Engagiert sein in der Gegenwart: Formen – Diskurse – Perspektiven [1 ed.] 9783737015196, 9783847115199


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Engagiert sein in der Gegenwart: Formen – Diskurse – Perspektiven [1 ed.]
 9783737015196, 9783847115199

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Andersheit – Fremdheit – Ungleichheit Erfahrungen von Disparatheit in der deutschsprachigen Literatur

Band 15

Herausgegeben von Paweł Zimniak und Renata Dampc-Jarosz

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Renata Dampc-Jarosz / Anna Kałuz˙a (Hg.)

Engagiert sein in der Gegenwart Formen – Diskurse – Perspektiven

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Diese Publikation wurde von der Schlesischen Universität in Katowice mitfinanziert. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Jakub Pszoniak Übersetzung ins Englische: Ewa Bogdanowska-Jakubowska, Jacek Mydla Übersetzung ins Deutsche: Marek Krisch Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2699-7487 ISBN 978-3-7370-1519-6

Inhalt

Einleitung. Der Preis des Engagements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kunst Ryszard Solik Stratifikationen des Engagements. Vom Werkobjekt zur „Kunst des Handelns“ und zu gemeinschaftlichen Praktiken . . . . . . . . . . . . . .

13

Marta Tomczok Kritische Interventionen von Natalia Romik . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Katarzyna Frukacz Writing, Photographing and Committed. On Filip Springer’s Intermedia Creative Cooperations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Anna Kałuz˙a Engagement in Bild / Text: Don DeLillo, Wirpsza, Turner . . . . . . . . .

65

Elz˙bieta Dutka “Perception in Action” and Engagement. The Case of the “Contaminated Landscape” of the Low Beskids in Monika Sznajderman’s Pusty las [Empty Forest] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Paweł Tomczok Literarische Anästhetika und ihre Überwindung

97

. . . . . . . . . . . . . .

Institutionen Agnieszka Gołda / Agnieszka Łakomy-Chłosta Soziales Engagement als Modell für die Arbeit von Bibliotheken als Kultureinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

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Inhalt

Aneta Głowacka Theater als demokratische Kulturinstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Małgorzata Wójcik-Dudek Engagierte Architektur. Schule der Demokratie für die Jüngsten am Beispiel des Museums der Geschichte der polnischen Juden POLIN . . . . 153 Magdalena Ochwat Polnischer Sprachunterricht – zwischen politischen Interessen und staatsbürgerlicher Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Monika Lubin´ska Wissenschaftlicher Aktivismus im Anthropozän – Perspektiven für das Engagement der zeitgenössischen Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . 197 Agata A. Kluczek Die Erschaffung der römischen Welt. Topoi, Experimente und Motiv-Interaktionen in der römischen Münzprägung . . . . . . . . . . . . 215

Einleitung. Der Preis des Engagements

Dies ist ein Buch über verschiedene Formen des Engagements in der zeitgenössischen Kultur – um es allgemein auszudrücken. Und über die daraus resultierenden Forderungen, unser Wissen über die künstlerischen, kulturellen, politischen und institutionellen Werte, die wir schaffen, zu überdenken. Die Autorinnen und Autoren hatten nicht den Ehrgeiz, alle Aspekte der modernen partizipativen Kulturen zu umfassen. Das Buch ist Ausdruck der Überzeugung, dass unser Wissen über die Welt immer fragmentarisch und partiell ist und nicht in konzentrierter, integrierter Form existiert. Die Erfahrung des Engagements (in Institutionen, in der Kunst, im Alltag) bringt Hinweise mit sich, die oft widersprüchlich und nicht frei von Spannungen sind. Wir müssen erst noch lernen, sie zu nutzen. Die Autorinnen und Autoren der hier versammelten Artikel zeigen, dass Engagement zu einer geschätzten Kategorie der Moderne geworden ist. Seit dem Bruch der Moderne mit dem Kantischen Imperativ der Selbstlosigkeit begann das Engagement den Wert all dessen zu definieren, was wir öffentlich und privat vertreten. Eine solche Definition des Werts hatte nicht nur eine Deregulierung der traditionellen ästhetischen Erfahrung, sondern auch eine pragmatische Einschätzung der künstlerischen und institutionellen Aktivitäten zur Folge. Die Attraktivität dieser Kategorie brachte auch Probleme mit sich, die zumeist als politische Verstrickungen (kollektiv und individuell) der geschaffenen Kunst und der Institutionen erkannt wurden. Dabei muss jedoch bedacht werden, dass das Engagement als Konzept der partizipativen Haltung nicht eindeutig ist, es dient nicht der Instrumentalisierung von Kunst, Kultur und Bildung. Viele Ästhetiker, Wissenschaftler und Kulturforscher sind der Meinung, dass es sich keineswegs um ein ästhetisches Zugeständnis an die Nützlichkeit und Politisierung der Kunst handelt, wie es Adorno in der Ästhetischen Theorie gefordert hat, sondern um eine Überschreitung des Gegensatzes von distanzierter Beobachtung und interventionistischem Aktivismus. Eine solche Überschreitung ist ein Symptom unserer Fähigkeit, die Forschung und die sozialen Perspektiven, die

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Einleitung. Der Preis des Engagements

mit verschiedenen kulturellen Formationen verbunden sind, ständig zu aktualisieren. Es scheint, dass wir die heroische Zeit des Nachdenkens über die Wirksamkeit aktivistischer Haltungen hinter uns gelassen haben und dass die engagierte Ästhetik einer Ästhetik der Untätigkeit, der Niederlage und der Apathie weicht. Es ist also an der Zeit, dass wir uns ansehen, was wir erfahren haben. Die zahlreichen Fragen, denen wir im Bereich des modernen Engagements auf den Grund gehen, bestehen aus zwei Teilen. Wir fragen zunächst nach künstlerischen Aktivitäten, Kunstobjekten und literarischen Texten und dann nach institutionellen Projekten (Bildungs-, Forschungsprojekte und kulturbildende Projekte). Ryszard Solik richtet seinen Blick auf eine allgemeine ästhetische Perspektive und zeigt auf, wie die moderne Kunst auf ihr Publikum wirkt. Dieser historische Überblick über verschiedene künstlerische und ästhetische Strategien engagierter Kunst wird im Buch durch detaillierte Beobachtungen kontrapunktiert. Marta Tomczok reflektiert über die ambivalenten Folgen der kritischen Interventionen der polnischen Künstlerin Natalia Romik im Zusammenhang mit der Veränderung unseres Denkens über das jüdische Erbe. Erinnerung und Geschichten der Vergangenheit sind auch für Katarzyna Frukacz von Interesse, was sie in den Fotoreportagen von Filip Springer zeigt. Dabei lenkt Frukacz die Aufmerksamkeit auf transmediale Formeln, um den Empfänger zur Wahrnehmung bestimmter Objekte anzuregen. Anna Kałuz˙a macht diese Frage zum zentralen Thema ihrer Ausführungen. Sie vergleicht die Konzepte der schriftlichen und bildlichen Einflüsse auf die Leser, um deren Interesse an künstlerischen Ausdrucksformen zu wecken, und bezieht sich dabei auf die Werke von drei Autoren – Witold Wirpszas Komentarze do fotografii „Family of Man“ [Kommentare zu der Fotografie „Family of Man“], Don DeLillos Erzählung Baader Meinhof und William Turners Gemälde Regulus. Elz˙bieta Dutka, die die Überzeugung, dass die Beziehung zwischen dem Subjekt und der Landschaft eine ethische Dimension hat, zum Ausgangspunkt ihrer Analysen macht, kommentiert Monika Sznajdermans Pusty las [Der leere Wald] unter dem Gesichtspunkt der ökologischen Empfindlichkeit. Paweł Tomczok kontrastiert die beiden Diskurse des Engagements und der Anästhetik und schlägt vor, die Fähigkeit der Literatur in Betracht zu ziehen, durch ihre ausdrückliche Akzeptanz der Gewalt der Unterworfenen politischen Widerstand und Trotz zu wecken. Als Beispiele für Werke, deren Engagement sich auf „Gewalt“ bezieht, nennt Tomczok Jarosław Marek Rymkiewiczs ausführlichen Essay über den Warschauer Aufstand Kinderszenen, den „ökologischen“ Roman Prowadz´ swój pług przez kos´ci umarłych (Der Gesang der Fledermäuse) von Olga Tokarczuk, das Gedicht Kto zabił Jolante˛ Brzeska˛ [Wer hat Jolanta Brzeska getötet?] von Szczepan Kopyt, das sich auf die Wohnungspolitik und ihre Krankhaftigkeit bezieht, und den Roman Cwaniary [Schlaubergerinnen] von Sylwia Chutnik.

Einleitung. Der Preis des Engagements

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Im zweiten Teil stellen wir verschiedenen Institutionen Fragen: einer Schule, einer Universität, einem Museum, Bibliotheken und Theatern. Agnieszka Gołda und Agnieszka Łakomy-Chłosta beschreiben die auf die Aktivierung von ausgegrenzten Menschen – Arbeitslosen, Obdachlosen und Geringverdienern – abzielenden Aktivitäten der Bibliotheken. Aneta Głowacka betrachtet die Arbeit der institutionellen Theater in Polen. In der festen Überzeugung, dass ein Strukturwandel notwendig sei, beschreibt sie das Theater in der Krise und skizziert die Möglichkeiten, es in eine kritisch engagierte Institution zu verwandeln. Małgorzata Wójcik-Dudek fragt nach der Museumspolitik – am Beispiel des Museums der Geschichte der Polnischen Juden POLIN – im Kontext der demokratischen Bildung und des von der Pädagogik von Janusz Korczak inspirierten Denkens. Magdalena Ochwat analysiert das heutige Bildungsmodell in Polen. Sie lenkt ihren Fokus auf den Unterricht im Sinne des Humanismus und sieht in ihm das größte Potenzial für die Erziehung zu mündigen Bürgern. Das Thema des wissenschaftlichen Engagements wird von Monika Lubin´ska aufgegriffen. Sie befasst sich insbesondere mit der Praxis der Kunst- und Technologieforschung, die sich aus den Energy Humanities ableitet. Agata Kluczek zeichnet das Motiv der Roma als ikonografischer Lösung in der römischen Münzprägung nach. Sie vertritt die Auffassung, dass Münzen und Medaillons ein Medium der kaiserlichen Macht sind, und dass wir aus ihnen viel über die ideologische Ausrichtung des Engagements in der Welt der römischen Antike lernen können. Relevant – auch für die Moderne – bleibt hier das Verhältnis zwischen kultureller Produktion und der Legitimation von Machtstrukturen. Das seit den 1990er Jahren gestiegene Interesse an Aktivismus, engagierter Kunst, Zusammenarbeit und Beteiligung an der Herbeiführung eines echten sozialen Wandels wird sich – so hoffen wir – als eine dauerhafte soziale und kulturelle Erfahrung erweisen. Sie ist eine ambivalente Erfahrung, sie kann ethische Risiken mit sich bringen, sie radikalisiert die Vorstellungskraft, sie verlangt aber auch Kontinuität. Anna Kałuz˙a

Kunst

Ryszard Solik (Schlesische Universität in Katowice)

Stratifikationen des Engagements. Vom Werkobjekt zur „Kunst des Handelns“ und zu gemeinschaftlichen Praktiken Jede Epoche hat ihre Haltung, ihren Blick und ihr Lächeln.1 Charles Baudelaire

Ziele, oder womit und auf welche Weise Die Moderne scheint mit ihrem kulturellen Imperativ des Wandels – den sie zur Norm und einer der vorherrschenden Tendenzen erhob (und damit auch zu einem zwingenden Kriterium für die Spezifität der Formation) – ein besonders ansprechender Bereich für die Reflexion über kulturelle (moderne) Formen des Engagements zu sein. Ein Bereich vieler Möglichkeiten und ebenso vieler komplementären, aber nicht auszuschließenden alternativen Betrachtungsweisen, mit einem ausgesprochen inter- und transdisziplinären Charakter. Möglichkeiten, fügen wir stark vereinfacht hinzu, die sich sowohl auf der Ebene kultureller Verallgemeinerungen im Zusammenhang mit dem „Projekt der Moderne“ als auch in der Perspektive kulturell bedingter sektoraler, lokaler Modernisierungen (und Formen des Engagements) offenbaren. Diese zwingende Vielfalt an Perspektiven, mit der wir uns in diesem Raum konfrontiert sehen, bedeutet für die diskursive Praxis die Unvermeidbarkeit von Selektion, von problematischen Verengungen, von Entscheidungen, die im Hinblick auf angenommene Ziele und Interpretationsstrategien geklärt werden. Insbesondere bedarf es einer Determiniertheit des Blicks, nicht nur wegen der übergeordneten Erfordernis der Vorsicht2 der Argumentation, sondern auch – wie in diesem Fall – zur Eingrenzung des Rahmens der Skizze. Womit und auf welche Weise werden wir uns, angesichts dieser Vielfalt, hier beschäftigen? Generell verbinden wir die Frage nach modernen Formen des Engagements mit der Kunst, mit einem engagierten Schaffen, das auf unter1 Ch. Baudelaire: Die Moderne. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hrsg. F. Blei. München 1925, S. 168. 2 Vgl. W.J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Mit einem Vorwort von L. Kramp, A. Hepp. Übersetzt von W. Schömel. Wiesbaden 2016.

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Ryszard Solik

schiedliche Weise in die Realität eingreift. Und daher, insbesondere im Rahmen von Aktionismus, partizipativen und interaktiven Praktiken engagiert und aktiviert.3 Dies ist der Rahmen, in dem wir uns grob bewegen werden. Aber was ist mit der Determiniertheit des Blicks, dem Profil der Reflexion? Zwei Punkte erweisen sich hier als übergeordnet und markieren zugleich die Hauptproblembereiche des Textes. Einerseits der Kontext der Moderne; eine Kultur, die im Gegensatz zu den restaurationsorientierten und „wenig veränderungsdynamischen“ Formationen die für die Kunst charakteristische „Transformationsfähigkeit“ des eigenen Territoriums und in der Konsequenz neue Bereiche und Strategien der Auseinandersetzung freisetzte. Nicht wie früher, in den Realitäten vormoderner, vorindustrieller Gemeinschaften (Bell, Lyotard), auf die Stabilisierung des kulturellen Status quo ausgerichtet, sondern auf Veränderung und reformistische Eingriffe im Bereich der kulturellen Realität. Zum anderen die eng damit verbundene Tendenz der modernitas zu künstlerischen Permutationen und Neudefinitionen der Natur (Ontologie) der Kunst. Folglich konzentriert sich das in der Skizze gewählte Reflexionsprofil zunächst auf die Bedingungen des Kontextes, des Projekts der Moderne – der „Kultur des Wandels“ und der Modernisierung. Die Privilegierung des kulturellen Kontextes ergibt sich sowohl aus inhaltlichen als auch aus methodologischen Prämissen. Aus der offensichtlichen Überordnung des Kontexts gegenüber jeder Art von Erfahrung. Die Kunst gewinnt, abgesehen von historischen und medialen Gestaltungsformen, keine von der Situation und „irgendeinem Gesichtspunkt“4, einschließlich der kulturellen Bedingungen, unabhängige Determiniertheit. Folglich erweisen sich die Fragen nach der Art und Weise der Präsenz von Kunst in der kulturellen/gesellschaftlichen Realität als Fragen nach den Kontexten, in denen diese Präsenz erfüllt und konkretisiert wird. Als Nächstes werden wir uns mit dem Problem der Veränderbarkeit und der ontischen Vielfalt der Kunst der Moderne befassen. Analysiert werden die Möglichkeiten und Strategien des Engagements von Kunst sowie die Potenziale und Wege ihres Einflusses auf die außerkünstlerische Wirklichkeit innerhalb ausgewählter konzeptioneller Varianten (künstlerische Paradigmen) und entsprechender medialer Reorganisationen. Angefangen bei der Gegenstandskunst (Ontologie der Dinge) über avantgardistische Praktiken bis hin zu performativen, aktionistischen und gemeinschaftlichen Projekten. Ziel dieser Skizze ist es daher 3 Ich beziehe dieses Konzept nicht nur auf interaktive Kunst im Zusammenhang mit der digitalen Medienplattform und noch weniger auf rein kognitive Interaktivität. Es handelt sich um künstlerische Realisierungen, die verschiedene Ebenen der Interaktivität und interaktive Praktiken im Zusammenhang mit der weit gefassten Kunst des Handelns berücksichtigen. 4 S. Fish: Co czyni interpretacje˛ moz˙liwa˛ do przyje˛cia? Übersetzt von A. Szahaj. In: Ders.: Interpretacja, retoryka, polityka. Eseje wybrane. Hrsg. A. Szahaj. Kraków 2008, S. 99–119, hier S. 99.

Stratifikationen des Engagements

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nicht, einen breiten Katalog engagierter Kunst zu erfassen, sondern Formen des Engagements, die den Herausforderungen der Moderne bezüglich Modernisierung sowie spezifischen konzeptionellen Varianten der Kunst eingeschrieben sind. Es ist eine Perspektive, die auch die Beziehung zwischen dem medialen Charakter des Kunstwerks wie auch dem Potenzial und den Formen des Engagements aufzeigt. Eine diachronische Perspektive, die die ontischen Unterschiede und die damit verbundenen „Strategien der Pragmatisierung und des Engagements“5, aber auch die für die gesellschaftliche Resonanz relevanten Veränderungen innerhalb der traditionellen Zuständigkeiten des Künstlers (Autors) und des Empfängers (Teilnehmers) berücksichtigt. Die Selektivität des vorgeschlagenen Ansatzes bedeutet jedoch, dass wir uns nicht mit der Effizienz des Einflusses von vielgestaltiger engagierter Kunst befassen werden. Die reale Funktionalität, die Kraft des „sozialen Einflusses“, sowie die sozialen Aspekte der Rezeption dieser Kunst lassen wir dabei außer Acht. Auch das Kriterium des sozialen Kreislaufs bleibt grundsätzlich außerhalb der Reflexion, mit Ausnahme von verallgemeinernden Exkursen zu den elitaristischen und egalitaristischen Praktiken ausgewählter Projekte der engagierten Kunst.

Modernität, Modernismus, engagierte Kunst Im Lichte des skizzierten Reflexionsfeldes bleibt es, die semantischen Assoziationen der für diese Überlegungen entscheidenden Kategorien zu präzisieren. Es geht nicht nur um gegenseitige Berührungen und Spannungen, um die Frage, wie diese Begriffe für die Zwecke dieses Textes zu verstehen sind, sondern vor allem um die Gestalt der Argumente, die die Organisation der Argumentation beeinflussen. Denn Begriffe werden im Raum der einstweiligen diskursiven Systeme kontextualisiert, welche die Bedeutungen sowohl der (mit ihrer Hilfe) verbalisierten Phänomene als auch der Werkzeuge bestimmen, die diese Phänomene konstituieren. Man muss Mieke Bal zustimmen, dass man Begriffe nicht „als ein für alle Mal festgelegte, eindeutige Termini, sondern als etwas von Natur aus Dynamisches“6 betrachten sollte. Sie sind semantisch labil, werden in intentionalen Diskursen geformt, die sie definieren und konkretisieren, und gleichzeitig erweisen sie sich in gewissem Maße selbst als von ihnen miterschaffen und etabliert. Folglich sind sie, um noch einmal auf die Erkenntnisse der Autorin von Travelling Concepts zurückzukommen, eine Art „Miniaturtheorien“, die die 5 K. Wilkoszewska: Dos´wiadczenie estetyczne – strategie pragmatyzacji i zaangaz˙owania. In: Nowoczesnos´c´ jako dos´wiadczenie. Dyscypliny, paradygmaty, dyskursy. Hrsg. A. Zeidler-Janiszewska, R. Nycz. Warszawa 2008, S. 212–222, hier S. 217. 6 Vgl. M. Bal: We˛druja˛ce poje˛cia w naukach humanistycznych. Krótki przewodnik. Übersetzt von M. Bucholc. Warszawa 2012, S. 34.

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Ryszard Solik

Blickrichtungen und das Blickfeld filtern. Theorien, durch die „wir einen Einblick in das gewinnen, was sie bewerkstelligen können […] wegen ihres Potenzials für Intersubjektivität. Nicht weil sie für alle dasselbe bedeuten, sondern gerade weil sie es nicht tun.“7 Moderne wird hier in einer diskursiv begründeten Weise verstanden. Als eine Kategorie, die den modernisierenden und zivilisatorischen Fortschritt des Westens zum Ausdruck bringt. Das Problem dabei ist, wie so oft bei Prozessen der Periodisierung von Kultur, dass die Quellen der Moderne vage (und vielfältig) zu sein scheinen, die Impulse der Modernisierung verstreut sind und das Ende der Formation überhaupt nicht eindeutig ist (obwohl es von vielen proklamiert wird). Nehmen wir als Beginn der Moderne, wie es meistens der Fall ist, das Fundament der Aufklärung. „Die frühe Phase der Moderne“ ist die Zeit – schreibt Marshall Berman – „von vor der Französischen und der Amerikanischen Revolution, es ist […] die Stimme von Jean-Jacques Rousseau“, der „als Erster das Wort moderniste in der Weise verwendete, wie es das 19. und 20. Jahrhundert tun würde.“8 Das Ende der Modernität wird, zumindest für die meisten, die diese Überzeugung teilen, gewöhnlich mit den 1960er Jahren in Verbindung gebracht. Doch wo die einen ein Ende der Formation und das Alternative der Postmoderne sehen, verkünden andere ihre Kontinuität, ein „unvollendetes Projekt“, die späte Moderne bzw. Moderne in einer Phase, „die den Kontakt zu den Wurzeln ihrer eigenen Modernität verloren hat.“9 Für die Zwecke dieser Skizze sehen wir keine Notwendigkeit, für die eine oder andere Seite der Auseinandersetzung Partei zu ergreifen, feste Grenzen und Trennlinien zu ziehen. Dies scheint im Verhältnis zum Thema zweitrangig zu sein. Der Hauptgrund ist, dass die künstlerischen Praktiken der Modernität nicht mit dem (diskursiv verkündeten) Ende der Modernität ausgestorben sind. Die zeitgenössische Kunst, unabhängig davon, ob wir sie als modern (modernistisch) oder postmodern bezeichnen, „bricht nicht endgültig mit dem Ethos und den Praktiken der Avantgarde.“10 Und die Vielstimmigkeit der Haltungen und Praktiken (in vielen Bereichen der zeitgenössischen Kultur, nicht nur in der Kunst, Architektur oder Literatur) macht es oft unmöglich, klar zu bestimmen, was modernistisch und was postmodern ist. Der Modernismus wiederum wird im engeren Sinne verstanden, als „eine Reihe von Theorien und ethischen, ästhetischen und weltanschaulichen Überzeugungen, die die Moderne begleiten“,11 und die pro7 Ebd. 8 M. Berman: „Wszystko, co stałe, rozpływa sie˛ w powietrzu“. Rzecz o dos´wiadczeniu nowoczesnos´ci. Übersetzt von M. Szuster. Kraków 2006, S. 17f. 9 Ebd., S. 17. 10 A. Zeidler-Janiszewska, R. Kubicki: Poszerzanie granic. Sztuka współczesna w perspektywie estetyczno-filozoficznej. Warszawa 1999, S. 40. 11 A. Szahaj: Co to jest postmodernizm? In: „Ethos“ 33–34 / 1996, S. 63–78, hier S. 64.

Stratifikationen des Engagements

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grammatische Idee der Modernisierung der Kultur zum Ausdruck bringen, die für diese Formation charakteristisch ist. Das bedeutet, dass das raumzeitliche Kontinuum der Moderne als kulturelle Formation der westlichen Welt nicht identisch ist mit der Historizität der modernen (modernistischen) Kunst, deren Anfänge die Kunstgeschichte üblicherweise mit dem formalen Debüt der Impressionisten 1874 verbindet. Die Kunst der Moderne ist also nicht (selbst wenn man die 1960er Jahre als das Ende der modernen Formation akzeptiert) ausschließlich moderne/modernistische Kunst. Was die engagierte Kunst anbelangt, so muss man anerkennen, dass sie im weitesten Sinne im Umfang verschiedener künstlerischer Praktiken gedacht werden kann, und zwar nicht nur in formaler, sondern auch in ontischer Hinsicht. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass bei der „langen Dauer“ der pragmatische gegenüber dem ästhetischen Wert überwiegt. Ungeachtet ihrer historischen und medialen Vielgestaltigkeit sind die den Anspruch auf engagierte Kunst erhebenden Unternehmungen jedoch durch eine Reihe von Eigenschaften vereint, die es ermöglichen, der Verpflichtung zum Engagement – meist auf unterschiedliche Weise – nachzukommen. Es handelt sich hier weitgehend um Kunst, die funktional-instrumentelle Werte über formale Fragen stellt. Folglich stellt sie den Gegensatz zwischen dem Ästhetischen und dem Praktischen, dem Künstlerischen und dem Nicht-Künstlerischen in Frage. Engagierte Kunst macht die (historische, soziale, kulturelle, politische usw.) Realität zu ihrem Referenzbzw. Interventionsfeld. Sie zeichnet sich durch die Definiertheit ihrer Ziele und ihrer politisch-ideologischen Botschaft sowie durch die Intentionalität ihrer Tätigkeit aus, die an die Stelle der interesselosen Kontemplation tritt. Fügen wir hinzu, dass sich die engagierte Kunst, die auf das Außen, auf Einmischung und soziale Resonanz und mit der Entwicklung performativer Formen auch auf die Unmittelbarkeit des Handelns ausgerichtet ist, der autonomen/autotelischen Kunst gegenüberstellt. Darüber hinaus haben die fortschreitende Intensivierung solcher Praktiken und die engere Verknüpfung von Kunst und Leben die einst proklamierte Autonomie der Kunst erheblich problematisiert. So sehr, dass viele darin eine Tätigkeit sehen, die ihre Autonomie gegenüber der außerkünstlerischen Realität verloren hat und in der (wie es Grzegorz Kowalski, der Gründer der Künstlergruppe „Kowalnia“ und Lehrer einer Gruppe der bekanntesten Schöpfer der polnischen kritischen Kunst, unverblümt ausdrückte) „die Impulse der äußeren Welt direkt durchfließen – wie ein Nagel, der ins Gehirn geschlagen wird, auch ohne Beteiligung des Willens.“12 Engagierte Kunst wurde oft mit politisch aufgeladenen Realisierungen und Projekten assoziiert, die bestimmte Haltungen und Ideologien zum Ausdruck 12 G. Kowalski: Co to znaczy dzisiaj byc´ artysta˛? In: W strone˛ Innego. Obserwacje i interwencje. Hrsg. S. Ruksza. Katowice 2006, S. 82.

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Ryszard Solik

brachten. Aus diesem Grund wird sie manchmal durch den Begriff der politischen Kunst ersetzt, obwohl die Reduzierung des Engagements auf einen hauptsächlich politischen Aspekt als eine weitreichende Vereinfachung betrachtet werden sollte. Es sei denn, wir beziehen uns auf Kunst, die ausschließlich im strikten Sinne des Wortes politisiert ist, oder wir definieren Politik und Politizität im weitesten Sinne als eine über die offensichtliche Konnotation hinausgehende Intentionalität, also das pragmatische und allgegenwärtige Spiel von Zielen und Interessen. Wir denken hier auch nicht an eine engagierte Kunst, die sich auf Aktivitäten beschränkt, welche „wichtige soziale Probleme kritisch angehen, mit relativ radikalen Ausdrucksmitteln arbeiten und in ihrer Botschaft eine Art positives Programm enthalten.“13 Die Gültigkeit der meisten dieser Annahmen wird in Bezug auf die Kunstpraxis des 20. Jahrhunderts oder der Gegenwart keine Einwände hervorrufen. Im Kontext der vormodernen Kunst (aber auch des engagierten Historismus) erscheint die „Radikalität der Ausdrucksmittel“ jedoch höchst problematisch. Ebenso sollte diese kritische Ausrichtung als ein übermäßig restriktives Kriterium betrachtet werden, das paradoxerweise jene Phänomene von der Praxis des Engagements ausschließt, die für diese Art von Kunst kanonisch sind und eine politisch-ideologisch eindeutig systemfreundliche Botschaft haben (Propagandakunst, politisierte Kunst, reaktionäre Kunst). Und doch ist die erwähnte Vielgestaltigkeit der Formen engagierter Kunst auch eine Vielfalt von Vektoren des Engagements von Kunst – auch in der modernen Kultur, die sowohl für als auch gegen das System ist, die den soziopolitischen Status quo stabilisiert und anfechtet. So werden wir engagierte Kunst im weitesten Sinne verstehen, insbesondere im Rahmen der Modernisierungsbestrebungen der Moderne, aber auch der medialen Neuordnung der Kunst selbst. Die Formel dieser Kunst umfasst nicht nur Projekte, die Ausdruck des „offenkundig politischen“14 Charakters der Kunst sind (frühmoderner Historismus, politische Propaganda, ideologische Unterdrückung, Indoktrination), sondern auch die Praktiken der Avantgarde, aktionistische und gemeinschaftliche Formen, einschließlich künstlerischer Provokationen, die „die Homöostase der kollektiven Koexistenz verletzen.“15 Das ändert freilich nichts daran, dass wir uns angesichts des gewählten Rahmens und Problemfeldes dieser Skizze nur auf ausgewählte Erscheinungsformen engagierter Kunst beziehen und dabei auch das Verhältnis zwischen dem medialen Charakter der Kunst und den Formen des Engagements herausstellen werden. 13 J. Zydorowicz: Artystyczny wirus. Polska sztuka krytyczna wobec przemian kultury po 1989 roku. Warszawa 2005, S. 70. 14 J. Białostocki: Symbole i obrazy w ´swiecie sztuki („Studia i rozprawy z dziejów sztuki i mys´li o sztuce“). Warszawa 1982, S. 395. 15 H. Szabała: Skandal w kulturze. In: Wobec kryzysu kultury. Z filozoficznych rozwaz˙an´ nad kultura˛ współczesna˛. Hrsg. L. Grudzin´ski. Gdan´sk 1993, S. 99.

Stratifikationen des Engagements

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Engagement und der „Modernismus der reinen Form“ Ein weiterer Punkt im Zusammenhang mit dem „Projekt der Moderne“ und dem vorliegenden Thema bedarf einer Anmerkung. Es wäre wahrscheinlich ein Missbrauch zu sagen, dass in der „langen Dauer“ die Geschichte der Kunst ein Wechsel von rekontextualisierten Formen des Engagements ist. Die Kunst war jedoch trotz verschiedener Bemühungen, sie so zu gestalten, nie autonom und schon gar nicht neutral gegenüber kulturellen, sozialen oder politischen Realitäten. Im Gegenteil, sie blieb in der Umlaufbahn ihrer Einflüsse und Bedingungen, auch wenn sie dem zu widersprechen und sich radikal zu ästhetisieren schien. Man kann kühn die These wagen, dass der Gegensatz von Leben (Realität) und Kunst in direktem Verhältnis zur Stärke der Diskurse über die sich emanzipierende Kunst wuchs. Die heute in Mode gekommene Formulierung „Kunst im sozialen Raum“ bringt im Grunde die Kontexte zum Ausdruck, in denen Kunst schon immer funktioniert hat. Das Problem ist, dass diese natürliche Verwurzelung ausgerechnet durch den Modernismus, mit seiner Vision des L’art pour l’art und der formalistischen Ästhetik, die – wie Grzegorz Dziamski schreibt – „[…] versuchte, das Konzept der reinen, freien Kunst zu schaffen, die mit der wahren Kunst identisch ist“,16 auf die Probe gestellt wurde. Autonom und autotelisch, auf sich selbst und der medialen Natur der künstlerischen Disziplinen konzentriert. Dies spiegelte sich in Clement Greenbergs berühmt gewordener These über die autothematische Natur der Malerei wider, deren Hauptproblem (angeblich) die Flachheit der Oberfläche war, die die Besonderheit des Bildes ausmachte. Es sollte auch eine Vision von Kunst sein, die frei von sozialen und politischen Verpflichtungen und damit selbstreferentiell ist. Doch – wie Marshall Berman schlussfolgert – war es „die Freiheit eines schön geformten, fest verschlossenen Grabes“, der „nur sehr wenige moderne Künstler oder Schriftsteller lange treu geblieben sind.“17 Die Selbstreferenzialität dieser Kunst (wie jeder anderen Kunst) sollte ebenfalls als ein Ammenmärchen betrachtet werden. Oder, um die Rhetorik von Rosalind Krauss aufzugreifen, zu den „modernistischen Mythen“18 gezählt werden. Die Kunst der Moderne (als kulturelle Formation), einschließlich der modernen (modernistischen), kann nicht auf formalistische Experimente reduziert werden, die von dem Bedürfnis nach „künstlerischer Selbstreferenzialität“ durchdrungen sind. Der „Modernismus der reinen Form“ war eine der Optionen in der kreativen Polyphonie der Moderne. Außerdem ist die Kunst nicht in der Lage, ihre eigene Identität und 16 G. Dziamski: Sztuka po modernizmie. In: „Odra“ 10 / 2000, S. 61–65, hier S. 62. 17 M. Berman: „Wszystko, co stałe, rozpływa sie˛ w powietrzu“, (Anm. 8), S. 35. 18 Ich beziehe mich hier auf die Veröffentlichung R. Krauss: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne. Übersetzt von J. Heininger. Amsterdam–Dresden 2000.

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Besonderheit selbst zu bestimmen. Das „Künstlerische“ wird nämlich nicht allein durch die formalen Eigenschaften des Objekts bescheinigt (selbst innerhalb des traditionellen Kunstmodells), sondern erweist sich als kontextuell verhandelt und konstruiert „innerhalb eines regelgeleiteten interpretierten Diskurses, der selbst historisch geformt und transformiert wird.“19

Eine Kultur des Wandels, oder „alles Beständige löst sich in Luft auf“20 Entsprechend der Verpflichtung, die sich aus den getroffenen Annahmen ergibt, sollten wir unsere Aufmerksamkeit auf den Kontext der Moderne richten, und zwar auf den kulturellen Mechanismus des Wandels. Dieser gehört nämlich zu den Schlüsselbegriffen des „Projekts der Moderne“. Es ist das Credo der Epoche, das die Modernisierungstendenzen und Dilemmata der Formation vielleicht am besten zum Ausdruck bringt. Und das ist keine Übertreibung, geschweige denn eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung. Da jedoch „die europäische und insbesondere die amerikanische Kultur seit der Aufklärung den Wandel als Symbol des Fortschritts und den Fortschritt als kulturellen und zivilisatorischen Wert annehmen, haben sie ein Bedürfnis nach einem Rausch der Veränderung entwickelt.“21 Dieser „Rausch“ rührt von der radikalen kulturellen „Umdeutung“ des Wandels her, die während der Aufklärung stattfand und die durch die Modernisierungstendenzen der Moderne begründet wurde. Gleichwohl orientierten sich die vorindustriellen Gesellschaften (traditionelle Kulturen) am Vertrauten und machten die Vergangenheit zum Bezugshorizont. Ausgerichtet auf die Stabilisierung dessen, was durch Tradition, Geschichte, Sitte sanktioniert war, wurde die Idee der kulturellen Stabilität dem Wandel vorgezogen, der Unsicherheit und Zerfall der vertrauten Welt bedeutete.22 In Kulturen der langsamen Dauer war der Wandel – im Gegensatz zur Moderne – etwas Unerwünschtes, Gefährliches, ja Satanisches, wie im Mittelalter, wo jede „Innovation eine Sünde“ war und „die Kirche die Novitates eifrig ausrottet“23. Während sich also innerhalb 19 J. Margolis: Czym, w gruncie rzeczy, jest dzieło sztuki? Wykłady z filozofii sztuki. Hrsg. K. Wilkoszewska. Übersetzt von W. Chojna [u. a]. Kraków 2004, S. 20. 20 Zit. nach: M. Berman: „Wszystko, co stałe, rozpływa sie˛ w powietrzu“, (Anm. 8), S. 15. 21 E. Kosowska: Antropologia literatury. Teksty, konteksty, interpretacje. Katowice 2003, S. 32. 22 „Die europäische Kultur schätzte Stabilität und würdevolle Langsamkeit höher ein, die jedoch oft durch Kriege, Epidemien und Naturkatastrophen bedroht war. Die durch diese Faktoren hervorgerufenen Veränderungen wurden als Schicksalsschläge wahrgenommen und nicht als ein Wert an sich betrachtet. Stattdessen versuchte man den vorherigen Zustand – je nach Möglichkeit – so schnell wiederherzustellen.“ Ebd., S. 31f. 23 J.L. Le Goff: Kultura ´sredniowiecznej Europy. Übersetzt von H. Szuman´ska-Grossowa. Warszawa 1997, S. 337.

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der traditionellen Kulturen Veränderungen vollzogen, erhielten diese Prozesse den Wert einer gemächlichen Evolution, die in der Regel erst über mehrere Generationen hinweg sichtbar wurde. Dies war auch darauf zurückzuführen, dass es sich häufig um individuelle Veränderungen handelte und nicht um den Ausdruck einer kulturellen Tendenz. Die Wende kam mit dem Beginn der Moderne, mit den Fortschrittskonzepten der Aufklärung, die von Pascal, Perrault, Fontenelle, Turgot und schließlich dem Marquis de Condorcet vertreten wurden. Die Idee der „Evolution“ wurde von der Revolution, dem Bedürfnis nach Modernisierung, überschattet, die wahrscheinlich die wichtigste Prämisse der modernen Kultur und Kunst markiert. Seitdem, so Chris Jenks, schien konventionelle Rhetorik nach der Aufklärung zu besagen, dass das, was ist, nicht besser sein kann, dass wir die Ankunft der nächsten Stufe unserer kulturellen Evolution vorwegnehmen und beschleunigen müssen, dass das, was jetzt realisiert wird, der große Wunsch der Vergangenheit war.24

Fortan verfolgt die fortschrittsorientierte Moderne, fasziniert von Neuem, mit unerschütterlicher Konsequenz die Transformation und Reorganisation und verknüpft Modernisierungsherausforderungen mit der Unvermeidbarkeit von Wandel und Innovation. Im Namen des prophezeiten (angeblichen oder tatsächlichen) Fortschritts hat die Vergangenheit ihre Attraktivität verloren, und die Aktualität scheint nur ein vorübergehender Zustand zu sein. In dieser Perspektive wurde auch der Rang der Autoritäten, die die Freiheit und die Rationalisierungstendenzen der Epoche unterdrückten, in Frage gestellt, und die „falsche Voreingenommenheit für das Alte, für die Autoritäten [eben – R.S.], ist das an sich Bekämpfungswürdige.“25 Diese kulturelle Neuinterpretation des Wandels gewinnt zumindest aus mehreren Gründen eine erhebliche Bedeutung für die hier zu behandelnde Problematik. Erstens steht sie in engem Kontakt mit den fortschrittlichen Bestrebungen der Moderne, prägt den Kontext einer Kultur mit einer hohen, ja ständigen „Veränderungsdynamik“ und, was für das vorliegende Thema am wichtigsten ist, mit vielen Feldern (Domänen) der Modernisierung. In diesen Raum gehört auch der bereits klassische Webersche Gedanke der „Entzauberung der Welt“, wonach das integrierte System der (traditionellen) vormodernen Kulturen durch autonome, der Rationalisierung unterworfene kulturelle Sphären ersetzt wurde.26 Dazu gehört auch die Kunst, die zu einem Feld moderni24 Ch. Jenks: Kultura. Übersetzt von W. Burszta. Poznan´ 1999, S. 135. 25 H.G. Gadamer: Gesammelte Werke. Bd. 1: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1990, S. 282. 26 Der die Folgen von Webers Idee der Rationalisierung der Welt kommentierende Habermas nennt die Spaltung der „substantiellen Vernunft“, die zerfallenden Weltbilder und die „Trennung der Sphären von Wissenschaft, Moral und Kunst“. J. Habermas: Modernizm –

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sierender Praktiken und gleichzeitig zu einem Werkzeug und Medium für die Modernisierung der Welt geworden ist. Zweitens löst sie eine antitraditionalistische Neigung der Kunst aus, sich in konzeptioneller, formaler, ontischer Dimension neu zu organisieren. Dies führt zu einer offensichtlichen Polyphonie von Bestrebungen, Positionen, Suchen und kreativen Experimenten. Sie zeichnet den Raum der Anthroposphäre mit außergewöhnlicher Aktivität und linearer Trajektorie der Entwicklung. Dadurch scheinen drittens, ganz allgemein gesprochen, die Aufgabe der modernen Kunst und die ihr innewohnenden Modernisierungsimpulse im Wesentlichen auf zwei Pole ausgerichtet zu sein. Einerseits der von Selbstbezogenheit durchdrungenen Kunst, die sich (zumindest postulativ) von allen sozialen und kulturellen Abhängigkeiten und Verpflichtungen emanzipiert. Es handelt sich um eine Art interne (endogene) Modernisierung, die im Feld des Schaffens selbst stattfindet und von der Vision einer reinen, autonomen und autotelischen Kunst infiziert ist. Andererseits der Kunst, die im Namen von Ambitionen und Modernisierungsaufgaben auf ästhetische Unterscheidungen verzichtet, engagierter Kunst, die sich in die kulturell-soziale Realität einmischt. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch Baudrillards Aussage fragwürdig, dass die Transgressivität der Kunst (der modernen / vielleicht postmodernen für diejenigen, die das Ende der Moderne akzeptieren) darauf hinausläuft, dass sie „sich selbst zu etwas anderem hin überschreitet und übertrifft, und das Leben geht seinen Weg…!“27. Viertens: Der Imperativ, die Welt zu verändern und zu modernisieren, schafft neue Bereiche der Präsenz und der Funktionsweise von Kunst und folglich Formen und Praktiken des Engagements, die mit den medialen und ontischen Reorganisationen der Kunst zusammenhängen. Unter diesem Gesichtspunkt will die modernistische Kunst (ebenso wie die Wissenschaft, an der sie sich orientiert) lehren und erziehen, nach der Wahrheit suchen, die gesellschaftliche Realität und die menschliche Natur auf ihre Weise reflektieren und analysieren. In ihrem Streben nach Emanzipation des Menschen versteht sie sich als Waffe im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit und glaubt an den Fortschritt nicht nur auf der künstlerischen, sondern auch auf der sozialen Ebene.28

Fünftens und letztens positionieren der Wunsch nach Veränderung und „die absolute Ablehnung der Vergangenheit, die ein wesentlicher Bestandteil sowohl des Modernismus als auch der Forderung nach Modernisierung ist […]“29 die niedokon´czony projekt. Übersetzt von M. Łukasiewicz. In: Postmodernizm. Antologia przekładów. Hrsg. R. Nycz. Kraków 1998, S. 25–46, hier S. 34. 27 J. Baudrillard: Spisek sztuki. Iluzje i deziluzje estetyczne z dodatkiem wywiadów o „Spisku sztuki“. Übersetzt von S. Królak. Warszawa 2006, S. 137. 28 A. Szahaj: Co to jest postmodernizm?, (Anm. 11), S. 69. 29 A. Huyssen: Nad mapa˛ postmodernizmu. Übersetzt von J. Margan´ski. In: Postmodernizm. Antologia przekładów. Hrsg. R. Nycz. Kraków 1998, S. 452–519, hier S. 465.

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Vektoren der engagierten Kunst, im Gegensatz zu den vorindustriellen Gesellschaften, in Richtung einer Praxis, die in der Regel systemfeindlich ist und die Aktualität sowie den kulturell-sozialen Status quo frondiert. Infolgedessen wendet sich die Bezugsperspektive hauptsächlich dem „Mythos der Modernisierung“ zu, die das Neue, das Andere, das Zukünftige vorwegnimmt.

Praxis – Kontexte und Stratigraphien des Engagements Moderne Formen des Engagements der Kunst haben eine Vielzahl von künstlerischen Praktiken und folglich „Strategien der Pragmatisierung“ mit sich gebracht. Dies hängt, wie erörtert, mit der für das Projekt der Moderne fundamentalen Rhetorik des Wandels und den Modernisierungsbestrebungen der Formation zusammen, ebenso wie mit der Neuorganisation der Kunst selbst. Gehen wir ausgewählten Feldern des Kunstengagements nach und nehmen wir dabei den frühmodernen (engagierten) Historismus als Ausgangspunkt. Der Kontakt mit der Politik, der sich hier auf verschiedene Weise manifestiert, und die Intentionalität der politisch-ideellen Botschaft, die Ausdruck bestimmter Haltungen und Ideologien sind, erscheinen in diesem Fall symptomatisch. Es handelt sich um eine Kunst, die im Wesentlichen in einem Kontext entstanden ist, in dem „politisches Denken, politische Handlungen und deren Folgen die gesamte europäische Kultur beeinflussten.“30 In dem „die alte Ordnung, die auf der magischen Kraft der Geburt und einem irrationalen Wertesystem beruhte, einer neuen Ordnung wich, in der wirtschaftliche und soziale Kräfte, die vom Bürgertum beherrscht wurden, die Richtung der Entwicklung bestimmten.“31 Es handelt sich also nicht nur um die Historienmalerei der Zeiten der Revolution, der politischen Neuordnung, der ideellen Gärung, der das alte Europa erschütternden napoleonischen Feldzüge, oder der romantischen Aufstände zur nationalen Befreiung, sondern auch um eine in gewissem Sinne revolutionäre Kunst, die Edgar Wind einmal als eine Revolution in der Historienmalerei bezeichnet hat. Im Übrigen scheint der revolutionäre Charakter der Veränderung und nicht die gemächliche Evolution eine beispielhafte Verkörperung der Modernisierungsambitionen der Moderne zu sein. Einer Moderne, die in der Tat sowohl den Beginn als auch das Ende ihres Bestehens (natürlich für diejenigen, die diese Überzeugung teilen) mit dramatischen politischen Ereignissen verbindet. Der Unterschied bestand jedoch darin, dass die Ereignisse an der Quelle der Moderne Hoffnungen auf Fortschritt, eine „bessere Welt“ und eine neue Gesellschaftsordnung weckten, während sie am Ende den Verlust des Glaubens 30 J. Białostocki: Symbole i obrazy, (Anm. 14), S. 384. 31 Ebd.

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an moderne Metanarrationen ankündigten. Worin bestand der revolutionäre Charakter des Historismus um die Jahrhundertwende und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Vor allem in der Neudefinition der Geschichte. Es ist ein Historismus, der sich an der Wirklichkeit orientiert und sich für die Wirklichkeit engagiert. Er konzentriert sich auf das „Hier“ und „Jetzt“, nicht auf der vergangenen, fernen Vergangenheit. Er zeugt davon, dass „in den für die Menschheit entscheidenden Momenten die Geschichte von neu, von jetzt, von jedem Ereignis zu zählen beginnt, das die Situation voranbringt.“32 Die Fokussierung auf zeitgenössische historische Ereignisse bricht mit den konventionellen Funktionen der Gattung, wie der Darstellung des exemplum virtutis. Auch der dokumentarische Wert dieser Tendenz scheint zweitrangig gegenüber der primären, meist offensichtlichen Intentionalität der politisch-ideellen Botschaft. Auch gibt es hier keinen Platz für formale Experimente. Die Verständlichkeit der Botschaft, der die Ausdrucksproblematik streng untergeordnet wurde, macht diese Projekte zu ideell ausdrucksstarken Bildträgern mit spezifischen politischen Narrativen. Obwohl sie aus verschiedenen Perspektiven und im Kontext verschiedener Ziele (meist Propaganda) formuliert werden, stehen sie immer im Namen einer bestimmten Machtanordnung, einer sozialen Ordnung, eines politischen Systems oder eines lancierten „Regimes der Wahrheit“. Die Vektoren der politischen Verankerung des Historismus und damit des Engagements gingen also in unterschiedliche Richtungen. Sie unterlagen auch einfach der politischen Konjunktur und infolgedessen einstweiligen Neuordnungen mitsamt von Veränderungen politischer Gegebenheiten, auf die die Künstler selbst oft mit einem „Eifer reagierten, der an die Hofkünstler des Ancien Régime“33 erinnerte (der Kasus des Historismus in Frankreich, der nacheinander die Revolution und die Idee der Republik, die Herrschaft des Direktoriums, das Kaiserreich oder die Restauration der Bourbonen legitimierte). In der überwiegenden Mehrheit wurden diese Werke ausdrücklich vom Machtapparat bzw. den staatlichen Institutionen unterstützt, anfechtende, kritische, systemfeindliche Narrative waren selten (z. B. Goya, Daumier). Das Grundprofil der Ideologisierung wurde durch die Interessen des modernen Staates und die mit der Herausbildung des nationalen Bewusstseins verbundenen Herausforderungen bestimmt. Der Wiener Kunsthistoriker Robert Eitelberger schreibt unzweideutig darüber: Historische Malerei und Bildhauerei sind dazu berufen, die Propaganda des Staatsgedankens zu verkünden, und eine österreichische Historiengalerie wäre für den Zweck einer Galerie moderner Malerei besser geeignet als eine Sammlung von Ölgemälden, Landschaften, Genrebildern und anderen zeitgenössischen Werken, die, so gut sie an

32 M. Pore˛bski: Malowane dzieje. Warszawa 1962, S. 27. 33 J. Białostocki: Symbole i obrazy, (Anm. 14), S. 391.

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sich auch sein mögen, die vitalen Interessen eines großen Staates nur indirekt berühren können.34

So finden wir in dieser Strömung verstreute und dynamische Stratifikationen des Engagements, beginnend mit offen politischer, systemfreundlicher und propagandistischer Kunst, über die Macht ideologischer Programme von Monarchen und Staaten, die Ansprüche um ihre Souveränität kämpfender Nationen, bis hin zu den politischen Argumenten konkurrierender gesellschaftlicher Kräfte. Einige Splitter davon wird auch die romantische Ikonographie des Revolutionärs und des Arbeiters hervorbringen, der für seine Rechte und eine neue Gesellschaftsordnung kämpft. Bisher haben wir über offenkundig politische Werke gesprochen, deren „Hegemonie der Bedeutungen“ und der Aspekt des Engagements die Intentionalität ihrer ideologischen Botschaft bedingten. Sie wurde in der Regel aus der Perspektive der Interessen des institutionellen Auftraggebers gestaltet. Die Situation änderte sich jedoch im Kontext der künstlerischen Umstrukturierungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende; mit dem Aufkommen der (so genannten) künstlerischen Modernismen, mit ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit zur Transformation und zum Experimentieren. Dieses bislang beispiellose Ausmaß an künstlerischer Innovation, das den Ambitionen der Moderne als „Metakultur der Neuartigkeit“ entsprach, war vor allem mit der Idee der autotelischen Kunst verbunden. Sie sollte den „Modernismus der reinen Form“ verkörpern. Aus dieser Perspektive, um Wojciech Bursztas Aussage zu paraphrasieren, konnte die sich neu definierende Kunst als eine Art „sich selbst antreibender und sich selbst interpretierender Mechanismus der Produktion von Neuartigkeit, der Vervielfältigung des Angebots und der Vertiefung der Vergänglichkeit des angebotenen Inhalts“35 erscheinen. Die Realität scheint jedoch komplexer zu sein. Der „Modernismus der reinen Form“ war zwar – wie bereits erwähnt – eine stark akzentuierte, letztlich aber eine der vielen Tendenzen der Zeit. Ihre Attraktivität, dem Rhythmus der künstlerischen Innovationen entsprechend, erwies sich als ermüdend und verging recht schnell. Gleichzeitig war das Phänomen wahrscheinlich vielschichtiger, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn es ist schwer anzunehmen, dass die „antitraditionalistische Energie“ der kreativen Suche und sich emanzipierenden künstlerischen Praxis allein auf formale Experimente und die angebliche Selbstreferenzialität der Kunst ausgerichtet war. Selbst wenn wir die (vom Modernismus fetischisierte) Authentizität und Originalität der Kunst zum Horizont künstlerischer Neudefinitionen machen, bestätigen sie auch die „aufklärerische 34 Ebd., S. 428f. 35 W. Burszta: „Paradygmat przyrza˛du“ jako dos´wiadczenie. In: Nowoczesnos´c´ jako dos´wiadczenie, (Anm. 5), S. 52.

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Kategorie des Fortschritts“ und die reformistischen Neigungen der Moderne. Wir sollten auch nicht vergessen, dass viele Kunstwerke dieser Zeit, obwohl sie nicht direkt in die Politik involviert waren, indirekt den sozialen oder ethischen Bereich beeinflussten. Dies diente verschiedenen Interessen, nicht nur der Kunst. Und die Kunst selbst definiert sich ständig neu, auch als Medium (Werkzeug) für Webers „Entzauberung“ und Modernisierung der Welt. Dennoch ist es schwierig, in diesem Bereich – analog zum Historismus oder zur politisch orientierten Kunst – offen über eine strikt engagierte Kunst zu sprechen. Dies wird sich jedoch ändern, wenn wir uns den künstlerischen Modernismen im Zusammenhang mit der Avantgarde zuwenden. Und diese hat hier einen besonderen Platz. Offensichtlich nicht im Kontext formaler Umgestaltungen, sondern der „emanzipatorischen Mission der Kunst angesichts der repressiven politischen und sozialen Realität, bei gleichzeitiger Gleichsetzung von Avantgarde und politischer Progressivität.“36 Indem sie das Neue vorwegnahm, ging die Avantgarde über die Kunst hinaus, die sich „in einem permanenten Zustand des Aufruhrs“37 befinden sollte – und die sie in der Tat instrumentalisiert und zu einem Medium der Modernisierung reduziert hat. Diese Verallgemeinerung ist, wie alle Generalisierungen, mit Vorsicht und sogar mit Misstrauen zu behandeln. Die Polyzentrik und die Vielfalt der künstlerischen Praktiken, die den Modernismus und die Avantgarde-Bewegung ausmachen, erlauben es nämlich nicht, die internen Dichotomien und folglich die Haltungen zu ignorieren, die sich den progressiven (modernen) Tendenzen entgegenstellen und eine Rückkehr zur Natur und zur Ursprünglichkeit proklamieren.38 Nichtsdestotrotz steht der grundsätzlich progressive und programmatische Zug der Avantgarde-Kunst nicht zur Diskussion und bestimmt alles im Bereich der Werkstruktur, einschließlich der formalen Seite. „Wenn unsere Bilder futuristisch sind [erklärten die Futuristen – R.S.], dann deshalb, weil sie das Ergebnis absolut futuristischer ethischer, ästhetischer, politischer und sozialer Konzepte sind.“39 Der zutiefst ideologische und kompromisslose Charakter der Avantgarde führte in der Konsequenz dazu, dass die Verbindungen zwischen Kunst, Politik 36 A. Szahaj: Co to jest postmodernizm?, (Anm. 11), S. 70. 37 G. Lista: Futuryzm. Übersetzt von E. Gorza˛dek. Warszawa 2002, S. 29. 38 Die Haltung Gauguins, der die westliche Welt verließ und die Kolonien wählte, um sich auf Tahiti und den Marquesas niederzulassen, scheint symptomatisch für die Antimoderne und den Anti-Fortschritt. Wenn also der Modernismus in seiner Selbstverständlichkeit, wie Jürgen Habermas es einmal formulierte, „das Ergebnis eines Übergangs vom Alten zum Neuen“ war (J. Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, (Anm. 26), S. 27), so manifestiert sich Gauguins Antimodernismus in einer Hinwendung zum „Alten“, in einer Orientierung an einer Vergangenheit, die nicht historisch, sondern kulturell und, bezeichnenderweise im Zeitalter des modernen Kolonialismus, außereuropäisch ist. 39 M. Pore˛bski: Dzieje sztuki w zarysie. Bd. 3: Wiek XIX i XX. Warszawa 1988, S. 236.

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und sozialer Realität wieder enger wurden und die Avantgarde-Kunst – zum Inbegriff einer progressiven, ideologischen und engagierten Kunst. Doch im Gegensatz zum engagierten Historismus, der zumeist die einstweiligen politischen Systeme legitimierte, nahm die Avantgarde eine kämpferische, revolutionäre, eine neue Ordnung entwerfende Dimension an. Außer vielleicht in Sowjetrussland, wo sie bis zur Blockade der avantgardistischen Dynamik und der Rückkehr zu realistischen Tendenzen die postrevolutionäre, proletarische Neuordnung stabilisierte. Dieser kämpferisch-revolutionäre Charakterzug der Avantgarde manifestierte sich insbesondere in der Kunst des Futurismus, Dadaismus, Surrealismus und Konstruktivismus. Der Futurismus enthält eigentlich schon im Namen der Richtung eine eindeutige programmatische Aussage. Doch „in all diesen Fällen – schreibt Mieczysław Pore˛bski – wurde das Thema Kunst zum ultimativen Ziel der neuen, gesellschaftlich transformierten Menschheit, und das künstlerische Schaffen – zu einer Mission, einer Ermahnung und einem Wegweiser.“40 Das Blickfeld der Avantgarde-Kunst konzentrierte sich also im Wesentlichen auf alternative Projektionen zur Aktualität; auf eine im Namen einer – wenn man sich auf Aldous Huxleys Modernisierungshoffnungen und -ängste zum Ausdruck bringende Anti-Utopie bezieht – „schönen neuen Welt“ umgestaltete Realität. Die Avantgarde sollte eine vollständige und kompromisslose Transformation sein, eine Transformation sowohl der Kunst als auch des Lebens. Die Radikalität dieser Haltungen spiegelt sich vielleicht am besten im „axiologischen Nihilismus (Duchamp, die Futuristen) wider, der sich in einer Abneigung gegen anerkannte Werte manifestiert“, der eine Art „Vorspiel für den Prozess der Umwertung aller Werte und des Aufbaus des ‚Neuen‘ auf eine neue Weise“41 war. Angesichts der Modernisierungsherausforderungen wurden ständig neue Programme-Manifeste formuliert, die Ziele, Strategien und Handlungsweisen definierten, einschließlich – wie im Falle des frühen Futurismus – der Stigmatisierung der Feinde der Revolution, der reaktionären Kreise und der „Revision der Gewalt“ (Manifest des Futurismus. Politisches Manifest der Futuristen 1909, Unsere gemeinsamen Feinde 1910, Manifest einer futuristischen politischen Partei). Der Futurismus, der Dadaismus oder der Surrealismus, die mit der Avantgarde verbunden waren, verkündeten unisono, wenn auch auf ihre eigene Weise, die Unvermeidlichkeit der Transformation der Welt und des Menschen. Der Futurismus flirtete zeitweise mit verschiedenen politischen Kräften, von der Linken und dem Proletariat über Nationalismus, Anarchismus bis hin zum Faschismus, und proklamierte die Notwendigkeit einer totalen Revolution, nicht nur politisch, sondern auch kulturell und sozial. Er verband den programmatischen Charakter der Revolte mit der Dynamik der sich als „politi40 Ebd., S. 241. 41 N. Witek: Wiedza zatroskana, czyli mała antologia niepokojów. Cieszyn 2000, S. 51.

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sche“ und engagierende Kraft neu definierenden Kunst. Getrieben von dem „Wunsch, um jeden Preis zu kämpfen und sich zu erneuern.“42 Die futuristische Kunst bewunderte und verkündete den Fortschritt, den Dynamismus, den Technozentrismus, den Kult der Maschine, die Urbanisierung und die Industrialisierung und stellte die wichtigsten Merkmale des Projekts der Moderne heraus. Der Dadaismus betrat das Feld der programmatischen Bestrebungen der Avantgarde auf eine etwas andere Weise. Mit seiner provokativen und „emanzipatorischen Mission der Kunst“ angesichts nicht nur kultureller, politischer oder sozialer Unterdrückung, aber auch der künstlerischen Unterdrückung seitens der Kunst selbst. Sie sollte eine Befreiung von der alten Ordnung und dem metaphysischen Korsett sein; sie sollte, wie die Dadaisten es wollten, zu Befreiung und Freiheit führen. Dies könnte sowohl ein klarer Ausdruck der Modernisierungstendenzen der Moderne als auch ein Aufruf zur Befreiung von diesen reformistischen Verpflichtungen sein, im Namen der neuen „Phase in der Entwicklung der modernen Mentalität“43, die durch den Dadaismus ausgelöst wurde, wie Marcel Janco behauptete. Schließlich ging es im Reformprogramm der Avantgarde nicht nur um die Neugestaltung der politischen und sozialen Sphäre, sondern auch um die damit verbundene Emanzipation des Individuums, das die Perspektiven des Selbst- und Weltverständnisses verändern und erweitern sollte. Neue künstlerische Erfahrungsfelder wurden so mit Prozessen der ständigen Modellierung des Subjekts verbunden. Darauf zielte die Tätigkeit der Surrealisten, die Aktivitäten der kulturbildend engagierten Kunst auf dem Gebiet des „ideologischen Kampfes gegen die konformistische bürgerliche Weltanschauung“44, um die Vorstellungskraft des Einzelnen zu befreien und Bewusstseinsveränderungen auszulösen, die zu einer Neuordnung der Welt, des Lebens und der Kultur führen sollten. Das Ziel war eine völlige Transformation, aber im Gegensatz zum Futurismus mit seiner totalen Revolution betonte der Surrealismus vor allem die Befreiung von Praktiken, die die künstlerische und literarische Sphäre veränderten. In diesem Zusammenhang schreibt, Jolanta Da˛bkowska-Zydron´, ist es unerlässlich, sich der Verwirrung bewusst zu werden, die die surrealistischen Ideen in der Kultur des 20. Jahrhunderts ausgelöst haben. Schließlich hat eine Kulturrevolution stattgefunden: eine Umwälzung von Ideen, Bildern, Mythen und Denkgewohnheiten, die gleichzeitig unser Wissen über uns selbst und die Welt sowie unser Engagement in sie bestimmen.45

42 G. Lista: Futuryzm, (Anm. 37), S. 29. 43 Zit. nach: G. Sztabin´ski: Profesjonalizacja wolnos´ci. Swoboda artysty w sztuce współczesnej. In: „Estetyka i Krytyka“ 17–18 / (2/2009–1/2010), S. 11–32, hier S. 17. 44 K. Janicka: Surrealizm. Warszawa 1985, S. 39. 45 J. Da˛bkowska-Zydron´: Kulturotwórcza rola surrealizmu. Poznan´ 1999, S. 8.

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Mit anderen Worten, die Avantgarde-Kunst wurde in ihren progressiven Narrativen zu einer Art Plattform für Modernisierungsagitationen, -projektionen und -entscheidungen und folglich „zu einer auf die eine oder andere Weise verstandenen Teilnahme (oder ihrer Verweigerung) an den revolutionären Umwälzungen der Epoche.“46 Die Formel der Teilnahme schloss auch die Tätigkeit des Künstlers ein, verstanden als eine Form der engagierten (notwendigen) Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen, die durch die Kunst gestaltet oder mitgestaltet werden. Dazu gehört in gewisser Weise auch die Perspektive der so genannten angewandten Künste, die sich, in der Umlaufbahn der reformistischen Rhetorik der Moderne bleibend, auf die Modernisierung der nutzbaren Infrastruktur im Rahmen der Gestaltung einer breit verstandenen menschlichen Lebenswelt konzentrierten. Und obwohl die Intentionalität dieser Aktivitäten, mit Ausnahme vielleicht des frühen russischen Konstruktivismus, keine neue, revolutionäre Ordnung vorwegnahm, griffen sie doch in die Realität ein und reagierten auf die Bedürfnisse und Herausforderungen der modernen Welt und des Lebens. In diesem Bereich verorten wir die Aktivitäten des Konstruktivismus mit den Konzepten der „Raumorganisation“ und vor allem des Bauhauses (1919– 1933), das nacheinander von Walter Gropius, Hannes Meyer und Mies van der Rohe geleitet wurde. Aktivitäten, die das Gesicht der modernen Umwelt und der „Kunst für Menschen“ prägten wie auch den sozialen Faktor stark herausstellten. Mit der für das Bauhaus charakteristischen Architektur, die „[eine Forderung nach Modernisierung durch Standardisierung und Rationalisierung“47 verkörpert, mit ihrer räumlichen Organisation, Funktionalität, ihrem Purismus, der von der Poetik der Maschine inspirierten Klarheit der Formen und schließlich mit ihren Praktiken, die – wie Gropius selbst in Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses Weimar (1923) betonte – „die Welt der Maschinen, des Telegraphen und der schnellen Fahrzeuge feierten.“48 Das Spektrum reicht vom Wohnungsbau und der Stadtplanung bis hin zu Massenprodukten und Alltagsgegenständen. Ohne sie ist es unmöglich, über die neue architektonische Ordnung der Nachkriegszeit, die „Architektur des Maschinenzeitalters“, die modulare Architektur, die „Marseille-Wohneinheit“ und den Funktionalismus (internationaler Stil) von Le Corbusier, van der Rohe, Johnson und anderen oder schließlich die Massenwohnungsbauarchitektur nachzudenken. Die funktionale Plattenbauweise, die in ihrer Standardisierung eine städtebauliche Musterlösung der Moderne verkörpern sollte, sich in Wirklichkeit aber als zersetzend und entmenschlichend erwies, deren symbolisches Ende – so Charles Jencks – der

46 M. Pore˛bski: Dzieje sztuki w zarysie, (Anm. 39), S. 241. 47 A. Huyssen: Nad mapa˛ postmodernizmu, (Anm. 29), S. 465. 48 Zit. nach: M. Pore˛bski: Dzieje sztuki w zarysie, (Anm. 39), S. 255.

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spektakuläre Abriss von Wohnplattenbauten in der amerikanischen Stadt St. Louis am 15. Juli 1972 markierte.49 Andererseits kehrt das eindeutig politische Profil des Engagements in der ideologisierten und offen propagandistischen Kunst des Ersten und Zweiten Weltkriegs und insbesondere in den totalitären, nationalsozialistischen und kommunistischen Systemen wieder, die in der Zwischenkriegszeit entstanden und bis zu einem gewissen Grad und in einer bestimmten Phase nicht nur viele begeisterten, sondern auch den revolutionären Herausforderungen der Zeit zu entsprechen und sogar ein faszinierendes Versprechen einer alternativen, besseren (Welt-)Ordnung zu sein schienen. Nur um sich bald in bedrückende Gebilde zu verwandeln, die die Modernisierungshoffnungen der Moderne konkretisierten. Kunst im Dienst von Machtregimen, insbesondere eines totalitären Staates, ist eine in jeder Hinsicht politisierte, offen propagandistische ist und Emotionen manipulierende Kunst. Einer ideologischen Instrumentalisierung und institutionellen Überwachung ausgeliefert, die engagierte, systemfreundliche und politisch korrekte Kunst wie die Spreu vom Weizen von unengagierter, kosmopolitischer, reaktionärer, „entarteter“ oder nicht-arischer Kunst trennte. Erinnern wir daran, dass 1933 in NS-Deutschland das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda sowie die Reichskulturkammer gegründet wurden, während man 1935 in Sowjetrussland die Doktrin des sozialistischen Realismus formulierte. Ähnliche Lösungen und Praktiken finden sich auch im faschistischen Italien oder im franquistischen Spanien. Es handelt sich um eine Kunst, die im Namen ideologischer Identifikationen betrieben wird und der die „emanzipatorische Mission“ der Avantgarde-Bewegung abhandengekommen ist. Politisch und gesellschaftlich bedrückend, programmatisch eindeutig. Sie ist propagandistisch und erzwingt spezifische Haltungen, während sie gleichzeitig den „dialektischen Feind“ präzise anprangert. In ihren Redaktionen erscheint sogar der Kult des Individuums / des Führers (Vater der Nation) als eine ferne und düstere Umdeutungsfarce der Ikonographie vom Typus des exemplum virtutis. Mit Ausnahme der Architektur, der Bauhaus-Praktiken oder einiger radikal transgressiver Avantgarde-Projekte (Dadaismus, Surrealismus) haben wir bisher über engagierte Kunst im Wesentlichen im Bereich des traditionellen künstlerischen Paradigmas und der traditionellen Kunstmedien gesprochen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um den frühneuzeitlichen Historismus, den Futurismus, den den bürgerlichen Konformismus desavouierenden Surrealismus, um politisierte, ideologisierte oder offen propagandistische Kunst handelt. Um jedoch der Versuchung der Überinterpretation zu entgehen, sei hinzugefügt, dass der Begriff des traditionellen Paradigmas der Kunst nicht im Widerspruch 49 Ch. Jencks: Architektura postmodernistyczna. Übersetzt von B. Gadomska. Warszawa 1987.

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zu der „antitraditionalistischen Energie“ steht, die in der Skizze als charakteristisch für die Modernisierungsherausforderungen der Moderne bezeichnet wird. In diesem Fall verbinden wir das traditionelle Paradigma mit dem Modell eines Kunstwerks, das in der Praxis funktioniert, einer ausgesonderten konzeptionellen Variante mit spezifischen strukturellen Eigenschaften. Das bedeutet, dass wir bisher von handwerklich-materiellen Produkten gesprochen haben, von Medien, die überwiegend bildhaft, materiell objektiviert sind und auf der Ontologie des Objekts basieren. Offensichtlich wurde die Bedeutung visueller Botschaften in dieser Phase nicht in der Weise abgewertet, wie es die in der Spätmoderne oder Postmoderne proklamierte Krise der Repräsentation im Zusammenhang mit der Überproduktion von Bildern tat. Es handelt sich um eine Kunst, die formal nach den Normativen der sie bestimmenden Haltungen, Tendenzen, manifestierten Bestrebungen und Ideologien strukturiert ist. Mit anderen Worten, was die Medienspezifität dieser Realisierungen betrifft, so sind sie als vollständige, in sich geschlossene, intersubjektive Unternehmungen zu betrachten, die unabhängig vom Betrachter und den Ressourcen des Kontexts im Sinne einer physischen Definition sind. In Anbetracht der programmatischen und formalen Vielgestaltigkeit dieser Kunst ist daher davon auszugehen, dass sich das mediale Engagement-Potenzial künstlerischer Unternehmungen, die mit dem traditionellen Kunstmodell verbunden sind, auf der persuasiv-agitativen Ebene schließt. In ihrer natürlich optimalen Variante ausgerichtet auf die Wirkung der sozialen Resonanz, die den angenommenen Zielen angemessen ist. Semantisch und formal unterschiedliche ikonische Botschaften, die die politische oder soziale „Realität, äußerlich gegenüber dem Werk, bezeichnen“50 und gleichzeitig in diese Realität involviert sind, brachten die Programmatik auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck. Indem sie die Aktualität legitimierten oder in Frage stellten, propagierten sie ideologische Programme, Wahlen, reformistische und anti-oppressive Haltungen, förderten bestimmte Verhaltensmuster, sorgten für politische Agitation oder aktivierten schließlich die „Diskursivierung der sozialen Probleme“51. Sie waren jedoch ausschließlich eine Aufforderung zum Handeln, wenn auch nicht ohne reale (ursächliche) Folgen, und keine Handlung, die direkt in die Realität eingreift. Die Situation änderte sich mit der Einbeziehung von performativen Formen, Aktionskunst, Prozesskunst (Happening, Performance, künstlerische Aktionen und Events) in den Bereich der künstlerischen Tätigkeit. Es handelt sich um eine radikale ontische Reorganisation, eine Art Dekonstruktion der Objektkunst, die das Konkrete des formal strukturierten Artefakts entmaterialisierte und durch eine „Ontologie der Bewegung“, einen Prozess, ein raumzeitliches Ereignis er50 A. Zeidler-Janiszewska, R. Kubicki: Poszerzanie granic, (Anm. 10), S. 28. 51 K. Niziołek: Sztuka społeczna. Koncepcje, dyskursy, praktyki. Bd. 1. Białystok 2015, S. 10.

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setzte. Es ist auch ein grundlegender Wandel innerhalb der medialen Möglichkeiten der Kunst, die sich immer stärker und immer effektiver mit dem Leben verbindet und in das Leben eingreift. Die Performatisierung des Schaffens hat auch das Profil des Engagements grundlegend umgestaltet, indem sie sich von den ontologisch begründeten, in der Regel persuasiv-agitatorischen Realisierungen hin zu einer Kunst bewegt hat, die sich mit einem spezifischen Fragment der Realität auseinandersetzt und darauf einwirkt. An die Stelle der bisherigen Forderung nach der notwendigen Lesbarkeit der ikonischen Botschaft, die über die Erreichbarkeit des Betrachters und damit über ihre Wirksamkeit und persuasive Attraktivität entscheidet, ist die engagierende Aktivität des Betrachters getreten, der häufig am künstlerischen Ereignis beteiligt ist. Im Bereich der performativen/interaktiven Praktiken ist folglich von einer engagierten Kunst zu sprechen, die gleichzeitig die Subjekte dieses Ereignisses (Prozesses) engagiert und aktiviert. Der junge Rezipient, der das künstlerische Produkt betrachtet, wird zu einem Teil des Prozesses, zu einem unverzichtbaren Bindeglied. Er wird auf verschiedene Weise in den Schaffensprozess, der sich als zunehmend komplex, kollektiv und gemeinschaftlich erweist, einbezogen und daran beteiligt. Die Einbeziehung des Zuschauers in das Geschehen, seine totale Integration als Teilnehmer, führte dazu, dass die Happenings eher gespielt und erlebt als präsentiert wurden. Es war vor allem eine Intensivierung des Bewusstseins, die sich dem festgelegten Mechanismus des Spektakels und der Wiederholung entzog.52

Im Bereich der engagierten performativen Praxis und vor allem der erwähnten „Intensivierung des Bewusstseins“ können wir viele Unternehmungen aus dem Bereich der Aktionskunst, der aktivistischen Interventionskunst verorten. Es ist jedoch schwierig, den Wiener Aktionismus oder die „soziale Kunst“ von Joseph Beuys nicht zu kommentieren. Die Wiener Aktionisten rekontextualisierten und reinterpretierten die avantgardistische Idee der Revolution und der revolutionären Kunst auf ihre eigene Weise. Obwohl sie in ihrer entscheidenden Eigenschaft – wie Hermann Nitsch es formulierte – eine „dionysische“ Version der Revolution zu verwirklichen schienen, indem sie drastische und traumatische Aktionen mit einer transformativen Reinigung verknüpften, scheuten sie jedoch vor politischem Engagement und Aktivismus nicht zurück. Allerdings werden die tatsächlichen Auswirkungen und politischen Folgen dieser Maßnahmen in der Regel diskursiv überschätzt. Das stets skandalträchtige und provokante Werk der Aktionisten entstand jedoch aus dem ideologischen Widerstand gegen das Vergessen der Nachkriegszeit und die fehlende Abrechnung mit der NS-Vergangenheit. Es war eine transgressive Konfrontation mit der historischen Amnesie, die „das insti52 P. Krakowski: O sztuce nowej i najnowszej. Warszawa 1984, S. 62.

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tutionelle Tabu, das auf dem Fundament der fraglos heuchlerischen, auf dem traditionellen katholischen Wertesystem basierenden gesellschaftspolitischen Doktrin […] errichtet wurde“53 und die bürgerliche Mentalität der „Gesellschaft der Zwerge“ anprangerte (Aktionen: Wiener Spaziergang oder Kunst und Revolution). Sie wandte sich nicht nur gegen die Unterdrückung durch die konservative Kultur und den Staatsapparat und teilte in gewisser Weise die emanzipatorischen Bestrebungen der Avantgarde, sondern auch gegen die reaktionäre, konformistische und systemfreundliche Kunst. Beuys hingegen schlägt ein Konzept der totalen und dekonstruierten Kunst vor, das auf seine Weise ebenfalls in den utopischen Bestrebungen der Avantgarde wurzelt. Die Notwendigkeit der „Bewusstseinsintensivierung“ und der Modernisierung der krisengeschüttelten Welt, die zu einem Feld und einer „großen Akademie“ der schöpferischen Transformation werden sollte, verbindet er mit der Idee der Kunst und der sozialen Skulptur. Der Wendepunkt war die Überzeugung des Künstlers, dass „alles menschliche Wissen aus der Kunst kommt. Jede menschliche Fähigkeit entspringt der Fähigkeit des Menschen zur Kunst, d. h. der Fähigkeit zum schöpferischen Handeln.“54 Ausgehend von dieser Annahme, die das etablierte Verständnis von Kunst als eigenständiger kultureller Anthroposphäre sowie des Autors-Künstlers untergrub, proklamierte und implementierte er das Konzept der totalen, anthropologischen Kunst. Verstanden als schöpferische Tätigkeit in verschiedenen Formen, ausgerichtet auf die Gestaltung und Organisation der sozialen Wirklichkeit, die er nicht nur zum Ziel, sondern auch zum Feld und Material der Kunst/sozialen Plastik machte. Aus dieser Perspektive heraus stärkte er auch das Individuum, indem er jeden Menschen als Künstler im Sinne einer „Fähigkeit zur schöpferischen Tätigkeit“ betrachtete und damit das soziopolitische Umfeld gestaltete. Die Notwendigkeit einer Basisaktivität (Veränderung und Arbeit an der Basis) scheint nach Ansicht des Künstlers im Zusammenhang mit den zivilisatorischen Herausforderungen und Bedrohungen der Gegenwart von entscheidender Bedeutung zu sein: Eskalation der Aufrüstung, ungehemmte wirtschaftliche Expansion, Konsum und Überproduktion materieller Güter, Fetischisierung des Besitzes oder schließlich die Risiken, die sich aus der unbegrenzten, verheerenden Ausbeutung der natürlichen Ressourcen ergeben. Nach Beuys ist die Kunst ein Instrument der Veränderung, ein Werkzeug, das die gesellschaftliche Realität modelliert. Es entpuppt sich als

53 M. Borchardt: Akcjonizm wieden´ski – transgresja jako sztuka społecznej negacji. In: „Er(r)go. Teoria–Literatura–Kultura“ 35 (2) / 2017, S. 101–121, hier S. 102. 54 J. Beuys: Kaz˙dy artysta˛. Übersetzt von K. Krzemien´. In: Antropologia kultury. Zagadnienia i wybór tekstów. Hrsg. A. Mencwel. Warszawa 2001, S. 455–458, hier S. 455.

