Einführung in die Kunstgeschichte 3534157613, 9783534157617

Diese Einführung macht mit den zentralen Forschungsfeldern der Kunstgeschichte in Theorie und Praxis bekannt. Sergiusz M

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German Pages 169 [167] Year 2015

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Impressum
Inhalt
Vorwort
I. Die Kunst: Definitions- und Klassifizierungsversuche
II. Die Kunstgeschichte und ihre Nachbardisziplinen
III. Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis zum 20. Jahrhundert
IV. Form, Struktur, Bildanalyse
V. Stil
VI. Rezeptionsästhetik, Bildrealität, Spiegelungen
VII. Ikonographie und Ikonologie
VIII. Parodistische Strategien, Kitsch und Meta-Kitsch
IX. Das Original, die Kopie und die Aura des Kunstwerkes
X. Die Kunstgeschichte am Beginn des 21. Jahrhunderts
XI. Abschließende Bemerkungen
Literaturverzeichnis
Personenregister
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Einführung in die Kunstgeschichte
 3534157613, 9783534157617

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Sergiusz Michalski

Einführung in die Kunstgeschichte

WBG� Wissen verbindet

Für Kasia

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Redaktion: Barbara Eggert, Emmendingen Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Umschlagabbildung: Bruegel der Ältere, Maler und Kenner, um 1565, Grafische Sammlung Albertina, Wien Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-15761-7

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73994-3 eBook (epub): 978-3-534-73995-0

Inhalt V orwort ...........................

7

I.

Die Kunst: Definitions- und Klassifizierungsversuche

11

11.

Die Kunstgeschichte und ihre Nachbardisziplinen..

16

111.

Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis zum 20. Jahrhundert .

28

IV.

Form, Struktur, Bildanalyse

43

V.

Stil .............

68

VI. Rezeptionsästhetik, Bildrealität, Spiegelungen.

78

VII. I konographie und I konologie ..........

92

VIII. Parodistische Strategien, Kitsch und Meta-Kitsch.

120

IX. Das Original, die Kopie und die Aura des Kunstwerkes

134

X.

148

Die Kunstgeschichte am Beginn des 21. Jahrhunderts

XI. Abschließende Bemerkungen.

159

Literaturverzeichnis.

160

Personenregister...

166

Vorwort Jedes wissenschaftliche Buch, das ein schon durch mehrere Publikationen vorgeprägtes Feld betritt, sollte idealiter seine Ziele, seine Absichten und auch seine Positionierung gegenüber anderen Veröffentlichungen darlegen. Nichts anderes gilt für diese Publikation, die als Teil einer Reihe von Einfüh­ rungen in einzelne geistesgeschichtliche Fächer natürlich den allgemeinen editorischen Vorgaben folgt.

Konzipiert als eine Einführung kleineren

Umfanges in die Kunstgeschichte, setzt sie sich begrenzte Ziele, die mit der Entwicklung des Faches, mit den bisherigen Publikationen und mit dem methodischen Standpunkt des Verfassers zusammenhängen. Der Verfasser möchte hier eine Darstellung des begrifflichen Instrumen­ tariums und der Methoden der Kunstgeschichte wie auch einen kurzen Abriss ihrer historischen Entwicklung geben. Die Tatsache, dass stärker als gewöhnlich die form- und bildanalytischen Prozeduren berücksichtigt wur­ den, hat mehrere Gründe. Zum ersten sind diese Methoden in jüngster Zeit unverdient, wie ich meine, in den Hintergrund getreten und sollten deshalb unbedingt stärker im Rahmen des kunsthistorischen Methodenrepertoires aufgewertet werden; darüber hinaus harmonieren sie besser mit dem Ansatz des Verfassers, diese bewusst kurz gehaltene Einführung mit einem pronon­ ciert begrifflich orientierten Praxisbezug auszustatten. Ich bin davon über­ zeugt, dass die Analyse der Form und der Stilformationen in allen ihren viel­ fältigen Schattierungen noch immer den entscheidenden, unverzichtbaren Kern des Faches bildet und in ihren gelungenen Realisationen zu einer Strukturanalyse sui generis avancieren kann. Doch die Formanalyse kann nur in Verbindung mit den ikonographisch/ikonologischen Prozeduren das Kunstwerk als solches erfassen. Im Lauf des Buches wird, wie ich hoffe, ersichtlich, dass ich nicht die Meinung einiger Forscher teile, dass die iko­ nologische Methode ihre Leistungsfähigkeit schon erschöpft habe. Die Fachkollegen, Studenten der Kunstgeschichte sowie aufmerksame Leser werden ohne Weiteres in der Kapitelaufteilung das Fehlen mehrerer Problemfelder feststellen - so z. B. das der Kunstsoziologie oder der psychi­ schen Potentiale der bildenden Kunst, auch wird die jetzt sehr populäre Genderforschung eher kursorisch behandelt. Ich hätte des Weiteren gerne über Probleme der Kunstgeographie und der sog. nationalen Kunst geschrie­ ben, aber auch über kunsttheoretische Schlüsselbegriffe und deren Entwick­ lung. Einige der im letzten Kapitel besprochenen Richtungen, Methoden und Fragen hätten bei anderen Autoren möglicherweise ein eigenes Kapitel erhalten. Alle diese Exklusionen und Reduzierungen sind mir nicht leicht gefallen. Dem Verfasser ging es in erster Linie um eine ausführlichere Vorstellung mehrerer, zentraler Problemfelder mitsamt ihrer Begrifflichkeit und den sich

8 Vorwort aus ihnen herleitenden Prozeduren. Aufzählungen, disziplinhistorisches sowie methodengeschichtliches Namedropping wurden bewusst unterlas­ sen. Es gehört auch zu den Prämissen und Zielsetzungen des Buches, allzu viele Überschneidungen mit der bisher führenden deutschsprachigen Ein­ führung in das Fach, dem u.a. von Hans Belting, Heinrich Dilly, Wolfgang Kemp, Willibald Sauerländer, Martin Warnke verfassten Sammelband Kunstgeschichte. Eine Einführung (Warnke 1986, 6., erw. Auflage 2003), zu vermeiden. Deswegen wurden auch Bereiche, die ohne ausgeprägte begriff­ liche Apparate auskommen, wie ,Kunst und Gesellschaft' oder ,Das Kunst­ werk im Kontext' - beide im besagten Sammelband gut abgehandelt - in dieser Publikation größtenteils ausgeklammert. Es sind dies auch Problem­ stellungen oder Forschungsbereiche, bei denen eine kurze Übersicht nur wenig Erhellendes zustande bringen würde. Im Jahr 2007 erschien die sehr umfangreiche und anregende Darstellung der Grundzüge der Kunstwissenschaft von Jutta Held und Norbert Schnei­ der. Die Zielsetzungen, die Vorgehensweise und die Wertungen dieses bedeutenden Autorenpaares - Jutta Held hat leider die Rezeption ihres Buches nicht mehr erlebt - unterscheiden sich in vielen Bereichen beträcht­ lich von den in diesem Buch vertretenen Positionen, nicht nur was das Prob­ lem von Kunst und Gesellschaft betrifft, sondern auch in den Bereichen der formanalytischen Methoden und der Ikonographie. Der Autor gehört zu denen, die in der Kunstgeschichte, wenngleich nicht unkritisch, stärker die gegenstandsbezogenen Methoden schätzen und diese für die methodischen Diskussionen des 21. Jahrhunderts auffrischen und natürlich teilweise auch umgestalten möchten. Er weiß sich den großen Tra­ ditionen der deutschsprachigen Kunstgeschichte verpflichtet, deren metho­ dische Stringenz und Fähigkeit zur begrifflichen Differenzierung trotz man­ cher Krisenerscheinungen noch immer eine führende Rolle in der sich glo­ balisierenden wissenschaftlichen Disziplin spielen. Meine bisweilen skeptische Attitüde gegenüber methodologischen Feuerwerken, die von außen ins Fach hereingetragen werden, hat auch einen Grund in meiner frü­ heren Prägung durch die Kunsthistoriker Jan Bialostocki und Hanno-Walter Kruft, denen ich auch die Überzeugung von einer gewissen ,Feldabhängig­ keit' der analytischen kunsthistorischen Prozeduren verdanke, bei deren Wahl man den Typus und Charakter des zu analysierenden Werkes berück­ sichtigen sollte. Überzeugt von der besonderen Nützlichkeit begrifflicher Systeme vor­ nehmlich mittlerer Reichweite, hat der Verfasser folglich sein Hauptaugen­ merk auf diejenigen Bereiche der Kunstgeschichte gerichtet, bei denen die Verbindung von Sachinformation und methodischer Strukturierung auch im praxisbezogenen Sinne überzeugend und nachvollziehbar ausfällt. Von den vielen konservativen Vertretern des Faches möchte er sich, falls eine solche Selbsteinschätzung zulässig ist, durch seine hoffentlich nicht als vorwitzig oder überheblich empfundene Bereitschaft unterscheiden, die überlieferten und von ihm hier referierten methodischen Konstruktionen mitsamt ihren Begriffen immer wieder nach Schwachstellen zu analysieren und eigene begriffliche Konstruktionen, Präzisierungen oder Umschreibungen vorzu­ schlagen, so z. B. im Kapitel über Ikonographie und Ikonologie, aber auch in den der Form- und Strukturanalyse gewidmeten Abschnitten. Der Verfas-

Vorwort

ser ist sich bewusst, dass einigen Problemen im Vergleich zu anderen Publikationen unerwartet viel Platz eingeräumt wurde, er sieht aber auch die Vorteile solcher unvermeidlich subjektiven Akzentuierungen. Das auf den ersten Blick vielleicht etwas detailliert-speziell anmutende Kapitel über die Prozeduren der satirischen Verfremdung, den Kitsch und den Meta­ Kitsch ist als dringlicher Hinweis an die eigene Disziplin gedacht, auch in methodischer Hinsicht stärker in das überaus wichtige Feld der satirischen Bildmedien, aber auch in den Bereich der jetzt kulturprägenden Meta­ Kitsch-Haltungen einzugreifen. Die Bewertungskriterien des Autors haben selbstverständl ich auch seine Sicht der hier nur sehr kurz dargelegten Geschichte des Faches vor 1914 geprägt. Die Geschichte des Faches nach dem Ersten Weltkrieg ist ansatzweise in den Charakterisierungen der einzel­ nen Methoden enthalten. Das kurze Kapitel über die Nachbardisziplinen der Kunstgeschichte wurde sowohl als praktischer studentischer Ratgeber bei der Wahl eines Nebenfaches wie auch als kursorische methodische Übersicht konzipiert. Ich bin überzeugt, dass gewisse Disproportionen des Buches und einige subjektive Urteile des Verfassers ihre Berechtigung in dem Umstand finden, dass für ein so großes Fach, wie es die Kunstgeschich­ te ist, die Erarbeitung einer betont ausgewogenen und Gerechtigkeit gegen jedermann übenden Übersicht sehr schwierig und vielleicht auch nicht besonders erstrebenswert wäre. Der Verfasser hat viel vom Austausch mit Braunschweiger und Tübinger Studenten der Kunstgeschichte während mehrerer methodengeschichtlicher Seminare am ehemaligen Institut für Kunstgeschichte der Carolo-Wilhelmi­ na in Braunschweig und später am Kunsthistorischen Institut der Tübinger Eberhard Karls Universität profitiert. Er verdankt viele Einsichten den Dis­ kussionen und Gesprächen mit Freunden und Kollegen, stellvertretend sei hier nur Reinhard Alois Steiner (München/Stuttgart) genannt, bei einigen ter­ minologischen Präzisierungen halfen Birgitta Coers und Lorenz Enderlein (beide Tübingen). Es bleibt ihm die angenehme Pflicht dem Verlag, Barbara Eggert, Melanie Marth und vor allem Frau Jasmine Stern (Darmstadt) für ihre exzeptionelle Geduld und Toleranz zu danken. Das Buch sei meiner Frau Kasia, in Dankbarkeit, gewidmet. Tübingen, Frühjahr 2015

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I. Die Kunst: Definitions- und

Klassifizierungsversuche Mit Kunstgeschichte wird hier das wissenschaftliche Fach bezeichnet, des­

Kunstgeschichte und

sen Gegenstand die Kunst und ihre Geschichte ist. Die beiden Termini

Geschichte der Kunst

Kunstgeschichte und Geschichte der Kunst fungieren einerseits als Bezeich­ nungen des Faches, andererseits als Bezeichnungen seines Gegenstandes und müssen sorgsam auseinandergehalten werden. In der populären Praxis gibt es oft eine Tendenz zur Gleichsetzung beider Begriffe, der der metho­ disch bewusste Kunsthistoriker aber nicht folgen sollte. Die Kunstgeschichte befasst sich mit historisch fundierten, formalen, iko­

Kunstbegriff

nographischen, aber auch unterschiedliche Methoden geistesgeschichtlicher und kulturwissenschaftlicher Provenienz berücksichtigenden Analysen von Objekten, die zum Bereich der Kunst gehören. Die Zugehörigkeit zum Kol­ lektivsingular Kunst verleiht den Objekten gleichsam tautologisch den Status eines Kunstwerkes. Diese Kunstwerke werden wiederum seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts zu den ,schönen Künsten', seit dem Ende des 18. Jahrhun­

derts zu den ,bildenden Künsten' gezählt. Die Geschichte des Kunstbegriffes in strengem Sinne umfasst somit ungefähr 300 Jahre. Vor 1700 bestand trotz mancherlei Annäherungen und Umschreibungen kein solcher, von einer autonomen Kunstauffassung zeugender Begriff. Die Vorgängertermini, über die noch zu sprechen sein wird, bezogen sich nicht in erster Linie auf den Sta­ tus des Kunstwerkes und seines Oberbegriffes, sondern handelten von den Techniken und den mit ihnen verbundenen Prozeduren der artistischen Her­ vorbringung und von den Regeln, denen diese folgen sollten. Die Charakterisierung der Kunst und die Klassifizierungen der einzelnen Künste sind im Laufe der Zeit vielfältigen Differenzierungsprozessen und Wandlungen unterworfen worden. Die Begriffe techne und ars bezogen sich in der Antike in erster Linie auf handwerkliches Wissen und Kompetenz im Umgang mit Materialien und Werktechniken. Platos berühmte Ableh­ nung der Malerei und Plastik als Inbegriffe eines betrügerischen Illusionis­ mus sollte sich in nachhaltiger Weise äußerst negativ auf ihren Status aus­ wirken. Die Sophisten zählten die Malerei zu den erbaulichen, die Archi­ tektur zu den nützlichen Künsten. In der Klassifikation Ciceros gehörten sowohl die Architektur wie auch die Malerei und die Plastik zu den nach­ rangigen, kleinen (minores) Künsten. Trotz des Versuches einer beschränk­ ten Aufwertung, den der Philosoph Plotin unternahm, änderte sich in der Antike am Status der Künste nicht viel. Auch das Mittelalter fand für Male­ rei, Bildhauerei und Architektur keinen Platz unter den artes liberales. Erst im 12. Jahrhundert stellte Hugo von St. Victor ein siebengliedriges Schema der mechanischen Künste auf, in dem die Malerei und Plastik unter dem

Wandlungen des Kunstbegriffes

12 I. Die Kunst: Definitions- und Klassifizierungsversuche Begriff armatura (Ausrüstung) enthalten waren. Das Spätmittelalter unter­ nahm jedoch erste Schritte, um zwischen der ars als einer intellektuellen Tätigkeit und dem artificium als einer Kunstfertigkeit handwerklicher Art zu unterscheiden. Erst in der Renaissance wurden Malerei, Bildhauerei und Architektur unter dem provisorischen und damals noch wenig verbreiteten Sammelbegriff der arti dei disegno, der die Rolle des intellektuellen Kon­ zeptes betonte, zusammengefasst. Die Beaux-Arts

Die nächste wichtige Zäsur erfolgte am Ende des 17. Jahrhunderts, als in der französischen Kunsttheorie der Begriff der schönen Künste (Beaux-Arts) durch CharIes Perrault (Le Cabinet des beaux Arts, Paris 1690) geprägt wur­ de. Indem Perrault die drei Kunstgattungen auf eine Ebene mit der Rhetorik, Dichtung und Musik stellte, vollzog er einen dramatischen Bruch mit dem überkommenen Schema der artes liberales. Ein halbes Jahrhundert später ernannte CharIes Batteux (Les Beaux-Arts reduits a un mPme principe, Paris

1746) die schönen Künste zur Schwesterkunst der Poesie; zu ihrem Grund­ prinzip erkor er die Nachahmung. Die bildenden

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam in Deutschland, zuerst bei Kant in

Künste

der Kritik der Urteilskraft (Kant 1790) und dann bei Goethe, der Begriff der bildenden Künste auf, eine glückliche Wortschöpfung, die sowohl den bild­ nerisch-gestalterischen Aspekt bezeichnet, wie auch implizit auf das ästhe­ tische und das pädagogische Ziel einer Bildung durch Kunst hinweist. Das

19. Jahrhundert sah in der Kunst immer mehr eine wichtige Möglichkeit der Sinngebung in den Bedrängnissen der menschlichen Existenz. Für Hegel bildete die Kunst den schönsten Aspekt der Weltgeschichte: Durch seine Fähigkeit zur Selbstreflexion und zur Freiheit sei das Kunstschöne dem Naturschönen überlegen (Hegel 1835). Im 20. Jahrhundert ging es anfänglich um die Abkehr vom idealistischen Kunstbegriff des vorigen Jahrhunderts. Trotz ihrer Kritik an den normativen Elementen des Kunstbegriffes hielten die Theoretiker der Frankfurter Schule, allen voran Adorno, noch lange am Konzept der Autonomie der Kunst fest (Adorno 1970). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt das Interesse vor allem der Unterscheidung zwischen Kunst, Kitsch und Populärkultur. Am Ende des Jahrhunderts haben wir es schließlich mit einer Abkehr vom traditionellen Kunstwerkbegriff zugunsten eines breit aufgefächerten Pro­ zesses zu tun, bei dem sich die Bereiche der Kunst und des Alltäglichen - in das nunmehr Ästhetisierungsprozesse unterschiedlicher Art hineinwirken vermischen und in dem die Autonomie der Kunst weitgehend aufgehoben ist. Der Kunstbegriff steht hier im Zentrum einer Debatte, die an seinen Grundfesten rüttelt und die inzwischen in ein Stadium eingetreten ist, in dem am Horizont die Möglichkeit eines ,Endes der Kunst' aufscheint. Ein solches Ende wäre aber keineswegs mit einem Ende der Kunstgeschichte oder mit einem Ende der Kunstproduktion und ihrer fortschreitenden Ver­ marktung gleichzusetzen; aufgelöst hätte sich nur die ordnende Kategorie. Die Selbstbestimmung und Herleitung des Kunstbegriffes aus der Formen­ entwicklung selbst, womit sich traditionell die Kunstgeschichte befasst, scheint nicht mehr möglich. Damit bliebe nur der Rekurs auf die Position Arthur Dantos: Der amerikanische Ästhetiker meinte, dass die einzige Mög­ lichkeit einer Unterscheidung zwischen Kunst und Nicht-Kunst jetzt durch die Kunstphilosophie geboten wird (Danto 1996, 1998), was aber implizie-

I. Die Kunst: Definitions- und Klassifizierungsversuche

ren würde, dass die Kunst graduell in der Philosophie als oberster Entschei­ dungsinstanz aufginge. In einer sich an ein breiteres Publikum wendenden Publikation mit dem

Was ist Kunst?

Titel Was ist Kunst? hat Andreas Mäckler kurze Antworten auf die gestellte Frage versammelt (Mäckler 1987, 2007). Wir finden unter ihnen Definitio­ nen systematischer Art, Ordnungsbegriffe, Bestimmungen durch Exklusion, aber auch zahlreiche journalistische Formulierungen, die mitunter das Para­ doxe streifen. Mäcklers Liste ließe sich problemlos fortsetzen, was den Ver­ dacht erweckt, dass wir es beim herkömmlichen Kunstbegriff mit einer Art Leerformel zu tun haben. Dieses theoretische Vakuum entspricht der schon erwähnten, immer offeneren Praxis, in welcher die Kunst als reiner Verein­ barungsbegriff funktioniert und in der jeder, und sei es nur für die berühm­ ten Warhol'schen 15 Minuten, zum Künstler werden und Kunst produzieren kann. In leichter Abwandlung eines der zentralen Argumente für die Exis­ tenz Gottes, ließe sich auch im Hinblick auf den Bereich der Kunst ausfüh­ ren, dass deren Existenz sich nicht aus der anschaulichen Präsenz einzelner Kunstwerke, sondern vor allem aus einem grundlegenden menschlichen Bedürfnis nach Kunst herleiten lässt. In den zeitgenössischen Polemiken lassen sich zwei grundsätzliche Standpunkte feststellen. Es sind dies der Standpunkt der Skeptiker, welche

Skepti ker versus Realisten

die Möglichkeit einer zutreffenden Definition von Kunst bezweifeln, und die entgegengesetzte Position der Realisten. Für die Ersteren ist jeder Versuch einer normativen Definition ein hoffnungsloses Unterfangen, da keine einzige feststellbare Eigenschaft alle geschaffenen Kunstwerke verbinden könne. Deshalb sei die Suche nach einer zentralen Wesenseigenschaft ein essentialistischer Fehlschluss, der die Tatsache verdecken soll, dass nur der Gebrauch und der damit verbundene Wille zur Kunst diese als solche statuieren. Kunstdefinitionen hätten deshalb nur den Status von Empfehlungen; seriöse Maßstäbe, die auf alle Kunstwerke anzuwenden wären, gäbe es nicht. Die Befürworter einer realistischen Definition sprechen demgegenüber von den relationalen Werten der Kunst. Sie benutzen gern das Argument, dass die Kunst ihren Status und ihre Natur selbst zum Thema machen und deshalb auch ihre Existenz demonstrieren könne. Kunst sei das, was im Rahmen einer Minimaldefinition in irgendeiner Weise mit ästhetischen Theorien in Verbindung stehe. Neue Objekte dürften allein aufgrund ihrer Neuartigkeit Anspruch auf den Status eines Kunstwerkes erheben. Ihre Ansprüche seien weniger mit vermeintlich wesenhaften Eigenschaften als mit den Ähnlichkeiten zu anderen Kunstwerken zu begründen. Der expansive, proteushafte Charakter der Kunst, der ständige Wandel ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und ihrer damit zusammenhängenden Funktionen stehe zwar einer Fixierung von absoluten definitorischen Eigenschaften im Wege, lege aber den Versuch nahe, eine pragmatische Minimaldefinition mit Referenzcharakter zu finden. Letztlich geht es also um die Frage einer Unterscheidung zwischen einer ontologisch-klassifizierenden und einer vornehmlich gebrauchsabhängigen Einstellung. Wenn man sich aber bei einem grundsätzlichen Klassifizie­ rungsversuch wertender Aussagen enthalten möchte, wird es schwierig zu begründen, warum man einige Verwendungsweisen von Kunst für die Erklärung ihres Wesens heranzieht, andere dagegen nicht. Die von einigen

Wesens- und Gebrauchsbegriffe

13

14 I. Die Kunst: Definitions- und Klassifizierungsversuche Ästhetikern und Kunsthistorikern vorgeschlagene Kategorie des institutio­ nellen Kontextes ist zweifelsohne nicht sofort von der Hand zu weisen dazu ist sie zu sehr in der jetzigen Praxis verankert -, doch wird in ihrem Rahmen die Kunst zur Summe gesellschaftlicher Konventionen. Einige Kunst­

Ein genaueres Eingehen auf Einzelheiten beider Argumentationsstränge

definitionen

kann hier natürlich nicht erfolgen. Was zunächst vorgestellt werden soll, ist eine Reihe operativ verstandener Kategorien und Definitionsumschreibun­ gen, die verschiedene Aspekte des Kunstbegriffes aufgreifen, wenngleich dies nicht in erschöpfender Form geschehen kann.

