Einführung in die biblische Didaktik 3534244443, 9783534244447

Der Autor erschließt didaktisch den Text der Bibel auf zwei Ebenen: zum einen wird das didaktische Potential der Texte s

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German Pages 252 Year 2011

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Titel
Impressum
Inhalt
1. Die Bibel – ein Buch des Lernens
1.1 Der Schlüssel: Eine ganz einfache Einsicht
1.2 Das „Schriftprinzip" – Lernziel: Mündigkeit
1.3 Biblische Didaktik: Ein Entwurf der Hoffnung
1.4 Biblische Wege des Lernens
2. Worte zum Leben
2.1 Der Ansatz: Entdeckungen mit Kindern
2.1.1 Fragen an den Bibelunterricht
2.1.2 Am Anfang: die Psalmen
2.1.3 Kinder entdecken sich selbst in Worten der Bibel
2.2 Was ist geschehen?
2.2.1 Kontextuelle Exegese: Ursprüngliches Verstehen
2.2.2 Emotionale Erziehung: Worte gegen die Angst
2.2.3 Ein elementarer Zugang zur Gottesfrage
2.3 Elementare Arbeitsformen
2.3.1 Das assoziierende Gespräch
2.3.2 Aneignung als kreatives Lernen
2.3.3 Nonverbale Gestaltung
2.4 Eine andere Welt: Leben heißt Loben
2.4.1 Das Lob: Die einfache Sprache der Freude
2.4.2 Die Hauptsätze des Lobes
2.4.3 Loben heißt: Leben entdecken
2.4.4 Anstoß zur Kreativität: Ich will dir singen
2.4.5 Du – wer bist Du?
3. Geschichten gegen den Tod
3.1 Erzählen von einer neuen Hoffnung: Jesus aus Nazareth
3.1.1 Wie fangen wir an?
3.1.2 Geschichten wachsen zusammen
3.1.3 Wundergeschichten – Hoffnungsgeschichten für Kinder
3.2 Christologie für Kinder
3.2.1 Wer ist das eigentlich?
3.2.2 Für uns gelebt – für uns gestorben
3.2.3 Wo beginnt die Geschichte der Hoffnung?
3.3 Erzählen als Unterrichtsform
3.3.1 Erzählen bleibt notwendig
3.3.2 Nacherzählen heißt neu erzählen
3.3.3 Spannung und Anschaulichkeit
3.3.4 Narrativ lernen
3.3.5 Erzählen ohne Worte
3.3.6 Aneignung durch Vernetzung
3.3.7 Koptextgeschichten
3.4 Kindheitsmuster in Hoffnungsgeschichten
3.4.1 Eine Geschichte gegen die Angst
3.4.2 Geschichten gegen die Verzweiflung
3.4.3 Von der Bändigung des Chaos
4. Prophetischer Einspruch: Die Sprache der Gerechtigkeit
4.1 Der Gott der Gerechtigkeit
4.1.1 Die Grundform prophetischer Rede
4.1.2 Die Evidenz prophetischer Gotteserfahrung
4.1.3 Die Vertrauensworte: Grunderfahrung der Gerechtigkeit
4.2 Elementare Didaktik der Gerechtigkeit
4.2.1 Öffentlicher Widerspruch als Sprachform der Hoffnung
4.2.2 Die Didaktik der Tora
4.2.3 Gerechtigkeit: Ein Wort als Impuls
4.3 Didaktik als Dramaturgie
4.3.1 Dramaturgie des Unterrichtsgesprächs
4.3.2 Interaktion: Inszenierung existentiellen Lernens
4.3.3 Bibliodrama als Unterrichtsform
4.4 Biblische Dramaturgie
4.4.1 Inszenierung der Hoffnung: Exilsprophetie
4.4.2 Versuchungsgeschichten
4.4.3 Die Dramaturgie der Gleichniserzählungen
4.4.4 Paulus als Dramaturg
4.4.5 Der biblische Kanon: Ein Buch der Widersprüche
5. Auferstehung lernen
5.1 Die Psalmen: Brücken der Erinnerung
5.1.1 ... nur wenn man das Leben und die Erde so liebt
5.1.2 Du machst mich wieder lebendig
5.1.3 Leben als Wunder
5.2 Erzählen als Brücke: Vor-Bilder der Auferstehung
5.2.1 Blinde sehen, Lahme gehen, Tote stehen auf
5.2.2 Saat und Ernte: Gleichnis vom Sterben und Auferstehen
5.2.3 Die Haggada des letzten Mahles
5.3 Was heißt: Auferstanden von den Toten–?
5.3.1 Die Botschaft: Er ist nicht tot, ihr werdet ihn sehen!
5.3.2 Zuletzt zeigte er sich auch mir
5.3.3 Mußte nicht Christus auferstehen?
5.4 Auferstehung als Gegenerfahrung
5.4.1 Erinnerung: Same der Auferstehung
5.4.2 Dort werdet ihr ihn sehen: Begegnungsgeschichten
5.4.3 Gott hat ihn aufgerichtet: Befreiungsgeschichten
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Einführung in die biblische Didaktik
 3534244443, 9783534244447

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DIE THEOLOGIE Einführungen in Gegenstand, Methoden und Ergebnisse ihrer Disziplinen und Nachbarwissenschaften

INGO BALDERMANN

EINFÜHRUNG IN DIE BIBLISCHE DIDAKTIK

4. Auflage

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

4., um ein zweites Vorwort ergänzte Auflage 2011 © 2011 by W BG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 1. Auflage 1996 Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der W BG ermöglicht. Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-24444-7

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): eBook (epub):

978-3-534-72021-7 978-3-534-72022-4

Dieses Buch widme ich Folker Albrecht Astrid Greve Anke Heide Anne Höfer im Gedenken an die Jahre gemeinsamer Entdeckungen mit Kindern an der Bibel

üf course there are many books which I could read. But there is only one book which reads me! (eine afrikanische Christin)

I N HALT Vorwort Vorwort zur 4. Auflage .

XIII XV

1. 1.1 1.2 1.3 1.4

Die Bibel - ein Buch des Lernens Der Schlüssel: Eine ganz einfache Einsicht Das »Schriftprinzip" - Lernziel: Mündigkeit Biblische Didaktik: Ein Entwurf der Hoffnung Biblische Wege des Lernens

1 5 9 15

2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5

Worte zum Leben Der Ansatz : Entdeckungen mit Kindern Fragen an den Bibelunterricht Am Anfang: die Psalmen . Kinder entdecken sich selbst in Worten der Bibel Was ist geschehen ? Kontextuelle Exegese : Ursprüngliches Verstehen Emotionale Erziehung: Worte gegen die Angst . Ein elementarer Zugang zur Gottesfrage Elementare Arbeitsformen Das assoziierende Gespräch Aneignung als kreatives Lernen Nonverbale Gestaltung Eine andere Welt: Leben heißt Loben Das Lob : Die einfache Sprache der Freude Die Hauptsätze des Lobes Loben heißt: Leben entdecken Anstoß zur Kreativität: Ich will dir singen Du - wer bist Du ?

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3. 3.1 3 .1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1

Geschichten gegen den Tod Erzählen von einer neuen Hoffnung: Jesus aus Nazareth Wie fangen wir an ? . Geschichten wachsen zusammen Wundergeschichten - Hoffnungsgeschichten für Kinder Christologie für Kinder Wer ist das eigentlich ? .

69 69 69 73 76 81 81

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Inhalt

3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.3.7 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3

Für uns gelebt - für uns gestorben Wo beginnt die Geschichte der Hoffnung ? Erzählen als Unterrichtsform Erzählen bleibt notwendig Nacherzählen heißt neu erzählen Spannung und Anschaulichkeit Narrativ lernen Erzählen ohne Worte Aneignung durch Vernetzung Koptextgeschichten . Kindheitsmuster in Hoffnungsgeschichten Eine Geschichte gegen die Angst Geschichten gegen die Verzweiflung Von der Bändigung des Chaos

86 88 91 91 99 1 04 1 07 112 114 115 118 118 121 124

4. 4.1 4.1.1 4.1 .2 4.1.3

131 1 32 132 1 38

4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5

Prophetischer Einspruch : Die Sprache der Gerechtigkeit. Der Gott der Gerechtigkeit Die Grundform prophetischer Rede Die Evidenz prophetischer Gotteserfahrung Die Vertrauensworte: Grunderfahrung der Gerechtigkeit Elementare Didaktik der Gerechtigkeit Öffentlicher Widerspruch als Sprachform der Hoffnung . Die Didaktik der Tora . Gerechtigkeit: Ein Wort als Impuls. Didaktik als Dramaturgie . Dramaturgie des Unterrichtsgesprächs Interaktion: Inszenierung existentiellen Lernens Bibliodrama als Unterrichtsform Biblische Dramaturgie . Inszenierung der Hoffnung: Exilsprophetie Versuchungsgeschichten Die Dramaturgie der Gleichniserzählungen Paulus als Dramaturg Der biblische Kanon : Ein Buch der Widersprüche .

5. 5.1 5.1.1 5.1 .2 5.1.3

Auferstehung lernen Die Psalmen : Brücken der Erinnerung ... nur wenn man das Leben und die Erde so liebt Du machst mich wieder lebendig Leben als Wunder

1 98 200 200 20 1 203

1 40 1 45 1 45 148 1 54 1 57 1 57 1 60 1 66 1 71 1 72 1 76 1 82 1 85 1 94

5.2 5.2. 1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.3. 1 5.3.2 5.3.3 5.4 5.4. 1 5.4.2 5.4.3

Inhalt

XI

Erzählen als Brücke : Vor-Bilder der Auferstehung . Blinde sehen, Lahme gehen, Tote stehen auf . Saat und Ernte- Gleichnis vom Sterben und Auferstehen . Die Haggada des letzten Mahles Was heißt: Auferstanden von den Toten-? Die Botschaft: Er ist nicht tot, ihr werdet ihn sehen! Zuletzt zeigte er sich auch mir Mußte nicht Christus auferstehen? . Auferstehung als Gegenerfahrung Erinnerung: Same der Auferstehung Dort werdet ihr ihn sehen : Begegnungsgeschichten Gott hat ihn aufgerichtet: Befreiungsgeschichten

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Register . Stichworte Bibelstellen

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VORWORT Biblische Didaktik: das ist zuallererst die der Bibel eigene Didaktik, ihre Art zu reden. Wir fragen danach, weil wir die Bibel nicht mehr als das Buch einer Lehre nehmen, die so und nicht anders Geltung bean­ sprucht, sondern als ein Buch des Lernens, das auf immer neuen Wegen Menschen die Augen öffnen will für Erfahrungen, die Hoffnung stiften. Hoffnung kann nicht als Lehre vermittelt, Hoffnung muß Schritt für Schritt immer wieder neu wahrgenommen und erlernt werden. Diese Wege des Lernens habe ich nachzuzeichnen versucht, und das ist das Thema meines Lebens geblieben. Seit dem Erscheinen der ersten >Biblischen Didaktik< ist ein Menschenalter vergangen, Grund genug, Rechenschaft zu geben, was seither daraus geworden ist. Einige Entdeckungen haben den Ansatz von Grund auf verändert: die Einsicht, daß unter den heute verschärften Bedingungen die Frage nach der Hoffnung die Grundfrage jeder Didaktik ist; dazu kam der deutlicher wahrgenommene ökumenische Kontext, der unseren Umgang mit der Bibel verändert; vor allem aber die Entdeckung, daß Kinder einen eige­ nen unmittelbaren Zugang zur Bibel finden und damit kreativ umgehen können. Dabei öffneten sich Türen, die fest verschlossen schienen. Es war ein Weg gemeinsamer Entdeckungen in einer glücklichen Zeit der Zusammenarbeit mit Folker Albrecht, Astrid Greve, Anke Heide und Anne Höfer, mit den Mitarbeiterinnen, den Studierenden und den Kindern unserer Schulpraktika. Die Fertigstellung des Manuskripts hat Anne Höfer bis zuletzt mit ihrer Sachkenntnis begleitet; dafür habe ich ihr besonders zu danken. Ich hatte nicht erwartet, daß ich mit Kindern in der Grundschule solche Gespräche über Psalmentexte erleben würde; ich hatte mir auch nicht vor­ stellen können, daß neutestamentliche Wundergeschichten für diese Kinder zu notwendigen tröstlichen Geschichten würden. Immer wieder bin ich mir bei den Unterrichtsversuchen der letzten Jahre vorgekommen wie der Kaufmann im Gleichnis von der kostbaren Perle: Endlich habe ich gefunden, wonach ich so lange gesucht habe. Ich wünsche mir, daß die fol­ genden Seiten nicht nur die notwendige selbstkritische Reflexion, sondern auch noch etwas von dieser Freude des Entdeckens vermitteln können. Siegen, im Januar 1996

Ingo Baldermann

VORWORT ZUR 4. AUFLAGE Das T hema >Biblische Didaktik< markiert die Pole des Spannungsfel­ des, in dem sich unser Unterricht bewegt: Die Bibel ist maßgeblich sein Gegenstand; in ihr ist die grundlegende Gotteserfahrung der jüdisch­ christlichen und nicht zuletzt auch der muslimischen Tradition Sprache geworden. Erfahrungen mit der Bibel prägen das ökumenische Ge­ spräch: die Entdeckung, dass die Bibel sich in den bedrängenden glo­ balen Auseinandersetzungen unerwartet lebendig und deutlich zu Wor­ te meldet, unvergleichlich als Befreiung und Trost und als ein Impuls der Hoffnung auf Gerechtigkeit. Und dabei redet die Bibel so elementar, dass auch Kinder begreifen können, worum es geht. Es kommt nur darauf an, ihre elementaren Sät­ ze zu entdecken. Sie bringen Erfahrungen zur Sprache, mit denen Kin­ der und Jugendliche unmittelbar kommunizieren können. Von ihnen aus - und darin konsequent erfahrungsorientiert - lässt sich die Bibel auch in ihren komplexeren Texten neu öffnen. Doch mittlerweile hat auch die Diskussion um den Begriff und die Sache der Didaktik eine neue Brisanz gewonnen. Die alte naive Unter­ scheidung, nach der die Didaktik das >Was< des Unterrichts bestimme, die Methodik dagegen das >WieKlagelieder des Einzelnen< die dem Umfang nach stärkste Gattung im Psalter; doch in ihnen gibt es ja durchaus auch andere Formelernente, Worte des Vertrauens, der Befreiung und des Lobes. Ich fand es nicht gut, mit der Angst anzufangen, doch anderer­ seits wollte ich mich von der eigenen Didaktik der Psalmen leiten lassen, und der hier gefundene Einstieg war, das wurde mir immer deut­ licher, alles andere als zufällig. Und auch das zeigte sich schon auf den ersten Blick: Wohl waren es Worte der Angst, die ich da zuallererst gefunden hatte, aber doch nicht solche, die sich wehrlos in die Angst ergeben. Ihre Klage war nicht larmoyant, sondern ein Hilferuf um Befreiung; dies waren nicht einfach Worte der Angst, sondern schon selbst Worte des Widerstandes gegen die Angst. Was sagen Kinder, wenn wir ihnen solche Worte vorlegen, ohne Kom­ mentar' ohne gezielten Impuls, einfach an die Tafel oder auf irgendein großes Papier geschrieben -? Wir haben diesen Einstieg in verschie­ denen Jahrgangsstufen und verschiedenen Unterrichtszusammen­ hängen versucht, fast immer mit dem gleichen Ergebnis : Wenn wir nicht ungeduldig drängen, dann beginnt unter den Kindern ein nachdenkliches Gespräch, in dem sie versuchen, den Satz, den sie da schriftlich vor Augen haben, besser zu verstehen. Die meisten Äuße­ rungen sind Versuche, sich die Situation genauer vorzustellen, in der dieser Satz gesprochen sein könnte; und diese Versuche beginnen oft mit dem Wort » vielleicht". »Vielleicht hat da einer . . . ": das klingt sehr distanziert, doch wenn wir genau hinhören, merken wir schnell, daß die Kinder sich solche Ängste nur vorstellen können, wenn sie ähnliche selbst erlebt haben. Sie sprechen von sich selbst; nur verbergen sie das hinter der Redefigur des »vielleicht" und der dritten Person. Unsere Erfahrung war: Kinder brauchen diesen Schutz; nur so sind sie überhaupt bereit, von erfah­ renen Ängsten zu sprechen. Sie haben gute Gründe dafür; »so blamiert man sich doch nur" , sagte uns ein Junge; und wenn wir das mißachten, zerstören wir diese einzigartige Möglichkeit des Gesprächs. Erstaunlicherweise haben auch kleinere Kinder kaum Schwierig­ keiten, mit den Metaphern der Psalmen sachgemäß umzugehen. Wenn der Satz an der Tafel vom Versinken im tiefen Schlamm spricht, spre­ chen die Kinder von Todesangst, von schlechtem Gewissen oder von Feindschaft. Kaum einmal haben wir erlebt, daß sich das Gespräch an dem vordergründig buchstäblichen Sinn des Bildes festhakte. Wie die Metaphern der Psalmen den Kindern vielmehr helfen, Emp­ findungen auszusprechen, die sonst kaum je Sprache finden würden,

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Worte z u m Leben

wie sie in diese vielfältig beziehbaren Bilder auch akute Ängste einbe­ ziehen, zeigt der folgende Gesprächsausschnitt aus einem 4. Schuljahr. Er entstand ganz am Anfang unserer Arbeit mit dieser Klasse an den Klagepsalmen, ist also das Protokoll einer Erstbegegnung. An der Tafel stand: Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist. Das Gespräch begann so: Das hört sich traurig an, wenn man das liest. Da kann man auch denken, irgendwie, daß man in Dunkelheit ver­ sinkt, daß keiner mehr mit einem spielt. - Das macht traurig. - Wenn man alleine ist . . . - Wenn man da drin versinkt, daß man um Hilfe schreit und keiner da ist. Wenn man keinen Freund mehr hat und allein ist. - Wenn man andere immer anschmiert und die einem dann auch nicht mehr helfen. - Wenn du einsam und ganz allein in dem tiefen Loch bist, wo dich keiner mehr rausholen kann. . . traurig, daß einen keiner mehr tröstet. - Wenn man traurig ist, daß keiner einem hilft, einen einfach allein rumstehen läßt. . . keine Freunde mehr. - Wenn man wohin kommt, wo man fremd ist, auch ganz einsam. Wenn man irgendwo hinkommt und sich nicht auskennt und fällt in ein Schlammloch und sich nicht traut, jemanden zu bitten. . . daß der Schlamm bedeuten soll, daß Traurigkeit ohne Grund . . . , daß sie nicht aufhört, unendliche Traurigkeit. Wenn man niedergeschlagen ist, dann denkt man auch schon mal, man würde im Schlamm versinken. Die Kinder waren, als sie dieses Gespräch führten, beunruhigt durch die Nachrichten von Brandanschlägen auf Wohnungen ausländischer Familien. Die beherrschende Angst in diesem Gesprächsabschnitt ist, allein dazustehen und niemanden zu haben, keinen Freund und keine Freundin. Wir haben in den letzten Jahren wahrgenommen, wie dies in ganz verschiedenen Klassen die Gespräche der Kinder immer stärker bestimmt; jetzt aber ist die Dominanz dieses Problems nicht mehr zu überhören. Daneben war mir besonders eindrücklich, was die Kinder mit Hilfe der Metapher "Schlamm" wahrnehmen. Dabei steht die realistisch be­ schriebene Erfahrung " wenn man in ein Schlammloch fällt" dem meta·

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Der Ansatz: Entdeckungen mit Kindern

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phorischen Verständnis nicht im Wege, sondern verschärft die Erfah­ rung des Einsam- und Verlorenseins. Kinder präzisieren ihre eigenen Gefühle mit Hilfe der Metapher des Schlammes ("wenn man niederge­ schlagen ist") bis hin zu der abgründigen, nach Worten suchenden Deu­ tung " . . . daß Traurigkeit ohne Grund . . . , daß sie nicht aufhört, unend­ liche Traurigkeit . . . " .

2.1.3 Kinder entdecken sich selbst in Worten der Bibel In anderer Weise charakteristisch ist der folgende Ausschnitt aus einem Gespräch in einem 4. Schuljahr. Als Impuls stand an der Tafel: ICH BIN WIE EIN ZERBROCHENES GEFÄSS . Das Wort aus Psalm 31, 13 erscheint auf den ersten Blick nicht als sehr kindgemäß; doch immer wieder haben wir erfahren, daß es bemerkens­ werte Gespräche anstößt: - Da ist einer, der ist nicht mit sich zufrieden. - Da muß bestimmt irgend etwas Schlimmes passiert sein. Er sagt : Ich bin blöd ! Vielleicht ist er ein Mann, den man so behandelt wie ein zerbro­ chenes Gefäß, den wirft man in den Mülleimer, den behandelt man nicht gut. - Vielleicht ist er einer, der was Schlimmes getan hat. Er ist bestimmt auch traurig. Einer, der gelähmt ist, der könnte das sagen. - Vielleicht einer im Krankenhaus. - Die Menschen, die Hunger haben, können das auch sagen. Und nun führt das Gespräch zu einer überraschenden Kontroverse: - Die nicht an Gott glauben, die sind wie zerbrochene Gefäße. Das stimmt nicht so ganz. Auch die nicht an Gott glauben, können ein gutes Leben führen. Und wenn man an Gott glaubt, dann ist man auch oft traurig, hungrig, gelähmt. Die glauben vielleicht noch viel mehr an Gott, die haben ja nicht so­ viel . . . Das Ende dieses Satzes war leider nicht zu verstehen und auch nicht zu rekonstruieren. Im weiteren Verlauf der Stunde gab es noch einen Rückgriff auf den Satz : ICH VERSINKE IN TIEFEM SCHLAMM, WO KEIN GRUND IST. Das kann ein Mann sein, der ist so traurig, daß er denkt: Ich versinke im tiefen Schlamm, wo kein Grund ist.

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Worte zum Leben

Da träumt der im Alptraum, ich versinke im Schlamm, dann sagt er zu seiner Mutter, wenn er aufwacht: Ich bin wie ein zerbrochenes Gefäß ! Die Ausschnitte zeigen, was in solch einem Gespräch vor sich geht: 1. Die Kinder suchen nach Assoziationen zu dem biblischen Text im Bereich ihrer eigenen Erfahrung und Phantasie; das Psalmwort füllt sich dadurch für sie mit Leben, und zwar nicht nur für den Augenblick, sondern die in dem Gespräch gestifteten Assoziationen erweisen sich als durchaus dauerhaft. Sie bestimmen offenbar den Zusammenhang, in dem sich die Psalmenworte einprägen. 2. Das Gespräch gibt einen Hinweis, woher die Kinder die Fähigkeit nehmen, so überraschend direkt und sachgemäß mit den Metaphern der biblischen Sprache umzugehen: Sie kennen diese Bilder oder ähnliche offenbar aus ihren Träumen: "Da träumt der im Alptraum : Ich versinke im tiefen Schlamm. " Dagegen wird das Gespräch sehr schwierig, wenn wir versuchen, Symbolsprache auf dem Weg über die Reflexion zu er­ schließen ("das Bild meint etwas ganz anderes -?"). Die Reflexion über Symbolsprache im Medium unserer Sprache, die ja selbst voll von Sym­ bolik ist, ist ein sehr komplizierter und für Kinder schwer durchschau­ barer Vorgang. 3. Unversehens meldet sich in dem Gespräch auch kritische theologi­ sche Reflexion zu Wort: Allzu massiv und pauschal erscheinende Aus­ sagen werden produktiv hinterfragt. Es gibt bei Kindern eine ausge­ sprochene Freude an kritischer Reflexion; sie ist spätestens vom 4. Schuljahr an nicht mehr zu übersehen. Sie zu unterbinden, entspräche sicherlich nicht dem Geist der Bibel. Es ist also möglich, Kindern einen eigenen Zugang zur Bibel zu eröffnen, auf dem sie biblische Texte ohne vorausgeschickte historische oder hermeneutische Erklärungen begreifen und sich aneignen. Es ist möglich, Stellen in der Bibel zu finden, die auch heutige Kinder an­ regen, sich auf einen direkten Dialog mit ihnen einzulassen. Es ist ein­ fach nicht wahr, daß die Bibel insgesamt ein für Kinder zu schweres und fremdes Buch ist. Sie ist auf meine Erklärungen und Vergegenwärti­ gungen gar nicht angewiesen. Die Nähe mancher biblischen Sätze zu den Erfahrungen der Kinder ist so groß, daß sie ihnen erscheinen wie aus ihrer eigenen Sprache oder für sie aufgeschrieben. So etwa sagt es Luther in seiner >Deutschen Bibel< in der Vorrede zu den Psalmen, daß jeder "Worte darin findet, die sich auf seine Sachen reimen und ihm so eben sind, als wären sie allein um seinetwillen so ge­ setzt, daß er sie auch selbst nicht besser setzen noch finden kann" . Na­ türlich ist das nicht zuletzt eine Frage der Übersetzung. Grundsätzlich

Was ist geschehen ?

