle Schnittfolge gleich zu Beginn von Jay Zs atemberaubender Aufzählung der Monster geschieht, wird der Eindruck, die Geschwindigkeit des Clips erhöhe sich, verstärkt. Durch die Schnelligkeit erhaschen wir nur kurze Blicke auf die sich bedrohlich lebendig bewegenden Äste eines Baumes bei Nacht sowie auf weibliche Monster, die maskenbildnerisch verändert – eine mit Werwolf-Haar (es ist übrigens Vollmond im Video) und Reißzähnen, eine andere mit zombiehaft verdrehten Augen – sich in knapper Wäsche vor der Kamera räkeln und verrenken. Hier sehen wir auch die zwei einen blonden Jüngling ausweidenden weiblichen Monster. Alle anderen machen sich die Hände schmutzig, während Jay Z kühl, distanziert und ironisch über sein Monstersein rappt.

Destruktion und Transgression christlicher Ikonografie Kehren wir zurück zur Ausgangsbeobachtung der Analyse und nehmen die christliche Ikonografie gegen Ende des Clips in den Blick. Monica Miller schreibt in ihrem Aufsatz „God of the New Slaves or Slave to the Ideas of Religion and God?“ über Kanye Wests „No Church in the Wild“ im Bezug auf Religion: „[H]e was not so lucky with his use of religion in “No Church in the Wild”, a collaborative effort with Jay-Z featuring Frank Ocean from 2011’s Watch the Throne. Many viewed this song as irreverent, seemingly atheistic, and too closely tying together religious themes with carnal pleasure, lewdness, sex, money, drugs, and an overall scene of chaos and nihilism.“44

Die von ihr beschriebenen Motive und Themen des Songs wie Erotik, Sex, Drogen und Nihilismus verbunden mit Religion hätten den Fans nicht gefallen, meint Miller. Der Song sei als atheistisch wahrgenommen worden und das Thema „Religion“ zu nah an „sex, money, drugs“ inszeniert. Diese Arbeit argumentiert mit Bataille, dass gerade jene Bereiche des Exzesses als Orte des Sakralen mit bindender und eine Ordnungsfunktion übernehmender Religion wenig gemein haben. Im Œuvre Kanye Wests sind jene sakralen Bereiche jedoch konstant präsent. Sie tauchen auch in MONSTER erneut zusammen mit religiösen Referenzen in Form von christlicher Ikonografie auf. Die Basis der Argumentation Millers, Kanye West setze „god talk“ ein, um Position in Sachen race und Diskriminierung zu beziehen, ist die Überzeugung,

44 Monica R. Miller: „God of the New Slaves or Slave to the Ideas of Religion and God?“ in: Julius Bailey (Hg.): The Cultural Impact of Kanye West, New York 2013, S. 167-179, hier S. 170.

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dass Gott und Religion sozial konstruiert sind.45 Darin steht Miller, wie schon im Forschungsüberblick analysiert, als eine der wenigen im Forschungsfeld von HipHop und Religion der allgemeinen Ausrichtung dieser Arbeit nah. Sie hebt besonders Wests Kritik an religiösen Institutionen hervor und kommt zu dem Ergebnis, dass „god talk“ oder Religion zu einem Werkzeug in den Produkten Wests werden: „[C]hurches, educational institutions, and the like function to help society mask the pain of the masses. […] No longer under the watchful eye of god and the state, ideas of religion become useful and clever ways of waxing philosophical about moralisme and traditional social conventions that fail to respect the many ways of being and living.“46

Die Analyse hat das Musikvideo MONSTER ähnlich situiert, wie Miller es in ihrem Artikel mit den Kanye-West-Songs tut, nämlich außerhalb eines strengen Religionsbegriffes. Einen Schritt weitergehend hat sie die Phänomene, die auch Miller beschreibt, in den Rahmen des Bataille’schen Sakralen gestellt. Die von Miller genannten Themen im obigen Zitat, u.a. Sex, Geld, Nihilismus und Anstößigkeit, tauchen in MONSTER wieder auf und sind in der hier vorgeschlagenen Lesart nicht als Phänomene oder Bereiche, die primär nur konträr zur Religion stehen, aufzufassen, sondern als Kernbereiche des Sakralen. Der Clip ist formal-ästhetisch gerahmt. Im Gesamtaufbau des Songs sind je 2 x 8 Takte als Einleitung und Schlusssequenz des Songs parallel aufgebaut. Im Schlussteil wird stimmlich, textuell und visuell eine Referenz zum Christentum gemacht. Es ist die Verkündigungsszene in einem Relief dargestellt zu sehen. Ferner stimmt der im Gegensatz zu den Stimmen des Intros „unberührt“ oder „natürlich“ wirkende Soulgesang von Charlie Wilson eine Rückkehr des Menschlichen (im Gegensatz zu den Monstern) an und sorgt auch auf der auditiven Ebene für eine religiöse Stimmung – passend zur christlichen Szene im Relief. Kanye West rappt, dass er Gott entscheiden lassen wird, ob er ein Tabu gebrochen hat.

45 Vgl. M. Miller: God of the New Slaves, S. 169. 46 Ebd., S. 172. An anderer Stelle schreibt sie sehr deutlich von Wests Strategie, Produkte zu verkaufen und verkaufen zu wollen und als Religion als ein Teil dieser: „Despite the public's concern over blasphemy, West understands that music exists in a marketplace and the artist, like any other social actor, must cultivate strategies that work to shop the best product possible.“ S. 174. So argumentiert auch E. Utley: Gangsta’s God, S. 58-60 und erinnert an Wests offensichtlichere Inszenierungsstrategien mithilfe christlich-religiösen Materials. Dazu gehört das Cover des Rolling Stone, das West 2006 als leidenden, gerade vom Kreuz genommenen Jesus mit einer Dornenkrone zeigt, vgl. E. Utley, Gangsta’s God, S. 58.

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Das Ende des Songs ist analog zum Anfang gestaltet. Beide bestehen aus acht Takten, sind in Form und Inhalt aufeinander bezogen und bilden den Rahmen des Songs. Im Outro singt erneut Bon Iver, dieses Mal jedoch nur mit einer leicht modifizierten, insgesamt klareren Stimme, die längst nicht so massiv wirkt wie noch im Intro. Die Stimme ist hier nicht mehr so stark gedubbed, das heißt, es fehlen die Begleitstimmen, die die Stimme Bon Ivers im Intro so satt und bedrohlich haben klingen lassen. Statt Selbstbewusstsein und Herausforderung, wie noch in den Zeilen „I shoot the lights out“ oder „Are you willing to sacrifice your life?“, erklingen nun zurückhaltendere und reumütige Töne. Er singt „I crossed the line, and I let God decide and I would not last these shows, so I am heading home.“ Neben Iver ist noch eine weitere Stimme zu vernehmen: Es ist die des Gospel- und Soulsängers Charlie Wilson, der energische und emphatische adlibs über den lead vocals intoniert. Dass die Grenze überschritten sei und Gott nun urteilen solle, erfahren wir vom lyrischen Ich und können dies sinnvoll mit Bataille lesen: Die permanenten Grenzüberschreitungen des Musikvideos werden hier angesprochen und vor der angekündigten Rückkehr des Sängers nach Hause lesbar als nicht mehr aushaltbare Übertretung von Grenzen. Die frei und exaltiert wirkenden adlibs von Charlie Wilson 0führen die Stimme über viele Läufe als Irrwege in den sicheren Hafen des Grundtons, der auf „home“ erklingt. Die kräftige, volle Stimme Wilsons mag beim ersten Hören im Vergleich zu Bon Ivers verzerrter Stimme für den natürlichen oder menschlichen Klang – sicher auch vor dem Hintergrund der Monster – stehen. Doch auch diese Stimme ist nicht etwa das letzte Refugium des Menschlichen, sondern ist ebenfalls glatt produziert, weil in ihren sehr schnellen Läufen durch Auto-Tune in den Tonhöhen angepasst und exakt auf die Tonleiter gemünzt – eine Leistung, die selbst ein herausragender Sänger in dieser Geschwindigkeit nicht mehr vollbringt.47 Eine der letzten Einstellungen des Musikvideos zeigt ein Relief, das die Verkündigungsszene ausdeutet, in welcher Gabriel Maria von der bevorstehenden Geburt Jesu unterrichtet. Doch hat Regisseur Jake Nava es nicht bei dem bloßen Abfilmen belassen, sondern die steinerne Figur des Gabriel zum Leben erweckt: Seine Flügel und sein Kopf bewegen sich leicht. Was jedoch am auffälligsten ist und gleich durch den ersten Schnitt auf das Relief deutlich wird, ist die Tatsache, dass Maria enthauptet wurde.

47 Diese Einschätzung verdanke ich meinem Kollegen Karsten Lehl.

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Abbildungen 50 und 51: Ausschnitte aus einer Verkündigungsszene

Die Draufsicht auf die Verkündigungsszene; Maria ohne Kopf. Das Tabernakel erinnert an das berühmte Cavalcanti-Tabernakel

Dies impliziert im Hinblick auf die bisherige Analyse drei Punkte. Der erste ist der, dass Kanye West in der narrativen Logik des Videos, da er etwas eher im Clip einen Frauenkopf (ohne Körper) an den Haaren festhält, wahrscheinlich auch der Maria im Relief den Kopf abgerissen hat. Dies führt mich zur zweiten Bemerkung: Maria als Mutter Gottes ist erneut eine Frauenfigur, die getötet oder verstümmelt wurde. Die andere Frau, deren Kopf Kanye in der Hand hielt, war aufreizend sexualisiert geschminkt und gekleidet. Im Musikvideo wurde beiden komplementären Frauentypen der Kopf abgetrennt, was sich einerseits wie ein Vernichten der Frau an sich liest, aber andererseits in diesem Akt der Gewalt auch als ein Opfern der Frau und ein Heiligen dieser zu deuten ist. Hinzu kommt die Frage, wie man mehr Sakralität erreichen könnte als dadurch, die Mutter Gottes zu opfern? In der Übertragung ist dies schon der letzte Schritt in der Atheologie Batailles, nämlich der, in dem Gott sich selbst opfert, heiligt und verschwindet. Der dritte Punkt schließt daran an: Die im Relief dargestellte Szene ist eine Urszene des Christentums: Maria ohne Kopf bedeutet in der Konsequenz, dass es kein Christentum mehr gibt. Es gäbe keinen Retter, keine Erlösung und ultimativ keine Hoffnung, denn sie hätte ihren Sohn nicht mehr geboren. Batailles acephalischer Traum hätte sich erfüllt. Die kopflose Gestalt, die die Galionsfigur von Batailles Atheologie und zugleich Zeichen der von ihm gegründeten Geheimgesellschaft Acéphale ist, kehrt in der Marienfigur hier wieder. Der Zirkel Acéphale war das Projekt, eine neue Religion „aus einem Mythos der dionysischen Kopflosigkeit“ zu entwickeln und das „azephale Monstrum [...], ein wahrer Todesdämon, sollte dabei den Tod Gottes verkünden.“48 Ferner weist uns Bergfleth auf eine Stelle bei Klossowski hin, an der dieser mit Blick auf Acéphale von dem Projekt einer „Religion der Monstrosität“ spricht.49 Bergfleth schlüsselt in seinem Nachwort zu Batailles Schrift „Die Freundschaft“50 von 1944