Einheit der

Seit der Romantik wird von der Kunst erwartet, dass sie eine Synthese

Gegensätze

konträrer Eigenschaften bewerkstelligen soll, im Sinne einer Einheit der Gegensätze (concordia discors). Diese Erwartung kann auf die Welt der For­ men beschränkt oder aber in breiterem Sinne wirksam werden. So sollen die schönen Künste letztendlich alle streitenden Gegensätze versöhnen und vereinen, was einen zentralen Ansatz der idealisierenden Ästhetik des 19. Jahrhunderts bildete.

Kunst und Schönheit

Zu den Aufgaben der Kunst gehörte zudem das Schaffen von Schönheit, eine Forderung, die schon im 15. Jahrhundert beim italienischen Künstler und Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti anklang und später in der franzö­ sischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts als production de beaute bezeichnet wurde. Die Probleme dieser Definition liegen auf der Hand: Es gibt keine Definition des Schönen, die erklären könnte, wie Schönheit Kunst definiert; abgesehen davon gilt Schönheit inzwischen ohnehin nicht mehr als Vorbe­ dingung für Kunst.

Kunst und

Zu den zentralen Eigenschaften und Aufgaben der Kunst sollte die Nach­

Wirklichkeit

ahmung der Wirklichkeit gehören. Es ist dies eine Feststellung oder Aufga­ bensteilung, die sich von Sokrates (die Malerei ahmt die sichtbare Wirklich­ keit nach) bis zu Charles Batteux im 18. Jahrhundert (die gemeinsame Auf­ gabe der Künste ist die Nachahmung der Natur) erhält. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde hier stärker das darstellende Moment betont; auch wur­ de die Formel auf andere Künste wie die Musik bezogen. Doch die Nachah­ mung der Wirklichkeit muss keineswegs im Sinne des sog. Realismuspostu­ lates verstanden werden, wie es einst sozial orientierte Ästhetiken des spä­ ten 19. und 20. Jahrhunderts wollten.

Kunst und Ausdruck

In jedem Kunstwerk ist der Ausdruck des Verhältnisses des Künstlers zum Gegenstand enthalten; insofern ist jede Kunst auch Ausdruck, Expression. Doch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts blieb diese Problemstellung ver­ borgen, erst der italienische Philosoph Benedetto Croce hat sie in seiner Schrift Ästhetik als Wissenschaft vom Ausdruck (1901, dt. 1930) in die Kunsttheorie eingeführt. In der Bild gewordenen Expression verflechten sich rationale und emotionale Elemente. Nehmen letztere überhand, spricht man auch von Expressivität.

Eigenschaften und

Zu den Hauptaufgaben von Kunst gehört die Verleihung von Form und

Aufgaben der Kunst

Gestalt. Es war Aristoteles, der mit besonderem Nachdruck betonte, dass ein Kunstwerk in erster Linie eine bestimmte Gestalt besitzen müsse. Doch darauf folgte eine lange Zäsur; erst am Anfang des 20. Jahrhunderts hat man sich in der Kunsttheorie dieser wichtigen Eigenschaft des Kunstwerkes besonnen. Zahlreiche Kunsttheoretiker optieren für die sog. reine Form, das ist eine Form, die ohne Rücksicht auf das, was sie darstellt, oder auf die

I. Die Kunst: Definitions- und Klassifizierungsversuche

Zwecke und Funktionen, denen sie dient, nur für sich stehen sollte (vgl. bei­ spielsweise den Ansatz des englischen Kritikers Clive Bell, Bell 1914). Des Weiteren wird unterschieden zwischen der funktionalen Form, die vor allem in den Bereichen Design, Architektur und Kunstgewerbe auftritt, und der darstellenden Form, die Kunstwerken mit abbildhaftem Charakter eigen ist. In der englischen und amerikanischen Kunsttheorie wird häufig zwi­ schen der darstellenden Form (representational, extrinsic) und der eigentli­ chen Form (intrinsic) als dem Wesen des Kunstwerkes unterschieden. Zu den besonderen Eigenschaften der Kunst gehören selbstverständlich

Kunst und Wirkung

die Hervorbringung und Stimulierung ästhetischer Erlebnisse. Diese Definition verlegt somit ihr Interesse von den intrinsischen Eigenschaften der Kunst auf ihre Wirkung: Ästhetische Erfahrungen basieren auf emotionalen Prozessen und sollten zu ästhetischen, das Kunstwerk betreffenden Werturteilen führen. Eine Variante dieser Kategorisierung ist die Betonung der kathartischen Funktion von Kunst. Es ist auch Aufgabe der Kunst, den Prozess der Symbolbildung aufzugreifen und ihn weiterzuführen. Kunst ist Verdichtung, Hervorbringen und Aufdecken von essentiellen, prägnanten Bedeutungen. Zudem geht es auch um die sinnlich-materielle, Menschen verbindende Qualität der kulturellen Zeichen. Dieser besondere Aspekt, der in vollem Umfang von Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symboli-

schen Formen (Cassirer 1923-1929) formuliert wurde, ist vor allem im 20. Jahrhundert stark in den Vordergrund getreten. Die Kunst wird schließlich, vor allem im 20. Jahrhundert, als Mittel gegen falsche Universalitätsideen und Ideologien aufgefasst: Selbst das völlig instrumentalisierte Kunstwerk ist in diesem Sinne verräterisch, weil es in essentieller Verkürzung nach einiger Zeit trügerische Ideologeme und darüber hinaus das aus der historischen Perspektive besonders gut fassbare ,falsche Bewußtsein' bloßstellt. Trotz ihres korrektiven Charakters kann die Kunst auch nicht als Vehikel einer wie auch immer gearteten Rationalität aufgefasst werden. Um hier eine sehr zugespitzte, doch in ihren Grundzügen zutreffende Charakterisierung des Schweizer Kunsthistorikers Beat Wyss anzuführen: Kunst ist gerade nicht der Beleg des Bewusstseins, sondern dessen Schatten­ spiel: der verräterische Hinweis darauf, was beim Prozess der Bewusstwer­ dung unterschlagen blieb. So wenig die rationale Verstandestätigkeit zur Kreativität taugt, so wenig ist sie berufen, ästhetische Maßstäbe zu setzen.

(Wyss 1985, 312) Kunst lehrt, last but not least, den Respekt vor der individuellen Lösung, lehrt notwendige Differenzierungen. Deswegen ist auch das Konzept einer einzigen, heuristisch erfassbaren Weltkunst unhaltbar. Dieser Umstand und die daraus erwachsenden Schlussfolgerungen sollten aber nicht mit der inzwischen historisch gewordenen Rolle einer selbst proklamierten Avant­ garde als Kämpferin für Individualität und künstlerische Freiheit verwechselt werden. Deren Provokationspotential hat sich mit der Zeit weitgehend erschöpft und wirkt inzwischen, vor allem was den Kunstbetrieb angeht, eher affirmativ als differenzierend. Erst die historische Perspektive, die ja eine Domäne des Kunsthistorikers ist, bringt das stets latent vorhandene gesellschaftskritische Potential der Kunst zum Vorschein.

Kunst und Ratio

15

11. Die Kunstgeschichte und ihre

Nachbardiszipl inen Kunstgeschichte und

Die ,klassische' Kunstgeschichte, wie sie an europäischen Hochschulen

Weltkunst

gelehrt wird, untersucht in ihrer Funktion als wissenschaftliches Fach die europäische Kunst vom Ende der Antike bis zur Gegenwart. Was seine kunstgeographische Begrenzung betrifft, so befasst sich das Fach generell mit Kunstwerken, die von der europäischen Kunstauffassung generiert und geprägt wurden. Insofern gehört auch die nachkolumbianische Kunst beider Amerikas zum Aufgabengebiet des Faches. Zentral für das Selbstverständnis der Kunstgeschichte sind die antiken und christlichen Wurzeln der Kunst und Kultur im Mittelmeerraum, deshalb gehören auch die christlichen Kul­ turen des Nahen Osten und des Kaukasus zu ihren Interessengebieten. Orientalische Kunstwerke im Mittelmeerraum werden dagegen eher am Rande und meistens in komparatistischer Absicht in die kunsthistorische Darstellung integriert. Zum Bereich der Disziplin gehören schließlich pro­ minente Bauwerke und Kunstwerke, die im 20. Jahrhundert auf allen Konti­ nenten entstanden sind, unabhängig davon, ob sie, wie die berühmte Oper in Sydney, sowohl von ihrer Form wie auch genetischen Herleitung her inte­ grale Teile der West-Kunst bilden oder, wie die späteren Petronas Towers in Kuala Lumpur, bewusst ein orientalisches Gepräge anstreben. Das an euro­ päischen Universitäten gelehrte Fach hat sich ausdrücklich keine verbin­ dende Betrachtung der europäischen und der islamisch-indisch-ostasiati­ sehen Kunst aus der Zeit vor dem 20. Jahrhundert zum Ziel gesetzt:

West und Ost

Zwar enthält oder impliziert der Begriff der Kunstgeschichte keineswegs eine Beschränkung auf die europäisch geprägte Kunst oder, anders ausge­ drückt, auf die sog. West-Kunst - man spricht selbstverständlich auch von der islamischen Kunstgeschichte oder der Kunstgeschichte Ostasiens. Trotzdem hat sich in der kunsthistorischen Praxis aus gutem Grunde diese Beschrän­ kung durchgesetzt. Versuche, die Kunst Asiens oder Afrikas in die Rekonstruk­ tionen der Entwicklungslinien der West-Kunst zu integrieren, waren in der Regel in heuristischer Hinsicht eher unergiebig, um hier nur auf das letzte, ambitiöse Projekt eines Atlas af Warld Art des englischen Kunsthistorikers John Onians zu verweisen (Onians 2004), das auf breite Kritik gestoßen ist. Die wenigen Bereiche, in denen es vor 1900 zu einer Synthese der östlichen und westlichen Kunst gekommen ist (z. B. die sog. Jesuitenkunst des 17. und 18. Jahrhunderts in China), können sowohl in methodischer als auch in kom­

paratistischer Hinsicht nicht wirklich als Bindeglieder fungieren. Dasselbe betrifft die orientalischen Moden des 18. und 19. Jahrhunderts in Europa. Die chinesische Auffassung der Malerei und des Werkprozesses unterscheidet sich auch in ihren philosophischen Aspekten grundlegend von der europä-

11. Die Kunstgeschichte und ihre Nachbardisziplinen 17

ischen. Dazu tritt noch ein pragmatisches Argument: Es gab und gibt auf der wissenschaftlichen Ebene eigentlich keine dauerhaften, personellen Verbin­ dungen zwischen den Forschungen zur West-Kunst und zu den Künsten außerhalb Europas und Nordamerikas. Die wenigen Versuche, beim Studium der westlichen Kunst gewonnene Erkenntnisse oder Schemata auf in formaler Hinsicht andere stilistische Entwicklungslinien zu übertragen, haben keine überzeugenden Resultate erbracht. Immer wieder unternommene Versuche, den Ansatz einer umfassenden ,Weltkunstgeschichte' zu verfolgen, erweisen sich als problematisch, da bis heute keine geeignete Darstellungs- und Argumentationsgrundlage erarbei­

Probleme einer ,WeItkunst­ geschichte'

tet wurde, die allgemein, gleichzeitig jedoch auch spezifisch genug wäre, um Kunstprodukte europäischer und außereuropäischer Kulturen vergleichen, d. h. eine fundierte Komparatistik betreiben zu können. Dennoch ist, angesichts der dramatisch fortschreitenden Globalisierung, aber auch durch das Vordringen der West-Kunst in immer neue Länder, in der Mitte des 20. Jahrhunderts

der

geographische

Entstehungskontext

von

Kunstwerken

zunehmend irrelevant geworden ist. Eine weitere Entwicklung im Bereich der Beziehungen zwischen der West-Kunst und den anderen Kunststrängen wird durch das Aufkommen der sog. post-colonial studies signalisiert, die sich mit dem westlichen Blick auf die indigene Kunst und Kultur befassen. Doch diese Studien, die auf die Einseitigkeit und Voreingenommenheit der westlichen Einstellung hinweisen möchten, behandeln, trotz ihrer gegenwärtigen Prominenz in der angelsächsischen akademischen Welt, ein hinsichtlich Fragen der Materialerschließung und Kunstanalyse für die Kunstgeschichte eher untergeordnetes Problem. Allerdings können postkoloniale Ansätze, insofern sie das Problem des ideologischen Blickes, der Blickwechsel und der gegenseitigen Spiegelung wissenschaftlich aufgreifen, in methodischer Hinsicht die Kunstgeschichte befruchten. Mit den Kunstwerken oder Artefakten der Zeit nach 40.000-30.000 v. ehr. befasst sich die Ur- und Frühgeschichte, mit den Kunstwerken des Mit­ telmeerraumes der Zeit zwischen 1700 v. ehr. bis zum Ende der Antike um 500 n. ehr. die klassische Archäologie. Die Kunstgeschichte als Disziplin

befasst sich, wie es auch das in den meisten Ländern Europas und den USA gültige Schema der universitären Lehre suggeriert, mit Kunstwerken die nach dem Ende der Antike entstanden sind. In welchem zeitlichen Rahmen der Kunsthistoriker sich bewegt, d. h. wie weit in die aktuelle Gegenwart sein Arbeits- bzw. Zuständigkeitsbereich reicht, lässt sich nur allgemein bestimmen und hängt von dem jeweiligen Selbstverständnis, aber auch von den objektiven Möglichkeiten des For­ schenden ab. Es gibt Kunsthistoriker, die sich ausschließlich der Kunst der Gegenwart widmen. Deren Zahl ist zwar nicht sehr groß, doch in den letz­ ten Jahren im Wachsen begriffen. Die entscheidenden Differenzen zwischen der Kunstgeschichte und der Kunstkritik, die sich als eigenständige Disziplin in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich ausbildete, sind sowohl chronologischer wie auch methodischer Art. Der Kunstkritiker arbeitet induktiv und sucht, von einer konkreten ästhetischen Erfahrung und der aktuellen Definition der Kunst ausgehend, nach angemessenen Beurteilungskriterien. Der Kunsthistoriker seinerseits wiederum geht deduktiv vor und sucht für das analysierte Werk

Kunstkritik

18 11. Die Kunstgeschichte und ihre Nachbardisziplinen nach einem festen Platz in einem chronologisch strukturierten Ordnungs­ und Bezugssystem. Abgrenzung zur

Noch immer besteht eine pragmatische Abgrenzung der Kunstgeschichte

Kunstgeschichte

von der Kunstkritik, wobei für die Kunstgeschichte die Grenze ungefähr zwanzig bis dreißig Jahre vor der Kunst der jeweiligen Gegenwart angesetzt wird. Diese informelle Abgrenzung beinhaltet einen entscheidenden Vor­ teil, sie ermöglicht nämlich die Gewinnung einer historischen Perspektive und die Ausschaltung vieler allzu kontingenter Phänomene. Allerdings ha­ ben sich die historischen Abläufe in einer nie da gewesenen Weise beschleunigt. Die Ereignisse häufen und überschlagen sich derart, dass der für ein historisch fundiertes Urteil notwendige zeitliche Abstand kaum noch gegeben ist.

Typen der Kunstkritik

Die seit 1850 relativ stimmig beschriebene Position und AufgabensteI­ lung des Kunstkritikers - viele der Kritiker waren oder sind von ihrer profes­ sionellen Herkunft keine Kunsthistoriker - sind im letzten Vierteljahrhun­ dert in beträchtlichem Maße diffuser und vielgestaltiger geworden. Es domi­ niert nunmehr der Typus des schreibenden Galeristen, der sehr oft auch kommerzielle Interessen vertritt. Die Grenze zwischen artistischen Manifes­ ten, Statements, Katalogvorreden und kommentierender Kritik wird zwangs­ läufig immer unschärfer. In Verbindung mit dem Ausstellungsmacher und dem Kunstorganisator bildet der Kunstkritiker in der Regel einen Teil der flo­ rierenden Kunstindustrie und des Kunstmarktes. Eine neue Gruppe unter den Kunstkritikern stellen auch die Professoren für Kunstgeschichte an den Kunsthochschulen dar, die aktiv in den Kunstbetrieb eingreifen. Alle diese Faktoren haben dazu beigetragen, Kunstgeschichte und Kunstkritik einander anzunähern.

Situation des Faches

In der Zeit Winckelmanns aber auch in den Jahren 1890-1930/40 wurde die Kunstgeschichte - wenngleich gegen heftigen Widerstand der Historiker und Philologen - als eine Art Leitdisziplin der Geisteswissenschaften gehan­ delt. Diese Wertung war nie unumstritten, andere geisteswissenschaftliche Fächer warfen der Kunstgeschichte mangelnde Begrifflichkeit und methodi­ sche Durchdringung vor. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Kunst­ geschichte ihren alten Glanz eingebüßt. Ihre gegenwärtige Position im Spektrum der geisteswissenschaftlichen Fächer ist recht eigentümlich: Von der universitären, aber auch von der musealen Kunstgeschichte kommen Anregungen sowohl allgemeiner wie auch spezieller Art, doch gehört die Disziplin als Ganzes heute nicht zu der Gruppe der theoriestarken oder besonders diskursmächtigen Fächer; sie lie­ fert auch keine modischen Schlagworte. Auch die Diskussionen um den iconic turn, in den 1990er Jahren und teilweise noch heute mit besonderer

Intensität geführt, wurden von der Öffentlichkeit nur in geringem Maße mit der Kunstgeschichte in Verbindung gebracht. Die führenden Kunsthistoriker des letzten Vierteljahrhunderts und der Gegenwart sind außerhalb des Faches mit einigen Ausnahmen (so Martin Warnke, Werner Hofmann /gest. 2013/, Hans Belting, Horst Bredekamp) nur wenig bekannt. Frühere Stärke des

Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sah die Situation der Disziplin noch

Faches

anders, zweifellos auch besser aus. Um die Jahrhundertwende zehrte die Kunstgeschichte vom Ruhm der Bücher Jacob Burckhardts, die zum absolu­ ten Bildungskanon des Bürgertums gehörten. Nach 1900 begann auch die

11.

Die Kunstgeschichte und ihre Nachbardisziplinen 19

Karriere des Kenners und großen Attributionisten Bernard Berenson, dessen medialer Ruhm als Berater und Kunstagent amerikanischer Kunstsammler von keinem anderen Gelehrten und Kenner - vielleicht mit Ausnahme Wil­ helm von Bodes - erreicht wurde. Zwischen 1900 und 1945 war einigen in methodischer Hinsicht sehr fortschrittlichen Forschern wie Max Dvorak und Heinrich Wölfflin (jedoch wohlgemerkt nicht Alois Riegl) wie auch einer Reihe anregender, wenngleich eher rhetorisch begabter Kunsthistoriker, z. B. Henry Thode, Joseph Strzygowski oder Richard Muther, eine Wirkung auf das gebildete Publikum, auf die Gelehrten der mitteleuropäischen Uni­ versitäten

und

auf

die

verwandten

geisteswissenschaftlichen

Fächer

beschieden, von der heutige Kunsthistoriker nur träumen können. Die Impulse, die damals von der Kunstgeschichte auf die Nachbardisziplinen ausgingen, so die Übernahme der stilistischen Schemata durch die Kulturge­ schichtsschreibung und die Literatur- und Musikwissenschaft, die nach

1920 ungemein breite Rezeption der Kategorien von Heinrich Wölfflin, des­ sen Vorlesungen in München und Zürich auch Vertreter der intellektuellen EI ite frequentierten, und die auf den deutsch-tschechischen Kunsthistoriker Max Dvorak zurückgehende Konzeption der Kunstgeschichte als Geistesge­ schichte, scheinen nach zwei Jahrzehnten ungebrochener Popularität in den Jahren um 1940 mehr oder weniger versiegt zu sein. Einen ähnlichen Einfluss übte nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch Erwin Panofskys ikono­

Nach dem Zweiten Weltkrieg

logisches Drei-Stufen-Modell aus, doch die Rezeption von Panofsky vollzog sich in mehreren Schüben, von denen für die gebildete Welt und die Nach­ bardisziplinen erst die relativ späte Phase nach 1975/80 entscheidend war. Das Paradoxe an dieser verspäteten Breitenrezeption war die Tatsache, dass in der Kunstgeschichte selbst die Kritik an Panofsky nach 1980 sehr zunahm, ein Umstand, der exemplarisch für die Abkopplung der Breiten­ wirkung von der fachimmanenten Entwicklung stehen kann. Trotz alledem kommt der Kunstgeschichte im Gefüge der Geisteswissenschaften sowohl in ihren universitären als auch in ihren außeruniversitären Bereichen eine wichtige verbindende, mehr noch: eine ausgesprochen integrative Rolle zu. Dieses Gefüge und die bestehenden Verbindungen sollen im Weiteren erläutert werden. Dabei werden auch eine Reihe kleinerer Disziplinen besprochen, obwohl die klassischen Nachbarfächer der Kunstgeschichte, die auch in der Regel als parallele Nebenfächer an den Universitäten stu­ diert werden, schnell aufgezählt werden können: Es sind dies die klassische Archäologie, die Geschichtswissenschaft und die Literaturwissenschaft. Die Letztere steht auch, sozusagen als pars pro toto, für die bei Studenten beliebten Nebenfachverbindungen zu den einzelnen Philologien. Das Prob­ lem der Verbindungen der Kunstgeschichte zur Medienwissenschaft wird ansatzweise im letzten Kapitel angesprochen. Die Kunstgeschichte unterhält, wie jede andere geisteswissenschaftliche Disziplin, Beziehungen zur Philosophie und etwas engere zur Geschichte der Philosophie. Darüber hinaus ist sie eng mit der Ästhetik, die als eine selbständige (philosophische) Disziplin erst in der Mitte des 18. Jahrhun­ derts von Alexander Gottlieb Baumgarten begründet wurde (Aesthetica,

1750), als der philosophischen Theorie der Künste und des Schönen verbun­ den. Die Ästhetik bemüht sich auf philosophischer Grundlage um die Gewinnung einer systematisch-normativen Theorie des Schönen; erst in

Kunstgeschichte und Ästhetik

20 11. Die Kunstgeschichte und ihre Nachbardisziplinen zweiter Linie kann man bei ihr von einer angestrebten Philosophie der Kunst sprechen. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Ästhetik in beträcht­ lichem Maße aufgefächert: Sie umfasst natürlich die Theorie des Schönen, rekurriert jedoch verstärkt auf das ursprüngliche griechische Verständnis von aisthesis als eines Vorganges der Wahrnehmung. In letzter Zeit kamen noch die Felder der reellen ästhetischen Erfahrung hinzu, vor allem dasjeni­ ge der formalen Ästhetik, verstanden als eine Geschichte der Erforschung der reinen Sichtbarkeit des Bildes. In diesem Sinne zeigt die formale Ästhe­ tik gewisse Verbindungen zu einer formalistischen Kunstgeschichte a la Wölfflin. Die Ästhetik bildet in einigen Universitäten einen Teil des philoso­ phischen Curriculums; ihre institutionellen Bindungen zur Kunstgeschichte sind zurzeit aber eher loser Natur. Kunstgeschichte und

Eine weitere Neben- oder Subdisziplin der Kunstgeschichte bildet die

Denkmalpflege

Denkmalpflege, die inzwischen auch an Dutzenden von europäischen Uni­ versitäten gelehrt wird. Für die Denkmalpflege spielt die Kunstgeschichte dank ihrer Nähe zum Objekt eine sehr wichtige Rolle. Die kunsthistorische Denkmalforschung fließt zum einen in die objektbezogene Analyse und Restaurierung seitens der Denkmalpfleger ein, sie bildet zudem auch die Basis der von beiden Disziplinen getragenen Denkmalinventarisierung. Bei denkmalpflegerischen Entscheidungen sind sowohl die ästhetische wie auch die historische Sachkenntnis des Kunsthistorikers gefragt. Das denk­ malpflegerische Studium basiert in der Regel auf einer Verbindung kunsthis­ torischer Inhalte mit technischen Kenntnissen und einer mehr oder weniger gründlichen Architekturausbildung. Trotzdem ist die Zahl der in der Denk­ malpflege tätigen Kunsthistoriker ohne jegliche konservatorisch-technische Ausbildung noch immer beträchtlich; die notwendigen Kenntnisse techni­ scher Art werden durch eine Art learning by doing erworben. Die zuneh­ mende Spezialisierung wird zukünftig jedoch gewiss zu einer vertieften Technisierung und teilweisen Abspaltung der Denkmalpflege von der Kunst­ geschichte führen. In begrifflicher Hinsicht steuert die Terminologie der Denkmalpflege eine ganze Reihe von Kategorien zur Kunstgeschichte bei, so z. B. die durch Walter Frodl vorgeschlagene Triade des künstlerischen, historischen und funktionalen Wertes eines Denkmales (Frodl 1967) oder die unterschiedlichen Kategorien der Denkmalrekonstruktion (z. B. Rekon­ struktion, Restaurierung, Anastylosel. Eine wichtige Problemstellung liegt im Umgang mit der sog. Originalsubstanz, was an späterer Stelle genauer besprochen werden soll.