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gilt dabei: Je elementarer eine Übersetzung ist, desto näher ist sie nicht nur an der Sprache der Kinder, sondern auch an der des biblischen Ori­ ginals. In dieser Beziehung aber findet Luthers Übersetzung zumal der Psalmen kaum irgendwo ihresgleichen; er kennt die Sprache der Angst. Die moderneren Übersetzungen erreichen nur selten die Elementarität von Luthers Übersetzung: »Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist" ist eine andere Sprache als die der >Guten NachrichtZau­ berberg< den Erzähler "den raunenden Beschwörer des Imperfekts" .

Erzählen als Unterrichtsform

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Nicht das Pedekte der Tatsachen ruft nach dem Erzählen; Tatsachen sind immer schon tote Fakten; sondern das Unabgeschlossene, das Im­ pedekte, beansprucht Gegenwart und will erzählt sein. Was geschehen ist, wird im Pedekt als abgeschlossen sozusagen nur noch mit einem schnellen Blick festgestellt; das Pedekt verwandelt Handlungen in Fakten. Die didaktische Stärke der Erzählung aber liegt eben darin, daß Fakten wieder in Handlungen zurückverwandelt werden, gerade so, wie es Heinrich Roth als den Kern der "originalen Begegnung" be­ schrieb : "Alle methodische Kunst liegt darin beschlossen, tote Sachver­ halte in lebendige Handlungen zurückzuverwandeln" (a. a. 0., S. 1 16). Nur so werden wir in das Geschehen einbezogen, wir werden zu Teil­ nehmenden, und eben das edordert eine besondere Intensität der Sprache: Im Hebräischen ist das Verb "erzählen" eine Intensivform des einfachen Verbs für "zählen" oder "aufzählen" . I n dieser Intensität ihrer Sprache leistet die Erzählung etwas anderes als die Information; das zeigt schon unser Sprachgebrauch : Informiert werde ich "über" etwas; ich stehe also darüber und kann auch dement­ sprechend darüber reden; sowohl der Informant als auch der Informierte können über die Informationen "verfügen". Das Erzählen dagegen würde durch die Absicht, darüber zu vedügen, geradezu konterkariert. Die Erzählung zeigt Geschehenes so, daß uns deutlich wird: Darüber können wir nicht verfügen. In der Erzählung begegnet es uns neu und fordert uns heraus. Neil Postman hat in einem schaden Essay >Wir in­ formieren uns zu Tode< (DIE ZEIT Nr. 4112. 10. 92, S. 61 f.) aus der Ohnmacht einer Informationstechnologie, die eine unsinnige Infor­ mationsflut erzeugt und gerade dadurch das Handeln lähmt, die Not­ wendigkeit einer "glaubwürdigen Erzählung" abgeleitet, die "derVer­ gangenheit Bedeutung zuschreibt, die Gegenwart erklärt und für die Zukunft Orientierung liefert" . Im Gegensatz zu der Informations­ schwemme, von der wir übedlutet werden, zeigt die Erzählung, an die er denkt, Zusammenhänge, stiftet Sinn und motiviert so zum Handeln. Offenbar gehört das zu dem Elementaren, das den Vorgang des Er­ zählens notwendig macht. Bei aller Kritik an den "guten Absichten" des Erzählers hält auch Sten Nadolny daran fest, daß uns die großen Menschheitserzählungen (glaubhaft und nachhaltig wirksam gerade deshalb, "weil sie nicht einfach als Imperativ daherkommen") "zwei­ erlei liefern: Sie vermindern Angst, und sie sagen uns, was es an Wich­ tigem zu tun gibt" (a. a. 0., S. 78). Vor einem Menschenalter hat Walter Hartmann im Zusammenhang der religionspädagogischen Diskussion eine in ihrer Kürze und Treff­ sicherheit klassische Beschreibung der Aufgabe des Erzählens gegeben

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Geschichten gegen den Tod

(Das Erzählen, 1961 ) : "Wer handeln soll, muß sich zuvor erzählen lassen. Der Mensch, wie ihn die Bibel sieht, geht seinen Weg in ge­ schichtlichen Entscheidungen. Es wird ihm zugemutet, das Rechte zu wählen und sich vom Verkehrten abzuwenden. Seine richtige oder fal­ sche Wahl betrifft niemals nur ihn selbst, sondern immer auch den oder die anderen, die mit ihm leben, möglicherweise alle anderen. Sie betrifft nicht nur das Leben der Gegenwärtigen, sondern auch der Künftigen auf kurze oder lange Zeit, möglicherweise sogar für alle Zeiten. Genau so wird er durch die richtige oder falsche Wahl aller anderen mit be­ troffen, nicht nur der Gegenwärtigen, sondern auch der Vergangenen sehr weit zurück, möglicherweise bis an den allerersten Anfang. Der Weg, auf dem sich der Mensch in seinen geschichtlichen Entschei­ dungen vorwärts bewegt, beginnt und endet also nicht bei ihm selber. Es wird ihm vielmehr zugemutet, die Entscheidungen seiner be­ stimmten Wegstrecke innerhalb eines Zusammenhanges zu fällen, den er nicht selbst geschaffen hat. Um in irgendeiner Situation richtig han­ deln zu können, muß er wissen, was vorangegangen ist. Denn recht und gut ist immer nur das Handeln, das, nach allem, was vorhergegangen ist, hier und heute notwendig ist. Wer in der Welt handeln will und soll, muß sich also zuvor erzählen lassen. " Wer in der Welt handeln will und soll, braucht die Erzählung; denn die Erzählung vergegenwärtigt ihm die Welt; sie greift weit aus und hat nichts in der Welt, das ihr unzugänglich wäre. An der Art, wie sie die Welt präsentiert, entscheidet sich die Qualität der Erzählung. Denn die Welt: das ist zunächst nur ein Chaos widersprüchlicher und nicht ein­ sichtig zusammenhängender Wahrnehmungen. Die Erzählung aber stellt Handlungszusammenhänge her, verknüpft und ordnet, setzt Licht und Schatten, und so wird aus dem Chaos am Ende ein sinnvolles Gefüge. Für Sten Nadolny ist das Erzählen "vor allem ein Teil der le­ benswichtigen Arbeit, die das menschliche Gehirn überhaupt leistet: Narrativierung, die Herstellung eines nachvollziehbaren Zusammen­ hanges . . . Eine grundlegende Arbeit, die jeder tut, der lebt. Nur wer einen Zusammenhang erkennt oder die Chance hat, ihn herzustellen, steht morgens aus dem Bett auf" (a. a. 0., S. 77). Was für eine immense Leistung in jeder gelungenen Erzählung steckt, können wir ermessen, wenn wir an die schwierigen ersten Schritte des Spracherwerbs bei Kindern zurückdenken: Am Anfang steht die Unter­ scheidung von Personen und Gegenständen, für die Namen gefunden werden; wieviel schwieriger aber ist es, Namen auch für Zusammen­ hänge, Bewegungen und Handlungen zu finden, Namen, die auch er­ lauben, Schmerzliches von Tröstlichem, Verletzendes von Heilendem,

Erzählen als Unterrichtsform

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Freundliches von Feindseligem zu unterscheiden. Nur Erzählungen können das leisten, deshalb sind die ersten einfachen Erzählungen so wichtig und die hier entstehenden Defizite in ihren Folgen so schwer­ wiegend. Schon die Leistung dieser ersten Erzählungen, Zusammen­ hang und Sinn zu stiften im unmittelbaren Umfeld der Erfahrungen des Kindes, ist unentbehrlich; aber dann wachsen ihnen mit der Auswei­ tung des Bewußtseins immer weitere Aufgaben zu, lebensnotwendige Erinnerungen für die größere Gemeinschaft: Die Vergangenheit muß gegenwärtig werden, damit verhängnisvolle Fehlentscheidungen nicht ständig zwanghaft wiederholt werden; gerade wir Deutschen wissen, wie gefährlich es ist, nicht nur die Vergangenheit zu verdrängen, son­ dern sie auch selbstherrlich neu zu stilisieren. Die Erzählung stellt die Verbindung zu den Generationen her, die vor uns waren, zu ihrer Schuld und ihren Leiden und den Opfern, die daraus erwuchsen, aber auch zu den Opfern, die sie um unseretwillen, der Nachkommenden wegen, gebracht haben. Was wäre das für ein selbstherrliches, ge­ schichtsvergessenes Handeln, wenn wir dessen nicht eingedenk wären, was andere zuvor für uns getan und gelitten haben ? Davon muß erzählt werden, sonst fällt alles in den Abgrund der Vergessenheit. Die Leiden und Opfer derer, die vor uns waren, verpflichten uns aber nicht nur, sondern aus ihnen kommt auch Ermutigung, sie tragen eine Verheißung. Denn in allem, was sie für uns taten und litten und op­ ferten, war doch auch schon immer eine Vision dessen enthalten, was das für uns austragen sollte, der Traum von der Überwindung der Angst und des Krieges, der Traum von einem Tag, an dem alle Traurigen getrö­ stet und die Gefangenen frei werden, der Traum gar von einer erneu­ erten Erde, auf der es Feindschaft nicht mehr gibt. Auch davon muß er­ zählt werden, so wie Martin Luther King der Menschenmenge vor dem Capitol erzählte: »Ich habe einen Traum . . . " So von der erstrebten und erhofften Zukunft zu erzählen, ist nicht weniger notwendig als die Erin­ nerung an das Vergangene, und was Martin Luther King dort vor dem Capitol den Demonstranten zu erzählen hat, ist nicht ein Traum, in den sie vor der Wirklichkeit flüchten können, sondern Orientierung und Zielangabe für ihren gemeinsamen Kampf, eine Wegweisung, die wirk­ samer ist als die gestanzten Imperative, die sonst üblicherweise auf Kundgebungen laut werden. So stiftet das Erzählen Verbundenheit und Gemeinschaft, nicht nur diachron, durch die Zeiten hindurch, auch synchron, mit den gleich­ zeitig Lebenden: Das Erzählen macht gegenwärtig, was den Menschen nebenan geschieht, aber auch unseren Menschengeschwistern in ganz anderen, weit entfernten Regionen der Erde. Das freilich zeigt auch die

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Nachrichtensendung im Fernsehen, aber dieses Medium scheint nicht in der Lage, Verbundenheit zu stiften wie die Erzählung. Die Bilder, die Entsetzen hervorrufen und nach Engagement schreien, werden blitz­ schnell abgelöst von läppischen Meldungen über Stars, Sportnach­ richten oder Lottozahlen. Das Fernsehen drängt mich in die Rolle des Zuschauers; für meine Anteilnahme und meine Reaktionen finde ich keinen Adressaten. Nicht einmal einen Stein in die Mattscheibe zu werfen würde etwas nützen; das Medium bleibt für jede meiner Reak­ tionen völlig unempfindlich. Wo mir dagegen erzählt wird, habe ich Ge­ sprächspartner, die mir etwas mitteilen und dabei auf meine Reaktionen angewiesen sind. Dieses Mit-Teilen ist offenbar ein konstitutives Element im Vorgang des Erzählens. Wer mir etwas erzählt, teilt mir auch etwas von sich selbst mit. In das, was mir da erzählt wird, geht auch immer schon eigenes Engagement mit ein. Die Sprache läßt es nicht zu, daß wir uns beim Erzählen vor der Sinnfrage davonstehlen; die Sprache, in der wir erzählen, erzwingt unsere Parteinahme - anders läßt sich gar nicht erzählen. Nur einige Journalisten und sogenannte Tatsachenwissen­ schaftler glauben noch daran, daß sich von einem Bericht die "Mei­ nung" trennen ließe; in Wahrheit ist das eine durchsichtige Schutzbe­ hauptung, die es den Berichtenden erlaubt, sich in eine scheinbare Objektivität zu flüchten. Wo wirklich erzählt wird, ist jedenfalls immer beides beieinander, die sperrigen, widerständigen Ereignisse und ihre Einordnung in einen Zusammenhang, der mich nach ihrem Sinn fragen läßt. Denn darin gerade liegt die eigenartige Wirkung der Erzählung: Sie vermittelt mir Ereignisse als Anrede, und zwar nicht dadurch, daß sie sie appellativ als Anrede, etwa als Bußruf, erklärt, sondern einfach da­ durch, daß sie - wie zurückhaltend auch immer - mir davon erzählt. Ja, auch was mir selbst widerfahren ist, vermag ich erst dann als Anrede zu verstehen, wenn ich es selbst weitererzählen kann, sei es ein Traum oder auch eine merkwürdige Begegnung. So können wir beim Erzählen der Sinnfrage nicht ausweichen; denn Erzählen heißt immer, einen Zusammenhang herzustellen; und diesen Zusammenhang habe ich als Erzähler zu verantworten. Das kann nicht heißen, daß ich beim Erzählen auch immer schon eine Sinngebung mit­ zuliefern hätte, für alles Problematische die Lösung, für jeden Zweifel die Vergewisserung. Wie sollte ich das leisten können ! Das war schon in der vermeintlich noch heilen Welt früherer Jahrhunderte kaum denkbar, in unserer Welt ist es völlig unmöglich. Wer mit dem Anspruch erzählt, für alles Geschehene zugleich eine Sinngebung zu liefern, hätte von

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vornherein jede Glaubwürdigkeit verspielt. Eine erzählte Welt, in der alles einen erkennbaren Sinn hätte, wäre eine Fiktion. Die Verzweiflung über sinnlose Zerstörung und sinnloses Leiden ist die Begleitmusik zu allem, was wir von unserer Welt zu erzählen wissen. Wir können sie nicht ausblenden. Wie aber sollen wir dann mit der Sinnfrage umgehen ? Der Religions­ unterricht der Nachkriegszeit hat viel von seinem Kredit durch die Zwangsvorstellung verspielt, er müsse für alle einschlägigen Fragen christliche Antworten bereithalten. Wir begreifen heute, daß wir solche Antworten nicht haben. Es kann nicht unsere Sache sein, im Angesicht all der sinnlosen Zerstörungen so zu tun, als wüßten wir den Sinn. Es kann auch heute nicht mehr unsere Aufgabe sein, die Sinnfrage mit Ant­ wOrten zu beruhigen, sondern wir haben sie offenzuhalten, die Fragen nach der Gerechtigkeit angesichts der Armut, nach dem Leiden der hungernden Kinder, nach dem Sinn des technischen Fortschritts und den Chancen für das Überleben der Menschheit; wir haben sie unbeirrt und immer wieder zu stellen. Denn die Gefahr ist heute, daß diese Fragen überhaupt nicht mehr gestellt, daß sie einfach verdrängt werden. Wir würden uns hoffnungslos übernehmen, wollten wir mit unseren Erzählungen eine geschlossene sinnvolle Weltsicht anbieten; aber der Notwendigkeit, die Frage nach dem Sinn und nach der Möglichkeit von Menschlichkeit und Frieden und Hoffnung zu stellen, können wir nicht ausweichen, was immer wir erzählen mögen. So ist unser Erzählen auch nie nur ein Abbild der Wirklichkeit; wir erzählen in der Sprache der Freude oder der Anklage, und so wird auch unser Erzählen selbst zu Lob oder Klage. Wir erzählen von Verhei­ ßungen und dem Zweifel daran; wir erzählen von der Hoffnung auf mehr Menschlichkeit und von ihrer Verletzung. Die grundlegenden Weisen des Redens, Lob und Klage, Verheißung und Wegweisung, be­ gegnen uns in den Erzählungen wieder, nicht mehr als einfache Sätze, sondern nun zu Geschichten entfaltet, als Lichter, die eine längere Weg­ strecke zurück und VOraus beleuchten sollen. Walter Hartmann hat ( a. a. 0., S. 170) sehr einfach und einleuchtend beschrieben, worum es in der großen biblischen Erzählung geht: eine Gemeinschaft vergewissert sich ihres Weges . Darin geht es um einen Umgang mit Erfahrungen, gerade auch mit einschneidenden geschicht­ lichen Erfahrungen, der sich von dem heute geläufigen Umgang mit un­ serer Geschichte deutlich unterscheidet. Das bezeichnende Stichwort heißt heute "Vergangenheits bewältigung" . Doch die Geschichte, wenn sie wirklich unsere Geschichte ist, läßt sich weder bewältigen noch ab­ schütteln. Mit der Geschichte müssen wir anders umgehen; bewältigen

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heißt doch, sie endlich verfügbar und benutzbar zu machen, und das läßt unsere Geschichte nicht zu. Die deutsche Geschichte läßt sich, wenn wir nur die letzten sechzig Jahre ernst nehmen, nicht mehr be­ nutzen, um Lehren daraus zu ziehen; wir können, sooft wir sie ansehen, dem Erschrecken und Entsetzen nicht ausweichen. Wir müssen daraus lernen, aber anders als auf dem Wege der Bewältigung. Wie aber sieht ein Umgang mit solchen Erfahrungen aus, der nicht auf Bewältigung zielt? Die Hebräische Bibel öffnet uns mit ihrer Art des Erzählens einen ganz anderen Umgang mit der Geschichte. Das be­ zeichnende Stichwort dafür heißt zachor, "gedenken" Goseph Hayim Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! , Berlin 1988). Gedenken meint ähnlich wie unser deutsches Wort Erinnern einen Umgang, der den emotionalen Anspruch der Geschichte nicht leugnet, der in den Erfah­ rungen des Leidens den Abgrund der Verzweiflung und in dem Schrei nach Gerechtigkeit auch die Hoffnung auf Versöhnung mitbedenkt, der in den großen Erfahrungen der Befreiung zugleich all die ausweglose Angst gegenwärtig hält, die der Befreiung vorausging, und die Ermat­ tung, die ihr folgte. Immer sind diese Erfahrungen größer, als daß sie mit den Verstehensmöglichkeiten eines einzigen Menschenlebens aus­ zuloten wären; sie sind wohl auch größer als die Möglichkeiten einer Generation. Darin aber liegt die Eigenart biblischen Erzählens : Nirgendwo wird erzählt, nur um einfach zu sagen, wie es einmal war, sondern was immer erzählt wird, seien es auch die schrecklichsten Erfahrungen der Zerstö­ rung, wird in der großen Symphonie der Erfahrungen des Volkes Gottes zu einer Stimme der Hoffnung. Die Didaktik dieser Erzäh­ lungen ist bei allen Unterschieden in einem Punkte gleich: Sie alle verge­ genwärtigen nicht nur Vergangenes, sondern auch Zukünftiges. Die Sintflutgeschichte endet mit der Verheißung, daß von nun an, "alle Tage dieser Erde", nicht aufhören soll Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht (1. Mose 8, 22). Die Hoffnung braucht die Sprache der Erzählung, wenn sie Konkretion gewinnen soll. Auch prophetische Hoffnungsvisionen sprechen die Sprache der Erzäh­ lung; und auch sie sprechen nicht einfach von Zukünftigem : Ihre Bilder des Künftigen können nur deshalb überzeugen und trösten, weil sie aus den Leiderfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart gewonnen sind. Wieder gilt: Eines ist ohne das andere nicht zu haben; die Motivation zur geschichtlichen Erinnerung wäre längst erloschen, ließen sich dort nicht immer wieder Wurzeln der Hoffnung finden; und die visionären Erzählungen von einer erneuerten Welt hätten keinen Nährboden, gäbe

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es nicht das Gedenken an die Opfer der Geschichte, ihre Leiden und ihre Sehnsucht. Erinnerung, die die Schuld und ihre entsetzlichen Folgen nicht beschönigt, ist nur möglich, wo es Hoffnung auf Gerech­ tigkeit und eine endliche Versöhnung gibt; und von solcher Hoffnung kann nur glaubwürdig gesprochen werden, wenn sie die Farben unserer Erfahrung trägt. Was Erich Auerbach als die Besonderheit der bibli­ schen Erzählungen bezeichnete: ihre "Zeiten-, Schicksals- und Be­ wußtseinstiefe", hängt mit der besonderen Art der Vergegenwärtigung zusammen, die sie leisten: einer Vergegenwärtigung nicht im Zeichen der Bewältigung, sondern des Gedenkens, und das heißt: des Erinnerns und der Erwartung. Literatur: Jan AssmannfTonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt 1988. - lngo Baldertnann, Erzählen als Notwendigkeit, JRP 6/1989, S. 93 ff. - Walter Hartmann, Das Erzählen als die Grundfortn der Evangelischen Unterweisung, in: Evangelische Unterweisung 16/1961, S. 169 ff. - Michael Klessmann, Erinnerung und Erwartung, in: EvTheo1 55/1995, S. 31 8 ff. -Johann Baptist Metz, Kleine Apologie des Erzählens, in: Conc (D) 9/1973, S. 336 ff. ­ Sten Nadolny, Das Erzählen und die guten Absichten. Münchener Poetik-Vorle­ sungen, München 1990. - Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie, Gütersloh 21988. - Heinrich Roth, Die "originale Begegnung" als methodisches Prinzip, in: ders., Pädagogische Psychologie des Lehrens und Lernens, Hannover 71963, S. 109 ff. - Günter Stachel/Dietmar Mieth, Ethisch handeln lernen, Zürich 1987. - Harald Weinrich, Narrative Theologie, in: Conc (D) 9/1973, S. 329 ff. - RoH Zerfaß (Hrsg.), Erzählter Glaube - erzählende Kirche, Freiburg 1988.

3 .3 .2 Nacherzählen heißt neu erzählen Die beim Erzählen erstrebte Kommunikation gelingt nur, wenn die Erzählung authentisch ist. Kinder haben ein sicheres Gespür dafür. Doch wie soll ich Geschichten, die ich nicht selbst so erlebt habe, die mir schon vorgegeben sind wie die biblischen Geschichten, authentisch erzählen ? Gefordert ist eine doppelte Authentizität. Wenn ich im Sinne des Gedenkens (des "Zachor" ) erzähle, dann muß ich authentisch reden im Blick auf die Leiden und die Hoffnungen derer, von denen ich er­ zähle. Was ich von ihnen sage, muß vor ihnen bestehen können. Ich darf ihre Leiden weder verharmlosen noch aber auch sie zur Stimulation der Entrüstung absichtsvoll auswalzen. Ich darf von ihren Hoffnungen nicht wie von naivem Kinderglauben und auch nicht wie von Museums­ stücken sprechen. Ich muß so von ihnen reden, daß alles, was ich von ihrer Hoffnung sage, den Blick öffnet, die Quelle und den Kern ihrer Hoffnung wahrzunehmen; ich muß so von ihrem Leiden reden, daß es

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dabei möglich wird, wahrzunehmen, was eigentlich ihr Leiden aus­ macht. Das aber hängt zusammen mit der anderen geforderten Form der Authentizität: Ich kann ja nur wahrnehmen, was in mir selbst auch Re­ sonanz findet. Insofern bin ich in jeder Geschichte, die ich erzähle, auch selbst präsent; ich teile viel von mir selber mit, und das kann manchmal auch bedeuten: Beim Erzählen liefere ich mich aus. Das ist nicht jeder­ manns Sache, und es ist auch nicht ungefährlich. Deshalb liegt die Versu­ chung nahe, sich selbst aus der Geschichte herauszuhalten, doch das wird teuer bezahlt: Die Erzählung wird langweilig. Es gibt also zwei Weisen, die Authentizität zu verfehlen, aber beide hängen miteinander zusammen: einmal, wenn die Erzählung an den Erfahrungen der ursprünglich Betroffenen vorbeigeht, an ihren Schmerzen und ihrer Sehnsucht, und zum anderen, wenn die Erzählung an mir selbst vorbeigeht. Es geht ja nicht um den Genuß literarischer Er­ zählungen, sondern um uns selbst als Erzählerinnen und Erzähler für unsere Kinder, um unsere Glaubwürdigkeit. Da gibt es verschiedene Ebenen, auf denen sich verfehlte Authenti­ zität niederschlägt: Die erste Ebene ist die der Gestaltung der Erzäh­ lung insgesamt, ihre Anlage, ihre Absicht, ihre Pointe. Hier gilt die Warnung von Sten Nadolny vor den »guten Absichten", die die Ge­ schichten »didaktisch, fade, vor allem vorhersehbar" werden lassen (a. a. 0., S. 59). Natürlich, das räumt auch Sten Nadolny ein, ist jedes Er­ zählen irgendwie geleitet von Absichten, hoffentlich auch von keinen schlechten. Aber die guten Absichten wirken dann fatal, wenn die Er­ zählung um ihretwillen entworfen, also nach ihrem Zuschnitt konstru­ iert wird. Der Vorwurf trifft, obwohl oder gerade weil er auf ein ganz anderes Feld des Erzählens zielt, unsere Problematik sehr genau. Warum denn ist die Lektüre in Sammlungen von Beispielgeschichten für den Religionsunterricht schon nach kurzer Zeit so ermüdend ? Sie sind der Anlage nach (von den wenigen wirklich authentischen Ge­ schichten einmal abgesehen) jedenfalls eine Art von Betrug: Sie wollen etwas mit erzählerischen Mitteln beweisen, aber sie schneiden die Wirk­ lichkeit schon nach dem zurecht, was sie beweisen wollen. Das ist erzäh­ lerische Manipulation. Das Gefühl beim Lesen, betrogen zu werden, zeigt mir, daß ich von einer Erzählung etwas ganz anderes erwarte: nämlich die glaubwürdige Präsentation einer spannungsvollen Wirk­ lichkeit, wenn auch nur mit einigen wenigen Strichen, aber doch so, daß ich darin eine Wirklichkeit erkenne, die ich mit meiner Welterfahrung zusammenbringen kann. Das Erzählen soll Wirklichkeit erschließen, nicht absichtsvoll zurechtstutzen.