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der wichtigste Weg zur Lösung der von ihm diagnostizierten Krisen, die die Gesellschaft plagen. Die Entstehung und Umsetzung von menschenfreundlichen Gesellschaftskonzepten ist seiner Ansicht nach nur durch die Kraft der Kunst möglich, die in diesem Zusammenhang vor allem einen kreativen Umgang mit der Wirklichkeit bedeutet. Außerdem kann sie als ein Musterbeispiel für den Prozess der Gestaltung betrachtet werden, ohne den keine Handlung möglich ist. Nach Ansicht des Künstlers werden gerade im Bereich der Kunst Konzepte diskutiert, die es ermöglichen, sowohl die inkorrekte staatliche Struktur als auch die materialistische Kultur des Westens in Frage zu stellen.55

Beuys’ Kunst diagnostiziert, beanstandet und interveniert also auf verschiedene Weise in die Wirklichkeit. Dazu gehören sowohl die kritische Umgestaltung der Modernisierungs-herausforderungen der Avantgarde und der frühen Moderne (I like America and America likes Me. Coyote) als auch die kausale Wirksamkeit kollektiver (gemeinschaftlicher) Interventionen in Orte und den sozialen Raum (7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung). Beuys erhob das Gebot des Engagements – der schöpferischen Tätigkeit, die das soziale Umfeld modelliert – in den Rang einer Eigenschaft, die Kunst als solche ausmacht. Ihr einziges Ziel war die systemische Transformation, und alles, was nicht in die Formel des sozial resonierenden Schaffens (soziale Kunst) passte, war keine Kunst. Der Autor hat das traditionelle Feld der Kunst und die Kunst selbst neu definiert und ist dabei weit über ihre bisherigen kulturellen Konnotationen hinausgegangen. Es handelt sich um eine totale Rekonstruktion, die die unmittelbaren Ziele und programmatischen Eingriffe der engagierten Kunst (die sich gegen autonome und autotelische Tendenzen wendet) in das Grundprinzip jeglicher kreativen Tätigkeit verwandelt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die in der Auswahl vorgestellten Formen und Strategien des Engagements moderner Kunst ein komplexes und vielfältiges Bild ergeben. Und die fragliche Vielfalt, die in der Tat beispiellos und ohne Analogie in der Vergangenheit ist, ergibt sich nicht nur aus der Unterschiedlichkeit der Ziele, Programme, ideologischen Narrative oder polarisierten Vektoren des Engagements, sondern auch aus der Vielgestaltigkeit der modernen Kunst, ihrer unglaublichen Fähigkeit zu einstweiligen Neudefinitionen und ontischen Umstrukturierungen. Nichtsdestotrotz scheint der übergeordnete Faktor, der das Feld der modernen Praktiken des Engagements der Kunst bestimmt, der kulturelle Imperativ des Wandels und die daraus resultierenden modernisierenden Herausforderungen der Formation zu sein. Angesichts derer die Kunst nicht gleichgültig geblieben ist, weder als Raum noch als Medium und auch als Instrument fortschrittlicher Bestrebungen. Seit dem Durchbruch der Moderne 55 K. Kukiełko-Rogozin´ska: Wszyscy jestes´my artystami? Marshall McLuhan i Joseph Beuys o społecznej roli sztuki. In: „Panoptikum“ 11 (18) / 2012, S. 141–152, hier S. 149.

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darauf ausgerichtet, was möglich, innovativ und neu ist, konnte sie nicht anders, als sich „dem Mythos der Modernisierung zuzuwenden“56 und sich als moderne Kunst und Kunst der Moderne auf die reformistischen Herausforderungen der Epoche einzulassen. Faszinierend und destabilisierend zugleich. Denn modern zu sein bedeutet, wie Berman schreibt, „sich in einem Umfeld zu befinden, das Abenteuer, […] Entwicklung, Transformation von uns selbst und der Welt verspricht – aber gleichzeitig alles zu zerstören droht, was wir haben, was wir wissen, was wir sind.“57

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Marta Tomczok (Schlesische Universität in Katowice)

Kritische Interventionen von Natalia Romik

Das seit den 1990er Jahren wachsende Interesse an der Erinnerung in den Geisteswissenschaften fiel zeitlich mit der Entstehung der kritischen Kunst zusammen. Das Phänomen des Erinnerungsbooms, das in der Regel als positive Auswirkung, d. h. als reichhaltiger und vielfältiger Output von Studien zum Thema der Vergangenheit, bewertet wird, hat zur Entstehung von Gegenpraktiken geführt, die die Erinnerung einer Bewertung und Kritik unterziehen, ihr misstrauen und sich von ihr distanzieren. Wie Ernst van Alphen unter Berufung auf Benjamin Buchloh schrieb, wird das Interesse an der Erinnerung „vor allem in jenen Momenten extremen Drucks lebendig, in denen die traditionellen Bindungen zwischen Subjekten, zwischen Subjekten und Objekten sowie zwischen Objekten und ihren Repräsentationen sich zu verschieben und sogar zu verschwinden drohen.“1 In Polen war dies Ende der 1990er Jahre der Fall. Die Kritik „hat in der jungen Szene eine Kategorie geschaffen, die als kritische Kunst definiert wurde“,2 darunter die Arbeiten von Katarzyna Kozyra, Joanna Rajkowska, Paweł Althamer oder Zbigniew Libera, um nur einige zu nennen. Das Wesen der kritischen Kunst wurde am treffendsten von Jacques Rancière ausgedrückt, der betonte, dass die Künstler, die sie praktizieren, „ein Bewusstsein für den Mechanismus der Dominanz schaffen, so dass der Betrachter zu einem aktiven Subjekt bei der Umgestaltung der Welt wird.“3 Bei der Analyse der kritischen Kunst, insbesondere der Aktivitäten von Künstlern, die sich auf die Erinnerung beziehen, lohnt es sich, nach dem politisch-gesellschaftlichen Kontext ihrer Arbeiten zu fragen, sowohl dem offenen als auch dem verdeckten. In den 1990er Jahren kam es in Polen zu zahlreichen raschen Veränderungen in der Wirtschaft, die sich sowohl auf das gesellschaftliche Leben als auch auf die Kultur auswirkten: Privatisierung oder Auflösung zahlreicher Betriebe, Arbeitslosigkeit 1 E. van Alphen: Oz˙ywianie. In: Ders.: Krytyka jako interwencja. Sztuka, pamie˛´c, afekt. Übersetzt von K. Bojarska. Kraków 2019, S. 157f. 2 A. Rottenberg: Sztuka w Polsce 1945–2005. Warszawa 2020, S. 363. 3 J. Rancière: Aesthetics and Its Discontents. Übersetzt von S. Cochran. Cambridge 2009, S. 46f.

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und der Niedergang vieler Regionen. Für die polnischen Städte, insbesondere für die, die früher von der Schwerindustrie lebten, bedeutete dies einen Verlust an Prestige und Kultur, die mit den Betrieben verbunden waren. In diesem Artikel möchte ich der Frage nachgehen, ob die kritische Kunst, die sich über die Frage der Erinnerung auf ihre Probleme bezieht, diesem Kontext Rechnung trägt. Ihre transformative Kraft ist vor allem für Historiker und Vergangenheitsforscher von Bedeutung. Mit Blick auf die Werke von Zbigniew Libera erklärte Ewa Doman´ska: Der Künstler ist nun der Partner des Historikers beim Aufbau einer Vision der Vergangenheit. Die zeitgenössische kritische Kunst ist Teil der zeitgenössischen engagierten, interventionistischen Geschichte. Der Historiker und der Künstler vertreten eine Gegengeschichte, sie ergreifen die Partei der Unterdrückten und Ausgeschlossenen; sie entmystifizieren die von den Siegern geschriebene Geschichte. Sie haben ein gemeinsames Ziel – die Abschaffung der verkrusteten Denksysteme, die nicht mehr in der Lage sind, neue Zukunftsvisionen zu bieten, die dem Stand der Wissenschaft und den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen.4

Die Annahme, mit Hilfe der kritischen Kunst das kollektive Gedächtnis an seinen empfindlichsten und unangenehmsten Stellen darzustellen und zu analysieren, ist zu einem Gegenentwurf zum verbalen Schaffen geworden, das sich in der Regel auf eine viel präzisere und weniger zweideutig formulierte Botschaft stützt, das die um die Erinnerung herum entstandene Leere zelebriert und die Wirklichkeit in Formeln beschwört, die mit Melancholie, Passivmachung, Stagnation und dem Vortäuschen einer Tätigkeit zu tun haben. Das kritische und interventionistische Potenzial der Kunst im Zusammenhang mit der Erinnerung erwies sich vor allem für jene Künstler als wichtig, die zwar nicht direkt mit der Erfahrung des Holocaust zu tun hatten, aber dem Gedenken an ihn misstrauten, das als Suche in den Archiven, als Aufzeigen ihrer Ressourcen, als Freilegen des Familiengedächtnisses und als Wiederherstellung des Vergessenen verstanden wurde. Die Kunst, die ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Wort als Medium zum Ausdruck bringt, das in der Lage ist, etwas wiederherzustellen, indem es mit Objekten und Bildern arbeitet, erwies sich als bequeme Methode für diejenigen, die – wie Artur Z˙mijewski – die performative Forschung bevorzugten. Indem sie den Betrachter affektiv in die Darstellung traumatischer Szenen einbezogen, wollten sie eine Verschiebung der Grenzen bewirken, die in der Diskussion um Geschichte für starr und unverrückbar erklärt wurden; die Grenzen zwischen Täter und Opfer, Schuld und Leid, Emotionen und deren Fehlen, fremdem und durch Ersitzung übernommenem Eigentum. Während jedoch der Fall von Z˙mijewski, über den van Alphen schreibt, in seinen Provokationen 4 E. Doman´ska: Sztuka jako przyszłos´c´ historii / Art as the Future o History. In: Historia w sztuce / History in Art. Hrsg. M.A. Potocka. Kraków 2011, S. 74–85, hier S. 81.

Kritische Interventionen von Natalia Romik

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absolut antinormativ erscheint, sich gegen den Rahmen der modernen Kunst richtet und darauf abzielt, zu demontieren und indirekt eine gewisse Wahrheit zu enthüllen, zeigt der Fall der später besprochenen Werke, die sich nur in einigen Aspekten auf kritische Praktiken beziehen, dass die mit dem Kritizismus und dem Engagement der Kunst in die Diskussionen um die Erinnerung verbundenen Begriffe manchmal in einer teilweise gerechtfertigten Weise verwendet werden können, insbesondere wenn sie Teil der Kommerzialisierung der Erinnerung werden, wenn sie dazu dienen, jemandem oder etwas „zur Schau“ zu gedenken, wenn sie den Export bestimmter Ideen begünstigen, oder wenn sie ein Element ganz offensichtlicher Praktiken wirtschaftlicher Natur sind. In diesem Artikel möchte ich ausgewählte künstlerische Aktivitäten von Natalia Romik analysieren, einer Politikwissenschaftlerin und Architektin, die mit dem Künstlerkollektiv Senna assoziiert ist und unter anderem die Dauerausstellungsprojekte im POLIN-Museum für die Geschichte der polnischen Juden und im Oberschlesischen Haus der Erinnerung an oberschlesische Juden mitgestaltet hat. Sie verbinden Kritik und Engagement mit dem Glauben an die Kraft der Gemeinschaft, aber gleichzeitig sind sie in ihrer provokativen Schicht auch „unvollständig“, „unterbrochen“, „nicht zu Ende gedacht“, an einer bestimmten – vielleicht für die Künstlerin bequemen – Stelle stehen geblieben. Diese „Unterbrechung“ unterscheidet Romiks Praktiken von den Aktivitäten anderer Künstler wie Kozyra oder Z˙mijewski auf der Ebene des Engagements für das eigene Projekt; es handelt sich um ein oberflächliches Engagement, das sowohl das soziale Gefüge als auch das kollektive Gedächtnis nur in einem begrenzten Grad stört. Unabhängig von den spezifischen Zielen der einzelnen Projekte bleibt das Hauptziel die Enthüllung der vergessenen, verdrängten oder verschwiegenen jüdischen Geschichte, die mit den von der Transformation betroffenen Orten wie Be˛dzin, Bytom, Cze˛stochowa und Sosnowiec verbunden ist. Überall dort, wo nach 1989 die Schwerindustrie stillgelegt wurde und Arbeitslosigkeit einsetzte, die die Städte wie eine Urgewalt zerstörte, beschloss Romik, nach Spuren jüdischer Gebäude zu suchen und zu prüfen, was unter den Bedingungen des wirtschaftlichen Wandels mit ihnen geschieht, wie sie funktionieren, wer sie bewohnt und wie ihr Zustand ist. Bei der Präsentation ehemaliger jüdischer Stätten hat die Künstlerin jedoch nicht direkt (und meiner Meinung nach auch nicht indirekt) auf deren Verstrickung in den Post-Transformationskontext verwiesen und das jüdische Erbe und sein heutiges Schicksal in den Vordergrund gestellt. Dabei sollte sie die Frage, was mit den Gebäuden geschieht, die vor dem Holocaust Juden gehörten, dazu veranlassen, darüber nachzudenken, wer die heutigen Bewohner sind, die ehemaliges jüdisches Eigentum bewohnen, und ob der Eingriff in ihr Leben, den die Erinnerungsforschung erfordert, nicht ebenso unzulässig ist wie die im Judentum verbotene Exhumierung jüdischer Überreste; ob er

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nicht ihre Privatsphäre verletzt, indem er sie in Wirklichkeit nur berührt, markiert, andeutet, aber ungelöst, unrepariert lässt. Die Erforschung des sozialen Gedächtnisses in Verbindung mit einer künstlerischen Intervention bedient sich nicht-invasiver Methoden wie dem Scannen des Raums, der Gestaltung seiner plastischen Abdrücke, der 3D-Technologie oder der Herstellung von Objektsymbolen, die den öffentlichen Raum auflösen sollen. Indem ich die Art und Weise analysiere, in der Natalia Romik das jüdische Erbe enthüllt, möchte ich herausfinden, wie ihre Projekte mit dem zeitgenössischen menschlichen Leben umgehen, das mit dem genannten Erbe verbunden ist: Wendet die Künstlerin eine bestimmte Strategie an, unterscheidet sie zwischen den Toten und den Lebenden, oder geht sie geplant und bewusst das Risiko ein, in deren von der Geschichte schließlich entfernte Welt der Armut nach der Transformation einzugreifen. In Patricia Leavys Werk Method Meets Art wird ästhetische Intervention als Bruch mit einer sozialen Ordnung verstanden, die auf dem Ausschluss oder der Benachteiligung bestimmter Milieus beruht, indem ihre Probleme thematisiert werden und ihnen der ihnen zustehende Platz in der Gesellschaft zurückgegeben wird. In Anlehnung an bell hooks betont Leavy den transformativen Charakter der visuellen Künste, durch den sie „stereotypen Denkweisen widerstehen und sie überwinden können.“5 Dabei geht es sowohl um die Darstellung von Gruppen, die in der Kultur bisher keinen Platz hatten, als auch um die Defamiliarisierung ihrer Position: Die visuellen Künste können als Ideologieträger dienen, aber sie können ebenso effektiv dazu genutzt werden, überholte Überzeugungen und Stereotypen in Frage zu stellen, zu verdrängen und zu verändern. Im letzteren Fall können visuelle Bilder als wirksame Form des sozialen und politischen Widerstands eingesetzt werden, weil Kunst, und vielleicht die visuellen Künste im Besonderen, immer ein oppositionelles Potenzial hat.6

Mit einem solchen Werkzeug in der Hand könnte Natalia Romik in Projekten wie JAD oder dem Nomadischen Schtetl-Archiv nicht nur in die Erinnerung der Menschen an Architektur, sondern auch in ihr Leben eingreifen. Ich werde versuchen, herauszufinden, wohin diese Eingriffe führen und warum sie einige der Stellen vermeiden, die einen kritischen Blick erfordern. Das zu untersuchende Material besteht aus drei Filmen: JAD w działaniu, Nomadic Shtetl Archive, vol. 1 sowie Überleben im Holocaust – Geheimen Verstecken auf der Spur. Sie unterscheiden sich im Grad der Professionalität der Filmerzählung (JAD… ist eine Performance-Aufnahme, die teilweise innerhalb der Mauern der Galerie von den Künstlern selbst gemacht wurde, Nomadic… – 5 P. Leavy: Metoda spotyka sztuke˛. Praktyki badawcze oparte na sztuce. Übersetzt von K. Stanisz, J. Kucharska. Warszawa 2018, S. 309. 6 Ebd., S. 306.

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eine Reportage, die während Romiks Aktivitäten in einem ehemaligen jüdischen Mietshaus in Cze˛stochowa wie „von der Hand“ gemacht wurde, während Überleben im Holocaust…, produziert vom deutsch-französischen Fernsehsender arte, ein umfassender Versuch ist, ihre Aktivitäten aus der Perspektive eines westeuropäischen Zuschauers zu betrachten), durch den Zeitpunkt der Aufzeichnung (2012, 2016, 2021) und den Ort der Handlung (Bytom, Be˛dzin, Sosnowiec; Cze˛stochowa; Warschau, Wis´niowa, Jarosław, Pełkinie, Siemianowice S´la˛skie). Die Position, aus der ich diese Filme betrachte, unterscheidet sich entschieden von der eines Teilnehmers an Performances oder Interventionen, denn sie befindet sich außerhalb der künstlerischen Aktivitäten, an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit als ihre wirkliche Zeit und ihr wirklicher Ort. Die Besonderheit der erwähnten Position ergibt sich aus der Annahme und dem Verständnis der Tatsache, dass man nur der von den Filmen gebotenen Perspektive auf das Geschehen unterworfen ist; jede der in den Filmen gezeigten Aktionen ist durch Bewegungsfreiheit, Beliebigkeit der Platzwahl und Autonomie der Urteilsbildung gekennzeichnet. Im Fall des analysierten Materials sind all diese Bewegungen bereits ziemlich eingeschränkt: Wenn man die vom deutsch-französischen Sender oder von Autoren des Materials, das von der Aktion der Einfuhr des JAD in die oberschlesischen Städte gedreht wurde, gewählte Perspektive betrachtet, sollte man bedenken, dass man in eine zuvor von jemandem angenommene Perspektive „eintritt“, die dem Forscher Einschränkungen auferlegt. Wenn ich Natalia Romiks Schaffen als kritische Intervention bezeichne, gehe ich einerseits davon aus, dass sie sich dafür einsetzt, die Denkweise über das jüdische Erbe und die gegenwärtige Situation der polnischen Städte zu verändern, indem sie gut durchdachte Handlungs- und Bildpfade schafft, und andererseits untersuche ich, wie ihr Engagement meine Art, kritisch über Kultur zu denken, beeinflusst. Damit beziehe ich mich auf den Begriff der „kritischen Intervention“ von van Alphen, der es als Aufgabe des Kritikers ansah, „Texte, Bilder und Praktiken durch Verknüpfung mit einer konkreten Frage zusammenzustellen“,7 und gleichzeitig zwischen dem, was eine Form der Aktivität ist (wie Romiks oben erwähnte Aktionen), und einem Beitrag zum Denken und zum Aufbau von Kultur (die Arbeit des Kritikers) unterschied. Der Kontext für kritische Interventionen dieser Art kann die so genannte kritische Interventionsforschung sein, die aus einer sozialen Analyse besteht, welche auf eine spezifische Veränderung von jemandem oder etwas abzielt. Ihre Kritikalität besteht darin, den Menschen zu helfen,

7 E. van Alphen: Mys´lenie kultury. Krytyka jako interwencja. Übersetzt von K. Bojarska. In: Ders.: Krytyka jako interwencja. Sztuka, pamie˛´c, afekt, (Anm. 1), S. 16.

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sich aus den Fesseln der sozialen Medien zu befreien, durch die sie interagieren – ihrer Sprache (Diskurse), ihrer Arbeitsweisen und ihrer sozialen Machtbeziehungen (in denen sie Zugehörigkeit und Differenz, Inklusion und Exklusion erfahren – Beziehungen, in denen sie, um es grammatikalisch auszudrücken, mit anderen in der dritten, zweiten oder ersten Person interagieren).8

JAD, das zwischen dem 13. Oktober und dem 30. November 2012 im Rahmen des Metropolis-Projekts in der Kronika-Galerie in Bytom, neben dem Nomadischen Archiv präsentiert wurde, ist eine von Romiks Aktivitäten, bei denen ein Objekt, das sich auf die jüdische Tradition bezieht, eine wichtige Rolle spielt. Auf der Website der Galerie wird seine Bedeutung wie folgt erläutert: JAD1 – (aus dem Hebräischen für Hand; im Judentum ein liturgisches Gerät, das einem Stab mit einer Miniaturhandspitze ähnelt und beim Lesen der Tora hilft). JAD2 – ist eine mikronomadische Maschine, die ihr äußeres Spiegelbild durch das Enzym des Protests verändert. Die Maschine wird an Orten mit erosiven Architekturproblemen (z. B. Be˛dzin, Bytom, Sosnowiec) anhalten und ihren „Verband“ des Widerstands in Form einer Klang-, Licht- oder (Rauch-)Installation entwickeln. Als architektonischer „Helfer“ wird sie versuchen, die realen Bedingungen der ehemaligen jüdischen Architektur der (Nicht-)Erinnerung abzuzeichnen, umzudrehen und anzuzeichnen, indem sie sich dem Wandel der Umgebung anpasst.9

Städte wie Be˛dzin oder Bytom, die von den katastrophalen Folgen der Transformation betroffen sind, werden als „Orte des erosiven Architekturproblems“ bezeichnet. Das soziale Engagement des Künstlers verschwindet aus ihrer Beschreibung und seine Aufmerksamkeit richtet sich auf die tote Architektur. Tot im wörtlichen (verlassene Gebäude) und metaphorischen Sinne (ehemalige Besitzer sind tote Juden). JAD verweist auf ihre historische Bedeutung. Es ist ein symbolischer, großer, glänzender Gegenstand, der die Aufmerksamkeit der Bewohner vielleicht mehr auf sich zieht als das laute Vorlesen von Texten über die Gebäude, das das Geschehen begleitet und in gewisser Weise an die Verlesung der Tora in der Synagoge erinnert. Die Analogie zwischen dem Lesen des heiligen Buches und dem Lesen der Stadt als Text ist nicht zufällig. Indem Romik das geschriebene Wort, sei es in Form von Archivberichten, Prosa oder Poesie, aus ihren Projekten beseitigt, schafft sie eine neue Art von Text, der ihre eigene Aussage ist und alles verarbeitet, was sie zuvor gelesen (u. a. aus dem Archiv des Jüdischen Historischen Emanuel-Ringelblum-Instituts in Warschau, das in ihren Projekten oft erwähnt wird) und gehört hat (von Anwohnern). Der Kommentar 8 S. Kemmis, R. McTaggart: Uczestnicza˛ce badania interwencyjne. Działanie komunikacyjne i sfera publiczna. Übersetzt von Ł. Marciniak. In: Metody badan´ jakos´ciowych. Bd. 1. Hrsg. N.K. Denzin, Y.S. Lincoln. Hrsg. der polnischen Fassung K. Podemski. Warszawa 2009, S. 775–831, hier S. 786. 9 https://www.kronika.org.pl/wystawy/wystawy-2012/item/626-natalia-romik-jad [5. 04. 2021].

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der Künstlerin und das symbolische Objekt (JAD, das einer Truhe ähnelnde mobile Archiv) werden zu Vermittlern zwischen dem Interventionsprojekt und den zeitgenössischen Städten, auf die es sich bezieht; Vermittlern, die unsichtbar und transparent sein sollen und die (im wahrsten Sinne des Wortes) darauf abzielen, das zu reflektieren, in das sie hineingestellt werden, an dem sie teilnehmen. Der Stoff, aus dem Romik ihre Objekte herstellt, ist meist Glas und Spiegel. Mir scheint – erklärte sie in einem der Interviews –, dass die Reaktionen der örtlichen Bevölkerung völlig unterschiedlich ausfielen, wenn ich mit einem roten oder einem schwarzen Archiv in die Stadt käme. Der Spiegel ist ein buchstäbliches Symbol der Reflexion. Der Effekt der Unsichtbarkeit und der Durchdringung glättete unsere Gespräche, auch wenn das Innere des Archivs eine schwierige Botschaft enthielt. Darin sprachen wir auch über die Pogrome der 1920er oder 1930er Jahre, die in den von uns besuchten Städten passierten.10

Die eigentliche Rolle des Objekts-Vermittlers in diesen Projekten ist komplizierter. Das glänzende JAD aus dem Projekt von 2012 weist nicht nur auf Orte verfallender Architektur hin, sondern betritt auch den Raum des menschlichen Lebens, der meist in erster Linie von Armut durchdrungen ist: Wir leben im Dreck, vergessen – so scheinen es die Bewohner von Mietshäusern zu sagen – und nebenan fischt jemand ein einziges Gebäude heraus, gibt viel Geld für die Renovierung aus und richtet darin ein Café ein, dessen Besuch wir uns nie werden leisten können […]. Be˛dzin hat eine jüdische Vergangenheit, von der niemand etwas wissen will, denn das Hier und Jetzt in der „abgefuckten Stadt“ ist schon schwierig und herausfordernd genug.11

JAD ist, wie die Künstlerin es ausdrückt, ein „großer Rammbock des Protests“, der auf die realen Gefahren der Architektur hinweist: „dort, [wo – M.T.] es schlecht ist, [wo – M.T.] es gleich verkauft, abgerissen, angezündet wird, es wird nichts damit passieren oder es wird völlig vergessen.“12 Die „Markierung“ von Orten der Erosion wie das jüdische Waisenhaus in Be˛dzin an der SienkiewiczaStr. 17, das Cukerman-Gebetshaus in der Kołła˛taja-Allee 24, die Ruine des Hauses von Rutka Laskier (Moniuszki-Str. 4) oder die Sukka in der Sa˛czewskiego-Str. 9 führt nicht zu einem gesellschaftlichen Wandel. Das JAD auf verfallende Gebäude und ihre Geschichte zu richten, bedeutet, es nicht auf die Men10 Architektura nie czeka na zmiany, ona sie˛ po prostu rujnuje. Z Natalia˛ Romik rozmawia Anna Ostrowska, 21. 03. 2017 [online]. https://www.bryla.pl/bryla/7,90857,21524031,natalia-romik -architektura-nie-czeka-na-zmiany-ona-sie-po.html [5. 04. 2021]. Vgl. P. Tomczok: Prawda i fałsz lustra. Podmiotowos´c´ – odzwierciedlenie – praktyka. In: Prawda i fałsz w nauce i sztuce. Hrsg. E. Kosowska, B. Bokus. Warszawa 2020, S. 149–161. 11 M. Okraska: Ziemia jałowa. Opowies´c´ o Zagłe˛biu. Warszawa 2018, S. 37f. 12 N. Romik: JAD w działaniu [online]. https://www.kronika.org.pl/wystawy/wystawy-2012/i tem/626-natalia-romik-jad [5. 04. 2021].

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schen zu richten, die in ihnen leben, die sich dort aufhalten, die versuchen, in das Objektiv der Kamera zu gelangen, ohne Einmischung in ihr Schicksal, ihre gesundheitliche, familiäre oder materielle Situation usw. Und obwohl das Ziel von Romiks Projekten darin besteht, mit den Bewohnern in Kontakt zu treten, sie zu fragen, ob sie wissen, wo sie leben oder wen sie ersetzen, führt diese Interaktion nirgendwohin, sie ist kein Mittel, um eine Veränderung im Leben der Menschen zu erreichen. Wie die Künstlerin übrigens sagt: Mir scheint, darin steckt etwas Positivistisches. Man schenkt Aufmerksamkeit und plötzlich sagt jemand: Ja, kümmern wir uns darum, retten wir es, wir werden es nicht für ein Hotel verkaufen, wir werden keine Tankstelle und keinen Supermarkt daraus machen, aber trotzdem sind diese Verwicklungen von Macht und Geld so stark, dass ich langsam, langsam zu begreifen beginne, dass dies unmöglich ist.13

Noch deutlicher wird die Kluft zwischen Plan und Realisierung in einem anderen Projekt Natalia Romiks, das in dem Film Nomadic Shtetl Archive, vol. 1 festgehalten ist. Die Künstlerin versucht, gemeinsam mit den Bewohnern der Garncarska-Straße in Cze˛stochowa die jüdische Vergangenheit der Gebäude in Erinnerung zu rufen und den Kontrast zwischen ihrer früheren Pracht und dem heutigen Verfall zu verstehen. Vor allem gelingt es ihr, die gegenwärtige Armut der Bewohner zu zeigen, die Verwandlung der jüdischen Architektur in ein polnisches Elendsviertel, die Bemühungen der Menschen, die sich, wahrscheinlich in Unkenntnis der Tätigkeit Romiks oder der Geschichte der Stadt, in der sie leben, vor der Kamera profilieren wollen und deshalb versuchen, sich „von ihrer besten Seite“ zu zeigen. Jede der gefilmten Gruppen vertritt unterschiedliche Ziele, die keine Chance haben, nebeneinander zu bestehen. Die Künstlerin versucht, Forschungsmaterial zu sammeln und eine weitere vergessene ehemalige jüdische Stätte freizulegen, während ihre Bewohner ihrerseits ihre unbedeutende Existenz markieren wollen und erkennen, dass sie nur wertvoll werden kann, wenn sie sich mit toter Architektur und dadurch mit den toten Juden verbindet. Diese Art des „Einsatzes“ gegen Armut im Post-Transformationsraum schafft eine weitere Schwachstelle in Romiks Projekten, die hier wahrscheinlich noch mehr hervorgehoben wird, weil das Objekt, das sie markiert, die glänzende Truhe, die die Künstlerin wie einen Leierkasten um den Hals trägt, sie noch stärker von den Bewohnern der Garncarska-Straße trennt; dank ihrer sozialen Position, ihres Wissens, ihres Engagements und vor allem des Vertretens seriöser Institutionen, die ihr Handeln legitimieren, kann Romik dort als Hauptdarstellerin auftreten, die von den Bewohnern als Erlöserin erwartet wird. Beim Verlassen des Schtetls wird sie jedoch deren nicht formulierte Erwartungen enttäuschen, denn der Film zeigt nichts weiter als gemeinsame Gespräche, Erinne13 Ebd.

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rungen, Kontaktversuche, die nur darauf abzielen, Informationen über das jüdische Erbe zu erhalten, nicht aber über das Schicksal der Viertelbewohner (die Künstlerin fragt sie nicht nach ihrer Arbeit, Beschäftigung, Familie, Gesundheit; sie interessiert sich nur für die Architektur). Vielleicht bringt ein Blick auf den letzten der für die Analyse ausgewählten Filme die meisten Erkenntnisse zu diesem Thema: Überleben im Holocaust – Geheimen Verstecken auf der Spur. Die darin gezeigten Aktionen zusammenfassend sagt Romik: „Ich versuche, die Sache nicht emotional anzugehen. Weil es sehr schwierig ist. Es sind sehr düstere Geschichten. Ich versuche, mich auf die Architektur zu konzentrieren, und ich denke, die Emotionen zeigen sich sowieso.“14 Gegenstand der in der Reportage von 2021 dokumentierten Projekte sind jüdische Verstecke aus der Zeit des Holocausts: auf dem Friedhof an der Okopowa-Straße in Warschau, im Park beim Herrenhaus in Wis´niowa, im Herrenhaus der Familie Czartoryski in Pełkinie, im katholischen Kloster in Jarosław und in Siemianowice S´la˛skie im Haus von Jolanta Kobylec-Cyganek. Romik wählt für ihre Recherchen „legendäre“, unheimliche, unerforschte, geheimnisvolle Orte, wie ein Versteck in einer alten Eiche oder auf einem Friedhof im Keller einer Gruft. Ihre Freilegung erfordert komplizierte Technologien (z. B. 3D-Scannen), die weder den Bestattungsraum verletzen noch die Gedenkbäume zerstören. Gleichzeitig muss auch die Strategie des Gedenkens überdacht werden, die eine sichtbare Spur der „Intervention“ der Künstlerin sein soll. Es scheint, dass ihr Handeln in diesem Fall nichts mit dem Engagement gemein hat, das ihre früheren Projekte kennzeichnete. Die Reportage fängt jedoch jene Orte von Romiks Aktivitäten ein, die den Holocaust zu einer Art Überleben machen und „neue Formen des Gedenkens aufzeigen sollen, die die Schrecken der Vergangenheit lebendig werden lassen.“15 Zu diesem Zweck wechselt die Künstlerin immer wieder ihr Outfit: Sie trägt einen Overall für die Arbeit in der Gruft oder einen silberglänzenden Mantel, in dem sie zusammen mit einem Dendrologen mit einer Seilwinde in ein Versteck hoch oben in einem Baum fährt. Die Zuschauer der „Export-Version“ der Reportage sehen dieselben Städte wie zuvor (z. B. Be˛dzin), aber sie erleben ihre Armut nicht. Die ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf die neuen Technologien der Darstellung ehemaliger Tatorte, insbesondere auf die räumliche Gestaltung und die Drehung von Körpern in Grafikprogrammen, die das tatsächliche Engagement des Künstlers für die Veränderung des Geschichtsverständnisses und – was bei dieser Art von Initiativen immer am wichtigsten war – an der Vermeidung ihrer Wiederholung simulieren. 14 Re: Przetrwac´ Holokaust [online]. https://www.arte.tv/pl/videos/100291-001-A/re-przetrwac -holokaust [5. 04. 2020]. 15 Ebd.

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Wenn van Alphen darauf hinwies, dass das, was die heutigen Generationen von den Überlebenden im Prozess der Aneignung des Holocaust unterscheidet, der Einsatz von Affekten und damit die Erzeugung einer authentischen Ethik ist, so wird hier das Bild benutzt, um eine inauthentische Kultur der Beteiligung zu erzeugen. Sie hat nichts mehr mit dem Glauben an eine Veränderung der Gesellschaft durch die Kunst zu tun, da es ihr an Radikalität, Fokus oder Nonkonformismus fehlt. Die Kunst von Natalia Romik, die in dem deutsch-französischen Sender arte präsentiert wird, soll die Neugier der Betrachter auf die Geheimnisse der Vergangenheit wie eine schaurige Geschichte wecken. Die neuen Technologien (insbesondere die Bilder vom Eintreten in dunkle Verstecke mit modernen Aufnahmegeräten, die auf Film festgehalten werden) werden zu einem Mittel, um die Geschichte in ein attraktives Bild zu verwandeln, das nur den Anschein eines Teils komplexer Forschung erweckt, in Wirklichkeit aber eine Attrappe ist (wie der Entwurf des verkleinerten Hauses der Familie Kobylec zusammen mit dem Versteck, den die Künstlerin der Familie geschenkt hat). Wie es Andrzej Turowski ausdrückte, verzichtet die zeitgenössische Kunst oft auf kritische Möglichkeiten und reduziert das Risiko im Namen der Kommerzialisierung dessen, was sie präsentiert, auf ein Minimum. Gewöhnlich von der Demokratie eingenommen, stumpft sie ihre Klinge ab und zieht sich auf sichere Positionen zurück, manchmal ist sie nur unter der Maske einer gleichgültigen Form bissig, selten bereit, sich offen mit dem Gesetz zu konfrontieren, und dabei alle Konsequenzen zu akzeptieren, die sich aus einer bewussten Verletzung der Regeln ergeben […]. Radikale Kunst, die ihr subversives Potenzial nutzt, ist ein anarchistischer Bestandteil der demokratischen Auseinandersetzung.16

Im Falle von Romiks Arbeiten, die in unterschiedlichem Maße versuchen, sich mit den Auswirkungen der Transformation durch das Gedenken an jüdische Architektur auseinanderzusetzen, sollte man eher von einer uneinheitlich durchdachten Problematik der Erinnerung selbst sprechen. Zu den Gründen für das gesteigerte Interesse an diesem Thema, an die zu Beginn des Artikels erinnert wurde, gehören die Krise der sozialen Bindungen und das Verhältnis zwischen den Objekten und ihren Repräsentationen. Ehemals jüdisches Eigentum verschwindet von der Bildfläche, begleitet von weiteren Hütten und Bergwerken, also nicht in Abgeschiedenheit; die Akteure dieses grausamen Theaters sind jedoch Menschen. Wenn dieser Kontext von kritischen Interventionen ausgeschlossen wird, führt dies zu ihrer Verunwirklichung. Wenn ich meine Besorgnis darüber zum Ausdruck bringe, dass Romiks Kunst sich nicht um den Raum kümmert, aus dem sie das jüdische Erbe herausschneidet, so tue ich dies in erster 16 A. Turowski: Sztuka, która wznieca niepokój. Manifest artystyczno-polityczny sztuki szczególnej / Art That Sparks Unrest. The Artistic-Political Manifesto of Particular Art. Warszawa 2012, S. 41.

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Linie, indem ich versuche, es in die Bedingungen zurückzuversetzen, unter denen es entstanden ist; ist es schließlich unter den Bedingungen der polnischen Vorkriegsrealität entstanden, die heute von nachfolgenden Generationen von Einwohnern dieses Landes bevölkert wird, denen man oft dabei helfen muss, sich in diesem Raum einzuleben, anstatt sie an seinen unheimlichen, gespenstischen Charakter zu erinnern.

Bibliografie Alphen E. van: Mys´lenie kultury. Krytyka jako interwencja. In: Ders.: Krytyka jako interwencja. Sztuka, pamie˛´c, afekt. Übersetzt von K. Bojarska. Kraków 2019. Alphen E. van: Oz˙ywianie. In: Ders.: Krytyka jako interwencja. Sztuka, pamie˛c´, afekt. Übersetzt von K. Bojarska. Kraków 2019, S. 157–158. Architektura nie czeka na zmiany, ona sie˛ po prostu rujnuje. Z Natalia˛ Romik rozmawia Anna Ostrowska, 21. 03. 2017 [online]. https://www.bryla.pl/bryla/7,90857,21524031,na talia-romik-architektura-nie-czeka-na-zmiany-ona-sie-po.html [5. 04. 2021]. Doman´ska E.: Sztuka jako przyszłos´c´ historii / Art as the Future o History. In: Historia w sztuce / History in Art. Hrsg. M.A. Potocka. Kraków 2011, S. 74–85. Kemmis S., R. McTaggart: Uczestnicza˛ce badania interwencyjne. Działanie komunikacyjne i sfera publiczna. Übersetzt von Ł. Marciniak. In: Metody badan´ jakos´ciowych. Bd. 1. Hrsg. N.K. Denzin, Y.S. Lincoln. Hrsg. der polnischen Fassung K. Podemski. Warszawa 2009, S. 775–831. Leavy P.: Metoda spotyka sztuke˛. Praktyki badawcze oparte na sztuce. Übersetzt von K. Stanisz, J. Kucharska. Warszawa 2018. Okraska M.: Ziemia jałowa. Opowies´´c o Zagłe˛biu. Warszawa 2018. Rancière R.: Aesthetics and Its Discontents. Übersetzt von S. Cochran. Cambridge 2009. Re: Przetrwac´ Holokaust [online]. https://www.arte.tv/pl/videos/100291-001-A/re-przetrw ac-holokaust/ [5. 04. 2020]. Romik N.: JAD w działaniu [online]. https://www.kronika.org.pl/wystawy/wystawy-2012/i tem/626-natalia-romik-jad [5. 04. 2021]. Rottenberg A.: Sztuka w Polsce 1945–2005. Warszawa 2020. Tomczok P.: Prawda i fałsz lustra. Podmiotowos´c´ – odzwierciedlenie – praktyka. In: Prawda i fałsz w nauce i sztuce. Hrsg. E. Kosowska, B. Bokus. Warszawa 2020, S. 149–161. Turowski A.: Sztuka, która wznieca niepokój. Manifest artystyczno-polityczny sztuki szczególnej / Art That Sparks Unrest. The Artistic-Political Manifesto of Particular Art. Warszawa 2012. Abstract Critical Intervencions By analysing recordings of fragments of Natalia Romik’s artistic activities, the author seeks to understand what a critical intervention means in the practice of commemorating Jewish heritage. The author expands the definition of aesthetic intervention and shows the impact of moving away from the stance of political radicalism in art towards the use of modern technologies, which primarily serve to make the representation of events such as the

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Holocaust, which are less and less readily experienced through traditional communication channels, more varied and attractive. Keywords: memory, Holocaust, modern art, Natalia Romik

Katarzyna Frukacz (University of Silesia in Katowice)

Writing, Photographing and Committed. On Filip Springer’s Intermedia Creative Cooperations

A committed reporter. Introduction The main distinguishing feature of Ryszard Kapus´cin´ski’s documentary prose and that of his followers is literariness visible at the linguistic as well as referential level. The category constitutes a conventional label identifying Polish reporters’ writing technique and promoting their achievements abroad. A good example might be foreign-language anthologies of reportage texts from Poland which were presented to foreign readers through the prism of their literary poetics and axiological markedness. In the interview accompanying the publication of the Swedish anthology,1 its author – Maciej Zaremba – described Polish reportage as “Renaissance”, as it affirmed humanistic values: concern for the individual and sensitivity to human injustice.2 The authors’ identifying themselves with described persons was also highlighted by Maria Kruczkowska in her review of a French anthology,3 confronting this model of relations with the Anglo-Saxon “cool” objectifying reportage.4 According to literary critics, the attribute of reportage created in Poland, correlated with the figure of commitment, fundamental for the article, is the author’s social activist attitude. Filip Springer represents the pro-social orientation – he is a representative of the 1980s, of the young generation of Polish reporters formed by the experience of democracy. The formative feature of the generation – apart from, inter alia, increased presence in the media, close community relations and clearly determined artistic aims – is, according to Bernadetta Darska, “a clear turn towards

1 Ouvertyr till livet. Ed. M. Zaremba. Stockholm 2003. 2 G. Sokół: Czego nam zazdroszcza˛ Szwedzi? Interview with M. Zaremba. In: “Gazeta Wyborcza [Ksia˛z˙ki]”, 22–23. 11. 2003, p. 6. 3 La vie est un reportage. Anthologie du reportage littéraire polonaise. Ed. M. Carlier. Montricher 2005. 4 M. Kruczkowska: Lubia˛ reportaz˙. In: “Gazeta Wyborcza”, 30. 08. 2005, p. 13.

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Katarzyna Frukacz

writing about Poland and domestic problems”.5 Filip Springer’s works are a good illustration of this thesis. In his books Wanna z kolumnada˛ 6 [A Tub with a Colonnade] and 13 pie˛ter7 [13 Floors], he contested the defectiveness of the national spacial and housing policy. In Miasto Archipelag8 [The Archipelago City], he analyzed the marginalization of selected Polish towns in a perspective of the administrative reform which changed the territorial structure of Poland at the end of the 20th century. In the series Podróz˙ do przyszłos´ci9 [A Journey to the Future], published in the magazine “Pismo”, he searched for signs of climate warming in Poland. It is no wonder that he has been characterized as “an advocate of defeated places”,10 “a sociologist of the Polish landscape”,11 or “a wistleblower-reporter”12 making the readers aware of the approaching ecological catastrophe. In the light of the descriptions quoted above, Springer’s works may be considered as convergent with the concept of the so-called committed journalism. Its aim is to expose phenomena and processes in which the escalation of social evil may be observed, which the general public is unaware of and intentionally kept away from. In such texts, the journalist – an active participant of described events, aware of his responsibility for his words – sympathizes with the victims and the disadvantaged, and “his relations become a subjective and emotional commentary”.13 In Polish research, Springer’s writing is often analyzed in contexts related to the journalistic participation model understood in this way. His intermedia achievements going beyond pure writing are less investigated than his literary reportage, although equally significant with respect to the question of social commitment in documentary art.

5 B. Darska: Młodzi i fakty. Notatki o reportaz˙ach roczników osiemdziesia˛tych. Olsztyn 2017, p. 36. 6 F. Springer: Wanna z kolumnada˛. Reportaz˙e o polskiej przestrzeni. Wołowiec 2013. 7 F. Springer: 13 pie˛ter. Wołowiec 2015. 8 F. Springer: Miasto Archipelag. Polska mniejszych miast. Kraków 2016. 9 F. Springer: Podróz˙ do przyszłos´ci [online]. https://magazynpismo.pl/cykle-pisma/podroz-do -przyszlosci [15. 02. 2021]. 10 K. Czaja: Rzecznik miejsc pokonanych. Przestrzenie Filipa Springera. In: Strychy/piwnice. Inne przestrzenie. Eds. A. S´wies´ciak, S. Trela. Katowice 2015, pp. 203–220, here p. 204. 11 M. Horodecka: Wstyd za polski pejzaz˙. Reportaz˙e Filipa Springera. In: (Nie)opowiedziane. Polskie dos´wiadczenie wstydu i upokorzenia od czasu rozbiorów do dzisiaj. Eds. H. Gosk, M. Kuziak, E. Paczoska. Kraków 2019, pp. 309–328, here p. 315. 12 M. Ochwat: Katastrofa klimatyczna non-fiction. In: “Kultura Współczesna” 2 / 2020, pp. 204– 218, here p. 216. Describing Springer’s reporter attitude, the author refers – following Ryszard Koziołek – to the concept of whistle-blower, existing in Anglo-Saxon political culture of the second half of the 20th century. The term denotes persons that expose and publicize abnormalities in public life. 13 A. Mas´lana: Dziennikarstwo zaangaz˙owane – poszukiwanie zagubionego sensu. In: “Kultura – Media – Teologia” 3 / 2010, pp. 121–129, here p. 127.

Writing, Photographing and Committed

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A writing and photographing reporter. The poles of intermediality In the interview published in the publishing series Fotografowie Wielkopolski [The Photographers of Wielkopolska], popularizing the works of the representatives of the Wielkopolska photography movement, Springer – a native of Poznan´ – defined his professional identity in the following way: “I perceive myself as a writing reporter who sometimes uses photography to tell something which cannot be told by means of words or which I do not want to tell using words”.14 The words accurately reflect the syncretism of many books of the author of Wanna z kolumnada˛, in which text and photos either coexist as if in a collage composition, or they smoothly pervade each other. The convergence of the two semiotic planes constitutes the topic of my further investigation, problematizing the multi-dimensional character of commitment in selected Springer’s works through the prism of the main principles of intermedia esthetics. The concept of intermedia was popularized in the 1960s by Dick Higgins, who defined it as borderline works between different discourses, techniques and artistic disciplines (e. g. music, theater, sculpture and visual arts).15 Now the term refers to the processes of sharing and narrative development of the message by means of separate transmitters; various media relations, their infusion and interference mechanisms in particular; and changes of one medium into another.16 Focussing in the analysis of Springer’s work on this type of intermedia activities, being part of co-author and multi-author documentary projects, results not only from the willingness to extend the research on the author’s work including in it the aspects complementary to literary ones. The article is also to present the relation between the scale of social commitment of the reportage, and the specificity of the employed transmitters and channels of communication,17 and the collectivization of the act of creation. I have identified two of Springer’s publishing initiatives as intermedia ones.18 The first group includes his writing-photographing cooperations – their presentation in the article is motivated by the belief in a special role of photography as a source and object of commitment, perceived either in the context of the

14 F. Springer: Reporter fotografuja˛cy. Poznan´ 2013, p. 26 [online]. https://static.wbp.poznan.pl /att/x-archiwum/8_338_pl_p_springer_int.pdf [16. 02. 2021]. 15 D. Higgins: Intermedia. In: “The Something Else Newsletter” 1 / 1966, pp. 1–3. 16 Cf. I.O. Rajewsky: Intermediality, Intertextuality, and Remediation: A Literary Perspective on Intermediality. In: “Intermédialités” 6 / 2005, pp. 43–64; Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Ed. J. Helbig. Berlin 1998. 17 In the analysis, I follow the general definition of the media as a tool of communicative practices. 18 I analyzed Springer’s intermedia projects presented below in a different perspective in the monograph Polski reportaz˙ ksia˛z˙kowy. Przemiany i adaptacje. Katowice 2019, pp. 254–268.

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dependence of the representation on particular ideological apparatuses,19 the emotional impact on the audience,20 or the fulfillment of postulates of social activism and interventionism (both in documentary studies21 and in sociology22). The other group of Springer’s intermedia works also has a participatory potential, it can be distinguished not because of the character of the media employed, but because of their number and mutual relations. In this group, I have put team projects realized by the author by means of multiple channels of communication. In this type of multi-ingredient narratives, story transmitter multiplication results in the cognitive activation of the audience. The main feature of the narratives, according to Marta Gołda, is “commitment, willingness to look for elements hidden in different media, and the effort put in the reconstruction of the whole story out of the collected elements”.23 The content-related element binding both poles of Springer’s reportage intermediality is the category of memory of the past, thematized in them. The motif has been regularly repeated in the reporter’s prose since his debut book Miedzianka,24 showing the turbulent history of the formerly German village, which was temporarily liquidated due to the wasteful mining policy of the uranium deposits there. Such revival of history – often shameful, but constitutive of the national or community identity – is another, apart from the ones mentioned above, dimension of the author’s work commitment. In the publications discussed below, it refers, on the one hand, to affectivization, consisting in encoding

19 J. Tagg: The Currency of the Photograph. In: Thinking Photography. Ed. V. Burgin. London 1982, pp. 110–141, here p. 117. 20 In this context, Susan Sontag’s comments on the pragmatics of war photography are particularly significant. Cf. S. Sontag: Das Leiden anderer betrachten. Trans. R. Kaiser. München 2003. 21 A good example of photography as a social document is its reportage variety, getting an interventional character due to the photo-reporter’s emotional commitment and the activating function performed for the audience. K. Szczes´niak: Interwencyjne aspekty fotografii reporterskiej. In: “Studia Medioznawcze” 2 / 2020, pp. 520–534. 22 At the end of the 20th century, in the qualitative empirical research, the method of the socalled photovoice became popular. In accordance with its assumptions, respondents – usually representatives of marginalized and excluded groups – are directly engaged in the project, taking photos on their own, and in this way composing the picture of their community and its problems. In effect, the photography becomes “the means of more or less intended and controlled sociological intervention.” K. Niziołek: Fotografia uczestnicza˛ca. Od jakos´ciowych badan´ ´swiatów społecznych do interwencji socjologicznej. In: “Przegla˛d Socjologii Jakos´ciowej” 1 / 2011, pp. 22–41, here p. 37. 23 M. Gołda: Konwergencja mediów a sztuka. Opowiadania transmedialne. In: Problemy konwergencji mediów. Vol. 1. Eds. M. Kaczmarczyk, D. Rott. Sosnowiec / Praga 2013, pp. 93–99, here p. 98. 24 F. Springer: Miedzianka. Historia znikania. Wołowiec 2011. Trans. L. Palmes; published as Kupferberg. Der verschwundene Ort (Wien 2019).

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the reporter’s and the main characters’ emotive states in the reportage,25 on the other – to programmed in this way the commonality in human and historicalcultural experiences with the audience. The analysis of the content and the media construction of the presented projects will be conducted in the broader context of memorial discourse.

The first pole: Filip Springer’s literary-photographic cooperations In the first group of the intermedia varietes of Springer’s works, there are literaryphotographic cooperative works in which – as he declares – he participated as “a writing reporter”. He played such a role in the project Słowo historii. Fotoeseje [The Word of History: Photo-Essays], concerning the repatriation of Poles from Soviet Russia in 1921–1924. The initiative included an outdoor exhibition of the photographs from the archive album from the collection of the Army Museum in Białystok. The black-and-white photos depicting repatriants were later included in the book-album, a kind of historical reportage, including texts authored by invited writers and reporters.26 Apart from Springer’s, there were contributions of the following authors: Piotr Nesterowicz, Michał Olszewski, Ilona Wis´niewska, Daniel Odija and Wojciech Nowicki. Each of them created a mini narrative inspired by two selected photos; they did not have the form of pure reportage, but they were micro essays and short stories of ekphrastic character. Springer’s texts included in the album – Prawda stóp [The Truth of the Feet] and Pradziadek [Great Grandfather] – constitute an example of double, reversed appropriation: the viewer by the photo and the photo by the viewer.27 The source of the affectively stimulated involvement of the subject in the perception of the picture becomes, in both works, a body detail. In the first case, in the description of the repatriant children, their bare feet are explored which – as we can read – “appropriate the frame” and the narrator’s imagination, making their presence

25 I refer to the concept of “affective poetics” of reportage formulated by Magdalena Horodecka, described as “a system of literary means of expression used to express affects and emotions”. M. Horodecka: Afekty i emocje w reportaz˙u literackim. Perspektywa genologiczna i antropologiczna. In: Kultura afektu – afekty w kulturze. Humanistyka po zwrocie afektywnym. Eds. R. Nycz, A. Łebkowska, A. Dauksza. Warszawa 2015, pp. 415–441, here p. 419. 26 Słowo historii. Fotoeseje. Białystok 2015. The referred album does not have numbered pages, which makes references difficult. For pragmatic reasons, in the following part of the article I quote Internet versions of the photo-essays, available on the official (now removed) website of the project: https://www.sybir.com.pl/pl/fotoeseje [27. 03. 2021]. 27 I paraphrase Elz˙bieta Konon´czuk’s words, from her article on the discussed project, Fotografie w narracjach ekfrastycznych. Przypadek pewnego albumu. In: “Zagadnienia Rodzajów Literackich” 4 / 2016, pp. 125–133, here p. 129.

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“unbearable”.28 They evoke memories of other photos representing barefoot children entangled in the history machine: a nameless boy from a German small town in Lower Silesia and a girl burned with napalm during the war in Vietnam. In the other text by Springer, it is the viewer who takes the control over the narrationalized photo representing a group of men, focussing on one physiognomic element – their eyes. One of the repatriants on the picture is identified by the narrator as his great grandfather; in this way the photo is included into the autobiographical space of the family memory.29 The photographic-literary stories published in the album Słowo historii. Fotoeseje may be described – following the project author, historian Marcin Kozin´ski – as “[s]mall stories entwined and mingled with one great [story]”.30 They contribute to one intermedia testimony of the forgotten past – reconstructed and reinterpreted by the authors influenced by individual creative impulses, and regained by the collective consciousness for the sake of generally understood public interest. Its sense is socially affirmed preservation of the memory of the past, harmonizing with the conception of literature as a repository of cultural identity.31 However, storing the nation’s historical heritage occurs in terms of “emotions, private micro worlds”,32 i. e. individual human lot, whose exploration becomes the main subject of the authors’ commitment. A similar function is performed by Springer’s next photographic-reportage project, focussed on the documentary book 11.41,33 published together with the photographer Michał Łuczak. It describes the earthquake which effected the town Spitak and the area of northern Armenia on December 7, 1988, at 11.41 a.m. The earthquake caused the death of thousands of people and the destruction of the whole region, which since then has been suffering economic crisis, intensified by the Soviet Union dissolution. The present scenery of hastily reconstructed Spitak and the stories of its dead and alive inhabitants are presented to the reader by means of three narrative components: Łuczak’s series of photos, which opens the book; Springer’s reportage, which is in the middle of the book; and the illustrations of the tomb stones with representations of the victims, at the end of the book. 28 F. Springer: Prawda stóp [online]. https://www.sybir.com.pl/pl/fotoeseje/fotoeseje/springer [13. 03. 2021]. 29 F. Springer: Pradziadek [online]. https://www.sybir.com.pl/pl/fotoeseje/fotoeseje/springer-ii [13. 03. 2021]. 30 M. Kozin´ski: Słowo historii. Fotoeseje [online]. https://www.sybir.com.pl/pl/fotoeseje/fotoe seje/kozinski [13. 03. 2021]. 31 On the media function of aggregating collective memory, including literature – A. Erll: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Eadem: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart 2017, pp. 167–190. 32 E. Doman´ska: Mikrohistorie. Spotkania w mie˛dzys´wiatach. Poznan´ 2005, p. 62. 33 M. Łuczak, F. Springer: 11.41. Warszawa 2016.

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All the segments mentioned above interact with each other. The reportage text shows metaphorical and literal devastation of the city, reflected in the photos of poor living interiors, animals kept in cages, buildings haphazardly thrown together, and abstract constructions made of random objects. In the majority of photos, there are no people – they became stone faces of the gravestones, from which “we learn how the old Spitak looked like”.34 The textual-visual synergy makes us perceive the book 11.41 as an intermedia hybrid published in the form of reportage-photographic album. At the level of literary narration, i. e. the content of Springer’s work, the analyzed publication can be described in terms of the authors’ expression of emotion resulting from their commitment to saving the disaster victims – both dead and alive – from oblivion. Pieces of authentic information included in the reportage text serve as a proof; they are most numerous in fragments describing hard living conditions and psychic trauma of the inhabitants of demolished Spitak: We tell how we are surprised by the fact that everyone willingly open their door for us. They nod their heads. They say they cannot count on anything, they may only talk about it and show it. They are left with hope that someone will feel moved, that someone will help them. Something like that already happened here. We wonder whether we should take their hope away, because it would be more fair. Perhaps, more fair, but also more cruel. Thus, we explain to them that the only thing we can do is to show everything and describe it in the best way we can.35

As Magdalena Horodecka claims, implicit or explicit disclosing of the author’s experiences in a typical for reportage description of critical experiences often has emotional resonance for the audience who are not indifferent to the speaker’s subjectivity. In Springer’s text, the scale of the impact on the reader through the subjectivization of the narrative perspective is counterbalanced by the objectified factual layer of the story. Threads of particular human tragedies are imbedded by the reporter in a broader historical-political context; he recalls the process of perestroika, whose climax coincided with the described disaster in the town. The changes in the political system in the eastern block were associated with a gradual retreat from humanitarian aid for Armenia suffering from the earthquake. This is a motif emphasizing the socially committed formula of Springer and Łuczak’s work, and directly referring to its photographic genesis. The book 11.41, like the album Słowo historii. Fotoeseje, constitutes an element of the bigger artistic enterprise aimed at maintaining collective memory. The

34 Ibid., p. 31. The quoted book lacks pagination. Thus, I use my own pagination, starting from the first page with Springer’s text. The quotation comes from Section 16 of the reportage. 35 Ibid., p. 41. I quote Section 20 of Springer’s text.

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book was published as part of the project Stracone terytoria [Lost Territories],36 aimed at documenting contemporary everyday reality in the former Republics of the Soviet Union. The originator of the initiative was the international Sputnik Photos collective, established by Łuczak and several other photographers from Central-Eastern Europe. In 2008–2016, members of the group collected a great archive of photos from the post-Soviet countries. On the basis of these materials, photographic exhibitions and installations were created, and books were published on political and sociocultural transformations in the eastern block. The story on the earthquake in Armenian Spitak constitutes one of the numerous fragmentary narratives which together form a multi-dimensional testimony of what was left from the Soviet empire.37

The second pole: Filip Springer’s transmedia novels The mechanism of aggregation of data transmitted through various channels, used in the project Stracone terytoria, is enhanced in the second category of Springer’s artistic enterprises, described in the introduction. Unlike the first category, i. e. the literary-photographic cooperations resulting in the publication of a multi-author or co-author work, this category of work consists in smoothly combining the roles of writer and photographer. In addition, it is realized to a larger extent in the Internet, with the use of the strategy of the so-called transmedia story. It consists in developing the narration in many different media, based on the assumption that each of them “constitutes a distinctive and important part of the whole”.38 In effect, a paratextual net is created, consisting of data interrelated in the way which makes the narrative progress possible. In the case of Springer, in the center of the complex of feature extensions, there is an author’s reportage book; the members of the team cooperating with the reporter and often the readers themselves participate in its creation and promotion. Features of this type of transmediality can be observed in the project Z´le urodzone – architektura powojennego modernizmu w Polsce [Badly Born: The Architecture of Postwar Modernism in Poland], initiated by the author of Miedzianka and the Silesian architect Marek Woz´niczka. Originally, their initiative was limited to a local exhibition of photos representing Poznan´ modernist 36 http://lta.sputnikphotos.com [14. 03. 2021]. 37 It is worth mentioning that 11.41 is not the only result of Springer’s cooperation with the Sputnik Photos collective. The reporter is one of the authors of the texts in the book published in 2016, [Niekompletny] spis rzeczy, which is an album atlas of the concepts related to the memory of the Soviet Union. 38 H. Jenkins: Kultura konwergencji. Zderzenie starych i nowych mediów. Trans. M. Bernatowicz, M. Filiciak. Warszawa 2007, p. 95.

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buildings, later it also included cult buildings all over Poland. They were photographed and later described by the reporter in the illustrated text collection Z´le urodzone. Reportaz˙e o architekturze PRL-u [Badly Born: Reportage on the PRL Architecture],39 whose content is completed by narratives of double origin. In the first group, there are posts on the Facebook website of the book,40 stimulating a discussion among the users, on the architectural icons of Polish modernism. The other group includes Springer’s printed publications which were not created within the discussed project, but are indirectly related to it due to the similarity of topics. In literary works complementary to Z´le urodzone, one should mention coeditions in the Kraków Publishing House Karakter and the Museum of Modern Art in Warsaw: the biographical reportage Zaczyn. O Zofii i Oskarze Hansenach41 [Leaven: On Zofia and Oskar Hansen], describing the life and art philosophy of the couple of architects; and the book also devoted to the Hansens – Dom jako forma otwarta. Szumin Hansenów42 [House as an Open Form: The Hansens’ Szumin], including texts by Springer and the art historian Aleksandra Ke˛dziorek, and photos by Jan Smaga. Ksie˛ga zachwytów43 [A Book of Delights], the last publication of the architectural series, is a subjective reporter’s guide to the most interesting buildings constructed in Poland after 1945. Taking the texts and photos from all the above-mentioned publications and the components of Springer and Woz´niczka’s project, the readers get access to the universe of stories on the gems of the architecture of the Polish People’s Republic (PRL) and their authors. This multi-layered and multi-channelled narration shows the commitment of the author of Miedzianka to the restoration of past memory – rejected by the majority of Polish society due to pejorative political connotations, but constituting an integral part of our cultural tradition. In the introduction to the book, Springer expressed the need for symbolic rehabilitation of the PRL architectural relicts and revision of common, ideologized opinions on this type of architecture, explaining the meaning of the title – “z´le urodzone” [badly born]: The expression captures very well the origin of the buildings. They were born in the wrong time, difficult, painful, rubbishy and lousy. And what is more, when the times 39 F. Springer: Z´le urodzone. Reportaz˙e o architekturze PRL-u. Kraków 2011. Trans. L. Palmes; published as Kopfgeburten. Architekturreportagen aus der Volksrepublik Polen (Berlin 2015). In the text below, I quote the Polish original text. 40 https://www.facebook.com/Filip-Springer-%C5%B9le-Urodzone-Reporta%C5%BCe-o-arch itekturze-PRL-205946072758030/ [15. 03. 2021]. 41 F. Springer: Zaczyn. O Zofii i Oskarze Hansenach. Kraków / Warszawa 2013. 42 F. Springer, A. Ke˛dziorek, J. Smaga: Dom jako forma otwarta. Szumin Hansenów. Kraków / Warszawa 2014. 43 F. Springer: Ksie˛ga zachwytów. Warszawa 2016.

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have changed, they [the buildings] have been only identified with that PRL rubbishiness. Sometimes, they were labelled totalitarian, and this must have meant banishment. And the best constructions of that time were banished – we have forgotten about them, we have no longer taken care of them, we have turned our heads away. […] I was born in 1982 and I do not remember PRL. I experienced no harm in its final phase. That is why the specific origin of functionalism did not matter much to me. I wanted to learn about this architecture as much as possible, I felt the need to photograph it in this poor condition as it is now. Taking photos, I have started to better understand it.44

Like in other projects of the reporter, the photos included in the analyzed publication are, on the one hand, an affective factor, personalizing the space presented by the author, on the other, a sense-constituting factor, forming a thematic basis of the book together with the reportage texts describing the history of the photographed buildings. The difference between Z´le urodzone and the abovediscussed works by Springer is that the former involves a much broader scale of intermediality. It is not limited to the relation between the means of expression used in the work, i. e. the synthesis of textual and photographic narrations in a single data carrier. The author intentionally used other channels of communication in the project, attracting the audience’s attention employing diverse media: books on architecture and a social media profile, updated on the new information concerning modernist buildings in Poland. Thus the series may be perceived as a transmedia story, although the collection Z´le urodzone and the related narrations do not fully meet the criteria for commercial entertainment franchises.45 Transmedia features are represented to a greater extent by Springer’s initiative on Polish cities which lost the status of the voivodeship (the highest-level administrative division of Poland) capital as a result of the state reform at the end of the 1990s. The project was initiated in mid-2015, in cooperation with the sponsoring media and the team of local correspondents. As a result of this collective enterprise, the above-mentioned reportage collection Miasto Archipelag. Polska mniejszych miast [The Archipelago City: Poland of Smaller Towns] was created, contrasting present and past realities of life in towns degraded as a result of the administrative transformation in the country. In the book, published in September 2016 by Wydawnictwo Karakter, Springer included several flashbacks from the PRL times, in which the dynamic modernization of the described city 44 F. Springer: Z´le urodzone. Reportaz˙e o architekturze PRL-u, (note 39 above), p. 7f. 45 In the context of transmedia stories, franchise means a commercial series of related works (e. g., books, films, comic strips and computer games), created by cooperating cultural industries using different media and following the rule of positioning. Being aware that the term is mainly associated with fictional texts of ludic character, I refer the concept of transmediality mainly to the narrative correlation of the constituents of the analyzed projects by Springer.

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centers was started. Identifying their today problems in this perspective as “an effect of the ill dream of brilliant communist strategists”,46 the author again mentioned the problem of social memory of the remnants of the old system. Springer documented the journey along the route of the liquidated voivodeship capitals, creating “archipelag” [archipelago], updating the information before the publication premiere in the Internet website related to the blog.47 The posts published there, illustrated with photos taken by the reporter during the journey, provided the information which complemented the book. The narrative progressivity typical of transmedia stories was constituted by the posts on the official Facebook, Instagram and Vimeo48 profiles of Miasto Archipelag and the information retrieved from various information services and aggregated by means of the application Flipboard in a virtual social magazine launched specially for the purpose.49 This multi-constituent block was completed by the information publicized by the Polish weekly magazine “Polityka”, the Polish Radio Three and the magazine “Press”, devoted to the Polish media market. They initiated the publication of sponsored articles on the idea and progress of the enterprise,50 cyclical radio programs with the reporter as a guest,51 and texts popularizing the knowledge of “the archipelago”. Inter alia, the posts on city issues published in the “Polityka” blog52 and press reportage making Springer’s book complete53 are worth mentioning here. What was important, the part of these supplementary materials, e. g. the audio adaptation of Miasto Archipelag54 or the illustrated guide to its locations,55 were published after the publication of the main book of the project. As a result, the narrative on the former voivodeship capitals was changed into a gradually extended collection of data, which maintained the internal autonomy of its con46 F. Springer: Miasto Archipelag. Polska mniejszych miast, (note 8 above), p. 10. 47 The project website has been closed. Its address (https://miastoarchipelag.pl) is now used by a web portal devoted to Polish tourism. 48 https://www.facebook.com/MiastoArchipelag [20. 03. 2021]; https://www.instagram.com/mia stoarchipelag [20. 03. 2021]; https://vimeo.com/channels/miastoarchipelag [20. 03. 2021]. 49 https://flipboard.com/@miastoarchi65fm/miasto-archipelag-magazyn-nmomteouz [20. 03. 2021]. 50 F. Springer: Archipelag miast. In: “Press” 6 / 2015, pp. 30–33; K. Bałuk, O. Gitkiewicz, F. Springer: Miasto Archipelag na półmetku. In: “Press” 3 / 2016, pp. 68–71. 51 http://www.polskieradio.pl/Miasto-Archipelag-w-Trojce/Tag176564 [20. 03. 2021]. 52 Cf. F. Springer: Miasto Archipelag. Przystanek Wałbrzych [online]. https://portretymiast.bl og.polityka.pl/2015/03/25/miasto-archipelag-przystanek-walbrzych [20. 03. 2021]. 53 For example, the reportage texts by Olga Gitkiewicz published in “Polityka”: Chodz´my na rynek (36 / 2015), W kolorze sepii (5 / 2016) and Poranek w Słupsku (12 / 2016). 54 https://www.polskieradio.pl/9/206/Artykul/1674204,Reportaz-Filipa-Springera-Miasto-Ar chipelag-nowy-serial-w-Trojce [20. 03. 2021]. 55 Ogarnij Miasto. Archipelag. Miejski przewodnik subiektywny / Get Your Head Around the City: The subjective Guide to the City. Trans. M. Mijal. Eds. M. Kalisz, D. Szopowska. Warszawa 2016.

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stituents. It means that the audience could either read Springer’s reportage or only follow the reportage initiative through the Internet or in the sponsoring media, in both cases having access to the main assumptions of the enterprise. However, to acquire the full knowledge of the topic depended on skillful relating constituent facts from all these platforms. An equally important source of the audience involvement was stimulating social interaction related to interests, aims and values shared by the participants. The active participation of the audience in the process of reception and cocreation of the story was possible thanks to employing digital tools. Net surfers actively participated in the creation of the Miasto Archipelag universe; using instant messengers, mainly Facebook, not only did they observe the realization of the enterprise, but also suggested new threads worth mentioning in the book. Such a collective intelligence which is actualized here is described by the French sociologist Pierre Lévy as the accumulation of cyberspace users’ intellectual potential.56 The idea is most clearly shown by the social magazine on the platform Flipboard, edited by the correspondents from the cities involved in the project, belonging to the net established by the reporter. The journalists, bloggers and city activists creating the magazine updated the corpus of data on what happened in the former voivodeship capitals. It could be stated that the social media integrated the audience of Springer’s initiative through the appeal to the collective sense of local patriotism. Moving towards the conclusions, it is necessary to stress an important role of the transmedia formula in the transformation of the strategies of the reporter’s commitment to the reality. In the projects within which the books Z´le urodzone and Miasto Archipelag were published, the mechanism of narrative interrelating of multiple data carriers contributed to increased immersion of both the initiative authors and the audience in the documented realities. In addition, the use of digital tools, instant messengers in particular, helped instigate public discussion on the memory of the relicts of the past political epoch. The presented transmedia stories constitute another example of Springer’s commitment as a reporter-activist who tries to make the audience sensitive to the nuances of the historical processes, using the platforms providing the access to the general public.

56 Cf. P. Lévy: Collective Intelligence: Mankind’s Emerging World in Cyberspace. Cambridge, MA 1997.

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Commitment to the media. Final conclusions The above-presented initiatives by Filip Springer show the author’s commitment in two main dimensions, related to the form and content of the projects. In the first approach, the reporter’s participation is determined by a social topic chosen by the author who investigates the Polish public space in search of abnormalities requiring intervention. Registering present facts in such a perspective, he often reminds the audience of historical mechanisms constituting the foundation of the documented situations and processes. Thus, he confirms Paulina Małochleb’s opinion on the specificity of the newest Polish literary reportage which, according to Małochleb, “appeals to the past, as it searches for the origins of the most important contemporary phenomena or shows the genealogy of our injured memory”.57 The other dimension of commitment results from the intermedia structure of the enterprises. Taking into consideration the relations between the used media and the scale of their social outreach, one may divide them into two separate subtypes. In the stories created as a result of Springer’s literary-photographic cooperations, the narrative synergy combining written and visual parts evokes emotions existing in the creation of the intra-textual “self” and, indirectly, the implied receiver. According to Horodecka, the affective poetics of literary reportage is intensified not only by the presentation of tragic or traumatic topics, but also by the integration of words and pictures.58 If we take it for granted, intermedia hybrids, like the book 11:41, constitute an example of conscious involvement of the audience in the world (to make them empathetic) presented in the work. A similar effect was achieved by means of different methods in the transmedia initiatives, such as Miasto Archipelag. Establishing an emotional relation with the literary audience results from scattering story components in different channels of communication, whose simultaneous use requires an effort put into the reconstruction of the whole story. Due to the partial movement of the narration to the Internet, the audience’s involvement consists in active co-participation in the project and active interaction with other observers. Employing the transmedia strategy, Springer adjusted the classical reportage formula to the standards of participation culture, i. e. the popular, since the end of the 20th century, model of multi-faceted participation of the audience in the processes of creation, diffusion and reception of the cultural content.59 57 P. Małochleb: Uciekinierzy z historii. In: “Polonistyka” 6 / 2015, pp. 4–7, here p. 6. 58 M. Horodecka: Afekty i emocje w reportaz˙u literackim, (note 25 above), p. 423. 59 More information on participation culture is provided, inter alia, in the essays from the collection The Participatory Cultures Handbook. Eds. A. Delwiche, J. Jacobs Henderson. New York / London 2013.

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In conclusion, it is worth discussing the, mentioned in passing, the question of collective realization of the presented enterprises and their social response increased in this way. The team character of Springer’s projects resulted not only from the activation of net surfers and readers, but also from establishing cooperation with representatives of other artistic professions. Magdalena Lachman rightly claims that in effect of this type of cooperations, which get more and more popular among Polish writers, “a new esthetic quality or a creation ultimately belonging to literary space” appears, “[…] enriched with elements atypical for the imagery on word art”.60 The quotation refers again to intermedia esthetics, a formal feature common for all the works discussed in the article, which have a pro-social and sometimes even interventional dimension. The final conclusion arising from the article is that Springer’s committed journalism becomes more and more the commitment to the media.

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60 M. Lachman: Apetyt na popularnos´c´, czyli m(ł)oda polska literatura. In: Polska literatura najnowsza – poza kanonem. Ed. P. Kierzek. Łódz´ 2008, pp. 9–53, here p. 29.

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Katarzyna Frukacz

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Anna Kałuz˙a (Schlesische Universität in Katowice)

Engagement in Bild / Text: Don DeLillo, Wirpsza, Turner

Die Bindung von kulturellen Objekten an soziale Beziehungen ist die größte Herausforderung für Gesellschaften, deren Arbeit, Emotionen und Kapital sich in kommodifizierte Spektakel verwandelt haben. Wenn die grundsätzliche Tendenz des Kapitalismus darin besteht, alle nicht-marktlichen Phänomene den Marktmechanismen unterzuordnen,1 dann beinhaltet diese Bewegung auch die Vereinnahmung der durch künstlerische Arbeit produzierten Werte. „The fate of Picasso’s Guernica […] – bemerkt Mark Fisher – once a howl of anguish and outrage against Fascist atrocities, now a wall-hanging – is exemplary.“2 Fisher schreibt über die Folgen des Vermarktungsprozesses: Aus Engagement wurde passives Zuschauen, die Leidenschaft verlor ihre Intensität zugunsten von Verbraucherapathie, wie folgende Aussage von Fischer illustriert: The power of capitalist realism derives in part from the way that capitalism subsumes and consumes all of previous history: one effect of its „system of equivalence“ which can assign all cultural objects, whether they are religious iconography, pornography, or Das Kapital, a monetary value.3

Ohne die aktive und emotionale Einbindung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, Institutionen und Akteure in kulturelle, pädagogische und politischökonomische Prozesse können die Marktapparate der Vereinnahmung nicht abgebaut werden. Das Problematischste an der spektralen Verwicklung, die sich aus unserer Aufmerksamkeit und unserem Interesse speist, ist jedoch die Aktivität. Aber gleichzeitig erweist sich das Engagement in den Text oder das Bild als notwendige Bedingung für das Handeln zur sozialen Veränderung. Die Mög1 Siehe K. Polonayi: Wielka transformacja. Übersetzt von M. Zawadzka. Warszawa 2010; J.J. Zygmuntowski: Kapitalizm sieci. Dlaczego internet stał sie˛ pułapka˛ i jak moz˙emy zaplanowac´ nasza˛ lepsza˛ przyszłos´´c? Warszawa 2020. 2 M. Fisher: Capitalism Realism: Is There No Alternative? Ursprünglich in Großbritannien veröffentlicht von J. Publishing Ltd. 3 East Street. New Alresford, Hampshire 2009, S. 8 [online]. http://tetrazolelover.at.ua/Mark_Fisher-Capitalist_Realism-Is_There_No_Alterna.pdf [5. 04. 2021]. 3 Ebd.