Museologie

Die Museologie galt lange Zeit als eine wenig bedeutende Subdisziplin der Kunstgeschichte, die in besonderen ergänzenden Studienkursen vermit­ telt wurde. In den letzten zwei Jahrzehnten ist im Gefolge des Museums­ Booms ihr Stellenwert, auch in der universitären Ausbildung, sehr gestie­ gen; gleichzeitig haben sich ihre Bande zur Kunstgeschichte gelockert. Die Fragen der Präsentation von Kunstwerken sind inzwischen größtenteils an ambitionierte Designer und Innenarchitekten delegiert worden. Das Haupt­ interesse der Museologie konzentriert sich jetzt auf die nichtkünstlerischen Einrichtungen, also auf die technischen, wissenschaftshistorischen, natur­ kundlichen Museen wie auch auf die übergeordneten didaktischen Prinzi­ pien der Exposition, die in der Regel als ein verbindliches Gesamtkonzept aufgefasst werden.

Befragt werden somit weniger die

Probleme der

11.

Die Kunstgeschichte und ihre Nachbardisziplinen 21

Zurschaustellung des Schönen als die Rolle der künstlerischen und vor allem nichtkünstlerischen Exponate im Prozess der Wissensvermittlung. Die meisten Museologen verfügen auch nicht mehr über einen kunsthistori­ schen Hintergrund. Die materiellen Artefakte sowie die frühen Bilder und Skulpturen der menschlichen Ur- und Frühgeschichte gehören zum Bereich der Forschungs­

Ur- und Frühge­ schichte

und Universitätsdisziplin der Ur- und Frühgeschichte. Die Verbindungen der Kunstgeschichte zu dieser Disziplin sind eher okkasioneller Art. Es gibt oder gab Universitäten, so in den USA oder den ehemaligen sozialistischen Staa­ ten, in denen die Kunstgeschichte beginnend mit den Malereien in den Höh­ len von Altamira oder Lascaux gelehrt wurde, wogegen selbstverständlich wenig einzuwenden ist. Inspirationen oder eine Verbindung methodischer Art zum Studium der späteren Entwicklungslinie der Kunst haben sich daraus nur in den seltensten Fällen ergeben. Es ist offensichtlich, dass wir von einer eigenständigen künstlerischen Produktion im Fall der Höhlenmalerei nicht sprechen können. Zudem gibt es auch nur kleine inhaltliche Berührungs­ punkte mit dem um 10.000 v. ehr. einsetzenden Kunstschaffen unter den Vor­ zeichen des magischen Denkens früher religiöser Riten. Die Ägyptologie und die vorderasiatische, bzw. anatolische Archäologie befassen sich u. a. mit dem ersten bewussten Kunstschaffen der Menschheit. Unabhängig davon, dass Kenntnisse in diesen Bereichen zur allgemeinen

Ägyptologie und vorderasiatische Archäologie

Bildungspflicht des Kunsthistorikers gehören, existieren hier zahlreiche Ver­ bindungslinien sowohl ikonographischer als auch formaler Art. So muss z. B. jede kunsthistorische Untersuchung künstlerischer Kanonsetzung und Kanonbeachtung mit der Rolle des Kanons in der ägyptischen Kunst begin­ nen; auch in Bezug auf die Typenforschung gibt es wichtige Verbindungsli­ nien. Einige auch später in der Kunst anzutreffende vorderorientalische Symbole, z. B. der Lebensbaum, der Adler mit der Schlange oder der Löwenbezwinger, haben in dieser Zeit ihre lang andauernde Karriere in der Ikonographie begonnen. Die klassische Archäologie war lange Zeit größtenteils nichts anderes als, um hier den Titel des zentralen Werkes von Winckelmann zu bemühen, eine Geschichte der Kunst des Altertums (Winckelmann 1764). Es gab zwar im 20. Jahrhundert keine Forscher mehr, die in Personalunion sowohl die Archäologie als auch die Kunstgeschichte zu vertreten versuchten, doch war und ist die gegenseitige Kenntnis relativ groß. Auch gab und gibt es Fäl­ le, in denen Kunsthistoriker mit ihren Forschungen bis in die Antike zurück­ gingen. So lieferte der große österreichische Kunsthistoriker Alois Riegl in seinen Untersuchungen zur spätantiken Kunst wichtige methodische Anstö­ ße für beide Disziplinen. Vor allem im Bereich der ikonographischen For­ schungen gehören Bezüge zum antiken Themenrepertoire und zur antiken Motivik - so bei den antiken Göttern, den Allegorien und Personifikationen - zum alltäglichen Arbeitsgegenstand der Kunsthistoriker. Beide Fächer sind miteinander auch durch das universitäre Lehrgebiet der sog. classical tradi­

tion verbunden. Es ist dies die Bezeichnung einer Subdisziplin, die beson­ ders in der englischsprachigen Archäologie und Kunstgeschichte benutzt wird und die als Forschungsgebiet oder als festes Lehrangebot an den Uni­ versitäten vor allem die Rezeption der klassischen Kunst und die Wirkung des Klassizismus bis in die Moderne zum Gegenstand hat. Sowohl die

Klassische Archäologie

22 11. Die Kunstgeschichte und ihre Nachbardisziplinen Kunstgeschichte wie auch die klassische Archäologie müssen sich mit rela­ tiv ähnlichen Fragestellungen auseinandersetzen; beide befassen sich sehr intensiv mit klassischen Architekturordnungen. Die klassische Archäologie endet traditionell mit dem Untergang des römischen Imperiums. Dieselbe Zäsur bildet gleichzeitig den chronologischen Anfang der Kunstgeschichte. Im universitären System wird aber die Übergangszeit vom 3. bis zum 8. Jahrhundert unter der Bezeichnung frühchristliche und byzantinische Kunst­ geschichte gelehrt und erforscht, und zwar sowohl von Wissenschaftlern an kunsthistorischen Instituten wie auch von Kirchen- und Kunsthistorikern an theologischen Fakultäten. Die klassische Archäologie umfasst aber auch die Sphäre der Grabungen und Grabungstechniken. Im Gegensatz zur universi­ tären Kunstgeschichte, in der die personellen Verbindungen zur Welt der Museen und zur Denkmalpflege sich in jüngster Zeit sehr gelockert haben, ist in der klassischen Archäologie noch immer der Idealtypus des graben­ den, entdeckenden und seine Grabungsergebnisse analytisch verwertenden, daneben aber selbstverständlich auch über andere Fragen des Faches for­ schenden und lehrenden Archäologen verbindlich.

Formanalytische Prozeduren

Andererseits ist die Zeit abzusehen, in der die Technisierung der Ausgra­ bungen und die immer stärkere naturwissenschaftliche Ausrichtung der Untersuchungen eine Zweiteilung in technisch versierte Ausgräber sowie interpretierende und auch synthetisierende Archäologen bewirken wird. Die stilistisch-formanalytischen Untersuchungen der klassischen Archäologie waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr stark an den Stilbegriffen der Kunstgeschichte orientiert. So hat man z. B. in der Zeit von 1910 bis 1960 hinsichtlich der Plastik des 2. Jahrhunderts v. Chr. gerne etwas pointiert von einem ,hellenistischen Barock' gesprochen, doch dieser besondere begriffli­ che Einfluss ist später größtenteils zurückgegangen. In einzelnen Bereichen wie der Vasenmalerei verfügen die klassischen Archäologen über ein Datie­ rungsgerüst - ein Beispiel hierfür sind die ausgezeichneten Arbeiten zur Vasenmalerei des 6. bis 4. Jahrhunderts n. Chr. des englischen Archäologen J.D. Beazley -, das relativ präzise Zuschreibungen und Datierungen, in eini­ gen Fällen sogar mit einem geringen Schwankungslimit von lediglich fünf Jahren zulässt und um das die Kunsthistoriker die klassischen Archäologen, wenn man an die beträchtlichen Datierungsprobleme im Bereich der mittel­ alterlichen Kunst denkt, wirklich beneiden können. In den formanalytischen Prozeduren treten, im Vergleich zur Kunstgeschichte, bei Skulpturen Fragen nach dem Volumen, der Pose und Ponderation stärker in den Vordergrund. Allerdings ist im Altertum die Anzahl distinkter und analytisch erfassbarer Künstlerpersönlichkeiten vergleichsweise gering. Besonders auffallend und im methodischen Sinne bedeutsam sind natür­ lich die Differenzen zwischen beiden Disziplinen im Bereich der Unter­ scheidung von Original und Kopie, bedingt durch die bis heute in all ihren Konsequenzen nicht leicht abzuschätzende Gegebenheit, dass der größte Teil der griechischen Plastiken durch römische Kopien überliefert worden ist. Auch sind die antiken Nachahmungs- und Replizierungskategorien schwerer zu erfassen und zu differenzieren als die klassische kunsthistori­ sche Trias Original - Replik - Kopie.

Ähnlichkeiten und Unterschiede

Die ikonographischen

Prozeduren der klassischen Archäologie sind

denen der Kunstgeschichte zwar ähnlich, doch sind sie später angelaufen

11. Die Kunstgeschichte und ihre Nachbardisziplinen

und haben sich nur tastend dem Einfluss von Panofsky geöffnet; auch hat die Realienkunde in der Archäologie eine viel wichtigere Bedeutung. Die Untersuchungen zur römischen politischen Ikonographie zeigen mitunter­ so bei Paul Zanker (vgl. Zanker 1987) - Ähnlichkeiten mit der Kunstge­ schichte. Doch letztlich ist es offensichtlich, dass beide Disziplinen seit der Zwischenkriegszeit immer stärker getrennte Wege gehen. Die Archäologie hat allmählich den Anspruch auf die normative Geltung der klassischen Kunst aufgegeben und ist damit vom - realiter für die Antike sowieso ahisto­ rischen - Kunstbegriff abgerückt. Die Erfassung der materiellen und kulti­ schen Kultur der Antike sowie die Rekonstruktion von Siedlungsstrukturen stehen nunmehr eindeutig im Vordergrund, und auch die sozial- und mediengeschichtlichen Fragestellungen unterscheiden sich von denen der Kunstgeschichte. Erwähnt werden soll hier noch der merkwürdige Umstand, dass die sehr stark ,archäologisierende' Methodenlehre des amerikanischen Kunsthistorikers George Kubler von den archäologischen Wissenschaften weder in den USA noch in Europa rezipiert wurde. Die in den letzten Jahrzehnten stärker hervorgetretene Archäologie des Mittelalters ist ein etwas hybrides Fach, das in seinem Kern Bauforschung

Archäologie des Mittelalters

meistens zerstörter mittelalterlicher Gebäude - was das Fach sehr stark mit der kunsthistorischen Bauforschung verbindet - wie auch mittelalterliche Siedlungsgeschichte betreibt. Kunsthistorisch relevant sind auch die For­ schungen zur mittelalterlichen Sachkultur (überwiegend Keramik). Die in den letzten Jahrzehnten hinzugekommene Technikgeschichte des Mittelal­ ters bleibt allerdings außerhalb der kunsthistorischen Interessengebiete. Viele Verbindungen bestehen zwischen der Kunstgeschichte und der Volkskunde, unter welcher hier auch die unterschiedlich definierten Diszi­

Kunstgeschichte und Volkskunde

plinen der Ethnologie und der Empirischen Kulturwissenschaft subsumiert werden sollen. Hier sind es vor allem das P roblem des sog. abgesunkenen Kulturgutes der Hochkultur sowie die Fragen nach den Adaptationsmodi der Kunstproduktion für höhere Schichten durch die Volkskunst, aber auch viele P robleme der religiösen Ikonographie, die beide Fächer miteinander verbinden. Es ist die Aufgabe der Volkskunstforschung zu klären, inwieweit die religiösen Bilder der Volkskunst als Andachts-, Meditations- und Erbau­ ungsbilder, als Gnaden-, aber auch als Wunderbilder fungierten. Die Volks­ kunstforschung untersucht zudem auch die Rolle der Bilder als Amulett, Talisman, Fetisch, Idol oder kommunikatives Zeichen, als Rechts-, Macht­ und Herrschaftsmittel, womit ein großer Bereich von Gemeinsamkeiten mit der Kunstgeschichte umrissen wird. Bei den in Frankreich durch die sog.

Schule der Annales in den 1970er Jahren beförderten Untersuchungen der Volksfrömmigkeit wurde besonders der verbindende Bereich zwischen der Volkskunst und den populären Varianten der religiösen Hochkunst neu interpretiert. Die Kunstgeschichte und die Volkskunstforschung haben aber noch immer keine überzeugende Analyse der gegenseitigen Bezüge von Volks­ kunst und Kitsch vorgelegt, so auch im Hinblick auf die wichtige Rolle der Scharnierzeit von 1800-1850, in der die große Linie der Volkskunst endete und die Karriere des Kitsches als Massenprodukt begann. Während für die Übernahme von Elementen der Hochkultur durch die Volkskunst das Kon­ zept des abgesunkenen Kulturgutes noch immer gültig erscheint, wäre es

Volkskunst und Kitsch

23

24 11. Die Kunstgeschichte und ihre Nachbardisziplinen für die anderen Kulturgüter ein Irrtum zu glauben, dass es eine bestimmte Regel für Niveauverschiebungen innerhalb des ganzen Universum von Kul­ turprodukten gäbe. Hier bleibt es bei der übrigens auch für das eigene Feld der Kunstgeschichte relevanten Feststellung, dass Funktionsänderungen und Ritualisierung sowie die Nachahmung eines angestrebten, da erfolgreichen Vorbildes die eigentlichen Triebfedern des kulturellen Wandels sind. Filmbild und cadrage

Über die Berührungspunkte der Kunstgeschichte mit der Film- und Theaterwissenschaft sei hier in relativ kurzer Form berichtet. Mit der Filmwissen­ schaft bestehen, trotz gelegentlicher Beiträge eminent wichtiger Kunsthisto­ riker wie Erwin Panofsky, nicht allzu viele Überschneidungen in den Forschungsfeldern und analytischen Begriffen. Genauso wie die Kunstge­ schichte bis heute nicht über eine allgemein akzeptierte Definition des Bild­ zeichens verfügt, besitzt die Filmwissenschaft keine allgemeingültige Defi­ nition des sog. Filmbildes. Einige Kunsthistoriker benutzen für die Bezeich­ nung eines Bildausschnittes sogar den filmischen Begriff der cadrage (die eindeutschende Übersetzung als Kadrage hat sich nicht durchgesetzt). Mit dem zweidimensionalen Tafelbild verbinden die Filmbilder gemeinsame Konstruktionsprinzipien und Fragen nach der Rahmung der einzelnen Ein­ stellungen, dies ungeachtet des Umstandes, dass die Filmwahrnehmung, wie man weiß, keine statischen Einzelbilder kennt. Ein weiteres verbinden­ des Element besteht in den Problemen der räumlichen Repräsentationsmo­ delle, vor allem demjenigen der Projektion dreidimensionaler Körper auf eine zweidimensionale Fläche, denn mit den Regeln der geometrischen Projektion lassen sich sowohl im Film als auch im Tafelbild verwandte Effek­ te erzielen. Der Umstand, dass die sog. film stil/sI die ja, was nicht immer erkannt wird, keine Aufnahmen des Filmes selber, sondern zu Reklame­ zwecken speziell angefertigte Standphotos sind, ein Bindeglied zwischen Photographie und Film darstellen, hat bisher erstaunlicherweise nur eine geringe analytische und komparatistische Beachtung seitens beider Fächer gefunden. Auch die sich noch entwickelnde Video-Kunst hat bisher nicht zu der Entstehung eines die Filmwissenschaft mit der Kunstgeschichte verbin­ denden methodischen Instrumentariums geführt. Allerdings werden durch Kunsthistoriker manchmal die Avantgardefilme der Zwischenkriegszeit, Filmdekorationen - so die des deutschen expressionistischen Filmes - oder solche besonderen Verbindungen von Bild und Filmbild, wie sie in den Filmen des Peter Greenaway bestehen, analysiert.

Gestik und

Dagegen haben sich durch die Forschungspraxis beider Disziplinen in

lebende Bilder

den letzten zwei Jahrzehnten einige interessante Verbindungen zwischen der Theaterwissenschaft und der Kunstgeschichte ergeben. Abgesehen davon, dass sich die Kunstgeschichte traditionell für die Szenographie inte­ ressiert, betreffen diese Verbindungen vor allem die Probleme der für beide Gattungen in der Zeit um 1800 wichtigen tableaux vivants (lebende Bilder) wie auch die komparatistische Analyse der Gestik im Theater und in der Historienmalerei im 18. und 19. Jahrhundert. In letzter Zeit hat sich auch das Interesse der Kunstgeschichte den Problemen der bildlichen Überliefe­ rung von Theateraufführungen zugewandt.

Literaturwissenschaft

In begrifflicher Hinsicht bildet die Literaturwissenschaft die vielleicht nächste geisteswissenschaftliche Nachbardisziplin der Kunstgeschichte, auch wenn Bilder und Worte, Kunst- und Sprachsysteme durch einen funda-

11. Die Kunstgeschichte und ihre Nachbardisziplinen

mentalen, in einem gewissen Sinne unüberbrückbaren Unterschied vonei­ nander getrennt sind. Die Kunstgeschichte teilt mit dieser Disziplin die kunst­ geschichtlich geprägten Stilbegriffsbezeichnungen: Es waren dies graduelle Adaptationen und Übernahmen, die vor allem zwischen 1920 und 1980 statt­ gefunden haben und deren Höhepunkt inzwischen wohl überschritten wor­ den ist. 1939 bedauerte der bekannte Germanist Emil Staiger nachdrücklich die Tatsache, dass es noch immer keine überzeugende Stilgeschichte der Lite­ ratur und somit keinen literaturwissenschaftlichen Heinrich Wölfflin geben würde. In den siebzig Jahren nach Staigers Wortmeldung hat der Prozess der Adaptation von Stilbegriffen als Ordnungskriterien die meisten großen, mehr­ bändigen Geschichten der einzelnen Nationalliteraturen erfasst. Viele wichtige literaturwissenschaftliche Termini wurden entweder von beiden Disziplinen schon früher gemeinsam benutzt (z. B. Allegorie, Sym­

Gemeinsame Begrifflichkeit

bol) oder in einem graduellen, in den 1950er Jahren beginnenden Prozess von der Kunstgeschichte übernommen (Metapher, Metonymie, in jüngerer Zeit mise en ab/me und Intertextualität). Die seit den 1940er Jahren bis in die 1970er Jahre dominierende Schule des New Criticism hat - durch ihre Präokkupation mit Begriffen wie imagery, structure, technique, great meta­ phor - auch dazu beigetragen, dass die Verbindungen zur Kunstgeschichte nicht abgerissen sind. Es gibt weitere wichtige Bereiche, in denen der Kunst­ geschichte ein Import oder Transfer literaturwissenschaftlicher Termini sehr nützen könnte, so z. B. im Bereich der mit satirischen Verfremdungstechni­ ken zusammenhängenden Begriffe, und auch hinsichtlich der Subdisziplin der Komparatistik eröffnen sich Anknüpfungspunkte. In der Tat treten die meisten traditionellen Richtungen der Literaturwissenschaft in verschiede­ nen Ausprägungen auch in der Kunstgeschichte auf. Und schließlich verbin­ den die Probleme von Stoff und Inhalt sowie die sog. Motivkunde beide Disziplinen auf besonders enge Weise. Die Kunstgeschichte ist eine historische Wissenschaft; im 17., 18. und 19. Jahrhundert ist sie auch in weiten Teilen aus der frühen Geschichtswis­ senschaft hervorgegangen und hat sich lange Zeit ihrer Methoden bedient.

Kunstgeschichte und Geschichtswissen­ schaft

Der große Künstlerbiograph Giorgio Vasari hat in seinen Lebensläufen ita­ lienischer Künstler als Grundlage das biologistische Entwicklungsschema gewählt, das auch den historischen Narrationen seiner Zeit zugrunde lag. Auch Winckelmann übernahm das biologistische Geschichtsschema und ergänzte es durch ein weiteres, der Geschichtswissenschaft entlehntes Modell, nämlich durch die geographische Milieutheorie. In der ersten Hälf­ te des 19. Jahrhunderts vertrat der bedeutende Kunsthistoriker earl Schnaa­ se die Hegel'sche Geschichtskonzeption des "Weltgeistes"; in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hat der große Schweizer Jacob Burckhardt in glän­ zender Weise beide Fächer miteinander verbunden. Im 19. Jahrhundert kam es auf der Basis der Quellenkritik und eines positivistisch geprägten Primates archivalischer Forschung zur vielleicht engsten Verbindung beider Disziplinen. Diese Verbindung, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts etwas in den Hintergrund getreten ist, bleibt trotzdem noch immer für die Kunst­ geschichte von fundamentaler Bedeutung. Für das 19. Jahrhundert bildete die Historizität des Kunstwerkes eine ent­ scheidende Prämisse seiner kunsthistorischen Einordnung und Würdigung. Seit den 1850er Jahren konstituierte die jeweilige Nationalgeschichte eine

Historizität des Kunstwerkes

25

26 11. Die Kunstgeschichte und ihre Nachbardisziplinen zentrale Grundlage für die Arbeit des Kunsthistorikers. Die historische Bio­ graphistik beeinflusste wichtige frühe kunsthistorische Biographien, bei­ spielsweise diejenige von earl Justi über Velazquez. Einfluss der Annales

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte die nunmehr betont forma­ listische Ausrichtung der Kunstgeschichte eine Lockerung der gegenseitigen Beziehungen zur Folge. Auch die Geschichtswissenschaft ließ damals Bild­ quellen weitgehend außer Acht oder benutzte sie in einer rein illustrativen Weise. Eine Wende brachte nach 1945 der Einfluss der französischen Histo­ riker-Schule der Annales, welche die Position einer interdisziplinären Geschichtswissenschaft in Verbindung mit einer historischen Anthropologie vertrat. So gewannen bei den französischen Historikern die Werke und Pro­ zeduren der Kunst nunmehr den Status von explizierenden Zeichensyste­ men grundsätzlicher historischer Prozesse.