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Die zweite Ebene, auf der sich verfehlte Authentizität niederschlägt, ist die der sprachlichen Gestaltung im einzelnen, der Wahl der Worte und der Formulierungen. In der sogenannten Trivialliteratur haben wir es mit einer Darstellung zu tun, die handliche Versatzstücke aus den un­ terschiedlichen Zusammenhängen zusammenfügt und als Wirklichkeit ausgibt. In Wahrheit ist es nur ein dritter Aufguß von Wirklichkeit. Zum authentischen Erzählen gehört das Suchen nach einer angemessenen Sprache für das, was ich zeigen will. Mir scheint, daß es vor allem diese Anstrengung der Suche nach einer angemessenen Sprache ist, die der Er­ zählung Authentizität verleiht: nach einer Sprache, die in der Lage ist, mir und den Zuhörenden den Blick für eigene Wahrnehmung neuer Wirklichkeiten zu öffnen. Damit schließlich hängt zusammen, was Sten Nadolny "die große, die wirkliche Botschaft des Erzählens auch für mich" (a. a. 0., S. 12) nennt: den Blick zu öffnen für neue Erfahrungen mit wirklichem Leben macht frei und kreativ, auch eigene Gestaltungen zu versuchen. Die konstruierte Darstellung aber einer nach noch so guten Absichten ent­ worfenen Wirklichkeit macht unfrei, das bekommen wir im Unterricht genau zu spüren. Eine solche Erzählung ist in sich selbst autoritär, mag sie mit noch so freundlicher Stimme vorgetragen sein; sie duldet kein Hinterfragen, sonst geschieht ein Unglück. So ist es letzten Endes auch ein Kriterium der gelungenen Erzählung, ob sie autoritär wirkt oder Kreativität entbindet, Mut zur eigenen Wahr­ nehmung und Gestaltung. Noch einmal geben wir Sten Nadolny das Wort: "Aber wenn etwas Mut macht, einen Mut, der anhält und der kämpfen kann, dann sind es gelungene Geschichten und nicht gutge­ meinte, will sagen: Geschichten mit selbständiger Wahrnehmung, nicht solche, die alles schon von woandersher 'wissen'. Wer Menschen den Rücken stärken will, sie ermutigen will, sie selbst zu sein und ihr Glück zu suchen, der erzähle keine Programmgeschichten zum guten Zweck, sondern" - so ergänze ich jetzt: erzähle authentisch; und das heißt für Sten Nadolny : Es muß eine Erzählung sein, die "den Beobachtungen, Gedanken und Phantasien, so wie sie in seinem Kopf wohnen, wahr­ haftig und rücksichtslos folgt" (a. a. O., S. 59). Ich weiß, daß Sten Na­ dolny dies in einem ausdrücklichen Gegensatz zu denen sagt, die sich als Verkünder von Offenbarungswahrheiten verstehen; aber was er sagt, gilt uneingeschänkt für unser Erzählen im Unterricht, auch und gerade wenn wir es dabei mit biblischen Geschichten zu tun haben. Im Ernst erzählenswert ist nur, womit ich selbst noch nicht ganz fertig bin, und diesen Ernst darf ich den biblischen Erzählungen im Un­ terricht um keinen Preis nehmen. Ich muß die Geschichte zuallererst

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auch mir selbst noch einmal erzählen, sonst kann auch nichts zu denen ankommen, die mir zuhören. Ich habe mich selbst ein paarmal, als ich beginnen wollte zu erzählen, sagen gehört: »Ich muß euch heute eine Geschichte erzählen . . . " Das ist gewiß nicht die beste aller Einlei­ tungen, doch mit dem »muß" wurde jedenfalls deutlich, daß ich diese Geschichte für eine notwendige Geschichte hielt, also nicht nur das Er­ zählen überhaupt, sondern gerade diese Geschichte als notwendig ansah, für mich und für die Kinder. Ich habe immer wieder auch beim Zuhören im Unterricht den Eindruck gewonnen, daß wir in dem Augenblick das Ohr der Kinder und Jugendlichen haben, in dem dies deutlich wird. Erst die authentische Erzählung motiviert und befreit die Zuhö­ renden zu eigener Wahrnehmung: Das relativiert das so respektable Konzept der erzählerischen »Entfaltung", das Dietrich Steinwede erstmals im Nachwort zu seinem Erzählband >Zu erzählen deine Herr­ lichkeit< (Göttingen 1965) prägnant dargestellt hat. »Entfaltung" kennzeichnet die Gegenposition zu einer Erzählweise, die um einer ver­ meintlichen Aktualität willen den Text mit wuchernden Ausschmük­ kungen ausstattet, »gegen eine unsachgemäße Erzählweise, die Belang­ loses detailliert, in novellistischer Manier schildert, die fabulierend neue Szenen und Personen hinzuerfindet, die Gefühle und Stimmungen be­ teiligter Personen ausbreitet, die psychologisierend motiviert oder pre­ digtmäßig pädagogisiert. Alles Ausmalen, Ausschmücken, Moralisieren und Aktualisieren verdirbt den Text gleicherweise von der Sache wie von der Sprache her. " Dagegen: »Wer sachgemäß entfaltet, achtet darauf, daß das Gefüge der sprachlichen Bauelemente eines Textes und damit das Besondere seines Gehaltes und seiner Atmosphäre in der Nacherzählung möglichst getreu erhalten bleibt" (a. a. 0., S. 149 f.). Steinwede verwendet dafür den Begriff der »Isomorphie" . Die erzählerische Entfaltung ist notwendig, um den Kindern die Möglichkeit zu geben, den Spannungsbogen der Erzählung mitzuvoll­ ziehen. Die meisten biblischen Erzählungen, zumal die neutestament­ lichen, sind in der uns vorliegenden Form aufs äußerste verdichtet, sie sprechen vielfach in Kürzeln, die den Kindern erst erschlossen werden müssen. Das ist die Aufgabe der »sachlichen Entfaltung" (a. a. 0., S. 151 f.). In der sprachlichen Entfaltung geht es dann darum, »am Gleichmaß der schrittweisen Entfaltung des Geschehens das Verstehen zu fördern" (a. a. 0., S. 153), also Schritt für Schritt der Handlung nach­ zugehen; dabei müssen wir komplexe Vorgänge »sprachlich variieren, sprachlich umkreisen" (ebd.) und auch bestimmte Wendungen wieder­ holen. Als eine besondere Möglichkeit der sprachlichen Entfaltung

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nennt Steinwede die Aufnahme von biblischen Sätzen aus anderen Zu­ sammenhängen in die Erzählung. In seiner strengen Bindung an den biblischen Text bleibt dieses Kon­ zept beispielhaft. Die kindgemäße Sprache wird nicht auf dem Weg der Ausschmückung, sondern gerade durch äußerste syntaktische Strenge erreicht, die Konzentration auf klare einfache Hauptsätze. Es ist er­ staunlich, wie sich unter dieser "steten syntaktischen Kontrolle" (ebd., S. 155) aus einem kurzen biblischen Text eine ausführliche anschauliche Erzählung entwickelt. Die Aufgabe, der Handlung des biblischen Textes Schritt für Schritt zu folgen, nötigt zu einer genauen Beachtung des biblischen Wortlauts. In diesem Konzept, dem ich lange konsequent gefolgt bin, sehe ich jetzt nur eine freilich gravierende Schwäche : Der Weg der "Entfaltung" führt, konsequent begangen, z u einer ein­ drucksvollen Kunstform der Erzählung, doch er führt vorbei an den Möglichkeiten der Spontaneität und Kreativität. Ein Aspekt der authen­ tischen Erzählung, die Treue gegenüber dem biblischen Text, wird über­ betont, die anderen vernachlässigt. Das ist kein theoretischer Einwand, dazu habe ich zu viel Respekt vor dem, was Steinwede mit dieser Art des Erzählens erreichen will. Ich er­ fahre nur immer wieder, daß ich auf diesem Wege der Vorbereitung nicht an den Punkt komme, an dem mich die Erzählung wirklich trifft. Was die notwendige Erzählung ausmacht, ist so noch nicht zureichend beschrieben: die biblische Erzählung neu zu entdecken als eine Ge­ schichte, die meine Erfahrungen aufnimmt und durchsichtig macht, meine Vergangenheit beleuchtet, meine Zukunft in ein neues Licht rückt und Begegnungen für mich bereithält, die mein Leben verändern. Denn dies fordern die biblischen Erzählungen auch: nicht nur, daß ich sie nicht verfälsche, sondern auch, daß ich mich selbst von ihnen ein­ fangen und verstricken lasse, daß ich meine Frustrationen und Hoff­ nungen, meine Verletzungen und meine Sehnsüchte, meine ganze Liebe, aber auch meine Erfahrungen mit der Finsternis in den Umgang mit dieser Geschichte mit einbringe. Die Geschichte hat die Erfah­ rungen vieler in sich aufgenommen; so ist sie in jedem ihrer Sätze auch für meine Erfahrungen offen. Wie aber begegne ich dann der Gefahr, daß die biblische Geschichte nun zwar nicht mehr von willkürlichen Ausschmückungen, aber doch von meinen eigenen Erfahrungen überwuchert, unkenntlich wird ? Ich kann die Gefahr nicht leugnen; das Erzählen ist tatsächlich eine Grat­ wanderung. Ich kann von der Aktualität einer biblischen Geschichte so überwältigt werden, daß ich mit meiner aktualisierenden Erzählung an­ deren den Zugang gerade verschließe. Aber deshalb können wir nicht

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auf das Wahrnehmen der Aktualität verzichten. Ich kann heutigen Kin­ dern nicht vom dem Tanz um das Goldene Kalb erzählen, ohne unsere Erfahrungen mit den unwiderstehlich stark erscheinenden, goldglän­ zenden Göttern einzubeziehen. Aber es gibt dafür eine Grundregel: Die Geschichte muß in all unseren Performanzen mit sich identisch und wiedererkennbar bleiben, denn nur so vermitteln wir unseren Kindern die Kompetenz, mit Hilfe dieser Geschichte auch ihre eigenen Erfah­ rungen zu entschlüsseln und in größere Zusammenhänge einzuordnen. Literatur: Dietrich Steinwede, Zu erzählen deine Herrlichkeit; Göttingen '1981. Ders., Werkstatt erzählen, Münster 1974. -

3.3.3 Spannung und Anschaulichkeit

Zu den Kriterien gelungenen Erzählens gehören Spannung und An­ schaulichkeit. Doch das Phänomen der Spannung ist so vielschichtig wie das des Erzählens. Spannung heißt zunächst: gespannte Aufmerk­ samkeit. Daß sie überhaupt entsteht, hängt mit dem erstaunlichen Vor­ gang zusammen, daß Worte bei den Zuhörenden Bilder wecken. Ich intensiviere diese Spannung, indem ich so deutlich wie möglich wahr­ nehmen lasse; ich trübe sie, wenn ich hastig, undeutlich, in Allgemein­ heiten erzähle. Vor allem aber haben wir es beim Erzählen mit der Span­ nung zu tun, die aus der Handlung erwächst. Ich kenne zwei sehr unterschiedliche Formen solcher Spannung: Es gibt zum einen den großen Spannungsbogen, den die Erzählung kunstvoll aufbaut und steigert, bis es am Ende zu einer Lösung kommt. Etwa die Wundergeschichten erzählen so. Es gibt aber auch Erzäh­ lungen, die eine solche Lösung nicht kennen. Meist sind es Leidensge­ schichten, die so erzählt werden, die Passionsgeschichte im Neuen Te­ stament, im Alten Testament die Leidensgeschichte des J eremia. Der Stil dieser Erzählungen zeigt genau die Merkmale, die Andre Jolles in seiner Analyse der einfachen Formen als Charakteristika des Memorabile ge­ nannt hat (Einfache Formen, Tübingen 1929; Nachdruck Darmstadt 1958, S. 200 ff.): Das Geschehen wird nur mit wenigen Strichen ge­ zeichnet, aber diese Striche sind so gesetzt, daß sie in scharfen Kontra­ sten das Unerhörte des Geschehens zum Ausdruck bringen. Da ist die beklemmende Szene, in der der König, wohlig am Feuer sit­ zend, sich die Worte des Jeremia vorlesen läßt, die der, weil er öffentlich nicht mehr reden kann, hat aufschreiben lassen; und immer, "wenn man ihm drei oder vier Spalten vorgelesen hatte, schnitt der König sie mit dem Messer ab und warf sie in das Feuer, und niemand erschrak" Ger

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36, 23 f.) - so wie der Leser erschrickt, der weiß, daß die Verblendung des Königs buchstäblich die Katastrophe herbeigezogen hat, die Je­ remia kommen sah. Welch ein Gegensatz zwischen der Wehrlosigkeit der Buchrolle und der in zynischer Gelassenheit mit einem kleinen scharfen Messer ausgeübten Macht des Königs, der Leidenschaft, in der sich Jeremia verzehrt, und dem Kaminfeuer, das seine Worte verzehrt, seinem Aufschrei und der ostentativ zur Schau gestellten Harthörigkeit des Königs und seiner Leute. In dieser Kontrastierung erst, sagt J olles, kommt zur Erscheinung, was hier eigentlich geschieht. Die Ohnmacht des Propheten zeigt sich erst wirklich in der Begegnung mit dieser Machtdemonstration des Königs wie der Zynismus der Macht in dieser Begegnung mit dem menschlichen Wort des Propheten. Hier wird die Spannung nicht Schritt für Schritt aufgebaut und am Ende einer Lösung zugeführt, sondern sie ist schon von Anfang an in jeder Geste gegenwärtig und bleibt am Ende ungelöst. Ganz ähnlich wird im Neuen Testament die Passion Jesu erzählt, etwa die Gefangen­ nahme: Auf der einen Seite der aus der Einsamkeit des Gebets zu den schlafenden Jüngern Zurückgekehrte, auf der anderen Seite der Schlä­ gertrupp, mit Holzlatten und Messern bewaffnet; da ist der Freund, der ihn mit dem Begrüßungskuß dem Zugriff der Schläger preisgibt; in einem Wort Jesu wird der Kontrast beschworen zwischen dieser gewalt­ tätigen nächtlichen Aktion und der täglichen offenen Diskussion im Tempel; da ist der verzweifelte Versuch des einen Jüngers zur Gegen­ wehr und die kopflose Flucht der anderen, von denen einer sogar sein Hemd zurückläßt. Diese uns von der Vorlage vorgezeichnete Spannung verpflichtet uns beim Nacherzählen; sie wird durch eine sparsame, aber treffsichere Zeichnung der Vorgänge erweckt, nicht durch eine emotional ausma­ lende Wortwahl: »Das war der gemeinste Kuß . . . Da taumelte Judas ver­ wirrt zurück." So übertüncht das >Große Erzählbuch der Biblischen Geschichte< von Anne de Vries (Konstanz o.J., Bd. 2 : NT, S. 204), weit verbreitet und lange Zeit als Maßstab für lebendiges Erzählen bewertet, durchweg die biblischen Geschichten mit dick aufgetragenen Farben, die schon die Kriterien des Kitsches erfüllen. Kitsch aber ist eine bis an die Wurzeln gehende Entstellung, die der Erzählung ihren Ernst und ihre Glaubwürdigkeit nimmt. Das nötigt uns, unser Augenmerk noch genauer auf die Frage der Anschaulichkeit zu richten, denn aus dem Bemühen um Anschaulichkeit kommt es zu solchen Ausmalungen. Offenbar gibt es Anschaulichkeit ganz unterschiedlicher Art. Mit der Lückenlosigkeit, mit der die Fotografie das Ambiente zeigt, kann die Erzählung in keiner Weise konkurrieren. Die Erzählung kann, selbst

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wenn sie ausführlich ist, doch immer nur wenige Linien zeichnen; "er­ zählen heißt weglassen", sagt eine Grundregel. Aber dieser scheinbare Mangel der Erzählung erweist sich gerade als ihre Stärke: Sie nötigt die Zuhörenden, das Fehlende zwischen den Linien aus ihrer eigenen in­ neren Anschauung zu ergänzen, ihre Phantasie also kreativ ins Spiel zu bringen, damit aus den wenigen Signalen der Erzählung tatsächlich An­ schauung wird. Die Erzählung schüttet nicht wie der Bildschirm die Bilder in mich hinein, sondern stößt mich an, Bilder selbst zu erzeugen. Und daran, wie es der Erzählung gelingt, diesen Vorgang eigener Imagi­ nation anzustoßen, ist die Qualität erzählerischer Anschaulichkeit zu messen. Eine Anschaulichkeit, die die Phantasie der Zuhörenden nicht er­ drückt, sondern freisetzt, und das mit äußerster Sparsamkeit und Präzi­ sion der erzählerischen Mittel, findet sich auch in den Märchen der Brüder Grimm, so etwa in der Geschichte vom Froschkönig: "Da kam etwas, plitsch, platsch, die Marmortreppe herauf. " Was für Bilder und Empfindungen rufen diese wenigen Worte hervor: Da ist die Marmor­ treppe, um die herum unsere Phantasie ein Schloß aufbauen muß - wie, das bleibt jeder und jedem selbst überlassen, nur daß es ein hohes Haus sein muß, in dem man erst über eine kostbare Treppe in die herrschaft­ lichen Gemächer gelangt. Wer immer diesen Satz hört, baut selbst an dem Schloß und stattet es mit ganz eigenem Interieur aus. Aber nun kommt in diese schönen Räume das unpassende Geräuch des "Plitsch, Platsch" ; wir hören die glitschige und kalte Nässe, die auf die kostbaren Steine klatscht, unangenehm breitflächig. Und so wächst, der da kommt, der Frosch, ins Riesengroße; die Schwimmhäute zwischen seinen Zehen sind aus dem Bild gar nicht fortzudenken; das Geräusch des "Plitsch, Platsch" verbindet sich mit ihnen, und die glitschige, plat­ schende Nässe beherrscht schließlich mit dem Ankömmling das ganze Bild. Eine solche mit äußerster Sparsamkeit der erzählerischen Mittel er­ reichte Anschaulichkeit bestimmt auch die Sprache der biblischen Er­ zählungen. Wir lesen oft darüber hinweg, weil sehr beredte Gesten in­ zwischen als Sprache Kanaans angesehen werden, etwa wenn Jesus "seine Augen aufhebt" oder "die Hände auflegt" . Doch wieviel An­ schauung steckt in einer solchen Wendung, wenn wir sie nur ernst nehmen : Da begegnet Jesus einer Frau, die "in sich verkrümmt" ist, und er redet sie an und "legt ihr die Hände auf" (Lk 13, 12 f.). Was ist das, wenn ein Mensch sich nicht mehr aufrichten kann ? Das Bild spricht von schweren Lasten, von Schmerzen, von einer Krankheit, die wie eine

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Fessel ist. Was J esus tut, ist keine "Handauflegung" ; er legt ihr die Hand auf den Kopf und auf den schmerzenden Rücken wie eine Mutter ihrem kranken Kind. In dieser Geste seiner Hände liegt etwas Zärtliches - er streichelt die Frau - und etwas Behütendes, wie ein Segen. Andere Ge­ schichten enthalten ähnliche Gesten: Die Kinder, die zu ihm gebracht werden, schließt er in seine Arme (Mk 10, 16). Den Blinden in Bethsaida faßt er bei der Hand und führt ihn aus dem Dorf hinaus (Mk 8, 23). Wir müssen uns nur Zeit nehmen, genauer hinzuschauen, um zu entdecken, was in solchen Gesten geschieht. Wie aber gelingt es uns, eine so unauf­ dringliche Anschaulichkeit für die Kinder zum Impuls eigener Entdek­ kungen zu machen ?

3.3.4 Narrativ lernen Im Erzählen liegen besondere Möglichkeiten kreativen Lernens, wenn wir die eigentlich erzählerischen Anstöße wahrnehmen. Mit Er­ zählungen einfach als Lehrstoff umzugehen, heißt ein didaktisch kost­ bares Gut zu verschleudern. Die immer wieder mit entwaffnender Naivität vertretene Meinung, es gehe doch zunächst nur darum, die Er­ zählungen erst einmal kennenzulernen, um später dann tiefer in ihren Gehalt einzudringen, ignoriert die unerhörten Chancen des Erzählens. Damit läßt sich jede Art barbarischen Umganges mit den biblischen Erzählungen rechtfertigen, vom gedankenlosen Nacherzählen im Un­ terricht bis zu den geistlosen Monstern der neuen Bibelfilme. Wir brau­ chen Umgangsformen, die die genuin erzählerischen Vorgaben und Anstöße der Bibel im Unterricht aufnehmen. Eine besondere Sensibilität für die Formen narrativen Lernens ent­ decken wir im Judentum. Wer je eine Passafeier erlebt hat, empfindet die selbstverständliche Einbettung anspruchsvoller erzählender Überliefe­ rung in ein so vitales Fest und ihre Verankerung in den Riten dieses Fe­ stes als schlechthin beneidenswert: Die Kinder sind von Anfang an durch ihre Fragen bis zum Ende, der Suche nach dem Aphikoman, le­ bendig daran beteiligt; die Erzählungen finden in Einzelheiten des Mahles ihren Anlaß, in den bitteren Kräutern und dem Salzwasser, das wie Tränen schmeckt, dem ungesäuerten Brot und dem gefüllten Kelch, der für den wiederkommenden Propheten Elia bereitsteht. Angesichts der vielen Besonderheiten dieser Nacht fragt das jüngste Kind: "Warum unterscheidet sich diese Nacht von allen anderen Nächten ? . . . " und bekommt zur Antwort die Erzählung vom Auszug aus Ägypten, die durch immer neue eingestreute Warum-Fragen weiter-

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geführt wird. Die Erzählung spricht in der ersten Person, nicht in der dritten : »Einst waren wir Knechte des Pharao in Ägypten, da führte unS der Ewige, unser Gott, heraus . . . " Die eindringliche Didaktik dieses Festes lebt von der Verbindung von Ritual und Erzählung. Die Erzählung wiegt so schwer, weil sie so fest mit den gemeinsamen Hand­ lungen dieser Mahlzeit verbunden ist; ihre Rituale sind wie Kristalle der Erinnerung. Eigenartig ist dabei die Art der Rituale, an denen die Erzählung hängt. Es handelt sich nicht um Symbole, die als solche, wenn sie einge­ hend betrachtet werden, Tieferes enthüllen. Eher sind es Splitter der Erinnerung, die aber nicht für sich selbst sprechen, sondern nach einer Erzählung rufen. Es sind Haftpunkte der Erinnerung an das, was in jener Nacht geschah. Die bitteren Kräuter sind kein Symbol für die Be­ freiung, sie erinnern an die Bitterkeit der Sklaverei; das ungesäuerte Brot und das angespannte Sitzen erinnern an die Eile des Aufbruchs. Es sind nur Bruchstücke des Geschehens, die in den Ritualen sichtbar werden, aber so stimulieren sie die Erinnerung, das Ganze des Gesche­ hens in der Erzählung auszubreiten. Ein Ritual ist weniger als ein Symbol, einfacher, aber gerade in seiner Bruchstückhaftigkeit ist es di­ daktisch mehr. Die Didaktik der Passa-Haggada ist kein Beispiel für Symboldidaktik, sondern für die Fruchtbarkeit des didaktischen Prin­ zips der Lücke. Ich verdanke Astrid Greve die Erfahrungen mit der Wirkung einer Präsentation dieser Rituale im Unterricht. Natürlich haben wir nicht "Passa gespielt", sowenig wir das Abendmahl spielen würden. Doch al­ lein schon das Herumreichen des Gefäßes mit den bitteren Kräutern im salzigen Wasser, das Eintunken der Kräuter und der herbe Geschmack auf der Zunge, der an Tränen erinnert - all dies machte die Stunde und die damit verbundene Erzählung unvergeßlich. Mehr als alles Erzählen von eschatologischer Erwartung prägt sich der Stuhl ein, der frei bleibt für Elia, und der Becher, der nicht getrunken wird, weil er für ihn bereit­ steht. Die Eigenart der Rituale ist, daß sie nicht für sich selbst sprechen, sondern nach Erzählungen rufen. Zum Erzählen fordert auch das Wort auf, mit dem die Passa-Feier beschlossen wird : Dieses Jahr hier, näch­ stes Jahr in J erusalem ! Was heißt: "hier" ? Der Satz löste bei den Kindern in einem 4. Schuljahr diesen Gesprächsgang aus : Dieses Jahr - das heißt: noch i n Ägypten. - Dieses Jahr Sklaven, nächstes Jahr Kinder der Freiheit. »Dann werden wir sein wie die Träumenden! " - Die Sklaven freuen sich, daß sie dann frei sind.