48 G. Bergfleth: Resakralisierung, S. 286. 49 Ebd. 50 „Die Freundschaft“ ist ein Teil der „Somme athéologique“.

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sein Verständnis einer A-Theologie (Atheologie) auf. Atheologisch ist in seiner Konzeption eine Religion, die keinen Gott mehr kennt und das Sakrale zum Kern hat.51 Dazu führt Bergfleth aus, dass die Abwesenheit Gottes einen religiösen Raum konstituiere, der die Resakralisierung der Welt ermögliche.52 Und dieses Sakrale ist ein Neues dergestalt, dass es sich jeder Nützlichkeit (die es durch einen Bezug auf Gott hätte) verweigert.53 Der Mensch erhält die neue Chance auf Souveränität, weil er ja seinen vormaligen Souverän (Gott) losgeworden ist, aber da dieser nicht mehr zu opfern ist, müsse – um Sakrales zu ermöglichen – das individuelle Ich sich opfern, so Bataille.54 Und genau das wird im Musikvideo inszeniert. Doch befänden wir uns auf einem Irrweg, wenn wir glaubten, dass der Mensch hier zu einer Souveränität gelangt. Kanye subordiniert das Christentum für seine Zwecke, aber die, die seine Souveränität und seine Individualität sowie seine Unversehrtheit möglich machen, sind die vielen Animalisierten und Anomalisierten und die toten, Weißen Frauen. Die Rapper und letztlich auch Nicki Minaj erlangen eine Souveränität erneut nur über die Subordination anderer – hier Frauen oder im Falle Minajs eines Teils ihrer eigenen Person. In Batailles Lesart verbirgt sich hinter diesen Inszenierungen des Sakralen keine echte Souveränität oder Freiheit. An dieser Stelle und mit Blick auf die Frauen, die als Gelynchte von der Decke hängen, tot im Bett neben Kanye liegen oder in der Szene mit Rick Ross eine Kettensäge in der Hand haltend auf die Verstümmlung ihrer Körper warten, soll noch einmal aus Jennings und Andersons Aufsatz „Afrofuturism“ zitiert werden. Sie schreiben über Kanye West in MONSTER:

51 Vgl. G. Bergfleth: Resakralisierung, S. 265. 52 „Batailles Atheologie ist die erste Theologie des ‚Todes Gottes‘. Sie hat ihre Voraussetzungen nicht nur in der Mystik, insbesondere in deren gnostischer Ausrichtung, die die Transzendenz Gottes bis zur Unbestimmbarkeit hinaufsteigert, sondern des Näheren in Nietzsches These vom Tode Gottes, die wie eine Radikalisierung dieser Unbestimmbarkeit erscheint. Die Atheologie besetzt den von Nietzsche eröffneten Raum zwischen Gott und seinem Fehlen, der zugleich der Abstand zwischen unendlicher Sinnfülle und unendlicher Sinnlehre ist. Denn daß der Tod Gottes Raum schafft nicht nur für den Souveränitätsanspruch des Menschen, sondern auch für die Verklärung des tragisch-dionysischen Lebens und sogar für eine ‚neue Heiligkeit‘ – diese Einsicht gehört bereits Nietzsche an. Aber erst Bataille macht Ernst mit dem Bewußtsein, daß die Abwesenheit Gottes einen religiösen Raum konstituiert, der eine Resakralisierung der Welt ermöglicht [...]“ G. Bergfleth: Resakralisierung, S. 279. 53 Vgl. ebd., S. 283. 54 Vgl. ebd., S. 284.

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„West becomes the stereotypical. He transforms himself into the hated, grotesque, murderous, and subhuman rapist. However, he clothes his image in dark, cool, and cutting-edge fashions. His visual statement lampoons commodity culture and points out that all of these constructs are just fetishized images that are ripe to be devoured by the monsters that tune in and watch.“55

Es ist sicher richtig, dass Kanye West sich stereotypisiert und das Musikvideo auch als ein Statement, das die Konsumkultur verspottet und uns als Konsumenten daran erinnert, dass wir die Monster sind, die das Video sehen wollen, gelesen werden kann. Besonders Minajs letzter Vers „now look at what you just saw, this is what you live for / Aaaah, I’m a motherfucking monster!“ spielt auf die Inszenierung als Monster für die Blicke der Zuschauer/-innen direkt an. Kritisiert werden soll jedoch, dass es in dem Video nichts gibt, was den Diskurs um das Anderssein bricht. Vielmehr gereichen die Bilder dazu, den Diskurs zwar komplex, aber dennoch zu reproduzieren. Darüber hinaus sind die Autoren Anderson und Jennings relativ unkritisch in ihrer Bewertung der Repräsentation und Inszenierung von Frauen und ihren Körpern in diesem Clip. Die Inszenierung Kanyes als „dark“ und „cool“ sowie als „murderous, and subhuman rapist“ geschieht über mehr als kurze Andeutungen, nämlich über die durch die Kameraführung erreichte, visuelle Ausbeutung der Szenen, in denen Frauen objektifiziert und kommodifiziert werden. Es gibt in diesem Video keinerlei Geschlechtergerechtigkeit, sondern eine klare Subordination der Frau zugunsten Kanye Wests und der anderen männlichen Künstler. Durch die Immobilität der Frauen in Jake Navas Clip, durch ihre Reduzierung auf Objekte ohne Sprache – wenn wir von Nicki Minaj, die in anderer Hinsicht problematisch im Bezug auf Sexualisierung und Objektifizierung ist, absehen – wird männliche Heterosexualität, die damit konnotierte Dominanz und Herrschaft hier über den toten Frauenkörper realisiert. Monstersein bedeutet im Clip, das stereotype Andere zu sein. Die Inszenierungen der Monster werden im Clip auf verschiedenen Ebenen, visuell und auditiv, immer wieder gebrochen und gespiegelt, sodass der Clip sich um die Frage, wer denn hier nun das Monster ist, dreht. Tabubrüche, Grenzverletzungen, sexuelle Extreme und Gewalt dominieren die visuelle Sprache des Musikvideos. In den gelynchten, geopferten Frauen, in der Leichenschändung, der exzesshaften Erotisierung der Körper und dem Spiel mit Masken lassen sich Batailles Denkfiguren rund um Verausgabung und Opfer nachweisen. Doch handelt es sich wirklich um das Sakrale? Verdient das, was wir erfahren, den Namen des Sakralen? Die Opfergeste in der (symbolischen) Tötung der Frauen heiligt: „Die Kulte verlangen eine blutige Vergeudung von Menschen und Tieren als Opfer.“56 Es ist der spezifische Starkult um heterosexuelle, männliche Rapper, der das Frauenopfer fordert. Die radikal etablierte Hierarchie, aus

55 R. Anderson/J. Jennings: Afrofuturism, S. 41. 56 G. Bataille: Verausgabung, S. 13.

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der auch Nicki Minaj nicht ausbrechen kann, beschränkt das Sakrale oder droht sogar, es zu suspendieren. Nichtsdestotrotz liegt eine Qualität von MONSTER im lyrischen, visuellen und auditiven Spiel mit dem Sakralen, wobei auch christliche Ikonografie als Zeichenvorrat auf die linke, destruktive Seite des Sakralen gekippt wird. Akteur der Desavouierung von Religion ist vornehmlich Kanye West, der Maria den Kopf abgerissen hat, in einer extrem gewalthaltigen und symbolisch mächtigen Einstellung im Clip, die uns nach dem ersten Sehen erstaunt und schockiert zurücklässt. Gerade die Tabubrüche und Grenzverletzungen, die in den letzten Einstellungen des Clips verschwommen und im Dunkel des Reliefs mit der Verkündigungsszene gezeigt werden, tragen dazu bei, dass wir den Clip fasziniert – wenn auch nicht unkritisch – immer wieder ansehen und vorher Gesehenes mit dem Wissen um die Dimension der zerstörten Verkündigung neu interpretieren. Das Sakrale „der Anderen“ besteht demnach darin, das Andere, Verfemte, Marginalisierte zu inszenieren und so für Faszination auf Rezipientenseite zu sorgen – ein Effekt, der das Sakrale hier als Strategie der Subversion, aber auch der kommensurablen Staridentität ausweisen würde.

Sakralität, Macht und Souveränität in POWER

Notwendigerweise muss ein Hip-Hop-Musikvideo mit dem Titel POWER in den Fokus einer Analyse des Sakralen rücken, hat Bataille doch Machtfragen in seinem Werk immer wieder zentral an das Sakrale und dessen Inszenierungen gekoppelt.1 Dieses Musikvideo steht nicht zufällig als letzte Analyse am Ende dieser Arbeit: Es lässt sich gewissermaßen als Höhepunkt einer Steigerung, einer Zunahme sakraler Symbole, Codes und Ästhetiken in der Reihe der vier Clips lesen. Mit nur vier Musikvideos als Case Studies scheint es vermessen, eine Steigerungsbewegung in den Extremen der sakralen Inszenierungen für das gesamte Genre der Mainstream-HipHop-Musikvideos zu behaupten. Es ist jedoch möglich, dass diese extreme Inszenierung des Sakralen, wie sie in POWER geschieht, auch historisch oder genealogisch – das Musikvideo ist von 2010 – einzuordnen ist. Kanye West ist 2010 mit seinem fünften Studioalbum „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ auf dem Zenit seiner Karriere angekommen. Das Sakrale, wie es uns in den Musikvideos bisher als Inszenierung begegnet ist, war immer in hegemoniale Diskurse eingebunden und damit implizit in Bezug zu Machtfragen zu setzen. Hier erscheint das Sakrale in seinen Inszenierungsweisen zu einem Instrument der Macht degradiert. Mit der Kraft des Sakralen wird nicht mehr aus der Marginalität heraus operiert, auch Religion wird nicht mehr in Form ihrer weltlichen Repräsentationen zur Zielscheibe oder Negativfolie. Der Rapper hat sich mithilfe des Sakralen und eines ausdrücklichen Machtwillens aus der Marginalität, wie wir sie in BOOM BIDDY BYE BYE gesehen haben, befreit und limitierte Referenzsysteme wie das Christentum für die Inszenierung seiner selbst verabschiedet. Eine Analyse von POWER führt uns zuerst zu Regisseur und Videokünstler Marco Brambilla. Der Regisseur von DEMOLITION MAN (1993) zeigte seine Installationen u.a. in der Kunsthalle Bern, dem Guggenheim-Museum oder der ARCO Foundation

1

So zum Beispiel in „Die psychologische Struktur des Faschismus“ und in seiner Schrift „Die Souveränität“.

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in Madrid. Einige seiner medienkritischen Arbeiten drehen sich thematisch um Konsum und Übersättigung und wenden sich gegen mögliche Abstumpfung und Verrohung durch Medienkonsum. Ästhetisch steht in seinen Arbeiten die Rekontextualisierung von Film- und Videomaterial im Mittelpunkt. Sehr bildgewaltig ist seine kürzlich vollendete 3-D-Trilogie MEGAPLEX, bestehend aus den Teilen CIVILIZATION, EVOLUTION und dem letzten Teil CREATION, der mit „Cinderellas Tanz“ von Sergej Prokofjew unterlegt ist. In den drei Teilen erzählt Brambilla die Menschheitsgeschichte nach. Über EVOLUTION formuliert er, was stellvertretend für die Trilogie stehen kann: „The source material is genre film; the samples are looped and combined in a remix that seamlessly moves through past, present, and future providing a satirical take on the bombast of the big-budget ‚epic‘.“2 Merkmal seiner Arbeiten ist eine extrem hohe Zeichendichte, ein regelrechter Zeichenexzess, oft sehr schnelle Bildfolgen und extreme akustische Montagen. Dieser künstlerische Ansatz offenbart zentrale Anknüpfungspunkte für das Genre der Hip-Hop-Musikvideos. Nicht nur ist die Montage von Samples mit Wiederholungen und Brüchen sowie ihrer stark perkussiven Komponenten ein Kennzeichen des HipHop-Sounds und findet sich in loser Ähnlichkeit in Brambillas Werken, sondern ist auch die hohe Zeichendichte in der Bildebene ebenfalls im Genre der Hip-Hop-Musikvideos eine entscheidende Strategie der Gestaltung – besonders bei Musikvideos der letzten 15 Jahre. Kanye West ist bekannt für seine Soundexperimente und sein Album „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“, von dem auch POWER stammt, gilt als Meilenstein der Kreativität im Sampeln und Soundengineering. Sein Sound ist satt und dicht, er setzt Streicher oder Auto-Tune ein und das jeweils exzessiv und mit akustisch breiten Pinselstrichen. Als Beispiel sei hier der Song „All of the Lights“ angeführt. Ebenfalls auf dem Album „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ erschienen setzt er den Chorus des Songs zusammen aus von unter anderem Rihanna, Alicia Keys, Drake und Elton John eingesungenen Spuren, deren Stimmen gleichzeitig erklingen, sodass wir einen Background-Chor aus berühmten Popstars der Gegenwart haben – das Ergebnis ist nicht nur klanglich interessant, sondern zeigt auch, dass er Superlative für sein Album beansprucht, denn nicht im Rampenlicht stehende Backgroundsänger hätten ihm wahrscheinlich schlicht nicht gereicht.3 Dass auch POWER das Übersteigern von Superlativen umsetzt, zeigt die folgende Analyse.

