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German Pages 313 [314] Year 2020
Martin-Heidegger-Gesellschaft | Forschungsreihe
Tak-Lap Yeung
Einbildungskraft als Orientierungskraft Neuinterpretation der phänomenologischen Kant-Deutung Heideggers
ACADEMIA
https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
1
Kommentar der Arbeit: 1. Die vorliegende Arbeit lässt erhebliche Mängel erkennen, sowohl in Bezug auf ihre Argumentation als auch auf die oberflächliche Art und Weise ihrer Ausführung. Die gesamte These wird lediglich als Behauptung aufgestellt, ohne eine solide und überzeugende Argumentation zu liefern. Es lässt sich vermuten, dass dem Autor grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache fehlen. 2. Des Weiteren ist anzumerken, dass der Autor in vielen Abschnitten unzureichend oder überhaupt nicht zitiert hat. Dies wirft erhebliche Zweifel an der wissenschaftlichen Integrität und der Fähigkeit des Autors auf, angemessen auf vorherige Forschungsergebnisse Bezug zu nehmen. 3. Besonders problematisch ist die Einleitung, in der der Autor das Buch von Rolf-Peter Horstmann als Hauptbeleg für seine These heranzieht. Allerdings handelt es sich bei diesem Buch lediglich um eine "Einführung" in das Thema der Einbildungskraft bei Kant und ist daher als unzureichendes Beispiel für eine Promotionsdissertation anzusehen. Es scheint, als habe der Autor keine gründliche Recherche betrieben, um angemessene und fundierte Quellen für seine Arbeit zu finden. 4. Ein Großteil der Dissertation besteht lediglich aus einer simplen Zusammenfassung von Heideggers Buch über Kant, ohne dass dabei eine kritische Auseinandersetzung mit den neuesten Erkenntnissen anderer Forscher erfolgt. Dies zeugt von einer unzureichenden Analyse- und Denkleistung seitens des Autors. Besonders beunruhigend ist, dass der dritte Teil der Dissertation nichts weiter als eine Wiederholung des ersten Teils darstellt. Dies wirft Fragen hinsichtlich der Originalität und des Mehrwerts der vorliegenden Arbeit auf. 5. Der Übergang von Heidegger und Kant zu Arendt ist nicht nur überflüssig, sondern auch unzureichend begründet. Der Autor hat es versäumt, schlüssig darzulegen, warum Arendts Interpretation im Zusammenhang mit seiner These relevant ist. Es ist kaum nachvollziehbar, dass Arendt das Problem der Einbildungskraft ähnlich ernsthaft behandelt hat wie Heidegger. Zudem fehlt jegliche Auseinandersetzung mit aktuellen Forschungsergebnissen zu diesem Thema. 6. Angesichts der vorliegenden Mängel kann die Dissertation nur als ,,befriedigend’’ bewertet werden. Sie erfüllt nicht die erforderlichen Standards einer qualitativ hochwertigen wissenschaftlichen Arbeit und lässt erhebliche Zweifel an der Kompetenz und dem wissenschaftlichen Können des Autors aufkommen. 7. Der Anhang mag auf den ersten Blick interessant erscheinen, doch es besteht keinerlei Überzeugungskraft dafür, dass der chinesische Philosoph in irgendeiner Weise an Heideggers Interpretation von Kant beteiligt sein sollte! M.H
Martin-Heidegger-Gesellschaft | Forschungsreihe Herausgegeben von Harald Seubert Manuela Massa Band 1
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Tak-Lap Yeung
Einbildungskraft als Orientierungskraft Neuinterpretation der phänomenologischen Kant-Deutung Heideggers
ACADEMIA
https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: FU Berlin, Univ., Diss., 2020 ISBN 978-3-89665-930-9 (Print) ISBN 978-3-89665-931-6 (ePDF)
Onlineversion Nomos eLibrary
D 188
1. Auflage 2020 © Academia – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, BadenBaden 2020. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlags gesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Besuchen Sie uns im Internet www.academia-verlag.de
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Abkürzungsverzeichnis
Fichte, Johann Gottlieb GWL
Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95)
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich GW
Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie (1802/03)
Heidegger, Martin Die Bände der „Gesamtausgabe“ Heideggers werden mit dem Sigel „GA“ und der Bandzahl angegeben (Ausnahmen bilden „Kant und das Problem der Metaphysik“ und „Sein und Zeit“). Für sonstige Texte Heideggers werden folgende Abkürzungen benutzt: KPM
Kant und das Problem der Metaphysik (GA 3)
SZ
Seit und Zeit (GA 2)
VWW
Vom Wesen der Wahrheit (In: GA 9)
VWG
Vom Wesen des Grundes (In: GA 9)
Husserl, Edmund Die Schriften Husserls werden nach der Husserliana-Ausgabe zitiert als „Hua-Band Nr. (römisch)“, z. B. Hua VI. Ausnahmen bilden „Ideen I“ und „Ideen III“. Ideen I
Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (Hua III/1 und Hua III/2)
Ideen III
Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften (Hua V)
Kant, Immanuel Bei Zitierung von Kants Schriften ist die Akademie-Ausgabe (AA) mit der Bandzahl (römisch) zu benutzen. Die Ausnahmen sind wie folgt: KrV
Kritik der reinen Vernunft (zu zitieren nach Originalpaginierung A/B)
KU
Kritik der Urteilskraft
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Abkürzungsverzeichnis Anthropologie
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht
WDO
Was heißt: sich im Denken orientieren?
Mou, Zongsan IACP
Intellektuelle Anschauung und chinesische Philosophie [Zhi de Zhijue yu Zhongguo Zhexuei《智的直覺與中國哲學》]
ED
Erscheinung und Ding an sich [Xianxiang yu Wuzishen《現象與 物自身》]
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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Einleitung
23
Erstes Kapitel:
Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
1.1 Die Vernachlässigung der Einbildungskraft 1.1.1 Die Höhen und Tiefen der Einbildungskraft 1.1.2 Die Vorliebe für den Intellektualismus und ihr Einfluss auf die Lesart der Philosophie Kants in der Philosophiegeschichte 1.1.3 Eine unbeliebte Kantdeutung: Die Doppelvergessenheit der Kantdeutung Heideggers 1.2 Einbildungskraft als ein „problematischer“ Begriff in der Philosophie Kants 1.2.1 Das Wurzelproblem als Leitfaden: Die Suche nach der ursprünglichen Einheit 1.2.2 Einbildungskraft: Ein „problematischer“ Begriff in der Philosophie Kants 1.2.3 Der „problematische“ Dualismus Kants aus philosophiegeschichtlicher und theoretischer Sicht 1.3 Die Suche nach Lösungen des „problematischen“ Dualismus Kants 1.3.1 Die Versuchung durch Kant und seine ehrgeizigen Nachfolger 1.3.2 Selbstbewusstsein und Einbildungskraft bei Fichte 1.3.3 Hegels Kritik an Kant und Fichte und seine Begrifflichkeit hinsichtlich der Einbildungskraft 1.4 Wie sollen wir Heideggers Kantdeutung berücksichtigen? 1.4.1 Kantianer, Kantnachfolger und -deuter 1.4.2 Heidegger als Kantdeuter: Der Stellenwert seiner Kantdeutung
45 45 45 47 50 54 54 55 58 62 62 66 71 75 75 76
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Inhaltsverzeichnis
Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
83
2.1 Leben als Thema: Heideggers frühe philosophische Orientierung 2.1.1 Die Entstehung des Problembewusstseins 2.1.1 Leben, Philosophie und Phänomenologie
83 83 87
2.2 Phänomenologie als Methode: Husserls Einfluss auf Heidegger 2.2.1 Überblick über Husserls Ansatz der Phänomenologie und Heideggers Rezeption 2.2.1.1 Heideggers Auseinandersetzung mit Husserl 1: Die Unmöglichkeit der radikalen Reduktion 2.2.1.2 Heideggers Auseinandersetzung mit Husserl 2: Der Mythos der Voraussetzungslosigkeit 2.2.1.3 Heideggers Auseinandersetzung mit Husserl 3: Das Seinsverständnis soll ursprünglicher sein als die Intentionalität
91 92 95 97 99
2.3 Die Seinsfrage und der transzendentale Ansatz Heideggers 2.3.1 Die Seinsfrage als Leitfrage und die Suche nach der Möglichkeitsbedingung 2.3.2 „transzendental“ und „transzendent“ bei Kant und Husserl 2.3.3 Von transzendental bis ontologisch: Die transzendentale Eigenschaft Heideggers in Relation zu Kant und Husserl 2.3.3.1 Rezeption des Bedingungsdenkens mit der Umwandlung kantischer Motive und Terminologie 2.3.3.2 Transzendenz, Existenz, Ekstase und Zeitlichkeit
103
2.4 Die kantische Philosophie als Zuflucht und die Kehre 2.4.1 Eine unfertige Aufgabe: Sein und Zeit und der Abbruch des Schreibprojekts 2.4.2 Die Kehre und die Relation zur Kantdeutung als Zuflucht
115
2.5 Die Auseinandersetzung mit den Neukantianern 2.5.1 Cohens Einfluss auf Cassirer und Heidegger 2.5.2 Cassirer versus Heidegger: 1.) Über die Grundhaltung des Neukantianismus zur Kantdeutung 2.5.3 Cassirer versus Heidegger: 2.) Über Endlichkeit und die Rolle der Einbildungskraft
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103 105 110 110 112
116 117 120 121 125 127
Inhaltsverzeichnis
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers 3.1 (T1) Kants KrV soll als eine Grundlegung der Metaphysik konzipiert werden 3.1.1 Metaphysica generalis und Metaphysica specialis 3.1.2 Die Erneuerung der Bedeutung der kopernikanischen Wende Kants und die Argumentation gegen die erkenntnistheoretische Interpretation der KrV 3.1.3 Die Repositionierung der geschichtlichen Stellung Kants in der Geschichte der Metaphysik 3.2 (T2) Erkenntnis ist primär Anschauung bezüglich des Problems der Endlichkeit 3.2.1 Der höhere Stellenwert des Verstandes in der kantischen Tradition 3.2.2 Eine Umkehrung: Erkennen ist primär Anschauung 3.2.3 Das Wesen der Erkenntnis: Die ursprüngliche Verwurzelung in der Anschauung 3.2.4. Die Rolle der transzendentalen Logik und die Implikation der Umkehrung 3.3 (T3) Das Deduktionskapitel: Die Aufhellung der Transzendenz des Daseins 3.3.1 Die lange Suche nach der ursprünglichen Einheit: Ein Schwerpunkt der Kantdeutung 3.3.2 Die ursprüngliche Einigung ist die ontologische Synthesis 3.3.3. Die transzendentale Deduktion als die Aufhellung der Transzendenz der endlichen Vernunft beziehungsweise des Daseins 3.3.3.1 „Gegenstehenlasse von …“ und „Spielraum“ 3.3.3.2 Die Dreiheit: Beziehung zwischen reiner Anschauung, reiner Einbildungskraft und reiner Apperzeption 3.4 (T4) Das Schematismuskapitel als das Kernstück der KrV 3.4.1 Das Problembewusstsein des Schematismuskapitels: Kants Erklärung der Beziehung zwischen den Verstandesbegriffen, den Schemata und der Einbildungskraft 3.4.2 Bild und Schema: Der Schematismus als Versinnlichung gibt den Anblick des Begriffs im Namen des SchemaBildes
133 134 135 136 138 143 143 145 149 151 153 153 155 159 160 164 168
169 171
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Inhaltsverzeichnis
3.4.3 Die Zeit als reines Bild aller Verstandesbegriffe 3.4.4 Das Schematismuskapitel als Kernstück der KrV und die Bedeutsamkeit der Zeit 3.5 (T5) Die Einbildungskraft als das dritte Grunderkenntnisvermögen 3.5.1 „Transzendentales Objekt = X” in Bezug auf die Transzendenz 3.5.2 Die Einbildungskraft als das dritte Grunderkenntnisvermögen 3.5.3 Die Einbildungskraft als die gemeinschaftliche Wurzel 3.6 (T6) Die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit 3.6.1 Die innere Beziehung zwischen der transzendentalen Einbildungskraft und der Zeit 3.6.2 Die innere Zeitlichkeit der transzendentalen Einbildungskraft: Heideggers Umdeutung der dreifachen Synthesis in der A-Deduktion 3.6.2.1 Die reine Synthesis als reine Apprehension 3.6.2.2 Die reine Synthesis als reine Reproduktion 3.6.2.3 Die reine Synthesis als reine Rekognition 3.6.3 Die Zeit als Selbstaffektion und die Gleichursprünglichkeit der Zeit und der reinen Apperzeption in der Selbstkonstitution 3.6.4 Die Bedeutung der These „Zeit als Selbstaffektion“ für Heideggers Kantdeutung 3.7 (T7) Die Endlichkeit soll einen Vorrang in der Kantdeutung haben 3.7.1 Kant weicht vor der transzendentalen Einbildungskraft zurück 3.7.2 Das eigentliche Ergebnis der kantischen Grundlegung: Eine philosophische Anthropologie 3.7.3 Anthropologie, Endlichkeit und Seinsverständnis 3.7.4 Die Endlichkeit als die Schlüsselfuge zwischen Kant und Heidegger
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175 177 181 181 185 188 192 192 195 196 197 199 201 207 209 210 213 215 217
Inhaltsverzeichnis
Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation: eine kantisch-heideggersche philosophische Anthropologie 4.1 Die innere Spannung zwischen den philosophischen Ansätzen Kants und Heideggers 4.1.1 Die fundamentalistische und holistische Lesart der Philosophie Kants 4.1.2 Heideggers kopernikanische Wende: Die Ontologie geht wiederum der Erkenntnistheorie voraus 4.1.2.1 Steht die kopernikanische Wende Heideggers notwendig mit der Grundeinsicht Kants im Widerspruch? 4.1.3 Heideggers Modifikation der philosophischen Einsichten Kants 4.1.3.1 Der Wahrheitsbegriff: Transzendentale Wahrheit versus ontologische Wahrheit 4.1.3.2 Welt- und Selbstbegriff: Das subjektive Transzendentale versus daseinsmäßige Transzendenz 4.1.4 Die „Kehre“ als Abkehr vom Subjektivitätsansatz und der Transzendentalmethode 4.2 Die Implikation der phänomenologischen Kantdeutung Heideggers 4.2.1 Das theoretische Ergebnis der Kantdeutung Heideggers: Die Sprengung der Vernunft 4.2.2 Kants Orientierungsbegriff: Die Vernunft als der höchste Maßstab der Wahrheit und die ursprüngliche Orientierung im Denken 4.2.3 Heideggers Orientierungsbegriff: Existentialen und Zeitlichkeit 4.3 Die auf Einbildungskraft beruhende philosophische Anthropologie 4.3.1 Heidegger über die philosophische Anthropologie 4.3.2 In welchem Sinne können wir die Aufgabe Heideggers als eine philosophische Anthropologie konzipieren?
221 223 223 226 229 231 232 235 240 242 242 244 246 248 249 250
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Inhaltsverzeichnis
4.3.3 Die Grundelemente einer philosophischen Anthropologie der Einbildungskraft: existenziale Kategorien und Freiheitsbegriff 4.3.3.1 Heideggers existenziale Kategorien und der Schematismus des daseinsmäßigen Lebens 4.3.3.2 Freiheit: zeitlich oder überzeitlich 4.3.4 Hannah Arendts Beiträge zu einer kantischheideggerschen philosophischen Anthropologie 4.3.4.1 Eine zweifache Operation im Urteilen: Einbildungskraft und sensus communis 4.3.4.2 Die Einbildungskraft als der Ursprung der „werteingebetteten Vorstellung“ und der „bilderzeugenden Funktion“ 4.3.4.3 Die Einbildungskraft als der Ursprung des Schemas im Erkennen hinsichtlich der Verbindung zwischen dem Universalen und der Besonderheit 4.3.4.4 Arendts Kantdeutung als ein dritter Weg zwischen Kant und der Kantdeutung Heideggers 4.4 Eine Idee der kantisch-heideggerschen philosophischen Anthropologie der Einbildungskraft Appendix:
Mou Zongsans Auseinandersetzung mit Heideggers Kantinterpretation
Literaturverzeichnis
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253 254 257 261 262 263
265 266 269 275 305
Vorwort
Die Motivation dieser Arbeit ist einfach: Das theoretische Potenzial der Kantdeutung Heideggers ist seit Langem übersehen worden – in beiden, sowohl in der Kant- als auch in der Heideggerforschung. Ich nenne dieses Phänomen die Doppelvergessenheit der Kantdeutung Heideggers. Ich will seine Kantdeutung wieder neu interpretieren, um dieses Potenzial zu aktualisieren. Hinsichtlich der Vernachlässigung der Rolle der „Einbildungskraft“ in der Kantphilologie bin ich der Meinung, dass seit Langem der Einbildungskraft eine niedrige Position im Vergleich zu den anderen Seelenvermögen zugewiesen, ihre Synthesisfähigkeit lediglich auf das erkenntnistheoretische Gebiet beschränkt und sie als nur anhaftende Funktion des reinen Verstandes marginalisiert worden ist. Für viele Kantgelehrte spielt die Einbildungskraft nicht nur in der theoretischen Philosophie Kants eine wenig bedeutende Rolle, sondern auch in der praktischen Philosophie, der Ästhetik usw., da sie ein problematischer Begriff ist.1 Welche theoretischen Probleme entstehen hier für Kantgelehrte? Wir können diese Frage zumindest unter zwei Perspektiven erläutern: 1.) Da ist zunächst die ungenaue Stellung der Einbildungskraft in der kantischen Philosophie: Soll sie zur Sinnlichkeit oder zum Verstand gehören, oder ein eigenständiges Erkenntnisvermögen sein? Oder ist sie die gemeinschaftliche Wurzel zwischen der Sinnlichkeit und dem
1 Vgl.: „When having to deal with Kant’s ideas about the mechanisms and achievements of the imagination in the context of his epistemology, most Kant scholars behave as we all supposedly behave in the face of fantasies and dreams: they either repress the whole topic, as if Kant could as well have done without it, or aggressively blame Kant for willfully making his epistemology more obscure than it needed to be“ (Rolf-Peter Horstmann: Kant’s Power of Imagination. Cambridge 2018, S. 1). In der Einleitung von Imagination in Kant’s Critical Philosophy schreibt Michael L. Thompson: „This book aims to recover the lacuna and elucidate this often overlooked faculty in Immanuel Kant’s critical philosophy. The primary thesis in this volume is that the complexity and robustness of Kant’s metaphysical, epistemological, aesthetic and moral theories cannot be accounted for fully without appeal to the imagination and the products of its activities “ (Michael L. Thompson: Introduction. In: Imagination in Kant’s Critical Philosophy. Hg. von Michael L. Thompson. Berlin und Boston 2013, S. 1).
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Vorwort
2.)
Verstand?2 Seit geraumer Zeit haben die Kantgelehrten hierzu verschiedene Meinungen. Im Jahre 2018 publizierte Rolf-Peter Horstmann ein neues Buch zu Kant’s Power of Imagination, in dem er die verschiedenen Interpretationen in Bezug auf die theoretische Stellung der Einbildungskraft diskutiert, insbesondere die Eigenständigkeit der Einbildungskraft im Kontext der Kritik der reinen Vernunft (KrV) und der Kritik der Urteilskraft (KU). Das beweist zumindest teilweise, dass erstens die Einbildungskraft noch ein problematischer Begriff für viele Kantgelehrte ist und es zweitens noch innerhalb der Kantphilologie plausibel ist, für die Wichtigkeit und Eigenständigkeit der Einbildungskraft zu argumentieren; Die Funktion der Einbildungskraft ist in der kantischen Philosophie schwebend: Dieses Problem steht in einer engen Beziehung mit dem ersten Problem. In der ersten Kritik (A-Fassung) fokussiert Kant, insbesondere im Deduktionskapitel, die Synthesisfunktion der Einbildungskraft. Beschwerlicher ist es, die Unterschiede der A- und B-Fassung der KrV zu erklären. Diese Änderungen führen zu mehreren theoretischen Problemen. Zum Beispiel: Was ist der Unterschied zwischen der produktiven und reproduktiven Einbildungskraft? Warum muss in der späteren Fassung die Einbildungskraft völlig zum Verstand gehören? Warum muss die dreifache Synthesis in der A-Fassung verschwinden? Außerdem funktioniert die Einbildungskraft im Schematismuskapitel als Ursprung der „transzendentalen Zeitbestimmung“, die den Prozess des Schematismus der reinen Begriffe ermöglicht. Die Funktion der Einbildungskraft wird mehrmals verändert. Wenn wir unser Augenmerk auf die KU richten, so finden wir dort das Definitionsproblem der Einbildungskraft noch einmal variiert. Die Einbildungskraft spielt nun eine einzigartige Rolle im freien Spiel der Erkenntniskräfte. Ist sie jetzt eine eigenständige Kraft? Ist sie ein spontanes Vermögen, das das Gefühl des Schönen und Erhabenen erschafft? Diese Ungewissheit macht den Begriff der Einbildungskraft in der Kantphilologie problematisch.
2 Vgl.: „The contrast between the A- and the B-deductions with respect to the role and status of the power of imagination, as also observed by H. Allison (Kant’s Transcendental Idealism, 186 f.), figures prominently in Martin Heidegger’s attempt (Kant und das Problem der Metaphysik, Bonn: Friedrich Cohen, 1929, 153 ff., 201 ff) to establish that Kant initially thought of the transcendental power of imagination as the original common root of sensibility and understanding“ (Horstmann: Kant’s Power of Imagination, S. 26, Anm. 25).
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Vorwort
Ungewissheit ist im Falle einer Förderung des philosophischen Diskurses nicht immer schlimm. Solche Probleme führten bekanntlich zu einer kurzen „Blütezeit des Begriffs der Einbildungskraft“3 im 18. Jahrhundert und stießen die Debatten nicht nur im theoretischen Bereich, sondern auch im ästhetischen Bereich an. Nach der kurzen Blütezeit der Einbildungskraft folgte eine dunkle Zeit für diesen Begriff in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Immer weniger Kantforscher haben diesen Begriff diskutiert. Dieser Zustand dauert insbesondere in der angloamerikanischen Kantrezeption bis heute an. Die vorliegenden Probleme bleiben ungelöst. Im Kontext des Kantstudiums nimmt man selten und dann fast ausschließlich die theoretische Bedeutung der Einbildungskraft in den Blick. Keine Ausnahme macht Heideggers Kantdeutung, die ihn größtenteils zu einer Neuinterpretation der theoretischen Philosophie Kants führte. Deshalb fokussiere ich hauptsächlich das theoretische und praktische Problem und werde durch die Erörterung des „problematischen“ Dualismus Kants im Kapitel 1.3 einfach die theoretische Problematik darstellen. Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Implikation der Einbildungskraft im Bereich der Ästhetik nicht bedeutsam ist. Obwohl Dieter Henrich und Horstmann nicht einverstanden wären4, so bin ich doch der Ansicht, dass Heideggers Kantdeutung viele Beiträge zu diesem Thema hervorgerufen hat. Deswegen analysiere ich seine Kantdeutung geschichtlich und theoretisch. Im zweiten Kapitel versuche ich, sein Problembewusstsein durch die Auseinandersetzung mit Husserl und den Neukantianern, insbesondere mit Ernst Cassirer, darzustellen. Danach fasse ich „sieben Hauptthemen“ seiner Kantdeutung zusammen, um seine theoretische Umdeutung der kantischen Begriffe und Ideen zu entfalten. Man könnte hier fragen: In welcher Beziehung steht Heideggers Kantdeutung zu den Problemen innerhalb der kantischen Philologie selbst? In der vorliegenden Abhandlung argumentiere ich, dass Heidegger der kantischen Philosophie durch die Betonung der Rolle der Einbildungskraft eine ontologisch-existenziale Bedeutung verliehen hat. Anhand seiner „sieben Hauptthemen“, die ich hauptsächlich aus seinen früheren Werken
3 Vgl. Matthias Wunsch: Einbildungskraft und Erfahrung bei Kant. Berlin 2007, S. 18. 4 Vgl.: „I want to clarify at the outset that my question is going to differ from the question about whether the imagination is the “common root” (CpR, A 15/B 29) of sensibility and understanding, a question posed by the German Idealists and revitalized by Heidegger. As Dieter Henrich demonstrated more than sixty years ago (in his “Über die Einheit der Subjektivität,” Philosophische Rundschau 5, 3, 1955, 28–69), this question is ill conceived and unworthy of further pursuit“ (Horstmann: Kant’s Power of Imagination, S. 3, Anm. 3).
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Vorwort
entnehme, ist vor allem die innere Beziehung zwischen dem schema-bildenden Erkenntnisvermögen, nämlich der produktiven Einbildungskraft, und der Zeit, die als eine reine Anschauungsform sowie als ein Existenzhorizont verstanden werden kann, klar zu ersehen. Heidegger möchte Einbildungskraft und Zeit zusammenführen, weil er sich einerseits noch mit seinem noch nicht abgeschlossenen Projekt von Sein und Zeit (SZ) abmühte, und er anderseits damals Kants Philosophie als theoretische Zuflucht gegen den Einfluss von Husserls Phänomenologie ansah. Vor diesem Hintergrund können wir verstehen, warum er die Auseinandersetzung mit der Kantdeutung der Neukantianer suchte; warum er eine hermeneutische Kantdeutung, die sich von der fundamentalistischen Denkweise Husserls unterschied, vorzog; warum er die zeitbezogene Dimension der Einbildungskraft betonte usw. Welche Absicht verfolgt Heidegger damit? Heidegger bestimmt als ein „Hauptziel“ seiner Vorlesung im Jahre 1927/28, die also rund ein Jahr vor der Publikation von Kant und das Problem der Metaphysik (KPM) gehalten wurde, die Bemühung, „die zeitbezogene Synthesis der transzendentalen Einbildungskraft in ihrer Grundstruktur vor Augen zu legen, und zwar als Fundament der Ermöglichung der apriorischen Beziehung auf Gegenstand überhaupt. Und gerade bei dieser zentralen Aufgabe müssen wir rücksichtslos und mehr denn je danach trachten, was Kant hat sagen wollen – oder gar nach dem, was er hätte sagen sollen.“5 Hier können wir sehen, dass sich Heidegger als ein Kantdeuter positioniert, der ein Gespräch mit Kant führen will. Er ist kein Kantianer und noch weniger ein Kantnachfolger (siehe hierzu Kapitel 1.4). Die ersten fünf Hauptthemen (T1-T5) bieten eine Bühne für den größten Anspruch Heideggers, nämlich dass die transzendentale Einbildungskraft die ursprüngliche Zeit sei (T6). Dieses Thema ist das wichtigste Thema seiner Kantdeutung, da es einerseits seine Einsichten von SZ mit Kants Arbeit verbindet und andererseits die erkenntnistheoretische Deutung der Subjektivität überwindet. Durch die Enthüllung der inneren Beziehung zwischen transzendentaler Einbildungskraft und Zeit verbindet Heidegger den „zeit-bildenden“ Charakter des menschlichen Daseins beziehungsweise des daseinsmäßigen Lebens mit der Einbildungskraft. Heidegger verleiht der Einbildungskraft die Bedeutung der Existenzbildung. Man kann den Ursprung der Existenzmodi hinsichtlich der drei
5 Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (Wintersemester 1927/28). Hg. von Ingtraud Görland. 3. Aufl., Frankfurt/Main 1995 (GA 25), S. 338.
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Vorwort
Zeitformen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in der Einbildungskraft finden. Durch Heideggers Umdeutung der dreifachen Synthesis in der A-Fassung der KrV in Hinblick auf die drei Dimensionen der Zeit wird die Beziehung zwischen der transzendentalen Einbildungskraft und der Zeit etabliert. Diese Beziehung enthüllt eine noch tiefere Tatsache, die nicht nur den zeitlichen und bildenden Charakter der transzendentalen Einbildungskraft verdeutlicht, sondern auch die Gleichursprünglichkeit der Zeit und der reinen Apperzeption in der Selbstkonstitution. Aufgrund dieses Zusammenhangs kann man sagen, dass die Zeit, die transzendentale Einbildungskraft und die reine Apperzeption eine Dreieinheit sind, demgemäß man nicht nur Erkenntnis haben, sondern auch Selbstkonstitution durchführen kann. Das ist die Bedeutung der These „Zeit als Selbstaffektion“. Diese Umdeutung hat die ontologisch-existenziale Dimension in die kantische Philosophie eingeführt und ist ein besonderer Beitrag der Kantdeutung Heideggers, der aber am wenigsten von den Kant- und Heideggerforschern anerkannt wird. Das letzte Thema (T7) ist ein Schlusstein der ganzen Kantdeutung Heideggers. Prominente Kantgelehrte, wie zum Beispiel Cassirer, Hannah Arendt und Mou Zhongsan, würden es nicht ablehnen, dass die Endlichkeit des Menschen die Grundannahme der kantischen Philosophie sei. Jedoch sollte man skeptisch hinterfragen, ob diese Grundannahme der terninus a quo oder der terminus ad quem der kantischen Philosophie ist. Heidegger besteht darauf, dass „Ursprünglicher als der Mensch die Endlichkeit des Daseins in ihm [ist].“6 Aber meiner Meinung nach hat Heidegger diese These oder Prämisse überbetont. Ich halte die Annahme für sinnvoller, dass die Endlichkeit nur der Ausgangpunkt der Philosophie Kants und nicht deren Endpunkt ist. Die Folge dieser Überbetonung ist die Verletzung der Spontaneität der menschlichen Freiheit und Schöpferkraft. Dieses Hauptthema ist genau genommen der Schlüssel zur Auseinandersetzung zwischen Heidegger und den Kantianern und anderen Kantdeutern. Cassirer, aus der Perspektive der Schöpferkraft der Kultur, und Mou, aus der Perspektive der Möglichkeit der Moralität, haben an diesem Punkt kritisierend angesetzt. Heideggers Überbetonung der Endlichkeit des Menschen beziehungsweise des Daseins ist der Unendlichkeit des Menschen eher abträglich. Dies ist der Hauptunterschied zwischen Kant und Heidegger. Bis hierhin haben wir einen Überblick über die Haupthemen der Kantdeutung Heideggers gegeben. Wenn meine Zusammenfassung angemes6 KPM, S. 229.
17 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Vorwort
sen ist, dann können wir nun verstehen, dass laut der Kantdeutung Heideggers die Einbildungskraft der Schlüssel ist, das Leben des Menschen auszurichten und zu verfassen. Mit seiner Deutung gab Heidegger nicht nur eine theoretische Erklärung, sondern bot zugleich auch eine ontologisch-existenziale Erörterung und Interpretation der kantischen Philosophie an. Wie wir bereits erwähnt haben, kämpfte Heidegger in seiner früheren Zeit durch seine Kantrezeption und -deutung gegen die Einflüsse der Phänomenologie Husserls. Dieser Kampf war ein wichtiger Ursprung für sein frühes Interesse an dem Phänomen des Lebens. Dieses Phänomen ist der Ausgangspunkt seines weiteren philosophischen Weges und fest verankert in seinem frühen Denken. Unter dem Einfluss der transzendentalen und phänomenologischen Methode hat er einen besonderen Standpunkt entwickelt, der in der Tat einerseits für den Transzendental- und Subjektivitätsansatz der kantischen Philosophie, anderseits gegen den Spontaneitätsansatz fruchtbar gemacht werden kann. Auf dieser Grundlage interpretiere ich im späteren Teil dieser Arbeit, dass durch Heideggers Umdeutung die Einbildungskraft als Orientierungskraft verstanden werden kann. Diese Interpretation führt uns ebenfalls zu einer Umgliederung der Bedeutung und des Stellenwerts seiner Kantdeutung. Darüber hinaus verfolge ich das Ziel, eine kantisch-heideggersche philosophische Anthropologie zu formulieren, die sich auf die Sonderfunktion und -rolle der Einbildungskraft in der Philosophie Kants und der phänomenologischen Kantdeutung Heideggers beruft. Wiederholt betont Heidegger, dass seine Arbeit keine philosophische Anthropologie, oder besser: keine solche im gewöhnlichen Verständnis philosophischer Anthropologie sei. Er argumentiert, dass die Grundaufgabe der KrV in einer Grundlegung der Metaphysik bestehe, die die Möglichkeit eröffne, eine Fundamentalontologie zu bilden. „Fundamentalontologie heißt diejenige ontologische Analytik des endlichen Menschenwesens, die das Fundament für die zur „Natur des Menschen gehörige“ Metaphysik bereiten soll.“7 Die Fundamentalontologie ist in Wirklichkeit die Metaphysik des menschlichen Daseins, die nicht auf der Suche nach dem metaphysischen Menschenwesen ist, sondern auf die Entfaltung der Tatsache abzielt, dass das Menschenwesen metaphysisch ist. In diesem Sinne soll Heideggers Arbeit nicht als eine philosophische Anthropologie betrachtet werden, die nur versucht, die Frage „Was ist der Mensch?“ in einer psychologischen oder erkenntnistheoretischen Art und Weise zu beantworten.
7 Ebd., S. 1.
18 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Vorwort
Allerding bin ich der Auffassung, dass seine Arbeit mit der Absicht eine Vereinigung seiner Philosophie mit der kantischen zu ermöglichen, sehr wohl als eine „besondere“ philosophische Anthropologie verstanden werden kann. Diese besondere philosophische Anthropologie, die eine ursprüngliche Erklärung der Möglichkeitsbedingungen des daseinsmäßigen Lebens in Bezug auf sein zeitliches Existenzial anstrebt, ist untrennbar mit dem Wesenscharakter der Einbildungskraft verbunden. In Heideggers Kantdeutung des Deduktions- und Schematismuskapitels der KrV wird die innere Beziehung, d. h. das wesentliche aufeinander Bezogensein von Zeit(lichkeit) und Einbildungskraft entfaltet. Dieses Bezogensein konfrontiert uns mit der Tatsache, dass die Vorstellungstätigkeit immer ein zeitlich-bildliches Verfahren (deswegen nennt Heidegger das Schema ein Schema-bild) ist. Im Verfahren einer Erinnerung der Vergangenheit, eines Entwurfs auf die Zukunft oder eines Urteilens in der Gegenwart muss jedes Dasein dieses zeitbildende sowie bilderzeugende Erkenntnisvermögen, nämlich die Einbildungskraft, beanspruchen. In diesem Sinne sind die Einbildungskraft und die Zeit als der gleichursprüngliche Ursprung des daseinsmäßigen Lebens für die Ermöglichung eines ontologisch-existenzialen Lebensbilds verantwortlich. Diese Punkte der kantisch-heideggerschen philosophischen Anthropologie werden in den Unterabschnitten des Kapitels 4.3 eingeführt, das sich generell auf die Idee der existenzialen Kategorien (oder Kategorien des Lebens) und auf die Beiträge zur Urteilstheorie der Kantdeutung Arendts beruft. In diesen Abschnitten versuche ich darzustellen, dass 1.) durch Tzewan Kwans (Professor emeritus an der Chinesischen Universität Hongkong) Reformulierung der unveröffentlichten Ideen Otto Pöggelers, der Kategorien des Lebens, eine kantisch-heideggersche Theorie der Kategorien, die auf der inneren Beziehung zwischen Einbildungskraft und Zeit beruht, möglich, und 2.) durch Arendts Kantdeutung eine kantisch-heideggersche Theorie des Urteilens bezüglich der Sonderfunktionen der Einbildungskraft plausibel ist. In dieser Darstellung argumentiere ich, dass ein dritter Weg, der die Einsichten der beiden Philosophien in Einklang bringt, gangbar erscheint. Darüber hinaus kann man auch diskutieren, ob die durch die Einbildungskraft gegründete phänomenologische Kantdeutung theoretisch und philosophisch gerechtfertigt ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass meine Untersuchung eine Neuinterpretation anstrebt, die sich durch die Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Kantdeutung Heideggers auf die Rolle der Einbildungskraft konzentriert. Ich untersuche die Möglichkeit, die Philosophien Kants und Heideggers, die in verschiedenen Dimensionen heterogen sind,
19 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Vorwort
im Rahmen eines philosophischen Themas – der Einbildungskraft als Orientierungskraft – miteinander in Einklang zu bringen. Ich argumentiere, dass in einem besonderen Sinne Heidegger, insbesondere vor der problematischen „Kehre“, ein Kantdeuter, ein Quasi-Kantnachfolger – aber kein Kantianer – ist, der versucht, die kantische Aufgabe durch seine Umdeutung hinsichtlich seines eigenen Problembewusstseins zu vollenden. In Heideggers Augen spielt der Begriff der Einbildungskraft die Hauptrolle, nicht nur um die Einheit der Erkenntnisvermögen zu begründen, sondern auch um die Dimension der Zeitlichkeit des Daseins einzuführen. Kant ist für ihn der erste und einzige Philosoph in der abendländischen Philosophiegeschichte, der der Bedeutung der Zeitlichkeit näherkommt und die Grundlegung der Metaphysica generalis feststellt.8 Vor diesem Hintergrund habe ich mich mit Heideggers Kantdeutung, vor allem mit seiner Positionierung der Einbildungskraft als dem dritten Grundvermögen und mit seiner Umkehrung des Vorrangs der Erkenntnistheorie vor der Ontologie auseinandergesetzt. Auf diese Weise erarbeite ich meine Kantinterpretation der Einbildungskraft, die versucht, die Einbildungskraft als Orientierungskraft aufgrund seiner vorangehenden phänomenologischen Kantdeutung auszulegen. Ich möchte so aufzeigen, dass Heideggers Kantdeutung die Implikation beinhaltet, dass die Einbildungskraft die vorgängige Rolle für die Orientierung des daseinsmäßigen Lebens spielt. Die Einbildungskraft setzt nicht nur die ontologische Begründung der Erkenntnis beziehungsweise der Seinsverfassung, sondern auch die existenzialen Möglichkeiten des geworfenen Lebens voraus. Auf diese Möglichkeiten begrenzt sowie orientiert sie sich im Vorfeld des Daseins. Diese Bedeutung kann vornehmlich an einem Punkt der Kantdeutung Arendts herausgearbeitet werden, der sich darauf bezieht, dass die Einbildung der Ursprung der „werteingebetteten Vorstellung“ ist. Alle Vorstellungen, die durch die Einbildungskraft erzeugt werden, sind „wertvolle“, nicht „wertfreie“. Die Einbildungskraft ist eine „geschmackvolle“ Kraft, mit der das Dasein im Voraus seine existenzialen Möglichkeiten in endlichen Richtungen limitiert sowie sich an ihnen orientiert. Daher interpretiere ich die Einbildungskraft als Orientierungskraft. *
8 Vgl. SZ, S. 23 und KPM, S. 1–9; S. 13–18. Also Gordons Anmerkung auf die Notiz n. 13.
20 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Vorwort
Eine Wirkung der philosophischen Arbeit ist die Erweiterung eines eigenen Horizonts. Der eigene Horizont ist immer begrenzt, wenn man selbst seine Ansichten in dem eigenen geschichtlichen und kulturellen Fixpunkt feststellt. Doch dieser „Fixpunkt“ ist ebenfalls der erforderliche Ausgangspunkt eines Aus-sehens beziehungsweise einer Horizontverschmelzung. Zu behüten ist die Flexibilität des Geistes, durch die Einseitigkeit vermieden und neue Problemperspektiven entdeckt werden können. Meine Erlebnisse in Deutschland brachten mich auf die Idee des mobilen beziehungsweise exzentrischen Aussichtspunkts, die besagt, dass eine bedeutsame Erweiterung des philosophischen Verständnisses stets in interdisziplinären und transkulturellen Gesprächen geschieht. Deswegen möchte ich insbesondere diese Gespräche mit dieser Arbeit fördern, die die Kontinuität und die Auseinandersetzung zwischen Philosophen innerhalb oder außerhalb der deutschsprachigen Welt betonen. Meine Perspektive und Ideen haben ihre eigene Herkunft. Herzlich bedanke ich mich bei meinem Betreuer, Herrn PD Dr. Hans Feger, der so fürsorglich und offenherzig war, meine unkonventionelle Arbeit zu akzeptieren und zu ermutigen. Meinen anderen wichtigen Denkursprung verdanke ich Herrn Professor Tze-wan Kwan, dem Betreuer meiner Masterarbeit, der mich wesentlich angestoßen hat, dem Denkweg Kants und Heideggers nachzukommen. Ein besonderer Dank geht an Herrn Professor Roger Ames und Herrn Professor Michael Beaney, da ihre Seminare über chinesische Philosophie, die selten an Instituten für Philosophie in Deutschland behandelt wird, mich inspiriert haben und mein Interesse an meiner kulturellen Herkunft gefördert und zur interkulturellen komparativen Arbeit geführt haben. Frau Professorin Anne Eusterschulte, meine zweite Gutachterin, Professor Stefan Gosepath, Professor Henning Hahn und Dr. Fabian Börchers, den ehrenwerten Mitglieder meiner Promotionskommission, bin ich für viel konstruktive Kritik zu großem Dank verpflichtet. Herr Uwe Stry und Frau Dr. Natalie Chamat haben mehrmalig meinen schriftlichen Ausdruck gerettet. Zu guter Letzt bedanke ich mich herzlich bei meiner Familie, namentlich meiner Frau Yu Siu, für ihre Geduld. Ohne ihre Unterstützung wäre mein Ziel unerreichbar gewesen.
21 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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Einleitung
„Zeit als die ursprüngliche reine Selbstaffektion ist das Resultat der phänomenologischen Analyse, und es ist nichts anderes, als was Kant sagt. “9 (Logik. Die Frage nach der Wahrheit, Martin Heidegger)
1. „[E]in Versuch, dem Ungesagten nachzudenken, statt Kant auf sein Gesagtes festzuschreiben. Das Gesagte ist das Dürftige, das Ungesagte erfüllt mit Reichtum.”10 Das Zitat stammt aus Aufzeichnungen zum Kantbuch in Martin Heidegger Kant und das Problem der Metaphysik (im Folgenden abgekürzt mit KPM), bekannt auch als das Kant-Buch. Laut Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, dem Verfasser des Nachworts des Herausgebers zu KPM, hatte Heidegger Zettel-Aufzeichnungen in sein Handexemplar der ersten Auflage eingelegt. Zu diesen Zettel-Aufzeichnungen gehörte auch jener Zettel, den Heidegger 1973 faksimiliert und übertragen hat. Im Vorwort zur vierten Auflage schreibt er: „Nach Schrift und Inhalt zu urteilen, stammen sie aus den dreißiger und vierziger Jahren.“11 Diese kurze Zettel-Aufzeichnung stellt die Zielsetzung seiner Kantdeutung dar, die nicht auf eine Entdeckung des „Kant an sich“ abzielt, die für Heidegger zur Arbeit „der Kantphilologie“ gehört. Seine Kantdeutung beinhaltet in gewissem Sinne die „Gewaltsamkeit“, die für Heidegger das notwendige Element für eine philosophische „Auseinandersetzung“ sein soll.12
9 Martin Heidegger: Logik. Die Frage nach der Wahrheit (Wintersemester 1925/26). In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 21. Hg. von Walter Biemel. Frankfurt/Main 1995 (GA 21), S. 339. 10 Martin Heidegger: Aufzeichnungen zum Kantbuch. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 3 Kant und das Problem der Metaphysik (1929). Hg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. 2. Aufl., Frankfurt/Main 2010 (GA 3), S. 249–254, hier S. 249. 11 Friedrich-Wilhelm v. Herrmann: Nachwort des Herausgebers. In: KPM, S. 313–317, hier S. 314. 12 Vgl. Heidegger: Aufzeichnungen zum Kantbuch: 1. zum Kantbuch, ebd., S. 249.
23 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Einleitung
Eine wahre philosophische Auseinandersetzung zu führen, ist das, was Heidegger, insbesondere in seiner frühen Zeit, beabsichtigte. In der Davoser Disputation, in der er mit Cassirer über seine Kantdeutung debattierte, hat er nicht ohne Provokation betont: Nicht in dem Sinne, daß man den Menschen empirisch als gegebenes Objekt untersucht, auch nicht so, daß ich eine Anthropologie des Menschen entwerfe, sondern die Frage nach dem Wesen des Menschen hat einzig nur den Sinn und das Recht, daß sie motiviert ist aus der zentralen Problematik der Philosophie selbst, die den Menschen über sich selbst hinaus und in das Ganze des Seienden zurückzuführen hat, um ihm da bei all seiner Freiheit die Nichtigkeit seines Daseins offenbar zu machen, eine Nichtigkeit, die nicht Veranlassung ist zu Pessimismus und zum Trübsinn, sondern zum Verständnis dessen, daß eigentliches Wirken nur da ist, wo Widerstand ist, und daß die Philosophie die Aufgabe hat, aus dem faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes benutzt, gewissermaßen den Menschen zurückzuwerfen in die Härte seines Schicksals.13 Die Bedeutung der „Auseinandersetzung“ liegt für Heidegger darin, dass „eigentliches Wirken nur da ist, wo Widerstand ist“. Der wesentliche Widerstand stammt für ihn nicht nur von der Auseinandersetzung mit der neukantianischen Kantdeutung her, sondern auch von dem Selbstzweifel an der Richtung und dem Ansatz der Seinsfrage, der in Sein und Zeit (im Folgenden abgekürzt mit SZ)14 gesetzt wurde. Dieser Ansatz zeigt die innere Spannung zwischen dem Transzendentalansatz und seiner gegen die Subjektivitätsphilosophie gerichteten Tendenz auf. Durch die Auseinandersetzung zwischen dem Neukantianismus und seiner Kantdeutung hat Heidegger „eine Zuflucht“ gefunden: „So kam die Fragestellung von „Sein und Zeit“ als Vorgriff für die versuchte Kantauslegung ins Spiel. Kants Text wurde eine Zuflucht, bei Kant einen Fürsprecher für die von mir gestellte Seinsfrage zu suchen.“15 Nach seiner ersten tiefgehenden Kantuntersuchung, ungefähr zwischen 1925 und 1930, hat Heidegger erst später die kantische Philosophie erneut studiert. In Kants These über das Sein (1963) und Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen (1962) stellt
13 Ebd., S. 291. 14 Martin Heidegger: Sein und Zeit (1927). In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 2. Hg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. 2. Aufl., Frankfurt/Main 2018 (GA 2). 15 KPM, S. XIV.
24 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Einleitung
Heidegger fest, dass er versuchen solle, „die Überdeutung Kants zurückzunehmen, ohne zugleich das Kantbuch selbst entsprechend neu zu schreiben“.16 Sein Rückblick zeigt mindestens zwei Punkte auf: 1. Er stimmt zu, dass seine frühere Kantdeutung eine „Überdeutung“ ist. 2. Das frühere Problembewusstsein seiner Kantdeutung deckt sich mit der in SZ gesetzten Seinsfrage. Am Ende des dritten Abschnitts des Kantbuchs zitiert Heidegger Kant selbst, um diese „ungewöhnliche“ Kantdeutung zu rechtfertigen. So möchte denn wohl die Kritik der reinen Vernunft die eigentliche Apologie für Leibniz, selbst wider seine, ihn mit nicht ehrenden Lobsprüchen erhebende Anhänger sein; wie sie es denn auch für verschiedene ältere Philosophen sein kann, die mancher Geschichtsschreiber der Philosophie bei allem ihnen erteilten Lobe, doch lauter Unsinn reden läßt, dessen Absicht er nicht erräth, indem er den Schlüssel aller Auslegungen reiner Vernunftprodukte aus bloßen Begriffe, die Kritik der Vernunft selbst (als die gemeinschaftliche Quelle für alle), vernachlässigt, und über dem Wortforschen dessen, was jene gesagt haben, dasjenige nicht sehen kann, was sie haben sagen wollen.17 Hier argumentiert Heidegger, dass eine Interpretation nicht lediglich das wiedergeben soll, was Kant ausdrücklich gesagt hat, „dann ist sie von vornherein keine Auslegung, sofern einer solchen die Aufgabe gestellt bleibt, dasjenige eigens sichtbar zu machen, was Kant über die ausdrückliche Formulierung hinaus in seiner Grundlegung ans Licht gebracht hat.“18
2. Theodore Kisiel unterscheidet vier Perioden der Philosophie Heideggers: der junge Heidegger (bis 1919), der frühe Heidegger (1919–1929), der späte Heidegger (1930er-1950er Jahre) und der ältere Heidegger (nach 1950). In dieser Arbeit fokussieren wir zumeist das Denken des „frühen
16 Zu der Selbstbewertung seiner Kantdeutung vergleichen wir das Vorwort zur vierten Auflage und Vorwort zur dritten Auflage: KPM, S. XIV und XVIII. 17 Immanuel Kant: Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll. AA XIII, S. 250–251. Zitat auch in KPM, S. 201–202. 18 KPM, S. 201.
25 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Einleitung
Heideggers“.19 Heideggers Bezug auf Kant gehört hauptsächlich in die Periode zwischen 1927–1930, während dieser Jahre hat er das Buch KPM (1929) sowie die Studien Vom Wesen des Grundes (1929) und Vom Wesen der Wahrheit (1930) veröffentlicht und sein Verständnis auch in den Vorlesungen (zum Beispiel Die Grundprobleme der Phänomenologie (Sommersemester 1927, GA 24), Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (Wintersemester 1927/28, GA 25) entwickelt, die er später zur Veröffentlichung vorsah. Die Arbeiten dieser Zeit können als ein eigenständiger Versuch bezeichnet werden, der in vielerlei Hinsicht schon über die Position von SZ hinausführt.20 In dieser Zeit bemüht sich Heidegger um die Konzeption einer Transzendentalphilosophie. Er versteht seine Ontologie beziehungswiese seine Fundamentalontologie in gewissem Sinne als „temporale bzw. transzendentale Wissenschaft“.21 Peter Gordon notiert dazu: „[…] it is indisputable that Kant, perhaps more than any other modern philosopher in the history of metaphysics, plays a decisive role in Heidegger’s philosophical-historical narrative. This is because Kant’s transcendental doctrine was clearly an important model for Heidegger’s own existential doctrine.“22 Wir werden in den folgenden Abschnitten deutlich sehen, dass der Transzendental-, Subjektivitäts- und Spontaneitätsansatz, die in der kantischen Philosophie tiefgreifend verwurzelt sind, eine bedeutsame Rolle für den frühen Heidegger spielen, obwohl er darum bemüht war, diese Ansätze abzuschütteln. Husserl folgt der Tradition der modernen Subjektphilosophie, die von Descartes über Kant bis zu ihm nachgezeichnet wird, und fokussiert wie seine Vorläufer das Subjekt beziehungsweise das „Bewusstsein“ des erkennenden Subjekts. Für Husserl besteht das Bewusstsein im Gesamtbestand der intentionalen Erlebnisse eines Subjekts. Seine phänomenologische Untersuchung beginnt mit der Beziehung zwischen dem Ichpol (dem Ursprung von Noesis) und dem Objektpol (oder Noema), nämlich der Intentionalität. Jedoch versteht er das Subjekt beziehungswei-
19 Vgl. Theodore Kisiel: Key to Abbreviations and Notations. In: Theodore Kisiel: The Genesis of Heidegger’s „Being and Time”. Berkeley u. a. 1995, S. xiii. 20 Vgl. Ingtraud Görland: Transzendenz und Selbst. Eine Phase in Heideggers Denken. Frankfurt/Main 1982. 21 Vgl. Martin Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie (Sommersemester 1927). In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 24. Hg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. 3. Aufl., Frankfurt/Main 1997 (GA 24), S. 466. 22 Peter Eli Gordon: Continental Divide. Heidegger, Cassirer, Davos. Cambridge, Massachusetts 2010, S. 126.
26 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Einleitung
se die Subjektivität nicht als ein unzugängliches Subjekt. In Verbindung mit dem Thema Subjektivität kritisiert Husserl Kant: In der Tat gerät Kant in eine eigene Art mythischer Reden, deren Wortsinn zwar auf Subjektives verweist, aber eine Weise des Subjektiven, die wir uns prinzipiell nicht anschaulich machen können, weder an faktischen Exempeln noch durch echte Analogie.23 Diese Kritik richtet sich gegen die Methode der transzendentalen Argumentation, die sich auf eine „regressive“ Methode im Blick auf die Erkenntnisbedingung des menschlichen Verständnisses bezieht. Für Husserl hat Kant durch die transzendentale Methode keine zureichende Erklärung der Subjektivität in der Kritik der reinen Vernunft (im Folgenden abgekürzt mit KrV) gegeben. Der Ort der Subjektivität liegt tatsächlich in der „transzendentalen Apperzeption“, die als der höchste Punkt der transzendentalen Philosophie im Deduktionskapitel der KrV erscheint. Husserl erkennt, dass Kant nur „Deutlichkeit“ anstatt „Klarheit“ der transzendentalen Apperzeption durch die transzendentale Deduktion gegeben hat.24 Daher gründet Kants Arbeit über die Subjektivität auf einer „mythischen Konstruktion“.25 Kurzum: Kants Grundlegung der Erkenntnistätigkeit ist nicht streng und genügend radikal. Husserls Phänomenologie ist als eine strenge Wissenschaft in einem gewissen Sinne eine neue Art und Weise, das Ziel und die Arbeit Kants zu vollenden, das heiß, sie ist eine Grundlegung der menschlichen Erkenntnis oder sogar der Tätigkeit der Sinnkonstitution im Allgemeinen. Hingegen versteht Heidegger das Ziel und die Arbeit Kants und der Phänomenologie anders. Er setzt sich damit auseinander, dass Kant in der KrV nicht auf eine Erkenntnistheorie abzielt, sondern auf eine Grundlegung der Metaphysica generalis, nämlich gewissermaßen auf eine Fundamentalontologie, die den ontologischen Ursprung beziehungsweise den Grund der Erkenntnis enthüllen kann. Der „Grund“ einer Erkenntnistätigkeit oder einer Sinnkonstitution basiert für Heidegger nicht auf der „res cogitans“, der „transzendentalen Apperzeption“ oder dem „transzendentalen Ego“, sondern auf dem vorgegebenen und vorgängigen Seinsverständ23 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hg. von Walter Biemel. Nachdruck der 2., verb. Auflage, Den Haag 1976 (Hua VI), S. 116. 24 Vgl. Edmund Husserl: Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft. Mit ergänzenden Texten. Hg. von Paul Janssen. Den Haag 1974 (Hua XVII), S. 64–69 und Hua VI, S. 117–118. 25 Vgl. Hua VI, S. 116–118.
27 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Einleitung
nis, das vage und verborgen wie ein Hintergrund fungiert. Aufgrund dieses Seinsverständnisses können wir unsere hermeneutische Tätigkeit zur Welt (gewissermaßen zum Selbst) beginnen und daher ist das „Erkennen“ möglich. Aber, obwohl das „Erkenntnissubjekt“ nicht die erste Priorität in der Verständnistätigkeit hat, stellt Heidegger dennoch eine hohe Stellung des menschlichen Daseins und des daseinsmäßigen Verständnisses in seiner Untersuchung der Seinsfrage fest. Die Daseinsanalyse hat im ganzen Entwurf von SZ noch einen Vorrang. Dies zeigt deutlich die Einflüsse des Transzendental-, Subjektivitäts- und Spontaneitätsansatzes Kants und Husserls, die sich in seinem frühen Denken weiter fortsetzen. Jan Kuneš kommentiert die Forschungsrichtung des frühen Heideggers: Er versteht und entwickelt ihn in dieser Periode bewusst im Sinne des Begriffs von Subjekt. Obwohl seine Subjektauffassung seinem Selbstverständnis nach völlig neu sein soll – er sucht die „Möglichkeit einer angemessenen, d. h. von der ganzen Tradition freien ontologischen Interpretation des Subjekts“ (GA 24: 207) –, formuliert er sie im Anschluss an die kantische Auffassung vom reinen Ich und versucht dem Subjekt eine Bedeutung zu verleihen, die Husserl in seiner Phänomenologie seinerseits im Anschluss an Kant entwickelt hatte. Heideggers Lesart von Kants Kritik der reinen Vernunft ist generell dem Standpunkt der Phänomenologie Husserls verpflichtet.26 Die Spur des Transzendental- und Subjektivitätsansatzes verfolgend werde ich im zweiten Kapitel nicht nur die Einflüsse von Kant und Husserl auf Heidegger entfalten, sondern auch wie Heidegger versuchte, diese zu transformieren oder zu überwinden. Der Bedarf die husserlsche Phänomenologie durch seine Kantforschung zu überwinden, ist ein großes Thema des frühen Heideggers.
3. Wie realisiert Heidegger seinen Ehrgeiz? Der Durchbruch liegt in seiner Betonung der Sonderstellung der Einbildungskraft und der Zeit in der KrV. Heidegger bestimmt als ein „Hauptziel“ seiner Vorlesung im Jahre
26 Jan Kuneš: Heidegger und Kants Weltbegriff. In: Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Kant-Kongresses 2010. Hg. von Stefano Bacin, Alfredo Ferrarin, Claudio La Rocca, Margit Ruffing. Berlin 2013, S. 781–792, hier S. 782.
28 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Einleitung
1927/28, die also rund ein Jahr vor der Publikation von KPM gehalten wurde, die Bemühung, „die zeitbezogene Synthesis der transzendentalen Einbildungskraft in ihrer Grundstruktur vor Augen zu legen, und zwar als Fundament der Ermöglichung der apriorischen Beziehung auf Gegenstand überhaupt. Und gerade bei dieser zentralen Aufgabe müssen wir rücksichtslos und mehr denn je nach dem trachten, was Kant hat sagen wollen – oder gar nach dem, was er hätte sagen sollen.“27 Versteht man das Apriorische grundsätzlich als Quelle der Erkenntnis in der Transzendentalphilosophie Kants, so ist es in der Existenzphilosophie Heideggers ähnlich, das heißt, dass die ontologisch-existenziale Bestimmung des Seins der faktischen Existenz, nämlich das Sein des menschlichen Daseins, der Ursprung der Sinnkonstitution sowie der Seinsverfassung ist. Mit anderen Worten: Der frühe Heidegger sucht noch etwas wie das Apriorische bei Kant, mit dem seine radikalisierte Interpretation des Welt- und Sinnbezugs Husserls unterstützt werden kann. Es ist in diesem Kontext von großer Wichtigkeit, dass Heidegger die Bedeutsamkeit der Zeit, die von vielen Kantforscher nur als ein niedriges, passiv-rezeptives Erkenntnisvermögen verstanden wird, in der Transzendentalphilosophie Kants wieder hervorhebt. Diese Charakterisierung, die die sinnlichen Erkenntnisvermögen als weniger bedeutsam im Vergleich zu den „intellektuellen“ oder „reinen“ Erkenntnisvermögen betrachtet, ist seit Langem in der abendländischen Philosophiegeschichte verwurzelt. Mit der Bestimmung des Aristoteles ist das reine Denken (theoria, θεωρία) hinsichtlich der Selbständigkeit bereits als die höchste Tätigkeit des Menschen festgelegt.28 Seitdem betonen ebenfalls zahlreiche Philosophen aus verschiedenen Gründen in ihrer Philosophie den Vorrang der intellektuellen Erkenntnisvermögen. Daraus ergibt sich die Vorliebe für den Intellektualismus und die kognitiven Erkenntnisvermögen in der Entwicklung der abendländischen Metaphysikgeschichte (vgl. Abschnitt 1.1.2). Mit seiner Kantdeutung, die die Sonderstellung der als die sinnlichen Erkenntnisvermögen in der Philosophie Kants verstandenen Einbildungskraft und Zeit betont, bietet Heidegger tatsächlich eine Alternative an, die den Abstand zur Tradition des reinen Intellektualismus oder des reinen Sensualismus erkennen lässt. Diesen Hintergrund und die Ge-
27 GA 25, S. 338. 28 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers. und kommentiert von Franz Dirlmeier. In: Ders.: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 6. Begr. von Ernst Grumach, hg. von Hellmut Flashar. 10. Aufl., Berlin 1999, Buch I, 1095b und Buch X, 1177 a-b.
29 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Einleitung
nese der Hauptideen der Kantdeutung Heideggers diskutiere ich im ersten und zweiten Kapitel.