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Anna Kałuz˙a

lichkeit, eine Selbstemanzipation durch engagierte künstlerische Formen zu schaffen, wird daher am häufigsten in der Perspektive relationaler, pragmatischer, affektiver, politischer und kritischer Ästhetiken realisiert wobei die offensichtlichsten Beispiele aus performativen oder partizipatorischen Praktiken stammen. Ihre Autoren vermeiden ein konventionelles Verständnis vom Publikum, greifen in soziale Prozesse ein und machen den Charakter des entstehenden Objekts von der Möglichkeit abhängig, soziale Beziehungen im Mikromaßstab zu konstruieren. Sie sprechen auch mehrere Sinne an und fördern unsere Fähigkeit zu hören und zu sehen. Ich schlage an dieser Stelle meiner Ausführungen jedoch vor, weniger offensichtliche Beispiele zu betrachten – Literatur und Malerei. Diese Formen von Kunst arbeiten diskreter als die oben erwähnten performativen Praktiken und beziehen sich somit nicht direkt auf die soziale Interaktion, aber sie thematisieren dennoch das Problem der engagierten Wahrnehmung und arbeiten die Möglichkeit ihrer Realisierung heraus.

„Erst jetzt fange ich an zu sehen“ – Don DeLillos Baader-Meinhof Don DeLillos 2002 erschienene Erzählung Baader-Meinhof ist ein beispielhaft für die diskrete engagierte Form4. Die Protagonisten – ein Mann und eine Frau – werden eingeführt, als sie sich im New Yorker Museum of Modern Art aufhalten und die Frau, vor den Gemälden des deutschen Künstlers Gerhard Richter stehend, bemerkt, dass sie von einem unbekannten Mann beobachtet wird: She knew there was someone else in the room. There was no outright noise, just an intimation behind her, a faint displacement of air. She’d been alone for a time, seated on a bench in the middle of the gallery with the paintings set around her, a cycle of fifteen canvases, and this is how it felt to her, that she was sitting as a person does in a mortuary chapel, keeping watch over the body of a relative or a friend.5

Der Zyklus aus fünfzehn Leinwänden, den die Protagonistin betrachtet, ist 18. Oktober 1977 aus dem Jahr 1988. Richter schuf diese fünfzehn Gemälde auf

4 Siehe Besprechung der Erzählung u. a. G. Herren: Don DeLillo’s Art Stalkers. In: „MFS Modern Fiction Studies“ 61 (1) / 2015, S. 138–167 [online]. https://www.exhibit.xavier.edu/cgi/viewcon tent.cgi?article=1560&context=english_faculty [5. 04. 2021]; T. Ireson-Howells: „Imprecision, uncertainty, transience, incompleteness“: Gerhard Richter’s October 18, 1977 and Don DeLillo’s „Baader-Meinhof“. In: „Lublin Studies in Modern Languages and Literature“ 44, 2 / 2020, S. 41– 50 [online]. https://journals.umcs.pl/lsmll/article/view/10564 [5. 04. 2021]; K.L. Crawford: Gender and Terror in Gerhard Richter’s October 18, 1977 and Don DeLillo’s „Baader-Meinhof“. In: „New German Critique“ 36 / July 2009, S. 207–230. 5 D. DeLillo: Baader-Meinhof. In: „The New Yorker“, 24. 03. 2002 [online]. https://www.newyo rker.com/magazine/2002/04/01/baader-meinhof [2. 03. 2021]. Alle Zitate aus DeLillos Erzählung sind dieser Ausgabe entnommen.

Engagement in Bild / Text: Don DeLillo, Wirpsza, Turner

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der Grundlage von Pressefotos, die nach dem Tod der Mitglieder der BaaderMeinhof-Gruppe entstanden. Auf der Website des Künstlers kann man zu jedem Porträt eine Beschreibung lesen, die Erläuterungen zu historischen Details enthält und die Identifizierung der Figuren ermöglicht.6 In diesen Bildern ersetzt Richter die figurative Sichtbarkeit durch die Sichtbarkeit der Malerei selbst. Das hat aber nichts mit z. B. Action Painting zu tun, die Materie des Malgestus ist nicht plastischer und „taktiler“, im Gegenteil – alles entzieht sich unseren Blicken. Die Bilder von toten Körpern versinken förmlich im Grau. Wir können kaum Formen unterscheiden, die Oberfläche des Bildes ist monochromatisch einheitlich. Richter verwischt Details, vernebelt das Bild, erschwert den Blick auf ein bestimmtes Objekt, und wenn er uns einen Blick darauf erlaubt, dann tut er dies auf eine bewusst gegenmediale Weise, indem er uns aus der Ordnung der sensationellen, obszönen Sichtbarkeit von Leichen herausnimmt. Die de-figurativen Bemühungen des Künstlers sind mehreren antivisuellen Tricks untergeordnet, – monochromatische Einfärbung des Bildes, Verschiebungen und Bewegungen des dargestellten Objekts, geringe Auflösung, Streifen statt Konturen – von denen jeder seine Bedeutung im Oktober-Projekt hat. Sie werden zum Ausdruck des Widerspruchs gegen die „pornografischen“ Techniken der Massenmedien und deren Schaffung eindeutiger öffentlicher Bilder. Sie versuchen, das Gleichgewicht zwischen der Nachvollziehbarkeit von Ereignissen (Bestimmung ihrer Bedeutung) und der dokumentarisch-sensationellen Illusion, „alles zu zeigen“, wiederherzustellen. Durch Verdunkelungen und Verzerrungen erzeugen sie so sowohl einen Pathos- als auch einen Distanz-Effekt. Auf die Frage, nach welchem Prinzip er die Fotografien für das Bild ausgewählt hatte, antwortet Richter, dass er das Unmalbare meinte: Eigentlich habe ich gerade die nicht-malbaren Bilder gemalt. Die Toten. Ich wollte ja anfangs mehr das ganze Problem, diese Wirklichkeit von damals, das Lebendige malen – also ich hatte eher an etwas Großes, Umfassendes bei dem Thema gedacht. Dann hat sich das aber ganz anders entwickelt, eben zum Tod hin. Und das ist eigentlich gar nicht so unmalbar, im Gegenteil, Tod und Leid waren ja immer ein Thema der Kunst.7

Das Merkmal „unmalbar“ macht das Porträt zu einer spezifischen Art von Spektakel: Es lehnt das Figurative ab und verwandelt das Bild in eine unverständliche Form der Sichtbarkeit, die das Auge trainiert. Indem sie die realistische und dokumentarische Darstellungsweise miteinander konfrontieren, werden die Bilder auch zu einer Herausforderung für De6 G. Richter: Baader-Meinhof. 18. Oktober 1977 [online]. https://www.gerhard-richter.com/de /art/paintings/photo-paintings/baader-meinhof-56 [2. 03. 2021]. 7 G. Richter: Gespräch mit Jan Thorn-Prikker über den Zyklus 18. Oktober 1977. In: Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007: Schriften, Interviews, Briefe. Hrsg. D. Elger, H.U. Obrist. Köln 2008, S. 230–249, hier S. 232.

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Anna Kałuz˙a

Lillos Narration. Der amerikanische Schriftsteller war immer an Romanexperimenten interessiert, die durch die Überschneidung der Möglichkeiten zweier Medien entstehen: des filmisch-visuellen und des geschriebenen Mediums. Es ist erwähnenswert, dass der Autor von Running Dog nicht zum ersten Mal künstlerische visuelle Projekte verwendet; zum Beispiel nutzt sein Roman Mao II. den ikonographischen Ruhm des von Andy Warhol geschaffenen Bildes, OmegaPunkt führt in die Handlung des Romans Douglas Gordons Performance 24 Hour Psycho ein, die darin besteht, die Vorführung von Hitchcocks Psycho auf 24 Stunden zu strecken, und das Foto eines Mannes, der aus dem brennenden Gebäude des World Trade Centers fällt, wird zum Ausgangspunkt der Handlung in The Falling Man. Baader-Meinhof wiederholt einen Trick aus Americana, DeLillos Debütroman von 1971. Dort wurde die literarische Narration durch die filmische gesprengt – wenn der vom Hauptprotagonisten gedrehte Film zum Objekt der verbalen Repräsentation wurde,8 und hier – kollidiert die durch die Worte der Protagonistin etablierte Ordnung der Sichtbarkeit mit der Richtung ihres Blicks, die uns immer über die Repräsentation hinausführt. In der Erzählung Baader-Meinhof schafft DeLillo eine Handlung in der Handlung, ein Bild in der Schrift – wir betrachten die Bilder im Museum und die Figuren, wie sie in ein Spannungsverhältnis eintreten. Diese Verdoppelung des Blicks geschieht auch bei der Heldin in der vorletzten Szene der Geschichte und offenbart am deutlichsten DeLillos Schreibstrategie. Es scheint, als wiederholte er erzählerisch Richters malerische Geste in dem Sinne, dass er seine Figuren unscharf und verschwommen zeigt, als gäbe er dem Auge des Lesers Zeit, sich auf die entstehende Narration einzustellen. Kurz gesagt, besteht diese Schreibstrategie in einer ständigen Brechung der Perspektiven, in Ersetzungsoperationen, was zu einer Kombination von visuellen und schriftlichen Elementen führt, unter Einsatz unserer emotionalen Beteiligung. Wir folgen der Protagonistin, die auf Richters unscharfen Gemälden auch die kleinsten Details nachzeichnet, und wiederholen die Arbeit, die erzählerischen Details der Geschichte zu extrahieren. Die Beziehung zur Protagonistin ist äußerst intim: Neben dem, was sie sieht und anschaut, erfahren wir vor allem von ihrem intensiven Erleben der Bilder und der Ereignisse, auf die sie sich beziehen. Visuelle Formen werden zu Zeichen ihrer mentalen Zustände, und sie selbst zu einer Figur intensivierter Wahrnehmungsbeteiligung, die sie jedoch weder mit ihrem vergangenen Leben noch mit ihren aktuellen Erfahrungen synchronisieren kann. Ästhetik und Bildlichkeit werden in DeLillos Arbeit jedoch nicht therapeutisch, sie schaffen auch keine Gemeinschaft intersubjektiver Empfindungen. Ohne als mediale Vermittler zu fungieren, bilden sie dennoch die Bühne für aktives Betrachten und unmögliches Handeln. 8 T. LeClair: In the Loop: Don DeLillo and the Systems Novel. Urbana 1987, S. 36.

Engagement in Bild / Text: Don DeLillo, Wirpsza, Turner

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Jedes Bild, das die Protagonistin betrachtet, wird von ihr sinnlich materialisiert. Sie konzentriert sich auf malerische und gegenständliche Details und versucht, die Darstellung in die Geschichte (der Gruppe, der Ereignisse) einzuführen: „She was looking at Ulrike now, head and upper body, her neck ropescorched, although she didn’t know for certain what kind of implement had been used in the hanging.“ Hier schaut sich die Protagonistin drei Gemälde aus der Gemäldegruppe Tote an. Gemalt auf der Grundlage von Pressefotos, die unmittelbar nach dem Selbstmord der Journalistin und RAF-Terroristin Ulrike Meinhof in ihrer Zelle aufgenommen wurden, wird sie – wie auf Richters Website zu lesen ist – „Im Tod […] dem Blick des Betrachters als öffentliche Figur entzogen, der Terroristin wird ein Teil ihrer menschlichen Würde zurückgegeben, die ihr durch die Zurschaustellung ihres toten Körpers in den Massenmedien genommen worden war.“9 Bei DeLillo wird es so beschrieben: The canvases varied in size. The woman’s reality, the head, the neck, the rope burn, the hair, the facial features, were painted, picture to picture, in nuances of obscurity and pall, a detail clearer here than there, the slurred mouth in one painting appearing nearly natural elsewhere, all of it unsystematic.

Der Mann, der unsere Heldin schweigend beobachtet, stellt ihr die erste Frage, womit ihr minimalistischer Dialog beginnt: „Why do you think he did it this way?“. Die Figuren versuchen, dem, was sie sehen, einen Sinn zu geben, und der Fokus des Lesers auf den Austausch zwischen ihnen nimmt zu, während die Desorientierung, die Richters Bilder bei DeLillos Figuren hervorrufen, weiter zunimmt. Die nächsten Bilder, die in der Erzählung „betrachtet“ werden, sind Porträts von Andreas Baader, dem Anführer der Gruppierung, mit dem Titel Erschossener: The two paintings of Baader dead in his cell were the same size but addressed the subject somewhat differently, and this is what she did now – she concentrated on the differences, arm, shirt, unknown object at the edge of the frame, the disparity or uncertainty.

Zum Gemäldezyklus gehört auch ein Bild, das Baaders leere Gefängniszelle darstellt; dieses Bild wird von DeLillo nicht erwähnt. Die Protagonistin geht dann zu den drei Werken der Gruppe Gegenüberstellung über. Diese stellen Gudrun Ensslin dar. Sie entstanden auf der Grundlage von Polizeifotos, die unmittelbar nach Ensslins Einlieferung ins Gefängnis aufgenommen wurden und sind die einzigen, die uns auf explizitere Weise mit dem Blick der Figur im Gemälde konfrontieren. DeLillo schreibt dazu: „Three paintings of Gudrun, maybe smiling, smiling, and probably not smiling.“ Und dann ist da noch das Gemälde 9 Siehe G. Richter: Tote [online]. https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/photo-pain tings/baader-meinhof-56/dead-7687 [7. 02. 2021].

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Erhängte, das Gudrun Ensslin an den Gitterstäben ihrer Zelle im Gefängnis Stuttgart-Stammheim hängend zeigt und das auch DeLillos Figur betrachtet: „She went to the far wall to look at the painting of one of the jail cells, with tall bookshelves covering nearly half the canvas and a dark shape, wraithlike, that may have been a coat on a hanger.“ Weitere Arbeiten in Richters Zyklus beziehen sich auf Fotografien der jungen Meinhof, damals einer aktiven, politisch engagierten Journalistin (Jugendbildnis), auf Fotografien der Beerdigung von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe sowie der Verhaftung von Andreas Baader und Holger Meins am Morgen des 1. Juni 1972. DeLillos Protagonistin schaut auf eines dieser Bilder. Es ist das Gemälde der Beerdigungszeremonie: In the painting of the coffins being carried through a large crowd, she didn’t know they were coffins at first. It took her a long moment to see the crowd itself. There was the crowd, mostly an ashy blur with a few figures in the center-right foreground discernible as individuals standing with their backs to the viewer, and then there was a break near the top of the canvas, a pale strip of earth or roadway, and then another mass of people or trees, and it took some time to understand that the three whitish objects near the center of the picture were coffins being carried through the crowd or simply propped on biers.

Dieses Bild hält die Aufmerksamkeit der Protagonistin am längsten fest und zieht sie in eine Betrachtung über Erlösung und Vergebung hinein. Man kann sich fragen, ob ihre Art zu schauen auch die Lesart von DeLillos Narration andeuten soll? Der Autor führt uns in die Logik eines unscharfen Bildes ein, das eine erhöhte Wahrnehmungsaufmerksamkeit des Betrachters erfordert, und er komponiert die Szenen seines Romans so, dass die verschiedenen Formen des Sehens, die das Verhalten seiner Figuren bestimmen, sichtbar werden. Die erzählerischen und fiktionalen Unklarheiten bleiben hier gleichwertig angesichts des Rätsels des Sehens und Betrachtens, das Richters Zyklus bietet. Nach dem Verlassen des Museums trennen sich der Mann und die Frau nicht, sie gehen zusammen einen Kaffee trinken, und dann in die Wohnung der Frau. Hatte man früher den Eindruck, dass DeLillo nach den Zusammenhängen zwischen Wahrnehmung und Sprache sucht, so hat man jetzt den Eindruck, dass die Kommunikation stagniert und die Beziehungen zwischen den beiden Protagonisten immer beklemmender werden, was in der Szene gipfelt, in der sich die Protagonistin vor dem Mann in ihrem Badezimmer einschließt und darauf wartet, dass er die Wohnung verlässt. Auch hier soll die gezeigte Szenerie über die emotionalen (Zustände der) Figuren informieren. DeLillo drückt es so aus: I try to examine psychological states by looking at people in rooms, objects in rooms. It’s a way of saying we can know something important about a character by the way he sees himself in relation to objects. People in rooms have always seemed important to me.

Engagement in Bild / Text: Don DeLillo, Wirpsza, Turner

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I don’t know why or ask myself why, but sometimes I feel I’m painting a character in a room, and the most important thing I can do is set him up in relation to objects, shadows, angles.10

Wenn man die Protagonisten anderer Romane dieses Autors kennt, lässt sich behaupten, dass auch diese typisch für ihn sind. Genauso wie der Dialogminimalismus dieser Erzählung, wie aus einem Stück von Beckett, mit seinen abgerissenen, schwebenden Bedeutungen. Wenn man das Gespräch zwischen den Figuren in der retroaktiven Ordnung verfolgt, findet man jedoch ein paar wichtige Worte, mithilfe derer man versuchen kann, die Bedeutung des Ganzen und den Sinn der generationellen und politischen Konfrontation zu konstruieren. Aber gleichzeitig sind die Protagonisten von Baader-Meinhof ganz anders – denn die meisten von DeLillos Figuren versuchen, sich zu engagieren, sich anzustrengen, zu etwas Intensiverem durchzubrechen. Wenn DeLillo die Handlungen terroristischer Gruppen „gewöhnlichen“ Charakteren gegenüberstellt, tut er dies zumeist, indem er das Gewöhnliche in den terroristischen Radikalismus hineinzieht. Dies ist z. B. in den Romanen Spieler und Mao II. der Fall. Hier ist es anders: Der Tod der RAF-Mitglieder wird zum Zeichen anhaltender Ohnmacht und Hilflosigkeit, zum Rückzug aus allen Lebensbereichen – die Protagonisten haben keine Familien, keine Kinder, sie suchen Arbeit, sie können sich weder Intimität noch die Entscheidung leisten, ihren bisherigen Lebensstil zu ändern. So lesen wir eine Erzählung, die – bezogen auf die Aktionen einer terroristischen Gruppe, einer intensiven und radikalen Form des Aktivismus – die Trägheit des menschlichen Lebens, den Rückzug aus sozialen Beziehungen darstellt. Richters Bilder, die als Modell der Welt fungieren, in der DeLillos Figuren leben, werden zu einem doppeldeutigen Spiegel, der ihr entindividualisiertes, phantomhaftes Leben zeigt. Aus der Perspektive der Passivität und der Lebensdrift der Hauptfiguren betrachten wir auch die Narration über die Bilder der toten Körper der Terroristen – von Engagement ist hier also kontrapunktisch die Rede, was den Blick in ein konkretes Feld lenkt. Diese Konkretisierung des Standpunktes, von dem aus wir eine bestimmte ideologische Position rekonstruieren können, ist eine wichtige Schreibstrategie. Vor dem Hintergrund einer Handlung über die Unmöglichkeit sozialer Bindung und des Austauschs von Emotionen webt DeLillo seine Erzählung über das Scheitern radikaler politischer Aktion. Er demonstriert die gesteigerte Wahrnehmungsaktivität seiner Protagonistin und ihre Lebenspassivität, aus deren Perspektive sie Bedeutungen von Bildern der toten Körper der RAF-Mitglieder produziert. Die Leser, die die Fragen des Mannes an die Frau hören, während beide Richters Bilder betrachten, erkennen, dass sie selber ähnliche Fragen stellen könnten und würden: Genau wie der Mann stehen 10 Zit. nach: G. Herren: Don DeLillo’s Art Stalkers, (Anm. 4), S. 151.

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sie „außerhalb“ der Bedeutungen der Bilder, die die Protagonistin der Erzählung konstruiert. DeLillo stellt die Leser an denselben Ort wie den männlichen Fremden, nämlich an den Ort, der für den voyeuristischen Beobachter bestimmt ist. Wenn wir nun meinen, dass die Anwesenheit des Protagonisten eher nebulös ist und dass es im Roman keine Bestätigung seiner realen Existenz gibt,11 können wir uns vorstellen, dass wir er sind, dass er die Figur des Lesers/der Leserin verkörpert.

Witold Wirpsza und die Kommentare zur Fotografie „The Family of Man“ Eine besondere Sensibilität für die Interdependenz von Kunst und Gewalt entfremdender Botschaften (verbal, visuell), verbunden mit der Bestrebung, aus passiven Betrachtern kritisch engagierte Bürger zu machen, kennzeichnet die Kommentare zur Fotografie „The Family of Man“ von Witold Wirpsza. Sie wurden 1967 veröffentlicht und stellen eine Besprechung der von Edward Steichen vorbereiteten Ausstellung Family of man dar, die 1955 erstmals gezeigt wurde. In Polen war sie 1959 zu sehen.12 Über die Ausstellung ist schon viel geschrieben worden – Roland Barthes’ berühmtester Kommentar in Mythologies stellt sie als eine Ansammlung von ideologischem Bildmaterial dar, das dem Betrachter Gefühle der Verwandtschaft mit der verallgemeinerten und ahistorischen Vorstellung der menschlichen Familie aufzwingt.13 Wirpsza kritisierte Steichens Ausstellung in einer ähnlichen Weise wie Barthes. Die dreiteilige Komposition des Buches, bestehend aus dem Faksimile einer Fotografie, einer neutralen, den „Inhalt“ erklärenden Bildunterschrift und dem eigenen Kommentar des Dichters, bezog sich unter anderem auf die Tradition von Bertolt Brecht und seinen Kriegsfibel-Fotoepigrammen. In den Kommentaren zur Fotografie… verwendet Wirpsza die sehr von ihm geschätzten Kategorien der Distanz und der Entfremdung. Denn sie ließen seiner Meinung nach 11 Vgl. „Could he instead be a figment of the woman’s imagination, a manifestation of her psyche given form by Richter’s paintings, or an apparition? The opening of the story, after all, reads like the start of a ghost tale, ‚She knew there was someone else in the room. There was no outright noise, just an intimation behind her, a faint displacement of air‘“ (S. 105). The man’s spectral presence serves to challenge the woman’s readings of the artworks. T. Ireson-Howells: „Imprecision, uncertainty, transience, incompleteness“, (Anm. 4), S. 48. 12 Siehe u. a.: G. Jankowicz: Wirpsza i poetyka spojrzenia. In: W. Wirpsza: Komentarze do fotografii „The Family of Man“. Mikołów 2010, S. 43–58, hier S. 43f; A. Jaworska: O „Komentarzach do fotografii“ „The Family of Man“ Witolda Wirpszy. In: „Arkadia“ 23–24 / 2008, S. 84–111; D. Pawelec: Wirpsza wielokrotnie. Mikołów 2013, S.137–150. 13 R. Barthes: Die große Familie der Menschen. In: Ders.: Mythen des Alltags. Übersetzt von H. Brühmann. Berlin 2010, S. 226–229.

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andere Reaktionen zu als die emotionale Identifikation mit Bildern von menschlichem Leid, Verlangen oder harter Arbeit, die bei Steichen in einem pathetisch-sentimentalen Rahmen erschienen. Ästhetische Qualitäten wie Ironie oder Distanz banden die Leser nicht an Bilder, Sätze oder Töne, sondern trainierten den Betrachter in ästhetischem Ungehorsam, dem anarchischen Akt des Schauens und Lesens. Anstatt also in uns Mitgefühl für die dargestellten menschlichen Fälle zu wecken, weist Wirpsza darauf hin, was die Bilder durch ästhetisches Pathos verbergen.14 Seine Gedichte machen die in der Ausstellung gezeigten Fotografien zu Meta-Bildern. Wenn Wirpsza beispielsweise ein Familienfoto kommentiert, das eine lächelnde Mehrgenerationenfamilie zeigt, weist er auf die Falschheit ihrer Posen hin. Aus der fotografischen Zurschaustellung des Körpers, die seine polizeiliche Befangenheit ist, extrahiert Wirpsza Elemente dessen, was er Komödiantentum nennt: „Den Kindern wurde befohlen, glücklich zu sein, also verstellen sie sich, so gut sie können (Kinder sind ausgezeichnete Komödianten)“ (S. 11). Die Verstellung, der Spott und die Angst, die man in den Gesten des ungehorsamen Körpers beobachten kann, sieht Wirpsza als Widerspruch zum „Zwang des familiären Zusammenlebens“. Ähnlich dekonstruiert der Dichter in einem anderen Kommentar eine Gruppenszene des Familienspiels. Die Fotografie zeigt ein „musizierendes Familienquintett“, und Wirpsza beschreibt das Ritual der gemeinschaftlichen Aktivität als Gewalt der Erziehung und Ausbildung: „Dann werden ihnen irgendwann diese Zettel (Stäbchen mit Knöpfen) in den Schädel gesteckt, und sie werden so mit gespickten Köpfen herumlaufen“ (S. 23). Allerdings gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen diesen Aufnahmen: Während die Familie auf dem Gruppenfoto in die Linse starrt und den Betrachter direkt anschaut, ist das musizierende Quintett in sich gekehrt. Dies ist die häufigste Art, den Betrachter in den von Wirpsza gezeigten Fotografien anzusprechen: Es ist offensichtlich, dass der Dichter unter den Fotografien, die in Steichens Ausstellung zu sehen waren, diejenigen auswählte, die uns in separate, autonome Welten einführen. Indem Wirpsza jedoch die Pose und Künstlichkeit der auf dem Foto dargestellten Figuren kritisiert, tritt er dafür ein, was die Kunst der Moderne in Frage gestellt hat: die Illusion der Abwesenheit des Betrachters, die von der Wahrheit der Darstellung zu überzeugen versucht – ohne diese

14 Aus dem Typoskript von Wirpszas unveröffentlichtem Vorwort zu dieser Sammlung: „Ich werde nicht leugnen, dass ich anfangs von der technischen Perfektion der meisten Fotografien sehr angetan war, und erst später entdeckte ich die Servilität dieser Perfektion. Ich gewann den Eindruck, dass diese Perfektion nicht so sehr dazu dient, etwas zu zeigen, sondern es mindestens ebenso zu verbergen“. Siehe W. Wirpsza: Komentarze do fotografii, (Anm. 12), nicht nummeriert. Alle Zitate aus Gedichten von Wirpsza sind dieser Ausgabe entnommen. Ich lokalisiere sie unmittelbar im Text, indem ich die Seitennummer angebe.

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Infragestellung der Illusion zu erlangen, spürt der Dichter der ideologischen Verfälschung der Ausstellung nach. Wirpsza komponiert seine Kommentare so, dass wir die Perspektive, die die Fotografen durch die ästhetische Glättung der Bilder des menschlichen Leidens erreichen, ablehnen können. Verdankt die Perspektive der Betrachtung dieser Fotografien – kritisch, unnahbar, letztlich, wie der Dichter selbst schreibt, ungerecht – ihre Kraft aber nicht dem Wunsch, eine interpretative und emotionale Gemeinschaft zu schaffen, demselben Wunsch, der den Kurator der Ausstellung antrieb und der darauf beruht, von den Mitgliedern der Gemeinschaft die Bestätigung zu erhalten, dass sie dieselben ästhetischen und sozialen Überzeugungen teilen? Wirpsza gewöhnt es uns ab, identifizierende Impulse in uns zu wecken, und lehrt uns, (ideologische) Bilder mit Argwohn zu lesen. Dieses Misstrauen ergibt nur dann einen Sinn, wenn es die Rezipienten in eine Position permanenter Kritik versetzt – sowohl gegenüber Bildern als auch gegenüber Worten/Sprache. Und genau das passiert in seinem Band. Die Klinge des Kommentars ist auch auf das Medium Schrift/Sprache gerichtet. Wirpsza übernimmt selbst die Rolle des Komödianten, mit dem wir von Zeit zu Zeit unsere Beziehung abbrechen und trotz dessen wir mit den auf den Fotos abgebildeten Menschen mitfühlen. Seine sprachliche Strategie gleicht der Arbeit einer stotternden Maschine. Die Gedichte sind aus kurzen, durch Klammern zerrissenen Satzketten zusammengesetzt, wobei einzelne Phrasen aus dem kommunikativen Fluss herausfallen und in asemantische Vokalisierungen übergehen. Ihre irritierenden Klänge verlagern das Werk sowohl auf die visuelle Ebene (leichter zu sehen als zu sagen) als auch, natürlich, in Richtung Lautpoesie. Die in der Zerstörung ihrer kommunikativen Semantik radikalsten Texte (wie Wysychanie – Trocknen, Z˙ałos´c´ – Wehmut) verdichten sich in Clustern von Konsonantenschleifen. Einige Beispiele: „Ach trockne, tr, tr, tr, tr, tr (Klang des Trocknens), dem Körper / nah; wohl sonnig; tr Tag“ aus Wysychanie, das von refrainartig positionierten Wörtern Tydol Ethyl geführt wird, die von einer Fotografie transkribiert sind und die semantischen Linien zu Klangcollagen krümmen (S. 19). Aufgeschlüsselt in einzelne Buchstaben wird in Z˙ałos´c´ das Wort Schauspieler, polnisch aktor, mit dem Wirpsza die verzweifelte Figur auf dem Foto definiert und damit zu seinem beliebten Motiv der Pose, der Verstellung und der Aufrichtigkeit, der Authentizität zurückkehrt: „Aktor, ktor, tor, or, r (r, ro, rot, rotk, rotka)“ (S. 31). Während Steichen eine Bestätigung der Identifikation des Betrachters mit den dargestellten menschlichen Fällen erreichen wollte, erzwingt Wirpsza, der diese Art der „emotionalen Erpressung“ kritisiert, keine Identifikation mit seiner Position. Seine Texte sind auf knisternde, semi-semantische Klänge komponiert. Indem er seine eigenen Kommentare einführt, schafft der Dichter Raum, damit eine Beziehung zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren entstehen kann. In diesem Raum, der weder vom Kurator noch vom Dichter kontrolliert werden

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kann, tritt der Betrachter ein – er schaut und liest. Seine Entscheidungen, seine Gefühle unter dem Einfluss eines durch Worte modifizierten Bildes und unter dem Einfluss eines durch ein Bild modifizierten Wortes zu verändern, werden in eben diesem Feld getroffen, das durch das Aufeinandertreffen von Worten und Bildern entsteht. Es geht nicht um die Vorherrschaft von Bild oder Sprache in der Medienordnung, sondern um die Dynamik des Verhältnisses zwischen dem Bild, das durch den Text gesprochen wird, und dem Gedicht, das sich der visuellen Darstellungsweise anschließt. Die Wahrnehmungsspannung, die Text und Bild schließlich verbindet, gibt die Möglichkeit, auf eine Art und Weise zu reagieren, die weder eine automatische Reaktion auf menschliches Leid ist, noch ein kalkuliertes Vermeiden von Unglück (klassenbedingt, wirtschaftlich, existenziell). Diese in der Optik zweier Medien geäußerte ästhetische Differenz beeinflusst unser Verhalten gegenüber dem Bild und dem Kommentar. So stellt sich – nicht allzu überraschend – heraus, dass die von Wirpsza vorgeschlagene Strategie, ostentativ nicht-empathisch zu sein angesichts quasiempathischer Bilder, komplexe, engagierte Reaktionen gegenüber dem Text / Bild hervorruft. Wirpsza „öffnet“ die Fotografien und konfrontiert sie mit einem sprachlich-akustischen Medium. Seine Sätze, das Mikro-Gebrumm, die MikroGeräusche, asemantische Loops sind wie Einschnitte, Kratzer und Löcher in der ästhetischen und ideologischen Ebene der Fotografie.

William Turners Regulus Um ein empathisches Engagement hervorzurufen, müsste man den souveränen Verhaltensweisen des Betrachters Raum geben. Diese entstehen oft an der Schnittstelle von sprachlichem Kommentar (oder einem Titel als interpretativem Anker) und Bildmaterial, ein eher überraschendes Beispiel dafür ist William Turners Regulus, ein Gemälde von 1828. Der metabildnerische Aspekt von Regulus hängt mit der ungewöhnlichen Idee des Malers zusammen, eine glühende Sonnenscheibe genau in die Mitte des Bildes zu stellen. Diese künstlerische Praxis fehlt in der Tradition der realistischen Malerei, die die Lichtquelle außerhalb der Darstellung verordnete. Bei Turner ist die Lichtquelle undeutlich, und wir müssen genau hinsehen, um die Umrisse der Landschaft und der Figuren zu erkennen, aber wir werden den titelgebenden Regulus auch weiterhin nicht sehen.15 Die verblassten Farben verwischen die Szene, was nur durch den Verweis auf das, was sich außerhalb des 15 Es soll sehr undeutlich am oberen Ende der Treppe, auf der rechten Seite, umrissen sein, aber das ist nicht sicher. Siehe G. Finley: Angel in the Sun. Turner’s vision of history. Montreal, Quebec 1999, S. 98.

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Bildrahmens befindet, erklärt werden kann. Das wiederum ist ein Kunstgriff, den man aus dem berühmtesten Meta-Bild, Die Hoffräulein, kennt. Die Dramaturgie der Darstellung ist dort so angelegt, dass der Blick des Betrachters auf denselben Punkt fixiert ist, dem sich alle Figuren des Bildes zuwenden. Kritiker behaupten, dass dies der Ort ist, von dem aus der König schaut, reflektiert – laut Foucault – in einem Spiegel, der sich tief im Inneren der Szene befindet.16 Turner stellt in seinem Gemälde unserem Blick nicht deswegen eine Falle, um uns etwas über die Macht des Künstlers zu erzählen, sondern um – durch die Vereinheitlichung des Blickpunkts des Betrachters und des Regulus – zu zeigen, wie das Leiden das Bild der Welt verzerrt. Wir können den Schmerz nicht fühlen, aber wir können sehen, wie der Schmerz ein Teil der Darstellung wird. Maria Poprze˛cka, die Turners Gemälde analysiert, erzählt zunächst die Geschichte jenes römischen Feldherrn, der, verstümmelt und seiner Augenlider beraubt, dem Sonnenlicht ausgesetzt wurde: Die ganze Szene ist gegen das Licht aufgenommen. In der Mitte des Gemäldes herrscht ein sonniges Leuchten, das durch funkelnde Reflexe, die auf den Wellen gleiten, noch verstärkt wird. […] In der rechten unteren Ecke von Turners Gemälde sind einige Figuren etwas deutlicher zu erkennen – es sind Kinder, die sich an die Frauen kuscheln und ihre Augen bedecken, um die Qualen des Gefangenen nicht zu sehen.17

Marcus Atilius Regulus war ein römischer Feldherr, der freiwillig als Gefangener nach Karthago zurückkehrte, nachdem Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch gescheitert waren. Dort wurde er zu Tode gemartert und – bei Turner – geblendet und den Sonnenstrahlen ausgeliefert. Selbst wenn man den Kunstkritikern und -historikern glaubt, dass Regulus in einer römischen Toga auf dem Gemälde zu sehen ist, erfordert die Suche nach ihm – wie Finley schreibt – einen umherirrenden Blick im grellen Licht.18 Letztlich betrachten wir die Welt aus der Perspektive von Regulus, der sein Augenlicht verliert. Laut Poprze˛cka erlaubt uns Turner, den Prozess des Sehens selbst zu bemerken. Dies ist vieler solcher Meta-Bilder gemein, die den modernen Zustand der Kunst ausmachen.19 Zum Führer wird hier Regulus, der in der sonnigen Hitze leidet. Theoretisch ist es seine Geschichte, die unsere Empathie wecken sollte, doch der Fall ist komplexer. Wenn wir den erzählerischen Rahmen nicht kennen 16 Über die Tücken der Perspektive dieses Bildes siehe M. Foucault: Die Hoffräulein. In: Ders.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übersetzt von U. Köppen. Frankfurt am Main 2003, S. 31–45; N. Mirzoef: How to See the World. An Introduction to Images, from Self-Portraits to Selfies, Maps to Movies, and More. London 2015, S. 31. 17 M. Poprze˛cka: Obraz bezpos´redni? In: Obraz zapos´redniczony. Hrsg. M. Poprze˛cka. Warszawa 2005, S. 27. 18 Siehe G. Finley: Angel in the Sun. Turner’s vision of history, (Anm. 15), S. 99. 19 Siehe V. Stoichita: L’Instauration du Tableau. Métapeinture à l’aube des temps modernes. Genève 1999, S. 14.

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würden, könnten wir nur über die Meereslandschaft staunen. Der empathische Knoten liegt in der Gegenüberstellung dieser Geschichte, die von außerhalb des Bildes kommt, mit der Materie der Darstellung selbst. Turner regt uns nicht zum Mitfühlen an. Er zieht seine Figur außerhalb der Darstellung, aber es ist ihre Perspektive, die die Darstellung der Welt rechtfertigt. Diese Einseitigkeit der Darstellung, in der Regulus’ leidender Blick eine zentrale Rolle spielt, verlangt es, über die malerische Komposition hinauszugehen und sich auf metamalerische, imaginative und biografische Narrationen zu konzentrieren; erst sie arrangieren die räumliche und symbolische Anordnung, in der die emotionale Gestaltung der von Turner dargestellten Welt wichtig wird – die konzeptuelle Form wird hier zu einer emotionalen Form, die auch die Beteiligung des Betrachters erfordert. Ohne die sprachlichen Erklärungen wäre es schwierig, Mitgefühl zu empfinden – was an sich weder schlecht noch gut ist; man könnte sogar sagen, dass Turner uns die Möglichkeit zur ästhetischen Betrachtung aus der Ferne gibt, ohne sich auf die Hinrichtungsszene einzulassen. Wenn wir jedoch auf dem emotionalen Engagement bestehen, kommen wir zu der Überzeugung zurück, dass der Kontakt zwischen dem Sprachlichen und dem Visuellen den Betrachter sozusagen auf eine ganz bestimmte Art und Weise einbezieht, indem er die Visualität des Bildes für die Sichtbarkeit öffnet, die durch die sprachliche Geschichte gegeben ist, und diese besondere Ordnung der Verbindung des Sichtbaren mit dem Sprachlichen sorgt in diesem Fall für die Intensität der Emotion. Vielleicht geht es auch noch um etwas anderes – Turner schafft Raum für den Betrachter im Bild. Natürlich setzt man sich mit der Bezugnahme auf Turners Gemälde im Kontext des Engagements, selbst wenn es so umformuliert wird, dass es die Materie und das Medium nicht neutralisiert, einem Anachronismus aus. Aber – unter Berücksichtigung von Mieke Bal, die die Kunstgeschichte auf verkehrte Weise liest20 – ist es eine Überlegung wert, ob der Bezug nicht gerechtfertigt ist. Nicholas Mirzoeff spricht über visuellen Aktivismus und gibt das Beispiel der Erstellung eines Memes als Reaktion auf die Erschießung von Michael Brown durch die Polizei. Darin griffen Internetnutzer die letzten Worte des Ermordeten auf: „Hands Up, Don’t Shoot“: Hands Up, Don’t Shoot is one of the first products of the interaction of the Snapchat/ selfie generation with direct action in the streets, because it creates a new self-image of the protestor. It makes visible what was clone even though it was perpetrated out of sight of any media depiction or representation. The grand jury decision not to indict Officer Darren Wilson, the policeman who shot Brown, for any crime, took the „Hands Up“

20 Siehe M. Biel: Quoting Caravaggio: Contemporary Art, Preposterous History. Chicago / London 1999.

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meme across the United States and indeed the world, with solidarity actions in London and elsewhere using the slogan.21

Kann man sagen, dass Turner die Selbstdarstellung eines römischen Feldherrn geschaffen hat? Man denkt hier schon, denn er hat es geschafft, dass wir eine fast direkte Begegnung mit seinem Charakter haben, ohne das Medium, das diese Begegnung aufzeichnet, zu neutralisieren. Natürlich ist er nicht der Einzige – man kann in ähnlicher Weise u. a. an Théodore Géricaults Das Floß der Medusa (1818–1819) denken. Klaus Speidel, der die Art und Weise beschreibt, wie die Maler die Zeit der Betrachtung eines Gemäldes steuern, betont – quasi nebenbei, dass wir beim Betrachten dieses Gemäldes dem Blick der Figur folgen, der auf den Horizont fixiert ist, auf dem sich ein schwarzer Punkt abzeichnet, der sich nach längerem Betrachten als ein einlaufendes Schiff entpuppt. Speidel glaubt, dass das Bild Spannung erzeugt und uns ein Gefühl der Erleichterung vermittelt, wenn wir erfahren, dass Hilfe für die Überlebenden kommt: Es ist zu erwarten, dass die Erleichterung beim Anblick des Bootes umso größer ist, je länger der Betrachter auf das Floß geschaut hat.22 Je später wir entdecken, dass sich ein Boot am Horizont abzeichnet, desto größer wird unsere anschließende emotionale Beteiligung sein – aber all das wird ohnehin dadurch ermöglicht, dass wir dem Blick der Figuren im Bild folgen. *** Bei der Zusammenfassung der Überlegungen über diskret engagierte literarische und visuelle Formen ist festzuhalten, dass jedes der hier besprochenen Beispiele verschiedene Probleme in den Vordergrund stellt, die sich aus dem Versuch 21 N. Mirzoeff: How to See the World, (Anm. 16), S. 292–293. Der visuelle Aktivismus ist eine der am häufigsten kommentierten Praktiken im Zusammenhang mit der visuellen Kultur. Das verstärkte Interesse am Aktivismus, das seit Ende der 1990er Jahre auch in anderen Disziplinen und Bereichen der Kunst und Literatur zu beobachten ist, hängt unter anderem mit dem Wandel des Denkens über Kultur selbst zusammen. Seit einiger Zeit haben wir begonnen, ihre verändernden Aspekte deutlicher zu betonen und das Recht auf Zugang zur Kultur zu diskutieren. Wenn wir heute – nach der globalen Krise von 2008–2009 und den immer stärker werdenden Auswirkungen der Umweltkrise – über mögliche Wege zur Veränderung des gegenwärtigen ökonomischen und sozialen Status quo debattieren, analysieren wir nicht so sehr, wie Mirzoeff schreibt, die bereits vorhandenen und bekannten Repräsentationsformen, sondern wir denken über die Möglichkeiten nach, unsere eigenen zu konstruieren. Allerdings stoßen wir hier auf eine Reihe von Schwierigkeiten, denn gerade die Formel des Aktivismus, die dem Engagement und der Politizität nahe steht, teilt mit ihnen ähnliche Traditionen, die die Möglichkeiten neu definieren, künstlerische Bestrebungen als – nennen wir es vorerst ganz allgemein – Ermutigung zu betrachten, die Haltung eines aktiven Teilnehmers an kulturellen Transformationen einzunehmen. 22 Vgl. K. Speidel: Jak pojedyncze obrazy opowiadaja˛ historie? In: Narratologia transmedialna. Teorie, praktyki, wyzwania. Hrsg. K. Kaczmarczyk. Kraków 2017, S. 65–148, hier S. 137.

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ergeben, den Leser/Betrachter in den Text/das Bild einzubeziehen; wir sollten jedoch anmerken, dass diese Probleme auch für das moderne Denken von Künstlern recht charakteristisch sind. In Don DeLillos Roman Baader-Meinhof haben wir es mit einer ähnlichen Reziprozität zu tun, wie sie Foucault beschreibt, wenn er Velasquez’ Gemälde aus der Perspektive des Spiels der Blicke zwischen den Modellen, dem Betrachter und dem Maler analysiert. In DeLillos Werk hören wir einem Gespräch zu, an dem wir exzessiv teilnehmen, überrascht, dass wir in der Erzählstrategie berücksichtigt werden. In William Turners Regulus ist das Gegenteil der Fall. Der Maler stellt den Betrachter außerhalb des Bildes, und die Standpunkte, die den Verlauf der erzählerischen Wendungen der Darstellung bestimmen, in die das Auge des Betrachters eingeschrieben ist, führen uns zur Identifikation mit Turners Hauptfigur. In den Kommentaren zur Fotografie „The Family of Man“ von Witold Wirpsza befinden wir uns auf der Linie von Sichtbarkeit und Diskurs, die uns auffordern, Stellung zu beziehen. All diese künstlerischen Objekte suchen unsere Aufmerksamkeit, und nachdem sie sie erhalten haben, lenken sie uns auf andere Probleme, damit wir diese zum Handeln nutzen können. Sie alle bestätigen auch, dass moderne Formen des Engagements sich auf die Positionierung der Rezipienten in Bezug auf – mediale, analoge, literarische usw. – Repräsentationen konzentrieren, denn die Handlungsregeln des künstlerischen Objekts in Bezug auf die Rezipienten bestimmen auch die Handlungsregeln der Rezipienten von Bildern und Texten als politische Subjekte.

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Elz˙bieta Dutka (University of Silesia in Katowice)

“Perception in Action” and Engagement. The Case of the “Contaminated Landscape” of the Low Beskids in Monika Sznajderman’s Pusty las [Empty Forest]

Landscape and agency When characterizing the operational dimension of understanding culture, one related to perceptual and cognitive activity, Ryszard Nycz points out that the cultural landscape is one of the “most frequently and effectively developed analytical categories”.1 This category was created by geographers at beginning of the twentieth century. Initially, it was used to refer to the effects of the human transformation of the natural environment. Currently, it no longer belongs solely to the dictionary of geographical sciences, but has also entered the area of the humanities.2 As Nycz points out, interest in the cultural landscape means breaking down binary oppositions (e. g., nature/culture, space/time, natural/ social, sensory/symbolic) and contributes both to the development of traditional thematological studies and to the fashioning of original ideas and approaches. In view of such a wide range of meanings and uses, Nycz proposes to profile this category in cultural studies. In his opinion, three components are important. The first is a holistic organization of the elements. Nycz draws attention to the creative, causative role of the human subject; he writes about the “affective alignment of the view of a unique whole”.3 The process of constituting the landscape through the creative activity of the subject is associated with sensitivity to a specific point of view. This leads to thoughts about the second component of the cultural landscape, which is the transformation of the relationship between the subject and the landscape. The change consists in the transition from an observational position to a participatory one; from a static to a dynamic one. In 1 R. Nycz: Kultura jako czasownik. Sondowanie nowej humanistyki. Warszawa 2017, p. 87. The title of this article refers to the phrase that Nycz in the heading for a section of his book: Percepcja w działaniu. Casus krajobrazu kulturowego [Perception in action. The case of the cultural landscape]. Ibid., pp. 83–96. 2 See, for example: B. Frydryczak: Krajobraz. Od estetyki the picturesque do dos´wiadczenia topograficznego. Poznan´ 2014. 3 R. Nycz: Kultura jako czasownik, (note 1 above), p. 88.

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cultural landscape, the relationship based on the opposition of external, “readymade” individuals is replaced by the “internal differentiation of interacting elements”: the landscape and the subject.4 The third feature of the cultural landscape is the mediational causative relationship, which shapes the forms of presence and activity of both the subject and the landscape. “Unique systems of man-in-the-environment” are created through agency: through organizing and selecting, which cause the inclusion of some elements, commemoration and forgetting, making the past present and obliterating its traces.5 The category of the cultural landscape has also been used in literary studies.6 I also want to use it here, in an attempt to examine the “verb”7 dimension of the landscape in Monika Sznajderman’s Pusty las, i. e., a dimension related to the activity of the subject.8 In this work, the key role is played by the question: “What am I doing here?”, which signals a multidimensional action related to getting to know a specific place and dwelling in it. In this article, I will present the cultural landscape of the Low Beskids as shown by Sznajderman. I will draw attention to the elements that constitute it: the topographic experience, a kind of archaeology of the landscape, and to the discovering of traces of the past and the genius loci. I will argue that in this case the relationship between the subject and the landscape has an ethical dimension and can be perceived as a modern form of engagement.9

What am I doing here? Pusty las (like Monika Sznajderman’s earlier publication, Fałszerze pieprzu [Counterfeiters of Pepper])10 eludes generic classifications. The book is an autobiographical work and can be considered an essay or a reportage. Some passages read like anthropological and ethnological studies. But even though it raises doubts, what seems certain is that the question “Well, so what am I doing here?” (Pl, p. 30) plays a key role in it, as pointed out by almost everyone who has written about the book. Pusty las relates this question to the search for identity11 and to 4 5 6 7 8

Ibid., p. 89. Ibid., p. 96. See for example: Krajobraz kulturowy. Eds. B. Frydryczak, M. Ciesielski. Poznan´ 2014. See E. Rybicka: Krajobraz. Krótkie wprowadzenie. In: “Herito” 19 / 2015, pp. 12–21, here p. 17. M. Sznajderman: Pusty las. Wołowiec 2019. Quotes from this work are marked with abbreviation Pl. 9 I am close to the position that combines involvement with the ethical turn – E. Rybicka: Od dos´wiadczenia nowoczesnos´ci do dos´wiadczenia innos´ci (Kilka pomysłów do moz˙liwej antropologii literatury). In: Nowoczesnos´c´ jako dos´wiadczenie. Analizy kulturoznawcze. Eds. A. Zeidler-Janiszewska, R. Nycz, B. Giza. Warszawa 2008, pp. 49–62. 10 M. Sznajderman: Fałszerze pieprzu. Historia rodzinna. Wołowiec 2016. 11 R. Sulima (Pl, fourth page of the cover).

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existential reflection.12 “What am I doing here?” say readers echoing the author; this question is used as the title of meet-the-author events with Sznajderman.13 I admit that I cannot forget this sentence either, and for this reason I will repeat it by quoting the following passage, which supplies a broader context: “So what am I doing here?” I often ask myself when, early in the evening, silence has surrounded me, and moisture and fog come from the meadows, the fog so thick and gray that you couldn’t tell a dog from a wolf, and you feel sadness, trembling, and fear. And then I think that language makes me ask this question and not without reason, that it is not by chance that language makes me ask myself this question – after all, we are all subjects of speech, and not the other way around – rather than, for example, “Why am I here?”. Because the words “work”, “to do/to work” in Old Polish and in a few kindred Slavic languages are associated, not only with slavery, serfdom and the word “farmhand”, but also with toil and caring, with being useful and with cultivation (Pl, p. 30).

The idea of “work” that the book refers to has both a literal and a symbolic dimension. Read in a biographical context, the narrative is an account of several decades spent in the Low Beskids. Sznajderman is trying to understand what made her leave the capital and move to the provinces. She writes about the subsequent houses in the former Lemko villages: Olchowiec, Czarne, and Łosie (Pl, p. 9), where she had lived before she found her own place in Wołowiec. She describes the beginnings of the Czarne publishing house, which, along with her husband, Andrzej Stasiuk, she has run in separation from the “center”. She recalls her daily work; she records changes in the environment. The “work” of writing consists in collecting stories, in retelling histories of the inhabitants, reconstructing the history of the place from the scanty existing records: the information found in archives, her own observations, and stories she was told. This perception of a place in action is associated with the production of it in the form of a narrative. Dwelling is here a process, a reflection on life, on its essence: “But to dwell once is not enough; the action of dwelling must be renewed; it is necessary to dwell again and again; every day, from the morning on, one has to bustle and to clean up […]” (Pl, p. 28). Referring to Jolanta Brach-Czaina’s essay,14 Sznajderman writes: “By dwelling bustlingly we resist non-existence; we establish the world. This is our private, domestic cosmogony” (Pl, p. 28): 12 G. Wysocki: “Pusty las” Moniki Sznajderman to ksia˛z˙ka o nieobecnych i zapomnianych sa˛siadach, którzy “zrobili jej miejsce” [online]. https://www.wysokieobcasy.pl/wysokie-obca sy/7,157211,24822870,gdzie-sie-podziali-moi-sasiedzi.html [15. 09. 2020]. 13 M. Mellerowska: No wie˛c co ja tu robie˛? O ksia˛z˙ce “Pusty las” Moniki Sznajderman [online]. https://www.klubtygodnika.pl/no-wiec-co-ja-tu-robie-o-ksiazce-pusty-las-moniki-sznajder man [15. 09. 2020]. Co ja tu robie˛? Góry Moniki Sznajderman [What am I doing here? Monika Sznajderman’s Mountains] – this was the title of a meeting with Monika Sznajderman which took place during the XXV Mountain Festival in La˛dek-Zdrój on 19. 09. 2020. Cf. https://festi walgorski2020.sched.com/speaker/monika_sznajderman.21df9580 [19. 01. 2021]. 14 J. Brach-Chaina: Szczeliny istnienia. Kraków 1999.

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And so I toil, I take care of things, and I cultivate; I bustle and I clean; I plant and mow. To the landscape in which I live, I add new elements and with every gesture, no matter how tiny, I change it forever. In various ways, I sculpt in the matter of my village. Onto the lasting existence of its former inhabitants, I add the layer of my own existence; onto their traces I add my own. I create the present for those who will come after me (Pl, p. 30).

In addition, thanks to references to Martin Heidegger’s essay Building, Dwelling Thinking, the history of Sznajderman’s settling down and the history of the Wołowiec area are set in the philosophical context of dwelling thinkingly as the way in which mortals inhabit the earth (Pl, pp. 27–28).15

“Here” – in “Poor Low Beskids” The storyteller in Pusty las emphasizes issues related to acting in a particular place. This allows us to stress the word “here” (tu) in that fundamental question. This pronoun indicates the place around which the author bustles, which is why it seems justified to analyze this work from the perspective of geopoetics, which foregrounds geographical, performative, and anthropological aspects of literary works.16 In the light of this approach, literature is understood “as a causative act, as an action that changes reality and actively affects the geographical space, both in the material and in the immaterial sense”. Geopoetics stresses the importance of the relationship between the subject and the place17 and the role of the cultural landscape.18 This context helps us to clarify the key question: “So what am I doing here, in the Low Beskids?” Sznajderman writes about the mountain range which, according to its name, is the lowest and at the same time the most extensive part of the Beskidy Mountains. Its core is: […] the main Carpathian ridge in the area of approx. 100 km from the Tylicka Pass (683 m) to the Łupkowska Pass (640 m). In the west, the valleys of Mochnaczka and Kamienica Nawojska separate it from the Beskid Sa˛decki, and on the Slovak side, the valley of the Sekcˇov stream from the Czerchowskie Mountains. In the east, the Low Beskids is separated from the Western Bieszczady Mountains by the valleys of Osławica

15 M. Heidegger: Building Dwelling Thinking. In: Idem: Poetry, Language, Thought. Trans. A. Hofstadter. New York 1971 [online]. http://faculty.arch.utah.edu/miller/4270heidegger.pdf [12. 02. 2021]. 16 E. Rybicka: Geopoetyka. Przestrzen´ i miejsce we współczesnych teoriach i praktykach literackich. Kraków 2014, pp. 106–111. 17 Ibid., p. 107. 18 Ibid., p. 410.

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and Osława on the northern side of the main ridge and Laborca on the southern side. This is also the border between the Western and Eastern Carpathians […].19

The issue of height, or rather lowness, is important because it affects the way of experiencing and valorizing the landscape of the Low Beskids. Yi-Fu Tuan states that in most languages, “Whatever is superior or excellent is elevated, associated with a sense of physical height”.20 In the area about which Sznajderman writes, there are no dangerous rocks or precipices; there are no lofty peaks. The name itself – as Paweł Lubon´ski notes – puts off rather than eliciting interest, suggesting that, because it is “low”, the Low Beskids is “probably worse and less interesting”.21 These are not mountains one climbs to admire extensive views, because most of the peaks are overgrown with forests. Rather, they are mountains where one walks through the valleys, which offer the best vantage points.22 It is mainly from this perspective that these mountains are presented in Pusty las. The narrator does not contemplate the peaks, does not write about climbing, does not look from above, but simply walks through the valleys and in the marshy forest, discovers old paths, wanders through a dormant village, visits cemeteries from the First World War, climbs passes on foot or drives through them to get to the other side of the Carpathians (Pl, pp. 50, 57f, 61, 70, 95, 111). This perspective is not from the outside, but from the inside. The person who reflects on the place is someone who is “here”. This author is interested in living “under the mountain peaks” (Pl, p. 48), in dwelling “at the foot of Mount Dania” (Pl, p. 21), “at the foot of Mareszka” (Pl, p. 52). Perhaps due to the already mentioned lowness of the Low Beskids, the space inhabited by people does not seem to be separated from the mountains. Hamlets and fields smoothly pass into hills, thus creating a whole, simply a landscape. Since the author – according to her own statement – does not survey the mountains with a panoramic view (Pl, p. 31), categories such as sublimity and picturesqueness turn out to have little interpretational usefulness. Her journeying along the roads and her efforts to find a home in the Low Beskids is rather connected with topographic experience, which – as Beata Frydryczak observes – is polysensory in nature.23 Sznajderman stresses that the way she perceives the local area engages all the senses:

19 W. Krukar: Najniz˙szy z Beskidów. S´rodowisko geograficzne. In: Beskid Niski. Przewodnik dla prawdziwego turysty. Ed. P. Lubon´ski. Pruszków 2012, pp. 17–34, here p. 17. 20 Y.F. Tuan: Space and Place. The Perspective of Experience. London / Minneapolis 1977, p. 37. Polish translation: Idem: Przestrzen´ i miejsce. Trans. Morawin´ska. Introduction by K. Wojciechowski. Warszawa 1987, p. 55. 21 P. Lubon´ski: Czego szukac´ w Beskidzie. Przegla˛d walorów turystycznych. In: Beskid Niski, (note 19 above), pp. 41–46, here p. 41. 22 Ibid., p. 44. 23 B. Frydryczak: Krajobraz, (note 2 above), pp. 223–234.

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[Perception which engages – E.D.] not only the eyesight, but also the smell, the taste and the hearing, abolishes the Cartesian mind-body dichotomy. It causes memories to get stored at the bottom of the eye and memory to take on a material form in the body. When I climb across the meadow up to the ridge of Mareszka, my legs hurt; lying in bed in the evening I can recall this experience. I know which deer live in which ravine and where thyme, oregano, and mint have the most intense smell; I bring these smells with me wherever I go. I know where the bird cherry grows, also called trzes´nia or hackberry, and how its fruits taste. I know the way a nearby village as it is waking up and from which direction the evening lowing of cows will come. I recognize the dogs by their barking and newborn lambs in the spring by their bleating. My ear infallibly captures every unusual sound, my eye an image, and my nose a smell. I know where the springs gush out, where marigolds and reeds grow, and where the ground is always boggy and where it is as dry as pepper (Pl, p. 31).

Perception is sensory engagement, probing the world around, establishing relationships with it, entering into psychosomatic interactions: “The bodily is intertwined with the incorporeal; the landscape fills every human tissue” (Pl, p. 32). Sznajderman describes this bonding in the following way: I look around; I listen; slightly tense, vigilantly, I register every sound, smell and movement. A twig crackles somewhere in the forest. A screech of magpies nearby. The mushroom smell of wet beech trees. The ground, although rocky, is also clayey and muddy here; my shoes leave tracks in it. As I walk along the creek, wading in the leaves, jumping over fallen trees and tripping on stones; as I trample along long-unused paths, wide or narrow – [everywhere] I leave a piece of me on them and take with me a piece of them in return. […] I imagine then that a lump of damp earth stuck to the sole of my shoes combines with blood, like oxygen, and passes through the bloodstream up to the places where it will find shelter – as long as the body has enough life, as long as there is enough memory (Pl, pp. 31f).

The narrator does not take possession of the area, but rather participates in the landscape; leaving her own mark, she establishes a psychosomatic relationship with the landscape and constitutes it in her own action.24 Frydryczak states that “entering the landscape” requires “not only being here and now, but bodily presence and full sensory engagement”.25 The cultural landscape of the Low Beskids represented in Sznajderman’s work is constituted by the type of engagement described by Frydeyczak and, moreover, by the components of the topographic experience: the topography of the area, the emotional response to its mood, and the subconsciously felt stimuli. Sznajderman mentions numerous 24 Ibid., p. 217–234. 25 Ibid., p. 226. Frydryczak’s understanding of the topographical experience derives from A. Berleant’s aesthetics of engagement: Art and Engagement (Philadelphia 1991). Polysensory experience is an essential element of contemporary definitions of landscape. See J. Wylie: Landscape. In: The Dictionary of The Human Geography. Ed. D. Gregory [et al.]. Cornwall 2009, p. 409.

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local names and oronyms. The book is accompanied by a “contemporary map of Wołowiec and the surrounding area”, which is a clear invitation for the reader to “enter the landscape”.26 This personalized map includes the places named in the story, thus helping the reader to visualize the hiking trails and to locate the stages of the author’s settling in the Low Beskids. The map has marked on it both existing towns (e. g., Gorlice, Szymbark) and non-existent ones (e. g., Banica, Lipna), as well as peaks (Sucha Góra) and passes (Małastowska, Beskidek). Sznajderman explains the etymology of the names. For example, she tells us about Wallachian shepherds who, as they wandered, successively inhabited the different valleys, leaving traces in the language. This is the origin of the words “przysłup”, “magura”, “kiczera” and of the names Mareszka and Uherec (Pl, p. 53). The need to specify the place through detailed toponymy has to do with the fact that the Low Beskids is a range that is still relatively obscure and lacks a distinct literary legend in Polish culture, unlike the Bieszczady Mountains, not to mention the Tatras. The cultural archive, as part of the texture of these mountains,27 is modest: Wołowiec knew little about the world, and the world knew little about Wołowiec. For Wołowiec is not Zakopane, and the Low Beskids is not the Tatras. No nineteenthcentury writer discovered the beauty of the pristine Carpathian Forest; no artist captured in his paintings the charm of those gentle wooded hills; no builder developed a Wołowiec architectural style (Pl, p. 82).

The participation of artists and scientists in the creating of the image of the lowest part of the Carpathian range was modest. Sznajderman therefore insists on the need to conserve the memory of the Hatelowiczs, Polanskis, and other clans who have dwelled as hosts here (Pl, pp. 32f), for it was they who made up the cultural landscape of this area. Among the few testimonies “which can be regarded as reliable” are works by Stanisław Staszic and Izydor Kopernicki. The latter described the region as a “purely mountainous country”, similar to the “neighboring Polish highlands”: “The same valleys wide and open along rivers and larger streams, and in the mountains, largely stripped of forests, the very same barren fields, covered with long rows of stones” (Pl, p. 83). Living in Wołowiec, Sznajderman adds that the old landscape of her village was indeed “rocky, bare, and naked” (Pl, p. 83): […] Mieczysław Orłowicz, in his Ilustrowany przewodnik po Galicji, Bukowinie, Spiszu, Orawie i S´la˛sku Cieszyn´skim [An Illustrated Guide to Galicia, Bukovina, Spisˇ, Orava and Cieszyn Silesia], writes about the Low Beskids, which he calls the Middle Beskids, that “it 26 B. Frydryczak: Krajobraz, (note 2 above), p. 40. 27 Cultural archive is a collection of “well-known representations, cultural codes, patterns of capturing space, and genre norms”; alongside experience and the imagination, it makes up the texture of the place. E. Rybicka: Geopoetyka, (note 16 above), pp. 173f.

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presents negligible interest for a tourist, has few forests, is densely populated, has low peaks, and little individuality”, while Wincenty Pol describes it as “infertile and overgrown”. For a long time, no one wanted to settle here: neither the people from the plains nor from the mountains, who, as Pol puts it, “clung to a truly mountainous land and to that freedom which the mountains offered them”. Poor Low Beskids. Sometimes in my mind I say this about it: “Poor Beskids”, a link between the rocky, charming Pieniny, full of “incomparable romantic appeal” and the hard-to-reach meadows of the Bieszczady Mountains, [it is] an unknown land, filled only with the daily toil of ordinary, unimportant people, and the daily struggle for survival (Pl, pp. 45f).

Writing about the other side of the weak cultural presence of the Low Beskids, Paweł Lubon´ski notes that thanks to the, of all the Polish mountains, this range has retained “the most authenticity” and avoided becoming “subordinated to the needs of a profit-oriented tourist industry”.28 Sznajderman also refers to the short history of tourist industry’s presence in the mountains close to her. In Pusty las, she quotes a passage from an article published in 1935 in “Wierchy”, whose author praises the region’s “modest and quiet beauty” (Pl, p. 84). Contemporary authors of tourist guides, as they try to convince their readers of the hidden charms of the Low Beskids, somehow “add extra value” to this range. Sznajderman is also conscious of the melancholy beauty of the region, but at the same time she comes “face to face” with the poverty of the place and people. She is definitely more interested in the inhabitants, who cultivate their small pieces of land. She sets other goals for herself and takes a broad view, taking into account also what seems to be invisible and forgotten. The most important reason for labeling the Low Beskids with the epithet “poor” seems to be the tragic fate of some of the inhabitants. Sznajderman speaks of “poverty” not only in the social or economic dimensions, but also in the historical and existential ones. Nycz emphasizes, after Tim Ingold, that the cultural landscape is actually “the idea of the existential experience of dwelling, taming, and settling in a neighborhood that has its own distinct temporality, and which has the status of a ‘work in progress’: as we change it, it changes us.”29 In Pusty las, time and the history of the place play an important role. Acting consists in analyzing the elements that make up the landscape as once composed by others; it involves documenting the obliteration brought about by history and an attempt to create the place anew for oneself and for others, who will dwell here in the future. The Poor Beskids has not always been empty – once it was bustling with “life, poor and hard as it may have been, but life all the same”:

28 P. Lubon´ski: Czego szukac´ w Beskidzie, (note 21 above), p. 41. 29 R. Nycz: Kultura jako czasownik, (note 1 above), p. 91. Nycz refers to T. Ingold’s The Temporality of the Landscape (In: “World Archeology” 25, 2 / 1993, pp. 152–174).

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In the summer and autumn, bonfires burned in the sloping fields. Peasants ploughed rocky plots of land using oxen, and the poorer ones would harness cows. There was the smell of fresh earth and manure. From the depths of the valley, from dawn to dusk, there was the din of human and animal noises. Today there is no more din, unless in the summer down by the river. There are no Greek Catholics, there are no Gypsies, there are no Jews (Pl, pp. 45f).

Like Jerzy Stempowski in the essay W dolinie Dniestru [In the Dniester Valley],30 Sznajderman is looking for traces of the past imprinted in the landscape: One can see that, just like nowadays, Nieznajowa was connected with Wołowiec by the road that goes through Zawoja. Today, however, it runs differently than before the war, indeed, than a few years ago. The stream itself constantly changes its course, and the road keeps changing accordingly. I still really like to walk this way. In the past, the road ran along a row of buildings, but now it leads into emptiness. And only here and there do I pass fruit trees gone wild (pear and plum trees hold up best, “almost every farmer’s house has plum trees around it”, as reported by “Gazeta Lwowska” on August 27, 1811), stone frames of wells, clumps of nettles (and where today there are nettles, there used to be manure, thus also a barn and a stable, thus life), and crosses and chapels. These are the only material traces of the past (Pl, p. 64).

Even in Switzerland, famous for its alpine landscapes, Stempowski was mostly interested in the man-civilized part of nature31; he analyzed the landscape “composed” by people.32 In her examination of scholars’ attempts to arrange issues related to the various definitions of the term, Beata Frydryczak states that landscape can be understood as “a spatial composition created by man in a specific area”. She also explains that landscape is not simply the world that we perceive but “a construction, a composition of this world”.33 In her book, Sznajderman emphasizes that the landscape of the Low Beskids has been “composed” by others: “I can live here, because the others are gone. They have left. They have left behind a void filled with memories and abandoned things. They have left a landscape that they had been creating for years” (Pl, p. 33). Like Stempowski, Sznajderman records and reads such traces as decaying tombstones, wild orchards, overgrown roads, and fields. Common to Stempowski, the emigrant essayist, and Sznajderman, the resident of Wołowiec, is also a sense of gratitude. Stempowski, the author of Ziemia bernen´ska, wanted to express his gratitude for the hospitality he experienced in Switzerland. Sznajderman feels 30 J. Stempowski: W dolinie Dniestru. In: Idem: W dolinie Dniestru i inne eseje ukrain´skie. Listy o Ukrainie. Ed. A.S. Kowalczyk. Warszawa 1993, pp. 21f. 31 A.S. Kowalczyk: O “Ziemi bernen´skiej”. In: J. Stempowski: Ziemia bernen´ska. Ed. A.S. Kowalczyk. Warszawa 1990, pp. 81–89, here pp. 82f. 32 See J. Stempowski: Z dziejów komponowanego pejzaz˙u. In: Idem: Ziemia bernen´ska, (note 31 above), pp. 36–44. 33 B. Frydryczak: Krajobraz, (note 2 above), pp. 44, 47.

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grateful for being able to compose an area in which she has been able to dwell, in which she is only a “late-coming guest”, “a newcomer from afar”. who “arranges her life in the way she chooses among the afterimages, upon the remnants of what’s gone”, “in a gesture that expresses a sudden realization of gratitude which must ‘invariably chase after the shadows while being painfully aware of the impossibility of recreating the dead world in its entirety’” (Pl, p. 34). Sznajderman also speaks about gratitude in an interview: “I have been thinking for a long time about writing something about Wołowiec and I decided that after thirty years spent living there – or should I say ‘here’ – I will write that something. [For I need] to show gratitude for being able to dwell there, for the fact that someone had prepared all this for us and then went away, thus making room for us.”34

“Contaminated landscape” Treated as a place of remembrance on which successive layers of human activities pile up, the cultural landscape also stores what is difficult, painful, and unwanted.35 The Low Beskids was affected by many tragedies: epidemics, famine, anti-Jewish pogroms, emigration, wars, the Holocaust, resettlements. “Battlefields took root in this earth” (Pl, p. 187). It is a “Lemko Atlantis” (Pl, p. 204). The emptiness of the area causes anxiety in the person describing it, but it also has an irrational attractive power: It is difficult to explain this feeling that when I first went to the Low Beskids, I wanted to keep going back there and then finally settle there permanently. It is difficult to explain this dark attractive power, which finally prevailed over all reason and threw me off the trajectory of an obvious life and pulled me out of Warsaw in favor of this remote wasteland with a dark past, a bumpy present, and an unpromising future. It caused me to make myself at home among some abandoned remnants, to make a nest among footsteps of the departed, to surround myself with their things and to give them a new meaning. It made me watch the happening of a new life (Pl, p. 24).

The awareness of the tragic tangle of history makes the process of settling an extremely problematic one. In a place whose genius loci is largely marked by emptiness, the question “So what am I doing here?” reverberates with an even stronger echo. Sznajderman wants to capture in words the emptiness left by the departed Jews, Lemkos, and Roma people. It is on their remains, in the meadow under Magura or in some other places, that “grass will grow, and the landscape 34 Na ła˛ce pamie˛ci. Z Monika˛ Sznajderman rozmawia Maciej Krupa. In: “Nowe Ksia˛z˙ki” 5 / 2019, p. 5. 35 E. Rybicka writes about the cultural landscape as a place of remembrance and mnemotopos: Krajobraz, (note 7 above), pp. 16f.

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will turn beautifully green” (Pl, p. 183). “Yes, green is innocent and at the same time the most ambiguous and the most dangerous of colors. Green should always arouse suspicion” (Pl, p. 187). During the Second World War, the “industrial death-dealing machine” was hard at work in this bucolic scenery (Pl, p. 187). Plants mask crime scenes; overgrown ruins complete the work of destruction (Pl, pp. 203f). Pusty las shows places where natural processes blur the memory of the past and places where traces of tragedy were deliberately erased. Landscapes like these – scenes of drama, often unknown, pushed out of consciousness, so many of which are found across Europe – Martin Pollack calls “contaminated”.36 Sznajderman dedicated her book to this Austrian writer (Pl, p. 5). She engages in dialogue with him (Pl, p. 183), responding to the call to critical thinking, to counteract the illusion and falsification of reality and to the naivety in seeing places. The author of Contaminated Landscapes recalls the Alpine massif of Grimming, which was the place of his happy childhood; his finding out about the history of this place revealed a “gloomy picture of horror”.37 Pollack mentions various landscapes that have lost “their supposed innocence”, mainly as a result of war events. Among them are the “green ridges of the Carpathians”.38 War cemeteries mentioned by Sznajderman testify to the fact that the Low Beskids is also a “contaminated landscape”. Necropolises from the First and Second World Wars are often marked as “memorials on tourist routes”.39 Soldiers’ graves tend to be anonymous. Many victims of epidemics or other mass tragedies have no graves at all. Sznajderman calls for the recognition of the value of a single life. Her “work” of writing restores individuality to the victims. Writing is thus a form of engagement, a protest against the treatment of victims as anonymous entities. And how many scenes of tragedy and death are camouflaged, “sunk” as it were, in a landscape that looks idyllic? Pollack analyzes how “contaminated landscapes” were formed; he describes the attempts to hide mass graves and crime (he writes, for example, about afforestation, or the planting of a forest, as a type of camouflage). He wonders: “What is it like to live close to or, in some cases literally on, graves?”40 Sznajderman echoes him and replies: “What am I doing here?” I often ask myself thoughtfully, when the gray hour comes, when you can’t distinguish a dog from a wolf, and shepherds herd sheep into the fold. M. Pollack: Skaz˙one krajobrazy. Trans. K. Niedenthal. Wołowiec 2014. Ibid., p. 10–12. Ibid., p. 15. Ibid., pp. 17f. On the other hand, as P. Lubon´ski writes, thanks to the fact that the importance of war cemeteries for the promotion of the region was appreciated, they began to be taken care of. P. Lubon´ski: Wielka Wojna w Beskidzie Niskim. Operacja gorlicka 1915 i cmentarze wojenne. In: Beskid Niski, (note 19 above), pp. 58–67, here p. 67. 40 M. Pollack: Skaz˙one krajobrazy, (note 36 above), p. 27. 36 37 38 39

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And I say to myself: “What do you mean what? I dwell. I live in an empty field and in an empty forest. In the meadow of memory” (Pl, p. 226).

Living in the “meadow of memory”, Sznajderman undertakes the “work” that consists in restoring memory. For Sznajderman, important are the people who create a landscape. She demands that they be remembered by enumerating the subsequent names and by reconstructing their narratives. Explaining the purpose of these activities, Sznajderman writes: […] I am trying to restore the past of the landscape and to restore the names and surnames to its creators, at least some of them, as many as possible, if only a few. Then, to some extent at least, they will cease to be that nameless, impersonal force that for centuries burned and cleared forests, ploughed and sowed, planted and harvested, and will become individual persons (Pl, p. 32).

Pollack notes that this kind of work is not about accurate data, because human dramas cannot be expressed in “bare numbers”. The names of the victims are more important, “because only thanks to them can individual stories be told, which is the indispensable condition of pulling these people out of oblivion and of passing on their narratives to the survivors and posterity”.41 Dealing “also” with “the dark side” of places is – according to Pollack – a necessity.42 In Sznajderman’s text, the cultural landscape, constituted, among other things, through the process of recalling painful matters, becomes an ethical obligation. It becomes a form of engagement in the sense which is increasingly coming to the fore in the new humanities. According to Judith Butler, the calling back of victims brings to light not only the finite nature of their lives, but also the fragility of the life that is still going on.43 Roma Sendyka, referring to these insights, emphasizes that paying attention to human fragility is effective “as long as it is put in a framework that will create an affect that has a political effect.”44 This researcher gives examples of activities that “triggered at least a sense of emotional closeness (if not more than that)”. They became a protest and an involvement “in the name of the dead”, but also “in the name of those who are still alive”. Since there are fewer and fewer human witnesses, the role of non-human, material witnesses is growing in importance: “the translator becomes the key person in this constellation as the creator of prosopopoeia, as someone who will translate the

41 Ibid., p. 45. 42 Ibid., p. 54. 43 J. Butler: Frames of War. When Is Life Grievable? London / New York 2009. Polish translation: Eadem: Ramy wojny. Kiedy z˙ycie godne jest opłakiwania. Trans. A. Czarnacka. Warszawa 2011, p. 57. 44 R. Sendyka: W imie˛ zmarłych: humanistyka forensycznej wraz˙liwos´ci i publicznej prawdomównos´ci. In: Nowa humanistyka. Zajmowanie pozycji, negocjowanie autonomii. Eds. P. Czaplin´ski [et al.]. Warszawa 2017, pp. 112–121, here p. 115.

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materiality of the object into a narrative”.45 In the Low Beskids, those who could talk about what happened here are no more. Mountains, forests, and fields are the silent witnesses. Therefore, Sznajderman speaks on behalf of the absent and the mute. She takes on the role of a translator and an orator. By bringing the empty space into view, she makes the stories of the inhabitants familiar. She works for the memory of the victims and thus opposes the illusions that the Low Beskids is nothing more than a picturesque place, a mountain range that sustained relatively little destruction at human hands, fascinating only for sophisticated tourists.

Tenderness I like to walk here in late autumn, when there is emptiness around, because everyone has left, former residents years ago, summer vacationers weeks ago, and now I can think that I am completely alone and only my gaze supports what surrounds me in its fragile existence (Pl, p. 66).