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Wenn sie frei sind, dann werden sie sein wie die Träumenden. Kinder der Freiheit, das heißt: sein wie die Träumenden ! Daß ihr Traum sich dann erfüllt. Dann sind sie sehr froh und feiern ein großes Fest. - Vielleicht, weil sie jetzt nicht in richtigen Häusern wohnen, daß sie dann wieder in Häusern wohnen ! Das Psalmwort » . . . dann werden wir sein wie die Träumenden! " (Ps 126, 1 ) hatten die Kinder im Zusammenhang der Arbeit an den Selig­ preisungen kennengelernt; es war dort zum Inbegriff all der verschie­ denen Bilder der Hoffnung geworden. In diesem Gesprächsgang ver­ band es die damaligen Gespräche mit dem heutigen; das Wort »nächstes Jahr in Jerusalem ! " wird von den Kindern als Wort einer starken und le­ bendigen Hoffnung wahrgenommen, sie begreifen, weshalb Jerusalem die Stadt der Sehnsucht ist, und zugleich begreifen sie die Hoffnung als einen Traum, der sich erfüllen soll. In der christlichen Tradition sind es eigentlich die Feste des Kirchen­ jahres, die Erzählanlässe bieten; doch ihre Rituale und Symbole machen es uns viel schwerer: Die Lichter von Weihnachten werden vorwegge­ nommen von der Reklame, und die Eier zu Ostern tragen so massiv ihre heidnische Herkunft in Fruchtbarkeitsriten mit sich herum, daß es schwerfällt, noch irgendeine didaktische Inspiration daraus zu ge­ winnen. Anders als die jüdischen Feste tragen die christlichen eine Sym­ bolik ohne didaktisch wirksame Widerhaken. Für Himmelfahrt und Pfingsten gibt es nicht einmal Symbole mehr, nur noch Ratlosigkeit. Anders steht es mit den Sakramenten: das Wasser der Taufe wie das Brot und der Wein beim Abendmahl sind keine Symbole, die für sich selbst sprechen, sondern wie die Rituale des Passa-Festes beginnen sie erst dann zu reden, wenn die zu ihnen gehörenden Geschichten erzählt werden. Unsere Tauf- und Abendmahlsfeiern, aber auch der Konfir­ mandenunterricht insgesamt könnten durch die ursprüngliche Verbin­ dung von Ritual und Erzählung, wie sie im Judentum noch lebendig ist, viel zurückgewinnen. Doch was Feste und gottesdienstliche Feiern wie von selbst mit­ bringen, nämlich natürliche Anstöße zum Erzählen (die freilich weithin ungenutzt bleiben), das muß der Unterricht erst selbst schaffen. Jede Erzählung braucht einen natürlichen Sitz im Leben. In der Regel genügt es dafür heute nicht mehr, Kindern zu sagen : Ich will euch eine Ge­ schichte erzählen. Anders ist es schon, wenn wir sagen können: Dazu muß ich euch eine Geschichte erzählen! Schon die Situation kann Span­ nung erzeugen oder ertöten. Wer erzählt, muß schon vom ersten Wort an damit rechnen können, daß ihm zugehört wird. Die Situation, in die

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wir unsere Erzählungen einbetten, muß etwas von dieser natürlichen Spannung haben. Das ist nicht nur eine Sache der Phantasie und Sensibi­ lität, sondern auch der konsequenten Vorarbeit. Erzählungen wollen eigentlich durch Erzählen beantwortet, weiter­ geführt und angeeignet werden, also durch narrative Exegese. Erzäh­ lungen wollen jedenfalls nicht auf einen Skopus zugeschnitten und dann angewendet oder vergegenwärtigt werden. Wenn meine Erzählung nachträglich » vergegenwärtigt" werden muß, hat sie ihren Sinn nicht er­ füllt. Wie können wir es erreichen, daß die Kinder anfangen, eine Erzäh­ lung selbst erzählend zu beantworten, weiterzuführen, sich anZu­ eignen ? Die Bibel ist so sehr VOn der »Leidenschaft des Überlieferns" (Martin Buber) geprägt, daß sich in den Erzählungen selbst immer wieder Knoten bilden, die sie mit anderen Erzählungen verknüpfen, und Situa­ tionen entstehen, die selbst zu neuem Erzählen herausfordern. Alle Feste sind im Grunde solche Erzählsituationen, auch schon das erste Fest, VOn dem die Evangelien erzählen, die Tischgemeinschaft mit Jesus (Mk 2, 15 ff. parr), in der sich alle versammeln, um gemeinsam die Er­ fahrung des anbrechenden Reiches Gottes zu feiern. Wie viele verschie­ dene Leute kommen da zusammen, und sie alle bringen Erfahrungen mit, die sie hierhergeführt haben, und davon muß erzählt werden. Die Situation fordert narrative Entfaltung, aber nicht durch uns, die Unter­ richtenden, sondern die Kinder müssen sich darauf einlassen und ihre Phantasie einbringen und so die Leute zum Reden bringen, die da zu­ sammen sind. Beim professionellen Erzählen biblischer Geschichten erlebe ich oft, daß die Geschichte, wohl um die Aufmerksamkeit zu steigern, weil sonst Langeweile befürchtet wird, aus einer verfremdenden Perspektive erzählt wird, etwa aus der des Petrus oder einer fiktiven Frau aus der Menge. Doch solche um des raschen Effekts willen gesuchten Verfrem­ dungseffekte verwischen eine didaktisch entscheidende Differenz : Alle Formen kreativer Aneignung und Umsetzung setzen eine stabile Grundform der Geschichte voraus, die in allen späteren Variationen der Perspektive und Farbgebung wiedererkennbar bleibt. Nur die Verläß­ lichkeit der Grunderzählung gibt Kindern die Freiheit, ihre Phantasie ins Spiel zu bringen; nur indem ich mich an die innere Form der Ge­ schichte binde, verschaffe ich der Kreativität der Kinder den notwen­ digen Spielraum, ganz andere Formen, andere Perspektiven, ja auch andere Lösungen auszuprobieren. In solchen Versuchen und den Ge­ sprächen darüber entwickelt sich im Unterricht so etwas wie narrative Exegese.

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E s gibt aber auch viel einfachere Anlässe, Kinder zum eigenen Er­ zählen anzustoßen: Daß wir am Anfang die Reihe der Sätze, die von einer erneuerten Erde sprechen, die den Sanftmütigen gehören wird, von den Kindern fortschreiben ließen, war ein solcher Anstoß; die Sätze der Kinder waren Erzählungen in nuce. Ein ähnlicher Anstoß war das Wort aus dem 126. Psalm : . . . dann werden wir sein wie die Träumenden. Wir schrieben das Wort als Lückentext: "Wenn . . . , dann werden wir . . . ", und die Kinder schrieben ihre Träume in die Lücke. Anstöße zum Weitererzählen ergeben sich aber auch ganz einfach daraus, daß in jeder Erzählung Perspektiven eröffnet und weitere Zu­ sammenhänge angedeutet werden, ohne daß sie in der Erzählung selbst weiter verfolgt werden. Es ist gar nicht möglich, diese Andeutungen alle aufzunehmen und zu vertiefen, aber an einigen Stellen, die die Kinder selbst als notwendig und lohnend empfinden, werden wir eine Zeitlang im Gespräch verweilen. Das ist wie bei den Psalmen ein Gespräch, das eine straffe Führung weder braucht noch erträgt; es geht jetzt aber nicht mehr nur um Assoziationen, sondern darum, die Geschichte an Stellen, die sie offenläßt, noch ein Stück weiterzuschreiben, etwas von ihrem Hintergrund, ihrer Vorgeschichte oder ihrem Fortgang zu erzählen. Wir können diesen Weg auch in umgekehrter Richtung gehen: Wir können einen besonders dicht formulierten Satz aus einer Erzählung den Kindern vorlegen als Anstoß, selbst etwas dazu zu erzählen, um sie auf diese Weise in die folgende Erzählung mit hineinzunehmen. Astrid Greve hatte vor der Kreuzigungserzählung den Kindern im 4. Schuljahr den Satz vorgelegt: "Die Sonne verlor ihren Schein" (Lk 23, 45), und daraus entwickelte sich das folgende Gespräch: Die Sonne verlor ihre Herrlichkeit. Die Menschen werden immer böser, die Sonne immer weniger. Die Sonne hört auf zu strahlen. Die Sonne verlor ihre Bedeutung. Die Sonne ist traurig. Es könnte auch heißen, daß die Sonne Gott ist. AG : Dann hieße der Satz ? Gott verlor seine Herrlichkeit. Gott verglüht langsam in den Menschen. Die Dummheit der Menschen ist so groß geworden, die Sonne hat ihre Herrlichkeit verloren. Es könnte auch heißen: Gott verliert seine Bedeutung. Es könnte auch heißen: Die Sonne verlor ihre Kraft. AG : Kennt ihr das auch, daß die Sonne scheint, und eigentlich . . . Als Jesus gekreuzigt wurde, kam die Dunkelheit.

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Es könnte auch sein, weil Jesus am Kreuz hängt. Daß die Sonne scheint und trotzdem ihren Schein verliert: Es kann sein, wenn wir was Trauriges erleben. Die Menschen verloren ihren Glauben. Wenn es soviel Krieg gibt, daß die Sonne das nicht mehr sehen kann, daß die ihr Mut verläßt. Für Noah, als die Sintflut kam, schien auch nicht die Sonne. Für Sklaven, die langsam die Hoffnung verlieren. Die entscheidenden Impulse zu diesem Gespräch gehen von dem bi­ blischen Satz selbst und von den Äußerungen der Kinder aus ; die Leh­ rerin greift nur sparsam ein. Die Kinder nehmen Bezug aufeinander, häufiger auf schon weiter zurückliegende Äußerungen. Sie bemühen sich um eine Deutung des biblischen Satzes, aber sie bleiben dabei auf der Sprachebene der Erzählung, wie es der biblische Satz vorgibt. Nur an einigen Stellen ( »es könnte auch heißen . . . ") wird deutlich, daß Re­ flexion durchaus im Spiele ist; doch die Sprache kehrt wie von selbst immer wieder zurück zum Erzählen. Erstaunlich war uns an diesem Gesprächsgang vor allem die Sensibilität, mit der die Kinder diesen Satz aufnahmen und weiterführten; für mich war aber auch sehr eindrucks­ voll, wie es auf diese Weise gelang, daß die Kinder einen Teil der für den Unterricht so schwierigen Kreuzigungsgeschichte selbst erzählerisch entfaltet haben. Literatur: Heide Bambach, Erfundene Geschichten erzählen es richtig, Bot­ tighofen 21993 . - Peter Biehl, Symbole geben zu lernen. Einführung in die Sym­ boldidaktik, Neukirchen 21991. - Ders., Symbole geben zu lernen H. Beiträge zur Symbol- und Sakramentendidaktik, Neukirchen 1993 . - Hubertus Halbfas, Das dritte Auge, Düsseldorf 51992. - Albrecht Lohrbächer (Hrsg.), Was Chri­ sten vom Judentum lernen können, Freiburg 31995. - Jürgen Oelkers/Klaus Wegenast (Hrsg.), Das Symbol - Brücke des Verstehens, Stuttgart 1991.

3.3.5 Erzählen ohne Worte Das Erzählen lebt nicht nur von der Sprache der Worte, sondern auch der Gesten und des Tonfalles. Es erzeugt Bilder, und manche Bilder rufen nach Musik. Das gibt uns den Anstoß, auch beim Umgang mit Er­ zählungen nach nonverbalen Formen zu suchen. Wenn Kinder Bilder malen, dann wollen sie mit diesen Bildern zu­ nächst einmal etwas erzählen; das ist für sie die selbstverständlichste Funktion eines solchen Bildes. Wenn sie zu einer erzählten Geschichte ein Bild malen, dann erzählen sie mit dem Bild diese Geschichte oder je-

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denfalls ihre entscheidende Szene noch einmal ganz neu, anders als in einer "Nacherzählung" ohne jedes Geländer, also ganz selbständig. In dieser Übersetzung vollzieht sich ein sehr intensiver Prozeß der Aneig­ nung. Weniger selbstverständlich, aber nicht weniger ergiebig ist der Ver­ such der Nacherzählung mit einfachen Instrumenten (vgl. die Literatur zu 2.3.3). Anders als beim Malen ist das Ergebnis hier nicht die Sache von Einzelnen, sondern der ganzen Gruppe. Das Ergebnis ist auch nicht dauerhaft wie ein Bild, das wir an die Wand hängen können, son­ dern die Klänge sind nur für ein paar Augenblicke da und dann schon wieder verklungen und schwer reproduzierbar. Gerade deshalb aber werden sie auch mit besondes gespannter Aufmerksamkeit wahrge­ nommen. Ganz ohne Worte wird es freilich bei einer solchen musikalischen Nachgestaltung einer Erzählung nicht abgehen. Wir brauchen Regiean­ weisungen, an welcher Stelle des Weges wir uns jetzt befinden. Wir brau­ chen vielleicht auch ein Gespräch, um uns über den Weg der Erzählung, ihre Gliederung in einzelne Schritte und die Möglichkeiten zur Darstel­ lung dieser Schritte zu verständigen. Bei der musikalischen Perfor­ mance aber darf nicht etwa die Geschichte noch einmal erzählt werden; wir wollen ja kein Melodram gestalten, sondern jetzt sollen die Instru­ mente erzählen, die Übersetzung in ihre Sprache ist die Aufgabe. So werden wir die Sprache der Worte beschränken auf das Notwendigste : ganz kurze mündliche oder besser noch schriftliche Anzeigen des näch­ sten folgenden Schrittes. Als die schwierigste Form der Übersetzung ins Nonverbale erscheint mir die Pantomime. Es geht ja nicht mehr nur um die Darstellung ein­ facher Vorgänge und Gefühle, schon das ist schwer genug, sondern um das Nachgestalten erzählerischer Zusammenhänge. Doch wenn wir dem Genus der Pantomime und auch der Erzählung treu bleiben wollen, muß das alles ohne Worte geschehen, sonst wären wir auf einmal auf einer ganz anderen Ebene, der des dramatischen Dialogs (dazu vgl. Kap. 4). Wir sind aber noch auf der Ebene des Epischen; Ge­ sten, nicht Worte, tragen hier die Handlung, und sie müssen überdeut­ lich ausgeführt werden, wenn sie das, was sie sagen sollen, wirklich sichtbar machen wollen. Obendrein sind starke Hemmungen im Spiel, so mit dem eigenen Körper als dem Medium der Darstellung umzu­ gehen; doch gelingt es uns, sie zu überwinden, dann ist die biblische Ge­ schichte leibhaft geworden wie sonst in keiner Form der Darstellung.

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3.3.6 Aneignung durch Vernetzung Nicht zuletzt sind auch das Verknüpfen und Ordnen Formen der An­ eignung. Auch die Erzählungen müssen, wollen sie etwas bewirken von dem, was wir uns erhoffen, sich einprägen: Sie sollen ja offen sein, immer neue Erfahrungen aufzunehmen und in den Zusammenhang der Hoffnung und des Widerstandes zu integrieren. Dazu brauchen sie eine Art von latenter Präsenz; sie müssen leicht abrufbar sein, sie müssen aber auch die Chance haben, mir unversehens wieder einzufallen in Zu­ sammenhängen, in denen ich mich absichtlich gar nicht an sie erinnert hätte. Dazu müssen ihre Bilder klar genug sein, damit sie nicht von der Flut neuer Bilder einfach überspült werden, sondern stark genug sind, den neuen Erfahrungen ihren Platz anzuweisen. Die Zielsetzung ist nicht utopisch, sondern eine Beschreibung, wie sich biblische Erinne­ rungen inmitten alltäglicher Erfahrungen zu Worte melden; wir sind bescheiden genug, uns klarzumachen, daß dies nur hin und wieder ge­ schieht, aber dann, so hoffen wir, nachhaltig genug, um auch in den Tiefentext des Lebens unserer Kinder hineinzuwirken. Eine Aneignung der biblischen Erzählungen, die ihnen solche Prä­ senz ermöglicht, ist nur auf dem Weg der mehrfachen Wiederholung zu erreichen; aber diese Wiederholung muß anders beschaffen sein als die jede Motivation tötende Aufforderung zum »Nacherzählen" der Ge­ schichte, die wir gerade eben oder in der vorigen Stunde gehört haben. Sie muß die biblische Erzählung so wieder herbeiholen, daß von neuen Zusammenhängen auch immer noch ein neues interessantes Licht auf sie fällt, das ihr neue Aufmerksamkeit sichert. Die biblischen Geschichten selbst geben uns den Anstoß dazu. Ge­ rade das ist ja ihr »Formgeheimnis" (Franz Rosenzweig), daß sie durch wörtliche Anklänge, Stichworte oder übernommene Bilder an andere Erzählungen erinnern, abgesehen von dem unmittelbaren erzähleri­ schen Zusammenhang mit ihrer Vor- und Nachgeschichte. Solche Erin­ nerungen muß unser Unterricht ausdrücklich machen, ihnen nach­ gehen, die anklingenden Geschichten wirklich herbeirufen lassen; sie sprechen jetzt neu, und das Wiedererzählen dessen, was da aus der Erin­ nerung auftaucht, ist für die Kinder, wenn wir ihnen Zeit genug geben, die Bilder aus der Erinnerung wieder ans Licht zu holen, überaus moti­ vierend. Mit dieser notwendigen Vernetzung eröffnet sich uns ein so weites Feld, daß wir uns leicht darin verlieren könnten; wir werden uns be­ schränken auf das Notwendige, aber das eben ist auch wirklich not­ wendig, denn die biblischen Geschichten sind zu schade dazu, nach

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einmaligem Gebrauch auf dem Abfall zu landen. Zu jedem Speichervor­ gang, das wissen wir von der Arbeit am Computer, gehören auch Ord­ nungsprinzipien; die Vernetzung darf nicht zu einer Verknotung werden, an deren Ende sich dann ein nicht mehr entwirrbares Knäuel biblischer Erzählungen als Klumpen im Gedächtnis absetzt. Sie dürfen nicht nur auf den Suchpfaden tiefer Erinnerungen zugänglich werden, sondern müssen sich auch dem leichten Überblick geordnet darbieten. Das ist, zumal bei kleineren Kindern, eine zeitraubende Arbeit. Wir stehen immer wieder erschrocken vor der Erfahrung, was da für ein Chaos in den Köpfen der Kinder herrscht, aber es ist ja unsere Sache, in dem Chaos der Eindrücke jedenfalls ein wenig Ordnung zu schaffen. Die Kinder müssen mit einiger Sicherheit wissen, daß Maria Magdalena jemand anderes ist als die Mutter Jesu, daß sie den neutestamentlichen Joseph in anderen Zusammenhängen suchen müssen als den Joseph, den die Brüder in den Brunnen werfen, und auch, daß David in völlig andere lebensweltliche Bezüge hineingehört als Mose. Für solche Ord­ nungsvorgänge brauchen wir wieder bewegliche Wortkarten. Als Ord­ nungsschema ist eine Zeitleiste für Grundschulkinder noch viel zu ab­ strakt; Stichworte sind besser geeignet, am besten wohl Bilder, um den verbindenden Hintergrund einer Gruppe zusammengehörender Ge­ schichten ganzheitlich zu erfassen. Anders als das Aufräumen im Kin­ derzimmer macht den Kindern solche Arbeit des Erinnerns und Ord­ nens ganz offensichtlich Spaß, so als ob man aus einer alten Spielkiste immer neue Gegenstände hervorholt und staunt, was da alles zum Vor­ schein kommt.

3.3.7 Kontextgeschichten Als ein didaktisch interessantes Arrangement mit vielfältigen Mög­ lichkeiten muß schließlich noch die Technik der Rahmengeschichte er­ wähnt werden. Besonders Walter Neidhart hat ihr immer wieder inter­ essante Möglichkeiten abzugewinnen gewußt: Ein biblischer Text wird in eine den Absichten des Unterrichts entsprechende Rahmenerzählung eingebettet, und der Unterricht geht nun den Bezügen nach, die sich zwischen beiden Erzählungen ergeben. Das kann eine attraktive Auf­ gabe sein, die zu differenzierter Wahrnehmung anleitet. Die Rahmengeschichte kann verschiedene Aufgaben übernehmen. Neidhart/Eggenberger unterscheiden in ihrem >Erzählbuch zur Bibel< (a. a. 0., S. 170 ff.) Rahmengeschichten, die auf das Problem eines Bibel­ textes hinführen, von "Geschichten zur literarischen Ursprungssitua-

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tion", die die vermuteten Entstehungsbedingungen eines Textes er­ zählen und dadurch seine ursprünglichen Intentionen deutlicher machen wollen. Beide Formen lassen sich nicht streng voneinander trennen; so etwa wird die Geschichte von der Stillung des Sturms in einen Rahmen gestellt, der die Situation verfolgter Christinnen und Christen im Römischen Reich beschreibt; sie versuchen sich gegenseitig Mut zuzusprechen und erzählen sich in dieser Absicht die Geschichte, in der Jesus einen Sturm zum Schweigen bringt, in dem die Jünger sich schon verloren glaubten. Was die Rahmengeschichte hier leisten soll, ist eine Veränderung der Wundergeschichte; sie wird mit didaktischem Nachdruck in eine Situation eingefügt, in der sie nicht mehr als Tat­ sachenbericht erscheinen kann, sondern als eine Symbolgeschichte, in der die Erfahrungen verfolgter Christen zur Sprache kommen. Das erscheint auf den ersten Blick als eine gelungene Umsetzung ex­ egetischer Einsichten in ein didaktisches Arrangement. Bei genauerem Hinsehen freilich nicht mehr: Die biblische Geschichte wird durch diese Rahmengeschichte in einer doppelten Weise entwirklicht, sie wird zweifach pädagogisiert: Fiktive Figuren, vom Unterrichtenden in päd­ agogischer Absicht erfunden, erzählen sich gegenseitig eine Geschichte, wiederum in pädagogischer Absicht, um sich gegenseitig Mut zu ma­ chen. Wie soll denn eine solche Geschichte noch überzeugen ? Sie ist jeder Authentizität beraubt. Wenn irgendwo, dann wird hier deutlich, wie wahr doch Sten Nadolnys Warnung vor den guten Absichten war. Gewiß spricht die Geschichte von der Sturmstillung nicht die Sprache des Tatsachenberichts, aber sie ist doch randvoll von Erfahrung, sonst würde sie nicht erzählt. Nicht immer geschieht die Entwirklichung so drastisch wie in diesem Falle. Gerd Theißen hat sein Jesusbuch als eine Rahmengeschichte er­ zählt, auch er in pädagogischer Absicht: Andreas, ein galiläischer Jude, wird von Pilatus gezwungen, Informationen über Jesus zu sammeln; er trifft aber nicht auf ihn selbst, sondern nur auf seine Spuren, auf die Wi­ derspiegelungen seines Wirkens. Darin ist er eine exemplarische Figur: Auch wir bekommen es mit unseren Recherchen wie die gesamte exege­ tische Arbeit nie mit dem Galiläer selbst zu tun, auch nicht mit seiner wirklichen Geschichte, sondern nur mit seinem Schatten, dem Reflex seiner Geschichte. Mit dieser Grundannahme wird jede Möglichkeit authentischen Er­ zählens von Jesus bestritten. Das liegt in der Konsequenz der histo­ risch-kritischen Exegese, doch ist die Folge die gleiche Entwirklichung der Geschichte J esu wie in den einfacher zugeschnittenen Rahmenge­ schichten bei Neidhart, Tschirch oder Steinwede. Sie gleicht ihnen auch

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darin, daß in der Rahmenhandlung Figuren agieren, denen das absichts­ voll Fingierte aus jeder Falte ihres Gesichts hervorschaut. Sie sind weder auf der symbolischen noch auf der Tatsachenebene überzeugende Ge­ stalten. Und in den Sog ihrer erzählerischen Minderwertigkeit werden die biblischen Erzählungen unausweichlich mit hineingezogen. Das macht die Lektüre so schwer erträglich. Schon Grundschulkinder sind heute kritisch gegen solche absichts­ volle Belehrung. Ich sehe, daß diese Rahmengeschichten bei den Kin­ dern so etwas erzeugen sollen wie einen Zwang zur ausdrücklichen Deutung; die biblischen Geschichten sollen damit von der Ebene bloßer Tatsachenberichte gelöst werden. Aber diese Art der Deutung macht die Texte nicht durchsichtiger, sondern nur fadenscheinig. Ich sehe, daß die erfundenen Figuren der Rahmenhandlung Brückenpfeiler sein sollen für eine Vergegenwärtigung des Textes; aber in Wahrheit sind Theißens Andreas und die verfolgten Christinnen und Christen in Rom den Kindern nicht näher, sondern ferner als die Personen der biblischen Erzählung. Das wäre nur anders, wenn die Rahmengeschichte zwei Bedingungen erfüllte : Sie müßte von Menschen unserer Zeit so erzählen, daß sie wirk­ lich gegenwärtig werden; und sie müßte authentisch davon erzählen können, so daß es glaubwürdige Menschen sind mit ihren Fragen und Widersprüchen. Dann allerdings hätte die Rahmengeschichte tatsäch­ lich eine große Chance : Die biblischen Texte würden sich in diesem Dialog nicht als fadenscheinig erweisen, sondern weiter mit Erfah­ rungen füllen, mit noch anderen als denen, die die Kinder mitbringen. Es wären dann eigentlich keine Rahmen-, sondern Kontextgeschichten in dem Sinne, in dem wir anfangs (s. o. Kap. 2.2.1 ) von kontextueller Ex­ egese sprachen. Solche Kontexterzählungen holen andere Menschen mit ihren eigenen Erfahrungen in das Gespräch unserer Erfahrungen mit den biblischen Texten mit hinein. Hier berührt sich die didaktische Intention der Rahmengeschichte unversehens mit der des ökumenischen Erzählens. Wir stehen ohnehin vor der Aufgabe, in unserem Unterricht weit mehr als bisher aus der Ökumene zu erzählen, von Erfahrungen von Christinnen und Christen in anderen Regionen der Erde. Unsere Kinder dürfen nicht in jenen mit­ teleuropäischen provinziellen Denkmustern aufwachsen, in dem sie die Probleme der Weltgesellschaft allenfalls aus der Perspektive des Touri­ sten wahrnehmen. Ökumenisches Erzählen eröffnet die Möglichkeit, geschwisterlich an Leiden und Hoffnungen von Menschen teilzu­ nehmen, die unter ganz anderen Bedingungen leben als wir und mit denen wir doch unlöslich verbunden sind. Der Kontext ihres Lebens ist

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von dem unseren denkbar weit entfernt, und doch haben beide als ge­ meinsamen Kontext die Bibel; sie gibt uns die Chance, eine gemeinsame Sprache zu finden. Ökumenisches Erzählen wird in unserem Unterricht auch unab­ hängig von dieser unmittelbaren Einbindung in den Umgang mit bibli­ schen Erzählungen Raum beanspruchen müssen, viel mehr als bisher. Aber hier, in der Entdeckung, daß und wie uns der gemeinsame bibli­ sche Kontext mit Menschen ganz woanders verbindet, haben wir die tragende Wurzel alles ökumenischen Erzählens. Und das eigentlich so einleuchtende und anregende Konzept der Rahmengeschichte sehnt sich offenbar geradezu nach einer solchen Einlösung. Literatur: Susanne Beck, Ulrich Becker u. a. (Hrsg.), Vorlesebuch Ökumene. Geschichten vom Glauben und Leben der Christen in aller Welt, Lahr 1991. Walter Neidhart/Hans Eggenberger (Hrsg.), Erzählbuch zur Bibel, Bd. 1, 1975, Bd. 2, 1989, Zürich/Lahr. - Gerd Theißen, Der Schatten des Galiläers. Histori­ sche Jesusforschung in erzählender Form, München 131993.