4. Die Einbildungskraft als das „Dritte“ zwischen den „zwei Stämmen der Erkenntnis“ überbrückt die Kluft der heterogenen Erkenntnisvermögen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch ihr Produkt: das Schema. Durch das Verfahren der Zeitbestimmung gestalten sich die Verstandesbegriffe als die Schemata, die sich mit der sinnlichen Gegebenheit verbinden können. Mit Hilfe der Schemata gewinnen die Begriffe, egal ob rein oder empirisch, die sinnlichen Gestalten und können dann das Erkenntnissubjekt beurteilen. Die Kantdeutung Heideggers fokussiert vorzugsweise diese Sonderstellung der Einbildungskraft und darüber hinaus entwickelt er die innere Beziehung zwischen Zeit und transzendentaler Einbildungskraft. In Hinblick auf diese Beziehung argumentiert er ferner, dass grundsätzlich „die transzendentale Einbildungskraft die ursprüngliche Zeit“ sei (vgl. T6, Abschnitt 3.6). Diese Aussage führt ihn zu einer weiteren Auffassung, nämlich dass die Zeit als Selbstaffektion das wichtigste und ursprünglichste Moment der Selbstkonstitution ist. Im traditionellen Verständnis der Philosophie Kants liegt der Ort des Selbstbewusstseins beziehungsweise der Subjektivität in der reinen Apperzeption, da sie der Ursprung der Vorstellung des ich denke ist und sie die höchste Einheit aller Vorstellungen begründet. Allerdings spricht Heidegger davon, dass die reine Anschauung, die reine Einbildungskraft und die reine Apperzeption tatsächlich eine Dreiheit sind. Diese Einheit ist möglich nur aufgrund der Voraussetzung, dass die reine beziehungsweise transzendentale Einbildungskraft die Rolle eines Vermittlers spielt, der ontologisch im Voraus das Strukturganze vorgegeben hat. In diesem Sinne steht die Einbildungskraft nicht nur auf ontologischer Ebene vor den „zwei Stämmen der Erkenntnis“, sondern auch vor der reinen Apperzeption unter Berücksichtigung des Problems des Selbst und der Selbstkonstitution. Die transzendentale Einbildungskraft als die ursprüngliche Zeit gewinnt durch diese Umdeutung eine höhere Stellung in der Rangordnung der Erkenntnisvermögen, oder man kann es sogar so sagen, die ursprüngliche Rolle des ganzen Verfahrens der Erkenntnistätigkeit sowie der Selbstkonstitution.
30 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Einleitung
Wie aber geht Heidegger das obige Thema an? Im dritten Kapitel habe ich die sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers zusammengefasst, so dass wir diese strukturiert und detailliert nachvollziehen können.
5. Bis hierhin haben wir bereits einen Einblick in das Thema dieser Arbeit. Wenn meine Zusammenfassung angemessen ist, können wir tatsächlich beurteilen, dass laut der Kantdeutung Heideggers die Einbildungskraft der Schlüssel ist, das Leben des Menschen auszurichten und zu verfassen. Mit seiner Deutung gab Heidegger nicht nur eine theoretische Erklärung, sondern bot zugleich auch eine ontologisch-existenziale Erörterung und Interpretation der kantischen Philosophie an. Wie wir schon erwähnt haben, kämpfte Heidegger in seiner früheren Zeit durch seine Kantstudie und -deutung gegen die Einflüsse der Phänomenologie Husserls. Dieser Kampf war ein wichtiger Ursprung in Verbindung mit seinem früheren Interesse an dem Phänomen des Lebens. Dieses Phänomen ist der Ausgangpunkt seines philosophischen Wegs und fest verankert in seinem frühen Denken. Durch den Einfluss der transzendentalen und phänomenologischen Methode hat er einen besonderen Standpunkt entwickelt, der in der Tat einerseits für den Transzendental- und Subjektivitätsansatz, anderseits gegen den Spontaneitätsansatz ist. Seine Kantdeutung kann nur vor dem Hintergrund des Problembewusstseins und der Umschlagmethode der Seinsfrage, die in SZ ausgearbeitet wurde, verstanden werden. Ferner möchte ich ansprechen, dass die wirkliche Absicht und der große strategische Plan von SZ ebenfalls nur durch seine Kantdeutung, die vor allem in KPM vorgestellt wird, nachvollzogen werden kann. Das zentrale Thema von KPM ist die Interpretation der Bedeutung der menschlichen „Endlichkeit“ und es ist präzise dieses Thema, das er lebenslang verfolgt. In den letzten Abschnitten des Kantbuchs nähert sich Heidegger diesem Thema mehr und mehr an und stellt endlich am Ende viele gewichtige Fragen: Hat es einen Sinn und besteht ein Recht, den Menschen auf Grund seiner innersten Endlichkeit – daß er der „Ontologie", d. h. des Seinsverständnisses, bedarf – als „schöpferisch" und somit als „unendlich" zu begreifen, wo doch gerade die Idee des unendlichen Wesens nichts so radikal von sich stößt wie eine Ontologie?
31 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Einleitung
Läßt sich aber die Endlichkeit im Dasein auch nur als Problem entwickeln ohne eine „vorausgesetzte" Unendlichkeit? Welcher Art ist überhaupt dieses „Voraus-setzen" im Dasein? Was bedeutet die so „gesetzte" Unendlichkeit?29 Diese Fragen sind besonders sinnvoll, wenn wir sie aus der Perspektive eines inneren Konflikts Heideggers betrachten. In Bezug auf die philosophische Methode ähnelt der frühe Heidegger Kant und Husserl, denn auch diese beiden suchen die Möglichkeitsbedingung von Erfahrung beziehungsweise Erlebnis zu entfalten. Der Ausgangpunkt Heideggers ist gewissermaßen ähnlich. Er beginnt seine Suche nach dem Sinn von Sein mit der Daseinsanalyse, die also als eine Analyse des Subjekts konzipiert werden kann. Daher bin ich der Auffassung, dass der Transzendental- und Subjektivitätsansatz seiner frühen Zeit offensichtlich noch in Kraft sind. Allerdings hat er im Zuge seiner Deutung schon gezeigt, dass er den Spontaneitätsansatz ablehnt. Wir können diese Ablehnung mindestens unter zwei Aspekten betrachten. Erstens: In seiner Deutung des Wesenscharakters der reinen beziehungsweise transzendentalen Apperzeption möchte Heidegger den Ursprung der Spontaneität durch die Transzendenz (vgl. T3, insbesondere Abschnitt 3.3.3) ersetzen. Wegen der Vorliebe für die B-Deduktion der KrV tendieren viele Kantforscher dazu, den Verstand, der als der alleinige Ursprung der Spontaneität konzipiert wird, als höchstes aller Erkenntnisvermögen zu positionieren. Aber diese Interpretation führt zum theoretischen Problem, dass die transzendentale Einbildungskraft nicht mehr bloß als ein sinnlich-rezeptives Erkenntnisvermögen konzipiert werden kann, da sie ebenfalls den Charakter der Spontaneität teilt. Die Einbildungskraft, die gewöhnlich in den früheren Abschnitten der KrV als ein sinnliches Erkenntnisvermögen verstanden wird, verliert so ihre Eigenständigkeit als eine Grundkraft oder ein Grundvermögen und wird nun unter die Herrschaft des Verstandes kategorisiert. Aber Heidegger betont insbesondere die A-Deduktion, die die Eigenständigkeit und Funktion der Einbildungskraft unterstützen kann. Er denkt, dass die Hauptabsicht des Deduktionskapitels nicht in der Rechtfertigung der Rechtmäßigkeit (quid iuris) der reinen Verstandesbegriffe liegt, sondern in der Aufhellung der Transzendenz. Transzendenz ist der Grundmodus des daseinsmäßigen Lebens, durch den das Dasein sein Sein verfasst. Dieser Grundmodus kann nicht als schlechthin spontan (aktiv) oder schlechthin rezeptiv (passiv) konzipiert werden,
29 KPM, S. 246.
32 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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sondern ist ein rezeptiv-spontaner oder passiv-aktiver Modus des Seins von Dasein. Heidegger weist darauf hin, dass die Transzendenz mit dem reinen Verstand beziehungsweise der transzendentalen Apperzeption allein nicht möglich ist.30 Die Einbildungskraft als das Dritte, als ein rezeptiv-spontanes Erkenntnisvermögen, ersetzt die oberste Stellung der transzendentalen Einbildungskraft in einem Dreierbezug (vgl. Abschnitt 3.3.3.2), da sie im Voraus die ursprüngliche Struktur für die Dreiheit beziehungsweise dieses Strukturganze anbietet. Mit anderen Worten: Die Einbildungskraft ist auf der ontologischen Ebene ursprünglicher als die Fähigkeit zur Spontaneität und zur geistigen Selbsttätigkeit, nämlich des reinen Verstandes. Dessen höchste Stellung und die Herrschaft der Fähigkeit der Spontaneität werden offensichtlich durch diese Deutung verringert. Zweitens: In Heideggers Kantdeutung ist der Begriff Freiheit fast durchgehend abwesend. Das Begriffspaar Phänomenon und Noumenon ist auch verschwunden. Diese Abwesenheit zeigt in der Tat seine abwägende Ablehnung auf, die übersinnlichen, überzeitlichen und unendlichen Aspekte des menschlichen Daseins zu besprechen. Er investiert nur wenige Seiten in KPM, um die praktische Philosophie Kants zu diskutieren (§ 30, ungefähr vier Seiten). Er bespricht die Möglichkeitsbedingung der menschlichen Freiheit im Rahmen der „Person“ und des Gefühls „Achtung“. Darüber hinaus finden sich kaum Ausführungen über die apriorische Begründung der Freiheit hinsichtlich des allgemein gesetzgebenden Willens. Heidegger betont dieses Gefühl, da er glaubt, es sei die Voraussetzung, ein Gesetz als ein moralisches empfangen zu können: „Die Achtung ist die „Empfänglichkeit“ für das moralische Gesetz, d. h. das Ermöglichende eines Empfangens dieses Gesetzes als eines moralischen.“31 Anders gesagt: Das moralische Gefühl beziehungsweise die Achtung ist die vorgängige Bedingung der gesetzgebenden Tätigkeit und dieses Gefühl hängt nicht von einer mythischen Spontaneität der Erkenntnisvermögen ab, sondern ist ein „Sichunterwerfen“: „In der Achtung vor dem Gesetz unterwerfe ich mich mir selbst“.32 Diese Umdeutung entzieht der Freiheit beziehungsweise dem freien Willen die selbstgesetzgebende Tätigkeit und ebenso die absolute Stellung in der transzendentalen Philosophie. Die Freiheit entspringt nicht mehr der Spontaneität der transzendentalen Willensfreiheit,
30 Vgl.: „Die Einheit der Apperzeption in Beziehung auf die Synthesis der Einbildungskraft ist der Verstand, und eben dieselbe Einheit, beziehungsweise auf die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft der reine Verstand“ (KrV A 119). 31 KPM, S. 156. 32 Vgl. ebd., S. 158.
33 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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sondern dem Vorgeworfenen des „Gefühlhaben für …“ und der „Achtung vor …“.33 Dies ist infolge der vorwerfenden, zeitbildenden Bildkonstitutionsfähigkeit der Einbildungskraft möglich. Die obige Haltung hinsichtlich der menschlichen Spontaneität zeigt deutlich den großen Zweifel am Spontaneitätsansatz bei Heideggers Suche nach dem „Wesens“charakter des menschlichen Daseins. In seinen Augen hängt das „Wesen“ des menschlichen Daseins nicht mehr von dem spontanen Erkenntnisvermögen oder der Spontaneität des Menschen im Allgemeinen ab, sondern vom rezeptiv-spontanen Erkenntnisvermögen, das ein vor-gegeben-geworfenes Bewandtnis- und Bedeutungsganzes vorbereiten kann, das heißt die als die ursprüngliche Zeit gedeutete Einbildungskraft.
6. Im letzten Kapitel zeige ich auf Basis der Zusammenfassung der sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers auf, dass die Einbildungskraft als eine Orientierungskraft verstanden werden kann. Diese Interpretation führt uns ebenfalls zu einer Umgliederung der Bedeutung und des Stellenwerts seiner Kantdeutung. Darüber hinaus verfolge ich das Ziel, eine kantisch-heideggersche philosophische Anthropologie zu formulieren, die sich auf die Sonderfunktion und -rolle der Einbildungskraft in der Philosophie Kants und der phänomenologischen Kantdeutung Heideggers beruft. Heidegger betont wiederholt, dass seine Arbeit keine philosophische Anthropologie, oder besser: keine solche im gewöhnlichen Verständnis philosophischer Anthropologie ist. Er argumentiert, dass die Grundaufgabe der KrV in einer Grundlegung der Metaphysik liege, die die Möglichkeit eröffne, eine Fundamentalontologie zu bilden. „Fundamentalontologie heißt diejenige ontologische Analytik des endlichen Menschenwesens, die das Fundament für die zur „Natur des Menschen gehörige“ Metaphysik bereiten soll.“34 Die Fundamentalontologie ist in Wirklichkeit die Metaphysik des menschlichen Daseins, die nicht auf der Suche nach dem metaphysischen Menschenwesen ist, sondern auf die Entfaltung der Tatsache abzielt: Das Menschenwesen ist metaphysisch. In diesem Sinne soll für Heidegger seine Arbeit nicht als eine philosophische Anthropologie betrachtet werden, die versucht, die Frage „Was ist der Mensch“ in einer psy-
33 Vgl. ebd. S. 157–159. 34 Ebd., S. 1.
34 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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chologischen oder erkenntnistheoretischen Art und Weise zu beantworten. Allerding bin ich der Meinung, dass seine Arbeit, die beabsichtigt, eine Vereinigung seiner Philosophie mit der kantischen zu ermöglichen, ebenfalls als eine „besondere“ philosophische Anthropologie verstanden werden kann – Die negativen und positiven Überlegung zu diesem Thema werden im Abschnitt 4.3.3.2 dargestellt. Diese besondere philosophische Anthropologie, die eine ursprüngliche Erklärung der Möglichkeitsbedingungen des daseinsmäßigen Lebens in Bezug auf sein zeitliches Existenzial anstrebt, ist untrennbar vom Wesenscharakter der Einbildungskraft. Schon in Heideggers Kantdeutung des Deduktions- und Schematismuskapitels der KrV (vgl. T3, T4 und T6, Abschnitt 3.3, 3.4 und insbesondere 3.6.1) wird die innere Beziehung beziehungsweise das wesentliche aufeinander Bezogensein der Zeit(lichkeit) und der Einbildungskraft entfaltet. Dieses Bezogensein konfrontiert uns mit der Tatsache, dass die Vorstellungstätigkeit immer ein zeitlich-bildliches Verfahren (deswegen nennt Heidegger das Schema ein Schema-bild) ist. Im Verfahren einer Erinnerung der Vergangenheit, eines Entwurfs auf die Zukunft oder eines Urteilens für die Gegenwart muss jedes Dasein dieses zeitbildende sowie bilderzeugende Erkenntnisvermögen, die Einbildungskraft, die sowohl die produktive und reproduktive als auch die empirische und transzendentale einschließt, um Hilfe bitten. In diesem Sinne sind die Einbildungskraft und die Zeit der gleichursprüngliche Ursprung des daseinsmäßigen Lebens für die Ermöglichung eines ontologisch-existenzialen Lebensbildes. Die genaue Skizze und die Punkte dieser kantisch-heideggerschen philosophischen Anthropologie weden von mir in den Unterabschnitten des Abschnittes 4.3 eingeführt, der sich generell auf die Idee der existenzialen Kategorien (oder Kategorien des Lebens) und auf die Beiträge zur Urteilstheorie in der Kantdeutung Hannah Arendts beruft. In diesen Abschnitten versuchte ich darzustellen, dass 1.) durch Tze-wan Kwans Reformulierung der unveröffentlichten Idee Otto Pöggelers, der Kategorien des Lebens, eine kantisch-heideggersche Theorie der Kategorien, die auf der inneren Beziehung zwischen Einbildungskraft und Zeit beruht, möglich, und 2.) durch Arendts Kantdeutung eine kantisch-heideggersche Theorie des Urteilens bezüglich der weiter interpretierten Sonderfunktionen der Einbildungskraft plausibel ist. In dieser Darstellung argumentiere ich, dass ein dritter Weg, der die Einsichten der beiden Philosophien in Einklang bringt, gangbar ist. Darüber hinaus kann man auch diskutieren, ob die durch die Einbildungskraft gegründete phänomenologische Kantdeutung theoretisch und philosophisch gerechtfertigt ist.
35 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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7. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese Arbeit eine Neuinterpretation anstrebt, die sich durch die Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Kantdeutung Heideggers auf die Rolle der Einbildungskraft konzentriert. Ich untersuche die Möglichkeit, die Philosophien Kants und Heideggers, die in verschiedenen Dimensionen heterogen sind, im Rahmen eines philosophischen Themas – Einbildungskraft als Orientierungskraft – miteinander in Einklang zu bringen. Ich werde argumentieren, dass in einem besonderen Sinne Heidegger, insbesondere vor der problematischen „Kehre“, ein Kantnachfolger und -deuter – aber kein Kantianer (vgl. Abschnitt 1.4) – ist, der versucht, die kantische Aufgabe durch eine Umdeutung hinsichtlich seines eigenen Problembewusstseins zu vollenden. In Heideggers Augen spielt der Begriff der Einbildungskraft die Hauptrolle, nicht nur um die Einheit der Erkenntnisvermögen zu begründen, sondern auch um die Dimension der Zeitlichkeit des Daseins einzuführen. Kant ist für ihn der erste und einzige Philosoph in der abendländischen Philosophiegeschichte, der der Bedeutung der Zeitlichkeit näherkommt und die Grundlegung einer Metaphysica generalis feststellt.35 Das Gesamtbild seiner Kantdeutung ist auf vielen Ebenen inspirierend und herausfordernd, aber für viele Kantforscher auch höchst umstritten und unpopulär. Von Interessesollte seine Kantforschung sowohl für Kantforscher wie auch Heideggerforscher sein, jedoch ist sie bei beiden fatalerweise unbeliebt. Dieses Phänomen nenne ich „die Doppelvergessenheit der Kantdeutung Heideggers“ (vgl. Abschnitt 1.1.3). Vor diesem Hintergrund werde ich mich mit Heideggers Kantdeutung, vor allem mit seiner Positionierung der Einbildungskraft als dem dritten Grundvermögen und mit seiner Umkehrung des Vorrangs der Erkenntnistheorie vor der Ontologie auseinandersetzen. Auf diese Weise erarbeite ich meine Kantinterpretation der Einbildungskraft, die versucht, die Einbildungskraft als Orientierungskraft ausgehend von Heideggers vorangehender phänomenologischer Kantdeutung auszulegen. Ich möchte darstellen, dass Heideggers Kantdeutung die Implikation beinhaltet, dass die Einbildungskraft die vorgängige Rolle für die Orientierung des daseinsmäßigen Lebens spielt. Einbildungskraft setzt nicht nur die ontologische Begründung der Erkenntnis beziehungsweise der Seinsverfassung, sondern auch die existenzialen Möglichkeiten des geworfenen Lebens voraus. Diese Möglichkeiten bilden das Sein des Daseins
35 Vgl. SZ, S. 23 und KPM, S. 1–9; S. 13–18. Also Gordons Anmerkung auf die Notiz n. 13.
36 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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vor, wie es sich in seinem Sein hinsichtlich seiner eigenen Geschichte und Situation realisieren kann. Diese Bedeutung kann vornehmlich in einem Punkt der Kantdeutung Arendts gesehen werden, der sich darauf bezieht, dass die Einbildung der Ursprung der „werteingebetteten Vorstellung“ ist. Die Einbildungskraft ist eine „geschmackvolle“ Kraft, mit der das Dasein im Voraus seine existenzialen Möglichkeiten in endlichen Richtungen limitiert sowie sich orientiert. Daher interpretiere ich die Einbildungskraft als Orientierungskraft.
8. Ich positioniere meine Arbeit als einen Versuch der phänomenologischen Interpretation der kantischen Philosophie, um die Möglichkeit einer neuen Kantdeutung zu eröffnen.36 Die Untersuchung und Auseinandersetzung mit Heideggers Kantdeutung ist das Hilfsmittel, das den Brückenschlag zwischen meiner Untersuchung und dem phänomenologischen Problembewusstsein bewerkstelligen soll. Was ich auf dem Gebiet der kantischen Philosophie untersuchen möchte, ist die Möglichkeit einer tiefgründigeren Bedeutung der menschlichen Freiheit zur Vielfalt des Wertes, die ich durch die Modifikation und Ergänzung der phänomenologischen Untersuchung Heideggers enthüllen möchte. Obwohl Heidegger seine Kantdeutung hauptsächlich auf die Interpretation der ersten Hälfte der KrV fokussiert, ist der Anwendungsbereich seiner Deutung nicht auf die Erkenntnistheorie und die theoretische Vernunft beschränkt. In § 30 des Kant-Buchs unternahm Heidegger den Versuch, seine Deutung der Einbildungskraft auf die praktische Vernunft anzuwenden, doch er entfachte keine Debatte über das transzendentale Wesen der menschlichen Freiheit, sondern stattdessen über die Beziehung zwischen der Person, der Achtung und dem Gefühl. Obschon seine Argumentation kurz und bündig ist, wird doch deutlich, dass er den Anwendungsbereich seiner Deutung der transzendentalen Einbildungskraft auf andere Bereiche der kantischen Philosophie ausweiten wollte. Außerdem entdeckte er die Spannung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit des Menschen entsprechend dem Wesen der theoretischen und praktischen Vernunft. Zwar bin ich mir der Wich-
36 Die kantische Philosophie und die Philosophie Kants sind für mich unterschiedliche Begriffe. In diesem Kontext bezieht sich die Philosophie Kants hauptsächlich auf die Wirklichkeit einer Deutung zu Kant, die kantische Philosophie aber auf die Möglichkeit einer Kantdeutung.
37 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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tigkeit des Versuchs Heideggers bewusst, aber ich begnüge mich nicht mit seiner allzu sehr vereinfachenden Erklärung und habe dazu eine andere Betrachtungsweise. Meiner Ansicht nach spielt die Einbildungskraft eine Schlüsselrolle in der kulturellen Praxis (angelehnt an Ernst Cassirers Kulturphilosophie), durch die sich Menschen ihres einzigartigen Stellenwertes im Kosmos versichern. Um dieser Ansicht nahezukommen, versuche ich, eine phänomenologische Kantdeutung aus der menschlichen Spontaneität anstatt der Passivität zu deduzieren. Das größte Problem der Kantdeutung Heideggers liegt in seiner Überbetonung der menschlichen Passivität und Endlichkeit, mit welchen wir, wie jedes Seiende, unser Leben führen. Der Höhepunkt seiner Kantdeutung liegt im inneren Bezogensein, das zwischen (transzendentaler) Einbildungskraft und Zeit(lichkeit) besteht. Diesen Zusammenhang interpretiert er dahingehend, dass der Zeitcharakter beziehungsweise die Zeitlichkeit das ursprüngliche Wesen der Einbildungskraft sei. Diese Enthüllung bringt uns unvermeidlich zum Ergebnis, dass das „Wesen“ des menschlichen Daseins in der ursprünglichen Zeit, nämlich der transzendentalen Einbildungskraft, gründet. Darüber hinaus könnte man von diesem Zeitwesen ausgehend folgern, dass das Dasein im Voraus „radikal endlich“ ist. Die zeitliche Endlichkeit des menschlichen Daseins ist im von Kant enthüllten endlichen Zeitwesen der menschlichen Erkenntnis verwurzelt. Endlichkeit ist zweifellos der terminus a quo sowohl für die menschliche Erkenntnis als auch für die menschliche Existenz – jedoch sollte sie für mich nicht der terminus ad quem sein.
9. Unter diesem Gesichtspunkt können die Gemeinsamkeit ebenso wie der Grundunterschied zwischen Kant und Heidegger deutlich erkannt werden. Kant und Heidegger betonen beide die Endlichkeit, jedoch hat Heidegger einen großen Zweifel an der Spontaneität des Menschen, die sich auf die „Schöpferkraft“ in puncto der menschlichen Freiheit im Allgemeinen bezieht. Am Ende des Kantbuchs schreibt er: Hat es einen Sinn und besteht ein Recht, den Menschen auf Grund seiner innersten Endlichkeit – daß er der „Ontologie“, d. h. des Seinsverständnisses, bedarf – als „schöpferisch“ und somit als „unendlich“ zu begreifen, wo doch gerade die Idee des unendlichen Wesens nichts so radikal von sich stößt wie eine Ontologie?
38 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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Läßt sich aber die Endlichkeit im Dasein auch nur als Problem entwickeln ohne eine „vorausgesetzte“ Unendlichkeit? Welcher Art ist überhaupt dieses „Voraus-setzen“ im Dasein? Was bedeutet die so „gesetzte“ Unendlichkeit?37 Diese Fragen zeigen entschieden seine Zweifel an der Kantdeutung auf, die die Seite der menschlichen Unendlichkeit und Spontaneität betont. Durch die Daseinsanalyse in SZ wissen wir im Voraus, dass das Dasein immer in die Welt geworfen worden ist. Diese Geworfenheit des Daseins ist kein Attribut des Seienden, sondern der existenziale Grundmodus des menschlichen Daseins; sie bildet zusammen mit der Rede und dem Verstehen die existenziale Grundstruktur des Seienden, nämlich die Faktizität des Daseins. Das Dasein ist als Existenz durch seine Geworfenheit und seinen Entwurf bestimmt, die immer vorausgesetzt sind. Kein Dasein hat die Möglichkeit eines voraussetzungslosen Entwurfs seines Lebens, sondern die Möglichkeit des Entwurfs ist ihm aufgrund seiner Geworfenheit schon geschichtlich vorgegeben. Der Entwurf ist immer der entworfene Entwurf. In diesem Sinne ist die Geworfenheit des Daseins eine konstitutive Bedingung des Seins und Seienden, die alle Erfahrung, Erkenntnis, moralische und ästhetische Erfahrungen usw. einschließt, welche wiederum im Vorhinein ontologisch gegründet werden. An dieser Stelle wird ersichtlich, dass es der Aufteilung Heideggers gemäß unvermeidlich ist, dass die Geworfenheit ontologisch ursprünglicher als alle von Kant bestimmten transzendentalen Bedingungen der menschlichen Erfahrung ist, insbesondere die absolute Spontaneität des Menschen. Wenn wir sagen, dass im ontologischen Sinne die Geworfenheit des Daseins primärer und ursprünglicher als die Spontaneität des Menschen ist, verlieren wir in der Tat die absolute Stellung der transzendentalen Freiheit, die im Prinzip von allen Bedingungen unabhängig ist. Es scheint so, dass die Grundstellung der kantischen Philosophie – die transzendentale Freiheit als der Schlussstein des ganzen kritischen Systems – mit der phänomenologischen Einsicht Heideggers nicht zusammenführbar ist. Gibt es aber dennoch eine Möglichkeit, die philosophische Einsicht der beiden Philosophen zu bewahren? Um diesen inneren Konflikt zwischen menschlicher Spontaneität und Geworfenheit zu lösen, nehme ich die „Zweideutigkeit“ beziehungsweise „Mehrseitigkeit“ der Einbildungskraft in den Blick, und davon ausgehend werde ich die Einbildungskraft als Orientierungskraft interpretieren.
37 KPM, S. 246.
39 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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In der Kantforschung hat die Auseinandersetzung über die Zugehörigkeit der Einbildungskraft eine lange Geschichte. Gehört die Einbildungskraft zum Bereich der Sinnlichkeit oder des Verstandes? Sollen wir die Einbildungskraft dem rezeptiven Erkenntnisvermögen oder dem spontanen zuschreiben? Zu all diesen Fragen werde ich keine polarisierende Stellung beziehen. Ich möchte lieber fragen, was diese Demarkation und Zuteilung möglich macht. Die isolierte Analyse der Erkenntnisvermögen ist die Eigenart der Transzendentalphilosophie, denn dadurch kann die Abgrenzung der Erkenntnis aufgezeigt werden und, was wichtiger ist, die objektive Gültigkeit des Gebrauchs der Erkenntnisvermögen gerechtfertigt werden, nämlich die quaestio juris. Jedoch sollte man sich dabei zugleich bewusst sein, dass alle isolierten Analysen und Demarkationen eine vorliegende Einheit voraussetzen müssen. Obschon Kant die Elemente der Erkenntnis gesondert analysiert hat, sollten wir uns daran erinnern, dass auf der Ebene des faktischen Gebrauchs alle Vermögen in Übereinstimmung und Einheit zueinanderstehen. Dieser einheitliche Gebrauch der Vermögen setzt ein grenzüberschreitendes Feld beziehungsweise einen Spielraum für die heterogenen Vermögen voraus, in dem alle Vermögen sichtbar und analysierbar werden. Dieses Feld oder der Spielraum müssen aus dem Vermögen kommen, das über einen zweideutigen beziehungsweise mehrseitigen Charakter verfügt. Die Einbildungskraft ist dieses Vermögen. Ich konzipiere hier die Einbildungskraft nicht einfach als einen „Vermittler“ oder ein „Drittes“ oder eine „gemeinschaftliche Wurzel“ zwischen Sinnlichkeit und Verstand, wie es oft in der Diskussion der Rolle der Einbildungskraft in der Kantforschung ausgeführt wird, sondern als den Ursprung eines Horizonts, als die gleichursprüngliche Voraussetzung mit den anderen Erkenntnisvermögen, aus dem man die Entstehung der vielfältigen Erfahrungen ersehen kann. Angelehnt an Heideggers Begriff Spielraum entwerfe ich die Einbildungskraft als den Ursprung des mit anderen Erkenntnisvermögen zusammen entstehenden Horizonts in Bezug auf den Begriff „Feld“, einem Spielraum für die reflektierende Urteilskraft, der sich von den Begriffen „Boden“ und „Gebiet“, die sich auf den Ausführungsort der bestimmenden Urteilskraft beziehen, in der dritten Kritik unterscheidet. Dieser Horizont spielt eine Schlüsselrolle in der Verbindung sowohl zwischen dem apriorischen und empirischen Feld als auch zwischen bestimmendem und reflektierendem Urteil. Dadurch ermöglicht er den Prozess des Schematismus, der Typik sowie der Symbolisierung und erlaubt es, einen Begriff durch Ana-
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logie mit etwas Sinnlichem fassbar zu machen.38 Die Einbildungskraft ist in diesem Prozess nicht nur von Bedeutung für die Entstehung und Entfaltung des Gegenstands, sondern auch in einem breiteren Kontext für das Auffinden der Sachen, ja sogar für die Orientierung des existentialen Entwurfs.39 Sie bietet einerseits den Spielraum für Reflexion, anderseits die vorgängigen, endlichen und möglichen Richtungen, die die Orientierung für menschliches Dasein herstellen. Es ist mir durchaus bewusst, dass sich der Begriff Orientierung auf die räumliche sowie die zeitliche Dimension bezieht, in der man sich in einer „bestimmten Situation“ orientiert. Wenn wir über Orientierungskraft sprechen, so bedeutet dies, dass diese Kraft uns helfen kann, die konkrete, eigentliche Möglichkeit für das Dasein in einer bestimmten Situation anzuzeigen.
10. Der Aufriss der Abhandlung Die vorliegende Arbeit besteht aus vier Teilen. Der erste informiert über den Hintergrund in Hinsicht auf die Begriffsentwicklung der Einbildungskraft in der Tradition der kantischen Philosophie. Ich werde kurz darstellen, in welchem Sinne die Einbildungskraft ein problematischer Begriff ist und wie die deutschen Idealisten diesen Begriff übertragen haben. Der Hintergrund wird erst bei den Höhen und Tiefen dieses Interesses an der Einbildungskraft im Kreis der Kantforschung geschildert. Danach erkläre ich, dass die Einbildungskraft problematisch ist, da sie mit dem Wurzelproblem eng verbunden ist. Das Wurzelproblem bildet den Schwerpunkt
38 Den exakten Unterschied zwischen Heideggers Spielraum und Husserls und Gadamers Horizont diskutieren wir hier. Mit dieser kurzen Anmerkung soll an dieser Stelle nur hervorgehoben werden, dass der Begriff Horizont eine innere Beziehung zur Subjektivität hat, und gleichwohl reserviert Heidegger ihn sich immer für den Begriff Subjektivität. 39 Rudolf A. Makkreel hat eine ähnliche Meinung in Bezug auf die Funktion der Einbildungskraft, siehe: Rudolf A. Makkreel: Part Three: Judgment and Reflective Interpretation. In: Rudolf A. Makkreel: Imagination and Interpretation in Kant. The Hermeneutical Import of the Critique of Judgment. Chicago und London 1990, S. 111–171; siehe ebenso seinen Aufsatz: Rudolf A. Makkreel: Recontextualizing Kant’s Theory of Imagination. In: Imagination in Kant’s Critical Philosophy. Hg. von Michael L. Thompson. Berlin und Boston 2013. Er sagt beispielsweise: „Cognitively, the understanding seeks and the imagination finds. That is, the understanding seeks objects for its concepts, but we need the imagination to give us the direction for finding them“ (ebd., S. 208–209). Ich konzipiere die Bedeutung von „to give us the direction for finding“ als eine Orientierung.
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der Kantforscher, die auf der Suche nach der „ursprünglichen“ Einheit sind, die für viele Kantnachfolger eine unvollendete Aufgabe der Philosophie Kants ist. In damaliger Zeit wurde die Einbildungskraft in verschiedener Hinsicht als der Schlüssel zur Lösung dieser Aufgabe konzipiert, aber allmählich verringerte sich der Stellenwert der Einbildungskraft in den Kantstudien, vornehmlich unter dem Einfluss der erkenntnistheoretischen Kantdeutung. Vor diesem Hintergrund erkläre ich, aus welchem Grund und welcher Perspektive man die ungewöhnliche Kantdeutung Heideggers als bedeutsame berücksichtigen muss. Im zweiten Teil werde ich zuerst den Hintergrund des Problembewusstseins der Kantdeutung Heideggers darstellen. Ich möchte beweisen, dass Heidegger vor seiner berühmten „Kehre“ die husserlsche Phänomenologie mithilfe der Philosophie Kants übersteigen wollte. Er unternahm es, die kantische Philosophie mit seinem eigenen philosophischen Vorhaben, das sich an der Seinsfrage als solcher orientierte, zu verknüpfen. Daher werden wir seinen frühen philosophischen Orientierungspunkt, nämlich den Begriff Leben und den Einfluss von Husserls Phänomenologie und Kants Transzendentalmethode diskutieren. Wir werden ebenfalls darauf hinweisen, dass es eine große innere Spannung zwischen dem Transzendentalismus und seiner philosophischen Zielsetzung gibt, die letztlich die Ursache ist, eine radikale „Kehre“ seiner philosophischen Untersuchung durchzuführen. Außerdem werde ich auf seinen Streit mit den Neukantianern, insbesondere mit Cohen und Cassirer, eingehen, wodurch wir den Hauptdisput über die Kantdeutung Heideggers vorab skizzieren. Mit dem so notwendig vorbereiteten Hintergrund, bestehend aus den ersten beiden Kapiteln, nenne ich im dritten Kapitel folgende sieben Hauptthemen gemäß dem Kant-Buch und den anderen Werken: (T1) Kants KrV soll als eine Grundlegung der Metaphysik konzipiert werden. (T2) Erkenntnis ist primär Anschauung bezüglich des Problems der Endlichkeit. (T3) Die Grundabsicht des Deduktionskapitels ist die Enthüllung der Transzendenz des Daseins. (T4) Das Schematismuskapitel ist das Kernstück der KrV. (T5) Die Einbildungskraft als das dritte Grunderkenntnisvermögen ist die gemeinschaftliche Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand. (T6) Die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit. (T7) Endlichkeit soll einen Vorrang in der Kantdeutung haben. Wir werden jedes Thema detailliert diskutieren, damit wir nicht nur die Argumentationen, sondern auch die Grundabsicht der Umdeutung
42 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Einleitung
Heideggers und die möglichen Konflikte mit der gewöhnlichen Kantdeutung nachvollziehen können. Was jedoch wichtiger ist: Wir können die Implikationen seiner Erklärung und Umdeutung auslegen, durch die meine weitere Deutung im vierten Kapitel vorbereitet wird. Im letzten Kapitel werde ich zunächst besprechen, wie schwer es ist, eine Vereinigung der Einsichten der Philosophien Kants und Heideggers durchzuführen. Es besteht grundsätzlich eine große Spannung zwischen beiden Philosophien, die im tiefgehenden Unterschied ihrer Denkweisen verwurzelt ist. Ich versuche zu beweisen, dass Heidegger sich große Mühe gab, diese Vereinigung anhand der Modifikation der Grundeinsichten Kants zu realisieren. Er ersetzt die kopernikanische Wende Kants durch seine eigene kopernikanische Wende, die nochmals die Stellung zwischen Ontologie und Epistemologie umkehrt und ebenfalls die Bedeutung einiger Hauptbegriffe wie „Wahrheit“, „Welt“ und „Gegebenheit“ umdeutet, damit die Einsichten Kants seinem System zugeeignet werden können. Jedoch hat diese „Aneignung“ den Preis, dass der tiefgehende Unterschied der Orientierungsbegriffe zwischen Kant und ihm völlig enthüllt wird. Die höchste Stellung der menschlichen Vernunft und Freiheit ist die unerschütterliche Grundlage der Philosophie Kants. Aber Heideggers Kantdeutung würde die Tatsache verändern, dass die Einbildungskraft in gewissem Sinne die „höchste“ Möglichkeitsbedingung oder der „letzte“ Grund ist. Die Vernunft, die nicht mehr als selbständig und autonom angenommen wird, muss den „Ab-grund“ ansehen. Die Idee des Letztgrunds oder der Suche nach der Letztbegründung soll verschwunden sein. Es gibt keine voraussetzungslose Voraussetzung, die als der Ausgangpunkt der Erkenntnis oder Moralität verstanden wird. Alle sind geworfen, ebenso wie die menschliche Freiheit die geworfene und befindliche Freiheit sein soll. Dieses Ergebnis enthüllt das Ende der Kantdeutung Heideggers. Bis hierher soll seine Kantdeutung nicht als eine Kantdeutung qualifiziert werden, da sie sich dem wichtigsten Grundstein der Philosophie Kants, der höchsten Stellung der Freiheit, entzieht. Jedoch glaube ich, dass man durch einige Modifikationen einen dritten Weg finden kann. Dieser dritte Weg hängt von der Idee ab, dass die Kantdeutung Heideggers als eine philosophische Anthropologie konzipiert werden kann. Im Rahmen der „besonderen“ philosophischen Anthropologie argumentiere ich, dass unter Zuhilfenahme der Idee der Kategorien des Lebens und der Beiträge der Kantdeutung Arendts hinsichtlich des Sondercharakters der Einbildungskraft eine kantisch-heideggersche Anthropologie doch plausibel sein kann. Im Appendix füge ich eine für deutsche Akademiker ferne Perspektive zur Auseinandersetzung mit Heideggers Kantdeutung hinzu, die von Mou
43 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Einleitung
Zongsan (牟宗三) entwickelt wurde. Mou fokussiert in seiner Kantdeutung die unendliche Seite der menschlichen Moralität. Er preist Heideggers Interpretation des Wesens des menschlichen Daseins als „Seinkönnen“ an. Außerdem betont er wie Heidegger die Endlichkeitsvoraussetzung als die Grundvoraussetzung der kantischen Philosophie, lehnt es aber ab, diese Voraussetzung auf die ganze Philosophie Kants anzuwenden. Er spricht an, dass für Kant der Mensch „endlich, aber unendlich sein zu können“ ist. Darüber hinaus kritisiert er einerseits Heidegger dafür, die Dimension der Selbständigkeit, Unendlichkeit, Übersinnlichkeit und Überzeitlichkeit der Moralität zu entziehen, anderseits Kant dafür, die Möglichkeit des positiven Gebrauchs intellektueller Anschauung abzulehnen. Durch die allgemeine Einsicht der Schulen der chinesischen Philosophie, die positiv die Wirklichkeit der intellektuellen Anschauung anerkennen, kann man, so glaubt Mou, Kehrseiten der kantischen Philosophie abändern und die abendländische mit der asiatischen Philosophie organisch verbinden. In gewissem Sinne sieht Mou, wie ich schlussfolgere, Heidegger als seinen Mitbewerber in der Kantdeutung, der sich mit ihm mit dem Thema der menschlichen Endlichkeit und des Wesenscharakters des menschlichen Daseins auseinandersetzt. Aufgrund dieser weniger wahrgenommenen Auseinandersetzung können wir das Für und Wider der Kantdeutung Heideggers abwägen. Ich glaube, dies kann besonders wertvoll für deutsche akademische Kreise sein, wie Hans Feger betont: One of the most difficult things in life – not just in philosophy – is to gain some distance from one’s own point of view. Only when we do this are we in a position to perceive voices from traditions that are foreign to us and to understand them as authentic voices of foreign thinking. To think as a philosopher in this way means that one’s own origin is no longer of importance. One then becomes a member of a global republic of intellectuals that has its own organizing principle and is growing to become a family of its own.40
40 Hans Feger: Chinese Philosophy – Philosophy in China In: Yearbook for Eastern and Western Philosophy, Bd. 1. Hg. von Hans Feger u. a. Berlin 2016, S. 24.
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Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
1.1 Die Vernachlässigung der Einbildungskraft 1.1.1 Die Höhen und Tiefen der Einbildungskraft Im Verhältnis zu anderen Themen der Kantforschung sind die Untersuchungen zur Einbildungskraft unzureichend, da es häufig nur darum geht, der Einbildungskraft eine unbedeutende oder mindere Position im Vergleich zu den anderen Seelenvermögen zuzuweisen, die Synthesisfähigkeit der Einbildungskraft lediglich auf das erkenntnistheoretische Gebiet zu beschränken oder ihre Rolle als nur anhaftende Funktion des reinen Verstandes zu marginalisieren. Die Einbildungskraft spielt nicht nur keine unabhängige Rolle in der theoretischen Philosophie Kants, sondern auch in der praktischen Philosophie, der Ästhetik usw. Sie ist kaum als ein eigenständiges Grundvermögen unseres Denkens zu verstehen und lässt sich daher „natürlich“ keiner eigenständigen Kritik in der kritischen Philosophie Kants unterziehen. Aus diesem Grund scheint es so, dass die Vernachlässigung der Einbildungskraft in der Tradition der kantischen Philosophie ein „verstehbares“ Phänomen ist. Diese Ansicht ist auch in der heutigen Kantforschung weit verbreitet. Diese Vernachlässigung erfolgte aber nicht in der Rezeption unmittelbar nach dem Erscheinen der Kritiken Kants, die wiederum seit dem 18. Jahrhundert andauert. Stattdessen lässt sich von einer „Blütezeit des Begriffs der Einbildungskraft“ sprechen, in der die Einbildungskraft eine zentrale Rolle in den verschiedenen Diskussionskontexten wie Anthropologie und Psychologie, Ästhetik und Kunsttheorie, ganz zu schweigen vom Thema des Geistes im deutschen Idealismus, gespielt hat.41 Einige Kantforscherinnen und -forscher, wie Jane Kneller, sind ebenfalls der Meinung, dass die Einbildungskraft die Sonderstellung erhält, die divergierenden Einsichten zwischen der rationalistischen und deutschen romantischen Ästhetik im 18. Jahrhundert abzustimmen.42 Damals hatten viele Denker
41 Vgl. Matthias Wunsch: Einbildungskraft und Erfahrung bei Kant, S. 18. 42 Vgl. Jane Kneller: Kant and the Power of Imagination. Cambridge 2007, S. 1–4. Vgl. auch Andrew Bowie: „ It is this account, the ‘transcendental deduction of the cat-
45 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
einen guten Eindruck von der Einbildungskraft hinsichtlich ihrer einzigartigen Funktion für die menschliche Seele. Jedoch ließen der gute Eindruck und das Interesse an der Einbildungskraft nach der sogenannten Blütezeit dieses Begriffs nach. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Matthias Wunsch weist beispielweise darauf hin, dass ein „Grund für den allgemeinen Niedergang des Begriffs der Einbildungskraft“ darin bestehe, dass die Einbildungskraft „bei einigen Autoren ausschließlich negativ-kritisch (Maimon, Jacobi), häufiger jedoch ambivalent bewertet“ wurde.43 Der Begriff der Einbildungskraft wurde im Zusammenhang mit „Träumen, Wahnsinn, Geisteskrankheiten, Aberglaube und Fanatismus“ negativ gedeutet.44 Ein weiterer Grund besteht darin, dass „die spekulativen Systementwürfe des deutschen Idealismus, die der Einbildungskraft fundamentale Bedeutung beimessen, schon für die folgende Generation von Philosophen ihre Überzeugungskraft einbüßen.“45 Die aufwertende Schwerpunktänderung von der theoretischen Philosophie hin zur Ästhetik oder Psychologie beziehungsweise Anthropologie ist einerseits für dieses Phänomen verantwortlich, und andererseits liegt der Grund in der philosophischen Entwicklung, die sich meistens an der Kritik und dem Wunsch nach Überwindung der Philosophie Kants orientierte. Die damaligen Philosophen wie Jacobi, Fichte, Hegel usw. versuchten, eine kritische Rezeption der kantischen Philosophie durchzuführen. Nach Aussage von Dieter Henrich war im damaligen Zeitraum ein wichtiges Thema die Bemühung darum, Spinozas und Kants Denkweise zu vereinigen.46 Ironischerweise führen die Ergebnisse dieser Bemühungen nicht immer zu einem „besseren“ – im Sinne eines exakten und unverzerrten – Verständnis des kantischen Denkens. Stattdessen finden sich gerade bei den „Kantnachfolgern“ oder „-deutern“ (zu unterscheiden von „Kantianern“, wir werden dies in einem späteren
43 44 45 46
egories’, which will have a major effect on German Idealism and early Romanticism, and thus upon the history of aesthetics“ (Andrew Bowie: Aesthetic and Subjectivity. From Kant to Nietzsche. 2. Aufl., Manchester und New York 2003. S. 20). Wunsch: Einbildungskraft und Erfahrung bei Kant, S. 19. Ebd. Ebd. Vgl. Dieter Henrich: Between Kant and Hegel. Lectures on German Idealism. Hg. von David S. Pacini. Cambridge, Massachusetts 2008, insbesondere den zweiten Teil „Kant’s Early Critics“, hier die Kapitel 6 und 7. Henrich schreibt: „This younger generation committed itself to the ‘Spinozism of freedom’“ (ebd. S. 95), was bedeutet, dass die junge Generation kollektiv auf eine Vereinigung der Philosophie Kants und Spinozas zielt.
46 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
1.1 Die Vernachlässigung der Einbildungskraft
Kapitel diskutieren) viele Versuche, das theoretische Potenzial, das von Kant selbst beschränkt wird, zu entfesseln. Leider sind diese Versuche im Sinne einer Weiterentwicklung der kantischen Philosophie nicht immer gelungen und haben – was für unsere Thematik wichtiger ist –das theoretische Potenzial der Einbildungskraft nicht vollständig entfaltet.47
1.1.2 Die Vorliebe für den Intellektualismus und ihr Einfluss auf die Lesart der Philosophie Kants in der Philosophiegeschichte Betrachtet man die philosophische Begriffsgeschichte in der Retrospektive, so ist es verständlich, dass Begriffe wie Vernunft, Verstand, Wille usw. im Mittelpunkt der philosophischen Diskussion stehen.48 Die Einbildungskraft, die oft als ein sinnliches Erkenntnisvermögen aufgefasst wird, ist kein vorrangiges Thema in der überlieferten abendländischen Philosophie. Möglicherweise kann man diesen Status quo der altgriechischen Philosophie zuschreiben, die der Sinnlichkeit und der Wahrnehmungswelt in unfairer Weise misstraut. Parmenides aus Elea begründete die philosophische Denkweise, die die Sinnlichkeit als unwirklichen trügerischen Schein bezeichnet. Die Idee des Weges von Meinung/Schein (δόξα, Doxa) und Wahrheit (ἀλήθεια, Aletheia) ist der begriffliche Ursprung der Trennung der sinnenfälligen „unteren“ Welt von der intelligiblen „oberen“ Welt. Platon, der unbestritten von Parmenides beeinflusst wurde, propagierte und verstärkte die Idee der zwei Welten. Durch Platons Ideenlehre etablierte sich die Auffassung, dass jedes Phänomen der physischen Welt, das heißt den vergänglichen Gegenständen, bloß einen Anteil an der Ideenwelt, der unvergänglichen Gegenstände, habe. Sinnliche Welt und Sinn-
47 Hier verweise ich auf Wunschs Aussage: „Dass Kant der Einbildungskraft in seiner kritischen Philosophie offenbar eine maßgebliche Funktion zugewiesen hatte, musste vor dem Hintergrund des skizzierten allgemeinen Niedergangs des Begriffs als suspekt oder einfach nur obsolet erscheinen. Dieser Niedergang führte dazu, dass man das theoretische Potential, das Kant im Begriff der Einbildungskraft sah, im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht mehr zu erkennen vermochte. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Begriff auch für die Kantliteratur dieser Zeit uninteressant wird“ (Wunsch: Einbildungskraft und Erfahrung bei Kant, S. 20). 48 Beispielsweise wird das Thema der Einbildungskraft auch in Heinz Heimsoeths Schrift: Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik und der Ausgang des Mittelalters nicht behandelt (vgl. Heinz Heimsoeth: Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik und der Ausgang des Mittelalters. 8. Aufl., unveränd. reprograf. Nachdr. der 3., durchges. Aufl., Darmstadt 1987).
47 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
lichkeit werden seither als geringwertig betrachtet. Das Konzept zweier einander gegenüberstehender Welten hat die Tradition der abendländischen Philosophie stark geprägt. Man kann dies als den Ursprung des Intellektualismus beziehungsweise, mit dem Ausdruck Heideggers, als die „philosophische Explikation im intelligiblen Charakter“ bezeichnen.49 Heidegger ist der Meinung: „[O]bwohl Kant in gewisser Weise eine Eigenständigkeit der Sinnlichkeit betont, hat er doch nicht das Zentrum der methodischen Problementwicklung in sie verlegt.“50 Er weist darauf mit folgenden Worten hin: Man ist heute leicht geneigt, dieses bei Kant und seinen Nachfolgern vorherrschende Übergewicht des Geistes vor dem Leibe auf Kosten ihrer Weltanschauung zu setzen. Eine solche liegt freilich in jeder wissenschaftlichen Philosophie, bei Plato und Aristoteles so gut wie Hegel, und es wäre ein elender Tropf von einem Philosophen, der nicht in solcher stände.51 Es ist für Heidegger noch problematisch, ob die Philosophie als solche nur durch den Vernunftbegriff begründet werden kann. Jedoch ist die Vorliebe dafür seit langem in der Philosophie Platos verwurzelt: Aus der Helle des Begriffs, mit Hilfe des Begriffs zielt alle begriffliche echte Erkenntnis in das Vorbegriffliche. Ich kann nur interpretieren und verstehen im Rückgang aus dem Hellen ins Dunkle. Mit den Mitteln der Dunkelheit kann ich nicht ins Helle geben; wenn ich es versuche, werde ich darin geblendet. Wohl aber umgekehrt ist die Höhle des Daseins und selbst alles Schattenhafte und Flüchtige in ihr nur faßbar im Licht. Platon hat damit aller Philosophie den Weg gewiesen. Das Platonische Höhlengleichnis läßt uns somit auch den berechtigen Vorrang der transzendentalen Apperzeption in der Explikation der Subjektivität bei Kant verstehen.52 Die Vorliebe für den Intellektualismus in der Tradition der abendländischen Philosophie ist ein peripherer Grund, warum die als sinnliches Vermögen angesehene Einbildungskraft in Kants Philosophie oft übersehen wird. Es ist nicht verwunderlich, dass Kants Philosophie vor allem im Lager der Anhänger des Rationalismus zu verorten ist, da in seiner Philoso-
49 50 51 52
GA 25, S. 397. Ebd. Ebd. Ebd., S. 398.
48 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
1.1 Die Vernachlässigung der Einbildungskraft
phie oft eine rationalistische Grundstimmung vorherrscht, die sich mit Begriffen wie „rein“, „a priori“, „analytisch“, „Idealismus“ befasst. Hermann Cohen hat in seinem Werk Kants Theorie der Erfahrung, das oft als die Grundlagenarbeit des Neukantianismus im 20. Jahrhundert angesehen wird, aufgezeigt, dass wir die Verstandesfunktion rechtfertigen können, ohne der Einbildungskraft als der notwendigen Synthesisfunktion zu bedürfen. In eigener Lesart, die die Erste Abteilung der KrV, „Die Transzendentale Analytik“, in umgekehrter Reihenfolge liest, die mit der „Analytik der Grundsätze“ statt der „ Analytik der Begriffe“ beginnt, argumentiert er, dass Kants Erläuterung der „Analytik der Grundsätze“ bereits die angewandten Prinzipien des Verstandes beinhalte und die Tafel der Kategorien davon deduziert werden könne.53 Mit anderen Worten heißt das, dass das Deduktionskapitel in „Die Analytik der Begriffe“, ganz gleich ob A- oder B-Deduktion, i gewissem Sinne überflüssig sei. Cohens Lesart folgend, wird sich die Wichtigkeit des Deduktions- und Schematismuskapitels in der KrV, insbesondere in der ersten Fassung (AFassung), in der der Stellenwert der Einbildungskraft nachvollziehbar dargestellt wird, verringern. Peter Frederick Strawson, ein einflussreicher angloamerikanischer Kantgelehrter, folgt in gewissem Sinne Cohens beziehungsweise der neukantianischen Denkweise, die für den Misserfolg des Deduktionskapitels argumentiert. Die Ausarbeitung des Deduktionskapitels, das als eine transzendentale Psychologie bezeichnet wird, ist für ihn problematisch, da auch die Herleitung der Kategorientafel problematisch ist und er kein Vertrauen in Kants Theorie der Synthesis hat.54 Andererseits vertritt Henry Allison in seinem gewichtigen Werk Kant’s Transcendental Idealism die abweichende Lesart, dass, obzwar das Deduktionskapitel erfolglos sei, das Kapitel doch einen Eigenwert habe. Er zeigt in vielerlei Hinsicht Sympathien nicht nur für die B-Deduktion, sondern auch für die A-Deduktion.55 Seine These zur Bedeutung des transzendentalen Idealismus führt ihn zu einer epistemologischen, ja sogar einer metaepistemologischen Interpretation der allgemeinen Philosophie Kants.56 Seine
53 Vgl. Thompson: Introduction. In: Imagination in Kant’s Critical philosophy, S. 3. 54 Vgl. Peter Frederick Strawson: The Bounds of Sense. An Essay on Kant's Critique of Pure Reason. London 1966. 55 Vgl. Henry E. Allison: Kant's Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense. New Haven, Connecticut 1983, S. 170–171. 56 Vgl. ebd., S. 4.
49 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
Grundeinstellung wird in seinem neu erschienenen Werk Kant’s Transcendental Deduction nicht erschüttert.57 Die vorgestellte Lesart, die Kants Projekt vor allem als eine Erkenntnistheorie rezipiert, dominiert in den regulären kantischen Kreisen. Martin Heidegger hat dagegen eine interessante Kantdeutung vorgelegt, die abseits der erkenntnistheoretischen und epistemologischen Lesart die KrV als eine Grundlegung der Metaphysik interpretiert, in der die Möglichkeit einer Fundamentalontologie liegt. Heidegger argumentiert für den Vorrang der Sinnlichkeit, die Wichtigkeit der A-Deduktion und sogar für die zentrale Rolle der transzendentalen Einbildungskraft. Er sieht Kants Lehre von der transzendentalen Einbildungskraft als eine Darstellung der Endlichkeit des Daseins und als eine fundamentale Orientierung hin zum Begriff Zeit, das heißt der Zeitlichkeit des Daseins. Heidegger beabsichtigt durch den Zusammenhang zwischen der transzendentalen Einbildungskraft und dem Begriff Zeit, seine philosophische Agenda mit Kants Aufgabe zu verbinden. Es ist leicht nachzuvollziehen, warum vor dem Hintergrund der oben skizzierten Kantrezeption Heideggers ungewöhnliche Kantdeutung als eine Überinterpretation und sogar als eine Verzerrung kritisiert wird.
1.1.3 Eine unbeliebte Kantdeutung: Die Doppelvergessenheit der Kantdeutung Heideggers Die bisher genannten Forscher, mit Ausnahme Heideggers, vertreten die Position, dass die B-Deduktion beziehungsweise der Verstand, anstelle der anderen Erkenntnisvermögen, im Fokus des Forschungsinteresses liegen sollten. Die Tendenz zum Rationalismus bei Kant selbst und in der Kantforschung prägt sich darin aus. Es bleibt jedoch zu fragen, ob dies die einzig begründbare Lesart darstellt. Wäre die Antwort negativ, könnten wir dann irgendwie rechtfertigen, dass wir eine Einbildungskrafttheorie Kants
57 „Instead, following the lead of Paton, I have tried to show that, despite its obscurity at key points and a manifestly inadequate account of the categories, which often appear to be almost an afterthought, the A-Deduction contains a carefully designed, if not elegantly executed, line of argument, the intent of which is to introduce the reader, step by step, to a radically new philosophical project. But I have also expressed a strong preference for the B-Deduction because its two-stepin-one proof-structure, […]“(Henry E. Allison: Kant’s Transcendental Deduction. An Analytical-Historical Commentary. Oxford 2015, S. 393).
50 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
1.1 Die Vernachlässigung der Einbildungskraft
benötigen und sie wertvoll sei? Und inwiefern könnte diese Theorie von Heideggers Einsichten profitieren? Wir haben bereits erwähnt, dass aufgrund einer bestimmten Entwicklungsbeschreibung der kantischen Tradition Heideggers Kantdeutung von vielen Kantforschern übersehen worden ist. Aber dieses Phänomen ist nicht nur im Kreis der Kantforschung, sondern auch im Kreis der Heideggerforschung zu beobachten. Heideggers Kantforschung ist auch ein unpopuläres Thema in der Heideggerforschung. Bereits im Jahre 1955 merkte Dieter Henrich an, dass die durch Heideggers Schrift KPM bei ihrem ersten Erscheinen im Jahre 1929 hervorgerufene Diskussion in der Kantforschung so gut wie verklungen sei.58 Diese Bemerkung, die heute noch immer gültig ist, teilt uns zwei denkwürdige Tatsachen mit: Erstens, Heideggers Kantdeutung wird stets unbeliebter; zweitens, sie war schon ursprünglich höchst umstritten. Diese Betrachtung wird von Dieter Sturma, einem Beiträger des Heidegger-Handbuchs, bestätigt: Die Kant-Forschung hat Heideggers Interpretation durchgängig verworfen. In Übersichten zur Kant-Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts kommt Kant und das Problem der Metaphysik oftmals nicht über die bloße Titelnennung hinaus. […] In der Heidegger-Forschung lässt sich, was die Wirkung seines Kant-Buchs betrifft, ein vergleichbarer Sachverhalt ausmachen. Bei der Analyse des Denkwegs nach Sein und Zeit findet die Veröffentlichung von 1929 wenig Berücksichtigung. Auch haben Kant-Forschung und Heidegger-Forschung bis heute nicht zusammengefunden.59 Eben nicht nur sein Kant-Buch, sondern auch seine Kantdeutung überhaupt ist für viele Gelehrte in der Heidegger-Forschung weder ein wichtiges noch entscheidendes Thema. Diese Aussage kann durch ein Beispiel belegt werden. Im unlängst erschienenen The Bloomsbury Companion to Heidegger (2013) haben die Herausgeber einen Abschnitt des Buches „key writings“ benannt, in dem man allerdings keine Stellungnahme zum KantBuch entdecken kann. Aufgrund der vorliegenden Belege gestehe ich mir das Recht zu, dieses Phänomen die „Doppelvergessenheit der Kantdeutung Heideggers“ zu nennen. Auf der einen Seite wird das Thema Einbildungs-
58 Dieter Henrich: Über die Einheit der Subjektivität. In: Philosophische Rundschau 3, Heft 1/2 (1955), S. 28. 59 Dieter Sturma: Kant und das Problem der Metaphysik. Die Endlichkeit menschlicher Erkenntnis. In: Heidegger-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Hg. von Dieter Thomä. 2., überarb. und erw. Aufl., Stuttgart, Weimar 2013, S. 80–86, hier S. 85.