In conclusion, I would like to compare the above confession from Pusty las with a passage from Olga Tokarczuk’s Nobel lecture: Tenderness is deep emotional concern about another being, its fragility, its unique nature, and its lack of immunity to suffering and the effects of time. Tenderness perceives the bonds that connect us, the similarities and sameness between us. It is a way of looking that shows the world as being alive, living, interconnected, cooperating with, and codependent on itself. Literature is built on tenderness toward any being other than ourselves. It is the basic psychological mechanism of the novel.46

Understood in this way, tenderness is the basic psychological mechanism in Sznajderman’s story:47 tenderness for people and “contaminated”, decomposed places. In the stories that sustain the fragile existence and fill the emptiness of the Low Beskids, I find an engagement whose expression and result is an interesting cultural mountain landscape. On the one hand, the Low Beskids has been clearly marked in Pusty las, for example through specific topographical references and through drawing attention to elements that evoke the trope of the mountains (representing them as inaccessible, silent, empty, quiet, etc.). On the other hand, the region remains in the background; it does not overwhelm, like other mountains, with its vastness, its materiality or its myth. The landscape is not 45 Ibid., pp. 119f. 46 O. Tokarczuk: Nobel Lecture. Trans. J. Croft, A. Lloyd-Jones [online]. https://www.nobelpri ze.org/uploads/2019/12/tokarczuk-lecture-english-2.pdf, pp. 24f [9. 09. 2021]. 47 This element of Sznajderman’s story was highlighted by Paweł Próchniak and Roch Sulima in the words found on the cover of Pusty las.

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ready or finished, but is being produced as part of a story about an empty, “contaminated” space. It becomes not only a “generator of questions about our place in the world”,48 but also about tenderness, about humanistic responsibility towards the past and the future. In short – the Low Beskids in Pusty last is an inhabited space, and the process of constituting the cultural landscape of this mountain range arouses anxiety in that it forces us to look with awareness and to register the dark, history-related side of the place. The way in which Sznajderman writes about this place is a literary intervention in the common consciousness. It is an action that has an ethical dimension. It is a call for commemoration, a protest against oblivion and indifference, against unreflective gazing at the green slopes of the mountains. It is a modern form of engagement.

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48 E. Rybicka: Krajobraz, (note 7 above), p. 20.

“Perception in Action” and Engagement

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Keywords: Pusty las [Empty Forest], Monika Sznajderman, cultural landscape, the Low Beskids, engagement

Paweł Tomczok (Schlesische Universität in Katowice)

Literarische Anästhetika und ihre Überwindung

Die Betrachtung der Auseinandersetzungen mit Engagement ist es wert, um eine Diskussion der Gegensätze dieses Begriffs ergänzt zu werden. Scheinbar kann dieser Platz von reiner, autonomer, selbstbezogener Kunst eingenommen werden. Aber in Wirklichkeit wird es etwas ganz Anderes sein – der Gegensatz zum Engagement ist Passivität, Resignation, Zynismus und Desensibilisierung gegenüber sozialen Problemen. Die Krise der modernen emanzipatorischen Programme, die sich in zahlreichen Diagnosen vom Ende der Utopie und dem Ende der Geschichte ausdrückte, ging einher mit der Vertiefung der neoliberalen Veränderungen in der Gesellschaft, die sich unter dem Einfluss der von Naomi Klein beschriebenen Schocktherapien1 in einer Situation der Desintegration, der Anomie, der Reduktion auf Individuen und Familien und damit in einem System wiederfand, in dem es, wie es Margaret Thatcher verkündete, „so etwas wie Gesellschaft nicht gibt“. Engagement muss mit der Ausgangsposition der Passivität und Gleichgültigkeit rechnen – diese Position lässt sich als Anästhetik bezeichnen, als die von Wolfgang Welsch beschriebene Desensibilisierung, die von der postmodernen Ästhetisierung von Leben und Raum gefordert wird. In den ersten Teilen dieses Beitrags werde ich theoretische Analysen der neoliberalen Melancholie und Resignation, Welschs Anästhetik sowie die literaturkritische Passivitätsdiagnose von Przemysław Czaplin´ski erörtern. In den darauffolgenden Teilen möchte ich vier Beispiele für die literarische Überwindung der Anästhetik betrachten – vier Versuche, die in ganz unterschiedliche Richtungen gehen, die vielleicht aber auch deswegen als Ausdruck eines neuen Engagements interessant sein können. Das erste Beispiel bildet die Essayistik von Jarosław Marek Rymkiewicz, die Bilder vom Erhängen heraufbeschwört. Obwohl dies nur andeutungsweise und allegorisch geschieht, kann kein Zweifel daran bestehen, dass die revolutionären Affekte auch für die Gegenwart gelten. Das wichtigste Element des Wandels im 1 N. Klein: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Übersetzt von H. Schickert, M. Bischoff, K.H. Siber. Frankfurt am Main 2007.

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anästhetischen Denken ist das Buch Kinderszenen, das eine engagierte Vision des Warschauer Aufstandes darstellt. Das zweite Beispiel für ein neues Engagement liefert Olga Tokarczuks Roman Der Gesang der Fledermäuse, der als eine Erzählung über Rache und das Töten des Feindes – in diesem Fall der Jäger – behandelt wird. Die letzten beiden Beispiele beziehen sich auf das Problem der Reprivatisierung: In Szczepan Kopyts Gedicht Kto zabił Jolante˛ Brzeska˛ [Wer hat Jolanta Brzeska getötet?] tritt eines der wichtigsten Verbrechen der Dritten Republik Polen in den Vordergrund, während in Sylwia Chutniks Roman Cwaniary [Schlaubergerinnen] das Problem der Rache der Reprivatisierungsopfer erscheint. Das Ziel des Artikels wird es daher sein, zwei Diskurse zu analysieren, die in den polnischen Auseinandersetzungen der letzten dreißig Jahre deutlich präsent sind. Der Anästhetik-Diskurs entschärft soziale Konflikte, führt aber zur Entsubjektivierung untergeordneter Gruppen, denen die Möglichkeit genommen wird, ihre eigenen Probleme zu artikulieren. Der Engagement-Diskurs stellt die Handlungsfähigkeit durch die Phantasie davon wieder her, der Akteur zu sein, das Subjekt einer gerechten Gewalt zu werden, die es erlaubt, die eigene soziale Stellung zu artikulieren und zu versuchen, sie zu verändern.

Neoliberale Übungen in Entmutigung Infolge der schockartigen Veränderungen, die von den Befürwortern des neoliberalen Kapitalismus2 durchgeführt wurden, haben viele soziale Gruppen Erniedrigung und Arbeitslosigkeit erfahren, während sich folgende Generationen von Arbeitnehmern in einer existenziell schlechteren Lage wiederfanden als die Generation ihrer Eltern. Einige Autoren haben Psychopathologien des späten, neoliberalen oder kognitiven Kapitalismus diagnostiziert. In einer der wichtigsten Arbeiten zu den kulturellen Bildern der Krise der neoliberalen Gesellschaft hat Mark Fisher die sozialen Ursachen der Depression beschrieben, in die viele Menschen geraten.3 Traumatische Erfahrungen von Unsicherheit, wirtschaftlicher Gewalt, Entwürdigung und Arbeitslosigkeit versetzen das Subjekt in eine depressive Lage – und zerstören seine Handlungs- und Widerstandsfähigkeit. Peter Sloterdijk stellt Folgendes fest: „Psychologisch läßt sich der Zyniker der Gegenwart als GrenzfallMelancholiker verstehen, der seine depressiven Symptome unter Kontrolle hal2 Zum Thema Neoliberalismus siehe D. Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Übersetzt von N. Kadritzke. Zürich 2007. 3 M. Fisher: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Übersetzt von P. Scheiffele, J. Springer, Ch. Werthschulte. Hamburg 2013.

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ten und einigermaßen arbeitstüchtig bleiben kann“4 (KdzV, S. 36f). Während eine depressive Haltung die Fähigkeit zum engagierten Widerstand auslöscht, bedroht sie gleichzeitig, wenn sie zur Krankheit wird, den Erhalt der Arbeitsfähigkeit. Diese Bedrohung sollte durch ein zynisches Bewusstsein gemildert werden, wie Sloterdijk hinzufügt: Zyniker „wissen, was sie tun, aber sie tun es, weil Sachzwänge und Selbsterhaltungstriebe auf kurze Sicht dieselbe Sprache sprechen und ihnen sagen, es müsse sein“ (KdzV, S. 37). Die neoliberale Ideologie, vor allem in der von Francis Fukuyama propagierten Version, hat es geschafft, den Eindruck der Notwendigkeit des Endes der Geschichte zu erwecken, in der es sich nicht lohnt und sogar unmöglich ist, etwas zu ändern, weil das bestmögliche politische System, d. h. die liberale Demokratie, bereits gefunden wurde, und die Zukunft nur in der Übernahme dieses Systems durch nachfolgende Länder bestehen kann.5 Der amerikanische Politikwissenschaftler und Philosoph nutzte die Analogie zwischen wissenschaftlich-technischer Entwicklung und sozialem Fortschritt, um zu zeigen, dass es nur eine Richtung der politischen Geschichte – genau wie in der Wissenschaft und Technik – gibt, welche zu der bereits erwähnten liberalen Demokratie führt, die gewaltsame Konflikte beruhigen und alle sozialen Probleme lösen wird. Die Geschichtsphilosophie vom Ende der Geschichte nahm dem Einzelnen die Verpflichtung ab, seine eigene Zukunft zu erfinden, für eine bessere Welt und Gerechtigkeit zu kämpfen. Im Gegenteil, es wurde eher argumentiert, dass es nichts zu kämpfen gäbe, da alle Streitigkeiten und Probleme dank des Wissens von Spezialisten, insbesondere neoliberalen Ökonomen, gelöst werden könnten. Der neoliberale Neusprech oder die Sprache des Liberalismus6 erlaubten es, diese geschichtsphilosophischen Überzeugungen in ein kohärentes ideologisches und argumentatives System umzuformulieren, das das Publikum systematisch für das Wissen über soziale Probleme desensibilisierte und von Engagement und Hilfe für andere abhielt. Das Schlüsselelement dieser Rhetorik waren auch die Massenmedien, gefüllt mit einer unüberschaubaren Menge an Informationen und Bildern, denen der Rezipient gleichgültig gegenüberstehen musste. Dieser ideologisch-mediale rhetorische Komplex schuf die Effekte der Passivität, dank derer Revolten und Einwände gegen Veränderungen, die für die große Mehrheit der Gesellschaft ungünstig waren, begrenzt wurden.

4 Nachfolgende Zitate, die mit dem Kürzel KdzV gekennzeichnet sind, beziehen sich auf die Ausgabe: P. Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. 2 Bde. Frankfurt am Main 1983. 5 F. Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? Übersetzt von H. Dierlamm. München 1992. 6 Vgl. A. Bihr: La Novlangue néolibérale, la rhétorique du fétichisme capitaliste. Lausanne 2007; T.S. Markiewka: Je˛zyk neoliberalizmu. Filozofia, polityka i media. Torun´ 2017.

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Die Anästhetik Wolfgang Welschs Die postmodernen Ästhetiken verkündeten das Ende des avantgardistischen Denkens und einer Kunst, die sich der – oft utopischen – Veränderung der ganzen Welt verschrieben hatte. Für postmoderne Autoren sollten diese Revolutionsansprüche immer signalisieren, dass wir es mit einem „hemmungslosen Geist“7 zu tun haben, der kühne Projekte aufbaut, deren Folgen aber auf eine totalitäre Katastrophe zusteuern. Zu den wichtigsten Kategorien, die die postmoderne Transformation der Ästhetik beschreiben, gehört der Begriff der Anästhetik, der nach Wolfgang Welsch in dialektischer Spannung zur Ästhetik steht. Während die Ästhetik auf der Fähigkeit der Wahrnehmung beruht, hebt die Anästhesie diese „Elementarbedingung des Ästhetischen“8 auf (ÄuA, S. 68), es betäubt gegen das Übermaß an ästhetischen Eindrücken, die der Rezipient nicht mehr ertragen kann oder die leer erscheinen. Auf der psychischen Ebene erzeugen die Anästhetisierungen eine „leerlaufende Euphorie und einen Zustand trancehafter Unbetreffbarkeit. Coolness – diese neue Tugend der achtziger Jahre – ist ein Signum der neuen Anästhetik: Es geht um Unbetreffbarkeit, um Empfindungslosigkeit auf drogenhaft hohem Anregungsniveau“ (ÄuA, S. 71). Die Anästhetik setzt also die Fähigkeit, Gefühle zu erleben, außer Kraft, hat aber gleichzeitig die Struktur einer intensiven Erregung. Allerdings schließt die affektive Erregung, so Brian Massumi, die Möglichkeit der emotionalen Empathie aus, die zum Handeln und Engagement anregen könnte. Die Anästhetik ist auch mit der zunehmenden Bedeutung der Massenmedien, der Allgegenwart der Bildschirme verbunden, so dass, laut Welsch, „Ethik zum telegenen Zitat [wird] und […] Solidarität [gibt es] primär als gemeinsames Benutzerverhalten einer televisionären Solidargemeinschaft“ (ÄuA, S. 72). Die Ästhetisierung von Kommunikation, Medien und Kultur bedeutet, dass auch die Anästhetisierung dieser Bereiche fortschreitet. Das Übermaß an Bildern und Informationen, das uns begegnet, blockiert unsere Handlungsfähigkeit und zwingt uns, uns zu wappnen und zu panzern, „damit das Chaos der Reize uns nicht zu Staub zermahlt. Konzentration – im Alltag wie im Museum – verlangt heute enorme Abwehrleistungen“ (ÄuA, S. 75). Die stoische oder zynische Abwehr des Übermaßes an medialen Eindrücken steuert also nicht so sehr auf die Konstitution des Subjekts zu, sondern eher auf die Entsubjektivierung. Die Aufhebung der Fähigkeit, Gefühle zu erleben, sich in die wahrgenommene Realität einzufühlen, eliminiert das Subjekt, das sich aktiv in der 7 M. Lilla: Der hemmungslose Geist. Die Tyrannophilie der Intellektuellen. Übersetzt von E. Liebl. München 2015. 8 Direkt im Text gekennzeichnete Zitate beziehen sich auf die Ausgabe Wolfgang Welsch: Ästhetik und Anästhetik. In: Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard. Hrsg. W. Welsch, Ch. Pries. Weinheim 1991, S. 67–87.

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Politik engagieren kann. Stattdessen wird ein passiver Zuschauer des Spektakels9 eingeführt, der intensive Emotionen erlebt, aber eigentlich von der Welt distanziert ist. Die Anästhetik beschreibt definitiv mehr als nur den Prozess der Transformation von Kunst, Raum oder Medien. Sie bezieht sich auf die Blockade der politischen Subjektivität, an deren Stelle ein passives Individuum tritt – der Konsument der neoliberalen Gesellschaft, begierig nach intensiven Reizen, aber unfähig zu tieferer Empathie, der Voraussetzung für politisches Engagement. Damit markiert die Anästhetik den Pol der neoliberalen Entpolitisierung und Neutralisierung – den Pol der Enthemmung, der Unfähigkeit zum Widerstand und zur Rebellion. Es ist wie eine Verlängerung der verschiedenen Stimmen der Ohnmacht, die einem ständig zuflüstern, dass etwas nicht getan werden kann, dass nichts gelingen kann, dass das Überschreiten des Systems nur ein naiver Wunschtraum ist.

Der Effekt der Passivität in der Kritik von Przemysław Czaplin´ski Neoliberale Übungen in Entmutigung nehmen verschiedene Formen an. Es ist in erster Linie ein mediales Training des Betrachtens von Bildern, die weder politisch noch emotional engagieren, sondern lediglich anregen sollen. In der Literaturkritik wurde die Erkundung der kulturellen Anästhetik vor allem von Przemysław Czaplin´ski in seinem Buch über den Effekt der Passivität vorgeschlagen.10 Eine Analyse der Prosa der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert führt den Posener Kritiker zu der These von der Suche nach liberaler, (klein)bürgerlicher Normalität, die aus der Diskreditierung aller Formen hervorgeht, welche über das Mittelmaß oder die Normalität hinausgehen. Die letztere Kategorie bildet den Gründungsmythos der Dritten Polnischen Republik, in der das „Normale“ als Gegenteil zum Totalitarismus fungieren soll (EB, S. 13), wenn man nicht zu den einfachen Formen des literarischen Engagements gegen das System zurückkehren will. Literatur, die sich auf die Seite der Normalität stellt, „erzeugt – nicht ohne unsere Zustimmung – den Effekt der Passivität. Genau den gleichen, den die Massenmedien erzeugen wollen“ (EB, S. 10). Die Massenmedien werden so zur Konkurrenz, aber auch zum Vorbild für die passivierende Literatur, die gegen die aktivierende Literatur kämpft. Was sind die Beispiele für solche literarischen 9 Den Begriff des Spektakels verwende ich in Anlehnung an die Analysen von Guy Debord (siehe G. Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Übersetzt von J.J. Raspaud. Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels. Übersetzt von W. Kukulies. Hrsg. K. Bittermann. Berlin 1996). 10 Direkt im Text befindliche Zitate beziehen sich auf die Ausgabe: P. Czaplin´ski: Efekt biernos´ci. Literatura w czasie normalnym. Kraków 2004.

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Anästhetika? Czaplin´ski erwähnt die Prosa von Wojciech Kuczok, in der er eine Aussöhnung mit der Welt und eine bürgerliche Resignation erkennt (EB, S. 68). Nach Ansicht des Posener Kritikers wird der literarische Effekt der Passivität in Piotr Siemions Roman Finimondo am vollständigsten realisiert. Darin wird eine populistisch-intellektuelle Sprache offenbar, die die Leser davon zu überzeugen versucht, dass sie „liberal, tolerant und zu Recht unpolitisch“ sein sollten (EB, S. 209), da die Politik als abstoßend und extrem entmutigend erscheint. Czaplin´ski sieht diesen Verzicht als „einen Schritt zur Spießigkeit“ (EB, S. 214), dazu, alle Elemente des politischen und sozialen Übels als etwas Dauerhaftes zu akzeptieren, das keiner Veränderung oder Reform unterliegt. Kritische Worte wurden auch gegen die Dramaturgie der Brutalisten gerichtet, die eine Gebrauchsanweisung für schwierige gesellschaftliche Probleme liefert – aber diese Gebrauchsanweisung ist nur für das Individuum gedacht, das Passivität lernen soll. Die Gebrauchsanweisung wirkt konformisierend, indem sie eher die passive Selbstzufriedenheit als die Fähigkeit zum Engagement verstärkt: Dank ihnen [den Brutalisten – P.T.] verlasse ich das Theater verändert, obwohl ich gleichzeitig genau derselbe bin. Ich habe nichts getan, ich will nichts an mir ändern, und doch entpuppe ich mich als ein dreifach wertvoller Mensch. Erstens bin ich sensibel, weil ich das Anderssein wahrnehme; zweitens bin ich tolerant, weil ich nicht versuche, das Anderssein auf die Seite der Normalität zu ziehen; drittens bin ich fast sublim tragisch – weil ich zur Passivität verdammt bin. Für den Preis meiner Eintrittskarte erhielt ich also ein dreifaches Zertifikat – der Sensibilität, Toleranz und Ohnmacht (EB, S. 206).

In seiner Kritik an der Dramaturgie der Brutalisten skizziert Czaplin´ski somit die Struktur der neoliberalen Anästhetik – die sich auf die Parolen der Toleranz und Freiheit bezieht, aber zu einer selbstzufriedenen Passivität neigt, die als notwendige Lösung für soziale Probleme akzeptiert wird, gegen die sich im Rahmen des kapitalistischen Systems wenig machen lässt. Welche Alternative schlägt Czaplin´ski in dem besprochenen Buch vor? Über die passivierende Literatur schreibt der Kritiker: „Diese Bücher fordern uns dazu auf, die Aktivitäten im öffentlichen Raum aufzugeben. Denn sie überzeugen uns davon, dass diese entweder von der Macht entfernt und daher machtlos sind, oder mit der Macht verbunden und daher schmutzig“ (EB, S. 184). Der Streit wird in der öffentlichen Sphäre ausgetragen, oder besser gesagt, er wird um die öffentliche Sphäre ausgetragen, die die Literatur als Ort der individuellen Teilhabe initiieren soll. Das aktivierende Potential der Literatur besteht darin, die Macht zu überschreiten und ihre Funktionsweise in alltäglichen, gewöhnlichen, normalen Situationen zu analysieren. In der öffentlichen Sphäre sollte es daher einen Platz für die Ausgeschlossenen, die Unterdrückten, die Opfer von Gewalt geben,

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und die Literatur sollte eine andere Perspektive auf diese Menschen einführen – eine Perspektive, die sich nicht auf die Publizistik reduzieren lässt.11 Die von Czaplin´ski formulierte Diagnose der Passivität stellt eine der wichtigsten Erkundungen über das Funktionieren von Literatur und Kultur in der neoliberalen Transformation dar. Sie umfasst die verheerenden Auswirkungen der mangelnden Beteiligung der Literatur am Verstehen und Beschreiben der Welt, sie kritisiert die verborgenen Machtverhältnisse. Doch das Engagement wird auf das Handeln in der öffentlichen Sphäre beschränkt, die selbst kritisiert werden kann. Die Ideale des Dialogs, des Gesprächs, der Verhandlung und der Verständigung, die der demokratischen Sphäre zugrunde lagen, haben sich in der neoliberalen Gesellschaft als unerfüllbar erwiesen. Denn die Kategorie der öffentlichen Sphäre verdeckt die ungleiche Teilhabe an ihr – und ist damit ein gefährlicher Mythos, der eher zur Ausgrenzung und Schwächung der Unterworfenen beiträgt, statt ihnen zu helfen, ihre eigene Position zu artikulieren. Diese naive Utopie der abstrakten Kommunikation war schädlich, weil sie die Tatsache verbarg, dass die Subjektivität im gesellschaftlichen Leben ungleich verteilt wurde. Während also einigen das Recht auf Gewalt genommen wurde, indem man sie zur freien Kommunikation ermutigte – wurde dieses Recht anderen im Übermaß gewährt, bei gleichzeitiger Bekräftigung ihrer mächtigen Stimme in der öffentlichen Sphäre. Ein Engagement, das auf der Überwindung der Anästhetik beruht, muss auch das Ideal der friedlichen Kommunikation in der öffentlichen Sphäre aufgeben. Es geht nicht so sehr darum, die Regeln der Diskriminierung zu analysieren, sondern sie aktiv zu bekämpfen, auch unter Anwendung von Gewalt. Die Literatur, die sich mit Gewalt beschäftigt, erklärt damit einen Bürgerkrieg – einen, der die ganze Zeit andauert, aber eine Seite wurde dazu gebracht, passiv und gleichgültig gegenüber der Niederlage ihrer Klasse zu bleiben, während die andere Seite, weniger zahlreich, aber mit der Unterstützung des Staates, der Medien und der Gerichte, ihren institutionellen Vorteil ausspielen kann. In den folgenden Abschnitten des Artikels werden Beispiele für Engagement auf der Grundlage von Gewalt, deren Lob und Aufwertung vorgestellt. Sie alle gehen davon aus, dass man die Passivität, die Desensibilisierung überwinden und aktiv werden muss – aber nicht in der öffentlichen Sphäre, sondern außerhalb der Grenzen des Gesetzes, wenn auch im Kampf für Gerechtigkeit.

11 Zur Wichtigkeit literarischer Diskussionen für den Aufbau einer öffentlichen Sphäre siehe J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied am Rhein 1962.

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Die Mobilisierung der Geschichte Die Tetralogie von Jarosław Marek Rymkiewicz, bestehend aus den Essays: Wieszanie, Kinderszenen, Samuel Zborowski, Reytan. Upadek Polski [Erhängen, Kinderszenen, Samuel Zborowski, Reytan. Polens Niedergang], gehört zu den wichtigsten Texten, die eine neue Sicht der Geschichte zum Ausdruck bringen. Die Verwendung der Mikrogeschichte, einer narrativen Quellenkritik, die nicht auf anerkannte Tatsachen reduziert, sondern als eine Vielzahl von in Dokumenten festgehaltenen Perspektiven bewahrt werden – erlaubt es, scheinbar nebensächliche, anekdotische Elemente der Geschichte in den Rahmen des geschichtsphilosophischen Essayistik einzubeziehen. In diesen Büchern versinkt Rymkiewicz jedoch nicht in der Vergangenheit, sondern behandelt sie als Botschaft für die Gegenwart. Er stellt die Frage nach dem Verrat – und nach der spontanen Bestrafung von Verrätern, die das Volk vornehmen kann, indem es Hinrichtungen organisiert. Es fällt schwer, in diesem Beispiel aus dem 18. Jahrhundert nicht einen klaren Imperativ für die Gegenwart zu sehen: Politische Handlungen sollten abgerechnet, Verräter und Patrioten identifiziert und Erstere bestraft werden. So wird die Idee des Todes in die öffentliche Sphäre eingeführt – als Einsatz nicht mehr in einem Dialog, sondern in einem politischen Kampf, der mit einem existenziellen Risiko verbunden ist. Das Programm des „symbolischen Einsatzes der Toten“12 wird in der Essayistik zum Warschauer Aufstand am ausführlichsten entwickelt.13 Viele historische Interpretationen der Nachkriegszeit proklamierten die Sinnlosigkeit, den Wahnsinn der Aufstandshandlungen, insbesondere bezüglich der Entscheidung der Führung der Polnischen Heimatarmee, den Aufstand ausbrechen zu lassen. Rymkiewicz versucht jedoch, wie viele der Beteiligten, den verlorenen Handlungen einen Sinn zu geben – und vollzieht sogar eine Art Umdeutung relativ offensichtlicher historischer Fakten. Er behauptet, dass das unabhängige Polen ein Beweis für den Sieg des Warschauer Aufstandes ist (RK, S. 157), und das Ereignis selbst nimmt die Ausmaße des größten Ereignisses in der Geschichte der Polen an (RK, S. 140). Ergänzt werden diese kühnen geschichtsphilosophischen Thesen durch Erklärungen einer inzwischen vergessenen Deutschenfeindlichkeit: „Wir scheinen den Deutschen zu schnell und zu leicht verziehen zu haben. Es gibt Dinge in der Geschichte, die man nicht verzeiht – niemals, denn es gibt keinen Grund zu verzeihen“ (RK, S. 156). Rymkiewicz schlägt auf die Politik der internationalen Versöhnung ein, indem er an den Wunden eines Kindes reißt, 12 Mehr dazu im Beitrag: P. Tomczok: Symboliczna mobilizacja umarłych. II wojna ´swiatowa w nekropolitykach Jarosława Marka Rymkiewicza i Przemysława Dakowicza. In: „Teksty Drugie“ 3 / 2020, S. 251–264. 13 Die im Text befindlichen Zitate beziehen sich auf die folgende Ausgabe: J.M. Rymkiewicz: Kinderszenen. Warszawa 2008.

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das sich aus seiner Kindheit an die Vertrautheit mit dem Wissen erinnert, dass „jemand mich ohne Grund umbringen will“ (RK, S. 175). Das Ausgesetztsein einer existenziellen Bedrohung, des Wahnsinns des Krieges, erlaubt es, die Notwendigkeit des Wahnsinns des Aufstandes zu verstehen, der einer existenziellen und würdevollen Selbstverteidigung gleichzukommen scheint. Indem er über den Aufstand schreibt, baut Rymkiewicz also einen Mythos der Beteiligung an einem großen historischen Ereignis auf, einer Beteiligung, die mit Risiko, Kampf und Gefahr zusammenhängt. Aber sie schafft auch eine Chance auf das Überleben der Gemeinschaft. Welche Bedeutung könnte der Aufstandsmythos heute haben? Klingt hier nicht das Bedürfnis eines gewaltsamen Kampfes um das eigene Land nach, damit es gerecht und gut für die Bürger ist? Rymkiewiczs historische Fantasie ist sicherlich etwas anderes als die bloße Beschäftigung mit der Vergangenheit. Die Geschichte dient nicht als Kostüm für die Gegenwart, sondern bietet die Chance, eine symbolische Verbindung mit den Toten herzustellen, die Kraft gibt, die aktuelle Situation zu bekämpfen. Und wie ein solcher zeitgenössischer Aufstand aussehen könnte, zeigt Sylwia Chutniks Roman Cwaniary [Schlaubergerinnen], über den ich in den folgenden Teilen dieses Artikels schreiben werde.

Tierische Rache Die Heldin von Olga Tokarczuks Roman Gesang der Fledermäuse14 erklärt: „Ich bat ihn um ein allgemeines Betäubungsmittel. ‚Es gibt sicher so etwas. Das hätte ich gerne. Damit ich nichts spüre, mir keine Sorgen mache und gut schlafe. Wäre das möglich?‘“ (GdF, S. 66). Der ganze Roman aber handelt von der Unmöglichkeit der Betäubung – und ist deswegen ein Beispiel für die Überschreitung der literarischen Anästhetik. Janina Duszejko kann sich nicht passiv und gleichgültig gegenüber dem Mord an Tieren durch Jäger verhalten – sie protestiert, erstattet Anzeige bei der Polizei und stört bei der Jagd. Ihr Handlungswille wird jedoch erst freigesetzt, als sie sich für den Tod zweier Hunde rächt, die heimlich von Jägern getötet wurden – wovon sie durch ein zufällig gefundenes Foto erfährt, das die Leichen ihrer Hündinnen und Jäger zeigt, die sich über die Resultate der Jagd freuen. Tokarczuk zeigt also, wie die Protagonistin auf eigene Faust den Mördern Gerechtigkeit widerfahren lässt – allerdings tut sie dies im Namen von Rehen, was die Motivation dieser Handlungen ein wenig von Rache zu Gerechtigkeit verschiebt. Die Idee der Gerechtigkeit tritt hier an die Stelle des Gesetzes, dessen Abwesenheit immer wieder betont wird. Die Provinz im Roman entpuppt sich als 14 Die im Beitrag befindlichen Zitate beziehen sich auf die Ausgabe: O. Tokarczuk: Gesang der Fledermäuse. Übersetzt von D. Daume. Zürich 2019.

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eine Welt außerhalb des Gesetzes, denn selbst die lokalen Behörden und Beamten sind in verschiedene kriminelle Aktivitäten verwickelt, wie z. B. den Schmuggel von illegalen Einwanderern. Die Schwäche des Gesetzes wird offensichtlich in Janinas unwirksamen Handlungen gesehen, aber die Unfähigkeit, sie zu bestrafen, signalisiert etwas mehr – in dieser Welt dient das Gesetz nicht einmal den Reichen, weil es so geschwächt wurde. Interessanterweise gilt dies auch für das im Neoliberalismus sakrosankte Recht auf Eigentum, wie ein Jäger erklärt: „Für uns gibt es kein privates Gelände“ (GdF, S. 137). Tokarczuk berührt hier ein wichtiges Problem, das in der sozialen Struktur der Jagd deutlich wird: Sie besteht aus einer privilegierten Gruppe von Männern, die durch illegale Interessen und Bestechungsgelder miteinander verbunden sind, und die Jagd selbst wird zu einem Medium der dunklen Ökonomie. Was hier tatsächlich stattfindet, ist eine Refeudalisierung des Kapitalismus, der einer schmalen Elite dient und den Rest der Gesellschaft ihres Status als Bürger beraubt, indem er sie eher in die Position von Untertanen versetzt. Die Gesellschaft besteht in Gesang der Fledermäuse aus einsamen, schweigenden Individuen – verwundeten Menschen, die in eine etwas vergessene Provinz abgeschoben wurden. Aber diese Gruppe von „jammervolle[n] Menschen“ (GdF, S. 157) ergreift am Ende des Werkes solidarisch Maßnahmen, um die Morde von Duszejko zu vertuschen – und es gelingt ihnen, während die Hauptfigur in eine abgelegene Forschungsstation gelangt. Die Hauptfigur erinnert sich: „Ich bin in einer schönen Epoche groß geworden, die leider schon vergangen ist. In ihr herrschte sowohl enorme Veränderungsbereitschaft als auch das Vermögen, revolutionäre Visionen zu entwickeln“ (GdF, S. 57). In diesem Roman versucht Tokarczuk, sich eine mögliche Überwindung einer friedlichen Epoche ohne revolutionäre Visionen vorzustellen. Dieser Transgression dient der Mythos der individuellen Gewalt, die das (leere) Gesetz transzendiert und Gerechtigkeit einführt.

Reprivatisierung Szczepan Kopyts Gedicht kto zabił jolante˛ brzeska˛ [wer hat jolanta brzeska getötet?] bezieht sich auf Władysław Broniewskis Bagnet na bron´ (Bajonett aufgesetzt) – obwohl zwei Zeilen direkt in das neue Gedicht übertragen wurden, gewinnen sie in einem anderen Kontext eine völlig neue Bedeutung. Während Broniewski trotz innerer Spaltungen zum gemeinsamen Kampf gegen den Eindringling aufrief, erklärt Kopyt den Bürgerkrieg und will damit soziale Spaltungen erkennen und verschärfen. Diejenigen, die „kommen, um das Haus in Brand zu stecken“, sind keine feindliche Armee mehr, sondern kapitalistische Banditen, die vom Staat, der Polizei, den Gerichten, den Medien (Zeitungen und

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Fernsehsender) unterstützt werden – den wichtigsten Institutionen der liberalen Demokratie, insbesondere ihrer wirtschaftlichen und intellektuellen Eliten. Die Anspielung auf Broniewski lässt das hinzufügen, was Kopyt ausgelassen hat. Das Kriegsgedicht ist gefüllt mit Parolen des militärischen Engagements: „Bajonett aufgesetzt“, „Blut ist vonnöten!“, „Kugel in den Kopf“, oder schließlich das Bewusstsein des mit dem Kampf verbundenen existenziellen Risikos: „Und wenn wir sterben sollten, / erinnern wir daran, was Cambronne sagte, / und sagen dasselbe an der Weichsel“. Die Anspielung auf Broniewski erlaubt es somit, einen Bürgerkrieg zu erklären, in dem man sterben kann, den man verlieren kann, aber es lohnt sich, ihn zu beginnen und man darf nicht aufgeben. An der Vertuschung des Mordes an Jolanta Brzeska und der Schaffung einer Lüge über die Selbstverbrennung waren viele demokratische Institutionen beteiligt. Und es ist die Erkenntnis dieses Komplexes, die zur Grundlage für die Erklärung des Bürgerkriegs gegen die liberalen Eliten wird. Engagement aufgrund von Reprivatisierungsskandalen taucht auch in Sylwia Chutniks Roman Cwaniary [Schlaubergerinnen] auf. Das Werk mag wie ein Pastiche von Narrationen über Rache, kollektives Handeln und Gerechtigkeit wirken. Aber diese populären Narrationen haben wenig mit kommerzieller Massenkultur gemeinsam, und viel mehr – mit Volksmythen über Rächer, die Gerechtigkeit dort wiederherstellen, wo das Gesetz versagt. Zum Subjekt der Rache und des Kampfes um Gerechtigkeit macht Chutnik vier Warschauerinnen, die aus unterschiedlichen urbanen Milieus kommen, aber in einem gemeinsamen Kampf vereint sind – gegen was? In den Vordergrund scheint die männliche Dominanz zu rücken – physisch markiert im städtischen Raum. In der literarischen Phantasie foltern Frauen viel stärkere Männer, vor allem solche, die Verbrechen begangen haben, welche in einem Rechtsstaat niemals bestraft werden. In den Schlussszenen taucht jedoch der Gedanke der Rache für Reprivatisierung, Verfolgung und Zwangsräumungen auf. Die Heldinnen töten Kossakowski mit Hilfe mehrerer Männer und verhängen so die Strafe für den Tod des verbrannten Opfers. Obwohl der Roman tragisch endet – mit dem Selbstmord der Hauptprotagonistin bei drohender Verhaftung – scheint die Gesamtbotschaft optimistisch. Es ist nämlich gelungen, den Kampf aufzunehmen und den Diskurs zu überwinden, der die Opfer zur passiven Versöhnung mit der eigenen Ohnmacht verurteilt. In ihrer Pastiche-Utopie hat Chutnik die Grenzen der politischen Vorstellungskraft um die Situation der subjektiven Handlungsfähigkeit von Frauen erweitert, die sich jenseits der Grenzen der Legalität organisieren, um dort Recht zu sprechen, wo das Gesetz es nicht tut. Besonders relevant für die Überwindung der Anästhetik erscheint die Schilderung der Vergewaltigung einer der weiblichen Hauptfiguren. Auf einer Mülldeponie in einer Großwohnsiedlung überfallen, erhält sie von niemandem Hilfe, und ein vorbeigehender Nachbar – der den Vergewaltiger unwissentlich ver-

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scheucht hat – bleibt gleichgültig gegenüber ihrem Leid. Die Gewalttätigkeit der vier Heldinnen entspringt gerade der Überwindung der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer Menschen – aber die Überwindung der Gleichgültigkeit bedeutet die Entscheidung, in eine direkte Auseinandersetzung einzutreten, den eigenen Körper der Möglichkeit des Verlierens auszusetzen. In Cwaniary vollzieht Chutnik eine geschichtspolitische Kehrtwende mit Schlüsselcharakter – der von vielen Kreisen belächelte Mythos des Warschauer Aufstands wird hier zur Inspiration, einen scheinbar aussichtslosen Kampf gegen den männlich-kapitalistischen Besatzer aufzunehmen, einen Kampf, der die Würde der Besiegten und Unterworfenen retten soll. Die aufständische Mythologie wird als Werkzeug der tatsächlichen Emanzipation abgefangen – die keine demokratische Tätigkeit innerhalb der Grenzen des Gesetzes sein kann (ein Verein, eine Stiftung, eine politische Partei), sondern eine gewaltsame Konfrontation mit dem Feind erfordert.

Fazit Der Schlüssel zur engagierten Transgression der neoliberalen Anästhetik sind Phantasien des Selbst als Subjekt der Gewalt – als handlungsfähiges Subjekt, das den Feind tötet, vernichtet. Die kapitalistische Ideologie verortet Gewalt in der Verteidigung von Recht und Normalität. Jede andere Gewalt wird delegitimiert, insbesondere die Gewalt, die die Struktur der sozialen und politischen Welt zu verändern versucht. Engagement muss die imaginative Möglichkeit von Gewalt außerhalb des Gesetzes, aber innerhalb eines Rufs nach Gerechtigkeit wiederherstellen. Die in diesem Aufsatz besprochenen literarischen Werke sind Transgressionen der neoliberalen Demokratie und der ihr zugeschriebenen öffentlichen Sphäre – sie sind auch Phantasien von Gewalt, die Gerechtigkeit dorthin bringt, wo das Gesetz im Interesse privilegierter Gruppen funktioniert oder gar nicht funktioniert. Guy Debord beschrieb den Kapitalismus als eine Gesellschaft des Spektakels – der Isolation, Entfremdung, Passivität. Die Literatur verfügt nur über die Produktion von nächsten Spektakeln, aber es ist möglich, sich von den negativen Auswirkungen der literarischen Spektakel zu entfernen. Analog zur Gewalt, die – nach Walter Benjamin15 – das Gesetz aufrechterhalten oder zerstören kann, ist das literarische Spektakel nicht dazu verurteilt, die gesell15 W. Benjamin: Zur Kritik der Gewalt. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Zweiter Band. Erster Teil. Hrsg. R. Tiedemann, H. Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 179–203. Ein weiterer wichtiger Kontext für die Betrachtung der Bedeutung von Gewalt im politischen Engagement ist die klassische Position von G. Sorel: Über die Gewalt. Übersetzt von A. Bolz. Hrsg. A. Bolz. Lüneburg 2007.

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schaftlichen Grenzen der Imagination aufrechtzuerhalten, sondern bietet die Chance, diese Grenzen zu überschreiten. In diesem Fall ist es gerade die Teilnahme am Spektakel der gerechten, wenngleich illegalen Gewalt, die die liberale Ordnung der Passivität durchbricht und eine Chance auf tatsächliches Engagement bietet.

Bibliografie Benjamin W.: Zur Kritik der Gewalt. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Zweiter Band. Erster Teil. Hrsg. R. Tiedemann, H. Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 179–203. Bihr A.: La Novlangue néolibérale, la rhétorique du fétichisme capitaliste. Lausanne 2007. Chutnik S.: Cwaniary. Kraków 2020. Czaplin´ski P.: Efekt biernos´ci. Literatura w czasie normalnym. Kraków 2004. Debord G.: Die Gesellschaft des Spektakels. Übersetzt von J.J. Raspaud. Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels. Übersetzt von W. Kukulies. Hrsg. K. Bittermann. Berlin 1996. Fisher M.: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Übersetzt von P. Scheiffele, J. Springer, Ch. Werthschulte. Hamburg 2013. Fukuyama F.: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? Übersetzt von H. Dierlamm. München 1992. Habermas J.: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied am Rhein 1962. Harvey D.: Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Übersetzt von N. Kadritzke. Zürich 2007. Klein N.: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Übersetzt von H. Schickert, M. Bischoff, K.H. Siber. Frankfurt am Main 2007. Kopyt S.: kto zabił jolante˛ brzeska˛ [online]. http://wakat.sdk.pl/wiersze-56/ [5. 04. 2021]. Lilla M.: Der hemmungslose Geist. Die Tyrannophilie der Intellektuellen. Übersetzt von E. Liebl. München 2015. Markiewka T.S.: Je˛zyk neoliberalizmu. Filozofia, polityka i media. Torun´ 2017. Massumi B.: Autonomia afektu. Übersetzt von A. Lipszyc. In: „Teksty Drugie“ 6 / 2013, S. 112–135. Rymkiewicz J.M.: Kinderszenen. Warszawa 2008. Rymkiewicz J.M.: Reytan. Upadek Polski. Warszawa 2013. Rymkiewicz J.M.: Samuel Zborowski. Warszawa 2010. Rymkiewicz J.M.: Wieszanie. Warszawa 2007. Sloterdijk P.: Kritik der zynischen Vernunft. 2 Bde. Frankfurt am Main 1983. Sorel G.: Über die Gewalt. Übersetzt von A. Bolz. Hrsg. A. Bolz. Lüneburg 2007. Tokarczuk O.: Gesang der Fledermäuse. Übersetzt von D. Daume. Zürich 2019. Tomczok P.: Symboliczna mobilizacja umarłych. II wojna ´swiatowa w nekropolitykach Jarosława Marka Rymkiewicza i Przemysława Dakowicza. In: „Teksty Drugie“ 3 / 2020, S. 251–264. Welsch W.: Ästhetik und Anästhetik. In: Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard. Hrsg. W. Welsch, Ch. Pries. Weinheim 1991, S. 67–87.

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Abstract Literary Anaesthetics and Their Overcoming This article presents research on the relationship between literary engagement and the overcoming of indifference, desensitisation and passivity, i. e. behavioural patterns crucial to neoliberal society. By analysing selected literary texts produced in the last ten years or so, it is possible to show how fantasies of violence and struggle enable the empowerment of the politically subjugated and defeated. This new violence breaks through the neoliberal power relations to bring the idea of justice above the law back into politics. Keywords: subordination, power relations, involvement, neoliberalism

Institutionen

Agnieszka Gołda (Schlesische Universität in Katowice) / Agnieszka Łakomy-Chłosta (Schlesische Universität in Katowice)

Soziales Engagement als Modell für die Arbeit von Bibliotheken als Kultureinrichtungen

Einführung Digitalisierung, Universalität und Zugangsfreiheit, Mobilität, Orientierung auf das Gemeinwesen, die Gemeinschaftlichkeit, den generationenübergreifenden Charakter, die Aktivierung, Kreativität, Partizipation, Integration, Inklusion – all diese Begriffe prägen das heutige Gesicht vieler Kultureinrichtungen. Die Empfänger ihrer Dienstleistungen sind unterschiedliche Menschen, ihre Bedürfnisse, Erwartungen und Wahrnehmungsmöglichkeiten sind verschieden. Daher müssen die Methoden für die Arbeit mit den jeweiligen Empfängergruppen verschieden sein, der Raum für die Dienstleistungen muss auf unterschiedliche Weise gestaltet, Ressourcen unterschiedlich zur Verfügung gestellt und die Aufgaben unterschiedlich geplant werden. Diese Vielfalt sollte als normaler Zustand des gesellschaftlichen Lebens gelten.1 Ziel der Arbeit von Kultureinrichtungen muss es daher sein, die oft gegensätzlichen Bedürfnisse der Adressaten zu erkennen und zu verstehen sowie die Pläne der Organisation entsprechend anzupassen. Diese Richtung wird als „utilitaristische Wende“2 bezeichnet, was zu einer individualisierten Behandlung der Verbraucher führt. Kultureinrichtungen fördern durch ihr soziales Engagement Aktivitäten, die es einer sehr heterogenen Gemeinschaft ermöglichen, Chancengleichheit herzustellen und die Nutzer in die wichtigsten Strömungen des Lebens einzubeziehen, auch in politischer, wirtschaftlicher oder kultureller Hinsicht – unab1 S. Dickmann: Inklusion und Abbau kommunikativer Barrieren durch den Einsatz Leichter und Einfacher Sprache in Öffentlichen Bibliotheken. Bachelorarbeit im Studiengang Bibliothekswissenschaft Fakultät für Informations- und Kommunikationswissenschaften Technische Hochschule. Köln 2018, S. 9 [online]. https://publiscologne.th-koeln.de/frontdoor/index/inde x/searchtype/all/start/0/rows/10/facetNumber_subject/all/subjectfq/Leichte+Sprache/docId/ 1221 [2. 02. 2021]. 2 A. Janus: Od widza, przez odbiorce˛ do uz˙ytkownika. Badania publicznos´ci instytucji kultury. In: Uz˙ytkownik, zasoby, strategie. Instytucje kultury w ´srodowisku cyfrowym. Hrsg. K. Czerwin´ska. Warszawa 2016, S. 9–14 [online]. https://fina.gov.pl/wp-content/uploads/2020/03/instytucje _kultury_w_srodowisku_cyfrowym.pdf [28. 01. 2021].

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hängig von Nationalität, Rasse, Sprache, Bildungsstand, materiellem Status, sozialem Umfeld, Ansichten, Gesundheitszustand usw. Es sollte betont werden, dass eine vollständige Inklusion nicht erreicht werden kann, aber solche Bemühungen sind Teil der Aktivitäten von Institutionen, die es anstreben, korrekte Regeln für das Zusammenleben in einer integrierten Gesellschaft zu entwickeln.3 In diesem Artikel werden – als Beispiel – Aktivitäten vorgestellt, die sich an bestimmte Nutzergruppen richten und von einer der Arten von Kultureinrichtungen, nämlich den Bibliotheken, durchgeführt werden, denn „eine moderne Bibliothek ist zweifellos eine der Säulen der Gesellschaft, die dank ihr die Garantie auf uneingeschränkten Zugang zu Wissen und Kultur erhält“4 – ein Zugang, der kostenlos ist und – soweit möglich – frei von technischen, materiellen, finanziellen oder psychologischen Einschränkungen. Der Zweck der von den Bibliotheken angebotenen Dienstleistungen ist die Förderung des kulturellen und wirtschaftlichen Wohlstands. Bibliotheken tragen also eine soziale Verantwortung.5 Aufgrund des Umfangs des Themas beschränkt sich die Beschreibung der Bibliotheksaktivitäten auf Dienstleistungen für Menschen, die von sozioökonomischer Ausgrenzung bedroht sind: Arbeitslose, Menschen mit geringem Einkommen und Obdachlose.6 Die in diesem Text dargestellten Auswirkungen von Bibliotheksaktivitäten sind das Ergebnis globaler Tendenzen, die von der International Federation of Library Associations and Institutions in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen initiiert wurden. Diese internationale Bibliotheksorganisation beteiligte sich an der Arbeit für die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen unter der Prämisse, dass Bibliotheken Institutionen sind, die für den universellen Zugang zu Informationen, Informations- und Kommunikationstechnologien, die Bewahrung des kulturellen Erbes und die Förderung der Lese- und Schreibfähigkeit verantwortlich sind.7 Bibliotheken engagieren sich daher gesellschaftlich, um der sozialen, politischen oder marktwirtschaft-

3 S. Dickmann: Inklusion und Abbau kommunikativer Barrieren, (Anm. 1), S. 9. 4 I. Osłowska: Biblioteki – nowoczesne przestrzenie kultury. In: „Przegla˛d Biblioteczny“ 4 / 2018, S. 554–583, hier S. 570. 5 IFLA-Ethikkodex für Bibliothekarinnen und andere im Informationssektor Beschäftigte [online]. https://www.ifla.org/files/assets/faife/codesofethics/germancodeofethicsfull.pdf [2. 02. 2021]. 6 Die Probleme dieser Gruppen überschneiden sich häufig, z. B. können Arbeitslose von Armut betroffen sein, während die extremste Form der Armut die Obdachlosigkeit ist. 7 Libraries, Development and the United Nations 2030 Agenda [online]. https://www.ifla.org/li braries-development [28. 01. 2021].

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lichen Desintegration entgegenzuwirken.8 Ihr Ziel ist es auch, Probleme der digitalen Ausgrenzung jener Gemeinschaften zu verhindern, die zum Beispiel aus wirtschaftlichen Gründen nicht voll am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.

Die inklusive Bibliothek Bibliotheken sind nicht nur passive Anbieter von Bibliotheksmaterialien und -dienstleistungen, sondern setzen sich durch ihre Angebote auch mit der sozialen Ausgrenzung vieler Personengruppen auseinander – und arbeiten so für die Zukunft der Gesellschaft.9 Ältere Menschen, Langzeitobdachlose, Menschen mit Behinderungen, Patienten kommunaler Gesundheitszentren, Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten, Menschen mit familiären Problemen, mit geringem Einkommen, Arbeitslose, Obdachlose, Menschen, die Schwierigkeiten mit der Nutzung von IKT haben, Einwanderer, die die Sprache ihres Ankunftslandes nicht fließend sprechen, Menschen, die unter Vormundschaft leben – das sind neue Nutzergruppen für viele Arten von Bibliotheken.10 Bibliotheken als soziale Einrichtungen, als zugängliche Orte, Orte der Begegnung, gehören […] zu den fairen Institutionen […], in denen „die Menschen nicht nach ihrem Beruf oder als Arbeitslose, als Patienten oder Kunden kategorisiert werden, sondern alle Bibliotheksnutzer sind“.11

In Deutschland wird die Soziale Bibliotheksarbeit seit Jahren gefördert.12 Dieser Begriff verdeutlicht die gesellschaftspolitischen Aufgaben der öffentlichen Bi8 M. Sta˛porek: Inkluzywne, innowacyjne i refleksyjne – czy biblioteka be˛dzie instytucja˛ formuja˛ca˛ nowe społeczen´stwo? In: „Biuletyn EBIB“ 6 (189) / 2019, S. 1–9, hier S. 3f; IFLAEthikkodex für Bibliothekarinnen, (Anm. 5), S. 3. 9 D. Heinz, D. Gühnemann: Inklusive Medienpädagogik in Bibliotheken. In: „Bibliothek. Forschung und Praxis“ 39 (3) / 2015, S. 294–303, hier S. 294. 10 W. Pindlowa: Rola biblioteki w procesie wyła˛czania i wła˛czania społecznego. In: Biblioteki XXI wieku. Czy przetrwamy? Materiały Konferencyjne Biblioteki Politechniki Łódzkiej. Łódz´ 2006, S. 45–50, hier S. 46 [online]. https://core.ac.uk/download/pdf/11881308.pdf [2. 02. 2021]; I. Ronkiewicz-Bra˛giel, P. Knapik-Lizak: Wła˛czaja˛ca rola biblioteki publicznej i jej pracowników. In: „Rocznik Biblioteki Kraków“ 3 / 2019, S. 278–285, hier S. 280 [online]. http:// www.rocznik.biblioteka.krakow.pl/rbk2019/izabela-ronkiewicz-bragiel-paulina-knapik-liza k-wlaczajaca-rola-biblioteki-publicznej-i-jej-pracownikow/ [28. 01. 2021]; G. Shirley: Library Services to Disadvantaged User Groups. Library Services to Adult Prisoners in the United States. In: „LIBREAS. Library Ideas“ 3 / 2006, S. 1–7, hier S. 5f [online]. https://libreas.eu/aus gabe6/003shir.htm [27. 01. 2021]. 11 J. Działek: Biblioteki a kapitał społeczny [online]. https://www.researchgate.net/publication /347597355_Biblioteki_a_kapital_spoleczny [2. 02. 2021]. 12 M. Schulz: Soziale Bibliotheksarbeit. „Kompensationsinstrument“ zwischen Anspruch und Wirklichkeit im öffentlichen Bibliothekswesen. Berlin 2009, S. 111.

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bliotheken, zu denen die „Integration von Migranten und Minderheiten“, die „Emanzipation von Benachteiligten“, die „Unterstützung im täglichen Leben“ und die „Begegnungsstätte“ gehören.13 Es muss betont werden, dass die Aufgaben der sozialen Bibliotheksarbeit, auch wenn sie mit den Tätigkeiten von Sozialarbeitern assoziiert werden können,14 auf anderen Zielen beruhen und Bibliothekare keine Sozialarbeiter oder Therapeuten ersetzen.15 Ein Sozialarbeiter soll in einem fürsorglichen und materiellen Sinne helfen, während ein Bibliothekar sich um die Einführung der Benutzer in eine soziale Gruppe kümmern und den Prozess der Bildung einer individuellen, sozialen und kulturellen Identität begleiten soll. Es handelt sich also um eine eher kulturell ausgerichtete Arbeit, die als soziale Integration und Förderung der gegenseitigen sozialen Anerkennung verstanden wird.16 Daher ist es wichtig, die Zielgruppen richtig zu identifizieren und Dienstleistungen zu schaffen, die auf ihre tatsächlichen Bedürfnisse zugeschnitten sind, um die Integration und gleichberechtigte Teilhabe am Angebot der Bibliotheken und darüber hinaus zu fördern.17 Die Arbeit der Bibliotheken dient nämlich dazu, Vertreter von Randgruppen sowohl in Bibliotheksaktivitäten als auch in soziale Tätigkeiten einzubeziehen, ihnen die Nutzung von Kultur- und Bildungsangeboten zu ermöglichen, berufliche und soziale Chancen zu verbessern, die Qualität von Freizeit- oder Wirtschaftsaktivitäten zu bereichern.18 Die Bereiche der Bestrebungen von Bibliotheken um Inklusion umfassen u. a.: – den Abbau sozialer Ungerechtigkeit in einer wettbewerbsorientierten Gesellschaft, – die Sicherung und Entwicklung nachhaltiger sozialer und kultureller Netzwerke, – die Förderung des Vertrauens und der gemeinsamen Verantwortung für die gesellschaftlichen Normen und Werte, – die Förderung der Selbstverantwortung, der Selbstentfaltung und des individuellen Selbstbewusstseins in der Gesellschaft, – die Verbesserung der partizipativen Gleichheit und Entwicklung einer „selbstbewussten“ Individualität.19 13 H. Rösch: Chancengleichheit ein Thema für Bibliotheken? Zur Rolle der Bibliothek in der Gesellschaft. In: „BuB – Forum Bibliothek und Information“ 2 / 2014, S. 110f, hier S. 110; M. Schulz: Soziale Bibliotheksarbeit, (Anm. 12), S. 111. 14 Die englischsprachige Literatur weist auch auf einige Gemeinsamkeiten zwischen Bibliothekaren und Sozialarbeitern hin. E.A. Wahler [u. a.]: The Changing Role of Libraries. How Social Workers Can Help. In: „Families in Society: The Journal of Contemporary Social Services“ 101, 1 / 2020, S. 34–43, hier S. 34. 15 H. Rösch: Chancengleichheit ein Thema für Bibliotheken?, (Anm. 13), S. 110. 16 H. Elbeshausen: Soziale Bibliotheksarbeit. Soziale Inklusion und soziale Anerkennung. In: „LIBREAS. Library Ideas“ 8–9 / 2007 [online]. https://libreas.eu/ausgabe8/005elb.htm [28. 01. 2021]. 17 S. Dickmann: Inklusion und Abbau kommunikativer Barrieren, (Anm. 1), S. 12. 18 H. Rösch: Chancengleichheit ein Thema für Bibliotheken?, (Anm. 13), S. 110f. 19 H. Elbeshausen: Soziale Bibliotheksarbeit, (Anm. 16).

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Die Aufgaben der Bibliotheken bestehen vor allem darin, zusätzliche oder spezifische Dienstleistungen für benachteiligte Menschen zu erbringen, bestehende Dienstleistungen zu verbessern und neue Lösungen und Arbeitsmethoden zu finden.20 Diese Aktivitäten können in drei Gruppen unterteilt werden. Die erste bezieht sich auf die Erleichterung des Zugangs zu Bibliothekseinrichtungen, da häufig bauliche, finanzielle oder mentale Barrieren Menschen mit besonderen Bedürfnissen daran hindern, Bibliotheken zu erreichen und deren Dienste zu nutzen. Die zweite betrifft den Informationsdienst der Bibliotheken und wird in erster Linie durch das Angebot und die Auswahl geeigneter Literatur zur Lösung von Problemen und zur Befriedigung der aktuellen Bedürfnisse von Menschen aus Randgruppen umgesetzt. Die dritte stellt dagegen ein spezielles Kultur-, Workshop- und Bildungsangebot dar, das sich an benachteiligte Nutzer richtet. Je nach Art der Bibliothek sind ihre Rolle und Aufgaben im Prozess der sozialen Inklusion unterschiedlich. Am umfangreichsten agieren die Einrichtungen mit einem universellen Profil– Stadt-, Kreis- und Gemeindebibliotheken. Dies liegt daran, dass sie sich mit ihren Dienstleistungen an heterogene Gruppen von Empfängern wenden.21 Spezialbibliotheken hingegen, wie Krankenhausoder Gefängnisbibliotheken, sind bestrebt, die Bedürfnisse ausgewählter Gruppen zu erfüllen. Obwohl nicht alle Institutionen darauf vorbereitet sind, Interessengruppen zu bedienen, die einen etwas anderen Ansatz, andere Arbeitsformen oder Ressourcen benötigen, gibt es einige, die Lösungen und Standards für diese Art von Dienstleistungen entwickelt haben. Im folgenden Teil des Artikels werden Modelle für sozial engagierte Bibliotheken vorgestellt, die die oben genannten Benutzergruppen unterstützen.

Dienstleistungen für Arbeitslose Die Probleme der von dem britischen Wirtschaftswissenschaftler Guy Standing als Prekariat bezeichneten Gruppe sind seit Jahren bekannt. Sie besteht aus Menschen, die in ständiger Unsicherheit leben, ohne festen Arbeitsplatz und oft ohne die sozialen Leistungen, die ihre Existenz erleichtern würden. Ihre Einkommen sind instabil, unregelmäßig und erlauben ihnen keine Zukunftsplanung.

20 M. Schulz: Soziale Bibliotheksarbeit, (Anm. 12), S. 111; H. Rösch: Chancengleichheit ein Thema für Bibliotheken?, (Anm. 13), S. 110. 21 Bibliothekare öffentlicher Bibliotheken geben an, dass sie es zunehmend mit Menschen mit unerfüllten psychosozialen Bedürfnissen, psychischen Problemen oder Suchtproblemen zu tun haben. E.A. Wahler [u. a.]: The Changing Role of Libraries, (Anm. 14), S. 35.

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Diese Situation von Menschen, die zudem oft über keine besonderen Fähigkeiten verfügen, welche es ihnen erlauben würden, sich frei auf dem Arbeitsmarkt zu bewegen22, hat viele Institutionen und Organisationen dazu veranlasst, Hilfsprojekte ins Leben zu rufen, um die „digitale Kluft“ zwischen ihnen und der Gesellschaft, d. h. zwischen den „Informationsarmen“ und den „Informationsreichen“, nicht zu vergrößern. Da Kultureinrichtungen keine Kontrolle und keinen Einfluss auf das Problem der Arbeitslosigkeit haben, können Bibliotheken nur versuchen, die mit dieser „digitalen Kluft“ oder „digitalen Teilung“ verbundene Realität zu verändern. Sie können allen – unabhängig vom sozialen Status – analoge und digitale Dienste anbieten, indem sie beispielsweise elektronische Geräte kostenlos zur Verfügung stellen.23 Die Bibliotheken dienen somit als kostenloser Zugang zu Computern und zum Internet. Für viele Nutzer, insbesondere für die 25- bis 54-Jährigen aus ethnischen Minderheiten, darunter Migranten und Roma, sind öffentlich zugängliche Computer ein wichtiger Bestandteil ihrer Strategie für die Arbeitssuche. Einkommensschwache und Arbeitslose sind den Umfrageergebnissen zufolge „unter den Bibliotheksnutzern gut vertreten und wenden die in den Bibliotheken kostenlos verfügbare IKT gut an.“24 Sie nutzen den Computer, um z. B. Steuererklärungen auszufüllen, nach arbeitsplatz- oder berufsbezogenen Informationen zu suchen, das Verfassen von Lebensläufen und Anschreiben zu lernen, ihre beruflichen Fähigkeiten zu verbessern, die Websites von Arbeitgebern zu durchsuchen, Angebote von Personalvermittlungsfirmen zu finden, Datenbanken und Tabellenkalkulationen zu nutzen.25 Die Bibliotheksdienste unterstützen die Menschen auch bei der Suche nach Informationen über die Beantragung von Sozialversicherungsleistungen. Dabei handelt es sich um eine besonders sensible Tätigkeit, die sie in der Regel selbst und ohne Hilfe von Bibliothekaren durchführen, um ihre Privatsphäre zu schützen. In vielen Ländern wie Rumänien, Portugal, Litauen, Deutschland, Frankreich, der Tschechischen Republik und dem Vereinigten Königreich sind Bibliotheken auch Partnerschaften mit Arbeitsämtern eingegangen, um arbeitslose Nutzer bei der Suche nach Beschäftigungsmöglichkeiten zu unterstützen.26 Interessant sind 22 B. Hull: ICT and Social Exclusion. The Role of Libraries. In: „Telematics and Informatics“ 20 / 2003, S. 131–142, hier S. 131. 23 S. Quick [et al.]: Europejskie badanie opinii uz˙ytkowników na temat korzys´ci wynikaja˛cych ze stosowania technologii informacyjno-komunikacyjnych w bibliotekach publicznych. Raport kon´cowy. Marzec 2013, S. 5f [online]. http://www.biblioteki.org/dam/jcr:83be425b-8ec3-46 87-aa0d-b4bb83b67250/Europejskie_badanie.pdf [25. 01. 2021]. 24 Ebd., S. 22. 25 Ebd., S. 8, 42, 47. 26 Ebd., S. 49.

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auch Schulungen und Workshops über Berufsberatung und den Arbeitsmarkt sowie Treffen mit potenziellen Arbeitgebern, die von oder in Bibliotheken organisiert werden. Eine Modelllösung wäre, in den Bibliotheken „Unterstützungszentren für Arbeitssuchende oder Personen, die ihre berufliche Laufbahn planen“ einzurichten.27 Bei Kontakten mit dieser Personengruppe ist es wichtig, geeignete Instrumente zu verwenden, die es ermöglichen, ihre beruflichen Ziele und ihre Motivation zu beurteilen, z. B. sollten Bibliothekare eine Reihe von Quellen zusammenstellen, die es ermöglichen, sich über den lokalen und internationalen Arbeitsmarkt zu informieren. Es ist auch ratsam, Web-Bibliotheken mit Literatur zu entwickeln, um Arbeitsuchende bei der Vorbereitung auf ihren ersten Kontakt mit einem zukünftigen Arbeitgeber zu unterstützen. Workshops zu den Themen Stressbewältigung, Zeitmanagement, Teamarbeit, Selbstpräsentation, Kommunikation, Beratung bei rechtlichen und psychologischen Fragen sind weitere Beispiele für Aktivitäten engagierter Bibliotheken.28 Aktivitäten, die sich insbesondere an junge Nutzer richten, können wiederum Arbeitslosigkeit verhindern, und Treffen mit Unternehmen, Jobmessen, Webinare können dazu beitragen, die Orientierung auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Auf diese Weise tragen die Bibliotheken zum „Aufbau“ von Karrieren bei. Das Problem für die Bibliotheken besteht vielleicht nicht so sehr darin, die Einrichtung so zu verwalten, dass die Dienstleistungen für diese Gruppe interessant sind, sondern Mitglieder dieser Gruppe dazu zu bringen, die Bibliotheken zu besuchen. Das Fernbleiben von der Bibliothek kann bei Arbeitslosen beispielsweise auf ein Gefühl des Unbehagens in einer ungewohnten Umgebung, auf die Unkenntnis der Bedeutung von Informationen, die zu einer Veränderung des sozialen Status beitragen können, auf das Phänomen des funktionalen Analphabetismus, auf Probleme mit der Lesekompetenz, die einschränkend wirken und ein Gefühl der Verlegenheit hervorrufen, zurückgeführt werden.29 Es scheint daher wichtig, bei der Arbeit mit diesen Menschen in der Bibliothek vor allem taktvoll und rücksichtsvoll zu sein.

27 M. Paul: Działania bibliotekarzy i bibliotek wspieraja˛ce osoby bezrobotne i poszukuja˛ce pracy. In: „Biuletyn EBIB“ 7 (169) / 2016, S. 1–11, hier S. 2. 28 Ebd., S. 4f. 29 B. Hull: ICT and Social Exclusion, (Anm. 22), S. 138f.

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Dienstleistungen für Minderbemittelte Menschen in Armut sind eine der am schwersten zu identifizierenden Gruppen von Bibliotheksnutzern. Dies ist auf das Fehlen klarer Definitionen von Armut und ihre unterschiedlichen finanziellen Grenzen in den verschiedenen Ländern sowie auf die Tatsache zurückzuführen, dass Armut heute nicht mehr so sichtbar ist wie früher. Darüber hinaus unterscheidet sich die Situation der Menschen, die als arm eingestuft werden können, je nach ihrem Wohnort (Großstadt, Stadt, Dorf), ihrem Alter und ihrer Bildung. Dies kann zu Problemen bei der Entwicklung eines homogenen Angebots für diese Zielgruppe führen.30 Die Tatsache, dass ihre Bedürfnisse nur sporadisch erforscht werden, verbessert die Situation nicht.31 Eines der Modelle für die Beteiligung von Bibliotheken an der Unterstützung von Menschen in großer finanzieller Not ist die Annahme, dass der Zugang zu Bibliotheksbeständen und -diensten allein Lücken in der Materialbeschaffung schließen kann, da sich Menschen mit geringem Einkommen diese Materialien sonst nicht leisten können. Dieser Ansatz scheint jedoch unzureichend zu sein, da er die besonderen Bedürfnisse dieser Gruppe nicht berücksichtigt und lediglich funktionierende Dienstleistungen anpasst.32 Es tauchen daher Konzepte auf, die sich auf die Schaffung eines individualisierten Angebots beziehen und sich häufig im Umfang der Unterstützung unterscheiden. Im deutschsprachigen Bibliothekswesen vertritt Karsten Schuldt die Auffassung, dass die Förderung einer benachteiligten Gruppe die Nutzung von Bibliotheken durch andere gesellschaftliche Gruppen nicht einschränken darf. Es ist wichtig, den Bedarf zu diagnostizieren und Vorschläge für Dienstleistungen zu erarbeiten, die wirklich dazu beitragen können, die Situation der benachteiligten Menschen zu verbessern. Der Forscher vertritt die Ansicht, dass Bibliotheken Unterstützung deklarieren sollten, um ihre Existenz zu verbessern. Er hält eine angemessene Auswahl an Literatur, die den Lesebedürfnissen der Bedürftigen entspricht, für wichtig. In seinem Modell weist er jedoch nicht auf profiliertere Dienstleistungen hin, sondern betont die Beteiligung der Bibliotheken an der Förderung des Sozialkapitals und die Handlungsfreiheit.33 30 K. Schuldt: Armut und Bibliotheken. Anmerkungen zu einer notwendigen Diskussion. Berlin / Chur 2017, S. 32–35, 42, 48 [online]. http://eprints.rclis.org/31084/1/ArmutUndBibliotheke n.pdf [2. 02. 2021]. 31 Die umfangreichste Studie wurde von Serge Paugam und Camila Giorgetti durchgeführt und betraf die Nutzer der Bibliothèque publique d’Information. Die Ergebnisse wurden veröffentlicht in: S. Paugam, C. Giorgetti: Des pauvres à la bibliothèque. Enquête au Centre Pompidou. Paris 2013. Vgl. K. Schuldt: Armut und Bibliotheken, (Anm. 30), S. 55. 32 Ebd., S. 19f. 33 Ebd., S. 151f.

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Ein anderes Modell beinhaltet hingegen Strategien, die aus amerikanischen Bibliotheken bekannt sind.34 In den Dokumenten der American Library Association finden sich 20 Leitlinien für die an Bedürftige gerichtete Arbeit von Bibliotheken. Sie betreffen: Förderung des freien Zugangs zu den Einrichtungen (u. a. Beseitigung von Gebührenschranken); Auswahl von Sammlungen, die das Thema Armut berücksichtigen und Möglichkeiten zur praktischen Nutzung bieten; gleichmäßige und kontinuierliche Finanzierung und Beschaffung von Mitteln zur Anpassung von Ressourcen und besonderen Dienstleistungen; Schulung des Bibliothekspersonals. Kennzeichnend ist auch die sog. Parität der Bibliotheksdienste, d. h. die Idee, dass jede Bibliotheksfiliale die gleiche Einrichtung, die gleichen Öffnungszeiten, die gleiche Ausstattung und Dienstleistungen haben sollte – unabhängig davon, ob sie in einem Viertel mit ärmeren oder wohlhabenderen Menschen liegt. Es ist auch wichtig, mit externen Institutionen zusammenzuarbeiten, um Aktionsprogramme zu entwickeln, staatliche Projekte zur Armutsbekämpfung durchzuführen und die Bemühungen der Gemeinschaft zur Erfüllung der Bedürfnisse der Bedürftigen zu fördern, zu unterstützen und zu erleichtern. Bibliotheken haben auch die Aufgabe, wirtschaftliche Hindernisse für die Inanspruchnahme von Dienstleistungen zu beseitigen; öffentliche Politiken und Verwaltungsverfahren zu überwachen, um festzustellen, welche die Bedürftigen diskriminieren; und die Beteiligung von Vertretern der Bedürftigen in Bibliotheks- und Gemeinschaftsgremien zu unterstützen. Diese Aufgaben sollten von dem Bewusstsein geleitet sein, dass es Gruppen gibt, die durch den Mangel an Ressourcen besonders gefährdet sind, und von der Notwendigkeit, sie mit Respekt zu behandeln.35 So sollten Bibliotheken in ihrer Beziehung zu Arbeitslosen oder Menschen mit geringem Einkommen zweifellos als Zugangspunkte zu nützlichen Informationen (z. B. über Sozialdienste, Arbeitssuche, Bildungs- und Berufsausbildungsgänge), Dienstleistungsanbietern und Schulungspartnern oder -anbietern (z. B. Sprache, Arbeitssuche, Verfassen von Lebensläufen, Gesundheitsfürsorge) fungieren. Die Bibliotheken sollten auch über Formulare verfügen, z. B. Bewerbungen und Steuerformulare, um sie denjenigen zur Verfügung zu stellen, die sie benötigen. Nützlich wäre es auch, wenn sie über Kopien von kostenlosen Büchern, z. B. für Kinder, verfügen würden, um sie an ärmere Leser zu verteilen.36

34 Die American Library Association hat 1990 Leitlinien mit 15 Punkten entwickelt, um die Arbeit der Bibliotheken in den Vereinigten Staaten zu modellieren. S. Ayers: The Poor and Homeless. An Opportunity for Libraries to Serve. In: „The Southeastern Librarian“ 54, 1 / 2006, S. 66–74, hier S. 68. 35 B.8.10.1 Policy Objectives (Old Number 61.1) [online]. http://www.ala.org/aboutala/governa nce/policymanual/updatedpolicymanual/section2/52libsvcsandrespon#B.8.10 [2. 02. 2021]. 36 S. Ayers: The Poor and Homeless, (Anm. 34), S. 70.

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Dienstleistungen für Obdachlose Wie bei der Armut gibt es auch bei der Obdachlosigkeit Probleme mit einer eindeutigen Definition. Es wird davon ausgegangen, dass es sich um eine relativ dauerhafte Situation handelt, in der eine Person kein Dach über dem Kopf oder keine eigene Wohnung hat.37 Es sollte jedoch auf ein viel breiteres Verständnis des Problems geachtet werden, das von der Europäischen Föderation der nationalen Organisationen, die mit Obdachlosen arbeiten (FEANTSA), vorgeschlagen wurde. Auf Grundlage der Annahme, dass der Begriff „Zuhause“ mit dem physischen, sozialen und rechtlichen Bereich zusammenhängt, hat diese Organisation eine Europäische Typologie der Obdachlosigkeit und der Ausgrenzung vom Wohnungsmarkt entwickelt, die Folgendes umfasst: – fehlendes Dach über dem Kopf („Obdachlosigkeit“) – hängt mit dem Aufenthalt im öffentlichen Raum und die einstweilige Nutzung von Notunterkünften zusammen; – fehlender Wohnort („Wohnungslosigkeit“) – umfasst Personen, die dauerhaft oder langfristig in einer 24-Stunden-Notunterkunft untergebracht sind, sowie Personen, die aus Justizvollzugsanstalten, medizinischen Einrichtungen oder Erziehungsanstalten kommen; – ungesicherte und unsichere Wohnbedingungen; – unzureichende Unterbringung.38

In den letzten Jahren hat sich im globalen Bibliothekswesen eine Diskussion über das Angebot von Dienstleistungen für Obdachlose entwickelt. Sie hat zur Ausarbeitung von Standards, Bildungsmaterialien und Aktivitäten auf internationaler Ebene geführt, die in den IFLA-Richtlinien für Bibliotheksdienste für Menschen mit Obdachlosigkeit (2017) mündeten.39 Vorschläge für Bibliotheksdienste, die Menschen mit Obdachlosigkeit in die Gesellschaft integrieren, werfen aufgrund der besonderen Bedürfnisse dieser Gruppe viele Fragen auf. Dazu gehören vor allem die Themen Sicherheit, Ernährung und Hygiene40, deren Bereitstellung die Kapazitäten der Bibliotheken übersteigt. Einige Einwände von Bibliotheksmitarbeitern und -nutzern beziehen 37 B. Moraczewska: Bezdomnos´c´. Definicja, problemy, rozwia˛zania obecne oraz historyczne odwołanie do ludzi luz´nych. In: „Studia Gdan´skie. Wizje i Rzeczywistos´c´“ 10 / 2013, S. 113– 128, hier S. 113. 38 I. Kaz´mierczak-Kałuz˙na: Bezdomnos´c´ jako forma wykluczenia społecznego w ´swietle wybranych aktów prawnych oraz dokumentów strategicznych i programowych. In: „Opuscula Sociologica“ 2 / 2015, S. 19–36, hier S. 22. Vgl. auch: IFLA Guidelines for Library Services to People Experiencing Homelessness. Haag 2017, S. 26f. [online]. https://www.ifla.org/files/asse ts/lsn/publications/ifla-guidelines-for-library-services-to-people-experiencing-homelessnes s.pdf [28. 01. 2021]. 39 E.B. Zybert: Bezdomni w bibliotekach – dos´wiadczenia zagraniczne. In: „Przegla˛d Biblioteczny“ 1 / 2016, S. 27–45, hier S. 35f. 40 IFLA Guidelines for Library Services, (Anm. 38), S. 13.

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sich auf den Gebrauch von Bibliotheksräumen für die tägliche Toilette oder auf den unangenehmen Geruch von Obdachlosen. Es wird auch auf das Betteln bei den Lesern, die Belästigung durch das Umherstreifen in den Bibliotheken und die Nutzung der Bibliotheken als Übernachtungsort hingewiesen.41 Dennoch betrachten Obdachlose Bibliotheken als einen sicheren, Zuflucht bietenden Ort42, um die Langeweile zu vertreiben, Spaß zu haben, sich zu entspannen, an der Gesellschaft teilzuhaben, Kontakte zu knüpfen und ihr Leben in gewisser Weise zu ordnen.43 Die Aufgabe der engagierten Bibliotheken, die in der Obdachlosenhilfe tätig sind, besteht darin, die Bedürfnisse dieser Gruppe zu erkennen und zu versuchen, Problemsituationen in Bezug auf die Inanspruchnahme von Bibliotheksdiensten zu lösen und die Bereitschaft zur Teilnahme an den Aktivitäten anderer Einrichtungen der Obdachlosenhilfe im Rahmen lokaler Aktivitäten.44 Es ist auch wichtig, das Personal entsprechend vorzubereiten, damit es versteht, was Obdachlosigkeit ist, wie die Situation der Betroffenen aussieht und wie man mit dieser Nutzergruppe spricht.45 Die Modelldienste für Obdachlose lassen sich in fünf Gruppen einteilen. Die erste besteht darin, den Zugang zu grundlegenden Bibliotheksdiensten zu gewährleisten, d. h. bei der Ausstellung eines Bibliotheksausweises die Adresse des Unterkunftszentrums oder der Nachtunterkunft als Wohnsitz anzuerkennen und in einigen Fällen auf die Angabe des Wohnsitzes und die Erhebung von Gebühren für Bibliotheksdienste zu verzichten. Es ist auch sinnvoll, die Bibliothek so einzurichten, dass sie bequem zu benutzen ist. Dazu gehört die Bereitstellung von Lagermöglichkeiten für die Habseligkeiten von Obdachlosen oder 41 E.B. Zybert: Bezdomni w bibliotekach, (Anm. 39), S. 31f. 42 IFLA Guidelines for Library Services, (Anm. 38), S. 35. 43 Bibliotheken spielen eine so wichtige Rolle beim „Ordnen“ des Lebens, dass Obdachlose oft versuchen, keinen negativen Eindruck zu erwecken, wenn sie sie nutzen. Ch. Schmidt: Obdachlose Menschen als Bibliotheksbesucher. Aktuelle Herausforderungen im Spiegel der Agenda 2030 der Vereinten Nationen. In: Öffentliche Bibliothek 2030. Herausforderungen – Konzepte – Visionen. Hrsg. P. Hauke. Bad Honnef 2019, S. 161–172, hier S. 168; K. Schuldt: Armut und Bibliotheken, (Anm. 30), S. 111; E.B. Zybert: Bezdomni w bibliotekach, (Anm. 39), S. 33. 44 Zu den Hindernissen, die dem Wunsch von Obdachlosen, Bibliotheken zu nutzen, entgegenstehen können, gehören: das Erfordernis eines festen Wohnsitzes, um einen Bibliotheksausweis zu erhalten, Gebühren für Bibliotheksdienste, eingeschränkter Zugang aufgrund der Öffnungszeiten, Transportprobleme, unzureichende Werbung für Bibliotheken bei Organisationen, die Obdachlose unterstützen, mangelnde Ausbildung des Bibliothekspersonals für die Betreuung von Obdachlosen, fehlende Ressourcen und Dienstleistungen, die der Situation und den Bedürfnissen dieser Gruppe entsprechen, sowie Vorbehalte seitens des Bibliothekspersonals und anderer Nutzer. IFLA Guidelines for Library Services, (Anm. 38), S. 13, 36; E.B. Zybert: Bezdomni w bibliotekach, (Anm. 39), S. 33. 45 IFLA Guidelines for Library Services, (Anm. 38), S. 34–39; E.B. Zybert: Bezdomni w bibliotekach, (Anm. 39), S. 37.