3.4

Kindheitsmuster in Hoffnungsgeschichten

Ob die biblischen Geschichten heutigen Kindern überhaupt noch zu­ gänglich sind, ist nicht mehr unsere Frage. Bei genauerem Hinhören kehrt sich das alte hermeneutische Modell, nach dem wir mühsam einen Schlüssel zum Verstehen biblischer Texte zu suchen haben, eindrucks­ voll um : Wie die Worte der Psalmen, so werden auf einmal auch die bi­ blischen Erzählungen selbst zu Schlüsseltexten, die uns Erfahrungen unserer Kinder besser begreifen lassen.

3 .4. 1 Eine Geschichte gegen die Angst Schon bei der Arbeit an den Psalmen fiel uns auf, welches Gewicht für die Kinder die Worte haben, die die Angst der Kleinen vor den Großen thematisieren. Kinder finden diese Erfahrung in einem Wort wie : "Gewalige Stiere haben mich umgeben" (Ps 22, 13), aber auch in ganz anderen Bildern, etwa: "Ich versinke in tiefem Schlamm" (Ps 69, 3). Ein Kind malte dazu sich selbst ganz klein, bis zum Hals im Schlamm steckend, während am Ufer eine riesige Gestalt steht und ein gewaltiges Hohngelächter anstimmt, dessen "HA HA HA" das ganze Blatt ausfüllt. Die Bedrohung durch "die Großen", vor allem durch größere

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Kinder, die ihre Überlegenheit unberechenbar ausspielen, ist eine Er­ fahrung, die das Kleinsein mit dem Trauma des Ausgeliefertseins ver­ bindet und die Sehnsucht nährt, endlich nicht mehr klein zu sein. Die Bedrohung wartet oft schon auf dem Schulhof, und sie wächst noch mit der Entfernung von der Schule, auf dem Heimweg, beim Spielen draußen. Solche Kinder brauchen Worte, die ihnen helfen, diese Angst beim Namen zu nennen; das leisten die Psalmen. Sie brauchen aber wohl noch mehr: Handlungsmuster, die ihnen Mut machen, den Kampf mit der Angst vor den Großen aufzunehmen. Eben dieses Thema hat in der biblischen Überlieferung eine klassi­ sche Gestalt gefunden: David ist der Inbegriff des Kleinen, der den Kampf mit dem Großen aufnimmt und gewinnt. Wenn ich Kindern eine Mutmachgeschichte gegen diese Angst erzählen will, finde ich keine bessere als die von Davids Kampf mit dem riesigen Goliath; und wenn ich diese Geschichte zu erzählen beginne, dann finde ich darin Schritt für Schritt genau die bedrohlichen Erfahrungen aufgenommen, die unseren Kindern Angst machen. Die Geschichte (1. Sam 17) beginnt damit, daß die Philister ihr Heer sammeln; der Ort wird genau genannt: bei Socho im Land Juda. Be­ gänne ich aber so zu erzählen, dann hätte ich die Geschichte schon völlig verändert. Sowohl der Name der Philister als auch der des Ortes sagen heutigen Kindern nichts mehr; beide müßte ich erst erklären, und damit rückte die Geschichte von Anfang an in eine nicht mehr über­ brückbare Ferne. Was das heißt, daß sie »ihr Heer zum Kriege sam­ meln", findet in den Vorstellungen der Kinder keine Resonanz, es sei denn, sie verbinden damit Bilder aus historischen Breitwandfilmen. Dabei spricht dieser Satz genau von den Erfahrungen, die unsere Kinder ängstigen: Die Philister sind für die Israeliten »die Großen" schlechthin, riesige Kerle, die sich an der Küste (im heutigen Gaza­ Streifen) festgesetzt haben und alle Nachbarn mit ihrer Bewaffnung er­ schrecken; dagegen nehmen sich die Waffen der israelitischen Bauern wie Kinderspielzeug aus. Ihre Gewaltbereitschaft ist bekannt; sie rotten sich dort zusammen, wo das Gelände ihnen den Zugang zu den Woh­ nungen der Stämme Israels ermöglicht, also vor der offenen Haustür Is­ raels. Daß sie Schlimmes vorhaben, daran ist nicht zu zweifeln. Was sollen die Leute tun, die da wohnen ? Sie bieten all ihre Männer auf, die sie erreichen können, und die kommen auch, notdürftig be­ waffnet mit dem, was sie für ihren Beruf brauchen, als Hirten oder Bauern. So stehen sie sich nun gegenüber: Auf der einen Seite bedroh­ lich die Großen, über und über behängt mit Waffen, mit denen sie lässig spielen, bereit loszuschlagen, sobald sie Lust dazu verspüren. Ihnen ge-

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genüber nur eine dünne Menschenkette; sie wollen das Land und die Leute darin nicht schutzlos preisgeben, aber im Ernst haben sie gar keine Chance, die anderen aufzuhalten. Kein Wunder, daß sie Angst haben; auch der sich ihr König nennt (ihr King also), ist schlecht dran; er ist als einziger besser bewaffnet als die anderen, aber er fürchtet sich genauso WIe sIe. Das Warten zerrt an den Nerven, und das kosten die anderen aus. Jeden Tag schicken sie einen, ihren Größten und Stärksten; der kommt langsam und gewichtig auf sie zu, hantiert mit seinen Waffen und sagt, es sollte doch einmal ein Mutiger vortreten, der es mit ihm aufnehmen wollte - doch wer soll das schon wagen ? Und dann gießt er triefenden Hohn über sie aus, nennt sie Feiglinge, Memmen und Waschlappen, und sie müssen sich das alles gefallen lassen, denn natürlich ist unter ihnen keiner, der es auch nur entfernt mit ihm aufnehmen könnte. Wenn er ihnen nahekommt, weichen sie zurück, anderes bleibt ihnen gar nicht übrig, sein Anblick ist furchterregend, das beschreibt die Bibel genau. Er spielt das Spiel, das die Großen so gern mit den Kleinen spielen; ihre Demütigung kostet er aus und weidet sich an ihrer Angst. Dann beginnt die Gegenhandlung ganz von unten. David wird als der kleinste von acht Brüdern vorgestellt. Die drei ältesten sind bei denen, die sich den Philistern entgegenstellen. Der Vater schickt ihn dorthin, um seinen Brüdern etwas zu essen zu bringen. Dort erlebt er die Angst, die Demütigung und den Hohn, fragt nach, und sein älterer Bruder weist ihn zurecht, so wie es die Großen mit den Kleinen zu tun pflegen. Der Dialog ist in der Bibel so meisterhaft erzählt, so treffend und zu­ gleich so hintergründig, daß Kinder darin auch noch viel für das Rollen­ spiel lernen können, dem sie täglich ausgesetzt sind. Der Kleine läßt sich nicht den Mund verbieten, fragt weiter nach, und schließlich hört der König davon. Der hat in seiner Verzweiflung jedem, der es mit diesem riesigen Kerl aufzunehmen wagt, seine Tochter zur Frau versprochen, und niemand ist da, der sich traut. Doch David geht hin und sagt: Das kann nicht sein, daß keiner es wagt; ich will es tun! Der König will ihn zuerst abhalten, doch David erzählt, daß er als Hirte schon gelernt hat, zu kämpfen. Da bietet ihm der König jedenfalls seine eigenen Waffen an, seine Rüstung; und der Kleine legt sie an und ver­ sucht darin zu gehen, aber es will nicht gelingen. Wieder ist eine typi­ sche Szene mit unerhörter Meisterschaft geschildert, erheiternd in einem bitter ernsten Kontext. Schließlich läßt der Kleine all die gutgemeinte ängstliche Fürsorge hinter sich und holt sich die einfachen Waffen, mit denen er umzugehen weiß : glatte Steine für seine Schleuder; und so geht er dem Gewaltigen

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entgegen. Der hat wieder mit seinen höhnischen Pöbeleien begonnen; er steht da und wähnt sich mit seiner schweren Rüstung vom Kopf bis zu den Füßen unverwundbar. Als er den Kleinen kommen sieht, gerät er ganz außer sich, schäumt über vor Wut mit unflätigen Beschimpfungen, doch der Kleine kommt, ohne Helm, ohne Rüstung, nur mit seiner Schleuder in der Hand - und mit dem Namen Gottes im Kopf, der ihm sagt: Ich bin da, ich will mit dir sein. Er nimmt seine Schleuder und zielt und trifft den Großen an seiner einzig verwundbaren Stelle, genau an der Stirn, und der stürzt in seiner ganzen Länge zu Boden. Seine Kum­ panen aber, fassungslos über solchen Widerstand, suchen das Weite: Der Spuk ist vorbei. Dies ist natürlich noch nicht meine Erzählung für den Unterricht, sondern das Gerüst einer Erzählung, von dem ich beim Erzählen aus­ gehen kann. Die biblische Erzählung ist eine typische Sage; die Sage be­ richtet nicht, wie es historisch gewesen ist (davon spricht vielmehr eine Notiz in 2. Sam 21, 19), doch sie lebt von geschichtlich Erfahrenem. Sie elementarisiert und personalisiert geschichtliche Erfahrungen so, daß sie gegenwärtig bleiben, zur Identifikation einladen und dadurch zu Handlungsmustern werden können. Solche Handlungsmuster sind Hoffnungsmuster. Was aber diese Geschichte für Kinder so beredt macht, ist die genaue Nachzeichnung von Erfahrungen, die gerade heu­ tige Kinder gut kennen, und die Verbindung mit Handlungsmustern, die ihnen Mut machen.

3 .4.2 Geschichten gegen die Verzweiflung Da sitzt einer allein und verloren neben dem Weg, auf dem die vielen gehen. Um ihn ist es dunkel; er kann nicht mehr sehen; oder will er nicht mehr? Jedenfalls schaut er nicht mehr auf. Er hat sich eingehüllt in seinen Mantel; doch auf einmal hört er etwas und fängt an zu schreien. Aber von denen, die da vorbeigehen, denkt niemand daran, ihn zu trö­ sten, im Gegenteil: "Sei still! " wird er angefahren. So beginnt die Geschichte vom blinden Bartimäus (Mk 10, 46 ff.). Der Anfang liest sich wie eine Geschichte von typischen Erfahrungen heu­ tiger Kinder. Nacherzähler bemühen sich (so habe ich es früher auch getan), die unverständlich harte Reaktion der Leute auf das Schreien zu begründen. Aber das ist gar nicht nötig; in der Erfahrung der Kinder ist es das ganz Normale: Wer schreit, wird nicht getröstet, sondern ange­ fahren - "sei still! " . Es ist eine Erfahrung zum Verzweifeln. Der Name erzählt, wenn wir darauf achten, noch mehr von ihm. Zu-

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rückübersetzt in seine eigene (die aramäische) Sprache heißt er Bar-tme, das bedeutet: ein Kind der Unreinheit, mit dem die anderen die Berüh­ rung scheuen. Wieviel schmerzhafte Erlebnisse von Kindern versam­ melt dieser Name: Erfahrungen absichtlicher Distanz und verweigerter Kommunikation, die Angst, von den anderen gemieden zu werden, ab­ seits zu stehen, abschätzigen Blicken ausgeliefert, am Ende unfähig, den anderen noch gerade ins Gesicht zu sehen. Doch der, von dem hier erzählt wird, Bartimäus, läßt sich nicht mehr klein machen, er will nicht mehr still sein, er schreit und schreit. Wenn wir die Geschichte so beginnen, ist sie nicht mehr, wie Sten Nadolny es bei Erzählungen von Leuten unseres Schlages fürchtet, "didaktisch, fade, vorhersehbar" ; das tötende, spannungslose Schema ist gesprengt, nach dem die Erwartung, Jesus könne Wunder tun, auf die selbstver­ ständlichste Weise am Ende eingelöst wird; die Geschichte wird span­ nend : Was wird aus diesem Kleinen ? Er hat von J esus gehört, und was er da gehört hat, läßt ihn jetzt nach dem "Davidssohn" schreien; der ist kein Wundertäter, sondern einer, der es wie David schafft, auch mit riesigen Feinden fertigzuwerden. In dem Schreien nach dem Davidssohn spiegelt sich die Verlorenheit des Kleinen: "Gewalttäter haben mich umringt; sie schauen zu und sehen auf mich herab" (Ps 22, 17f.); seine Ohnmacht ist seine Verzweiflung. Die Sparsamkeit der biblischen Erzählung erinnert an die Strenge mancher modernen Musikstücke; sie vermeidet jede Wiederholung. Am Ende der Geschichte erst ist von dem Mantel des Bartimäus die Rede, jenem unersetzlichen Kleidungsstück, das nach dem Willen der Tora niemals gepfändet werden darf, weil der Mantel für den Armen zu­ gleich der Schutz gegen die Kälte und die Hitze des Tages sein muß und die Decke für die Nacht. Wenn wir von Bartimäus erzählen, ist natürlich der Mantel in unserer Vorstellung schon am Anfang der Erzählung da; Bartimäus hüllt sich in ihn ein, so wie sich Kinder unter einer Decke ver­ kriechen; der Mantel ist sein Schutz vor den Blicken der anderen, er wird nicht gesehen und muß sie nicht anschauen. Daß die anderen ihm nicht ins Gesicht schauen sollen und er ihnen auch nicht ins Gesicht schauen kann (oder will), diese Körpersprache der Verlorenheit, die gerade Kinder genau kennen, wird in der bibli­ schen Erzählung erst am Ende benannt; in unserer Erzählung, die ja nicht dem gleichen Gesetz äußerster verbaler Sparsamkeit verpflichtet ist, wird sie schon am Anfang ausdrücklich gegenwärtig sein. Denn als er von Jesus gefragt wird, was er denn will, antwortet er nicht, wie die meisten Übersetzungen sagen: daß ich wieder sehen kann! Genau übersetzt heißt seine Antwort: Ich will aufschauen können, und das be-

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deutet: Ich will den anderen wieder ins Gesicht schauen können! "Rab­ buni" nennt er ihn, seinen Davidssohn, mit einer beglückten, fast zärt­ lichen Wendung, die in den Evangelien sonst nur noch im Munde der Maria Magdalena begegnet. "Mein Meister" ist viel zu strohern über­ setzt; sein ganzes Glück liegt darin: Endlich habe ich einen gefunden, der mir heraushilft, den Lehrer, nach dem ich schon lange gesucht habe, der mich auf den Weg bringt. Das Entscheidende ist schon in dem Wortwechsel geschehen, der sich unmittelbar davor abspielt. Als J esus ihn wahrgenommen hat und Leute schickt, die ihm sagen: "Sei getrost, steh auf, er ruft dich ! " , da, so wird erzählt, wirft er seinen Mantel ab, springt auf die Füße und kommt zu Jesus. Dreifach ist die Anrede, dreifach seine Antwort: Die Dunkelheit wirft er ab, er durchbricht seine Ohnmacht, er kommt heraus aus seiner Verlorenheit. Der Davidssohn hat ihn wahrgenommen, doch nun hat er sich selbst befreit, und Jesus bestätigt ihm das : Es war dein Glaube, der dich gerettet hat, sagt er ihm (Mk 10, 52), es war dein Mut, der dich da herausgeholt hat. In dem verzweifelten Schreien lag schon der Anfang der Hoffnung, das Aufbegehren war der Anfang des Widerstandes; erst das Verstummen der Verlorenen besiegelt ihre Verzweiflung. So ist auch dies eine typische Mutmach-Geschichte, wie zuge­ schnitten auf Erfahrungen heutiger Kinder. Die Verlorenheit, die sie an­ spricht, reicht noch tiefer als die in der Goliath-Erzählung; es ist nicht mehr nur Angst, sondern schon Verzweiflung im Spiele, doch auch sie ist unseren Kindern nicht mehr unbekannt. Doch es ist keine singuläre Geschichte; wenn wir erst anfangen, in der Bibel mit den Augen von Kindern und Jugendlichen zu lesen, ent­ decken wir ähnliche Geschichten auf Schritt und Tritt: Da ist der junge Mann, der einem unheimlichen Zwang folgend zwischen den Gräbern wohnen will (Mk 5, 1 ff., s. o. S. 80). Dort schreit er mit entsetzlicher Stimme und schlägt sich selbst blutige Wunden: ein Bild der Verzweif­ lung, das aus unseren Tagen stammen könnte. So wird er sich selbst zu­ grunde richten. Zu Hause haben sie ihn festhalten wollen, ja sie haben ihn mit Stricken anzubinden versucht, mit Ketten sogar (Mk 5, 3 ff.), trotzdem - oder gerade deshalb ? - hat er seine Fesseln gesprengt und ist davonge­ laufen. Den Mann aus Nazareth wehrt er ab : Was habe ich mit dir zu schaffen! Quäle du mich nicht auch noch! (Mk 5, 7). Am Ende der Ge­ schichte aber redet er mit Jesus vernünftig und besonnen und geht wieder nach Hause: Da ist ein Wunder geschehen, aber die Geschichte verrät uns nicht, auf welche Weise. Soviel wird deutlich: Die Geister der Verzweiflung, die ihn quälten,

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hießen »Legion", so viele waren es. Die Verzweiflung der Jungen hat viele Ursachen; die Geschichte erzählt in einer durchsichtigen Meta­ pher von Tausenden von Schweinen, die sich da tummeln. »Du mußt ein Schwein sein in dieser Welt", singt sarkastisch ein Lied aus unseren Tagen; anders kann man in dieser Gesellschaft nicht überleben, und das bringt die Jungen zur Verzweiflung. Die Geschichte endet wie in einem Traum: Die Geister der Verzweiflung wenden sich gegen die, von denen sie ausgingen; sie fahren in diese Schweine; und die Schweine geraten selbst in Raserei und stürzen sich in den Abgrund - ein drastisches Bild, doch ein Bild der ersehnten, notwendigen Befreiung.

3.4.3 Von der Bändigung des Chaos Mit massiven Chaoserfahrungen haben Kinder von der ersten Se­ kunde ihres Lebens an zu tun. Es ist ein Wunder, daß ein kleines Kind lernt, die chaotisch andringende Fülle der Eindrücke überhaupt so zu strukturieren, daß ein Wiedererkennen von Gegenständen und Per­ sonen und ein Vertrautwerden mit ihnen möglich wird. Der Anfang der biblischen Schöpfungsgeschichte aber liest sich wie eine Innenschau dieses Vorganges : Am Anfang ist alles nur Chaos und Finsternis, dann fällt Licht ein, und mit ihm beginnt die Möglichkeit, zu unterscheiden: hell und dunkel, Licht und Finsternis, der Rhythmus von Tag und Nacht; es entsteht eine feste Struktur (die »Feste"), die der Scheidung Stabilität verleiht. So wird in den Köpfen der Kinder die Welt von neuem erschaffen; und sie wird dort wie in der Schöpfungsge­ schichte dem Chaos abgewonnen. Das Chaos ist damit nicht abgeschafft; es meldet sich wieder zu Wort, etwa in den Aufwallungen, die Kain zum Brudermord treiben ( 1 . Mose 4, 5); schließlich ist die Erde so voll von Gewalttat (1. Mose 6, 13), daß das Chaos alles wieder veschlingt, bis auf einen kleinen Raum, der bewahrt bleibt, die Arche. Kinder kennen auch diese Erfahrung des Chaos : den Einbruch der Gewalt, die alles zerstört, was da als gut und schön und liebenswert wahrzunehmen war. Sie lernen, wenn sie älter werden, auch das Chaos in der Tiefe der eigenen Seele kennen. Selbst »der gestirnte Himmel über mir" erweist sich nicht nur als Inbegriff erstaunlicher Ordnung, sondern auch als ein Chaos unvorstellbar gewaltiger Explosionen und tödlicher Strahlen. Das Chaos gibt uns Rätsel über Rätsel auf. Die Kinder formulieren diese Rätsel als Fragen auf immer neuen Stufen der Wahrnehmung. Auf

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einmal entdecken Kinder die Frage : Warum ist das so ? Das ist eine er­ staunliche Frage, und in der Regel ist es nicht leicht, darauf zu ant­ worten. Denn sie fragt nicht nur nach den naheliegenden erkennbaren Ursachen, sondern geht aufs Ganze; sie fragt nicht nur nach dem Woher, sondern zugleich damit nach dem Wohin und Wozu, nach einem erkennbaren Sinnzusammenhang. Die elementare Sprache, mit der wir Sinnzusammenhänge formu­ lieren, ist die der Erzählung, »Narrativierung, die Herstellung eines nachvollziehbaren Zusammenhanges . . . Eine grundlegende Arbeit, die jeder tut, der lebt. Nur wer einen Zusammenhang erkennt oder die Chance, ihn herzustellen, steht morgens aus dem Bett auf" (Sten Na­ dolny, a. a. 0., S. 77). Da gibt es läppische Versuche, die Warum-Frage mit skurrilen Geschichten abzutun, auch in der Literatur. Das bleibt unter ihrem Niveau. Denn die Warum-Frage ist sehr ernst gemeint; sie fragt nach dem Sinn des Ganzen, doch nicht abstrakt und allgemein, sondern sie entzündet sich an konkreten Erfahrungen. Deshalb läßt sie sich auch nicht mit einer kurzen Erklärung beantworten. Sie verlangt als Antwort nicht Belehrung, sondern Erfahrungen, die es ermöglichen, dem Chaos standzuhalten. Die eigentlich geforderte Antwort ist eine Erzählung, die das Chaos zu bändigen hilft. So ist die Warum-Frage der natürlichste Ansatzpunkt für das Er­ zählen. Die Warum-Frage, die sich am Ritual des Passafestes entzündet, wird mit den Erzählungen von der Sklaverei in Ägypten und von dem großen Auszug beantwortet. Das sind Erzählungen, die nicht nur die Elemente des Mahles erklären, sondern dem ganzen Leben die Rich­ tung auf Freiheit geben: Dieses Jahr Sklaven, nächstes Jahr frei! Wie wären wir glücklich, wenn sich an christlichen Ritualen ähnlich vitale Warum-Fragen entzündeten! Doch das ganze Leben unserer Kinder steckt voll von Warum­ Fragen. Sie sind den Eltern oft so unbequem, daß sie den Kindern abge­ wöhnen, weiter so zu fragen. Dabei ist es für Kinder lebensnotwendig, Antworten zu finden. Die ersten beiden Rätsel, mit denen Jostein Gaarder seine Sofie zum Bewußtsein ihrer Welt und ihrer selbst kommen läßt, heißen: Wer bist du ? und: Woher kommt die Welt? 00stein Gaarder, Sofies Welt; dt. Übers. München 1993). Beides sind keine harmlosen Fragen; unter ihnen ist der Abgrund des Chaos durchaus er­ kennbar. Wir können sie auch nicht schlüssig beantworten, doch wir können sie jedenfalls nicht ohne Schaden offenlassen. Wir brauchen Ge­ schichten, die gewichtig genug sind, den Abgrund verläßlich zu über­ brücken. Dabei stoßen wir auf die Schöpfungsgeschichte. Sie nimmt von den Warum-Fragen gerade diejenigen auf, die ganz weit zurück-

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greifen : Warum ich da bin, warum es überhaupt Lebendiges gibt und diese Erde mit all ihrer Schönheit und all dem, was mir Angst macht, das Licht und die Dunkelheit und die erstaunliche Ordnung von Tag und Nacht - das sind die Fragen, auf die sie antwortet. Wir hatten im Unterricht im 2. Schuljahr das Schöpfungsthema zu­ nächst (nach einem Unterrichtsgang im Wald) mit Worten der Lob­ psalmen aufgenommen. An manchen Stellen des Unterrichts aber drängten uns die Reaktionen der Kinder, diese in einen erzählenden Zu­ sammenhang einzuordnen. So wollten wir den Versuch wagen, die sprachlich sehr dichte erste Schöpfungsgeschichte (1. Mose 1 ) als Erzäh­ lung darzubieten. Daraus sollten sich Anstöße zur Gestaltung von Bil­ dern ergeben, die dann zusammen einen Fries bilden konnten. Eine Kunsterzieherin, Claudia Pollitt, wies uns darauf hin, daß sich gerade in den schöpferischen Prozessen, die die Schöpfungsgeschichte beschreibt, auch die Strukturen schöpferischer Prozesse erkennen lassen, die sich bei Kindern vollziehen, etwa beim Entstehen eines Bildes : Entwirrung des Chaos, Scheidung von hell und dunkel, erste feste Strukturen, Be­ nennung und Fixierung des sichtbar Gewordenen - bis hin zum Be­ trachten und Beurteilen: Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte . . . Die Eröffnung einer Gesprächssituation, in die hinein dann die Schöpfungsgeschichte erzählt werden kann, ist durch das Stichwort »Im Anfang" (1. Mose 1, 1 ) gegeben: Ätiologische Erzählungen dieser Art fragen zurück nach den Anfängen, nur so kommt man an sie heran. Aber auch die Warum-Fragen der Kinder zielen auf den Anfang; wir finden hier eine ähnliche Entsprechung wie bei den Wunderge­ schichten: Die biblischen Erzählungen verfolgen die gleichen Grund­ fragen, die auch unsere Kinder stellen, die uns selbst mittlerweile aber aus den Augen geraten sind; und so helfen sie uns, die Fragen unserer Kinder wieder besser wahrzunehmen. Wir beginnen also mit einer Gedankenreise, die die Fragen der Kinder aufnimmt: Wir lassen unsere Gedanken zurückwandern in eine Zeit, in der es noch keine Autos gab und keine Straßen, und wandern weiter zurück in eine Zeit, in der es unsere Stadt noch nicht gab, eine Zeit, in der es noch keine Häuser gab, ja noch gar keine Menschen; da gab es große Urwälder, riesige Farne wie Bäume; und davor noch eine Zeit, in der überall Wasser war, auch dort, wo heute Berge sind; und noch weiter zurück: eine Zeit, in der die Erde glühendes Gestein war, umgeben von Wasserdampf - das war vor vielen Millionen Jahren. Wir können uns hundert Jahre kaum vorstellen, tausend schon gar nicht, jetzt denken wir vieltausendmal tausend Jahre zurück. Woher kommen die Erde ? die Sonne ? die Sterne ? überhaupt der ganze Weltraum ?