2

Marco Brambilla: „Evolution (Megaplex), http://www.marcobrambilla.com/portfolios/

3

In einem Interview erzählt Kanye West, dass er lange auf der Suche gewesen sei nach der

evolution-megaplex/ vom 16.08.2016. einen Person, die den Chorus perfekt singt, sie aber nicht gefunden habe, sodass es zu dieser Stimmenmontage gekommen sei. Vgl. theStashed.com: „Exclusive: Kanye West, Steve Stoute & Ben Horowitz Talk Tech At Cannes Lions“, https://www.youtube.com/watch? t=3185&v=vdSfnuEGHH4 vom 16.08.2016.

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Machtanspruch und Schwarze Identität Die Analyse wird dieses Mal vom Raptext ausgehend aufgebaut, da der Song mehr noch als sonst Grundlage für das Musikvideo ist. Das liegt daran, dass der Regisseur Brambilla eine sehr eigene Videosprache hat, die er in dieses Projekt mitgebracht hat. Zudem ist der Song für die Videoversion abgewandelt worden. Wir hören nur die erste Strophe und den nachfolgenden Chorus. Der gewichtigste Grund für diese stärker betonte Nachrangigkeit des Musikvideos ist der, dass es mehrere sehr unterschiedliche Versionen des Clips gibt. Die hier folgende Analyse und der Vergleich beziehen sich zum einen auf eine Version, die der Regisseur bis etwa Mitte 2016 auf seiner eigenen Webpräsenz gezeigt hat. Danach hat Brambilla eine in wesentlichen Teilen veränderte Version hinter demselben Link hinterlegt.4 Die andere dem Vergleich hier zugrundeliegende Version zeigt West auf seinem eigenen VeVo-Kanal.5 Brambillas Version kann als die unzensierte, Wests Version in Bezug auf das nur verhüllte Zeigen weiblicher sekundärer Geschlechtsmerkmale als die zensierte Version gelten. Es ist zu vermuten, dass West das Musikvideo auf Kanälen und zu Sendezeiten senden wollte, bei denen der Clip mit Sicherheit nicht laufen würde, wäre er nicht in der Weise verändert, wie der folgende Vergleich zeigen wird. Andere Unterschiede – von der Zensur der nackten Frauenkörper abgesehen – verraten, dass West und Brambilla je verschiedene Verständnisse von Macht und den Umgang mit Macht zu haben scheinen. Die aktuell auf seiner Website präsentierte Version deutet darauf noch mal hin, da der Schriftzug „Power“ in der aktuellen Version Brambillas ganz fehlt. Die Unterschiede sind zentral und werden mitten in den Begriff des Sakralen führen. Im Rap zelebriert West die absolute Macht, die er erreicht zu haben glaubt. Er rappt: „No one man should have all that power“ und meint dabei vor allem sich selbst.

4

Für die Analyse von Brambillas Version wurde auf folgende Quelle zurückgegriffen: http://www.marcobrambilla.com/portfolios/power/ vom 06.11.2016. Hinter dem Link ist nun eine Version hinterlegt, die in drei wesentlichen Punkten von der vorherigen Version (siehe Stills in diesem Kapitel) abweicht. Zum einen fehlt am Ende gänzlich der Schriftzug „Power“, zum zweiten dreht Brambilla die Idee des Reiches „on the brink of collapse“, wie er selbst schreibt, um, indem er ab dem Timecode 1:14 die Bilder rückwarts laufen lässt, sodass die Krieger, die West angreifen, ihre Schwerter zurückziehen. Ferner endet das Musikvideo nicht auf der leeren Oktave, gewissermaßen einem letzten Paukenschlag, sondern, indem die Musik kurz ausfadet und ein „Wooh“ von West zu hören ist.

5

Das im Folgenden als „Wests Version“ bezeichnete Video findet sich hier: Kanye West: „POWER“, https://www.youtube.com/watch?v=L53gjP-TtGE vom 16.08.2016.

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Er stellt sich mit diesem Zitat, mit dem die Polizei Malcolm X6 begegnete, einmal mehr – und im Clip nicht auf die einzige Weise – in die Tradition Schwarzer, durchaus radikaler Selbstbehauptung. Im ersten Chorus rappt er wie eine Replik auf die von Malcolm X geäußerte kritische Einschätzung: „I’m tripping off the power“. Das ist ein komplexer Vers, der vielfach gelesen werden kann. Man kann genauso gut die Version „I’m tripping of the power“ hören, was meint, dass Macht und Machthaben West „high“ macht. Nimmt man die Variante mit „off“, ergibt sich eine Medienkritik, die allerdings erst im Verlauf des Songs, und wenn wir den Kontext des kompletten Songs kennen, deutlich wird. „To trip off“ könnte auch als ein „vor den Kopf stoßen“ oder „provozieren“ gelesen werden, als ein Angreifen der Macht oder derjenigen, die die Macht haben, womit die Medien und besonders „Saturday Night Life“ gemeint sein könnten, worauf der Blogeintrag von John Perich mit der Frage „Did Kanye West tell SNL to kiss his whole ass?“ hinweist.7 Video und Song etablieren sich in dieser Vieldeutigkeit als eine Auseinandersetzung mit der Frage, wer Macht hat oder haben sollte beziehungsweise will. Der Song ist gleichzeitig Wests Titelmusik, denn er rappt: „Every super hero needs his theme music“, womit er sich mächtig im Sinne eines Superhelden macht. West rappt ferner von einem kaputten System, in dem die Schulen schließen und Gefängnisse stets geöffnet (im Sinne des Vorhandenseins) seien und er nichts mehr zu verlieren habe. Die Frage der Hautfarbe ist in der ersten Strophe (wie auch im Musikvideo) zentral, denn West wird begleitet von „some light skinned girls and some Kelly Rowlands.“ In der Welt des Weißen Mannes seien er und „seine Leute“ zudem Auserwählte. Es findet eine starke, ausformulierte Abgrenzung zwischen „wir“ und „den anderen“ statt, die nach Hautfarbe funktioniert. Statt eine Subalternität zu bemängeln, drückt West eine Erhabenheit aus, indem er sich und seine Gemeinschaft als auserwählt bezeichnet. Wie wir schon in MONSTER gese-

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Im Internet wird dieser Vers immer wieder in Zusammenhang mit Malcolm X gebracht, so auch auf der Seite http://genius.com/Rap101-kanye-west-power-lyrics#note-2502893 vom 16.08.2016. Gestützt wird sich bei den Analogien auf die Biografie zu Malcolm X, aus der auch diese Seite zitiert: Prison Culture: „The Day That Malcolm Won Harlem Over…“, http://www.usprisonculture.com/blog/2012/08/12/the-day-that-malcolm-won-harlemover/ vom 16.08.2016. Auch dieser interessante Blogbeitrag stützt sich auf Malcolm X und bringt eigene Thesen zur Machtfrage: John Perich: „I’m Trippin’ Off The Power. Did Kanye West tell SNL to kiss his whole ass?“, https://www.overthinkingit.com/2010/ 10/20/kanye-west-power-snl/ vom 16.08.2016.

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J. Perich: „I’m Trippin’ Off The Power. Did Kanye West tell SNL to kiss his whole ass?“, https://www.overthinkingit.com/2010/10/20/kanye-west-power-snl/ vom 16.08.2016. Der Autor nimmt den zweiten Vers in seine Analyse mit herein, den wir in den Videos nicht mehr haben. Dieser beginnt mit „Fuck SNL and the whole cast“.

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hen haben, ist die Trennung nach Hautfarben im Falle der Frauen, die dem Rapkünstler zur Inszenierung seiner Männlichkeit dienen, aufgehoben. Die Leitdifferenz Schwarz-Weiß wird zugunsten der Dominanz des Mannes über die Frau aufgehoben, also können auch Weiße Frauen objektifiziert werden. Die Welt des Weißen Mannes ist vorrangig nicht die von West, und so kommt es zu einer Aneignungsbewegung, die in der ersten Wiederholung des Chorus zu sehen ist. Im Vergleich zur Einführung des Chorus fügt er eine Zeile hinzu, nämlich „[...] fuck that, the world’s ours.“ Zeit und das Vergehen von Zeit werden als unausweichlich, aber auch von ihm für sich als nicht bedrohlich wahrgenommen, so rappt er, dass er die Uhr ticken höre, er die Stunden zähle und die Welt ihm jetzt und in diesem Moment gehöre. Das Ticken der Uhr, das Fortschreiten der Zeit ist die Gewissheit, dass das Leben weitergehen wird, egal, was im Hier und Jetzt noch passiert. West befindet sich auch im Video inmitten eines erotischen, durchaus auch gewalthaltigen Exzesses, dessen Zentrum er ist und der unaufhaltsam auf eine Explosion hinausläuft. Ein vor dem Hintergrund des gezeigten sich steigernden Exzesses (bis hin zum Auftritt zweier Krieger, die West zu bedrohen scheinen) anzunehmendes Kollabieren des gezeigten Minikosmos relativiert West im Song, wenn er rappt: „Goodnight cruel world, I’ll see you in the morning.“ Die visuelle Ebene von POWER öffnet sich unserem Blick in extremer slow motion und gibt ausgehend von einem Close-up, in dem Wests Augen im Mittelpunkt sind, eine Bildwelt frei, wie wir sie in einem barocken Gemälde vermuten würden. Im Hinblick auf eine Abweichung von üblicher Musikvideoästhetik ist am auffälligsten, dass der Clip kein Lip-Synching einsetzt und West stattdessen die Dauer des kurzen Clips über hoch konzentriert in die Kamera blickt, aber eben die Lippen nicht bewegt. Brambilla beschreibt auf seiner Website kurz und knapp, was für ihn Inspiration für die Bildwelten von POWER war: „POWER shows a continuous camera move from extreme close-up of Mr. West revealing a neoclassical video tableau showing characters and creatures surrounding him in an abstract environment – all moving in extreme slow motion. Inspired by Michelangelo’s frescos in the Sistine Chapel, the piece depicts a faux historical moment – an empire on the brink of collapse from its own excess, decadence and corruption.“8

In der Tat gelten die Gesetze der Physik in diesem Video nicht. Schwerelos hängen Figuren von der Decke, Wasser fließt von unten nach oben und es fliegen Figuren in Zeitlupe von den Seitenrändern in die Bildmitte.

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http://www.marcobrambilla.com/portfolios/power/ vom 16.08.2016.