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die Einrichtung von Bereichen, die mehr Privatsphäre bieten und die Bibliothek zu einem einladenden Ort machen.46 Um den Zugang zu den Bibliotheken zu erleichtern, beschließen einige Einrichtungen sogar, Räumlichkeiten einzurichten, in denen Obdachlose sich waschen können.47 Ein weiteres Problem ist die Gleichbehandlung aller Nutzer, einschließlich der von Obdachlosigkeit betroffenen Personen. Es sollte nicht mit zweierlei Maß gemessen werden48, aber gleichzeitig sollte verhindert werden, dass das Verhalten der Obdachlosen andere Leser belastet. Entsprechende Lösungen können in der Bibliotheksordnung verankert werden, deren Nichteinhaltung z. B. ein eintägiges Nutzungsverbot zur Folge haben kann.49 Die nächste Gruppe von Leistungen gehört zu den Informationsaktivitäten von Bibliotheken und umfasst den Zugang zu Bibliotheksressourcen und Bildungsdienstleistungen. In diesem Zusammenhang sollten die Bibliotheken ihre Bestände mit Literatur ergänzen, die bei der Lösung von Obdachlosenproblemen hilfreich sein kann, und Informationen über Hilfsinstitutionen bereitstellen.50 Die Möglichkeit, Computer und das Internet zu nutzen, ist ebenfalls wichtig, denn für Obdachlose, die oft kein Mobiltelefon besitzen, ist die E-Mail der einzige Kanal, um mit Familie und Freunden in Kontakt zu treten.51 Bei drei weiteren Gruppen handelt es sich um spezielle Dienste, die Hilfe und Unterstützung bei der Arbeitssuche und bei der Erfüllung sozialer Bedürfnisse bieten.52 Diese zu organisieren, ist die größte Herausforderung für die Bibliotheken. Zusätzlich zu den Aktivitäten, die analog zu denen für Arbeitslose angeboten werden und die sich auf die Arbeitssuche beziehen, gibt es auch solche, die sich mit den psychischen Bedürfnissen von Obdachlosen befassen. Sie sind nicht traditionell und ihre Durchführung ist ohne angemessene Vorbereitung oft unmöglich. Die Bibliothek kann jedoch mit Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten, die in ihren Räumlichkeiten Workshops 46 IFLA Guidelines for Library Services, (Anm. 38), S. 40; E.B. Zybert: Bezdomni w bibliotekach, (Anm. 39), S. 37. 47 IFLA Guidelines for Library Services, (Anm. 38), S. 40; E.B. Zybert: Bezdomni w bibliotekach, (Anm. 39), S. 31. 48 Als Beispiel kann das Ausladen von Obdachlosen aufgrund des Geruchs genannt werden, bei gleichzeitiger Nichtbeachtung starker Parfüms, die manchmal Allergie- oder Asthmaanfälle auslösen können. Ähnlich verhält es sich mit Kinderwagen – niemand denkt daran, Eltern mit Kinderwagen aus der Bibliothek zu bitten, während ein Obdachloser mit einem Ziehwagen der gleichen Größe wahrscheinlich aufgefordert wird, die Bibliothek zu verlassen. V.C. Terrile: Our Invisible Families. Library Services with Families Experiencing Homelessness, S. 4 [online]. http://library.ifla.org/1501/1/147-terrile-en.pdf [2. 02. 2021]. 49 Ch. Schmidt: Obdachlose Menschen als Bibliotheksbesucher, (Anm. 43), S. 168; E.B. Zybert: Bezdomni w bibliotekach, (Anm. 39), S. 32. 50 IFLA Guidelines for Library Services, (Anm. 38), S. 40. 51 S. Ayers: The Poor and Homeless, (Anm. 34), S. 71. 52 IFLA Guidelines for Library Services, (Anm. 38), S. 40.

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(z. B. zu Fragen der psychischen Gesundheit oder zu Missbrauch) abhalten. Es ist auch möglich, einen qualifizierten Sozialarbeiter einzustellen53 oder zusätzliche Schulungen für Bibliothekare anzubieten, um sie in die Lage zu versetzen, Dienstleistungen zu erbringen, die den Bedürfnissen besonderer Benutzergruppen entsprechen.54

Schlussfolgerungen Die Aktivitäten der engagierten Bibliotheken bringen eine Reihe von Vorteilen mit sich – auf individueller und sozialer Ebene. Untersuchungen zufolge schätzen Menschen aus Gruppen, die von allen möglichen Formen der Ausgrenzung bedroht sind, beispielsweise die Möglichkeit, analoge und digitale Dienste kostenlos zu nutzen, Hilfe von Bibliothekaren bei der Arbeitssuche zu erhalten oder elektronische Kontakte und Bekanntschaften zu knüpfen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt benötigten Informationen zu finden, Steuererklärungen und Beihilfeanträge zu versenden. Dank der Bibliotheken werden Informations-, Kommunikations-, Sozial- und Verwaltungsdienste immer leichter zugänglich. Dies bestätigt die Richtigkeit der in den Bibliotheken durchgeführten Aktivitäten und beweist die Wirksamkeit ihrer Arbeit für Nutzer mit untypischen Bedürfnissen. Bibliotheken werden von ihnen als freundliche und einladende Orte wahrgenommen, modern und innovativ, politisch neutral und mit engagiertem Personal.55 Diese unkonventionell fungierenden Einrichtungen, die den Informations-, Kultur- und Sozialbedürfnissen zahlreicher Nutzergruppen entsprechen, sind Teil eines Netzes von Institutionen, die sich um ihre Integration bemühen. Sie sind das Bindemittel der lokalen Gemeinschaften, die durch Bibliotheken gestärkt werden können. Engagierte „Multizweck“-Bibliotheken könnten ohne gut vorbereitete, motivierte und kreative Mitarbeiter nicht funktionieren. Für Bibliothekare ist es wichtig, „den Menschen die Gründe für einen erneuten Besuch in der Bibliothek bewusst zu machen, sie zu enga-

53 Die Finanzen der Bibliothek können ein Hindernis darstellen. Es könnte jedoch möglich sein, eine Partnerschaft mit einer Schule für Sozialarbeiter einzugehen, in deren Rahmen die Studenten Praktika in den Räumlichkeiten der Bibliothek absolvieren und dabei fachliche Unterstützung im Bereich der Sozialarbeit leisten könnten. 54 Der Bedarf an dieser Art von Lösungen wird von den Bibliothekaren angegeben. Die Ergebnisse der 2018 in Indianapolis durchgeführten Umfrage zeigen, dass 91,1 % der Befragten die Zusammenarbeit mit externen Agenturen, 54,5 % die Einstellung professioneller Hilfe und 29,8 % speziell geschulte Bibliothekare befürworten. E.A. Wahler [u. a.]: The Changing Role of Libraries, (Anm. 14), S. 38. 55 S. Quick [u. a.] Europejskie badanie opinii uz˙ytkowników, (Anm. 23), S. 64.

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gieren und zu inspirieren, denn dadurch wird eine persönliche Beziehung zur Bibliothek aufgebaut“.56 Es ist zu hoffen, dass sich die Projekte, Arbeitsprinzipien und Systeme der Kommunikation mit den Nutzern, die im Laufe der Jahre in dieser Art von Kultureinrichtungen entwickelt wurden, während der anhaltenden Pandemie, in der die digitalen Dienste an Bedeutung gewonnen haben, während die Idee eines leicht zugänglichen und sicheren Ortes abgewertet wurde, nicht ändern werden: die vorgeschriebene soziale Distanz kann das Ausmaß der sozialen Ausgrenzung erhöhen, und die Bibliotheken sollten dieses Phänomen bei der Analyse seines Umfangs und seiner Reichweite berücksichtigen und die Ziele sowie die technologische/virtuelle Dimension ihrer Aktivitäten anpassen. Der Einsatz von fortschrittlichen Technologien und Werkzeugen der künstlichen Intelligenz in Bibliotheken kann ein starker Anreiz sein, die Aufgaben der europäischen Bibliotheken in Richtung Nachhaltigkeit umzugestalten.57

Als Beweis dafür können die Aktivitäten von Bibliotheken in Irland dienen, wo Bibliothekare an einer Aktion zur Nachverfolgung von sozialen Kontakten teilnahmen, die für die Verbreitung des Coronavirus verantwortlich sein könnten. In vielen Ländern haben Bibliothekare eine Reihe zuverlässiger Ressourcen für das Pandemiemanagement entwickelt, Ferndienste für isolierte Personen eingerichtet und sogar logistische Maßnahmen ergriffen (Bereitstellung von Lebensmitteln, Masken und Visieren aus dem 3D-Drucker für medizinische Dienste). Sie entwickelten Dienste, um Materialien online zur Verfügung zu stellen, organisierten Workshops und Sitzungen über Webcasts und E-Learning-Kurse.58 Die Aktivitäten einer der in diesem Artikel vorgestellten Arten von Kultureinrichtungen zeigen, welche Möglichkeiten Bibliotheken haben, soziales Kapital aufzubauen, das als gegenseitige Beziehungen, Vertrauen und Werte verstanden werden sollte, die notwendig sind, um Vorteile mit einer primär sozialen Dimension zu erzielen.59 Die Einbindung der Bibliotheken und ihres Personals wirkt sich zweifellos auf die Wertschätzung des Inklusionsgefühls von Menschen aus, die in einer Gegenkultur fungieren, und beugt so verschiedenen Kategorien sozialer Dysfunktion vor. Bibliotheken verbinden die Nutzer ihrer Ressourcen und Dienstleistungen zu heterogenen Gemeinschaften, die offen sind für die 56 M. Sta˛porek: Inkluzywne, innowacyjne i refleksyjne, (Anm. 8), S. 5. 57 I. Sójkowska: Biblioteki podczas i po pandemii koronawirusa – wste˛pny raport EBLIDY. In: „Biuletyn EBIB“ 4 (193) / 2020, S. 1–10, hier S. 2. 58 Ebd., S. 2f. 59 Vgl. z. B. K. Sierocin´ska: Kapitał społeczny. Definiowanie, pomiar i typy. In: „Studia Ekonomiczne“ 1 (68) / 2011, S. 69–86; Uchwała nr 155 Rady Ministrów z dnia 27 paz´dziernika 2020 r. w sprawie przyje˛cia „Strategii Rozwoju Kapitału Społecznego (współdziałanie, kultura, kreatywnos´c´) 2030“. In: „Monitor Polski Dziennik Urze˛dowy Rzeczypospolitej Polskiej“ 1060 / 2020.

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Bedürfnisse derjenigen, die bis vor kurzem noch mit Ablehnung, Distanzierung und Ausgrenzung konfrontiert waren. Daher ist es wichtig, dass die ergriffenen Maßnahmen langfristig und progressiv angelegt sind, damit ihre tatsächlichen Auswirkungen auf die ausgegrenzten Gemeinschaften erfasst und besser bewertet werden können. Der Aufbau einer kollektiven, bürgerlichen Gesellschaft, die auf demokratischen Prämissen beruht, wäre ohne die Aktivitäten der Kultureinrichtungen unvollständig. Die Förderung der Integration und die Beseitigung von Diskriminierung bilden gesellschaftlich wichtige Aufgaben der engagierten Bibliotheken für die kommenden Jahre.

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Soziales Engagement

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Aneta Głowacka (Schlesische Universität in Katowice)

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Theater in der Krise 2019 beschuldigten neun Mitarbeiterinnen des Krakauer Bagatela-Theaters Henryk Jacek S., den langjährigen Direktor der Institution, der sexuellen Belästigung und des Mobbings. Zwei Monate später, im Januar 2020, erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den nun ehemaligen Direktor. Die Liste der Vorwürfe wurde im Laufe der Ermittlungen erweitert und schließlich, im Juni 2020, als sich die Tätigkeit der Ermittler dem Ende zuneigte, wurde Henryk S. wegen „Amtsmissbrauchs mit dem Ziel der Herbeiführung einer weiteren sexuellen Handlung, Verletzung von Arbeitnehmerrechten und körperlicher Unversehrtheit“ angeklagt.1 Im Oktober 2020 schrieb die Schauspielerin Mariana Sadovska in einem persönlichen Text auf den Seiten von „Dwutygodnik“, eines populären polnischen Online-Kulturmagazins, über ihre eigenen Gewalterfahrungen, die sich im Zentrum für Theaterpraktiken „Gardzienice“ ereigneten. Die Künstlerin beschuldigte Włodzimierz Staniewski, einen weltbekannten Gründer und Leiter dieser Institution, der Manipulation, der Aneignung kreativer Ideen anderer, des Missbrauchs seiner beruflichen Position, des psychischen Drucks und der physischen Gewalt, der öffentlichen Demütigung, der Isolation und der wirtschaftlichen Abhängigmachung vom Arbeitgeber.2 Auf Sadovskas Erklärung folgten Aussagen anderer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Staniewski, die seine gewalttätigen Praktiken bestätigten. Anfang Februar 2021, erschien im „Duz˙e Format“ – einer Beilage zur „Gazeta Wyborcza“ – die Reportage Rez˙yser i rozgwiazdy (Der Regisseur und die Seesterne) von Iga Dzieciuchowicz, deren Protagonistinnen, Studentinnen der Tanztheaterabteilung der Akademie für 1 Sid: Kraków. Prokuratura rozszerza zarzuty dla b. dyrektora Teatru Bagatela Jacka Henryka S. In: „Gazeta Wyborcza“ [Kraków], 18. 06. 2020 [online]. https://krakow.wyborcza.pl/krako w/7,44425,26043133,krakow-prokuratura-rozszerza-zarzuty-dla-b-dyrektora-teatru.html [26. 03. 2021]. 2 M. Sadovska: Coming out. In: „Dwutygodnik“ 292 / 2020 [online]. https://www.dwutygod nik.com/artykul/9125-coming-out.html [26. 03. 2021].

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Theaterkunst in Krakau, den Regisseur Paweł Passini der sexuellen Belästigung während der Arbeit an der Diplomvorstellung beschuldigten. Als es den Anschein hatte, dass sich die polnische Version von #MeToo im Vergleich zu dem Tempo, in dem Gewalttaten in westlichen Ländern aufgedeckt werden, extrem schleppend entwickelt, sprach die Schauspielerin Anna Paliga im März 2021 über gewalttätige Praktiken an der Filmschule in Łódz´. Zunächst erhob sie am 16. März beim Kleinen Rat der Filmschule in Łódz´ Vorwürfe der Gewalt und Grenzüberschreitung gegen mehrere Dozenten, darunter den ehemaligen Rektor der Schule, Mariusz Grzegorzek. Einen Tag später postete sie auf ihrem Facebook-Profil eine Abschrift dieser Rede, in der sie diejenigen namentlich erwähnte, die im Unterricht Gewalttaten begangen hatten. Die Rektorin der Universität, Milenia Fiedler, reagierte auf ihren Beitrag mit einer Erklärung, in der sie versicherte, dass die Universitätsbehörden alle Unregelmäßigkeiten untersuchen und Verfahren einführen würden, um Studenten vor ähnlichen Situationen zu schützen. Der Eintrag von Anna Paliga rief, ähnlich wie frühere Enthüllungen, starke Emotionen in der Öffentlichkeit hervor. Die Mainstream-Medien begannen, Kommentare und Artikel zu diesem Thema zu veröffentlichen, und die Präsenz von Gewalt in der Schule und in Kunsteinrichtungen wurde zu einem öffentlichen Thema. Wie wichtig dieses Thema ist, zeigen Bekenntnisse weiterer Opfer, die im Internet gepostet und auf einem eigens eingerichteten Facebook-Profil namens „Spod dywanu polskiego teatru“ („Unter dem Teppich des polnischen Theaters hervor“) geteilt werden. Weitere Namen tauchen auf der Liste der Pädagogen und Künstler auf, die sich aggressiv gegenüber Schülern verhalten, sie erniedrigt, eingeschüchtert und ihrer Würde beraubt fühlten. Zu den Regisseuren und Schauspielern werden sich wahrscheinlich bald auch die Theaterleiter gesellen. Die Lawine ist ins Rollen gekommen und es scheint, dass dieser Prozess nicht mehr aufzuhalten ist. Nicht nur, weil sich unter den zur Rechenschaft gezogenen Personen anerkannte und allseits geschätzte Künstler befinden, die öffentliche Sympathien genießen. Nicht unbedeutend ist auch die Tatsache, dass die Zahl der Geschichten über das erlittene Leid täglich wächst, und während ich diesen Artikel Ende März 2021 schreibe, dürfte sie in die Dutzende gehen. Das bedeutet, dass die Gewalt im polnischen Theater systemischen Charakter hat. Die gegenwärtige Krise, die man als ethisch oder moralisch bezeichnen kann, ist nicht die erste schwierige Situation, mit der sich das institutionelle Theater in Polen in den letzten dreißig Jahren auseinandersetzen musste. Von Zeit zu Zeit sahen sich Theaterregisseure und Künstler mit verschiedenen Versuchen konfrontiert, das künstlerische Leben seitens der Politiker, der Vertreter rechter Organisationen oder Kreise, die der katholischen Kirche in Polen nahestehen, zu beeinflussen und das Theater für den ideologischen Kampf zu nutzen, es sei nur an den Fall des Stückes Der Fluch in der Inszenierung von Oliver Frljic´ am Teatr

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Powszechny in Warschau (2017) zu erinnern, wofür das Theater und die Künstler, die in dem Stück auftraten, von rechten und katholischen Kreisen angegriffen wurden. Die Versuche der Politiker, das Theaterleben nach ihren eigenen politischen Interessen zu gestalten, erfolgten meist in Form von Akten mehr oder weniger wirksamer Zensur: moralischer, religiöser und schließlich – in den letzten Jahren – auch wirtschaftlicher.3 Dies waren jedoch Maßnahmen außerhalb der Institution. Die aktuelle Krise scheint insofern anders zu sein, als dass sie interne Strukturen betrifft und sich als ein Problem der gesamten Theatergemeinschaft erweist. Dies sind nicht mehr nur Einzelfälle. Die Anzahl der aufeinanderfolgenden Enthüllungen von Gewalttaten zeigt das Ausmaß des Phänomens und deutet gleichzeitig auf die Notwendigkeit ernsthafter Änderungen im System der Funktionsweise von institutionellen Theatern in Polen hin.

Theater als Institution Die Funktionsweise der öffentlichen Kultureinrichtungen in Polen wird vor allem durch das Gesetz vom 25. Oktober 1991 über die Organisation und Verwaltung der kulturellen Tätigkeit4 geregelt, das in den folgenden Jahren geändert wurde. Auf seiner Grundlage haben öffentliche Theater Rechtspersönlichkeit – sie arbeiten als künstlerische Institutionen. Grundlage für die Existenz einer Institution ist ein Rechtsakt über die Gründung einer Kultureinrichtung und ein Eintrag in das entsprechende Register. Weitere Fragen, die den Sitz des Theaters, den Umfang seiner Tätigkeit sowie die Leitungs- und Beratungsorgane betreffen, sind in der vom Veranstalter erlassenen Satzung zu finden. Die interne Organisation der Einrichtung wiederum wird durch das Organisationsreglement festgelegt, das vom Leiter der Einrichtung nach Absprache mit dem Veranstalter sowie den im Theater tätigen Gewerkschaftsorganisationen und Künstlerverbänden erstellt wird.5 Der angeführte Satz von Dokumenten schafft nicht nur den rechtlichen 3 Siehe D. Przastek: Polityki kulturalne a wolnos´c´ wypowiedzi artystycznej w Polsce w latach 1989–2015. Warszawa 2017; M. Beylin: Strategie samoobrony. In: „Dialog“ 1 / 2016, S. 49–57; A. Głowacka: Cenzura w przebraniu – nowe formy wpływu na z˙ycie teatralne w Polsce. In: Kontexty alternatívneho diva dla v súcˇasnom mys´lení. Hrsg. M. Pukan, E. Kusˇnirová. Presˇov 2017, S. 38–58. 4 Ustawa z dnia 25 paz´dziernika 1991 r. o organizowaniu i prowadzeniu działalnos´ci kulturalnej, tekst jedn., Dz. U. 1991 Nr 114, poz. 493 [Gesetz vom 25. Oktober 1991 über die Organisation und Verwaltung der kulturellen Tätigkeit, einheitlicher Text, Gesetzblatt 1991 Nr. 114, Pos. 493]. 5 Ustawa z dnia 25 paz´dziernika 1991 r. o organizowaniu i prowadzeniu działalnos´ci kulturalnej, tekst jedn.: Dz. U. 1991 Nr 114, poz. 493, art. 13, ust. 1 [Gesetz vom 25. Oktober 1991 über die Organisation und Verwaltung der kulturellen Tätigkeit, einheitlicher Text, Gesetzblatt Nr. 114, Pos. 493, Art. 13, Abs. 1].

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Rahmen für das Funktionieren der Institution, sondern zeigt auch die Machtfelder, die damit verbundene Entscheidungsfindung und die Verantwortung der einzelnen Akteure des Kunstfeldes auf. Das Gesetz sanktioniert und perpetuiert ein hierarchisches Modell der kulturellen Organisation. Es reproduziert vielmehr eine bestimmte Realität (es wurde als Reaktion auf bereits bestehende Praktiken geschaffen), aber andererseits gestaltet es diese auch, indem es einen rechtlichen Rahmen für die Institution schafft. Die Einrichtung wird von einem Intendanten geleitet, der die Organisation führt und nach außen vertritt. In seinen Händen ist somit alle Macht, aber auch alle Verantwortung konzentriert. Der Intendant berichtet direkt an die Beamten der Aufsichtsorgane: an den Minister für Kultur und Nationales Erbe im Falle einer staatlichen Kultureinrichtung oder an die Woiwodschaftsmarschälle und Bürgermeister im Falle einer kommunalen Kultureinrichtung. Es sollte hinzugefügt werden, dass diese Beamten in der Regel Politiker sind, was zu der Situation führt, über die Daniel Przastek schreibt, wenn er die Kulturpolitiken in Polen in den letzten dreißig Jahren analysiert: „Allerdings gibt es in unserem Land immer noch starke Tendenzen der Unterordnung und ideologisch-doktrinären Einschränkung der Kunst durch Politiker verschiedener Ebenen oder Verfechter von ‚Werten‘“6, mit anderen Worten, die Kultur wird manchmal für politische Spiele benutzt, unabhängig davon, welche politische Option der Kulturminister, der Woiwodschaftsmarschall oder der Bürgermeister der Stadt vertritt. Ein deutliches Beispiel für diese Tendenz war der Wechsel in der Position des Intendanten am Teatr Polski in Wrocław nach dem Ende der Amtszeit von Krzysztof Mieszkowski im Jahr 2016. Versuche, den Intendanten loszuwerden, der von den Verantwortlichen nicht akzeptiert wurde, obwohl das Theater eine bedeutende Marke in Polen und im Ausland war, gab es während seiner Vertragslaufzeit mehrmals.7 Sie verstärkten sich jedoch nach 2015, als Mieszkowski ein Mandat als Abgeordneter des Sejm von der Liste der Partei Nowoczesna gewann, die damals ein Rivale der in der Woiwodschaft Niederschlesien regierenden Koalition aus Platforma Obywatelska und Polskie Stronnictwo Ludowe war. Der Marschall der Woiwodschaft, Cezary Przybylski (PO), und sein für Kultur zuständiger Stellvertreter, Tadeusz Samborski (PSL), hätten bereits ein Jahr zuvor versucht, so Mieszkowski, die damalige Ministerin für Kultur und Nationales Erbe, Małgorzata Omilanowska, zu überzeugen, ihn als Intendanten

6 D. Przastek: Polityki kulturalne, (Anm. 3), S. 129f. 7 Siehe P. Rudzki: Rudzki: Konkurs nie jest recepta˛ na wszystko. Interview von D. Krawczyk. In: „Krytyka Polityczna“ 70 / 2016 [online]. https://krytykapolityczna.pl/kultura/teatr/rudzki-kon kurs-nie-jest-recepta-na-wszystko/ [29. 03. 2021].

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durch Cezary Morawski zu ersetzen.8 Dies gelang schließlich 2016, als Morawski den Wettbewerb gewann, der aber – wie Piotr Rudzki (der damalige Hauptdramaturg des Theaters) und der mit dem Theater zusammenarbeitende Regisseur Krystian Lupa, die bei der Sitzung des Wettbewerbskomitees als Vertreter der Mitarbeiter des Teatr Polski anwesend waren, berichteten – nicht fair war. Morawski wurde noch vor Beginn des Wettbewerbs zum Intendanten gewählt.9 Das Gesetz über die Organisation und Verwaltung der kulturellen Tätigkeit wurde in den folgenden Jahren mehrmals geändert, und der Zweck dieser Änderungen war – wie es scheint – den Kultureinrichtungen und ihren Leitern mehr Autonomie zu geben, was nach der kommunistischen Zeit, als die Politiker einen enormen Einfluss auf die Aktivitäten der Institutionen und ihr Programm hatten, nicht unbedeutend war. Die am tiefsten greifenden Änderungen, die 2011 eingeführt wurden, resultierten aus den Debatten und Schlussfolgerungen nach dem Kongress der polnischen Kultur, der 2009 in Krakau stattfand. Damals wurde die Unterscheidung zwischen Kultureinrichtungen mit Verallgemeinerungscharakter, die kontinuierlich arbeiten (z. B. Museen, Kunstgalerien, Kulturzentren, Kinos, Bibliotheken), und solchen eingeführt, deren Hauptziel das künstlerische Schaffen ist, das auf der Grundlage von künstlerischen Spielzeiten vorbereitet wird – die Repertoirepläne werden vom 1. September bis zum 31. August des folgenden Jahres festgelegt (z. B. Theater, Opern, Operetten, Orchester, Philharmonien, Gesangs- und Tanzensembles, Chorgruppen). Die Gesetzesnovelle spezifizierte das Verfahren für die Ernennung der Leiter und klärte ihre Kompetenzen, indem sie darauf hinwies, dass sie nicht nur die künstlerische Institution nach außen vertreten, sondern auch für deren künstlerische und ideelle Tätigkeit verantwortlich sind (der Umfang der finanziellen Verantwortung der Leiter wird auch durch andere Rechtsakte geregelt, u. a. durch das Gesetz vom 27. August 2009 über öffentliche Finanzen10). Ein wichtiges Element der Veränderung war die Einführung von befristeten Managementverträgen für Intendanten, was im Falle von Theatern eine Laufzeit von drei bis fünf künstlerischen Spielzeiten bedeutet. Bis dahin wurden Intendanten in diese Position berufen, ohne dass die Dauer des Vertrages festgelegt wurde, was ihnen in der Praxis nicht die Möglichkeit einer langfristigen Planung, 8 K. Mieszkowski: Teatr Polski we Wrocławiu. Zamach na teatr i demokracje˛. Interview von D. Wodecka. In: „Gazeta Wyborcza“, 1. 09. 2016 [online]. https://wyborcza.pl/7,75410,2062757 9,zamach-na-teatr-i-demokracje.htm [9. 03. 2021]. 9 M. Piekarska: Po konkursie na dyrektora Teatru Polskiego Mieszkowski chce zawiadomic´ prokurature˛. In: „Gazeta Wyborcza“ [Wrocław], 23. 08. 2016 [online]. https://wroclaw.wyborc za.pl/wroclaw/1,35771,20586509,po-konkursie-na-dyrektora-teatru-polskiego-mieszkowskichce.html [29. 03. 2021]. 10 Siehe Ustawa z dnia 27 sierpnia 2009 r. o finansach publicznych, Dz. U. 2009 r. Nr 157, poz. 1240 [Gesetz vom 27. August 2009 über öffentliche Finanzen, Gesetzblatt 2009 Nr. 157, Pos. 1240].

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Schaffung und Umsetzung von künstlerischen und organisatorischen Strategien für das Theater garantierte. Sie konnten jederzeit vom Aufsichtsorgan abberufen werden, ohne dass es einer besonderen Begründung bedurfte. Das machte ihre berufliche Position von politischen Faktoren abhängig: von ihrem diplomatischen Geschick im Dialog mit Politikern verschiedener Couleur, von ihren persönlichen Beziehungen zu den Beamten, von ihrer Fähigkeit, das Programm des Theaters in die ästhetischen Erwartungen der Beamten oder gar in den von ihnen gewünschten ideologischen Kontext einzupassen. Die Abhängigkeit des Intendanten vom Willen des Beamten, der die Aufsichtsbehörde vertrat, setzte die Institution wiederum verschiedenen tektonischen Verschiebungen aus, die mit einem plötzlichen Wechsel in der Leitung verbunden waren. Wenn man natürlich aus heutiger Sicht die Mechanismen betrachtet, die die Autonomie einer Institution gewährleisten sollten, d. h. das Recht des Intendanten, das Repertoire frei zu gestalten, über die Organisationsstruktur der Institution und das System der Produktion von Aufführungen zu entscheiden, ist es schwer, nicht zu bemerken, dass diese illusorisch sind. Wie die Art und Weise der Vereinnahmung von Kultureinrichtungen durch Politiker vor allem in den letzten Jahren zeigt, schützen sie Organisationen nicht wirksam vor Politisierung. Die Politiker haben mindestens zwei Möglichkeiten, das Programm einer Institution zu beeinflussen, auch wenn das Gesetz dem Intendanten in dieser Hinsicht Autonomie einräumt. Erstens hat der Veranstalter das entscheidende Mitspracherecht bei der Auswahl des Intendanten. Dies geschieht entweder direkt durch Nominierung (mit Zustimmung des Kulturministers) oder indirekt durch einen Wettbewerb. Da der Veranstalter in der neunköpfigen Kommission mit drei Vertretern am stärksten vertreten ist, reicht eine Absprache mit zwei Vertretern des Kulturministers, und der Ausgang des Wettbewerbs steht schon vor dessen Abschluss fest. Deshalb ist in Theaterkreisen immer wieder von Missständen die Rede, u. a. von manipulierten Wettbewerben. Paweł Ploski schreibt dazu: „Die heutige Praxis zeigt, dass eine richtig gewählte Zusammensetzung des Komitees dem Veranstalter die Auswahl des Kandidaten sichern kann, für den er sich schon vor dem Wettbewerb entschieden hat. Dies alles unter Beibehaltung eines demokratischen Verfahrens.“11 Ein Beispiel dafür ist der bereits erwähnte Wettbewerb am Teatr Polski in Wrocław. Der zweite Weg, für externe Beobachter weniger sichtbar, obwohl er für die Institution schmerzhaft ist, hängt mit ihrer Finanzierung zusammen. Das Gesetz über die Organisation und Verwaltung der kulturellen Tätigkeit erlegt dem Veranstalter die Verpflichtung auf, u. a. die finanziellen Mittel bereitzustellen, die für die Aufnahme und Durchführung der kulturellen Tätigkeit sowie für die 11 P. Płoski: Serial „Dyrektorzy“. Dzieje prawnego unormowania statusu dyrektora. In: „Zarza˛dzanie w Kulturze“ 18, 3 / 2017, S. 423–441, hier S. 440.

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Erhaltung des Objekts erforderlich sind. „Allerdings – stellt Przastek fest, indem er die Rechtsakte analysiert, die den Rahmen für das Funktionieren der öffentlichen Kultureinrichtungen in Polen bilden – gibt es keine rechtliche Garantie dafür, dass der Leiter einer Kultureinrichtung sein Programm völlig unabhängig, ohne Druck oder Einfluss der Leitungsorgane durchführen kann.“12 In der Praxis kann der Veranstalter, der gesetzlich verpflichtet ist, einen ausreichenden Zuschuss zu gewähren, um die Kosten für den Betrieb der Einrichtung und die Realisierung des künstlerischen Programms zu decken, diese Bestimmungen nicht ohne Konsequenzen aufbringen kann. Obwohl vor der Ernennung ein Vertrag zwischen ihm und dem Veranstalter geschlossen wird, in dem die organisatorischen und finanziellen Bedingungen sowie das Tätigkeitsprogramm der Einrichtung festgelegt werden, ist nur eine Partei privilegiert. Der Rücktritt vom Vertrag hat nur Konsequenzen für den Direktor, der seinen Posten verlieren kann. Der Veranstalter muss sich nicht an die im Vertrag getroffenen Vereinbarungen halten. Er verfügt über finanzielle Mittel und kann auf die Existenz der Einrichtung Einfluss nehmen, indem er z. B. den Zuschuss kürzt und damit die Realisierung des künstlerischen Programms durch den Direktor verhindert. Das Fehlen ausreichender finanzieller Mittel, die durch das Gründungsgremium sichergestellt werden, war übrigens der Grund für den Rücktritt von Grzegorz Jarzyna vom Posten des Intendanten von TR Warszawa zur Jahreswende 2012 und 2013. Man muss jedoch hinzufügen, dass das Handeln von Jarzyna ein Einzelfall war. Die meisten Intendanten akzeptieren dieses Vorgehen. Nach der Klassifizierung des öffentlichen Kulturmäzenatentums der Ökonomen Harry Hillman-Chartrand und Claire McCaughey bezeichnet das Modell, in dem Beamte und Politiker über die Verteilung der öffentlichen Mittel entscheiden, also das Architekten-Modell, auch den Einflussbereich der Mäzene. Ganz anders könnte die Situation beim Patron-Modell sein, bei dem die Gelder von Kunsträten verteilt werden, welche aus unabhängigen Experten bestehen, die anstelle von Politikern über die Vergabe von Zuschüssen entscheiden13, was die Kultur in gewisser Weise unabhängig von der politischen Konjunktur macht. Das Postulat der Vergesellschaftung der Entscheidungsprozesse, das immer wieder von den mit der Kultur verbundenen Kreisen in Polen formuliert wird, z. B. „durch die Einschaltung von Expertenteams, Beratern, Wettbewerbskommissionen und die Initiierung von öffentlichen Diskussionen zu wichtigen kulturellen Problemen“14 scheint bisher auf taube Ohren zu stoßen, oder wenn es irgendwie umgesetzt wurde, hatte es einen Fassadencharakter. 12 D. Przastek: Polityki kulturalne, (Anm. 3), S. 141. 13 K. Lewandowska: Sfera autonomii, sfera biurokracji. Relacje polskich teatrów publicznych i ich organizatorów w perspektywie mie˛dzynarodowej. In: „Zarza˛dzanie w Kulturze“ 18, 3 / 2017, S. 405–421. 14 D. Przastek: Polityki kulturalne, (Anm. 3), S. 131.

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Trotz ständiger Änderungen sieht das Gesetz keine moderneren Modelle für den Betrieb von Kultureinrichtungen vor, die an die sich verändernde Realität angepasst wären. Es scheint, dass innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens auch in Kultureinrichtungen und auf verschiedenen Ebenen der öffentlichen Verwaltung Widerstand gegen Veränderungen (z. B. in Bezug auf den Managementstil oder die Einführung eines Kodex guter Praktiken) besteht. Eine der zunehmend verbreiteten Thesen ist die Überzeugung, dass: „kulturelle Tätigkeit in Polen auf viele Barrieren stößt, sowohl konzeptionell und systemisch als auch operativ. Oftmals wird die Umsetzung von Aufgaben durch mangelnde Kompetenz der Kulturmanager behindert.“15 Interessanterweise werden während des Wettbewerbsverfahrens die sozialen oder Managementkompetenzen eines Kandidaten für den Intendentenposten nicht überprüft, z. B. werden keine psychologischen Tests durchgeführt, die es erlauben würden, die Veranlagungen zur Leitung eines oft nicht unbedeutenden Teams zu untersuchen. Wettbewerbsausschüsse sind in der Regel mit Berichten über die berufliche Entwicklung, Zeugnissen und Empfehlungen zufrieden. In Anbetracht der Art und Weise der Organisation von Wettbewerben und der Praxis der Befragung von Kandidaten kann man schelmisch sagen, dass es manchmal schwieriger ist, in eine Theaterschule zu kommen (potenzielle Studenten nehmen an einem mehrstufigen Wettbewerb teil), als ein Theaterintendant zu werden. Das Gesetz perpetuiert nicht nur ein hierarchisches Kulturmodell, sondern stärkt auch die Interessen derjenigen gesellschaftlichen Gruppen, die für die Schaffung von Institutionen verantwortlich waren oder sind. In dem neunköpfigen Wettbewerbsausschuss kann das Theaterensemble nur mit zwei Personen vertreten sein, so dass es keinen wirklichen Einfluss auf die Auswahl des Regisseurs hat, mit dem es zusammenarbeiten wird. In der Rolle der Arbeitnehmervertreter tauchen gemäß den gesetzlichen Bestimmungen in der Regel Vorsitzende oder Mitglieder von Gewerkschaften auf, sofern solche in der Einrichtung existieren. Paradoxerweise passiert es nicht selten, dass diese Personen vom Theaterpersonal nicht als Repräsentanten behandelt werden. Die von mir und Dorota Fox in öffentlichen Theatern in Oberschlesien durchgeführten Untersuchungen zur Intendantenwahl zeigen, dass die Gewerkschaften in der Institution oft nicht erkennbar sind und die Mitarbeiter ihnen misstrauen, weil sie glauben, dass sie von Leuten gegründet werden, die dies in ihrem eigenen Interesse tun – der Vorsitzende einer Gewerkschaft kann nicht entlassen werden.16 Die Mitarbeiter haben auch wenig Einfluss auf die interne Organisation der 15 M. Januszewska: Wpływ polityki kulturalnej na funkcjonowanie instytucji kultury w Polsce. In: „Studenckie Prace Prawnicze, Administracyjne i Ekonomiczne“ 18 / 2015, S. 41–56, hier S. 56. 16 Siehe D. Fox, A. Głowacka: Dyrektor odchodzi, zespół zostaje. In: „Zarza˛dzanie w Kulturze“ 21, 2 / 2020, S. 91–106.

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Einrichtung. Sie werden nicht in den Prozess der Erstellung des Organisationsreglements eingebunden, das laut Gesetz vom Intendanten nur nach Konsultation der in der Einrichtung tätigen Gewerkschaftsorganisationen und Künstlervereinigungen erstellt werden darf. Das Gesetz ahmt nach, entwirft aber auch eine Leiter der Unterordnung, die denjenigen auf höheren Ebenen größere Privilegien und Macht verleiht, obwohl dies in der Praxis nicht immer mit Verantwortung verbunden ist. Es schützt jedoch nicht die Interessen derjenigen, die auf den unteren Ebenen der Hierarchieleiter stehen. Die Situation des Theaters und des Intendanten, der es leitet, hängt vom Willen der Politiker und Beamten ab, die in der Praxis für falsche Entscheidungen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Das Schicksal der Mitarbeiter wiederum hängt vom Intendanten ab, der – wie die Situation im Bagatela-Theater in Krakau zeigte – seine Macht jahrelang missbrauchen konnte. Interessanterweise begannen die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in diesem Fall nicht, nachdem der Missbrauch dem Aufsichtsorgan des Theaters, d. h. dem Präsidenten der Stadt Krakau, gemeldet wurde, sondern erst nachdem die Informationen darüber in den Medien veröffentlicht wurden. Wenn man darüber nachdenkt, welches Modell gesellschaftlicher Beziehungen sich sowohl im Gesetz als auch in der theatralen Praxis widerspiegelt, erscheint es nicht abwegig, an die Beobachtungen von Andrzej Leder anzuknüpfen, der mit den Mitteln der Psychoanalyse die phantasmatischen Konstrukte demontierte, die die Polen als Gesellschaft organisieren: Ich denke, dass die tieferen, weniger bewussten Schichten des zeitgenössischen polnischen Imaginariums eher von der Tradition der Gutsherrschaft mit ihrer brutalen Aufteilung in „Herren“ und „Bauern“ genährt werden. […]. Es ist, als ob diese besser eingesehene und öfter geäußerte Position des Subjekts innerhalb des Phantasmas der Rebellion, des Kampfes und der Niederlage angesiedelt wäre, während die tiefere, den Habitus der alltäglichen Lebenspraktiken diktierende, irgendwo in der Welt der Gutshofs-Dominanz platziert wäre, dem Phantasma des gegenseitigen Blicks zwischen Gutsherren und Tagelöhnern.17

Dies überträgt sich natürlich auf die heutigen Arbeitsbeziehungen, insbesondere auf die Haltung von Führungskräften gegenüber ihren Mitarbeitern in Unternehmen oder Konzernen, aber auch – wie sich herausstellt – in kulturellen Einrichtungen. Leder weist auf eine Art Verschiebung im kollektiven Unbewussten hin, die für die Form und den Charakter vieler sozialer Beziehungen verantwortlich ist: „Die physische Entfernung der Gutsbesitzer von dem Ort, den sie im früheren Imaginarium einnahmen, schuf eine ‚symbolische Leere‘. In diese

´ wiczenie z logiki historycznej. Warszawa 2013, S. 16. 17 A. Leder: Przes´niona rewolucja. C

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Leere traten andere ‚Notabeln‘ ein. […] Die Haltung ihnen gegenüber wurde sicherlich von den im ‚Hinterkopf‘ steckenden Gutshofsbeziehungen diktiert.“18 Die Notwendigkeit, das Theatersystem zu verändern oder sich für neue Möglichkeiten zu öffnen, wird auch von Künstlern erkannt. Bereits 2017 schrieb die Theaterregisseurin Weronika Szczawin´ska, dass sich zwar auf der Ebene der Theorie viel tue, Künstler verschiedene Modelle der Zusammenarbeit erproben und kommentieren, es aber nicht gelungen sei, die „Grundlagen unseres Denkens über Theater zu anzutasten.“19 Es stimmt, dass der Artikel 15a des Gesetzes die Möglichkeit schafft, die Leitung einer Institution nicht nur einer natürlichen, sondern auch einer juristischen Person anzuvertrauen20, was bedeutet, dass ein öffentliches Theater von einem Verein oder einer Stiftung betrieben werden kann, so dass die Möglichkeit besteht, es auf eine kollektivere Weise zu verwalten. In gewissem Sinne öffnet dies die Tür zu einem Prozess der Demokratisierung der Institution, wenngleich diese Lösungen in der Praxis selten genutzt werden.

Kritische Kulturinstitutionen Die Anfänge der institutionellen Kritik, deren Ziel in der Untergrabung und Entlarvung von Mechanismen liegt, die für das Funktionieren der Kunstinstitutionen verantwortlich sind, hängen mit Aktionen von bildenden Künstlern zusammen. In den 1960er Jahren entstand in Nord- und Südamerika sowie in Europa eine Bewegung, die eine Reaktion „auf das modernistische Paradigma der kulturellen Institutionen, der Funktion der Kunst und der Rolle des Künstlers“ war.21 Institutionelle Kritik, die sich mit Praktiken, Strukturen und Arbeitsmethoden in der Kunst beschäftigt bedeutet im engeren Sinne eine solche künstlerische Tätigkeit, die die im Bereich der Kunst tätigen Institutionen wie Galerien, Museen oder Kunsthochschulen sowie den Kunstmarkt zusammen mit den ökonomischen Mechanismen, die die künstlerische Produktion und ihre Distribution bedingen, zum Gegenstand hat. […] In einem weiteren Sinne wird „Institution“ das Kunstfeld zusammen mit den Bräuchen und Konzepten, die es definieren, bedeuten.22 18 Ebd., S. 143f. 19 Siehe W. Szczawin´ska: Teoretyczne demokracje, praktyczne instytucje. In: „Polish Theatre Journal“ 1/ 2015 [online]. https://www.polishtheatrejournal.com/index.php/ptj/article/down load/121/489 [2. 04. 2021]. 20 Ustawa z dnia 25 paz´dziernika 1991 r. o organizowaniu i prowadzeniu działalnos´ci kulturalnej, tekst jedn.: Dz. U. 1991 Nr 114, poz. 493, art. 15a [Gesetz vom 25. Oktober 1991 über die Organisation und Verwaltung der kulturellen Tätigkeit, einheitlicher Text, Gesetzblatt Nr. 114, Pos. 493, Art. 15a]. 21 P. Sikora: Krytyka instytucjonalna w Polsce w latach 2000–2010. Wrocław 2015, S. 54. 22 Ebd., S. 54f.

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Die Definition und Bedeutung der institutionellen Kritik änderte sich je nach dem Kontext, der Reaktionen von Künstlern hervorrief, die in diesem Bereich der Kunst aktiv waren. In den 1960er und 1970er Jahren, die als erste Welle der institutionellen Kritik gelten, ging es um die Frage, welche Machtverhältnisse von der Institution ausgeübt werden, wessen Interessen in ihr und von ihr berücksichtigt werden und wer an den Rand oder jenseits der Sphäre der Sichtbarkeit gedrängt wird; diese Art der Kritik entstand in der Welle der Gegenkultur Ende der 1960er Jahre. Die zweite Welle, die in den 1980er und 1990er Jahren entstand, war besonders sensibel für den Einfluss des Kapitalismus auf das Funktionieren der Institutionen, des Kunstmarkts und der Künstler. Sie reflektierte die Rolle des Künstlers und den Raum, in dem der Diskurs der Kunst stattfindet.23 Die dritte Welle der institutionellen Kritik schließlich stammt aus den letzten Jahren und wird als „institutierende“ Praktik bezeichnet, die institutionelle Kritik im bisherigen Sinne mit Gesellschafts- und Selbstkritik verbinden. „Diese Kombination – schrieb der Philosoph und Kunsttheoretiker Gerald Ranning 2006 – wird sich vor allem aus den direkten und indirekten Verbindungen politischer Praktiken und sozialer Bewegungen entwickeln, ohne dabei die künstlerischen Strategien und Kompetenzen oder die Ressourcen und die Wirksamkeit der Kunst selbst aufzugeben.“24 In ihrer ausführlichen Einleitung zur Beschreibung der Ursprünge der institutionellen Kritik in der bildenden Kunst in Polen betont Patrycja Sikora, dass im Kern des kritischen Denkens über die Institution als Pfeiler für das künstlerische Schaffen „der Wille zum Kampf, zur Opposition, zur Diskussion, zur Verhandlung mit der Institution als Ausdruck oder Repräsentation einer Gruppe, die die Macht innehat und an ihrer Legitimierung, Rechtskrafterlangung und der Schaffung eines gesellschaftlich akzeptablen Bildes interessiert ist“25, liegt. Ein Raum für solche Aktionen bildet die gegenwärtige engagierte Kunst, die sich mit den Bereichen beschäftigt, in denen Institutionalisierung die Form der Kunst beeinflusst. Ebenfalls von Bedeutung ist bei diesen Aktivitäten der entgegengesetzte Vektor, der sich auf den Einfluss der Kunst auf verschiedene Lebensbereiche bezieht: den moralischen, religiösen, sozialen oder politischen. Gefragt wird nicht nur nach den Bedingungen, unter denen Kunst entsteht, sondern auch, wie sie ihre Umgebung beeinflussen kann. Zu den kritischen Aktivitäten gehören auch Initiativen, die versuchen, „den institutionellen Rahmen neu zu verhandeln oder zu untergraben, und manchmal […] postuliert [die Kunst], darüber hinauszugehen und bezieht sich auf Praktiken, die alternativ zu insti23 Ebd., S. 55. 24 G. Ranning: Praktyki instytuuja˛ce. Uciekanie, instytuowanie, przekształcanie. Übersetzt von A. Bubiło, B. Wójcik [online]. https://transversal.at/transversal/0106/raunig/pl [2. 04. 2021]. 25 P. Sikora: Krytyka instytucjonalna, (Anm. 21), S. 144.

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tutionellen Strukturen sind“ (kollektive Modelle der Zusammenarbeit, Kunst im urbanen Raum, Nutzung des Internets als noch nicht vollständig politisierten Raums).26 Der nächste Schritt in der Entwicklung der institutionellen Kritik ist der Übergang „von der Kritik der Institution zur kritischen Institution“. Dieser Prozess wurde von Piotr Piotrowski klar umrissen. Nach einer kurzen Tätigkeit als Leiter des Nationalmuseums in Warschau in den Jahren 2009–2010 veröffentlichte er ein Buch, in dem er sein Konzept für die Entwicklung des Museums vorstellte. Damals wurde seine Idee vom Kuratorium der Einrichtung nicht akzeptiert, was der Grund für seinen Rücktritt war. Piotrowskis Idee des Programms für das Nationalmuseum als kritische Kulturinstitution beruhte auf drei Säulen: 1. der Aktivität im öffentlichen Raum und Teilhabe an den Prozessen der Demokratisierung, die dem Aufbau einer offenen, bürgerlichen Gesellschaft förderlich sind und damit gesellschaftlich wichtige und oft kontroverse Themen aufgreifen; 2. der Selbstkritik, die in einem Dialog mit der eigenen Tradition, der Autorität und dem von der Institution geschaffenen Image besteht; 3. einer programmatischen Ausrichtung auf die Ränder und nicht auf die Zentren der westlichen Kultur,27 was in erster Linie der geographischen Lage des Museums und seinen finanziellen Möglichkeiten geschuldet war, die es in Bezug auf die Ressourcen nicht mit den größten europäischen Museen konkurrieren ließen, was aber nicht die Möglichkeit ausschloss, ein attraktives Programm zu gestalten. Piotrowskis Erkenntnisse, die sich verallgemeinern und auf andere Bereiche der Kunst übertragen lassen, laufen also auf die Beobachtung hinaus, dass das Engagement einer kritischen Kulturinstitution nicht nur bedeutet, kritische Kunst zu produzieren (obwohl dies oft der Beginn struktureller Veränderungen in einer Institution ist), sondern auch, oder vielleicht vor allem, die Mechanismen ihres eigenen Funktionierens aufzudecken und zu überprüfen. Das konstitutive Element einer solchen Institution ist daher, neben der Reaktion auf die Realität und dem Hineintragen ihrer Projekte in den öffentlichen Raum, die Selbstkritik. Interessanterweise deckt sich der vom Leiter des Nationalmuseums entworfene Prozess der institutionellen Entwicklung bis zu einem gewissen Grad mit der Richtung der Veränderungen, die auch im polnischen Theater stattfinden. Die Kritik am Theater als Institution, die in Polen von der Neo-AvantgardeBewegung, den Studenten- und Off-Theatern, die den traditionellen Rahmen der Theaterproduktion in Frage stellten, in den 1960er Jahren initiiert wurde – wobei auch an die Versuche zur Entwicklung eines neuen Modells des polnischen Theaters durch Mieczysław Limanowski und Juliusz Osterwa in den 1920er und 26 Ebd., S. 144. 27 P. Piotrowski: Muzeum krytyczne. Poznan´ 2011, S. 74.

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1930er Jahren zu erinnern ist28 – wurde von den Künstlern erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufgenommen. In einer Welle der Kritik am politischen und ökonomischen Neoliberalismus und an den verschiedenen Formen des Aufzeigens von Unterdrückung, die der Kapitalismus mit sich brachte, reflektierten die Künstler der kritischen und politisch engagierten Theaterbewegung auch die Bedingungen ihres eigenen Funktionierens und Herstellens von Kunst. Zum Beispiel enthielten die Produktionen von Monika Strze˛pka und Paweł Demirski Informationen über die Höhe der Gagen, die an die für die Aufführung engagierten Schauspieler gezahlt wurden. In dem am Teatr Polski in Wrocław realisierten Stück Courney Love (2012), kommentierten sie ironisch ihre eigene Situation von Künstlern, die den beruflichen Höhepunkt erreicht haben, obwohl sich ihre Lebenssituation in finanzieller Hinsicht dadurch nicht zum Besseren verändert hat. Die am tiefsten greifende Analyse der Funktionsweise des öffentlichen Theaters in Polen wurde in der Serie Artys´ci (2016) vorgenommen, die die Hinterbühne der Kunstschöpfung offenbart. Den Zuschauern wurde ein stark hierarchisches Umfeld gezeigt, in dem zwischen dem künstlerischen und dem technischen Team weder partnerschaftliche Beziehungen bei der Arbeit noch private Kontakte außerhalb der Bühne erwünscht sind. Das Bild wurde durch eine nervöse Buchhalterin komplettiert, die mit chronischer Untersubventionierung der Institution zu kämpfen hatte und sich in einem Schrank versteckte, sowie einen neuen Direktor, der versuchte, ein künstlerisches Repertoire zu implementieren, was ihn dazu zwang, ständig zwischen den Erwartungen der angeheuerten Künstler, inkompetenten Kulturbeamten und Politikern zu manövrieren. Künstler, die sich mit kritischer Kunst beschäftigen, haben versucht, die im Theater etablierten Hierarchien aufzubrechen, indem sie zum Beispiel technische Angestellte, die normalerweise für das Publikum unsichtbar sind, auf die Bühne brachten und damit ihre Präsenz hinter der Bühne sichtbar machten (wie in den Inszenierungen von Wiktor Rubin) oder, wie in der Aufführung Kwestia techniki unter der Regie von Michał Buszewicz (Narodowy Stary Teatr in Krakau, 2015), indem sie die Rollen von Schauspielern mit Monteuren besetzten, die über 28 Mieczysław Limanowski und Juliusz Osterwa waren Begründer des Experimentaltheaters Reduta, das zwischen 1919 und 1939 in Warschau, Vilnius und Grodno tätig war und auf Laborexperimente in Verbindung mit pädagogischer Tätigkeit (Reduta-Institut) und der Schaffung von Aufführungen abzielte. Die Begründer der Reduta sahen das Theater nicht durch das Prisma der Produktion von Aufführungen, sondern als eine Form der Tätigkeit, die darauf abzielte, „ein Ensemble zu schaffen, das auf Prinzipien eines neuen Typs basiert: das Studium des Schauspiels, die Entwicklung neuer Regeln für Inszenierung und Regie, die langfristige Planung des Repertoires und die Gestaltung des Ethos des Theatermenschen“ (D. Kosin´ski, W. S´wia˛tkowska: Teatr Reduta. Stichwort in der Enzyklopädie des Polnischen Theaters [online]. http://www.encyklopediateatru.pl/teatry-i-zespoly/1215/teatr-reduta [29. 04. 2021]).

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sich selbst sprechen. Obwohl die Aufführungen die Probleme des institutionellen Theaters aufzeigten: Die Existenz einer starken vertikalen Machtstruktur, die nicht nur eine effiziente Kommunikation vereitelt, sondern auch Differenzen verfestigt, Verachtung und Mechanismen der Demütigung institutionalisiert, lösten sie keine Diskussion aus und führten nicht zu systemischen Veränderungen. Das kritische Theater deckte zwar die bedeutenden Missstände des Systems auf, erwies sich aber zu dieser Zeit als unwirksam, da die Erzählungen darüber auf traditionelle Weise innerhalb der bestehenden Ordnung geschaffen wurden. Ästhetik und Konventionen änderten sich, neue Subjekte und Akteure wurden in das Feld der Sichtbarkeit geführt, aber die Prinzipien der Arbeit, die auf alten Machtverhältnissen beruhten, blieben unverändert.

Theater als demokratische Kulturinstitution Die Diskussionen über die Organisation des kulturellen Lebens, die Rolle der Kulturinstitutionen und die Arbeitsweise der Theater kehren in Polen von Zeit zu Zeit mit unterschiedlicher Intensität zurück. Seit fast dreißig Jahren wird mit gemischten Ergebnissen versucht, das vom vorherigen System geerbte System der Organisation und Finanzierung der Kultur zu reformieren und zu verbessern. In letzter Zeit ist auch immer häufiger von einer Demokratisierung der Kultureinrichtungen die Rede, wobei die Postulate zur Entsiegelung des derzeitigen Systems und zur Einführung anderer Organisationsmodelle eher im Bereich der Theorie als der Praxis aufzutauchen scheinen. Bereits vor zehn Jahren forderte Grzegorz Niziołek in seiner Rede während des Forums „Politycznos´c´“ im Rahmen des maltafestivals in Poznan´ die Schaffung von Alternativen zum aktuellen System: […] zwei Jahrzehnte und kein einziges Beispiel für ein neues Modell von Theater. In Polen herrscht immer noch das Modell des Repertoiretheaters vor: mit einem Intendanten und einem künstlerischen Leiter, mit kooperierenden Regisseuren, einem festen Schauspielerensemble und einem mehrere Monate im Voraus geplanten Repertoire. Mit Publikumsorganisationsbüros und Anwesenheitsstatistiken. Wir haben es mit einer Art Monopolisierung des künstlerischen Raums zu tun und mit der Übernahme fast aller öffentlichen Mittel, die für Theateraktivitäten vorgesehen sind.29

Gleichzeitig bewertete er die Repertoiretheater in erster Linie als Raum von Konflikten, mit vielen Akteuren und auf verschiedenen Ebenen des Repertoires, bezogen auf die Produktion von Stücken und Veranstaltungen, oder die Auswahl von Besetzungen. Indem er öffentliche Theater als Orte der Frustration, der 29 G. Niziołek: „dwa tysia˛clecia prawie i ani jednego boga!“. In: „Didaskalia“ 99 / 2010 [online]. http://archiwum.didaskalia.pl/99_niziolek.htm [2. 04. 2021].

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Unerfülltheit und des ständigen Kompromisses diagnostizierte, fügte er hinzu, dass „die Theatergemeinschaft selbst diesen Status quo bewahrt, weil er ein Gefühl der Sicherheit vermittelt,“30 aber auch Raum für viele Missbräuche schaffe. Nicht unbedeutend ist das in Polen vorherrschende Intendanten-RegisseurModell des Theaters, das die hierarchischen Strukturen aufrechterhält und ständig erneuert, „was zählt, ist die Unterwerfung unter die egoistischen Forderungen des Regisseurs – Herrschers,“31 und das – wie die in den letzten Tagen aufgetauchten Zeugnisse von Opfern der Zusammenarbeit mit verschiedenen Künstlern zeigen – kann zu vielen Verfehlungen führen. Die Machtverhältnisse im Theater, die sich aus seiner hierarchischen Struktur ergeben, führen auch zur Institutionalisierung von Gewalt, und ermöglichen es, die eigene Position durch die Mechanismen der Erniedrigung und Verachtung aufzubauen, die – wie Leder nachweist – ein konstitutives Element der Identität der polnischen Gesellschaft sind, übernommen aus dem System der bäuerlich-feudalen Ökonomie: „Die andere Seite des ‚polnischen Stolzes‘ ist die Kultur der Verachtung, in der der Wunsch nach Vergnügen durch die Demütigung und Verachtung der Nachbarn realisiert wird.“32 Monika Kwas´niewska schrieb überzeugend über die Verstrickung des Schauspielers in herrschaftliche Verhältnisse und argumentierte, dass „der Intendant (aufgrund der ihm gesetzlich zugeschriebenen fast absoluten Entscheidungsbefugnis) und manchmal auch der Regisseur (aufgrund des in Polen vorherrschenden Modells des ‚Regisseurtheaters‘ und der damit verbundenen symbolischen Macht) die Rolle des Herrn spielen, während der Schauspieler – die des Sklaven.“33 Die Abhängigkeits- und gegenseitigen Unterordnungsverhältnisse lassen sich leicht auf die übrigen Ensembles ausdehnen, zwischen denen es eine traditionsbedingte Hierarchie gibt: An der Spitze steht das künstlerische Ensemble (im Musiktheater ist das wichtigste das Schauspielerensemble, gefolgt vom Vokalensemble, der Balletttruppe und dem Orchester), dann folgen die administrativen und technischen Teams. Weronika Szczawin´ska stellt fest, dass „das polnische Theater die Fetischisierung seiner Position, seines Berufs bedeutet, innerhalb einer künstlerischen Fabrik, die mächtig und für den Markt arbeitet,“34 und dieser Prozess beginnt bereits in der Theaterschule:

30 31 32 33

Ebd. Ebd. Ebd., S. 99. Siehe M. Kwas´niewska: Aktor w klinczu relacji folwarcznych. In: Dies.: Mie˛dzy hierarchia˛ a anarchia˛. Kraków 2019, S. 134. 34 W. Szczawin´ska: Teoretyczne demokracje, praktyczne instytucje, (Anm. 19), S. 5.

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Wir konstruierten Rollen – wie man ein Regisseur, eine Schauspielerin, ein Kritiker ist. Dazu gehörten ein bestimmter Kodex, Kostümierung, Benehmen und vor allem eine Darbietung der Verachtung für andere Theaterberufe (die Studenten der Abteilung Theaterwissen nannten wir „Abgang um drei Uhr“, im Gegensatz zu uns „hart arbeitenden“ Praktikern, die selten die Schulmauern verließen). Die Theatergemeinde liebt eine solche Identitätsdarstellung. Die Hoffnung auf Veränderung liegt in der Schaffung eines anderen Arbeitsmodells, einer anderen Art der Produktion von Aufführungen, einer anderen Institution.35

Es fällt schwer, nicht zuzustimmen, dass das derzeitige System reformiert werden muss, obwohl selbst seine Kritiker sich fragen, wie dies unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen durchgeführt werden soll, wenn immer mehr Institutionen von rechten Politikern „übernommen“ werden und Diskussionen über kontroverse Themen neue Spaltungen verursachen und die ohnehin nicht sehr gute Position von Künstlern, Kunstproduzenten und den Institutionen selbst schwächen können.36 Paradoxerweise provoziert jedoch der politische Kontext, der für die Entwicklung der Kultur ungünstig ist, eine Diskussion über die Demokratisierung der kulturellen Institutionen. Es scheint, dass die Befähigung sowohl der Mitarbeiter als auch des Publikums die Institutionen wirksam vor der Vereinnahmung durch die für die Organisation der öffentlichen Kultur in Polen verantwortlichen Politiker schützen könnte, unabhängig davon, ob die Übernahme in einer Ideologisierung der Institution oder in ihrer Reduzierung auf eine kommerzielle Dimension bestehen sollte. Wie Bojana Kunst treffend anmerkt: Wenn wir darüber nachdenken, wie Kunst für die Demokratie arbeiten kann, wenn wir für ihr emanzipatorisches Potential kämpfen, können wir das sicher nicht tun, ohne die Bedingungen, unter denen wir sie produzieren, kritisch zu betrachten und ohne uns nach der Demokratie in den Strukturen unserer eigenen Projekte, Organisationen, Institutionen zu fragen.37

Die Demokratisierung der Kultureinrichtungen bedeutet einerseits eine erhöhte Bedeutung und Präsenz des Publikums in den Aktivitäten der Institution, was dazu beiträgt, es als Verbündeten zu sehen, der sie vor den Versuchungen der Behörden schützt. Zum Anderen – bedeutet es eine Veränderung im Managementprozess, die eine Emanzipation der Mitarbeiter mit sich bringt. In der Praxis bedeutet dies ihre Selbstorganisation, eine verstärkte Beteiligung an der Ent35 Ebd. 36 M. Keil: Do kogo nalez˙y teatr? O tym, do czego moz˙e nam sie˛ dzisiaj przydac´ krytyka instytucjonalna. In: „Dialog“ 11 / 2017 [online]. http://www.dialog-pismo.pl/w-numerach/do -kogo-nalezy-teatr-o-tym-do-czego-moze-nam-sie-dzisiaj-przydac-krytyka-instytucjonalna [2. 04. 2021]. 37 B. Kunst: Artysta w pracy. O pokrewien´stwach sztuki i kapitalizmu. Warszawa / Lublin 2016, S. 10.

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scheidungsfindung im Bereich ihrer Kompetenzen, gegenseitigen Respekt und das Recht, Management und Mitarbeiter gegenseitig zu kritisieren.38 Die Prozesse der Demokratisierung von Kulturinstitutionen gehören vorerst eher in den Bereich der Postulate als in den der Theaterpraxis, obwohl das jüngst aufgedeckte Ausmaß der Gewalt in Theatern diese sicherlich beschleunigen wird. Professionelle Organisationen wie die Gildia Polskich Rez˙yserek i Rez˙yserów (Polnische Regisseurinnen- und Regisseurgilde) und Stowarzyszenie Dyrektorów Teatrów (Verband der Theaterintendanten) bereiten in Zusammenarbeit mit Polski Os´rodek Mie˛dzynarodowego Instytutu Teatralnego ITI (der Polnischen Abteilung des Internationalen Theaterinstituts ITI), das Initiator des Projekts ist, einen Katalog guter Praktiken und einen Ethikkodex vor. Es scheint ein dringend notwendiger Schritt in Richtung eines ethischen Managements in Theatern zu sein. An dieser Stelle muss auch die Initiative des Zygmunt Hübner Teatr Powszechny in Warschau erwähnt werden, die Organisationsstruktur zu verflachen und die Macht zu dezentralisieren. Von September 2018 bis September 2019 führte eine Forschergruppe Tiefeninterviews mit Mitarbeitern des Theaters durch, die Aufschluss über die Wahrnehmung der Institution und ihres Auftrags geben sollten. Die Ergebnisse der Untersuchung erwiesen sich insofern als überraschend, als sie vor allem Erkenntnisse über die Arbeitsbedingungen lieferten: Die Mitarbeiter klagten über Überarbeitung und Übermüdung, Aufgabenüberlastung und Stress, was – nach Ansicht der Leiter – vor allem auf die Änderung des Funktionssystems vom Repertoire-Theater zum Repertoire- und Projekt-Theater zurückzuführen war, der keine Änderung der Beschäftigungsstruktur folgte.39 Das Projekt, das darauf abzielte, „kooperativ eine Identität für das Theater zu entwickeln, die auf den Prinzipien einer demokratischen Kultureinrichtung basiert,“40 trug zur Steigerung der Selbstwahrnehmung der Mitarbeiter bei und „weckte ihr Denken über das Theater als Arbeitsort“, obwohl es auch zeigte, dass nicht alle Mitarbeiter aus verschiedenen Gründen daran interessiert waren, an Entscheidungsprozessen im Theater teilzunehmen und die Gestaltung der Institution zu beeinflussen.41 Die Untersuchung gipfelte in der Gründung des künstlerisch-programmatischen Beirates des Zygmunt Hübner Teatr Po38 A. Adamiecka-Sitek: Społecznie odpowiedzialne instytucje kultury. In: „Krytyka Polityczna“, 16. 10. 2016 [online]. https://krytykapolityczna.pl/kultura/spolecznie-odpowiedzialne-insty tucje-kultury/ [10. 10. 2020]. 39 P. Sztarbowski: Teatr w rytmie slow. Interview von Aneta Głowacka. In: „Opcje“ 4 / 2019, S. 45– 46. 40 A. Adamiecka-Sitek, M. Keil, I. Stokfiszewski: Materiały do „Porozumienia“. In: „Didaskalia“ 153 / 2019, S. 2. 41 Ein Interview mit Łukasz Jaskuła, damals hauptamtlicher Mitarbeiter des Teatr Powszechny, Mitglied der nationalen Gewerkschaft „Inicjatywa Pracownicza“ und Koordinator der Strukturen der Gewerkschaft in Masowien. Das Interview wurde am 20. Oktober 2020 geführt.

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wszechny in Warschau, bestehend aus Vertretern der Theaterangestellten, den mit der Institution zusammenarbeitenden Künstlern und einer Publikumsvertreterin, deren Anwesenheit wohl eher symbolisch zu behandeln ist. Der Rat ist ein satzungsgemäßes Organ des Theaters, das auf der Grundlage seiner eigenen Vorschriften arbeitet.42 Außerdem wurden auch Regeln für die Zusammenarbeit der Künstlerinnen und Künstler mit dem Zygmunt Hübner Teatr Powszechny in Warschau43 vorbereitet. Bisher ist dies die einzige erwähnenswerte Initiative dieser Art in institutionellen Theatern in Polen, obwohl Gerüchte besagen, dass das Experiment nicht ganz erfolgreich war. Abschließend sei noch erwähnt, dass es in vielen Theatern beratende Gremien in Form von Programmbeiräten gibt, die allerdings keinen wirklichen Einfluss auf die Entscheidungen des Intendanten haben. Die einzige Ausnahme ist der künstlerische Beirat am Narodowy Stary Teatr in Krakau, der das Repertoire des Theaters mitbestimmt. Der Beirat wurde 2018 von den Schauspielern des Teatr Stary als Reaktion auf die programmatische und organisatorische Krise der Institution hin gegründet.

Schlusswort Die Krise, einschließlich der Imagekrise, die durch die Offenlegung des Machtmissbrauchs in institutionellen Theatern und Kunstschulen in Polen im öffentlichen Raum verursacht wurde, hat die Hinterbühne der polnischen Theater entlarvt, wo Gewalt systemisch ist. Sie resultiert zu einem großen Teil aus der hierarchischen Machtstruktur und dem Intendanten-Regisseur-Modell des Theaters. Im Theater hat der Intendant, und oft auch der Regisseur, beinahe die absolute Macht. Dieses Modell der Macht, das auf enormen Missverhältnissen beruht, wird auf die nächste Ebene übertragen: die der Beziehung zwischen dem Intendanten und dem Veranstalter der Einrichtung, wobei der Intendant wiederum eine sogenannte schwache Position gegenüber dem für die Aufsicht über die Einrichtung zuständigen Beamten einnimmt. Es scheint, dass das Überdenken anderer Modelle der Organisation der öffentlichen Kultur in Polen eine immer dringendere Notwendigkeit darstellt. Es geht nicht nur darum, die Verbindungen zwischen Institutionen und Politik zu schwächen, sondern auch darum, demokratischere Managementmodelle einzuführen, was ein Mitspracherecht der Mitarbeiter in ihren eigenen Organisationen mit sich bringen 42 Rada Artystyczno-Programowa Teatru Powszechnego im. Zygmunta Hübnera w Warszawie [Künstlerisch-programmatischer Beirat des Zygmunt Hübner-Teatr Powszechny in Warschau]: Regulamin. In: „Didaskalia“ 153 / 2019, S. 7–9. 43 Zasady współpracy twórczyn´ i twórców z Teatrem Powszechnym im. Zygmunta Hübnera w Warszawie. In: „Didaskalia“ 153 / 2019, S. 5–7.

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würde. In diesem Zusammenhang sind die Überlegungen von Jan Stanisław Wojciechowski nicht fehl am Platz, der die Beziehungen zwischen Kultur und Politik und folglich zwischen Kulturschaffenden und Politikern diagnostiziert und Maßnahmen vorschlägt, die die gegenwärtige Kulturpolitik prägen sollten: die Perfektionierung des Managements in der Kultur anstelle der doktrinären Steuerung, die Schaffung rechtlicher und finanzieller Bedingungen für die freie Tätigkeit der Kulturschaffenden anstelle der Aufrechterhaltung der Struktur von Über- und Unterordnung, die Erfindung neuer Wege des Managements und neuer Techniken der Organisation von Kultur sowie die Schaffung eines effektiven Systems der Informationszirkulation und der Kulturforschung.44

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Abstract Theatre as a Democratic Institution The subject of this article is the theatre as an engaged cultural institution in Poland. Its engagement means not only producing critical art (although that is often the beginning of structural changes in an institution), but also, and perhaps most importantly, revealing and verifying the mechanisms of its own functioning. Entering into dialogue with the institution itself is the beginning of its evolution „from criticism to critical institution“. Involving the institution in this context means changing its functioning towards democratic practices. Speaking of democratisation, we can think, on the one hand, of ways of winning the favour of the audience, involving them in the life of the institution and forming alliances with them to protect the institutions from the temptations of the authorities. And on the other, of changing the modes of management. The democratisation of the management process is primarily associated with the emancipation of theatre workers, meaning their self-organisation, the need for empowerment and the development of new management practices and decision-making processes. The empowerment of art workers seems to be an important step in order to „tear“ art institutions from their manorial dependencies, which are common and very often invisible (also to employees of institutions), because they are the basis – as Andrzej Leder notes – for the functioning of Polish society. Manorial relations, of which the authoritarian model of management is a frequent manifestation, exist not only inside institutions (the director of an institution in his relations with a theatre company), but also at the junction of an institution and its organiser, i. e. local and state authorities. Keywords: engaged theatre, institutional criticism, democracy in theatre, cultural policy

Małgorzata Wójcik-Dudek (Schlesische Universität in Katowice)

Engagierte Architektur. Schule der Demokratie für die Jüngsten am Beispiel des Museums der Geschichte der polnischen Juden POLIN

Mieczysław Treter, ein bekannter polnischer Ästhet und Kunstkritiker der Wendezeit des Jungen Polen und der Zwischenkriegszeit, schlägt in seiner 1917 erschienenen Publikation mit dem Titel Muzea współczesne. Studium muzeologiczne. Pocza˛tki, rodzaje, istota i organizacja muzeów. Publiczne zbiory muzealne w Polsce i przyszły ich rozwój [Zeitgenössische Museen. Eine museologische Studie. Anfänge, Typen, Wesen und Organisation von Museen. Öffentliche Museumssammlungen in Polen und ihre zukünftige Entwicklung] eine Systematik der besprochenen Einrichtungen vor und berücksichtigt dabei deren Rolle bei der Gestaltung der Identität der polnischen Nation. Und obwohl er den Begriff „Geschichtspolitik“ nicht verwendet, spürt er intuitiv nicht nur dessen Potenzial, sondern auch die Notwendigkeit, diese Kultursphäre zu nationalisieren. Nach Treters Ansicht sollte sich die historische Museologie damit beschäftigen: […] die Kultur, insbesondere die nationale Kultur, in den aufrichtigsten Sphären der Gesellschaft zu verbreiten […]. Für eine Nation wie die Polen, die geistig unerschütterlich vereint bleiben will und muss, können […] Kunst und Kultur nicht etwas sein, das […] nur Spezialisten zugänglich ist, denn sie ist ihre Hauptwaffe, der offensichtlichste Beweis für ihr eigenes Leben und ihre einheitliche Entwicklung sogar unter fremder Unterdrückung.1

Im Kontext der Teilungen und des noch ungewissen, aber bereits projizierten und antizipierten Aufstiegs Polens in die Unabhängigkeit ist es nicht schwer, Treters nationalzentrische Absichten zu verstehen: Die maximale Sättigung an Reflexion über die Aufgaben des Museums mit der Idee der nationalen Kultur sollte sich in der Effektivität des Plans zur patriotischen Erziehung niederschlagen, an dem das Museum beteiligt ist und der Stärkung der polnischen Identität dient. Auf der Suche nach spektakulären Umsetzungsmöglichkeiten dieses Konzepts verband Treter geschickt die moderne Ästhetik der Museologie 1 M. Treter: Muzea współczesne. Warszawa 2019, S. 60.