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Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
kraft in der Kantforschung stets übersehen, auf der anderen Seite wird Heideggers Kantdeutung, die sich auf das Thema Einbildungskraft bezieht, nicht nur im Kreis der Kantforschung, sondern auch im Kreis der Heideggerforschung ignoriert. Warum ist Heideggers Kantdeutung nicht nur bei den Kantforschern, sondern auch bei Heideggerforschern so unbeliebt? Es ist ein ungewöhnliches beiderseitiges Versäumnis ebenso wie eine nachdenkenswerte Gegebenheit und kann nicht leicht erklärt werden. Ich gebe kurz zwei Gründe zur Erwägung. Einerseits ignorieren einige Kantianer seine Kantdeutung wegen der „Gewaltsamkeit“60 – dieses Wort hat Heidegger selbst benutzt – seiner Interpretation, die weitgehend als eine Verzerrung der Philosophie Kants angesehen wird.61 Heidegger intendiert in erster Linie nicht, die kantische Philosophie innerhalb des gültigen Erläuterungsfelds auszulegen. Er zielt darauf ab, die von Kant in der KrV ausgeführte Aufgabe mit seinem eigenen philosophischen Problembewusstsein, der Suche nach dem Sinn des Seins, zu verbinden, damit er so die Philosophie Kants in seinem eigenen philosophischen Forschungsprojekt verinnerlichen kann. Er übt mithin nicht nur eine Überinterpretation aus, sondern tut der Philosophie Kants auch Gewalt an, die jedoch – wie von Heidegger selbst behauptet wurde – für das philosophische Besprechen notwendig sei.62 Diese Einstellung ist für viele Kantianer untragbar. Andererseits lässt sich seine Kantdeutung im Feld der Heideggerforschung auch vernachlässigen, weil sie anscheinend wenig Bezug zu seinem lebenslangen Hauptthema, nämlich der Seinsfrage, hat. Aus der Perspektive der Heideggerforscher steht dagegen seine Kantdeutung in der Dimension seiner ganzen Philosophie in einer unangenehmen und verwirrenden Position. Nimmt das Kant-Buch eine selbstständige Stellung in seinem Phi-
60 KPM, S. XVII. 61 William Blattner schlussfolgert, dass „Heidegger simply forces the reading of the text to support what he wants to do” (siehe dazu: Laying the Ground for Metaphysics. Heidegger's appropriation of Kant. In: The Cambridge Companion to Heidegger. Hg. von Charles B. Guignon. Cambridge 2006, S. 149–176); Robert Hanna schreibt: „So in this light it seems to me accurate to say that the Heidegger of Being and Time has „existentialized,” „externalized,” „noncognitivized,” „pragmatized,” and more generally flattened out Kant’s transcendental idealism, but still has not really deviated in any deep way from the Kantian framework“ (Robert Hanna: Review of Martin Weatherston, Heidegger’s Interpretation of Kant. Categories, Imagination, and Temporality. In: Notre Dame Philosophical Reviews (2003), unter: https://ndpr.nd.edu/news/23605-heidegger-s-interpretation-of-kant-categoriesimagination-and-temporality/ (abgerufen am 30.3.2016). 62 Vgl. KPM, S. XVII.
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1.1 Die Vernachlässigung der Einbildungskraft
losophem ein, in der er sich mit der speziellen Problematik befasst? Oder hat er es nur als einen Teil von SZ gesehen, um sein in SZ gesetztes unfertiges Vorhaben zu vollenden?63 Einige Forscher sind der Meinung, dass das Kant-Buch nur als ein erfolgloser Versuch verstanden werden sollte. Wenn man Heideggers frühes Denken einzig in Bezug auf das Problembewusstsein von SZ, das sich an der Seinsfrage orientiert, untersucht, dann übersieht derjenige, der das vorstehende Vorurteil vertritt, leicht die Wichtigkeit und die Besonderheit des Kant-Buchs. Allerdings greifen diese Erklärungen noch zu kurz. Die Unterbewertung von Heideggers Kantdeutung sollte nicht bloß als ein Problem des akademischen Geschmacks gesehen werden, sondern als eine verflochtene Frage nach dem Grundverständnis der Philosophie Kants und Heideggers überhaupt. Dieter Henrich hebt hervor, dass bereits Ernst Cassirer und Heinrich Levy zwei Gründe der Unbeliebtheit von Heideggers Kantdeutung angeführt haben, die „Heideggers Verzeichnungen der kantischen Lehre und den unhistorischen Charakter seiner Interpretationsmethode […] demonstrieren“.64 In seiner Kantdeutung hat Heidegger Kants Sprache und Terminologien durch seine eigene philosophische Sprache weitgehend verdrängt. Beispielsweise ersetzt er „Objekt“ oder „Gegenstand“ durch „Seiendes“ oder „Gegenstehenlassen“, welche die passive Denotation betonen, und auch „empirisch“ und „transzendental“ durch „ontisch“ und „ontologisch“. Diese Veränderung beziehungsweise der freie Umgang mit Sprache und Terminologie ist für viele Kantianer ein verdächtiger Hinweis darauf, dass Heidegger mit Absicht die Grundbedeutungen der Terminologie Kants verfälschen wollte. Insbesondere ist nachvollziehbar, dass er durch seine Kritik an Kants Zurückweichen vor der transzendentalen Einbildungskraft beabsichtigte, Kants originäre Errungenschaft einer Grundlegung der Metaphysik seinem Entwurf einer Metaphysik des Daseins, nämlich der Fundamentalontologie, einzuverleiben. Sein Eigeninteresse und die anhängigen „Verzeichnungen“ erweckten die Kritik vieler Kantforscher, was verständlich ist. Dazu kommt, dass die anscheinend beabsichtigte Ignorierung der Entfaltung der philosophischen Tradition ein weiterer Kritikpunkt an seiner 63 Vgl. „Conversely, by appropriating Kant’s thinking in terms of his own, Heidegger underscores the originality of his project, and consequently recasts his hermeneutic inquiry of Being and Time within a wider historical orbit” (Frank Schalow: Heidegger And Kant. Three Guiding Questions. In: The Bloomsbury Companion to Heidegger. Hg. von François Raffoul und Eric S. Nelson. London u. a. 2013, S. 105). 64 Henrich: Über die Einheit der Subjektivität, S. 29.
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Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
Kantdeutung ist. Im Kant-Buch sind kaum Bezüge zu anderen philosophischen Traditionen zu finden. Dies erregt den Verdacht, dass Heidegger den Einfluss anderer philosophischer Traditionen, hauptsächlich des deutschen Idealismus, absichtlich verschleiern wollte. Dieter Henrich weist darauf hin: Doch ist die bedenkenswerte Folge gerade der systematischen Kraft seiner Interpretationen, daß in einer nicht unrichtigen, aber nicht genügend weitreichenden Perspektive Heidegger im Grunde als Kantianer oder als in den Spuren Hegels wandelnd erscheint, zumal die Selbstunterscheidung von Hegel für Heidegger selbst ein Problem war und bleibt.65 Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die Unpopularität der heideggerschen Kantdeutung in gewissem Maße wohlbegründet ist. Auf der Basis der kritischen Stellungnahme bei Dieter Henrich und anderen Forschern werden wir die Kritikpunkte in Auseinandersetzung mit den entsprechenden Textstellen und philosophischen Quellen in den nachfolgenden Kapiteln tiefergehend erschließen, um uns folgenden Fragen zu stellen: Inwiefern können wir akzeptieren, dass Heidegger Kants Terminologien bis hin zur Modifikation der Grundgedanken verändert hat? Inwiefern sollen wir die Arbeit schätzen, die die „innersten“ Möglichkeiten von Kants Philosophie geöffnet hat? Inwiefern sollen wir Heideggers Kantdeutung aufwerten, anstatt sie einfach abzuwerten? Bevor wir diese Fragen eingehend beantworten können, müssen wir uns jedoch noch ausführlicher mit der Entwicklung der Problematik der Einbildungskraft in der Philosophiegeschichte beschäftigen, damit wir ein umfassendes Verständnis der Problematik hinsichtlich der Kantdeutung Heideggers entwickeln können.
1.2 Einbildungskraft als ein „problematischer“ Begriff in der Philosophie Kants 1.2.1 Das Wurzelproblem als Leitfaden: Die Suche nach der ursprünglichen Einheit An dieser Stelle wollen wir eine Mitteilung über den Ursprung der Problematik der Einbildungskraft aus der Perspektive der abendländischen Philosophiegeschichte rekonstruieren. Diese Mitteilung wird mit einer problematischen Aussage eingeleitet, die im früheren Teil der KrV steht, im wei65 Ebd., S. 30.
54 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
1.2 Einbildungskraft als ein „problematischer“ Begriff in der Philosophie Kants
teren Text jedoch nicht beantwortet wird. Dieses Problem kann als das Wurzelproblem bezeichnet werden. Die Darlegung beginnt mit einem unklaren, aber provozierenden Satz, mit dem Kant die Frage nach einer „gemeinschaftlichen, aber unbekannten Wurzel“ aufwirft. Die Nachfolger Kants griffen sie auf und entwickelten von dieser Grundlage ausgehend ihre eigenen Theorien. Die sogenannte Grundlage des Wurzelproblems entstammt der folgenden Aussage: Nur so viel scheint zur Einleitung oder Vorerinnerung nötig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich, Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedachte werden.66 Diese „unbekannte Wurzel“ ist nicht nur in der KrV, sondern auch in den übrigen Werken Kants nie klar und explizit geklärt worden und ist seit langem eine offene Frage in der kantischen Tradition. Die Suche nach der unbekannten Wurzel orientiert sich am Nachdenken über eine ursprüngliche Einheit des menschlichen Seelenvermögens, die sowohl die deutschen Idealisten als auch Heidegger inspiriert hat. Aus der nachfolgenden geschichtlichen Rekonstruktion wird deutlich, dass die Einbildungskraft eine unverzichtbare Rolle bei den Kantnachfolgern und -deutern spielt. Bei Fichte kann man diese Bemühung erkennen, wenn er versucht, die Einbildungskraft als die Lösung des kantischen Problems bezüglich der letzten Grundlegung unserer Erfahrung zu interpretieren; Hegel kritisiert aus einer anderen Perspektive, dass in der Tat der kantische Dualismus zur Trennung von Glauben und Wissen führt. Er vertritt die Ansicht, dass dieses Problem nur durch die neue Konzeptionierung der Einbildungskraft behoben werden kann. Es gibt viele Beispiele von Philosophen und Schriftstellern, die bestrebt sind, den „problematischen“ Dualismus Kants durch den „problematischen“ Begriff Einbildungskraft zu bewältigen.
1.2.2 Einbildungskraft: Ein „problematischer“ Begriff in der Philosophie Kants Der Begriff Einbildungskraft ist in seinen unterschiedlichen Bedeutungen ein „problematischer“ Begriff in der Philosophie Kants. In gewisser Hinsicht ist Kant selbst für dieses Phänomen verantwortlich. Ein Grund dafür 66 KrV A 15 / B 29.
55 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
ist, dass man mit Recht den Eindruck hat, dass auf den ersten Blick hin die Einbildungskraft kein Schlüsselbegriff in seiner kritischen Philosophie zu sein scheint. Die Einbildungskraft findet ihre erste Berücksichtigung im Deduktionskapitel der KrV. Die nähere Bestimmung des Begriffs erfolgt ziemlich spät im Text der transzendentalen Analytik, was dem Leser den Eindruck vermitteln könnte, dass sich die Einbildungskraft auf kein eigenes und wichtiges Thema in der Analyse bezieht. Ein anderer Grund liegt möglicherweise in Kants undurchsichtiger und ambivalenter Beschreibung der Einbildungskraft während seiner gesamten kritischen Periode. Michael Thompson, der Herausgeber von Imagination in Kant’s Critical Philosophy, kommentiert: Instrumental in these most critical passages [Deduktionskapitel] are his discussions of the varying roles imagination plays in our cognitive processes, but due to revisions, emendations and a seeming change in doctrine from his 1st Critique (1781, 1787) to his 3rd Critique (Critique of Judgment 1790), what Kant’s considered view of the imagination is remains unclear and has been largely overlooked. Several authors eschew discussion of this primary faculty, dismissing it as arcana of an obsolete faculty psychology. Even prominent Kant scholars have typically overlooked or marginalized pivotal sections of Kant’s works in order to avoid dealing with this issue.67 Mit diesem Kommentar können wir wenigstens bestätigen, dass das Phänomen der Unterbewertung oder die sogenannte Vernachlässigung der Einbildungskraft mit der Unbestimmtheit des Begriffs und der hohen Komplexität des Themas eng verbunden ist. Aufgrund der Schwierigkeit des Themas und der Unklarheit des Begriffs übersehen oder ignorieren sogar erfahrene Kantforscher die Bedeutung der Einbildungskraft und tendieren dazu, ihre Bemühungen auf andere Untersuchungsfelder zu richten. Die späte Nennung erweckt vielleicht den Eindruck, als sei die Einbildungskraft ein minder wichtiger Begriff. Jedoch kann man relativ leicht erkennen, dass sie eine unverzichtbare Bedeutung für die menschliche Erkenntnis hat, denn bereits bei der Einführung der Einbildungskraft in der KrV betont Kant ihre Wichtigkeit für die Erkenntnis: „Die Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele,
67 Thompson: Introduction. In: Imagination in Kant’s Critical Philosophy, S. 2.
56 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
1.2 Einbildungskraft als ein „problematischer“ Begriff in der Philosophie Kants
ohne die wir überall keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind.“68 Allein aufgrund dieses Zitats ist es kaum nachvollziehbar, dass der Stellenwert der Einbildungskraft von vielen Kantforschern übersehen wird. Die Synthesis ist die Grundfunktion der menschlichen Erkenntnis, die von Kant im Deduktionskapitel, das ihm „die meiste“, aber, wie er hofft, „nicht unvergoltene Mühe gekostet“ hat, ernsthaft und wiederholt behandelt wird.69 Kant sagt, dass die Synthesis „überhaupt“ die „bloße“ Wirkung der Einbildungskraft sei. Es ist mühevoll zu widerlegen, dass die Einbildungskraft eine Schlüsselrolle spielt, gleichgültig wie man die Bedeutung von „überhaupt“ und „bloße“ versteht. Obwohl der Stellenwert der Einbildungskraft für Kant ersichtlich werden soll, erhält sie eine unproportionale Behandlung in der KrV im Vergleich zu den anderen Erkenntnisvermögen. Kant gibt eine vergleichsweise geringe Beschreibung und Erklärung über den Zustand und das Funktionsprinzip der Einbildungskraft in der kritischen Philosophie. Auch wenn er sich zu den Eigenschaft der Einbildungskraft äußert, bedient er sich einer relativ unklaren Wortwahl wie „eine blinde Funktion der Seel“ oder „eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele“.70 All diese ungenauen Ausdrücke bilden teilweise die Problematik und das Hindernis beim Verstehen der eigentlichen Stellung der Einbildungskraft. Ein weiteres Problem liegt im unbestimmten Zustand der Einbildungskraft hinsichtlich der anderen Erkenntnisvermögen in der Beschreibung in der KrV. Es wird stets unter den Kantforschern darüber gestritten, ob nun die Einbildungskraft zur Sinnlichkeit oder zum Verstand gehöre. Im generellen Kontext beschreibt Kant die Einbildungskraft als ein sinnliches Erkenntnisvermögen, das der Sinnlichkeit zugeordnet werden soll. Die Einbildungskraft hat sogar eine eigenständige und besondere Stellung, die von Kant in der A-Fassung „ein Grundvermögen der menschlichen Seele“ genannt wird.71 Jedoch wird die Funktion der Einbildungskraft in der BFassung zurückgestuft – das heißt, sie verliert die eigenständige Stellung in der Familie der Erkenntnisvermögen und wird unter die Herrschaft des Verstandes gestellt. Aber dies bedeutet nicht, dass ihr Zustand in der zweiten Fassung klarer als in der ersten Fassung geworden ist. In § 24 bestimmt
68 KrV A78 / B103. 69 Ebd. A XVI. 70 Als den Ursprung des Bildes und des Schemas hat Kant recht wenig über das Funktionsprinzip diskutiert, siehe: ebd. A 141–2 / B 180–1. 71 Ebd. A 124.
57 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
Kant die Einbildungskraft als „das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“. Und „[d]a nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die Einbildungskraft, […], zur Sinnlichkeit“.72 Jedoch in Bezug auf die Synthesisfunktion, die die sinnlichen Anschauungen spontan verbinden kann, muss die Einbildungskraft, laut Kant, zum Verstand gehören.73 Die Einbildungskraft ist nun „so fern ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen, und ihre Synthesis der Anschauungen, den Kategorien gemäß, muß die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft sein, welches eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung ist.“74 Aber Kant hat im unmittelbar folgenden Abschnitt die Bedeutung der Einbildungskraft nochmals „angereichert“. Wegen ihrer Spontaneität und Synthesisfunktion wird die (transzendentale) Einbildungskraft fast ein Synonym des Verstandes. Die Einbildungskraft spielt trotzdem in der B-Deduktion eine nicht eindeutige Rolle zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Sie benötigt ein sehr kompliziertes Verfahren, um sie zu erklären. Mit der vorliegenden Ungenauigkeit und dem Schwanken des Ausdrucks haben wir einen ersten Eindruck davon, warum der Begriff Einbildungskraft in der Philosophie Kants so problematisch ist.
1.2.3 Der „problematische“ Dualismus Kants aus philosophiegeschichtlicher und theoretischer Sicht Abgesehen vom problematischen Ausdruck des Begriffs Einbildungskraft können wir noch ihre theoretische Problematik aus der Perspektive der Philosophiegeschichte betrachten. Seit Langem lassen sich viele Philosophen von diesem Begriff faszinieren, aber auch heillos verwirren. Die Faszination und die Verwirrung hängen häufig von geschichtlichen Faktoren ab. So spielte die Einbildungskraft zum Beispiel eine wichtige Rolle in der Entwicklung der, wie man es nennen könnte, Tradition des deutschen Idealismus, weil sie als die Lösung der „Probleme“ – das unerkennbare Ding an sich, die mythische intellektuelle Anschauung oder die problematische Abgrenzung von Phänomena und Noumena usw. – in der Philosophie Kants gedacht wurde. Das Interesse und Problembewusstsein der
72 Ebd. B 151. 73 Ebd. B 151–152. 74 Ebd. B 152.
58 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
1.2 Einbildungskraft als ein „problematischer“ Begriff in der Philosophie Kants
deutschen Idealisten hatten eine untrennbare Relation zum damaligen akademischen Hintergrund. Ihr Verständnis und ihre Auslegung von Kant waren mit Auseinandersetzungen wie dem Pantheismusstreit und Bewegungen wie dem Sturm und Drang und der Entstehung der Romantik verflochten. Ihr Anliegen war letztlich der Versuch einer Integrierung (sowie Auseinandersetzung) der Einsichten von Kant und Spinoza. Die frühen Kantkritiker wie Moses Mendelssohn, Gottlob Ernst Schulze, Friedrich Heinrich Jacobi usw. setzten im Voraus die Richtung der Diskussion fest, die auch die Tradition des deutschen Idealismus, insbesondere die Kernpunkte der Kantdeutung, inspirierte.75 In der Zeit zwischen der Publikation der KrV bis zum Ende des Systems Hegels erlebte die deutsche Philosophie eine faszinierende Entwicklung, die ohne Zweifel auf den Einfluss der kantischen Philosophie zurückzuführen ist. Von 1781 bis 1804 nahm die deutsche Philosophie, ausgehend von Kant über Fichte und Schelling bis hin zu Hegel, eine Entwickelung, die allgemein als Deutscher Idealismus bezeichnet wird. Richard Kroners Werk Von Kant bis Hegel vermittelt den Eindruck, dass diese Entwicklung ein Kontinuum oder „ein Ganzes“ war, das sich mit einem gleichen Problembewusstsein hinsichtlich der Entwicklung des menschlichen Geistes entwickelte.76 Eine solche Darstellung der Philosophiegeschichte, die von einem einzigen philosophisches Prinzip, nämlich der hegelschen Weltanschauung, geleitet wird, ist heutzutage zweifelhaft.77 Im Unterschied dazu beschreibt Dieter Henrich in einer vielschichtigen und komplexen Analyse die Positionen, Gedanken und Theorien in dieser Epoche, dank der wir uns ein umfassenderes Bild von der Interaktion und inneren Entwicklung
75 Vgl. insbesondere Frederick Charles Beiser: Introduction. In: The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte. Cambridge, Massachusetts 1987, S. 1–3; ders.: The Historical Significance of the Pantheism Controversy. In: Ebd., S. 44– 48; ders.: The Rise of Spinozism in Germany, 1680–1786. In: Ebd., S. 48–61; ders.: The Critique of Spinozism and Purified Pantheism. In: Ebd., S. 102–105; ders.: Mendelssohn’s Covert Critique of Kant. In: Ebd., S. 105–108. Vgl. auch: I. Systematic Structure of Kant’s Philosophy und II. Kant’s Early Critics. In: Henrich: Between Kant and Hegel, S. 15–154. 76 „So rechtfertigt es der eigene Gang und Gehalt diese Entwicklung, dass wir in ihr ein Ganzes sehen, einen in sich zusammenhängenden, aus sich heraus verständlichen, nicht über sich hinausweisenden Abschnitt des Denkens“ (Richard Kroner: Von Kant bis Hegel. 2. Aufl., zwei Bände in einem Band. Tübingen 1961, S. 6). 77 Eine ähnliche Meinung vertritt David S. Pacini. Vgl. David S. Pacini: Foreword: Remembrance through Disenchantment. In: Henrich: Between Kant and Hegel, S. XIII.
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Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
jener Zeit machen können.78 Dieses Bild, das in Between Kant and Hegel entworfen wird, positioniert Kant im Zentrum dieses Abschnitts der Philosophiegeschichte und macht ihn für alle Kontroversen und den Ursprung der späteren Entwicklung im deutschen Idealismus verantwortlich. Mit Frederick Beisers The Fate of Reason erhalten wir eine andere Schilderung dieser Periode, die zwar auch Kant eine Hauptrolle zuschreibt, jedoch ist Kant in Beisers Darlegung nicht mehr der alleinige Ursprung des Problembewusstseins der deutschen Idealisten. Da die kantische Philosophie in andere Kontroversen wie beispielsweise den Pantheismusstreit verwickelt war, erhalten wir durch diese Abhandlung ein dynamisches Bild von der Philosophie Kants und den damaligen kulturell-philosophischen Themen. Alle vorliegenden Studien zeigen unterschiedliche Perspektiven auf, die uns dabei helfen, in das damalige Problembewusstsein und seine Entstehung einzudringen. Allerdings akzeptieren sie im Grunde als Faktum, dass sich der gemeinsame Ursprung des Problembewusstseins auf Kants bahnbrechende philosophische Methode und deren Früchte zurückführen lässt. Kants Werke wurden das Sturmzentrum seiner Zeit, nicht nur wegen seines philosophischen Ehrgeizes wie der „kopernikanischen Wende“ der menschlichen Erkenntnis, sondern auch wegen seiner Implikationen für Religion, Politik, Ästhetik usw. Eines der größten Probleme entstammt seinem dualistischen Denken. Dieser dualistische Gedanke lässt sich in den verschiedenen Teilen der Philosophie Kants finden, gleichgültig ob theoretisch, praktisch, ästhetisch, teleologisch oder theologisch. Die bekannten Abgrenzungen schließen die heterogenen Stämme der Erkenntnis (Sinnlichkeit und Verstand), die Grenze der möglichen Erfahrung (Phaenomena und Noumena), die Beziehung zwischen dem Feld des Sinnlichen, des Bedingten und dem Feld des Übersinnlichen, des Unbedingten (Natur und Freiheit) usw. ein. Einerseits bringen diese Abgrenzungen uns das starke Denkinstrument, mit dem die Möglichkeitsbedingung der mensch-
78 „We might describe the entire period in terms of these and other minor controversies. In this way, we could develop an image of the relationships among the philosophers that differs entirely from the one Hegel presented and that still dominates the literature today. This is the view that each philosophical position from Kant through Hegel is like a step in a staircase that we ascend as we leave previous steps behind. By way of contrast, in the image I am proposing there are three comparable and competing positions that cannot be reduced to each other. To see the period in this way, we have to understand the late philosophy of Fichte and Hegel’s system and the late philosophy of Schelling. Here, I propose to concentrate on the late Fichte and Hegel in particular, because I consider them the most important“ (Henrich: Between Kant and Hegel, S. 9).
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1.2 Einbildungskraft als ein „problematischer“ Begriff in der Philosophie Kants
lichen Erkenntnis beziehungsweise Erfahrung erklärt werden kann; andererseits schließen sie das trügerische Wissen, das grundsätzlich auf die traditionelle Metaphysik deutet, von der wirklichen Erkenntnis, die nach den Kritiken erreicht werden kann, aus. Die beste Darstellung des „problematischen“ kantischen Dualismus lässt sich durch die Abgrenzung von Phänomen und Noumenon zum Ausdruck bringen. Sie wurde auch für einige Kantnachfolger in späterer Zeit der Anhaltspunkt der Entwicklung der Selbstbewusstseinstheorie, die hauptsächlich das Ich und das Ding an sich in Einheit bringen will; in der Setzung der kritischen Philosophie ist das Noumenon beziehungsweise das Ding an sich kein recht „erkennbarer“, sondern nur ein „denkbarer“ Begriff:79 Ich nenne einen Begriff problematisch: der keinen Widerspruch enthält, der auch als eine Begrenzung gegebener Begriffe mit andern Erkenntnissen zusammenhängt, dessen objektive Realität aber auf keine Weise erkannt werden kann. Der Begriff eines Noumenon, d. i. eines Dinges, welches gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern, als ein Ding an sich selbst, (lediglich durch einen reinen Verstand) gedacht werden soll, ist gar nicht widersprechend; denn man kann von der Sinnlichkeit doch nicht behaupten, daß sie die einzige mögliche Art der Anschauung sei. Ferner ist dieser Begriff notwendig, um die sinnliche Anschauung nicht bis über die Dinge an sich selbst auszudehnen, und also, um die objektive Gültigkeit der sinnlichen Erkenntnis einzuschränken, (denn das übrige, worauf jene nicht reicht, heißen eben darum Noumena, damit man dadurch anzeige, jene Erkenntnisse können ihr Gebiet nicht über alles, was der Verstand denkt, erstrecken.)80 Obwohl es aufgrund des kognitiven Systems Kants unmöglich ist, eine Erkenntnis des Dings an sich zu haben, kann man mit Recht über das Ding an sich nachdenken. Da das Ding an sich nicht widersprechend ist – das heißt, es kann durchaus logisch Denkbares zum Inhalt haben und durch Prädikate bestimmt werden –, kann man sich diesen Begriff vorstellen und darüber nachdenken; das Ding an sich ist jedoch unerkennbar, weil man im Prinzip keine sinnliche Anschauung von ihm empfangen kann. Aufgrund des diskursiven Charakters der menschlichen Erkenntnis, die auf den zwei Stämmen der menschlichen Erkenntnis basiert, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, können wir nur die Erscheinung des Dinges erhalten, anstatt des
79 Zum Unterschied zwischen denkbar und erkennen vgl. KrV B 146; B 165. 80 Ebd. A 254–5 / B 310.
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Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
Dinges an sich selbst. Deshalb ist das Ding an sich für Kant „bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche.“81 In dieser Definition und Verwendung ist der Begriff Noumenon beziehungsweise Ding an sich ein „problematischer“ Begriff, weil er die Grenzen der menschlichen Erkenntnis aufzeigt. Das Wort „Problema“ (von griechisch πρόβλημα das Vorgeworfene, das Vorgelegte) – ein Begriff, der von Kant mit Absicht benutzt wird – bedeutet ursprünglich die von einem Subjekt selbst vorgelegte Streitfrage, also eine schwierige Aufgabe oder Fragestellung, die gelöst werden muss. Das Noumenon beziehungsweise das Ding an sich ist problematisch, weil der Mensch beziehungsweise das erkennende Subjekt eine wesentlich problematische Erkenntnis, nämlich einen diskursiven Verstand, besitzt. In diesem Sinne kann man deshalb nur den Begriff Noumenon beziehungsweise Ding an sich nur in der Dimension der menschlichen Erkenntnis negativ benutzen. Jede Diskussion hinsichtlich des positiven Gebrauchs des Begriffs Noumenon, die über die Grenzen der menschlichen Erkenntnis hinausgeht, also eines Begriffs, der sich vom Wesen des Verstandes her selbst begrenzt, ist deshalb in der Tat sinnlos. Zusammengefasst können wir folgern, dass die Einbildungskraft „problematisch“ ist, weil sie 1.) ein nicht eindeutig formulierter und unzureichend erklärter Begriff im Kontext der kantischen Philosophie ist, und 2.) mit den komplizierten philosophischen Themen bezüglich der folgenden Entwicklung, die auf die Überwindung der von der Philosophie Kants gesetzten Grenzen abzielt, verflochten ist. Im Folgenden werden wir in gebotener Kürze darstellen, wie die „Kantnachfolger“, insbesondere Fichte und Hegel, versuchten, durch die Einbildungskraft die kantische Problematik zu überwinden.
1.3 Die Suche nach Lösungen des „problematischen“ Dualismus Kants 1.3.1 Die Versuchung durch Kant und seine ehrgeizigen Nachfolger In der Epoche Kants hatte fast jeder idealistische Philosoph den festen Glauben, dass er der echte Kantnachfolger sei, der die von Kant gerade begonnene Aufgabe vollendet habe.82 Nebenher geben die Kantnachfolger ihr Bestes, die Grenze, oder negativ gesagt, das von Kant markierte Gefäng-
81 Ebd. A 255 / B 310–1. 82 Vgl. Henrich: Between Kant and Hegel, S. 15.
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1.3 Die Suche nach Lösungen des „problematischen“ Dualismus Kants
nis zu überwinden. Nach Kroner bemüht sich beispielsweise der deutsche Idealismus darum, begrifflich den Gegensatz von Idealismus und Realismus zu überbrücken. So möchte Fichte die Extreme in engste Verknüpfung miteinander bringen. Für ihn ist der transzendentale oder kritische Idealismus mit dem kritischen Realismus im Wesentlichen gleichzusetzen.83 Kroner zufolge muss der deutsche Idealismus in seiner Entwicklung als ein von Kant bis Hegel zusammenhängendes Ganzes erfasst werden, also „als eine Linie, die sich einem ihr innewohnenden, aber nur in ihr sich ausprägenden Gesetze gemäß, in einer großartigen Kurve aufschwingt.“84 Diese Entwicklungslinie folgt nach Kroners Vorstellung einem vorgegebenen Prinzip, mit dem sich das sich entwickelnde System der philosophischen Ideen in statu nascendi verstehen und positionieren lässt. Obwohl Henrich gegenüber einer eindimensionalen Erklärung dieser Epoche eher skeptisch ist, folgt er doch Kroners Urteil, dass die Kantnachfolger auf verschiedene Art und Weise versuchten, den sogenannten „problematischen“ kantischen Dualismus zu überwinden. Es steht jedoch für Henrich fest, dass der Dualismus in der Tat der Grundcharakter der Philosophie Kants ist. Kant zeigt wenig Interesse an der Beweiserhebung der Grundlegung seines Systems, sein Anliegen gilt vielmehr der Einrichtung der Kriterien des Erfolgs in der Philosophie.85 Das Selbstbewusstsein, das von den Idealisten als der Schlüssel zur Lösung und als Endpunkt des kantischen Dualismus betrachtet wird, ist allerdings für Kant der Ausgangspunkt seines philosophischen Systems, indes kein Problem, das gelöst werden muss.86 Dieses dialektische Problembewusstsein leitet uns zu der speziellen Rolle der Einbildungskraft. Die Einbildungskraft wurde zum Schlachtfeld der Kantdeutung, da die Kantnachfolger die unerledigte Grundlegung der kantischen Philosophie vollenden wollten. Die frühen Kantkritiker, wie zum Beispiel Jacobi, Reinhold, Schulze, betonen die Widersprüchlichkeit oder die Unvollständigkeit der kantischen Philosophie. Kant hatte bestimmt, dass die menschliche Erkenntnis auf Sinnlichkeit und Verstand als ihren Grundlagen beruhe. Er hatte die transzendentale Bedingung der menschlichen Erfahrung bezüglich des Verstandes dargestellt und deduziert, aber nie erklärt, wo Sinnlichkeit und Verstand ihren Ursprung ha-
83 84 85 86
Vgl. Kroner: Von Kant bis Hegel, S. 7–8. Ebd., S. 21. Vgl. Henrich: Between Kant and Hegel, S. 33. Ebd., S. 38.
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Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
ben. Laut Henrich ist Kant der Meinung, dass das Benennen ihres Ursprungs grundsätzlich unmöglich sei.87 Dies kritisiert Henrich: Although Kant does begin the Critique of Pure Reason with a set of terms, he provides no explicit justification for this terminology. […] Starting from this terminology, Kant nonetheless omits any systematic introduction to it. In the Transcendental Deduction, he adds the theory of self-consciousness and of combination. Despite his claim that selfconsciousness is the highest point of transcendental philosophy, to which all knowledge must conform, he never starts from it in order to develop a definition of what sensibility and conceptuality are.88 Im Deduktionskapitel spricht Kant davon, dass das höchste Prinzip oder „der oberste Grundsatz“ der Transzendentalphilosophie in der Einheit der Apperzeption liege.89 In einer Notiz stellt Kant sogar deutlich dar, dass die synthetische Einheit der Apperzeption „der höchste Punkt“ sei: Eine Vorstellung, die als verschiedenen gemein gedacht werden soll, wird als zu solchen gehörig angesehen, die außer ihr noch etwas Verschiedenes an sich haben, folglich muß sie in synthetischer Einheit mit anderen (wenn gleich nur möglichen Vorstellungen) vorher gedacht werden, ehe ich die analytische Einheit des Bewußtseins, welche sie zum conceptus communis macht, an ihr denken kann. Und so ist die synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst.90 Durch den Actus der Spontaneität des Verstandes, nämlich der Handlung der reinen und ursprünglichen Apperzeption kann man ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Selbstbewusstsein vereinigen.91 Diese Formulierung erweckte die Aufmerksamkeit seiner vielen Nachfolger sowie Kritiker. Die aufgeregten Kantnachfolger waren der Auffassung, dass dieses oberste Prinzip ein noch nicht völlig geklärtes und entdecktes Feld der neuzeitigen Philosophie sei. Einer der wichtigsten Kantnachfolger, Fichte, bekundete seinen Ehrgeiz in einem Brief aus dem Jahre 1793 über
87 88 89 90 91
Ebd., S. 42. Ebd., S. 124. KrV B 135. Ebd. B 133, Fußnote 1. Vgl. ebd. B 132–133.
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1.3 Die Suche nach Lösungen des „problematischen“ Dualismus Kants
Schulzes Aenesidemus, dass er diese unvollendete Aufgabe durchführen wolle: Aenesidemus, den ich unter die merkwürdigen Produkte unsers Jahrzehends zähle, hat mich von dem überzeugt, was ich vorher wohl schon ahndete daß selbst nach Kants, u. Reinholds Arbeiten die Philosophie noch nicht im Zustande einer Wißenschaft ist[,] hat mein eignes System in seinen Grundfesten erschüttert, u. hat mich, da sich´s unter freiem Himmel nicht gut wohnt, genöthigt von neuem aufzubauen. Ich habe mich überzeugt, daß nur durch Entwikelung aus einem einzigen Grundsatze Philosophie Wißenschaft werden kann, daß sie aber dann eine Evidenz erhalten muß, wie die Geometrie, daß es einen solchen Grundsaz giebt, daß er aber als solcher noch nicht aufgestellt ist: ich glaube ihn gefunden zu haben, u. habe ihn, soweit ich mit meiner Untersuchung bis jezt vorgerükt bin, bewährt gefunden. […] […] Kant hat nach meiner Ueberzeugung das System nicht dargestellt; aber er hat es in Besiz, u. es wäre eine Aufgabe, ob er es mit deutlichem Bewußtseyn im Besiz hat; ob er einen Genius hat, der ihm die Wahrheit sagt, ohne ihm die Gründe derselben mitzutheilen oder ob er seinem Zeitalter das Verdienst des Selbstforschens überlaßen, u. mit dem bescheidenen Verdienst den Weg gewiesen zu haben, [sich] begnügen wollte.92
92 Johann Gottlieb Fichte: Johann Gottlieb Fichte an Johann Friedrich Flatt in Tübingen (Zürich, November oder Dezember 1793). In: Johann Gottlieb Fichte: Band III, 2. Briefe 1793–1795. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hg. von Hans Jacob und Reinhard Lauth. Stuttgart 1970, S. 18. Vgl. nachfolgend die englische Übersetzung von Henrich: „Aenesidemus, which I consider to be one of the most remarkable products of our decade, has convinced me of something which I admittedly already suspected: that even after the labors of Kant and Reinhold, philosophy is still not a science. Aenesidemus has shaken my own system to its very foundations, and, since one cannot live very well under the open sky, I have been forced to construct a new system. I am convinced that philosophy can become a science only if it is generated from one single first principle, but that it must then become just as self-evident as geometry. Furthermore, I am convinced that there is such a first principle, though it has not yet been established as such. […] Though I am convinced that Kant has not expounded this system of the human mind, he does have it in his possession and it would be a challenge to discover whether Kant is clearly conscious of possessing this system. Perhaps he has a genius that speaks the truth to him without sharing with him the reasons. Or perhaps he wished to content himself with the modest honor of having pointed
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Fichte schwärmt von einer Wissenschaftslehre, in der die Arbeiten von Kant und Reinhold eine wissenschaftliche Grundlegung haben können. Gemäß der Argumentationslinie von Reinhold und Schulze entwickelt Fichte seine Kantdeutung und sein eigenes philosophisches System, das darauf abzielt, ein erstes Prinzip beziehungsweise einen „Grundsatz“, der zwar von Kant entdeckt, aber noch nicht aufgestellt worden sei, zu konzipieren. Es ist ersichtlich, dass sein Zugang im kantischen Dualismus liegt und sein Ausgang ein einziger fundamentalistischer Grundsatz ist. Dieser Grundsatz muss im Prinzip in sich selbst begründet sein, ansonsten kann er nicht als axiomatisches Prinzip dienen. Er muss in der Lage sein, den Ursprung der von Kant nicht enthüllten Ursprünge von Sinnlichkeit und Verstand zu erklären. Durch die Untersuchung des Selbstbewusstseins, nämlich des Ichs, und der Funktion der Einbildungskraft versucht Fichte, die ursprüngliche Einheit im kantischen Dualismus zu finden.
1.3.2 Selbstbewusstsein und Einbildungskraft bei Fichte „One of the most significant achievements to emerge from Meditations is Fichte’s introduction, in conjunction with the absolute Self, of imagination.“93 Nach Henrich führte Fichte in seinem nachgelassenen Werk Eigne Meditationen über Elementarphilosophie (1793–1794) erfolgreich den Stellenwert der Einbildungskraft ein, die nicht nur in seiner Kantdeutung, sondern auch in seinem eigenen philosophischen System eine zentrale Stellung einnimmt. Obwohl möglicherweise Kant mit der Ansicht seines Nachfolgers nicht einverstanden gewesen wäre, so betrachtet Fichte dennoch weiterhin das Selbstbewusstsein als die wichtigste Grundlegung der kantischen Philosophie, ebenso wie allen menschlichen Wissens.94 Als die Grundlegung des Systems muss das Selbstbewusstsein selbstbegründbar sein, da es sonst in die Schwierigkeit der unendlichen Regression gerät. Im System Descartes´ und Kants ist dieses Selbstbewusstsein das kognitive Ich (res cogitans bei Descartes, Ich denke bei Kant), welches seine Realität durch die Reflexionstätigkeit selbst begründen kann. Aber diese
the way, deliberately leaving to his contemporaries the honor of carrying on the work themselves“ (Henrich: Between Kant and Hegel, S. 148). 93 Henrich: Between Kant and Hegel, S. 198. 94 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre 1794/95. In: Fichtes Werke. Hg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. 1: Zur theoretischen Philosophie I. Berlin 1971 (im Folgenden abgekürzt mit GWL), S. 91 [1].
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1.3 Die Suche nach Lösungen des „problematischen“ Dualismus Kants
Grundlegungen sind für Fichte noch problematisch, da die Realität des Ichs und des Nicht-Ichs, und ihre Beziehung zueinander noch nicht völlig geklärt sind. Im Falle von Descartes wird von Gott im Voraus die Realität der Welt und die Beziehung zwischen dem Ich und der Welt zugesichert. Im Fall von Kant ergibt sich die Realität des Erkenntnisobjekts aus der Gegebenheit der Anschauung, die von den Gegenständen gegeben wird. Kant besteht darauf, dass die Gegenstände uns wirklich affizieren, sodass wir die sinnliche Anschauung von demjenigen empfangen, das, in Fichtes Ausdruck, Nicht-Ich heißt. Kant bekennt sich dazu, dass die Dinge an sich zwar unerkennbar sind, aber er ist der Meinung, dass wir noch das Recht haben, uns der Realität der Erkenntnisobjekte zu versichern. Jedoch ist in den Augen vieler damaliger Philosophen Kants Erörterung nicht plausibel. Jacobis berühmte Kritik an der Widersprüchlichkeit des Begriffs Ding an sich vertritt die typische Verleugnung des kantischen Ansatzes.95 Der Spalt zwischen dem Ich und der Welt ist noch nicht überbrückt. Fichte zeigt aber auf, dass durch eine weiterführende Erklärung des Begriffs des Selbstbewusstseins in der kantischen Philosophie nicht nur der Ursprung und der ontologische Zustand des Nicht-Ichs dargelegt werden kann, sondern auch die Beziehung zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich. Die Erklärung bezüglich des Selbstbewusstseins, die sich auf die Reflexionstätigkeit des Selbstbewusstseins stützt, ist unvermeidlich kreisförmig – Fichte nennt sie „ein[en] unvermeidliche[n] Cirkel“.96 Denn die Reflexionstätigkeit muss die Erkenntnis des Selbstbewusstseins voraussetzen, um zu erklären, was der Gegenstand der Reflexion, nämlich das Selbstbewusstsein selbst, ist. Die Reflexion des Selbstbewusstseins setzt das Ich als Subjekt und das Ich als Objekt voraus. Aber wer sagt dem reflektierende Ich, dass der reflektierte Gegenstand das Ich selbst ist? Dies kann nur das Ich tun! Außerdem muss ebenfalls erklärt werden, wie die Beziehung zwischen dem Ich als Subjekt und dem Ich als Objekt begründet werden kann. Angesichts dieser Problematiken entwickelt Fichte seine eigene Theorie des Selbstbewusstseins, die auf drei Grundsätzen basiert. Der erste Grundsatz ist der der Selbstsetzungsfähigkeit des Selbstbewusstseins. Fichte schreibt: „Denkt man sich die Erzählung von dieser Thathandlung an die Spitze einer Wissenschaftslehre, so müsste sie etwa folgendermaassen ausgedrückt werden: Das Ich setzt ursprünglich schlecht-
95 Friedrich Heinrich Jacobi: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch. In: Jacobis Werke, 6 Bde. Hg. von F. Roth und F. Köppen [Leipzig 1812–1825], Reprint Darmstadt 1968. Bd. 2, S. 304. 96 GWL, S. 92 [2]. Vgl. ebenso Henrich: Between Kant and Hegel, S. 241–242.
67 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
hin sein eigenes Seyn.“97 Dieser Grundsatz erklärt einerseits die Grundlegung des ontologischen Zustandes des Ichs, andererseits bestimmt er, dass das Selbstbewusstsein eine „Tathandlung“ sei. Dass in der Tathandlung noch kein Objekt gesetzt ist, unterscheidet sie von einer Tatsache, die sich auf eine Subjekt-Objekt-Beziehung bezieht. Gleichzeitig gibt dieser neue Begriff dem Bewusstsein eine dynamische Bedeutung. Bei dieser Tathandlung, die einen ersten nicht weiter reduzierbaren Akt des Ichs aussagt, setzt das Ich „ursprünglich schlechthin sein eigenes Seyn“, kurz gesagt: „Ich bin schlechthin, weil ich bin.“98 Fichtes zweiter Grundsatz formuliert das Entgegensetzen des Ichs und Nicht-Ichs. Durch den Satz vom Widerspruch leitet Fichte logisch den zweiten Grundsatz seiner Wissenschaftslehre ab, dass nämlich dem Ich das Nicht-Ich entgegengesetzt sei: „so gewiss wird dem Ich schlechthin entgegensetzt ein Nicht-Ich.“99 Durch diesen Zusammenhang wird das Ich vom Nicht-Ich einschränkt. Für Fichte ist dieser Zusammenhang jedoch „noch nicht füglich zu bestimmen, noch in einer wörtlichen Formel auszudrücken“.100 Nachfolgend entwickelt er seinen dritten Grundsatz Der dritte Lehrsatz wird aufgestellt, um die Handlung des Entgegensetzens abzuleiten. Dieser dritte Grundsatz wird auf der Basis des ersten und zweiten deduziert. Aufgrund der beiden vorausgehenden Grundsätze ergibt sich ein Zusammenhang zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich. Dieser Zusammenhang erklärt tatsächlich eine Vereinigung des Entgegengesetzten, die von Fichte eine Handlung des Entgegensetzens genannt wird. Diese Vereinigung kann nur im Ich, als Bewusstsein, geschehen. Im Bewusstsein sind das Ich und das Nicht-Ich als Vorstellungen, mithin für Fichte als das „Produkt“ der Handlung des Ichs gegeben.101 Da diese Vorstellungen durch die Handlung des Ichs gegenseitig eingeschränkt werden, nennt Fichte die Handlung das „Einschränken“ und diese Vorstellungen als die „Schranken“. „Etwas einschränken heisst: die Realität desselben durch Negation nicht gänzlich, sondern nur zum Theil aufheben.“102 Durch das Einschränken werden das Ich und das Nicht-Ich zum teilbaren Ich und zum teilbaren Nicht-Ich im Bewusstsein. Daraus nun ergibt sich die Formel des drit-
97 98 99 100 101 102
Ebd., S. 98 [11]. Ebd. Ebd., S. 104 [20]. Ebd., S. 105 [22]. Vgl. ebd., S. 107 [26]. Ebd., S. 108 [27].
68 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
1.3 Die Suche nach Lösungen des „problematischen“ Dualismus Kants
ten Grundsatzes: „Ich setze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares NichtIch entgegen.“103 Auf diese Grundsätze gründet Fichte seine Theorie des Selbstbewusstseins. Diese Theorie erklärt die Struktur des Selbstbewusstseins und verweist auf die Tathandlung des Ichs. Die Bedeutsamkeit dieser Theorie liegt in der Ersetzung der Ontologie der Dinge durch die Ontologie des Prozesses.104 Denn das Selbstbewusstsein ist für Fichte eine Tathandlung anstatt einer Tatsache, die sowohl ein Akt als auch ein Produkt des gleichen Ichs ist. Allerdings bleiben einige Probleme noch ungelöst, nämlich: Wenngleich das Ich die reine Relation zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich setzen kann, so muss man aber noch weiter erklären, wie die Wahrnehmung der Dinge passiv ist, sich auf das Selbstbewusstsein beziehen kann. Diese Aufgabe ist für die Idealisten tatsächlich eine der schwierigsten Aufgaben, ist doch in Fichtes Wissenschaftslehre die Einbildungskraft verantwortlich für diese Aufgabe. Für Fichte ist die Entstehung aller Realität für uns durch die Einbildungskraft möglich. Mit den vorliegenden Grundsätzen haben wir einen noch nicht völlig geklärten Zusammenhang zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich. Dieser Zusammenhang wird vor allem vom Ich gesetzt, da nur das Ich das eigene Sein schlechthin ursprünglich setzen kann. Das heißt mit anderen Worten: Das Ich ist der einzige Ursprung der Realität im System Fichtes. Das Ich als der Ursprung muss dem Nicht-Ich die Realität aufgrund des „Anstoßes“ der Tätigkeit des Ichs übertragen, die nach innen getrieben und reflektiert wird, sodass das Angeschaute als der Vorstellungsinhalt dem Ich gegenübersteht. Somit wird das Angeschaute des Ichs und des Nicht-Ichs im Bewusstsein produziert. Das Anschauen ist für Fichte ein Schweben der Einbildungskraft zwischen den gegenseitigen und widerstreitenden Richtungen und dieses Schweben wird durch den Verstand fixiert. Die Realität überträgt sich vom Ich zum Nicht-Ich durch das Vermögen der Einbildungskraft, wodurch erst das Ideale zum Realen wird. Fichte nennt diese zum Vermögen der Einbildungskraft gehörende schwebende Handlung einen Wechsel des Ichs: Dieser Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich und unendlich zugleich setzt – ein Wechsel, der gleichsam in einem Widerstreite mit sich selbst besteht, und dadurch sich selbst reproducirt, indem das Ich unvereinbares vereinigen will, jetzt das unendliche in die
103 Ebd., S. 110 [30]. 104 Vgl. Henrich: Between Kant and Hegel, S. 205.
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Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
Form des endlichen aufzunehmen versucht, jetzt, zurückgetrieben, es wieder ausser derselben setzt, und in dem nemlichen Momente abermals es in die Form der Endlichkeit aufzunehmen versucht – ist das Vermögen der Einbildungskraft.105 Dieser Prozess ist ein unendlicher Prozess, der zwischen beiden schwebt. Fichte erklärt mit ihm auf eine radikal idealistische Art und Weise die Relation zwischen dem reinen Verstand und der sinnlichen Wahrnehmung – die Realität gründet sich essenziell auf die Wirkung der Einbildungskraft. So sagt er zusammenfassend im späteren Abschnitt der Grundlage des theoretischen Wissens: „Es wird demnach hier gelehrt, dass die Realität – es versteht sich für uns, wie es denn in einem System der Transcendental-Philosophie nicht anders verstanden werden soll – bloss durch die Einbildungskraft hervorgebracht werde.“106 Fichte hat die weitere Ausarbeitung des Charakters der Seele durch die Einbildungskraft in Bezug auf den Anstoß des Ichs durch ein Nicht-Ich in seiner Grundlage der Wissenschaft des Praktischen behandelt, auf die wir hier nicht weiter eingehen werden. Worauf wir jedoch zusammenfassend hindeuten möchten, ist, dass durch Fichtes Ausführungen die Einbildungskraft zu einem Kernbegriff in den damaligen philosophischen und literarischen Texten wurde. Die Einbildungskraft wird das notwendige Mittelglied zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich, dem theoretischen und praktischen Wissen, dem Endlichen und dem Unendlichem usw., wodurch sich die Spaltung von beiden in einem einzigen Bewusstsein lösen lässt. Wichtig ist noch an dieser Stelle darauf zu verweisen, dass Fichtes philosophische Überlegungen den Anstoß zu einem Prozess und einer Entwicklung gaben, die unmittelbar Schelling und Hegel inspirierten.
105 GWL, S. 215. Vgl. hierzu die englische Übersetzung in Henrich: Between Kant and Hegel: „This interplay of the self, in and with itself, whereby it posits itself at once as finite and infinite—an interplay that consists, as it were, in self-conflict and is self-reproducing, in that the self endeavors to unite the irreconcilable, now attempting to receive the infinite in the form of the finite, now, baffled, positing it again outside the latter, and in that very moment seeking once more to entertain it under the form of finitude—this is the power of imagination“ (ebd., S. 211–212). 106 Ebd., S. 227 [198].
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1.3 Die Suche nach Lösungen des „problematischen“ Dualismus Kants
1.3.3 Hegels Kritik an Kant und Fichte und seine Begrifflichkeit hinsichtlich der Einbildungskraft Neben Fichte diskutieren wir eine andere Denklinie, die die Einbildungskraft nicht als das „Mittelglied“ konzipierte.107 In Hegels frühen Publikationen finden sich viele Diskussionsbeiträge zur die Einbildungskraft, die die Denklinie der Kritik Schellings an der Philosophie der Subjektivität bei Kant und Fichte verfolgen. Hegel und Schelling lehnen die Unterscheidung von Vernunft und Einbildungskraft ab: Für beide ist Einbildungskraft tatsächlich die Vernunft.108 1802 publizierte Hegel im Kritischen Journal der Philosophie seinen umfangreichen Aufsatz Glaube und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie (im Folgenden abgekürzt mit GW), in dem er eine tiefgehende und allgemeine Analyse der Spaltung von Vernunft und Glauben anbot. Hegel beklagt, dass Kant, Jacobi, und Fichte für dieses Problem verantwortlich seien: Die Vernunft, welche dadurch an und für sich schon heruntergekommen war, daß sie die Religion nur als etwas Positives, nicht idealistisch auffaßte, hat nichts besseres tun können, als nach dem Kampfe nunmehr auf sich zu sehen, zu ihrer Selbstkenntnis zu gelangen und ihr Nichtssein dadurch anzuerkennen, daß sie das Bessere, als sie ist, da sie nur Verstand ist, als ein Jenseits in einem Glauben außer und über sich setzt, wie in den Philosophien Kants, Jacobis und Fichtes geschehen ist, und daß sie sich wieder zur Magd eines Glaubens macht.109 Zusammenfassend weist Hegel darauf hin, dass die Philosophien das Wesen der Vernunft in verschiedenen Dimensionen (zum Beispiel vom Wesen des Verstandes ist die Bedeutung der Vernunft limitiert) missverstanden haben, nämlich dadurch, dass Vernunft und Glaube gegeneinandergesetzt werden. Die wahre Gestalt der Vernunft wird als der Verstand in der
107 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie. In: Werke in 20 Bänden mit Registerband. Bd. 2: Jenaer Schriften 1801–1807. Frankfurt/Main 1986, S. 308. 108 Vgl. „Die Einbildungskraft als die ursprüngliche zweiseitige Identität, […] ist nichts anderes als die Vernunft selbst, […]“ (GW, S. 308) und „allein die Einbildungskraft, welche Vernunft ist, […]“ (GW, S. 209). Vgl. auch Jennifer Ann Bates: Hegel's Theory of Imagination. Albany, New York 2004, S. 3–4. 109 GW, S. 288.
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Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
kantischen Philosophie begrenzt und der Glaube an Gott beziehungsweise das Absolute ist so aus dem Bereich der echten Erkenntnis beseitigt. Die Veränderung des Verständnisses von Vernunft ist eine Folge der Aufklärung und der protestantischen Ethik, in der sich die Vernunft vom Absoluten und der unendlichen Erkenntnis distanziert und ihr Anwendungsfeld auf die endliche Erkenntnis begrenzt wird. Nach Kants Kritiken wird die Vernunft im Rahmen des transzendentalen Idealismus definiert, wodurch es unvermeidlich wird, einen Dualismus anzunehmen, der zu einer Spaltung von Denken und Seiendem, Noumenon und Phänomenon, Sollen und Sein, Unendlichkeit und Endlichkeit usw. führt. Daher urteilt Hegel: „[D]ie ganze Aufgabe und Inhalt dieser Philosophie [Kants] ist nicht das Erkennen des Absoluten, sondern das Erkennen dieser Subjektivität oder eine Kritik der Erkenntnisvermögen“.110 Wie kann die Spaltung überwunden und sogar der Streit zwischen Glauben und Wissen ausgesöhnt werden? Für Schelling und den frühen Hegel ist dies die Aufgabe der Einbildungskraft. Schelling nennt die Einbildungskraft ein Schweben zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen und dieses Schweben ist der Kern der Identität. Das Endliche und das Unendliche sind grundsätzlich unvergleichbar, aber in dem und durch das von der Einbildungskraft ausgelöste Schweben können sie vereinigt werden. Die Trennung von Vernunft und Verstand in der Philosophie Kants lässt sich in der Entwicklung der Vernunft vom Endlichen zum Unendlichen lösen, die von der Wirkung der Einbildungskraft abhängig ist. Der frühe Hegel verfolgt grundsätzlich diese Denklinie. In GW wird auch die Rolle der Einbildungskraft in Hegels Kritik an Kant und Fichte thematisiert. Ebenfalls in der Differenzschrift aus dem Jahre 1801 greift Hegel die Erfassung des Begriffs der Wahrheit durch die spekulative Philosophie mit der Vernunft anstatt des Verstandes auf.111 Kant und Fichte gehören in das gleiche Lager, das dem Verstand einen Vorrang in der Wahrheitsbestimmung beimisst. Nach Hegel misslingt es einerseits Kant, die spekulative Idee in der transzendentalen Einbildungskraft zu erkennen; andererseits misslingt es Fichte, die spekulativ Idee im praktischen Zweck der Vernunft zu verstehen.112 Der Fehler von Kant und Fichte liegt in ihrem Verständnis der synthetischen Einheit, die das Entgegengesetzte durch die transzendentale bezie-
110 Ebd., S. 303. 111 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie. In: Werke in 20 Bänden mit Registerband. Bd. 2: Jenaer Schriften 1801–1807. Frankfurt/Main 1986. 112 Bates: Hegel’s Theory of Imagination, S. 4.
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1.3 Die Suche nach Lösungen des „problematischen“ Dualismus Kants
hungsweise produktive Einbildungskraft in der KrV vereinigt. Dazu erklärt Hegel: Diese ursprüngliche synthetische Einheit, d. h. eine Einheit, die nicht als Produkt Entgegengesetzter begriffen werden muß, sondern als wahrhaft notwendige, absolute, ursprüngliche Identität Entgegengesetzter, ist sowohl Prinzip der produktiven Einbildungskraft, der blinden, d. h. in die Differenz versenkten, von ihr sich nicht abscheidenden, als der Differenz identische setzenden, aber von den Differenten sich unterscheidenden Einheit, als Verstand; […]113 Für Schelling und Hegel ist die Synthesis die Tätigkeit des Absoluten. Die ursprüngliche Einheit der Subjekt-Objekt-Entgegensetzung und Wahrheit ist die Dialektik der Selbstoffenbarung des Absoluten. Kant nannte dies das Vermögen der ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption und beabsichtigte durch die transzendentale Deduktion diesen obersten Punkt der Transzendentalphilosophie nachzuweisen. Hegel jedoch erhebt gegenüber Kant den Vorwurf, dieser habe nur das Subjekt verabsolutiert und gleichzeitig werde das Objekt unvermeidlich als das Ansich des empirischen Bewusstseins konzipiert. Die produktive Einbildungskraft als die ursprüngliche zweiseitige Identität „versenkt“ sich in diesem Sinne von der Vernunft in den Verstand. Die Vernunft wird deshalb als ein Endliches verstanden und limitiert. Das Absolute als das Unendliche ist eine unerreichbare Idee im System Kants sowie Fichtes. Hegel schließt ein, dass: […] das Absolute aber als ein Gegenstand und absolutes Objekt der Vernunft in ein absolutes Jenseits des vernünftigen Erkennens sich umgewandelt und diese Metaphysik der Subjektivität, während andere Gestalten derselben auch selbst in dieser Sphäre nicht zählen, den vollständigen Zyklus ihrer Formen in der Kantischen, Jacobischen und Fichteschen Philosophie durchlaufen […], was sich bei Gelegenheit dieser Philosophien über die Unendlichkeit, die ihr zum Absoluten gemachtes und dadurch mit der Entgegensetzung gegen die Endlichkeit behaftetes Prinzip ist, ergeben hat; indem in denselben das Denken als Unendlichkeit und negative Seite des Absoluten – welche die reine Vernichtung des Gegensatzes oder der Endlichkeit, aber zugleich auch der Quell der ewigen Bewegung oder der Endlichkeit, die unendlich ist, d. h. die sich ewig vernichtet, aus welchem Nichts und reinen
113 GW, S. 305.
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Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
Nacht der Unendlichkeit die Wahrheit als aus dem geheimen Abgrund, der ihre Geburtsstätte ist, sich emporhebt – erkannt wird.114 Aufgrund des Missverstands des Wesens der Vernunft und der Fehlpositionierung der Beziehung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen zielt Hegel auf eine Wiederherstellung der Philosophie – „weil das Heitere, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien sowie der Naturreligionen verschwinden muß“115 –,die in seinen späteren Werken, wie zum Beispiel der Phänomenologie des Geistes, grundlegend durchgeführt wurde. Hegels Kant- und Fichtedeutung blieb nicht unangefochten. Rockmore weist darauf hin und schreibt dazu: „Hegels Deutung seiner Zeitgenossen ist offensichtlich strittig. Die Kantianer sind der Auffassung, er nehme die kritische Philosophie nicht ernst. Die Fichteaner glauben ebenfalls, daß Hegels Fichte Interpretation problematisch ist.“116 Gleichwohl ist Hegels Deutung dennoch inspirierend und wichtig, da sie eine Dimension eröffnet hat, die sich auf eine Überlegung des echten philosophischen Gesprächs zwischen verschiedenen Philosophen bezieht. Aus diesem Grund kommentiert Rockmore weiter: „Für Heidegger war es gleichgültig, ob er die anderen Philosophen richtig versteht, da er bestrebt war, hinter die philosophische Tradition zu gehen. Für Hegel ist es aber nicht gleichgültig, ob er die anderen Positionen versteht, da er auf dem früheren Denken aufbauen will.“117 Obwohl Rockmores Kommentar nicht zwangsläufig richtig ist, so weist er doch darauf hin, dass die philosophischen Diskussionen untrennbar mit dem Verständnis der früheren Tradition verbunden sind, ganz gleich ob mit dem korrekten oder inkorrekten. Durch eine Rekonstruktion des philosophischen Kontextes hinsichtlich des Begriffs Einbildungskraft können wir nicht nur das unterschiedliche Verständnis der Einbildungskraft vonseiten der verschiedenen Philosophien erkennen, sondern auch die unterschiedlichen Erfassungen und Konzeptionen der verschiedenen Erkenntnisvermögen und sogar die wirkliche Aufgabe der Philosophie überhaupt verstehen.
114 Ebd., S. 430–431. 115 Ebd., S. 432. 116 Tom Rockmore: Hegels »Glauben und Wissen« und Kants konstruktivistischer epistemologischer Ansatz. In: Hegel-Jahrbuch 7 (2005), S. 188–190, hier S. 188. 117 Ebd., S. 188.