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Wir unterbrechen die Gedankenreise und nehmen Aufenthalt für ein Gespräch, in das die Kinder einbringen, was sie alles von der Erdge­ schichte wissen - erstaunlich viel. Das nehmen wir auf: Im Weltraum gibt es kein Leben, nur eisige Kälte, die alles erstarren läßt, und tödliche Strahlen, die alles Leben vernichten. Daß wir hier auf der Erde leben können, hängt davon ab, daß das glühende Gestein erkaltet ist, aber noch nicht ganz kalt, daß es eine Lufthülle gibt und Wasserdampf und eine Ozonschicht, so daß die tödlichen Strahlen abgeschirmt werden, nur so konnte Leben entstehen. Doch wie ist das Leben entstanden ? Wie sollen wir uns das vor­ stellen ? Zuerst waren da wohl Algen im Wasser, aber wie sind daraus Pflanzen geworden - und die Tiere ? Viele, viele Arten, die wir gar nicht alle kennen können, und schließlich Menschen ? Erst die Menschen fragen, wie das alles geworden ist und woher es kommt. Irgendwann habt ihr alle so angefangen zu fragen: Wie war es denn im Anfang? Aber was meinen wir damit: Im Anfang? Als es anfing mit mir? mit der Stadt Siegen ? oder als es anfing mit den Menschen überhaupt? oder mit dem Leben auf der Erde ? oder mit der Erde überhaupt? Ja, was war denn da überhaupt am Anfang von allem ? Wieder brauchen wir Zeit für ein Gespräch, aber jetzt, um der Frage nach dem Anfang nachzudenken. Jeder Mensch, jedes Kind stellt ir­ gendwann diese Frage. Manche bleiben ganz ratlos, manche wissen ein paar Antworten genauer. Wir können heute etwa sagen, seit wann es Menschen gibt auf der Erde, wann die Saurier ausgestorben sind, seit wann es Tiere gibt und seit wann es überhaupt Leben auf der Erde gibt; wir können sagen, wie lange es her ist, daß überall noch Wasser war, wo heute Berge sind. Auf vielen Bergen finden wir oben noch Kalk, und in dem Kalk kann man die Abdrücke von uralten Muscheln und kleinen Seetieren entdecken: die sind aus der Zeit übriggeblieben, als über den Bergen noch Wasser war. Wieder machen wir einen kleinen Aufenthalt, um Eindrücke und Ein­ fälle auszutauschen; dann geht die Gedankenreise weiter, jetzt steiler bergan: Die Frage nach dem Anfang ist zu schwer, als daß ein Mensch sie beantworten könnte. Und natürlich: Es war ja überhaupt kein Mensch dabei, als alles anfing; Menschen gibt es noch gar nicht so lange. Aber Menschen können zurückdenken, auch ihr könnt zurückdenken bis in die Zeit, ehe es euch gab; und so haben die Menschen immer weiter zurückgefragt und zurückgedacht, bis in die Zeit, als es noch gar keine Menschen gab, und haben festgehalten und erzählt, was sie dabei entdeckt haben. Das ist eine Geschichte, die will ich euch jetzt erzählen, eine Geschichte, wie es im Anfang war, am Anfang von allem: so als ob

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jemand von Anfang an miterlebt hätte, wie alles entstand, in den vielen, vielen Millionen Jahren. Was eine Million Jahre ist, so haben wir vorhin gesagt, können wir uns gar nicht vorstellen, schon was tausend Jahre sind, ist uns viel zu viel; und so redet diese Geschichte einfach von dem, was wir uns vor­ stellen können, von Tagen, von dem ersten Tag, der entstand, und von noch einem Tag und einem dritten Tag; aber das sind Tage, die anders ge­ messen werden als mit unseren Minuten und Stunden, jeder dieser Tage dauert viele, viele tausend Jahre. Was war denn nun am Anfang? Wie kam es, daß alles überhaupt an­ fing ? Erklären können wir das nicht, auch die Wissenschaftler nicht. Ich kann auch nicht erklären, wie das kommt, daß ich lebe, daß gerade ich geboren bin, daß ich ICH bin. Wenn ich nun alles zusammennehme, was ich weiß und was andere Menschen wissen, dazu mein eigenes Leben, über das ich immer wieder staune - also wenn ich das alles zu­ sammennehme, auch die Bäume und die Vögel, wie schön sie sind, und den Himmel, das Licht und alle Farben, dann kann ich mir nicht vor­ stellen, daß das alles aus einem Knall zufällig so entstanden ist; es gibt so viel Schönes, das muß schon jemand so gewollt haben, der es gut meint mit uns. Und wenn wir das so denken, dann sagen wir: Gott war es, der das alles so gedacht und entworfen und in Gang gesetzt hat. So sagen sie das in der Bibel: Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die ganze Welt geschaffen wurden, bist DU, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und so fängt unsere Geschichte an : Am Anfang war Gott da. Und dann war da nur Chaos und lauter Fin­ sternis, darin tobten furchtbare Gewalten, die alles zerstörten, was ent­ stehen wollte. Nur Finsternis war da, doch Gott sprach: Es werde Licht! Und da wurde es Licht, und Gott trennte das Licht von der fin­ sternis und nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht. Und Gott sah, daß das gut war, und Tag und Nacht wechselten sich ab; so wurde es Abend, und so wurde es Morgen: ein erster Tag, ein aller­ erster Tag. Wie geht es weiter? Der neue Tag bricht an, doch was in seinem Licht sichtbar wird, ist nur ein Wirrwarr. Wie in einem Orkan wirbeln die Ur­ gewalten umeinander, nur Chaos ist da und Wirrwarr; und Gott sagt: Da muß ein Raum sein mitten in diesem Chaos, der nicht zerstört werden kann; und Gott machte ein großes Gewölbe wie ein festes Dach, und das schirmte den Wirrwarr ab und all die Gewalten und töd­ lichen Strahlen. Sie blieben draußen, darüber mochten sie toben und tief unten in der Erde auch, aber dazwischen war auf einmal ein freier Raum, in dem sie sich nicht mehr austoben konnten. Das Gewölbe

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oben war schön anzusehen in dem Licht des neuen Tages. Und Gott sah, daß es gut war, und er nannte das Gewölbe Himmel, und es wurde Abend, und es wurde wieder Morgen, und es begann ein neuer Tag: der dritte Tag. Und Gott sah: unter dem Himmelsgewölbe war nur Wasser, überall wildes Meer, und er sagte: Das Wasser soll sich sammeln, es hat seinen Ort, ich setze ihm Grenzen, und dazwischen soll die Erde sichtbar werden, trockenes Land. Und so geschah es : Das Wasser lief zusammen, große Meere entstanden, und wo vorher Wasser gewesen war, wurde jetzt Land sichtbar, trockenes Land, Täler, durch die das Wasser ablief; und Berge hoben sich heraus. Und Gott gab dem allen einen Namen; er nannte es : die Erde; und die große Ansammlung der Wasser nannte er: das Meer. Und Gott sah, daß es gut war, und er sprach: Die Erde soll Gras her­ vorbringen und grüne Kräuter mit Samen und Sträucher und Bäume, die Früchte tragen; und so geschah es. Und Gott sah, daß es alles gut so war, und es wurde Abend, und es wurde Morgen: der dritte Tag war vor­ über, der vierte Tag brach an. Hier brauchen wir wieder Zeit, diesmal um Erinnerungen nachzu­ gehen : Da gab es doch Sätze, über die wir gesprochen, die wir aufge­ zeichnet, gedruckt und gesammelt haben, die waren, als ob sie aus dieser Geschichte kommen ? Licht ist dein Kleid, das du anhast. Du breitest den Himmel aus wie ein Dach über uns. Da ist das Meer - so groß und weit. Du läßt Wasser quellen in den Tälern. Und Gott sprach: Es soll nicht mehr Wirrwarr sein oben am Himmel; die Sterne sollen sich zusammenfügen und ihre festen Bahnen haben, und ein großes Licht soll dasein für die Erde, die Sonne, und sie soll ma­ chen, daß Licht und Finsternis sich abwechseln, daß es Tag wird und wieder Nacht, Sommer und wieder Winter; und ein kleines Licht, der Mond, soll leuchten in der Nacht und soll ein Zeichen sein, daß es Mo­ nate gibt und Wochen. Und so geschah es, und Gott sah, daß es gut war; und die Sonne ging unter, der vierte Tag war vorüber, und es wurde Abend und Nacht, und der Mond leuchtete und die Sterne, und es wurde Morgen, die Sonne ging auf: der fünfte Tag. Ihr wißt, daß die Erde auch ein Stern ist unter vielen anderen, ein ziemlich kleiner. Aber unter all den Sternen, die wir sehen, ist keiner, auf dem es etwas Lebendiges gibt. - Da sagte Gott: Jetzt soll das Wasser wimmeln von lauter lebendigen Tieren, kleinen und großen, und die Luft soll schwirren von Vögeln unter dem Himmel. Und so schuf Gott -

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die Algen und Muscheln und die ganz kleinen Fische und auch die großen, die Walfische, und riesige Ungeheuer, mit denen wollte er wohl spielen; und er schuf die gefiederten Vögel, ganz viel verschiedene, immer noch andere, bunt in allen Farben und wunderschön anzusehen : es machte ihm Freude, und er sagte : Ihr sollt euch vermehren in der Luft und im Wasser. Und die Sonne ging unter, es wurde Abend, und es wurde Morgen, die Sonne ging auf: der sechste Tag. Da sagte Gott: Jetzt soll es auch Tiere geben auf der Erde, große und kleine, wilde und zahme, und Käfer und Würmer; auch Tiere, die aus dem Wasser aufs Land kommen - ihr kennt sie, Schildkröten und Dino­ saurier; und sie kamen alle und füllten die Erde. Doch Gott sagte : Eines fehlt noch - jetzt soll es Menschen geben, sie sollen sein wie ein Spiegel­ bild von mir, die sich auch so freuen an allem. Und so schuf er den Men­ schen, Mann und Frau, als sein Ebenbild, ja: als Ebenbild Gottes schuf er den Menschen, Mann und Frau. Sie sahen sich an und staunten, wie schön sie waren. Und er sagte : Ihr werdet Kinder haben; euch und ihnen gebe ich das alles in die Hand: Freut euch daran, behütet es sorgsam und bewahrt es für eure Kinder! Und Gott sah alles an, was er geschaffen hatte, und es war alles sehr gut: das Licht und der Himmel, die Erde, das Meer und die Berge, die Tiere und die Menschen. Und es wurde Abend, und es wurde Morgen: Der siebente Tag brach an, ein Feiertag. Die Menschen sahen alles an, was Gott geschaffen hatte, und sie staunten und freuten sich daran, und sie sahen auch sich selbst an: Ich freue mich, daß ich wunderbar gemacht bin; und Gott freute sich auch. Dies soll ein Ruhetag für euch sein, sagte Gott, ein Tag zum Feiern, an dem ihr Zeit habt, euch an allem zu freuen: ein richtig schöner Tag. So hat alles angefangen.

4. PROPHETISCHER EINSPRUCH : DIE SpRACHE DER GERECHTIGKEIT Wir haben die einfachen Worte der Psalmen und die biblischen Erzäh­ lungen nach der ihnen eigenen Didaktik befragt. Wir haben es in der Bibel aber auch mit noch ganz anderen Formen des Redens zu tun: mit prophetischer Rede, mit den Argumenten Jesu, mit der geschliffenen Rhetorik in den Briefen des Paulus. Was für eine Didaktik begegnet uns hier ? Können wir sagen: Dies ist die Sprache der Reflexion ? Reflexion be­ deutet "Widerspiegelung" ; wir verbinden mit dem Begriff die Ruhe und Distanz des Nachdenkens; aus solcher Distanz aber reden weder die prophetischen noch die paulinischen Texte, noch die Streitgespräche Jesu. Sie alle sind Texte voller Leidenschaft. Leidenschaft entzündet sich am Widerstand. Wer seiner Überlegenheit sicher ist, kann cool reden, aber das ist ist nicht die Situation der Propheten. Wer cool redet, will damit zeigen, daß er nicht verletzlich ist; Leidenschaft aber macht ver­ letzlich. So leidenschaftlich reden auch die Psalmen, auch sie gegen Widerstände. Am Anfang der Zehn Gebote stellt sich der Gott der Bibel als ein "leidenschaftlicher Gott" vor (2. Mose 20, 5 ; 5. Mose 6, 15; die Über­ setzungen "eifrig" oder "eifersüchtig" oder gar "eifernd" verfehlen den Sinn des hebräischen Adjektivs) : er ist ein in seiner Liebe verletzlicher Gott. Das ist sein Profil; und dem entspricht, wie er redet. Die fol­ genden apodiktisch formulierten Gebote atmen ein unerhörtes Pathos; wir können daran begreifen, gegen welche Widerstände, gegen welche Macht der Verführung und Gewöhnung sie zu kämpfen haben. Das aber unterscheidet die genannten Texte von den zuvor bespro­ chenen: Sie alle sind nicht nur Worte des Widerspruchs, sondern eines ausdrücklich öffentlich eingelegten Widerspruchs. Wir werden sie nur dann wirklich begreifen, wenn wir auch den Widerstand erkennen, gegen den sie sich wenden. Den emotionalen Kontext wahrzunehmen, ist deshalb nicht nur didaktisch, sondern auch für eine genaue Exegese unbedingt notwendig. Die herkömmliche historisch-kritische Exegese aber, dem Ideal wissenschaftlicher Exaktheit verpflichtet, hat dafür weder Instrumentarium noch Interesse - als ob nicht in eine exakte In-

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Prophetischer Einspruch

terpretation gerade auch das Emotionale solcher Texte mit eingehen müßte! Denn das Maß ihrer Leidenschaft erst kennzeichnet die Art und Stärke des Widerstandes: Mit ihrem öffentlichen Widerspruch nehmen sie den Kampf auf gegen gesellschaftlich eingeschliffene Verhaltens­ weisen, und nichts ist schwerer zu verändern als solche selbstverständ­ lich gewordenen Handlungsmuster. Für die meisten der Propheten endet dieser öffentliche Einspruch tödlich. Die Richtung, in der sie die Veränderung einfordern, heißt: Gerech­ tigkeit. Mehr Gerechtigkeit ist nicht zu haben ohne einen solchen öffentlichen Widerspruch; er gehört notwendig zur Didaktik der Ge­ rechtigkeit. Daraus entwickelt sich ein dramatischer Dialog. Die Ge­ rechtigkeit ist auf diese Dramaturgie angewiesen; sie ist offenbar die ihr gemäße Didaktik. So erscheint hier Dramaturgie als eine besonders nachdrückliche Di­ daktik. Doch offenbar sind vice versa für alle Didaktik auch dramaturgi­ sche Elemente konstitutiv; so kann Didaktik überhaupt als "Drama­ turgie des Unterrichts" (Gottfried Hausmann 1958) dargestellt werden. Die besondere Nähe der prophetischen Sprache zur genuin dramati­ schen aber liegt in der Leidenschaft ihres Widerspruchs, der auf Verän­ derung drängt. So jedenfalls hatte Emil Staiger das Wesen dramatischer Sprache charakterisiert: als leidenschaftlichen Widerspruch " wider das Bestehende" (Grundbegriffe, 5. 151 ), mit dem eine öffentliche Gerichts­ verhandlung inszeniert wird, die schließlich vor die höchstmögliche In­ stanz gezogen wird (ebd., S. 147 ff. u. 176 ff.). Literatur: lngo Baldermann, Der leidenschaftliche Gott und die Leiden­ schaftslosigkeit der Exegese, in: Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 2/1987, S. 137-150. - Gotdried Hausmann, Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts, Heidelberg 1958. - Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Zürich 41959.

4.1

Der Gott der Gerechtigkeit

4.1.1 Die Grundform prophetischer Rede Wie kommen wir im Unterricht an die Propheten heran ? Üblich ist der Umweg über die vorderorientalische Zeitgeschichte im letzten vor­ christlichen Jahrtausend: Da war der König Jerobeam 1 1 . , Herrscher über das Nordreich; wachsender Wohlstand herrschte, und zur inneren Stabilisierung ließ er goldene Stierbilder aufstellen. Da trat Amos auf, im Heiligtum von Bethel : Gott hatte mit ihm geredet . . . Das läßt sich packend erzählen, aber damit haben wir Amos in eine

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Ferne verbannt, aus der er uns nicht mehr erreichen kann. Daß er sich darauf beruft, Gott habe mit ihm geredet, macht ihn noch unverständli­ cher; wir kennen das; es ist der Sprachgestus aggressiver Sektierer. Dabei ist doch, was er sagt, heute so unmittelbar verständlich wie damals : So spricht der Herr: Weil sie den Unschuldigen um Geld verkaufen und den Armen um ein Paar Schuhe sie treten den Kopf des Geringen in den Staub und drängen den Elenden vom Wege ab siehe, so lasse denn ich den Boden unter euch schwanken! (Amos 2, 6 f.13) Claus Westermann hat in solchen Sätzen die "Grundformen prophe­ tischer Rede" erkannt (a. a. O.): Anklage und Ankündigung des ge­ rechten Gerichts, verbunden durch die "Botenformel" : So spricht der Herr - , durch die sich der Prophet legitimiert. Lange Zeit hat die Pro­ phetenexegese solche Worte als "Scheltworte" und "Drohworte" be­ zeichnet und damit unterderhand Gott in das Bild eines moralisieren­ den Pädagogen verwandelt. Doch die Propheten schelten und drohen nicht; was sie sagen, ist von tödlichem Ernst. Es gibt viele Möglichkeiten, an den Worten der Propheten vorbeizu­ hören. Wir lesen solche Sätze als eine Beschreibung von brutalen Prak­ tiken der Herrschenden in einer längst vergangenen Gesellschaft. Doch die Worte der Propheten beschreiben nicht, was offen vor aller Augen läge, sondern sie decken auf, was die anderen so noch nicht wahrge­ nommen haben oder nicht sehen wollten. Sie zeigen öffentlich an, wofür die einen keine Augen und die anderen noch keine Sprache hatten. Was hier als Verbrechen erscheint, taten die Täter mit dem besten Gewissen; es war nichts anderes als das allgemein Übliche. Es kostet eine ungeheure Anstrengung, in einer Gesellschaft Gehör dafür zu finden, daß die täglich praktizierten Spielregeln des Zusam­ menlebens zu Strukturen organisierten Verbrechens geworden sind. Mit der harmlosen Pädagogik des Scheltens und Drohens ist da nichts mehr auszurichten; die Propheten brauchen eine andere Didaktik. Sie müssen den Schleier der geläufigen Sprachregelungen zerreißen: sie müssen beim Namen nennen, was eigentlich geschieht. Was sie da sagen, erfahren die Angeredeten als eine unerhörte Aggres­ sion; die Reaktionen sind dramatisch, oft lebensgefährlich für die Pro­ pheten. Die unheimlichste Reaktion aber ist die, die Jesaja so be­ schreibt: Mit ihren Augen sehen sie nicht, und mit ihren Ohren hören sie nicht! Ges 6, 10). Darin liegt das didaktische Fundamentalproblem ihrer öffentlichen Rede. Und so setzen die Propheten alles daran, eine

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Didaktik zu finden, die die verschlossenen Gesaja sagt 6, 10: die " verfet­ teten") Herzen doch noch zu öffnen vermag. Die Ankündigung des Gerichts gehört dazu. Wir kennen die Wir­ kung düsterer Szenarien in der politischen Diskussion. Die Propheten zeichnen drastische Bilder der Zerstörung, die kommen wird. Sie können nicht einfach widerlegt werden, dazu haben sie zuviel Wahr­ scheinlichkeit; sie haken sich in den Gedanken fest und zerstören die selbstverständliche Sicherheit. Sie fordern Umkehr, einen Wandel von Grund auf; doch das ist zuviel verlangt; und so entsteht das merk­ würdige Spiel, in dem die Anstrengung der Phantasie, statt nach Wegen der Umkehr zu suchen, alles daransetzt, diese beunruhigenden Bilder wieder zum Schweigen zu bringen. Die Frage, ob die Propheten noch mit der Möglichkeit der Umkehr rechnen oder ein unabwendbares Verhängnis ankündigen, läßt sich nicht eindeutig beantworten. Auch für uns steht in der politischen Rea­ lität die Hoffnung auf Umkehr hart neben der Einsicht, daß gesell­ schaftliche Entwicklungen eine solche Eigendynamik gewinnen können, daß nichts mehr aufzuhalten ist, auch nicht, wenn die katastro­ phalen Folgen offen vor aller Augen liegen. Aber was soll dann noch das prophetische Wort ? Sie reden, weil sie es müssen. Die Verschleierung der unmenschlich gewordenen gesellschaftlichen Wirklichkeit er­ zwingt den Widerspruch: Der Löwe brüllt - wer fürchtet sich nicht ? Der Herr redet - wer schreit es nicht heraus ? (Amos 3 , 8). Ebenso direkt wie den Zusammenhang zwischen Schuld und Kata­ strophe sehen die Propheten den Zusammenhang zwischen Gottes Wort und den Worten, die sie zu sagen haben. Er hat ihnen Augen und Ohren geöffnet, und sie zerreißen den Schleier und sagen weiter, was sie wahrgenommen haben: So spricht der Herr. Aber jetzt, da der Schleier zerrissen ist, ist das, was sie sagen, für alle einsichtig, die nicht gewalt­ sam Augen und Ohren verschließen. Sie reden nicht aus unkontrollierbarer Eingebung, sondern wollen den anderen Augen und Ohren öffnen, so wie sie ihnen geöffnet worden sind. Was geschieht, soll nicht wortlos kommen, nicht als dumpfes Geschick, sondern begreifbar. Gott hat den Zusammenhang gesetzt zwischen der erkennbaren Schuld und der heraufziehenden Ka­ tastrophe, er verbürgt sich ihnen für die Wahrheit dessen, was sie sagen. Was daraus bei den Hörern wird, darüber verfügen sie nicht. Sie setzen aber alles daran, Sperren des Verstehens zu durchbrechen, verbal oder mit drastischen Maskeraden, mit "Happenings", wie sie auch heute wieder eingesetzt werden, um unerträglich gewordene Verschleie­ rungen aufzureißen.