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des frühen 20. Jahrhunderts mit einer postromantischen Weltanschauung.2 Derselbe Kritiker, der von vielen als Spiritus movens der Konstruktion des Paradigmas des Nationalmuseums angesehen wird, reagiert jedoch eher skeptisch auf die Ausstellungspläne des 1912 gegründeten Jüdischen Museums von Lemberg, das […] uns, wegen unserer historischen Koexistenz mit Juden, nicht gleichgültig sein kann. Der Wirkungsbereich des Museums sollte jedoch auf die Grenzen der jüdischen Besiedlung in Polen beschränkt werden, denn nur dann kann die Idee, ein solches Museum in Lemberg einzurichten, unter unseren Umständen realisiert werden. Der Wunsch, in der Stadt ein allgemeines Jüdisches Museum einzurichten, das der gesamten Geschichte der Juden von den frühesten Zeiten bis zur Gegenwart und in allen Ländern gewidmet ist, müsste dagegen für immer ein Wunschtraum bleiben.3

Die Aussage von Treter ist eine mit zweideutigem Charakter. Stammte die fehlende Empfehlung des Kritikers für das Projekt aus der Angst, eine Erzählung über die jüdische Geschichte zu konstruieren, die nicht nur mit den nationalen Geschichten der polnischen Museen konkurrieren, sondern auch ihre Weite, Vielschichtigkeit und im Grunde genommen „Selbstgenügsamkeit“ präsentieren könnte, indem sie die kulturelle Umarmung mit Polen ein wenig lockert? Oder war es einfach so, dass die kühle Rezeption der Idee eines solchen Museums eine inhaltliche Fundierung hatte; der Kritiker hielt eine solche Ausstellung aus den oben genannten Gründen für unmöglich, weil ihr Umfang zu groß war? Es bleibt eine Tatsache, dass nach mehr als hundert Jahren die Lemberger Idee einer solchen Einrichtung in Form des Museums der Geschichte der polnischen Juden POLIN verwirklicht wurde. Es scheint jedoch, dass das Warschauer Museum zwei Strategien des Erzählens der jüdischen Geschichte miteinander in Einklang bringt: Einerseits konstruiert es sie in einer panoramaähnlichen Weise, die fast alle Kontexte berücksichtigt, andererseits vertieft es vor allem einen von Treter geforderten Ansatz, nämlich die Fragen, die mit dem polnisch-jüdischen Dialog (Monolog?) zusammenhängen, was übrigens durch den Namen der Einrichtung – POLIN – betont wird, eine Anspielung auf die Legende von der beispiellosen Gastfreundschaft der polnischen Länder, die die so eifrige Ansiedlung von Juden dort rechtfertigt und an die frühere Mosaikartigkeit der Kulturen dieses Teils von Europa erinnert, der nicht nur von Nicht-Juden als Heimat betrachtet wurde. Das Museum der Geschichte der polnischen Juden POLIN begann seine Tätigkeit im Jahr 2013, um ein Jahr später seine Dauerausstellung für die Öffent2 So zumindest wird Treter vom Autor der ersten Treter-Monographie dargestellt. Siehe D. Wasilewska: Mieczysław Treter. Estetyk, krytyk sztuki oraz „szara eminencja“ mie˛dzywojennego z˙ycia artystycznego w Polsce. Kraków 2019. 3 M. Treter: Muzea współczesne, (Anm. 1), S. 122.

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lichkeit zu öffnen. Dieser Ort ist unter schwierigen Bedingungen entstanden, und damit meine ich nicht nur die Kakophonie der verschiedenen Diskussionen, die um seine Idee entbrannt sind, sondern vor allem den Raum, den er im städtischen Geflecht einnimmt. Über dieses Thema ist so viel geschrieben worden, dass es schwierig wäre, auch nur die Zusammenfassung einer repräsentativen Bibliographie zu geben, die auf die wichtigsten Ansätze zu diesem Streit verweist. Ich schlage daher lediglich vor, über den Ort nachzudenken, der meiner Meinung nach nicht nur in Bezug auf die Topographie Warschaus von Bedeutung ist (das ist offensichtlich), sondern vor allem eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit der patriotischen, oder besser, demokratischen Erziehung der jüngsten Mitglieder der nationalen Gemeinschaft spielt. Mit anderen Worten, ich interessiere mich dafür, wie der Museumsraum in pädagogische Praktiken eingreift, die die Mechanismen der Demokratie präsentieren. Praktiken, fügen wir hinzu, die in Polen ziemlich riskant sind, wenn wir die seit einigen Jahren betriebene Bildungspolitik des Staates berücksichtigen, die an polnischen Schulen das fast fächerübergreifend und –unabhängig durchdeklinierte Postulat der „Nationalität“ fördert.4 Das Engagement des Museums der Geschichte der polnischen Juden POLIN im zeitgenössischen Bildungsdiskurs sehe ich als Infragestellung der Annahme von Mieczysław Treter, dass die Geschichte der Juden umhüllt durch das Polentum präsentiert werden sollte. Es geht nämlich auch anders: Die museale Erzählung mahnt die Wiederherstellung verlorener Proportionen an und erinnert an jene Juden, für die die Erziehung zur Demokratie ein Lebensprojekt war, das die Kraft hatte, die Welt und vor allem das Leben der Schwächsten zu verändern, ein zu ehrgeiziges Projekt, um seine Verwirklichung ausschließlich auf polnische, nationale Räume zu beschränken. So ist es nicht verwunderlich, dass das museale Projekt der Erziehung zur Demokratie von pädagogischen Gedanken Janusz Korczaks inspiriert ist, für den der „Raum“ der Ausgangspunkt des pädagogischen Denkens zu sein scheint, das die Idee der Agora unterstützt. In der Organisation des Raumes, so der Alte Doktor als Figur, kann sich eine gewisse Disposition zur pädagogischen Bereitschaft ausdrücken. Sie würde sich in der Offenheit für den Dialog, der Aushandlung von Bedeutungen oder in Aktivitäten manifestieren. Mit anderen Worten: Der Spielplatz nimmt die Agora vorweg, die das Gemeinwesen prägt.

4 Siehe B. S´liwerski: Edukacja (w) polityce. Polityka (w) edukacji. Inspiracje do badan´ os´wiatowych. Kraków 2015.

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Drift und Engagement Es ist bemerkenswert, dass gerade der Standort des Museums im Warschauer Stadtteil Muranów, in einem Post-Ghetto-Raum, der die Bedingungen des hohen Einsatzes des Kampfes um den öffentlichen Raum erfüllt, der darin besteht, dem Verdrängten oder nicht Existierenden Sichtbarkeit zu verleihen, bestätigt, dass der Raum wie die Stadt „bedrückend in seinem Zwang zur Interaktion, brutal in seinem Streben nach Begegnung und Verwirrung, autoritär in seiner Suche nach einer neuen, transkulturellen Qualität“5 ist (sein sollte), denn nur ein solcher erinnert an die Notwendigkeit, sich in der Veranlagung zu einem Treffen und seiner (De)Konstruktion zu üben. Hilfreich erscheint bei einer solchen Auffassung des Raums die Metapher des Driftens, das in Bezug auf die Architektur der Stadt als „eine Technik des hastigen Durchgangs durch abwechslungsreiche Umgebungen und Stimmungen“6 definiert wurde. Es würde dabei darum gehen, dass gute Architektur, die zum Nachdenken zwingt, diese Drift effektiv bremst (es lohnt sich, zwei Warschauer Projekte zu erwähnen, die mit der Post-Memory zu tun haben und diese Bedingung unter Umständen erfüllen: Pozdrowienia z Alej Jerozolimskich von Joanna Rajkowska und Dom Kereta von Jakub Szcze˛sny). In diesem Sinne hat Architektur viel mit Bildung und ihrem Hauptziel zu tun: die „Amöben-Drift“7 zu durchbrechen und zu bewusster und kritischer sozialer/ nationaler Teilhabe einzuladen.8 Stoppt das „Polin“-Gebäude, emporgewachsen im freien Raum zwischen den Wohnblöcken der kommunistischen Siedlung und dem Denkmal für die Helden des Ghettos, tatsächlich diese Drift? Im physikalischen Sinne – eher weniger. Schließlich kann das Gebäude umgangen, ausgelassen werden, obwohl schon seine Glasfassade, in der sich die Umgebung spiegelt, dazu anregt, die dynamischen Veränderungen zu betrachten, in die der Driftende selbst verstrickt ist. Der gestaltete Raum kann jedoch zum Vorwand werden, um Fragen nach der Richtung, der Weite des Horizonts oder den Teilnehmern, die den „Ort“ erschaffen, zu stellen. Danach fragt auch Korczak, der den Raum als eines der wichtigsten Topoi seiner Erziehungsidee angibt und damit die Paideia in die Konstruktion der Politeia einbezieht. Über die gegenseitige Durchdringung dieser Elemente 5 K. Nawratek: Miasto jako idea polityczna. Kraków 2008, S. 120. 6 Przewodnik dryfuja˛cych. Antologia sytuacjonistycznych tekstów o mies´cie. Hrsg. M. Kwaterko, P. Krzaczkowski. Warszawa 2015, S. 191. 7 L. Witkowski: Wyzwania autorytetu w praktyce społecznej i kulturze symbolicznej (przechadzki krytyczne w poszukiwaniu dyskursu dla teorii). Kraków 2009, S. 321. 8 Über die Herausbildung kritischer Haltungen bei Schülern und damit über die Notwendigkeit, die Schulpolonistik in die wichtigen Probleme der heutigen Welt einzubeziehen schreibt brillant Krzysztof Koc, ein Polonist aus Posen. Siehe K. Koc: Lekcje mys´lenia (obywatelskiego). Edukacja polonistyczna wobec współczesnego ´swiata. Poznan´ 2018.

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lohnt es sich anhand von zwei Initiativen von „Polin“ zu sprechen, die sich an Kinder richten und unter Korczaks Schirmherrschaft stehen: die Familienbildungsstätte „Bei König Hänschen“ und die Ausstellung W Polsce króla Maciusia. 100-lecie odzyskania niepodległos´ci [In König Hänschens Polen. Zum 100. Jahrestag der Wiedererlangung der Unabhängigkeit].

Die Umarmung von Praxelogie, Proxemik und Ästhetik Die Reflexion über die Rolle, die die Familienbildungsstätte „Bei König Hänschen“ im Museum der Geschichte der polnischen Juden POLIN spielt, sollte in den Kontext der neuen Museologie gestellt werden, einer Strömung, die in den 1990er Jahren zur Revision der Museumspraktiken beitrug. Damals wurde das Konzept der Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen der Museen, von den Kuratoren über die Konservatoren bis hin zur Bildungsabteilung, entwickelt, was wiederum eine genauere Abstimmung der Aktivitäten im Bereich der Ausstellungsplanung und -organisation ermöglichte.9 Daraus ergab sich die Notwendigkeit, den Erwartungen des Publikums gerecht zu werden, und folglich die Entscheidung, das traditionelle Modell einer Ausstellung mit einem erschöpfenden Kommentar zugunsten einer offenen, Fragen stellenden Erzählung aufzugeben. Es scheint, dass diese Änderung den seit Jahren in der musealen Politik zu beobachtenden „educational Turn“ verstärkte, der kritisches und kreatives Denken fördert.10 Er wird wahrscheinlich durch eine der von George Hein beschriebenen und von Museumsinstitutionen angewandten pädagogischen Strategien begünstigt. In der konstruktivistischen Pädagogik wird das Museum als Katalog oder Enzyklopädie wahrgenommen, und die Aufgabe des Besuchers ist es, Wissen auf der Grundlage von Erfahrungen selbst zu konstruieren, wobei der Besucher durch Anregung und Motivierung ermuntert wird, Antworten auf die von der Ausstellung gestellten Fragen zu suchen. Die Quellen dieser Art von Ansatz sind im amerikanischen Progressivismus zu suchen, insbesondere in den pädagogischen Ideen von John Dewey, einem bekannten Verfechter der Erfahrung in der Erziehung. Er plädierte für die Unterstützung des Konzepts der aktiven Bildung, die jedoch nicht nur auf praktische Aktivitäten (praktischer Unterricht in Form von Workshops), sondern vor allem auf intellektueller und emotionaler Stimulation basiert. Deweys Überzeugung, dass kein Wissen total ist und dass die Wahrheit nicht absolut, unveränderlich und ewig ist, sondern von der Person, der Zeit, dem Ort und der spezifischen 9 A. Szczerski: Kontekst, edukacja, publicznos´c´ – muzeum z perspektywy „Nowej Muzeologii“. In: Muzeum sztuki. Antologia. Hrsg. M. Popczyk. Kraków 2005, S. 335–344, hier S. 340. 10 Siehe G. Hein: Learning in the Museum. London 1998.

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Situation abhängt, wurde von der Überzeugung begleitet, dass die Wahrheit zwar instabil ist, aber dennoch einer Überprüfung unterliegt. Ihr Prüfstein ist eine Handlung, die, wenn sie zur Lösung eines Problems beiträgt, wahr ist, weil sie sich in der Praxis als nützlich erwiesen hat. Eine solche Definition von Wahrheit führte Dewey zu der Überzeugung, dass sie eine soziale Dimension habe, da sie das Ergebnis der Aktivität der Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft sei, die „auf dem Wege der Erfahrung die Gültigkeit des Wahrheitsanspruchs verifizierten.“11 Wie hat sich dies in der vom Erzieher formulierten Vorstellung von Bildung niedergeschlagen? Lernen ist Forschen und Schaffen von Werten, die wiederum einer ständigen Überprüfung unterliegen, und jede Stufe der Reflexion über sie führt dazu, dass weitere Fragen gestellt werden, die weitere Forschungsbereiche eröffnen.12 In Anbetracht der obigen Ausführungen lohnt es sich, an die Etymologie des Begriffs „Edukation“ zu erinnern. Der aus dem lateinischen Wort educare entlehnte Begriff leitet sich eigentlich vom Begriff ex-duco ab, was die Tätigkeit bedeutet, etwas ans Licht zu bringen oder nach oben zu führen.13 Das Ziel der Edukation, der Bildung ist es, der Wahrheit, dem Licht näher zu kommen, aber auch an sich selbst zu arbeiten, was die Lernenden befähigt, eine ständige Bereitschaft zu bewahren, zu erforschen, zu konstruieren, zu erfahren, aber auch die erarbeiteten Antworten aufzugeben und sich der Herausforderung neu zu stellen. In der Bildung, die eine Entdeckung von Werten und ein Weg zur Selbsterkenntnis sein soll, spielt die Erfahrung, auch verstanden als Begegnung mit der Erfahrung eines anderen Menschen, eine äußerst wichtige Rolle. Sowohl die Erzählung von der Andersartigkeit der menschlichen Erfahrungen als auch von ihrer Ähnlichkeit kann eine Gelegenheit sein, nicht nur Fragen über den eigenen Zustand zu stellen, sondern vor allem eine Chance, den Anderen zu erkennen und für seine Gegenwart sensibel zu werden. Die Erzählung des Anderen oder die Erzählung über den Anderen kann dem konstruktiv geschaffenen Wissen eine moralische Reaktion auf seine Anwesenheit hinzufügen, die die Erfahrung in den Kreis der personalistischen Philosophie stellt. Die Konsequenz dieser Art von Erfahrung ist „eine freiwillige moralische Reaktion auf die Anwesenheit einer anderen Person“14 und das Bewusstsein, dass der Andere „ein Selbst ist, das in

11 J. Skutnik: W kre˛gu mys´lenia pragmatystycznego i personalistycznego – dwie orientacje w edukacji muzealnej. In: Edukacja muzealna w Polsce. Aspekty, konteksty, uje˛cia. Hrsg. W. Wysok, A. Ste˛pnik. Lublin 2013, S. 83–106, hier S. 87. 12 Siehe J. Dewey: Sztuka jako dos´wiadczenie. Übersetzt von A. Potocki. Wrocław 1975; J. Dewey: Filozofja a cywilizacja. Übersetzung S. Purman. Warszawa 1939. 13 W. Kopalin´ski: Begriff Edukacja. In: Słownik wyrazów obcych i zwrotów obcoje˛zycznych. Warszawa 1989. 14 J. Skutnik: W kre˛gu mys´lenia pragmatystycznego i personalistycznego, (Anm. 11), S. 97.

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ähnlicher Weise denkt, fühlt und leidet wie ich, dass er von mir meine Liebe und mein Mitgefühl verdient.“15 Es scheint, dass der amerikanische Konstruktivismus und der europäische Personalismus, zwei scheinbar unvereinbare pädagogische Konzepte, sich in der pädagogischen Praxis der neuen Museologie recht gut ergänzen. Einerseits sind die Aktivitäten eines „konstruktivistischen“ Museums darauf ausgerichtet, die bestmöglichen Bedingungen für die Schaffung von Wissen zu schaffen, das jedoch nicht total ist, während andererseits in einem „personalistischen“ Museum der Mensch Sinn und Ziel aller pädagogischen Praxis ist. Die Resultante dieser beiden Strömungen ist also ein Museum, das zur Aktivität einlädt, […] deren Wesen es ist, Situationen zu animieren, die die Quelle axiologischer Erfahrungen sind, und gleichzeitig eine Reflexion über gegebene Werte zu initiieren, verbunden mit einer Ermutigung, bewusste Versuche zu unternehmen, sie im individuellen und kollektiven Leben zu verwirklichen.16

Mit anderen Worten: Diese Art von Museum schlägt eine Art Propädeutik des Engagements vor. Wird sie in der Familienbildungsstätte „Bei König Hänschen“ im Museum der Geschichte der polnischen Juden POLIN praktiziert?

In Richtung von Korczaks Pädagogik Mit dem Begriff Museion bezeichneten die alten Griechen einen Tempel der Musen, die in der griechischen Mythologie die Beschützerinnen der Künste und Wissenschaften waren, die Töchter von Zeus und Mnemosyne, der Göttin der Erinnerung. Es lohnt sich, zu dieser klassischen Semantik zurückzukehren und im Museum eine Resultante von Kunst, Wissen und Erinnerung zu sehen, wobei zu diesen drei Kategorien eine weitere hinzukommt, die das Zentrum der personalistischen Pädagogik bildet – die Sorge um den Anderen. Ein Raum, der diesen Aufgaben mehr als gerecht wird, ist die bereits erwähnte Familienbildungsstätte „Bei König Hänschen“.17 Ursprünglich sollte es diesen Ort, der sich an Kinder richtet, nicht geben. Der Architekt ließ sich jedoch dazu überreden, das Projekt zu korrigieren und einen Platz für die Kleinsten zu finden. Die Planänderung erwies sich als kaum genug wertzuschätzen. Die von „Bei König Hänschen“ vorgeschlagenen Praktiken 15 B. Skarga: Toz˙samos´´c i róz˙nica. Eseje metafizyczne. Kraków 2009, S. 149. 16 J. Skutnik: W kre˛gu mys´lenia pragmatystycznego i personalistycznego, (Anm. 11), S. 104f. 17 Im weiteren Verlauf dieses Artikels stütze ich mich auf einige der Erkenntnisse aus meinem anderen Text. Siehe M. Wójcik-Dudek: Król Korczak w Muzeum Historii Z˙ydów Polskich POLIN. Koncepcje pedagogiczne Janusza Korczaka a muzealne przestrzenie. In: „Nowa Biblioteka“ 4 / 2019, S. 7–27.

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machen die Kinder mit der Erzählung von „Polin“ vertraut und bieten ein Propädeutikum für das „Lesen“ dieses außergewöhnlichen Museums. Dieser zunächst ungewollte Raum bleibt, obwohl er in das Museumsgebäude eingeschrieben ist, in der Tat lose mit der Erzählung über die Geschichte der polnischen Juden verbunden, ohne den ständigen Kontakt mit seiner nicht nur „jüdischen“, sondern vor allem humanistischen Botschaft zu verlieren. Das bedeutet, dass er die Bereitschaft lehrt, der Geschichte des Anderen zuzuhören, eine Fähigkeit, die von Janusz Korczak, dem Schöpfer von König Hänschen, der literarischen Figur, die am beschriebenen Ort als Schirmherr fungiert, perfektioniert wurde. Es scheint, dass seine Einzigartigkeit von der Bedeutung herrührt, die der Alte Doktor dem Raum gegeben hat, der meiner Meinung nach das topische Zentrum von Korczaks Konzept der Erziehung bildet. Wenn Korczaks Kind in seiner „stillen Entwicklung einer Pflanze gleicht“18, dann war das Postulat, ein Waisenhaus als Garten der Kinder zu gestalten, keine pädagogische Phantasie, sondern hatte eine solide theoretische und praktische Grundlage. Korczak besuchte im Sommer 1911 das Schul- und Erziehungszentrum in Forest Hill. Der Pädagoge war sowohl vom Gebäude des Waisenhauses als auch von seiner Umgebung fasziniert. Es ist anzunehmen, dass das Konzept des 1912 gegründeten Waisenhauses in der Krochmalna Straße eine Folge der Londonreise und der Korczak nahestehenden pädagogischen Ideen war, die wenigstens angedeutet werden sollten, indem man Johann Heinrich Pestalozzi, den Schöpfer der „Schule der Menschlichkeit“, die alle Kinder unabhängig von ihrem Status und ihren intellektuellen Fähigkeiten umfasst19, Friedrich Fröbel und seine so genannten Kindergärten, deren Reminiszenzen sich in Henryk Jordans Entwürfen von Spielplätzen im Grünen wiederfinden, oder Rabindranath Tagore, den Autor des kleinen Buches Meine Schule, erwähnt. Die Urheberschaft des Fragments könnte man aufgrund des Raumgefühls Korczak selbst zuschreiben: „Wir alle wissen, dass Kinder den Staub der Erde lieben, und die Körper und die Seelen dieser Kleinen sehnen sich nach der Luft wie nach Blumen. Sie sind immer bereit, auf Einladungen zum direkten Kontakt zu reagieren, auf den Ruf, den die Welt an ihre Sinne sendet.“20 Reminiszenzen an die Reise nach Albion und Spuren der Lektüre der oben genannten Pädagogen finden sich in König Hänschen der Erste, einem Roman, der immer noch auf der Schullektüreliste steht und sich dort trotz Änderungen in Lehrprogrammen und Reformen im polnischen Bildungswesen lange gehalten hat. Der verwaiste Protagonist des Romans wird gezwungen, die Zügel der Macht 18 J. Korczak: Wychowanie wychowawcy. In: Ders.: Pisma wybrane. Bd. 2. A. Lewin (Auswahl). Warszawa 1984, S. 136. 19 In der deutschen Literatur wird Korczak als Pestalozzi aus Warschau bezeichnet. 20 R. Tagore: Moja szkoła. Übersetzt von H. Hulewicz. Warszawa 1923, S. 24.

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in die Hand zu nehmen, was sich als Chance entpuppt, die Kindheit vieler seiner Altersgenossen zu verbessern. In den Wäldern, Bergen und am Meer will Hänschen Häuser bauen, in die arme Kinder im Sommer fahren würden, und in allen Schulen will er Spielplätze mit Schaukeln und Karussells anlegen und in der Hauptstadt einen riesigen Zoo einrichten. In einer so organisierten Welt werden Kinder, die sich ihrer Gemeinschaftlichkeit, oder vielleicht ihres Stammescharakters, bewusst sind, unter ihrer eigenen grünen Fahne auftreten: „Können wir das nicht auch so machen, daß die Kinder der ganzen Welt ihre grüne Fahne haben?“21 Das von Korczak geleitete Waisenhaus in der Krochmalna-Straße in Warschau, das von Henryk Stifelman im Geiste der modernistischen „Glashäuser“ entworfen wurde, erwies sich als eine Emanation der Wünsche von Hänschen. Obwohl das Gebäude anfangs von Grünflächen umgeben war, reduzierte das aggressiv expandierende Stadtgewebe diese bald so sehr, dass Korczaks Traum, Kinder fernab der Stadt aufzuziehen, nicht in Erfüllung gehen konnte. Das Gebäude selbst erwies sich jedoch als äußerst funktional, und sein durch große Fenster lichtdurchfluteter Raum garantierte den Kindern nicht nur große Freiheit, sondern erinnerte sie dank seiner durchdachten Aufteilung auch an ihren Tagesablauf (Schlafräume, Kantine, Spielzimmer, Ruheraum für ältere Schüler und Personal) und schuf so einen sicheren Mikrokosmos für Kinder mit unveränderlichen Regeln, die sich in der Topographie des Gebäudes widerspiegeln (an bestimmten Stellen gab es Hinweistafeln, ein „Fundbüro“, einen verglasten Schrank mit Spielzeug und eine Quelle, aus der jedes Kind Wasser trinken konnte).22 Vielleicht sollte die Architektur des Gebäudes eine Art Bürgschaft der Erwachsenen für die Kinder sein, vor allem für diejenigen, die noch nicht die Möglichkeit hatten, von der Existenz freundlicher Räume zu erfahren, die sie zur Aktivität und Teilnahme einladen. Der Hof war nicht weniger wichtig als das Gebäude, denn, wie Korczak schrieb, „[…] er ist ein Erholungsraum für Kinder 21 J. Korczak: König Hänschen I. Übersetzt von K. Weintraub. München 1974, S. 202. Die Idee einer Kinderfahne entstand eigentlich auf Korczaks eigene Initiative hin: „[…] den Stern von Zion – blau auf weißem Grund – wollte Korczak auch auf die Fahne des Waisenhauses setzen, das er gerade in dieser ersten Kriegsperiode zu finanzieren beschloss. Aber auf die andere Seite der Fahne sollten Kastanienblüten und Blätter gemalt werden, ein Bild des blühenden Frühlings.“ (H. Mortkowicz-Olczakowa: O Januszu Korczaku. In: Bunt wspomnien´. Warszawa 1961, S. 404–415, hier S. 411). Korczaks Artefakt ist Teil der Holocaust-Topik geworden, und seine ergreifendste Darstellung ist das Bild der Schüler des Alten Doktors, die auf ihrem letzten Marsch zum Umschlagplatz die Fahne tragen. 22 Auf diese Weise erinnert sich Ida Merz˙an an die Einrichtung. Siehe B. Puszkin: Warszawa jest moja… S´ladami Janusza Korczaka po stolicy. Warszawa 2008 [online]. http://pskorczak.o rg.pl/strony/pliki_pdf/warszawa_jest_moja.pdf [15. 03. 2021]. Mehr Informationen über Raumpraktiken im Waisenhaus sind in der monumentalen Korczak-Biografie zu finden. Siehe J. Olczak-Ronikier: Waga i miara. W: Korczak. Próba biografii. Warszawa 2011, S. 266– 279.

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an sonnigen Tagen vom frühesten Frühling durch den ganzen Sommer bis zum späten Herbst und im Winter. Statt Dach und Fenster – der Himmel“,23 wobei der Tür, die dahin führt, kein enger Durchgang vorangestellt sein sollte, der die Kinder zwingt, Paare zu bilden und in einem anderen Rhythmus nach draußen zu gehen: „[…] wir brechen auf – in einem Haufen, einer Wolke, einem Wirbelwind – an der Tür. In Schulen sollten die Türen breit sein, für den Brandfall und solche verschneiten Tage. […] Wir drängen, wir beeilen uns, um nichts zu verlieren, nicht einmal einen Augenblick.“24 Laut Korczak war das Spielen an der „frischen Luft“ kein bloßes Vergnügen, sondern eine wahre Lebensschule, an der Kinder teilnehmen, die aus verschiedenen Gründen ausgeschlossen wurden, wie z. B. diejenigen, die er während des Sommerlagers in Daniłów betreute. Das Spiel ist eine Gelegenheit, die Fähigkeiten der Kontaktaufnahme, des Dialogs und in der Folge des Zusammenseins und Handelns zu üben: „Von einer losen Gruppe sind sie zu einer Gesellschaft verschmolzen, die die Notwendigkeit von Kooperation, gegenseitigem Entgegenkommen, Zusammenarbeit und gesunder Meinung versteht.“25 Korczak sah das Spiel als einen Übergang von der sorglosen und ludischen Paidia – dem Element des Spiels – zur Paideia – der Erziehung zur schöpferischen Teilnahme an der Gesellschaft. Nur das Spiel unter dem „echten Himmel“, d. h. in einem Raum, der frei ist von der Infantilisierung der Kindheit bzw. ihrer übermäßigen und ungerechtfertigten Mythologisierung, konnte solche Wirkungen erzielen.

„Bei König Hänschen“ Es scheint, dass die Familienbildungsstätte „Bei König Hänschen“ nicht nur die Jüngsten, sondern auch die Erwachsenen, die sich ihnen anschließen, daran gewöhnt, bewusst eine Gemeinschaft zu bilden. Obwohl in einem Museum gelegen, wurde der Raum so konzipiert, dass er nach seinem eigenen (Kinder-) Rhythmus lebt. An einem ruhigen Ort in der Haupthalle des Museums gelegen, mit einem vorgelagerten Korridor und abgetrennt vom lauten Zentrum, kann es ein Gefühl der Sicherheit aufbauen. In gewissem Sinne erfüllt diese architektonische Lösung eines der wichtigsten Kriterien der „Lieblingsplätze“ (Topophi-

23 J. Korczak: Lekarz w internacie. In: Ders.: Pisma wybrane, (Anm. 18), S. 122. 24 J. Korczak: Kiedy znów be˛de˛ mały. In: Ders.: Pisma wybrane. Bd. 3. A. Lewin (Auswahl). Warszawa 1985, S. 341. 25 J. Korczak: Wraz˙enia z kolonii letniej w Daniłowie. In: Ders.: Mos´ki, Joski i Srule. Józki, Jas´ki i Franki. Bd. 5. Hrsg. H. Kirchner, A. Lewin, S. Wołoszyn, M. Ciesielska. Warszawa 1997, S. 290.

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lien)26 eines Kindes, das eine Einfriedung darstellt, die jedoch nicht einschränkt, sondern ein Gefühl der Trennung von der Außenwelt schafft und gleichzeitig den Eindruck von Nähe zu anderen in diesem Raum vermittelt. Somit hat „Bei König Hänschen“ einen Gemeinschaftscharakter, da es eine Stätte der Familienbildung ist, und daher gehen die Aktivitäten, die in diesem Raum durchgeführt werden, gleichermaßen von der Teilnahme von Kindern wie von Erwachsenen aus. Die Innengestaltung der Familienbildungsstätte bezieht sich zwar auf die Innenform des Museums der Geschichte der polnischen Juden POLIN der Architekten Rainer Mahlamäki und Maritta Kukkonen, ahmt diese aber nicht nach. Das Projekt wurde mit den Schöpfern des Gebäudes abgestimmt, für das sie übrigens den ersten Preis bei den „Eurobuild Awards“ in der Kategorie „Architectural Design of the Year“ für das beste Projekt eines kommerziellen oder öffentlichen Gebäudes erhielten. Ihre Anleitung erwies sich als äußerst hilfreich im Prozess der Harmonisierung der Ästhetik des neuen Raums mit der Architektur des Museums. Das Endergebnis entspricht der Mission des Museums, Kinder verschiedener Kulturen und Glaubensrichtungen zu erziehen, damit sie in gegenseitiger Toleranz und Verständnis aufwachsen. Am Eingang zu „Bei König Hänschen“ wurde ein symbolisches Tor platziert, das, obwohl verkleinert, sichtbar auf das mächtige architektonische Element verweist, das sich in der Eingangshalle des Museums befindet – das „Haupttor“, das als stilistische Dominante des Gebäudes des Museums der Geschichte der polnischen Juden POLIN gilt. Der zentrale Teil des Interieurs von „Bei König Hänschen“ bildet das so genannte Labyrinth, d. h. ein Möbelstück mit abgerundeten Formen, das in mehrere Teile unterteilt ist. Öffnungen in den Möbeln mit organischen Formen und gepolsterten Innenseiten sorgen für Entspannung beim Spielen. Kinder, die diese Räume betreten, können sich verstecken, zur Ruhe kommen, sich erholen oder einfach nur lesen. Das Zentrum des Labyrinths ist ein großer Bücherschrank, der als Bibliothek dient. Bücher, die sich an jüngere Kinder richten, nehmen die untersten Regale ein, und das Kriterium für die Auswahl der Titel hat nichts mit jüdischen Themen zu tun. Die Bibliothek enthält lediglich wertvolle und exzellent herausgegebene Bücher, sowohl solche, die zum klassischen Kinderbuchkanon gehören, als auch aus jüngster Zeit. Die unteren Etagen des Labyrinths sind zum Arbeiten gedacht: An zwei Tischen finden Küchenworkshops und Kunstkurse statt. Am ersten Tisch entstehen aromatische jüdische Gerichte, am zweiten – Kunstwerke und eine Kinderverfassung. Es ist wichtig, dass die künstlerischen Arbeiten auf gleich großen 26 A. Baluch: Topofilie w porza˛dku dziecie˛cej lektury. In: Podre˛czniki do kształcenia polonistycznego w zreformowanej szkole – koncepcje, funkcje, je˛zyk. Hrsg. H. Synowiec. Kraków 2007, S. 301–309, hier S. 301.

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Blättern ausgeführt werden; wie die Animateurinnen versichern, symbolisiert das standardisierte und sich wiederholende Format die Gleichheit aller Teilnehmer und das demokratische Wesen der von ihnen getroffenen Entscheidungen. An den Hauptraum schließt sich ein kleinerer Raum an, der als Amphitheater, Kinosaal oder als intimer, vom Spielraum isolierter Raum dient. Er enthält einen Zuschauerraum in Form von abgerundeten Stufen und eine Garderobenwand, die in ihrer Form an das Labyrinth im Hauptsaal erinnert. Wichtig ist, dass das gesamte Projekt sowohl für Menschen im Rollstuhl als auch für Sehbehinderte und Blinde geeignet ist. Die Möbelformen mit ihren abgerundeten Formen und der charakteristischen Geometrie erleichtern die Orientierung im Raum allein durch den Tastsinn. Es ist auch ein Zeichen der Fürsorge für jedes Mitglied der Hänschen-Gemeinschaft. Diese ungewöhnlichen, in 3D-Technik gefertigten Möbel sind von außen durch eine Eckverglasung des Gebäudes sichtbar, die zu den exponiertesten und zugleich repräsentativsten Teilen des Museums gehört. Es scheint, dass die verglaste Ecke in Form eines Ausschnitts, der aus zwei dreieckigen Öffnungen besteht und ein so charakteristisches Element der Architektur darstellt, nicht zufällig den Raum einer Kinderwelt offenbart, deren Dynamik einen neuen Inhalt in den Körper des Gebäudes einführt, der die Geschichte der jüdischen Nation erzählt. Ein so gestalteter Raum erfüllt die Kriterien eines offenen Lern- und Spielraums, „der die Kinder motivieren wird, ihre eigenen Interessen zu entwickeln, über die Inhalte nachzudenken, die durch die Objekte, ihre Inszenierung, die vorgeschlagenen Aktivitäten, Workshops und Spiele vermittelt werden.“27 Diese Art von Raum, der den Kindern das Recht gibt, ihre Aktivitäten und ihr Verhalten selbst zu wählen, provoziert sie, Entscheidungen zu treffen, die Befriedigung der Freiheit zu genießen und sich ihren Konsequenzen zu stellen. Es ist unmöglich, in diesem Text alle spezifischen Aktivitäten zu beschreiben, die von der Familienbildungsstätte „Bei König Hänschen“28 angeboten werden. Schon ein flüchtiger Blick auf die Website der Einrichtung lässt den gemeinsamen Nenner der meisten von ihr durchgeführten Aktivitäten erkennen: Es geht um den Aufbau einer Gemeinschaft durch Musizieren, Spiele, Malen, Tanzen, die Arbeit mit Naturmaterialien (Holz) oder die Sensibilisierung für das Schicksal von Tieren (der Workshop W królestwie zwierza˛t – Im Tierreich). Sowohl Kinder als auch Erwachsene unterschreiben einen Vertrag, an den sie sich halten müssen. Die Bestimmungen betreffen nicht nur „abstrakte“ Anforderungen an die Nutzer des Raumes (z. B. freundlich sein), sondern auch so konkrete Fragen wie 27 R. Pater: Miejsce muzeum w edukacji kulturalnej dzieci i młodziez˙y. In: Kultura artystyczna w przestrzeni wychowania. Hrsg. B. Z˙urakowski. Kraków 2016, S. 155–178, hier S. 160. 28 Vrg. https://www.polin.pl/pl/ukrolamaciusia2 [20. 03. 2021].

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das Ausziehen der Schuhe oder das Abstellen von Büchern und Spielen an einen bestimmten Ort. Es stellt sich nämlich heraus, dass ein Raum, der von Korczaks pädagogischem Konzept und König Hänschen dem Ersten inspiriert ist, in gewisser Weise über sich selbst hinausgehen und über den ihm zugewiesenen pädagogischen Rahmen hinaus einen Vorwand suchen kann, um über Geschichte, Erziehung oder bürgerliche Haltung im Kontext eines bedeutsamen Ereignisses zu erzählen, wie dem 100. Jahrestag der Wiedererlangung der Unabhängigkeit durch Polen im Jahr 2018. Die Idee, im Gebäude des Museums der Geschichte der polnischen Juden POLIN eine Ausstellung zu organisieren, die sich an Kinder richtet und aus der Perspektive von König Hänschen nicht nur von der Unabhängigkeit, sondern auch vom Heranreifen zur Freiheit erzählt, entstand durch die Überschreitung der Grenzen der Familienbildungsstätte.

In König Hänschens Polen. Zum 100. Jahrestag der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Der Titel der Ausstellung, die vom 9. November 2018 bis zum 1. Juli 2019 zu besuchen war und von Anna Czerwin´ska und Tamara Sztyma kuratiert wurde, klingt etwas provokant und ihre Familiarität erweist sich bei näherer Betrachtung der Ausstellung eher als irreführend. Die Autorinnen der Ausstellung schienen nicht nur nach dem Platz des Kindes im heutigen Polen zu fragen, sondern vor allem eine verlässliche Diagnose von Korczaks pädagogischem Denken im heutigen gesellschaftlichen Raum zu fordern. Genaure Informationen über das Ziel der Ausstellung finden sich in der Einleitung des exzellent publizierten Begleitkatalogs zur Veranstaltung: In Anlehnung an Korczak wollen wir mit Kindern über wichtige Dinge damals und heute, über Geschichte und Gegenwart sprechen. So wie Korczak in der stürmischen Zeit des Wiederaufbaus des unabhängigen Polens die Kinder in seinem Buch einlud, über die Bedeutung der Macht und des Staates nachzudenken und darüber, was zu tun ist, damit es allen gut geht, so laden wir, hundert Jahre später, mit dieser Ausstellung zu einer ähnlichen Reflexion ein […]. In Anlehnung an Korczak laden wir in dieser Ausstellung Kinder und Erwachsene zu einem gemeinsamen Gespräch ein – in der Überzeugung, dass nicht nur Kinder von Erwachsenen über wichtige Dinge lernen, sondern auch Erwachsene von Kindern etwas Wichtiges lernen können. […] Als Vorläufer der Kinderrechte sprach Korczak sogar von der „Bürgerschaft der Kinder“. […]. Er glaubte, dass Kinder bewusst am Leben der Gesellschaft teilnehmen sollten. Deshalb versuchte er, ihnen deren Mechanismen zu erklären.29

29 D. Stola: „W Polsce króla Maciusia. 100-lecie odzyskania niepodległos´ci“. In: W Polsce króla

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Offensichtlich war die Geschichte von König Hänschen nur ein Vorwand, um an die Gestalt von Korczak zu erinnern und damit auch an die Pflichten, die Erwachsene gegenüber Kindern haben, vor allem bezüglich ihrer Vorbereitung auf eine bewusste und überlegte Teilnahme am staatsbürgerlichen Leben. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum Hänschen in der Ausstellung, für deren künstlerische Gestaltung Iwona Chmielewska verantwortlich zeichnete, das Gesicht des zehnjährigen Henryk Goldszmit zeigt, der in seinem wohl berühmtesten Foto aus dem Roman König Hänschen der Erste verewigt wurde. Wie Korczak selbst zugab, wollte er in dem Alter, in dem er auf dem Foto war, das erreichen, was der später von ihm erfundene literarische Held tat. Die Idee der Ausstellung basierte auf der Konstruktion des Buches: Riesige Trennwände und Paravents ahmten aufeinanderfolgende Seiten von König Hänschen dem Ersten nach, die jedoch einer zeitgenössischen Lektüre unterzogen wurden. Chmielewska wählte bei der Interpretation von Korczaks Roman jene Fragmente aus, die die Aktualität der Sorge des Alten Doktors um die Erziehung und den Platz des Kindes in der Gesellschaft unterstrichen. Deshalb mussten Chmielewskas Illustrationen schockieren, intrigieren und manchmal verstören.30 Hänschen ist furchtbar einsam. Agnieszka Sowin´ska bekommt in einem Interview mit Chmielewska folgende Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der Illustration, in der Hänschen auf einem so hohen Thron sitzt, dass seine Beine den Boden nicht berühren können: Er hat sehr edle Absichten, er will seine Untertanen glücklich machen. Er weiß noch nicht, dass es unmöglich ist, alle Menschen glücklich zu machen und dass jede Entscheidung zu vielen unerwünschten Konsequenzen führt. Er weiß es nicht, weil er keine Erfahrung hat, und die Erwachsenen nutzen dies aus und manipulieren ihn, machen eine Marionette aus ihm. Und er versucht es immer wieder.31

Der Besucher der Ausstellung hatte die Möglichkeit, zwischen die großformatigen Illustrationen zu treten, die Details und die Figuren zu betrachten, die auf den Tafeln oft die Größe eines echten Kindes erreichten. Angesichts der riesigen Illustrationen konnte sich nicht nur ein Kind, sondern auch ein erwachsener Besucher verloren fühlen. Es scheint, dass ein solcher Effekt beabsichtigt war, da die Erfahrungen eines großen Maßstabs und eines Labyrinths vielleicht am besten die Situation eines Kindes in der Welt der Erwachsenen widerspiegeln. Die Maciusia. 100-lecie odzyskania niepodległos´ci. Hrsg. A. Czerwin´ska, T. Sztyma. Warszawa 2018, S. 8f. 30 Die Illustrationen wurden in Chmielewskas Bilderbuch Jak cie˛z˙ko byc´ królem gesammelt und werden von Auszügen aus König Hänschen dem Ersten begleitet. Im Sinne der für Bilderbücher charakteristischen Poetik setzt sich die Autorin mit der traditionellen Lesart von Korczaks Roman auseinander. Ihr Hänschen ist einsam, nostalgisch, verloren, und sie wollte, wie sie selbst zugibt, ihn in ihre Obhut nehmen. 31 I. Chmielewska: Jak cie˛z˙ko byc´ królem. Warszawa 2018, S. 22.

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von der Künstlerin genähte meterlange Puppe-Marionette (König Hänschen) sollte die Besucher auch daran erinnern, dass ein wehrloses Kind kein Objekt der Manipulation sein sollte. Das Vorgehen der Künstlerin mit dem von ihr geschaffenen Artefakt spiegelte die Art der Kontaktaufnahme mit einem Kind und seine allmähliche Einführung in die Welt, in der es leben wird, wider. Chmielewska gab zu, dass sie die Puppe ins Auto setzte, den Sicherheitsgurt anlegte, ihr Torun´ zeigte, sie an den Tisch setzte, mit ihr fernsah. All dies geschah, weil Hänschen „ein wenig vom Leben lernen musste, unter Menschen sein, bevor er in die Welt hinausging.“32 Das Schlüsselwort, das Erziehung im Sinne von Korczak, dessen Ideen Chmielewska teilt, am besten definiert, ist also das „Begleiten“ eines Kindes auf seinem Weg zum Erwachsensein. Das Labyrinth, in dem sich die Besucher gemeinsam mit Hänschen verirren, kann daher als Metapher der Kindheit betrachtet werden, deren Bild, wie auch Korczak postulierte, von Chmielewska entmythologisiert und in seiner ganzen verstörenden Komplexität dargestellt wurde. Hänschens Bemühungen um den Aufbau einer gerechten Welt werden jedoch belohnt, denn nachdem die Besucher das Labyrinth der Illustrationen, die eine kohärente Erzählung bilden, verlassen haben, finden sie sich in einem Raum wieder, der von ihnen verlangt, aktiv zu werden. Glücklicherweise hat die Ausstellung, die die Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens feierte, nicht versucht, dem Bewusstsein der jungen Bürger die Überzeugung einzuflößen, dass Freiheit und Demokratie ein für alle Mal gegebene Werte sind. Und obwohl die Kuratorinnen auf das Vorhandensein bestimmter Namen, auf die Beschreibung bestimmter Ereignisse oder schließlich auf eine zusammenhängende Erzählung über die polnische Geschichte des Ausbruchs in die Unabhängigkeit achteten, wurde die wichtigste Aufgabe, die sich die Autorinnen der Ausstellung gestellt hatten, perfekt erfüllt. Man kann sie mit dem fast aphoristischen Satz charakterisieren, dass Freiheit und Demokratie nicht gegeben, sondern aufgegeben sind. Eine gerechte Welt kann nur „gemacht“ werden, wenn ihre Teilnehmer nach demokratischen Werten handeln, deren Visualisierungen die jungen Besucher erleben konnten. Die Schöpferinnen der Ausstellung sorgten dafür, dass die abstrakten Werte, die oft auf banale rhetorische Tricks reduziert werden, konkrete Formen annahmen. Die Stände wurden so konstruiert, dass die Kinder einen Staat aus Riesensteinen bauen konnten. An ihren Wänden wurden Inschriften angebracht, z. B. Gerechtigkeit, Wirtschaft, Gleichheit, Demokratie, Redefreiheit. Die Stabilität des Gebäudes hing von der Passgenauigkeit der Steine ab, und die Unachtsamkeit der kleinen Bauherren konnte das entstehende Gebäude zum Einsturz bringen. Ein weiterer Vorschlag war das Spiel an der Waage, bei dem die Kinder Würfel mit 32 Ebd., S. 22.

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Zahlen und Wörtern auf die Schalen legten. Ziel des Spiels war es, das Gewicht so zu manövrieren, dass die Schalen im Gleichgewicht bleiben. Diese einfache Aktivität regte zum Nachdenken über Gleichheit der Bürger und Gerechtigkeit an. Die letzte „Station“ der Ausstellung war ein Film, der im Zwischengeschoss über der Hauptausstellung gezeigt wurde. Über eine Wendeltreppe konnte man in den ersten Stock hinaufsteigen. Der Film entpuppte sich als Aufzeichnung eines von Iza Rutkowska geleiteten Workshops für Kinder, der im Museum stattfand. Der Workshop beinhaltete das Treffen einer Gruppe von Kindern mit Erwachsenen, die über ihre Arbeit sprachen. Die Aufgabe der Kinder war es, den Erwachsenen eine Tierfigur zuzuordnen, z. B. wenn die Direktorin des Schlesischen Zoologischen Gartens nach Meinung der Kinder außergewöhnlichen Mut und Kraft aufbringen muss, um sich jeden Tag den Widrigkeiten zu stellen und um die Tiere zu kümmern, dann ist das Sinnbild ihres Berufes ein mächtiger und unbesiegbarer Elefant. Der nächste Schritt des Workshops war das Entwerfen und Nähen von Tierkostümen für die Erwachsenen und ein Fotoshooting, bei dem sie in den von den Kindern zugewiesenen Rollen verewigt wurden. Der Film endete mit kurzen Aussagen der am Workshop teilnehmenden Kinder über ihre Zukunft und speziell über ihre zukünftige Berufswahl. Hat die Ausstellung In König Hänschens Polen. Zum 100. Jahrestag der Wiedererlangung der Unabhängigkeit einen Korczak’schen Rhythmus, inspiriert von seiner Wahrnehmung des Raumes? Es scheint so zu sein, denn die Besucher nehmen beim Betrachten der großformatigen Illustrationen von Chmielewska zunächst an einer Reise durch eine entmythologisierte Kindheit teil, voller Ängste und Unsicherheiten, für die die ihnen vertraute Figur des Königs Hänschen steht. Der Ausgang aus dem Labyrinth der Kindheit in einen Raum, in dem man mit harten gemeinsamen Anstrengungen eine Gemeinschaft aufbauen kann, wird durch eine völlig andere Organisation des Platzes signalisiert. Die engen Gänge des Labyrinths werden durch den offenen Raum der Agora ersetzt, in dem sich jeder zu Hause fühlen und an der Schaffung einer auf universellen Werten basierenden Gemeinschaft mitwirken kann. Diese Phase des Ausstellungsbesuchs, oder vielleicht besser – der Beteiligung an der Erschaffung ihrer Bedeutungen – verlangt von den Kindern eine größtmöglichste Aktivität, aber auch ständiges Verhandeln, das Eintreten in einen Dialog, die Ausrichtung auf Kommunikation. Nur in dieser Art von Beziehung, die auf Austausch, Offenheit für den Anderen und Respekt für den eigenen Platz in der Gemeinschaft beruht, entsteht eine Art „Idee für sich selbst“ – die Berufswahl – die einerseits die Verwirklichung der eigenen Träume ist, andererseits ein Versuch, sich in die gesellschaftliche Landschaft einzufügen. Der oben beschriebene Rhythmus hat viel mit der Pädagogik von Korczak gemein, für den der Übergang vom Element des Spiels (Paidia) zur Haltung der Sorge um das Gemeinwohl das wichtigste und

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edelste Ziel der Erziehung (Paideia) war. Es ist nahezu unmöglich, eine bessere Feier zum 100. Jahrestag der Unabhängigkeit zu finden. Der Bau eines an Kinder gerichteten Raumes im riesigen „Polin“-Gebäude erinnert ein wenig an die Situation der Jüngsten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie ich bereits erwähnt habe, sah der ursprüngliche Entwurf des Museums keinen separaten Bildungsraum vor. Es bedurfte eines architektonischen Arguments nach dem Vorbild des Jahrhunderts des Kindes, damit sich die Macher für das Kinderpublikum interessierten und es in die ambitionierte Gestaltung eines der modernsten Museen Europas einbauten. Der durch eine solche Veränderung geschaffene Raum des „Bei König Hänschen“ kann die Aufgaben erfüllen, die der heutigen musealen Pädagogik zugeschrieben werden. Als wäre das nicht genug, hat die als intimes Projekt konzipierte Familienbildungsstätte eine Ausstellung hervorgebracht, die sich nicht nur an Kinder, sondern auch an Erwachsene richtet. Da die Pädagogik Korczaks als Leitmotiv fungiert, berücksichtigt der Ort der Ausstellung in gewisser Weise die Sensibilität des Alten Doktors für die Raumerfahrung des Kindes. Die Verkündung des angeborenen Bedürfnisses des Kindes, aktiv zu sein, und der Notwendigkeit, einen davon freien Raum zur Verfügung zu stellen, scheint eines der wichtigsten pädagogischen Postulate Korczaks zu sein, das heute schwer zu ignorieren ist, zumal sowohl Freiheit als auch Aktivität dem höchsten Wert dienen können – der Wahrheit. Es lohnt sich, an dieser Stelle an einen aphoristischen Satz von Korczak zu erinnern: „Lass die Kinder irren und freudig nach der Wahrheit streben.“ Die Ausstellung In König Hänschens Polen. Zum 100. Jahrestag der Wiedererlangung der Unabhängigkeit lässt dies mit Nachdruck zu und gibt sogar die Erlaubnis, dass die Wahrheit nicht gefunden, sondern nur gesucht wird. Allein die Zustimmung, sich am Prozess der Wahrheitssuche zu beteiligen, sollte nicht nur für Polen, sondern auch für die Welt ein gutes Zeichen sein. Warum? Es scheint, dass sowohl die Familienbildungsstätte „Bei König Hänschen“ als auch die Ausstellung dazu anregen, das Leben mutig, aber dennoch im Sinne Korczaks als Emanzipationsprojekt zu überdenken, die intellektuelle und emotionale Enge im Kosmos der privaten Werte zu durchbrechen und das eigene Leben in den Dienst höherer Werte zu stellen, denn dann wird es zur besten Möglichkeit, mit einem Sinn erfüllt zu werden.33 Vielleicht wird es unter solchen Bedingungen möglich sein, allmählich eine gemeinsame Welt zu komponieren,34 was die Beteiligung zukünftiger Generationen erfordert, denen es nicht an Mut zum Handeln mangeln wird. Dies ist besonders wichtig, weil seit jeher nicht nur 33 Vgl. M. Schmidt-Salomon: Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur. Aschaffenburg 2006, S. 150. 34 Vgl. B. Latour: Polityka natury. Nauki wkraczaja˛ do demokracji. Übersetzt von A. Czarnacka. Warszawa 2009, S. 323.

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polnischen Schulen vorgeworfen wird, dass sie nicht an einem Wissensdefizit, sondern an einem Handlungsdefizit leiden.35 Schließlich ist es das Handeln, das der Garant für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung ist, wie Aaron Antonovsky in seinem hervorragenden Buch Unraveling the Mystery of Health argumentiert. Diese Entwicklung soll sich nach Ansicht des Autors in drei Aspekten vollziehen: der Möglichkeit, die eigene Welt zu ordnen, der Partizipation und dem Gefühl der Handlungsfähigkeit36, was sich im System Verstehen – Mitgestalten – Wirken ausdrücken lässt. Es ist sicherlich einfacher, es in einer Gemeinschaft zu realisieren, die, wie Tomasz Markiewka zeigt, dringend nicht individuelle, sondern gemeinschaftliche Handlungsszenarien braucht, welche die Menschen Gesten der Hilflosigkeit angesichts von gestern noch undenkbaren Herausforderungen ablegen lassen: […] ein weiteres Problem ist das Fehlen von historischen Szenarien. Der Grund ist nicht ein Mangel an Beispielen, sondern die Art und Weise, wie wir unsere Geschichte erzählen. Allzu oft tun wir so, als wäre der Fortschritt das Werk einsamer Genies, eine eigenständige wissenschaftliche Entwicklung oder spontane Mechanismen des freien Marktes. In dieser Geschichte ist kein Platz für Politik und Handlungsfähigkeit.37

Ich habe den Eindruck, dass Korczak, dieses Bedürfnis antizipierend, beispielsweise König Hänschen schuf, dessen „individueller“ Wille zur Macht sich als zu schwach für Shakespeares aus den Fugen geraten erwies. Das Drama des einsamen Idealisten wird zum Vorwand für eine Geschichte über die Notwendigkeit gemeinschaftlichen Handelns, die, wenn sie der Welt schon keine neuen Kompositionen und keine Einstimmung auf einen neuen Rhythmus bietet, so doch zumindest die Gefahren signalisiert.38 Das ist möglich, argumentiert Korczak, aber nur gemeinsam. Dies ist jedoch nicht das Ende.

35 Vgl. M. Rasfeld, S. Breidenbach: Schulen im Aufbruch – eine Anstiftung. München 2014, S. 36ff. 36 Siehe A. Antonovsky: Unraveling the Mystery of Health. How People Manage Stress and Stay Well. San Francisco 1987. 37 T.S. Markiewka: Zmieniac´ ´swiat raz jeszcze. Jak wygrac´ walke˛ o klimat. Warszawa 2021, S. 171. 38 Es lohnt sich, an dieser Stelle an die Metapher des humanistischen Signalgebers zu erinnern, der durch das Lesen das, was er liest, quasi erlebt. So ist „das Lesen, Verstehen und Benutzen von Literatur eine Art Notfallausrüstung, die vor einem Unfall eingesetzt werden muss, weil ihre Rettungsfunktion darin besteht, eine Katastrophe oder ein Problem zu simulieren und es möglich macht, sie zu antizipieren.“ Vgl. R. Koziołek: Humanista sygnalista. In: Wiele tytułów. Wołowiec 2019, S. 7–30, hier S. 18. Aus dieser Perspektive erscheint die humanistische – genauer gesagt polonistische – Bildung als ein Projekt des präventiven Denkens über die Zukunft.

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Engagement für die Zukunft Entwickelt man bei den Jüngsten die Bereitschaft, ihr „inneres Auge“ zu schulen, also die Fähigkeit, ihre Vorstellungskraft zu nutzen39, wovon die vom Museum postulierte Idee des Engagements ausgeht, so könnte daraus noch etwas Anderes entstehen: die Antizipation zukünftiger Bedürfnisse.40 Das mag weniger futuristisch klingen, wenn ich daran erinnere, dass bereits im Bericht Zukunftschance Lernen von 1979 der Club of Rome diese Richtung in der Bildung „Lehren durch Schock“ nannte und einen zukunftsorientierten und demokratischen Unterricht in den Schulen als Grundlage für weitsichtiges Verhalten postulierte. Die Verwirklichung dieses Postulats sollte den Zukunftsschock minimieren, der von Alvin Toffler als verwirrende Desorientierung durch die verfrühte Ankunft der Zukunft definiert wurde.41 Abhilfe sollte die Einsetzung von „Zukunftsräten“ in den Schulen schaffen, die nicht nur verschiedene Szenarien dessen konstruieren, was passieren könnte, sondern auch die Verfahren zur Gestaltung und zum Erleben dieser Veränderungen, sowie die Schaffung von „Imaginationszentren“, die an Projekten von Utopien und Anti-Utopien arbeiten. Nach Toffler könnten generierte Narrationen die Angst vor dem Unbekannten allein schon dadurch beseitigen, dass Visionen der Vergangenheit, auch wenn sie in der Sphäre von Prophezeiungen verbleiben, diskutiert und in gewisser Weise durchlebt werden können. Wie passen Mieczysław Treters Sätze über die nationale Mission des Museums in ein solches Denken über Bildung und das pädagogische Engagement des Museums (der Zukunft?) hinein? Es scheint, dass sie keineswegs ausgeschlossen sind, obwohl die Akzente natürlich etwas anders gesetzt werden sollten. Zum „nationalen“ Museum sollte man sicherlich „ja“ sagen, aber mit der Einschränkung, dass es sich als kritisches Museum „in die öffentliche Debatte Museum – Forum engagieren, sich mit den wichtigen und oft kontroversen Problemen auseinandersetzen wird, die eine bestimmte Gemeinschaft, sowohl ihre Geschichte als auch Gegenwart betreffen.“42 Nur so können Museen zu Heterotopien werden, nicht zu Utopien der nationalen Einheit, nicht zu sinnentleerten Nicht-Orten.43 Und im Bildungskontext? Ich würde das Engagement des Museums in der Schaffung der Bedingungen für aktives Handeln der Ju39 Vgl. M.C. Nussbaum: Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst. Übersetzt von N. de Palezieux. Darmstadt 2014, S. 24. 40 Vgl. M. Schmidt-Salomon: Manifest des evolutionären Humanismus, (Anm. 33), S. 29. 41 Vgl. A. Toffler: Der Zukunftsschock. Einzig autorisierte Übersetzung aus dem Amerikanischen unter Mitwirkung des Verfassers. München / Zürich 1974, S. 25. 42 P. Piotrowski: Muzeum krytyczne. Warszawa 2011, S. 14. 43 Siehe M. Popczyk: Muzeum sztuki jako heterotopia. In: Muzeum sztuki. Od Luwru do Bilbao. Hrsg. M. Popczyk. Katowice 2006, S. 329–334.

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gendlichen sehen, einem „Kollaboratorium“44 ähnlich – einem Raum, dessen Name der Verbindung aus den englischen Wörtern für „Zusammenarbeit“ und „Labor“ entstammt. Sie sind groß genug, um eine Vielzahl von Praktiken unterzubringen, obwohl der Akzent auf dem gemeinschaftlichen Charakter der Aktivitäten und der Überprüfung der entwickelten Szenarien liegt. Aber vielleicht ist das eine Aufgabe für das Post-Museum und die Post-Bildung.

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Keywords: Janusz Korczak, Museum of the History of Polish Jews POLIN, pedagogy, critical attitude, education for the future

Magdalena Ochwat (Schlesische Universität in Katowice)

Polnischer Sprachunterricht – zwischen politischen Interessen und staatsbürgerlicher Bildung

Welche Art von imaginärer Gemeinschaft wird durch das Bildungssystem in Polen geschaffen? Wie unterrichtet die polnische Schule heute? Welche Art von Bürgern wird ihre Mauern verlassen? Werden sie – gemäß der stoischen Idee der kosmopolite¯s – „Weltbürger“1 sein, die in der Lage sind, sich selbst und andere, einschließlich derer, die keine Menschen sind, in einer pluralistischen Welt zu verstehen? Die Schule von heute krankt daran, dass es keine angemessenen Bedingungen für die Entwicklung von sozialem und bürgerlichem Geist gibt. In den 1990er Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts konzentrierte sich das Bildungswesen auf die auf Nutzen ausgerichtete Bildung innerhalb enger Spezialisierungen, unter den Stichworten „Arbeitsmarkt“, „berufliche Rollen“ und „wirtschaftliches Wachstum“, und stellte, wie die amerikanische Juristin und Bildungsphilosophin Martha C. Nussbaum schreibt, Menschen-Automaten her, homo oeconomicus. Die für das polnische Bildungswesen zuständigen Ministerien: der Nationalen Bildung sowie der Wissenschaft und Hochschulbildung förderten in erster Linie die naturwissenschaftliche sowie die berufliche Bildung. Seit 2017 beobachten wir eine deutlich konservative Hinwendung zur nationalen Tradition im Bildungswesen, die sich in den Kernlehrplänen der geisteswissenschaftlichen Fächer, insbesondere der polnischen Sprache und Geschichte, sowie in der Hochschulausbildung niederschlägt. Die ideologische Dimension des „Streits um Polen“ hat sich nicht nur auf die spezifischen Inhalte ausgewirkt, die in der Schule vermittelt werden, sondern auch auf den Schullektürekanon. Dieser ist eher national, martyrologisch und patriotisch als kosmopolitisch oder staatsbürgerlich. Die Art und Weise, wie Geisteswissenschaften in der Schule gelehrt werden, kann wiederum eher als retrospektiv und historisch denn als gegenwärtig oder zukunftsorientiert betrachtet werden. 1 Ich verwende diese Kategorie im Sinne von M.C. Nussbaum. Diogenes, der kynische Philosoph aus Griechenland, soll auf die Frage nach seiner Herkunft mit den Worten „Ich bin ein Weltbürger“ geantwortet haben. Vgl. M.C. Nussbaum: W trosce o człowieczen´stwo. Klasyczna obrona reformy kształcenia ogólnego. Übersetzt von A. Me˛czkowska. Wrocław 2008, S. 60.

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In diesem Artikel konzentriere ich mich auf das zeitgenössische Modell der geisteswissenschaftlichen Bildung, insbesondere der Polonistik, und zeige das „Hineinwachsen“ der nationalen Tradition romantischer Provenienz in das heutige Bildungssystem. Ich möchte den Leser jedoch nicht nur mit einer Zusammenfassung der Richtung der Veränderungen und ihrer Folgen für den Schulunterricht der polnischen Sprache zurücklassen, welche vom Ministerium für nationale Bildung initiiert wurden. Daher werde ich auch Überlegungen darüber anstellen, wie eine humanistische Bildung im 21. Jahrhundert aussehen könnte und welche methodologischen Orientierungen aus dem Bereich der neuen Geisteswissenschaften im Unterrichtsprozess genutzt werden können, um vollwertige Bürger zu erziehen, die zu selbstständigem Denken und Empathie fähig sind, bei gleichzeitiger Wiederherstellung der sozialen Gewohnheit des Lesens. Denn wir erleben in unserem Land ein beunruhigendes Phänomen, das sowohl Schüler als auch Studenten betrifft: Geisteswissenschaften ohne Lektüre. Die Entwicklung von Lesegewohnheiten bei Kindern und Jugendlichen ist heute eine Priorität der Literaturdidaktik.2 In dem Artikel wird also auch versucht, die Frage zu beantworten, wie die Stagnation des Lesens verhindert werden kann und somit – wie man einen jungen, für die Gesellschaft nützlichen Leser erziehen kann, wenn man bedenkt, dass „ein nicht lesender Bürger ein sozial toter Bürger ist.“3 Ich werde auch versuchen, das pädagogische Potenzial der neueren Kinderund Jugendliteratur darzustellen, das eine Reflexion über die Bürgerschaft im Polnischunterricht ermöglicht.

Nationaler und anachronistischer Polnischunterricht Bildungsprogramme waren schon immer Gegenstand heftigster Auseinandersetzungen, denn Bildung ist, wie die Geschichte der Erziehung seit den Zeiten der griechischen paideia-Tradition zeigt, niemals unparteiisch oder unschuldig. Wenn man also über die Schule schreibt, kommt man nicht umhin, sich auf die Bildungspolitik zu beziehen, denn jede Reform, jeder Kernlehrplan und jeder Lektürekanon ist in gewissem Sinne eine politische Tatsache, und der aktuell durchgeführten Bildungsreform wurde von den Regierenden unseres Landes besondere Priorität beigemessen.4 Es handelte sich um eine mehrstufige und 2 Über diese Priorität der Literaturdidaktik schrieb Krystyna Koziołek. Siehe Dies.: Czas lektury. Katowice 2017. 3 G. Jankowicz: Martwe dusze. In: „Tygodnik Powszechny“ 31 / 2010 [online]. https://www.ty godnikpowszechny.pl/martwe-dusze-143065 [20. 03. 2021]. 4 Dieses Problem wurde von Przemysław Sadura in dem Unterkapitel Reforma edukacyjna prawa i sprawiedliwos´ci. Silne pan´stwo w budowie aufgegriffen. Vgl. Ders.: Pan´stwo, szkoła, klasy. Warszawa 2017.

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vielschichtige Veränderung des Bildungssystems – vom Kindergarten bis zur Universität. Der „gute Wandel“, um den Werbeslogan der Regierungspartei zu verwenden, umfasste sowohl die neue Einteilung in Unterrichtsstufen (das Gimnazjum wurden abgeschafft), die Ausarbeitung und Einführung von Kernlehrplänen für die Grund- und Sekundarschulen in den Jahren 2017 und 20185 als auch die Erstellung von Schulbüchern auf der Grundlage der neuen Lehrplanunterlagen. Im Bereich der Wissenschaft wurden in jüngster Zeit z. B. im Alleingang ein neues Punktesystem der (besten) Fachzeitschriften erstellt und das so genannte Freiheitspaket6 durchgesetzt, nach dem ein Hochschullehrer seine eigenen religiösen, weltanschaulichen oder philosophischen Ansichten und nicht den Stand des Wissens verkünden kann. Wenn man jedoch fragen würde, was das wichtigste Ziel der Reform war, die vor unseren Augen stattfand, könnte die Antwort auf Eines hinauslaufen – die Stärkung der Rolle der nationalen Bildung. In einer der Erklärungen, die die Reform begleiteten, hieß es: „Lehrplanänderungen (sollen das Niveau des Unterrichts anheben, die erzieherischen Funktionen der Schule aufwerten und die traditionellen und nationalen Werte wiederherstellen)“7, während der Kernlehrplan lautet: „Aufgabe der Schule ist es, das Gefühl der nationalen Identität, der Verbundenheit mit der Geschichte und den nationalen Traditionen zu stärken.“8 Das Hauptziel der humanistischen Bildung in Polen besteht also nicht darin, universelles Wissen zu vermitteln und eine Haltung der Offenheit gegenüber anderen Kulturen zu entwickeln, sondern darin, bei den Schülern ein Gefühl der nationalen Identität zu entwickeln, wobei sich diese beiden Perspektiven ergänzen und nicht ausschließen sollten. Ein solches Missverhältnis zwischen dem Universellen und dem Nationalen kann Ängste auslösen – es kann zu einem pädagogischen Fiasko führen, weil die Schüler den Respekt vor dem Anderssein verlieren. Ein flüchtiger Blick auf den Wortschatz, der im Kernlehrplan für den Polnischunterricht in der Grundschule verwendet wird, bestätigt den nationalen und traditionellen Charakter. Das Adjektiv „national“ taucht in dem Dokument mehrere Dutzend Mal auf, meist in Bezug auf Erbe, Identität, Erinnerung, Kultur, Gemeinschaft und Einstellungen.9 Die in der Grundschule vorgeschlagene Lite5 Es sei darauf hingewiesen, dass die Anonymität der Teams, die an der Änderung der Programme arbeiteten, viel Misstrauen und Proteste in der wissenschaftlichen Gemeinschaft hervorgerufen hat. 6 https://www.gov.pl/web/edukacja-i-nauka/pakiet-wolnosci-akademickiej [28. 03. 2021]. 7 P. Sadura: Pan´stwo, szkoła, klasy, (Anm. 4), S. 248ff. 8 https://www.ore.edu.pl/wp-content/uploads/2018/03/podstawa-programowa-ksztalcenia-ogo lnego-z-komentarzem.-szkola-podstawowa-jezyk-polski.pdf [28. 03. 2021]. 9 Vgl. Auszüge aus dem Kernlehrplan für den Polnischunterricht: „Stärkung des Gefühls der individuellen, kulturellen, nationalen, regionalen und ethnischen Identität“; „Förderung der Entwicklung einer staatsbürgerlichen, patriotischen und sozialen Einstellung der Schüler“;

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ratur, in Übereinstimmung mit der Umsetzung der Bestimmung des Kernlehrplans „eine Auswahl literarischer Texte, die einen Ausgangspunkt für die Reflexion bieten und den Schüler zu einer integrierten Entwicklung und Verwurzelung in der nationalen Tradition und Kultur sowie in den Werten führen“, besteht aus den folgenden literarischen Werken: Auswahl an Epigrammen, Liedern und Gedichten von Jan Kochanowski, Bolesław Prus’ Katarynka, Juliusz Słowackis W pamie˛tniku Zofii Bobrówny, Ignacy Krasickis Z˙ona modna; S´witezianka, Reduta Ordona, Totenfeier Teil II und Herr Thaddäus (in Fragmenten und als Ganzes in den Klassen 4–8 gelesen) von Adam Mickiewicz, Balladyna von Juliusz Słowacki, Quo vadis. Roman aus der Zeit Neros und Der Leuchtturmwärter von Henryk Sienkiewicz, Sisyphusarbeiten von Stefan Z˙eromski, Die Rache von Aleksander Fredro, Kamienie na szaniec von Aleksander Kamin´ski sowie ausgewählte Reportagen von Melchior Wan´kowicz. In den Klassen 7 und 8 wird dieser nationale Monolith nur durch Charles Dickens’ Eine Weihnachtsgeschichte und Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz durchbrochen.10 Die Lektüren des 19. Jahrhunderts sind für die Herausbildung der nationalen und patriotischen Vorstellungskraft von entscheidender Bedeutung, aber, wie Ryszard Koziołek in seinem Essay Człowiek skulony schreibt: „In der polnischen Vergangenheit ohne eigenen Staat waren die Geisteswissenschaften eine Therapie für die gepeinigte Nation, und die kanonischen Lektüren sollten die eigenständige Identität der Polen schützen und bewahren.“11 Heute ist es nicht mehr notwendig, dass ein Schüler in der Literatur in erster Linie ein Zeugnis für den Kampf um Freiheit oder den Tod für sein Land sieht. Und es geht nicht darum, sich von dieser Verpflichtung gegenüber dem Vaterland zu befreien, da wir in einem unabhängigen Land leben, sondern vielmehr darum, über ein neues Modell des polnischen Patriotismus in der modernen, multikulturellen, sich dynamisch verändernden Welt nachzudenken. „im Rahmen des didaktischen und pädagogischen Prozesses führt die Schule Aktivitäten durch, die sich auf Orte beziehen, die für das nationale Gedächtnis wichtig sind, auf Formen des Gedenkens an Persönlichkeiten und Ereignisse der Vergangenheit, auf die wichtigsten nationalen Feiertage und auf nationale Symbole“; „Entwicklung einer Haltung des Respekts vor der Vergangenheit und der literarischen Tradition als Grundlage der nationalen Identität“; „Entwicklung eines Gefühls der nationalen Identität und des Respekts vor der Tradition“; „literarische Texte im neuen Lehrplan sind ein Ausgangspunkt für die Reflexion, führen den Schüler zu einer integrierten Entwicklung und Verwurzelung in der Tradition und der nationalen Kultur sowie in den Werten.“ Ebd. 10 Im Jahr 2008 sah die Lektüreliste für das Gymnasium wie folgt aus: *Jan Kochanowski – ausgewählte Epigramme, Klagelieder (5, 7, 8); *Ignacy Krasicki – ausgewählte Fabeln; Aleksander Fredro *Die Rache; Adam Mickiewicz *Totenfeier Teil II; *Henryk Sienkiewicz – ausgewählter historischer Roman (Quo vadis. Roman aus der Zeit Neros, Die Kreuzritter oder Die Sintflut). Das Sternchen bedeutete eine obligatorische Lektüre. 11 R. Koziołek: Człowiek skulony. In: „Tygodnik Powszechny“, 7. 09. 2020 [online]. https://www. tygodnikpowszechny.pl/czlowiek-skulony-164743 [28. 03. 2021].

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Die vorgeschlagenen Grundschullektüren sind auffallend einseitig in ihrer Behandlung von Literatur, in der es daran mangelt, Stereotypen zu enttarnen, falsche Narrative zu dekonstruieren, Populismus zu entlarven oder den Anderen näher zu bringen, Respekt für seine Unterschiede zu lehren, das Gefühl der Würde von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen zu stärken, objektives Wissen über die Welt aufzubauen oder vielfältige und kritische Diskurse einzubeziehen. Junge Menschen, die durch die Literatur von der Realität „isoliert“ sind und in einer „nationalen Blase“ leben, werden im Kanon der Schullektüren kaum Hinweise auf die Probleme von Klimaflüchtlingen, Angehörigen ethnischer, religiöser und sexueller Minderheiten oder von Mitgliedern der LGBT+Gemeinschaft finden. Fragen im Zusammenhang mit Rassismus, Nationalismus, der sich in den letzten Jahren bei nationalen Aufmärschen in unserem Land manifestiert hat, Islamophobie, Klimaverirrung werden in den Schullektüren nicht kommentiert. Im Lektürekanon finden wir keine Positionen, deren Handlung auf die emotionalen Bedürfnisse der Generation C eingehen würde, wie Forscher in den Vereinigten Staaten junge Menschen in den Zeiten der Coronavirus-Pandemie nennen12, ganz zu schweigen von der Erziehung bewusster Bürger für ihre wichtige Rolle in der demokratischen Gesellschaft.13 Ryszard Koziołek sieht in der Wiederbelebung der alten Literatur die Sehnsucht, ein homogenes Kultur- und Bildungsmodell zu erneuern, dessen Aufgabe es wäre, eine neue polnische Identität zu schaffen.14 Ich denke jedoch, dass der Plan, ein Gefühl der nationalen Identität zu formen, scheitern wird, weil er in vielerlei Hinsicht anachronistisch ist. Andrzej Borowski sprach darüber bereits zu Beginn des Jahres 2000 auf dem Kongress für Polonisten in Krakau: Das Muster oder besser gesagt das Stereotyp der polnischen Identität wurde und wird immer noch reproduziert, oft ziemlich gedankenlos, durch den schulischen Kanon der Lektüren, aber vor allem durch ihre allgemeine, oberflächliche und tendenziöse Interpretation […]. Die Überlegungen zur nationalen Identität im anthropologischen Kontext des „Anderen“ als „Fremden“ bringen uns dem Thema Multikulturalismus als Gegenstand der polonistischen Bildung näher.15

12 I. Krastew: Nadeszło jutro. Jak pandemia zmienia Europe˛. Übersetzt von M. Sutowski. Warszawa 2020, S. 45. 13 Erwähnenswert ist, dass Schulbücher für den Polnischunterricht viel mehr Auszüge aus zeitgenössischen Texten zu aktuellen und für Jugendliche relevanten Themen bieten, z. B. enthält das Schulbuch Słowa na start einen Auszug aus Ryszard Kapus´cin´skis Reportage Imperium, in der es um Umweltflüchtlinge geht, oder ein Kapitel aus Anna Onichowskas Buch Najwyz˙sza góra ´swiata [Der höchste Berg der Welt], in dem wir über Geschlechterrollen lesen. 14 R. Koziołek: Człowiek skulony, (Anm. 11). 15 A. Borowski: Toz˙samos´c´ polska i wielokulturowos´c´ jako problem edukacji polonistycznej. In: Polonistyka w przebudowie. Literaturoznawstwo – wiedza o je˛zyku – wiedza o kulturze –

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Die letzten Jahrzehnte des 20. und der Beginn des 21. Jahrhunderts sind eine Zeit außerordentlicher Beschleunigung des Globalisierungsprozesses, der das Kennenlernen verschiedener Anderer begünstigt. Dies ist der Hauptgrund, warum es besorgniserregend ist, dass der in der polnischen Schule geschaffene Raum eng und schmal ist, obwohl Ryszard Kapus´cin´ski bereits in seinen Wiener Vorlesungen schrieb, dass „die Welt in einem in der Geschichte unbekannten Ausmaß in Bewegung ist“, und Zygmunt Bauman in seinem Text O tarapatach toz˙samos´ci w ciasnym ´swiecie [Über die Probleme der Identität in einer beengten Welt] betont, dass „die Zeiten der Einsiedeleien und Festungen vorbei sind“ und dass „die Welt voll ist.“16 Die moderne Schule darf dies nicht übersehen. Schließlich ist das Ziel der modernen Geisteswissenschaften, einschließlich der Polonistik, die Bildung im Geiste des Dialogs und die Vorbereitung auf den Dialog in einer globalen Welt. Nach den jüngsten Veränderungen im Bildungswesen ist jedoch das Gegenteil der Fall. Nicht umsonst hat die polnische akademische Gemeinschaft begonnen, den Begriff „Nationalphilologie“ zu verwenden, der den zuvor etablierten Begriff „Polonistik“17 ersetzt. Für die „Architekten der neuen Polonisierung“ (ein von Ryszard Koziołek geprägter Begriff) ist es ein positives Phänomen, das „die Verwischung der kollektiven Identität verhindert“, während es für andere beweist, dass „die Intensivierung nationaler Emotionen auch zu Konflikten führt, bei denen die Identität der einen das Ziel von Aggressionen der anderen sein kann.“18 Krzysztof Koc, ein Forscher aus Poznan´, sieht das Problem der Nationalisierung in seiner Monographie mit dem Titel Lekcje mys´lenia (obywatelskiego). Metodyka koncepcyjna w edukacji polonistycznej [Lektionen im (bürgerlichen) Denken. Konzeptionelle Methodik im polnischen Sprachunterricht] auf ähnliche Weise. Er schreibt wie folgt: Die Tradition lässt sich aufgrund ihres textuellen Charakters recht leicht instrumentalisieren und wenn sie engen, pragmatischen oder sogar politischen Erziehungszielen edukacja. Bd. 2. Hrsg. M. Czermin´ska [u. a]. Kraków 2004, S. 172–186, hier S. 181. Das Band wurde 2004 als Ergebnis der Krakauer Polonistenversammlung herausgegeben. 16 E. Strawa: S´wiat pełen ruchu. Kształcenie kompetencji mie˛dzykulturowych w edukacji polonistycznej. In: Edukacja polonistyczna wobec Innego. Hrsg. A. Janus-Sitarz. Kraków 2014, S. 30–39, hier S. 30f. Die angeführten Zitate stammen aus: R. Kapus´cin´ski: Ten Inny. Kraków 2006, S. 33 sowie Z. Bauman: O tarapatach toz˙samos´ci w ciasnym ´swiecie. In: Dylematy wielokulturowos´ci. Hrsg. W. Kalaga. Kraków 2004, S. 13–40, hier S. 24. 17 Vgl. Zjazd Polonistów. Katowice 2011. 18 Siehe B. Bakuła: Narodowa czy rodzima? Filologia polska w perspektywie multikulturalizmu. In: Przyszłos´c´ polonistyki. Koncepcje – rewizje – przemiany. Hrsg. A. Dziadek, K. Kłosin´ski, F. Mazurkiewicz. Katowice 2013, S. 193–211, hier S. 195. Dieses Problem untersucht K. Bakuła. Er führte eine Umfrage unter polnischen Philologien im Ausland durch, um herauszufinden, ob der Begriff Nationalphilologie in anderen Ländern funktioniert. Nach Ansicht der Befragten ist der Begriff veraltet und anachronistisch, er funktioniert nicht an ausländischen Universitäten und hat zudem negative Konnotationen: nationalistische und ausgrenzende für nicht-polnische Polonisten.