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Abbildungen 52 und 53: Kanye West in den Versionen im Vergleich

Abbildungen 54 und 55: Letzte Einstellung vor dem Einblenden des Schriftzuges „POWER“

Oben wurde darauf hingewiesen, dass im Internet zwei verfügbare Versionen oder zwei verschiedene Clips zu finden sind. Im Folgenden werden diese Unterschiede herausgearbeitet, da an ihnen die Entgrenzungsbewegung, die West in seiner Version des Clips vollzieht, anschaulich gemacht werden kann. Das erste Bild des Clips zeigt, dass die Schwerpunktsetzung bei West eine andere ist als bei Brambilla, denn beide Clips starten bei genauem Hinsehen nicht einmal an derselben Stelle (siehe Abbildungen 52 und 53). Kanye West wirkt in seiner VeVo-Kanal-Version viel schwärzer, seine Augen sind deutlich geweißt, er ist in einem näheren Close-up zu sehen und die ionischen Säulen im Bildrand füllen einen größeren Teil des Hintergrundes aus. Auch sie sind deutlich schwärzer als in der Brambilla-Version. Die Goldkette scheint zudem stärker zu glänzen. Alles wirkt in seiner spezifischen Farbgebung oder Materialität noch etwas deutlicher konturiert, farblich satter und dadurch intensiver. In Wests Version werden er und spezifisch seine Hautfarbe stärker zum Thema, weil er schwärzer erscheint und zugleich einen größeren Bildausschnitt beansprucht. Im Vergleich zwischen Brambillas Version und der von West gibt sich zu erkennen, was an verschiedenen Stellen dieser Arbeit als wesentlich herausgearbeitet wurde: Der race-Diskurs als für den Hip-Hop wesentlich wird in Wests Version deutlicher konturiert, und was inhaltlich in den Lyrics thematisiert wurde („in this white man’s world, we’re the ones chosen“), wird auch auf der Bildebene inszeniert. Im direkten Vergleich (siehe Abbildungen 54 und 55) wird die Unterschiedlichkeit noch einmal deutlich. In Wests Version geht es zentral um ihn: Nach mehreren

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Schnitten auf einzelne Bildausschnitte zeigt die letzte Einstellung vor dem Einblenden des Schriftzugs „POWER“ ein an Personage stark reduziertes Bild. Stattdessen sehen wir symmetrisches Funkensprühen neben und hinter ihm, starke Lichteffekte im oberen Drittel des Bildes sowie vom Himmel fallendes „göttliches“ Licht. Ein Weißer und ein Schwarzer Krieger fallen aufeinander zu und – das lässt der Clip in der Schwebe – kreuzen beinahe ihre Schwerter oder attackieren West, der immer noch eher unbeteiligt der Mittelpunkt des Bildes ist. Brambilla sieht seinen Clip als ein Reich kurz vor dem Zusammenbruch, einen Kollaps, den es im Song so nicht gibt. Hier wird vielmehr das exzessive Feiern seiner selbst und der Gegenwart inszeniert, wobei klar ist, dass es nach dem Kollaps einen Morgen geben wird, denn in den Lyrics heißt es: „So good night cruel world, I’ll see you in the morning.“ Das Musikvideo in Wests Version hält diese Spannung kurz vor dem Kollaps hingegen aufrecht und steigert sie noch durch das abrupte Einblenden des Schriftzugs „POWER“ ohne Auflösung der letzten Einstellung, in der West von zwei Kriegern angegriffen wird, bevor das Musikvideo an dieser Stelle anders als der Song einfach abbricht. Das Ende des Songs, das wir im Musikvideo gar nicht zu hören bekommen, gestaltet eine Art musikalisches Outro anstelle des Refrains, in dem West singt: „This will be a beautiful death“, worauf im Response der Soulsänger Dwele antwortet: „Jumping out the window, letting everything go.“ Das Ende des Songs deutet also die Möglichkeit eines Suizids an, der so lieblich gesungen als schöne Erlösung einer vielleicht unerträglichen Anspannung anmutet. Die Lyrics des Songs inszenieren also ebenfalls eine Opfergeste, wie wir sie in der Einstellung mit der Konfrontation Wests durch die Krieger vermuten. Eine stark verzerrte, wütend klingende Stimme am Ende des Songs antwortet direkt auf Dweles Gesang mit: „You got the power to let power go?“ Brandon Soderberg schreibt in seinem Blog No Trivia dazu: „Besides being an absurd, awesomely inappropriate reference to Ron Browz’s ‚Jumping (Out The Window),‘ it’s an effective and disturbing literalization of the album’s persistent theme: Everything that rises eventually falls.“9 Mit „bestechend unangemessen“ ist hier die Referenz zu Ron Browz Song bezeichnet, der eine Hymne an den Sprung aus dem Fenster als Bild für den Sprung in die Charts ist – ein leichter, fast fröhlicher, energiegeladener Song. West erst gibt dieser Metapher den Kontext des Suizids.

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No Trivia: „Kanye West Week: ‚Power‘“, http://no-trivia.tumblr.com/post/2069133092/ kanye-west-week-power vom 16.08.2016.

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Abbildung 56: Tableau; letzte Einstellung vor den Blenden in Wests Version

Vergleiche zu diesem Still auch die letzte Einstellung in Brambillas Version (Abbildung 54).

Ästhetik der Überwältigung Die letzte Einstellung des mit der vollständigen Personage besetzten Tableaus10 haben wir in Wests Version bei 01:15, ganz gehalten in einer Überwältigungsästhetik erinnernd an ein Tableau am Schluss einer französischen Grand opéra. Die zentralen Themen des Clips sind klar: Zwar leicht bekleidet, aber dennoch in eindeutigen Posen, sehen wir Paare (auch zwei Frauen) beim Akt, Frauen in Ekstase oder ekstatischen Zuckungen sowie Frauen bei einer Art Waschung oder Selbsttaufe. Das Schwarze Albino-Model Diandra Forrest ist gleich vierfach zu sehen: Sie flankiert West und bewacht ihn mit einer Art Zeremonienstab und sitzt rechts und links unten im Bild mit einem Kelch Trauben in der Hand. Sie trägt lange Hörner auf dem Kopf, die sie Darstellungen der altägyptischen Göttin Hathor ähnlich erscheinen lässt. Das ergibt umso mehr Sinn, als dass sie die Mutter von Horus ist, der sich in West durch seine Falken-Kette andeutet. Als Albino ist Diandra Forrest Schwarz und hat doch eine Weiße Haut, was sie paradigmatisch zum Medium für Hautfarbenstereotype macht, mit denen sie alleine durch ihre Erscheinung bricht.

10 Nach dieser folgen sechs Blenden, auf die nachfolgend eingegangen wird. Die letzte Blende führt zur oben diskutierten Einstellung, die West und die zwei Krieger zeigt. Nach dieser erscheint der Schriftzug „POWER“.

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Abbildungen 57 und 58: Bildausschnitte aus dem Tableau von Wests Version

Diandra Forrest als Fabelwesen – erinnernd an Hathor, Mutter des Horus; eine Fau in Ekstase

Das Musikvideo betrachtend werden wir Zeuge einer Orgie, in der leicht bekleidet zu sein dem Nacktsein gegenüber keinesfalls abfällt, liest man die Inszenierungen mit Bataille: „Die Nacktheit wird ergänzt durch das Befremdende halbbekleideter Körper, deren Liederlichkeit durch die Fetzen nur unterstrichen wird, die sie noch unordentlicher, noch nackter erscheinen lassen.“11 Die in die Gemeinschaftlichkeit aufgelöste Erotik, die uns in der Orgie im Clip begegnet, ist in Batailles Worten die „ruinöse Form“ der Erotik.12 Diese beschreibt er auf Blanchot zurückgreifend als „die Forderung der Souveränität, die sich in einer unermeßlichen Negation ausspricht.“13 Das rücksichtslose Ausagieren von Lust lässt uns souverän sein, was wir sonst durch Solidarität anderen gegenüber nicht erreichen können. Dabei geht es Bataille nur um eine Bewegung hin zur Souveränität; keinesfalls glaubt er, dass diese abschließend zu erreichen wäre. Und selbst Souveränität als konstruiertes Ideal sei noch überboten von Apathie, die für Bataille die Negation von allem außer dem Selbst ist. Zur Apathie führt Bataille aus, was für den fast bewegungs- und teilnahmslosen, uns als Zuschauer/-innen fixierenden, im Musikvideo jedoch bezugslosen West erhellend ist: „[...] der wahre Mensch weiß, daß er allein ist, und er akzeptiert es; alles, was sich in ihm, eine Erbschaft von siebzehn Jahrhunderten Feigheit, auf andere und nicht auf ihn selbst bezieht, negiert er; das Mitleid zum Beispiel, die Dankbarkeit, die Liebe, lauter Gefühle, die er zerstört; indem er sie zerstört, gewinnt er die ganze Kraft zurück, die er diesen entkräf-tenden Regungen hätte widmen müssen, und was noch wichtiger ist, er zieht aus dieser Arbeit der Zerstörung die Wurzel einer wirklichen Energie. - Es muß allerdings klar sein, daß die Apathie nicht nur darin 11 G. Bataille Erotik, S. 166-168. 12 Ebd., S. 167. 13 Ebd. An dieser Stelle bezieht sich Bataille explizit auf die Arbeit von Maurice Blanchot.

294 | Z UR SAKRALEN DIMENSION IN US- AMERIKANISCHEN H IP-H OP-V IDEOS besteht, die ‚parasitären‘ Neigungen auszurotten, sondern ebensosehr darin, der Spontaneität jedweder Leidenschaft Widerstand zu leisten. Der Lasterhafte, der sich unmittelbar seinem Laster hingibt, ist nur eine Fehlgeburt, die zugrunde geht.“

Das Unbeteiligtsein Wests und seine relative Unbewegtheit – er macht lediglich ruhige Schrittbewegungen auf uns zu – spiegeln sich in den langsamen Bewegungen der Körper neben, unter und über ihm. Sie zentrieren sich auf ihn und verausgaben sich für ihn, für seine Souveränität, aber vor allem für seinen Machtanspruch. West aber ist durch die „Negierung der anderen“ zur eigenen Negation gelangt, um mit Bataille zu sprechen, und ist in dieser Perspektive und für diesen Moment einer Kraft ausgesetzt, die ihn als Individuum übersteigt. Das Extrem in Wests Version zeigt sich auch darin, dass der obere Bildrand offen ist. Ihm fehlt hier die Rahmung, die er bei Brambilla hat. Die Bögen sind offen, wie abgebrochen, und geben so die Sicht frei auf einen aufgewühlten Himmel mit viel Wolkenspiel, aus dem die Sonne als himmlisches, in der Geschichte der Kunst auch göttliches Licht über Wests Kopf hervorbricht. Bis hierher ist West nah an den Extremen, die Bataille für die Literatur Sades beschreibt, aber kann die absolute Verausgabung nicht zulassen, wie im Folgenden herausgearbeitet wird. Über Wests Kopf schwebt gegen Ende des Clips ein Schwert, das von einem goldenen Ring gehalten wird. Die beiden Schwerter der Krieger treffen exakt in der Mitte des Schwertes mit ihren Spitzen aufeinander. Das für sich schon im Sinne eines Heiligenattributes zu lesende Schwert über seinem Haupt formt mit den beiden Schwertern der Krieger ein Dreieck und bildet ein neues Symbol. Ob als Dreizahl auf die Trinität, das Auge der Vorsehung des Christentums, die Freimaurerei oder in Verbindung mit der Horus-Kette auf das Sonnenauge der alten Ägypter anspielend, ist diese Inszenierung vor allem in ihrer Symboldichte relevant – weniger als in ihren einzelnen konkreten Bedeutungsebenen. West steht in einem Symbolüberschuss, der ihn als mächtig ausweist, ohne ihm einen konkreten, real-historischen Platz zu geben. Im Vordergrund der Inszenierung steht, sich mit alten und mächtigen Symbolen zu umgeben, die sich in Bedeutungen und Herkunftskontexten überlagern oder sogar widersprechen und einen synkretistischen Mix ergeben. Sie haben hier lediglich die Funktion, Insignien der Macht zu sein und nicht die Zugehörigkeit beispielsweise zum Christentum oder zu einer bestimmten Freimaurerloge auszudrücken. Die Horus-Kette bekräftigt dies: Diese Kette tragend weist sich West die Rolle eines der Hauptgötter (hierarchisch sogar noch über anderen Göttern stehend) des alten Ägypten zu.14

14 Kette und Ring hat er sich anfertigen lassen und trägt sie bei Auftritten. Vgl. Rap-Up: „The 6-Figure Price Tag on Kanye West’s BET Awards Jewelry“, http://www.rap-up.com/ 2010/06/29/the-6-figure-price-tag-on-kanye-wests-bet-awards-jewelry/ vom 16.08.2016