Konstruierte

Inzwischen ist der Ansatz der Annales-Schule beinahe zu einem Gemein­

Geschichtsbilder

platz historischer Forschung geworden. Eine tiefgreifende Wendung in der Geschichtswissenschaft hat in den letzten zwei Jahrzehnten zu einer bei­ spiellosen Intensivierung der Verbindungen zwischen beiden Disziplinen geführt, so wie sie sich in anschaulicher Weise im Thema des Deutschen Historikertages von 2006 in Konstanz, "Geschichtsbilder", niedergeschla­ gen hat. Die Historiker begreifen Bilder nicht mehr allein als illustrierende Beiwerke, sondern als eigenständige Dokumente geschichtlicher Einstellun­ gen und Sehweisen. Der immer größere Einfluss von Bildern und Photogra­ phien auf politische Ereignisse hat zum Versuch einer Rückprojizierung die­ ser Prozesse auf die geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen des historischen und nationalen Bewusstseins geführt. Einerseits bestimmt die Bildproduktion vergangener Zeiten die Art und Weise, in welcher sie von uns als Gegenstand historischen Wissens angeeignet werden, andererseits untersucht die Geschichtswissenschaft die Macht der Bilder als Zeugen ihrer Zeit. Den entscheidenden Schritt bildete für die Geschichtswissen­ schaft die Abkehr von rein fachspezifischen Untersuchungen zu Form und Sprache von Propagandakunst und die rezente Etablierung des Begriffes der "visuellen geschichtlichen Konstruktion" (vgl. Paul 2006) als eines bewuss­ ten, geschichtskreierenden Aktes durch die Verwendung von Bildern.

Politische

In gewissem Sinne geht der Begriff der visuellen Konstruktion auf den

Ikonographie

Ansatz Michel Foucaults zurück, gesellschaftliche Wirklichkeiten als Kon­ strukte eines Geflechts von Wirklichkeitsinterpretationen aufzufassen (vgl. Foucault 1973, 1974). Auch die nach 1980 erfolgte Herausbildung einer Sub­ disziplin der Politischen Ikonographie weist in diese Richtung. In den letzten zwei Jahrzehnten ist vor allem das komplexe Verhältnis von Kriegserfahrung, Medialität und Kunst zum Reflexionsfeld einer die Disziplingrenzen über­ schreitenden Imagologie geworden, in der die Kunsthistoriker sehr stark ver­ treten sind. Bilder bilden zwar nie direkt die Realität ab, vermitteln aber wich­ tige und einleuchtende Zugänge zu zeitgenössischen Sichtweisen.

Das Kunstwerk

Die Realität aller Kunst ist jedoch transitorisch und fluktuierend. Mit sehr

in der Geschichte

treffenden Worten sind die Paradoxien der Geschichtlichkeit der Kunst vom Historiker und Kunsthistoriker Bernd Roeck charakterisiert worden: Damit wird ein Problem grundsätzlicher Natur angesprochen: Ist das Kunstwerk als Kunstwerk nicht wesensgemäß der Zeit enthoben? Oder ist

11. Die Kunstgeschichte und ihre Nachbardisziplinen

das Transitorische - das mit dem Historischen gleichgesetzt werden kann, sich aber definitionsgemäß der Fixierung entzieht - wesentliches Merkmal von Kunst bis heute? Ist das eben deshalb der Fall, weil sich das Kunstwerk nicht absolut, sondern nur in der Wahrnehmung realisiert - oder besser, in Wahrnehmungen, die ihrerseits historisch konditioniert sind? Ist nicht sein Sein ein dauerndes "Werden", also ein historischer Prozeß? Die Historisierung des Kunstwerks wird eine paradoxe Folge haben: Das eiserne Band, von dem Werk und Autor umschlossen sind, lockert sich, schließlich wird es aufgesprengt. Die Rezipienten treten in den Kreis derer ein, die dem Kunstwerk zu Wirklichkeit verhelfen und bestimmen, was es aussagt; ja selbst was seine Schönheit ausmacht. (Roeck 2004, 101) Diese Darstellung verweist bereits auf einige Erwägungen zur Methode der Kunstgeschichte, die in den folgenden, der künstlerischen Form gewidme­ ten Kapiteln erläutert werden.

27

111. Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis

zum 20. Jahrhundert Die folgende Übersicht über die Entwicklung der Kunstgeschichte als einer Wissens- und Wissenschaftsdisziplin versucht, aus dem Schrifttum zur Kunst wie auch aus den zahlreichen kunsttheoretischen Stellungnahmen das im entwicklungsgeschichtlichen Sinne eigentlich kunsthistorische Element he­ rauszuarbeiten. Dies bedeutet die Ausblendung des überwiegenden Teiles der Kunsttheorie, die eine separate Darstellung verdienen würde. Ich werde die Übersicht an einer Stelle beenden - nämlich an der Epochengrenze um und nach 1900 - , an der die Entwicklung der Methoden der Disziplin in das heute noch relevante, breite Methodenspektrum mündete. Künstlerbiographien

Die entfernte Traditionslinie der Kunstgeschichte reicht bis in die Künst­

der Antike

lerhistoriographie der Antike zurück. Zu den wichtigeren Historiographen gehörte Xenokrates aus Sikion (3. Jahrhundert v. ehr.), bei dem schon das für die Kunstgeschichte später leitmotivische Thema der allmählichen Ent­ stehung des Instrumentariums der Künste, was ihre Techniken und Materia­ lien betrifft, zu finden ist. Xenokrates ordnete große Künstlerpersönlichkei­ ten wie Phidias, Polyklet, Myron und Lysipp in eine Art von Entwicklungs­ reihe ein und versuchte, einzelne Künstler mit besonders hervorgehobenen Eigenschaften zu verbinden, so z. B. den großen Maler Apelles mit der Kategorie der Grazie. Duris aus Samos (340-260 v. ehr.) war wiederum der erste Kunstschriftsteller, der später immer wieder benutzte biographi­ sche Topoi wie denjenigen der zufälligen Entdeckung der Talente eines jungen Künstlers durch einen älteren Meister vortrug. Die beschreibende Reiseliteratur der Antike hat uns viele Informationen über Kunstwerke hin­ terlassen. Die Beschreibungen des Pausanias (um 115-180 n. ehr.) bilden bis heute eine sehr wichtige Informationsquelle über die Hauptwerke der antiken Kunst, doch erfolgt die Beschreibung in der Regel ohne Verbin­ dung zu Ideen und Begriffen. Diese Feststellung hat auch für die als selb­ ständige literarische Form hervorgetretene Werkbeschreibung (ekphrasis) Gültigkeit, als deren berühmtester Vertreter Philostrat der Ältere (2./3. Jahr­ hundert n. ehr.) zu nennen ist.

Mittelalter

Das Mittelalter hinterließ eine Anzahl von Zeugnissen dokumentarischer Art über Künstler und deren Werke. Dies gilt vor allem für den Kirchenbau und einzelne Elemente der Kirchenausstattung (so Altäre und Reliquien­ schreine); trotzdem lassen sich für diese Epoche historische oder wertende Ansätze wie auch eine eigenständige Entwicklungsperspektive noch nicht finden. Neu dazu kamen Rezeptbücher in der Art von Theophilus' Schrift

Oe diversis artibus (um 1100) oder Regelbücher wie das Skizzenbuch Livre de pourtraicture (um 1235) des französischen Architekten Vi Ilard de Honne-

111. Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis zum 20. Jahrhundert

court. Nur in der Beschreibung des alten Zustandes der Kathedrale in Can­ terbury und ihrer nach dem vernichtenden Brand von 1174 neu errichteten Teile (Chronik des Gervasius von Canterbury, 1210) kam es zu einem instruktiven, die stilistische Ebene bemühenden Vergleich, der natürlich implizit auch das Problem der Kunstentwicklung tangierte. Der Streit um die Rechtmäßigkeit der Bilder im frühen Christentum und

Bilderfrage

in Byzanz, die sog. Bilderfrage, hatte für die Kunsttheorie und das begriffli­ che

Denken

der

Kunstgeschichte

erstaunlich

wenige

Konsequenzen,

obwohl in seinen Argumentationslinien nicht nur theologische, sondern auch historische und ikonographische Stränge (z. B. in den Libri Carolini, 794) auftraten. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein blieb er, ähnlich wie die Bilderfrage der Hussiten- und Reformationszeit, eine Domäne der Kirchen­ geschichte und der allgemeinen Geschichte. Das nach 1945 und in größe­ rem Maße eigentlich erst nach 1970 erwachte Interesse der Disziplin an der Bilderfrage, an den mit ihr verbundenen Bilderstürmen und dem Phänomen der religiösen Bildlosigkeit (Anikonismus) speiste sich aus der nunmehrigen Hinwendung des Faches zur Analyse von Bild-, Symbol- und Repräsentati­ onsbegriffen, aber auch aus den neuen kulturhistorischen Sichtweisen, die sich mit besonderem Nachdruck für Kulturbrüche und das Auswechseln von Zeichensystemen interessieren. Die antike Biographistik lebte in einer veränderten Form im Florenz des endenden 14. Jahrhunderts bei Filippo Villani in Oe origine civitatis Floren­

Künstlerschrifttum der Frührenaissance

tiae, 1381-1382 (Florenz 1847) wieder auf; auch der Giotto-Mythos ver­ dankt diesem Florentiner Chronisten seine Initialzündung: Die historische Entwicklung der Florentiner Malerei wurde in Folge prononciert giottozen­ trisch gesehen. Giottos Vorgänger (z. B. Cimabue) und seine Schüler (Maso, Stefano, Taddeo) wurden, wie Michael Baxandall treffend beobachtet hat, gemäß der Formel: Prophet - Erlöser - Apostel aufgefasst. Weitere wichtige Künstlerviten verdanken wir Lorenzo Ghiberti (1378-1455), der in seinem Werk eine Kombination diverser Elemente unternimmt: Daher finden wir in den Commentarii, die zwischen 1452 und 1455 geschrieben wurden (erste Ausgabe Berlin 1912), eine historische Übersicht der Kunstentwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, aber auch eine Autobiographie. Seine Kennt­ nis der Antike basiert auf den Traktaten von Vitruv und den Schriften PI inius' des Älteren. Das Ende der antiken Kunst führt er auf den Triumph des Chris­ tentums zurück, bei der Darstellung des Mittelalters ist durch ihn in bewun­ dernswerter Weise auch die arabische und lateinische Literatur zur Optik berücksichtigt worden. Obwohl er die Rolle von Giotto bei der Geburt der neuzeitlichen Kunst hervorhob, neigte der Florentiner Ghiberti aufgrund persönlicher Präferenzen eher zur sienesischen Malerei. Damit zeichnete sich der - zwar noch ferne - Augenblick ab, in welchem die kunstgeschicht­ liche Werteskala die Beschränkungen lokalpatriotischer Wertungen über­ winden würde. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstanden sowohl in Italien als auch in den Niederlanden und Deutschland eine ganze Reihe von biographischen Kompendien, die auch Lebensläufe von Künstlern und vereinzelte Berichte über ihre Werke ent­ hielten (Bartolomeo Fazio, Oe viris illustribus, 1456, Florenz 1745; Chri­ stian Scheurl, Libellus de laudibus Germaniae et Oucum Saxoniae, 1506,

Künstlerbiographien um 1500

29

30 111. Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis zum 20. Jahrhundert Bologna 1506; Marcantonio Michiel, Notizie d'opere di disegno, 1521-1543, Wien 1875; Johann Neudörffer, Nachrichten von Künstlern und Werkmeistern von Nürnberg, 1547; Jean Lemaire, Couronne margu­ eritique, 1510, Lyon 1549). Ihr Informations- und Reflexionsgehalt war zwar von unterschiedlichem Gewicht und unterschiedlicher Präzision, sie haben aber insgesamt die Kenntnis des künstlerischen Lebens beträchtlich erweitert. Vasari - Vater der

Dieser Strang der Kunsthistoriographie fand seine Krönung in den

Kunstgeschichte

berühmten Künstlerbiographien (Vite de' piu eccellenti pittori, scultori et architettori, Florenz 1550, 1568) des bedeutenden italienischen Malers und

herausragenden Kunstorganisators Giorgio Vasari aus Arezzo (1511-1574). In vielen Darstellungen wird Vasari als Vater der Kunstgeschichte bezeich­ net, was sowohl als Anerkennung des dokumentarischen Wertes des ganzen Werkes wie auch als Würdigung der darüber hinausgehenden Absichten Vasaris aufzufassen ist. Seine Viten sind in der Tat nichts weniger als das Gründungswerk einer stilkritischen Kunstgeschichte, die ansatzweise auch schon eine theorie- und problembewusste Seite offenbart: Als ich zuerst unternahm, diese Lebensbeschreibungen aufzuzeichnen, war es nicht meine Absicht, ein Verzeichnis der Künstler und so zu sagen ein Inventarium ihrer Arbeiten zu geben, noch hielt ich es je für ein würdi­ ges Ziel meiner, ich weiß nicht ob erfreuenden, doch sicher langwierigen und mühevollen Bestrebungen, ihre Zahl, ihre Namen und ihr Geburts­ land aufzusuchen und nachzuweisen, in welcher Stadt und an welchen Orten sich nunmehr Malereien, Bildhauer-Arbeiten und Bauwerke von ihnen finden. Dies hätte ich auf einer einfachen Tabelle zeigen können, ohne mein Urteil irgend einzumischen; ich erkannte aber, daß die Schrift­ steller, welche uns die Weltgeschichte erzählen, solche nämlich, die nach allgemeinem Urteil mit richtiger Einsicht geschrieben haben, sich nicht be­ gnügten, nur schlicht die vorgefallenen Begebenheiten aufzuzählen, son­ dern daß sie mit allem Fleiß und Eifer erforschten, welche Mittel und Wege von ruhmreichen Männern bei ihren Unternehmungen gewählt worden sind. Diese Schriftsteller erkannten, die Geschichte sey fürwahr der Spie­ gel des menschlichen Lebens; das heißt nicht die trockene Erzählung der Begegnisse eines Fürsten oder einer Republik. Da ich es nun unternommen, die Lebensbeschreibungen der edlen Meister unseres Berufes aufzuzeichnen, um dadurch nach Kräften den Künsten zu nutzen und sie zu ehren, habe ich gesucht, so viel ich konnte, die Weise jener vorzüglichen Schriftsteller nachzuahmen, habe es mir angelegen sein lassen, nicht nur zu sagen, was gearbeitet und vollbracht worden ist, sondern auch das Bessere vom Guten, das Ausgezeichnete vom Vorzügli­ chen zu scheiden und mit einiger Sorgfalt die Auffassungs-, Darstellungs­ und Behandlungsart, so wie die Erfindungen und Phantasien der Maler und Bildhauer zu bezeichnen, indem ich nach bestem Vermögen forschte, um denen, welche dies nicht für sich vermögen, Veranlassung und Quelle der mancherlei Methoden, so wie des Aufblühens und Sinkens der Künste in verschiedenen Zeiten und durch verschiedene Personen nachzuweisen. (Vasari, übersetzt von Ludwig 1837, Bd. 2, 3-4)

111. Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis zum 20. Jahrhundert

Die erste Ausgabe des Werkes (1550) umfasste die Biographien verstorbener

Zwei Ausgaben der

italienischer Künstler, mit der bezeichnenden Ausnahme des von Vasari

Vite

besonders verehrten Michelangelo. Die 1568 erschienene zweite Auflage wurde - Michelangelo war inzwischen verstorben - um weitere Biogra­ phien lebender Künstler, inklusive einer Autobiographie des Verfassers, erweitert; auch wurden nunmehr die einzelnen Biographien mit recht einfa­ chen Holzschnittbildnissen der Künstler ausgestattet. Die in jüngster Zeit von einigen Cinquecento-Forschern deutlich artikulierte Skepsis bezüglich der Autorschaft Vasaris in den veränderten Partien der zweiten Auflage geht meines Erachtens vielleicht zu weit, auch wenn es offensichtlich ist, dass wir längst nicht alle Quellen, aus denen er schöpfte, oder Personen, die ihm zuarbeiteten, identifizieren können. Dass Vasari Ghibertis Leistungen als Künstlerchronist ausdrücklich kritisierte, gehörte, trotz des vordergründig negativen Kontextes, zu den unabdingbaren Voraussetzungen für die Entste­ hung einer kritischen wissenschaftshistorischen Traditionslinie. Vasari betonte sehr deutlich seine Absicht, relative und nicht absolute Werturteile abzugeben. Die Entwicklung der Kunst sah er im Rhythmus von

Dialektik der Kunstregeln

Anfang, Blüte, Verfall und Neubeginn. Dieses Entwicklungsschema, das dem System der großen Kunststile nahe kommt, bildet den zentralen Angel­ punkt aller seiner künstlerbiographischen Darlegungen. Vasari wollte wis­ sen, warum und auf welche Weise neue Stile und Strömungen entstehen. Neben dem absoluten Maßstab, der perfetta rego/a del/'arte, kannte er ein relatives Kriterium, das auch als Korrektiv fungierte, nämlich die qua/ita de' tempi. Somit glaubte Vasari sowohl an die Gültigkeit artistischer Regeln

und Grundsätze wie auch an die Sinn stiftende Macht der Regelübertretung. Die oben angeführten Worte aus seiner Vorrede zum zweiten Teil der Vite lassen sich ohne weiteres als ein allgemein gültiges Manifest zu den

Grundlagen der Kunstgeschichte auffassen. Selbstverständlich war Vasari dem Druck der politischen und kulturellen Umstände in Italien um die Mit­ te des 16. Jahrhunderts ausgesetzt; seine Abhängigkeit von den Medici und sein florentinischer Patriotismus sind für manche eindeutig unausgewoge­ nen und subjektiven Urteile, aber auch für manche Lücken und Unterlas­ sungen verantwortlich. Trotzdem hinterließ er ein Werk, ohne das die heuti­ ge Kunstgeschichtsschreibung in für sie zentralen Bereichen schwerlich vor­ stellbar wäre. Die Traditionslinie Vasaris setzte der niederländische Maler Carel van

Carel van Mander

Mander in seinem Het Schilderboeck (Haarlem 1604) fort. Van Mander ver­ danken wir unter anderem unsere Kenntnisse der wichtigsten Fakten aus dem Leben Pieter Bruegels des Älteren; sein Buch umfasst auch ein Lehrge­ dicht und ein kurzes ikonographisches Traktat. Im Vergleich zu Vasari hat van Mander relativ wenige Kunstwerke beschrieben, auch lässt sich seine Kenntnis des Gegenstandes nicht mit der von Vasari vergleichen. Dass er nicht so subjektiv wie Vasari vorgeht, fällt angesichts des Qualitätsunter­ schiedes im Informationsgehalt und in der Anwendung ästhetischer Krite­ rien weniger ins Gewicht. Das besondere Genre der Künstlerbiographien erlebte im 17. Jahrhundert und im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts eine besondere Blüte, bei der natürlich das Vorbild von Vasari eine wichtige Rolle spielte. Für Holland lie­ ferte Arnold Houbraken (Oe Groote Schouburg der Neder/antsche Konst-

Künstlerbiographien des Barock

31

32

111.

Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis zum 20. Jahrhundert schilders en Schilderessen, Amsterdam 1718-1720) eine wichtige, informa­

tions- und anekdotenreiche Zusammenfassung des künstlerischen Lebens im sog. Goldenen Zeitalter der holländischen Malerei. Houbraken verstand sein Werk als Fortsetzung des van Mander'schen Kompendiums. Er benutzte eine Vielzahl von Quellen, darunter persönliche Mitteilungen und Tagebü­ cher. Nicht alle seiner zahlreichen Künstleranekdoten, welche die theatrali­ sche Metapher des Titels glänzend bestätigen, dürfen für sich eine besonde­ re Wahrhaftigkeit und Plausibilität beanspruchen, auch wenn früher die Kunstgeschichtsschreibung, so vor allem die des endenden 19. Jahrhun­ derts, sehr gerne auf sie rekurrierte. Für die deutsche Kunst muss hier unbe­ dingt die groß angelegte Teutsche Academie des reformierten süddeutschen Malers Joachim von Sandrart (Nürnberg 1675) erwähnt werden. Für den spanischen Raum sollte respektive das EI museo pictorico des Antonio Palomino de Castro (1715-1724), der die Künstler nach Inhalten und Gattungen gruppierte (Stilllebenmaler, Bildnismaler, Blumenmaler, etc.), hervorgehoben werden.

Bellori und das Qualitätskriterium

Den hier umrissenen Rahmen relativ konventioneller - falls man so die Nachfolge Vasaris bezeichnen kann - Künstlerbiographien sprengen die Publikationen des römischen Kunstkenners und Archäologen Giovanni Pie­ tro Bellori, vor allem seine Vite de' Pittori, Scultori et Architetti (Rom 1672). Zum ersten Mal wurde hier mit aller Deutlichkeit die Notwendigkeit betont, eine Auswahl von Künstlern nach Qualitätsprinzipien zu treffen; viel stärker als bei Vasari trat bei Bellori das grundsätzlich Subjektive des ästhetischen Werturteils in Erscheinung. Die zwölf Biographien sollten zwar die wich­ tigsten künstlerischen und thematischen Bereiche der damaligen Kunstent­ wicklung vertreten, doch am Ende wählte Bellori, mit Ausnahme von Rubens und Caravaggio, lauter Vertreter der klassizisierenden Variante des Barock, Bernini wurde hingegen nicht einmal erwähnt. Es kann deswegen nicht überraschen, dass für Bellori die griechische Kunst den absoluten Höhepunkt der Kunstentwicklung darstellte.

Baldinucci und die Graphikkompendien

Die Begrenzungen Belloris überwand sein Zeitgenosse Filippo Baldinuc­ ci, der Biographien oder biographische Skizzen sowohl über Bernini wie auch den damals als Maler ,niederer Schichten' kritisierten Rembrandt ver­ fasste. Mit dem Vocabolario toscano delle arti dei disegno (Florenz 1681) hat Baldinucci das erste begrifflich prozedierende kunsttheoretische Wör­ terbuch der Kunstgeschichte geschaffen. Als Erster unter den Kunstschrift­ stellern hatte sich Baldinucci auch der Geschichte der Graphik zugewandt (Cominciamento e progresso deli'arte dell'intagliare in rame,

Florenz

1686). Dieses neue Aufgabenfeld wurde im 18. Jahrhundert, der Epoche der großen Graphiksammler, durch Pierre Jean Mariette (1741) und Dezailler d' Argenville (1745-1752) weitergeführt. Der Wiener Sammler und Gelehrte Johann Adam Bartsch hat schließlich schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seinem vielbändigen Le Peintre Graveur (1803-1821) ein grundlegendes, bis heute benutztes Kompendium der Graphik geschaffen, das einen End­ punkt dieses besonderen kennerschaftl ichen Stranges bi Idet.

Akademische Theorie in Frankreich

In der Mitte des 17. Jahrhunderts begann der schnelle Aufstieg Frank­ reichs zur führenden künstlerischen Macht in Europa. Die Initialzündung lieferte, ausgerechnet im Revolutionsjahr 1648, die Etablierung der Acade­ mie Royale de Peinture et de Sculpture. Als Teil der der Akademie durch

111. Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis zum 20. Jahrhundert

den Staat verordneten T ätigkeiten und Diskussionen entstand dort das Gen­ re der vertieften Bildanalyse, so z.B. in der berühmten Conference des CharIes Le Brun über Poussins Mannalese (1667), einer Analyse, die nicht nur kunsttheoretisch und kunstkritisch ausgerichtet war, sondern durch Ver­ gleiche mit der italienischen Kunst auch viele relevante wertende Aspekte beinhaltete. Der französische Kunstschriftsteller und Theoretiker Roger de Piles, ein erbitterter Gegner Le Bruns und Befürworter des Kolorismus, unternahm in seiner Schrift Cours de peinture par principes (paris 1708) den Versuch einer Übersicht großer Maler, indem er eine Art Tabellensystem schuf (bezeichnet als La Balance des peintres) den Versuch einer Übersicht großer Maler, indem er eine Art Tabellensystem schuf und einzelne Künstler, vor allem solche aus der Renaissance und dem Frühbarock, nach ausge­ wählten begrifflichen Kategorien (so u.a. Farbe, Zeichnung, Ausdruck) beur­ teilte. De Piles legte auch künstlerbiographische Kompendien vor, in denen er vor allem die Bedeutung von Rubens und seiner Schule hervorhob. Ein weiterer wichtiger französischer Kunsthistoriograph war Andre Feli­

Andre Felibien

bien, der zeitweilig als Sekretär der Academie fungierte und ab 1659 an sei­ nem Hauptwerk, den Entretiens sur les vies et les ouvrages des plus excel­ lents peintres anciens et modernes (1660-1688), arbeitete. Obwohl er selbst

dem Primat des zeichnerischen Klassizismus huldigte und besonders Pous­ sin verehrte, bot er in seinem mehrbändigen Werk eine breite und beileibe nicht immer nur kompilatorische Übersicht der französischen und europä­ ischen Kunstentwicklung im 16. und vor allem im 17. Jahrhundert. Felibien kann man zu Recht als den ersten wirklichen Historiographen der bilden­ den Kunst in Frankreich bezeichnen. Er berief sich auf damals entlegene Bereiche, so auf die gotischen Zeichnungen des Villard de Honnecourt wie auch auf den französischen Manierismus der Schule von Fontainebleau. Ein Bekannter von Felibien, der französische Hofmaler Pierre Monier, ver­

Begriffsprägung

wandte als Erster im Jahre 1698 einen Begriff, der den späteren Namen der Wissenschaftsdisziplin der Kunstgeschichte vorwegnahm (Histoire des arts qui ont rapport au dessin, Paris 1698). Der in einer ähnlichen Weise wirksa­

me und wichtige Begriff der Kunstkritik tauchte zwanzig Jahre später bei den Engländern Jonathan Richardson dem Älteren und Jüngeren auf (An Essay on the whole Art of Criticism, London 1719).