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Unser einfaches didaktisches Fazit heißt: Die Worte der Propheten werden völlig verkehrt, wenn wir sie benutzen, uns über eine korrupte Gesellschaft im 8. oder 7. vorchristlichenJahrhundert zu entrosten. Ver­ stehen können wir sie nur, wo sie uns in gleicher Weise die Augen öffnen. Wir müssen so an die Worte der Propheten herankommen, daß sie direkt verstanden werden können, nur so folgen wir ihrer eigenen Didaktik. Ohnehin können wir uns nicht anmaßen, aus unserer dürf­ tigen Kenntnis der damaligen Situation und Umwelt ihre Worte zu "er­ klären" ; die prophetischen Worte erhellen den gesellschaftlichen Kon­ text, nicht umgekehrt. Das leisten sie in der damaligen Gesellschaft wie in der heutigen. Doch können Kinder das verstehen ? Wieder beginnen wir, ohne vorausgeschickte Erläuterungen, ohne zeitgeschichtliche Einordnung, auch ohne den Hinweis, daß es sich um Worte der Bibel oder der Propheten handelt, einfach mit solchen ele­ mentaren Sätzen : Sie treten nach dem Kopf der Kleinen und drängen die Schwachen vom Wege. (Am 2, 7) Das Wort des Amos spricht für heutige Kinder ganz unmittelbar von ihrer eigenen Erfahrung; so erleben sie die Brutalität der Großen gegen die Kleinen, und möglicherweise entdecken sie schnell, daß sich so etwas nicht nur in der Welt der Kinder abspielt. Wir erweitern den Text in dieser Richtung, indem wir den bei Amos vorausgehenden Satz dazusetzen: Sie verkaufen den Unschuldigen für Geld und den Armen für ein paar Schuhe. (Am 2, 6) Ein Mensch wiegt weniger als Geld, ein Armer weniger als ein paar Schuhe: Hier ist schon höhere Sensibilität erfordert, um etwas davon in unserer sozialen Welt oder in den Nachrichten aus anderen Regionen der Erde wiederzuentdecken; aber das Groteske dieses Wortes ist ein starker Impuls, Analogien zu suchen. Der Sinn des Wortes ist klar: Un­ recht wird beim Namen genannt, und das schon ist befreiend, aber eigentlich ist erfordert, das Unrecht abzustellen und zu ahnden. Wie selbstverständlich ergibt sich in dieser Grundform prophetischer Rede das Gerichtswort aus der Anklage: Siehe, ich lasse den Boden unter euch schwanken, und dem Starken hilft seine Kraft nicht mehr. (Am 2, 13 f.) Das "Ich" bringt unversehens die Gottesfrage ins Gespräch; er ist es, der die Großen wegen ihrer Brutalität zur Rechenschaft zieht. Es ist nicht nur einleuchtend, daß Gott das nicht will; es ist ebenso unmit­ telbar einleuchtend, daß eine Instanz da sein muß, die das Unrecht und die Gewalt sieht und beim Namen nennt. Der Verstehensvorgang ist

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ähnlich elementar wie bei den Vertrauensworten: Das Unrecht, das den Schwachen geschieht, als Unrecht zu begreifen und beim Namen zu nennen, heißt von Gott und in seinem Namen zu reden. Auf einmal ist auch nicht mehr die Frage, wie es denn geschehen kann, daß Menschen Gottes Stimme hören; sie sehen, was geschieht, und sprechen es öffent­ lich aus, und damit sagen sie, daß dies nicht Gottes Wille ist. Ganz ähnliche Sätze finden sich bei den anderen Propheten, etwa bei Micha: Wer friedfertig daherkommt, dem reißt ihr den Mantel weg. Die Frauen vertreibt ihr aus ihren geliebten Häusern, und ihren Kindern zerstört ihr all ihre Herrlichkeit! Auf und fort mit euch ! Hier sollt ihr nicht mehr wohnen! (Micha 2, 8-10) Was mit der Zerstörung der Herrlichkeit der Kinder gemeint ist, ist auch im hebräischen Text vieldeutig; aber gerade darin liegt ein Ge­ sprächsimpuls, der Kindern ermöglicht, vielfältige Erfahrungen mit der Bedrohung ihrer Welt zur Sprache zu bringen. Natürlich werden wir zuerst an Flüchtlingskinder denken oder an Kinder, denen auf andere Weise das Zuhause genommen wurde; aber die Zerstörungen, die Kinder heute unter uns erfahren, reichen noch weiter. Führt hier der Weg von der Anklage zur Ankündigung des Gerichts, so wird diese klassische Abfolge der Schritte bei Jeremia zuweilen um­ gekehrt, er beginnt mit Bildern der Zerstörung, die sich an einer Stelle lesen wie eine ins Gegenteil verkehrte Schöpfungsgeschichte: Ich schaute auf die Erde und siehe, sie war wüst und leer, und auf den Himmel da war kein Licht! Ich schaute auf die Berge und siehe, sie bebten und alle Hügel schwankten. Ich schaute hin, und siehe da waren keine Menschen mehr, und die Vögel des Himmels sie alle entflohen. Ich schaute auf das fruchtbare Land und siehe, es war Wüste und alle seine Städte zerstört. Ger 4, 23-26)

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Das ist ein Bild der vollendeten ökologischen Zerstörung, und daß sie die Folge menschlichen Tuns ist, eine Vollendung der Zerstörung, mit der die Menschen schon begonnen haben, ist auch für Kinder evident. Solche Texte provozieren Widerspruch. Er hat sich im Amosbuch in einer kleinen Szene niedergeschlagen (Am 7, 10 - 17), im Buch Jeremia in einer ausführlicheren Erzählung (beginnend mit Kap. 36). Diese Aus­ einandersetzungen wollen im Unterricht aufgenommen, weitergeführt und ausagiert werden. Dabei hängt viel daran, daß die Frage, was für Menschen das denn sind, die öffentlich so reden, daß sie sich dabei auf Gott berufen können, für Schülerinnen und Schüler einleuchtender be­ antwortet wird als mit dem Hinweis auf einen mysteriösen, für uns nicht mehr nachvollziehbaren "Wortempfang" (vgl. Kap. 4.1.2). Folker Albrecht hat in einem Schulbuch für das 5./6. Schuljahr (Hoff­ nung lernen, Stuttgart 1995) auf diese Weise in die Botschaft der Pro­ pheten eingeführt; Rainer Oberthür und Alois Mayer haben ein ent­ sprechendes Konzept zu einer Einführung in prophetische Rede im 4. Schuljahr entwickelt (noch unveröffentlichte Materialien des Kate­ chetischen Instituts Aachen), das in einer überaus anregenden Weise die Reihenfolge dieser Schritte umkehrt: Am Anfang steht die Aufforde­ rung an die Kinder, eine "Rede an die Menschheit" zu entwerfen, die in alle Welt übertragen wird. Die Hellsichtigkeit der Kinder für zerstöreri­ sche Ungerechtigkeiten, die ihre Welt bedrohen, findet dabei in erstaun­ licher Weise Sprache. In einer ersten Reflexion, wie sich die Kinder dabei gefühlt haben, kommen tatsächlich schon in einer Reihe von Ge­ sprächsbeiträgen Facetten prophetischer Selbsterfahrung zu Worte. Da­ nach erst werden ihnen Wortkarten mit einzelnen Prophetenworten vorgelegt, Worte der Anklage und Worte des Trostes, die sich - wieder eine überraschende Entdeckung - gut ihren Reden zuordnen lassen. Unser Ausgangspunkt ist: Das Prophetenwort beschreibt nicht, es deckt auf. Das Wort redet nicht von den Machenschaften einiger Ge­ walttäter, sondern es zeigt die Gewalttätigkeit einer ganzen Gesell­ schaft, wahrgenommen aus der Perspektive Gottes. Im Kern der klassischen Prophetie steht die Anklage: Die Reichen werden immer reicher, und die Armen gehen daran zugrunde. Auch wo Götzendienst angeprangert wird, geht es um die sozialen Verhaltens­ weisen, die sich im Bannkreis dieser Götzen durchsetzen : Wo Men­ schen sich von den Götzen faszinieren lassen, da werden ihnen auch Menschen zum Opfer gebracht. Es wird immer deutlicher, wie das auch in den modernen Industriegesellschaften geschieht (Baldermann, Ein­ führung, S. 73 ff.). Wie nehmen wir heute diese prophetische Provokation sachgemäß

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wieder auf? Nicht mit der wohlfeilen Verurteilung der damaligen Hörer, sondern indem wir uns auf diesen Diskurs einlassen. Ist seine Analyse treffend oder ungerecht - daß Arme verkauft werden für den Gegenwert von ein Paar Schuhen ? Das vollzieht sich heute auch unter uns, sagen die einen. Das ist ungerecht geurteilt, sagen andere, das darf man so nicht sehen - wer hat recht in diesem Streit? Daran können wir die didaktische Struktur solcher Worte begreifen: Sie decken auf, und damit fällen sie bereits ein Urteil; aber ihr Urteil ist umstritten, und nur indem wir uns diesem Streit aussetzen, kommen wir auf den Weg des Verstehens. Literatur: Folker Albrecht/lngo Baldermann, TRE Art. Propheten, prak­ tisch-theologisch. - Ingo Baldermann, Einführung in die Bibel, Göttingen 41993. - Claus Westermann, Grundformen prophetischer Rede, München 51978.

4.1.2 Die Evidenz prophetischer Gotteserfahrung Der Prophet leitet seine Anklage mit der provozierenden Behaup­ tung ein: So spricht der Herr! In dem Streit um Recht oder Unrecht der Anklage geht es um das Recht der Propheten, Gott dafür in Anspruch zu nehmen. So ist die Gottesfrage in den prophetischen Texten die Frage nach dem Recht oder Unrecht dessen, was sie sagen. Sie wird häufig in einer verhängnisvollen Weise verschoben. Statt nach dem Recht oder Unrecht der prophetischen Kritik wird gefragt, ob und wie es denn überhaupt vorstellbar ist, daß Gott mit einem Menschen so deutlich redet. Für das Verstehen der prophetischen Worte kommt alles darauf an, daß ich an dieser Stelle nicht eine Antwort gebe, mit der die Propheten in eine uns unzugängliche Ferne gerückt werden. Das geschieht etwa durch die geläufige Antwort, daß Gott ihnen sein Wort in einer einzig­ artig direkten Weise eingegeben hat. Wie sollen wir uns denn diesen Wortempfang vorstellen? Wie redet Gott, mit was für einer Stimme? Wie hört der Prophet, mit welchem Organ ? Bei dem Versuch, diesen Vorgang religionsgeschichtlich oder psycho­ logisch zu erklären, geraten wir in den Bereich des Halluzinatorischen, etwa in Franz Werfels sonst sehr einfühlsam erzählendem Roman >Jere­ mias - Höret die Stimme< (Frankfurt 1966). Dort wird uns der Vorgang prophetischen Hörens so zugemutet: »Und die Stimme kommt genau in dem Augenblick, da er ihren Ein­ tritt erwartet. Eine klare und sanfte Mannesstimme. Dunkelrund füllt sie die Kammer aus. Jeder Mauerritz, jede Holzscharte ist gleichzeitig

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und gleichmäßig voll von ihr. Doch wunderbarerweise hat die Stimme keine Stelle, von der ihre Schwingungen ausgesendet werden. Sie ent­ steht und verbreitet sich allenthalben auf einmal. Der ganze Raum bringt sie hervor. . . . " (a. a. 0., 5. 39). Durch eine solche Antwort wird der Prophet von allen anderen abge­ hoben, mit einer nur ihm zugänglichen Erfahrung ausgestattet, einer nur ihm allein widerfahrenden Gottesbegegnung gewürdigt. Auf diese Weise brechen wir nicht nur alle Brücken des Verstehens ab, sondern wir statten das prophetische Wort mit einem unkontrollierbar autori­ tären Anspruch aus. Es erlaubt keine Kritik, weil auch sein Ursprung jeder kritischen Überprüfung entzogen ist. Was es fordert, ist blinder Gehorsam, besinnungslose Nachfolge. Aber so reden die Propheten nicht. Sie appellieren doch mit allen Mit­ teln an das Verstehen derer, die sie hören, nicht nur mit Argumenten, sondern auch mit grimmiger Satire und augenfälliger Demonstration. Sie bauen darauf, daß ihre Botschaft verständlich, ihre Herkunft über­ prüfbar ist, zu messen an den überlieferten Einsichten in den Willen Gottes, daß ihre Erfahrungen mit denen ihrer Hörer vergleichbar sind. Sie unterscheiden sich von ihnen nur durch die Konsequenz, mit der sie sich von der einmal begriffenen Forderung in die Pflicht genommen wissen, und die Unbeirrbarkeit, mit der sie dafür einstehen. Deshalb darf es nicht sein, daß uns unterderhand die Propheten zu re­ ligiös exotischen Figuren werden. Das ist die einfachste Weise, sich von ihrer Botschaft zu distanzieren. Es gibt unterschiedliche Formen, in denen Gott redet, und unterschiedliche Grade der Intensität, in der er gehört wird. Aber daß er redet und gehört wird, ist eine Erfahrung, die uns nicht von den Propheten trennt, sondern mit ihnen verbindet. Die entscheidende kritische Frage der damaligen wie der heutigen Hörer ist nicht, ob Gott redet, sondern was Gott redet. "So spricht der Herr", ist die immer wieder in Anspruch genommene "Botenformel ", mit der die Propheten ihre Botschaft einleiten; und das bedeutet: So und nicht anders urteilt er. Die Hörer freilich lassen sich viel lieber auf die Träume der anderen Propheten ein, auf die Verheißungen von Leuten wie Hananja: daß alle Bedrängnis bald ein Ende hat, wenn sie nur konsequent so weiterma­ chen wie bisher Ger 28). Wenn Jeremia, dem es in der Begegnung mit Hananja zunächst die Sprache verschlägt, dann am Ende sein "So spricht der Herr ! " dagegensetzt Ger 28, 16), dann heißt das : So, ganz an­ ders, als du gesagt hast, redet Gott jetzt. Ob er überhaupt reden kann, ist hier nicht die Frage; nur die fragen so, die sich aus diesem Streit auf Leben und Tod gern heraushalten möchten.

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Was die Propheten sagen, kommt bei ihnen nicht aus der Eingebung des Augenblickes. Es wäre nicht der Gott der Bibel, der hier redete, wäre er nicht erkennbar identisch mit dem, was zuvor an Erfahrungen mit ihm gesammelt und bewahrt und überliefert wurde. In der Reli­ gionsgeschichte mögen Ekstatiker sich durch die Ekstase selbst legiti­ miert haben; im biblischen Zusammenhang legitimiert sich der Pro­ phet, so auch Jeremia in seiner Auseinandersetzung mit Hananja, durch seine Übereinstimmung mit dem überlieferten Willen Gottes. Er aktualisiert die alten Verheißungen und die Worte des Bundes, die alle kennen. Und so können alle, die ihn hören, selbst begreifen und nachvollziehen, wozu Gott ja und nein sagt. Die ganze Leidenschaft prophetischer Rede zielt darauf, Augen und Ohren zu öffnen. Daß Menschen ihre Augen und Ohren gewaltsam verschließen vor dieser Botschaft und mit Verstockung und aggressiver Abwehr reagieren, ist eben deshalb so unheimlich, weil alle Verständigen das Recht der pro­ phetischen Rede wahrnehmen könnten, ja müßten. Im Umgang mit Kindern wird dies vollends evident. Die Siegener wie die Aachener Materialien zeigen, wie unmittelbar die prophetischen Worte der Anklage für Kinder verständlich sind und welche Identifika­ tionsmöglichkeiten gerade das prophetische Engagement für Gerech­ tigkeit ihnen bietet. Auch die Unbedingtheit, mit der die Propheten ihre Sache vetreten, ist für ganz normale Kinder ganz unmittelbar einleuch­ tend; und auch das ist ein Weg, auf dem sie begreifen können, was es meint, von Gott zu reden. Erst wo die Propheten um stilisiert werden zu Empfängern unkontrollierbar geheimnisvoller esoterischer Offenba­ rung, entsteht jene religiöse Übertemperatur, in der alle Spontaneität erlahmt und dem Gespräch der Atem ausgeht.

4.1.3 Die Vertrauensworte: Grunderfahrung der Gerechtigkeit Wir müssen didaktisch genauer nachfragen, wodurch denn die Worte der Propheten so einleuchtend werden können, schon für Kinder. Ihre heftige Option für das Recht der Schwachen steht ja im krassen Wider­ spruch zu dem in weiten Bereichen unserer Gesellschaft, auch schon unter Kindern, selbstverständlich geltenden Recht des Stärkeren. Es gilt unbefragt in allen wirtschaftlichen Konkurrenzkämpfen, es ist das Gesetz des Marktes. Der Stärkere wird immer stärker, der Schwache immer schwächer; innenpolitisch lassen sich die schlimmsten Schäden durch Sozialgesetze auffangen, weltwirtschaftlich aber nicht mehr, und wie schwer es ist, im Umgang von Kindern und Jugendlichen unterein-

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ander die Rechte der Stärkeren zu beschneiden, wissen alle, die in ihrem Beruf oder als Eltern damit zu tun bekommen. Doch gerade auf dem Hintergrund solcher Erfahrungen sind die Pro­ phetenworte einleuchtend, merkwürdigerweise auch oft gerade für die "Starken" in der Klasse, und einleuchtend ist ebenso, daß die Propheten sich dabei auf Gott berufen. In diesem Zusammenhang hat die Berufung auf Gottes Willen noch immer eine erstaunliche Evidenz. Das ist merk­ würdig, weil auch die Erfahrung und der Begriff des Gewissens proble­ matisch geworden sind. Zu den tiefen Verletzungen meiner Generation gehört die Erkenntnis, daß selbst das Gewissen manipulierbar ist. Das Gewissen redet, aber es läßt sich auch bereden, wenn die anderen Stimmen emotional stark genug sind. Deshalb kann es verhängnisvoll sein, Gott so direkt mit der Stimme des Gewissens zu identifizieren. Nach unseren Erfahrungen liegt die Basis für das Verstehen der Pro­ phetenworte in dem vorausgegangenen Umgang mit den Psalmen. In der Klage der Psalmen kommen die Geängsteten zu Wort; die Schwa­ chen vergewissern sich, daß ihr Schreien gehört wird, und die Vertrau­ ensworte bauen darauf, daß Gott der Anwalt und die Zuflucht, der Fels und der Trost der Schwachen ist. Aus der vor Gott ausgesprochenen Er­ fahrung der eigenen Schwäche und Verlorenheit muß aber, wenn sie nicht verdrängt oder überkompensiert wird, so etwas wie eine selbstver­ ständliche Solidarität der Schwachen erwachsen. Sie finden in den Psalmen eine gemeinsame Sprache gegen die Gewalttäter. Meine eigene Erfahrung der Angst macht mich zum natürlichen Verbündeten aller Geängsteten - solange sie nicht verdrängt wird. Und darin liegt das Pro­ blem: Gerade die Erfahrungen eigener Schwäche werden ja nur gar zu gern verdrängt. Gegenüber solchen psychischen Zwängen ist eine Ge­ genkultur der Erinnerung notwendig, und eben das leisten die Worte der Psalmen. Die Tora tut das gleiche, wenn sie an die Zeit der Fremd­ lingschaft und Sklaverei in Ägypten erinnert, um Solidarität mit den jetzt hier als Fremde Lebenden anzumahnen. Die didaktische Aufgabe ist, diese Verbindung emotional so nachdrück­ lich herzustellen, daß sie der Verdrängung standhält. Denn es ist auch für Kinder nicht selbstverständlich, daß sie lernen, in die selbst erfahrene Zuwendung Gottes auch die anderen Schwächeren mit einzubeziehen, die Geängsteten, denen gegenüber sie jetzt in der Position der Stärke sind. Auch für die anderen gilt dies : Der Herr hört mein Weinen (Ps 6, 9). Was wird daraus, wenn ihr Weinen nun mich anklagt? - meine Feigheit, für sie einzutreten ? - oder etwa das Weinen hungernder Kinder den Le­ bensstil unserer Gesellschaft? - unsere gedankenlose Verschwendung? die erbarmungslose Verteidigung unseres Lebensstandards ?

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Diese Fragen haben einen aktuellen ökumenischen Aspekt. Chun Sun Kim-Lee, Religionspädagogin aus Seoul, die jahrelang in Siegen un­ sere Arbeit begleitet hat, hat uns immer wieder gefragt, wie wir denn dächten, mit dieser Gefahr umzugehen: daß die Worte des Vertrauens und der Geborgenheit von einem einfachen Egoismus vereinnahmt würden, der die Verheißung und Gegenwart Gottes für sich selbst in Anspruch nimmt, aber nicht daran denkt, die gleiche Angst und Verlas­ senheit, den gleichen Hunger nach Zuwendung und Geborgenheit, die gleiche Anklage gegen die Gewalttätigkeit der Stärkeren auch in den anderen wiederzuerkennen. Erschreckend ist tatsächlich die Diskrepanz zwischen den Gesprä­ chen, in denen Kinder uns so viel von der eigenen Verletzlichkeit und Einsamkeit sagen, und der Rücksichtslosigkeit, mit der sie im Konflikt­ fall mit der Angst und Verletzlichkeit der anderen umgehen können. Wie oft erleben wir, daß auch Kinder erfahrene Stärkung und Tröstung in Überlegenheitsgesten umsetzen, mit denen sie andere kränken und zu Unterlegenen machen. Diese Rücksichtslosigkeit ist ein Verhaltensmuster, das unter uns in einer verhängnisvollen Weise beherrschend geworden ist. An der Geschichte der abendländischen Christenheit ist abzulesen, wie die Gewißheit der Zuwendung Gottes umgesetzt werden kann in eine Selbstsicherheit, die sich berechtigt glaubt, die ganze Welt sich zu unterwerfen und gefügig zu machen. Es ist unbegreiflich, wieviel Menschenverachtung, aber auch wieviel Bereitschaft zu einem zerstö­ rerischen Umgang mit der Natur sich aus den biblischen Verheißungen entwickeln konnte. Im Grunde müssen wir uns nicht wundern, wir alle kennen diese Strukturen aus nächster Nähe. Das Evangelium befreit und tröstet mich, aber die so gewonnene Ich-Stärke verwandelt sich nicht automa­ tisch in Offenheit und Liebe und ein neues Verhältnis zu meinen Mitge­ schöpfen. Politisch hat die Predigt des Evangeliums bei uns immer wieder dazu dienen müssen, die herrschende Politik zu rechtfertigen. Der Kapitalismus hat seine Wurzeln in calvinistischer Theologie, die Ideologie der Apartheid hat uns gezeigt, wie aus biblischem Erwäh­ lungsglauben ungeschminkter Rassismus erwachsen kann. Die Kirchen der Ökumene erwarten von der abendländischen Christenheit, daß sie andere Konsequenzen aus dem Evangelium zieht als die Verteidigung einer Politik, die in Wahrheit nur der Verteidigung des Wohlstandes der Reichen gegen die elementaren Forderungen der Armen dient. Die Frage, ob bei uns das Evangelium nicht immer wieder verwandelt wird in ein Instrument der Selbstsicherheit, das uns die Augen und Ohren