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West zu Füßen sitzt eine Frau (Model Irina Shayk), die Phönix-Flügel entfaltet. In Brambillas Version bekommt sie ein Paar Flügel, in Wests Videoversion zwei Paar, die noch dazu heller leuchten und viel mehr Farbenspiel zeigen. Auch hier ist eine Überschussproduktion, die das Musikvideo in den Kitsch treibt, zu erkennen. Andererseits hat die entschärfende Zensur auch deutlich in das künstlerische Konzept eingegriffen: Die Körper sind mit fließenden Stoffen oder – da, wo die Schwerkraft es nicht erlauben würde – mit einer schützenden Hand verhüllt. Die Einstellung mit Shayk im Bildmittelpunkt folgte in Wests Version auf die erste Blende des kurzen Clips. Die sechs Blenden kommen in Brambillas Version nicht vor. Sie sind deutlich zu erkennende, wenn auch schnelle, digitale Wischblenden, die hin und her blenden zwischen einzelnen Ausschnitten des Gesamtbildes, die jeweils ein anderes Detail fokussieren und das Tableau zerstückeln. Auch der nach den letzten Einstellungen eingeblendete Schriftzug „POWER“ ist in den beiden Versionen verschieden: Abbildungen 59 und 60: Schriftzug „POWER“

Brambillas und Wests Version im Vergleich

Bei West strahlt der Schriftzug hell, er wirkt dreidimensional durch den Einsatz der Lichteffekte und er übernimmt in den einzelnen Buchstaben Bildmaterial aus dem Clip. Während in Brambillas Version der Schriftzug unbeweglich ist und hart sowohl ein- als auch ausgeblendet wird, flieht „POWER“ in Wests Version in den Hintergrund. Zudem endet die Einstellung auf dem Powerchord mit dem Grundton C15, der sogar noch dadurch akustisch hervorgehoben ist, dass er in der Lautstärke angehoben wurde. Mit dem Verklingen des Halls dieses Powerchords verschwindet auch der Schriftzug. Gerade diese unterschiedlichen Enden der Videoversionen – auch schon vor Einblenden des Schriftzugs wie oben besprochen – verweisen auf grundsätzlich verschiedene Einstellungen zu Macht und Machtanspruch. Während Brambilla schreibt, dass sein Clip ein vor Dekadenz kollabierendes Reich zeige, so ist in der Version Wests deutlich der Künstler selbst und nicht sein Reich im Mittelpunkt. Zwar 15 Der Powerchord ist in der Rockmusik geläufig und zeichnet sich dadurch aus, dass ihm die Terz fehlt. Seinem Namen nach ist sein Charakteristikum, dass er kräftig und dominant klingt.

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wird in Wests Version ebenfalls eine Spannung erzeugt, dadurch, dass wir nicht erfahren, was die Krieger mit West tun, was mit ihm passiert, wenn die Schwerter über ihm zusammentreffen. Der Schriftzug in Wests Version deutet jedoch seine Rolle, seinen Machtanspruch und die Haltbarkeit dieser Macht fundamental anders als Brambilla es in seiner Version tut. West rekapituliert alle Machtinsignien und alle Symbole und Gesten des Sakralen, indem er sie motivisch in den eingeblendeten Schriftzug integriert. Sie leuchten am Ende des Videos, nachdem West durch die Krieger bedroht wurde, in den noch dazu glänzenden und strahlenden Buchstaben im Wort „POWER“ auf. West hält an seinem Machtanspruch fest, während Brambilla sehr deutlich verstanden zu haben scheint, dass Macht vergänglich ist. Mit Bataille lässt sich das mit dem Einblenden des Schriftzugs „POWER“ gestaltete Ende des Clips als eine mit einem starken Machtanspruch verknüpfte Souveränität lesen, die nicht die wirkliche oder echte Souveränität meint, die Bataille als Ideal im Blick hatte. Bis hierher wurde auf einer visuellen Ebene vor allem ikonografisch und motivisch gezeigt, dass Exzess und Überschuss Themen des Musikvideos sind, sowie sowohl ihre Verbindungen zum Sakralen als auch ihre Implikationen im Bezug auf Souveränität diskutiert. Im letzten Beispiel des Schriftzuges ist angeklungen, dass in dem Musikvideo über das Symbolhafte hinaus, nämlich in der Bewegung oder im Umsetzen von Bewegung und Unaufhaltsamkeit im Clip, bestimmte ästhetische Strategien verfolgt werden, die ebenfalls unter dem Blickwinkel einer Überschussproduktion begriffen werden können. Die Wischblenden gegen Ende des Musikvideos sind eine Steigerung hin auf den unausweichlichen Höhepunkt des Clips, indem sich zwischen ihnen Beschleunigung und Slowmotion kontrastieren. Schon vorher gibt es ein Spiel von Verlangsamung und Beschleunigung in den Stofftüchern, die sich explosionsartig entfalten16, um dann wieder langsam durch die Luft zu gleiten. Genauso sind die Bewegungen der Personen aus der Slowmotion heraus immer wieder beschleunigt, sodass sie wie ruckartiges Zucken wirken. Auf den 22 Ebenen17 des Clips bewegen sich die Personen unabhängig voneinander und haben so ihre jeweils eigene Zeitlichkeit. Das macht auch das Bezugslose zwischen ihnen aus – sie alle stehen untereinander nicht in Beziehung, sondern richten sich auf den Fluchtpunkt des Bildes, auf West. Diese Beschleunigungen auf visueller Ebene kommen unaufhaltsamen Eruptionen gleich, die sich in den Blenden gegen Ende des Clips noch steigern. Extreme Formen des Sakralen brechen auf einer weiteren Produktionsebene ein in den

16 Bei 00:38 entfaltet sich das rote Tuch am oberen Bildrand aus der Unsichtbarkeit hinein ins Bild parallel zum Powerchord des Songs. 17 Vgl. Aaron Kohn: „CH exclusive: The making of Kanye West’s newest music video „Power“ with its artist/director“, http://www.coolhunting.com/culture/marco-brambilla vom 16.08.2016.

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ohnehin schon mit sakralen Codes und Motiven überladenen Clip und werden im Folgenden diskutiert.

Sound und Gemeinschaft An einzelnen Stellen der Analyse ist die auditive Komponente des Musikvideos immer wieder in den Fokus gerückt. Nun soll hier eine Betrachtung ausgehend von einzelnen Bestandteilen der Tonspur erfolgen. Auch akustisch schafft POWER mit strategischen Elementen Sakrales im Sinne der Vergemeinschaftung, der sich plötzlich im Song vereinenden Menschen, die einerseits West huldigen, andererseits aber auch gemeinsam Position in den für West wesentlichen Aussagen des Songs beziehen. Die Kulturwissenschaftlerin Inge Baxmann erläutert: „Bewegung und Rhythmus und die damit entstehenden Vibrationen und Resonanzen bilden ein elementares Kommunikationssystem, das Sympathiegefühle und damit Gemeinschaft herstellt.“18 Schon der Song an sich ist vom Aufbau her auf Gemeinschaft im Sinne eines Partizipierens angelegt: Mit dem von mehreren Stimmen gesungenen „Oh hey hey“ und dem Klatschen in Vierteln wird schon zu Beginn ein zum Mitmachen auffordernder Gestus erzeugt. Der sehr eingängige Gesang macht ein Mitsingen leicht und erinnert in seiner einfachen Form, den drei gleichen Wiederholungen und dem Höhepunkt in der leichten Abweichung des vierten Durchgangs an Fangesänge aus Fußballstadien. Der Ruf „Oh hey hey“ steht zunächst relativ für sich alleine und wird lediglich von einem pulsierenden, aber dezenten Sound im Bassregister begleitet. Auf dem Wort „doing“ setzt im Hintergrund ein sirenenartiger Klang ein, der sich bis an das Ende der Bridge erstreckt und in der Tonhöhe ansteigt. Einen Takt nach Einsetzen der Sirene kommt zusammen mit der E-Gitarre der E-Bass hinzu, der den pulsierenden Gestus aufnimmt und 15 Achtel lang den Song auf den Einsatz des eigentlichen Beats hin steigert, welcher nach dem Auslassen des 16. Achtel als einem retardierenden Moment auf der 1 des nachfolgenden Taktes einsetzt. Das für den Song leicht modifizierte Sample stammt von der Gruppe Continent Number 6 aus dem Song „Afromerica“ von 1978.19 Der Name scheint hier Programm und findet sicher nicht zufällig seinen Weg in einen Song, der die Hautfarbe in den Raps und den Visuals thematisiert. Das vielleicht bekannteste Sample des Songs, das in der kurzen Musikvideoversion zweimal zu hören ist, in den Song einbricht und den Beat unterbricht, stammt von

18 I. Baxmann: Mythos Gemeinschaft, S. 70. 19 Whosampled.com: http://www.whosampled.com/sample/54878/Kanye-West-DwelePower-Continent-Number-6-Afromerica/ vom 16.08.2016. Der Breakbeat stammt von den Cold Grits und ihrem Song „It’s your thing“ von 1969.

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der britischen Art-Rock-Gruppe King Crimson aus ihrem Song „21st Century Schizoid Man“. Für POWER ist das Sample im Wesentlichen mit seinen schon für King Crimson charakteristischen extremen Verzerrungen übernommen worden, die dem Song seinen rockigen Charakter verleihen. West greift es thematisch in seinem Song auf, wenn er eingangs rappt: „I’m living in the 21st century, doing something mean to it“, und damit erklärt, dass er der „21st Century Schizoid Man“ ist. Die musikalische Praxis des Sampelns im Hip-Hop ist natürlich immer eine, die auch mit dem Begriff des Signifyin(g) beschrieben werden kann. Es ist ein Spiel mit Material, das in einem neuen Kontext eine neue Bedeutung bekommt, die sich in ihrer Tragweite erst ergibt durch die Differenz zu ihrem vormaligen, bekannten Kontext. Diese Praxis berücksichtigend und das Zitat des Songtitels in den Raps ebenfalls als ein solches Signifyin(g) verstehend kann von einer ästhetischen Aneignung „Weißer Rockmusik“ gesprochen werden – besonders, weil West selbst von einer „white man’s world“ rappt.20 Mit „21st Century Schizoid Man“ sampelt West einen hochpolitischen Song, der sich 1969 in wenigen, aber starken Worten gegen den Vietnamkrieg aussprach. Mit dem Sampling stellt West sich in die Tradition dieses Protestsongs, der den Napalmeinsatz im Vietnamkrieg und die Verantwortlichkeit der Politiker harsch kritisiert. Der durchgängige Einsatz einer verzerrten E-Gitarre, die im Wesentlichen die Töne des „Oh hey hey“-Gesangs umspielt, verstärkt den Rocksound. Verzerrung im Sound ist ein durchgängiges Stilmittel des Songs. Auch die nicht zu verstehenden Worte, die im Stereo-Sound zwischen dem rechten und dem linken Kanal hin- und hergeschoben werden, sind stark verzerrt und evozieren durch den Kanalwechsel ein Gefühl von Chaos und Rastlosigkeit zugleich. Der gleiche auditive Effekt wurde auf dem Schlussklang des Songs der Musikvideoversion angewendet. Die Musikvideoversion hat nicht nur zwei Strophen weniger, sondern fehlt auch eine lange, musikalisch interessante Sequenz am Ende des Songs. Wie oben schon erwähnt, fehlt uns im Clip die Duo-Sequenz von West und Dwele sowie die entscheidende Frage: „You got the power to let power go?“ Ebenfalls in der Musikvideoversion weggekürzt ist auch das dreifache unheimlich und hämisch klingende, tiefe Lachen, dass den dunklen Charakter des Songs noch einmal unterstützt. Was ist das Schizoide, das Gespaltene in Wests POWER? Es treten in dem Clip über die Schiene

20 Es sei darauf hingewiesen, dass Wests Song keinesfalls der erste ist, in dem Rockmusik gesampelt wird. Schloss weist darauf hin, dass viele der bekanntesten Breakbeats im HipHop aus diesem Genre stammen und schon sehr früh in der Geschichte von Hip-Hop aus diesen gesampelt wurde. Schloss macht auch klar, dass ein soundästhetisches Moment im Sampling überwiegen kann und nicht jedem Sample ein dezidiert politisches Statement zugrunde liegen muss. Vgl. J. G. Schloss: Making Beats, S. 64. Für diesen Song und die zitierte Thematik mag eine politische Aussage aber vermutet werden.