Vasari legte die faktographischen und gedanklichen Fundamente der Kunstgeschichte im Bereich der Künstlerhistoriographie. In der Mitte des 18. Jahrhunderts kam es zu einer weiteren grundlegenden Umwälzung: Die Kunstgeschichte

trat

nunmehr

als

betont

eigenständige,

methodische

Ansprüche vertretende Disziplin auf den Plan. Der wichtige Teilbereich der Ikonographie wurde durch Lessings Schrift Wie die Alten den Tod gebildet (Berlin 1769) begründet. Entscheidende Weichenstellungen verdankt die Kunstkritik den in den 1760er und 1770er Jahren verfassten Rezensionen von Pariser Salonausstellungen aus der Feder des französischen Philosophen und Dramaturgen Denis Diderot, aber auch einer Reihe weiterer Pariser Salonniers. Doch es waren vor allem die Schriften von Johann Joachim

Winckelmann (1717-1768), die das öffentliche Bild der jungen Disziplin prägten und für einige ihrer Bereiche richtungsweisende Weichenstellungen vollzogen. Winckelmanns Werk entwickelte sich in seiner ersten Phase vor dem Hintergrund einer sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in

Winckelmann und sein Jahrhundert

33

34 111. Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis zum 20. Jahrhundert Sachsen entfaltenden antiquarisch-I iterarischen Kultur, deren führender Ver­ treter Johann Friedrich Christ in seinen zahlreichen Schriften Archäologie

der Literatur auch kunsthistorische Belange berücksichtigte und ,vaterländi­ sche Werke' dem Vergessen entreißen wollte. Christ legte mit seiner 1726 erschienen Abhandlung über Lucas Cranach d.Ä. (Lucas Cranach. Leben

des berühmten Malers) übrigens die erste Monographie über einen deut­ schen Künstler vor, in der er Cranach in die deutsche Kunstgeschichte ein­ zuordnen versuchte. Der sächsische Gelehrte gehörte zu den unmittelbaren Vorläufern Winckelmanns und hat als Professor für Geschichte und Poesie in Leipzig der Kunstgeschichte den Weg zu einem eigenständigen akademi­ schen Lehrfach geebnet, auch wenn er selbst noch immer vornehmlich am antiquarisch und historisch bedeutsamen Einzelwerk interessiert war. Es war Winckelmann, der aus Stoffsammlungen antiquarischen Charak­ ters Geschichtswissenschaft schuf, indem er kunstgeschichtliche Erkenntnis­ se auf die Grundsätze geschichtlichen Seins zurückführte und dadurch die sich herausschälende neue Disziplin auf einer höheren, weil teleologischen Ebene in den großen Zusammenhang historischer Wissenschaften einordne­ te. 1755 erschien seine bald zu großer Berühmtheit avancierte Schrift

Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Es war dies eine vordergründig der historischen Betrachtung der griechischen Kunst gewidmete Abhandlung, die in weiten Partien auch als eine Art artistisches Manifest für die Kunst der eigenen Zeit gedacht war. Winckelmann vertrat das Anliegen des aufkommenden Klassi­ zismus, eines Stiles, dessen Wurzeln im Gegensatz zum Barock auch intel­ lektueller Art waren. Dieses Ziel hat Winckelmann auch in manifester Weise erreicht. Ablehnung des

Das entscheidend Neue bei Winckelmann ist das Zurückweichen des

Barock

rein künstlerbiographischen Ansatzes zugunsten eines Diskurses, der vor allem die Entwicklung der zentralen Probleme der Kunst im Auge hatte. Winckelmann verwarf in seinen Gedanken die barocke Tradition zugunsten einer Klassizität griechischen Charakters, die er für historisch fundiert und für richtungsweisend hielt. Im Gegensatz zur damaligen Meinung vieler Kunstkenner, so des römischen Stechers Piranesi, hat Winckelmann immer das Primat der griechischen Kunst gegenüber der imperialen Kunst Roms betont, obwohl er letztere natürlich viel besser kannte. Dass er aber gewisse Spielarten der barocken Allegorie akzeptierte, war hinsichtlich der ikono­ graphischen Neigungen des Klassizismus doch nur konsequent. Dazu kam bei Winckelmann noch eine verdeckte Zuneigung für Rubens, wie sie spä­ ter auch bei Jacob Burckhardt anzutreffen sein sollte.

Winckelmann

Winckelmanns Leistung wird nicht durch die Tatsache geschmälert, dass

und Caylus

viele seiner Termini und Wortprägungen (darunter bekannte Wendungen wie diejenige der "edlen Einfalt und stillen Größe") aus den Schriften des Grafen Caylus (1692-1765), eines bedeutenden französischen Kunstken­ ners, entlehnt worden sind. Letzteres ist dank der jüngsten Forschungen von Elisabeth Decultot sehr eindrucksvoll bewiesen. In einem neuen Kontext und mit größerer Radikalität der Aussage gewannen die Wortwendungen eine besondere pädagogisch-schlagwortartige Wirkung, die dem Comte de Caylus in dem partiell noch dem Rokoko verhafteten französischen Kultur­ kreis verwehrt blieb. Zu Winckelmanns Erfolg trug auch der damalige Auf-

111. Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis zum 20. Jahrhundert

stieg des Deutschen zur Sprache der Wissenschaft und der Philosophie bei. Das Geheimnis der überragenden Wirkung Winckelmanns lag nämlich auch in der Tatsache, dass er ein besonders enges und lebendiges Verhältnis zur Sprache pflegte und sich in seinen theoretischen Ausführungen nie sehr weit von der Anschaulichkeit entfernte. Besonders deutlich wird dies in seiner monumentalen Geschichte der Kunst des Altertums (Dresden 1764), in der Winckelmann wortmächtig Ver­

Stilbegriffe und Stilphasen

gleiche von Bildwerken anstellt. Den Begriff des Stiles gebrauchte er in der mehrfachen Bedeutung von individuellem Stil, National-Stil, Zeit-Stil sowie von Einstellung und Haltung. Im Gegensatz zu Vasari, der mittels biologisti­ scher Metaphern vier Entwicklungsphasen der Kunst unterschied, hat Winckelmann in seinem Vier-Phasen-Schema der Entwicklung der Kunst Bezeichnungen verwendet, die auf die Hervorhebung einzelner Qualitäten abzielten: 1. Antike Phase, 2. Erhabene Phase, 3. Schöne Phase, 4. Nachah­ mende Phase. Und schließlich erschien im Titel von Winckelmanns Buch der Name der Disziplin, den diese von nun an auch in Deutschland tragen und gebrauchen sollte. Die Entwicklung der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert vollzog sich vor dem Hintergrund entscheidender Umbrüche im philosophischen und philo­

Vico und Herder: Nationalkultur

sophisch-kulturellen Denken. Hierbei spielten der Italiener Giovanni Battista Vico und der ein halbes Jahrhundert später wirkende Johann Gottfried Herder eine zentrale Rolle. Sowohl Vico als auch Herder gingen vom Konzept einer allumfassenden Kultur der Menschheit aus, in deren Rahmen jedoch die Ein­ zigartigkeit jeglicher nationalen Kultur betont werden sollte. Mit dieser Kon­ zeption ging vor allem bei Herder die besondere Bedeutung von national fun­ dierten ausdruckshaften Werten einher. Die Quintessenz der Lehren Herders und Vicos lief somit auf einen im jeweiligen nationalen Kontext definierten, ästhetischen Pluralismus hinaus, der aber in weiterer Konsequenz paradoxer­ weise dadurch auch eine Absage an das klassische Ideal implizierte. Dieses von Winckelmann verfochtene Ideal wurde in seiner Nachfolge zum zentra­ len Punkt aller vorromantischen ästhetischen Theorien. Die Jahre um und nach 1800 zeitigten in Frankreich, Deutschland und Italien eine Reihe von Versuchen, synthetische Darstellungen des Kunstge­ schehens zu entwerfen. Luigi Lanzis Storia Pittorica dell'ltalia (Bassano 1795/96) begründete die - übrigens bis heute vorherrschende - Aufteilung der Gesamtheit der italienischen Malerei in regionale Schulen und sollte bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts die italienische Sicht der nationalen Kunst­ geschichte prägen. Der französische Forscher Artaud de Montor versuchte darüber hinaus den Beitrag einzelner regionaler italienischer Schulen zur Herausbildung des Renaissancestils zu ergründen (de Montor 1808). Mit dieser Problemstellung wurde eine der wichtigsten zukünftigen Vorgehens­ weisen der Kunstgeschichte umrissen. Zwischen 1811 und 1823 erschien das mehrbändige Werk von Jean Baptiste Seroux d' Agincourt Histoire de

I'art par les monuments. Hierbei handelte es sich um die erste kunsthistori­ sche Publikation, die eine Korrelation zwischen zahlreichen, in der Regel sorgfältig ausgewählten Bildtafeln und dem Text zustande brachte. Das Werk hat einen beträchtlichen Einfluss auf die damals im Wachsen begriffe­ ne Mittelalterbegeisterung ausgeübt, wenngleich die Anordnung des Stoffes methodische Ansprüche nicht befriedigen konnte.

Kunstgeschichte um 1800

35

36 111. Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis zum 20. Jahrhundert Goethe

Eine inspirierende Rolle in der Entwicklung der Kunstgeschichte kam Goethe und dem um ihn versammelten Gelehrtenkreis zu. Der Wandel sei­ ner ästhetischen Anschauungen - von der jugendlichen Begeisterung für die Gotik zur späteren Adoption eines rigiden Klassizismus und der damit ver­ bundenen Ablehnung der aufkeimenden Romantik - ist gut bekannt und soll hier nicht näher behandelt werden. Goethes lebenslangen und recht eigenwilligen Forschungen zum Bereich der Farbenlehre blieb im 19. Jahr­ hundert ein Einfluss auf die Kunstgeschichte versagt. Einen direkten Bezug zu den Problemstellungen der Disziplin wies hingegen sein berühmter Auf­ satz Einfache Nachahmung der Natur; Manier und Stil (Goethe 1789) auf, der in begrifflicher Weise Erkenntnisse wiedergab, die der Dichter während seiner kurz zuvor unternommenen Italienreise gewonnen hatte.

Einfache Nachah-

Die einfache Nachahmung bildete für Goethe die unterste, am stärksten

mung, Manier, Stil

den Gesichtspunkten einer naturalistischen Wiedergabe verpflichtete Aus­ übung der Kunst. Die Manier wiederum repräsentierte auf einer höheren Stufe die Erfassung der Form als eine individuelle Sprache. Zwar sah Goe­ the in der Manier den persönlichen Stil des Künstlers, er war jedoch bereit - was für die spätere Entwicklung der kunsthistorischen Methode von Bedeutung sein sollte -, ihr auch formale Eigenschaften zuzuschreiben, die er als durch die Zugehörigkeit des Kunstwerkes zu einer bestimmten Gat­ tung bedingt erachtete. Die höchste Leistung, so Goethe, die ein Künstler erbringen kann, ist aber die Gewinnung des Stils, der auf den "tiefsten Grundfesten der Erkenntnis ruht". Derjenige Künstler, der Stil hat, schafft frei und doch gesetzmäßig, was Goethe zufolge auch und vor allem auf das Schaffen der Natur zutrifft. Dieser Ausgleich der Gegensätze auf der höchsten Stufe nimmt gleichsam prophetisch die Hegeische Dialektik vor­ weg. Die Kategorie des Stils reservierte Goethe ausdrücklich für von ihm als solche empfundene Spitzenleistungen, so für die Meisterwerke der Antike oder für Raffael.

Das Stilkonzept Goethes blieb, obwohl gut

bekannt, für die Entwicklung der kunsthistorischen Methodologie im 19. Jahrhundert relativ folgenlos und wurde erst im 20. Jahrhundert in Metho­ den, die den Stil mit einer "Höhenlinie" (Henri Focillon) gleichsetzten, auf­ gegriffen. Goethes kunst-

Dasselbe Los war seinen kleinen kunsthistorischen Aufsätzen beschieden,

historische Aufsätze

auch wenn diese wichtige Anregungen für die Vorgehensweise und das methodische Rüstzeug der Disziplin bereit hielten und in ihren Anlagen und Zielen sogar als vorbildlich bezeichnet werden können. In seiner Schrift über Ältere Gemälde. Neuere Restaurationen in Venedig betrachtet 1790 ordnete Goethe die einzelnen Werke nach kompositionellen und iko­

nographischen Gesetzmäßigkeiten und besprach unter entwicklungsge­ schichtlichen Prämissen Probleme wie die Entwicklung des Typus der Stif­ terfiguren oder die zunehmende Verweltlichung der Thematik - also klassi­ sche Fragen der späteren kunstgeschichtlichen Agenda (Goethe 1790). Auch der im Jahr seines Todes erschienene Aufsatz über Landschaftsmalerei versuchte sich an übergreifenden, entwicklungsgeschichtlich konzipierten Fragestellungen. Der Schweizer Johann Heinrich Meyer, ein enger Mitarbei­ ter Goethes, hat vom Dichter ermutigt Gliederungsversuche im Bereich der künstlerischen Einstellungen und Arbeitsprozeduren unternommen; seine pittoresken Bezeichnungen (Eklektiker, Manieristen, Atomisten, Skizzisten,

111. Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis zum 20. Jahrhundert

Machianten) sind trotz ihres interessanten Ansatzes im späteren 19. Jahr­ hundert einer generellen Ablehnung anheim gefallen. Zwischen 1815 und 1870 wurde Berlin zum vielleicht wichtigsten Zen­ trum der europäischen Kunstgeschichte. In diesem Aufstieg spiegelte sich

Berliner Schule der Kunstgeschichte

die Humboldt'sche Reform der Berliner Universität, aber auch der Aufbau der musealen Sammlungen in Berlin durch den preußischen Staat wider. Als Gründer der Berliner Schule gilt gemeinhin Karl Friedrich von Rumohr

(1785-1843), der in seinen Italienischen Forschungen (1827) eine his­ torisch-quellenkritische

Gesamtdarstellung der italienischen

Kunst der

Neuzeit anstrebte. Die Darstellung setzte sich auch zum ersten Mal kri­ tisch mit den zahlreichen Anekdoten und Legenden Vasaris auseinander (Rumohr 1827). Franz Kugler (1808-1858), ein bedeutender Forscher, schuf in zwei wich­ tigen Handbüchern (Kugier 1837, 1842) grundlegende kunsthistorische

Die großen Handbücher

Übersichtswerke, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts viel gelesen und intensiv konsultiert wurden. Kugler war bemüht, den hauptsächlichen Kunstperioden gerecht zu werden und historisch begründete Werturteile abzugeben. In seinen Handbüchern sind sogar vereinzelte Hinweise zur außereuropäischen Kunstgeschichte enthalten, ein beredtes Zeugnis seiner universalistischen Zielsetzungen,

die später den Aufbau der

Berliner

Museen beflügelten. Gustav Friedrich Waagen (1794-1868), der lange Zeit die Berliner Gemäldegalerie leitete, hat als erster Kunsthistoriker systema­ tisch die großen Gemäldegalerien und Sammlungen Europas bereist - so u. a. die bisher nie berücksichtigten Sammlungen in Großbritannien - und diesen kontinentaleuropäischen blinden Fleck in mehreren wichtigen Veröf­ fentlichungen beschrieben. Die durch Waagen vorgelegte Übersicht der nordeuropäischen Malerei (Waagen 1862) resümiert auf hohem Niveau die Erkenntnisse der Jahre zwischen 1830 und 1860 in den Bereichen der Attri­ butionistik und der für die frühe Kunstgeschichte so wichtigen Schulzusam­ menhänge. Forschungen zur niederländischen Kunst der frühen Neuzeit betrieben in Berlin auch die bedeutenden Kunsthistoriker Heinrich Gustav Hotho und earl Schnaase. Fünfzig Jahre später sollte der große Organisator der Berliner Museen Wilhelm von Bode mit seinen Meistern der holländi­

schen und flämischen Malerschulen (Bode 1906) diesen besonderen Berli­ ner Strang mit einer inzwischen schon klassischen, in erster Linie faktogra­ phisch und an der Problematik der Zu- und Abschreibung von Gemälden ausgerichteten Arbeit beschließen. Doch auch außerhalb der Berliner Schule lieferten die Forschungen zur

Neue Sicht der hol­

niederländischen Malerei wichtige Impulse für die Entwicklung des Faches.

ländischen Malerei

Der deutsche Kunstkritiker und Kunsthistoriker Eduard Koloff veröffentlichte

1854 einen langen Aufsatz über Rembrandt, in welchem er bahnbrechende Korrekturen am bisher existierenden Bild des Künstlers vornahm und den Prozess seiner ästhetischen Rehabilitierung einleitete (Koloff 1854). Koloff analysierte als Erster genauer die bibiische Fundierung der alttestamentari­ schen Sujets. Von großer Bedeutung war auch seine Erkenntnis, dass Rem­ brandt viele Motive aus Graphiken Lucas van Leydens, Schongauers wie auch Dürers entlehnt habe. Man kann ohne große Übertreibung behaupten, dass damit auch die besondere kunsthistorische Methode der Untersuchun­ gen von Anleihen und motivischen Transformationen begründet wurde.

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38 111. Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis zum 20. Jahrhundert Den Weg zu einem neuen Bild der holländischen Malerei beschritten auch der französische Kunstkritiker Theophile Thore-Bürger, der 1866 in einer kleinen Monographie als Erster das Werk des damals völlig vergessenen Vermeer zusammenstellte, sowie sein Landsmann, der Schriftsteller und Kunstkritiker Eugene Fromentin, der in seinem 1877 erschienenen holländi­ schen Reisebericht (Les Maftres d'autrefois) die erste kohärente Darstellung des später viel beschworenen ,holländischen Realismus' vorlegte. Die großen

Mit Waagens Monographie der Gebrüder van Eyck (Waagen 1822) und

Monographien

Johann David Passavants dreibändiger Raphael-Monographie (Passavant

1839-1858) begann das Genre der großen kunsthistorischen Monogra­ phien. Vor allem Passavant war bestrebt, eine für die damaligen Begriffe mustergültige stilkritische und attributionistische Arbeit vorzulegen. Er woll­ te jedes erreichbare Werk Raphaels, also sowohl die Gemälde wie auch die Zeichnungen, in Augenschein nehmen. Was die Zeichnungen angeht, hat er sogar die überlieferte Zuschreibung von über tausend Blättern angezwei­ felt und somit die Grundlagen für ein neues, präziseres Bild von Raphael geschaffen. Grimm: Das Leben

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam die Zeit der großen,

Raphae/s

Kunst- und Kulturgeschichte verbindenden Monographien, die dank ihrer literarischen Form mühelos die damals aufsteigende Schicht des Bildungs­ bürgertums erreichten. Das vielleicht berühmteste Werk dieser Art war Hermann Grimms Das Leben Raphaels aus dem Jahr 1872, das Raphael vor einem breiten, wenngleich sehr einseitig entworfenen kulturgeschichtli­ chen Panorama zeigte und den idealistisch gefärbten Renaissancekult für die kulturpolitischen Ziele der wilhelminischen Ära vereinnahmen wollte ("wir möchten ihm näher treten, weil wir seiner zu unserem Wohlsein bedürfen", Grimm 1903, 334). Die Angriffe, die gegen Grimms Bücher zu denen auch eine mehrfach aufgelegte Michelangelo-Biographie gehörte - aus dem Lager der positivistisch orientierten Forscher vorgetragen wur­ den, bezeugten die sich schon damals öffnende Kluft zwischen kunsthisto­ rischer Sachforschung und einer leicht ideologisch verbrämten Popularisie­ rung. Doch keine Künstlermonographie des 20. Jahrhunderts hat die Popu­ larität und Verbreitung von Grimms Büchern erreicht: Deren Rolle als populärer kulturhistorischer Lesestoff ist aber im letzten Jahrhundert teil­ weise durch die Gattung der Künstlerromane, wie der von Irving Stone, übernommen worden.

Justis Monographien

Etwas weniger ideologisch orientiert als Grimm, entwarfen die zwei gro­ ßen Monographien des Bonner Kunsthistorikers earl Justi (1832-1912) über Winckelmann Uusti 1866/1872) sowie über Velazquez Uusti 1888) breite und bis heute lesenswerte kulturhistorische Panoramen, die aber auch, so vor allem das Buch über Velazquez, gute Formanalysen enthielten. In seinem grundlegenden Konzept, eine Künstlerfigur als idealtypische Ver­ körperung einer ganzen Epoche aufzufassen, folgte Justi Goethes Idee, die dieser einst in seiner Übersetzung der Autobiographie des Benvenuto Celli­

ni vorformuliert hatte. Einige eher einseitige ästhetische Urteile Justis - so bezeichnete er die spanischen Gemälde des EI Greco als krankhaft und als Verstoß gegen "Geschmack, Verstand und Methode" - wurden keine zwan­ zig Jahre später durch die frühexpressionistische Kunstgeschichtsschreibung in geradezu paradigmatischer Weise korrigiert.

111. Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis zum 20. Jahrhundert

Auch für den Basler Gelehrten und Universitätsprofessor jacob Burck­

Burckhardt: Kunst­

hardt (1818-1897), der Mitte der 1840er jahre in Berlin mit Franz Kugler

geschichte als

zusammengearbeitet hatte, war die Kunstgeschichte ein integraler Teil der

Kulturgeschichte

Kulturgeschichte. Augenmensch par excellence und befähigt durch eine gesteigerte Empfindlichkeit für die einzelne Form, hat er aber vornehmlich als Kulturhistoriker für die Kunstgeschichte die italienische Renaissance in ihrem universalen Anspruch entdeckt.

Dieser kulturhistorisch-ideenge­

schichtliche Ansatz führte aber dazu, dass Burckhardt über die Formanalyse hinaus in einer mit dem idealistischen Ansatz unvereinbaren Weise auf das soziale Umfeld der Kunst einging: Er interessierte sich für Mäzene und Auf­ traggeber, für die Rolle der italienischen Kommunen bei den Bauaufgaben und für deren stilistisch-technische Bedingtheiten (Burckhardt 1867). In sei­ nem berühmten Italien-Führer (Burckhardt 1855) verband er präzise Form­ beschreibungen mit einem bisweilen hervorbrechenden wortmächtigen subjektiven Enthusiasmus a la Winckelmann. Andererseits waren seine Inte­ ressen für das intellektuelle und kulturelle Umfeld der Kunst dermaßen aus­ geprägt, dass in seiner berühmten Kultur der Renaissance in Italien (Burck­ hardt 1860) die bildende Kunst als solche - was oft übersehen wird - keinen besonderen Platz einnimmt.