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1.4 Wie sollen wir Heideggers Kantdeutung berücksichtigen?
1.4 Wie sollen wir Heideggers Kantdeutung berücksichtigen? 1.4.1 Kantianer, Kantnachfolger und -deuter Nach dem Rückblick auf die Kantrezeption Fichtes und Hegels in Bezug auf die Einbildungskraft kehren wir nun zu Heidegger zurück. In diesem Abschnitt möchte ich darauf hinweisen, welche Relation zwischen der oben erwähnten philosophischen Tradition und Heideggers Kantdeutung besteht. Aber bevor diese Beziehung dargelegt wird, möchte ich zuerst eine begriffliche Abgrenzung einbringen, die drei Dimensionen einer Kantrezeption einschließt. Diese Abgrenzung soll uns helfen, die verschiedenen Schwerpunkte und Absichten der Kantgelehrten in ihrer eigenen Kantdeutung zu erfassen. Wir müssen die Begriffe Kantianer, Kantnachfolger und -deuter voneinander unterscheiden. Als Kantianer wird, ganz allgemein gesagt, jemand bezeichnet, der der Terminologie, der Methode, der Grundeinstellung und den Grundvoraussetzungen Kants treu geblieben ist. Das zentrale Ziel eines Kantianersist nach meiner Deutung die Rückkehr zur ‚originalen‘ Bedeutung von Kant oder die Stärkung der kantischen Argumentation durch eine ausführliche Untersuchung und Rekonstruktion der kantischen Texte. Kantianer bemühen sich um Beiträge zur Philosophie Kants und überlassen den Ruhm Kant. Die Genauigkeit einer Erklärung im Geiste Kants ist für einen Kantianer vorrangig. Kantnachfolger heißt derjenige, der der Denkweise und den Themen Kants folgt und, was sogar noch wichtiger ist, sie fortentwickelt. Der Unterschied zwischen einem Kantnachfolger und einem Kantianer liegt hauptsächlich darin, dass ein Kantnachfolger sich mit der kantischen Terminologie nicht allzu sehr beschäftigt. Ein Kantnachfolger kümmert sich in erster Linie nicht um die Richtigkeit seiner Erörterung und Deutung Kants, sondern um die Gültigkeit. Er will mehr das von Kant Ungesagte als das Gesagte erkunden und besteht darauf, dass das Ungesagte sich noch im Rahmen der kantischen Philosophie befindet. Kantdeuter zeigen sich mehr am Ideenreichtum einer Kantdeutung interessiert. Im Gegensatz zum Kantianer und Kantnachfolger verändert ein Kantdeuter oft die kantische Terminologie, um den eigenen theoretischen Bedürfnissen gerecht zu werden. Ein Kantdeuter glaubt, dass es in der philosophischen Interpretation wichtig sei, für ein offenes Gespräch zur Verfügung zu stehen. Die Früchte eines philosophischen Gesprächs sind für ihn bedeutsamer als die Genauigkeit und Gültigkeit einer wörtlichen Deutung. Eine Kantdeutung zielt oft auf eine ‚größere‘ philosophische Agenda,
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Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
die die ‚originale‘ Philosophie Kants um ein Problembewusstsein ‚erweitert‘ oder sie sogar ‚verbessert‘. Der Schwerpunkt eines Kantdeuters, der solches behauptet, liegt mehr in dem Offenhalten der Deutung als in seiner Lesart der Philosophie Kants.118 Anhand der oben genannten Kriterien können wir umrisshaft und vereinfacht gesagt definieren, dass Fichte dazu neigt, ein Kantianer und Kantnachfolger zu sein, Hegel ein Kantnachfolger und -deuter und Heidegger hauptsächlich ein Kantdeuter ist. Fichte vertritt den Standpunkt, dass seine philosophische Aufgabe eine kantische sei, obwohl Kant klar angekündigt hatte, dass sich seine kritische Philosophie von der Philosophie Fichtes losgesagt habe;119 Hegel folgt zwar getreulich der kantischen und fichteschen Philosophie, aber er kritisiert sie auch sehr hart. Außerdem stellt er in seiner Philosophie einen terminologischen Einfluss vonseiten Kants und Fichtes fest. Daher denken viele Hegelgelehrte, dass Hegel in der Tat das kantische Projekt grundsätzlich vollendet habe, obwohl sich gleichzeitig seine Philosophie von der kantischen radikal unterscheide120; Heidegger ist der Ansicht, gleichgültig ob in seiner früheren oder späteren Zeit, dass Kant eine wichtige und unersetzbare Rolle in seiner philosophischen Entwicklung und überhaupt in der „Seinsgeschichte“ gespielt habe. Jedoch folgt seine Kantdeutung der Terminologie Kants am wenigsten. Allerdings ordnet er die kantische Philosophie immerhin seinem Problembewusstsein zu. Deshalb sind viele Kritiker der Meinung, dass Heideggers Kantdeutung in der Tat mehr eine Annexion der kantischen Philosophie statt eines Gesprächs mit Kant sei.
1.4.2 Heidegger als Kantdeuter: Der Stellenwert seiner Kantdeutung Die Gründe, auf denen die Unbeliebtheit der Kantdeutung Heideggers beruht, haben wir schon im Abschnitt 1.1.3 diskutieret. Nun wollen wir von
118 Der Begriff „Offenhalten“ ist von Heidegger ausgeliehen, vgl. KPM, S. 123. 119 Vgl. „Also ist die Frage: ob ich den Geist der Fichteschen Philosophie für ächten Criticismus halte, durch ihn selbst beantwortet, ohne daß ich nöthig habe, über ihren Werth oder Unwerth abzusprechen; da hier nicht von einem beurtheilten Object, sondern dem beurtheilenden Subject die Rede ist; wo es genug ist, mich von allem Antheil an jener Philosophie loszusagen“ (AA XXII: Briefwechsel Bd. III 1795–1803, S. 370). 120 Vgl. zum Beispiel Chong-Fuk Lau: Spekulative Philosophie als sich vollbringender Kritizismus. In: Die freie Seite der Philosophie. Skeptizismus in Hegelscher Perspektive. Hg. von Brady Bowman und Klaus Vieweg. Würzburg 2006, S. 125–138.
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1.4 Wie sollen wir Heideggers Kantdeutung berücksichtigen?
den Gründen sprechen, warum seine Kantdeutung auch heute noch mehr Beachtung verdient hat. Zunächst möchte ich feststellen, dass die Genauigkeit nicht der einzige Standard sein soll, um zu beurteilen, ob eine Kantdeutung eine gute Deutung ist. Vielleicht ist sie für Kantianer das Hauptanliegen, aber Gültigkeit und Ideenreichtum sind ebenfalls für eine wahre und ehrliche Deutung wichtig. Originär galt die Hermeneutik in der Antike und im Mittelalter als Wissenschaft und Kunst der Auslegung gegebener Texte, da man die genaue Bedeutung der Worte der Götter beziehungsweise Gottes (Bibelexegese) und der Gesetze verstehen wollte. Deutung als hermeneutische Tätigkeit zielt in der Neuzeit, insbesondere nach Diltheys, Heideggers und Gadamers Neuansatz und Weiterentwicklung, nicht mehr nur auf eine genaue Erklärung der Texte. Bei Heidegger ist das Verstehen als ein konstitutives Element der gesamten Seinsverfassung des Menschen, nämlich als ein „Existenzial“ konzipiert. Das Dasein ist durch ein Seinsverständnis, das ein hermeneutisches Wesen besitzt, herausgehoben und durch dieses hermeneutische Verständnis arbeitet das Dasein sein geschichtliches Sein aus. In SZ verdeutlicht Heidegger dies: Phänomenologie des Daseins ist Hermeneutik in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, wonach es das Geschäft der Auslegung bezeichnet. Sofern nun aber durch die Aufdeckung des Sinnes des Seins und der Grundstrukturen des Daseins überhaupt der Horizont herausgestellt wird für jede weitere ontologische Erforschung des nicht daseinsmäßigen Seienden, wird diese Hermeneutik zugleich »Hermeneutik« im Sinne der Ausarbeitung der Bedingungen der Möglichkeit jeder ontologischen Untersuchung. Und sofern schließlich das Dasein den ontologischen Vorrang hat vor allem Seienden – als Seiendes in der Möglichkeit der Existenz, erhält die Hermeneutik als Auslegung des Seins des Daseins einen spezifischen dritten – den, philosophisch verstanden, primären Sinn einer Analytik der Existenzialität der Existenz. In dieser Hermeneutik ist dann, sofern sie die Geschichtlichkeit des Daseins ontologisch ausarbeitet als die ontische Bedingung der Möglichkeit der Historie, das verwurzelt, was nur abgeleiteterweise »Hermeneutik« genannt werden kann: die Methodologie der historischen Geisteswissenschaften.121 Verstehen wird durch die Form der Hermeneutik in Gang gesetzt. Hermeneutik verausgabt sich weder in einem einfachen theoretischen Auslegen 121 SZ, S. 37–38.
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noch in einer Auslegungslehre. Es handelt sich vielmehr um den weiter gespannten Versuch, das Wesen der Auslegung vor allem aus dem Dasein, das sich selbst in seiner Zeit und Geschichte auslegt, zu bestimmen. Diese Auslegung ist für Heidegger ein „methodische[r] Sinn der phänomenologischen Deskription“, durch die sich das Fragen nach dem Sinn von Sein ermöglichen lässt.122 Insofern wir dem Sinn diese Bedeutung beimessen, können wir verstehen, dass Heideggers Kantdeutung nie als die Suche nach einem richtigen Verständnis der kantischen Philosophie konzipiert werden soll. Was Heidegger, wie er im Vorwort zur zweiten Auflage von KPM eingestanden hat, im Voraus anstrebt, ist „ein denkendes Gespräch zwischen Denkenden“.123 Er ist mit dem Vorwurf der „Gewaltsamkeit“124 seiner Auslegungen einverstanden und ist der Ansicht, dass aus der Perspektive der „philosophiehistorischen Forschung“125 dieser Vorwurf „jedesmal im Recht“126 sei. Nicht ohne Ironie deutet er an, dass diese Forschung zur historischen Philologie gehöre. Heidegger kritisiert mit anderen Worten eigentlich, dass sie keine Philosophie sei. Aus der Perspektive der Genauigkeit, ist Heideggers Kantdeutung voller Fehler und Verzerrungen. Aber dies ist kein ausreichender Grund, seine Deutung abzulehnen. Wir haben bereits im Abschnitt 1.1.3 dargestellt, warum Heideggers Kantdeutung unbeliebt ist. Zudem haben wir am Ende gefragt, inwiefern wir Heideggers Kantdeutung aufwerten sollen, anstatt sie einfach abzuwerten. Ich möchte hier zwei Gründe oder Perspektiven angeben, warum wir seine Kantdeutung ernsthaft bedenken sollten, um diese Frage vorläufig zu beantworten. Erstens sollten wir darüber nachdenken, warum Heidegger uns als ein Kantnachfolger von Nutzen sein kann. Wenn wir Heidegger als einen Kantnachfolger begreifen, sollten wir gleich zu Anfang prüfen, in welchem Sinne er es ist. Im Einklang mit der obigen Darstellung können wir feststellen, dass den Kern der Kantdeutung Heideggers, die in den folgenden Kapiteln Schritt für Schritt erklärt werden soll, ein Problembewusst-
122 Vgl. „Aus der Untersuchung selbst wird sich ergeben: der methodische Sinn der phänomenologischen Deskription ist Auslegung. Der λόγος der Phänomenologie des Daseins hat den Charakter des έρμηνεύειν, durch das dem zum Dasein selbst gehörigen Seinsverständnis der eigentliche Sinn von Sein und die Grundstrukturen seines eigenen Seins kundgegeben werden“ (SZ, S. 37). 123 KPM, S. XVII. 124 Ebd. 125 Ebd. 126 Ebd.
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1.4 Wie sollen wir Heideggers Kantdeutung berücksichtigen?
sein ähnlich dem der deutschen Idealisten bildet, das auf die Suche nach der ursprünglichen Einheit des kantischen Systems abzielt. Der Mythos von der „gemeinschaftlichen Wurzel“ spielt noch eine wichtige Rolle in Heideggers Kantdeutung, indem sich seine Ansprüche bezüglich der Einbildungskraft als das „dritte Grundvermögen“ und die „gemeinschaftliche Wurzel“ im Kant-Buch enthüllen lassen. In der Tat bemerkte er diese Problematik sogar schon sehr früh. In Logik. Die Frage nach der Wahrheit, der Marburger Vorlesung im Wintersemester 1925/26, verweist er bereits darauf und stellt fest: Kant setzt diese beiden Stämme voraus und erörtert nun die Bezüge beider. Aber gerade aus dieser ganzen Methodik ergeben sich die wesenhaften Unzuträglichkeiten. Weil er sie nämlich zunächst getrennt hat und getrennt verfolgt, deshalb entsteht ihm nachher das Problem: Wie sind nun diese beiden Stämme und ihre Funktionen zu vermitteln, wie sind sie zu vereinheitlichen, welches ist der tragende Grund der eigentlich konkreten Einheit von Erkenntnis? Und Kant sieht sich damit gezwungen, am Ende doch den einen Stamm in gewisser Weise in den anderen aufzulösen? Oder jedenfalls in ihm zu fundieren, Sinnlichkeit im Verstand, und weiterhin zur Vermittlung das Phänomen der Einbildungskraft einzuführen, welche Einbildungskraft Kant phänomenologisch nicht nur ungeklärt läßt, sondern vor allem läßt er die eigentlich fundamentalen Bezüge der Einbildungskraft sowohl zur Sinnlichkeit wie zum Verstand dunkel.127 Es ist ersichtlich, dass Heidegger das Wurzelproblem in der kantischen Tradition bewusst aufnimmt. In diesem Sinne ist er wie die Idealisten ein Kantnachfolger, der die Absicht verfolgt, sowohl die kantische Problematik richtig zu verstehen und zu vertiefen als auch das von Kant Ungesagte aufzudecken. Zweitens sollten wir ergründen, was Heidegger als Kantdeuter uns vermittelt hat. Allerdings geben wir an dieser Stelle nur eine ganz allgemeine Antwort darauf, da wir dies in den folgenden Kapiteln weiter erkunden und argumentativ untermauern werden. Ein bedeutsamer Beitrag seiner Kantdeutung liegt, so glaube ich, in der Eröffnung einer Möglichkeit der phänomenologischen Interpretation der Philosophie Kants. Diese Interpretation, die mit der Methode der Phänomenologie Husserls und dem Interesse an Diltheys Lebensphilosophie vermischt ist, führt uns zu der Überlegung, eine Philosophie der Subjektivität zu erneuen. In seiner frühen Zeit 127 GA 21, S. 283.
79 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Erstes Kapitel: Einbildungskraft als ein Problem in der Philosophie Kants
stand Heidegger noch unter dem Einfluss der Tradition der Philosophie der Subjektivität, die sich von Descartes über Kant bis zu Husserl entwickelt hatte. Diese Tradition betont den Vorrang des Erkenntnissubjekts, indem sich der ontologische Zustand des Subjekts und des Objekts (als Seiende) bestimmen lässt. Das Subjekt als ein Erkenntnissubjekt ist für Heidegger nicht das ursprüngliche, da das Erkennen dieses Subjekts selbst nur durch eine Reflexion möglich wird, die eine Subjekt-Objekt-Beziehung voraussetzt. Nach Heidegger ist das Seinsverständnis früher als die Reflexionstätigkeit, mit dem das Dasein nicht nur schon die Beziehung zwischen dem Selbst und den Seienden unthematisiert erfasst hat, sondern auch sein Sein in und mit der Welt verfassen kann. Dasein als In-der-Weltsein versteht sich selbst hermeneutisch in der Begegnung der Seienden, des anderen Daseins und des Selbst. Diese Möglichkeit ist von der Grundstruktur der Seinsverfassung des Daseins bezüglich seiner Zeitlichkeit abhängig. Die Bedeutung des Begriffs Zeit in der Philosophie Kants beeindruckte und inspizierte Heidegger am meisten, weshalb er in seiner Kantdeutung viel Aufmerksamkeit und Mühe in die Erörterung des Schematismuskapitels der KrV investierte, um zu zeigen, dass es die wesentliche Bedeutung der Zeitlichkeit erstmals in der abendländischen Philosophiegeschichte enthüllt. Diese Deutung ist gewichtig, da sie die dynamische Dimension der Subjektivität in der kantischen Philosophie hervorhebt. Die Zeit als die Zeitlichkeit des Daseins ist nun nicht mehr eine Form der Anschauung, die nur eine formelle Bedingung der Erfahrungskonstitution wiedergibt. Durch die Zeitlichkeit beziehungsweise die Geschichtlichkeit erlebt und errichtet das Dasein seine eigene Geschichte. Mit dieser Interpretation vollendet Heidegger die Aufgabe, die, wie Dilthey dachte, Kant nicht berücksichtigt hatte. Dilthey kritisiert Kant in der Vorrede der Einleitung in die Geisteswissenschaften: Wenn man von wenigen und nicht zur wissenschaftlichen Ausbildung gelangten Ansätzen, wie denen Herders und Wilhelm von Humboldts absieht, so hat die bisherige Erkenntnistheorie, die empiristische wie die Kants, die Erfahrung und die Erkenntnis aus einem dem bloßen Vorstellen angehörigen Tatbestand erklärt. In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt
80 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
1.4 Wie sollen wir Heideggers Kantdeutung berücksichtigen?
nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit.128 Heidegger ist grundsätzlich mit der Einsicht Diltheys einverstanden, dass die Dimension des konkreten, existierenden Lebens in die Philosophie Kants eingebracht werden müsse. Er lehnt daher die erkenntnistheoretische Lesart als Zugang zur Philosophie Kant, insbesondere der KrV, ab. Lieber würde er die KrV durch eine umfangreiche Intervention zum Begriff Einbildungskraft als Grundlegung einer Fundamentalontologie umdeuten, um eine ontologisch-existenziale Kantdeutung in die Wege zu leiten. Mit dieser Absicht spielt Heidegger die Rolle eines Kantdeuters, der beabsichtigt, die ontologische Bedeutung der Philosophie Kants aufzudecken. Mit dieser Vorgabe im Blick wenden wir uns nun dem direkten Hintergrund der Entstehung seiner Kantdeutung zu, um so seinen philosophischen Ansatz und die Voraussetzung besser verstehen zu können und für eine vergleichende Untersuchung seiner Kantdeutung vorbereitet zu sein.
128 Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. In: Gesammelte Schriften, Bd. 1. Leipzig und Berlin 1922, S. XVIII.
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
2.1 Leben als Thema: Heideggers frühe philosophische Orientierung 2.1.1 Die Entstehung des Problembewusstseins Heideggers Kantdeutung ist kein isoliertes Vorhaben, das aus seinem eigenen philosophischen Interesse und Problembewusstsein entfernt werden kann. Im Vorwort zur ersten Auflage seines Kant-Buchs, das sicherlich einer der wichtigsten Texte seiner Kantdeutung ist, verdeutlicht er dies: Die Auslegung der „Kritik der reinen Vernunft“ erwuchs im Zusammenhang einer ersten Ausarbeitung des zweiten Teils von „Sein und Zeit“. [...] Im zweiten Teil von „Sein und Zeit“ wird das Thema der nachstehenden Untersuchung auf dem Boden einer weitergespannten Fragestellung behandelt werden. Dagegen ist dort auf eine fortschreitende Auslegung der Kritik d. r. V, verzichtet. Das soll die vorliegende Veröffentlichung als vorbereitende Ergänzung leisten. Zugleich verdeutlicht sie im Sinne einer „geschichtlichen“ Einleitung die in „Sein und Zeit“ 1. Hälfte behandelte Problematik.129 Obwohl eine innere Verbindung zwischen SZ und KPM offensichtlich und unbestreitbar ist, sind das Kant-Buch sowie seine Kantdeutung, die in verschiedenen Werken dargestellt wird, nicht ohne Herausforderungen. Aus diesem Grunde soll es nicht als ein geringwertiges Werk, nur als ein Anhang von SZ, betrachtet werden. Jedoch diskutieren wir hier nicht weiter, ob das Kant-Buch als eine Fortsetzung der Seinsfrage oder als erster Abschnitt des zweiten Teils des ganzen Vorhabens von SZ gesehen werden soll.130 An dieser Stelle möchte ich nur aufzeigen, dass die Entstehung des Problembewusstseins der Kantdeutung Heideggers nicht aus seiner damaligen Orientierungsganzheit entfernt werden darf. Sein Problembewusstsein und seine Denkrichtung vor der berühmten ersten „Kehre“ sollten zumindest als ein Kontinuum gedacht werden, das unter den verschiedenen
129 KPM, S. XVI. 130 Vgl. SZ, S. 39–40.
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
Leitideen durch die Methode des Versuchs und Irrtums entwickelt und konstruiert wurde.131 Dazu ist es jedoch notwendig, auf seine früheren Werke (ungefähr zwischen 1919 und 1927), das heißt vor dem Erscheinen des Kant-Buchs im Jahr 1929, und sicherlich auf sein Vorhaben in SZ (1927) zurückzublicken, um einen Einblick in sein damaliges Problembewusstsein bezüglich seiner Kantdeutung zu gewinnen. Genauso wenig umstritten ist, dass die „Seinsfrage“ im Ganzen die erste und wichtigste Frage für Heidegger ist. Allerdings gibt es noch eine andere Position, die davon ausgeht, dass die „Seinsfrage“ nicht das einzige und dominierende Thema in seinen Frühwerken war, sondern in seinen frühen Freiburger Vorlesungen (1919–1923) das Leben. In The Genesis of Heidegger’s Being and Time zeigt Theodore Kisiel auf, dass Heidegger die philosophische Tendenz zum Leben, die entscheidend in seiner Frühzeit war, sich in seiner Spätzeit zu eigen machte.132 Dermot Moran fasst dies noch deutlicher zusammen, wenn er schreibt, dass statt der Seinsfrage die Idee von „Philosophie“ und „Leben“ die zentrale Rolle in Heideggers frühem Denken gespielt habe.133 Heidegger selbst gibt in einer Fußnote in SZ zu, dass „er die Umweltanalyse und überhaupt die »Hermeneutik der Faktizität« des Daseins seit dem W. S. 1919/20 wiederholt in seinen Vorlesungen mitgeteilt hat.“134 Es ist zweifellos so, dass in seiner Frühzeit das Thema Leben (er nennt es später das Dasein) ein zentraler Gegenstand seines Denkens war. Es sei darauf hingewiesen, dass wir unter Heideggers Frühzeit oder Frühwerken ungefähr die Jahre zwischen 1919 und 1927, also bis SZ publi-
131 Theodore Kisiel definiert die „Kehre“ als „eine Rückkehr seiner früheren Einsichten“: „These too should be noted, in order to offset the retrospective distortions that accompany the fact that we already know how the Story ends, namely, in BT [Being and Time] itself. For part of the Story is that BT itself is a failed project, and that Heidegger then returns to earlier insights left unpursued in order to begin again. This is the real meaning of his self-professed and much discussed turn“ (Theodore Kisiel: The Genesis of Heidegger’s „Being and Time”. Berkeley 1995, S. 3). 132 Kisiel: The Genesis of Heidegger’s „Being and Time”, S. 9. 133 „For instance, it is clear that the ‘question of Being’ (die Seinsfrage) is not the dominant theme of his early writings, which are more concerned to make precise his understanding of the very nature of philosophy and to articulate the nature of historical human existence (what he first called ‘life’ and the ‘Dasein’) in facticity and finitude“ (Dermot Moran: The Early Heidegger. In: The Bloomsbury Companion to Heidegger. Hg. von François Raffoul und Eric Sean Nelson. London 2013, S. 23–30, hier S. 23). 134 SZ, S. 72, Fußnote 1.
84 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
2.1 Leben als Thema: Heideggers frühe philosophische Orientierung
ziert wurde, meinen. Nach Kisiel entwickelte Heidegger in der Tat seine eigenen philosophischen Themen und Sprachen mit Varianten während dieser Zeit.135 Seine frühe Orientierung kann anhand der Themen seiner Untersuchungen und Vorlesungen eindeutig ermittelt werden, als da wären: menschliches Leben oder Lebensphilosophie (Dilthey und Simmel), Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus (Rickert, Natorp, Windelband, Lask und Cohen) und Phänomenologie (Husserl und Scheler). Jedoch möchte ich hier nicht auf alle Details eingehen, sondern nur hervorheben, dass bis zur Publikation von SZ das Thema des menschlichen Daseins, des Selbst, der faktischen Lebenserfahrung beziehungsweise des Lebens das Denken Heideggers bestimmte.136 Heideggers Interesse für das Phänomen des Lebens ist mit seinem Studium der Schriften Diltheys untrennbar verbunden. In Grundprobleme der Phänomenologie (Vorlesung im Wintersemester 1919/20) lobte Heidegger ihn und schreibt: „Dilthey eröffnete, sowenig er noch bis zum Ursprung vordrang, einen neuen Aspekt der Geistesgeschichte, schuf überhaupt ihre echte Idee.“137 Obwohl er die diltheysche Terminologie wie Leben oder Lebenserfahrung in der Periode von SZ fallenließ, gab er den diltheyschen Einfluss zu: W. Diltheys Forschungen werden durch die ständige Frage nach dem »Leben« in Atem gehalten. Die »Erlebnisse« dieses »Lebens« sucht er nach ihrem Struktur- und Entwicklungszusammenhang aus dem Ganzen dieses Lebens selbst her zu verstehen. Das philosophisch Relevante seiner »geisteswissenschaftlichen Psychologie« ist nicht darin zu suchen, daß sie sich nicht mehr an psychischen Elementen und Atomen orientieren und das Seelenleben nicht mehr zusammenstücken will, vielmehr auf das »Ganze des Lebens« und die »Gestalten« zielt – sondern daß er bei all dem vor allem unterwegs war zur Frage nach dem »Leben«. Freilich zeigen sich hier auch am stärksten die Grenzen sei-
135 Vgl. Kisiel: The Genesis of Heidegger’s „Being and Time”, S. 4. 136 Vgl. „Zunächst müssen wir das eine klar sehen: Das Dasein ist existierend ihm selbst da, auch wenn sich das Ich nicht ausdrücklich auf sich selbst in der Weise einer eigenen Um- und Rückwendung zu sich selbst richtet, die man in der Phänomenologie als innere Wahrnehmung gegenüber der äußeren bezeichnet. Das Selbst ist dem Dasein ihm selbst da, ohne Reflexion und ohne innere Wahrnehmung, vor aller Reflexion“ (GA 24, S. 226). 137 Martin Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie (Wintersemester 1919/20). In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 58. Hg. von Hans-Helmuth Gander. 2., durchgesehene Aufl., Frankfurt/Main 2010 (GA 58), S. 9.
85 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
ner Problematik und der Begrifflichkeit, in der sie sich zum Wort bringen mußte.138 Diltheys Einfluss auf Heidegger kann tatsächlich bis zum Jahre 1914 zurückverfolgt werden und bestimmt in großem Umfang Heideggers Rezeption und Kritik der Wertphilosophie des Neukantianismus.139 Es gibt in der Heideggerforschung eine anerkannte These, die von Charles Guignon in seinem Werk Heidegger and the Problem of Knowledge140 aus dem Jahre 1983 aufgestellt und dann von Theodore Kisiel und Charles Bambach weiter entwickelt wurde, dass das frühe Denken Heideggers bis in die Mitte der 20er Jahre von Diltheys Interpretation der Begriffe Hermeneutik, Geschichtlichkeit, Faktizität, Endlichkeit usw. beeinflusst wurde. Obwohl freilich Gelehrte argumentieren, dass es noch andere philosophische Beeinflussungen (Heinrich Rickert, Edmund Husserl, Karl Jaspers, Max Scheler, Paul Yorck von Wartenburg usw.) gab, kann man kaum die direkte begriffliche Verbindung zwischen Dilthey und dem frühen Heidegger übersehen.141 Gerade in Hinsicht auf die Begriffe „Leben“ und „Erlebnis“ können diese Spuren nicht ignoriert werden. Das Leben bezieht sich laut Heidegger auf das „Erlebnis“, das bei Dilthey in Rückgriff auf den kantischen Begriff in „Erfahrung“ umgewandelt wurde, um der Dimension des geschichtlichen Lebens die kantische Analyse des Subjekts einzuflößen. Er glaubt, dass „[d]as Wort ˃Erlebnis< selbst heute so abgegriffen und verblaßt [ist], daß man es am besten beiseite lassen müßte, wenn es nicht gerade so treffend wäre. Es läßt sich nicht vermeiden, und es kommt daher um so mehr darauf an, sein Wesen zu verstehen.“142 Um das Wesen des Lebens zu verstehen, muss man in das Wesen des Erlebnisses eindringen. Dieses Interesse erklärt, warum die Frühorien138 SZ, S. 62 f. 139 Vgl. Thomas Sheehan: Heidegger’s Lehrjahre. In: The Collegium Phaenomenologicum. The First Ten Years. Hg. von John C. Sallis, Giuseppina Moneta und Jacques Taminiaux. Dordrecht 1988 (Phaenomenologica, Bd. 105), S. 77–137. Vgl. ebenso Otto Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers. 3., erweiterte Aufl., Pfullingen 1990, S. 31 ff. 140 Charles B. Guignon: Heidegger and the problem of knowledge. Indianapolis, Indiana 1983. 141 Vgl. Eric Nelson: Heidegger and Dilthey. Language, History and Hermeneutics. In: Horizons of Authenticity in Phenomenology, Existentialism, and Moral Psychology. Hg. von Megan Altman und Hans Pedersen. New York u. a. 2015, S. 109–128, hier S. 109–110. 142 Martin Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 56/57. Hg. von Bernd Heimbüchel. 2., durchgesehene und ergänzte Aufl., Frankfurt/Main 1999 (GA 56/57), S. 66.
86 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
2.1 Leben als Thema: Heideggers frühe philosophische Orientierung
tierung Heideggers auf einer konzentrierten Mischung von Lebensphilosophie und Transzendentalphilosophie beruht. Im Folgenden betrachten wir des Weiteren zwei Dimensionen, die das Problembewusstsein seiner Kantdeutung förderten: Leben als Thema und Phänomenologie als Methode.
2.1.1 Leben, Philosophie und Phänomenologie Es ist ersichtlich, dass in Heideggers Frühzeit das Leben sein Hauptthema war. Seit seiner Habilitationsschrift über Duns Scotus im Jahre 1915, die von Heinrich Rickert betreut worden war, hatte Heideggers gefordert, dass sich Philosophie nicht nur mit dem Wert auseinandersetzen solle, sondern mit dem Lebenswert. Zudem nannte er schon die Wichtigkeit der „phänomenologischen Durcharbeitung“, noch bevor er eine enge Beziehung zu Husserl aufgebaut hatte.143 Im Jahre 1919 wurde Heidegger, mit Unterstützung von Husserl, Privatdozent an der Universität Freiburg. In seiner Freiburger Vorlesungszeit von 1919 bis 1923 ergriff Heidegger jede Gelegenheit, das Wesen der Philosophie und die Bedeutung der Phänomenologie als eine Art der Annäherung an das Thema des Lebens und der Philosophie zu untersuchen. So las er beispielsweise im Kriegsnotsemester 1919 über Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem. In dieser Vorlesung analysiert er sein Verständnis des Begriffes Philosophie und seine Relation zur Phänomenologie.144 Heidegger stellt hier die Philosophie als eine wissenschaftliche Einstellung vor, die die naturalistische Einstellung durchbrechen kann. Diese Idee bringt die intensive Prägung durch Husserls Phänomeno-
143 Vgl.: „Für die entscheidende Einsicht in diesen Grundcharakter der scholastischen Psychologie halte ich die philosophische, genauer: phänomenologische Durcharbeitung des mystischen, moraltheologischen und asketischen Schrifttums der mittelalterlichen Scholastik für besonders dringlich“ (Martin Heidegger: Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1915). In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 1 Frühe Schriften (1912–1916). Hg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. 2. Aufl., Frankfurt/Main 2018 (GA 1), S. 205). Vgl. des Weiteren: „Immerhin: es gibt ein »nivelliertes« Auffassen der philosophischen und der wissenschaftlichen »Begriffe« und »Sätze«. Sie begegnen sich im »faktischen Leben« in der Sphäre der sprachlichen Darstellung und Mitteilung als »Bedeutungen«, die »verstanden« werden“ (Martin Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens. Martin Heidegger Gesamtausgabe 60. Hg. von Claudius Strube u.a. 2., überarbeitete Aufl., Frankfurt/Main 2011 (GA 60), S. 4). 144 Zur Unterstützung durch Husserl siehe Hugo Ott: Martin Heidegger. A Political Life. Oxford 1993, S. 115–116.
87 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
logie zum Ausdruck, die zu dieser Zeit eine neu entstehende, von Husserl begründete philosophische Methode und Bewegung war. Mithilfe der phänomenologischen Methode und Denkart untersucht Heidegger die Bedeutung der Philosophie im Sinne einer „Urwissenschaft“ statt einer „Weltanschauung“. Er stellt fest, dass sich jede große Philosophie in einer Weltanschauung vollende und sie in gewissem Sinne mit Metaphysik identisch sei. Er erklärt: „Objektiv gewendet: Jede große Philosophie ist, wo sie ihrer innersten Tendenz gemäß zur ungehemmten Auswirkung kommt, Metaphysik.“145 Jedoch soll die Weltanschauung als eine immanente Aufgabe der Philosophie nicht der Endzweck oder die Hauptaufgabe der Philosophie sein. Da die Ausbildung einer solchen Weltanschauung auch eine Angelegenheit der persönlichen Stellungnahme des Philosophen zum Leben, zur Welt, zur Geschichte usw. sei, solle man die Weltanschauung als Ergebnis und nicht als Aufgabe der Philosophie betrachten. Um die wahre Aufgabe der Philosophie zu ermitteln, suchte Heidegger damals noch nach einem wirklich philosophischen Zugang. Phänomenologie als vortheoretische Urwissenschaft ist für ihn ein möglicher Zugang zum Problem des Wesens der Idee Philosophie. Er sagt deutlich: „Jede Geschichte und Geschichte der Philosophie in einem ausgezeichneten Sinne konstituiert sich im Leben an und für sich, das selbst historisch ist – in einem absoluten Sinne.“146 Setzt man diese Gedankenlinie fort, dann kann man leicht erkennen, dass für den jungen Heidegger die Beziehung zwischen Leben und Philosophie untrennbar ist. Diese Beziehung ist in seinen verschiedenen frühen Vorlesungen deutlich erkennbar, aber wir müssen weiterfragen, wie diese Beziehung eigentlich ist. Warum ist die Philosophie so wichtig für das Leben? Wir beantworten diese Fragen unter zwei Aspekten: Ort und Aufgabe der Philosophie. Aus der vorliegenden Darstellung erkennen wir bereits, dass für Heidegger der Ort der Philosophie im Leben liegt. Deswegen nennt er in seiner Vorlesung zur Phänomenologie der Religion im Wintersemester 1920/21 das Leben beziehungsweise die faktische Lebenserfahrung „de[n] Ausgangspunkt des Weges zur Philosophie“.147 Er äußert: „Die faktische Lebenserfahrung ist etwas ganz Eigentümliches; es wird in ihr
145 GA 56/57, S. 8. 146 Ebd., S. 21. 147 Vgl.: „Der Ausgangspunkt des Weges zur Philosophie ist die faktische Lebenserfahrung. Aber es scheint, als ob die Philosophie aus der faktischen Lebenserfahrung wieder hinausführt. In der Tat führt jener Weg gewissermaßen nur vor die
88 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
2.1 Leben als Thema: Heideggers frühe philosophische Orientierung
der Weg zur Philosophie ermöglicht, in ihr vollzieht sich auch die Umwendung, die zur Philosophie führt.“148 In einer anderen frühen Freiburger Vorlesung aus dem Sommersemester 1920, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, spricht er bereits über die Aufgabe der Philosophie im Leben und sagt: Die Philosophie hat die Aufgabe, die Faktizität des Lebens zu erhalten und die Faktizität des Daseins zu stärken. Philosophie als faktische Lebenserfahrung bedarf eines Motivs, wo die Bekümmerung um die faktische Lebenserfahrung selbst verbleibt. Das bezeichnen wir als philosophische Grunderfahrung. (Das ist die Bewährung dieses Motives.) Sie ist keine besondere Erleuchtung, sondern in jedem konkreten Dasein möglich, wo die Bekümmerung sich auf das aktuelle Dasein zurückbringt. – In der Umkehr dieser Erneuerung ist sie auf die Selbstwelt gerichtet, und von da aus ist die ganze Begrifflichkeit der Philosophie zu verstehen und zu bestimmen149 Aufgrund dieser kurzen aber ausdrucksvollen Zusammenfassung verstehen wir, dass erstens die Beziehung zwischen Philosophie und Leben ein Förderungsverhältnis ist. Philosophie ist kein außerhalb des Lebens stehendes wissenschaftliches Thema oder Fach. Stattdessen hat Philosophie die Verantwortung, sich in das Leben einzudrängen, es zu erhalten und zu stärken. Zweitens sieht Heidegger in der Philosophie eine Tätigkeit, eine Bemühung zur Selbstreflexion. Philosophie als Tätigkeit betrifft „die Bekümmerung um die faktische Lebenserfahrung“. Sie soll nicht nur als die Aggregation der Doktrinen oder die Abstraktion der Dinge verstanden werden, sie soll vielmehr lebendig und wesentlich eine Tätigkeit sein, die ihre Resonanz in Kants Verständnis der Philosophie als des Philosophierens findet. Philosophie als eine Tätigkeit entspricht genau Heideggers Verständnis der Aufgabe der Phänomenologie. In der Vorlesung im Wintersemester 1919/20 Grundprobleme der Phänomenologie arbeitete er die Beziehung zwi-
Philosophie, nicht bis zu ihr hin. Die Philosophie selbst ist nur durch eine Umwendung jenes Weges zu erreichen; aber nicht durch eine einfache Umwendung, so daß das Erkennen dadurch lediglich auf andere Gegenstände gerichtet würde; sondern, radikaler, durch eine eigentliche Umwandlung“ (GA 60, S. 10). 148 Ebd., S. 11. 149 Martin Heidegger: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung (Sommersemester 1920). In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 59. Hg. von Claudius Strube. 2., durchgesehene Aufl., Frankfurt/Main 2007 (GA 59), S. 174.
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
schen Leben, Philosophie und Phänomenologie weiter aus. So gibt er die Voranzeige der Phänomenologie als Ursprungswissenschaft des Lebens an sich, in der er sich mit der Methode, der historischen und systematischen Verwendung und verschiedenen Aspekten der Phänomenologie beschäftigt. Grundsätzlich stand für Heidegger fest, dass die Phänomenologie „die Urwissenschaft, die Wissenschaft vom absoluten Ursprung des Geistes an und für sich – »Leben an und für sich«“ sei. 150 Phänomenologie ist die Idee der „Urspungswissenschaft“ und die „echte, konkrete Verwirklichung und der Vollzug (Befolgung) der in ihr selbst wirkenden »Tendenzen« führen zu ihr selbst und ihrem eigensten Problemgebiet“.151 Mit anderen Worten sucht diese Urwissenschaft nicht nach der Sache der Sache oder dem Phänomen des Phänomens, sondern die ursprünglichste Sache, die sich selbst echt manifestiert. Die Aufgabe der Phänomenologie als Urwissenschaft ist, die „Manifestation“ der Sachen beziehungsweise der Ur-sachen möglich sein zu lassen. Der andere Schwerpunkt der Idee der „Urspungswissenschaft“ liegt in der Idee Wissenschaft. Die Urwissenschaft beschäftigt sich wie die Einzelwissenschaften auch mit dem Verfahren, was Ausdruck der Erkenntnis, der Evidenz, des Beweises und der Begründungsarten, mithin die wissenschaftliche Methode einschießt. Aber sie unterscheidet sich von der Idee der Wissenschaft durch das Thema, welches ihr nicht „von außen“ aufgezwungen werden darf, sondern innerhalb des Ur-phänomens, nämlich des Lebens, sich herausbildet. Phänomenologie betrifft radikal alle Phänomene „gegen sie selbst und alles“.152 Das Leben ist für den frühen Heidegger das Ursprungsgebiet der Phänomenologie und wechselseitig ist die Phänomenologie die Ursprungswissenschaft des faktischen Lebens an sich. Das Leben ist der Untersuchungsort der Phänomenologie und die Phänomenologie ist die Methode dieser Untersuchung, die zur Aufgabe der Philosophie am besten passt. Für den jungen Heidegger soll sich die Philosophie als Tätigkeit mit der konkreten, faktischen Lebenserfahrung anstatt dem Formellen, Mittelbaren, Theoretischen beschäftigen. Daher werden die philosophischen Versuche von ihm als eine „Ursprungserforschung des Lebens“153 verstanden, indem man das unmittelbare, vortheoretische Bewusstsein der ursprünglichen Lebenserfahrung beziehungsweise das Erlebnis beschreiben kann. Zusammenfassend können wir sagen, dass die Suche nach der Bedeutung des Lebens
150 151 152 153
GA 58, S. 1. Ebd., S. 2. Ebd., S. 6. Ebd., S. 155.
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2.2 Phänomenologie als Methode: Husserls Einfluss auf Heidegger
und der Philosophie die Hauptrolle in seiner philosophisch-phänomenologischen Untersuchung spielte und seine Rezeption der phänomenologischen Methode die Art und Weise des Philosophierens in seiner Frühzeit entschied.
2.2 Phänomenologie als Methode: Husserls Einfluss auf Heidegger Ausgehend von den vorstehenden Ausführungen lassen sich zwei Punkte erschließen, nämlich dass sich Heidegger erstens, neben der Seinsfrage, in seiner Frühzeit an den Begriffen des Lebens und der Philosophie orientierte, die ihm seine Forschungsrichtung vorgaben; zweitens, dass die Phänomenologie seine Methode war. Bis zur „Kehre“ seiner Philosophie, die etwas später nach der Publikation von SZ und dem Kant-Buch begann, kann man noch bestätigen, dass diese Themen und die Methode eine wesentliche Rolle in seinem Philosophieren spielten. In seiner frühen Freiburger Zeit (1919–1923) beschrieb Heidegger, wie der Begriff Phänomenologie von Hegel über Dilthey bis hin zu Husserl sich entwickelte und verwendet wurde. Damals verstand er Husserls Gebrauch des Begriffs Phänomenologie und unter der phänomenologische Methode eine „deskriptive Psychologie und beschreibende psychologische Methode“.154 Die von Husserl vertretene Phänomenologie, die auf seinem bahnbrechenden Werk Logische Untersuchungen aus dem Jahre 1901 gründet, war für ihn „eine neue echte Forschungsmethode unmittelbar schaffend zu realisieren, sich in ihr voll lebendig bewegen, ein anderes, selbst über sie zur letzten reflektiven Klarheit kommen, die treibenden Motive in ihrer Tendenz klar herauszuarbeiten.“155 Philosophie ist für Heidegger nichts anderes als die Urwissenschaft, die das ursprüngliche Phänomen, das Leben, behandeln soll und zudem ist die Phänomenologie die vortheoretische Urwissenschaft, die sich am besten für die Aufgabe der Philosophie eignet. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass Heidegger sich ungefähr in der Zeit seiner Ausarbeitung von SZ von Husserl Phänomenologie distanzierte. So zeigt John van Buren auf, dass die etwa zweihundert Seiten umfassende Einführung und Diskussion der Phänomenologie Husserls, die sich zunächst in einer Skizze zu SZ befand, nämlich seine Vorlesung mit dem Titel Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs aus dem Jahre 1925, in die Ausgabe von SZ im Jahre 1927 nicht aufgenommen wurde. Ein weiterer
154 Ebd., S. 13. 155 Ebd., S. 14.
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
Hinweis liegt in seinem Fallenlassen der phänomenologischen Terminologie Husserls und seiner Hinwendung zur Transzendentalphilosophie aufgrund seiner Beschäftigung mit der Philosophie Kants vor.156 So schreibt er am Ende der Vorlesung Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft im Jahr 1927/28: Als ich vor einigen Jahren die »Kritik der reinen Vernunft« erneut studierte und sie gleichsame vor dem Hintergrund der Phänomenologie Husserls las, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und Kant wurde mir zu einer wesentlichen Bestätigung der Richtigkeit des Weges, auf dem ich suchte. […] Wohl aber hat Kant die große Bedeutung in der Erziehung zur wissenschaftlichen philosophischen Arbeit: man kann ihm schlechthin vertrauen.157 Die zwiespältigen Gefühle gegenüber Husserl und Kant gehen aus diesem Zitat deutlich hervor. Einerseits war, wie Heidegger anerkannte, ohne die von Husserl begründete Phänomenologie seine phänomenologische Kantdeutung nicht durchführbar, andererseits tendierte Heideggers damaliges Philosophieren bereits von Husserl zu Kant.
2.2.1 Überblick über Husserls Ansatz der Phänomenologie und Heideggers Rezeption Zumindest bis in die frühen 1920er Jahren hinein sind der philosophische Ansatz Husserls und Heideggers in vielerlei Hinsicht ziemlich ähnlich. Beispielweise sprechen beide vom Kampf gegen den Psychologismus und gegen die Dominanz des naturalistisch-wissenschaftlichen Weltbegriffs in den modernen Wissenschaften und der Philosophie. Aber im Verlauf der Entwicklung seines Denkens distanzierte sich Heidegger graduell von Husserls Begriff der Phänomenologie. Für Husserl ist die Phänomenologie in erster Linie die Lehre von den Erscheinungen im Sinne einer reinen Wesensschau. Ferner ist sie nicht nur eine Lehre, sondern auch eine Denkmethode, die von der Frage absieht, ob der Erkenntnisgegenstand auch unabhängig vom erkennenden Bewusstsein existiert. Dieses phänomenologische Denken klammert sukzessi-
156 Vgl. John van Buren: The Young Heidegger and Phenomenology. In: Dasein, Authenticity, and Death. Hg. von Hubert L. Dreyfus und Mark Wrathall. London und New York 2002 (Heidegger Reexamined, Bd. 1), S. 1–34, hier S. 23–24. 157 GA 25, S. 431.
92 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
2.2 Phänomenologie als Methode: Husserls Einfluss auf Heidegger
ve jede Vormeinung und Vorentscheidung ein, um eine Änderung von der natürlichen zur phänomenologischen Einstellung zu ermöglichen. Husserl ist davon überzeugt, dass man durch die phänomenologische Reduktion zur möglichst vorurteilsfreien Einstellung, die nicht vom Einfluss der naturalistisch-theoretischen Einstellung geprägt ist, zurückkehren kann. Diese vorurteilsfreie Einstellung ist die Voraussetzung für die Zuwendung zu den Phänomenen, die nur in Form der Beschreibung, nämlich der phänomenologischen Deskription, erreichbar ist. Die Methode der phänomenologischen Deskription zielt darauf ab, das Wesen der Sache zu erfassen, beziehungsweise „zu den Sachen selbst“ zurückzukehren. Die Sache der Phänomenologie bedeutet in erster Linie die Struktur der Intentionalität des Bewusstseins, die die zweifache Grundstruktur, intentio und intentum, einschließt.158 Obwohl Heideggers Begriff der Phänomenologie nicht völlig mit Husserls Verständnis übereinstimmt, erkennt er doch Husserl als den Begründer der Phänomenologie an, der die Maxime der Phänomenologie aufgestellt hat: Der Titel »Phänomenologie« drückt eine Maxime aus, die also formuliert werden kann: »zu den Sachen selbst!« — entgegen allen freischwebenden Konstruktionen, zufälligen Funden, entgegen der Übernahme von nur scheinbar ausgewiesenen Begriffen, entgegen den Scheinfragen, die sich oft Generationen hindurch als »Probleme« breitmachen. Diese Maxime ist aber doch — möchte man erwidern — reichlich selbstverständlich und überdies ein Ausdruck des Prinzips jeder wissenschaftlichen Erkenntnis.159 Der Maxime der Phänomenologie „zu den Sachen selbst zurückzugehen“, die von Husserl formuliert und vorangebracht wurde160, hat Heidegger zwar nicht widersprochen, jedoch interpretiert er diese Maxime in eine an-
158 Diese Struktur wird beim späten Husserl die Struktur zwischen Noesis (wie sich der Bewusstseinsakt auf seinen Gegenstand bezieht) und Noema (wie der Gegenstand durch die noetischen Akte erscheint). Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Hg. von Karl Schuhmann. Den Haag 1976 (Hua III/1 und Hua III/2). Im Folgenden abgekürzt mit Ideen I. 159 SZ, S. 37. 160 Vgl. „Wir wollen auf die „Sachen selbst“ zurückgehen“ (Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Hg. von Ursula Panzer. Dordrecht 1984, (Hua XIX/1 und Hua XIX/2), Einleitung, § 2, S. 10).
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
dere Richtung.161 In § 7 von SZ verdeutlicht Heidegger sein Verständnis von Phänomenologie dahingehend, dass Phänomenologie weder ein „Standpunkt“ noch eine „Richtung“ sei. Er schreibt: „Der Ausdruck „Phänomenologie“ bedeutet primär einen Methodenbegriff. Er charakterisiert nicht das sachhaltige Was der Gegenstände der philosophischen Forschung, sondern das Wie dieser.“162 Im Vergleich zu Husserls Idee der Phänomenologie betont Heidegger mehr die methodologische Seite, die als eine Sichtweise der philosophischen Aufgabe begriffen werden kann. Durch diese Sichtweise ist man gemäß Heidegger in der Auseinandersetzung mit den Sachen selbst ursprünglicher verwurzelt und kann die technische und wissenschaftliche Handhabung, die sich immer in die theoretische und naturalistische Einstellung einflicht, weiter entfernen. Die Phänomenologie wird nicht mehr von einer Erscheinungslehre begrenzt, die die Struktur des erkennenden Bewusstseins fokussiert, sondern wird als eine fundamentale Sichtweise, als eine Einstellung zum Handeln bestimmt. Heideggers allgemeines Verständnis der Phänomenologie lässt sich anhand des § 7 aus SZ deutlich darstellen. Heidegger beginnt seine Erklärung des Begriffs „Phänomenologie“ mit der Etymologie der Begriffe „Phänomen“ und „Logos“. Die Grundbedeutung des griechischen Ausdrucks φαινόμενον bedeutet laut Heidegger das, „was sich zeigt“, das „Sichzeigende“, das „Offenbare“, usw. und der griechischen Ausdruck λόγος bedeutet zunächst „Rede“, durch die sich die Wahrheit als das Unverborgene sehen oder entdecken lässt. In Verbindung mit diesen Grundbedeutungen kann man deshalb sagen, dass es die Aufgabe der Phänomenologie sei, wie es Heidegger selbst formuliert: „Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.“163 Gemäß der obigen Darstellung ist das Verständnis der Phänomenologie von Husserl und Heidegger in vielerlei Weise übereinstimmend: Beide sind gegen die Dominanz der wissenschaftlich-theoretischen Handlung der Philosophie; beide sind sich einig, dass die Aufgabe der Phänomenolo-
161 „Der Ausdruck Phänomenologie läßt sich griechisch formulieren: λέγειν τά φαινόμενα; λέγειν besagt aber άποφαίνεσθαι. Phänomenologie sagt dann: άποφαίνεσθαι τά φαινόμενα: Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen. Das ist der formale Sinn der Forschung, die sich den Namen Phänomenologie gibt. So kommt aber nichts anderes zum Ausdruck als die oben formulierte Maxime: »Zu den Sachen selbst!«“ (SZ, S. 46). 162 SZ, S. 27. 163 Ebd., S. 34.
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2.2 Phänomenologie als Methode: Husserls Einfluss auf Heidegger
gie die Rückkehr zu den ursprünglichen Sachen, die Struktur des „Erscheinen-lassens“, sein solle; beide glauben, dass durch die phänomenologische Methode die Sachen ohne Verzerrung, also wie sie selbst sind, gesehen werden können. Jedoch gibt es, wenn wir auf die Unterschiede näher eingehen, einige nicht in Einklang zu bringende Unterschiede hinsichtlich des Konfliktes zwischen Husserls fundamentalistischem und Heideggers holistisch-tautologischem Ansatz. Nachstehend habe ich dies in drei Punkten zusammengefasst.
2.2.1.1 Heideggers Auseinandersetzung mit Husserl 1: Die Unmöglichkeit der radikalen Reduktion Seit seinen frühesten philosophischen Bemühungen hatte sich Husserl wiederholt mit den neuzeitlichen Philosophen wie Descartes, Leibniz, Kant, den Neukantianern usw. auseinandergesetzt. Insbesondere Descartes und seine Methode des universalen Zweifels übte einen entscheidenden Einfluss auf ihn aus. Seine frühe Methode der ἐποχή (Epoché), „Einklammerung“ beziehungsweise „phänomenologischen Reduktion“, ist in einem hohen Maße dem cartesianischen Modell nachgebildet. Daher bezeichnet Husserl selbst seinen ersten Versuch der Formulierung der phänomenologischen Reduktion auch als einen cartesianischen Weg.164 Der entscheidende Unterschied zwischen Descartes und Husserl liegt jedoch in der Möglichkeit der „Weltvernichtung“. Oskar Becker hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass im Vergleich zu Descartes Husserl die „Welt überhaupt“ nie bezweifelt habe: „Selbst der Träumer… findet sich doch auch… in der Welt – nur seine Weltperspektive hat sich geändert.“165 Husserl hat in seinem Nachwort zu Ideen III sogar sehr ausdrücklich darauf hingewiesen, wenn er schreibt: Vor allem: der phänomenologische Idealismus leugnet nicht die wirkliche Existenz der realen Welt (und zunächst der Natur), als ob er meinte, daß sie ein Schein wäre, dem das natürliche und das positivwissenschaftliche Denken, obschon unvermerkt, unterläge. Seine einzige Aufgabe und Leistung ist es, den Sinn dieser Welt, genau den Sinn, in welchem sie jedermann als wirklich seiend gilt und mit wirk-
164 Vgl. Hua VI, S. 156 ff. 165 Oskar Becker: Husserl und Descartes. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 30 (1936/37), S. 616–621, hier S. 618.
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
lichem Recht gilt, aufzuklären. Daß die Welt existiert, daß sie in der kontinuierlichen immerfort zu universaler Einstimmigkeit zusammengehenden Erfahrung als seiendes Universum gegeben ist, ist vollkommen zweifellos.166 Husserl zog nie die wirkliche Existenz der Welt in Zweifel. Was ihn eigentlich interessierte, war der „Sinne“ der Welt. Aus diesem Grund interessierte er sich in seiner phänomenologischen Untersuchung in erster Linie für die „Sinnkritik“, durch welche sich die Struktur der Intentionalität entfalten kann. Anhand der gegebenen Darstellung seiner Denkweise können wir verstehen, dass für Husserl Phänomenologie erst durch seine reduktionistische Methode ermöglicht wird. Diese Reduktion führt ihn zu dem Schluss, dass das reine Bewusstsein beziehungsweise das transzendentale Ego nicht nur die Grundlage der Gebäude seiner transzendentalen Phänomenologie und der wissenschaftlichen Philosophie, sondern auch der Verfassung aller Sinne ist. In der Frühzeit seiner Untersuchungen zur Phänomenologie kritisierte Heidegger in seiner Vorlesung implizit verschiedene Aspekte der phänomenologischen Methode Husserls. Ein Punkt, der Resonanz bei vielen frühen Studenten Husserls fand, war, dass eine radikale Reduktion im Prinzip unmöglich sei. Laut Husserl kann man durch die „transzendentale“ oder „phänomenologische“ Reduktion eine „vollziehende Reinigung“ erreichen.167 Das Ziel dieser vollziehenden Reinigung ist, die vortheoretische Einstellung zurückzubringen und die transzendentale Subjektivität zu erfassen. Für Heidegger ist diese reine, inhaltslose, außerweltliche Subjektivität keineswegs möglich. Das Dasein ist primär In-der-Welt-sein. Es kann sich nicht aus dem Verhältnis zur Umwelt und zum anderen Dasein entfernen. Ist das Dasein vorgängig in die Welt geworfen, dann kann man einen regressiven Reduktionsprozess durchführen. Mit anderen Worten: Die Methode der Reduktion eignet sich grundsätzlich nicht dazu, das Ziel der Phänomenologie als Urwissenschaft, die alle Wissenschaften begründet, zu realisieren; Merleau-Ponty vertritt eine ähnliche Ansicht bezüglich der Unmöglichkeit einer radikalen Reduktion und formuliert wie folgt:
166 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften. Hg. von Marly Biemel. Den Haag 1971 (Hua V), S. 152–153. Im Folgenden abgekürzt mit Ideen III. 167 Edmund Husserl: Encyclopaedia Britannica Artikel. In: Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925. Hg. von Walter Biemel. 2., verb. Auflage. Dordrecht 1968 (Hua IX), S. 293.
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2.2 Phänomenologie als Methode: Husserls Einfluss auf Heidegger
„Die wichtigste Lehre der Reduktion ist so die der Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion“.168 Das mögliche Resultat der Reduktion führt zu einen „inneren Menschen“, der endlich von der Welt getrennt ist.169
2.2.1.2 Heideggers Auseinandersetzung mit Husserl 2: Der Mythos der Voraussetzungslosigkeit Eine andere wichtige Dimension, die Heidegger von Husserl unterscheidet, ist die Einstellung zur Voraussetzungslosigkeit. Husserls Reaktion auf Descartes Denkweise führte seine Philosophie auf die Suche nach einem voraussetzungslosen Prinzip, das mit dem Ideal der alle Wissenschaften begründenden „Ersten Philosophie“ eng verbunden ist. In Ideen I beschreibt Husserl das Prinzip der Evidenz als „erstes methodisches Prinzip“170 und als „das Prinzip aller Prinzipien“, welches von aller Voraussetzung frei ist.171 Dieses Prinzip zielt darauf ab, dass man sich allen ungeprüften Voraussetzungen verweigern solle, dagegen solle man nur die originär gegebene Wahrheit, die Evidenz akzeptieren.172 Husserl verfolgt die Voraussetzungslosigkeit als seine methodologische Grundlage, da durch sie, so argu-
168 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus d. Französischen übers. und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. Berlin 1966 (Phänomenologisch-psychologische Forschungen, Bd. 7), S. 11. 169 Vgl. ebd., S. 6-7. 170 Vgl. Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Hg. und eingeleitet von Stephan Strasser. Nachdruck der 2., verbesserten Aufl., Dordrecht 1991 (Hua I), S. 54. 171 „Am Prinzip aller Prinzipien: dass jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was sich uns in der ‚Intuition' originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen“ (Ideen I, Hua III/1 und Hua III/2, S. 51). 172 Vgl. „Mit anderen Worten: Wahrheit ist eine Idee, deren Einzelfall im evidenten Urteil aktuelles Erlebnis ist. Das evidente Urteil aber ist ein Bewußtsein originärer Gegebenheit. Zu ihm verhält sich das nicht-evidente Urteil analog, wie sich die beliebige vorstellende Setzung eines Gegenstandes zu seiner adäquaten Wahrnehmung verhält, Das adäquat Wahrgenommene ist nicht bloß ein irgendwie Gemeintes, sondern, als was es gemeint ist, auch im Akte originär gegeben, d.i. als selbst gegenwärtig und restlos erfaßt“ (Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik. Text der 1. und 2. Auflage. Hg. von Elmar Holenstein. Dordrecht 1975 (Hua XVIII), S. 193).