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des Sakralen laufende Behauptungen von Macht und Herrschaft auf. Wie die Analyse jedoch auch gezeigt hat, gibt es Momente, an denen Macht und Herrschaft ins Wanken geraten, an denen sie kippen und West möglicherweise entmachten. Im Folgenden wird diese Brüchigkeit eingehender thematisiert.

Souveränität oder Wille zur Macht? Im Musikvideo Wests erleben wir ein offenes Ende, in dem Wests Machtposition von den Kriegern angegriffen wird. Wir wissen nicht, wie das Aufeinandertreffen ausgeht, ob West stirbt und das Finale des Musikvideos als eine Art Märtyrertod für – der Raptext legt es nahe – die Schwarzen zu lesen ist. Unterstellen wir ihm, dass er gemäß der im Song gestellten Frage „You got the power to let power go?“ mit der Aufgabe seines Machtanspruchs spielt, diese Aufgabe im Clip zumindest andeutungsweise inszeniert. In diesem Fall ließe sich dieser letzte, unentschiedene Moment des Clips, in dem die Krieger West angreifen, als Affirmierung von Selbstbestimmung lesen und damit als Ausdruck wahrer Souveränität, folgen wir für einen Moment Batailles Gedanken in „Die Souveränität“. Das Loslassen, das Nicht-Beanspruchen und eben nicht nach Herrschaft und Macht zu streben, macht echte Souveränität möglich. In diesem Satz des Songs, den wir in der Musikvideoversion gar nicht mehr hören, liegt die Möglichkeit des Loslassens von Macht und damit das Erlangen von echter Souveränität: „Die Souveränität ist eine radikale ‚Verweigerung der Macht‘. Und zwar nicht nur der Macht der Anderen, sondern auch der eigenen Macht, der Macht des Selbst, der Selbstbestimmung.“21 In Bhabhas Überlegungen zur Handlungsmacht des postkolonialen Subjekts finden wir eine Bestätigung für unsere Lesart, denn, so betont Bhabha, im Moment der Unbestimmbarkeit und der Ambivalenz liege die Handlungsmacht des Subjektes.22 In Wests Version des Musikvideos werden wir nach allen körperlichen Exzessen und Grenzüberschreitungen mit einer an Personage kleiner gewordenen Einstellung konfrontiert, in der West mit den zwei Kriegern inmitten eines Licht-, Feuer- und Funkenexzesses erscheint. Das abrupte Einblenden des Schriftzugs „POWER“, ebenfalls stark visuell hervorgehoben und übersteigert – gerade im Vergleich mit der Version auf Brambillas Website –, beendet das Musikvideo in einer Eindeutigkeit, wie

21 Christoph Menke: „Ästhetische Souveränität. Nach dem Scheitern der Avantgarde“, in: Andreas Hetzel und Peter Wiechens (Hg.): Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, Würzburg 1999, S. 301-309, hier S. 308. 22 Vgl. Homi K. Bhabha: „Das Postkoloniale und das Postmoderne: Die Frage der Handlungsmacht“, in: Homi K. Bhabha (Hg.): Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 255294, hier S. 279.

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sie West jeder Souveränität im Sinne Batailles beraubt. Die Einbeziehung zahlreicher Elemente aus dem Clip in den Schriftzug macht diese Elemente auch retrospektiv zu Insignien der Macht, die vom Inhaber der Macht abhängen. Dies steht im Gegensatz zum neutralen, nicht bewegenden und die Musikvideoszenen um West rekapitulierenden Schriftzug, wie wir ihn bei Brambilla finden. Dieser Unterschied und die vielen anderen Abweichungen von Brambillas Version werfen die Vermutung auf, dass West mit seinem Musikvideo anderes als Brambilla bezweckte – nämlich nicht das mutige Infragestellen der eigenen Machtposition, sondern die definitive Beanspruchung dieser.23 Wir haben Hinweise auf diese sich zunächst und auf den ersten Blick verweigernde Lesart des ansonsten narzisstischen und eben das Selbst und den Machtanspruch affirmierendes Videos. In diesem Zusammenhang ist es interessant hier nochmals aufzunehmen, dass das Musikvideo ein kollabierendes Reich, einen Souverän kurz vor der Entmachtung inszenieren soll, folgen wir Brambilla in seinen Äußerungen.24 Brambilla interpretiert seine letzte Einstellung als Untergang, als Entmachtung. In Wests Version ist West verlassen von den sich in Ekstase windenden Frauenkörpern. Auch seine Mutter Hathor beschützt ihn nicht mehr. Das Bild ist vergleichsweise leer. Es geht in dieser Einstellung zentral um West und nicht etwa um sein Reich, wie Brambilla es für die Interpretation seiner Version reklamiert. Dieses Musikvideo mit seiner Inszenierung von transgressiver Körperlichkeit, von Sinnlichkeit und Verlust, trifft in den Kern unserer Definition des Sakralen. Durch die Inszenierung sakraler Sujets, aber auch durch die gezeigten ästhetischen Strategien der Musikvideogestaltung scheint Sakrales auf. Der Titel und die Auseinandersetzung mit der Machtfrage in den Raps und im Clip verknüpft Sakrales direkt und unmittelbar mit der Frage der Souveränität. Wie oben dargestellt sind das Sakrale und seine Erfahrbarkeit eine Möglichkeit des momenthaften Souveränseins. Die Attribute des Sakralen und ihre produktionsästhetische Umsetzung im Clip weisen West als Souverän im Sinne eines Machthabers aus. Kehren wir zurück zur Frage, ob West der „21st Century Schizoid Man“ ist – hier verstanden als ein Mensch mit tiefen Zweifeln und Widersprüchen. Damit wird hier keinesfalls auf eine rein biografische Lesart ausgewichen, in der Wests medial inszenierte Ausfälle, seine Hasstiraden und sein tief narzisstischer Wunsch nach Gefallen thematisiert werden würden. Der Moment des Gespaltenen, der hier interessiert, ist musikvideoimmanent jener zwischen Machtbehauptung und Entmachtung.

23 Etwas forscher könnte man auch formulieren, dass West die künstlerische Idee hinter Brambillas Version womöglich schlicht nicht verstanden hat. 24 http://www.coolhunting.com/culture/marco-brambilla, Aaron Kohn: „Marco Brambilla: From Civilization to Power“, 4. August 2010 vom 16.08.2016.

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Christoph Menke fasst Batailles Auffassung des Souveränen in und durch die Kunst zusammen: „Die Souveränität der Kunst besteht nicht darin, daß sie uns eine Richtung vorgibt, daß sie uns etwas Neues zeigt, daß sie eine unbekannte Ordnung erschließt, sondern daß sie uns, mitten in unserem Leben, mit dem Zugleich zweier unvereinbarer Möglichkeiten konfrontiert.“25 Menke weist die Möglichkeit des „Schwankens“ zwischen Behauptung und Verneinung, eben die „Freiheit der Suspension und Transgression von Ordnung“26 als echte Souveränität aus. „Souverän ist nicht, wer andere beherrscht, und auch nicht, wer sich bestimmt, sondern wer so schwanken kann.“27 Nur in dem Bruchteil einer Sekunde zwischen Abbruch der Einstellung Wests mit den Kriegern und dem Einblenden des Macht wieder einfangenden, rekapitulierenden Schriftzugs, in diesem Augenblick der Ungewissheit, liegt ein Moment der Souveränität. Hätte das Musikvideo, das wir auf Wests Vevo-Kanal finden, geendet, wie Brambilla es in seiner Version gestaltet hat, nämlich im Halten der Spannung, ob das zu sehende Reich zusammenbricht, ob West seine Macht verliert oder nicht, hätte West im Clip inszeniert, was er im Satz „You got the power to let power go?“ im Song hinterfragt, hätte es einen echten souveränen Moment gegeben. So aber ist POWER in Wests Version die Unfähigkeit, loszulassen, und damit die Abhängigkeit von Macht, die Souveränität per se ausschließt. Souveräne Kunst und objektive Macht wollen beide weder subordinieren, noch lassen sie ihre Subordination zu28 – über diesen Kniff und in der ästhetischen Umsetzung reicht die Version Brambillas noch am nächsten an Souveränität in Batailles Sinn heran. Die scheint West jedoch gar nicht verfolgt zu haben. Ihm geht es um das Inszenieren seiner ungebrochenen Macht mit den Symbolen, Codes und ästhetischen Strategien des Sakralen.

25 C. Menke: Ästhetische Souveränität, S. 308. 26 Ebd., S. 305. 27 Ebd., S. 309. 28 Vgl. ebd., S. 303.

Schlussbemerkungen

Diese Arbeit hatte zum Ziel, die Sakralsoziologie und -ästhetik Georges Batailles für Analysen von Musikvideos des US-amerikanischen Hip-Hops fruchtbar zu machen und als Gegenentwurf zu religiösen Deutungsansätzen vorzuschlagen. Der Begriff des Sakralen ermöglichte in den Analysen, die emotionale Intensität der Musikvideos aus ihrem Material und ihrer Ästhetik heraus zu erklären und starre Zuschreibungen von Schwarz und Weiß, wie sie die Forschung zu Hip-Hop und Religion häufig produziert, zu vermeiden. Ferner wurden Ansätze von Gemeinschaftsentwürfen sowie Souveränitätsfragen mit Bataille an den Musikvideos diskutiert, die hier rekapituliert werden. Die sakralen Inszenierungen von Gewalt, Erotik und Tod sowie das zentrale Motiv des „Opferns“ artikulieren Anders- und Fremdsein, Widerstand, aber auch kalkuliertes Befolgen oder ironisches Spiel mit Stereotypen. Dabei spielen die Inszenierungen mit Festlegung und Eindeutigkeit an sich. Als Schwarze in der Gesellschaft der USA bekamen und bekommen die Rapper den Platz des Anderen, des Fremden und potenziell Gefährlichen. Die Inszenierungen der sakralen Motive dienen ihnen einmal mehr dazu, diese empfundene Andersheit zu spiegeln, mit ihr zu brechen und denjenigen, die sie immer wieder als fremd konstruieren, den Spiegel vorzuhalten. Das Sakrale wurde in der Arbeit als affektiv wirkendes und darüber sinnkonstituierendes Moment verstanden, das subversiv nicht nur rationalen Ökonomien entgegenarbeitet, sondern so auch im race-Diskurs als subversives Element erkennbar wird. Die Arbeit hat Musikvideos als Orte der Sichtbarmachung und Verhandlung von Identität etabliert, die auditive und visuelle Praktiken der Hip-Hop-Kultur in einer eigenen, musikvideospezifischen Weise inszenieren. In den Musikvideos ließen sich Prozesse der Sakralisierung nachweisen, in denen religiöse Codes und Symbole neben vielen anderen Zeichen aufgegriffen wurden. Ihre Verwendung in den Musikvideos geschieht hochgradig brüchig und flüchtig, flankiert von einer Fülle anderer, überlagernder Motivbereiche. Die Analysen haben gezeigt, dass diese Motive und ihre visuelle wie auditive Inszenierung in Musikvideos als sakral im Sinne einer sakralen Ästhetik bezeichnet werden kann, die einen rein religiösen Deutungsrahmen