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untergeordnet wird, kann sie weniger das Identitätsgefühl, insbesondere die nationale Identität, stärken als vielmehr Maßnahmen rechtfertigen, die auf die Ausgrenzung ganzer sozialer, ethnischer oder religiöser Gruppen abzielen.19

Es ist zu bezweifeln, dass das im Kernlehrplan vorgesehene Konzept der nationalen Erziehung zu einer friedlichen Existenz führen und einen Bürger erziehen kann, der zu Zärtlichkeit (unter Verwendung der von Olga Tokarczuk eingeführten kognitiven Kategorie) und Empathie fähig ist. Ein weiterer Missstand der humanistischen Bildung in der „neuen Schule“, den ich bereits erwähnt habe, ist ihr archaischer Charakter. Der Polnischunterricht ist immer noch so hermetisch abgeriegelt wie das Deweysche Kloster oder der Humboldtsche Elfenbeinturm, weil er hauptsächlich retrospektiv ist. Die Analyse des Textes, die Identifizierung literarischer Tropen und die Rekonstruktion bestehender Konventionen sind nach wie vor seine einzige Grundlage. Andrzej Was´ko, einer der Koordinatoren der Arbeiten am Kernlehrplan von 2017, akzeptiert diese anachronistische Ausrichtung beim schulischen Polnischunterricht in seinem Buch O edukacji literackiej (nie tylko dla polonistów) [Über literarische Bildung (nicht nur für Polonisten)], indem er schreibt: Einem Grundschüler sollte ein grundlegendes Verständnis für das System der literarischen Gattungen und Arten vermittelt werden. Der Erwerb dieser Kenntnisse fördert die Lesekompetenz für das ganze Leben. Heutzutage versteht man unter literarischer Fiktion nicht mehr die Summe der drei Gattungen Epik, Lyrik und Drama. Aber ohne Kenntnis dieser Kategorien werden wir weder den romantischen Synkretismus noch das modernistische Gesamtkunstwerk noch die Moderne verstehen, in der Formen und Gattungen aus dem Grenzbereich zwischen Belletristik und anderen Schriftgattungen eine wichtige Rolle spielen. […] Die Kenntnis der Grammatik ist für das spätere Studium der Poetik, insbesondere der Verslehre und der Stilistik, notwendig – die Grammatik ist eine der Grundlagen für die weitere literarische Bildung. […] Es wäre auch ratsam, die Kalligraphie in den jüngeren Klassenstufen wieder zu üben. Die systematische Führung von Heften durch die Schülerinnen und Schüler, die Kontrolle der Hefte durch die Lehrkräfte und die größtmögliche Anzahl (innerhalb der Grenzen der Vernunft) an verschiedenen schriftlichen Arbeiten müssen als gute Praxis angesehen werden. Der derzeitige Versuch, Veränderungen und Korrekturen im Bildungssystem vorzunehmen, […] beruht nicht auf Prophezeiungen. Ihr Hauptziel ist die Wiederherstellung des Geschichtsbewusstseins der jungen Generation, indem sie in die Welt der eta-

19 K. Koc: Lekcje mys´lenia (obywatelskiego). Edukacja polonistyczna wobec współczesnego ´swiata. Poznan´ 2018.

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blierten kulturellen Werte und bewährten Grundsätze des gesellschaftlichen Lebens eingeführt wird.20

Die „Bildungsreformer“, die sich nie mit den Problemen der Didaktik befasst haben, bekräftigen noch mehr als bisher die Notwendigkeit, zur Vergangenheit zurückzukehren. Andrzej Was´ko verabsolutiert die Literaturgeschichte, die Kenntnis der Poetik, der Verslehre und der Stilistik, jedoch nicht als Interpretationsschlüssel für die besprochenen Texte, sondern als deren technischen Parameter. Er geht davon aus, dass die Schüler vor allem Wissen brauchen, nicht aber die Fähigkeit zum eigenständigen Denken, zur Auseinandersetzung mit Positionen und zur eigenen Einschätzung der Welt. Es scheint, dass das Modell der so verstandenen Geisteswissenschaften ausgereizt ist, und die Überfrachtung des Unterrichtsmaterials mit Literatur-, Kulturgeschichte und Poetik-Theorie eine Überfrachtung des Kopfes der Schüler mit Daten und allgemeinen Formeln bedeuten kann, nicht aber eine authentische Entwicklung der Persönlichkeit, eine ungestörte persönliche Reflexion über die Kultur und eine Reifung zu sozialen Erfahrungen. Es fehlt darin ein echter Gedankenaustausch, ein Dialog, ein Meinungsaustausch über die Herausforderungen, denen sich der Bürger und Schüler von heute stellen muss. Außerdem behandelt das Ministerium die „zeitgenössische Unterhaltungsindustrie“ (Filme, Serien, Spiele) mit Widerwillen, und die polnische Schule vernachlässigt nicht nur die Populärkultur21, sondern auch die elektronischen Medien und die virtuelle Welt (abgesehen von der bereits erwähnten Lektüre Felix, Net i Nika oraz Gang Niewidzialnych Ludzi [Felix, Net und Nika sowie die Bande der Unsichtbaren)] – die natürliche Umgebung junger Menschen. Der bereits zitierte Andrzej Was´ko schreibt dazu: da nach dem Jahr 2000 […] Musik, Film und Fernsehen die einzigen Bereiche der Massenbeteiligung an der Kultur geblieben sind, hat auch die künstlerische Tätigkeit der postmodernen Literatur, der bildenden Kunst und des Theaters popkulturelle Züge angenommen. Diese anti-intellektuelle Tendenz ist in der Kultur bereits so weit fortgeschritten, dass sie zu einer Bedrohung für sie geworden ist.22

20 A. Was´ko: O edukacji literackiej (nie tylko dla polonistów). Kraków 2019, S. 27, 37, 40f. Das Ergebnis ihrer Auseinandersetzung mit den oben erwähnten Thesen (über die Erziehung eines Polen, Patrioten und Literaturliebhabers) von Andrzej Was´ko bildet das Buch Docenic´ szkołe˛. Dydaktyczna teoria i metodyczna praktyka [Die Schule zu schätzen wissen. Didaktische Theorie und methodische Praxis] von Maria Kwiatkowska-Ratajczak. Siehe M. Kwiatkowska-Ratajczak: Docenic´ szkołe˛. Dydaktyczna teoria i metodyczna praktyka. Poznan´ 2021. 21 Dazu gehört auch Harry Potter. In diesem Bestseller geht es hauptsächlich um Magie, d. h. um Kräfte, die einst vom Christentum besiegt wurden. Man sollte jedoch bedenken, inwiefern sich die Werke von J.K. Rowling von der Akademie des Meisters Klex oder den Chroniken von Narnia unterscheiden. 22 A. Was´ko: O edukacji literackiej, (Anm. 20), S. 58.

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Die von dem Krakauer Gelehrten vertretene Sichtweise ist eine Hinwendung zur Vergangenheit, ohne jegliche Reflexion über die gegenwärtige Welt und Kultur, die als primitiv und minderwertig bewertet wird. Allan Bloom, Autor des berühmten Buches Closing American Mind, ein Kritiker der westlichen Bildungsreform und Befürworter des Griechisch- und Lateinunterrichts sowie der Analyse literarischer Meisterwerke, hat sich ebenfalls in ähnlicher Weise geäußert. Er bezeichnet zeitgenössische Filme als billige Propaganda oder schluderige Sentimentalität, die junge Menschen lehren, bequem zu leben und ihren Wunsch nach einer Karriere verstärken. Krzysztof Biedrzycki erinnert uns daran, dass die Hauptaufgabe einer modernen Schule darin bestehen sollte, einem jungen Menschen beizubringen, wie er sich „in der Welt des Informationsüberschusses und einer Vielzahl von möglichen Lebensmodellen“23 effizient bewegen kann. Kann die Reflexion über die moderne Welt, die Kultur und die Geschichte aus dem Polnischunterricht überhaupt ausgeklammert werden, und wo könnte eine solche Reflexion dann ihren Platz finden? Ein weiteres Missverständnis liegt in der vom Kernlehrplan auferlegten strukturalistischen Tradition, über die sich Stanisław Bortnowski, ein Nestor der polonistischen Bildung, bereits in den 1990er Jahren negativ geäußert hat, indem er die Schwäche des Kultes der Literaturtheorie und eine übertriebene Neigung zum Formalismus hervorhob. Die Konsequenz der Verwendung nur dieser einen analytischen Tradition des Textes, die – wie wir hinzufügen möchten – in der Schulwirklichkeit immer präsent sein wird, ist die Behandlung der Literatur durch die Schüler als ein unnötiges, irrelevantes und langweiliges Gebiet. Vielleicht greifen die Schüler aus diesem Grund in späteren Lebensabschnitten überhaupt nicht mehr zu Büchern, was durch die seit fast 30 Jahren von der Nationalbibliothek durchgeführten Untersuchungen über das Leseverhalten in Polen bestätigt wird. Im Jahr 2018 erklärten 37 % der Befragten, dass sie im Laufe des Jahres mindestens ein Buch gelesen hätten, im Jahr 2019 waren es 39 %, was bedeutet, dass mehr als 60 % der Polen in den letzten 12 Monaten kein Buch gelesen hat24. Weder die Schule noch die humanistische Bildung haben also die Prüfung bestanden, denn sie wecken keinen ständig wiederkehrenden „Hunger“ oder „Appetit“ auf das Lesen, und die Literaturmethodik erreicht die angestrebten Ziele nicht, ein Gefühl der „fehlenden“ Lektüre zu schaffen. Die erwähnte konsumorientierte Topik des Lesens stammt aus dem Buch Czas lektury

23 K. Biedrzycki: Sam Mickiewicz nie zrobi z nas dobrych Polaków, 4. 01. 2017 [online]. https://kl ubjagiellonski.pl/2017/01/04/biedrzycki-sam-mickiewicz-nie-zrobi-z-nas-dobrych-polakow [30. 03. 2021]. 24 https://www.bn.org.pl/raporty-bn/stan-czytelnictwa-w-polsce/stan-czytelnictwa-w-polsce-w -2019-r. [30. 03. 2021].

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[Die Zeit der Lektüre] von Krystyna Koziołek.25 Für die Forscherin aus Kattowitz ist es nicht so wichtig, was wir lesen, es geht vielmehr darum, eine Lesegewohnheit zu entwickeln. Aber wird mit der Literatur des 19. Jahrhunderts das Experiment gelingen, das darauf abzielt, die starke Stellung des Lesens in der Schule wiederherzustellen? Wird ein solcher Lektürekanon für die Schüler interessant sein und sie zu lebenslangen Lesern machen? Das bezweifle ich. Zumal der Kontakt mit Büchern oft mit der Pflichtlektüre in der Schule endet. In der Grundschule sollte ihre Auswahl auch durch eine Antwort auf die emotionalen Bedürfnisse der Schüler, die thematische Attraktivität und nicht nur durch die Zugehörigkeit zum polnischen Kulturkodex bestimmt sein.26 Die mangelnde Freude am Lesen wird nicht nur durch das Elternhaus und die Gleichaltrigen beeinflusst, sondern auch durch die Bildungspolitik und die von den Schulen vorgegebene Buchauswahl.

Polonistische Bildung im Geiste der neuen Geisteswissenschaften Indem ich den neuen Kernlehrplan für ein Übermaß an Wissen, eine Rückkehr zu der polnischen Klassik des 19. Jahrhunderts auf der Lektüreliste und damit eine Vertiefung der Krise der Lesekultur kritisiere, frage ich mich, wie man polonistische Didaktik praktizieren kann, wenn man sich daran erinnert, dass wir nicht nur um des Wissens Willen unterrichten, sondern für eine bessere Welt. Wie können junge, denkende Menschen ausgebildet werden, die sich nicht nur auf Autoritäten und vorhandenes Wissen verlassen, wie es die neue Richtung der Bildungsreform vorschlägt? Wie kann ihre bürgerliche Subjektivität – Motivationen, Bestrebungen, Einstellungen – entwickelt werden? Bereits in den 1980er Jahren schrieb Maria Janion in ihrem Werk Humanistyka i terapia [Geisteswissenschaften und Therapie] von einer Steigerung der „Kapazität“ der literaturwissenschaftlichen Sprache, die es erlauben würde, „all das zu sagen, was den Sinn einer Epoche bestimmt.“27 Wie also kann dieses Vokabular erweitert werden, um sich der Gegenwart in den Schulhumanwissenschaften, den Dilemmata des neuen Jahrhunderts, den neuen Herausforderungen zu stellen? Die Antwort scheint eine umfassendere Praxis der Wissenschaft zu sein. Die schulische Polonistik sollte nicht nur in den Geisteswissen25 Über die abnehmende Bedeutung des Polnischunterrichts und der Universitätsausbildung bei der Entwicklung der Lesegewohnheit schrieb u. a. K. Koziołek: Czas lektury, (Anm. 2). 26 K. Biedrzycki: Sam Mickiewicz nie zrobi z nas dobrych Polaków, (Anm. 23). 27 Aus Janions Werk zitiere ich nach M.P. Markowski: Polonistyka: poznanie i terapia. In: Polonistyka na pocza˛tku XXI wieku. Diagnozy, koncepcje, perspektywy. Bd. 1: Literatura Polska i perspektywy nowej humanistyki. Hrsg. R. Cudak, K. Pospiszil. Katowice 2018, S. 13– 38, hier S. 18, 28.

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schaften angesiedelt sein, sondern muss auch die „Mauern“ der Disziplinen überschreiten und mit anderen Wissenschaften, einschließlich der Sozial-, Lebens- und Geowissenschaften, in Dialog treten. Wenn die Polonistik klug über die zeitgenössische Welt sprechen soll, weil „es gut ist, mit der Literatur zu denken“28, und weil mit Hilfe der Literatur „alles gesagt werden kann und soll“29, muss sie an der Schnittstelle der Wissenschaften stehen und darf nicht gleichgültig gegenüber den Phänomenen sein, die „hier und jetzt“ stattfinden. Andernfalls verliert sie ihren Status und damit die wichtigste Aufgabe, die sie zu erfüllen hat – die Interpretation der Welt. Diese beiden Bewegungen nach oben (von der Polonistik zu den Geisteswissenschaften) und quer (Transdisziplinarität) scheinen die Polonistik in eine lebendige Disziplin zu verwandeln, die dynamisch, gemeinschaftlich und offen für die Herausforderungen der heutigen Zeit ist.30 Die Geisteswissenschaften, die ihre Zäsuren auf diese Weise erweitern und sich in „integrale Geisteswissenschaften“31 verwandeln, greifen gemeinsam mit anderen Disziplinen die wichtigsten sozialen, kulturellen, ökologischen, politischen und wirtschaftlichen Fragen auf. Ich denke, es wäre lohnenswert, eine breite Sichtweise, Vielstimmigkeit und Multiperspektivität im schulischen Raum zu etablieren, um die bürgerliche Sensibilität angesichts schwieriger intellektueller und moralischer Entscheidungen zu fördern. Besonders wichtig sind die posthumanistischen Tendenzen, die Lebens- und Naturwissenschaften mit den Geisteswissenschaften zu verbinden. Derart gestaltete Interpretationen lassen nicht die Illusion aufkommen, die Welt bestehe aus zerfetzten Stücken unterschiedlicher Größe. Vielmehr gleicht es einem Bild, in dem jedes Element seinen Platz hat und ein Ganzes bildet, und alles miteinander verbunden ist. Die Erkenntnisse der „integralen Geisteswissenschaften“ können dank neuer Erkenntnismethoden nicht nur einen reformierenden Charakter für den schulischen Raum haben, sondern auch einen visionären, zukunftsorientierten Charakter, der gesellschaftliche Veränderungen hervorruft. Der Prozess der Veränderung in den „Bereichen des soziokulturellen Wissens, der Gewohnheiten und des Verhaltens, der Mentalität und der Sensibilität“ ist vielleicht das wichtigste Ergebnis der humanistischen Tätigkeit im Allgemeinen. Er wird sich auch in die Wirkung der „innovativen Geisteswissenschaften“32 28 Ich spiele auf den Titel des Buches von Ryszard Koziołek an: Dobrze sie˛ mys´li literatura˛ [Es ist gut, mit der Literatur zu denken]. Wołowiec 2015. 29 G. Jankowicz: Blizny. Eseje. Wrocław 2019, S. 19. 30 M.P. Markowski: Polonistyka: poznanie i terapia, (Anm. 27). 31 Ein von M. Nussbaum eingeführter Begriff: M.C. Nussbaum: W trosce o człowieczen´stwo, (Anm. 1), S. XI. 32 R. Nycz: Kultura jako czasownik. Sondowanie nowej humanistyki. Warszawa 2017, S. 24. Ich beziehe mich auf den Begriff der innovativen Geisteswissenschaften von Ryszard Nycz, der wie folgt verstanden wird: (a) eine originelle Lösung für ein wichtiges Problem (in wissenschaftlicher und soziokultureller Hinsicht), dank (b) der Entwicklung eines wiederholbaren

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einfügen, über die Ryszard Nycz in seinem Buch Kultura jako czasownik. Sondowanie nowej humanistyki [Kultur als Verb. Erforschung der neuen Geisteswissenschaften] schelmisch, um die Sprache der Naturwissenschaften zu verwenden, unter Betonung ihres Anwendungscharakters, schrieb: […] der Anwendungscharakter der neuen Geisteswissenschaften (als auch der Geisteswissenschaften im Allgemeinen) bedeutet in erster Linie die Fähigkeit, die Köpfe von Individuen und Kollektiven zu „lüften“ und „umzuorganisieren“ – sowohl in der Sphäre der Ideen als auch in der der Einstellungen, Verhaltensweisen, kausalen Handlungen, emotionalen Empfindungen.33

Die Profilierung von Schullektüren, die breitere „Anwendung“ von Orientierungen und Richtungen der neuen Geisteswissenschaften im Prozess des Literatur- und Sprachunterrichts in der Schule wird heutzutage zu einer Notwendigkeit. Sie trägt dazu bei, das Bewusstsein der Schüler für wichtige Themen zu schärfen und ihre Einstellung zu Menschen, Dingen, anderen Arten und der gesamten Umwelt zu ändern. Im 21. Jahrhundert können engagierte Geisteswissenschaften – als eine Form der Bürgerlichkeit – den wichtigsten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Fragen nicht ausweichen. Sie sollten sie stellen, damit – in Anlehnung an den Titel der bereits zitierten Studie von Nycz – „der Student als Verb“ kreativ, kausal und in Aktion bestehen kann. Die sich wandelnden Geisteswissenschaften zwingen zu einer Neudefinition der Ziele der polonistischen Bildung und stellen die Fähigkeit, die Emotionen anderer zu lesen, sowie die Übungen in ständiger Vorstellung der Zukunft – unserer, unserer Kinder, der Menschheit, aber auch der Natur und des Planeten, unserer einzigen Heimat – in den Mittelpunkt. Bei der so verstandenen Bildung geht es vor allem darum, den homo empathicus zu entwickeln, einen Menschen, der sensibel ist für den menschlichen und nicht-menschlichen Anderen, für die Umwelt, die Welt und alles, was uns umgibt. Sie basiert auf einer Sichtweise, die sich aus dem „Bezugsdenken“ ergibt, wie Ewa Doman´ska schrieb34, die seit vielen Jahren neue Forschungsansätze in den Geisteswissen-

Forschungsverfahrens in einer Weise, die (c) zur Enthüllung eines neuen Problemfeldes und zur (d) Initiierung einer neuen Teildisziplin oder Forschungsausrichtung und gleichzeitig zur (e) Stimulierung des Prozesses des Wandels der Gesellschaft, der Gewohnheit, des Verhaltens führt. Zwei dieser fünf Komponenten (inhaltliche Entdeckungsfähigkeit in Verbindung mit einer gesellschaftlich nützlichen Erfindungsgabe) sind wesentlich. Nycz behandelt sie modular. 33 Ebd., S. 47. 34 E. Doman´ska: Humanistyka ekologiczna. In: „Teksty Drugie“ 1–2 / 2013, S. 13–32, hier S. 15, 27. Das Bezugsdenken basiert auf verschränkten Bezügen (Verschränkung, entanglement, ist ein Konzept aus der Quantenphysik), Netzen, Netzwerken, Kollektiven, Gesellschaften und Gemeinschaften.

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schaften anregt, indem sie gegenseitige Beziehungen, Interdependenz, Verflechtungen, Netzwerke, Koexistenz betont.

Die Erweckung der bürgerlichen Vorstellungskraft – Migrationen und die Klimakatastrophe Um zu verstehen, wie die Literatur die bürgerliche Vorstellungskraft erwecken kann, werde ich zwei der meiner Meinung nach dringendsten Herausforderungen für die Zivilisation heranziehen. Ich werde sie mit ausgewählten Beispielen von Texten illustrieren, die in der Grundschule getrost diskutiert werden könnten. Zunächst sollte man sich jedoch darauf konzentrieren, wie Literatur die Imagination erwecken und bürgerliche Entscheidungen unterstützen kann? Meine pädagogischen Überlegungen sind fest verwurzelt in der Philosophie von Martha C. Nussbaum, die über narrative Imagination (narative imagination) schrieb. Sie betonte, dass sich die Schülerinnen und Schüler dank der erzählerischen Vorstellungskraft durch verschiedene Narrative mit anderen identifizieren und deren Perspektive einnehmen können, um die Welt mit den Augen der besprochenen Figuren zu sehen, ihr Leid, ihre Hilflosigkeit, ihre Wut, aber auch ihre Freude, ihre Liebe und ihr Glück zu spüren. Die Autorin von Nicht für den Profit: warum Demokratie Bildung braucht35 schreibt, dass die Fähigkeit, „in die Schuhe eines anderen zu schlüpfen“ – neben kritischem Denken und Weltbürgertum – eine der wichtigsten Fähigkeiten darstellt, die für den Aufbau der Demokratie unerlässlich ist, da sie sowohl Widerspruch, Zustimmung als auch Unterschiede und das Zusammenspiel gegensätzlicher Ansichten berücksichtigt. Dieses Zusammenspiel gegensätzlicher Sichtweisen zeigt sich besonders deutlich im Zusammenhang mit dem Thema Migration, das verschiedene Emotionen, nationale Spaltungen, aber auch – wie Ryszard Nycz schreibt36 – traumatische Erfahrungen, einen Wettbewerb zwischen konkurrierenden Erinnerungspolitiken oder Identitätsprojekten hervorruft. Es ist davon auszugehen, dass dieses Thema an Bedeutung gewinnen wird – durch die Erwärmung des Klimas werden Migrationsbewegungen einen dauerhaften Charakter haben und Millionen von Menschen zu Flüchtlingen machen. Zygmunt Bauman hat dieses Phänomen treffend beschrieben, als er über die „unendliche Migrationssaga“37 schrieb.

35 M.C. Nussbaum: Nie dla zysku. Dlaczego demokracja potrzebuje humanistów. Übersetzt von Ł. Pawłowski. Warszawa 2016, S. 58, 114. 36 R. Nycz: Kultura jako czasownik, (Anm. 32), S. 117. 37 Z. Bauman: Obcy u naszych drzwi. Übersetzt von W. Micner. Warszawa 2016, S. 90.

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Die mit der Mobilität verbundenen Prozesse sind in der ganzen Fülle der sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, politischen und schließlich kulturellen Probleme mit Themen wie Identität, Multikulturalismus, mit Mythen des Andersseins, der Fremdheit und des Heimischen, mit Phantasmen des Eingeborenen, der Reinheit oder der Außergewöhnlichkeit und auch – was wir in letzter Zeit in der Welt mit beispielloser Intensität beobachten – mit der Politik der Fremdenfeindlichkeit und mit Hassreden verbunden. Nussbaum schrieb darüber in ihrem Buch Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst, ausgehend von dem vor allem in den USA und Europa zu beobachtenden Phänomen der „neuen religiösen Intoleranz“, und Monika Bobako – in ihrem Buch Islamofobia jako technologia władzy. Studium z antropologii politycznej [Islamophobie als Technologie der Macht. Eine Studie in politischer Anthropologie], wo sie viele „selbstreflexive“, d. h. polnische, Themen im Zusammenhang mit der Welle antimuslimischer Feindseligkeit aufgreift. Insbesondere unsere nationalen Erfahrungen sind trotz der historischen ethnischen, religiösen und kulturellen Vielfalt reich an Beispielen, die auf die Zunahme von aggressiven Haltungen, Intoleranz und Ausgrenzung hinweisen.38 Ein Korrektivprogramm in diesem Bereich ist eine der Verpflichtungen und Hauptaufgaben der Geisteswissenschaften.39 Es sollte so schnell wie möglich in den frühesten Stadien der Bildung umgesetzt werden. Die Literatur für die Jüngsten scheint uns daran zu erinnern, dass Migrationen und Begegnungen mit dem Anderen eine universelle Erfahrung sind. Sie bieten die Möglichkeit, über die Erfahrung von Heimatverlust, Entwurzelung, Wanderschaft, Krieg, Einsamkeit, Sehnsucht oder mangelnder Akzeptanz nachzudenken. Die Einbindung des Schülers in diesen Themenkreis ermöglicht es ihm zu verstehen, dass das, was ihn mit den Anderen verbindet, die Zugehörigkeit zu einer menschlichen Gemeinschaft ist, und nicht nur zu einer nationalen oder europäischen Familie. Moje cudowne dziecin´stwo w Aleppo und Chłopiec z Aleppo, który namalował wojne˛ [Meine wunderbare Kindheit in Aleppo; Der Junge aus Aleppo, der den Krieg malte] von Grzegorz Gortat, Hebanowe serce [Ein Herz aus Ebenholz] von Romualda Pia˛tkowska, Chłopiec z Lampedusy [Der Junge von Lampedusa] von Rafał Witkowski, We˛drówka Nabu [Nabus Wanderung] von Jarosław Mikołajewski oder Kot Karima i obrazki [Karims Katze und Bilder] von Liliana Bardijewska lassen uns über Identität, Interkulturalität, 38 Zur Bestätigung zitiere ich einige Slogans von Transparenten, die bei Protesten gegen die Aufnahme von Flüchtlingen in unserem Land gezeigt wurden: „Nationale Solidarität statt Multikulti“, „Deutschland weint, Frankreich weint, so endet die Toleranz“, „Das sind keine Flüchtlinge, das sind Invasoren“, „Einwanderer geht nach Hause“, „Polen ist ein Land für Polen“, „Wir wollen einen Heimkehrer, keinen Einwanderer“, „Nicht islamisch, nicht säkular, dafür ein großes katholisches Polen“, „Heute Einwanderer, morgen Terroristen“. 39 Nycz schrieb darüber in Kultura jako czasownik, (Anm. 32), S. 139.

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Menschenrechte, aber auch über die Krise der Menschheit zu reflektieren beginnen. Sie sind auch eine Antwort auf die wichtigsten Dilemmata der modernen Zeit. Die Liste kann auch durch Bücher ergänzt werden, die sich mit Umwelt- und Klimaflüchtlingen befassen, wie z. B. der interessante Beitrag Basia i kolega z Haiti [Basia und der Freund aus Haiti], der die Geschichte eines Jungen erzählt, welcher nach dem Erdbeben nach Polen kommt. Es lohnt sich, die literarischen Darstellungen der Migrationsproblematik zu ergänzen, indem auch unsere, polnische Erfahrungen, die Probleme der polnischen Einwanderer im Ausland geschildert werden. Ein Beispiel dafür ist das Buch Moje Bullerbyn [Mein Bullerbü] von Barbara Gawryluk, das die Geschichte der Ausreise der Jugendlichen Natalka und ihrer Eltern nach Schweden erzählt. Gleichzeitig bringt Gawryluk dem Leser in Teraz tu jest nasz dom [Jetzt ist hier unser Zuhause] die Probleme der Flüchtlinge aus dem Osten näher. Ohne weiter auf die Titel der hier vorgestellten Bücher einzugehen, die von Małgorzata Wójcik-Dudek, Krzysztof Koc und Joanna Z˙ygowska hervorragend geschrieben wurden40, möchte ich jedoch abschließend feststellen, dass der vorgestellte Migrationskanon der Kinder- und Jugendliteratur eine Wirkung auf die Schülerinnen und Schüler haben könnte, indem er ihre empathische Haltung der Solidarität mit anderen stärkt und ein Gefühl dafür schafft, was es bedeutet, ein Weltbürger zu sein. Die Bezugnahme auf das Schicksal einzelner Figuren sollte bei den Schülern kritisches Denken auslösen, was der beste Schutz vor schädlichen Verallgemeinerungen und Fake News ist. Neben der Migration sollte das Thema Bildung im Sinne der neuen Geisteswissenschaften durch ökologische Herausforderungen, vorgeschlagene Prinzipien der nachhaltigen Entwicklung und Umweltveränderungen ergänzt werden. Forscher wie Ewa Bin´czyk, Ewa Doman´ska oder Marek Oziewicz41 schlagen spezifische Abhilfesysteme vor und zeigen – angesichts der unweigerlich bevorstehenden „Klimasackgasse“ – Vorsorgemaßnahmen auf, wobei sie die bedeutende Rolle der Geisteswissenschaftler herausstellen. January Weiner, Autor des Ökologie-Lehrbuchs Z˙ycie i ewolucja biosfery [Leben und Evolution der Biosphäre], spricht in einem kürzlich erschienenen Interview mit der Monats-

40 M. Wójcik-Dudek: Homo migrans. Miejsce literatury dla dzieci i młodziez˙y w edukacji empatii. In: „Postscriptum Polonistyczne“ 2 (24) / 2019, S. 31–50; K. Koc: Szkolna narracja o uchodz´cach a formacyjny wymiar edukacji polonistycznej. In: „Polonistyka. Innowacje“ 6 / 2017, S. 99–118; J. Z˙ygowska: To jest włas´nie ta chwila. Uchodz´cy w najnowszych polskich ksia˛z˙kach i teatrze dla młodych odbiorców (przegla˛d). In: „Polonistyka. Innowacje“ 6 / 2017, S. 131–146. 41 E. Bin´czyk: Epoka człowieka. Retoryka i marazm antropocenu. Warszawa 2018; E. Doman´ska: Humanistyka ekologiczna, (Anm. 34); M. Oziewicz: Opowies´ci na nowe czasy. In: „Kontakt. Dwutygodnik Internetowy“, 21. 08. 2019 [online]. http://magazynkontakt.pl/oziewicz-opowie sci-na-nowe-czasy.html [2. 04. 2021].

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zeitschrift „Pismo, Magazyn Opinii“42 sogar von der Allianz von Natur- und Geisteswissenschaften zum Schutz der Umwelt. Die Reflexion über aktuelle und prognostizierte Probleme und die damit verbundenen axiologischen Dilemmata sowie die Neudefinition von Schlüsselmetaphern, -bildern und -kategorien wie „Natur“, „Kultur“, „Mensch“, aber auch „Freiheit“, „Gerechtigkeit“, „Verantwortung“, „Konsumerismus“ und „Wohlstand“ sollten dringend und dauerhaft in den Schulunterricht der polnischen Sprache aufgenommen werden. Wir brauchen eine tiefgreifende Reflexion, die zu einer anderen Sichtweise der Welt, zu neuen Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt, zu einem erweiterten und vertieften Bewusstsein für Klimabedrohungen und den Verlust der Biodiversität sowie zu einer neuen Sprache führt, um all dies auszudrücken. Darüber hinaus sollte die Schule den jungen Menschen neue Fähigkeiten vermitteln, um sich an die stattfindenden Veränderungen anzupassen und folglich einen neuen Lebensstil in Opposition zum globalen Kapitalismus zu entwickeln.43 Gegenwärtig findet die Popularisierung von Klima- und Umweltfragen in Bildungseinrichtungen „durch die Hintertür“ statt, ohne dass sie in der Bildungspolitik verankert ist – durch die Organisation von Wettbewerben, die Auswahl von Themen für Verfügungsstunden oder Treffen mit Ökologen. Sie bilden jedoch kein größeres Ganzes. Die polnische Schule hat, um es ganz offen zu sagen, zumindest ein paar Jahre der „Kultivierung“ proökologischer Überlegungen verschlafen. Die Schüler finden keinen angemessenen Raum für eine konstruktive Diskussion über die globale Erwärmung des Planeten, das Artensterben, die Mechanismen der Unterdrückung wissenschaftlicher Fakten, die ökologische Postwahrheit (Desinformationskampagnen, Lobbyarbeit der Ölkonzerne, Schaffung von Skepsis gegenüber der globalen Erwärmung oder Optimismus im Zusammenhang mit der Besiedlung anderer Planeten bzw. Ideen zur Modifizierung von Mensch und Wetter), aber auch über positive Einstellungen, Vorbilder, Emotionen und den damit verbundenen Stress. Es ist nur der basisdemokratischen Haltung der Generation von Greta Thunberg zu verdanken, dass dieses Problem überhaupt wahrgenommen wird. Diese Tatsache sollte auch im Polnischunterricht genutzt werden, nicht nur, um sich mit der entsprechenden Lektüre zu diesem Thema zu beschäftigen, sondern vor allem, um das gesellschaftliche Bewusstsein zu verändern. Angesichts des Defizits an umweltbezogener Reflexion in der Schule des 21. Jahrhunderts weise ich auf die Notwendigkeit hin, den Inhalt literarischer 42 J. Weiner: Ochrona przyrody jest ochrona˛ wartos´ci. Z biologiem profesorem Januarym Weinerem rozmawia K. Błaz˙ejowska. In: „Pismo. Magazyn Opinii“ 8 (20) / 2019, S. 21. 43 Naomi Klein schrieb darüber in dem Buch Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima. Übersetzt von Ch. Prummer-Lehmair, S. Schuhmacher, G. Gockel. Frankfurt am Main 2015.

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Texte zu kontextualisieren, so dass sie unter Beibehaltung ihrer ursprünglichen Lektüre auch eine Reflexion über das „Verfassen einer guten gemeinsamen Welt“44 beinhalten. Der Polnischlehrer, der jungen Menschen die Ursachen des Klimawandels erklären will, kann das Phänomen des Konsumerismus kritisieren, indem er die Aussage von Ignacy Krasickis Satire Z˙ona modna aktualisiert. Bei der Besprechung von Durch Wüste und Wildnis, Pan Tadeusz oder Quo vadis kann er den Schülern einen Anlass geben, über die Beziehung zwischen Mensch und Tier zu sprechen. Andersens Märchen wiederum können als interessanter Reflexionspunkt über die Biografie von Gegenständen, ihre Rettung und das „zweite Leben“ im Sinne der Zero-Waste-Philosophie betrachtet werden. Die Lektüre des Kleinen Prinzen hingegen ermöglicht es, einen Helden zu erkennen, der für seinen Planeten und die Wesen, die ihn mit ihm bewohnen, verantwortlich ist. Die Öffnung der Schulpolonistik für die Klimabildung bedeutet auch, dass neue Bücher in den Kanon aufgenommen werden, was im Falle dieses Themenkreises sehr zu begrüßen wäre. Auf dem polnischen Verlagsmarkt sind zahlreiche Bücher erschienen, die sich mit einem breiten Spektrum von Umweltproblemen befassen. Es gibt Comics, Erzählungen, Fabeln und Romane über Müll, Plastik, Wasser, Smog, über Wälder und Tierschutz. Meiner Meinung nach ist eines der interessantesten Bücher, das in der Grundschule besprochen werden könnte, die Biographie von Greta Thunberg Szenen aus dem Herzen. Unser Leben für das Klima, das die schwedische Aktivistin gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester geschrieben hat. Es ist im Herbst 2019 in Polen im Verlag Sonia Draga erschienen. Der zweite Vorschlag, der sich an Kinder richtet, ist Gretas nicht autorisierte Biografie mit dem Titel No One Is Too Small to Make a Difference. Es lohnt sich, das Engagement dieser berühmten Teenagerin bei der Verteidigung des Planeten zu nutzen und die Jugendlichen auch im Polnischunterricht zu inspirieren, um eine Änderung der Einstellungen und des Bewusstseins der Jüngsten herbeizuführen, aber auch, um die Helden als ungehorsame Bürger zu zeigen, die die Dinge selbst in die Hand nehmen und die Welt verändern. Diese Lektüreempfehlungen sind eine Reaktion auf die fehlenden Anreize im Kernlehrplan, Stellung zu beziehen oder Widerstand zu leisten, was von Dorota Klus-Stan´ska, der Vorsitzenden des Didaktik-Teams im Ausschuss für pädagogische Wissenschaften der Polnischen Akademie der Wissenschaften, betont wird.45 Angesichts 44 Die Kategorien „Gemeinwohl“ und „allmähliche Zusammensetzung einer gemeinsamen Welt“ stammen von Bruno Latour. Vgl. B. Latour: Polityka natury. Nauki wkraczaja˛ do demokracji. Übersetzt von A. Czarnacka. Warszawa 2009, S. 315, 326. 45 https://edukacjananowo.pl/wp-content/uploads/2017/02/UWAGI-DO-PODSTAWY-PROGR AMOWEJ-KSZTA%C5%81CENIA-OG%C3%93LNEGO-DLA-SZKO%C5%81Y-PODSTAWO WEJ.pdf [30. 03. 2021].

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der Schwächung der kritischen Perspektive gebe es keine Hoffnung auf die Bildung einer bewussten Zivilgesellschaft in Polen.

Die Geisteswissenschaften der Zukunft Es könnte kaum ein wichtigeres Thema geben als die Zukunft. Es geht jedoch nicht um die Präsenz von Zukunft ohne die Vergangenheit – „das Neue wird nämlich im Schoß des Alten geboren“46 – es geht um etwas mehr, um die Erziehung künftiger Generationen zu einer Gemeinschaft einfühlsamer, sensibler und unabhängig denkender Menschen und um den Aufbau einer besseren/ neuen? Welt. Die modernen Geisteswissenschaften sollten daher eine umfassendere Sicht der Realität aus drei Perspektiven ermöglichen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Polnischunterricht neigt – was alarmierend ist – zur Interpretation aus historischer Sicht. Die Geisteswissenschaften der Zukunft47 sind Geisteswissenschaften, dank denen wir den bisherigen retrospektiven Charakter der diskutierten Wissenschaft zugunsten einer Hinwendung zur Zukunft überwinden und die Schullektüre wirksam „auffrischen“ können. Ein Beispiel für eine solche aufgefrischte Pflichtlektüre auf der nächsten Bildungsebene, die in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eintaucht, ist der Vorschlag von Cezary Zbierzchowski mit dem Titel Chłopi 2050, czyli Agronauci w czasach katastrofy klimatycznej48 [Die Bauern 2050 oder Agronauten in Zeiten der Klimakatastrophe], der auf Themen aus Reymonts Die Bauern und dem WWF-Bericht über Polen in der Mitte des 21. Jahrhunderts basiert. Korrelationen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft können auch z. B. anhand von Sienkiewiczs Quo vadis berücksichtigt werden, einem historischen Roman, der in den Jahrgangsstufen 7–8 historisch behandelt wird, in dem wir Fragmente finden, die Gewalt in den Beziehungen zwischen Mensch und Tier darstellen. Sie mit den Schülern zu besprechen, kann ein Ausgangspunkt für ein Gespräch über die Funktion des Menschen im Leben der Tiere sein und umgekehrt – über die Rolle der Tiere im Leben der Menschen. 46 Kultury antycypowanych przyszłos´ci. Hrsg. P. Dobrosielski, I. Kurz, J. Sowa. Warszawa 2020, S. 17. 47 Ein zukunftsorientiertes Denken über die Geisteswissenschaften ist auf polnischem Boden in den Forschungen von Ryszard Koziołek oder Justyna Tabaszewska zu finden. 48 Vgl. „Roboter, Exoskelette und Drohnen sind so alltäglich wie Äxte und Mistgabeln. Zitrusfrüchte werden in riesigen Hangars angebaut, jeder Tropfen Wasser ist Gold wert, und Reymontowskie Lipce ist durch die Dürre längst entvölkert. Auf der anderen Seite des Zauns haben Flüchtlinge aus Südeuropa ihre Höfe, im Dorfgemeinschaftshaus trifft man Spanier und Griechen, und in der Kirche hört man feurige ökologische Predigten.“ https://www.story tel.com/pl/pl/books/1225490-Chlopi-2050-czyli-Agronauci-w-czasach-katastrofy-klimatycz nej [20. 01. 2020].

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Wie sah die Tierwelt in der Vergangenheit aus und wie hat sie sich heute verändert? Werden sie immer noch als Quelle der Unterhaltung für den Homo sapiens behandelt? Eine Aufgabe aus der Zukunft könnte es sein, über eine solche Welt und Beziehungen nachzudenken, in denen Tiere nicht unter der Hand des Menschen leiden. Die Lektüre wird so zum Vorwand für viel umfassendere und tiefere humanistische Überlegungen, deren vorrangiges Ziel es ist, über den Horizont der menschlichen Vorstellungen hinauszugehen. Die Jagd, das Tragen von Pelzen, die Verwendung von an Tieren getesteten Medikamenten oder Kosmetika – all diese Probleme sind eng mit der perspektivischen Erfassung einer besseren zukünftigen Welt und bewusster Bürger verbunden. Das Antizipieren der Zukunft als eine Art der Partizipation ist auch ein bürgerschaftlicher Beitrag zum Aufbau einer guten Optik für die kommenden Jahre. Dabei geht es nicht darum, Geschichte durch Futurologie zu ersetzen, sondern darum, über die Untersuchung von Erinnerung und Diskursen hinauszugehen und sich auch auf neu entstehende Bedeutungen und Werte zu konzentrieren, um ein zeitgenössisches antizipierendes Imaginarium zu entwickeln.49 Eine wichtige Richtung für seine Entwicklung wären „Geisteswissenschaften der Hoffnung“, die zu einer Antwort auf die COVID-19-Pandemie, die Krise der Kultur und die Krise des Menschen sowie auf die derzeit wichtigste, die gewaltige Klimakrise wird. Aufgabe der Schule ist es also, neben der Erziehung zu einem einfühlsamen und kritischen Weltbürger auch die Vorstellungskraft für positives, utopisches Denken zu schulen. Schulische Versuche, ein solches Denken zu praktizieren, könnten sich solcher Methoden der Zukunftsgestaltung bedienen wie foresight (ein Werkzeug zum Aufbau optimistischer Bilder), kritisches Design (basierend auf Dekonstruktion, Infragestellung der bestehenden Ordnung).50 Spekulieren oder die Erschaffung der bestmöglichen Welten haben nicht nur ein kritisches Potenzial, sondern auch ein Laborpotenzial, das es erlaubt, die Vorstellungskraft zu trainieren und die möglichen Szenarien von morgen zu testen sowie Geschichten zu spinnen.51 Der Einsatz, um den das Spiel sich dreht, sind also nicht nur formulierte Narrative, sondern konkrete Lösungen52 und Postulate. Diese Vision, Geisteswissenschaften zu betreiben, tauchte auf der Konferenz „White Mirror 2118“ auf und das Ergebnis der wissenschaftlichen Tagung ist ein Buch, das mich zu diesen Überlegungen stark inspiriert hat – Kultury antycypowanych przyszłos´ci [Kulturen der antizipierten Zukünfte]. Meiner Meinung nach bezieht sich das „Hinausstrecken in die Zukunft“ auch auf die Zukunft der Geisteswissenschaften, so dass wir hoffen sollten, dass ihr 49 Kultury antycypowanych przyszłos´ci, (Anm. 46), S. 9. 50 R. Kosewski: Przyszłos´c´ widzenia z tylnego siedzenia samochodu bezzałogowego. In: Kultury antycypowanych przyszłos´ci, (Anm. 46), S. 143. 51 Kultury antycypowanych przyszłos´ci, (Anm. 46), S. 14. 52 R. Kosewski: Przyszłos´c´ widzenia, (Anm. 50), S. 147.

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Potenzial in den polnischen Schulen angemessen genutzt wird. Damit dies jedoch geschehen kann, sollten sich alle am Bildungsprozess Beteiligten, von den Verfassern der Lehrpläne über die Lehrer bis hin zu den wichtigsten Teilnehmern, nämlich den Schülern, die grundlegende Frage stellen: Quo vadis polnische Bildung?

Bibliografie Bakuła B.: Narodowa czy rodzima? Filologia polska w perspektywie multikulturalizmu. In: Przyszłos´c´ polonistyki. Koncepcje – rewizje – przemiany. Hrsg. A. Dziadek, K. Kłosin´ski, F. Mazurkiewicz. Katowice 2013, S. 193–211. Bauman Z.: O tarapatach toz˙samos´ci w ciasnym ´swiecie. In: Dylematy wielokulturowos´ci. Hrsg. W. Kalaga. Kraków 2004, S. 13–40. Bauman Z.: Obcy u naszych drzwi. Übersetzt von W. Micner. Warszawa 2016. Biedrzycki K.: Sam Mickiewicz nie zrobi z nas dobrych Polaków, 4. 01. 2017 [online]. https://klubjagiellonski.pl/2017/01/04/biedrzycki-sam-mickiewicz-nie-zrobi-z-nas-do brych-polakow [30. 03. 2021]. Bin´czyk E.: Epoka człowieka. Retoryka i marazm antropocenu. Warszawa 2018. Borowski A.: Toz˙samos´c´ polska i wielokulturowos´c´ jako problem edukacji polonistycznej. In: Polonistyka w przebudowie. Literaturoznawstwo – wiedza o je˛zyku – wiedza o kulturze – edukacja. Bd. 2. Hrsg. M. Czermin´ska, S. Gajda, K. Kłosin´ski, A. Legez˙yn´ska, A.Z. Makowiecki, R. Nycz. Kraków 2004, S. 172–186. Doman´ska E.: Humanistyka ekologiczna. In: „Teksty Drugie“ 1–2 / 2013, S. 13–32. Jankowicz G.: Blizny. Eseje. Wrocław 2019. Jankowicz G.: Martwe dusze. In: „Tygodnik Powszechny“ 31 / 2010 [online]. https://www.ty godnikpowszechny.pl/martwe-dusze-143065 [20. 03. 2021]. Kapus´cin´ski R.: Ten Inny. Kraków 2006. Klein N.: Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima. Übersetzt von. Ch. Prummer-Lehmair, S. Schuhmacher, G. Gockel. Frankfurt am Main 2015. Koc K.: Lekcje mys´lenia (obywatelskiego). Edukacja polonistyczna wobec współczesnego ´swiata. Poznan´ 2018. Koc K.: Szkolna narracja o uchodz´cach a formacyjny wymiar edukacji polonistycznej. In: „Polonistyka. Innowacje“ 6 / 2017, S. 99–118. Kosewski R.: Przyszłos´c´ widzenia z tylnego siedzenia samochodu bezzałogowego. In: Kultury antycypowanych przyszłos´ci. Hrsg. P. Dobrosielski, I. Kurz, J. Sowa. Warszawa 2020. Koziołek K.: Czas lektury. Katowice 2017. Koziołek R.: Człowiek skulony. In: „Tygodnik Powszechny“, 7. 09. 2020 [online]. https:// www.tygodnikpowszechny.pl/czlowiek-skulony-164743 [28. 03. 2021]. Koziołek R.: Dobrze sie˛ mys´li literatura˛. Wołowiec 2015. Krastew I.: Nadeszło jutro. Jak pandemia zmienia Europe˛. Übersetzt von M. Sutowski. Warszawa 2020. Kultury antycypowanych przyszłos´ci. Hrsg. von P. Dobrosielski, I. Kurz, J. Sowa. Warszawa 2020.

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connection with the 2017 reform, is based on the cultivation of the history of the literature, making national the transmitted tradition and patriotism, and the very nature of practising the humanities appears to be retrospective. The second one results from the challenges of the present day, and the effect of education is not to be only knowledge about the past, but also skills and attitudes involving young people in debates that are important for the world. The article also reflects on what humanities education in the 21st century could look like and what methodological orientations from the field of the new humanities can be used in the teaching process to educate fully-fledged citizens, while restoring the social habit of reading. There is also an attempt to present the educational potential of the latest children’s and youth literature concerning the phenomenon of migration and climate change, allowing for reflection on citizenship during Polish language lessons. Keywords: Polish language and literature education in Poland, educational reform, national reading canon, migration, climate change, humanities of the future

Monika Lubin´ska (Schlesische Universität in Katowice)

Wissenschaftlicher Aktivismus im Anthropozän – Perspektiven für das Engagement der zeitgenössischen Geisteswissenschaften1

In dem Artikel Jakiej metodologii potrzebuje współczesna humanistyka? [Welche Art von Methodologie brauchen die modernen Geisteswissenschaften?] warf Ewa Doman´ska ein im Zusammenhang mit den Perspektiven für das Engagement der Geisteswissenschaften wichtiges Thema auf, nämlich die Notwendigkeit, vom kontemplativen zum performativen Wissen überzugehen – das auf die Nützlichkeit und Effizienz von Forschungsaktivitäten in der politischen, nicht-akademischen Realität ausgerichtet ist: der schnelle technologische Fortschritt, die ökologische Krise und die sich verschärfenden Naturkatastrophen, die Entwicklung des globalen Kapitalismus, Völkermorde, der Terrorismus oder die Migrationsbewegungen bringen die Forscher immer häufiger in die Situation der Forschungsunfähigkeit und der Nichtdarstellbarkeit der beschriebenen Phänomene. In diesem Gefühl der Ohnmacht weicht das Modell der kontemplativen Wissenschaft dem performativen Modell, bei dem es auf die Nützlichkeit und Wirksamkeit des geschaffenen Wissens ankommt.2

Über diesen Transfer schreibt die Forscherin im Kontext methodologischer Tendenzen in den Geisteswissenschaften der letzten Jahrzehnte (Posthumanismus, Ökokritizismus, Transdisziplinarität), die mit dem Gefühl der Verpflichtung verbunden waren, auf die Herausforderungen und Krisen der Gegenwart zu reagieren: „Eine solche Option wird – trotz einer gewissen Nostalgie für das kontemplative Modell des Wissens – durch die Überzeugung erzwungen, dass wir heute praktisches und effektives Wissen brauchen, das die Überlebenschancen (nicht nur der Menschen) erhöht.“3 Mehr als 10 Jahre nach der Veröffentlichung dieses Textes, im Zeitalter der COVID-19-Pandemie, der wachsenden klimatischen und politischen Bedro1 Der Beitrag wurde im Rahmen des Forschungsprojekts „Diamentowy Grant“ (2020–2024) finanziert. 2 E. Doman´ska: Jakiej metodologii potrzebuje współczesna humanistyka? In: „Teksty Drugie“ 1–2 / 2010, S. 45–55, hier S. 46. 3 Ebd., S. 47.

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hungen, ist das Ausmaß der genannten globalen Probleme nicht mehr mit der einst von Doman´ska beschriebenen Realität vergleichbar. In direktem Verhältnis zu dieser Verschärfung steht auch eine Intensivierung des Nachdenkens über neue Perspektiven für das Engagement der Geisteswissenschaften, und die Herausforderung der „Performativität“ des Wissens ist mit einem größeren Verantwortungsbewusstsein als bisher verbunden. Diese Verstärkung hat zur Folge, dass der Begriff „wissenschaftlicher Aktivismus“ vielleicht besser als „Engagement“ im Kontext der heutigen Überlegungen geeignet ist – dieser Begriff betont nämlich noch unverblümter das Handeln, die Veränderung und das Politische. Obwohl Doman´ska den Begriff „Anthropozän“ in ihren Überlegungen nicht verwendet, sind die von ihr erwähnten Realitäten, wissenschaftlichen Herausforderungen und geisteswissenschaftlichen Entwicklungen gerade mit den Bedrohungen und Umbrüchen des menschlichen Zeitalters verbunden. Die Betonung dieses Begriffs ist insofern wichtig, als die Debatte über wissenschaftlichen Aktivismus innerhalb der Geisteswissenschaften mit Schlüsselmotiven und -diagnosen im Kontext der aktuellsten Probleme bereichert werden kann, wenn sie ausgerechnet um das Anthropozän herum organisiert wird – unter Berücksichtigung der neuesten Errungenschaften der internationalen, transdisziplinären Forschung zu seinen Phänomenen. Ein solches Phänomen, das die Debatte über das Engagement in der Forschung zu erheblichen Neubewertungen zwingt, ist, dass im Rahmen des Anthropozäns bestimmte Trennlinien, die bisher die Wissenschaft, Forschungsund allgemeines Kulturdenken geprägt haben, ihre Gültigkeit verlieren. Das wohl erste und am besten erkennbare Konzept, das noch nicht direkt mit dem Namen der neuen geologischen Epoche in Verbindung gebracht wird, ist die NaturKultur – ein Konzept, dem die Untrennbarkeit der Umwelt von den Produkten menschlicher Tätigkeit zu Grunde liegt. Ein weiteres Beispiel für einen solchen Bruch ist die von dem indischen Historiker Dipesh Chakrabarty beschriebene Aufhebung der Trennung zwischen Menschheits- und Naturgeschichte, die ein anderes Denken über Zeit, Menschlichkeit, Kapitalismus und Veränderungen in der Geschichtswissenschaft erzwingt.4 Eine andere erscheint in – von einer Vielzahl von Autoren und Strömungen vertretenen – trans- und interdisziplinären Richtungen. In diesem Zusammenhang wird die Notwendigkeit gemein4 Die Notwendigkeit dieser Aussetzung hängt mit der Erkenntnis zusammen, dass im Anthropozän die menschliche Spezies mit ihren industriellen Aktivitäten, ihrer Kultur, ihrer Gesellschaft und ihrer Politik – Bereiche, die im Rahmen der Naturgeschichte nicht untersucht werden können – zu einem geologischen Faktor wird, der die Veränderung der Parameter der Erde beeinflusst. Diese Erkenntnis bringt zahlreiche Komplikationen und Neubewertungen mit sich – siehe D. Chakrabarty: The Climate of History: Four Theses. In: Energy Humanities. An Anthology. Hrsg. I. Szeman, D. Boyer. Baltimore 2017, S. 32–54, hier S. 35–39.

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samer Anstrengungen verschiedener wissenschaftlicher Bereiche als Antwort auf die Krisen der Gegenwart immer deutlicher, ebenso wie das Bedürfnis, die inzwischen überholte Unterteilung in „Geisteswissenschaften und Künste als Bereiche des Unbestimmten, Einzigen und Unermesslichen, sowie die – bestimmte, universelle, messbare und sichere – Wissenschaft“5 aufzuheben. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse würde ich auch auf die Notwendigkeit hinweisen, die Debatte über den Platz der Geisteswissenschaften vor dem Hintergrund der exakten Wissenschaften oder der Naturwissenschaften in der Form auszusetzen, die Spuren des Komplexes von Geisteswissenschaftler:innen gegenüber Wissenschaftler*innen trägt – die „effektives Wissen“ bereitstellen, das technologische Lösungen bringt, die die Realität verändern. Angesichts der politischen Gleichgültigkeit gegenüber den Gefahren des Anthropozäns und der Dominanz eines von der Idee des unbegrenzten Wachstums gesteuerten Marktes sind heute alle Wissenschaften gleichermaßen von Hilflosigkeit und mangelnder Effizienz geprägt – schließlich sind die wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten zur Bekämpfung des Klimawandels längst entwickelt und bekannt. In diesem Zusammenhang, trotz des nach wie vor starken Bedürfnisses, nützliches Wissen zu praktizieren, das die politische Realität beeinflusst, trotz des Gefühls der Hilflosigkeit, der Unangemessenheit der wissenschaftlichen Praxis gegenüber den Erfordernissen der Gegenwart, des Eindrucks des Zeitmangels – sollten die Perspektiven möglicher Haltungen des Forschungsaktivismus im Anthropozän daher ab jetzt jenseits der Einteilung in kontemplatives und performatives Wissen betrachtet werden, die die Debatte über das Engagement der Geisteswissenschaften auf vielen Ebenen immer noch prägt. Angesichts der jüngsten Forschungen zum Anthropozän und des Bewusstseins für die Veränderungen, die es für die wissenschaftliche Praxis mit sich bringt, erweisen sich die Kategorien der Performativität oder Handlungsmacht in der Debatte über das Engagement als unzureichend, unpassend. Obwohl die gegenwärtige Phase des menschlichen Zeitalters sicherlich keine Periode ist, die ein Gefühl der Freiheit bei der Ausübung einer für die Geisteswissenschaften charakteristischen Praxis vermittelt, die Zeit und Reflexion erfordert sowie auf das Studium kultureller Texte oder langfristiger kultureller Transformationen ausgerichtet ist, hatte Slavoj Zˇizˇek in seinem Vortrag Don’t Act, Just Think möglicherweise recht. Der Philosoph weist darin mit Blick auf die damalige Krise der Linken darauf hin, dass die Probleme, die mit den Bedrohungen durch den Kapitalismus verbunden sind, nicht durch eine revolutionäre Arbeiterrevolte oder andere bisher bekannte sozialistische Lösungen gelöst werden könnten – vielmehr stünden wir vor der intellektuellen Herausforderung, 5 M. Krzykawski: Technika i niepewnos´c´: Wolnos´c´. Wrocław 2020 [online]. https://www.youtu be.com/watch?v=BKHoGrBbOhs&t [11. 01. 2021].

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völlig neue Lösungen zu erarbeiten, die keine Wiederholung von Strategien aus dem 20. oder einem früheren Jahrhundert darstellen.6 Die Situation der zeitgenössischen Geisteswissenschaften ist insofern ähnlich, dass wissenschaftlicher Aktivismus heute eine Haltung sein muss, die sicherlich nicht kontemplativ, sondern vor allem intellektuell ist und mehr auf die Teilnahme am internationalen wissenschaftlichen Dialog als auf die Schaffung von Strategien des politischen Widerstands ausgerichtet ist. Der Unterschied zu dem, wovon Zˇizˇek spricht, bildet wiederum die Tatsache, dass die Geisteswissenschaften – trotz des Mangels an Zeitgefühl zwecks Bewältigung irgendwelcher Ereignisse aus der Vergangenheit – vor einer bedeutenden Herausforderung stehen, nämlich einer Art Transformation oder einer Anreicherung der Denkrahmen, die sie in den letzten Jahrzehnten geprägt haben, mit technologiebezogenen Motiven, die für das Anthropozän entscheidend sind. Warum diese Motive Schlüsselcharakter haben, zeigt das von Bernard Stiegler gegründete internationale Forschungskollektiv Internation,7 das sich auf das Konzept des Entropozäns stützt und mit seinen Aktivitäten dem Engagement der Wissenschaft, einschließlich der Geisteswissenschaften und den sie prägenden Disziplinen, neue Wege ebnet.

Entropozän und Internation – jenseits des computergestützten Kapitalismus Nach der Theorie des Entropozäns, die von Stiegler und den Mitgliedern von Internation entwickelt wurde, sind die charakteristischsten Merkmale des menschlichen Zeitalters verschiedene Arten der Zerstreuung, der Destrukturierung, der Desorganisation und der fehlenden Vorhersehbarkeit. Diese Merkmale stellen gleichzeitig die allgemeinste und umfassendste Definition der Entropie dar – eines Phänomens, das nach Ansicht der Internation alle Krisen des Anthropozäns am umfassendsten charakterisiert und sich auf globaler Ebene in vier Arten äußert: physisch (Zerstreuung von Mineralvorkommen), biologisch (Verlust der Biodiversität, virologische Krisen), informationell (Post-Wahrheit, Verlust des Vertrauens in öffentliche Institutionen, Pseudowissenschaft) und psychosozial (Marasmus, Apathie, Neigung zur Sucht, Selbstmord, Depression).8 Trotz der scheinbar stark metaphorischen oder allgemeinen Aussage dieses Konzepts und seines Status als eines weiteren Elements in der bereits zahlreichen 6 S. Zˇizˇek: Don’t Act. Just Think [online]. https://www.youtube.com/watch?v=IgR6uaVqWsQ [11. 01. 2021]. 7 https://internation.world/about [11. 01. 2021]. 8 M. Krzykawski: Wyjs´c´ z ne˛dzy entropocenu. Propozycja Internacji. In: „Wakat“ 1–2 / 2020 [online]. http://wakat.sdk.pl/wyjsc-nedzy-entropocenu-propozycja-internacji [11. 01. 2021].

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Sammlung von Transformationen des Begriffs „Anthropozän“ unterscheidet es sich von diesen durch einen wirklich ganzheitlichen wissenschaftlichen Hintergrund, der auf der Thermodynamik beruht und mit den aktuellen Umweltproblemen untrennbar verbunden ist. Die Behandlung der Entropie als Schlüsselphänomen des Anthropozäns bedeutet zunächst einmal, die aktuelle Energiekrise richtig einzuordnen und die Metaphern des Energiekonsums, -verbrauchs bzw. der Energieeinsparung/-erzeugung, die das Denken darüber prägen, zu überwinden. Nach dem Prinzip der Energieerhaltung unterliegt sie weder dem Verbrauch noch der Erzeugung, sondern lediglich Umwandlungsprozessen – bei denen es unweigerlich zum Phänomen der Entropie kommt, d. h. zur Zerstreuung eines Teils der Energie, was zur Zeit der industriellen Revolution erkannt wurde.9 Im Falle eines thermodynamischen Systems wie der Erde und einer weltweit dominierenden kapitalistischen Wirtschaft, die auf der Verbrennung fossiler Brennstoffe beruht, sind die Produkte dieser Zerstreuung u. a. Asche, Rauch und schließlich Treibhausgase, die sich direkt auf die Biosphäre auswirken und deren Parameter verändern, wie die Durchschnittstemperatur. Diese Art von Entropie, die künstlich durch eine Form der industriellen Organisation verursacht wird, bezeichnet Internation als Antropie10, d. h. als eine spezifisch menschliche Entropie, die für den anthropogenen Klimawandel verantwortlich ist. Als Ursache sehen die Forscher wiederum die Verankerung des derzeit vorherrschenden Wirtschaftssystems in einem wissenschaftlich überholten, metaphysischen Weltbild, das auf die Newtonsche Physik zurückgeht. Wie Michal Krzykawski in seinem Artikel Ein Ausweg aus dem Elend des Entropozäns. Ein Vorschlag von Internation [Wyjs´c´ z ne˛dzy entropocenu. Propozycja internacji] schreibt: Das vorherrschende makroökonomische Modell führt zu einem systemischen Anstieg der Entropie, da es auf einem mechanistischen physikalischen Modell und einer veralteten Vorstellung von der Welt nach dem Newtonschen Prinzip beruht. In diesem Modell erscheint die Welt, reduziert auf einen globalisierten und unendlichen Markt, als eine Arena von Ereignissen, die sich in Zeit und Raum abspielen, verstanden als absolute und unveränderliche Werte. Deshalb berücksichtigt dieses veraltete Modell nicht die Umweltfolgen des Rohstoffverbrauchs und bezieht diese Folgen nicht in die buchhalterische Gewinn- und Verlustbilanz ein. In diesem Modell sind die Rohstoffe einfach vorhanden und werden ausgebeutet. Die Erschöpfung einiger Rohstoffressourcen erfordert die Suche nach anderen, wobei das Modell selbst und die Ausbeutungsrate beibehalten werden müssen.11

9 C.A. Jones: „Entropies“. In: Energies in the Arts. Hrsg. D. Kahn. London 2019, S. 263–307, hier S. 265. 10 M. Krzykawski: Wyjs´c´ z ne˛dzy entropocenu, (Anm. 8). 11 Ebd.

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Im Rahmen ihrer Aktivitäten legt Internation daher den Schwerpunkt auf das Problem des Rückstands der Ökonomie gegenüber der Wissenschaft, das im Anthropozän-Entropozän relevant ist und unter anderem auch von dem rumänischen Ökonomen Nicholas Georgescu-Roegen in den 1970er Jahren erkannt wurde.12 Angesichts dieser Erkenntnisse besteht eines der Schlüsselpostulate des von Stiegler gegründeten Kollektivs darin, die Grundlagen für ein neues makroökonomisches System zu entwickeln, das auf den Errungenschaften der Wissenschaften des 20. Jahrhunderts (Physik, Thermodynamik, Informationstheorie, Mathematik) basieren und die Entropie als Schlüsselphänomen im Kontext des anthropogenen Klimawandels, der möglichen Aussichten und Bedrohungen für die Koexistenz der Biosphäre und der menschlichen Gattung mit ihrer Wirtschaft berücksichtigen würde.13 Als grundlegend für die wissenschaftlichen, konzeptionellen und politischen Möglichkeiten einer solchen Neuformulierung der Wirtschaft signalisiert Internation auch die rechnerische Natur des globalen Kapitalismus und die Notwendigkeit, wissenschaftliche Praktiken über eine totale Abhängigkeit von Berechnungen hinauszuführen, die von Computern auf der Grundlage unsicherer Daten durchgeführt werden. Diesen Versuch unternahm Bernard Stiegler in seinem letzten Projekt, dessen Ziel darin bestand, ein alternatives Modell der theoretischen Informatik zu dem auf der Turingmaschine basierenden zu entwickeln. Wie Krzykawski es ausdrückt: Diese abstrakte Rechenmaschine, diese logische Maschine, wird in der allgemeinen wissenschaftlichen Vorstellung als mathematisches Modell eines Computers betrachtet […]. Wir erkennen hinterher den einfachen, um nicht zu sagen primitiven Mechanismus. Der computergestützte Kapitalismus, in dem wir funktionieren, ist in der Tat die Auswirkung der planetarischen Umsetzung dieses Mechanismus in fast allen Bereichen des Lebens. Es handelt sich dabei um ein System, in dem algorithmisierte und automatisierte Berechnungen eine Schlüsselrolle spielen. Diese bestimmen weitgehend, wie wir funktionieren.14 12 N. Georgescu-Roegen: Energy and Economic Myths. In: „Southern Economic Journal“ 3 / 1975, S. 347–381. 13 Siehe M. Krzykawski: Wyjs´c´ z ne˛dzy entropocenu, (Anm. 8). Laut Internation geht es bei der Änderung des makroökonomischen Modells nicht um die Forderung, den „Kapitalismus zu stürzen“, oder um die ideologischen, wirtschaftlichen oder politischen Präferenzen der Mitglieder der Vereinigung – sie soll innerhalb des Anthropozäns und des Kapitalismus stattfinden, nicht außerhalb davon: „Wenn unsere Position als Opposition gegen das derzeitige Kapitalismusmodell verstanden werden kann, dann deshalb, weil sie aus der Überzeugung erwächst, dass es im Lichte der Erkenntnisse der modernen Wissenschaft unhaltbar ist und uns daher keine Überlebenschance bietet, verstanden als Möglichkeit der Koexistenz von Biosphäre und menschlicher Zivilisation. Dies ist eine Frage der Fakten, nicht der Weltanschauung, der politischen Präferenzen oder der ideologischen Ansichten über die Wirtschaft.“ 14 M. Krzykawski: Technika i niepewnos´c´: Wolnos´c´, (Anm. 5).

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Dieses Funktionieren, so Krzykawski in Anlehnung an Stiegler, beinhalte eine globale Desorientierung, die sich aus der Tatsache ergebe, dass „derzeit vier Milliarden Menschen ständigen Berechnungen unterworfen sind“, die von Maschinen auf der Grundlage von Daten unter der Kontrolle der GAFAM durchgeführt werden.15 Dabei hat die „Pandemie diese Desorientierung nur noch verschlimmert, aber sie hat uns auch vor Augen geführt, wie sehr das menschliche Schicksal ein technologisches Schicksal ist und warum das Fehlen einer echten Technologiepolitik nur zu vielschichtigem Unglück führen kann.“16 Die Notwendigkeit, den Computationalismus zu überwinden, ist hier auch mit der Erkenntnis der totalen Unterordnung der Technologie unter die Mechanismen der Anthropie generierenden Ökonomie verbunden, was eine völlig selbstzerstörerische Etappe auf dem Weg der menschlichen Evolution und den Grund bedeutet, warum die längst identifizierten wissenschaftlichen und technischen Wege zur Verhinderung der Klimakatastrophe keine Anwendung finden und auf politischer Ebene sabotiert werden. Schließlich ist der computergestützte Kapitalismus – der nicht nur die Gesellschaft den Unternehmen unterordnet, sondern auch jede wissenschaftliche Tätigkeit und folglich das gesamte gesellschaftliche Wissen den Berechnungen und den daraus abgeleiteten Zukunftsvisionen – für einen Zustand verantwortlich, in dem der Mensch die Technosphäre, in der er lebt, nicht selbst erschafft, sondern sie seine Funktionsweise in der Welt bzw. seine Existenzsituation bedingt und bestimmt.17 Der in den exakten Wissenschaften verwurzelte Begriff der Entropie, der für die Identifizierung der Gefahren des Anthropozäns von entscheidender Bedeutung ist, ergänzt Internation somit mit eher metaphorischen Bedeutungen, obgleich immer noch komplementär mit aus der Physik oder der Informationstheorie abgeleiteten Befunden. Informations- und psychosoziale Entropie stellen in dieser Sicht die Folgen der ungebrochenen Herrschaft eines Wirtschaftsmodells dar, das auf überholten, wissenschaftsfeindlichen Prämissen beruht und nicht nur für die Klimakatastrophe verantwortlich ist, sondern auch für die Krise der Wissenschaft und des Wissens oder auch die Automatisierung der Arbeit – die statt Freiheit nun eher einen massiven Verlust von Arbeitsplätzen und die Verschlechterung der Lebensbedingungen für Milliarden von Menschen bedeutet. Diese ergänzende Darstellung – die von den energetischen, thermodynamischen Bedingungen des menschlichen Zeitalters über wissenschaftlichwirtschaftliche Probleme bis hin zur soziokulturellen Desorientierung mit all ihren Symptomen reicht – definiert das Anthropozän als ein Zeitalter der En-

15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd.

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tropie, das durch eine globale Tendenz zur Desorganisation und Zerstreuung gekennzeichnet ist. Entscheidend für die von Internation vorgeschlagene Bedeutung der Entropie ist Erwin Schrödingers Ausarbeitung dieses Phänomens, in der er das Phänomen der Negentropie erkennt. Seinen Erkenntnissen zufolge „erstreckt sich das physikalische Phänomen des unvermeidlichen Anstiegs der Entropie nicht vollständig auf die Systeme des organischen Lebens, da die Organismen über die Fähigkeit verfügen, das Eintreten des Unvermeidlichen ‚auszuhandeln‘.“18 Dieses „Aushandeln“ erfolgt dank der Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, neue Strukturen zu schaffen, die den Organismen neue Funktionen verleihen und das Überleben unter wechselnden Bedingungen sichern. Auf dem Weg der menschlichen Evolution erfolgt dieses Entgegenwirken der Entropie auf der Ebene des Organismus durch die Produktion von exosomatischen Organen,19 d. h. u. a. durch die Technologie (Erweiterung der kognitiven und physischen Fähigkeiten, die eine Verbesserung der Existenzsituation gewährleistet). Das Problem besteht darin, dass ihre derzeitige Funktionsweise, die vollständig den Marktbedingungen des computergestützten Kapitalismus unterworfen ist – obwohl sie das tägliche Leben einfacher und bequemer macht (Zugang zu Wissen, neue technische Lösungen) – die Erzeugung von Anthropie begünstigt und somit das Überleben der menschlichen Spezies und anderer nicht gewährleistet. So schlägt Internation auch den Begriff des Neganthropozäns20 vor – die Ausarbeitung solcher Formen der Selbstorganisation und der Schaffung neuer Strukturen und Funktionen auf der Ebene des Organismus Erde, die die Bekämpfung der Anthropie begünstigen würden. Ein nützliches Instrument für diese Gegenmaßnahmen sollte u. a. ausgerechnet die Technologie sein.

Die Rolle der Geisteswissenschaften und kollektive Tätigkeit Eine der schwerwiegenderen Folgen der globalen Vorherrschaft des Computationismus ist ein Zustand, in dem […] alles, was in der Zone der Unbestimmtheit auftaucht, was frei, unbefangen und schön ist in seinen vielfältigen Formen, durch diese überholten rechnerischen Parameter zur Nichtexistenz verurteilt wird, zu etwas, worüber es sich nicht zu reden lohnt, 18 Im allgemeinen Sinne sind exosomatische Organe alle Arten von Instrumenten – von Waffen bis hin zu Fahrzeugen und Bauwerken – die in einem dem Evolutionsprozess der zum Körper gehörenden Organe entsprechenden Prozess entstehen. Die heutige Technologie ist ein Beispiel für die rasante Beschleunigung des Prozesses der exosomatischen Evolution. Siehe M. Krzykawski: Wyjs´c´ z ne˛dzy entropocenu, (Anm. 8). 19 Ebd. 20 Siehe B. Stiegler: The Negathropocene. Übersetzt von D. Ross. London 2018.

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zu etwas, worüber die Wissenschaft im Namen kurzsichtiger Ziele gar nicht erst sprechen soll – denn das, worüber sie sprechen soll, soll ja sicher sein, also messbar, berechenbar und quantifizierbar.21

Die Wiederherstellung der Aufmerksamkeit für die Zustände der Unbestimmtheit und Unvorhersehbarkeit – die die führenden Eigenschaften alles Lebendigen sind – im Rahmen der Untergrabung der Gültigkeit des computergestützten Modells der Wissenschaft muss dagegen eine gemeinsame Anstrengung im Rahmen der Aktivitäten aller wissenschaftlichen Bereiche und Disziplinen sein. In dieser Herausforderung zeigt sich die Dysfunktionalität der Trennung zwischen den Geisteswissenschaften, die in der Sphäre des Unermesslichen und Ungewissen angesiedelt sind, und der „universellen und sicheren“ Wissenschaft. Diese Dysfunktionalität hängt mit der Erkenntnis zusammen, dass die oben genannten Zustände, nahe an Allem, was den Berechnungen der künstlichen Intelligenz entgeht – ausgerechnet die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts verstehen ließ.22 Gleichzeitig stehen die Geisteswissenschaften ihnen noch nahe, sind aber ebenso wie die Naturwissenschaften auf institutioneller Ebene zunehmend den computergestützten Prinzipien der Parametrisierung, Berechenbarkeit und Effizienz unterworfen, die die Freiheit der Forschung einschränken. Daher bleibt die Aufgabe, ein technologisches Bewusstsein zu kultivieren, Technologie zu erforschen und ihren Platz im menschlichen Leben neu zu bewerten, im Kontext des wissenschaftlichen Aktivismus so wichtig. Dies ist ein Bereich, der in Theorien wie dem Neuen Materialismus oder dem Posthumanismus etwas vernachlässigt wurde.23 Der Bereich, der im Kontext der alternativen Nutzung von oder des Verhältnisses zu Technologie im Gegensatz zur Dominanz des Computationismus als erster Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollte, ist die zeitgenössische Kunst der neuen Medien – sie charakterisiert die Forschungsherausforderung für die Geisteswissenschaften am besten. Eine Herausforderung, die nicht nur in der Analyse kultureller Texte besteht, die eine bestimmte Anwendung der Technologie vorschlagen, sondern auch in der Bereitstellung konzeptioneller, wissenschaftlicher und begrifflicher Instrumente, die für das Verständnis und die Neudefinition ihres Platzes im menschlichen Leben erforderlich sind. Als mögliche Forschungsstrategie im Kontext einer solchen Aktivität schlage ich die Praxis der Erforschung von Kunst vor, die sich aus den Energy Humanities und den Petrocultural Studies ableitet und die sozialen, kulturellen, philosophischen, politischen und wissenschaftlichen Bedeutungen von Energie im An21 M. Krzykawski: Technika i niepewnos´c´: Wolnos´c´, (Anm. 5). 22 Ebd. 23 M. Krzykawski: Why Is New Materialism Not the Answer. Approaching Hyper-Matter, Reinventing the Sense of Critique Beyond ‚Theory‘. In: „Praktyka Teoretyczna“ 4 / 2019, S. 73–105.