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
mentiert er, die Bedeutung des Phänomens ohne Entstellung selbst entstehen kann.173 Heidegger hingegen bezweifelt, dass ein voraussetzungsloses Verständnis als die Grundlage allen Verständnisses möglich sei.174 So vergleicht er beispielsweise in seiner Marburger Vorlesung 1923–24 Descartes’ Zweifelsweg (remotio) mit Husserls Reduktion, cogito und Bewusstsein, absolutum der res cogitans und die Absolutheit des reinen Bewusstseins, cogitans als ens creatum und reines Bewusstsein als ens regionale usw, um die fundamentalen Unterschiede zwischen Descartes und Husserl aufzuzeigen.175 Mit diesem Vergleich beschreibt er des Weiteren durch den Begriff „der Sorge der Gewißheit“ den Zusammenhang und die „einheitliche Grundtendenz“ zwischen Husserl und Descartes. In seinen Augen sind beide Philosophen, obwohl es noch viele andere Unterschiede gibt, von der Idee der Gewissheit, die mit „Selbstverständlichkeit“ oder „Trivialität“ zu erklären ist, in Bezug auf die Sorge der Wissenschaftsausbildung besessen. Beide errichten ihre Philosophie auf der Gewissheit der Idee, die vom gegebenen, kognitiven Gegenstand direkt, ausreichend und adäquat abhängt, infolgedessen kam es zu „Husserls Verunstaltung der phänomenologischen Befunde durch die von Descartes abkünftige Sorge der Gewißheit“.176 Er weist darauf hin, dass Husserls Begriff des Bewusstseins einfach aus der Descartes‘schen Psychologie und der kantischen Erkenntnistheorie übernommen wurde177, mithin ein Versäumnis in Hinblick auf die ursprüngliche Seinsfrage sei. Nach Heidegger spielt Evidenz innerhalb der Methode der Phänomenologie eine fundamentale Rolle und er sagt, dass bereits Husserl gesehen habe, dass „jedes Gegenstandsgebiet entsprechend seiner Sachhaltig-
173 Zur „Voraussetzungslosigkeit“ vgl. Husserl: Hua XIX/1 und Hua XIX/2, S. 24– 29. 174 Kritik und Bedenken gegen dieses Prinzip äußert Heidegger bereits in seiner frühen Zeit, zuerst im Kriegsnotsemester 1919 (z. B. „Einwände gegen die phänomenologische Forschung“, in: GA 56/57, S. 109–110); im Wintersemester 1919/20 (z. B. über „nichts präjudiziert“, in: GA 58, S. 99); im Sommersemester 1925 (in: Martin Heidegger: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Sommersemester 1925). In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 20. Hg. von Petra Jaeger. 3., durchgesehene Aufl., Frankfurt/Main 1994 (GA 20), S. 103–105) und im Wintersemester 1925/26 (GA 21, S. 32–33). Dann noch in SZ, S. 27–28. 175 Vgl. Martin Heidegger: Einführung in die phänomenologische Forschung (Wintersemester 1923/24). In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 17. Hg. von FriedrichWilhelm v. Herrmann. 2. unveränderte Aufl., Frankfurt/Main 2006 (GA 17), S. 254–264. 176 Vgl. GA 17, S. 270–275. 177 Ebd., S. 271.
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2.2 Phänomenologie als Methode: Husserls Einfluss auf Heidegger
keit eine spezifische Evidenz hat, wogegen die eigentliche Evidenzfrage in fundamentalem Sinne erst beginnt mit der Frage nach der spezifischen Evidenz des Zuganges zu einem Sein und des Erschließens dieses Seienden, des Behaltens und Sichhaltens an ein zugänglich gewordenes Sein.“178 Mit anderen Worten: Husserl setzt einen Wahrheitsbegriff voraus, durch den die Wahrheit aufgrund übereinstimmender Beziehung definiert werden kann. Diese Korrespondenztheorie der Wahrheit setzt unvermeidlich einen unerschütterlichen archimedischen Punkt voraus, durch den das Axiom des ganzen Wahrheitssystems aufgestellt werden kann. Dieser Punkt oder dieses Axiom muss eine unabhängige Sache sein, die unserer Erkenntnis selbstverständlich, trivial und evident ist. Anders gesagt: Dieser Punkt muss selbst voraussetzungslos sein. Allerdings lenkte für Heidegger dieser Gedankengang die Aufgabe der Phänomenologie in eine verkehrte Richtung, die jedoch ein Versäumnis der Seinsfrage leitet. Er zeigt auf, dass die Vorherrschaft der Sorge der Gewissheit „bei den Bestimmungen der traditionellen Ontologie, ja noch weiter, bei denen der formalen Logik bleibt.“179 Diese sogenannte traditionelle Ontologie birgt in sich die Unfähigkeit, den ursprünglichen Sinn des Seins zu entfalten, da sie 1.) den Wahrheitsbegriff in einer Subjekt-Objekt-Beziehung, 2.) die Möglichkeit der Weltvernichtung und 3.) die Möglichkeit des voraussetzungslosen Standpunkts falsch voraussetzt.
2.2.1.3 Heideggers Auseinandersetzung mit Husserl 3: Das Seinsverständnis soll ursprünglicher sein als die Intentionalität Wie bereits angedeutet, hatte Husserl die Intentionalität als das Grundfeld der Phänomenologie positioniert. Diesem Ansatzpunkt stimmte Heidegger anfänglich zu. Husserl sagt deutlich in den Ideen I, dass „[d]er Problemtitel, der die ganze Phänomenologie umspannt, Intentionalität [heißt]“180. Er ist der Auffassung, dass die Untersuchung zur Struktur der Intentionalität das Problemmittel zur Überwindung der traditionellen Subjekt-Objekt-Gabelung sei. Er untersucht die Struktur der Intentionalität, um die ursprünglichen Formen der Bedeutungsverfassung zu erkennen. Intentionalität ist im strengen Sinn die unveränderliche und wesenhafte Struktur des Bewusstseins. Bei der Untersuchung der Struktur geht es
178 Ebd., S. 273. 179 Ebd. 180 Ideen I, S. 357.
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
nicht um die Beschaffenheit der neurologischen Prozesse, die sie immer empirisch begleiten mögen, sondern um die kognitive Dimension des Bewusstseins. Die reine und kognitive Intentionalität bezieht sich auf die Korrelation zwischen dem Bewusstsein und seinem intendierten Gegenstand, die nur bestehen kann, wenn ihre beiden Glieder – oder die sogenannten „Pole“ – vorgegeben sind. Diese Grundfassung der Intentionalität besteht immer aus einer Grundstruktur von „Bewusstsein von …“ oder „Bezug auf …“, in der es unvermeidlich eine Trennung zwischen dem intentionalen Akt (dem cogito, der „Noesis“) und dem intentionalen Gegenstand (dem cogitatum, dem „Noema“) gibt. Diese Korrelationsanalyse ist wesentlich zu unterschieden von der cartesianischen Subjekt-Objekt-Spaltung, die eine Zwei-Substanzen-Perspektive – inneres Selbst und äußere Welt – voraussetzt. Wegen dieser Perspektive muss Descartes zwei Substanzen, res cogitans und res extensa, im substantiellen und grundlegenden Sinn ontologisch annehmen, damit die Wirklichkeit der psychischen und physischen Welt gesichert werden kann. Dagegen bedarf Husserl der Sicherheit der Wirklichkeit der zweiten Substanzen nicht, da er sich nur für die Wesensstruktur des Bewusstseins interessiert, die lediglich einen funktionalen und bedeutungsgebenden Charakter hat. Die Problematik der Wirklichkeit der Welt wird durch die phänomenologische Methode der Epoché in Klammern vorläufig verlassen, und dieser Prozess ist für Husserl ein Prozess der Einstellungsänderung, die die Änderung von der naturalen Einstellung hin zur phänomenologischen Einstellung bedeutet.181 Mit dieser Einstellungsänderung können wir uns an dem Intentionalitätsbezug zwischen dem intentionalen Akt und dem intendierten Objekt orientieren, um die Wesensstruktur des Bewusstseins zu entfalten. Dieser Intentionalitätsbezug ist für Husserl nicht der Bezug zwischen zwei Substanzen – Erkenntnissubjekt und -objekt –, sondern der ursprüngliche Weltbezug des Erkenntnissubjekts selbst, der Ort, an dem sich die vielfältigen Bedeutungen entfalten lassen. Es ist unzweifelhaft, dass es Husserls eigenste philosophische Intention ist, durch eine Korrelationsforschung die traditionelle problematische Subjekt-Objekt-Dichotomie, die sich aus der unlösbaren Trennung zwischen
181 Zu Einstellungsänderung siehe Husserl: Hua IX, S. 247–249 und vgl. „Danach können wir sagen: die naturale Einstellung ist Einstellung auf die Welt, soweit sie Welt möglicher einstimmiger objektiver Wahrnehmung ist, soweit sie nicht nur für mich, sondern für jederman wahrnehmbar ist, bzw. wahrgenommen und wahrnehmbar war usw. Denn nur so ist Wahrnehmung objektive“ (Hua IX, S. 381).
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2.2 Phänomenologie als Methode: Husserls Einfluss auf Heidegger
res cogitans und res extensa bei Descartes oder Phänomenon und Noumenon bei Kant ergab, zu überwinden. Für Heidegger hingegen ist der Versuch Husserls aufgrund seiner phänomenologischen Methode erfolglos. Das Problem liegt nicht im Ausgangspunkt, der in der Intentionalität das Grundfeld der Phänomenologie sieht. Das Problem liegt darin, dass, wie bereits oben angesprochen wurde, erstens Husserl ein falsches Verständnis vom Begriff Ich und Welt besitzt, das einerseits das reine Ich als ein isoliertes, abgekapseltes, weltloses Ich zum Ergebnis hat, anderseits die Welt des Daseins zu einer aufmontierten, angrenzenden Welt macht; zweitens der Intentionalitätsbezug in der Tat nicht der ursprüngliche Weltbezug, sondern nur ein anstatt der Bezugssinn zwischen menschlichem Dasein und dem Seienden ist. In der „Jaspers-Rezension“, die in den Jahren 1919/21 geschrieben, aber erst 1972 veröffentlicht wurde, arbeitete Heidegger bereits Husserls Begriff „Bezugssinn“ aus. Er schreibt: Der volle Sinn eines Phänomens umspannt seinen intentionalen Bezugs-, Gehalts- und Vollzugscharakter (»intentional« muß hier ganz formal verstanden werden unter Abstreifung eines besonderes betonten theoretischen Bezugssinnes, welche besondere Bedeutung die Fassung der Intentionalität als »Meinen von« beziehungsweise korrelativ »Vermeint-sein als« besonders leicht suggeriert).182 Heidegger erweitert die Bedeutung der Intentionalität als Bezugssinn um drei Dimensionen, die nun Bezugs-, Gehalts- und Vollzugssinn einschließt. Er bestimmt ferner den Bezugssinn als einen vollzugsgeschichtlichen „Bekümmerungssinn“, der später mit der Sorgestruktur in SZ vergleichbar ist.183 Es wird deutlich, dass für Heidegger nicht der Gehalts- oder Bezugssinn, sondern der Vollzugssinn des Lebens für eine philosophische Sinnkritik entscheidend ist. Der Vollzugssinn unterscheidet sich vom Bezugssinn durch 1.) die dynamische Denotation des Wortes, die die zeitliche und ontologische Dimension der Sinnstruktur enthält, 2.) die weitere Explikation des Bezugssinns Husserls, um ein neuzeitliches Bezugsschema im
182 Martin Heidegger: Anmerkungen zu Karl Jaspers „Psychologie der Weltanschauungen“. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 9 Wegmarken (1919–1961). Hg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. 3. Aufl., Frankfurt/Main 2004 (GA 9), S. 1–44, hier S. 22. 183 Vgl. ebd., S. 33.
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
Hinblick auf das Schema des Vollzugs des In-der-Welt-Seins zu entwickeln.184 Für Heidegger wird im Laufe seiner philosophischen Entwicklung immer offenkundiger, dass der Intentionalitätsbezug nicht der ursprüngliche Weltbezug in Hinblick auf das Dasein ist. Die Korrelation zwischen dem intentionalen Akt und dem intendierten Objekt ist nur ein möglicher Weltbezug des Daseins anstatt der Weltbezug. Gemäß Heideggers Terminologien, die in SZ gut eingeführt werden, ist der Intentionalitätsbezug der vorhandene Weltbezug, der in den wissenschaftlichen Urteilsformen thematisiert wird. Dieser vorhandene Weltbezug wird immer in einer Subjekt-Objekt-Beziehung formuliert, in der eine Trennung zwischen „Ich“ und „Welt“ angenommen wird. Für Heidegger ist das Dasein grundsätzlich seine Welt, die als ein Bedeutungsganzes existiert. Die Welt ist der Horizont des Bedeutungszusammenhangs, in dem sich die thematisierten sowie die unthematisierten Weltbezüge entfalten lassen. „Ich“ und „meine Welt“ sind ontologisch keine zwei separaten Dinge oder Substanzen, die durch die Intentionalitätsbezüge verbunden werden, sondern sie sind durch das Seinsverständnis vorgängig und ursprünglich miteinander verbunden. Das Seinsverständnis ist ein Grundmodus beziehungsweise eine Grundstruktur der Existenz des Daseins, durch das das Dasein sein Sein hat und weiter konstruieren kann. In diesem Sinne ist der Weltbezug des Seinsverständnisses ontologisch ursprünglicher als der Weltbezug des Intentionalitätsweltbezugs. Und noch wichtiger ist, dass dieses Verständnis von Welt und Selbst nicht notwendig eine Korrespondenztheorie der Wahrheit voraussetzt, die in der Konsequenz ein weltloses Selbst annehmen muss. Daher hat in diesem Sinne Heidegger Husserls Welt- und Wahrheitsansicht „verbessert“ und „radikal gemacht“.
184 Eine gute Darstellung der Problematik gibt Tze-wan Kwan: Die hermeneutische Phänomenologie und das tautologische Denken Heideggers. Bonn 1982, S. 22–31. Zur Unterscheidung von Bezugssinn, Vollzugssinn, Gehaltssinn vgl. ferner Daniel O. Dahlstrom: Heidegger's Method: Philosophical Concepts as Formal Indications. In: The Review of Metaphysics 47 (1994), S. 775–795, hier S. 782; Steven Galt Crowell: Husserl, Heidegger, and the Space of Meaning. Paths toward Transcendental Phenomenology. Evanston, Illinois 2001, S. 285.
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2.3 Die Seinsfrage und der transzendentale Ansatz Heideggers
2.3 Die Seinsfrage und der transzendentale Ansatz Heideggers 2.3.1 Die Seinsfrage als Leitfrage und die Suche nach der Möglichkeitsbedingung Mit der obigen vorläufigen Darstellung der frühen Denkweise und Methode Heideggers haben wir einen Überblick über sein damaliges Problembewusstsein gegeben. Hier nun wenden wir uns direkt dem Problemfeld seiner Kantdeutung vor diesem Hintergrund zu, das in den Rahmen des Vorhabens, die Seinsfrage zu stellen, fällt. Dieses Problemfeld bestätigt sich anfänglich in SZ und setzte sich danach in KPM und den nachfolgenden Vorlesungen weiter fort. Die Seinsfrage wurde zwar seit der Publikation von SZ in erster Linie eine bekannte, ikonische Frage Heideggers, jedoch entwickelte sie sich kontinuierlich seit den Anfängen seines Denkwegs. Sie wurde bereits in den Frühschriften in Gestalt des Kategorienproblems formuliert, daran anschließend veränderte sie sich unter Berufung auf die Auseinandersetzungen mit Emil Lask, Husserl und Dilthey über Heideggers Aristoteles-Interpretation zur existenzial-hermeneutischen Daseinsanalyse in SZ, wo die Frage zur philosophischen Leitfrage erhoben wurde. Obwohl die Seinsfrage die Leitfrage ist, an der sich Heideggers philosophische Untersuchungen in ihrer Ganzheit orientieren, wurde sie nicht als das herausragendste Thema in SZ behandelt. In SZ formuliert er die Seinsfrage als die Frage nach dem Sinn von Sein, die sich in der Geschichte der Philosophie hinsichtlich der Seinsvergessenheit von Plato bis Hegel usw. stellt. So gestellt, lenkt die Frage die Aufmerksamkeit vom Sein selbst auf den Sinnbezug und die Sinnbildung, deshalb wird die Daseinsanalyse nicht nur die Rolle der notwendigen Vorbereitung der Seinsfrage, sondern auch den vorrangigen Schwerpunkt in SZ spielen. Ausgehend vom „Aufriss der Abhandlung“ im § 8 von SZ hat Heidegger seine Ausarbeitung der Seinsfrage in zwei Aufgaben unterteilt. Der erste Teil erstrebt „[d]ie Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit und die Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein“ und im zweiten Teil geht es um „Grundzüge einer phänomenologischen Destruktion der Geschichte der Ontologie am Leitfaden der Problematik der Temporalität“.185 Allerdings hat Heidegger nur zwei von drei geplanten Abschnitten – „Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins“ und „Dasein und Zeitlichkeit“ – in SZ geschrieben und somit erweckt der Aufbau von SZ den un185 SZ, S. 39.
103 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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richtigen, aber verständlichen Eindruck, dass die Daseinsanalyse die Zentralstellung seiner ganzen Untersuchung einnimmt. Im Nachfolgenden kommen wir auf das Thema, nämlich die Formulierung und die Möglichkeitsbedeutung der Seinsfrage in SZ, zurück. Die Suche nach dem Sinn von Sein setzt einen Themenansatz voraus, der die Möglichkeitsbedingung des Sinnbezugs betrifft. Die Voraussetzung, die den Sinn von Sein entfalten kann, liegt in dem Ansatz der neuzeitlichen Philosophie, der die Erkenntnisbedingung des Subjekts vor den ontologischen Status des Subjekts stellt. Von Descartes’ erstem Prinzip seiner Philosophie, dem cogito ergo sum, über Kants transzendentales Argument bis zur transzendentalen Phänomenologie Husserls finden wir einen philosophischen Ansatz zur Philosophie der Subjektivität, unter dem man die Erkenntnisbedingung als die Voraussetzung oder Vorbedingung des Sinnbezugs versteht. Mit Bezug auf diese Tradition erarbeitet Heidegger seine Seinsfrage anhand einer ähnlichen Gedankenkette, die vorab bereits die Möglichkeitsbedingung des Sinns von Sein in Hinblick auf das Sinnsubjekt betrifft. Er akzentuiert: Die Seinsfrage zielt daher auf eine apriorische Bedingung der Möglichkeit nicht nur der Wissenschaften, die Seiendes als so und so Seiendes durchforschen und sich dabei je schon in einem Seinsverständnis bewegen, sondern auf die Bedingung der Möglichkeit der vor den ontischen Wissenschaften liegenden und sie fundierenden Ontologien selbst.186 Für Husserl beruht diese Möglichkeitsbedingung auf der Intentionalität, die die Grundstruktur der Sinnkonstitution verkörpert. Dagegen lehnt Heidegger Husserls phänomenologischen Ansatz ab, der einen Reduktionismus und Fundamentalismus angenommen hat. Er geht direkt zur Vorstruktur der Sinnkonstitution und spricht über das vorgegebene Seinsverständnis, das vor der Sinnentstehung des theoretischen Erkennens im Voraus gegeben ist. „Als Suchen bedarf das Fragen einer vorgängigen Leitung vom Gesuchten her. Der Sinn von Sein muß uns daher schon in gewisser Weise verfügbar sein. Angedeutet wurde: wir bewegen uns immer schon in einem Seinsverständnis.“187 Das Seinsverständnis ist ein „durchschnittliches“ und „vages“ Verständnis in Bezug auf das Seiende, mit dem sich Dasein und Seiendes in einem vortheoretischen, vorwissenschaftlichen, unthematischen Sinnbezug im Vorhinein verbinden.
186 Ebd., S. 11. 187 Ebd., S. 5.
104 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
2.3 Die Seinsfrage und der transzendentale Ansatz Heideggers
Die Frage ist, ob dieses Seinsverständnis nur eine grundlegende, axiomatische Rolle wie Descartes’ cogitans oder Kants transzendentales Subjekt oder Husserls transzendentales Ego spielt, mit dem Heideggers System begründet werden kann. Nein, keineswegs. Gewiss ist für Heidegger „[d]ieses durchschnittliche und vage Seinsverständnis ein Faktum“188 und nur aufgrund dieses Faktums können wir die Suche nach dem Verständnis des Sinns von Sein beginnen. Es ist sicherlich der Ausgangpunkt des Befragten, aber es ist nicht der „klare und distinkte“, „bestimmte“, „letzte“, „unbewegliche“ „archimedische Punkt“ oder die „Grundlage“ für ein Verständnis, sondern es „mag noch so sehr schwanken und verschwimmen und sich hart an der Grenze einer bloßen Wortkenntnis bewegen – diese Unbestimmtheit des je schon verfügbaren Seinsverständnisses ist selbst ein positives Phänomen, das der Aufklärung bedarf.“189 Gegen Husserls Suche nach der Evidenz und der Voraussetzungslosigkeit denkt Heidegger, dass „die Zirkelhaftigkeit des Verstehens“, nämlich der hermeneutische Zirkel, nicht nur unvermeidlich, sondern notwendig in der Seinsfrage sei. Er verdeutlicht, dass „[ein] »Zirkel im Beweis« in der Fragestellung nach dem Sinn des Seins überhaupt nicht liegen [kann], weil es in der Beantwortung der Frage nicht um eine ableitende Begründung, sondern um aufweisende Grund-Freilegung geht.“190 Demzufolge ist ersichtlich, dass das Seinsverständnis als eine notwendige und vorgängige, aber nicht ausreichende und letztliche Möglichkeitsbedingung des Sinnbezugs und der Sinnbildung konzipiert werden kann. Dies zeigt die transzendentale Eigenschaft in Heideggers Denken auf.
2.3.2 „transzendental“ und „transzendent“ bei Kant und Husserl Es ist kein ganz neues Thema, die transzendentale Eigenschaft in Heideggers Philosophem zu diskutieren. Ein sehr wichtiges Thema hinsichtlich Heideggers Transzendentalismus hat die Frage zum Gegenstand, ob die transzendentale Eigenschaft Heideggers in seinem ganzen Denkweg wirkt. Zu diesem Punkt vertreten einige Heidegger-Forscher verschiedene Meinungen. Daniel Dahlstrom beispielsweise argumentiert im Jahre 2005, dass in der Zeit von 1926–1929 Heidegger unverkennbar ein transzendentaler Philosoph war, er aber seit Mitte der 1930er Jahre seinen transzenden-
188 Ebd. 189 Vgl. ebd., S. 5–6. 190 Ebd., S. 8.
105 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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talen Wegen gegenüber, insbesondere in SZ, eine kritische Haltung einnahm.191 Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Meinung anderer Forscher: Charles Scott, for example, considers it a mark of the success of Heidegger’s later thinking that he is able to reorient thinking without invoking transcendence. Friedrich-Wilhelm von Herrmann stresses how the turn Heidegger’s Philosophy is “a crossing from the transcendental-horizonal perspective into the enowning-historical perspective” or, as Daniela Vallega-Neu puts it, “the leap over transcendence” and into the temporal horizon of being, a leap that cancels the very notion of horizon.192 Im Jahre 2007 haben dagegen Steven Crowell und Jeff Malpas ein Buch mit dem Titel Transcendental Heidegger herausgegeben, in dem die prominenten Heidegger- und Phänomenologie-Forscher den Zusammenhang zwischen Heidegger und dem Transzendentaldenken herausarbeiten. In der Einleitung stellen die Herausgeber gleich im ersten Satz fest: „The transcendental is a key notion in Heidegger’s thought.“193 Sie sind der Ansicht und möchten durch ihr Buch aufweisen, dass die transzendentale Eigenschaft nicht nur in Heideggers frühen Werken ins Spiel kommt, sondern auch in gewissem Sinne in seinem späteren Denken. Aber im gegebenen Kontext sprechen wir lediglich über die relativ unumstrittene transzendentale Eigenschaft in seinem frühen Philosophem, in dem seine transzendentale Eigenschaft immer mit Kants und Husserls Verständnis vom Begriff „transzendental“ und „transzendent“ in enger Beziehung steht. Nachfolgend besprechen wir dieses Thema in zwei Schritten. Der erste bezieht sich auf die Bedeutung von „transzendental“, „transzendent“ und „Transzendenz“ bei Kant und Husserl. Im zweiten erörtern wir Heideggers Rezeption der transzendentalen Elemente Kants und Husserls.
191 Vgl.: „[…] Heidegger explicitly styles his philosophical thinking transcendental in Sein und Zeit as well as in other venues in the years immediately following its publication. During this time (1926–1929), Heidegger remains unmistakably a transcendental philosopher. […] By the latter half of the 1930s he is sharply critical of his transcendental ways, particularly as in Sein und Zeit“ (Daniel O. Dahlstrom: Heidegger's Transcendentalism. In: Research in Phenomenology 35, Heft 1 (2005), S. 29–54, hier S. 31–32). 192 Ebd., S. 32. 193 Steven Crowell und Jeff Malpas: Introduction. Transcendental Heidegger. In: Transcendental Heidegger. Hg. von Steven Crowell und Jeff Malpas. Stanford 2007, S. 1.
106 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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Wenn wir über die Bedeutung von „transzendental“, „transzendent“ und „Transzendenz“ im Kontext der neuzeitlichen Philosophie sprechen, so ist es unumgänglich, mit Kants Bestimmung der Terminologie zu beginnen. Für Kant bezieht sich „transzendental“ auf diejenige Tatsache, die zwar selbst apriorisch ist, die aber die apriorische oder die aposteriorische Erkenntnis bestimmen kann: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transzendental-Philosophie heißen.“194 In diesem Sinne hat „transzendental“ die Denotation von „Bedingung von etwas“. Transzendentalphilosophie bezeichnet daher einen Ansatz der Philosophie, der in erster Linie auf die Aufgabe der Suche nach den Bedingungen unserer Erkenntnis lenkt, dadurch, dass die kritische Grundlage der menschlichen Erkenntnis untersucht wird. „Transzendental“ schließt deshalb die „konstitutive“ Bedeutung in den meisten Fällen in der Philosophie Kants ein. Dahingegen bezieht sich „transzendent“ oder „Transzendenz“ in Kants kritischer Philosophie, insbesondere im Rahmen seiner theoretischen Philosophie, auf die Tatsache, die „außerhalb“ des Bereichs der gültigen menschlichen Erkenntnis liegt. Der Gegenstand der Transzendenz, beispielsweise die metaphysischen Begriffe wie Gott, Seele, Unsterblichkeit usw., konzipiert keineswegs einen gültigen Erkenntnisgegenstand, da für Kant das Transzendente dasjenige ist, was jenseits der menschlichen Erfahrung liegt. Die Bestimmung des Begriffspaars hängt primär von Kants Verständnis der Erkenntnis und seiner Unterscheidung zwischen Phänomenon und Noumenon ab. Erkenntnis ist nur aufgrund der Zusammenarbeit der Sinnlichkeit und des Verstandes, den zwei Säulen der Erkenntnis, möglich. Auf der einen Seite ist das Transzendente seinem Wesen nach ein übersinnlicher Gegenstand, der prinzipiell keine direkte sinnliche Gegebenheit anbieten kann. Auf der anderen Seite gehört das Transzendente im Prinzip in den Bereich des Noumenons, das als Grenzbegriff nur von negativem Gebrauch für menschliche Erkenntnis ist. Das gegensätzliche Begriffspaar „transzendent“ und „immanent“ ist dem Begriffspaar Noumenon und Phänomenon entsprechend zu verstehen, in dem die Bedeutung von „stehen außerhalb oder innerhalb“ der (möglichen) Erfahrung bestätigt werden kann.195
194 KrV B 25. 195 Vgl. „Wir wollen die Grundsätze, deren Anwendung sich ganz und gar in den Schranken möglicher Erfahrung hält, immanente, diejenigen aber, welche diese
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Wegen der fortwährenden Veränderung seines Verständnisses von der Aufgabe der phänomenologischen Untersuchung ist es nicht leicht, Husserls Deutung der Begriffe transzendental und transzendent in wenigen Worten zu referieren. Husserl hat in späterer Zeit einige frühe Charakterisierungen der Phänomenologie, zum Beispiel als deskriptive Psychologie, aufgegeben und im weiteren Verlauf seiner Untersuchungen bereicherte und erweiterte er die Bedeutung seiner transzendentalen Phänomenologie infolge einer ununterbrochenen Korrektur seiner Lehre durch verschiedene Differenzierungen und neue Ansätze. Aber durch einen Vergleich mit Kants Konzeption in seinen späteren Werken können wir doch einen Überblick erhalten. Seit dem Zeitpunkt des „phänomenologischen Durchbruchs“ in Logische Untersuchungen, die Husserl eine neue Methode in der Tradition der transzendentalen Philosophie nennt, kann mit „offiziellem Namen“ die Philosophie Husserls als „transzendentale Phänomenologie“ bezeichnet werden.196 Diese Benennung kann nur durch seine Bestimmung der Aufgabe und seinen Ansatz der Phänomenologie völlig verstanden werden. Wie bereits oben angeführt, ist für Husserl die Aufgabe der Phänomenologie, die durch die Intentionalitätsanalytik „zu den Sachen selbst“ zurückkehren kann, nur durch die Radikalisierung der phänomenologischen Reflexion, also durch die phänomenologische Reduktion, möglich. Falls die Aufgabe der Reduktion vollständig ist, könnte demzufolge die deskriptive Psychologie, die in den Logischen Untersuchungen durchgeführt wurde, in späterer Zeit in die Transzendentalphilosophie transformieret werden. In seiner Schrift Erste Philosophie (1923/24) sagt Husserl deutlich, dass seine eigene Idee der reinen oder transzendentalen Phänomenologie, die sich von seinem „ersten Durchbruch“ in den Logischen Untersuchungen bis zu der sogenannten „neuartigen und im strengsten Sinne eigenständigen Wissenschaft“ in den Ideen entwickelte, eine „offenbare Wesensverwandtschaft“ mit der Transzendentalphilosophie Kants aufweise und er zudem die Terminologie der „transzendentale[n] Philosophie“ von Kant übergenommenen habe.197 Jedoch unterscheidet sich sein
Grenzen überfliegen sollen, transzendente Grundsätze nennen“ (KrV A 295– 296/B 352.) und „Denn alle synthetische[n] Grundsätze des Verstandes sind von immanentem Gebrauch; zu der Erkenntnis eines höchsten Wesens aber wird ein transzendenter Gebrauch derselben erfordert, wozu unser Verstand gar nicht ausgerüstet ist“ (KrV A 636/B 664). 196 Vgl. David Carr: Phenomenology and the Problem of History. A Study of Husserl’s Transcendental Philosophy. Evanston, Illinois 1974, S. xxi. 197 Edmund Husserl: Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte. Hg. von Rudolf Boehm. Den Haag 1956 (Hua VII), S. 230.
108 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
2.3 Die Seinsfrage und der transzendentale Ansatz Heideggers
Verständnis dieser Terminologie in verschiedenen Punkten von Kants Bestimmung, bei der es sich hauptsächlich um die Möglichkeitsbedingung des Erkenntnissubjekts unter der Voraussetzung einer dualistischen Weltanschauung handelt. Im Unterschied zu Kant geht Husserls Deutung von „transzendental“ und „Transzendenz“ in eine andere Richtung. In Cartesianische Meditationen schreibt er: Gehört zum eigenen Sinn der Welt diese Transzendenz irreellen Beschlossenseins, so heißt dann das Ich selbst, das sie als geltenden Sinn in sich trägt und von diesem seinerseits notwendig vorausgesetzt ist, im phänomenologischen Sinne transzendental; die aus dieser Korrelation erwachsenden philosophischen Probleme heißen dementsprechend transzendental-philosophische.198 Der Schwerpunkt bei „transzendent“ liegt darauf, dass sich „transzendent“ auf den Wesenscharakter des Egos oder Bewusstseins bezieht, anstatt auf den Gegenstand, der „außerhalb“ des Bereichs der Erfahrung steht. Das Ego wird zum „transzendentalen Ego“ wegen seines wesentlichen Charakters, der sich immer in der Korrelation zwischen dem Ego und dem Transzendenten konstituiert. Husserl akzeptiert grundsätzlich nicht die traditionelle Dichotomie in „subjektives“ oder „transzendentales“ Ich und „objektive“ Welt. Die transzendentale Subjektivität und die Welt beziehungsweise „Lebenswelt“, die sich in seinen späteren Werken entwickelt, sind grundsätzlich keine zwei separaten Gegenstände. Daher sagt er: „Es ist hierbei zu beachten: So wie das reduzierte Ich kein Stück der Welt ist, so ist umgekehrt die Welt und jedes weltliche Objekt nicht Stück meines Ich, nicht in meinem Bewußtseinsleben als dessen reeller Teil, als Komplex von Empfindungsdaten oder Akten reell vorfindlich.“199 Diese Einsicht ist nur durch seine phänomenologische Methode der ἐποχή, nämlich der phänomenologischen Reduktion, möglich, durch die das Problem der Weltexistenz im Vorhinein einklammert wird. Anhand dieser Einsichten wird deutlich, dass für Husserl die transzendentale Eigenschaft des „reduzierten“ Ichs oder Egos nicht von der Voraussetzung der Dichotomie in Ich und Welt (wie bei Descartes) oder in Phänomenon und Noumenon (wie bei Kant) abhängig ist, sondern von seinem „hinausgehenden“ Charakter, der eine intentionale Korrelation zwischen dem Ich und der Welt im Voraus „konstituiert“. Mit dem folgenden Zitat können wir diese Korrelation sogar noch mehr verdeutlichen:
198 Hua I, S. 65. 199 Ebd.
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Das Faktum der Erfahrung von Fremdem (Nicht-Ich) liegt vor als Erfahrung von einer objektiven Welt und darunter von Anderen (NichtIch in der Form: anderes Ich), und es war ein wichtiges Ergebnis der eigenheitlichen Reduktion an diesen Erfahrungen, daß sie eine intentionale Unterschicht derselben zur Abhebung gebracht hat, in der eine reduzierte Welt als immanente Transzendenz zur Ausweisung kommt. Es ist in der Ordnung der Konstitution einer ichfremden, einer meinem konkret-eigenem Ich äußeren (aber ganz und gar nicht in natürlich-räumlichem Sinne äußeren) Welt die an sich erste, die primordiale Transzendenz (oder Welt), die unerachtet ihrer Idealität als synthetische Einheit eines unendlichen Systems meiner Potentialitäten noch ein Bestimmungsstück meines eigenen konkreten Seins als Ego ist. Es muß nun verständlich gemacht werden, wie in der höheren, fundierten Stufe die Sinngebung der eigentlichen, der konstitutiv sekundären objektiven Transzendenz zustande kommt, und das als Erfahrung. […]200
2.3.3 Von transzendental bis ontologisch: Die transzendentale Eigenschaft Heideggers in Relation zu Kant und Husserl Heideggers Begriff von transzendental und transzendent ist offensichtlich von Kant und Husserl geprägt worden, denn einerseits wandelt er die zweistufige Beziehungsstruktur Kants in ontisch und ontologisch um und nimmt andererseits die Bedeutung des hinausgehenden Charakters der Transzendenz von Husserl auf, mit der seine existentiale Phänomenologie konstruiert werden kann. Es ist nun zu klären, was der Transzendentalismus Heideggers tatsächlich besagt und wie er zu verstehen ist. Wir werden dies anhand zweier Dimensionen aufzeigen, als da wären: 1.) als Möglichkeitsbedingung, 2.) als Ekstase.
2.3.3.1 Rezeption des Bedingungsdenkens mit der Umwandlung kantischer Motive und Terminologie Im Abschnitt 2.3.1 haben wir schon dargelegt, dass sich Heideggers Seinsfrage mit einer ähnlich transzendentalen Weise beschäftigt, die grundsätz-
200 Ebd., S. 136.
110 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
2.3 Die Seinsfrage und der transzendentale Ansatz Heideggers
lich in die Richtung geht, die Möglichkeitsbedingung des Sinnbezugs oder – in seiner Terminologie – der Seinsverfassung zu untersuchen. Ein offensichtliches Merkmal, das die Rezeption des kantischen Denkens darstellt, liegt in seiner Übernahme und Umwendung des kantischen Begriffspaars, um seine Problematik zu erklären. Beispielsweise transformiert er „a posteriori“ und „a priori“ beziehungsweise „transzendental“ in „ontisch“ und „ontologisch“.201 Zur Erklärung der Aufgabe Kants in Hinblick auf seine eigenen Terminologien sagt er in aller Deutlichkeit: Das Problem ist also kurz folgendes: Wie kann der Verstand reale Grundsätze über die Möglichkeit der Sachen entwerfen, d. h. wie kann das Subjekt im vorhinein ein Verständnis dessen haben, was die Seinsverfassung eines Seienden ausmacht? Kant sieht den Zusammenhang, den wir grundsätzlicher und radikaler so formulieren: Seiendes ist in keiner Weise zugänglich ohne vorgängiges Seinsverständnis, d. h. das Seiende, das uns begegnet, muß zuvor schon in seiner Seinsverfassung verstanden sein. Dieses Seinsverständnis des Seienden, diese synthetische Erkenntnis a priori, ist maßgebend für alle Erfahrung von Seiendem.202 Diese Formulierung zeigt seine Absicht, die Transzendentalphilosophie Kants zu verinnerlichen. Obwohl Heideggers Primärfrage der Sinn von Sein ist, diskutiert er hier nicht direkt und zuerst über das Sein per se, sondern über die „Voraussetzung“ und „Bedingung“ der Seinsfrage, die vom Wesenscharakter des Daseins einschließlich des Seinsverständnisses, der Seinsverfassung, der Seinsverhältnisse usw. abhängt. Diese Denkrichtung ist grundsätzlich nicht fernab von Kants Transzendentalphilosophie und Husserls transzendentaler Phänomenologie, die auf die Suche nach der „Bedingung“ gerichtet ist. Aber aus Heideggers Sicht suchen ihre Aufgaben nur die Erkenntnisbedingung, die bloß die wissenschaftliche Erkenntnis oder intentionale Sinnbezüge begründen kann, anstatt alle Sinnbezüge oder sogar Sinnvollzüge.203 Es scheint so zu sein, dass seine Suche nach der Vorstruktur der Sinnvollzüge in diesem Sinne „grundsätzlicher“ und „radi-
201 Vgl. Cristina Lafont: Heidegger and the Synthetic A Priori. In: Steven Crowell, Jeff Malpas (Hg.): Transcendental Heidegger, S. 104–118, hier S. 105–112. 202 GA 25, S. 55. 203 Der Hauptunterschied zwischen Husserls Bezug und Heideggers Vollzug liegt in der beweglichen und zeitlichen Denotation des Terminus Vollzug, bei dem man Heideggers Entwicklung der Terminologien Husserls hinsichtlich der Dimension der Zeitlichkeit beobachten kann. Vgl. Kwan: Die hermeneutische Phänomenologie und das tautologische Denken Heideggers, S. 27–28.
111 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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kaler“ als Kants und Husserls Aufgabe ist, die als die Begründungsarbeit der Erkenntnis dient. Was besondere Aufmerksamkeit erhalten sollte, ist, dass Heidegger sich nicht um eine Phänomenologie im Sinne der cartesianischen oder husserlschen „ersten Philosophie“ bemüht, welche die Suche nach dem einzigen, unerschütterlichen Ausgangspunkt der Erkenntnis zum Ziel hat, sondern mehr oder weniger eine Phänomenologie ähnlich der Logik des Aristoteles sucht, die sich hauptsächlich auf die Bestimmung des Seins und des Seienden bezieht. Bemerkenswerterweise orientiert er sich immer mehr an der Ontologie statt an der Erkenntnistheorie.
2.3.3.2 Transzendenz, Existenz, Ekstase und Zeitlichkeit Die zweite Dimension des Transzendentalismus Heideggers liegt in seiner Umwandlung der Transzendenz Husserls hinsichtlich der Dimension der Zeitlichkeit, mit der er den kognitiv-wissenschaftlichen Ansatz in das ontologisch-existenziale Vorgehen zur Seinsverfassung transformiert. Auf der anderen Seite nimmt Heidegger Husserls Begriff der Transzendenz in Bezug auf seine „ontologisch-existenziale“ Daseinsanalyse, zu unterscheiden von der „ontisch-existenziellen“, in sich auf. In einem frühen Kapitel von SZ, in dem es um „den ontischen Vorrang der Seinsfrage“ geht, „bestimmt“ Heidegger das Dasein als „ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.“204 Das Dasein ist ein besonderes Seiendes, das einen ontisch-ontologischen Vorrang in der Seinsfrage erhält, weil es das einzige Seiende ist, das sich um sein Sein, nämlich seine Existenz, selbst sorgt. Durch diese Sorge versteht und verfasst das Dasein sein Sein, sowohl ontisch als auch ontologisch. Das Seinsverständnis und die Seinsverfassung sind für das Dasein „vorgegeben“ und „vorstrukturiert“, damit auf dieser Basis das Dasein sein Sein weiter entdecken und verfassen kann. Jedoch fragt man möglicherweise, mit welchem Charakter oder „Wesen“ kann man sein Sein „weiter“ – in puncto Zeit – machen? Die Antwort lautet Existenz und Zeitlichkeit. In der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie (1927), in der seine Kantdeutung erstmals seine Hauptuntersuchung wird, sucht Heidegger die Beziehung zu Seinsverständnis, Seinsverfassung und Transzendenz klarer und deutlicher zu explizieren:
204 SZ, S. 12.
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2.3 Die Seinsfrage und der transzendentale Ansatz Heideggers
Wir zeigten durch die Analyse des In-der-Welt-seins, daß zur Seinsverfassung des Daseins die Transzendenz gehört. Das Dasein ist selbst das Transzendente. Es überschreitet sich, d. h. es übertrifft sich selbst in der Transzendenz. Die Transzendenz ermöglicht allererst das Existieren im Sinne des Sichverhaltens zu sich selbst als Seiendem, zu Anderen als Seienden und zu Seiendem im Sinne des Zuhandenen bzw. Vorhandenen. So ist die Transzendenz als solche in dem interpretierten Sinne die nächste Bedingung der Möglichkeit von Seinsverständnis, das Nächste, worauf eine Ontologie das Sein zu entwerfen hat.205 Nach Husserls Verständnis ist die Transzendenz ein Wesenscharakter der Sinnkonstitution (die Seinsverfassung des Daseins bei Heidegger). Durch den ausgehenden Charakter der Transzendenz kann man ihr Sein, nämlich ihre Existenz, konstituieren. Transzendenz als ein Moment der Seinsverfassung des Daseins ermöglicht den zuhandenen beziehungsweise vorhandenen Sinnzusammenhang mit dem Selbst, dem Anderen und allem Seienden. Die „sichüberschreitende“ oder „sichausgehende“ Eigenschaft der Transzendenz ist der Grund, warum das Dasein sein Sein verstehen und verfassen kann. Ein Stein hat keine Möglichkeit, seinen ontisch-existentiellen Zustand zu verändern oder sogar zu „überschreiten“. Dagegen hat das Dasein die Möglichkeit, sein Sein zu verstehen und zu verfassen. Deshalb ist das Dasein selbst das „Transzendente“ – es kann seine Gegebenheit transzendieren. Das Dasein ist nicht das Seiende, das immer in den unveränderten Weltbezügen bleibt. Es ist „wesentlich“ immer offen für seine eigene Möglichkeit, die sich durch seine zeitlich-geschichtliche Situation bestimmt. In dem letzten Punkt unterscheidet sich Heidegger von Kants Transzendentalphilosophie und Husserls transzendentaler Phänomenologie. Er schreibt: „Seinsverständnis und Verhalten zu Seiendem geraten nicht erst und zufällig zusammen, sondern sie entfalten sich als latent je schon in der Existenz des Daseins liegend als aus der ekstatisch-horizontalen Verfassung der Zeitlichkeit gefordert und durch sie in ihrer Zusammengehörigkeit ermöglicht.“206 Der Sinnbezug ist, gegen Husserl, nicht ein bewusster, „intendierter“ Weltbezug, sondern ein „latenter“, „schon in der Existenz des Daseins liegend“. Er ist durch die „ekstatisch-horizontale Verfassung der Zeitlichkeit“ möglich, weil diese „ekstatisch-horizontale Verfassung der
205 GA 24, S. 460. 206 Ebd., S. 466.
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Zeitlichkeit“, nämlich der „Zeithorizont“207, die Zusammengehörigkeit (die Einheit der Erfahrung im Kontext Kants) vorgegeben hat. Der Zeithorizont ist grundsätzlich „ekstatisch“, was „hin-aus-stehend“ bedeutet.208 Die Bestimmung des ekstatischen Zeithorizonts zeigt den zeitlich-beweglichen Wesenscharakter der Transzendenz, die sich von Kants Begriffen unterscheidet. Heidegger erklärt: Wir zeigten aber, daß die Transzendenz ihrerseits in der Zeitlichkeit und somit in der Temporalität verwurzelt ist, d. h. die Zeit ist der primäre Horizont der transzendentalen Wissenschaft, der Ontologie, oder kurz der transzendentale Horizont. Daher lautet der Titel des ersten Teiles der Untersuchung über »Sein und Zeit«: ›Die Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit und die Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein‹. Weil die Ontologie in ihrem Grunde temporale Wissenschaft ist, deshalb ist die Philosophie im rechtverstandenen, nicht ohne weiteres Kantischen Sinne, Transzendental-Philosophie, aber nicht umgekehrt.209 Aufgrund der gegebenen Darlegung kann man durchaus zu Recht Heideggers Philosophie oder Phänomenologie eine transzendentale Ontologie beziehungsweise Fundamentalontologie nennen. Im Vergleich zu Kants Transzendentalphilosophie und Husserls transzendentaler Phänomenologie betont Heidegger den Primat der Zeit – als den transzendentalen Horizont – in seiner transzendentalen Fundamentalontologie. Abschließend können wir zusammenfassend sagen, dass Heidegger die Begriffe „Transzendenz“, „Existenz“ und „Ektase“ im Rahmen der Zeitlichkeit des Daseins absteckt. Diese Terminologien beschreiben die Bedeutung füreinander im hermeneutischen Zirkel, aber gleichzeitig deuten sie auch darauf hin, dass die Zeitlichkeit des Daseins als ursprüngliche Möglichkeits-
207 Vgl. auch „Horizont der Zeit“, „das Weitwerden des Zeithorizontes“. Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (Wintersemester 1929/30). In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 29/30. Hg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. 3. Aufl., Frankfurt/Main 2004 (GA 29/30), S. 228–229. 208 In späterer Zeit stellt Heidegger seine Reflexionen zu den Begriffen „Existenz“, „Ek-sistenz“, „Ek-statischen“, „Eksistierende“ usw. im Rahmen seiner Gedanken zum Humanismus und zum „Wesen“ des Menschen vor. Vgl. hierzu Martin Heidegger: Brief über den »Humanismus« (1946). In: Ders.: Wegmarken (1919– 1961), GA 9, S. 324–333. 209 GA 24, S. 460–461.
114 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
2.4 Die kantische Philosophie als Zuflucht und die Kehre
bedingung der Seinsfrage dient. Diese Denkweise beweist hinreichend den unbestreitbaren Transzendentalismus Heideggers in seiner frühen Zeit.
2.4 Die kantische Philosophie als Zuflucht und die Kehre Die Ähnlichkeit zwischen Kants kritischem Ansatz und Heideggers Ansatz der Seinsfrage gibt uns in einem gewissen Umfang das Recht, Heideggers leitende Aufgabe als eine transzendentale Aufgabe zu bezeichnen. Jedoch stand Heidegger weiterhin unter dem Einfluss der Phänomenologie Husserls. Zudem befand er sich noch mitten in einer starken gedanklichen Auseinandersetzung zwischen Kants und Husserls philosophischer Stellung. Am Ende seiner Vorlesung Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (Wintersemester 1927/28) gesteht Heidegger sein Gefühl für Kants und Husserls Philosophie ein: Als ich vor einigen Jahren die »Kritik der reinen Vernunft« erneut studierte und sie gleichsam vor dem Hintergrund der Phänomenologie Husserls las, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und Kant wurde mir zu einer wesentlichen Bestätigung der Richtigkeit des Weges, auf dem ich suchte. […] Wohl aber hat Kant die große Bedeutung in der Erziehung zur wissenschaftlichen philosophischen Arbeit: man kann ihm schlechthin vertrauen.210 Heideggers großes Vertrauen und seine hohe Erwartung in Kant und sein Glaubensverlust bezüglich Husserls Phänomenologie führten ihn sogar zu einer intensiveren Beschäftigung mit der Philosophie Kants, die für ihn zu einer „Zuflucht“ wurde, wie er es in der späteren Retrospektion nannte. Im Jahre 1973 schrieb Heidegger ein neues Vorwort für die vierte Auflage von KPM, in dem er ausdrücklich sagt, dass erstens seine Kantdeutung in gewissem Sinne ein Kontinuum in Relation zu seiner Fragestellung nach dem Sinn von Sein in SZ bilde; zweitens Kants Philosophie für ihn eine Unterstützung bei der Verfolgung seiner Seinsfrage bedeute: „So kam die Fragestellung von „Sein und Zeit“ als Vorgriff für die versuchte Kantauslegung ins Spiel. Kants Text wurde eine Zuflucht, bei Kant einen Fürsprecher für die von mir gestellte Seinsfrage zu suchen.“211 Die Fragestellung von SZ als „Vorgriff“ zeigt uns deutlich, dass wir ohne die vorgegebene Erkenntnis des Problembewusstseins der Seinsfrage die wahre Fragestellung
210 GA 25, S. 431. 211 KPM, S. XIV.
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
und das Motiv seiner Kantdeutung nicht verstehen können. Durch die Darstellung des Denkweges des frühen Heideggers hoffe ich, dem Leser einen Überblick über die zeitliche Entwicklung seiner Philosophie ermöglicht zu haben. Im Folgenden suchen wir weiter nach dem Grund, 1.) warum nach seiner Kantuntersuchung um das Jahr 1930 Heidegger eine weitere Untersuchung der Seinsfrage im Rahmen von SZ abbrach und 2.) warum Kants Philosophie eine Zuflucht für ihn werden konnte.
2.4.1 Eine unfertige Aufgabe: Sein und Zeit und der Abbruch des Schreibprojekts Die Überlegung zur Wortwahl „Zuflucht“, die tatsächlich ein tiefsinniges aber noch düsteres Bekenntnis seitens Heideggers ist, führt viele Heideggerforscher zu weitergehenden Interpretationen hinsichtlich des Abbruchs von SZ und des Anreizes seiner sogenannten „Kehre“. Hier gehen wir nicht direkt auf diese hochkomplizierten Themen ein, sondern versuchen, die folgenden Fragen zu beantworten: Was ist die Herausforderung, der Heidegger damals begegnete? In welchem Sinne darf Heidegger beanspruchen, dass Kants Philosophie eine Zuflucht für seine philosophische Problematik sein kann? Eine der größten theoretischen Herausforderungen, die nach der Publikation von SZ entstand, ist in der Vorhabenstruktur von SZ verwurzelt. Nach Heideggers Darstellung zielt das Vorhaben von SZ auf eine philosophische Beantwortung der Seinsfrage, die für ihn „eine oder gar die Fundamentalfrage“ sei.212 Das höchste Ziel dieses Vorhabens soll nichts anderes als der Sinn von „Sein“ sein. Allerding wurde dieses Ziel in SZ nicht erreicht, stattdessen halten die Überlegungen in SZ am „Ausgangspunkt“ der Seinsfrage fest. Ausgang, Zugang und Durchgang sind drei Aspekte, mit denen die Verborgenheit der Seinsfrage aufgedeckt werden kann. Die existenziale Analytik des Daseins ist der Ausgangspunkt der Seinsfrage, der uns den Zugang zum Phänomen eröffnet und uns den Durchgang durch „die herrschenden Verdeckungen“ des Sinns von Sein – die sogenannte Seinsvergessenheit – ermöglichen kann.213 Daseinsanalyse als Ausgang der Seinsfrage führt lei-
212 SZ, S. 5. Vgl. auch: „Mit der leitenden Frage nach dem Sinn des Seins steht die Untersuchung bei der Fundamentalfrage der Philosophie überhaupt“ (SZ, S. 27). 213 Ebd., S. 36.
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2.4 Die kantische Philosophie als Zuflucht und die Kehre
der auf einem Umweg zur Frage nach dem Sinn von Sein, was in Hinblick auf den ganzen „Aufriß der Abhandlung“214 zu beachten ist. Menschliches Dasein wird das Zentrum der Analyse und das Sein überhaupt wird bei der Durchführung des ganzen Entwurfs an den Rand gedrängt. Gemäß seiner vorgegebenen Gliederung spaltet Heidegger „die Ausarbeitung der Seinsfrage“ in zwei Teile auf, wobei jeder Teil drei Abschnitte umfasst. Letztlich hat er jedoch lediglich zwei Abschnitte des ersten Teils in SZ beendet.215 Die „Vorbereitung“ wird zur „Hauptaufgabe“, zumindest in den Augen des damaligen Lesers, der stark von der europäischen Existenzkrise und dem europäischen Existenzdenken geprägt war. Ab den 1930er Jahren bekam Heidegger allerdings Zweifel am Entwurf von SZ, in welchem sich die Daseinsanalyse als der notwendige Ausgangspunkt in Bezug auf die Seinsfrage festgesetzt hatte. Aus dem Zweifel entstand die berühmte „Kehre“ seiner Methode beziehungsweise seines Ansatzes der Seinsfrage, die ihn auf die Ausarbeitung des Sinns von Sein direkt richtete. In der Retrospektion nannte Heidegger als „de[n] Grundmangel des Buches »Sein und Zeit«, dass ich mich zu früh zu weit vorgewagt habe.“216 Dieser Selbstkommentar zeigt das Faktum auf, dass sich der Abbruch des ganzen Schreibprojekts auf den inneren Konflikt des theoretischen Arrangements von SZ bezieht, mit dem Heidegger nur die Möglichkeitsbedingung der Sinnbezüge „von Dasein“ beschreibt, sich aber nicht dem Sinn „von Sein“ nähern kann. Dieser innere Konflikt zwischen der Methode und dem Ziel zwang ihn, einen neuen Ausgangspunkt zu suchen und war damit der Anlass zu seiner philosophische „Kehre“ in der Folgezeit.
2.4.2 Die Kehre und die Relation zur Kantdeutung als Zuflucht Bevor wir die zweite Frage, warum Kants Philosophie eine Zuflucht für Heidegger werden konnte, beantworten, sollten wir zunächst nach der Grundbedeutung des Wortes „Zuflucht“ fragen. Die Zuflucht ist ein Ort, an den man „vor“ einer Gewalt von „außen“ oder vor der Verfolgung
214 Ebd., S. 39. 215 Vgl. den Aufriss der Abhandlung der Seinsfrage in § 8 von SZ, S. 39–40. 216 Martin Heidegger: Aus einem Gespräch von der Sprache (1953/54). Zwischen einem Japaner und einem Fragenden. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 12 Unterwegs zur Sprache (1950–1959). Hg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. 2. Aufl., Frankfurt/Main 2018 (GA 12), S. 79–146, hier S. 89.
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
durch „andere Personen“ Schutz sucht. Dieser Ausdruck deutet an, dass Heidegger damals dachte, dass er vor einer spezifischen Gewalt oder Bedrohung stehe. Wenn dem so ist, was ist dann damit gemeint? Um diese Frage zu beantworten, muss man über seine Herausforderung in Verbindung mit dem Wesenscharakter der kantischen Philosophie nachdenken. Am Anfang der Wende von Husserl zu Kant hatte Heidegger noch hohe Erwartungen, weil er glaubte, dass er aufgrund seiner intensiven Beschäftigung mit den Schriften Kants die philosophische Resonanz und Anerkennung vonseiten der Philosophie Kants dadurch finden würde, dass dieser sein Selbstvertrauen stärken würde, sich mit der Grundrichtung der Phänomenologie Husserls auseinanderzusetzen. Obwohl beiden, Kant und Husserl, in ihrem Transzendentalismus die Tendenz zum Reduktionismus nachweisbar ist, kann man doch Kant von Husserl aufgrund der Verwandtschaft, was den erkenntnistheoretischen Fundamentalismus betriff, unterscheiden. Husserl steht in dieser Hinsicht der Denkweise von Descartes nähersteht, da er auf der Suche nach dem ultimativen und axiomatischen Ausgangspunkt seines philosophischen Systems ist. Diese fundamentalistische Neigung ist sogar nach Husserls transzendentaler Wende offensichtlich, seit der die axiomatische Rolle des transzendentalen Egos im System Husserls festgestellt wurde.217 Obwohl im Fall von Kant dessen erkenntnistheoretischer Fundamentalismus schwer zu bestreiten ist, so ist letztlich die Beeinflussung durch den Fundamentalismus bei Kant insgesamt nicht so erheblich wie bei Husserl, weil jener in der Kritik der Urteilskraft (im Folgenden abgekürzt mit KU) eine quasi-holistische Weltanschauung dargestellt hat. Die Flexibilität und Offenheit der kantischen Philosophie gibt Heidegger den nötigen Raum, seine Fundamentalontologie mit der Transzendentalphilosophie Kants zu verbinden. Im Kant-Buch, in welchem Heidegger dieses Vorgehen als eine phänomenologische Interpretation „zur Kritik der reinen Vernunft“ proklamierte, kann man nicht nur deutliche Spuren der KrV, sondern auch der KU und anderer Werke wie Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und aus Kants handschriftlichem Nachlass bermerken. Der Konflikt zwischen seiner und Husserls Denkweise ist in
217 Die Periodisierung der Philosophie Husserls ist keine einfache und evidente Aufgabe, die ohne Disput standfindet. Trotzdem erkennt ein Großteil der Husserlforscher an, dass es ungefähr ab 1906 eine transzendentale Wende innerhalb der philosophischen Entwicklung Husserls gab. Vgl. Dermot Moran: The stages of Husserl’s development. In: Dermot Moran: Introduction to Phenomenology. London und New York 2001, S. 65–67 und David Carr: Phenomenology and the Problem of History, S. 3–7.
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2.4 Die kantische Philosophie als Zuflucht und die Kehre
der Tat schärfer und tiefgreifender und daher ist es verständlich, dass Kants Philosophie Heideggers „Zuflucht gegen Husserl“ werden konnte. Ein anderer Grund, weswegen Heidegger Kant als seine „Zuflucht“ konzipieren konnte, liegt darin, dass Kant für ihn der erste Philosoph in der überlieferten Geschichte der Philosophie war, der die Grundlegung einer Metaphysica generalis ausgearbeitet hatte. Anders als Husserl, dessen Anliegen es war, die Philosophie als „strenge Wissenschaft“ zu etablieren, durch die alle übrigen Wissenschaften begründet werden können, lehnt Heidegger das Verständnis der Philosophie als einer Wissenschaft ab. Für ihn soll Philosophie ursprünglich und grundsätzlich als Metaphysik und nicht als Wissenschaft verstanden werden. Das mit Descartes einsetzende wissenschaftliche Verständnis der Philosophie ist für ihn eine Zurückgebliebenheit: „Die Philosophie und erst gar als Metaphysik hat eben noch nicht die Reife der Wissenschaft erreicht. Sie bewegt sich auf einem zurückgebliebenen Stadium.“218 Die Metaphysik solle keine „feste Disziplin“ oder „Einzelwissenschaft“ sein, sondern, wie die Philosophie, eine Tätigkeit, ein Philosophieren.219 Deshalb sei das Ideal der Philosophie als der absoluten Wissenschaft ein Irrglaube. Im Wintersemester 1929/30 formulierte er mit Bestimmtheit: Oder ist das alles mit der Philosophie als der absoluten Wissenschaft ein Irrglaube? Nicht etwa nur deshalb, weil der Einzelne oder eine Schule dieses Ziel nie erreichen, sondern weil von Grund aus die Zielsetzung selbst ein Irrtum und eine Verkennung des innersten Wesens der Philosophie ist. Philosophie als absolute Wissenschaft – ein hohes, nicht überbietbares Ideal. So scheint es. Und doch ist vielleicht schon allein die Abschätzung der Philosoph an der Idee der Wissenschaft die verhängnisvollste Herabsetzung ihres innersten Wesens.220 Obwohl das Zitat keinen Namen nennt, so ist doch deutlich zu erkennen, wen Heidegger tatsächlich kritisierte. Die von Husserl gesetzte Zielsetzung der Phänomenologie ist grundsätzlich ein erkenntnistheoretischer Fundamentalismus, der einerseits eine einzige Grundlage für alle Erkenntnis und sogar Sinnkonstitution voraussetzt und andererseits die Erkenntnistheorie vor der Metaphysik und der Ontologie im Problem der Sinnkonstitution priorisiert. Jedoch zeigte Heidegger schon in SZ seine Haltung gegen die Priorität der Erkenntnistheorie in der Philosophie und verstärkte danach
218 GA 29/30, S. 2. 219 Vgl. ebd., S. 6. 220 Ebd., S. 2.
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
diese Einstellung durch seine phänomenologische Kantdeutung mit der Umdeutung des größten Motivs der KrV als der Grundlage der Metaphysik. Heideggers Auseinandersetzung seit Mitte der 1920er bis Mitte der 1930er Jahre mit Husserls und Kants Philosophie deren Interpretation und Transformation, kann als sein letzter Versuch eines transzendentalen Ansatzes hinsichtlich der Seinsfrage aufgefasst werden. Danach kam es zu der berühmten Kehre, mit der Heidegger einen neuen Denkweg einschug. Crowell und Malpas äußern sich dazu wie folgt: In consequence, the shift away from the transcendental as a key term in Heidegger’s thinking goes hand in hand with a shift away from the focus on transcendence, and, at the same time, from Kant, as well as from Husserl and the language of transcendental phenomenology. Basing oneself on Heidegger’s overt – and often polemical – self-interpretation, then, one might be tempted to find a radical discontinuity between Heidegger’s earlier and later thinking; indeed, the celebrated “turning” in Heidegger’s thought has been seen chiefly as a turning away from the transcendental and all that is associated with it.221
2.5 Die Auseinandersetzung mit den Neukantianern Neben der inneren Spannung angesichts seiner Aufgabe in Hinblick auf die Seinsfrage gab es noch einen wichtigen äußeren Faktor, der ihn motivierte, seine Kantdeutung auszuführen und zu veröffentlichen. Dieser Faktor liegt in dem jahrelangen Streit mit den Neukantianern. Heidegger hatte in seiner Frühzeit mehrfach Berührung mit dem Neukantianismus. In seinen ersten Jahren in Freiburg hatte er direkten Kontakt mit Heinrich Rickert und Wilhelm Windelband. In seiner Marburger Zeit wurde er von Hermann Cohens und Paul Natorps Werken affiziert. Es ist bekannt, dass die Südwestdeutsche Schule und die Marburger Schule die Brückenköpfe der damaligen Bewegung des Neukantianismus waren. Der Einfluss dieser Bewegung auf den jungen Heidegger war groß und unvermeidlich. In seinen frühen Werken verfolgte Heidegger noch den Ansatz der neukantischen Kantdeutung. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg nahm er seine akademische Lehrtätigkeit auf und begann seine Kritik an der neukantianischen Fragestellung. In jenen Jahren gab es viele kritische Posi-
221 Crowell und Malpas: Introduction: Transcendental Heidegger. In: Transcendental Heidegger, S. 2.
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2.5 Die Auseinandersetzung mit den Neukantianern
tionen zu Rickert (weniger zu Windelband) sowie viele Diskussionen der zeitgemäßen philosophischen Ansätze in Bezug auf die anderen Neukantianer.222 Im Ganzen nahm er mehr und mehr eine negative Haltung zum allgemeinen Ansatz des Neukantianismus ein. In den Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, einer Marburger Vorlesung gehalten im Sommersemester 1925, klagt er darüber, dass die Kantdeutung des Neukantianismus „ein fundamentales Versäumnis“ sei. Der Rückgang auf Kant, die Erneuerung der Kantischen Philosophie, die Begründung des Neukantianismus, vollzieht sich unter ganz bestimmter Fragestellung, der wissenschaftstheoretischen. Dies ist eine Auffassung Kants, die verengt ist, und die man erst heute wieder zu überwinden versucht.223 In der späteren Davoser Disputation (1929) hat Heidegger explizit die Namen der Neukantianer, die Cohen, Windelband, Rickert, Erdmann, Riehl einschließen, genannt, denen er in seiner Kritik eine Verengung der Auffassung Kants unterstellt. Seitdem wird der Streit zwischen den neukantianischen Kantdeutungen und seiner Kantdeutung auf der Bühne der europäischen akademischen Kreise ersichtlich.224 Dieser Streit beschreibt nicht nur den Konflikt zwischen den verschiedenen Kantdeutungen, sondern zugleich auch die Trennung oder, aus einer gewissen Perspektive, die Krise der europäischen philosophischen Denkinhalte in den frühen zwanziger Jahren. Wir betrachten diesen Streit besonders am Beispiel zweier Hauptakteure, Hermann Cohens und seines Schülers Ernst Cassirer.