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immer wieder übersteigt. Das Genre des Hip-Hop-Musikvideos wird aufgrund seiner medienspezifischen Beschaffenheit zum Ort, an dem sich die musikalischen Stilmittel der Überschussproduktion, die für Hip-Hop seit seiner Entstehung kennzeichnend sind (Überlagerung, Bruch und Dekonstruktion im Sampling), in Verbindung mit filmischen Mitteln zu einer Überschussfigur potenzieren. Der in den Analysen der Musikvideos zu konstatierende Zeichenüberschuss, das prozessuale Verwerfen und Neuaufwerfen von Bedeutung, ist eine den einzelnen Motiven übergeordnete sakrale Inszenierungsstrategie, die auf emotionales Berührtsein, auf eine sinnliche Affizierung der Rezipienten – und letztlich auf eine neue Gemeinschaft – zielt. Religiöse Zeichen und Codes, die motivisch in Anspielungen an Jesus, an Engel oder einzelnes Kirchenpersonal vorhanden sind, lassen sich als in dieser Weise sakral inszeniert begreifen und in den Funktionskontext des Sakralen, wie Bataille ihn entwickelt hat, stellen. Sie greifen Weiße, christliche Hegemonialität auf, suchen ihre Deutungshoheit zu unterwandern und ihre Macht zu brechen. In Ansätzen hingegen, die Religion zur Theoriegrundlage erklären und jene Zeichenvorräte mehr oder weniger mühsam als Auseinandersetzung mit dem persönlichen Glauben oder der (möglichst anhaltenden) Bedeutsamkeit von Religion für Schwarze in den USA deuten, werden diese heterogenen Codes und Symbole ideologisch vereinnahmt. Mit der Behauptung des Sakralbegriffes gegenüber dem der Religion gewinnt die Diskussion der Hip-Hop-Kultur in einem race-Diskurs an Spielraum und lässt sich auch ein theoriepolitisches Argument formulieren: Schwarze Selbstbehauptung, der Kampf gegen Weiße Hegemonialität und Überlegenheit, wurde jeher über Schwarze Religion und Religionspraktiken geführt. Zum einen findet sich die realhistorische Verbindung zwischen Schwarzer Religion und gesellschaftlichem Protest. Ein historisch gleich einsichtiges Beispiel wäre das Engagement Schwarzer Kirchen- und Gemeindevertreter in der Bürgerrechtsbewegung in den 1950er und 1960er Jahren. Die wohl bekannteste Verknüpfung finden wir in der Person Martin Luther Kings, der zugleich Baptistenpastor und Führer der Bürgerrechtsbewegung war. Zum anderen finden wir daran anschließend eine Radikalisierung, die starke Dichotomien aufgreift und wiederum exkludierend auch innerhalb einer Schwarzen Gemeinschaft verfährt, was vor allem die Schwarze Frau trifft. Im Beharren auf Religion als Folie für die Musikvideos und Songs des Mainstream-Hip-Hops – selbst in einem von Konfessionalität und Institutionalität befreiten Verständnis – und in der Konstruktion von Religion als Ausweg zeigt sich ein weiteres problematisches Moment. Wird nicht mehr auf das Christentum verwiesen, sondern stattdessen auf afrikanisch-‚ursprüngliche‘, den Körper zentral stellende, sinnliche Erfahrbarkeit betonende Ansätze, tradiert sich ein rassistisches Stereotyp, welches Schwarze intellektuell als Weißen gegenüber unterlegen situiert. Im Behaupten von Religion und Religiosität und ihrer Rückbindung an rein Schwarze Praktiken in und durch Hip-Hop-Artefakte wird eine exklusive und exkludierende Lesart vertreten, die starke binäre Oppositionen, vor allem zwischen Schwarz und Weiß verstärkt, die gemessen an der Vielschichtigkeit der Musikvideos

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und ihrer globalen Verbreitung unterkomplex ist. Vielmehr hat die Analyse der Musikvideos mit dem Sakralbegriff eine Stärkung Schwarzer Identität durch Praktiken des Suspendierens einer einzigen Deutungshoheit gezeigt. Die Sakralsoziologie Batailles erlaubt, die verausgabenden, überschüssigen religiösen Motive, die biegenden, brechenden und zerstörenden Inszenierungsstrategien und sogar die Grundfesten des Hip-Hops, wie die Überschüssigkeit von Sprache im Rap, zusammenhängend zu begreifen. Das Ermöglichen eines erotisch motivierten Verschmelzens mit dem Künstler für die Zeit der Rezeption des Musikvideos wird mit Batailles Formulierungen aus „Die Erotik“ als potenzielle Grenzüberschreitung zwischen Subjekt und Objekt und als Übergang von der Diskontinuität eines einzelnen Wesens in die Kontinuität beschreibbar. Die Strahlkraft und Affektintensität erhält der Künstler auch, aber nicht ausschließlich, über eine religiöse Motivik in den Musikvideos, die sakral inszeniert ist. So sind diese Momente des Musikvideogenusses mit Bataille als sakral und nicht als religiös zu begreifen und erscheinen ganz wesentlich für die Faszination der Rezipierenden. Die sakralen Momente, hier in der erotischen Nahwelt der Hip-HopMusikvideos erfahrbar, sind Teil einer sakralen Inszenierungsstrategie vor allem des Stars und wesentlich verantwortlich für die Bindungskraft und die Faszination der Musikvideos. Die Arbeit hat ferner für Musikvideos und ihre Wirkung argumentiert, dass diese über ihre Verbreitung im Internet und ihre Rezeptionskontexte im Alltag auf Smartphones und anderen mobilen Endgeräten momenthafte, flüchtige Gemeinschaften unter den Rezipienten ermöglichen. Bataille und den Mitgliedern des Collège de Sociologie ging es stets um hochemotionale Bindungen, die trotz der Gefahr der Ähnlichkeit zu faschistischer Mobilisierung in Form der dichotomen Polarisierung stets einen Kontrapunkt zu dieser setzen sollten. Bataille hat in seiner Sakralsoziologie die echte Souveränität des Menschen sowie die Möglichkeit der Gemeinschaft stets als zwei Fluchtpunkte weg von einem ungesunden Individualismus und einer durchrationalisierten Gesellschaft vor Augen gehabt.1 Dies führt zur Beobachtung von Unterschieden in der Inszenierung des Sakralen der einzelnen Musikvideos. Zwar gibt es die Gemeinsamkeit der immer wieder auftauchenden Motive, wie etwa die mannigfach vorhandenen Jesus-Vergleiche. Auch der Effekt des Sakralen, sinnlich affiziert zu sein und potenziell in einen anderen Wahrnehmungsmodus einzutreten und das Erregen von kollektiver Emotionalität, bleiben im Vergleich erhalten. Der große Unterschied liegt jedoch in der Inszenierung des Sakralen hinsichtlich Vergemeinschaftung und Souveränität – und damit liegt eine große Differenz auch in einer Abgrenzung zu ideologischen Einzelinteressen, gewissermaßen der gefährlichen Sakralisierung der einzelnen Künstler/-innen.

1

Vgl. I. Albers/S. Moebius: Nachwort, S. 759.

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Ein Vergleich zwischen der ersten und letzten Analyse mag dies am ehesten veranschaulichen. Während Wyclef Jean im Abseits einer Nebenstraße New Yorks ein Klavier vollständig zerstört, und in der Bildsprache als gekrönter Zombie zugleich auf einem Thron wie auf einem elektrischen Stuhl sitzend zwischen Bewusstseinsmodi hin und her wechselnd auftritt, kann Kanye West in POWER bloß vage davon träumen, diese Freiheiten zu haben und der „21st Century Schizoid Man“ zu sein, von dem er rappt. Zwar mögen Verschwendung, Exzess, Erotik, Gewalt und Todesbedrohung als Bereiche, in denen sich „unproduktive Verausgabung“ zeigt, die nicht zweckgebundene, nicht zielgerichtete, antirational produzierende Überschreitung, Exzess, Selbstverlust meint, in diesem Musikvideo auf den ersten Blick präsenter sein, als in den anderen analysierten Clips. Das verzweifelte Festhalten an der Macht und am Sakralen lässt West jedoch unfreier sein, als der aus der Marginalität heraus operierende, in Batailles Sinn souveränere Wyclef Jean in BOOM BIDDY BYE BYE, der gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Fugees und Cypress Hill Gemeinschaft und Revolte regelrecht beschwört. Unweigerlich an die Fragen nach der Souveränität des Einzelnen geknüpft, erscheint die Frage nach den Möglichkeiten von Gemeinschaft, die Bataille mit der Sakralsoziologie als der Wissenschaft des gemeinschaftsstiftenden Sakralen stets gestellt hat. Auch für die Musikvideorezeption werden Fragen nach Gemeinschaft relevant, wenn man an Fans als Gemeinschaft oder nur an die einer Klientel gemeinsame Faszination oder auch lediglich das gemeinsame Interesse an einem Künstler oder einer Künstlerin oder deren Musikvideos denkt. Genauso denkbar wären kurzfristige Gemeinschaften des Rezipierenden mit den Stars der Musikvideos. Speziell die in den Analysen als entgrenzend beschriebenen Momente in den erotischen „Nahwelten“ der Musikvideos bieten Anlass, über vergemeinschaftende Funktionen von Musikvideos nachzudenken. Die Verbindung zwischen Individuum und Gemeinschaft – eigentlich ihr gegenseitiges Bedingtsein – liegt bei Bataille im Moment der Ekstase und Entgrenzung, denn über die Erfahrung des Außersichseins hat ihm zufolge das Individuum die Möglichkeit, sich selbst in Gemeinschaft zu erfahren. Diese Gemeinschaft kritisiert Jean-Luc Nancy, da sie in die „Einswerdung“ münde und, wie Bataille selbst erfahren musste, zum Faschismus führte. Nancy schreibt, dass Bataille sich stets bewusst gewesen sei über die „Logik des Getrennt-Seins“ und zitiert ihn mit dem Beispiel der Tötung Gottes, um selbst Gott zu werden und in dem Moment wieder in „ein Nichts zu stürzen“.2 Das Überwinden des Getrennt-Seins funktioniert bei Bataille in Momenten der Gemeinschaft, der Erfahrung des Sakralen, der Entgrenzung des Selbst. Dass Gemeinschaft jedoch ebenso vom Selbst begrenzt wird und werden muss, um nicht zum „Todeswerk“, um nicht faschistisch zu werden, betont Nancy, und hält dagegen:

2

J.-L. Nancy: Entwerkte Gemeinschaft, S. 18.