Eine gewisse Ambivalenz der Einstellung

Burckhardts zur Kunst wird somit offensichtlich: Als Historiker sah er ihre historischen Bedingtheiten; andererseits führte eine von seinen metaphysi­ schen Neigungen begünstigte Sakralisierung der Kunst zu einer zeitweiligen Ausblendung ihrer historischen Konditionen. Burckhardt war auch nicht bereit, historische Umstände als letzten Erklärungsgrund großer kultureller und artistischer Leistungen vorzuschieben: "Bei alledem bleibt" - so Burck­ hardt - "der Einzelne die Antwort". Die Lösung dieses Widerspruches erfolgte daher für ihn auf der Ebene der Erfassung der Einzigartigkeit der künstlerischen Persönlichkeit. Man kann dies auch als Ausdruck des von Burckhardt immer akzeptierten Geniekultes des 19. jahrhunderts werten. Als Apologet der Renaissance demonstrierte Burckhardt - wie es zahlrei­ che Passagen seines Cicerone bezeugen - große Vorbehalte gegenüber der Kunst des Barock. Seine Ablehnung von Berninis hl. Theresa ("hier vergisst man freilich alle bloßen Stilfragen über der empörenden Degradation des Übernatürlichen", Burckhardt 1855, 670e) beeindruckt noch heute durch ihre Grundsätzlichkeit. Eine bezeichnende Ausnahme machte er für Rubens (Burckhardt 1892), an dem ihm das Allegorische, der unverhohlene Herois­ mus und die Spannung zwischen dem Dramatischen und dem Optisch­ Schönen begeisterte. Eng mit den gegen Ende des 19. jahrhunderts immer mehr in den Vorder­ grund tretenden Künstlermonographien verbunden war die kennerschaftli­ che Richtung, deren Gewicht seit 1850 immer mehr zunahm. In ihren bes­ ten Ausprägungen war diese Richtung mit der Rekonstruktion wenig bekannter oder verstreuter Guvres verbunden und beinhaltete in einigen Fällen auch Neubewertungen ästhetischer Art. Andererseits traten die ken­ nerschaftlichen Fähigkeiten und Prozeduren immer mehr in den Dienst des sich damals stürmisch entwickelnden und internationalisierenden Kunst­ handels. Auch deswegen konzentrierten sich die Bemühungen der Forscher in erster Linie auf die Erforschung und attributionelle Zuordnung von vielen bisher anonymen oder wenig überzeugend zugeschriebenen italienischen

Kennerschaftliche Richtung

39

40 111. Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis zum 20. Jahrhundert Gemälden, denn im 19. jahrhundert musste das verarmte Land einen gro­ ßen Ausverkauf seiner Kunstschätze in die reicheren Länder Europas und nach Amerika hinnehmen. Die New History of Painting in Italy eines englisch-italienischen Autoren­ teams (Cavalcasselle/Crowe 1864) lieferte die erste wissenschaftliche Über­ sicht der italienischen Malerei der vorklassischen Zeit, wobei beide Autoren historische Quellenstudien betrieben und ansatzweise auch maltechnische Probleme berücksichtigten. Ihre konsekutiven Untersuchungsprozeduren, ihre intensiven Diskussionen wie auch die besonderen, durch beide aufge­ stellten und strikt befolgten Regularien der Abgleichung und Abstimmung der beiderseitigen Ansichten bildeten ein Urmodell vieler späterer ähnlicher kollektiver Arbeiten, wie beispielsweise des seit 1968 in den Niederlanden tätigen Rembrandt Research Project (RRP). Die im September 1871 in Dresden veranstaltete Holbein-Konferenz, auf der die zwei sich in Darmstadt und Dresden befindlichen Versionen der Madonna des Bürgermeisters Meyer von Hans Holbein dem jüngeren mit­

einander verglichen und kritisch diskutiert wurden, bildete eine Sternstunde der kunsthistorischen Kennerschaft. Im Resultat wurde das in einer weniger prestigiösen Galerie verwahrte Bild zutreffend zum Original erklärt, im Dresdner Bild erkannte man eine aus dem 17. jahrhundert stammende Kopie. Der lange andauernde Widerstand der Dresdner Galeriebehörden gegen eine solche Schmälerung der erstklassigen Dresdner Bestände sollte sich im 20. jahrhundert noch in vielen anderen, von Abschreibungen betroffenen Museen wiederholen. Die an sich sehr sinnvolle Prozedur einer vergleichenden

Bildgegenüberstellung wird

bis heute oft angewandt,

doch mittlerweile zunehmend mit flankierenden technologischen Unter­ suchungen. Bode und Berenson

Der italienische Politiker und Kunsthistoriker Giovanni Morelli vertrat im letzten Viertel des 19. jahrhunderts eine besondere, vornehmlich detail­ orientierte Methode der Attribution, über die im nächsten Kapitel berichtet wird. Doch erst den nächsten zwei Generationen der Connoisseurs und Attributionisten (Wilhelm von Bode, Hofsteede de Groot, Bernard Beren­ son, Max j. Friedländer) gelang es, das Kennertum als Subdisziplin der Kunstgeschichte zu etablieren. Die massenhafte Verwendung der Kategorie der sog. Meister mit Notnamen half damals, viele Zuschreibungslücken zu schließen. Vor allem die schillernde Persönlichkeit von Bernard Berenson

(1865-1959), eines bedeutenden, doch sehr eng mit den Praktiken des damaligen Kunsthandels verbundenen Gemäldekenners, dessen öffentli­ ches Image die Attribute eines Salonlöwen mit denjenigen eines Magus mit quasi-divinatorischen Fähigkeiten vereinte, verhalf der Kunstkennerschaft zu einer hohen, wenngleich etwas problematischen Popularität. In einigen Ländern, vor allem in England und Italien, ist der kennerschaftliche Aspekt noch immer stark in der Kunstgeschichte präsent. In der deutschen Kunstge­ schichte spielte die Kennerschaft nach 1945 eine erstaunlich geringe Rolle. Die Kunstgeschichte hat sich übrigens bis heute nicht in vertiefter Weise mit den methodischen Konsequenzen des reinen Kennertums befasst, das noch immer ein Bereich bleibt, in dem Scharlatanerie, kommerzielle Interessen, aber auch das aufgesetzt Divinatorische manchmal merkwürdige Verbin­ dungen eingehen.

111. Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis zum 20. Jahrhundert

Der Reigen der historischen Methoden klingt mit der Wiener Schule der

Wiener Schule

Kunstgeschichte der jahrhundertwende und der ersten zwei jahrzehnte des

20. jahrhunderts aus. Die vielgestaltige und in methodischer Hinsicht etwas hybride Wiener Schule hat die Entwicklung der Kunstgeschichte nachhaltig beeinflusst. Die von ihr ausgehenden Impulse und Anregungen reichen bis in unsere Gegenwart und sind in ihrem Reichtum noch immer nicht voll­ ständig rezipiert worden. Von ihren führenden Vertretern (Franz Wickhoff, Alois Riegl, Max Dvorak, julius von Schlosser, joseph Strzygowski, Hans Tietze, Hans Sedlmayr, Otto Pächt) sollen Riegl, Sedlmayr, Schlosser und Pächt noch gesondert besprochen werden. Doch auch die anderen Wiener Forscher trugen damals zum Aufschwung des Faches bei, das um 1900 imstande schien, den führenden Platz unter den geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu beanspruchen. Franz Wickhoff (1853-1909) vertrat einen sehr breiten kunsthistorischen

Wickhoffs Formen

Ansatz, der von der Spätantike über die Probleme des Kunstgewerbes bis

der Bilderzählung

zur Ingenieurkunst des 19. jahrhunderts und der impressionistischen Male­ rei reichte. In seiner Untersuchung der sog. Wiener Genesis (1895) schuf Wickhoff ein begriffliches Schema zur Unterscheidung von Formen der Bil­ derzählung, das, trotz mancher Modifikationen, bis heute die Grundlage für vertiefte Analysen bildet. Als älteste Form bezeichnete er die komplettieren­ de Erzählweise, bei der sämtliche Geschehnisse eines Handlungsstranges gleichzeitig dem Betrachter vorgestellt werden, jedoch ohne dabei die han­ delnden Personen zu wiederholen. Aus dieser habe sich in der griechischen Klassik der distinguierende Erzählstil entwickelt, der mit nebeneinander platzierten Einzelszenen gearbeitet habe und schließlich in der Neuzeit zum ausschließlichen Darstellungsprinzip avanciert sei. In den jahrhunder­ ten dazwischen habe jedoch der in römischer Zeit entstandene kontinuie­ rende Erzählstil vorgeherrscht, der die Narration unterbrechungslos und mit wiederholten Auftritten derselben handelnden Personen vorzeige.

Die

Handschrift der Wiener Genesis repräsentiert laut Wickhoff den letzteren Typus der narrativen Darstellung. Mit der Übergangszeit zwischen der Anti­ ke und dem Christentum - die sowohl Wickhoff wie auch Alois Riegl faszi­ niert hatte - befasste sich auch der in Wien lehrende polnisch-österreichi­ sche Kunsthistoriker joseph Strzygowski, der die Wurzeln der christlichen Kunst im Orient auszumachen glaubte (Strzygowski 1903). Strzygowskis interessante frühe Entwürfe sind durch seine spätere faschistoide Rassen­ mystik ins Zwielicht geraten, ohne indes völlig ihre Berechtigung verloren zu haben. Wichtiger war jedoch das Vermächtnis eines weiteren großen Wiener Gelehrten, des tschechischen Kunsthistorikers Max Dvorak (1874-1921), der als zeitweiliges Haupt der ersten Wiener Schule fungierte. In seinen Ver­ suchen, gegensätzliche formale Gestaltungsweisen zu charakterisieren, konzentrierte sich Dvorak auf Elemente der damals gegebenen Weitsicht, mit der er den Gegensatz zwischen Idealismus und Naturalismus im 15. jahrhundert erklären wollte. Dvorak interessierte sich für Epochen des Über­ ganges, wie die Spätgotik oder den von ihm neu definierten Manierismus, in denen er vor allem nach den geistesgeschichtlichen Hintergründen such­ te. Anders als Wölfflin lehnte er ein kontradiktorisches Modell gegensätzli­ cher Stile ab; dagegen war er einer der ersten Kunsthistoriker, die im Einzel-

Dvoi'ak: Kunst­ geschichte als Geistesgesc hichte

41

42 111. Zur Geschichte der Kunstgeschichte bis zum 20. Jahrhundert werk gegensätzliche Elemente zu registrieren bereit waren. Kollektivpsyche und künstlerische Form gingen bei ihm eine besonders enge Verbindung ein. Dvorak betonte mit Nachdruck die wesenhafte Historizität des Kunst­ werkes, das nur selten Elemente enthalte, die den Denkhorizont seiner Epo­ che überschreiten. Sein methodischer Ansatz wird am besten, wenngleich etwas verkürzt, mit dem Schlagwort ,Kunstgeschichte als Geistesgeschichte' charakterisiert. Das Fach um 1914

In der Zeit vor 1914 hat sich die Kunstgeschichte als eine selbständige Wissenschaft herausgebildet, vertreten im universitären Curriculum (die einzigen Ausnahmen bildeten Großbritannien und die Vereinigten Staaten) sowie mit einer stetig wachsenden Reihe von Museen, die vornehmlich Kunsthistorikern Arbeit boten und mit einer sich allmählich in Mitteleuropa etablierenden Denkmalpflege, die auch die ersten Vorhaben der Inventari­ sierung der Denkmäler in Angriff nahm. Auch die gesellschaftliche Position der noch immer nicht sehr zahlreichen Kunsthistoriker war damals eine relativ hohe. Diese in Anlehnung an eine zeitlich frühere Strömung der deutschen Literaturgeschichte als Sturm und Drang-Periode der jungen Dis­ ziplin zu bezeichnende Phase fand in der Zeit des Ersten Weltkrieges ihr Ende. Die Richtungen, die nach der Wende zum 20. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit aufkamen, nehmen bis heute jedoch einen nicht unbe­ deutenden Platz im wissenschaftlichen Methodenrepertoire des Faches ein.

IV. Form, Struktur, Bildanalyse Obwohl ihnen nicht mehr die ungeteilte Aufmerksamkeit der kunsthistori­

Gibt es reine

schen Methodendiskussion gilt, bilden die Erwägungen zu Form und stili­

Formen?

stisch geprägten Gestaltungsprinzipienselbstverständlich noch immer einen zentralen und unverzichtbaren Bereich der Methodik der Kunstgeschichte. Hier ist auf ein zentrales Paradoxon zu verweisen, das allen analytischen Versuchen in diesem Bereich anhaften muss, nämlich dass eine solche Ana­ lyse bei konsequenter Durchführung über eine Abfolge von immer abstrak­ teren Regressionen zu einer sich absolut setzenden Form zurückgehen müsste. Am Endpunkt der Sequenz wäre man dann in erkenntnistheoreti­ scher Hinsicht mit einer Art von Aporie konfrontiert, denn eine Form kann nicht über sich selbst aussagen. Auch aus diesem Grund kann es für die Kunstgeschichte keine reine Form per se geben, denn Form ist immer Form von etwas anderem, sie ist Mitteilung, sie gibt dem Inhalt in der Kunst seine Wirklichkeit. Diejenigen Kunsthistoriker, die, aus welchen Motiven und von welchem Standpunkt auch immer, allzu pointiert die vermeintliche Dicho­ tomie zwischen Form und Inhalt hervorzukehren pflegten, haben dem Fach damit keinen guten Dienst erwiesen. Die vorliegende Einführung setzt es sich jedoch nicht zum Ziel, den die Kunstgeschichte lange prägenden Streit zwischen Formalisten und Bedeutungsforschern, also zwischen der Form­ analyse und der Inhaltsanalyse, noch einmal Revue passieren zu lassen. Sie will die Bedingungen erörtern, unter denen in der heutigen Zeit die Stilbe­ griffe im Instrumentarium der Kunstgeschichte funktionieren können. In disziplingeschichtlicher Hinsicht ist die Hinwendung zu formalen Ana­ lysen eher jüngeren Datums; die ersten Impulse dafür waren kennerschaft­ licher Natur. So hat der italienische Kunsthistoriker Giovanni More11i

(1819-1891, als Autor benutzte er den anagrammatischen Namen Ivan Ler­ molieff) zwischen 1870 und 1891 eine Reihe von Kunstkritischen Studien

über italienische Malerei (Lermolieff, zweite Auflage 1893) verfasst, in denen er auf der Basis einer besonderen, theoretisch begründeten Form­ analyse in der Regel zutreffende Neuzuschreibungen oder Umattributierun­ gen von Gemälden italienischer Schulen der Zeit vor 1700 vornahm. Morel­ li ging von einer auch durch eigene naturwissenschaftliche Studien und Lek­ türen beeinflussten Disjunktion zwischen einem ,hohen Kunststil' und einer von Gewöhnung gekennzeichneten künstlerischen Praxis aus, in welcher der Künstler unreflektiert und unverstellt kleine physiognomische Detai Is wie Ohrmuscheln (Abb. 1) und Fingerformen in schematischer Weise wie­ derholt, wodurch diese im ganzen Guvre anzutreffen sind. Um die Hand des Meisters zu erkennen, muss man deshalb in erster Linie, so Morelli, auf kleine, scheinbar nebensächliche Elemente achten, an denen der geschulte Kunsthistoriker durch eine Reihe von Vergleichen die Zuschreibung fest zu

Morelli und kleine Bilddetails

44 IV. Form, Struktur, Bildanalyse

Fra Filippo.

Mantegna.

Abb.

FiJippino.

SlgnoreJli.

Giambellino.

Bonifa.lo.

Bramantino.

Botticel1i.

1: Giovanni Morelli (Ivan Lermolieff), Tabelle von Ohrentypen unterschiedli­ cher Maler (aus: Morelli, Kunstkritische Studien, Leipzig 1890, S. 99)

machen vermag. Die Analogie dieser attributionistischer Methode zu detail­ orientierten kriminalistischen Praktiken der Identifikation, die gerade zur Zeit Morellis in Europa in Form eines Schemas der physiognomischen Beschreibung, der sog. Bertillonage (1870-1890, nach dem Pariser Krimina­ listen Bertillon), etabliert wurden, ist von der kunsthistorischen Forschung schon oft hervorgehoben worden. Für die zahlreichen Gegner Morellis war dessen These, die Persönlichkeit sei gerade dort zu finden, wo sie am schwächsten ist, weil in nebensächlichen Details eingebracht, inakzepta­ bel. Doch hatte diese Idee interessante Vorgänger in dem während der Romantik aufgekommenen Kult des Fragments; sie entspricht auch gewissen Observationspraktiken der modernen Psychologie. Alois Riegl

Die Überzeugung, dass Stilveränderungen sich am besten in Bereichen feststellen lassen, die weniger vom Willen zum Stil geprägt sind, verband Morelli mit dem Begründer der formalistischen Methode in der Kunstge­ schichte, dem Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl (1858-1905), einem Museumsmann mit ausgeprägten theoretischen Interessen. Riegl war der erste moderne Kunsthistoriker, dessen Ideen tiefgreifende methodische Wir­ kungen entfalteten. In mehreren Büchern entwickelte er eine quasi-hegelia­ nische Philosophie der Kunstgeschichte: Formveränderungen werden laut Riegl nicht durch äußere Kräfte hervorgerufen, sondern durch eine den For­ men selbst innewohnende Dialektik, die für die Selbstentfaltung des Stiles konstitutiv wirkt.

Jeder

gelungene Ausgleich von

Gegensätzen

muss

zwangsläufig im Laufe des Wachstums neue Formgegensätze hervorbrin­ gen. Riegl führte als Bezeichnung für die Triebfeder der stilistischen Ent-

IV. Form, Struktur, Bildanalyse

wicklung den umstrittenen Begriff des Kunstwollens ein. Kunstwollen meint nach Riegl das zeitbedingte Verhältnis des künstlerisch schaffenden Men­ schen zur sinnlichen Erscheinung der Objekte und Umwelt, die er artistisch erfassen möchte. Bei Riegl kam somit ein sehr wichtiges, eigentlich moder­ nes Wissenschafts konzept zum Tragen: Das Ziel der Geschichte und damit auch der ästhetischen Entwicklung ist bei ihm unsichtbar geworden. Es gibt kein ästhetisches Ideal mehr, sichtbar werden jedoch die immanenten Gesetze und vor allem die Triebkräfte der Entwicklung. Wichtig für seine Konzeption ist die langue dU(f!e der Dinge, denn Riegl war immer bestrebt, kontingente Phänomene auszuschalten. Er akzeptierte

Kein Verfall in der Kunst

die im 19. Jahrhundert dominante Sicht der Spätantike als einer Zeit des Verfalls künstlerischer Werte nicht, denn so etwas wie Verfall sah sein Sys­ tem nicht vor (Riegl 1901). Für Riegl bedeutete die Kunstentwicklung zu jeder Zeit und unter jeden Umständen ,Fortschritt und nichts als Fortschritt'. Die Kunstauffassung breiter Massen oszilliere, so Riegl, in großen Zeitab­ ständen zwischen den Polen des Haptischen, das ist des Nahsichtigen, und des Optischen, das ist des Fernsichtigen. Riegl benutzte für die Kunst des Altertums ein triadisches Schema, welches der ägyptischen Kunst rein hapti­ sche Werte, der griechischen Kunst eine Mischung von haptischen und opti­ schen Elementen, der römischen Kunst schließlich die Dominanz rein optisch-illusionistischer Elemente zuwies. Die von Riegl konzipierte Ord­ nung des Kunstschaffens bedurfte keiner großen Künstlerpersönlichkeiten und der ihnen eigenen kreativen Sprünge, Brüche und genialen Unwägbar­ keiten. In diesem Sinne war Riegl ein Vorläufer der nur wenig späteren, von Heinrich Wölfflin geprägten "Kunstgeschichte ohne Namen". Obwohl Riegl ein ausgezeichneter Kenner des Handwerks war und somit nicht die bei vielen Kunsthistorikern habituelle Missachtung technischer Gegebenheiten an den Tag legte, war er doch ein entschiedener Gegner materialistischer Kunsttheorien, wie sie im 19. Jahrhundert der große Archi­ tekt und Kunsttheoretiker Gottfried Semper vertreten hatte. Semper hatte in seinem Hauptwerk Der Stil (Semper 1861) das Material, die Konstruktions­ prinzipien und Techniken sowie die praktischen Bedürfnisse als form- und stilbestimmend bezeichnet. Es spricht vieles für die These, dass der Begriff des Kunstwollens für Riegl in erster Linie einen anti-materialistischen, rein ästhetischen Impuls verkör­ pern sollte. In einer klassischen Passage seiner Spätrömischen Kunstindus­

trie polemisierte Riegl gegen Semper und kreierte dabei den polemischen Begriff einer "materialistischen Metaphysik": Forscher brachten es nicht zuwege, sich von der älteren Auffassung loszu­ sagen, welche die Vorstellung vom Wesen des bildenden Kunstschaffens in den letzten dreißig bis vierzig Jahren durchaus beherrscht hat. Es ist dies jene Theorie [ . . ] derzufolge das Kunstwerk nichts anderes sein soll als ein .

mechanisches Produkt aus Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik. Diese Theorie wurde zur Zeit ihres Aufkommens mit Recht als ein wesentlicher Fortschritt gegenüber den völlig unklaren Vorstellungen der unmittelbar vorangehenden Zeit der Romantik angesehen; heute ist sie aber längst reif dazu, endgültig der Geschichte einverleibt zu werden [ . . ] denn auch die .

Semper'sche Kunsttheorie hat sich als ein Dogma der materialistischen

Ablehnung materialistischer Kunsttheorien

45

46 IV. Form, Struktur, Bildanalyse Metaphysik herausgestellt. Im Gegensatz zu dieser mechanistischen Auffassung vom Wesen des Kunstwerkes habe ich - soviel ich sehe, als erster - in den Stilfragen (1893) eine teleologische vertreten, indem ich im Kunstwerk das Resultat eines bestimmten und zweckbewussten Kunstwollens erblickte, das sich im Kampf mit Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik durchsetzt. Diesen letzteren Faktoren kommt somit nicht mehr jene positiv-schöpferische Rol­ le zu, die ihnen die sog. Semper'sche Theorie zugedacht hatte, sondern vielmehr eine hemmende, negative: sie bilden gleichsam die Reibungsko­ effizienten innerhalb des Gesamtprodukts. (RiegI1927,9) Riegls Rezeption

Die Position Riegls blieb in ihrer Zeit nicht unumstritten und ist auch im 20. Jahrhundert infolge einer Allianz marxistischer und rigide funktionalisti­ scher Standpunkte, die unablässig die an sich gewiss nicht falsche doch nicht allgemeingültige Parole des form follows function betonten, nicht überall akzeptiert worden. Seine Methode und ihre grundlegenden Prämis­ sen waren ihrer Epoche um vieles voraus; Riegls Rezeptionsgeschichte ist deshalb auch von zeitlich versetzten, oft unerwarteten Übernahmen oder Bezügen gekennzeichnet. Diese Feststellung bezieht sich besonders auf das erst ein Vierteljahrhundert nach dem Tod Riegls aus dem Nachlass herausgegebene wichtige Buch über

Das holländische Gruppenporträt (Riegl 1931). Hier entwickelt Riegl eine bestechende typengeschichtliche Rekonstruktion eines besonderen Genres von Porträtbildern, das mit den ausnehmend schlichten Schützenbildern der Zeit um 1500 begann und in Rembrandts genialer Nachtwache (1642, Rijks­ museum, Amsterdam), gipfelte. In einer interessanten Weiterführung seiner bildanalytischen Prozeduren hat Riegl bei der Kompositionsanalyse der Grup­ pen auch die Wendung zum Betrachter untersucht und damit rezeptionsäs­ thetische Elemente avant la lettre in seine Typengeschichte eingebaut. Es ist diese besondere Modernität des Buches, die dazu führte, dass es mit vierzig Jahren Verspätung erst in der Zeit nach 1970 rezipiert wurde, wobei es dann für mehrere - sowohl methodische als auch typengeschichtliche - Bereiche der Kunstgeschichte wichtige Anregungen zu liefern vermochte. Heinrich Wölfflin

Die berühmten Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe des Schweizer Kunst­ historikers Heinrich Wölfflin (1864-1945) führen in das Zentrum der Bemü­ hungen der Kunstgeschichte um Stil- und Formbegriffe (Wölfflin 1915). Wölfflins Arbeit ist - neben Burckhardt - die einzige Publikation der Zeit vor 1920, die bis heute noch zu den kanonischen Lektüren jedes Kunsthisto­ rikers gehört.