2.5.1 Cohens Einfluss auf Cassirer und Heidegger Von 1923 bis 1927 arbeitete Heidegger als außerordentlicher Professor an der Universität Marburg. Schon vor seiner Dozentur nahm diese fünfhundert Jahre alte Universität eine zentrale Stellung in der Kantforschung ein. Hermann Cohen und Paul Natorp waren die Pioniere der Marburger Neukantianer, die den unverwechselbaren Stil, der die mathematisch-naturwissenschaftliche Seite der kantischen Philosophie betonte, begründet hatten.
222 Vgl. Charles Bambach: Heidegger, Dilthey and the Crisis of Historicism. Ithaca, New York 1995, S. 224. 223 GA 20, S. 17–18. 224 Vgl. Anhang IV: Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger. In: KPM, S. 274.
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
Gleichzeitig entwickelte sich die Südwestdeutsche Schule zum Mitbewerber der damaligen Kantdeutung, zu deren Hauptvertreter des Neukantianismus bekannte Namen wie Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert zählten. Diese neukantische Schule betonte den Vorrang der praktischen Philosophie Kants. Obgleich der junge Heidegger, der sich bei Rickert (und Heinrich Finke) habilitiert hatte, näher zu Wilhelm Diltheys Lebensphilosophie stand, war seine Lesart Kants, die sich gegen eine extrovertierte wissenschaftliche Kantdeutung wendete, sichtbar von Rickert beeinflusst. 1929 veröffentlichte Heidegger seine eigene Kantdeutung, in der er sich ausdrücklich gegen die Marburger Neukantianer stellt. Der Hauptstreitpunkt ergibt sich aus dem Verständnis der Hauptaufgabe der KrV, die von den Neukantianern als eine Erkenntnistheorie, genauer gesagt als eine philosophische Begründung der wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt, angesehen wird. Der besondere Stellenwert der Beiträge Hermann Cohens zu diesem Thema lässt sich kaum überbewerten. In seinem Werk Kants Theorie der Erfahrung (1871) hat er ein robust antimetaphysisches und wissenschaftlich orientiertes Paradigma zu Kants Philosophie aufgestellt. Der Kernpunkt von Cohens Kant-Verständnis ist die These, dass, sofern wissenschaftliche Erkenntnis abgesichert werden könne, sie allein in der reinen Logik a priori begründet werden müsse. Ausgehend von dieser Grundhaltung lehnt Cohen Kants Trennung des rezeptiven Vermögens der reinen Anschauung von dem spontanen Vermögen der reinen Begriffe, nämlich die dualistische Grundeinstellung der Erkenntnis, ab. Er argumentiert dagegen, dass die Spontaneität des Verstandes der einzige Grund der Erkenntnis sei. In Cohens Augen gibt es kein Seiendes, das nicht Seiendes des Denkens ist. Die Trennung von Sinnlichkeit und Verstand ist eher als eine logische Teilung statt einer wirklichen Separation zweier heterogener Elemente zu verstehen. Gemäß Cohens Interpretation könnte man sagen, dass Kants Dualismus in diesem Sinne eigentlich ein rationeller Monismus sei, der versucht, den endgültigen Grund der wissenschaftlichen Erkenntnis zu begründen. Deswegen wurde Cohens Kantinterpretation mit dem absoluten Idealismus in Zusammenhang gebracht und als „Panlogismus“ betrachtet.225 Cohens Kantdeutung hatte großen Einfluss auf die deutsche akademische Welt der 1920er Jahre. Ernst Cassirer, ein bedeutender Schüler von Cohen und die wichtigste Figur des späten Neukantianismus, wurde sichtlich Cohens Kantdeutung geprägt, insbesondere im Hinblick auf eine be225 Vgl. Gordon: Continental Divide, S. 127.
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2.5 Die Auseinandersetzung mit den Neukantianern
sondere Betonung der menschlichen Spontaneität. Im Frühjahr 1929 führten Cassirer und Heidegger in Davos ein Gespräch über die Kantdeutung. Diese Begegnung hatte nicht nur große Bedeutung für die beiden Philosophen selbst, sondern auch für die zeitgenössische abendländische Philosophie hinsichtlich der philosophischen Entwicklung in Kontinentaleuropa sowie in der angloamerikanischen Welt. Der Geisteswissenschaftler Michael Roubach ist der Auffassung, dass die Davoser Disputation „eine Konfrontation zwischen zwei Weltanschauungen“ gewesen sei.226 Der amerikanische Philosophiehistoriker Peter Gordon setzt die Bedeutung der Disputation in Bezug zur Konkurrenz zwischen verschiedenen Schulen und Strömungen der Philosophie in Deutschland: The young Heidegger had studied under Rickert at Freiburg while Cassirer apprenticed with Cohen at Marburg. The Heidegger-Cassirer dispute might therefore be seen as the final realization of the earlier, late nineteenth-century institutional and methodological rivalry between Southwestern and Marburgian neo-Kantianism.227 In A Parting of the Ways konzediert ein anderer amerikanischer Philosoph, Michael Friedman, der Davoser Begegnung eine noch größere Bedeutung hinsichtlich der Aufspaltung der kontinentalen und analytischen philosophischen Tradition des zwanzigsten Jahrhunderts: For the encounter at Davos between Carnap, Cassirer, and Heidegger concentrated philosophical attention, at least for a moment, on the fate of neo-Kantianism in the early twentieth century, the proper interpretation of Kant, and the relationship, in particular, between Kant’s logical faculty of understanding and sensible faculty of imagination.228 Der Disput hatte deshalb solch starke und weitreichende Wirkung, weil einerseits das Streitgespräch zwischen Cassirer und Heidegger das damalige
226 Vgl. „The Davos debate seemed to be a confrontation between two worldviews. Cassirer exemplified a humanist worldview deeply committed to the heritage of the Enlightenment. Important ingredients of his position were both the scope of human freedom and modern science. Heidegger’s philosophy can be interpreted as undermining the scientific worldview“ (Michael Roubach: The Limits of Order. Cassirer and Heidegger on Finitude and Infinity. In: The Symbolic Construction of Reality. The Legacy of Ernst Cassirer. Hg. von Jeffrey Andrew Barash. Chicago 2008, S. 104–113, hier S. 104). 227 Gordon: Continental Divide, S. 58. 228 Michael Friedman: A Parting of the Ways. Carnap, Cassirer, and Heidegger. Chicago 2000, S. xiii.
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
existenzielle Verlangen und die philosophische Verwirrung mitten ins Herz traf, anderseits berührte es viele Kernthesen der Deutung der kantischen Philosophie und der Philosophie Kants bezüglich der Begriffe der Spontaneität und Rezeptivität, Allgemeingültigkeit und Objektivität, Freiheit und Gegebenheit, Endlichkeit und Unendlichkeit usw., welche einen philosophischen Fortschritt sichtbar machten.229 Spürbar ist auch der Einfluss der Begegnung auf beide Philosophen selbst. Nach dem Treffen mit Heidegger in Davos fügte Cassirer seiner bevorstehenden Publikation des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen fünf zusätzliche Notizen hinzu, die auf Heideggers Kantinterpretation zurückzuführen sind. Anderseits erschien auch Heideggers Kantbuch nur kurze Zeit nach der Disputation. In der Vorrede zur vierten Fassung des Kantbuchs schrieb Heidegger: „Das Kantbuch wurde unmittelbar nach Abschluß der zweiten Davoser Hochschulkurse (17. März bis 6. April 1929) auf dem Grunde der Vorarbeiten (vgl. Vorwort zur ersten Auflage) geschrieben.“230 Nach der Veröffentlichung von SZ folgte Heidegger der „weitergespannte[n] Fragestellung“ von SZ, um eine weitere Entfaltung der Seinsfrage zu erlauben.231 Sein damals konzentriertes Studium der Philosophie Kants steht in engem Zusammenhang mit dem geplanten zweiten Teil von SZ, in welchem Heidegger Kants Lehre vom Schematismus und der Zeit als Vorstufe einer Problematik der Zeitlichkeit interpretieren wollte.232 Nach der Begegnung in Davos schloss Heidegger seine Kantforschung mit Vollendung des Kant-Buchs in einem bestimmten Stadium ab, und retrospektiv sehen wir, wie sich die sogenannte „Kehre“ Heideggers vollzog. Die oben beschriebene Interaktion beider Philosophen eröffnet bereits einen kurzen Blick auf die Bedeutsamkeit der Davoser Disputation. An dieser Stelle werde ich jedoch zunächst versuchen, den Hauptstreitpunkt zwischen Heidegger, Cassirer und den „namhaften Neukantianern“ zu skizzieren. Hier möchte ich vorerst nur auf zwei Punkte, und zwar auf die Grundeinstellung des Neukantianismus zur Kantdeutung und auf die Rolle der Einbildungskraft, eingehen.
229 Die kantische Philosophie und die Philosophie Kants sind für mich, obwohl sie auseinanderliegen, unterschiedliche Begriffe. In diesem Kontext bezieht sich die Philosophie Kants hauptsächlich auf die Wirklichkeit einer Deutung zu Kant, die kantische Philosophie aber auf die Möglichkeit einer Kantdeutung. 230 KPM, Vorwort zur vierten Auflage, S. xiv. 231 Ebd., S. xvi. 232 Vgl. den Schreibplan in § 8 von SZ, S. 39–40.
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2.5 Die Auseinandersetzung mit den Neukantianern
2.5.2 Cassirer versus Heidegger: 1.) Über die Grundhaltung des Neukantianismus zur Kantdeutung Dank des Protokolls von Otto Friedrich Bollnow und Joachim Ritter, Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger, können wir den Unterschied der Grundeinstellung Cassirers und Heideggers zum Neukantianismus klar umreißen. Schon zu Beginn stellte Cassirer Heideggers Verständnis des Neukantianismus in Frage. In Cassirers Augen hängt Heideggers Hauptmissverständnis des Neukantianismus von einer fast vorsätzlichen Verzerrung ab. „Der Neukantianismus ist der Sündenbock der neueren Philosophie.“233 Mit dem Begriff „neuere Philosophie“ verwies Cassirer hier wohl auf die Phänomenologie oder möglichweise auf die Philosophie in Bezug auf die Existenzphilosophie, die Heidegger repräsentierte. Cassirer war der Ansicht, dass der Gegensatz zwischen Phänomenologie und Neukantianismus nur eine Täuschung sei. Für Cassirer fehlte es damals tatsächlich an „existierende[n] Neukantianer[n]“. Der Begriff Neukantianismus solle als eine „Richtung der Fragestellung“ statt als ein „dogmatisches Lehrsystem“ behandelt werden. In diesem Sinne sagte Cassirer sogar: „Ich muß gestehen, dass ich in Heidegger hier einen Neukantianer gefunden habe, wie ich ihn nicht in ihm vermutet hätte.“234 Für Cassirer liegt die Bedeutung der neukantianischen Bewegung in ihrer Grundorientierung, Funktion und Fragestellung. Diese Elemente können durch den Versuch der Radikalisierung der Philosophie Kants dargestellt werden, daher kann, wie es auch Cassirer tat, in gewissem Sinne Heidegger als ein Kantnachfolger betrachtet werden. Jedoch erklärte Cassirer, dass der Schwerpunkt der neukantianischen Kantdeutung auf Kants Erkenntnislehre liege. Seine Beobachtung bestätigte er erneut in einem nach der Disputation geschriebenen Aufsatz: Denn alle namhaften Vertreter des »Neukantianismus« stimmen mindestens in dem einen Punkt überein: daß der Schwerpunkt von Kants System in seiner Erkenntnislehre zu suchen sei, daß das „Faktum der Wissenschaft“ und seine »Möglichkeit« Anfang und Ziel von Kants Problemstellung bilde. In dieser Fragestellung und in ihr allein lag für sie der wissenschaftliche Charakter und der wissenschaftliche Vorrang der Kantischen Lehre begründet.235 233 KPM, S. 274. 234 Ebd. 235 Ernst Cassirer: Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation. In: Kant-Studien 36 (1931), S. 1–26, hier S. 2.
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
Wie bereits erwähnt, hatte Cohen als ein namhafter Neukantianer diese bedeutende Kantinterpretation, die vor allem den Ausgangs- und Endpunkt der für die Wissenschaft wesentlichen Aufgabe der Kantdeutung betrifft, festgeschrieben. Obwohl Cassirer diese Grundeinstellung nicht ablehnte, so teilte er sie auch nicht unreflektiert. Zwar akzeptierte er die Interpretation, dass der Ausgangspunkt Kants im Wesentlichen ein wissenschaftlicher sei, fügte aber begleitend hinzu, dass Kants Philosophie nicht bloß auf dieses Feld zu beschränken sei. Cassirer suchte ebenfalls nach einer neuen Orientierung in der Kantdeutung, die die menschliche Freiheit und Spontaneität nicht beschädigt. Im Mittelpunkt steht für Cassirer das symbolische Vermögen, das die Spontaneität des Verstandes vornehmlich vertritt. Jede Form von Weltbezug ist nach Cassirers Ansicht auf die Symbolisierung angewiesen, die beispielsweise die Tätigkeit der Mythen, Sprache, Religion, Kunst usw. umfasst. Obwohl Heidegger ebenfalls eine Neuorientierung der kantischen Philosophie beabsichtigte, lehnte er die Prämisse ab, dass Kants Ausgangspunkt im Wesentlichen ein wissenschaftlicher sei. Das Gemeinsame des Neukantianismus kann, nach Heidegger, nur aus seinem Ursprung heraus begriffen werden: Um 1850 ist es so, daß sowohl die Geistes- als die Naturwissenschaften die Allheit des Erkennbaren besetzt haben, so daß die Frage entsteht: was bleibt noch der Philosophie, wenn die Allheit des Seienden unter die Wissenschaften aufgeteilt ist? Es bleibt nur noch Erkenntnis der Wissenschaft, nicht des Seienden. Und unter diesem Gesichtspunkt ist dann der Rückgang auf Kant bestimmt. Kant wurde infolgedessen gesehen als Theoretiker der mathematisch-physikalischen Erkenntnistheorie. Erkenntnistheorie ist der Aspekt, unter dem Kant gesehen wurde. Selbst Husserl ist zwischen 1900 und 1910 in gewissem Sinne in die Arme des Neukantianismus gefallen.236 Heideggers sogenannte Rückschau auf den Ursprung des Neukantianismus beruht auf einem klischeehaften Eindruck von den Neukantianern gemäß dem Positivismus der Wissenschaften beziehungsweise dem Szientismus. Bereits 1925 kritisierte Heidegger in seiner Vorlesung Cohens Verständnis des kantischen Begriffs Erfahrung als wissenschaftliche Erfahrung, „wie sie konkret geworden ist in der mathematischen Physik, also eine Kantisch orientierte Theorie des Positivismus der Wissenschaften.“237
236 KPM, S. 274–275. 237 GA 20, S. 18.
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2.5 Die Auseinandersetzung mit den Neukantianern
In der Tat reicht dies nicht aus, um die reale Vielfalt der neukantianischen Bewegung zu erfassen. Heideggers Anklage des Neukantianismus richtete sich nicht nur gegen die Neukantianer der Marburger Schule wie Cohen, sondern auch gegen jene der Südwestdeutschen Schule wie Windelband oder Rickert.238 Allerdings wusste Heidegger sehr wohl, dass sich Windelband und Rickert vornehmlich mit dem Status des Wertkonzepts zur menschlichen und geschichtlichen Wissenschaft beschäftigten. Als Rickerts früherer Mitarbeiter und Schüler erhielt er sogar infolge der Disputation einen Protestbrief Rickerts.239 Obwohl er die persönliche Anklage gegen Rickert mit der Ausrede des ungenauen Protokolls leugnete, war Heideggers Absicht klar erkennbar, dass er den Begriff Neukantianismus auf Szientismus und eine schmale wissenschaftliche Kantdeutung verengen wollte, wodurch er seine neue Orientierung zu rechtfertigen versuchte. Heideggers Denken verfolgte das Ziel, die Philosophie Kants mit der Methode der Phänomenologie und seines Problembewusstseins hinsichtlich der Seinsfrage zu einer Vorbereitungsarbeit seiner eigenen Fundamentalontologie zu interpretieren. Zur Untermauerung seiner Argumentation musste er daher zum Ausdruck bringen, dass die originelle Absicht der KrV in Übereinstimmung mit seiner Deutung geführt werde. Folglich hob er mit Nachdruck hervor: „Mir kommt es darauf an zu zeigen, daß das, was hier als Theorie der Wissenschaften herausgenommen wird, für Kant unwesentlich war. Kant wollte keine Theorie der Naturwissenschaft geben, sondern wollte die Problematik der Metaphysik zeigen, und zwar der Ontologie.“240
2.5.3 Cassirer versus Heidegger: 2.) Über Endlichkeit und die Rolle der Einbildungskraft Cassirer und Heidegger hatten ein unterschiedliches Verständnis von Endlichkeit. Dies führte zu ihrer voneinander abweichenden Meinung zur Rolle der Einbildungskraft in der kantischen Philosophie. Cassirer gab zu, dass in Wirklichkeit die transzendentale Einbildungskraft eine zentrale Bedeutung für Kant habe. Daraus leitete er seine Forschung zum Symbol ab, das nur durch die produktive Einbildungskraft ermöglicht werde. Er sagte:
238 Vgl. KPM, S. 274. 239 Martin Heidegger und Heinrich Rickert: Briefe 1912 bis 1933 und andere Dokumente. Hg. von Alfred Denker. Frankfurt/Main 2002, S. 60–63. 240 KPM, S. 275.
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
In einem Punkt besteht zwischen uns Übereinstimmung, daß die produktive Einbildungskraft auch mir in der Tat für Kant zentrale Bedeutung zu haben scheint. Darauf bin ich durch meine Arbeit an dem Symbolischen geführt. Das kann man nicht lösen, ohne es auf das Vermögen der produktiven Einbildungskraft zurückzuführen. Die Einbildungskraft ist die Beziehung alles Denkens auf die Anschauung. Synthesis speciosa nennt Kant die Einbildungskraft. Die Synthesis ist die Grundkraft des reinen Denkens. Kant kommt es aber nicht auf die Synthesis schlechthin an, sondern in erster Linie auf die Synthesis, die sich der Spezies bedient. Aber dieses Speziesproblem führt in den Kern des Bildbegriffes, des Symbolbegriffes.241 Cassirer gestand zwar ein, dass er und Heidegger ein ähnliches Anliegen bezüglich der Einbildungskraft hätten, betonte aber, dass der Schwerpunkt unterschiedlich sei. Cassirer legt den Fokus besonderes auf die Synthesis speciosa, die sich auf die Funktion des Menschen bezieht, ein symbolisches Bild formulieren zu können. Grundsätzlich sieht Cassirer die Symbolisierungstätigkeit als eine Tätigkeit im Denken der Spezies Mensch an. Diese Tätigkeit wird von der Einbildungskraft ausgeführt, die in der Tat eine spontane und schöpferische Denktätigkeit ist. Für Cassirer ist es wichtig, dass die produktive Einbildungskraft die Schöpfungskraft des Menschen ermöglicht, die nicht nur die Tätigkeit der Symbolisierung begründet, sondern auch die menschliche Kulturtätigkeit überhaupt. Wir finden diesen Gedanken in der Phänomenologie der Erkenntnis (3. Band der Philosophie der symbolischen Formen) bestätigt, die zwar schon gegen Ende des Jahres 1927 fertig geschrieben worden war, jedoch letztendlich erst im Sommer 1929 – nach der Davoser Disputation – veröffentlicht wurde. Offensichtlich beeinflusste die Begegnung mit Heidegger Cassirer, was aus der zusätzlichen Anmerkung in Bezug auf Heidegers SZ hervorgeht.242 In diesem Werk betont Cassirer die spontane und schöpferische Seite der Einbildungskraft, beispielsweise benutzt er Worte wie „eine Spontaneität der reinen Einbildungskraft“, „ursprünglich-produktiv“ und „eine reine Spontaneität, eine schöpferische Tat des Geistes“ usw., um die Spontaneität und die Schöpfungskraft hervorzuheben.243
241 Martin Heidegger: Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger. In: Ders.: KPM, S. 274–296, hier S. 275–276. 242 Vgl. Gordon: Continental Divide, S. 146–147. 243 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis. Darmstadt 1975, S. 12 und S. 186.
128 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
2.5 Die Auseinandersetzung mit den Neukantianern
Kants Auffassung von der transzendentalen Einbildungskraft spielt im Allgemeinen eine zentrale Rolle in der Kantdeutung Heideggers, aber er betont nicht die Spontaneität und die Schöpfungskraft, sondern die Rezeptivität und die Geworfenheit des Menschen. Mit der oben erwähnten Grundeinstellung zu Kant versteht Heidegger die Aufgabe der KrV als die „Grundlegung der Metaphysik“ und das Schematismuskapitel als den Kernabschnitt, um im Sinne von Kants Ontologie zu argumentieren und sie zu interpretieren. Die transzendentale Einbildungskraft spielt für viele Kantianer einfach die Rolle der Synthesis, die die Einheit der Anschauung für das Denken bringt. Jedoch fokussiert Heidegger nicht die vereinigende Funktion dieser Synthesis, sondern die Funktion der Zeitbestimmung der transzendentalen Einbildungskraft. Er argumentiert, dass die Zeitbestimmung erstmalig die zeitliche Einheit in Erfahrung bringt.244 Davon ausgehend kann man mit Recht die transzendentale Einbildungskraft als die „ursprüngliche Zeit“ verstehen, die in ontologischer Art und Weise ursprünglicher als alle Erkenntnis ist.245 Daher schließt Heidegger ein, dass nicht nur die transzendentale Einbildungskraft das dritte Grundvermögen (oder Grundkraft) und die gemeinschaftliche Wurzel ist, sondern auch den unvermeidlichen zeitlichen Horizont für alle menschliche Erkenntnis, gleichsam den Ursprung des Seinsverständnisses darstellt. Vergleicht man das Verständnis der Einbildungskraft beider Philosophen, so kann man feststellen, dass ihr Verständnis mit ihrer Einstellung zur menschlichen Endlichkeit eng verbunden ist. Sowohl Heidegger als auch Cassirer bemühen sich um eine Überwindung der gewöhnlichen Kantdeutung, die die Einbildungskraft auf eine einseitige, enge Funktion, auf die Synthesisfunktion der Anschauung, limitiert. Cassirer betont die schöpferische Seite der produktiven Einbildungskraft, die die Spontaneität und die Vielfalt der menschlichen Kulturschöpfung wiedergibt. Sie weist in diesem Sinne die Unendlichkeit der menschlichen Denkkraft nach; Heidegger betont hingegen den Ursprung aller Erkenntnis und Erfahrung, welcher die Möglichkeit der menschlichen Erfahrung bestimmt und auch beschränkt. Die transzendentale Einbildungskraft als die ursprüngliche Zeit fungiert auf diese Weise als die Bedingung aller Erkenntnis und Erfahrung, die die menschliche Endlichkeit in ihrer Zeit beziehungsweise ihre Zeitlichkeit enthüllt; dagegen versteht Cassirer die Rolle der transzendentalen Einbildungskraft anders, denn die transzendentale Einbildungskraft als die produktive Einbildungskraft soll sich von der reproduktiven Einbil-
244 KPM, S. 187. 245 Ebd.
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Zweites Kapitel: Genese der Kantdeutung Heideggers
dungskraft durch ihre Bedingungslosigkeit unterschieden. Die produktive Einbildungskraft funktioniert gerne ohne vorrangige oder vorgegebene Bedingung, sie stellt genau die spontane und unendliche Seite des Menschen dar. Die Zeit fungiert hier als der Standort, an dem sich alles abspielt, anstatt des Horizonts, der die endliche und geworfene Erfahrung von Dasein ermöglicht. An dieser Stelle verweise ich auf Gordons Beobachtung, um den Hauptstreitpunkt zwischen Cassirer und Heidegger wiederzugeben: Cassirer carried over from Cohen’s logic a wholly productive conception of the mind. […] Heidegger, by contrast, tried to reverse the exorbitant intellectualism of the Marburg School with the radical suggestion that Kant’s epistemology was in fact grounded primarily in receptivity, though he transfigured this receptivity beyond all recognition and, via the phenomenological theory of intuition, disavowed any ties to empiricism.246 Außer der Anerkennung eines Intellektualismus liegt der Hauptunterschied zwischen Heidegger und Cassirer zu Kant, gemäß der Feststellung Gordons, in der Einstellung zur Spontaneität und Rezeptivität des Menschen. Cassirer hat in seinen Werken großes Vertrauen in die Freiheit und die Spontaneität des Menschen, zumal wir in Philosophie der symbolischen Formen einen Optimismus hinsichtlich der menschlichen Denkkraft vonseiten eines „klassischen“ Kantianers wahrnehmen. Heidegger hat dagegen in seinen damaligen Werken, namentlich in SZ, KPM und Was ist Metaphysik? (1929), die Unbeherrschbarkeit der menschlichen Faktizität auf verschieden Ebenen zum Vorschein gebracht; Geworfenheit – ein Echo auf Kants Gegebenheit der sinnlichen Anschauung – als die Faktizität des Daseins impliziert schon die vorgängige Limitierung der Möglichkeit des Daseins in einer gegebenen Situation. Das Erkennen und die Freiheit zur Existenz sind nicht die ursprünglichen Modi des Seins, sondern diese Begriffe können als ein Denkgegenstand nur durch die vorhandene, thematisierte Reflexion begriffen werden. Als Phänomenologe sucht Heidegger in erster Linie das ursprüngliche Phänomen, mit dem sich die Struktur und die Modi des Seins beschreiben lassen. Die Symbol- und Kulturtätigkeit sind die Ergebnisse des Seins. Sie können nur als ein terminus ad quem des Seins, des Daseins konzipiert werden. Der terminus a quo sollen die Modi des Daseins wie Geworfenheit und Zeitlichkeit sein und die Aufgabe der Philosophie solle nicht von der Suche nach dem terminus a quo, sondern
246 Gordon: Continental Divide, S. 362–363.
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2.5 Die Auseinandersetzung mit den Neukantianern
von der Suche und der Rückkehr nach dem Ursprung, nämlich der Seinsfrage abhängen.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Mit dem notwendigen, in den ersten beiden Kapiteln vorbereiteten Hintergrund können wir uns jetzt direkt den Hauptthesen der Kantdeutung Heideggers zuwenden. Aus der nachfolgenden Darstellung können wir deutlich ersehen, dass er mit seiner interpretativen Umwandlung der kantischen Philosophie beabsichtigt, der transzendentalen Einbildungskraft eine Sonderrolle hinsichtlich der Bedeutung der Zeit zu verleihen. So kann er Kants Aufgabe mit seiner eigenen unfertigen Aufgabe, die sich noch in der Herausbildung seines Denkwegs zu der in SZ gestellten Seinsfrage befindet, verbinden. Daher schreibt er: Kants Grundlegung der Metaphysik setzt bei der Metaphysica generalis ein und wird so zur Frage nach der Möglichkeit einer Ontologie überhaupt. Diese stellt die Frage nach dem Wesen der Seinsverfassung des Seienden, d. h. nach dem Sein überhaupt. Auf dem Grunde der Zeit erwächst die Grundlegung der Metaphysik. Die Frage nach dem Sein, die Grundfrage einer Grundlegung der Metaphysik, ist das Problem von „Sein und Zeit“.247 Hier können wir klar erkennen, dass eine innere Verflechtung zwischen der Aufgabe des Kant-Buchs und der Fragestellung von SZ besteht. Obwohl beide am Anfang unterschiedliche Themen bearbeiten, finden sie sich am Ende unter demselben Problembewusstsein und derselben Fragstellung, durch die eine Fundamentalontologie konstituiert werden kann, um einen Zugang zur Seinsfrage zu bahnen. Ich formuliere Heideggers sieben Hauptaussagen gemäß dem Kant-Buch und den anderen Werken, insbesondere in der Zeit zwischen 1927 und 1930, also vor der berühmten „Kehre“, wie folgt: (T1) Kants KrV soll als eine Grundlegung der Metaphysik konzipiert werden. (T2) Erkenntnis ist primär Anschauung bezüglich des Problems der Endlichkeit.
247 KPM, S. 202–203.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
(T3) Die Grundabsicht des Deduktionskapitels ist die Enthüllung der Transzendenz des Daseins. (T4) Das Schematismuskapitel ist das Kernstück von KrV. (T5) Die Einbildungskraft als das dritte Grunderkenntnisvermögen ist die gemeinschaftliche Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand. (T6) Die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit. (T7) Endlichkeit soll einen Vorrang in der Kantdeutung haben. In diesem Anschnitt werden wir gleichzeitig Kants Ausführungen vorstellen, auf die sich Heideggers Argumentation in den zuerst genannten Thesen bezieht. Das Ziel dieses Arbeitsschrittes ist nicht nur eine Einführung und Erläuterung dieser Thesen Heideggers, sondern auch die entsprechende Diskussion der zugrundeliegenden Überlegungen Kants.
3.1 (T1) Kants KrV soll als eine Grundlegung der Metaphysik konzipiert werden Der erste Punkt, mit dem wir uns auseinandersetzen möchten, ist die allgemeine Zielsetzung der Kantdeutung Heideggers. In seiner Vorlesung über die phänomenologische Kantinterpretation stellte er gleich am Anfang folgende Behauptung auf: „Die »Kritik der reinen Vernunft« ist nichts anderes als die Grundlegung der Metaphysik als Wissenschaft und damit der ›reinen Philosophie‹ überhaupt. ›Kritik der reinen Vernunft‹ bedeutet: Grundlegung der Metaphysik als Wissenschaft.“248 Wenig später publizierte er das Kant-Buch. Eine ähnlich lautende Aussage wird nochmals direkt zu Beginn des Kant-Buch gemacht: Die folgende Untersuchung stellt sich die Aufgabe, Kants Kritik der reinen Vernunft als eine Grundlegung der Metaphysik auszulegen, um so das Problem der Metaphysik als das einer Fundamentalontologie vor Augen zu stellen.249 Der Ton ist zwar bestimmt und selbstgewiss, aber der Satz ist nicht leicht zu verstehen. Was bedeutet für Heidegger „Grundlegung“ und „Metaphysik“? Welches Problem hat die Metaphysik? In welchem Sinne ist ein Problem oder Thema schon oder noch nicht „vor Augen“ gestellt?
248 GA 25, S. 10. 249 KPM, S. 1.
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3.1 (T1) Kants KrV soll als eine Grundlegung der Metaphysik konzipiert werden
3.1.1 Metaphysica generalis und Metaphysica specialis Zunächst werden wir uns der Herkunft der Idee in ihrer Verbindung zum geschichtlichen Kontext zu. Wie bereits im Abschnitt 2.5 erläutert, nahm Heidegger eine Gegenposition zur sogenannten „überlieferten“ Tradition der Kantdeutung ein, die damals von den Neukantianern vertreten wurde. In seiner Beschreibung haben die Neukantianer die gleiche Lesart, mit der Kants KrV bloß oder primär als eine Erkenntnistheorie interpretiert wird. Seine Unzufriedenheit mit dieser Lesart entstammt nicht nur seiner frühen Orientierung am faktischen Leben, sondern geht auch auf sein Verständnis von Philosophie zurück. Im Abschnitt 2.2 haben wir bereits darauf hingewiesen, dass sich Heidegger nicht ausschließlich an der Seinsfrage orientierte, sondern auch am Leben und der Bedeutung der Philosophie. Dieses Grundinteresse verschwindet jedoch nicht, sondern wird in einer veränderten Form beibehalten. Während seiner frühen Untersuchung bestimmte er grundsätzlich das Wesen der Philosophie als Metaphysik. Metaphysik ist für Heidegger nicht einfach als eine Disziplin oder eine Einzelwissenschaft zu verstehen. Metaphysik ist ursprünglich die Philosophie, die nach dem Sein des Seienden und seiner Begründung fragt, mit anderen Worten: eine Ontologie. Im Lauf der Zeit entwickelte sich die abendländische Metaphysik mit ihren verschiedenen Themen, beispielsweise bezüglich der Gottesbeweise oder der Substanz, zum Grundstock des Vorhandenen. Im Kant-Buch wie auch in seinen Vorlesungen unterscheidet Heidegger gleich zu Beginn zwischen Metaphysica specialis und Metaphysica generalis, um die Metaphysik gemäß den Gegenständen zu kategorisieren. Mit der geschichtlichen Erörterung der altgriechischenüber die mittelalterliche bis hin zur neuzeitlichen Philosophie stellt er die Entstehung der zwei Bedeutungen des Begriffs der Metaphysik vor: Metaphysik als Erkenntnis des Seienden im Allgemeinen (Metaphysica generalis) und nach ihren Hauptthemen (Metaphysica specialis), zum Beispiel Gott, Natur und Mensch. In seiner Rekonstruktion stehen jedoch diese beiden Teile der Metaphysik nicht auf gleicher Ebene, da in theoretischer Hinsicht die Metaphysica generalis die Metaphysica specialis begründet. Die Gegenstände der Metaphysica specialis sind immer in gewissen Verstandes- oder Vernunftgegenständen zusammengezogen, der Gegenstand der Metaphysica generalis ist jedoch die Vernunft selbst, die als die Möglichkeitsbedingung der Vernunftgegenstände dient. Im weiteren Verlauf der abendländischen Geschichte der Metaphysik nimmt dann Kant eine Sonderrolle ein. Kants
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Aufgabe ziele nicht auf die Begründung der positiven Wissenschaft, sondern, mit einem „höheren Interesse“, auf die menschliche Vernunft.250 Auch wenn wir die vorliegende Interpretation akzeptierten, bliebe uns noch zu fragen, warum die Aufgabe Kants als die Grundlegung der Metaphysik statt der Erkenntnis konzipiert werden soll. Der Schlüssel, um diese Frage zu beantworten, liegt in der konzeptionellen Einbeziehung der transzendentalen und ontologischen Erkenntnisse. Im Rahmen der Kantdeutung Heideggers sind diese Begriffe grundsätzlich auswechselbar. Die transzendentale Erkenntnis als die Möglichkeit der Anwendung der apriorischen Verstandesbegriffe auf das Empirische ist vergleichbar mit der ontologischen Erkenntnis als der Möglichkeit der Anwendung des Seinsverständnisses auf die ontische Erkenntnis.251 Mit der terminologischen Umdeutung Heideggers verändert sich das Verständnis der möglichen Erkenntnis in das Verständnis des Seins des Seienden. Gleichermaßen hat sich die erkenntnistheoretische Grundlegungsaufgabe in die ontologische, nämlich die Metaphysica generalis verändert.
3.1.2 Die Erneuerung der Bedeutung der kopernikanischen Wende Kants und die Argumentation gegen die erkenntnistheoretische Interpretation der KrV Das Problem der Metaphysik verweist in diesem Kontext auf das Problem der „Möglichkeit“ der Metaphysik. Durch die Suche nach der Möglichkeitsbedingung der Metaphysik kann man sowohl die Grundlegung der Metaphysik gewinnen als auch dieses Problem selbst entlang des Grundlegungsprozesses lösen. Dies ist, so glaubt es Heidegger, die echte philosophische Implikation der „kopernikanische Wendung“ Kants, die „ständig mißdeutet wird“.252 Nach seiner Interpretation hat die kopernikanische Wende Kants nicht einfach die Bedeutung einer üblichen Rezeption, die nur betont, dass „[sich] die Gegenstände nach unserem Erkenntnis richten [müssen]“253, sondern: Kant will damit sagen: nicht „alle Erkenntnis“ ist ontische, und wo solche vorliegt, wird sie nur möglich durch eine ontologische. Durch die Kopernikanische Wendung wird der „alte“ Wahrheitsbegriff im Sinne 250 251 252 253
Ebd., 12. Vgl. ebd., S. 14. Ebd., S. 12. KrV B XVI.
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3.1 (T1) Kants KrV soll als eine Grundlegung der Metaphysik konzipiert werden
der „Angleichung“ (adaequatio) der Erkenntnis an das Seiende so wenig erschüttert, daß sie ihn gerade voraussetzt, ja ihn allererst begründet. An Seiendes („Gegenstände“) kann sich ontische Erkenntnis nur angleichen, wenn dieses Seiende als Seiendes zuvor schon offenbar, d.h. in seiner Seinsverfassung erkannt ist.254 Bei der traditionellen Kantdeutung liegt der Wahrheitsbegriff einfach in der Beziehung zwischen den Gegenständen (den Seienden) und unserem Denken als einer Beziehung der Angleichung der Erkenntnis. In der Tat ist es eine Korrespondenztheorie der Wahrheit, die die Übereinstimmung zwischen den subjektiven Aussagen und den Tatsachen der objektiven Welt betrifft. Bei vielen Kantinterpreten hat Kant „bloß“ den Vorrang umgekehrt, bei dem die subjektive Bedingung vor der objektiven Bedingung in der Wahrheitsbestimmung steht. Dieser „alte“ Wahrheitsbegriff spricht nur von der ontischen Wahrheit, einer „ontischen Bestimmbarkeit“. Heidegger nennt diese ontische Wahrheit eine „Offenbarkeit des Seienden“, die nur mit dem vorgängigen, vorgegeben Seinsverständnis (das „in seiner Seinsverfassung erkannt ist“) mögliche ist. Seinsverständnis als die ontologische Bedingung des Seins alles Seienden eröffnet die Möglichkeit, die ontologische Wahrheit zu überdenken. Dieser Richtungswechsel von der Wahrheit des Seienden zur Wahrheit des Seins, ist für Heidegger die echte Bedeutsamkeit der „kopernikanische Wendung“ Kants.255 Der Hinweis zum Erfolg der Enthüllung der ontologischen Wahrheit liegt im Leitfaden zum Problem der Metaphysik. Heidegger glaubt, dass Kant durch die Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, das Problem der Möglichkeit der Metaphysik benannt habe.256 Die metaphysische Erkenntnis ist immer in der synthetischen Urteilsform formuliert. In diesem Sinne ist die Suche nach der Begründung dieser Urteilsform gleichfalls die Suche nach der Möglichkeitsbedingung der Metaphysik überhaupt. Denn ist diese Möglichkeitsbedingung in der reinen Vernunft verwurzelt, wird die Kritik daran im Sinne der Begrenzung und Einschränkung auf ihre wesentlichen Möglichkeiten nötig. Daher kündigt
254 KPM, S. 13. 255 Heidegger schließt im Folgenden ein: „Die ontische Wahrheit richtet sich notwendig nach der ontologischen. Das ist erneut die rechtmäßige Interpretation des Sinnes der „Kopernikanischen Wendung“. Mit dieser Wendung drängt daher Kant das Problem der Ontologie ins Zentrum“ (KPM, S 17). 256 Vgl. KPM, S. 13.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Heidegger an: „Grundlegung der Metaphysik als Enthüllung des Wesens der Ontologie ist »Kritik der reinen Vernunft«.“257 In Anbetracht des vorliegenden Grundes argumentiert Heidegger, dass die echte Absicht der KrV verkannt werde, wenn man sie als die Grundlegung der Theorie der Erfahrung oder der positiven Wissenschaften auslegen würde.258 Die erkenntnistheoretische Interpretation bedeutet nichts anderes als diejenigen Theorien, die die KrV als eine Theorie der ontischen Erkenntnis (Erfahrung) konzipieren. In Heideggers Interpretation der kopernikanischen Wendung Kants versucht jedoch Kant nicht die ontische Erkenntnis, sondern die ontologische zu begründen. Eine Kantdeutung, in der die KrV als eine Grundlegung der Erkenntnistheorie konzipiert wird, verdeutlicht die wahre Absicht von Kant nicht genügend, oder anders gesagt, vermindert das theoretische Potenzial der KrV Daher ist es zutreffender, die KrV als die Grundlegung der Metaphysik im Sinne der Metaphysica generalis zu konzipieren.
3.1.3 Die Repositionierung der geschichtlichen Stellung Kants in der Geschichte der Metaphysik Ist Heideggers Anklage gegen „die“ Neukantianer fehlerfrei? Im Abschnitt 2.5.1 habe ich bereits dargelegt, dass Heidegger fast alle namhaften Neukantianer kritisierte. Er stellte sie faktisch unter die Anklage, eine Tendenz zum Szientismus und zum Intellektualismus auszuprägen. In der Auseinandersetzung mit dieser Position verfasst er seine eigene Kantdeutung, die für eine Umwendung hin zur Ontologie eintritt. Wir haben schon aufgezeigt, dass diese Anklage allzu sehr vereinfachend und nicht gerechtfertigt ist.259 Aber abgesehen von der unter der Zuspitzung leidenden Genauigkeit seiner Anklage ist es noch wichtiger ihre Absicht zu verstehen und welche Implikationen aus seiner Umdeutung in einem größeren Zusammenhang abgeleitet werden können. Wir können seine Absicht aus zwei Perspektiven überdenken. Der erste Aspekt betrifft den Versuch der Vollendung des Entwurfs von SZ, der auf der Daseinsanalyse als der Vorbereitung zur Seinsfrage basiert. Aus dieser Perspektive betrachten wir lediglich die philosophische Verbindung zwi-
257 Ebd., S. 15. 258 Vgl. ebd., S. 16–17. 259 Beiser hat die Kreativität und die Vielfalt der Neukantianer aufgezeigt, vgl.: Frederick Charles Beiser: The Genesis of Neo-Kantianism 1796–1880. Oxford 2014.
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3.1 (T1) Kants KrV soll als eine Grundlegung der Metaphysik konzipiert werden
schen SZ und dem Kant-Buch, mit anderen Worten, Heideggers philosophischen Fortschritt vor der „Kehre“. Der zweite Aspekt bezieht sich auf seine Absicht nach der Neueinschätzung der Metaphysik hinsichtlich der Philosophiegeschichte. Dafür müssen wir ein größeres Bild in Betracht ziehen, das sein früheres und späteres Denken umfasst. Aus der ersten Perspektive richtet sich das Augenmerk nur auf den Ansatz von SZ, der annimmt, dass die Daseinsanalyse als die notwendige Vorbereitungsarbeit für die Seinsfrage fungiert. Dieser Ansatz ist in seiner Kantforschung und -deutung kontinuierlich präsent. Das Kant-Buch als die Zusammenfassung seiner Kantdeutung kann deshalb als Konzeption eines weiteren Versuchs gelesen werden, den Entwurf von SZ zu vollziehen. Die Zuflucht zu Kant gab Heidegger das nötige Selbstvertrauen, um seinen damaligen Denkweg fortzusetzen, und mit diesem Selbstvertrauen ging er diesen Weg weiter, mindestens bis in die frühen 1930er Jahre. Aus diese Perspektive ist seine Kantdeutung die Fortsetzung seiner unfertigen Aufgabe in Hinblick auf den ersten Teil von SZ, mithin „die Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit die Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein.“260 Laut diesem Aufriss von SZ ist die erste Aufgabe, das heißt die Analyse des Daseins, nur die Vorbereitungsarbeit für die Seinsfrage. Diese Aufgabe stellt den Zusammenhang zwischen dem Dasein und dem Sein durch die Auslegung der Zeitlichkeit des Daseins her. Die Argumentation zur Schlüsselrolle der Zeitlichkeit des Daseins in SZ und in KPM dient in dieser Periode als Grundlegung der Metaphysik im Sinne einer notwendigen und vorgängigen Grundlegungsarbeit seiner Seinsfrage überhaupt. Die andere Perspektive entstammt einer weiteren Überlegung über die Bedeutung der Metaphysik für Heidegger. Diese Überlegung hatte er zwar schon in seiner früheren Zeit angestellt, sie kann aber auch in seinen späteren Werken weiterhin verfolgt werden. Gemäß dem geplanten zweiten Teil von SZ mit dem Titel „Grundzüge einer phänomenologischen Destruktion der Geschichte der Ontologie am Leitfaden der Problematik der Temporalität“ wollte Heidegger sein Augenmerk vom Dasein auf die „Destruktion der Geschichte der Ontologie“ beziehungsweise der Metaphysik verlagern. In SZ hat er die Aufgabe der Destruktion „als die am Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehende Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie“ bestimmt. Die Destruktion bedeutet kein Abschütteln der ontologischen Tradition. „Sie soll umgekehrt diese in ihren positiven Möglichkeiten, und das besagt immer, in ihren Grenzen abstecken, die mit 260 SZ, S. 39.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
der jeweiligen Fragestellung und der aus dieser vorgezeichneten Umgrenzung des möglichen Feldes der Untersuchung faktisch gegeben sind.“261 Heidegger glaubt, dass die Durchsichtigkeit der Seinsfrage selbst durch die „Auflockerung der verhärteten Tradition“ und die „Ablösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen“ – die Destruktion der Geschichte der Ontologie – gewonnen werden kann.262 Bei der Abfassung von SZ beziehungsweise der darauffolgenden Vorlesungsmanuskripte hat er den Begriff der Destruktion weiter ausgearbeitet. Die „Destruktion“ wird zusammen mit „Reduktion“ und „Konstruktion“ als die „drei Grundstücke der phänomenologischen Methode“ bestimmt.263 In der Tat nimmt die Destruktion die wichtigste Stellung in der Aufgabe eines „im historischen Rückgang auf die Tradition vollzogene[n] Abbau[s] des Überlieferten“ ein.264 Nur durch diesen Abbau kann der Sinn von Sein hinsichtlich der Geschichte der Philosophie beziehungsweise der Ontologie sich entfalten. Jedoch kann man beobachten, dass in dieser Periode die Bedeutung der Destruktion noch im Rahmen des Problembewusstseins und der Abhandlung der Seinsfrage von SZ blieb. Heidegger suchte in der Geschichte der Philosophie beziehungsweise Ontologie nach demjenigen, der die besondere Rolle spielt, die Zeitlichkeit des Daseins und den Sinn von Sein überhaupt in Verbindung zu bringen. Mit dieser Zielsetzung fragte er: „Gemäß der positiven Tendenz der Destruktion ist zunächst die Frage zu stellen, ob und inwieweit im Verlauf der Geschichte der Ontologie überhaupt die Interpretation des Seins mit dem Phänomen der Zeit thematisch zusammengebracht und ob die hierzu notwendige Problematik der Temporalität grundsätzlich herausgearbeitet wurde und werden konnte.“265 Durch die Destruktion der Geschichte bekommt er die Antwort, wer der erste und einzige Philosoph ist, der sich in Richtung auf die Dimension der Temporalität bewegt hat, und dies ist: Kant.266 Vor der „Kehre“ zielt die Suche nach der Geschichte der Ontologie auf die De-struktion der Schichten des verdeckten ursprünglichen Seins. Diese Verdeckung sei in der Geschichte der Philosophie durch das metphysische Denken konstruiert worden. Heidegger ging zunächst davon aus, dass diese geschichtliche Struktur des Seins wesentlich in der Zeitlichkeit des Da-
261 262 263 264 265 266
Ebd., S. 22. Ebd. GA 24, S. 31. Ebd. SZ, S. 23. Ebd.
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3.1 (T1) Kants KrV soll als eine Grundlegung der Metaphysik konzipiert werden
seins liege. Durch die Aufdeckung der inneren Beziehung zwischen dieser geschichtlichen Seinsstruktur und der Zeitlichkeit des Daseins können wir erst den vorgängigen und notwendigen Eingang zur Seinsfrage überhaupt gewinnen. Jedoch gab er nach der „Kehre“ diesen Ansatz grundsätzlich auf, der es ermöglichen sollte, durch das Dasein dem Sinn von Sein näher zu kommen. Das fruchtbare Ergebnis der Daseinsanalyse im „ersten Teil“ von SZ erweckte dagegen seinen Verdacht hinsichtlich der Notwendigkeit dieses Eingangs zur Seinsfrage, da der Ansatz sowie die Sprache von SZ noch in der Tradition der Metaphysik und der Philosophie der Subjektivität verharren, die Heidegger hingegen beseitigen möchte. Dieser innere Konflikt führt zur Regulierung des Ansatzes und der Sprache. Beispielweise verschwinden die kennzeichnenden Betriebskonzepte, wie etwa die Phänomenologie, die Hermeneutik und die transzendentale Philosophie, in der späteren Zeit nahezu, da diese Begriffe nicht die Farbe der Philosophie der Subjektivität abstreifen können. Joan Stambaugh verweist korrekterweise darauf, dass Heidegger in seiner späteren Periode durch die Destruktion auf diese Begriffe verzichten möchte. Den Grund dafür findet sie darin, dass diese Begriffe die Geschichte der Ontologie tatsächlich konstituiert haben und darum keinesfalls die Geschichte selbst „destruieren“ oder annullieren können.267 Die Destruktion bewirkt den Verzicht auf diese Begriffe, da sie für die Konstitution der Geschichte der Ontologie wesentlich verantwortlich sind. Nur durch diesen Destruktionsprozess lässt sich das ursprüngliche Aussehen des Sinns von Sein wiedererlangen, welches noch nicht von der neuzeitlichen Philosophie der Subjektivität geprägt ist. Um die Aufgabe der Destruktion fortzuführen, gab Heidegger den Ansatz auf, den Sinn von Sein überhaupt anhand der Zeitlichkeit des Daseins zu entfalten. Er versuchte nunmehr, den Sinn von Sein hinsichtlich der Philosophiegeschichte direkt zu destruieren. Diese Aufgabe kann in seiner späteren Zeit im Grunde als die Destruktion der „Geschichte des Seins (oder Seyns)“ benannt werden.268 Diese Terminologie findet sich in Beiträ-
267 Vgl. Joan Stambaugh: Introduction. In: The End of Philosophy. Martin Heidegger. Übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Joan Stambaugh. Chicago 2003, S. vii-xiv, hier S. ix. 268 „Seine spätere Zeit“ bedeutet hier hauptsächlich die Jahre ab 1930 bis zum Brief über den Humanismus (1947). Heidegger gibt zu, dass diese Periode als ein merkwürdiger Denkweg gesehen werden kann. Vgl. Martin Heidegger: Vorwort in Nietzsche I (1936–1939). In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 6.1. Hg. von Brigitte Schillbach. Frankfurt/Main 1996 (GA 6.1), S. 10.
141 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
ge zur Philosophie (GA 65)269, in den Vorlesungen über Nietzsche (GA 6.1 und 6.2) und in dem Seminar über den Vortrag „Zeit und Sein“ (1962) in Zur Sache des Denkens (GA 14) und anderen Werken zum Problem der Technik und zum griechischen Denken. So bearbeitet er zum Beispiel im zweiten Band von Nietzsche direkt die Aufgabe, in dem er die abendländische philosophische Begriffsentwicklung vom „Wesensbeginn“ bis zur „Vollendung“ der Metaphysik schrittweise destruiert. Durch dieses Nachvollziehen der Metaphysik erhalten wir ein Gesamtbild, das aufzeigt, dass die Geschichte der Ontologie im Grunde die Geschichte der Seinsvergessenheit ist. In Heideggers Darlegung der Destruktion der Metaphysikgeschichte spielt Kant keine so wichtige Rolle mehr wie zuvor, aber er hat noch einen unübersehbaren Stellenwert in der Geschichte des Seins, da er das Sein in „die reine Setzung des Dinges im Hinausgehen aus dessen Begriff“270 verändert hat. Der wichtigste Beitrag Kants zur Geschichte des Seins findet sich in seiner These, „Sein ist kein reales Prädikat“. In seinem Nachdenken über den Gottesbeweis sagt Kant deutlich, dass das Sein „bloß die Position eines Dinges“ sei oder „gewisser Bestimmungen an sich selbst“.271 „Position“ bedeutet hier nicht eine räumliche Denotation, sondern die Setzung einer Beziehung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem Ding beziehungsweise dem Objekt. Das Wort „Position“ stammt aus dem Lateinischen ponere (setzen, stellen, legen) und hat ursprünglich die Bedeutung des Setzens einer Beziehung zu etwas. Diese Beziehung ist eine Subjekt-Prädikat-Beziehung, die im Urteil der Seinsarten vorgestellt ist. Hier spielt „sein“ als Kopula lediglich die Rolle einer Verbindung zwischen dem Subjekt und Objekt oder dem Prädikat in der propositionalen Beziehung. „Am deutlichsten in Kants Bestimmung: Sein (ist) »bloß die Position«“.272 Kants Bestimmung des Seins verändert das bestehende Verständnis, das Sein als ein Merkmal eines Objekts oder als ein Vorhandensein in der Geschichte des Seins zu konzipieren. Kant als ein Teilnehmer und als Übergang dieser Geschichte spielt für Heidegger nicht mehr die „erste und einzige“ Rolle im Hinblick auf die Dimension der Zeitlichkeit, mit der die Seinsfrage in Verbindung mit der Zeitlichkeit des Daseins erstmalig betrachtet wurde. Stattdessen wird er ein notwendiger Bestandteil 269 Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–1938). In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 65. Hg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. 3., unveränderte Auflage, Frankfurt/Main 2003 (GA 65). 270 Martin Heidegger: Nietzsche II (1939–1946). In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 6.2. Hg. von Brigitte Schillbach. Frankfurt/Main 1997 (GA 6.2), S. 470. 271 KrV A 598/B 627. 272 GA 6.2, S. 469.
142 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.2 (T2) Erkenntnis ist primär Anschauung bezüglich des Problems der Endlichkeit
der ganzen Darstellung der Geschichte des Seins, vom Wesensbeginn bis zur Vollendung der Metaphysik, von Platon und Aristoteles bis zu Nietzsche, von ἰδέα und ἐνέργεια bis zur Machenschaft (das Ge-stell).273 Anhand der vorliegenden zwei perspektivischen Aspekt wird verständlich, dass die Repositionierung von Kant in der Geschichte der Metaphysik einen bedeutenden Stellenwert hat, da Heidegger Kants Arbeit immer im Zusammenhand mit dem Problembewusstsein der Seinsfrage sieht. Obwohl er den transzendentalen und phänomenologischen Ansatz in der späteren Zeit verlassen hat, gesteht er Kant doch noch eine unübersehbare Rolle in der Geschichte des Seins zu. Dies beweist im Grunde, dass sein Angriff auf die Neukantianer nicht allein auf die Unzufriedenheit mit ihrer erkenntnistheoretischen Kantdeutung zurückzuführen ist, sondern es auch eine größere Absicht und Zielsetzung im Hintergrund gibt, die beständig der Seinsfrage dient.
3.2 (T2) Erkenntnis ist primär Anschauung bezüglich des Problems der Endlichkeit Wir diskutieren nun ein weiteres Thema, und zwar das Wesen der Erkenntnis. Das Verständnis des Wesens der Erkenntnis ist mit dem Thema der Endlichkeit des Menschen eng verbunden. Der menschliche Verstand ist für Kant diskursiv, da er die Erkenntnis in den Urteilsformen durch die Anwendung der Verstandesbegriffe auf die sinnliche Anschauung formuliert. Aus traditioneller kantischer Perspektive hat der Verstand einen höheren Stellenwert als die Sinnlichkeit hinsichtlich der Erkenntnisformulierung. Heideggers Kantdeutung kehrt diese traditionelle Einsicht um, um das Thema der menschlichen Endlichkeit zu vergrößern und zu vertiefen. Das Thema der Endlichkeit der Erkenntnis in der Tradition der kantischen Philosophie wird zum Abschluss in KPM der Argumentationspunkt für die Endlichkeit des Daseins.
3.2.1 Der höhere Stellenwert des Verstandes in der kantischen Tradition Nach der Repositionierung der Stellung Kants in der Geschichte der Metaphysik geht Heidegger auf die Kerngedanken der Philosophie Kants ein. Das erste wichtige Thema betrifft den Beitrag und die Stellung der An273 Vgl. ebd., S. 471.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
schauung in der KrV. Seine Strategie hängt auch hier von dem Gegenargument der sogenannten „überlieferten Kantdeutung“ ab, die sich mit seinem Bild von den Neukantianern eng verbindet. In ihrer Darstellung haben die Neukantianer die Stellung der Anschauung in der KrV ungerechtfertigterweise abgewertet. Im Abschnitt 1.1.2 haben wir schon aufgezeigt, dass es eine kantische Tradition gibt, die dazu tendiert, eine höhere, sogar absolute Autorität des Verstandes über die anderen Erkenntnisvermögen, insbesondere gegenüber der Sinnlichkeit, zu unterstützen. Die Kantianer, die zur Unterstützung dieser Perspektive neigen, begründen dies immer mit einem zweistufigen Grund, um diese Ansicht zu rechtfertigen. Ihr erstes Argument führt die von Kant selbst gezogene Demarkierung zwischen „oberen“ und „niedrigeren“ Erkenntnisvermögen an. In verschiedenen Fällen hatte Kant diese Demarkierung erwähnt, aber was soll die Hinführung zu dieser Hierarchie der Seelenvermögen bezwecken? Beispielsweise legt Kant den Verstand, die Vernunft und die Urteilskraft als die „oberen“ Seelenvermögen in der KU fest, da sie die führende Rolle in der bestimmten Erfahrung spielen. Der Verstand leitet die Konstitution der Erkenntniserfahrung, die (praktische) Vernunft ist primär für das Moralgesetz und die Moralerfahrung verantwortlich und die Urteilskraft hat die Kernposition in der ästhetischen Erfahrung. Alle drei Vermögen besitzen die Ähnlichkeit, dass sie aktiv und spontan an der Erfahrungskonstitution teilnehmen. Die aktive Eigenschaft, nämlich die Spontaneität, ist der Wesensgrund, diese Vermögen die „oberen“ zu nennen. Mithin verstehen wir, warum die Sinnlichkeit in eine „niedrigere“ Stellung im Vergleich zu den anderen Seelenvermögen gestellt wird. Denn die Sinnlichkeit wird als eine passive, rezeptive Fähigkeit, nämlich als Rezeptivität, bestimmt.274 In diesem Zusammenhang erscheint es so, dass die Sinnlichkeit die „bloße folgsame“ Rolle im ganzen System der kritischen Philosophie spielt. Diesem Verständnis gemäß bestimmen viele Kantforscher primär das Wesen der Erkenntnis durch die spontane Eigenschaft des Verstandes. Die Spontaneität wird damit von einer Eigenschaft der Erkenntnisvermögen zum Wesen der menschlichen Erkenntnis. Diese Bestimmung entspricht genau dem Zeitgeist der Aufklärung in der Zeit Kants, die die leitende Rolle der erkennend-theoretischen Vernunft betonte. Deshalb haben die „überlieferten“ Kantforscher das Recht, eine höhere und wichtigere Stellung des Verstandes gegenüber der Sinnlichkeit im Problemhorizont der
274 Vgl. beispielweise KrV A 19/B 33: „Die Fähigkeit, (Rezeptivität) Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit.“
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3.2 (T2) Erkenntnis ist primär Anschauung bezüglich des Problems der Endlichkeit
Erkenntniskonstitution festzustellen. Diese theoretische Tendenz kann laut Heidegger auch in der Tradition des Neukantianismus gefunden werden. Er beklagt die „radikale Einseitigkeit der Marburger Schule“, die nur einen Teil der transzendentalen Logik herausstellt. Heidegger zufolge nehmen Cohen und Natorp an, dass „die transzendentale Ästhetik innerhalb des Ganzen der Kritik etwas Fremdartiges sei und nur einen von Kant noch nicht überwundenen Rest seiner vorkritischen Periode darstelle. Die Marburger Interpretation versuchte daher, die transzendentale Ästhetik in die transzendentale Logik aufzulösen.“275 Die Vernachlässigung der transzendentalen Ästhetik führt gleichzeitig zur Vernachlässigung der Sinnlichkeit. Die Sinnlichkeit als einer der beiden Stämme der Erkenntnis erhält bei dieser Lesart der KrV nicht wie der Verstand den Stellenwert, den sie eigentlich verdient. Infolgedessen wird die Rezeptivität beziehungsweise die Gegebenheit als die notwendige Voraussetzung der Erkenntnisverfassung hierbei übersehen. Heidegger nimmt eine beharrliche Stellung gegenüber dieser Lesart ein. In seinen Augen soll die transzendentale Ästhetik, trotz ihres geringen Umfangs, mindestens in einer gleich grundsätzlichen Funktion im Ganzen der KrV wie die transzendentale Logik gesehen werden. Als „notwendiges Fundament“ und „zentraler Leitfaden“ soll der transzendentalen Ästhetik, der Sinnlichkeit und der Anschauung die gleiche Anerkennung wie den anderen Erkenntnisvermögen zukommen.276 Er stellt diese Forderung aufgrund einer Argumentation, die auf das Wesen der Erkenntnis ausgerichtet ist: Für Heidegger gilt: Erkennen ist primär Anschauung.