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thropozän berücksichtigt. Beispiele dafür finden sich unter anderem in der vom australischen Forscher Douglas Kahn herausgegebenen Anthologie Energies in the Arts, die eine in der polnischen Tradition unbekannte und auf einem tiefen technologischen und wissenschaftlichen Bewusstsein basierende Fülle von Lesarten neuerer und klassischer künstlerischer Realisierungen enthält. Die Publikation enthält unter anderem Linda D. Hendersons Text Illuminating Energy and Art in the Early Twentieth Century and Beyond: From Marcel Duchamp to Keith Sonnier, in dem die Autorin die grundsätzliche, ganz bewusste und zielgerichtete Verwurzelung bestimmter Tendenzen, Strömungen, Ästhetiken und künstlerischer Strategien der historischen Avantgarde in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts mit ihren technologischen Errungenschaften – vor allem Fortschritten in der Elektrodynamik, der Elektrizität oder der Entdeckung der Röntgenstrahlen – erörtert.24 Es ist bezeichnend, dass die aufgezeigten Verbindungen von solchen wissenschaftlich-technischen Vorstellungen dominiert werden, die mit der Begründung der männlichen europäischen Vorherrschaft, der Perspektive der Beherrschung der Natur durch den Menschen oder mit futuristischen Visionen (vor allem von F.T. Marinetti) verbunden sind, die wir heute als ökofaschistisch bezeichnen würden.25 Ein weiteres Beispiel für eine Lesart, die sich auf das hohe Bewusstsein für wissenschaftlich-technische Fragen in der Kunst und den in ihr verwendeten Medien bezieht, ist Caroline A. Jones Text Entropies, der der großen Popularität von Theorien und Ästhetiken rund um die Entropie in der deutschen und amerikanischen Wissenschaft, Popkultur und Kunst der 1960er Jahre – und vor allem dem Werk von Hans Haacke und Robert Smithson vor dem Hintergrund dieser Entwicklung gewidmet ist. Der Artikel enthält unter anderem eine thermodynamische, energetische Analyse der Prozesse, die für die Phänomene verantwortlich sind, aus denen Haackes Installation Weather’s Cube26 besteht. Die Anreicherung der Lesart des Werks des deutschen Konzeptkünstlers mit Themen, die mit Energie und Entropie zu tun haben – neben den politischen, institutionellen – führt ein Bewusstsein für solche Prozesse in der Kunst und ihre Beziehung zur Technologie ein, die wir heute im Kontext der Geschichte und der Transformationen des Anthropozäns-Entropozäns lesen können. Vor allem, wenn man die für die 1960er Jahre charakteristische Faszination für die Entropie – die in der Kunst u. a. von Haacke mit der antihumanistischen Wende, der 24 L.D. Henderson: Iluminating Energy and Art in the Early Twienthieth Century and Beyond: From Marcel Duchamp to Keith Sonnier. In: Energies in the Arts, (Anm. 9), S. 128–169, hier S. 128–148. 25 Diese Erkenntnisse sind insofern wichtig, als sie ein Bewusstsein für die sich wandelnden Dimensionen und Verwendungszwecke der Technik in den verschiedenen Phasen der Geschichte sowie für die sie prägende Wissenschaft schaffen. 26 C.A. Jones: „Entropies“, (Anm. 9), S. 271–274.

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Abkehr der Kunst und ihrer Materialität von menschlichen Emotionen, Sinnen und Wahrnehmungsfähigkeiten verbunden war27 – den Tendenzen in der Kunst der ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts gegenüberstellt. Manchmal – wie im Fall von Künstlern wie Peter Blamey, David Haines und Joyce Hinterding – beruht sie nämlich auf solchem Einsatz neuester Technologien und Medien, der unsichtbare Energien oder thermodynamische Prozesse für möglichst viele Sinne wahrnehmbar und verständlich macht. Im Falle des taiwanesischen Künstlers Yuan Goang-Ming lässt sich wiederum die Hinwendung zu einer Ästhetik beobachten, die sich auf Entropie bezieht – im 20. Jahrhundert verbunden mit kulturellen Prozessen (z. B. Kalter Krieg, sexuelle Revolution, Globalisierung) und Darstellungen eines kalten, sterbenden Kosmos, Marasmus, Langeweile und Uniformität, während sie sich heute eher auf Darstellungen tödlicher Hitze (vom Begriff heat death zum death by heat) und der Existenz der Erde ohne Menschen bezieht.28 Die Aufgabe der Geisteswissenschaften besteht natürlich nicht darin, aus Kultur- und Literaturwissenschaftler:innen Physiker:innen und Biolog:innen zu machen, die Kunst oder Poesie studieren. Doch die Herausbildung eines gewissen wissenschaftlichen Bewusstseins in Bezug auf Technologie, physikalische oder thermodynamische Prozesse stellt die Grundlage für eine Forschungspraxis dar, die sich auf die zentralen politischen Bedeutungen von Technologie im Anthropozän konzentriert. Sie ist auch einfach eine Voraussetzung für eine methodisch und inhaltlich verlässliche Analyse kultureller Texte, für die Technologie eine der Schlüsselkomponenten ist. Liest man die angegebenen künstlerischen Realisierungen oder Tendenzen in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, indem man sich unter anderem auf Energie, neue Medien oder bestimmte technische Lösungen konzentriert, lässt sich eine hohe Intuition im künstlerischen Bewusstsein bezüglich Transformationen feststellen, die die Realitäten des Anthropozäns in der Beziehung zwischen Mensch und Technologie bzw. ihren Anwendungen verursachen. Die Verfolgung dieser Intuitionen und konkreten technischen Lösungen kann zu Beobachtungen führen, die im Zusammenhang mit den Postulaten von Internation wichtig sind, welche sich auf die Neubewertung des Platzes der Technologie im menschlichen Leben und die Ausarbeitung ihrer über die Marktbedingungen des Computationismus hinausgehenden Anwendungen beziehen, welche im Kampf für die weitere Koexistenz der Menschheit mit der Biosphäre nützlich sind, anstatt diese Existenz unmöglich zu machen.

27 Ebd., S. 266. 28 Ebd., S. 297.

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Der mit der Schlesischen Universität verbundene Vertreter der Internation schließt seine Rede über die heutigen Perspektiven der Freiheit (einschließlich der wissenschaftlichen Freiheit) mit folgenden Worten ab: Unbestimmtheit, Ungewissheit, Mehrdeutigkeit, Nicht-Offensichtlichkeit und Vielfältigkeit – als Metazustände, die uns die Wissenschaften des 20. Jahrhunderts zu verstehen und zu rechtfertigen erlaubten – den Raum für das wissenschaftliche Modell des 21. Jahrhunderts öffnen sollten. Nur auf diese Weise können wir die kognitiven und politischen Beschränkungen des computergestützten Modells der Wissenschaft, das wir aus dem vergangenen Jahrhundert geerbt haben, überwinden und gleichzeitig friedliche konzeptionelle Instrumente zur Bekämpfung der Unsicherheit in der Zwietracht säenden Post-Wahrheitsordnung entwickeln. Gewissheit aus – und in – der Ungewissheit zu schaffen, die Bedingungen der Zukunft aus – und in – der Unbestimmtheit zu bestimmen. Es ist trotz der tragischen Umstände, in denen wir uns befinden, eine faszinierende Aufgabe.29

Er fasst diese Position mit einem Zitat von Paul Claudel zusammen („ein Gedicht muss in sich selbst eine solche Zahl enthalten, die das Zählen vereitelt“): Es ist heute die Poesie, die die neue Aufgabe der Wissenschaft veranschaulicht, und deshalb ist es an der Zeit, die Poesie in der post-pandemischen Welt […] ernst zu nehmen und in dem, was sich der Berechnung entzieht, was einzigartig, unvergleichlich und unvergleichbar ist, die Hoffnung auf eine lebensfähige und lebenswerte Zukunft zu sehen.30

Daraus ergibt sich auch die Schlussfolgerung, dass die Perspektiven des geisteswissenschaftlichen Engagements nicht mehr von den Kriterien der Performativität, Effektivität, Nützlichkeit oder Handlungsmacht geprägt sein sollten. Diese bestimmen nämlich in erster Linie die Regeln des Handelns und der Bewertung im Rahmen eines Marktes, der im Geiste der bereits zur Nichtexistenz verurteilten Vorstellungen von unbegrenzter Entwicklung und des Kultes der Berechnungen geführt wird – von den Anfängen des Kapitalismus bis hin zu den heutigen Realitäten von Klimakatastrophen und virologischen Krisen. Die Positionen des wissenschaftlichen Aktivismus hingegen können die Beteiligung an einer kollektiven, globalen, intellektuellen Anstrengung bedeuten, die wissenschaftliche Tätigkeit über den Rahmen des Computationismus hinaus zu führen und die Rolle der Technologie im menschlichen Leben neu zu definieren. Einer der möglichen Schritte auf diesem Weg ist die Sensibilisierung für die politischen Dimensionen der Funktionsweise von Technologie, die mit den Krisen des Anthropozäns zusammenhängen. Die vielleicht deutlichsten Ausprägungen dieses Bewusstseins werden durch die Bereiche symbolisiert, die in erster Linie die Domäne der Humanistinnen sind. 29 M. Krzykawski: Technika i niepewnos´c´: Wolnos´c´, (Anm. 5). 30 Ebd.

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Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die im Rahmen der Strategie des wissenschaftlichen Aktivismus vorgeschlagenen Aktivitäten auch mit gewissen Risiken oder möglichen Missbräuchen verbunden sind. Gerade im Rahmen des – auch in den Geisteswissenschaften – vorherrschenden Computationalismus, der nach Punkten messbare Forschungsergebnisse verlangt, sollte man wachsam bleiben gegenüber der Instrumentalisierung und Übernahme künstlerischer Praktiken mit ihrem Potenzial, kulturelle und soziale Veränderungen anzustoßen. Wir sprechen hier, insbesondere im Zusammenhang mit Forschungsvorschlägen im Rahmen der neuen Methodologie, unter anderem von forschungsinterpretativen Praktiken, die auf solchen Verwendungen kultureller Texte im Rahmen der gewählten methodischen Strategie beruhen und vor allem dazu dienen, deren Gültigkeit und Angemessenheit zu bestätigen.31 Der Vorschlag, im Bereich der Energy Humanities zu forschen, ist daher keine Ermutigung, die Kunst objektiv im Rahmen der überholten Vorstellung von Methoden als „Werkzeugkästen“ zu behandeln, die in erster Linie dazu dienen, das intellektuelle Kapital der Autoren im Rahmen der wissenschaftlichen Tätigkeit aufzubauen. Einer Tätigkeit, die – was im Zusammenhang mit der Betrachtung des Begriffs des wissenschaftlichen Aktivismus ebenfalls klargestellt werden sollte – zumeist innerhalb der Institution der Akademie stattfindet, welche eine mit der Situation einiger Künstlerinnen und der meisten politischen Aktivist:innen nicht vergleichbare wirtschaftliche Sicherheit bietet (insbesondere in Zeiten der Pandemie). Die intellektuelle Arbeit im Bereich der geisteswissenschaftlichen Forschung selbst – unabhängig vom Thema der vorbereiteten wissenschaftlichen Publikationen oder der didaktisch-pädagogischen Praxis – bleibt daher in ihrer traditionellen Form unzureichend, um von wissenschaftlichem Aktivismus zu sprechen. Eine solche Schlussfolgerung würde zu einer eher ironischen und sogar feindseligen Übernahme des Begriffs führen, um Praktiken zu nennen, die – im grundlegenden Gegensatz zu aktivistischen Maßnahmen – weder eine reale politische, rechtliche oder wirtschaftliche Bedrohung noch eine reale Handlung außerhalb der Grenzen der Sicherheit bietenden Institution beinhalten. Während ich also die Legitimität der weiteren Beibehaltung der Unterscheidung zwischen kontemplativem und performativem Wissen (die immer noch traditionelle, akademische Wissenschaftspraktiken betrifft) in Frage stelle, schlage ich nicht vor, auf jede Notwendigkeit außerakademischer Aktivitäten völlig zu verzichten – in Städten, bestimmten Ökosystemen oder Gemeinschaften. Dieser Aspekt ist mit dem Hinweis auf die Aktivitäten von Forschungskollektiven verbunden, die darauf abzielen, die entwickelten Lösungen nicht nur in individueller akademischer Tätigkeit, sondern auch in spezifischen Räumen oder Ge31 E. Doman´ska: Jakiej metodologii potrzebuje współczesna humanistyka?, (Anm. 2), S. 50.

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meinschaften auf lokaler Ebene umzusetzen. Diese Art von Tätigkeit wird von Internation selbst in Form von experimentellen, lokalen Laboren praktiziert, gemäß dem von Stiegler vorgeschlagenen Konzept der teilnehmenden Ökonomie – in dem Wissenschaftler zusammen mit Mitgliedern bestimmter Gemeinschaften wirtschaftliche Lösungen in einem bestimmten Gebiet (z. B. einem Bezirk oder einer Stadt) erarbeiten, in Übereinstimmung mit den vorgestellten wissenschaftlichen Postulaten des Kollektivs: Derzeit werden an verschiedenen Orten in der Welt experimentelle Projekte zur Einführung des Modells der teilnehmenden Ökonomie durchgeführt, von der Plaine Commune – einer interkommunalen Struktur, die neun Gemeinden in den nördlichen Vororten von Paris umfasst – bis hin zu Irland, Kroatien, Korsika und den GalapagosInseln. Das Hauptziel des vorgeschlagenen Modells besteht darin, verschiedene Formen von Wissen und Fertigkeiten aufzuwerten, die einen praktischen Wert haben und in bestimmten Gegenden praktiziert werden können. In diesem Modell reduziert sich der durch Arbeit erzeugte Reichtum nicht auf den Wert, wie er in der klassischen Ökonomie definiert wird (Nutzwert und Tauschwert), sondern ergibt sich aus der Fähigkeit, etwas zu erfinden und zu schaffen, unabhängig davon, ob es sich um die Entwicklerin eines IT-Programms, einen Arzt, eine Künstlerin, einen Automechaniker, eine Buchverlegerin, Eltern, die Kinder erziehen, oder Menschen handelt, die im weitesten Sinne in der Pflege tätig sind.32

Diesem Konzept und der mit seiner Einführung verbundenen Praxis liegt die Erkenntnis zugrunde, dass es nicht möglich ist, ein einziges, universelles Wirtschaftsmodell zu entwickeln und umzusetzen, das global auf die Strukturen aller einzelnen Orte und Gemeinden anwendbar wäre.33 Daher sollten die Experimente zur Umsetzung wirtschaftlicher Lösungen, die der Anthropie entgegenwirken, auf lokaler Ebene stattfinden, „unter Berücksichtigung der territorialen Besonderheiten, auf der Grundlage vergessener und aufgewerteter lokaler Fähigkeiten und Wissensformen sowie unter Einbehaltung der Anforderungen, die die zeitgenössische Wissenschaft an uns stellt.“34 Das Projekt in der Plaine Commune besteht beispielsweise darin, neue Formen der Mitverwaltung der Stadt (ihrer Infrastruktur, Technologie, Organisation, Wirtschaft) durch die Mitglieder der Gemeinschaft zu entwickeln, was dem vorgeschlagenen Konzept der Real Smart City entsprechen würde. Im Gegensatz zum Smart-City-Konzept, das auf „replacing the institutional dialogue, social deliberation and political debate with a limited and standardized set of tech-

32 M. Krzykawski: Wyjs´c´ z ne˛dzy entropocenu, (Anm 8). 33 M. Krzykawski: Technika i niepewnos´c´. Braterstwo. Wrocław 2020 [online]. https://www.you tube.com/watch?v=QFaf3-XoYvU [18. 01. 2021]. 34 M. Krzykawski: Wyjs´c´ z ne˛dzy entropocenu, (Anm 8).

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nologies and technocratic policies“35 hinausläuft, basiert es auf der Überzeugung, dass in einer wirklich „intelligenten“ Stadt die Bürger mit Hilfe entwickelter technologischer Lösungen eine aktive Rolle bei der Gestaltung ihrer Umgebung spielen und gleichzeitig die Erzeugung von Entropie in ihrem Gebiet verringern.36 Das Projekt basiert auf der Zusammenarbeit zwischen Forschungsinstituten, lokalen Einrichtungen, Verbänden und Bürgern. Neben der Erarbeitung wirtschaftlicher Lösungen umfasst es unter anderem auch ein Bildungsprogramm für Grund- und Sekundarschulen: The aim is to create capacitation workshops as well as theoretical courses that would bring students the necessary knowledge and skills for the development of a critical urban culture engaging the question of the right to the city, and the use of Building Information Management and Modeling (BIM) technologies – starting from the utilization of games (ex. Minecraft) and progressively move towards professional digital tools (ex. SketchUp and BIMs technologies). This will be coupled with the use of CO3 consortium’s technologies for experimenting a knowledge-centered commons and peer-to-peer economy, such as Blockchain, Augmented Reality and a Geolocated Social Network.37

Internation ist natürlich nicht das einzige Kollektiv dieser Art, das einen reichhaltigen wissenschaftlich-theoretischen Hintergrund mit sozialer Aktivität in bestimmten Bereichen verbindet, die einer aktivistischen Haltung näherkommt und Menschen außerhalb wissenschaftlicher Einrichtungen einbezieht. In Polen wird diese Art von Tätigkeit beispielsweise von der Biennale Warschau ausgeübt, einer interdisziplinären Kultureinrichtung, die künstlerische, wissenschaftliche, pädagogische und soziale Aktivitäten durchführt.38 Das Programm des Kollektivs umfasst unter anderem Debatten, Vorstellungen, Ausstellungen, Seminare, Workshops und Versammlungen. Die wichtigsten Themenbereiche sind derzeit einerseits die Debatte über „verschiedene Modelle der Demokratie außerhalb des Nationalstaates, basisdemokratische Formen der Selbstverwaltung und Selbstorganisation, Wege der Selbstbestimmung der Menschen“39 und andererseits die Analyse des „Autoritarismus und seiner Verbindungen zur Demokratie und Postdemokratie, zum globalen Kapitalismus und zur Religion, vor allem aber zur Natur und zur Technologie“.40 In den vergangenen Jahren wurden thematisch

35 G. Gilmozzi, O. Landau, B. Stiegler, D. Berry, S. Baranzoni, P. Clergue, A. Alombert: Localities, Territories and Urbanities in the Age of Platforms and Faced with the Challenges of the Anthropocene Era [online]. https://internation.world/arguments-on-transition/chapter-2/ [18. 01. 2021]. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 https://biennalewarszawa.pl/instytucja/o-instytucji [19. 01. 2021]. 39 https://biennalewarszawa.pl/program [19. 01. 2021]. 40 Ebd.

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und formal unterschiedliche Veranstaltungen organisiert – von Workshops zu Gruppenaktionen auf der Straße über einen Kongress von Ökobäuerinnen aus verschiedenen Ländern, Webinare zur Aufklärung über den Klimawandel und Debatten über Polizeigewalt bis hin zu Filmvorführungen und der Organisation von 3D-Ausstellungen. Es fand auch eine Trans-unie-Versammlung statt, die Gelegenheit, „Organisationen zusammenzubringen, die sich mit der Theoriebildung, der Kartierung und der Erprobung neuer Modelle eines emanzipatorischen Transnationalismus im politischen, wirtschaftlichen, ökologischen, erzieherischen und kulturellen Bereich befassen, mit dem Ziel, ein neues Modell des planetarischen Egalitarismus zu schaffen“.41 Es ist bezeichnend, dass für die Biennale Warschau die Örtlichkeit, die Stadt und ihre Mitverwaltung durch die Einwohner ebenso wichtige Tätigkeitsbereiche darstellen wie im Fall der Internation. Markant ist auch die Betonung der Forschung und der Debatte über die Beziehung zwischen Autoritarismus und Technologie, was einen immer deutlicheren Bedarf an transdisziplinärer, konzeptionell-aktivistischer Arbeit zur Schaffung eines Bewusstseins für die politischen Dimensionen der Technologie im Anthropozän und an Vorschlägen für ihre alternative Nutzung außerhalb der Bedingungen des Computationismus signalisiert. In Bezug auf die vorgeschlagene wissenschaftliche Forschung und soziokulturell-wirtschaftliche Praktiken sollten die Perspektiven für ein Engagement der zeitgenössischen Geisteswissenschaften in einem zweigleisigen Ansatz betrachtet werden. Einerseits bleiben die Teilnahme am globalen wissenschaftlichen Dialog und die für die Kultur- und Literaturwissenschaften charakteristischen Forschungsaktivitäten, die sich auf die Beziehung zwischen Technologie und Anthropozän konzentrieren, besonders wichtig. Wenn man andererseits von wissenschaftlichem Aktivismus sprechen will, besteht die Hauptaktivität darin, Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund in Kollektiven zusammenzubringen, um die Möglichkeiten der Umsetzung wissenschaftlich entwickelter Lösungen auf lokaler Ebene zu erproben. Ein solcher Ansatz scheint der vielversprechendste zu sein, wenn es darum geht, eine Art Gefühl der Hilflosigkeit und der Unvereinbarkeit des praktizierten Wissens mit den Anforderungen der Gegenwart zu überwinden, das in den Geisteswissenschaften in den letzten Jahren zu beobachten war.

41 https://biennalewarszawa.pl/transunions [19. 01. 2021].

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Bibliografie Chakrabarty D.: Four Theses. In: Energy Humanities. An Anthology. Hrsg. I. Szeman, D. Boyer. Baltimore 2017, S. 32–54. Doman´ska E.: Jakiej metodologii potrzebuje współczesna humanistyka? In: „Teksty Drugie“ 1–2 / 2010, S. 45–55. Georgescu-Roegen N.: Energy and Economic Myths. In: „Southern Economic Journal“ 3 / 1975, S. 347–381. Gilmozzi G., Landau O., Stiegler B., Berry D., Baranzoni S., Clergue P., Alombert A.: Localities, Territories and Urbanities in the Age of Platforms and Faced with the Challenges of the Anthropocene Era [online]. https://internation.world/arguments-on -transition/chapter-2/ [18. 01. 2021]. Henderson L.D.: Iluminating Energy and Art in the Early Twienthieth Century and Beyond: From Marcel Duchamp to Keith Sonnier. In: Energies in the Arts. Hrsg. D. Kahn. London 2019, S. 128–169. Jones C.A.: „Entropies“. In: Energies in the Arts. Hrsg. D. Kahn. London 2019, S. 263–307. Krzykawski M.: Technika i niepewnos´c´. Braterstwo. Wrocław 2020 [online]. https://www.yo utube.com/watch?v=QFaf3-XoYvU [18. 01. 2021]. Krzykawski M.: Technika i niepewnos´c´: Wolnos´c´. Wrocław 2020 [online]. https://www.you tube.com/watch?v=BKHoGrBbOhs&t [11. 01. 2021]. Krzykawski M.: Why Is New Materialism Not the Answer. Approaching Hyper-Matter, Reinventing the Sense of Critique Beyond ‚Theory‘. In: „Praktyka Teoretyczna“ 4 / 2019, S. 73–105. Krzykawski M.: Wyjs´c´ z ne˛dzy entropocenu. Propozycja Internacji. In: „Wakat“ 1–2 / 2020 [online]. http://wakat.sdk.pl/wyjsc-nedzy-entropocenu-propozycja-internacji [11. 01. 2021]. Stiegler B.: The Negathropocene. Übersetzt von D. Ross. London 2018. Zˇizˇek S.: Don’t Act. Just Think [online]. https://www.youtube.com/watch?v=IgR6uaVqW sQ [11. 01. 2021].

Online https://internation.world/about [11. 01. 2021]. https://biennalewarszawa.pl/instytucja/o-instytucji [19. 01. 2021]. https://biennalewarszawa.pl/program [19. 01. 2021]. https://biennalewarszawa.pl/transunions [19. 01. 2021]. Abstract Academic Activism in the Anthropocene – Perspectives for Political Engagement of the Contemporary Humanities The article proposes research strategies possible in the humanities, representing academic activism’s attitude towards the Anthropocene crises. The study stems from the activity of Bernard Stiegler’s collective Internation and their concept of the Entropocene, assuming that entropy is an essential phenomenon of the human epoch. Keywords: activism, Internation, entropy, humanities, visual arts, energy

Agata A. Kluczek (Schlesische Universität in Katowice)

Die Erschaffung der römischen Welt. Topoi, Experimente und Motiv-Interaktionen in der römischen Münzprägung

Römische Münzen und Medaillons vermitteln eine spezifische Auffassung der Geschichte des Römischen Reiches und der dort lebenden Gemeinschaften. Sie setzt sich aus Elementen zusammen, die aus dem Bestand allgemeinstaatlicher Assoziationen ausgewählt wurden, und manchmal nur aus den Werten, die in kleineren Kreisen der um ihr eigenes Prestige oder ihre Bedeutung im Staat besorgten Eliten anerkannt waren. Auf diese Weise verwandelten die Emittenten antiker numismatischer Prägungen einen für sie wichtigen Teil der Realität – ihrer Welt – in Darstellungen und Sprüche, die auf Münzen und Medaillons platziert wurden. Sie schufen eine Vision (oder vielmehr verschiedene Visionen) dieser Welt, die von ihrer kreativen Tätigkeit geprägt war. So viel und eben nur so viel. Münzen und Medaillons können als offizielles Medium verstanden werden, das im römischen Staat die Ideologie der Macht vermittelte.1 Numismatische Quellen „sprechen“ also mit der Stimme der Antike selbst. Sie sind unbelastet von anderen Interpretationen als die, die sich aus den Handlungen der Erzeuger auf fortlaufender Basis, parallel zu auftretenden Ereignissen, ergeben.2 Denn Sprüche und Darstellungen kommentierten in der Münzprägung die damalige Realität, die Welt des „Hier“ und „Jetzt“, obwohl es natürlich auch Verweise auf die Vergangenheit gab und alte Helden sowie die Erinnerung an vergangene historische oder mythische Ereignisse beschworen wurden. Aber auch eine solche Aufmerksamkeit auf die Vergangenheit und ihre Helden baute das Bild von dem auf, was „jetzt ist“, d. h. was das aktuelle politische Leben, die aktuellen Regierungen, bestimmte Personen aus der „Gegenwart“ betraf, schließlich spiegelte sie die von ihnen anerkannte Wertewelt und ein Stück Tradition wider, das sie schätzten. Dokumentarischen Wert bewahrten auch jene Münzen, die mit 1 Vgl. C.F. Noreña: Imperial Ideals in the Roman West: Representation, Circulation, Power. Cambridge 2011, S. 147; E. Manders: Coining Images of Power: Patterns in the Representation of Roman Emperors on Imperial Coinage, A.D. 193–284. Leiden / Boston 2012, S. 32. 2 Vgl. A.A. Kluczek: Ex nummis historia. Szkice o obrazach numizmatycznych w badaniach nad dziejami staroz˙ytnego Rzymu. Katowice 2021, S. 232–235.

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Agata A. Kluczek

früher verwendeten Bildern oder Legenden beschriftet wurden, auch bei solchen, die zur Kategorie der konventionellen Motive und Topoi gehörten. Oft kehrte ein Spruch oder eine Darstellung, die einmal in der Münzprägung verwendet wurden, Jahre oder sogar Jahrhunderte später unter anderen Umständen zurück und kommentierte oder illustrierte so neue Probleme. Roma – ihre ikonografische Figur und ihr Name in den Legenden – war eines dieser Motive, die jahrhundertelang durch die römische Münzprägung „wanderten“. Der vorliegende Text befasst sich mit ihrer Präsenz in der kaiserlichen Münzprägung zwischen 235 und 284 nach Chr. Ich möchte darin das „alte Gesicht“ von Roma zeigen, das traditionelle, toposhafte, aber auch ihr „neues Gesicht“, das Ergebnis von Experimenten, die von den Erzeugern als Antwort auf die Herausforderungen der sogenannten Reichskrise des 3. Jahrhunderts durchgeführt wurden.3 Abschließend reflektiere ich über den Wert dieser neuen numismatischen Figur der Roma als Bestandteil des Bildes der römischen Welt, das in der Münzprägung mit Hilfe von Darstellungen und Legenden geschaffen wurde. In der römischen Münzprägung symbolisierte Roma die Macht und Herrschaft des Imperiums und personifizierte auch die Stadt am Ufer des Tiber. Sie konnte sowohl die römische Identität als auch die Idee der Ewigkeit Roms und seines Reiches ausdrücken. Dabei nahm sie die namensgebende Heldin Rhome auf, die geschaffen wurde, um – in einigen Versionen der Entstehungsgeschichte Roms – die Namensgebung Roms zu rechtfertigen.4 Sie assimilierte auch die Dea Roma, eine Göttin östlicher Herkunft, und die Roma aeterna, der Kaiser Hadrian (117–138) in der Landeshauptstadt einen Tempel auf der Velia errichtete. In diesem Tempel wurde der Kult der Roma aeterna und der Venus felix betrieben.5 Dennoch wurde im Laufe der Zeit das Primat der Roma über die untergeordnete Stellung der Venus immer deutlicher. Dieser Prozess der Aufwertung der Roma spiegelte sich auch im Namen des Tempels wider, der zunehmend einfach

3 Zur Charakteristik der Epoche siehe z. B. M. Christol: L’Empire romain du IIIe siècle. Histoire politique (de 192, mort de Commode à 323, concile de Nicée). Paris 1997; Die Zeit der SoldatenKaiser. Krise und Transformation der Römischen Reiches im 3. Jahrhundert n. Chr. (235–284). Hrsg. K.P. Johne, U. Hartmann, Th. Gerhardt. Berlin 2008. Vgl. weiterführende Literatur in diesen Werken. 4 Siehe z. B. R. Maltby: A Lexicon of Ancient Latin Etymologies. Melksham, Wiltshire 1991, S. 529–531. 5 Siehe z. B. R. Turcan: La „fondation“ du temple de Vénus et de Rome. In: „Latomus“ 1964, 23, S. 42–55; A. Cassatella: Venus et Roma, aedes, templum. In: Lexicon Topographicum Urbis Romae. Hrsg. E.M. Steinby. Bd. 5. Roma 1999, S. 121–123.

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Templum Romae, Templum Vrbis, Templum urbis Romae oder Fanum Vrbis wurde.6 Dea Roma und Vrbs-Roma können ikonographisch identisch gewesen sein. In der Tat sind sie in monetären Darstellungen nicht selten schwer zu unterscheiden. Einzigartig sind die Sesterzen ROMA RESVRGES S C, die in einer einzigen Reversszene die Figur der Roma verdoppeln und sowohl die Göttin als auch das Symbol des materiellen Vrbs zeigen.7 Dabei gab es – nach den Zusammenstellungen von Cornelius C. Vermeule und Franziska Schmidt-Dick – keine „dogmatische“ Darstellung von Roma in der römischen Münzprägung.8 Ihr Bild blieb zwar innerhalb eines bestimmten Rahmens fixiert, konnte aber modifiziert werden. In geringem Maße traf dies auf die Büste oder den Kopf der Roma zu, die im Profil dargestellt wurde, mit einem Helm auf dem Kopf.9 Anders war es bei der vollplastischen Roma, die ihr Aussehen mehrfach veränderte.10 Sie wurde erstmals auf republikanischen Münzen dargestellt.11 Das Bild dieser Roma war östlichen Vorbildern entlehnt und wurde von den Römern lediglich übernommen. Diese römische Roma erwarb zwar ihre eigenen Eigenschaften, aber ihre Erscheinung konnte auch anderen göttlichen oder allegorischen Figuren ähneln, wie der Minerva oder der Virtus. Roma erhielt verschiedene Attribute (Victoriola, 6 Vgl. J. Gagé: SAECVLVM NOVVM. Le millénaire de Rome et le ‚Templum Vrbis‘ sur les monnaies du IIIème siècle ap. J.-C. In: Transactions of the International Numismatic Congress 1936. Hrsg. J. Allan, H. Mattingly, E.S.G. Robinson. London 1938, S. 179–186. 7 I.A. Carradice, T.V. Buttrey: The Roman Imperial Coinage, 2.1: From AD 69–96 Vespasian to Domitian. London 2007 (im Weiteren: RIC 2.1), Vespasian, Nr. 109–110, 194–195, 382, Jahre 71–73. Vgl. N. Méthy: La représentation de la ville Rome dans le monnayage impérial (70–235 après J.-C.). In: „Annales de la Faculté des Lettres et Sciences Humaines“ 14 / 1984, S. 7–25, hier S. 22; E. Rosso: Le thème de la Res publica restituta dans le monnayage de Vespasien: pérennité du „modèle augustéen“ entre citations, réinterprétations et dévoiements. In: Le Principat d’Auguste. Réalités et représentations du pouvoir. Autour de la Res publica restituta. Hrsg. F. Hurlet, B. Mineo. Rennes 2009, S. 209–242, hier S. 215f. 8 C.C. Vermeule: The Goddess Roma in the Art of the Roman Empire. Cambridge, Mass. 1959, S. 29–62; F. Schmidt-Dick: Typenatlas der römischen Reichsprägung von Augustus bis Aemilianus. Bd. 1: Weibliche Darstellungen. Wien 2002, S. 96–103, s.v. Roma. 9 Siehe z. B. M.H. Crawford: Roman Republican Coinage. Cambridge 1974 (im Weiteren: RRC), Nr. 38.6, Jahre 217–215 v.u.Z., Nr. 112.2, Jahre 206–195 v.u.Z., Nr. 138.1, Jahre 194–190 v.u.Z., Nr. 291.1, 114 oder 112 v.u.Z., Nr. 292.1, 113 oder 112 v.u.Z. etc. Vgl. A. Burnett: La prima iconografia della dea Roma. In: Il significato delle immagini. Numismatica, Arte, Filologia, Storia. Hrsg. R. Pera. Roma 2012, S. 145–152, hier S. 147–150. 10 Vgl. N. Géroudet: De la réalité à l’image, de l’image à l’idée, de l’idée à l’image… La construction iconographique d’un stéréotype: le cas de Roma. In: Miroir des autres, reflet de soi. Hrsg. H. Ménard, C. Courrier. Paris 2013, S. 11–33; E. Ercolani Cocchi: La dea turrita. In: Immagini e memoria. Raffigurazioni emblematiche tra passato e presente dalla Collezione numismatica Piancastelli. Hrsg. E. Ercolani Cocchi. Bologna 2014, S. 151–216, hier S. 173–175; L. Joyce: Roma and the virtuous breast. In: „Memoirs of the American Academy in Rome“ 59– 60 / 2014/2015, S. 1–49. 11 RRC, Nr. 281.1, 119 v.u.Z., Nr. 287.1, 115–114 v.u.Z., Nr. 329.1, 100 v.u.Z. etc.

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Globus, Palladium usw.), nahm verschiedene Posen ein, saß auf einem „Thron“ oder stand in wechselnden Kulissen, erwarb viele Begleiter wie z. B. den Imperator, Figuren, die universelle Werte (Virtutes und Abstracta) verkörperten, andere Vertreter der Götterwelt. Außerdem wurde der Name Romas in Münzinschriften eingewoben, in der Kaiserzeit meist mit den Adjektiven: redux, renascens, restituta, resurge(n)s und aeterna. Das Roma-Motiv war also eine flexible Schöpfung, deren Bedeutung manipuliert werden konnte. Das Roma-Motiv – obgleich populär – war in der römischen Münzprägung keineswegs üblich. Davon zeugt die Präsenz des Roma-Motivs auf Münzen und Medaillons, die während der Reichskrise des 3. Jahrhunderts ausgegeben wurden: Mehr als zwanzig Herrscher – von mehr als sechzig, die zu dieser Zeit an der Macht waren – haben das Motiv in ihr Münzprogramm aufgenommen.12 Sie nahmen die Figur der Roma in die Ikonographie von mehr als einem Dutzend Typen von Münzen und Medaillons auf, die durch die Reversinschrift definiert sind. Die römischen Herrscher der Jahre 235–284 verwendeten am häufigsten das Motto Romae aeternae.13 Dies war kein neues Thema, es war bereits in der Münzprägung von Hadrian geboren worden. Dieser Kaiser begründete in Rom den Kult der Roma aeterna, im Jahre 121 initiierte er den Bau des Templum Romae Aeternae et Veneris Felicis und führte das Fest der Geburt der Stadt (Romaia / Dies natalis Vrbis) am 21. April ein – dem Jahrestag der Gründung Roms durch Romulus.14 Er gab auch Münzen der Typen ROMA AETERNA (S C) und ROMAE AETERNAE heraus.15 Von da an propagierten viele Herrscher das Thema Roma(e) aeterna(e). Im dritten Jahrhundert wurde es von Philippus I. 12 Vereinfachend sind natürlich die Behauptungen über den Kaiser-Emittenten, unter Ausschluss anderer Personen, die tatsächlich für die Auswahl der Inhalte bei der Münzprägung verantwortlich waren. Vgl. B. Levick: Messages on the Roman Coinage: Types and Inscriptions. In: Roman Coins and Public Life under the Empire. E. Togo Salmon Papers II. Hrsg. G.M. Paul, M. Ierardi. Ann Arbor 1999, S. 41–60; J. van Heesch: Coin Images in Imperial Rome: the Case of the Emperor Nero. In: Typoi. Greek and Roman Coins Seen Through Their Images. Noble Issuers, Humble Users?. Hrsg. P.P. Iossif, F. de Callataÿ, R. Veymiers. Liège 2018, S. 429–445, hier S. 439. 13 Siehe A.A. Kluczek: Vndiqve victores. Wizja rzymskiego władztwa nad ´swiatem w mennictwie złotego wieku Antoninów i doby kryzysu III wieku – studium porównawcze. Katowice 2009, S. 93–127; K. Balbuza: Roma Aeterna i inne wa˛tki „wieczne“ w mennictwie rzymskim okresu kryzysu III wieku. Znaczenie ideologiczne. In: Rzymski Zachód od Augusta do upadku cesarstwa. Hrsg. M. Pawlak. Wrocław 2017, S. 75–86. 14 Siehe z. B. M. Taliaferro Boatwright: Hadrian and the City of Rome. Princeton 1987, S. 121– 132; S. Mols: The Cult of Roma Aeterna in Hadrian’s Politics. In: The Representation and Perception of Roman Imperial Power. Impact of Empire 3. Hrsg. L. de Blois [u. a.]. Amsterdam 2003, S. 458–465; A.A. Kluczek: Primordia Romana. Mityczna przeszłos´c´ Rzymu i pamie˛´c o niej w rzymskich numizmatach zakle˛ta. Katowice 2019, S. 207–215. 15 R. Abdy, P. Mittag: The Roman Imperial Coinage, 2.3: From AD 117 to AD 138 – Hadrian. London 2019 (im Weiteren: RIC 2.3), Nr. 2228–2231, 2283–2284, 2339–2343.

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(244–249) genutzt und weit verbreitet, als im Jahr 248 das Millennium von Rom gefeiert wurde. Dieses pompös gefeierte Jubiläum belebte die Hoffnung auf die Erneuerung des Staates und seinen ewigen Bestand. Kaiser Philippus I. und sein Sohn Philippus Caesar führten neben dem alten Thema ROMAE AETERNAE einen neuen Spruch auf Münzen und Medaillons ein, der mit einer Statue der Roma im Tempel illustriert war: SAECVLVM NOVVM.16 Auf diese Weise kündigten sie die Ankunft eines neuen Jahrtausends der römischen Geschichte an und bestätigten die Dauerhaftigkeit oder sogar Ewigkeit des Imperiums. Die Reminiszenz an die Ludi, die der Tausendjahrfeier Glanz verlieh, war eine weitere Legende in der Münzprägung des Philippus: SAECVLARES AVGG.17 Der Zusammenhang des vollendeten Jahrtausends Roms mit den Münzen ROMAE AETER AN MIL ET PRIMO ist ebenfalls klar: Soeben war das Jahr 1001 ab Vrbe condita ausgerufen worden.18 Dieses Thema wurde in seiner Münzprägung durch den Usurpator Pacatianus umgesetzt, der 248 nach der kaiserlichen Macht griff. Die Idee Romae aeternae anno millesimo et primo hatte nur eindeutig Gelegenheitscharakter und tauchte daher in der Münzprägung später nicht mehr auf. Das Thema des Saeculum novum, illustriert durch die Figur der Roma im Tempel, wurde wiederum von Traianus Decius, seinem Sohn Hostilian, weiter von Trebonianus Gallus und dessen Sohn Volusianus (249–253 n. Chr.) aufgegriffen.19 Es wurde durch die jüngste Tausendjahrfeier angeregt und drückte das Fortbestehen im neuen Saeculum aus. Später kehrte es zurück, aber mit einer anderen Ikonographie, ohne die Darstellung der Roma. Die Kaiser in der Krise des 3. Jahrhunderts verwendeten jedoch weiterhin das Motiv der Roma(e) aeterna(e), denn dessen Aktualität war zeitlos. Das Roma-Motiv wurde auch auf den Rückseiten mit Sprüchen eingeführt, die die Rolle des Herrschers im Staat herausstellten. Bereits das Grundthema Romae aeternae wurde durch das Kürzel AVG ergänzt, das die Idee der Ewigkeit Roms mit dem Kaiser als solchem (Augustus) verband.20 Diese Idee wurde in den 40er/ 50er Jahren des 3. Jahrhunderts erneut realisiert. Bei anderen Themen hatte sie 16 Romae aeternae: The Roman Imperial Coinage. Bd. 4.3: Gordian III – Uranius Antoninus. Hrsg. H. Mattingly, E.A. Sydenham, C.H.V. Sutherland. London 1949 (Neudruck 1968, im Weiteren: RIC 4.3), Philippus I., Nr. 44–45, 65, 85; RIC 4.3, Philippus II., Nr. 243; saeculum novum: RIC 4.3, Philippus I., Nr. 25, 86; RIC 4.3, Philippus II., Nr. 244; RIC 4.3, Philippus I. (Otacilia Severa), Nr. 118. 17 RIC 4.3, Philippus I., Nr. 163–164. 18 RIC 4.3, Pacatianus, Nr. 6. Die Datierung a.V.c. wurde selten in der Münzprägung angewandt, siehe Münzen aus dem Jahr 121: ANN DCCCLXXIIII NAT VRB P CIR CON (S C) – RIC 2.3, Nr. 353–354, 407. 19 RIC 4.3, Traianus Decius (Herennia Etruscilla), Nr. 67; RIC 4.3, Traianus Decius (Hostilian), Nr. 199; RIC 4.3, Hostilian, Nr. 205; RIC 4.3, Trebonianus Gallus, Nr. 90–91; RIC 4.3, Volusianus, Nr. 222, 235–236. 20 ROMAE AETERNAE AVG: RIC 4.3, Traianus Decius (Herennia Etruscilla), Nr. 66; RIC 4.3, Traianus Decius (Hostilian), Nr. 197; RIC 4.3, Volusianus, Nr. 221, 234.

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noch einen anderen Ausdruck, nämlich die Individualisierung durch die Verwendung der Eigennamen der Kaiser. Diese Form der Personalisierung numismatischer Sujets verlieh auch konventionellen Motiven Originalität, denn die so kommentierten Ideen wurden als Merkmale bestimmter Herrscher präsentiert. Ein solches Personenmerkmal war z. B. Victoria, die mit Postumus (260–269): Victoria Postumi Augusti, und Probus (276–282) Victoria Probi Augusti, verbunden wurde.21 Die in der Ikonographie bestimmter Münzen präsente Roma erschien als Schutzherrin der Siege dieser Herrscher. In der Münzprägung der Jahre 235–284 wurden als Neuheit die Münztypen HVMANITAS AVG und REDITVS AVG eingeführt.22 Obwohl solche Inhalte grundsätzlich in das Münzprogramm verschiedener Herrscher hätten aufgenommen werden können, haben sich nur einzelne Emittenten dazu entschlossen. Darüber hinaus verwendeten sie das Roma-Motiv auf der Rückseite dieser Münzen. Schließlich wurde die Darstellung der Roma in der Krisenzeit des 3. Jahrhunderts in die Revers-Ikonographie von Münzen und Medaillons eingeführt, die in der römischen Münzprägung bekanntere, sowohl früher als auch später verwendete Themen verkündeten. Es waren Motive wie: Virtus Augusti, Vota Augusti, Clementia Augusti, Restitutor Orbis, restitutor Vrbis, Temporum Felicitas, Virtus Augustorum. Münzen mit der traditionellen Schreibweise des Kaisertitels in den Reversinschriften sollten ebenfalls in diese Gruppe aufgenommen werden. Der obige Überblick über die Revers-Ikonographie zeigt, dass während der Reichskrise des 3. Jahrhunderts alte Sprüche verwendet, aber auch neue geschaffen wurden, einige mit Gelegenheitscharakter, andere mit universeller Bedeutung. Alle diese Legenden waren mit der Figur der Roma verbunden, die entweder als unabhängiges Element der Rückseiten-Ikonographie oder als Bestandteil einer reicheren Darstellung präsentiert wurde. Verschiedene Konfigurationen von Inschriften und Ikonographie spiegeln die ideologische Bedeutung der Roma wider. Sie entwickelte sich weiter, ohne ihre Grundbedeutung zu verlieren, gewann aber immer neue Schattierungen hinzu. Dabei waren es nicht

21 VICTORIA POSTVMI AVG – D. Hollard: VICTORIA POSTVMI AVG: un type inédit de Postume attesté par un faux antique. „Bulletin de la Société française de Numismatique“ 49 (4) / 1994, S. 768–771; sowie VICT PROBI AVG – P.H. Webb: The Roman Imperial Coinage. Bd. 5.2: Probus to Amandus. London 1933 (Neudruck 1968, im Weiteren: RIC 5.2), Probus, Nr. 140. 22 HVMANITAS AVG – RIC 5.2, Probus, Nr. 171; REDITVS AVG – P.H. Webb: The Roman Imperial Coinage. Bd. 5.1: Valerian to Florian. London 1927 (Neudruck 1968, im Weiteren: RIC 5.1), Florianus, Nr. 90; vgl. S. Estiot: Monnaies de l’Empire romain: XII,1. D’Aurélien à Florien (270–276 après J.-C.). Paris 2004, S. 93, 380f.

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nur die Inschriften, die auf das Verständnis der Botschaft lenkten, sondern auch die Darstellungen selbst konnten sie verändern. Es gab auch unkonventionelle Lösungen. Auf einem Revers waren zwei Büsten abgebildet, wodurch ein Paar entstand: Roma und Diana.23 Das in der kaiserlichen Münzprägung selten verwendete Bild der Büste der Roma wurde ebenfalls verwendet.24 Dies ist übrigens eine Reminiszenz an die älteste Art der Darstellung von Roma, die noch in der römisch-republikanischen Münzprägung verwendet wurde. Dennoch lassen sich die meisten ihrer Darstellungen in der Prägung der Jahre 235–284 einer der folgenden Gruppen zuordnen: „Die kriegerische Roma“ – eine stehende weibliche Figur, die einen Helm, einen Speer oder ein Zepter trägt, oder „die majestätische Roma“ – eine sitzende Figur mit einem Globus oder einer Victoriola in der Hand. Grunddarstellungen der sitzenden Roma wurden vor einem architektonischen Hintergrund platziert – es handelt sich um Bilder des Templum Romae aeternae. Der Tempel wurde als schematisch umrissenes Gebäude mit sechs oder acht Säulen dargestellt, im Interkolumnium ist eine Statue der Gottheit zu sehen. Häufiger ist jedoch die einsame Figur der Roma. Auf den Antoniniani und Sesterzen des Kaisers Aemilianus (253), des Typs ROMAE AETERN(AE S C), wird sie mit einem ungewöhnlichen Attribut ausgewiesen: Roma hält in ihrer rechten Hand einen Phönix auf einer Weltkugel.25 Der mythische Vogel symbolisiert die ständige Erneuerung des Imperium Romanum und dessen Ewigkeit. Das Bild des Phönix drückte die Hoffnung auf die Wiedergeburt des Reiches aus, zumal es sich um eine schwierige Zeit der Kämpfe mit den Goten handelte, sogar der Niederlage bei Abritus (251) und des Todes zweier Kaiser, Traianus Decius und Herennius Etruscus. Ebenso originell ist die Lösung auf Gallienus’ (253–268) Antoninian, vom Typ ROMAE AETERNAE SPQR: eine Wölfin mit Remus und Romulus.26 In der imperialen Münzprägung wurde das Roma-Thematik mit einem solchen Motiv illustriert (Lupa Romana), doch dies geschah bereits im 1. Jahrhundert.27 Eine ähnliche Anordnung kehrte also rund 200 Jahre später wieder zurück. Dieser zeitliche Abstand macht die Initiative von Gallienus umso wichtiger. Auf seinen Münzen wurden in einer Wort-Bild-Botschaft eine für die 23 B. Schulte: Die Goldprägung der gallischen Kaiser von Postumus bis Tetricus. Aarau / Frankfurt am Main / Salzburg 1983 (im Weiteren: GGK), Victorinus, Nr. 24–26. 24 GGK, Postumus, Nr. 24, Victorinus, Nr. 16–17 A; R. Göbl: Die Münzprägung der Kaiser Valerianus I., Gallienus, Saloninus (253/268), Regalianus (260) und Macrianus, Quietus (260/ 262). Wien 2000 (im Weiteren: MKVG), Nr. 895; F. Gnecchi: I medaglioni romani. Milano 1912 (im Weiteren: MedR), 1, S. 51, Nr. 12, Stelle 26.4. 25 RIC 4.3, Aemilianus, Nr. 9, 38, 49–50. Vgl. M. Christol: L’image du Phénix sur les revers monétaires, au milieu du IIIe siècle: une référence à la crise de l’Empire?. In: „Revue Numismatique“ 18, 6 / 1976, S. 82–96. 26 https://www.wildwinds.com/coins/ric/gallienus/RIC_0628_var.txt [13. 02. 2021]. 27 RIC 2.1, Vespasian, Nr. 108, 193.

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Ewigkeit Roms werbende Inschrift und ein grafisches Symbol der römischen Anfänge kombiniert. Spätere Versionen in der Münzprägung der Reichskrise des 3. Jahrhunderts präsentierten die Figur der Roma neben anderen Figuren, vor allem neben dem Kaiser, mit dem sie in einer durch die Gesten der Protagonisten bestimmten Weise interagierte. Roma ist diejenige, die die Herrschaft eines bestimmten Herrschers legitimiert, indem sie ihn krönt oder ihm einen Globus schenkt, sie teilt mit ihm den Sieg, worauf die Statuette der Victoria hinweist. Die Tatsache, dass der Sieg das Ergebnis einer militärischen Schlacht ist, wird durch die Anwesenheit – neben der Roma und dem Herrscher – von militärischen Figuren signalisiert. Einzigartig ist in diesem Bereich die Darstellung auf dem Medaillon des Typs TEMPORVM FELICITAS: Roma überreicht dem Kaiser den Globus, und sie werden von Victoria und Felicitas begleitet, zwei personifizierten Werten: dem Sieg und dem Glück.28 Diese Bildsprache wurde in der Münzprägung des Kaisers Tacitus (275–276 n. Chr.) verwendet. Roma nahm in seiner Münzpropaganda einen besonderen Platz ein, vor allem wegen der Häufigkeit, in dem er das Thema Roma aeterna verwendete und seine Verbundenheit mit der römischen Tradition im Allgemeinen zum Ausdruck brachte.29 In der Ikonographie der Antoniniani des Typs CLEMENTIA TEMP erhält der Kaiser wiederum einen Globus von der Roma.30 Auf den Reversen anderer Antoniniani des Tacitus übt die sitzende Roma die Schirmherrschaft über die Idee der Wiedergeburt der römischen Welt und die Mission, die der Kaiser in dieser Sphäre ausführt (RESTITVTOR ORBIS).31 Die Idee der Legitimierung der Herrschaft durch die Roma wurde zudem häufiger aufgegriffen. Während der Krise des dritten Jahrhunderts fand sie ihre ikonographische Erklärung auf den Medaillons von Gordian III. (238–244 n. Chr.).32 Sie kommt auch auf den Reversdarstellungen von Florianus’ Antoniniani (276 n. Chr.) und Probus’ Bronzemedaillons (276–282 n. Chr.) zum Ausdruck. Roma überreicht Florianus einen Globus (REDITVS AVG), auf einigen Varianten dieser Münzen hält sie zusätzlich ein Füllhorn, ein Zeichen für Wohlstand und Fülle.33 Auch Probus erhält von Roma einen Globus (TEMPO-

28 MedR 2, S. 114, Nr. 9; S. Estiot: Monnaies de l’Empire romain, (Anm. 22), S. 312 und Stelle 90, Nr. 339. Die Szene wird mit einer anderen Inschrift auf den Medaillons des Commodus dargestellt, siehe W. Szaivert: Die Münzprägung der Kaiser Marcus Aurelius, Lucius Verus und Commodus (161–192). Wien 1986, Nr. 1142 (P M TR P XVI IMP VIII COS VI P P, 190/191). 29 Vgl. S. Estiot: L’or romain entre crise et restitution, 270–276 ap.J.-C., II. Tacite et Florien. In: „Journal des Savants“ 2 / 1999, S. 335–348, hier S. 353, 359–363. 30 RIC 5.1, Tacitus, Nr. 126. 31 S. Estiot: Monnaies de l’Empire romain, (Anm. 22), S. 368, Stelle 94, Nr. 414. 32 Siehe MedR 2, S. 89, Nr. 25; S. 90, Nr. 30, Stelle 105.2; S. 94, Nr. 60; RIC 4.3, Gordian III., Nr. 296. 33 S. Estiot: Monnaies de l’Empire romain, (Anm. 22), S. 93, 380f.

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RVM FELICITAS) oder eine Victoriola (REDITVS AVG, VICT PROBI AVG).34 Ungewöhnlich sind ebenfalls Probus’ Aurei vom Typ RESTITVTOR VRBIS.35 Das Thema Restitutor Vrbis wurde schon früher verwendet, außerdem wurden damals mehrere ikonographische Lösungen verwendet.36 Die Münzprägung von Probus kehrte zu einer von ihnen zurück: der Kaiser (Restitutor) wurde direkt mit Rom (Vrbs) verbunden, und die Legende – durch das Bild der sitzenden Roma erklärt, mit einem Speer und einer Victoriola in der Hand. Münzen und Medaillons hielten die überragende Rolle des Kaisers im römischen Staat fest. Explizite Hinweise auf den Herrscher fanden sich nicht nur in Inschriften, sondern er trat auch mit Nachdruck in persona in die Sphäre der Ikonographie ein. Der Kaiser trat in einer Vielzahl von Rollen auf und vermittelte den Eindruck seiner Allgegenwärtigkeit in verschiedenen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens.37 Auf den genannten Münzen von Tacitus und Probus erscheint der Kaiser als der Wiederhersteller der römischen Welt (Restitutor Orbis) und der Stadt (Restitutor Vrbis). An Tacitus’ Münzausgaben ist zu erkennen, dass die Kombination des Begriffs Orbis mit dem Bild der Roma einmal mehr zeigt, dass sich die Herrschaft Roms ideologisch über die ganze Welt erstreckt. Man kann nach dem antiken Dichter aus Sulmo wiederholen: „[…] Romanae spatium est Vrbis et orbis idem“ („[…] Nur bei den römischen [Völkern] deckt sich die Stadt mit dem 34 MedR 2, S. 120, Nr. 42, Stelle 121.9; MedR 3, S. 67, Nr. 51, Stelle 156.19; RIC 5.2, Probus, Nr. 140. 35 RIC 5.2, Probus, Nr. 926. 36 Sitzende Roma, Büste der Roma, Opferszene durch Kaiser oder Togatus, manchmal in Anwesenheit von Roma. Siehe Editionen RESTITVTORI VRBIS / RESTITVTOR VRBIS vom Anfang des 3. Jhs.: H. Mattingly, E.A. Sydenham: The Roman Imperial Coinage. Bd. 4.1: Pertinax to Geta. London 1936 (Neudruck 1968, im Weiteren: RIC 4.1), Septimius Severus, Nr. 140–140 A, 167–168, 288–290, 512 A, 753, 755, 757 A–B, 825 A–B; RIC 4.1, Caracalla, Nr. 41, 142, 166–167, 166, 228, 323 A, 461, 475; RIC 4.1, Septimius Severus (Geta), Nr. 52–53, 142; H. Mattingly, E.A. Sydenham, C.H.V. Sutherland: The Roman Imperial Coinage. Bd. 4.2: Macrinus to Pupienus. London 1938 (Neudruck 1968, im Weiteren: RIC 4.2), Macrinus, Nr. 81. Vgl. A. Daguet-Gagey: Septime Sévère et ses fils, Restitutores Vrbis. La personnalisation des mérites impériaux. In: „Revue Numismatique“ 160 / 2004, S. 175–199. Die Idee der „Restitution“ von Rom hat ältere Wurzeln in der Münzprägung, siehe die Münzen ROMA RESTITVTA – C.H.V. Sutherland: The Roman Imperial Coinage, 1: From 31 BC to AD 69. London 1984 (im Weiteren: RIC 1), The Civil Wars, Nr. 60–63; ROMA RESTI S C – RIC 1, Galba, Nr. 485; VRBEM RE … [restituit / restitutam ?] S C (?) – RIC 1, S. 277; sowie ROMA RESVRGE(N)S (S C) – RIC 2.1, Vespasian, Nr. 109–110, 194–195, 382, 1360. Vgl. P. Assenmaker: Roma restituta. La rappresentazione dei fondamenti politici e religiosi della rivolta contro Nerone nelle coniazioni monetarie anonime del 68 d.C. In: Il princeps romano: autocrate o magistrato? Fattori giuridici e fattori sociali del potere imperiale da Augusto a Commodo. Hrsg. J.L. Ferrary, J. Scheid. Pavia 2015, S. 210–231. 37 Vgl. z. B. E. Manders, O. Hekster: Identities of Emperor and Empire in the third century AD: some considerations. In: Figures d’empire, fragments de mémoire: pouvoirs et identités dans le monde romain impérial, IIe s. av. n.è.–VIe s. de n.è. Hrsg. S. Benoist, A. Daguet-Gagey, Ch. Hoët-Van Cauwenberghe. Lille 2011, S. 153–162.

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Erdkreis“).38 Doch der Garant dieser römischen Weltherrschaft, deren ideologisches Zentrum in Rom liegt, wird – in der Münzbotschaft des 3. Jahrhunderts – der Kaiser. Derselbe Kaiser, den die Roma als Herrscher anerkennt. Natürlich ist es nicht sie allein, sondern auch andere römische Gottheiten in vielen anderen numismatischen Darstellungen, die diese Legitimation vollziehen. Interessant ist, dass in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts die geografische Dimension Roms in der Numismatik deutlich sichtbar wurde. Dies kündigten bereits die Gallienus-Medaillons (253–268 n. Chr.) vom Typ ROMA REDVX an, mit der Szene des Adventus des Kaisers, angeführt von Roma oder Virtus.39 In den 70er Jahren beziehen sich die oben genannten Florianus- und Probus-Emissionen, der Typen REDITVS AVG und RESTITVTOR VRBIS, ebenfalls direkt auf einen geographischen Punkt: Rom. In diesen Trend passen auch die Münzen des Originaltyps INT VRB S C hinein, die seine kapitale Bedeutung offenbaren. Deren Inschrift weist auf Vrbs hin und außerdem – je nach Entzifferung der Abkürzungen – entweder auf den „Eintritt“ in die Hauptstadt oder auf deren „Erneuerung“.40 Die Wertschätzung Roms war der Tatsache geschuldet, dass der ideologische Rang dieses Zentrums im 3. Jahrhundert konstant hoch blieb, ungeachtet der Umstände und politischen Veränderungen. Michel Christol schreibt treffend, dass nur die Vrbs, Sedes Imperii, den angemessenen Raum bot, um die Einheit und das Gedeihen des römischen Staates zu feiern.41 Hier fanden Triumphe statt, obwohl in der monetären Propaganda der Jahre 235–284 nicht explizit erwähnt wird, dass Rom der Ort blieb, an dem Siege über Fremde gefeiert wurden. Es ist bekannt, dass zumindest Philippus I., später Gallienus, dann Aurelian und Probus Triumphe abhielten und dass der Schauplatz dieser Feiern – zumindest in den ersten drei Fällen – die Hauptstadt des Imperiums am Ufer des Tiber blieb.42 In der Tat wurde der Einzug der Triumphatoren im Glanz ihres Ruhms eben mit Rom in Verbindung gebracht. In den 80er Jahren des 3. Jahrhunderts schrieb Nemesianus und drückte damit die Hoffnung aus, dass die siegreichen Kaiser von einem Kriegszug nach Rom zurückkehren würden: 38 Ovidius: Fasti 2.683–684. 39 MKVG, Nr. 897. 40 RIC 5.1, The Interregnum, Nr. 1–3. Die möglichen Bedeutungen der Abkürzungen INT VRB: interregno Vrbis, introit Vrbem, introitus Vrbis, intravit Vrbem, intrata Vrbem, integritate Vrbis, integratori Vrbis. Vgl. C. Poggi: INTEGRA VRBE. La „corona obsidionalis“ nella monetazione di Gallieno. In: La tradizione iconica come fonte storica: il ruolo della numismatica negli studi di iconografia. Hrsg. M. Caccamo Caltabiano, D. Castrizio, M. Puglisi. Reggio Calabria 2004, S. 449–456. 41 M. Christol: Rome sedes imperii au IIIe siècle ap. J.-C. In: „Quaderni catanesi di cultura classica e medievale“ 2 / 1990, S. 121–147, hier 147. 42 S. Benoist: Rome, le prince et la Cité. Pouvoir impérial et cérémonies publiques (Ier siècle av. – début du IVe siècle apr. J.-C.). Paris 2005, S. 195–272.

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Iam gaudia uota / temporis impatiens sensus spretorque morarum / praesumit videorque mihi iam cernere fratrum / augustos habitus, Romam clarumque senatum / et fidos ad bella duces et milite multo / agmina, quis fortes animat devotio mentes / aurea purpureo longe radianta velo / signa micant sinuatque truces levis aura dracones.43

Die Darstellungen auf den Münzen jener Kaiser, deren Triumphe durch spezifische Ausgaben gewürdigt wurden, konzentrierten sich jedoch weniger auf den definierten Raum, in dem das Fest stattfand, sondern auf die Person des Kaisers, dessen tatsächlicher oder nur propagandistischer Sieg der Anlass für das Fest war. Und die Zeremonie selbst wurde meist durch das Bild des Triumphators in einer Quadriga symbolisiert, ohne architektonischen Hintergrund oder topographische Hinweise.44 Die Assoziation Roms mit der Vorstellung von Triumph und Sieg – nicht unbedingt über Fremde, doch in der Regel eines militärischen Erfolgs, der den Erfolg des Herrschers ausdrückt oder einen politischen Vorteil gegenüber Machtkonkurrenten anzeigt – wird durch Ausgaben mit dem RomaMotiv verdeutlicht. Dazu gehören vor allem solche mit den Themen Roma redux und Reditus Augusti, die die Idee der Rückkehr oder des Einzugs des Kaisers in die Stadt predigen. Herodian vertrat zu Beginn des 3. Jahrhunderts die Meinung, dass die Macht seit Jahrhunderten dem römischen Volk gehöre und in Rom ihre Legitimation finde.45 Wer die imperiale Macht anstrebte und bewahren wollte, konnte die mit diesem Ort verbundene Tradition nicht ignorieren. In der Krise des 3. Jahrhunderts versuchten diejenigen, die durch Heere in den Provinzen erhoben wurden, kurz nach ihrer Beförderung Rom zu erreichen oder zumindest Unterstützung in der Hauptstadt zu gewinnen. Stéphane Benoist beschreibt Adventus als „prise de possession“.46 Und tatsächlich zeigen die Bemühungen der in den Provinzen designierten Herrscher um Anerkennung in Rom, dass der Adventus und das Erscheinen in der Stadt ihr Recht auf den Purpur beweisen sollte.47 Das war die besondere Dimension ihres ersten Besuchs in der Hauptstadt nach ihrer Erhöhung. Die Titularhegemonie Roms ist unbestreitbar, obwohl es in den meisten Fällen nicht das Zentrum war, in dem die Entscheidungen über die personelle Besetzung des kaiserlichen „Throns“ getroffen wurden. Dies lässt vermuten, dass die Darstellungen auf Münzen, die die den Herrscher bestätigende dea Roma 43 Nemesianus: Cynegetica. In: Minor Latin Poets. Übersetzt von J. Wight Duff, A.M. Duff. London / Cambridge, Mass. 1934, S. 78–85. 44 Siehe P.F. Mittag: Die Triumphatordarstellung auf Mu¨nzen und Medaillons in Prinzipat und Spa¨tantike. In: Der römische Triumph in Prinzipat und Spätantike. Hrsg. F. Goldbeck, J. Wienand. Berlin 2017, S. 419–452. 45 Herodian, 8.7.5. 46 S. Benoist: Le retour du prince dans la cité ( juin 193–juillet 326). In: „Cahiers du Centre Gustave Glotz“ 10 / 1999, S. 149–175, hier S. 151. 47 Siehe M. Christol: L’Empire romain du III siècle, (Anm. 3), S. 187.

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oder Roma-Vrbs zeigen, eine Dimension hatten, die sich auf die Legitimierung der Macht und ihre Anerkennung in Rom bezog. Sie bestätigten den Platz Roms auf der „ideologischen Landkarte“ des Imperiums. Bei den Ausgaben mit dem Roma-Motiv ging es nicht immer um die tatsächliche Anerkennung eines bestimmten Herrschers oder Prätendenten durch mit Rom verbundene Institutionen. In der Tat gab es einige Darstellungen, die sich nur mit der Sphäre der ideologischen Wünsche beschäftigten: sich als von Rom anerkannter und damit legitimer Herr des Imperiums zu präsentieren. Diese Bedeutung hatte die Präsenz des Roma-Motivs auf den Ausgaben der Prätendenten Macrianus und Quietus im Osten (260–261 n. Chr.), Pacatianus (248 n. Chr.), der seine kurzlebige Herrschaft in Oberpannonien, Niederpannonien und Obermösien (?) ausübte, aber auch der Herrscher des „Galliarum Imperium“: Postumus (260–269 n. Chr.), Victorinus (269–271 n. Chr.), Tetricus I. (271–274 n. Chr.).48 In der kaiserlichen Münzprägung des 3. Jahrhunderts überschritt die Roma also die physischen Grenzen der Stadt am Tiber. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Beispiel der Münzen des Victorinus. Auf ihren Reversen zeigt der Kaiser einer sitzenden Roma die Weltkugel, hinter ihm steht ein Soldat mit einem Banner (COS II), es gibt eine Büste der Roma (ROMAE AETERNAE) oder es gibt Büsten von Roma und Diana (VOTA AVGVSTI).49 Vielleicht beziehen sich diese Münzen auf die in Köln oder Trier (?) gefeierten Erfolge des Victorinus nach dem Feldzug gegen die Haeduer, im Frühjahr 270. Claude Brenot vermutet, dass dieses Fest mit den Feierlichkeiten zu Ehren der Göttin Roma kombiniert wurde, die – wie die Romaia in Rom – am 21. April gefeiert wurden.50 Die Münzen des Victorinus veranschaulichen die Verbreitung der Roma-Figur auf einer weiteren Ebene. Er selbst sah sich schließlich als römischer Herrscher und Herr des Imperiums, während er in Wirklichkeit ein Gegner des eigentlich in Rom anerkannten Herrschers Aurelian (270–275 n. Chr.) blieb. Bei anderen Usurpatoren war es ähnlich. Ihre Anwesenheit auf der politischen Bühne fiel chronologisch mit der Herrschaft legitimer Herrscher zusammen, und außerdem erkannten sich die Angehörigen beider Gruppen als legitime Herrscher an. Beide, Tyranni und Augusti, griffen zur ideologischen Waffe des Namens der Roma und nutzten sie in ihrer Münzpropaganda. Es ist wohl kein Zufall, dass in der ersten Hälfte des betrachteten Zeitraums die Präsenz der Roma in der Münzprägung eher nebensächlich war, bis das Jahrtausend Roms das Thema in großem Stil

48 Vgl. A.A. Kluczek: Vndiqve victores, (Anm. 13), S. 119–122; K. Balbuza: Roma Aeterna, (Anm. 13), S. 82–83. 49 GGK, Victorinus, Nr. 16–17 A, 24–26, 47. 50 C. Brenot: VOTA AUGUSTI: aurei de Victorin émis à Cologne. In: „Bulletin de la Société française de Numismatique“ 27 (7) / 1972, S. 255–258.

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auslöste.51 In der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts, als der Nachhall des Millenniums verklungen war, wurde die große Beliebtheit der Roma in der imperialen Münzprägung gerade durch den Wunsch bestimmt, die Position zu legitimieren und das Prestige der Herrscher mit der Roma-Unterstützung zu steigern. Die Legenden und Darstellungen, die damals auf Medaillons und Münzen angebracht wurden, zeugen davon, dass die Emittenten nach neuen Wort-BildAnordnungen suchten, die den gewünschten Inhalt deutlicher zum Ausdruck bringen sowie den Kreis der positiven Assoziationen erweitern konnten, dessen Zentrum die Person des Kaisers blieb. Toposhafte Darstellungen und Sprüche interagierten mit innovativen Lösungen, bei denen vor allem Legenden den ansonsten originellen Inhalt aufgriffen. Alle diese Lösungen, die in den Jahren 235– 284 angewandt wurden, bereicherten die römische numismatische Tradition, aber einige von ihnen blieben nur Experimente, die in anderen Perioden der römischen Geschichte nicht verwendet wurden. Große ideologische Bedeutung war also der Grund für die Präsenz des RomaMotivs auf den Rückseiten von Münzen und Medaillons im 3. Jahrhundert, und den Eindruck der Sanktionierung eines bestimmten Herrschers durch die Roma zu erwecken, blieb das primäre Ziel solcher Praktiken in der imperialen Münzprägung. Wie hingegen ist in der monetären Bildsprache die römische Welt konstruiert, zu deren Strukturen Rom gehörte und Roma einer der Garanten ihrer Existenz war? Ein thematisches Mosaik bestehend aus Sprüchen, die Romas Namen enthalten, oder aus Darstellungen, die ihre Silhouette zeigen, bildet ein reichhaltiges Bild der römischen Welt. Obwohl die Darstellungen mit der Silhouette von Roma recht eintönig erscheinen mögen, ändern sich doch die Reverslegenden. Sie modernisieren alte, bekannte ikonographische Modelle. Sie geben den dargestellten Szenen unterschiedliche Bedeutungen. Was hier auffällt, ist die Idee der Sanktionierung des Kaisers durch die Roma; sie gibt ihre Zustimmung, indem sie ihm ein Symbol der Macht oder des Sieges überreicht (einen Globus, einen Kranz, die Victoria oder Victoriola). Es ist auch eine Welt – wie die Reversinschriften andeuten – voller Glückseligkeit (Felicitas), wiedergeboren – wie auch Vrbs – dank der Bemühungen des Kaisers (Restitutor). Allerdings gibt es einen Bruch zwischen der römischen Geschichte und den Aktivitäten ihrer Helden auf der einen und der Bildsprache in der Münzprägung auf der anderen Seite. Das liegt daran, dass die Ereignisse und Taten des Kaisers dynamisch sind, sich über die Zeit erstrecken, von einer Reihe von Bedingungen abhängen und oft multifaktorielle Auswirkungen haben. Die Reversdarstellung 51 Neben den genannten Ausgaben des Gordian III. siehe Münzen aus dem Jahr 238: RIC 4.2, Gordian I., Nr. 3–4, 10; RIC 4.2, Gordian II., Nr. 5.

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hingegen verengt diese ganze Abfolge von Ursache und Wirkung und reduziert sie auf ein einziges Bild. Erst die Manipulation seiner Details, ihre Auswahl und Komposition, ermöglichte die Konstruktion einer komplexeren – aber immer noch nur symbolischen – numismatischen Interpretation des Ereignisses. Darüber hinaus war die Botschaft der Münzen auf die Person des Kaisers ausgerichtet oder einfach auf das, was die Roma verkörperte, und auf das, was in das geographisch und ideologisch breit gefasste Imperium fiel. Die Elemente der römischen Welt wurden um diese wenigen Entitäten herum platziert und bildeten inhaltlich mehr oder weniger reiche und verwickelte Ergänzungen. In seinem Gesamtbild ist es eine positive Welt, sogar eine, die sich in einem Zustand ständiger Prosperität befindet. Römische Helden, auf die in numismatischen Inhalten Bezug genommen wird, sind wiederum die Verursacher und Nutznießer von Ordnung, Erfolg und Wohlstand. Man kann von einem Herrscher nur schwer erwarten, dass er die Schwäche des Staates oder schlechte Dinge in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens zugibt. Andererseits wird er sich gerne als Verursacher des Wohlstandes darstellen, der – wie die Münzinhalte zu versichern scheinen – das Ergebnis seiner Taten und der ihm von den Göttern gewährten Unterstützung ist. Auf diese Weise setzt sich das panegyrische Bild des Römischen Reiches in der römischen Münzprägung fort. Die Diskrepanz zwischen der numismatischen Vision der römischen Welt und der Geschichte des Imperiums ist besonders auffällig in Bezug auf die Jahre 235– 284. Das Reich befand sich in einer Krise, besonders akut im politischen Bereich. Die Herrscher wechselten, sie wurden auf den Thron gehoben und durch Militärrevolten gestürzt, so dass die Herrschaft instabil war. Auch die Einheit des Reiches wurde gestört: Neben den in Rom anerkannten Kaisern gab es Usurpatoren, deren Macht keineswegs durch den Senat legitimiert war. Die äußere Situation des Reiches verschlechterte sich, da mächtige, aber feindliche Nachbarn auftauchten. Dies erforderte einen Kampf an zwei Fronten: die gleichzeitige Abwehr der barbarischen Einfälle von jenseits des Rheins und der Donau, und den Kampf gegen den persischen Staat. All diese Probleme sind in der monetären Bildsprache nicht direkt sichtbar, insbesondere wenn man sich, wie in der hier vorgeschlagenen Lesart, auf das Einzelmotiv der Roma beschränkt. Die angenommene thematische Verengung ermöglichte es, die symbolische und metaphorische Gestalt der in der Münzprägung geschaffenen römischen Welt zu betonen. Die Darstellungen mit dem Roma-Motiv stellen eine eigentümliche Interpretation von Partikeln der römischen Welt durch antike Emittenten dar. Ihre Urheberschaft in der Kaiserzeit sollte symbolisch dem römischen Kaiser als solchem zugeschrieben werden, obwohl es in der antiken Literatur nur selten Hinweise darauf gibt, dass er es war, der die Ausgabe von Münzen anordnete, und nur einzelne Quellenangaben bringen die Entstehung bestimmter Bilder mit ihm

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in Verbindung.52 Dennoch ist die institutionelle Verbindung von Münzen und Medaillons mit dem Kaiser untrennbar. Ihre Vorderseiten trugen meist sein Porträt und seinen Namen. Die Reversinhalte konstruierten sein Bild als vorbildlicher Römer, dessen Tätigkeit – oder auch bloße Anwesenheit – die Qualität der römischen Welt definierte. An dem Prozess dieser Übersetzung von Elementen der Realität in die symbolische Sprache der Numismatik waren Verwalter von Münzstätten und Mitglieder der Familia monetalis beteiligt. Sie waren meist anonyme Figuren. Es ist schwierig, unter ihnen eine Gruppe von Stempelmachern oder Urhebern von ikonographischen oder verbalen Lösungen zu identifizieren. Tatsache ist, dass die Vielfalt der Themen, die Variabilität der Motive und die Vielzahl der Varianten darauf hindeuten, dass die Münzstätten versuchten, die Darstellung zu individualisieren oder zu aktualisieren, und dass erwartet wurde, dass solche Modifikationen wahrgenommen werden würden. Und der Nutznießer blieb der Kaiser. So wurde in der Münzprägung eine positive, aber subjektive römische Welt geschaffen, sozusagen parallel zur Geschichte des römischen Reiches. Aus dieser Geschichte wurden Inspirationen gezogen. Die in monetären Darstellungen und Inschriften geschaffene Vision der römischen Welt kann daher in der Kategorie des Engagements gesehen werden.

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52 Vgl. A.A. Kluczek: Ex nummis historia, (Anm. 2), S. 19–23, 56–61.

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