Wölfflin und von

Der junge Wölfflin erbte von seinem Basler Lehrer Jacob Burckhardt das

Hildebrand

Hauptinteresse für die als gegensätzlich empfundenen Stile der Renaissance und des Barock. Gleichzeitig stand er unter dem Einfluss des bedeutenden, kunsttheoretisch interessierten Bildhauers Adolf von Hildebrand und dessen Schrift Problem der Form (von Hildebrand 1893). Als einem um klassische Tektonik bemühten Künstler und Gegner malerisch-impressionistischer Ten­ denzen schwebten Hildebrand solche besonderen Kategorien wie plasti­ scher Geist, offene und geschlossene Form, Klarheit und Deutlichkeit vor. Mit diesen suggestiven Bezeichnungen hat er Wölfflin den entscheidenden

IV. Form, Struktur, Bildanalyse

Impuls für einen Versuch der Anwendung formpsychologischer Gesetzlich­ keiten auf ein historisches Formenrepertoire geliefert. Die primäre Aufgabe des Kunsthistorikers sah Wölfflin in der Analyse der anschaulichen Form. Er wollte Stilgeschichte als Verkörperung des Wechsels der Sehformen und zeitbedingter optischer Möglichkeiten betreiben. Er sah den Stilwandel als eine Art Strukturwandel an und versuchte deshalb, den diachronischen Längsschnitt mit synchronischen Querschnitten zu verbinden. Die bei Hil­ debrand vorgefundenen Ansätze ausbauend, hat Wölfflin sein System suk­ zessive auf einer Reihe binärer Oppositionen errichtet. Das Riegl'sche Gegensatzpaar des Optischen und des Haptischen könnte hier als Vorbild gewirkt haben. Wölfflins Intention war eine an den Werken orientierte Kunstgeschichte ohne Namen, die ihre Legitimation aus dem Vergleich ziehen sollte, denn

Kunstgeschichte ohne Namen

das völlig isolierte Kunstwerk hat, in den Worten Wölfflins, für den Kunst­ historiker immer etwas Bedrohliches. Als erstes der fünf Wölfflin'schen Paare fungierte der Gegensatz des

Fünf Begriffspaare

Linearischen ("feste, fassbare Werte") und des Malerischen ("die Sichtbar­ keit als schwebender Schein"); das zweite Paar charakterisierte die Entwick­ lung vom Flächenhaften zum Tiefenhaften ("Die klassische Kunst bringt die Teile eines Formganzen zur flächigen Schichtung, die barocke betont das Hintereinander"); das dritte galt der Entwicklung von der geschlossenen zur offenen Form ("gegenüber der aufgelösten Form des Barock die klassische Fügung als die Kunst der geschlossenen Form"). Die zwei letzten Begriffspaare umfassten die Entwicklung vom Vielheitli­ chen zum Einheitlichen ("das eine Mal ist die Einheit erreicht durch eine Harmonie freier Teile, das andere Mal durch ein Zusammenziehen der Glie­ der zu einem Motiv oder durch Unterordnung der übrigen Elemente unter ein unbedingt führendes") und das Problem der Klarheit und der Unklarheit ("Die Darstellung der Dinge, wie sie dem plastischen Tastgefühl zugänglich sind, und die Darstellung der Dinge, wie sie erscheinen"). Mit diesen fünf Begriffspaaren, die sich an ihren Rändern überschneiden, hatte Wölfflin ein engmaschiges System geschaffen, das die Unterschiede zwischen den beiden großen Stilepochen plastisch veranschaulichte, wie es die berühmte Gegenüberstellung des Todes Mariä von Dürer mit demselben graphischen Thema bei Rembrandt zeigt (Abb. 2, 3). Gewiss sind die Valenz und der Rang der einzelnen Begriffspaare unterschiedlich. Das Paar linear­ malerisch, das sich aus der italienischen kunsttheoretischen Debatte des 16. Jahrhunderts zwischen disegno (Zeichnung) und co/are (Farbe) herleitet, nimmt quasi selbstverständlich die zentrale Position ein. Wölfflin hat seine Grundbegriffe nicht auf andere Epochen der Geschich­ te der Kunst angewendet, auch wenn er eine - übrigens schon von Jacob Burckhardt vermutete - stetige Wiederkehr der Formabwicklungen von klas­ sischen zu barocken Darstellungsformen annahm. Er ging von einem Eigen­ leben der Form und der stilistischen Elemente aus und tendierte dazu, den Einfluss äußerer Gegebenheiten, darunter auch den der Naturbeobachtung, geringer zu veranschlagen. Wölfflin war sich bewusst, dass die allgemeinen Stilllinien sich mit dem persönlichen Stil eines Künstlers, einer lokalen Schule oder einer nationalen Kunstschule kreuzen. Der Stil als solcher hat für Wölfflin demnach eine

Wurzeln des Stils

47

48

IV. Form, Struktur, Bildanalyse

Abb.2: Albrecht Dürer, Der Tod Mariens, Holzschnitt, 1510 (aus dem Zyklus Marien­

leben)

doppelte Wurzel: Er ist einerseits Ausdruck einer autonomen Entwicklung, andererseits unterliegt er einem ganzen Bündel zeitgebundener Einflüsse. Trotzdem war für Wölfflin der autonome Strang der Stilentwicklung der ein­ deutig stärkere. Das Kunstwerk erscheint somit als in der Wahl seiner künst­ lerischen Mittel sehr beschränkt - schließlich galt für Wölfflins System in besonderer Weise die Maxime, dass "nicht alles zu allen Zeiten möglich sei". Auch nationale Unterschiede in der Formentwicklung, beispielsweise zwischen der deutschen und italienischen Kunst der Renaissance, nahmen für Wölfflin einen überzeitlichen, gleichsam autonomen Zug an, womit er, wenn auch ungewollt, deutschnationalen Tendenzen innerhalb der Kunst­ geschichte Vorschub leistete. Unschärfe der

Sieht man genauer hin, fällt auf, dass das Wölfflin'sche System auf unter-

Begriffspaare

schiedlichen Ebenen kategorialer Ordnungen aufbaut. Seine Begriffe gehö­ ren nicht zu den apriorischen, zeitlos geltenden Kategorien, aber es sind auch keine rein beschreibenden Individualbegriffe. Mit gutem Recht könnte man die fünf Paare dem besonderen Genre der Klassifikationsbegriffe zurechnen. Wölfflin war sich bewusst, dass die von ihm aufgestellten Begriffe nicht derart fest aneinander gebunden sind, dass sie in teilweise anderer Kombination undenkbar wären. Doch ist es vermutlich gerade die­ se Unschärfe des Systems, die eine heuristische Elastizität besonderer Art ermöglicht, denn dieses System überzeugt weniger durch seine Grundvo­ raussetzungen als durch seine P raxistauglichkeit. Das künstlerische Sehen ist von Wölfflin zwar nie als eine rein physiologische T ätigkeit beschrieben worden; er konnte sich aber auch nicht mit der Konzeption Max Dvoraks

IV. Form, Struktur, Bildanalyse

Abb.3: Rembrandt, Der Tod Mariens, Radierung, 1639

anfreunden, dass der seelische Ausdruck einen stilbildenden Faktor konsti­ tuieren könne, wie im Fall des von Dvorak so hervorgehobenen expressiven Charakters des Manierismus (Dvorak 1922). So war Wölfflin auch der erste Kunsthistoriker, der das gestaltpsychologische Problem der spiegelbildli­ chen Umkehrung aufgriff und darauf hinwies, dass spiegelbildlich umge­ kehrte Gemälde und Graphiken ihre kompositionellen Qualitäten größten­ teils einbüßten, womit er eine kleine Subdisziplin der Formanalyse zu begründen half. Ungeachtet der Tatsache, dass auch einige der zentralen theoretischen Prämissen z. B. die These von der Ausdruckslosigkeit der Formen unhaltbar sind, bildet das System Wölfflins bis heute einen beeindruckenden Bau. Viele Kritiken betrafen die Tatsache, dass Wölfflin in der autonomen Ent­ wicklung des Sehens die entscheidende Voraussetzung jeglicher Stilent­ wicklung sah und in seiner frühen und reifen Periode geistesgeschichtliche Bedingtheiten vehement abstritt. Mehr noch, der Gelehrte meinte, dass die­ selben formalen Elemente sich durch die Jahrhunderte hindurch, einem von ihm vorausgesetzten psychologischen Gesetz folgend, entwickelt hätten. Eine gewisse Lockerung seiner Haltung in den 1930er Jahren hatte eher einen taktischen Charakter und spiegelte nicht seine tiefsten Überzeugun­ gen wider. Die Rigorosität, mit der Wölfflin das Primat der reinen Anschau­ ung vertrat, war schon 1901, im Vorwort zu seiner Klassischen Kunst, zum Vorschein gekommen, als er feststellte, dass über die Entwicklung der Zeichnung, der Licht- und Schattenbehandlung, der Perspektive und Raum­ darstellung zusammenhängende Untersuchungen gemacht werden müssen,

Autonome Entwick­ lung des Sehens

49

50 IV. Form, Struktur, Bildanalyse wenn die "Kunstgeschichte nicht nur Illustration der Kulturgeschichte sein will, sondern auf eigenen Füßen stehen soll" (Wölfflin 1901). Wölfflins Arbeiten waren deshalb in erster Linie als Unabhängigkeitserklärung der Kunstgeschichte von der Geschichte und der sich gegen Ende des 19. Jahr­ hunderts entwickelnden Kulturgeschichte gedacht, und diese historische Rolle können ihnen selbst ihre Kritiker nicht streitig machen. Wölfflin und der

Geblendet von seinem polaren Modell des Gegensatzes zweier großer

Manierismus

Epochenstile und befangen in den Sehgewohnheiten seiner Zeit, hat Wölf­ flin die Kunst des Manierismus als einer selbständigen Kunstepoche zwi­ schen Renaissance und Barock völlig übersehen. Nach den Jahren 1920 bis 1925, in denen die Befürworter der Existenz dieses Stiles sich mit wichtigen P ublikationen zu Wort meldeten, war Wölfflin nicht mehr in der Lage, hier eine Korrektur vorzunehmen. Indem es die absolute Mehrzahl der manieris­ tischen Bilder des 16. Jahrhunderts als eventuelle Beispiele ausblendete, wurde sein System dem reellen Stilphänomen des Manierismus nicht gerecht. In einigen seiner Analysen scheint Wölfflin jedoch, ohne es eigent­ lich zu wollen, dem Stilkern des Manierismus durch die Wahl und Charak­ terisierung seiner Motive nahe gekommen zu sein. Ein gutes Beispiel bildet die Bildbeschreibung von Tintorettos Tempelgang Mariä (Madonna dell'Or­ to, Venedig, 1552, Abb. 4), wo er zutreffend das Auseinanderfallen von Bildakzent und Handlungsverlauf konstatierte und in einigen Partien der Bildbeschreibung sogar so etwas wie eine rezeptionsästhetische Analyse im Sinne späterer Zugänge Wolfgang Kemps vorwegzunehmen scheint ("Die Rückengestalt der weisenden Frau und die Folge der Leute, die sich im Schatten der Mauer halten und in ununterbrochenem Strom die Bewegung in die Tiefe hineintragen, würden schon durch die Richtung das Hauptmotiv übertönen", Wölfflin 1984, 245). Es ist dies übrigens ein sehr beredtes Bei­ spiel für die hier mit Nachdruck vertretene These, dass in der Kunstge­ schichte die Wahl der Methode, wie es im wissenschaftlichen Jargon heißt, oft ,feldabhängig' ist, und dass eine gute Beobachtung Resultate bringen kann, die die Beschränktheiten der gewählten Methode transzendieren.

Modifikationen von Wölfflins Begriffen

Eine heute zu Unrecht vergessene Studie von Hans Hoffmann Hochre­ naissance, Manierismus, Frühbarock (Hoffmann 1938), die übrigens nicht ohne Absicht ausgerechnet in Zürich, dem Wohnort Wölfflins, veröffentlicht wurde, zeichnete sich durch eine triadisch angelegte Modifizierung und Weiterentwicklung des Wölfflin'schen Systems aus. Ein Vierteljahrhundert nach den Grundbegriffen behandelte Hoffmann jetzt nur zwei Bereiche (Raum, Lichtführung), wobei man natürlich bedenken muss, dass der Raum­ begriff als solcher hinter mehreren der Wölfflin'schen Kategorien stand. Mit seinen Begriffsschemata Ruheraum (Hochrenaissance), Raumflucht (Manie­ rismus) und Gestauter Raum (Frühbarock) sowie Schwebendes Licht (Hoch­ renaissance), Gleitendes Licht (Manierismus) und Flutendes Licht (Frühba­ rock) schuf Hoffmann stiladäquate Formkategorien mittlerer Reichweite, die zu den besten beschreibenden Kategorien der formanalytischen Kunstge­ schichte überhaupt gehören. So lässt sich der komplizierte Übergang vom Manierismus zum Barock hervorragend anhand von Bildern beschreiben, in denen die Raumflucht und der gestaute Raum eine partielle Verbindung ein­ gehen. Hoffmanns Vorschlägen blieb zwar infolge des Weltkrieges und der nach ihm einsetzenden Abkehr von der reinen Formanalyse eine breitere

IV. Form, Struktur, Bildanalyse

Abb.4: Tintoretto, Mariä Tempelgang,

1552/53, Vene­ dig, Madonna dell'Orto

Rezeption versagt, doch scheinen seine luministischen, also die Lichtführung betreffenden Kategorien das bis heute sehr wichtige Buch von Wolfgang Schöne Über das Licht in der Malerei beeinflusst zu haben (Schöne 1954). Wölfflins Grundbegriffe generierten in den 1920er Jahren mehrere inte­ ressante methodische Adaptations- und Transferversuche in die Literaturwis­

Wölfflin und die Literaturwissenschaft

senschaft, Versuche, die der Literaturwissenschaftler Oskar Walzel schon 1917 in einer programmatischen Schrift mit dem Titel Wechselseitige Erhel­

lung der Künste angekündigt hatte (WalzeI1917). Beinahe zehn Jahre später unternahm Walzel in seiner Abhandlung Shakespeares dramatische Bau­

kunst eine formalästhetische Analyse der Dramen Shakespeares, um dadurch ihren besonderen, in szenisch-kompositioneller Hinsicht den Gemälden des 17. Jahrhunderts entsprechenden ,barocken' Charakter zu beweisen (Walzel 1926). Für Walzeis literarische Analysen war das Wölff­ lin'sche Paar der geschlossenen und offenen Form von zentraler Bedeutung. Er übertrug Wölfflins Beobachtung vom Gleichgewicht der beiden Bildhälf­ ten in der Renaissancemalerei auf den szenischen Aufbau der klassischen französischen Dramatik von Corneille und Racine. Des Weiteren bezog er­ auch hier Wölfflin folgend - den diagonalen Bildaufbau mancher barocker Gemälde auf die Szenen und die Figurenregie in Shakespeares König Lear. Die Tatsache, dass in der zweiten Hälfte des Stückes Lear selbst nicht auf der Bühne erscheint, hat Walzel zu einem Vergleich mit dem Gemälde der

Büßenden Magdalena (um 1630, Galleria Nazionale, Palazzo Barberini, Rom) des Bologneser Malers Guido Reni inspiriert, eines Bildes, auf der die Gestalt der Heiligen beinahe ganz in der linken unteren Bildhälfte einge­ schlossen ist. In der weiteren Folge entschied sich Walzei, die Wölfflin'schen Gegen­ satzpaare des Vielheitlichen und des Einheitlichen sowie der absoluten und der relativen Klarheit auf die gleichmäßige Figurendisposition in der franzö­ sischen Klassik und bei Goethe zu übertragen und kontrastierte dies mit der

Bildmäßige Figurendisposition

51

52 IV. Form, Struktur, Bildanalyse betonten Subordination einzelner flüchtig gezeichneter Nebenfiguren bei Shakespeare. Schließlich sprach Walzel auch von )Iächenhaften" Arrange­ ments bei Goethe und entsprechend von "tiefenhaften" bei Shakespeare. Es ist dies das vielleicht weitreichendste Beispiel der Einwirkung der Kunstge­ schichte auf eine Nachbardisziplin, auch wenn Walzeis Übertragung Wölff­ lin'scher Ideen und Kategorien in die Literaturwissenschaft keine sehr lange Dauer beschieden sein sollte. Es wäre ein Leichtes, die zeitgebundenen und methodischen Begrenzthei­ ten der Walzel'schen Analyse aufzuzeigen. Die französische literaturwissen­ schaft vertrat bis in die 1950er Jahre hinein die These von der Nichtexistenz barocker Stilelemente in der französischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Dass die Zeichnung der Charaktere, mancher jähe Handlungsumschlag (peri­ petie) und die Darstellung der Leidenschaften bei Racine und Corneille barock sind, ist erst seit einigen Jahrzehnten zum Gemeingut literarischer Analysen geworden. In gewissem Sinne ist Walzel der von der Ästhetik der Romantik geprägten Sicht von Stendhal bei dessen kontrastierender Gegen­ überstellung der Literaturästhetik von Racine und Shakespeare (1824) gefolgt. Norddeutsche

Eine weitere interessante Facette im Rahmen der Formanalyse lieferte die

Strukturanalyse

sog. norddeutsche Strukturanalyse um den Ostpreußen Carl von Lorck und vor allem um den Danziger, später in T übingen wirkenden Kunsthistoriker Willi Drost (1892-1964). Es war dies eine eher zurückhaltende, öffentlich­ keitsscheue Methodenschule, deren verdeckte Bezüge zur Stilgeschichte erst durch die methodengeschichtliche Untersuchung von Lorenz Dittmann

Stil, Symbol, Struktur zu Tage gefördert wurden (Dittmann 1967). Unterschiedliche

Bei den Strukturanalysen Drosts geht es um die Gewichtung der Hell-Dun­

Modelle der Bild­

kel-Partien in Bildern rechts und links von einer angenommenen Mittelachse

symmetrie

sowie um deren Anordnung im Bildganzen. Mit Wölfflin verband ihn die Gegenüberstellung der Renaissance und des Barock, welche die Grundlage für seine Analogieschlüsse bildete. Für den Bereich der beschreibend-analyti­ schen Kategorien sei ausdrücklich auf die von Drost erarbeiteten Gesetzmä­ ßigkeiten der komplementären, der polaren oder der kontrastiven Symmetrie verwiesen. In Verbindung mit einer durch den Kunsthistoriker zu unterneh­ menden zeichnerischen Hervorhebung der Hell-Dunkel-Akzentuierung ein­ zelner Partien des jeweils untersuchten Gemäldes vermögen diese Kategorien bei der Analyse einzelner Werke gute Dienste zu leisten. Dagegen muten die von Drost mit Vorliebe in der Flächenstruktur von Bildkompositionen wahr­ genommenen oder in eine solche zeichnerisch hineinprojizierten Rauten und Ovalformen oft sehr schematisch, mitunter völlig willkürlich an.

Verdeckte Ordnung

Einen schwachen Punkt seiner Ausführungen bildet die wenig vertiefte

der Kunst?

Analyse des Manierismus, obwohl Drosts letzte wichtige Schrift mit dem Titel

Form als Symbol schon während der sog. manieristischen Epoche der Jahre 1955-1964 entstanden ist, in welcher sich der Manierismus einer großen Popularität erfreute (Drost 2003). Diese Schwäche wird offensichtlich, wenn man Drosts Analyse von Tintorettos Tempelgang Mariä (1552, S. Maria del­ l'Orto, Venedig) mit der hier schon angeführten Analyse von Heinrich Wölf­ flin vergleicht. Drosts Versuch, die komplizierte Raumstruktur des Manieris­ mus in ein Ovalschema zu zwängen, wird - im Gegensatz zu Wölfflins Beschreibung - der Gestik und den Setzungen der Figuren nicht gerecht. Die-

IV. Form, Struktur, Bildanalyse

ser an sich nebensächlichen Episode wurde so viel Aufmerksamkeit gewid­ met, wei I sie auf ein weiter reichendes Problem der Kunstrezeption verweist, auf ein Problem, das häufig am Anfang vieler formalistischer Begeisterungen stecht: nämlich dasjenige der etwas naiven, doch oft auftretenden Neigung, einfache geometrische Figuren wie Dreiecke und Ovale in eine Bildkomposi­ tion einzuzeichnen und dadurch so etwas wie eine "verdeckte Ordnung der Kunst" zu entdecken oder anschaulich zu machen. Der als Strukturalismus bezeichnete Ansatz des berühmten, doch sehr

Hans Sedlmayr

umstrittenen Österreichers Hans Sedlmayr (1896-1984) ist lange Zeit von seiner einseitigen, antimodernistischen Weltanschauung überschattet wor­ den, wie sie am prononciertesten in seinem programmatischen Buch Verlust

der Mitte (Sedlmayr 1948) hervorgetreten ist, dessen Titel bis heute gerne als Schlagwort bemüht wird. Diese Seite der wissenschaftlichen T ätigkeit Sedlmayrs, seine kulturpessimistische Abneigung gegen die Säkularisations­ prozesse der Moderne wie auch sein Durchdrungensein von austrokonser­ vativen, autoritären Gedankengut sollen - obwohl sie zweifellos die kunst­ historische Praxis und das Bild des Gelehrten mitprägen - hier zurückge­ stellt werden. Es geht hier vor allem um Sedlmayrs vielfältige methodische Ansätze, um seine zahlreichen Bildanalysen und analytischen Kategorien; ein zwar schillerndes, oft widersprüchliches Agglomerat verschiedener Ele­ mente, das aber durch sein ausgesprochenes Problembewusstsein und die expressive Wortmacht des Kunsthistorikers noch immer befruchtend auf die Kunstgeschichte wirkt. Sedlmayrs Strukturalismus wollte die Autonomie des Einzelwerkes - ent­ gegen den großen Linien der Stilgeschichte, der er ein Ausweichen vor der

Strukturanalyse von Gestaltqualitäten

einzelnen Form vorwarf - bewahren. Um das beabsichtigte Ziel einer völlig autonomen Formanalyse zu erreichen, schlug er in einem seiner ersten Auf­ sätze (Sedlmayr 1925) eine Art Strukturanalyse vor, die durch ein Gestalt­ qualitäten wahrnehmendes Sehen zum unmittelbaren Verstehen des Kunst­ werks führen sollte, da sich alle seine Merkmale auf zentrale Gestaltungs­ prinzipien zurückführen lassen sollten. Der Aufstieg des Strukturalismus in den 1920er Jahren vollzog sich im Schatten einer neuen, gestaltanalytisch ausgerichteten Schule in der Psy­ chologie. Die Gestaltpsychologie, zu deren berühmtesten Vertretern Kurt Koffka, Wolfgang Köhler, Max Wertheimer und Johannes von Allesch (der auch kunsthistorische Beiträge lieferte) gehörten, betonte die Dominanz der sich im ersten prälogischen Sinneseindruck des Objektes dem Betrachter darbietenden Form über die einzelnen Bestandteile der Figur. Die Gestalt­ theoretiker wiesen auf die strukturierende Signifikanz einer solchermaßen von dem Auge erfassten Prägnanz hin und bedienten sich holistischer Ansatzpunkte, die dem strengen kunsthistorischen Formethos der 1920er Jahre entsprachen. Ein gestaltanalytischer Strang lässt sich auch in späteren kunstgeschichtlichen Methoden, so bei Rudolf Arnheim und im Hauptwerk von Ernst Gombrich, Art and Illusion (Gombrich 1961), feststellen. Das zentrale Problem des gestalttheoretischen Ansatzes in seinen kunsthistori­ schen Ausprägungen besteht darin, dass sehpsychologische Versuche, die "prälogische Gestalt" eines Objekts zu bestimmen, nur selten überzeugen­ de Resultate im Kontext der Stil- und Formgeschichte der Kunst bringen.