3.2.2 Eine Umkehrung: Erkennen ist primär Anschauung Das andere Hauptargument gegen die „überlieferte“ Kantdeutung besteht darin, dass Heidegger den Stellenwert zwischen dem Verstand und der Sinnlichkeit umkehren möchte. Er ist der Meinung: Für alles Verständnis der Kritik der reinen Vernunft muß man sich gleichsam einhämmern: Erkennen ist primär Anschauen. Hieraus wird schon klar, daß die Umdeutung der Erkenntnis in das Urteilen (Denken) wider den entscheidenden Sinn des Kantischen Problems verstößt. Denn alles Denken hat lediglich eine Dienststellung zur An-
275 GA 25, S. 77. 276 Vgl. GA 25, S. 77–79.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
schauung. Das Denken ist nicht nur neben der Anschauung „auch noch“ vorhanden, sondern es dient seiner inneren Struktur nach dem, worauf die Anschauung primär und ständig abzweckt.277 Heideggers Absicht besagt deutlich, dass er den Stellenwert der Anschauung in Dingen der Erkenntnis erhöhen möchte. In seinen Augen ziehen die „überlieferten“ Kantianer beziehungsweise die Neukantianer den Primat des Verstandes vor, da sie die Tendenz zur wissenschaftlichen Lesart der Schriften Kants erhalten wollen, die die apriorische Dimension in der kantischen Philosophie betont. Diese Tendenz hat tatsächlich ihren geschichtlichen Faktor. Die Entstehung der Marburger Schule beruht zu einem gewissen Teil auf der Widerlegung des Psychologismus und der psychologischen Kantdeutung. Cohen gewann durch seine Publikation Kants Theorie der Erfahrung (1871; 2. Aufl. 1885) bedeutenden Einfluss auf die damalige Kantdeutung. In Cohens Augen ist der Kernpunkt der Philosophie Kants die Erkenntnistheorie, die in erster Linie die mathematisch-naturwissenschaftliche Erkenntnis begründet: Aber eine Psychologie des Erkennens hat [Kant] nicht geben wollen, und weil die Gefahr bestand, in der psychologischen Theorie den Schwerpunkt der Frage zu erblicken, hat er gerade die Deduktion neubearbeitet. Aber auch hier hat er die Termini seiner psychologischen Analyse kurz erwähnt und somit beibehalten. In der Tat hat er aller Psychologie des Erkennens den Weg gewiesen. Nur ist es schlechterdings falsch, die kantische Antwort auf diese Frage in der trans(s)zendentalen Aesthetik zu suchen.278 Dem oben angeführten Zitat können wir entnehmen, dass Cohen sich nicht nur gegen die psychologischen Kantdeutung wendet, sondern auch gegen die Suche nach der „kantischen Antwort“ auf die Frage von Johann Friedrich Herbart, der die Bedeutung des Teils der transzendentalen Ästhetik betont.279 In Cohens Augen intendierte Kant außerdem durch die Neufas-
277 KPM, S. 21–22. 278 Hermann Cohen: Kants Theorie der Erfahrung. 3. Aufl., Berlin 1918, S. 414. 279 Cohen führt in der erwähnten Publikation an, dass Herbart gefragt habe, „woher die bestimmten Gestalten bestimmter Dinge? […] Diese Frage ist nach der kantischen Ansicht schlechterdings unbeantwortlich“ (Johann Friedrich Herbart: Psychologie als Wissenschaft. Neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. Zweiter, analytischer Theil. In: Ders.: Sämtliche Werke in 12 Bänden. Hg. von Gustav Hartenstein. Leipzig 1850–1852. Bd. 6: Schriften zur Psychologie, 2. Teil, S 308). Zu Cohens Anmerkung vgl.: Kants Theorie der Erfahrung, S. 414.
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3.2 (T2) Erkenntnis ist primär Anschauung bezüglich des Problems der Endlichkeit
sung des Deduktionskapitals, nämlich der B-Deduktion, seine Argumentationen für die transzendentalen Erkenntnisvermögen zu „verbessern“. Diese Lesart führt selbstverständlich das sinnliche Vermögen zu einer niedrigen Stellung der Sinnlichkeit im Vergleich zu den anderen intellektuellen Vermögen. Dadurch kommt es zu einer unausgeglichenen Rolle zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Durch Heideggers Umkehrung der Beziehung, die zwischen Sinnlichkeit und Verstand besteht, „dient“ jetzt das Denken dem primären und ständigen Zweck der Anschauung. Der genannte „primäre und ständige Zweck der Anschauung“ meint in der Tat die Funktion der Anschauung, nämlich die Rezeptivität. Sein Plan hat zwei Stufen. Erstens verändert er die kantische Terminologie, damit die Entgegensetzung und die Grenze zwischen beiden Vermögen verwischt werden; zweitens kehrt er durch die Argumentation „Erkenntnis ist primär Anschauung“ die Abhängigkeit der Erkenntnisvermögen in der „überlieferten“ Kantdeutung um. Heidegger erschafft den neuen Begriff „das Hinnehmende“ als Ersatz für „Rezeptivität“. Damit wird die passive Denotation von Rezeptivität weggenommen und gleichzeitig die zweiseitige, aktiv-passive Bedeutung der sinnlichen Vermögen durch die Veränderung der Terminologie implementiert und betont. In einem später vereinbarten Vermerk erklärt er dies noch deutlicher: […] Anschauen meint hier das Seiende selbst offenbar haben qua hinnehmendes, geben lassend. Erkennen ist „primär“, d.h. in erster Linie, im Grunde seines Wesens (qua endliches); zu eben diesem Wesen gehört notwendig Denken als das sekundäre, nur deshalb ein primäres! [D]as „sekundäre“ aber ist hier gemeint im Sinne der Ordnung des Aufbaus des Wesens; nicht im populären Sinn von „im Grunde entbehrlich“. Gerade weil Erkennen primär Anschauen, deshalb ist nie für uns ein Anschauen allein eine Erkenntnis! […]280 Heidegger bestimmt, dass in Dingen des Wesens der Erkenntnis das Erkennen zu dem Anschauen primär und wesentlich gehört. Heidegger kennt ganz genau die Implikation dieser Umdeutung, die die Stellung zwischen Verstand und Sinnlichkeit beziehungsweise Denken und Anschauung betrifft. Seine „Umdeutung der Erkenntnis“ positioniert die Anschauung auf eine höhere Stufe gegenüber dem Denken. Dieses „kantische Problem“ bedeutet in der Tat „eine gewisse innere Verwandtschaft“281 zwischen den
280 KPM, Fn f, S. 21–22. 281 KPM, S. 22.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
verschiedenen Erkenntnisvermögen, die Heidegger aufstellen möchte. Er spricht sich gegen die Kantdeutung aus, die nicht nur das Wesen der Erkenntnis dem Denken zuordnet, sondern auch die gleiche Stellung zu beiden Vermögen, nämlich Verstand und Sinnlichkeit, in Dingen des Wesens der Erkenntnis bestimmt. Er lehnt sogar nicht einmal eine wechselseitige, und zwar völlig gleichgewichtige Bezogenheit zwischen Anschauen und Denken ab. Denn er glaubt, dass diese Interpretation vom Missverständnis des Wesens der Erkenntnis abhängt. Er sagt: Hieraus könnte man folgern, daß zwischen Anschauen und Denken eine wechselseitige, und zwar völlig gleichgewichtige Bezogenheit bestehe, so daß man auch mit gleichen Recht sagen dürfte: Erkennen ist anschauendes Denken, also im Grunde doch Urteilen. Demgegenüber muß aber festgehalten werde, daß die Anschauung das eigentliche Wesen der Erkenntnis ausmacht und bei aller Wechselseitigkeit des Bezuges zwischen Anschauen und Denken das eigentliche Gewicht besitzt.282 Das Wesen der Erkenntnis kann man zwar zum Wesen des Verstandes führen, aber es ist nicht ursprünglich. Die menschliche Erkenntnis ist eine diskursive Erkenntnis, ein anschauendes Denken, das zuerst im Prozess der Erkenntnisverfassung die Gegebenheit des Anschauens erwartet. Anders gesagt, primär und ursprünglich liegt das Wesen des Denkens im Wesen des Anschauens unter Berücksichtigung des „eigentlichen“ Wesens der Erkenntnis. Allerdrings könnte man weiterfragen, was meint Heidegger eigentlich mit „Wesen des Anschauens“, welche Bedeutung hat „Wesen“ in seinem Denken? Er betont wieder und wieder, dass sich das Stellungsproblem zwischen Anschauen und Denken in den Rahmen des „Wesens“ der Erkenntnis fügt, aber wir würden stattdessen fragen, wieso diese Frage nach dem „Wesen der Erkenntnis“ so wichtig ist. Bei welchem Thema ist diese Umkehrung wesentlich?
282 Ebd., S. 23.
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3.2 (T2) Erkenntnis ist primär Anschauung bezüglich des Problems der Endlichkeit
3.2.3 Das Wesen der Erkenntnis: Die ursprüngliche Verwurzelung in der Anschauung In der Tradition der kantischen Philosophie wird die Diskussion über das Wesen der Erkenntnis oft dahin gehend geführt, dass ein Gegensatz zwischen der unendlichen göttlichen Erkenntnis und der endlichen menschlichen besteht. Kant erfasst diese Ansicht durch das Begriffspaar mit den Adjektiven „intuitiv“ und „diskursiv“, um damit die direkte und indirekte Seite der Erkenntnis wiederzugeben. Die Idee der unendlichen göttlichen Erkenntnis, des „intuitus originarius“, ist wesentlich die Anschauung selbst anstatt der Kombination aus Anschauung und Denkens. Die „göttliche Erkenntnis“ ist sozusagen schöpferisch. „Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.“283 Sie hängt nicht von der Gegebenheit der Anschauung ab, da sie die Wirklichkeit direkt anstatt diskursiv bestimmt. Daher sagt Heidegger, dass „Denken als solches demnach schon das Siegel der Endlichkeit [ist].“284 Die Endlichkeit des Menschen ist mit dieser Prämisse durch den Unterschied der Erkenntnis seitens Gottes und seitens des Menschen bestimmt. Die göttliche Anschauung ist eine direkte, ungetrennte, schöpferische Anschauung, die mit Gottes Denken nicht teilbar ist. Die Erkenntnis des Menschen ist dagegen diskursiv, erwartend, unschöpferisch. Sie ist eine, die immer auf den gegebenen Gegenstand des Anschauens wartet, um das Angeschaute zu denken. Darum nennt Heidegger das menschliche Anschauen ein „denkendes Anschauen“, um die dualistische Kombination der Menschenerkenntnis, die sich vom göttlichen Anschauen unterscheidet, hervorzuheben.285 Das menschliche Anschauen heißt „auch intuitus derivativus, „abgeleitete“, d.h. sich herleitende Anschauung“.286 Allerdings kann die Bestimmung, welche Erkenntnis Gott und welche der Mensch hat, nur das Wesen der menschlichen Erkenntnis überhaupt als eine diskursive Erkenntnis hervorheben, aber sie kann nicht eine Ansicht zum Thema des Stellungsproblems zwischen der Sinnlichkeit und dem Denken bieten. Um den Primat der Sinnlichkeit festzustellen, richtet Heidegger den Fokus der Diskussion auf das Wesen der Erkenntnis, nämlich ihre Endlichkeit.
283 284 285 286
1. Buch Mose (Genesis) 1,3. KPM, S. 24. Vgl. ebd., S. 25. Ebd.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Gemäß der „überlieferten“ Kantdeutung wird das Wesen der endlichen Erkenntnis im Wesen des Verstandes gesetzt. Die menschliche Erkenntnis hängt, wie oben dargelegt, wesentlich vom diskursiven Verstand ab, da sie nur mit der Zusammenarbeit der Anschauung und des Denkens möglich ist. Aus dieser Perspektive soll das Wesen der Erkenntnis mindestens aus beiden Vermögen zusammen konstituiert werden. Jedoch teilen nicht viele Kantgelehrte diese Meinung, weil sie glauben, dass der Stellenwert von Sinnlichkeit und Verstand nicht gleich ist. Wie wir im Kapitel 3.2.1 bereits gesagt haben, besitzt der Verstand, wie insbesondere in der zweiten Fassung der KrV gezeigt, aufgrund seiner Spontaneität eine ersichtliche Herrschaft über die Sinnlichkeit in Dingen der Verfassung der Erkenntnis. Diese Herrschaft des Verstandes verlagert den Schwerpunkt der verbundenen Überlegung auf die subjektive und spontane Seite der Erkenntnisvermögen. Dagegen beachtet Heidegger die andere Seite, die die Werkzeuge der Affektion, die „Sinne“, betont: Die menschliche Anschauung ist nicht deshalb „sinnlich“, weil ihre Affektion durch „Sinnes“-Werkzeuge geschieht, sondern umgekehrt: weil unser Dasein ein endliches ist – inmitten des schon Seienden existierend, an dieses ausgeliefert – deshalb muß es notwendig das schon Seiende hinnehmen, d.h. dem Seienden die Möglichkeit bieten, sich zu melden. Für die mögliche Durchgabe der Meldung sind Werkzeuge notwendig.287 Wir können hier erkennen, dass Heideggers Erklärung zum Begriff Affektion seinen Gedanken bezüglich der „Geworfenheit“ des Daseins voraussetzt. Die Voraussetzung der Affektion ist die „Faktizität“, die das Dasein schon „inmitten“ des Seienden existierend zeigt. In diesem Sinn steht die Geworfenheit des Daseins sogar vor der Sinnlichkeit in Hinblick auf die Verfassung der Erkenntnis und Erfahrung. Die Sinnlichkeit als die „Sinnes-Werkzeuge“ – in kantischer Terminologie, die Form der Anschauung – begründet die ontologische Möglichkeit, sowohl die empirische als auch nicht-empirische Sinnlichkeit zu beschreiben. Mit Heideggers Deutung kann Sinnlichkeit nicht nur als die ontische Begründung der endlichen Erkenntnis, sondern auch als die ontologische konzipiert werden.288 In Heideggers Umdeutung ist die ontologische Bestimmung des Angeschauten als ein „Hinblick auf …“ gestaltet. Durch diesen „Hinblick auf
287 Ebd., S. 26. 288 Ebd., S. 26–27.
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3.2 (T2) Erkenntnis ist primär Anschauung bezüglich des Problems der Endlichkeit
…“ wird zuerst die Vorstellung, die noch nicht von den Verstandesbegriffen begriffen ist, vor dem Erkenntnissubjekt ausgestellt. Danach begreift man diese unbestimmte Vorstellung in einer Aussage von etwas über etwas (Prädikation), nämlich in Form des Urteils.289 Der Verstand ist das „Vermögen zu urteilen“, dadurch macht er die Anschauung „verständlich“. Durch diesen Prozess macht der Verstand „das in der Anschauung Vorgestellte vorstelliger in der Weise“.290 Aufgrund des Dargelegten können wir festhalten, dass sich in Heideggers Deutung die Vorstellungsverfassung als ein zweistufiger Vorgang gestalten lässt. Die erste Stufe bezieht sich auf die Synthesis der Anschauung und dann die zweite Stufe darauf, dass sich das Denken und die Anschauung in der veritativen Synthesis miteinander vereinigen, nämlich als Urteile.291 Diese zweistufige Vorgangsinterpretation der Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Verstand gibt den Grund vor, aus dem Heidegger Wert auf die A-Deduktion anstatt der B-Deduktion in seiner Erklärung der Synthesis in dem späteren Kapitel von KPM legt. Die führende Position der Anschauung ändert strukturell nicht nur die unsymmetrische Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Verstand, sondern auch die Anerkennung der älteren Argumentierungsstrategie Kants in der Überlegung des Wesens der Erkenntnis.
3.2.4. Die Rolle der transzendentalen Logik und die Implikation der Umkehrung In § 15 von KPM diskutiert Heidegger nochmals den Stellenwert zwischen dem Teil der transzendentalen Ästhetik und dem der transzendentalen Logik. Er gibt zu, dass man das Recht hat zu sagen, dass die Logik „einen unvergleichlichen Vorrang vor der Ästhetik“ erhält, weil Kant der „Analytik der Begriffe“ nicht nur die Erhellung des reinen Begriffes als Element der reinen Erkenntnis zuweist, sondern auch die Bestimmung und Begründung der Wesenseinheit der reinen Erkenntnis.292 Jedoch, wie er schon dargestellt hat, hat die Anschauung den Vorrang oder das „Primäre“ im Ganzen der Erkenntnis. Wieso und woher kommt diese anscheinend widersprüchliche Redeweise?
289 290 291 292
Ebd., S. 27–28. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Ebd., S. 66.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Am Ende besteht der Vorrang der transzendentalen Logik im Ganzen der Grundlegung der Metaphysica generalis in gewisser Weise zu Recht. Aber gerade deshalb muß die Interpretation sich von der Kantischen Architektonik frei und die Idee der transzendentalen Logik problematisch machen.293 Heidegger akzeptiert, dass „in gewisser Weise“ die transzendentale Logik einen Vorrang hat, unter der Voraussetzung, dass man den Stellenwert der Erkenntnisvermögen aus der Perspektive der Grundlegung der Metaphysica generalis bedenkt. Denn die Aufgabe der Metaphysica generalis besteht hauptsächlich darin, die Möglichkeitsbedingung der Erkenntnis zu bestimmen. Man sagt zu Recht, dass der Verstand die vorrangige Rolle in der Bestimmung der Erkenntnis erhält, da Sinnlichkeit vorzugsweise für die Rezeption und die Synthesis der Mannigfaltigkeit verantwortlich ist. Der Grund, der die Herrschaft des Verstandes unterstützet, liegt in der Abwesenheit der „Erörterung des zentralen Problems der Möglichkeit der Ontologie“294, da laut Heidegger Kant der „Analytik der Begriffe“ nicht nur die Erhellung des reinen Begriffes als Element der reinen Erkenntnis zuweist, sondern auch die Bestimmung und Begründung der Wesenseinheit der reinen Erkenntnis. Mit anderen Worten, Kant hat, in Heideggers Augen, die Argumentation bezogen auf die erkenntnistheoretische und ontologische Erörterung der Erkenntnis in einer einzigen Analytik aufgearbeitet. Wegen dieser Argumentierungsstrategie, die einer längeren Erörterung über das Wesen und die Anwendung des Verstandes bedarf, ist es berechtig zu sagen, dass der Verstand eine vorrangige Stellung in der Dimension der „Analytik“ erhält. Wenn man sich jedoch auf die „Endlichkeit“ der Erkenntnis und die Möglichkeit der „Synthesis“ fokussiert, dann soll stattdessen die Anschauung beziehungsweise die Sinnlichkeit die primäre Stellung erhalten. Heideggers Vorschlag ist in zwei Punkten von Bedeutung: Erstens, wir werden daran erinnert, dass die Bevorzugung des Verstandes die Überlegung zum Stellenwert der Erkenntnisvermögen beeinflussen kann, weil man unter dem Einfluss der intellektualistischen Tradition in der Philosophiegeschichte, aus der Sicht der „rationalistischen“ Lesart eher zu Kant tendierte. „Schließlich aber besitzt die Orientierung am Logos und an der Ratio entsprechend ihrer Bedeutung in der abendländischen Metaphysik bei der Grundlegung dieser von vornherein einen Vorrang, was in der Be-
293 Ebd., S. 67. 294 Ebd., S. 66.
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3.3 (T3) Das Deduktionskapitel: Die Aufhellung der Transzendenz des Daseins
stimmung dieser Grundlegung als einer Kritik der reinen Vernunft zum Ausdruck kommt“;295 zweitens können wir natürlich aus der „analytischen“ Perspektive heraus die Bedeutung der zwei Elemente, Sinnlichkeit und Verstand abwägen. Aber wenn wir unser Augenmerk auf das Wesen und den Ursprung der Erkenntnis lenken, dann sollten wir nicht den primären Stellenwert des Anschauens vernachlässigen. Eine „Herabminderung der Funktion der transzendentalen Ästhetik oder gar deren völlige Ausschaltung“ kann und soll umgekehrt werden.296
3.3 (T3) Das Deduktionskapitel: Die Aufhellung der Transzendenz des Daseins Mit obiger Umdeutung begründet Heidegger eine neue Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Diese neue Beziehung besagt, dass im Nachdenken über die Endlichkeit der Erkenntnis die Anschauung einen Vorrang hat. Dieser Gedanke hängt von einer isolierten Überlegung über das Wesen der Sinnlichkeit und des Verstandes ab. Im Folgenden werden wir uns dem Problem der Einigung der beiden Erkenntnisvermögen zuwenden. Die dritte Hauptthese Heideggers argumentiert dafür, dass das Deduktionskapitel beabsichtigt, die Transzendenz des Daseins aufzuhellen. Um diese These zu beweisen, muss Heidegger erst veranschaulichen, dass man durch die Darstellung der Urabsicht des Deduktionskapitels erkennen kann, dass es eine von der Transzendenz des Daseins gegründete ursprüngliche Einheit aller Erkenntnisvermögen gibt.
3.3.1 Die lange Suche nach der ursprünglichen Einheit: Ein Schwerpunkt der Kantdeutung Heidegger hatte bereits darauf hingewiesen, dass Kant seine Analytik der Elemente der Erkenntnis in einer isolierten Weise beginnt, die in der KrV in transzendentale Ästhetik und transzendentale Logik aufgeteilt ist. Er fragt weiter nach der Möglichkeitsbedingung dieser Analytik und überlegt: Die Endlichkeit der Erkenntnis bekundet gerade eine eigentümliche innere Angewiesenheit des Denkens auf die Anschauung bzw. umge-
295 Ebd., S. 68. 296 Ebd., S. 67.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
kehrt eine Bestimmungsbedürftigkeit dieser durch jenes. Der Zug der Elemente zueinander deutet darauf hin, daß ihre Einheit nicht „später“ als sie selbst sein kann, sondern „früher“ in ihnen angelegt und für sie grundgelegt sein muß. Diese Einheit einigt als ursprüngliche die Elemente so, daß gerade erst in der Einigung die Elemente als solche entspringen und durch sie in ihrer Einheit gehalten werden.297 Da die Analytik in der methodologischen Weise eine Isolierung der Elemente ist, denkt Heidegger, dass dort eine ursprüngliche Einheit vorliegen muss, die diese Isolierung ermöglicht. Diese Denkrichtung ist keineswegs neu. In Hölderlins bekannter Skizze zu Urteil und Sein wird die Idee der vorurteilenden ursprünglichen Einheit dargestellt.298 Die Suche nach der ursprünglichen Einheit hinsichtlich der „unbedingten“ Subjektivität ist bekanntlich ein wichtiges und allgemeines Thema für die nachkantische Philosophie, insbesondere für die deutschen Idealisten.299 Wir haben bereits erwähnt, dass das Wurzelproblem – der Ursprung der Suche nach der ursprünglichen Einheit – die eigentliche Inspirationsquelle vieler Kantnachfolger ist. In ihren Augen versteckt Kant absichtlich die endgültige Antwort, die das höchste Geheimnis der menschlichen Seele ist. Der Ausdruck von der „möglichen“ gemeinschaftlichen Wurzel ist in der Tat eine Versuchung, sich auf ein philosophisches Abenteuer einzulassen, und keine Lösung, die man beruhigt zur Kenntnis nehmen kann. Heidegger hat tatsächlich auch diese Einladung erhalten. Er denkt, dass die Einheit von Sinnlichkeit und Verstand, nämlich das Produkt der Erkenntnisvermögen, das Erkennen, „früher“ statt „später“ angelegt ist. Mit anderen Worten: Die Erkenntnis ist ein Gegebensein und kein Ergebnis. In der Tat bestimmt diese Unterscheidung unsere Blickrichtung bei einer Kantdeutung. Was geschieht bei dieser Blickrichtung? Erkenntnis als ein Ergebnis der Erkenntnisvermögen weist auf das Wie der Erkenntnisvermögen hin. Erkenntnis als ein Gegebensein fokussiert sich andererseits auf das Was des
297 Ebd., S. 58. 298 Vgl. Friedrich Hölderlin: Urteil und Sein. In: Sämtliche Werke in 6 Bänden. Hg. von Friedrich Beissner. Stuttgart 1962, Bd. 4, S. 226–228. 299 Vgl. „German Idealism can therefore be understood as exploring the idea that subjectivity is ‘unconditioned’“ (Andrew Bowie: German Philosophy – A Very Short Introduction. Oxford 2010, S. 38.) und „In both the theoretical and the practical parts of his philosophy, then, Kant leaves a gap where the articulation of the highest principle should be located“ (Bowie: Aesthetic and Subjectivity, S. 24).
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3.3 (T3) Das Deduktionskapitel: Die Aufhellung der Transzendenz des Daseins
Ursprungs der Erkenntnis. Das Ergebnis dieses Problembewusstseins ist das Wurzelproblem. Die funktionelle Überlegung wird durch die Überlegung bezüglich des ontologischen Ursprungs ersetzt. Die Reihenfolge der Erkenntnisvermögen wird der Schwerpunkt der Kantdeutung. Diese theoretische Tendenz bewirkt den Gedanken, dass die Elemente der endlichen reinen Erkenntnis nicht einem „nachträglichen Beisammen“ gleichsam angeklebt sind. Die Einheit der Erkenntnis ist das Einigende, das die ursprüngliche, spontane Betätigung der Synthesis ausmacht: „Daß die Einheit nicht Ergebnis eines Zusammengeratens der Elemente, sondern selbst das ursprünglich Einigende sein soll, kündigt sich in ihrer Benennung als „Synthesis“ an.“300
3.3.2 Die ursprüngliche Einigung ist die ontologische Synthesis Die Synthesis wird nun als das ursprüngliche Einigende gedeutet. Diese Synthesis geschieht nicht nur im Einigenden des Verstandes, das im Begriff und im Urteil gefunden wird, sondern auch im Einigenden der Sinnlichkeit, das in den Formen des Raums und der Zeit vorgestellt ist. Mit der isolierten Analytik kann man diese zwei heterogenen Einigenden auseinander analysieren. Jedoch wenn man nach der Wesenseinheit der reinen Erkenntnis fragt, muss man die Überlegung anstellen, dass vor aller Synthese ein ursprüngliches Ganze vorhanden ist, mit dem eine später gekommene, isolierte Analytik der verschiedenen Synthesis möglich ist. In der Tat liegt die Wesenseinheit der reinen Erkenntnis in diesem ursprünglichen Ganzen, das einen strukturalen Zusammenhang darstellt. Auf welche Art und Weise sich dieses Strukturganze formt, ist die weitere Frage nach der Wesenseinheit der Erkenntnis: Die Frage nach der Wesenseinheit von reiner Anschauung und reinem Denken kommt aus der vorgängigen Isolierung dieser Elemente her. Der Charakter der ihnen zugehörigen Einheit läßt sich deshalb zunächst so verzeichnen, daß gezeigt wird. wie jedes dieser Elemente das andere strukturmäßig fordert. Sie zeigen Fugen, die auf ein Ineinandergefügtes vordeuten. Die veritative Synthesis ist dann das, was sich nicht nur in diese Fugen, die Elemente zusammenfügend, einfügt, sondern diese Fugen allererst „fügt“.301
300 KPM, S. 60. 301 Ebd., S. 61.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Dieses Strukturganze ist durch die „Fugen“ der Elemente der Erkenntnis formuliert. Diese Fugen deuten voraus auf eine voreingestellte Position hin, durch die sich die heterogenen Erkenntnisvermögen ineinander im Ganzen einigen können. Die veritative Synthesis, als die verarbeitete Gestalt der Erkenntnis, ist mehr als ein „Eingefügtes“, sondern ein „Ineinandergefügtes“, das bereits ganz am Anfang als ein Ganzes beobachtet werden soll. Die heterogenen Vermögen, Sinnlichkeit und Verstand, können sich in ein ineinandergefügtes Ganzes formulieren, weil für Heidegger beide Vermögen das gegenseitige „Sich-füreinander-bereiten“ sind, das in derjenigen Handlung geschieht, die Kant allgemein Synthesis nennt.302 Heidegger betont, dass die Beziehung zwischen beiden Elementen ein Ineinandergefügtes ist, da er die in der B-Deduktion geförderte Perspektive ablehnt, dass die synthetische Rolle nur zu der Funktion des Verstandes gehört. Da in seiner ganzen Argumentation die Einbildungskraft als ein eigenständiges Vermögen beibehalten werden muss, möchte er besonders die vermittelnde Rolle der Einbildungskraft behalten. So erklärt er: „Diese Synthesis ist weder Sache der Anschauung noch des Denkens. Sie hat, gleichsam „zwischen“ beiden vermittelnd, mit beiden Verwandtschaft.“303 In der KrV betont Kant, dass die Einbildungskraft für diese vermittelnde Aufgabe verantwortlich ist: „Die Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind.“304 Diese Beschreibung der Synthesis überhaupt wurde in der zweiten Auflage von KrV (B-Fassung) im Jahr 1787 weder gelöscht noch bearbeitet. Wir können also zu Recht sagen, dass die Grundwirkung der Einbildungskraft in Kants Gedanken sich nicht grundsätzlich geändert hat. Die Änderung, insbesondere die Hauptänderung in der B-Deduktion, in der die auffällige Rolle der Einbildungskraft ersichtlich abgenommen hat, ist vielleicht hauptsächlich mit Blick auf die Argumentationsstrategie geschehen.305 Die führende Rolle des Verstandes ist hinsichtlich der Überlegung der Führungsposition in der Erkenntnisverfassung wichtig, aber wenn man die Aufmerksamkeit auf die Struktur des Erkenntnisganzen lenkt, dann spielt im Grunde die Einbildungskraft eine unersetzliche Rolle. Obgleich bis zu diesem Zeitpunkt der Betriebsmodus der Einbildungskraft –
302 303 304 305
Ebd., S. 62. Ebd. KrV A 78/B 103. Vgl. Sarah Gibbons: Kant’s Theory of Imagination. Oxford 1994. S. 37.
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3.3 (T3) Das Deduktionskapitel: Die Aufhellung der Transzendenz des Daseins
als eine blinde, obgleich unentbehrliche Funktion der Seele – noch im Dunkel bleibt, ist sie strukturell notwendig. Um ein Strukturganzes der verschiedenen Elemente zu ermöglichen, spielt der Vermittler, die Einbildungskraft, eine besondere Rolle, da sie einerseits die Synthesis für das Mannigfaltige aus der Sinnlichkeit bietet, anderseits sich durch diese reine Synthesis auf die begriffliche Rekognition des Verstandes vorbereitet – dies kann in der A-Deduktion festgestellt werden. Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstand sind die drei Teile, die zusammen ein Strukturganzes bilden, beziehungsweise eine Dreiheit, in deren Mitte die Einbildungskraft steht. Kant hat schon in einem früheren Abschnitt, der sich auf den Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe bezieht, diese Klassifikation der Zuständigkeitsbereiche der Vermögen eingeführt: Das erste, was uns zum Behuf der Erkenntnis aller Gegenstände a priori gegeben sein muß, ist das Mannigfaltige der reinen Anschauung; die Synthesis dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft ist das zweite, gibt aber noch keine Erkenntnis. Die Begriffe, welche dieser reinen Synthesis Einheit geben, und lediglich in der Vorstellung dieser notwendigen synthetischen Einheit bestehen, tun das dritte zum Erkenntnisse eines vorkommenden Gegenstandes, und beruhen auf dem Verstande.306 Die Beziehung zwischen Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstand ist in Heideggers Augen aber keine Aggregationsbeziehung, die sich mit drei Komponenten Stufe für Stufe anhäuft. Er überlegt: In dieser Dreiheit hält die reine Synthesis der Einbildungskraft die Mitte. Das hat jedoch nicht den äußerlichen Sinn, als sei die Einbildungskraft lediglich in der Aufzählung der Bedingungen der reinen Erkenntnis zwischen der ersten und dritten genannt. Diese Mitte ist vielmehr eine strukturale. In ihr treffen und fügen sich die reine Synopsis und die reine reflektierende Synthesis zusammen. Diese Ineinsfügung drückt sich für Kant darin aus, daß er die Selbigkeit der reinen Synthesis im Syn-haften der Anschauung und des Verstandes feststellt.307 Heidegger kreiert den Begriff „Selbigkeit“, um mit diesem Begriff „nicht die leere Identität eines überall wirkenden formalen Verknüpfens, sondern
306 KrV A 78–9/B 104. 307 KPM, S. 64.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
die ursprünglich reiche Ganzheit eines vielgliedrigen, als Anschauen und Denken zumal wirkenden Einigens und Einheitgebens“ zu erklären.308 Er ist der Ansicht, worauf Kant hinweisen möchte, ist nicht eine formale Verknüpfung der drei Vermögen, sondern eine ursprüngliche Handlung, die eine ursprüngliche Einheit des Anschauens und des Denkens aussagt. Die Selbigkeit der reinen Synthesis bezeichnet den Reichtum dieser ursprünglichen Einheit, die ein „Bewandtnisganzes“ der Erkenntnisverfassung beinhaltet.309 Es ist festzuhalten, dass jedes Teil innerhalb dieses Ganzen einen vorgegebenen kontextuellen Zusammenhang mit den anderen Elementen hat. „Selbigkeit heißt hier: wesensmäßige, strukturale Zusammengehörigkeit.“310 Mit dieser Kantdeutung lädt Heidegger uns ein, nochmals über den ontologischen Zustand der Erkenntniselemente nachzudenken. Im landläufigen Sinn denkt man, dass die „Elemente“ der Erkenntnis ontologisch eigenständig sein sollen. Deshalb kann man die transzendentale „Analytik“ der Erkenntnisvermögen durchführen – der selbständige ontologische Zustand jedes Erkenntnisvermögens wird zum Ergebnis der Analytik erklärt. Aufgrund Heideggers Kantdeutung kann man eine andere Möglichkeit überdenken, ob nämlich alle Erkenntnisvermögen tatsächlich ontologisch dieselben sind. Die Heterogenität der Erkenntnisvermögen hängt tiefreichend und grundlegend von ihrer vorgegebenen Selbigkeit ab. Daher soll man die Suche nach der Wesenseinheit der transzendentalen, oder mit Heideggers Wortwahl ontologischen Erkenntnis als den Anfang statt des Ergebnisses der Untersuchung betrachten. „Diese Charakteristik der Wesenseinheit der ontologischen Erkenntnis kann nicht der Abschluß, sondern muß der rechte Anfang der Grundlegung der ontologischen Erkenntnis sein.“311 Die Suche nach der ursprünglichen Einigung beziehungsweise der transzendentalen Synthesis ist in seinen Augen nichts mehr als die Suche nach der ontologischen Synthesis der Erkenntnis, und außerdem spielt die Einbildungskraft die strukturelle Kernrolle in der Überlegung zum Bilden des Strukturganzen der Erkenntnis.
308 Ebd. 309 Das „Bewandtnisganze“ ist die Terminologie in SZ, die ich hier ausleihe, um den vorgegebenen Reichtum des Zusammenhangs zu erklären. 310 KPM, S. 64. 311 Ebd., S. 65.
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3.3 (T3) Das Deduktionskapitel: Die Aufhellung der Transzendenz des Daseins
3.3.3. Die transzendentale Deduktion als die Aufhellung der Transzendenz der endlichen Vernunft beziehungsweise des Daseins In Anbetracht der Suche nach der strukturellen Rolle der Einbildungskraft muss man in Richtung auf die ursprüngliche Einheit der Erkenntnis tiefer gehen. Diese ursprüngliche Einheit liegt in der wesentlichen Verbindung von Anschauen und Denken, die sich auf die Synthesishandlung aller Vorstellung bezieht. Die Suche nach der wesentlichen Möglichkeit dieser Synthesis ist in der Kantdeutung Heideggers das Hauptthema des Deduktionskapitels in der KrV. Heideggers Deutung des Deduktionskapitels ist aufschlussreich, aber auch zweifelhaft. Sein erster Anspruch bezieht sich auf die Überlegung, was die Hauptaufgabe des Deduktionskapitels sei. Er kündigt in erster Linie an, dass seine Deutung hauptsächlich von der „ersten Auflage“ beziehungsweise A-Deduktion abhängt.312 Der Grund liegt darin, dass die B-Deduktion in der Tat das Ergebnis von „Kants Zurückweichen vor der transzendentalen Einbildungskraft“ sei (vgl. Abschnitt 3.7.1). Die überarbeitete Fassung zeigt keine bessere Argumentation der Möglichkeitsbedingung der Erkenntnis, sondern das Zurückweichen der Folgerung, die transzendentale Einbildungskraft als die gemeinschaftliche Wurzel aufzuzeigen. Heidegger legt das Hauptgewicht dieses Kapitels, im Gegensatz zur überlieferten Kantdeutung, nicht auf die Nachweisarbeit der objektiven Gültigkeit der Anwendung der Kategorien auf die Sinnlichkeit („quaestio juris“), sondern auf die „analytische Erschließung der Grundstruktur der reinen Synthesis“.313 Er behauptet, dass die Hauptaufgabe des Deduktionskapitels
312 Vgl. ebd., S. 69. 313 Heidegger schreibt: „Wenn so die Grundabsicht der „Deduktion“ in der analytischen Erschließung der Grundstruktur der reinen Synthesis liegt, dann kann ihr echter Gehalt nicht in einer Darstellung ihrer als „quaestio juris“ zum Ausdruck kommen. Die quaestio juris darf daher von vorherein nicht zum Leitfaden der Interpretation dieses zentralen Kantischen Lehrstückes genommen werden“ (KPM, S. 69). Siehe dazu auch: „Nun ist leicht zu sehen: interpretiert man den Ausdruck „objektive Realität“ nicht aus dem Wesen der reinen Synthesis der transzendentalen Einbildungskraft, als welche sie die Wesenseinheit der ontologischen Erkenntnis bildet, sondern hält man sich, und zwar primär und ausschließlich, an den Ausdruck, den Kant im Hinblick auf die äußere, einführende Formulierung der transzendentalen Deduktion als einer juristischen Fragestellung gebraucht, an den Titel „objektive Gültigkeit“, und faßt man Gültigkeit dann noch, entgegen dem Sinn des Kantischen Problems, als logische Geltung des Urteils – dann wird das entscheidende Problem völlig aus dem Auge gerückt“ (ebd., S. 87).
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
darin liegen soll, wie sich in der reinen Synthesis die reine Anschauung und das reine Denken a priori treffen können. Deshalb tendiert er dazu, seine Deutung auf die A-Deduktion zu fokussieren, da sie das Thema der Endlichkeit der Erkenntnis noch mehr erhellen kann. Angesichts seiner Vorliebe für die A-Deduktion beachtet er den Prozess der Erkenntniskonstituierung, der ein Licht auf die Transzendenz (des Daseins) wirft. Nach Heidegger liegt die Grundabsicht der transzendentalen Deduktion in der Aufhellung der Transzendenz der endlichen Vernunft. Was bedeutet dann „die Aufhellung der Transzendenz der endlichen Vernunft“?314 Transzendenz ist in diesem Kontext ein Ausdruck aus der Terminologie Heideggers, statt Kants, der das Konstitutionselement der Seinsverfassung meint. Heideggers Anspruch auf das Deduktionskapitel führt zum Gedanken, dass Kants Arbeit die Grundmöglichkeit der Seinsverfassung durch die Aufhellungsarbeit im Deduktionskapitel eröffnet hat. Durch diese Aufhellung kann man sich dem Ursprung der Erfahrung beziehungsweise der Seinsverfassung annähern. Mit anderen Worten: Das Deduktionskapitel enthüllt wesentlich nicht nur die tiefgreifende Einsicht in die transzendentale Philosophie Kants, sondern auch die bedeutendste Vorbereitungsarbeit der Seinsfrage überhaupt.
3.3.3.1 „Gegenstehenlasse von …“ und „Spielraum“ Wie bringt Heidegger nun diese Implikation des Themas zur Sprache? In erster Linie muss er die überlieferte Kantdeutung umdeuten, die das Hauptthema und die Hauptaufgabe des Deduktionskapitels falsch erfasst hat. Seiner Ansicht nach liegt der Irrtum der überlieferten Kantdeutung hauptsächlich in der Überschätzung der Führungsrolle des Verstandes und in der Missdeutung des Verhältnisses zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Um diese Punkte anzugehen, lenkt er den Fokus des Deduktionskapitels auf das Betriebsverfahren der reinen Synthesis, die hauptsächlich auf die Textanalyse der A-Deduktion angewiesen ist. In der A-Deduktion entfaltet Kant Schicht für Schicht die dreifache Synthesis einschließlich der Synthesis der Apprehension in der Anschauung, der Reproduktion in der Einbildung und der Rekognition im Begriff. Diese Synthesen weisen auf die Tatsache hin, dass die Vorstellungstätigkeit eine vorgängige Struktur beinhaltet, die aus den verschiedenen von heterogenen Elementen ausgebildeten Ebenen besteht. Da diese zusammenarbeitenden Synthesen auf nichts an314 Vgl. den Titel des § 16 von KPM, S. 70.
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3.3 (T3) Das Deduktionskapitel: Die Aufhellung der Transzendenz des Daseins
deres als die Konstitution der Vorstellungen zielen, haben wir die Vorbedingung, den kognitiven Gegenstand zu bestimmen. Diese synthetische Handlung ist tatsächlich eine Handlung, die das Objekt gegenüberstehen lässt – gegen das Erkenntnissubjekt. Daher interpretiert Heidegger diese Handlung als „eine entgegenstehenlassende Zuwendung-zu…“, mit welcher das „Gegenstehenlassen von …“ entsteht.315 Und das Vermögen, das diese Handlung ermöglicht, fasst er als die Transzendenz (des Daseins, im Folgenden als „das endliche Wesen“). Er erklärt: Endliches Wesen bedarf dieses Grundvermögens einer entgegenstehenlassenden Zuwendung-zu … In dieser ursprünglichen Zuwendung hält sich das endliche Wesen überhaupt erst einen Spielraum vor, innerhalb dessen ihm etwas „korrespondieren“ kann. Sich im vorhinein in solchem Spielraum halten, ihn ursprünglich bilden, ist nichts anderes als die Transzendenz, die alles endliche Verhalten zu Seiendem auszeichnet.316 Diesem Zitat kann man drei Punkte entnehmen: 1. Die „entgegenstehenlassende Zuwendung-zu …“ ist ein „ursprüngliches“ „Grund“vermögen. 2. Eine korrespondierende Beziehung zwischen dem Erkenntnissubjekt und -objekt wird vom Dasein (dem endlichen Wesen) in einem „Spielraum“ vorgehalten. 3. Dieser Spielraum wird von der Transzendenz des Daseins gebildet. Heideggers Deutung stellt dar, dass die Synthesishandlung der Grundstein ist, eine korrespondierende Erkenntnishandlung zu ermöglichen. Für viele Kantianer, so glaube ich, ist dieser Punkt unproblematisch. Aber Heidegger interpretiert noch mehr, nämlich dass diese korrespondierende Beziehung in einem Spielraum geschieht, der von der Transzendenz geschaffen wird. Diese Deutung ist jedoch problematisch, da in der ganzen Erkenntnishandlung die Grundstellung der transzendentalen Synthesis, die immer von der transzendentalen Apperzeption besetzt ist, durch die Transzendenz ersetz wird. Dies geht über die Grenze einer Kantinterpretation hinaus, stattdessen ist es eine „Herstellung“ sogar eine „Verzerrung“. An dieser Stelle zeigen wir nur den umstrittenen Punkt auf, aber provisorisch behalten wir uns das Urteil dazu vor. Wir fragen noch weiter, wieweit Heidegger mit dieser Deutung womöglich gehen möchte. Welche
315 Vgl. KPM, S. 71. 316 Ebd.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Folgen haben die Einführung der Begriffe wie „Gegenstehenlassen“, „Spielraum“, „Transzendenz“ usw.? Er arbeitet weiter aus: Allein, in einem Vermögen des Gegenstehenlassens von …, in der eine reine Korrespondenz allererst bildenden Zuwendung-zu …, kann sich ein hinnehmendes Anschauen vollziehen. Und was ist es, was wir da von uns aus entgegenstehen lassen? Seiendes kann es nicht sein. Wenn aber nicht Seiendes, dann eben ein Nichts. Nur wenn das Gegenstehenlassen von … ein Sichhineinhalten in das Nichts ist, kann das Vorstellen anstatt des Nichts und innerhalb seiner ein nicht-Nichts, d. h. so etwas wie Seiendes begegnen lassen, falls solches sich gerade empirisch zeigt. Allerdings ist dieses Nichts das nihil absolutum. Welche Bewandtnis es mit diesem Gegenstehenlassen von … hat, gilt es zu erörtern.317 Dieses Zitat, mit vielen „hausgemachten“ Terminologien Heideggers ausgestattet ist, so wie es aussieht, nicht leicht zu erklären. In der Tat, wenn man sich des husserlschen Einflusses seines Gedankens bewusst ist, kann man leicht die oben stehende Idee in den Begriff Husserls übersetzen, und zwar: Horizont. In Heideggers Augen ist die endliche Erkenntnis primär ein hinnehmendes Anschauen, mit dem das Seiende als der Gegenstand der Erkenntnis begriffen werden kann. Um die Begegnung des Seienden zu ermöglichen, bedarf man zunächst des Vermögens, das erlaubt, das Seiende sich uns zuwenden zu lassen. Diese Tätigkeit, die vom Vermögen des Gegenstehenlassens von … geleitet wird, lässt im Voraus das Seiende und das Erkenntnissubjekt in einem Spielraum sich begegnen. Aber dieser Spielraum für das Begegnenlassen kann kein Seiendes sein (deshalb nennt Heidegger es „ein Nichts“). Er kann nur einen Spielraum für das Begegnenlassen sein, in dem die verschiedenen Vorstellungen vorgestellt werden „können“. Dieser Spielraum versorgt einen Ort, der die „Möglichkeit“ einer Begegnung zwischen dem Erkenntnissubjekt und dem Erkenntnisobjekt ermöglicht. Es ist ersichtlich, dass es innerhalb dieses Spielraums eine eigene Struktur der „Widerständigkeit“ – eine innere gegensätzliche Relation zwischen Erkenntnissubjekt und -objekt – gibt.318 Bei dieser Widerständigkeit handelt es sich nicht um die Widerständigkeit im Seienden, sondern um die Widerständigkeit des Seins. Mit anderen Worten, kann man es so verstehen, dass sich diese Struktur auf ein apriorisches Verhältnis zwischen dem
317 Ebd., S. 72. 318 Vgl. ebd., S. 73–74.
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3.3 (T3) Das Deduktionskapitel: Die Aufhellung der Transzendenz des Daseins
Erkenntnissubjekt und -objekt bezieht. Diese Struktur ist eine vorgängige Struktur, in der alles Begegnende im Vorhinein auf eine „Einstimmigkeit“ (zwischen der reinen Anschauung und den reinen Verstandesbegriffen) zusammengezwungen wird.319 Wegen dieser Einstimmigkeit kann man stets eine vorstellende einigende Einheit in der Tätigkeit des Vorstellens beobachten. Diese Einheit beziehungsweise dieser „Einheitshorizont einer möglichen Zusammengehörigkeit“320 stellt einen vorgängigen Zusammenhang zwischen dem Erkenntnissubjekt als Bewusstsein und dem Erkenntnisobjekt als Seiendes vor. Man könnte sich fragen, welches Erkenntnisvermögen für die vorgängige Einheit verantwortlich sein soll. Für einige Kantgelehrte ist allein der Verstand für diese Einheit verantwortlich, da er als das einzige spontane Erkenntnisvermögen die Regeln der sinnlichen Anschauung auferlegen kann. Als das Vermögen der Regeln ist der Verstand als das einzige Erkenntnisvermögen, das die Einheit der heterogenen Erkenntniselemente äußerlich auferlegen kann, konzipiert. Der Verstand als das „aktive“ Vermögen verbindet spontan die gegebenen Vorstellungen, die von der „passiven“ Sinnlichkeit rezeptiv geboten sind. Wegen seiner Verbindlichkeit kann der Verstand alle Vorstellungen in die Einheit eines Bewusstseins bringen. Die oben genannte „Einstimmigkeit“ wird deshalb als die einzige Wirkung des Verstandes konzipiert. Mit dieser Lesart wird der Verstand als der einzige Ursprung von Spontaneität positioniert. Die Sinnlichkeit als bloße Rezeptivität wird hingegen als Knecht entworfen. Dagegen denkt Heidegger anders. Er fragt: Wenn jetzt der Verstand gerade das Gegenstehenlassen ermöglichen soll, wenn er es vermag, alles was „Anschauung“ je beibringen wird, im vorhinein zu regeln, wird er da nicht zum obersten Vermögen erklärt? Wandelt sich da nicht der Knecht zum Herrn? Wie steht es dann noch um seine Dienststellung, die bisher ständig als sein Wesen und als eigentlicher Index seiner Endlichkeit ausgegeben wurde? Hat Kant, wenn seine Erklärung des Verstandes als des Vermögens der Regeln dem Wesen desselben näherkommen soll, mitten in der zentralen Problematik der transzendentalen Deduktion die Endlichkeit des Verstandes vergessen?321
319 Vgl. ebd., S. 74. 320 Ebd., S. 77. 321 Ebd., S. 75.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Aufgrund der zweiten Hauptthese seiner Kantdeutung wissen wir, dass in der Dimension der Endlichkeit der Erkenntnis die Anschauung einen Vorrang hat. Deshalb betont er die Knechtschaft, die Dienststellung des Verstandes, die als das Wesen des Verstandes und als der „eigentliche Index seiner Endlichkeit“ verstanden werden. Ohne die von der Sinnlichkeit vorgegebene Anschauung hat der Verstand keinen Ort beziehungsweise kein Aktionsobjekt, um seine Regeln aufzuerlegen. Desgleichen kann man seine Endlichkeit, die durch sein Anwendungsgebiet sichtbar wird, nicht betrachten. In der Tat stimmt Heidegger unter bestimmter Voraussetzung zu, dass „der reine Verstand das oberste Vermögen – in der Endlichkeit, d.h. das zuhöchst Endliche [ist]“.322 Aber der reine Verstand muss dann eben „im Gegenstehenlassen als der Urhandlung des reinen Verstandes seine Angewiesenheit auf die Anschauung am schärfsten ans Licht kommen“ lassen.323 Mit anderen Worten: der reine Verstand ist der Ursprung des Gegenstehenlassens von …, dann kann er nicht willkürlich die reine endliche Anschauung erstellen und gestalten (unschöpferische Anschauung), sondern er ist im Voraus auf die endlichen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, angewiesen. Aus ontologischer Perspektive kann die Endlichkeit des Verstandes nur mit der Endlichkeit der Sinnlichkeit gerechtfertigt werden. Aus der ontischen Perspektive wird die Herrschaft des reinen Verstandes von der Herrschaft der reinen Anschauung über die sinnliche Gegebenheit begründet. Daher kommt Heidegger zu dem Schluss: „Nur sofern der reine Verstand als Verstand Knecht der reinen Anschauung ist, kann er Herr der empirischen Anschauung bleiben.“324
3.3.3.2 Die Dreiheit: Beziehung zwischen reiner Anschauung, reiner Einbildungskraft und reiner Apperzeption Nach der Bestätigung der herrschaftlich-knechtischen Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Verstand im Problemfeld der Endlichkeit fokussiert Heidegger sich darauf, die tiefgehende Beziehung zwischen der transzendentalen Einbildungskraft und transzendentalen Apperzeption zu enthüllen, damit seine Hauptthese klarer vorgebracht werden kann, die betont,
322 Ebd. 323 Ebd. 324 Ebd., S. 76.
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3.3 (T3) Das Deduktionskapitel: Die Aufhellung der Transzendenz des Daseins
dass die Grundabsicht des Deduktionskapitels eine Aufhellung der Transzendenz sei. In KPM § 17 hat Heidegger die Argumentation der A-Deduktion in zwei Wege unterteilt. Der erste Weg geht von dem „oberen“ Verstand hinab zur Anschauung (A 116–120) und der zweite Weg geht „von unten auf“, angefangen bei der Anschauung, zum reinen Verstand (A 120–128). Er argumentiert, dass die beiden Wege den notwendigen Zusammenhang der zwei äußersten Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, darstellen. „Wesentlich ist dabei nicht etwas eine linear gedachte Verknüpfung zweier Vermögen, sondern die strukturale Aufhellung ihrer Wesenseinheit. Entscheidend wird das, worin sie überhaupt zusammenhängen können.“325 Er glaubt, durch die Enthüllung des Treffpunkts dieser Wege, der auf die Beziehung zwischen reiner Anschauung, reiner Einbildungskraft und reiner Apperzeption sich richtet, man den Kernpunkt dieses Zusammenhangs klarer sehen kann. Aus dem ersten Weg möchte Heidegger als Ergebnis aufzeigen, dass die reine (transzendentale) Apperzeption nicht eigenständig und isolierte ist und sie die Einbildungskraft beiläufig benötigt.326 Die Beiläufigkeit der reinen (transzendentalen) Einbildungskraft ist wesentlich in dem Strukturganzen der Erkenntnisverfassung verwurzelt, die im Zuge der Entfaltung der reinen Synthesis erblickt werden kann. Soviel wir wissen, interpretiert Heidegger die reine Synthesis als das Gegenstehenlassen. Das Gegenstehenlassen ist die Urhandlung des reinen Verstandes beziehungsweise der transzendentalen Apperzeption. Die transzendentale Apperzeption versorgt einerseits die reine, ursprüngliche, unveränderte und sukzessive Einheit des Selbstbewusstseins, die die notwendige Bedingung und den endgültigen Grund der Einheit der Erfahrung ist. Anderseits ist sie der apriorische Grund des konkreten und faktischen Selbst, weil sie die empirische Apperzeption a priori begründet. Wegen dieser Urhandlung verbindet sich a priori die „Urvorstellung“, ich denke, mit allen Vorstellungen, um das „Vorstellen von Einheit“ für das Erkennen vorzubereiten. Diese Einheit der Vorstellungen wird vom reinen Verstand, der für die transzendentale Synthesis verantwortlich ist, in einem Spielraum ermöglicht. Aber Heidegger stimmt nicht zu, dass dieser Spielraum vom reinen Verstand allein hergestellt werden kann. Da dieser Spielraum eine Verbindung zwischen dem Begriff in abstracto und der sinnlichen Anschauung in concreto anbietet, muss es ein „Drittes“ geben, das die hetero-
325 Ebd., S. 77–78. 326 Vgl. ebd., S. 83.
165 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
genen Erkenntniselemente verknüpften kann. Dieses Dritte ist für Heidegger die reine Einbildungskraft, die als die „Mittlerin zwischen transzendentaler Apperzeption und Zeit“327 konzipiert wird. Im Abschnitt 2.4.2 haben wir dargestellt, dass laut Heidegger alle Synthesis von der Einbildungskraft erwirkt wird, und diese von der Einbildungskraft geleistete reine Synthesis die ontologische Synthesis genannt werden kann. „Demnach ist die transzendentale Apperzeption wesenhaft auf die reine Einbildungskraft bezogen.“328 Diese reine Synthesis a priori, die die Einbildungskraft ermöglicht, nennt Kant die reine oder transzendentale Einbildungskraft. Die transzendentale Handlung der transzendentalen Einbildungskraft wird produktive Synthesis der Einbildungskraft statt reproduktive genannt: Diese synthetische Einheit setzt aber eine Synthesis voraus, oder schließt sie ein, und soll jene a priori notwendig sein, so muß letztere auch eine Synthesis a priori sein. Also beziehet sich die transzendentale Einheit der Apperzeption auf die reine Synthesis der Einbildungskraft, als eine Bedingung a priori der Möglichkeit aller Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer Erkenntnis. Es kann aber nur die produktive Synthesis der Einbildungskraft a priori statt finden; denn die reproduktive beruht auf Bedingungen der Erfahrung.329 Aufgrund der inneren Beziehung zwischen der transzendentalen Einheit der Apperzeption und der reinen Synthesis der Einbildungskraft urteilt Heidegger, dass sich die ganze Analyse im Deduktionskapitel vielmehr darauf konzentriert, die wesenhafte Bezogenheit des reinen Verstandes auf die reine Synthesis der Einbildungskraft sichtbar zu machen.330 Die sogenannte „wesenhafte Bezogenheit“ wird durch die Einheit der Vorstellungen, die im Schematismuskapitel als die Zeitbestimmung der Kategorien vorgestellt wird, weiterhin ersichtlich. Daher fasst er alle Schwerpunkte des ersten und zweiten Weges im Deduktionskapitel wie folgt zusammen: Nun hat aber der erste Weg gezeigt, daß die transzendentale Apperzeption, die durch die wesentliche Vermittlung der reinen Einbildungskraft zur reinen Anschauung hinzukommen muß, selbst nicht eigenständig und isoliert vorhanden ist und demnach auch nicht nur zur reinen Einbildungskraft sich hinzugesellt, weil diese sie beiläufig benö327 328 329 330
Ebd., S. 81. Ebd., S. 80. KrV A 118. Vgl. KPM, S. 81.