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„Die wechselseitige Bedingtheit dieser beiden Pole besteht darin, daß sie sich – während sie einander jeweils Raum eröffnen, sich arealisieren – zugleich gegenseitig begrenzen – was eine andere ‚Arealisierung‘ entstehen läßt, nämlich eine Aufhebung der Immanenz, auf die sie doch ihre Verknüpfung gerade verpflichtet. Diese doppelte Arealisierung begründet den Widerstand gegen die Verschmelzung, gegen das Todeswerk; und dieser Widerstand ist die Tatsache des Gemeinsam-Seins an sich: Ohne diesen Widerstand würde unser GemeinsamSein nie lange währen, wir wären sehr schnell in einem einzigen und totalen Wesen ‚realisiert‘.“3

Als Ausweg aus der Anfälligkeit der Gemeinschaft für faschistische Bewegungen konzipiert Nancy weiter die Vorstellung von einer „entwerkten“ Gemeinschaft, die kein Eins-Sein und keine totalitäre, gleichgeschaltete Masse meint, sondern ein „Gemeinsam-Sein“, das sich aus der Entfesselung der Leidenschaften des Subjektes und dessen Drang des Mit-Teilens ergibt, genauso wie umgekehrt das Subjekt die anderen brauche, um den Drang des Mit-Teilens zu spüren. Das Sakrale ist demnach dieses Mit-Teilen, ist wiederum die Erfahrung der entwerkten Gemeinschaft. Nancy schreibt: „Die Gemeinschaft ist das, was stets durch und für den anderen geschieht. […] Es ist keine Einswerdung, die die Ich-Selbst (moi) zu einem einzigen Ich-Selbst (Moi) oder zu einem höheren WIR verschmelzen würde. Es ist die Gemeinschaft der anderen. […] Sie ist die Darstellung der Endlichkeit und des unwiderruflichen Exzesses.“4 Diese Überlegungen sollen noch einmal für eine Lesart von Wests POWER herangezogen werden, da genau jene Unwiderruflichkeit in dem Musikvideo in Wests Version vermieden wird: West verknüpft den Willen zur Macht mit der Unfähigkeit, sich vollends in sein Ende als Gott oder als Führer, sich ins Nichts zu stürzen, wie Bataille es eigentlich verlangt.5 Er verändert Brambillas Version des offenen, unaufhaltsam auf einen Verlust zulaufenden Prozesses an entscheidender Stelle zu einer Rekapitulation des Geschehenen, zu einem verzweifelten Festhalten an der Macht und verliert so jede Möglichkeit auf Souveränität. Gemeinschaft im Sinne des Mit-Teilens, wie Nancy sie denkt, ist letztlich nicht vorhanden. Die Musikvideos MONSTER und PUPPET MASTER lassen es eher zu, Gemeinschaft im Sinne Batailles / Nancys zu denken. Beide spielen deutlich mit Inszenierungen des Fremden in mannigfachen Darstellungen von „Monstern“, aber auch von Körperbehinderten, des Abnormalen, des Anderen und schließen an den Gemeinschaftsbegriff an, indem sie aussprechen, den anderen zur eigenen Existenz zu brauchen (siehe die Funktion des hörbaren Publikums in MONSTER). Die vielen Grenzgänger und Entwürfe des jeweils nicht Normierten, des Anderen, der immer auch Teil des

3

J.-L. Nancy: Entwerkte Gemeinschaft, S. 47-48.

4

Ebd., S. 38-39.

5

Natürlich wäre hier zu bedenken, dass Musikvideos auf eine ständige Wiederholung abzielen.

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Eigenen ist, in MONSTER wie auch in PUPPET MASTER fordern implizit eine heterogene Gemeinschaft. Nancy jedoch bleibt skeptisch und verweist auf die bisherige Unzulänglichkeit der Gemeinschaftsentwürfe und -forderungen: „…auch die vielen neuen Formen des Gemeinsam-Seins, die heute mittels der Medien wie auch durch die sogenannte ‚melting-pot-Gesellschaft‘ zunehmend auftauchen, haben ebensowenig dazu geführt, daß die Frage der Gemeinschaft wirklich neu aufgeworfen wurde.“6 Zuletzt soll hier ein Ausblick gewagt werden, der die Grenzen möglicher Gemeinschaftsentwürfe und des gemeinschaftsstiftenden Potenzials der Musikvideos diskutiert. Dabei muss die maskuline, heterosexuelle Dominanz in den Musikvideos sowie ihre sexistische Komponente angesprochen werden. Wie in den Einzelanalysen beschrieben werden Opferfiguren in den von und für männliche Künstler produzierten Musikvideos auch über Frauenkörper inszeniert. Opferung ist bei Bataille ein positiver Vorgang, heiligt er doch Opfer wie Opfernde. Diese Bewertung kann für die Inszenierung von Frauenkörpern in Opfer- und Verausgabungsbildern jedoch nicht geteilt werden. Hier werden Frauenkörper zur Sakralisierung von Männern benutzt. Die Beobachtung, dass Frauenkörper für die Inszenierung des männlichen Stars eingesetzt werden, gilt für ein Gros der Hip-Hop-Musikvideos und ist wahrlich nichts Neues, jedoch erscheinen sie hier als Teil einer männlichen, sakralen Inszenierung. Während die Grenzen der Hautfarben und die Positionen des Andersseins in den Musikvideos über das Sakrale stark verhandelt und immer wieder aufgelöst werden, bleibt heterosexuelle Normierung weitgehend arretiert und sexistische Inszenierungen erscheinen in die sakrale Ökonomie eingebunden. Beyoncés jüngste Veröffentlichung, das Visual Album LEMONADE, sei hier zwecks eines abschließenden Vergleichs mit den Fallstudien dieser Arbeit angebracht.7 Auch LEMONADE arbeitet mit viel religiösem Material, mit Bibelverweisen, der Inszenierung Beyoncés als Oshun, einer Yoruba-Göttin8, überhaupt mit vielen Verweisen auf afrikanische, religiöse und spirituelle Praktiken, während die Künstlerin verschiedene narrative Stränge verfolgt – von Ehebruch bis hin zur Entwicklung einer positiven und starken Identität Schwarzer Mädchen und Frauen. Diese religiösen Zeichen und Codes dienen Beyoncé in LEMONADE als Kraftquellen für sehr „profane“ Ziele und erinnert damit an die in diesem Buch diskutierten sakralen Inszenierungsstrategien. Beispielsweise in HOLD UP tritt sie als eine starke, ihre Weiblichkeit

6

J.-L. Nancy: Entwerkte Gemeinschaft, S. 52.

7

Beyoncé ist als Künstlerin nicht schwerpunktmäßig dem Hip-Hop zuzuordnen. Besonders in LEMONADE zeigt sie eine Stilvielfalt, die von R’n’B über Soul und Country bis hin zu Rock reicht. Sie spielt dabei auf lokalere Musikstile der Südstaaten, besonders New Orleans, an und arbeitet mit Künstlern wie Kendrick Lamar oder Jack White zusammen.

8

Beyoncé wird zu Beginn des Clips von einem Wasserfall begleitet, was sie zusammen mit dem gelben Kleid als angelehnt an die Fruchtbarkeitsgöttin Oshun ausweist.

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betonende Frau auf – sie erscheint im langen gelben, an Volants reichen Kleid und schwarzen Plateauhighheels einen Baseballschläger schwingend – und drischt mit viel Lust an der Zerstörung auf Männlichkeitssymbole ein. Carol Vernallis, Holly Rogers und Lisa Perrot diskutieren in ihrer Analyse von LEMONADE auch Fragen der Gemeinschaft und der Hautfarbenstereotypie, wie sie in diesem Buch gestellt wurden. In dem als Gespräch angelegten Artikel „She Dreams in Both Worlds“ hebt Vernallis hervor, dass LEMONADE die Geschichte und Gegenwart der Schwarzen Frau thematisiere, ja sogar ein Zukunftsentwurf der Schwarzen Frau sei. Genauso aber betont sie, dass Schwarz und Weiß an einigen Stellen in LEMONADE inklusiv inszeniert, dass Hautfarben und die Relation von Hautfarben in ihrer Dichotomie in Frage gestellt würden: „Images of race become more inclusive; depictions of whiteness could also be said to become more generous. First linked to ghost corpses, whiteness is posed in relation to blackness and vice versa. As the film progresses, we see a young girl who is possibly albino; a woman who might be first identified as trans-racial (she has vitiligo); a young girl, most likely multiracial but also able to pass as white (with braids and fairer skin); and then in “Freedom,” some characters we’ve seen earlier whose skin is now painted lighter or darker. These depictions raise questions about the tendency to link identity with skin tone.“9

Beyoncés LEMONADE ist somit potenziell anschlussfähig für viele Identitäten. Zudem geht das Visual Album weit über die Identitätsentwürfe der in diesem Buch analysierten Musikvideos hinaus und deutet beispielhaft an, was dieses Buch offengelassen hat: Ein „weibliches Sakrales“ oder sakrale Inszenierungen von Hip-Hop-Künstlerinnen unterscheiden sich sehr deutlich von den hier diskutierten Fallbeispielen.10 Die vielen adressierten Identitäten führen uns zur Frage der Gemeinschaft oder zur Forderung nach dieser zurück, auf die Holly Rogers ähnlich dem Kapitel zur Wirkungsästhetik von Musikvideos dieses Buches Bezug nimmt: „Surely many viewers might wish to bond with others during these communal, political moments. I agree that Lemonade’s hybrid form moves us affectively and encourages critical reflection.

9

Lisa Perrott, Holly Rogers, Carol Vernallis: „Beyoncé’s Lemonade: She Dreams in Both Worlds“, auf Film International, http://filmint.nu/?p=18413 vom 11.09.2016.

10 Man beachte die nachahmende Version der Künstlerin Miss_Shalae, die zu drei ausgewählten Songs von LEMONADE ein Musikvideo mit dem Titel LEMONADE SERVED BITTER SWEET gedreht hat, in dem sie als Transgender-Künstlerin in ihrer Community zu sehen ist, während Beyoncés Musik zu hören ist. Die Künstlerin reklamiert die vergemeinschaftenden Statements aus LEMONADE, indem sie Beyoncé nachahmt. Siehe dazu auch folgende Online-Quelle: http://www.pinknews.co.uk/2016/07/20/this-trans-collectiveslayed-beyonces-lemonade-watch/ vom 29.08.2016.

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[…] music videos are intended to be watched many, many times.“11 In diesen wiederholten Rezeptionen ergeben sich immer wieder neue und andere Verknüpfungen der vielfältigen Zeichen und Codes zu neuen Lesarten. Vernallis wiederum verweist direkt auf die gemeinschaftsstiftende Funktion vieler Kameraperspektiven sowie Beyoncés Übergreifen in den Zuschauerraum, wenn sie schreibt, dass Sequenzen in LEMONADE Gemeinschaft zelebrieren und einen Zuschauerraum kreieren, der offen für jedes soziale Geschlecht sei.12 Als Zuschauerin bin auch ich angesprochen und in diesen Zuschauerraum integriert, wenn ich „Lemonade“ anschaue, obwohl ich nicht in den USA sozialisiert und nicht Schwarz bin. Beyoncé hat auf ihrer „Formation“Tour zahlreiche europäische Länder besucht und sehr gut verkaufte Konzerte gegeben, was nur als kurzer Hinweis auf die merkantilen Aspekte einer aus musikindustrieller Perspektive nicht zu eng zu fassenden Zielgruppendefinition dienen soll. Letztlich gilt für LEMONADE, was für die Fallbeispiele dieses Buches entwickelt wurde: Exklusive Lesarten, die religiöse Zeichenvorräte extrahieren und separieren, um so über vermeintlich rein „Schwarze“ Religion zu argumentieren, schaffen arretierte Stereotype, die in den Musikvideos in vielen Momenten infrage gestellt und gesprengt werden. Die Qualität des Sakralen – Begriff wie Phänommen – gegenüber dem der Religion liegt in seiner Ambivalenz. Dadurch schwankt es, ist prozesshaft, entfaltet sich in der Rezeption auf nicht vorhersehbare Weise und eröffnet Möglichkeiten der Auseinandersetzung, die eindeutige und fixierte Bindung, wie Religion sie impliziert, sprengt. Mit der Behauptung des Sakralbegriffes gegenüber dem der Religion in der Analyse von US-amerikanischen Hip-Hop-Musikvideos (und denkbar in weiteren popkulturellen Phänomenen) wurden Möglichkeiten für Lesarten eröffnet, die Leitdifferenzen (Schwarz-Weiß, gut-böse, religiös-nicht religiös) aufbrechen und in Ansätzen neue, heterogene Gemeinschaftsentwürfe zu entdecken erlauben.

11 „In ‚All Night,‘ couples of many ethnicities, with a variety of gender affiliations, embrace,“ bemerkt Vernallis in: „Beyoncé’s Lemonade: She Dreams in Both Worlds“, auf Film International, http://filmint.nu/?p=18413 vom 11.09.2016 [Kursivierung wie im Original]. 12 Vernallis schreibt, dass einzelne Passagen im Video Gemeinschaft zelebrieren und bezeichnet den Offscreen Space als „a live space, for any gender“, „Beyoncé’s Lemonade: She Dreams in Both Worlds“, auf Film International, http://filmint.nu/?p=18413 vom 11.09.2016 [Kursivierung wie im Original].

Literatur

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Philipp Hannes Marquardt Raplightenment Aufklärung und HipHop im Dialog 2015, 314 S., kart., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3253-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3253-2

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