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verschließt, statt sie zu öffnen, trifft unser Christentum in seinem Kern. Trifft sie auch unsere Arbeit mit Kindern an den Psalmen ? Diese Verhaltensweisen lassen sich nicht durch Imperative korri­ gieren. Die pädagogische Ohnmacht der Ermahnungen ist bestürzend evident. Ethische Erziehung, die auf Ermahnungen setzt, könnte eben­ so gut unterbleiben. Dabei ist bei den Ermahnten nicht nur böser Wille im Spiel. Bei Kindern ist die Schwerhörigkeit gegen Ermahnungen ein­ fach eine Überlebensstrategie. Wie sollten sie sonst leben können im Angesicht einer Welt, die sie überall mit offenen Wunden und frischen Zerstörungen konfrontiert, die nach Abhilfe schreien ? Doch können wir die Kinder unserer Wohlstandsgesellschaft nicht einfach auf die Seite der Reichen dieser Welt schlagen. Gemessen an dem bedrohten Zustand dieser Erde, gemessen auch an den sich verengenden Lebenschancen dieser Generation gehören sie erst einmal auf die Seite der Armen. Sie haben den Zustand dieser Welt und den Lebensstil un­ serer Generation noch nicht zu verantworten. Sie werden möglicher­ weise viel zu rasch und problemlos selbst diesen Lebensstil über­ nehmen; aber sie darauf schon jetzt prophylaktisch anzusprechen, wäre die unsinnigste aller Ermahnungen. Die Kinder, die wir jetzt vor uns haben, sind dadurch verstört, daß sie schon viel mehr von den heillosen Seiten dieser Welt erfahren haben, als sie bewältigen können. Alles Reden von geforderten und gebotenen Verhaltensweisen bleibt oberflächlich, solange nicht diese Ängste zur Sprache kommen; das wird von Kindern auch so empfunden. Dort erst, in den Tiefen, in denen die Angst sich eingenistet hat, fallen auch die Entscheidungen, die das Verhalten prägen. Ich sehe im Bereich der ethi­ schen Erziehung kein anderes Problem von ähnlichem Gewicht wie das des Umganges mit der Angst. Aus richtigen Einsichten allein erwächst noch kein verantwortliches Handeln; seine Wurzeln liegen im Emotio­ nalen, es braucht Sensibilität und Mut. Der Umgang mit der Angst, zu dem uns die Psalmenworte anleiten, nimmt der Angst ihre lähmende Wirkung. Die didaktische Aufgabe ist, diese nicht auf einen Schlag erfahrene, sondern Schritt für Schritt erwor­ bene Befreiung zu verbinden mit einer ebenso Schritt für Schritt wach­ senden Sensibilität für die Angst und Verletzlichkeit der anderen. Schritt für Schritt: Die Aufgabe ist größer, als daß sie sich in einem Anlauf bewältigen ließe. Im Umgang mit den Worten der Angst lernen die Kinder, eigene und fremde Erfahrungen mit Ängsten und Verlet­ zungen genauer wahrzunehmen. Dabei greifen zunächst das Nachemp­ finden anderer ("vielleicht hat da einer . . . ") und das Versprachlichen eigener Angsterfahrungen ganz eng ineinander. Wenn ich den Verlauf

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unseres Unterrichts weiter reflektiere und mich frage, wo sich denn die Erfahrung der Klage- und Vertrauensworte umkehrt und die Kinder lernen, die Welt bewußt mit den Augen anderer zu sehen, die möglicher­ weise durch sie geängstet sind und bedroht, dann führt die Spur weiter zu der Sensibilisierung, die wir in der Arbeit an den Lobpsalmen ver­ sucht haben, nicht nur für die Leiden der Schöpfung überhaupt, son­ dern auch dafür, was es heißt, ein menschliches Angesicht zu verletzen, das von Gott mit soviel Würde und Schönheit ausgestattet ist. Den wichtigsten Dienst in dieser Hinsicht aber leisten uns die Klage­ psalmen beim Umgang mit Erzählungen. Es klang schon an, daß Kinder Wundergeschichten, die Passionsgeschichte oder etwa auch die Ge­ schichte vom Elend der Sklaven in Ägypten anders wahrnehmen, wenn ihnen dort die Psalmenworte wieder begegnen, in denen sie sich selbst wiedergefunden hatten. Auf einmal finden sie ihre eigenen Erfahrungen in diesen Geschichten wieder; sie können sie nicht mehr nur von außen betrachten, auch nicht nur mit den Augen des Mitleids, sondern sind selbst in die Geschichten einbezogen, sie haben mit ihren Erfahrungen Anteil an ihnen. Tatsächlich wird der Umgang mit diesen Geschichten durch die Psal­ menworte für die Kinder völlig verändert, das ist im Unterricht mit Händen zu greifen. Es ist eine eigenartige Form des Rollenwechsels, den die Kinder mit Hilfe der Psalmenworte vollziehen: Sie benutzen die Worte der Psalmen, um den Leidenden Sprache zu verleihen, eine Sprache für ihre Angst und ihre Hoffnung; aber indem sie das mit diesen Worten tun, die so ganz zu ihren eigenen geworden sind und sich mit ihren Erfahrungen verbunden haben, geraten sie selbst in die Ge­ schichte mit hinein. Der Gelähmte in Kapernaum bleibt dieser Ge­ lähmte, und der blinde Bartimäus bleibt Bartimäus, aber die Kinder teilen ihre Erfahrungen, Bartimäus und der Gelähmte sind ein Teil von ihnen und sie selbst ein Teil dieser Geschichte geworden. Der Begriff der Identifikation ist zu einfach für diesen komplexen Vorgang; in diesen Geschichten begegnet den Kindern - darin liegt der Reiz des Er­ zählten - Fremdes und Neues, doch so, daß sie Eigenes darin wieder­ finden. Uns scheint, daß dies ein starker Impuls ist, die Sichtweisen und Erlebnisse der anderen in die eigene Perspektive mit aufzunehmen. Alle Ermahnungen und Appelle an das Mitleid erreichen nicht, was durch diesen Rollenwechsel in den tieferen Schichten der Wahrnehmung ver­ ändert wird. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu ähnlichen Erfah­ rungen im ökumenischen Erzählen : Wir erzählen, um den Kindern An­ teil zu geben an den Erfahrungen der ökumenischen Christenheit; das

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erreichen wir aber nicht durch Leidens- und Heroengeschichten, die sie mit den Augen des Mitleids und der Bewunderung aus dem Abstand be­ trachten. Wirklich Anteil geben werden wir ihnen nur, wenn es uns ge­ lingt, daß sie sich selbst und ihre eigenen Erfahrungen in diesen Ge­ schichten aus einer fremden Welt wiederfinden. Und wieder verhelfen uns dazu die Psalmenworte; sie sind auch in diesem Zusammenhang au­ thentisch, weil es zuletzt die Sprache gemeinsamer Gebete ist, die die Christenheit auf der Erde verbindet. Chun Sun Kim-Lee gab auf ihre Frage selbst die Antwort, daß Kinder wie in der Sprache der Hoffnung auch alphabetisiert werden müssen in der Sprache der Gerechtigkeit. Die Sprache der Gerechtigkeit finden wir im Mund der Propheten, aber auch in der Tora. In der Sprache der Propheten wird explizit, was wir bisher implizit versucht haben : das Aufbrechen einer selbstsüchtigen Inanspruchnahme der Verheißung, das Wahrnehmen der Verletzungen und Entwürdigungen, die den an­ deren widerfahren, und daraus, so hoffen wir, wächst die Fähigkeit, Ge­ rechtigkeit zu üben. Das Verstehen der Propheten und das Erlernen der Tora sind unumgänglich notwendige Schritte auf dem Weg biblischer Didaktik. Die Sprache der Hoffnung ist nicht ohne die Sprache der Gerechtigkeit zu lernen.

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4.2.1 Öffentlicher Widerspruch als Sprachform der Hoffnung Hoffnung muß sich als Widerspruch artikulieren; wo von Hoffnung die Rede ist, herrscht nicht mehr das Einverständnis mit dem Beste­ henden. Triebfeder der Hoffnung ist der sehnliche Wunsch nach Verän­ derung, und dieser Wunsch wächst aus dem Leiden. Wo Hoffnung sich ausdrücklich erklärt, wird die Duldung der stillschweigend oder aus­ drücklich festgestellten Unabänderlichkeit des Bestehenden aufgekün­ digt. Paulus argumentiert lakonisch: Was man vor Augen hat, muß man nicht hoffen (Rö 8, 24). Vor Augen haben wir den Tod, das Elend in der Welt, die Macht der Mächtigen. Es kostet viel, sich dagegen aufzu­ lehnen, so erdrückend ist diese Macht. Die Argumente aller vermeint­ lichen Realisten hat sie an sich gebunden. Was ist dagegen noch auszu­ richten ? Ist etwa an der Tatsache etwas zu ändern, daß wir alle sterben müssen ? Oder an der Macht der Mächtigen ? Oder auch nur an dem Hunger der Kinder in der Welt ?

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Vor festgefügten Mauern zu stehen, die die bestehenden Verhältnisse sichern und ihre Hoffnungslosigkeit rechtfertigen, das ist die Ausgangs­ position der Hoffnung. Die Mauern versperren den Ausblick; deshalb können wir nicht sehen, worauf wir hoffen. Der Glaube steht im Wider­ spruch gegen die augenfällige Macht des Bestehenden, und aus diesem Impuls wächst die Sprache der Hoffnung. Daß die Sprache des Glaubens in diesem Sinne Widerspruch ist, gilt schon für die einfachen Sätze. Manche geben sich auf den ersten Blick als Widerspruch zu erkennen, so etwa die Anklage, überhaupt die Klage und die Bitte in den Psalmen. Andere erschließen sich erst dem ge­ naueren Verstehen als Worte des Widerspruchs : Die Vertrauensworte der Psalmen haben ihren »Sitz im Leben" nicht in den Augenblicken der Geborgenheit, sondern in den Zeiten der Angst; und wenn die Sätze der Tora nicht überhaupt reformerische Utopien sind, so sind sie zumindest doch Einsprüche gegen das andrängende Unrecht, das die Grundfesten einzureißen droht. Beschrieben sie einfach nur Bestehendes, wären all diese Sätze entbehrlich. Nicht anders ist es bei den Erzählungen: Auch die Wunderge­ schichten erzählen nicht Allgemeingültiges, sondern Unerhörtes : Sie schlagen eine Bresche in die Mauern der Aussichtslosigkeit und öffnen den Blick für das Unerwartete, das überhaupt erst menschliches Leben ermöglicht. Als aus der Stadt Nain der Zug mit dem gestorbenen Jungen herauskommt, der das einzige Kind seiner Mutter war, und sie ist eine Witwe, hält Jesus den Sarg fest, und der Zug muß stehenbleiben; er redet den Jungen an und gibt ihn seiner Mutter wieder (Lk 7, 1 1-15). So widerspricht er selbst dem Tod, er läßt ihn nicht als den unwidersteh­ lichen Vollstrecker des Willens Gottes gelten, jedenfalls nicht diesen Tod des einzigen Kindes. - Die Passionsgeschichte erzählt anders : von einem unentrinnbar sich vollziehenden Verhängnis, doch jeder Satz dieser Erzählung ist ein Protest gegen dessen scheinbare Zwangsläufig­ keit. So sind alle Sprachformen des Glaubens eigentlich Formen des Wi­ derspruchs. Das gilt auch für die dogmatischen Formulierungen der Alten Kirche; selbst das Apostolische Glaubensbekenntnis beginnt erst dann zu uns zu sprechen, wenn wir jede einzelne Zeile als einen Satz des Widerspruchs wahrnehmen. Im Blick auf unsere täglichen Erfahrungen müßten wir sagen: Ich glaube - trotz allem - an Gott den Vater, den All­ mächtigen; ich glaube trotz allem an Jesus als den Christus, der aufer­ standen ist von den Toten; ich glaube trotz allem an den Heiligen Geist, der lebendig macht, trotz allem an die Eine Kirche. Wie schwer zu spre­ chen ist jeder dieser Sätze, wie schwer aber wiegt er dann auch !

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Lassen wir uns ein auf diese Sätze des Glaubens, so bekommen wir es mit noch ganz anderen Widersprüchen zu tun. Mit den ersten Worten bekennen wir uns zu Gott, dem Vater, dem Allmächtigen; und mit diesen Worten binden wir aneinander, was für uns nicht mehr vereinbar ist. Wer allmächtig ist, kann nicht mein Vater sein; wir kennen wohl Väter, die sich als allmächtig aufspielen, aber damit verspielen sie, was sie als Vater sein könnten. Vater zu sein heißt mitleiden zu können mit den Kindern; allmächtig zu sein aber heißt, die Macht zu haben, das Leid zu verhindern; was aber von ihm nicht verhindert wird, ist also von ihm gewollt: eine entsetzliche Vorstellung ! Diese Spannung prägt das Glaubensbekenntnis von den ersten Worten an : Von Gott als dem Allmächtigen zu reden ist etwas anderes als von Gott dem Vater zu reden. Bleiben wir in der Reihenfolge des Glaubensbekenntnisses, dann ist es das erste, Gott als Vater zu be­ greifen, und was von seiner Allmacht gesagt wird, ist ein zweiter Schritt und gilt nur unter diesem Vorzeichen; alles wird falsch, wenn wir die Reihenfolge umkehren. Von Gott als der Güte zu reden, die mir mein Leben schenkt, ist das Vorzeichen vor allem, was nun folgt; und unter diesem Vorzeichen von Gottes Allmacht zu sprechen, heißt nun gerade nicht mehr, ihn mit allem zu identifizieren, was geschieht, sondern es werden Worte der Hoffnung und des Widerspruchs: Von dieser Güte, von der im Weltgeschehen so verzweifelt wenig zu er­ kennen ist, hoffe ich, daß sie sich am Ende mächtiger erweisen wird als alles andere. Daran zeigt sich aber auch, daß die Fortschreibung des Anfanges not­ wendig ist: Die ohnmächtige Güte des mitleidenden Vaters darf nicht das letzte Wort sein; und so entfaltet dieses Bekenntnis wie eine Fuge in immer neuen kontrapunktisch einsetzenden Stimmen, was es heißt, von Gott zu reden. Daß es nur im Widerspruch möglich ist, angemessen von Gott zu reden, hat seinen Grund nicht darin, daß Gott in sich so tief wider­ sprüchlich wäre, sondern eben darin, daß der Glaube in seinem Kern Hoffnung ist und sich deshalb im Widerspruch gegen das Bestehende artikuliert. Für Luther hing alles daran, daß der Widerstreit zwischen Gesetz und Evangelium theologisch nicht nivelliert wurde, weil nur so sich nach seiner Erfahrung auch noch in der Tiefe der Anfechtung die Eindeutigkeit Gottes wahrnehmen läßt. Die scheinbare Eindeutigkeit der totalen Begriffe Allmacht und Allgegenwart, Allwissenheit und AI­ leinwirksamkeit beläßt die Gotteserfahrung existentiell in einer tiefen Widersprüchlichkeit; nur in der spannungsvollen Sprache der Hoff­ nung läßt sich in der Widersprüchlichkeit unserer Erfahrung festhalten,

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daß Gott nicht ambivalent ist, sondern eindeutig Güte, Leben und Ge­ rechtigkeit, Zuflucht und Trost. Den Widerspruch als Sprachform der Hoffnung bewußt wahrzu­ nehmen, ist nicht erst in der Oberstufe möglich. Schon an den Sätzen der Klage begreifen Kinder, daß es nicht darum gehen kann, alles hinzu­ nehmen. So werden wir auch mit Grundschulkindern an der Theodizee­ frage nicht vorbeigehen können. Literatur: Volker Eid (Hrsg.), Prophetie und Widerstand, Düsseldorf 1989.

4.2.2 Die Didaktik der Tora Wir haben unseren Einstieg in die biblische Didaktik mit der Frage nach dem Elementaren gefunden. Auf die Frage nach dem biblisch Ele­ mentaren gibt es aber auch ganz andere Antworten. Für Juden ist das schlechthin elementare Wort der Bibel das Wort der Tora. Die ersten fünf Bücher der Hebräischen Bibel heißen zusammen die "Tora" . In ihnen sind Überlieferungen der verschiedensten Art versammelt. Was aber ist das Elementare der Tora? In der geläufigen christlichen Übersetzung heißt die Tora "das Ge­ setz". Unter den christlichen Mißverständnissen des Judentums aber ist das gravierendste die Geringschätzung der jüdischen "Gesetzlichkeit" . Bis heute werden die Botschaft Jesu und die des Paulus als die Überwin­ dung jüdischer Gesetzesfrömmigkeit dargestellt. Hören und schauen wir nur ein wenig genauer hin, so finden wir weder bei Jesus noch bei Paulus etwas von dieser Geringschätzung der Tora, wohl aber können wir in den Lebensäußerungen des Judentums viel von einer ganz ur­ sprünglichen Freude an der Tora entdecken, schon in den Psalmen: Deine Gebote sind mein Lied in dem Hause, in dem ich Fremdling bin. Wäre dein Gesetz nicht mein Trost gewesen, so wäre ich vergangen in meinem Elend. (Ps 1 19, 54.92) Im jüdischen Festkalender gibt es das Fest der Freude an der Tora (sim­ chat tora); auf einer Gouache von Marc Chagall hält ein Jude die Tora im Arm wie ein Mann die geliebte Frau. Die Tora ist für Juden "die Wei­ sung" ; sie ist unentbehrlich als Weisung für den Weg des Lebens. Die Entwicklung von Geboten und Rechtssätzen, die kasuistisch ent­ faltet werden und auch erzählende Überlieferungen an sich binden, zu dem, was im späteren Judentum " Tora" heißt, ist ein komplizierter Vor­ gang, den wir hier nicht weiter verfolgen müssen (vgl. Crüsemann, Tora). Unsere Frage nach den ganz elementaren Sätzen der Tora führt

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uns zu der einfachen Form der Gebote. Sie ist uns aus den Zehn Ge­ boten vertraut; doch sie sind nicht die einzige Formulierung einer sol­ chen Reihe. Es gibt Varianten, die andere Akzente setzen, etwa die Ge­ botsreihen im sogenannten Heiligkeitsgesetz (vgl. 3. Mose 17ff., insbe­ sondere Kap. 19) oder die Zwölf Gebote auf den erneuerten Tafeln (2. Mose 34, 10 ff.). Wir fragen nach der einfachsten Form, die das Wort der Weisung an­ nehmen kann, unmittelbar zugänglich wie die Worte der Klage und des Vertrauens und theologisch zentral wie diese. Wir kennen als das sprachliche Grundmuster der Gebote das "Du sollst nicht . . . " der Lu­ therübersetzung. Im hebräischen Text steht bei diesen Sätzen eine Form der Verneinung, die noch stärker ist. Wörtlich müßten wir übersetzen : Du wirst nicht morden, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht falsches Zeugnis reden, nicht begehren. Die hebräische Sprache kennt keine schärfere Form des Verbots als diese Verneinung. Luther hat mit der Wendung "Du sollst nicht . . . " elementar übersetzt; doch die hebräi­ sche Formulierung ist noch elementarer. Das NICHT ist betont vor­ angestellt; die Sätze sprechen wie ein dramatischer Zuruf, wie ein "Halt ! " in letzter Sekunde, etwa so wie : "Nicht schießen! " oder "Keine Gewalt! " Die Gebote sprechen Grundfragen der Ethik an, doch anders, als wir es sonst in der Sprache der Ethik tun. Die so formulierten Gebote ver­ halten sich zu dem, was wir Ethik nennen, wie das unmittelbar gespro­ chene Wort der Liebe zu einem Vortrag über die Liebe. Die Gebote sind die Grundworte, auf denen alle Ethik erst aufbaut, Grundmuster, die das Handeln leiten. Wir fragen nach der Didaktik solcher Sätze: Auf welche Weise werden sie wirksam ? Die Verneinung zeigt, daß sie auf Entscheidungssitua­ tionen zielen, in denen mehrere Wege offenstehen. Doch während un­ sere ethische Erziehung darauf zielt, in der Entscheidungssituation sorgfältig abzuwägen und Kriterien zu prüfen, sagen diese Sätze ihr Nein! ganz einfach und direkt. Sie folgen damit offenbar einer realistischeren Einschätzung der Ent­ scheidungssituation: Auch schwere Entscheidungen mit weitreichen­ den Folgen lassen mir nur selten Zeit zu sorgfältigem Abwägen; in der Regel finde ich mich unversehens herausgefordert; mit meiner Reaktion werde ich über vieles entscheiden, doch die Folgen kann ich im Augen­ blick des Handelns noch gar nicht absehen. Wahrscheinlich entscheidet in einer solchen Situation nicht mein Kopf, sondern mein Gefühl. Das Gefühl aber ist leicht verführbar durch Angst oder Zorn oder trügerische Verheißungen; und die Herausforde-

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rung erfahre ich in der Regel auch nicht wie eine Wegkreuzung, an der ich entscheiden muß, welchen der möglichen Wege ich einschlage, son­ dern als eine verführerische Suggestion, die sagt, dies sei der einzig mögliche Weg. Wo gibt es dann noch eine Möglichkeit, solchen Sugge­ stionen der Angst oder des Zorns oder gar der Massenhysterie zu wider­ stehen ? Von solchen Situationen sprechen die biblischen Versuchungs­ geschichten. Die womöglich letzte Chance besteht darin, daß mir ein anderer Mensch in den Arm fällt, vielleicht auch ein Wort, das aus meinem Inneren aufsteigt und mir mit solchem Gewicht sein Nein sagt, daß ich wirklich innehalte. So etwa sieht der Lernprozeß aus, auf den hin die Worte der Tora for­ muliert sind; die Art der Formulierung läßt das erkennen. Es muß sich dabei nicht immer um Entscheidungssituationen von großer äußerer Dramatik handeln; folgenschwere Entscheidungen fallen oft in un­ scheinbaren alltäglichen Handlungen. Dabei liegen die Gebote, die das Nein zum Götzendienst einschärfen, nicht etwa auf einer ganz anderen (nämlich der religiösen) Ebene; in jedem der Gebote geht es um die Fas­ zination durch die trügerischen Verheißungen der Götzen : in der Be­ gehrlichkeit und in der mörderischen Gewalt, im Ehebruch und in der öffentlichkeitswirksamen Lüge. Das Gebot, sich nicht den selbstge­ machten Götzen zu unterwerfen, ihnen nicht zu huldigen und ihnen nicht zu dienen, ist von unmittelbarer ethischer Relevanz; die soge­ nannten "ethischen" Gebote der Zweiten Tafel sind nichts anderes als eine Operationalisierung der Absage an den Götzendienst. So sichern die Gebote die Menschlichkeit; denn in der Absage an die anderen Götter geht es nicht um eine Auseinandersetzung mit fremden Reli­ gionen, sondern mit jenen Mächten der Verführung, die dem Menschen das Menschsein rauben und ihn zum Unmenschen gegen seinen Näch­ sten werden lassen. Von innen her eine Barriere gegen diese Verführung zu errichten: das ist das Werk, jedenfalls die Absicht der Gebote. Das tun nicht nur die Gebote, in denen das beschwörende NICHT am Anfang steht, sondern auch die sogenannten positiven Gebote. Das Sabbatgebot beginnt im hebräischen Text nicht mit dem 'uns vertrauten "Du sollst . . . ", sondern mit der Aufforderung: ZACHOR! Gedenke! Die Forderung zum Ge­ denken ist wie wenig andere Worte charakteristisch für den Geist der Hebräischen Bibel und das Denken des Judentums bis heute (vgl. Kap. 3.3.1). Das Wort ZACHOR steht als Gebot gegen das Vergessen und Ver­ drängen. Es holt mich heraus aus der Gleichgültigkeit, mit der ich die Erfahrungen überwältigender Güte und die großen Verheißungen über

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meinem Leben im Vergessen versinken lasse; es erinnert mich im Augen­ blick der versucherischen Faszination, daß ich nicht vergesse, was so viel schwerer wiegt als die Verlockung dieses Augenblicks. Zu erinnern an das, was schwerer wiegt als die Verlockung des Augenblicks, zu warnen davor, daß ich viel zerstöre, wenn ich mich jetzt treiben lasse, das ist die besondere Didaktik der Tora im Augenblick der Entscheidung. Wie aber lassen sich die Sätze der Tora so erschließen, daß sie im kri­ tischen Augenblick auch wirklich reden ? Die Wirksamkeit der Tora hängt an ihrer Präsenz in meinem Herzen und in meinem Munde, so wird es uns am Ende des letzten Buches der Tora noch einmal einge­ schärft: Ganz nahe ist dir das Wort, in deinem Munde und in deinem Herzen, daß du es tust (5. Mose 30, 14). Ein Learning by heart ist also ge­ fordert, das mehr ist als nur ein Auswendiglernen. Die Worte der Tora sollen sich einprägen, aber nicht als ein lastendes Gesetz, sondern als Anweisung zu einem Leben, das sich nicht blindlings treiben läßt, son­ dern die Grenzen kennt, jenseits deren die Menschlichkeit im Chaos untergeht, sei es in dem politischen Chaos, das die gewalttätigen Über­ treter heraufbeschwören, sei es in dem inneren Chaos, das aus mir selbst aufsteigt. Die Erfahrung des Chaos von innen und außen kennen schon Kinder; und die bange Frage, ob und wie seiner Macht Grenzen gesetzt werden können, ist eine Lebensfrage vor allem der Heranwachsenden. Die Tora nimmt hier die Aufgabe wahr, die in der ersten Schöpfungsge­ schichte der »Feste" zugeschrieben ist, nämlich die Erde vor dem an­ dringenden Chaos zu bewahren; sie hat teil an der Verheißung der Be­ wahrung vor den Mächten des Chaos, die am Ende der Sintflutge­ schichte ausgesprochen und im 104. Psalm wiederaufgenommen wird : Du hast eine Grenze gesetzt; darüber kommen sie nicht und dürfen nicht wieder die Erde bedecken (Ps 104, 9). Ernesto Cardenals Übersetzung spitzt den entsprechenden Vers an der Schlüsselstelle von Psalm 19 in diesem Sinne zu: »Das Gesetz des Herrn zügelt das Unterbewußtsein" (Ps 19, 8 in den >Lateinamerikanischen Psalmen