Gestaltpsychologie

53

54 IV. Form, Struktur, Bildanalyse Ganzheitlichkeit

Bei Sedlmayr lassen sich in den frühen Aufsätzen einige gestalttheoreti­

versus

sche Ansätze feststellen. Das offensichtlich psychologisch motivierte Streben

Detailprozeduren

nach Ganzheitlichkeit hatte auch tiefe Wurzeln in seiner religiös-politischen Haltung. Doch schon bald gab er die ganzheitliche Sicht zugunsten der Wahl eines Ansatzpunktes auf, von dem aus in einer stufenweisen Prozedur das Kunstwerk sozusagen aufgeschlüsselt wurde, wobei der Prozedur als sol­ cher etwas vom Transformativen des Strukturalismus anhaftete. Ein solcher Ansatzpunkt konnte für Sedlmayr in einer auf den ersten BI ick von Bedeutun­ gen unbelasteten Form bestehen; andererseits konnte auch eine wegen ihrer typologischen oder geistesgeschichtlichen Valenz hervortretende Form die Aufmerksamkeit des Forschers erweckt haben. Trotz der Sedlmayrs Kunst­ und Geschichtsbild prägenden ganzheitlichen Rhetorik bildet seine metho­ disches Vorgehen, was die Auswahl der Form oder des Ansatzes betrifft, in Wirklichkeit einen Gegenpol zu einer ganzheitlichen Sicht: "In Sedlmayr's

Strukturanalyse, the dynamism of the interpretative procedure and the fictio­ nal integrity of the work are on a collision course" (Wood 2000, 44). Doch es bleibt das große Verdienst Sedlmayrs, das Problem der Bestimmung des Ansatzpunktes wie auch dasjenige der Wahl einer besonderen Form oder eines Formkomplexes, von dem aus das Kunstwerk entschlüsselt werden kann, in die kunsthistorische Disziplin eingeführt zu haben. Methode der

Beim näheren Hinsehen operiert Sedlmayr mit drei besonderen Katego­

kritischen Formen

rien von Formeneinheiten. Als erste wäre hier die vor allem in den zwanzi­ ger und dreißiger Jahren auftretende Kategorie des "formalen Moduls" (Begriff des Verf.) zu erwähnen, das heißt eine von Sedlmayr ausgewählte kleine Einheit, z. B. die dreigliedrigen Travees der Fassaden und Wände in der römischen Barockkirche San Carlo alle Quattro Fontane, welche die Wand gliedern und ihre Gesamtanlage gleichsam in nuce darstellen. Es geht hier Sedlmayr (Sedlmayr 1925) auch um die Tatsache, dass eine solche grundlegende Traveeneinheit eine Art "Doppelstruktur" zu bilden imstande ist, da sie in der Wandgliederung des Innenraums den Rhythmus der einzel­ nen Teile in zweifacher Weise betonen kann (z. B. konvex - konkav, auch je nach Stockwerk unterschiedliche Betonung der Achsen oder Wandfelder). Die nächste Kategorie, die der kritischen Formen, ist eine Variante der ers­ ten, doch funktioniert sie nicht im Kontext des Einzelwerkes wie die vorhe­ rige, sondern als Teil eines dynamischen Entwicklungsstranges. Sedlmayr charakterisiert sie gegen Ende seines Lebens folgendermaßen: Unter den Formen, mit denen eine neue Epoche sich im Felde der Kunst verkörpert, sind radikal neue immer sehr selten; weitaus die meisten For­ men einer Zeit werden durch Umformungen älterer erzeugt. Und weil radikal neue Formen selten sind, liegt es nahe, ihnen keine besondere Be­ deutung zuzumessen, sondern sie als Ausnahmen, als Sonderfälle oder sogar als Absonderlichkeiten zu sehen. Doch eine zunächst nur selten auf­ tretende Form muss nicht bedeutungslos sein. Es ist vielmehr zum heuristi­ schen Prinzip zu machen, dass sich in radikal neuen Formen Tendenzen verraten, die in weniger auffallender Weise gleichzeitig wirksam sind und in bestimmter Weise das Schaffen der folgenden Zeit bestimmen. Mehr als das: Aus der Betrachtung der kritischen Form lässt sich ein erzeugendes Strukturprinzip entnehmen, aus welchem sich, hat man es auf den Begriff

IV. Form, Struktur, Bildanalyse

gebracht, weitere Formen und Vorgänge in ganz konkreter Weise ableiten lassen, welche dieser Epoche eigentümlich sind. Kritische Formen sind Schlüssel der Erkenntnis. "Kritisch" habe ich diese radikal neuen Formen genannt, weil sie unter­ scheidende Kraft haben, und krinein unterscheiden heißt. Was in dem Na­ men weniger zum Ausdruck kommt, ist, daß sie zugleich auch verräteri­ sche, nämlich verborgene Tendenzen aufschließende Formen, sind. (Sedlmayr, in: Sedlmayr 1982, 31) Als kritische Formen bezeichnete Sedlmayr u. a. die Figurennische, den Dienst als Element der Wandgliederung der romanischen Kirche nach 1050 oder das Figurenkapitell. Sie sind nach ihm Initialformen eines sich dann weiterentwickelnden Formen- und Lösungsstranges, der durch die bloße Andersartigkeit seiner ersten Lösung eine modernisierende Rolle in der Kunstentwicklung spielt, indem er entweder die bisherige architektonische Gestalt neu gliedert oder ihre bisherige Logik dermaßen ,verräterisch' ad

absurdum führt, dass auch hier eine Neugestaltung unausweichlich wird. Als dritte Kategorie sollte man hier so etwas wie die symbolisch oder ideo­ logisch geprägte kritische Form (Formulierung des Verf.) anführen. Eine sol­ che Form war für Sedlmayr z. B. der Baldachin. Ausgehend von der sakralen Funktion realer Baldachine des Mittelalters, entschloss sich Sedlmayr, die gotische Kathedrale als "Baldachinraum" zu deuten (Sedlmayr 1950). Gleichzeitig hat er die von ihm vorgeschlagene Analogie durch eine Kon­ struktionsanalyse gotischer Kirchen auch formgeschichtlich herauszuarbei­ ten versucht. In seinen Augen wurde das in die Struktur des gotischen Gewölbes inkorporierte Baldachinmotiv zu einer neuen kritischen Form, die das neue Streben der Menschen der Hoch- und Spätgotik nach einem Himmelsbezug des Kirchengewölbes symbolisch verkörpern sollte: Die Mehrheit der Kunsthistoriker ist hier Sedlmayrs Thesen jedoch nicht gefolgt. Auch das berühmte Projekt des französischen Revolutionsarchitekten Ledoux, ein Flurwächterhaus in Form einer Kugel zu errichten, nahm Sedl­ mayr für die Kategorie der ideologisch vorgeprägten kritischen Formen in Anspruch, diesmal aber umgekehrt als verdammenswertes Symptom eines revolutionären Sturzes ins Utopische und Bodenlose. Sedlmayrs Kategorien sollten hier noch um das Problem der Brüche und Bruchlinien im Kunstwerk, die in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht eine

Brüche und Transformationen

sehr produktive Quelle sein können, wie auch um dasjenige der produkti­ ven Missverständnisse ergänzt werden. Ein wichtiger Aufsatz des Mediävis­ ten Adolph Goldschmidt über die Bedeutung der Umsetzung von falsch ver­ standenen oder falsch rezipierten Motiven in der mittelalterlichen Kunst zeigte die potentielle entwicklungsgeschichtliche Bedeutung solcher Fehler, deren Funktion nicht sehr weit von der "verräterischen Rolle" einiger kriti­ scher Formen im Sinne Sedlmayrs entfernt war (Goldschmidt 1937). Im Re­ sultat findet man bei Sedlmayr und im Aufsatz von Goldschmidt eine ganze Reihe von Anregungen zur analytischen Erfassung von transformations-ge­ nerierenden Elementen und Formen. In seiner klassischen Periode, das heißt in der Zeit zwischen 1930 und 1960, vertrat Sedlmayr darüber hinaus die Idee einer expressiven Anschau­ lichkeit, bei der es darum ging, den das Werk prägenden Grundton zu erfas-

Gestimmtheit versus antinomisches Denken

55

56 IV. Form, Struktur, Bildanalyse sen. Die richtige Erfassung der Stimmung sollte wiederum - zwar nicht ohne die Gefahr eines interpretatorischen Zirkelschlusses - die Richtigkeit der Wahl der kritischen Form oder des antithetischen Paares garantieren. Besonders der letztere Ansatzpunkt war damals bei Sedlmayr der dominie­ rende; er entsprach seinem schroffen Denken in Antinomien. So hat er in zwei wichtigen Studien (Sedlmayr 1934, 1957) die Erkenntnisse der Stilge­ schichte vom Widerstreit des Gotischen und der Renaissancelemente bei Bruegel zu einer literarisch brillianten Analyse der Gemälde des Meisters­ vor allem des berühmten Blindensturzes (1568, Museo Capodimonte, Nea­ pel, Abb. 5) - benutzt. Im ersten Aufsatz spricht er von der "dualistischen Zerspaltung" des Bildes in Farbflecken und Raumgrund. Bei der Beschrei­ bung erprobt er durch eine optische Agnoszierung vor allem der Farbflecken so etwas wie ein primäres vorgegenständliches Sehen (obwohl diese Vorge­ hensweise als solche sehr stark vom kunsthistorischen Vorwissen um das noch Gotische, das Abgesetzt-Kantige und Halbabstrakte der Formenwelt bei Bruegel geprägt war). Im zweiten Aufsatz verbindet er eine psycholo­ gisch unterfütterte Formanalyse mit einer inhaltlichen Rekonstruktion, die das Bild als Träger sukzessiver Sinnschichten versteht. In der ersten Schicht, die noch auf dem primären Sinneseindruck basiert, sieht er das Bild als Parabel der Dämonie, als Inbegriff künstlerischen Oszillierens zwischen den Polen des Unheimlichen in der figuralen Szene und des Behaglichen der Dorflandschaft im Hintergrund des Bildes. Analyse des

Mitte der fünfziger Jahre gelang es Sedlmayr, sowohl in seiner Analyse des

Blindensturzes

Bildes von Bruegel als auch in seiner zu Recht berühmten Analyse der Fassa­ de der barocken Karl-Borromäus-Kirche in Wien (1716, Fischer von Erlach), eine Strukturanalyse seiner Art mit ikonographischen Elementen zu verbin­ den. Beim Blindensturz geschah dies durch die Anknüpfung an die mittelal­ terliche Theorie des vierfachen Schriftsinnes, die Sedlmayr auf Bruegels Gemälde übertrug, indem er betonte, dass alle vier Ebenen - die wörtliche, die allegorische, die eschatologische und die tropologische - in gewissem Sinne im Sturz der Blinden eine Einheit bilden. Auf der ersten Ebene der wort­ wörtlichen Bedeutung wird der Blindensturz, wie schon gesagt, als Bild der Dämonie aufgefasst; auf der allegorischen Ebene sieht Sedlmayr im Bild der

Abb.5: Pieter Bruegel, Der Sturz der Blinden, 1568, Neapel, Museo Capodimonte

IV. Form, Struktur, Bildanalyse

Abb. 6 : Johann Fischer von Er­ lach, Karlskirche, 171639, Wien (Aufriss eines anonymen Zeichners in Wiener Bauindustrie­ zeitung, Beilage: Wiener Bautenalbum: Bd. XIV/XV, 1896/97, Blatt 54)

vorwärtsgehenden und fallenden Blinden ein Exemplum "der verkehrten Welt"; auf der eschatologischen Ebene weist es "auf die Blindheit des Men­ schen in der Welt"; auf der letzten, der tropologischen Ebene, erhält das Bild "eine Bedeutung, die das Bild der Blinden und ihres Sturzes als Exemplum der menschlichen Seele und ihrer Kräfte auffaßt". Sedlmayr erfasste die gan­ ze Spannbreite der Bedeutungen zwischen dem unmittelbaren Blick auf eine Genreszene und dem Nachdenken über den Lebenssinn des Menschen in einer sich verdüsternden und immer unbegreiflicheren Welt. Sedlmayrs wichtige Deutung der Schauseite der Wiener Karl-BorromäusKirche (1716-1739, Abb. 6), gilt bis heute als ein paradigmatisches Meisterstück einer kunsthistorischen Interpretation. Die sechs großen Baueinheiten, aus denen die Schauseite der Karlskirche besteht - der ,Rundbau' des ovalen Kuppelraumes, die Vorhalle, die beiden Riesensäulen und die beiden Turmpavillons - ordnen sich nach einem für barockes Kunstschaffen sehr bezeichnenden Prinzip: Zwei Auffassungen verschränken sich miteinander, lagern sich übereinander, bereichern und erhöhen sich wechselseitig. Nach der einen Auffassungsweise sind in sehr auffallender, gar nicht zu übersehender Weise die drei hochragenden Kör­ per - der mächtige Zylinder des Kuppelbaues und die beiden genau gleich hohen, schlanken, dafür aber kompakteren Zylinder der beiden Säulenko­ losse - aufeinander bezogen und zu einer Dreiheit zusammengefasst [ . . ] .

Diese erste Auffassungsweise schlägt bei eindringlicher Betrachtung von selbst in eine zweite um. Wiederum fassen wir die sechs Grundkörper der Schauseite zu zwei Dreiheiten zusammen, aber in anderer Gruppierung. Wir sehen eine mächtige, pyramidierende Gruppe: den Hauptkörper des Runds auf einem sockelartigen Unterbau, der rechts und links nach vorn

Schauseite der Karlskirche

57

58 IV. Form, Struktur, Bildanalyse ihm unterordnete Flügelbauten "wie ausgebreitete Arme" entsendet. Vor dieser pyramidischen Hauptgruppe steht eine zweite Dreiergruppe: eine antike Tempelhalle wird von zwei antiken Triumphsäulen flankiert. Nicht anders im Formalen wird auch im symbolisch-emblematischen der erste Aspekt von einem zweiten überlagert: Nun steht ikonologisch im Mit­ telpunkt die Apotheose des Heiligen, der auf dem Giebel von Engeln gegen den Himmel getragen wird [ ..] Die beiden Riesensäulen aber bedeuten .

emblematisch die constantia et fortitudo des Heiligen [ ..] und zeigen in .

ihren Reliefs die Taten des hl. Karl Borromäus während seines Lebens und die Wunder nach seinem Tode. Und schließlich stellt das Relief des Giebels die Errettung Wiens von der Pest durch die Fürbitte des Heiligen dar, also jenes Ereignis, um dessentwillen die Kirche vom Kaiser 1713 gelobt wor­ den war. Das Ganze ist ein geistliches Triumphalprogramm, nicht nur for­ ma I, sondern auch bi Idlich eine sakrale Ehrenpforte vor der Kirehe. (Sedlmayr 1960, 175-77, 182) Lehrstück der

Die zitierten Auszüge können den gedanklichen Reichtum und die Strin­

Methode

genz der übrigens relativ knappen Ausführungen Sedlmayrs nur unvollkom­ men wiedergeben. Die Analyse verbindet in einer sehr logischen und instruktiven Art zwei Sichtweisen, wobei die erste zweifellos durch gestalt­ analytische Prozeduren mitgeprägt wurde. Doch erst durch die stufenweise, enge Verknüpfung zweier divergierender Möglichkeiten der visuellen Wahr­ nehmung mit einer Reihe von erklärenden ikonographischen Referenzen ist diese Interpretation von Sedlmayr zu einem Lehrstück der kunsthistorischen Methode avanciert. Es war dies unter den unzähligen kunsthistorischen Analysen einer der sehr seltenen Fälle, bei dem es in einem anschaulichen Prozess zu einer integralen Verbindung von Form und Inhalt kam, was natürlich auch durch den Umstand erleichtert wurde, dass ein Kirchenge­ bäude als solches Träger mehrerer Sinnschichten sein kann.

Rokoko und

Bei aller ideologischen Einseitigkeit Sedlmayrs, die seinen Konzepten

Mikromegalismus

jedoch paradoxerweise zu einer besonderen, letztlich auch befruchtenden Radikalität verhalf, besaß der Gelehrte ein ausgezeichnetes formanalyti­ sches Sensorium. Seine zusammen mit Hermann Bauer unternommene Analyse des Rokoko, in welcher er das Wesen des Stiles an einer Reihe von widersprüchlichen formalen Eigenschaften beschrieb (beispielsweise der Bereitschaft, die Größenverhältnisse unterschiedlicher Figuren und Objekte relationslos zu gestalten (sog. Mikromegalismus) oder dem in koloristischer Hinsicht neuartigen Einsatz einer, wohlgemerkt stumpfen, weißen Farbe und deren Platz im neuartigen Ensemble des lichtdurchfluteten Rokokozim­ mers, zeigt Sedlmayrs Vermögen, scheinbar dekorative oder in formalem Sinne widersprüchliche Elemente in ihrer im entwicklungsgeschichtlichen Sinne sehr produktiven Rolle zu erfassen.

Ernst Gombrich

Wien, aber auch die gestaltanalytische Schule der Psychologie, lieferten den Ausgangspunkt für die anders geartete, lange wissenschaftliche Karriere des Wiener Kunsthistorikers Ernst). Gombrich (1909-2001). Der österrei­ chische Forscher, obwohl seit 1936 in London lebend, hat zeit seines Lebens spezifisch wienerische, von der Psychologie geprägte Herangehens­ weisen mit angelsächsischem Rationalismus und analytischer Diskursivität verbunden. Im Gegensatz zu Sedlmayr besaß der psychologisch geschulte

IV. Form, Struktur, Bildanalyse 59 Gombrich eine vertiefte Kenntnis der Gestaltanalyse - so vor allem der Arbeiten Wolfgang Köhlers - und unternahm selbst verschiedene optische Wahrnehmungsexperimente. Doch Gombrich ging über diese Ansätze hi­ naus, indem er beim subjektiven Wahrnehmungsakt das Konzept des "unschuldigen" Auges ablehnte und den Perzeptionsprozess sowohl des Künstlers als auch des Betrachters fortlaufend dem operativen Begriffspaar von scheme und correction (Schema und Korrektur) unterordnete. Für Gom­ brich war beim Akt des Sehens die Rolle der Erwartung von nicht zu unter­ schätzender Bedeutung: Er bezeichnete den Erwartungshorizont als Teil des mental set, denn die optische Wahrnehmung wird durch subjektive Empfin­

dungen und selektierendes Vorwissen geprägt. Die Korrekturen des Sche­ mas werden nicht immanent - wie bei Wölfflin und Riegl - durchgeführt, sondern von außen in die Kunstentwicklung hereingetragen und historisie­ ren somit die Kunstentwicklung und das Leben der Formen. Den zentralen Platz im Theoriegebäude Gombrichs nimmt das Konzept der Illusion ein. Gombrich versteht darunter nicht die Illusion im ursprüngli-

Illusion als artistische Fixierung

chen Sinne eines täuschenden Spiels mit der Realität, sondern als Prozess der künstlerischen Fixierung unterschiedlicher Eindrücke zu einem neuen Ganzen. Dieser Begriff - in dem Titel seines führenden Buches Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation - hat mit Sinnes-

täuschung nur wenig gemein (Gombrich 1961, dt. 1967). Die Illusion als Zustand und artistischer Zielpunkt zugleich hat die Aufgabe, das Stadium der - nur vermeintlich direkten - Naturnachahmung zu überspringen und durch einen Prozess des "matching and mating' den finalen künstlerischen Zustand zu erreichen. Dabei geht Gombrich von einem quasi-rationalen Prozess der Erfassung der Wirklichkeit aus, in dem das neue Kunstwerk der bisherigen Formentradition angepasst wird. Die Arbeit am Kunstwerk gestaltet sich für Gombrich als permanenter Prozess der Interferenz zwischen überkommenen Schemata und immerwährenden Korrekturen. Gombrichs oben erwähnte Abhandlung über Kunst und Illusion bildet sowohl eine Art Proklamation der neuen Methode - als solche ist sie heute zweifellos von historischer Bedeutung - wie auch ein ausgezeichnetes Repertorium von Exempeln, in denen Gombrich das Einwirken von Konven­ tionen und Sehweisen auf vermeintlich neuartige Kunstwerke verfolgt. Für Gombrich speist sich Kunst aus vorangegangenen Kunstwerken und künst­ lerischen Sehformen; er tendierte dazu, den Einfluss des Realismus und des Naturstudiums zu minimieren. Hier liegt auch der Grund, warum sich Gombrich, abgesehen von der bezeichnenden Ausnahme der Karikatur, nie mit der Kunst des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat, denn in diesem Fall hat der dramatische, durch die Moderne bewirkte Bruch in der Formen­ weit Bezüge solcher Art unmöglich gemacht. In Gombrichs System spielen die entgegengesetzten Begriffe der Ähn I ichkeit und der Äquivalenz eine zentrale Rolle. Während er den Begriff der Ähnlichkeit dem Bereich der von ihm so verstandenen "Naturwiedergabe" zuordnete, wird eine prozessual, d. h. sukzessiv herzustellende Äquivalenz zur vielleicht wichtigsten Triebfeder des künstlerischen Aneignungs- und Schöpfungsaktes. Gombrich, der sich seit seinen Wiener Tagen für die Karikatur interessiert hat, bemüht zur Verdeutlichung der Wirkung des Begriffes die berühmte Folge der vier Karikaturen des Königs Louis-Philippe (1834, Abb. 7), gezeichnet vom

Ähnlichkeit und Äquivalenz

60 IV. Form, Struktur, Bildanalyse Karikaturisten Philipon, in denen der Bürgerkönig durch vier sukzessive Angleichungen mit einer Birne (frz. poirefür Dummkopf) gleichgesetzt wurde. Diese berüchtigte Bilderfolge basiere, laut Gombrich, auf einer Darstellung von Äquivalenzen. Seine Beschreibung und Analyse der Philipon'schen Bild­ erfolge zeigt die ganze Spannweite der Äquivalenzbestimmung:

Äquivalenzen

Alle Entdeckungen auf dem Gebiet der Kunst sind nämlich nicht Entde­ ckungen von Übereinstimmungen, sondern von Äquivalenzen oder Ent­ sprechungen, die es uns ermöglichen, die Realität als ein Bild und ein Bild als Realität zu sehen. Dabei ist wesentlich, dass diese Äquivalenz nicht so sehr auf einer Übereinstimmung der einzelnen Elemente beruht als auf der Gleichheit unserer Reaktionen auf gewisse Relationen und Verhältnisse, selbst wenn ihre Elemente nicht identisch sind. Wir reagieren auf einen weißen Fleck auf der schwarzen Silhouette eines Kruges, wie wenn er ein Glanzlicht wäre, und auf eine Birne mit einigen kreuz und quer gezeichne­ ten Linien, als wäre sie der Kopf des Königs Louis Philippe. Gerade weil unser Identitätserlebnis nicht so sehr von einer gewissen Nachahmung einzelner Züge ausgelöst wird wie von einem Zusammen-

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