166 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.3 (T3) Das Deduktionskapitel: Die Aufhellung der Transzendenz des Daseins
tigt. Vielmehr muß eben diese transzendentale Apperzeption ihrerseits als Vorstellen von Einheit einen im Einigen sich bildende Einheit vor sich liegen haben. Und so drängt auch auf dem zweiten Wege alles darin, die transzendentale Einbildungskraft als Mittlerin hervortreten zu lasse. […] Die Dreiheit von reiner Anschauung, reiner Einbildungskraft und reiner Apperzeption ist jetzt kein Nebeneinander von Vermögen mehr. Die transzendentale Deduktion hat durch die Enthüllung des vermittelnden Bildens der reinen Synthesis die innere Möglichkeit der Wesenseinheit der reinen Erkenntnis dargetan. Diese bildet das reine Gegenstehenlassen von …, und als dieses Bilden macht sie so etwas wie einen Horizont von Gegenständlichkeit überhaupt erst offenbar. Und weil die reine Erkenntnis in dieser Weise den für ein endliches Wesen notwendigen Spielraum erst aufbricht, in dem „alles Verhältnis des Seins oder Nichtseins stattfindet“, muß sie die ontologische heißen.331 Diese Deutung hat einige Vorteile, die uns helfen können, die Schwierigkeiten in der traditionellen Kantdeutung zu bekämpfen oder zu vermeiden. Zum Beispiel liegt die erste Schwierigkeit im Begriff des Dings an sich, der immer wegen der Widersprüchlichkeit mit dem erkenntnistheoretischen Phänomenalismus Kants kritisiert wird. Mit Heideggers Deutung braucht man nicht den Gegenstandspol, der immer den Verdacht der Ursprungssetzung der sinnlichen Gegebenheit oder der unkritischen Bestätigung des Dings an sich ertragen muss, als das Ding an sich vorzustellen. Was Heideggers uns gibt, ist eine Erklärung der „Begegnung“ zwischen dem Gegenstand und dem Erkenntnissubjekt, die eine strukturelle Beziehung anstatt des ontischen Zustandes des Erkenntnisobjekts und -subjekts betont. Die Begegnung erfolgt in einem Raum, der die Möglichkeit des Erkennens bereitstellt, also in einem Raum, in dem das Erkenntnissubjekt dem Erkenntnisobjekt, nämlich dem Seienden, begegnen „kann“. Heidegger betont das „Können“ im Falle des Erkennens, da das Erkenntnissubjekt bloß die subjektive Bedingung dieser Begegnung anbieten kann – das Erkenntnissubjekt bietet nur das „Können (subjektive Möglichkeiten) der Begegnung“, nicht aber die „Begegnung“ an. Diese Deutung führt zur Verminderung des führenden Stellenwerts des Erkenntnissubjekts im Ganzen der Erkenntniskonstitution. Das Ereignis des Erkennens hängt nicht in erster Linie von der subjektiven Bedingung ab, die von vielen Neukantianern und Kantforschern überbetont wird. 331 Ebd., S. 83–84.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Die zweite Schwierigkeit liegt in der festen Rangordnung zwischen dem Erkenntnissubjekt und -objekt. Wegen der Präferenz des erkennenden Subjektivismus schätzt man das Objekt beziehungsweise die Untersuchung der Gegebenheit der „objektiven“, „äußeren“ Welt als weniger bedeutsam ein hinsichtlich der Erkenntniskonstitution. Seit der kopernikanischen Wende Kants, so glauben viele Kantgelehrte, hat das Erkenntnissubjekt einen absoluten Vorrang in der Reflexion über die Elemente der Erkenntniskonstitution. Dies erhöht unbewusst die Rangordnung des Subjekts zur absoluten Herrschaft über allen Seienden, was an den Homo-mensura-Satz erinnert, nämlich „[d]er Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, das sie sind, der nicht-seienden, daß sie nicht sind“.332 Die Umkehrung der Rangordnung zwischen dem Erkenntnissubjekt und -objekt könnte diese Tendenz innerhalb der überlieferten Kantforschung verändern. Der Stellenwert des Objekts beziehungsweise der Gegebenheit der objektiven Welt würde nochmals der Fokus der philosophischen Untersuchung werden. Darin hallt in der Tat Heideggers Interesse an einer Vereinigung der Einsichten der Transzendentalphilosophie Kants und der die Passivität der Erkenntniskonstitution betonenden Phänomenologie Husserls nach.
3.4 (T4) Das Schematismuskapitel als das Kernstück der KrV In seiner Interpretation des Deduktionskapitels hat Heidegger vorgezeichnet, dass die reine Einbildungskraft sich wesenhaft auf die Zeit beziehen muss. Diese wesenhafte Bezogenheit zwischen der reinen Einbildungskraft und der Zeit wird durch die Enthüllung des Wesens des reinen Verstandes dargestellt, aber sie ist noch nicht völlig einleuchtend. Diese Enthüllung muss durch eine weitere Untersuchung des Prozesses des Schematismus durchgeführt werden. Daher wenden wir uns jetzt Heideggers Deutung des Schematismuskapitels zu und werden sehen, wie er die andere Hauptthese begründet: Das Schematismuskapitel ist das Kernstück von KrV, da es den Grund der inneren Möglichkeit der ontologischen Erkenntnis durch den Schemabildungsprozess zeig.
332 Vgl. Hermann Diels (Übers.) und Walther Kranz (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 2. 4. Aufl., Berlin 1922, 80B1.
168 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.4 (T4) Das Schematismuskapitel als das Kernstück der KrV
3.4.1 Das Problembewusstsein des Schematismuskapitels: Kants Erklärung der Beziehung zwischen den Verstandesbegriffen, den Schemata und der Einbildungskraft Heidegger betont wiederholt, dass das Schematismuskapitel das schwierigste und wichtigste Kapitel in der KrV ist – und Kant betont diesen Punkt selbst.333 Heidegger schreibt, „dass diese elf Seiten der Kritik der reinen Vernunft das Kernstück des ganzen umfangreichen Werkes ausmachen müssen.“334 Darum investiert er fünf Paragraphen (§ 19–23, 25 Seiten) in KPM, um den Inhalt und die Implikation auszulegen. Aber in welchem Sinne soll dieses Kapitel als das Kernstück der KrV konzipiert werden? Was impliziert die Akzeptanz dieser Lesart ? Normalerweise achtet man besonders auf die Rolle der Einbildungskraft und ihre Wirkung auf die Zeit im Schematismus, da sie die Zeitbestimmung der Kategorien ermöglicht. Die Schemata bereiten die Bedingung für die Anwendung der Kategorien vor, die sich auf die Wirkung der Einbildungskraft untrennbar beziehen. Im Schematismuskapitel argumentiert Kant, wie man einen Gegenstand unter einen Begriff durch die Wirkung der Einbildungskraft subsumieren kann. Aus einer weiteren Perspektive heraus kann man es auch so verstehen, dass die Absicht dieses Kapitels darin liegt, das Verfahren, wie die reinen Verstandesbegriffe eine sinnliche Gestalt erhalten, zu untersuchen. Zum Erfolg dieser transzendentalen Handlung muss es ein „Drittes“ geben, „was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, anderseits sinnlich sein. Eine solche ist das transzendentale Schema.“335 Die Kluft zwischen dem Intellektuellen und dem Sinnlichen, die aufgrund der Heterogenität des Verstandes und der Sinnlichkeit besteht, wird durch das transzendentale Schema als das zwischen der Anschauung und dem Verstandesbegriff stehende Dritte überwunden. Das primäre Problembewusstsein des Schematismuskapitels liegt genau in der Möglichkeit dieser Einigung.
333 Kant schreibt: „Überhaupt ist der Schematismus einer der schwierigsten Punkte. Selbst Hr. Beck kann sich nicht dareinfinden. – Ich halte dies Capitel für eines der wichtigsten“ (Kants handschriftlicher Nachlaß, Bd. 5, Nr. 6359. Zitiert nach KPM, S. 113. Fn. 158). 334 KPM, S. 89. 335 KrV A 138/B 177.
169 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
„Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft;“ das Schema spielt die Rolle des Dritten, die die zwei heterogenen Vermögen überbrückt, „aber indem die Synthesis der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden.“336 Das Schema als das Produkt der Einbildungskraft muss sich vom Bild unterscheiden, da das Bild für Kant ein Produkt des empirischen Vermögens ist, das eine genaue sinnliche Gestalt, einen Gegenstand in concreto wiedergibt. Das Schema, das als „reine sinnliche Begriffe“ von Kant genannt wird337, ist anders, da es keine konkrete Gestalt durch die Einbildungskraft vorstellt, sondern, ich interpretiere, einen unbestimmten Entwurf eines Begriffs: „das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume) ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach die Bilder allererst möglich werden, […]“.338 Das Schema begründet die Möglichkeit der Bilder hinsichtlich eines Begriffs, der den Inhalt und die Extension gibt. Zum Beispiel bedeutet das Schema des Triangels eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft in Ansehung reiner Gestalten im Raume, ebenso gibt das transzendentale Schema den unbestimmten Entwurf des reinen Verstandesbegriffs aus: Dagegen ist das Schema eines reinen Verstandesbegriffs etwas, was in gar kein Bild gebracht werden kann, sondern ist nur die reine Synthesis, gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Kategorie ausdrückt, und ist ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt, nach Bedingungen seiner Form, (der Zeit,) in Ansehung aller Vorstellungen, betriff, so fern diese der Einheit Apperzeption gemäß a priori in einen Begriff zusammenhängen sollten.339 Nach der Festlegung der Bedeutung eines Schemas schreitet Kant fort zur Erklärung, wie das Verfahren des Schematismus erfolgt. Der Schematismus ist ein Verfahren, das den Verstand, die Verstandesbegriffe, nämlich die zwölf Kategorien, mit der Sinnlichkeit, dem inneren Sinn, nämlich der Zeit, durch das Produkt der Einbildungskraft, welches das reine Schema
336 337 338 339
Ebd. A 140/B 179. Ebd. A 140/B 180. Ebd. A 141–142/B 181. Ebd.
170 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.4 (T4) Das Schematismuskapitel als das Kernstück der KrV
ist, verbindet. Die Einbildungskraft verbindet die Kategorien, die reinen Verstandesbegriffe, und die sinnliche Begriffe durch ein Schema statt eines Bildes: „Die Schemata sind daher nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln, und diese gehen nach der Ordnung der Kategorien, auf die Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung, endlich den Zeitinbegriff in Ansehung aller möglichen Gegenstände.“340Mit anderen Worten, die Einbildungskraft fungiert hier als die Möglichkeitsbedingung, wie die Kategorien in der Zeit angewendet und vorgestellt werden können. Diese Argumentation legt sogar über das ungelöste Rätsel im Deduktionskapitel hinsichtlich der Verbindungsmöglichkeit von Sinnlichkeit und Verstand beziehungsweise der reinen Anschauung und der reinen Apperzeption Rechenschaft ab. Daher sagt Kant mit Recht: Hieraus erhellet nun, daß der Schematismus des Verstandes durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft auf nichts anders, als die Einheit alles Mannigfaltigen der Anschauung in dem inneren Sinne, und so indirekt auf die Einheit der Apperzeption, als Funktion, welche dem innern Sinn (einer Rezeptivität) korrespondiert, hinauslaufe.341
3.4.2 Bild und Schema: Der Schematismus als Versinnlichung gibt den Anblick des Begriffs im Namen des Schema-Bildes Anders als die übliche Kantdeutung lenkt Heidegger die Richtung seiner Deutung des Schematismus auf die Beziehung zwischen Schema und Bild. Seine Absicht ist mit seiner Interpretation des Deduktionskapitels, die das Verfahren der Deduktion als eine Enthüllung der Transzendenz betont, eng verbunden. Transzendenz als das notwendige Moment der Seinsverfassung gründet die Möglichkeit der Erkenntnisverfassung, deren konstitutive Funktion die vorgängige und ursprüngliche Beziehung des Erkenntnissubjekts und -objekts versichert. Wie Heidegger schon argumentiert hat, lässt die Urhandlung der reinen Apperzeption, die das Gegenstehenlassen von … ermöglicht, die Begegnung zwischen dem Erkenntnissubjekt und dem Seienden in einem Spielraum beziehungsweise einem Horizont geschehen. Und aufgrund der Zugehörigkeit des Verstandes zur reinen Anschauung in der endlichen Er-
340 Ebd. A 145/B 184–185. 341 Ebd. A 145–146/B 185.
171 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
kenntnis muss die Handlung des Gegenstehenlassens eine vorgängige „Vernehmbarkeit“ haben, das heißt: „unmittelbar in der Anschauung hinnehmbar“.342 Die Vernehmbarkeit ist die Eigenschaft des Horizonts, in dem es der Anschauung erlaubt ist, zu erscheinen. Daher sagt Heidegger: Der Horizont muß sich daher als vernehmliches Angebot vorgängig und ständig als reiner Anblick darbieten. Hieraus ergibt sich, daß das Gegenstehenlassen des endlichen Verstandes die Gegenständlichkeit als solche anschaulich anbieten muß, d. h. daß der reine Verstand in einer ihn führenden und tragenden reinen Anschauung gründen muß.343 Der Horizont bietet die Offenheit an, die die Gegenstände in der Anschauung unmittelbar erscheinen lässt. Anders gesagt, der reine Verstand bietet a priori die Gegenständlichkeit des Erkenntnisobjekts an. Dies ist aber nur unter der Voraussetzung möglich, dass sich der reine Verstand auf die reine Anschauung gründet, da die reine Anschauung die reine Rezeptivität beziehungsweise das reine Hinnehmende in Heideggers Terminologie ist. Bis jetzt ist diese Interpretation nichts anderes als eine Wiederholung seiner Deutung des Verhältnisses zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Was Heidegger im Nachfolgenden einbringt, ist die Diskussion der Ermöglichung der Gegenständlichkeit mit den Begriffen von Bild und Schema. Was gehört nun aber zu diesem Vernehmbarmachen des Horizontes der vorgängigen Zuwendung? Das sich zuwendende, endliche Wesen muß sich selbst den Horizont anschaulich machen können, d. h. von sich aus den Anblick des Angebotes „bilden“. Wenn aber nun, wie die transzendentale Deduktion zeigte, reine Anschauung (Zeit) in wesenhaftem Bezug zur reinen Synthesis steht, dann vollzieht die reine Einbildungskraft das Bilden des Horizontanblickes. Sie „bildet“ aber dann nicht nur die anschauliche Vernehmbarkeit des Horizontes, indem sie ihn als freie Zuwendung „schafft“, sondern sie ist als in diesem Sinne bildende noch in einer zweiten Bedeutung „bildend“, nämlich so, daß sie überhaupt dergleichen wie ein „Bild“ verschafft.344 Die Vernehmbarkeit des Horizontes lässt es zu, einen Begriff unmittelbar in Anschauung hinnehmen zu können. Umgekehrt kann man sagen, dass der angeschaute Begriff der Grund ist, den Horizont als die Möglichkeits-
342 KPM, S. 90. 343 Ebd. 344 Ebd.
172 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.4 (T4) Das Schematismuskapitel als das Kernstück der KrV
bedingung des Angeschauten zu erkennen. Dieses Geschehen ist ein „gedoppeltes Bilden (des Anblickverschaffens)“, in dem „der Grund der Möglichkeit der Transzendenz sichtbar und der notwendige Anblickcharakter ihres vorgängig gegenstehenden und anbietenden Wesens verständlich“ wird.345 Man kann es vereinfacht so verstehen, dass man nur durch das Verfahren der Ermöglichung der Gegenständlichkeit den Grund des Horizonts, nämlich die Transzendenz, in einer sinnlichen Form beachten und erkennen kann. Darum sagt er, „dann kann das Anblickbieten nur ein Sinnlichmachen des Horizontes sein. Der Transzendenzhorizont kann sich nur in einer Versinnlichung bilden.“346 Die Anschaubarkeit eines Begriffs hängt vom „Anblick“ ab, der in einem „Bild“ sinnlich gebildet wird. Diese sinnliche Bildbeschaffung ist von Heidegger als ein Anblickbieten konzipiert. Dies ist seine Interpretation, die „verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele“ der Einbildungskraft zu benennen.347 Mit anderen Worten: Das Anblickbieten eines Begriffs ist die Versinnlichung des Begriffs. In Heideggers Deutung ist der Schematismus nichts anderes als die reine Versinnlichung: „Die reine Versinnlichung geschieht als ein ‚Schematismus‘. Die reine Einbildungskraft gibt Schema-bildend im vorhinein den Anblick (‚Bild‘) des Horizontes der Transzendenz.“348 In § 20 und § 21 von KPM hat Heidegger eine besonders ausführliche und faszinierende Ausarbeitung der Begriffe „Bild“ und „Argumentation“ hinsichtlich der Beziehung zwischen Bild und Schema gegeben. In Verbindung mit der obigen Deutung, dass der Schematismus tatsächlich eine reine Versinnlichung ist, verknüpft er des Weiteren Schema mit Bild. Er argumentiert, dass alles begriffliche Vorstellen seinem Wesen nach Schematismus sei.349 Das Verfahren der Versinnlichung der Begriffe ist das Verfahren, durch das ein Begriff einen sinnlichen Anblick („Bild“) erhält. Anders gesagt: „Schemabildung ist die Versinnlichung von Begriffen.“350 Er zeigt auf, dass es drei Bedeutungen des Begriffs Bild gibt, einschließlich abbildender Anblick eines Vorhandenen (Anblick) beziehungsweise nachbildender Anblick eines nicht mehr Vorhandenen oder aber vorbildender Anblick eines erst herzustellenden Seienden.351 Und er befindet, dass Kant in der Tat den Ausdruck „Bild“ in den drei Bedeutungen gebraucht: un345 346 347 348 349 350 351
Ebd., S. 91. Ebd. KrV A 141/B 180. KPM, S. 91. Vgl. ebd., S. 101. Ebd., S. 97. Vgl. ebd., S. 92.
173 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
mittelbarer Anblick eines Seienden, vorhandener abbildender Anblick eines Seienden und Anblick von etwas überhaupt.352 In der Tat möchte Heidegger auf die dritte Bedeutung hinarbeiten, die sich auf eine vorgängige Beziehung zwischen einem Begriff und seinem möglichen Anblick bezieht: Wenn der Begriff überhaupt das ist, was zur Regel dient, dann heißt begriffliches Vorstellen das Vorgeben der Regel einer möglichen Anblickbeschaffung in der Weise ihrer Regelung. Solches Vorstellen ist dann struktural notwendig auf einen möglichen Anblick bezogen und daher in sich eine eigene Art der Versinnlichung.353 Zwischen der vom Begriff bestimmten Regel und dem konkreten Anblick dieses Begriffes steht etwas, das als der mögliche, unbestimmte, nicht thematisierte Anblick („Bild“) konzipiert wird. Dies ist für Heidegger das Schema: Sie gibt keinen unmittelbaren anschaulichen Anblick des Begriffes. Was an ihr an unmittelbarem Anblick notwendig mit vorkommt, ist nicht eigens thematisch gemeint, sondern als mögliches Darstellbares der Darstellung, deren Regelungsweise vorgestellt. So kommt im empirischen Anblick gerade die Regel in der Weise ihrer Regelung zum Vorschein.354 Das Verfahren von der Regelung (Begriff) bis zum bestimmten Anblick („Bild“) ist tatsächlich die Bildbeschaffung beziehungsweise die Schemabildung. Aus dem gleichen Grund nennt er das Schema als Schema-Bild. Dadurch betont er die innere und untrennbare Beziehung von Bild und Schema. Heideggers Deutung ist interessant, allerdings bezieht sie sich im Grunde nicht direkt auf das Problembewusstsein des Schematismus in der KrV, sondern auf seine eigene Rede zur zeitbildenden Synthesis (vgl. 3.6.2). Das Problem liegt darin, dass seine Deutung bloß das Verfahren der Schemabildung der allgemein sinnlichen Begriffe, einschließlich der empirischen (Totenmaske, Haus) und der reinen Begriffe (die Zahl), betont. Jedoch liegt der Schwerpunkt des Schematismuskapitels für Kant im Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, das heißt der Zeitbestimmung der Kategorien. Heideggers Beispiele erklären nur die Schemabildung der allge-
352 Vgl. ebd., S. 93. 353 Ebd., S. 95–96. 354 Ebd., S. 96.
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3.4 (T4) Das Schematismuskapitel als das Kernstück der KrV
mein sinnlichen Begriffe. Der Schematismus der Verstandesbegriffe, durch den die reinen Kategorien in der Zeit bestimmt werden können, wird hingegen nicht erörtert. Da dies durchaus möglich wäre, stellt sich deshalb die Frage, warum missachtet Heidegger den Unterschied zwischen dem Schematismus der sinnlichen Begriffe und der reinen Verstandesbegriffe? Welchen Zweck verfolgt diese Vorgehensweise, die die innere und vorgängige Beziehung zwischen Schema und Bild betont?
3.4.3 Die Zeit als reines Bild aller Verstandesbegriffe Heidegger ist sich absolut darüber im Klaren, dass Kant sowohl den Begriff Schema von Bild als auch den Schematismus der sinnlichen Begriffe und der Verstandesbegriffe genau unterscheidet. Kant sagt explizit und Heidegger zitiert in § 22 auch aus dem folgenden Abschnitt: So viel können wir nur sage: das Bild ist eine Produkt des empirischen Vermögen der produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume) ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wornach die Bilder allererst möglich werden, die aber mit dem Begriffe nur immer vermittelst des Schema, welches sie bezeichnen, verknüpft werden müssen, und an sich demselben nicht völlig kongruieren. Dagegen ist das Schema eines reinen Verstandesbegriffs etwas, was in gar kein Bild gebracht werden kann, sondern ist nur die reine Synthesis, gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Kategorie ausdrückt, und ist ein transzendentale Produkt der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt, nach Bedingungen seiner Form, (der Zeit,) in Ansehung aller Vorstellungen, betrifft, so fern diese der Einheit der Apperzeption gemäß a priori in einem Begriff zusammenhängen sollten.355 Diesem Zitat zufolge soll man nie den Begriff Schema und Bild in dem kantischen Sinn vermischen. Warum besteht dann Heidegger in seiner Deutung noch auf seiner Wortschöpfung des Terminus Schema-Bild? Heidegger argumentiert, dass der Ausdruck „Bild“ im zitierten Satz nur „eine bestimmte Art von Bildern“ meinen und ausdrücken kann. Wenn es aber zum Wesen eines Schemas gehört, sich in ein Bild zu bringen, dann
355 KrV A 142/B 181; vgl. KPM, S. 102.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
„[kann es sich] [v]on vornherein nur um Schema-Bilder handeln.“356 Aber nur die empirischen oder die reinen Begriffe wie Zahl können einen endlichen, einen sinnlichen Anblick beziehungsweise ein „Bild“ in concreto empfangen. Das Schema der Verstandesbegriffe kann nie einen empirischen Anblick erhalten, da die Verstandesbegriffe in der sinnlichen Welt keinen korrespondierenden Gegenstand finden können. Deshalb kann man sagen: „In gar keines solcher Bilder ist das Schema der reinen Verstandesbegriffe zu bringen.“357 Wenn man keines „solcher Bilder“ haben kann, was kann man dann letztlich gemäß dem Verfahren der Schematismus empfangen? Für Kant ist die Antwort einfach: das transzendentale Schema. Aber Heidegger geht noch weiter und erklärt, dass das Schema des reinen Verstandesbegriffes in gewissem Maße auch „sehr wohl in ein Bild gebracht werden [kann]“. Die Bedingung liegt darin, dass das „’Bild’ als ‘reines Bild‘ […] genommen wird“.358 Um diese Bedingung zu erfüllen, muss Heidegger darlegen, dass es das reine Bild im Voraus gibt, das das transzendentale Schema begründet, damit auch das Schema des Verstandesbegriffes ermöglicht wird. Daher lässt Heidegger uns glauben, dass die Zeit eine bedeutsame Rolle im Schematismuskapitel einnimmt, da sie vor aller Erfahrung „einen Anblick“, der mit dem Begriff des anschaulichen Bildes gebündelt ist, verschaffen kann. „Die Zeit aber ist als reine Anschauung solches, was vor aller Erfahrung einen Anblick verschafft. Der in solcher reinen Anschauung sich gebende reine Anblick (für Kant das reine Nacheinander der Jetztfolge) muß daher reines Bild genannt werden.“359 Er argumentiert, dass die Zeit als „reines Bild“ das Schema-Bild und nicht etwa nur die den reinen Verstandesbegriffen gegenüberstehende Anschauungsform sei.360 Nach seiner Deutung des Deduktionskapitels müssen wir schon mutmaßen, dass sich die Einheit, die im Begriff vorgestellt wird, auf die Zeit beziehen muss. Daher muss der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe auch in die Zeit hineinregeln. Die Folge dieser Einsicht ist, dass die Zeit nicht nur das notwendige reine Bild der Schemata der reinen Verstandesbegriffe, sondern auch ihre einzige reine Anblicksmöglichkeit ist.361 Mit anderen Worten, die Zeit spielt
356 357 358 359 360 361
KPM, S. 102. Ebd., S. 103. Ebd., S. 104. Ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 104. Vgl. ebd.
176 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.4 (T4) Das Schematismuskapitel als das Kernstück der KrV
nun die Rolle, die den reinen Anblick der Verstandesbegriffe beziehungsweise alle Erfahrungen begründet: „Daher ist die Zeit nicht nur das notwendige reine Bild der Schemata der reinen Verstandesbegriffe, sondern auch ihre einzige reine Anblicksmöglichkeit. Diese einzige Anblicksmöglichkeit zeigt selbst in sich nichts anderes als immer nur Zeit und Zeithaftes.“362 Die Bedeutsamkeit dieser Interpretation ist groß, da Heidegger die Nebenrolle der Zeit in eine Hauptfigur verändert hat, und zwar nicht nur hinsichtlich des Deduktions- und Schematismuskapitels, sondern auch des ganzen Verständnisses der KrV. Die Zeit spielt nicht mehr nur die Rolle einer Form der Anschauung, die die Form der sinnlichen Gegebenheit verschränkt, sondern auch die vorgängige Möglichkeitsbedingung aller Erfahrung, die ursprünglich die Möglichkeit der Erkenntnis verknüpft. Die Zeit wird nun das vorgängige und notwendige Element, mit dem nur die Verstandesbegriffe ihre Aufgabe ausführen können. Sie verschafft im Voraus den reinen Anblick beziehungsweise die „reinen Bilder“ der Verstandesbegriffe, dadurch, dass die Zeitbestimmung der Verstandesbegriffe ermöglicht werden kann. Dieser Beschreibung kann man entnehmen, dass die Zeit als die reine Anschauung als solche einen Vorrang vor den Verstandesbegriffen und sogar vor dem Verstand selbst in Sachen aller Erfahrungsverfassung hat.
3.4.4 Das Schematismuskapitel als Kernstück der KrV und die Bedeutsamkeit der Zeit In Verbindung mit seiner Interpretation des Deduktions- und Schematismuskapitel bestätigen wir nochmals Heideggers Absicht: Infolge der Funktion der Zeit und ihrer inneren Beziehung zur Einbildungskraft können alle Verstandesbegriffe im Voraus die reinen Bilder beziehungsweise die transzendentalen Schemata erhalten, damit sie ihre Regeln dem Seienden respektive der Mannigfaltigkeit vermitteln können. Mit Hilfe der Einbildungskraft agiert die Zeit als der Horizont der Transzendenz, der allen Begriffen einen vorgängigen Umriss verschafft. Dieser Umriss kennzeichnet die Anblicksmöglichkeit eines Begriffes, die eine notwendige Offenheit behält, mit der das Dasein sein eigenes Sein in der Welt frei verfasst. Dementsprechend fasst er zusammen:
362 Ebd.
177 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Der transzendentale Schematismus ist sonach der Grund der inneren Möglichkeit der ontologischen Erkenntnis. Er bildet das im reinen Gegenstehenlassen Gegenstehende dergestalt, daß sich das im reinen Denken Vorgestellte notwendig im reinen Bilde der Zeit anschaulich gibt. Die Zeit also ist es, die als a priori gebende von vornherein dem Horizont der Transzendenz den Charakter des vernehmbaren Angebotes verleiht. Aber nicht nur das. Als das einzige reine universale Bild gibt sie dem Horizont der Transzendenz eine vorgängige Umschlossenheit. Dieser eine und reine ontologische Horizont ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß das innerhalb seiner gegebene Seiende je diesen oder jenen besonderen offenen, und zwar ontischen Horizont haben kann. Die Zeit gibt der Transzendenz aber nicht nur den vorgängig einigen Zusammenhalt, sondern als das rein sich Gebende schlechthin bietet sie überhaupt so etwas wie Einhalt. Sie macht das „Dawider“ der Gegenständlichkeit, das zur Endlichkeit der transzendierenden Zuwendung gehört, einem endlichen Wesen vernehmbar.363 Diese Zusammenfassung ist augenscheinlich nicht einfach zu verstehen, da sie viele selbstgeschaffene Termini Heideggers enthält. Aber die Bedeutung ist nicht so kompliziert und unverständlich. Nachfolgend übersetze ich die Schwerpunkte der heideggerschen Sprache in den Ausdruck der kantischen Terminologie: 1. Heidegger: Das im Denken Vorgestellte gibt sich anschaulich im reinen Bild der Zeit. = Kant: Alle Vorstellungen, die im Denken vorgestellt werden, müssen durch die Zeitbestimmung sinnlich (anschaulich) vorgestellt werden. 2. Heidegger: Die Zeit also ist es, die als a priori gebende von vornherein dem Horizont der Transzendenz den Charakter des vernehmbaren Angebotes verleiht. = Kant: Die Zeit bietet a priori dem Schema den Charakter der anschaulichen Gegebenheit an, mit dem das sinnliche Bild eines Begriffs gebildet werden kann. 3. Heidegger: Die Zeit als das einzige reine universale Bild (reines Bild) gibt dem Horizont der Transzendenz eine vorgängige Umschlossenheit. Sie ist die Möglichkeitsbedingung, mit der das Seiende einen offenen und ontischen Horizont haben kann. = Kant: Die Zeit als reines Bild bietet die Schemata der Verstandesbegriff an, damit die Vorstel-
363 Ebd., S. 108.
178 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.4 (T4) Das Schematismuskapitel als das Kernstück der KrV
lung des Seienden offen vorgestellt werden kann, und zwar ihres ontologischen Status versichert werden kann. 4. Heidegger: Die Zeit gibt der Transzendenz aber nicht nur den vorgängig einigen Zusammenhalt, sondern als das rein sich Gebende schlechthin bietet sie überhaupt so etwas wie Einhalt. Sie macht das „Dawider“ der Gegenständlichkeit, das zur Endlichkeit der transzendierenden Zuwendung gehört, einem endlichen Wesen vernehmbar.364 = Kant: Die Zeit gibt einerseits den Zusammenhalt der Vorstellungen, anderseits bietet sie überhaupt Bilderfassung („etwas wie Einhalt“). Sie macht die Gegenständlichkeit des Gegenstands dem Erkenntnissubjekt vernehmbar, welche zur Endlichkeit der transzendentalen Apperzeption gehört. Der oben stehenden Übersetzung ist zu entnehmen, dass Heidegger die Zeit in das Zentrum des Schematismuskapitels verschiebt. Die Zeit als die Hauptfigur gründet vorgängig und ursprünglich die ontologische Möglichkeit des Schemas und die Einheit der anschaulichen Vorstellung. Für viele Kantforscher soll aber der Schematismus als dasjenige konzipiert werden, das hauptsächlich darüber diskutiert, wie die Zeitbestimmung der Verstandesbegriffe durch das Schema im Urteilen ausgeführt wird. Sicherlich ist die Rolle der Zeit im Vergleich zu derjenigen, die sie als eine Form der Sinnlichkeit in der Transzendentalen Ästhetik hat, verändert. Im Schematismuskapitel ist die Zeit verantwortlich für die Arbeit, die Anschauung mit den Verstandesbegriffen zu verbinden. Um diese Arbeit zu vollenden, muss sich die Zeit in etwas, das nicht nur zum Bereich der reinen Sinnlichkeit gehört, transformieren. Aber der Zeit ist es nicht möglich, diese Arbeit von selbst zu vollziehen. Sie muss zumindest mit einem anderen Erkenntnisvermögen zusammenarbeiten, damit sie eine „Erlaubnis“ bekommen, mit dem heterogenen Erkenntnisvermögen zu kooperieren. Die produktive beziehungsweise transzendentale Einbildungskraft gibt ihr diese „Erlaubnis“ durch das Produkt, nämlich das transzendentale Schema der sowohl empirischen als auch reinen Begriffe. Aus diesem Grund ist es vertretbar, das Schema anstelle der Zeit als die Hauptfigur des Schematismuskapitels zu erwägen. Stattdessen beabsichtigt Heidegger, die Zeit zu favorisieren, da er seine frühere Aussage, in der er behauptet, die „KrV soll als eine Grundlegung der Metaphysik konzipiert werden“, mit seiner späteren Aussage, in der er sagt, „die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit“365, verbinden will. Angesichts dieses Denkwegs erhält die Zeit nun eine ver-
364 Vgl. ebd., S. 105. 365 Vgl. ebd., S. 176; 187.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
steckte Herrschaft über alle Erkenntnisvermögen, da sie einerseits die letzte Grundlage einer Metaphysica generalis wird, die auf eine Meta-Erörterung der Möglichkeitsbedingung aller Sinnverfassung zielt, und anderseits sie auch die Verbindung der Einbildungskraft zwischen Sinnlichkeit und Verstand gründet. Deshalb sagt er: So springt in die Augen: wenn Kant im Schematismuskapitel das Problem der Begrifflichkeit der Urbegriffe stellt und es mit Hilfe der Wesensbestimmung dieser Begriffe als transzendentaler Schemata löst, dann ist die Lehre vom Schematismus der reinen Verstandesbegriffe das entscheidende Stadium der Grundlegung der Metaphysica generalis.366 In Heideggers Augen liegt die Aufgabe des Schematismuskapitels in einer Erklärung des Verfahrens der Zeitbestimmung der Verstandesbegriffe („Wesensbestimmung dieser Begriffe“), und das Ergebnis der Exposition ist ein Beweis dafür, dass das Schematismuskapitel das Kernstück der KrV ist, da es die innere Möglichkeit der Grundlegung der Metaphysica generalis grundsätzlich aufdeckt. Wenn man diese Absicht erkennt, dann soll man es nicht kritisieren: Es besteht nicht die geringste Veranlassung, über eine Uneinheitlichkeit und Verworrenheit des Schematismuskapitels immer wieder Klage zu führen. Wenn etwas in der Kritik der reinen Vernunft aufs schärfste durchgegliedert und in jedem Wort abgemessen ist, dann gilt das von diesem Kernstück des ganzen Werkes.367 Anderes als für einige Kantgelehrte, dabei sind meistens die Neukantianer gemeint, ist für Heidegger das Argumentationsziel und die Formulierung des Schematismuskapitels durchaus nicht verwirrend, sondern „unvergleichlich durchsichtig“.368 Er schreibt: „Das Schematismuskapitel ist nicht „verwirrend“, sondern führt mit einer unerhörten Sicherheit in den Kern der ganzen Problematik der Kritik der reinen Vernunft.“369 Er zitiert im Anschluss daran aus Kants handschriftlichem Nachlass aus seinen letzten Jahren (1797), um dies zu beweisen: „Überhaupt ist der Schematismus
366 367 368 369
Ebd., S. 111. Ebd., S. 112. Ebd., S. 113. Ebd.
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3.5 (T5) Die Einbildungskraft als das dritte Grunderkenntnisvermögen
einer der schwierigsten Punkte. Selbst Hr. Beck kann sich nicht darein finden. – Ich halte dies Capitel für eines der wichtigsten“.370
3.5 (T5) Die Einbildungskraft als das dritte Grunderkenntnisvermögen In Anlehnung an die Argumentation über die Wichtigkeit des Schematismuskapitels bringt Heidegger eine neue These, die grundsätzlich von den vorliegenden Thesen verschieden ist. „Im vorigen Stadium wurde mit dem transzendentalen Schematismus der Grund der inneren Möglichkeit der ontologischen Synthesis und damit das Ziel der Grundlegung erreicht.“371 Das nächste Stadium fokussiert nicht mehr die Grundlegung, sondern will auf dieser Grundlegung eine Interpretation der KrV einbringen. Heidegger will, dass die vorhandenen Einsichten „in ihrer Einheit angeeignet werden“, damit wir die „weiteren Aufgaben und Folgen der Kantischen Grundlegung der Metaphysica generalis“ gewinnen können.372 Diese neue These ist diejenige, die die Einbildungskraft als das dritte Grunderkenntnisvermögen und die gemeinschaftliche Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand interpretiert.
3.5.1 „Transzendentales Objekt = X” in Bezug auf die Transzendenz Wie wir im ersten Kapitel schon ausgeführt haben, ist die Deutung, die die Einbildungskraft als das dritte Grunderkenntnisvermögen konzipiert, kein neuer Gedanke. Aber was wir hier betrachten sollten, ist nicht der Schluss, sondern wie Heidegger zu diesem Schluss kommt und was die philosophischen Folgen sein könnten. Nach der ausführlichen Erörterung und Umdeutung des Deduktionsund Schematismuskapitels behandelt Heidegger das zweite Hauptstück der Analytik der Grundsätze mit weitaus weniger Aufmerksamkeit. Er beachtet einfach nur die Diskussion über „den obersten Grundsatz aller analytischen Urteile“, da er uns nochmals die Beziehung zwischen der Erfahrungskonstitution und der Transzendenz vor Augen führt.
370 Kant handschriftlicher Nachlass, Bd. 5, Nr. 6359. Zitiert nach KPM, S. 113, Fn. 158. 371 KPM, S. 113. 372 Ebd., S. 114.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Ein Zitat von Kant, das Heidegger auch wiedergibt, nämlich „die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung […]“373, hat uns zum Nachdenken über die Möglichkeit der Erfahrung und der Gegenstände geführt. Im Falle der kantischen Philosophie limitierten die transzendentalen Bedingungen, die aus Sinnlichkeit und Verstand, den zwei Stämmen der menschlichen Erkenntnis, zusammengesetzt sind, die Möglichkeiten der Gegenstände und der Erfahrung. Aber für Heidegger ist die Transzendenz in der Tat der tiefste Grund der Sinnverfassung. Offensichtlich, aus der Perspektive der Ontologie, „gründet“ oder stellt im Voraus die Sinnverfassung die Möglichkeit der Erfahrung und der Gegenstände. Wenn man sagt, dass die Transzendenz die Möglichkeitsbedingung ursprünglich begründet, heißt das nichts anderes, als dass der Anwendungsbereich der Transzendenz in diesem Sinne ohne Unterschied zu der Möglichkeit der Erfahrung gehört. Daher sagt Heidegger: „Möglichkeit der Erfahrung ist demnach gleichbedeutend mit Transzendenz“374 und „Transzendenz macht einem endlichen Wesen das Seiende an ihm selbst zugänglich.“375 An dieser Stelle muss Heidegger weiter erörtern, warum Kants Erklärung der Bedingung der Erkenntnis auch oder tatsächlich eine Erklärung der ontologischen Bedingung der Erkenntnis ist. Warum ist eine erkennend-theoretische Leseart ungenügend? Er geht nochmals zur A-Deduktion zurück und diskutiert über das unerörterte „transzendentale Objekt = X.“ Der Ausdruck von „dem transzendentalen Objekt = X“ führt immer zu Verwirrungen und Problemen in der Kantrezeption. Viele Kantforscher tendieren dahin zu glauben, dass er ein Fehler oder ein schädlicher Ausdruck sei, weswegen ihn Kant in der B-Fassung der KrV beseitigt habe. Heidegger denkt nochmals anders. Er lenkt die Diskussion auf die Gegenständlichkeit in Relation zur Transzendenz und dem Schema-bilden durch die Frage nach dem Zustand der ontologischen Erkenntnis. Er fragt, ob die ontologische Erkenntnis so „schöpferisch“ wie der intuitus originarius sei?376 Die Antwort ist natürlich ein Nein, weil die Ablehnung des intuitus originarius in der menschlichen diskursiven Erkenntnis eine Grundeinstellung der kantischen Philosophie ist. Jedoch muss man dann fragen, wie der Verstand im Voraus eine Gegenständlichkeit haben kann, vorausge-
373 374 375 376
KPM, S. 118; KrV A 158/ B 197. KPM, S. 117. Ebd., S. 119. Vgl. ebd., S. 120.
182 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.5 (T5) Die Einbildungskraft als das dritte Grunderkenntnisvermögen
setzt, dass es keine anschauliche Gegebenheit des Gegenstands gibt. Da die Gegenständlichkeit nicht dem anschaulichen Gegenstand entspringen kann, muss diese Gegenständlichkeit allein bei dem Verstand versichert werden. Diese vorgegebene Gegenständlichkeit versichert den Horizont für den anschaulichen Gegenstand und führt uns zum Verfahren der Gegenstandskonstitution. Kant nennt dieses Objekt „das transzendentale Objekt = X“, weil es in der Tat kein Objekt ist, sondern nur die Gegenständlichkeit, mit der der Verstand sich auf das Objekt bezieht. Kant sagt: Alle unsere Vorstellungen werden in der Tat durch den Verstand auf irgend ein Objekt bezogen, und, da Erscheinungen nichts als Vorstellungen sind, so bezieht sie der Verstand auf ein Etwas, als den Gegenstand der sinnlichen Anschauung: aber dieses Etwas ist in so fern nur das transzendentale Objekt. Dieses bedeutet aber ein Etwas = x, wovon wir gar nichts wissen, noch überhaupt, (nach der jetzigen Einrichtung unseres Verstandes) wissen können, sondern, welches nur als ein Correlatum der Einheit der Apperzeption zur Einheit des Mannigfaltigen in der sinnlichen Anschauung dienen kann, vermittelst deren der Verstand dasselbe in den Begriff eines Gegenstandes vereinigt.377 Heidegger weist darauf hin, dass dieses X ein „Etwas“ ist, von dem wir überhaupt gar nichts wissen können. Er erklärt: Es ist aber nicht deshalb nicht wißbar, weil dieses X als ein Seiendes „hinter“ einer Schicht von Erscheinungen versteckt liegt, sondern weil es schlechthin kein möglicher Gegenstand eines Wissens, d. h. des Besitzes einer Erkenntnis von Seiendem, werden kann. Es kann dergleichen nie werden, weil es ein Nichts ist.378 Heidegger führt den Begriff „Nichts“ ein, um den Charakter des „transzendentales Objekt = X“ zu erklären. Dieses X ist kein Seiendes, aber gleichwohl ein „Etwas“. Es dient nur „als ein Correlatum“, mit dem sich das Erkenntnissubjekt auf das Erkenntnisobjekt in einiger Relation im Voraus beziehen kann. In diesem Sinne interpretiert Heidegger dieses „Etwas“ als den reinen Horizont.379 Innerhalb dieses Horizonts können verschiedene Gegenstände entstehen, deswegen können wir das „Dawider“ – eine gegenständliche Beziehung – erblicken. Jedoch soll dieses X als ein Gegenstand überhaupt konzipiert werden, da es ein unthematisches ist. Daher sagt er:
377 KrV A 250. 378 KPM, S. 122. 379 Ebd.
183 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Das X ist „Gegenstand überhaupt“. Das bedeutet nicht: ein allgemeines, unbestimmtes gegenstehendes Seiendes. Dieser Ausdruck meint vielmehr das, was im vorhinein den Überschlag übe aller möglichen Gegenstände als gegenstehende ausmacht, den Horizont eines Gegenstehens. Dieser Horizont ist freilich nicht Gegenstand, sondern ein Nichts, wenn Gegenstand so viel bedeutet wie thematisch erfaßtes Seiendes. Und die ontologische Erkenntnis ist keine Erkenntnis, wenn Erkenntnis heißt: Erfassen von Seiendem.380 Als ein „Nichts“ wird der Horizont nicht thematisiert vorgestellt. Es ist im Prinzip ein Unvorgestelltes, aber es ist der Ursprung des Vorgestellten. Das Bestimmungsverhältnis eines thematisierten Vorgestellten ist in einer Aussagenlogik bezüglich der verschiedenen Urteilsformen verwurzelt.381 Wir können so konzipieren, dass Kants „Erkenntnistheorie“ die Objektivität und Wahrheit dieser Aussagenlogik begründet, wenn man die Aufgabe von KrV einfach als eine Erkenntnistheorie versteht. Aber Heidegger glaubt, dass Kants Grundlegung tiefgründiger ist. Das Anwendungsfeld liegt nicht nur im Bereich des Vorgestellten, nämlich auf der ontischen Ebene, sondern auch im Bereich des Unvorgestellten, nämlich auf der ontologischen Ebene. Er besteht darauf, dass Kant schon den Vortrag der ontologischen Erkenntnis vorbereitet hat, weil Kant dieses „Nichts“ im Namen von „das transzendentale Objekt = X“ impliziert hat. Heidegger meint, dass Kants KrV nicht nur die Möglichkeitsbedingung der Erkenntnis, das Erfassen von Seiendem, durch die Dimension der Analytik der Urteilsformen und Verstandesbegriffe erklärt hat, sondern auch die Möglichkeitsbedingung dieser Urteilsformen und Verstandesbegriffe (eine Aussagenlogik) in der Dimension der Beziehung zwischen dem Vorgestellten und dem Unvorgestellten. Mit anderen Worten ist sowohl die ontische als auch die ontologische Erkenntnis durch dieses X, dem Horizont als das „Nichts“, vorgängig und ursprünglich versichert.382
380 Ebd., S. 123. 381 Vgl. SZ, § 44, a) Der traditionelle Wahrheitsbegriff und seine ontologischen Fundamente, S. 214–219. 382 Vgl. „Die ontologische Erkenntnis „bildet“ die Transzendenz, welches Bilden nichts anderes ist als das Offenhalten des Horizontes, in dem das Sein des Seienden vorgängig erblickbar wird. Wenn anders Wahrheit besagt: Unverborgenheit von …, dann ist die Transzendenz die ursprüngliche Wahrheit. Die Wahrheit selbst aber muß sich gabeln in die Enthülltheit von Sein und die Offenbarkeit vom Seiendem. Wenn die ontologische Erkenntnis den Horizont enthüllt, dann liegt ihre Wahrheit gerade im Begegnenlassen des Seienden innerhalb des Horizontes“ (KPM, S. 123–124).
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3.5 (T5) Die Einbildungskraft als das dritte Grunderkenntnisvermögen
Zusammenfassend wird es klarer und klarer, dass Heidegger beabsichtigt, durch den Begriff der Transzendenz seine Aufgabe hinsichtlich der Sinnverfassung in SZ mit Kants transzendentaler Erklärung der Erfahrungskonstitution in Einklang zu bringen. Einerseits reserviert er sich eine Hintertür, die es ihm ermöglicht, sein philosophisches Vorhaben (Fundamentalontologie) mit der Philosophie Kants (KrV als die Grundlegung der Metaphysica generalis) zu verbinden. Andererseits bereitet er den Weg für die Diskussion der These, dass die Einbildungskraft das dritte Grundvermögen sei.
3.5.2 Die Einbildungskraft als das dritte Grunderkenntnisvermögen Durch seine deutende Arbeit bestätigt Heidegger bislang zwei Punkte als „die ausdrückliche Charakteristik des in der Grundlegung gelegten Grundes“:383 a) Die transzendentale Einbildungskraft ist die bildende Mitte der ontologischen Erkenntnis b) Die transzendentale Einbildungskraft ist das dritte Grundvermögen Heidegger zeigt auf, dass die Einbildungskraft nicht erst in der Lehre vom transzendentalen Schematismus, sondern bereits in der transzendentalen Deduktion zentrales Thema ist. Er argumentiert weiter, dass die transzendentale Einbildungskraft der Grund ist, auf den die innere Möglichkeit der ontologischen Erkenntnis und damit die der Metaphysica generalis gebaut wird.384 Er versucht durch den Vergleich der Beschreibung der reproduktiven und produktiven Einbildungskraft in der KrV und in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (im Folgenden abgekürzt mit Anthropologie), die transzendentale Einbildungskraft Kants auszulegen. Grundsätzlich möchte er darauf hinweisen, dass die Bedeutung und Richtung der Argumentation bezüglich der reproduktiven und produktiven Einbildungskraft sich in der KrV von der in der Anthropologie unterscheiden. In Heideggers Augen diskutiert Kant einerseits in der Anthropologie die beiden Arten der Einbildungskraft im Umfang der empirischen, und in der KrV konzentriert er sich andererseits auf die transzendentale Bedingung. Mit anderen Worten stellt die Anthropologie überhaupt nicht die Frage nach der Transzendenz,
383 Die vorbereitende Bestätigung für seine weitere Aussage, dass die transzendentale Einbildungskraft die Wurzel der beiden Stämme ist (vgl. KPM, S. 127–137). 384 Vgl. ebd., S. 127.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
jedoch spielt in der KrV die produktive Einbildungskraft als das Synonym der transzendentalen die Rolle des Ursprungs der synthetischen Einheit. Die produktive Einbildungskraft der Kritik der reinen Vernunft dagegen bezieht sich nie auf das Bilden von Gegenständen, sondern auf den reinen Anblick von Gegenständlichkeit überhaupt. Sie ist erfahrungsfreie, Erfahrung allererst ermöglichende reine produktive Einbildungskraft. Nicht jede produktive Einbildungskraft ist rein, wohl aber ist die reine in dem charakterisierten Sinne notwendig produktiv. Sofern sie die Transzendenz bildet, heißt sie mit Recht die transzendentale Einbildungskraft.385 Die Untersuchung der transzendentalen Einbildungskraft in KrV führt zur Enthüllung der Transzendenz, einer ontologischen Erkenntnis, mit der eine Grundlegung der Ontologie beziehungsweise der Metaphysica generalis möglich ist. Deswegen konzipiert Heidegger die transzendentale Einbildungskraft als bildende Mitte, nämlich als den begrifflichen Grundstein der ontologischen Erkenntnis. Danach argumentiert Heidegger, dass die transzendentale Einbildungskraft nicht nur die bildende Mitte, sondern auch das dritte Grundvermögen im Vergleich zur reinen Anschauung und zum reinen Denken beziehungsweise Sinnlichkeit und Verstand ist. Er erörtert, dass „Vermögen“ nicht eine vorhandene „Grundkraft“ in der Seele heißt, sondern das, „was ein solches Phänomen „vermag“, im Sinne der Ermöglichung der Wesensstruktur der ontologischen Transzendenz.“386 In diesem Sinne ist die transzendentale Einbildungskraft nicht nur und erst ein zwischen reiner Anschauung und reinem Denken vorkommendes Vermögen, sondern sie ist mit ihnen Ermöglichung der ursprünglichen Einheit beider und damit die Wesenseinheit der Transzendenz überhaupt, sprich: Sie sind gleichursprünglich. Der zweite Aspekt der „Grundvermögen“ bezieht sich auf die Zurückführbarkeit eines Vermögens. Die Einbildungskraft kann nicht auf die reinen Elemente zurückgeführt werden. Die drei Vermögen bilden zusammen die Transzendenz und sind in gewissem Sinne unabhängig voneinander einzuhalten. „Daher zählt denn Kant auch bei der entscheidenden Kennzeichnung der Wesenseinheit der ontologischen Erkenntnis ausdrücklich drei Elemente auf: die reine Anschauung (Zeit), die reine Syn-
385 Ebd., S. 132–133. 386 Ebd., S. 134.
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3.5 (T5) Die Einbildungskraft als das dritte Grunderkenntnisvermögen
thesis durch die Einbildungskraft und die reinen Begriffe der reinen Apperzeption.“387 Diese Erklärung besagt, dass unter Berücksichtigung der ontologischen Ebene diese drei Grundvermögen auf gleicher Höhe sind. Aber Kant hat deutlich dargestellt, dass das Gemüt nur zwei Erkenntnisquellen hat, die als die „zwei Stämme unserer Erkenntniskraft“, Sinnlichkeit und Verstand genannt werden.388 Diese These führt zur Zweiteilung der ganzen transzendentalen Untersuchung in der transzendentalen Ästhetik und der transzendentalen Logik und sie lässt keinen Ort für die Einbildungskraft, eine unabhängige Vermögenskritik zu führen. „Die transzendentale Einbildungskraft ist heimatlos.“389 Das Ergebnis ist das Problem der Zugehörigkeit der Einbildungskraft: Gehört die Einbildungskraft zur Sinnlichkeit oder zum Verstand? Konnte diese Ergebnis Kant entgehen, oder ist es im geringsten mit seiner Denkungsart vereinbar, daß er die genannte Dreiheit der Grundvermögen zugunsten der Theorie von der Zweiheit der Stämme gleichsam unterschlagen hätte? Das ist so wenig der Fall, daß Kant vielmehr mitten im Zuge seiner Grundlegung, sowohl am Schluß der Einleitung zur transzendentalen Deduktion als auch bei Beginn ihrer eigentlichen Durchführung, ausdrücklich von „drei ursprünglichen Quellen der Seele“ spricht, gleich als hätte er nie die Zweiheit der Stämme festgelegt.390 Heidegger stellt deutlich dar, dass sich die Dreiheit der Grundvermögen und die Zweiheit der Grundquellen und Stämme der Erkenntnis anscheinend hart entgegenstehen. Ob es zufällig ist, dass Kant das Bild der zwei Stämme zur Kennzeichnung von Sinnlichkeit und Verstand gebraucht, oder gerade deshalb, um anzudeuten, dass sie einer „gemeinschaftlichen Wurzel“ entwachsen? Heidegger nimmt die zweite Fragestellung an, um seine Erklärung zu leiten.
387 388 389 390
KPM, S. 135. Vgl. KrV A 78/B 104. KPM, S. 135. Ebd., S. 136. Ebd.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
3.5.3 Die Einbildungskraft als die gemeinschaftliche Wurzel Mit den oben genannten zwei Übereinstimmungen führt Heidegger die Hauptthese weiter aus, die darauf hinweist, dass die Einbildungskraft die gemeinschaftliche Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand ist. In der Einleitung haben wir schon dargestellt, dass das Wurzelproblem ein Zentralproblem der Kantdeutung seit der Veröffentlichung der KrV ist. Dieses Problem bezieht sich auf den Zeitgeist des frühen 19. Jahrhunderts, der auf der Suche nach der ursprünglichen Einheit von Philosophen und Literaten reflektiert wird. Die Denkweise hinsichtlich der Suche nach der ursprünglichen Einheit führt zu den Versuchen, den sogenannten „problematischen“ kantischen Dualismus nachzubessern. Diese Versuche haben die Voraussetzung, dass es eine vorgängige und ursprüngliche Einheit gibt, die tatsächlich die „unbekannte Wurzel“ in der KrV ist. Die Bedeutung der Unbekanntheit kann als das Unvorgestellte konzipiert werden, da sich die kantische Erkenntnistheorie aus der Untersuchung des Mechanismus des Vorstellens konstituiert.391 Dagegen kann man die zwei Stämme als das Vorgestellte verstehen, die die notwendigen Elemente der menschlichen Erkenntnis in der kantischen Erkenntnistheorie sind. Einige Kantgelehrte glauben, dass das Unvorgestellte dem Vorgestellten in unterschiedlichen Sinnbezügen vorausgeht.392 Beispielsweise wird die intellektuelle Anschauung als diese ursprüngliche Einheit konzipiert und dient dabei als der Ausgangspunkt einer Kantdeutung, sogar eines neuen philosophischen Systems. Die Schwierigkeit dieser Denkweise liegt darin, dass der Absicht einer Entdeckung der ursprünglichen Einheit eine ergänzende Grundlegung suggeriert wird, die ursprünglicher ist als die von Kant argumentierte
391 In der KrV untersucht Kant die Urteilsformen und die Vorstellungskonstitution, die das Ganze der kantischen Erkenntnistheorie zum Ausdruck bringen. Das epistemologische Problem der Wahrheit und Rechtfertigung ist nicht in erster Linie das Grundproblem seiner Erkenntnistheorie, sondern die verschiedene Beziehung zwischen dem Erkenntnissubjekt und -objekt, durch die wir uns mit der Welt verbinden und die objektive Gültigkeit der Anschauungen, Begriffe und Urteile erhalten (vgl. Chong-Fuk Lau: Kant’s Concept of Cognition and the Key to the Whole Secret of Metaphysics. In: The Palgrave Kant Handbook. Hg. von Matthew C. Altman. New York 2017, S. 117–137, hier. S. 117–118). 392 Es ist ein kontroverses Thema, dass das kantische System einen Platz für die unbewusste Vorstellung oder das Unvorgestellte hat, das vor der Erstellung einer kognitiven Vorstellung besteht. Vgl. Rolf-Peter Horstmann: Kant’s Power of Imagination, S. 19, Anm. 16 und S. 52.
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3.5 (T5) Die Einbildungskraft als das dritte Grunderkenntnisvermögen
Grundlegung, gleichgültig, ob die Grundlegung die intellektuelle Anschauung oder die transzendentale Einbildungskraft ist. Heidegger versteht diese Schwierigkeit. Daher bringt er, obwohl er argumentiert, dass die transzendentale Einbildungskraft die gemeinschaftliche Wurzel ist, keinen Reduktionismus zum Ausdruck, der die zwei Stämme auf die transzendentale Einbildungskraft zurückführt: Allein, wenn der Ursprung von reiner Anschauung und reinem Denken als transzendentaler Vermögen aus der transzendentalen Einbildungskraft als Vermögen gezeigt werden soll, dann heißt das doch nicht, den Nachweis geben wollen, reine Anschauung und reines Denken seien ein Produkt der Einbildungskraft und als solche nur etwas Eingebildetes. Die gekennzeichnete Ursprungsenthüllung bedeutet vielmehr: die Struktur dieser Vermögen ist in der Struktur der transzendentalen Einbildungskraft gewurzelt, so zwar, daß diese erst in der strukturalen Einheit mit jenen beiden etwas „einbilden“ kann.393 Die transzendentale Einbildungskraft spielt hier eine andere Rolle als Sinnlichkeit und Verstand. Einerseits werden Sinnlichkeit und Verstand als die Versorger der Elemente der Erkenntnis konzipiert und andererseits wird die Einbildungskraft als der Versorger der Struktur der Erkenntnis interpretiert. Nur in der Struktur der transzendentalen Einbildungskraft können die drei Grundvermögen zusammen funktionieren und können etwas einbilden im Sinne von Schema-bilden. Die Einbildungskraft wird nicht als die Kraft des Bildens, wie es in der Anthropologie diskutiert wird, oder als der Ursprung der Stämme verstanden, sondern als die Struktur der Grundvermögen. In dem Strukturganzen werden die Stämme erkennbar, sichtbar und thematisiert, und dagegen bleibt die Struktur selbst wie ein Hintergrund uneindeutig und unthematisiert. Hier wird die transzendentale Einbildungskraft nochmals als ein Horizont interpretiert. In diesem Sinne kann das in der transzendentalen Einbildungskraft Gebildete nicht als „ein bloßer Schein“ konzipiert werden, ansonsten würde es als die „bloße Einbildung“, die von den Seelen- oder Gemütsvermögen willkürlich konstituiert wird, angesehen. Daher sagt Heidegger: Als „bloß eingebildet“ gilt zunächst solches, was nicht wirklich vorhanden ist. Aber das in der transzendentalen Einbildungskraft Gebildete ist ja seinem Wesen nach überhaupt nicht ein Vorhandenes, wenn anders die transzendentale Einbildungskraft nie ontisch schöpferisch
393 KPM, S. 138.
189 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
sein kann. Das in ihr Gebildete wird deshalb auch wesensmäßig nie „bloße Einbildung“ in dem genannten Sinne sein können. Vielmehr macht der in der transzendentalen Einbildungskraft gebildete Horizont der Gegenstände – das Seinsverständnis – überhaupt erst so etwas möglich wie eine Unterscheidung zwischen ontischer Wahrheit und ontischem Schein („bloßer Einbildung“).394 Die transzendentale Einbildungskraft kann als der Ursprung des Gebildeten erfasst werden, aber es ist ihr unmöglich bloß von selbst etwas zu bilden. Die Erkenntnisvermögen müssen zusammenarbeiten, um etwas vorzustellen und zu erkennen. Sie formen ein Strukturganzes beziehungsweise eine Dreiheit. Die transzendentale Einbildungskraft ist nicht ein Vermögen, das ontologisch ursprünglicher ist als die zwei Stämme. Sie versorgt die ursprüngliche Struktureinheit der Erkenntnisvermögen, aber sie ist parallel mit den zwei Stämmen aus der Perspektive der Erkenntniskonstitution. Es ist erwähnenswert, dass Heidegger den Begriff „Seinsverständnis“ eingeführt hat. In SZ bedeutet Seinsverständnis die Vorstruktur der Seinsverfassung. Hier kennzeichnet das Seinsverständnis den „Horizont der Gegenstände“, der in der transzendentalen Einbildungskraft gebildet wird. Mit anderen Worten, die transzendentale Einbildungskraft begründet nicht nur die Möglichkeit der Erkenntniskonstitution, sondern auch der Seinsverfassung. Es ist ein anderes Beispiel dafür, dass Heidegger seine eigene philosophische Agenda mit der kantischen Arbeit vereinigen möchte. Obwohl die transzendentale Einbildungskraft als die Möglichkeitsbedingung („Wesensgrund“, „Wesensmöglichkeit“ mit Ausdrücken Heideggers) einer ontologischen Erkenntnis konzipiert wird, soll für Heidegger niemals reine Anschauung und reines Denken dadurch für etwas Eingebildetes erklärt werden, „daß ihre Wesensmöglichkeit eine Rückführung auf die Wesensstruktur der transzendentalen Einbildungskraft erfährt. Die transzendentale Einbildungskraft bildet sich dergleichen wie reine Anschauung nicht ein, sondern ermöglicht sie gerade in dem, was sie „wirklich“ sein kann.“395 Deshalb soll die Bedeutung der Interpretation hinsichtlich der gemeinschaftlichen Wurzel in der Dimension der Ermöglichung verstanden werden. Die transzendentale Einbildungskraft als die gemeinschaftliche Wur-
394 Ebd., S. 138-139. 395 Ebd.
190 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.5 (T5) Die Einbildungskraft als das dritte Grunderkenntnisvermögen
zel ermöglicht die Erkenntnis von Gebildetem beziehungsweise von Vorstellung. Heidegger äußert sich dazu wie folgt: Der Rückgang zur transzendentalen Einbildungskraft als der Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand bedeutet vielmehr einzig: im Blick auf die innerhalb der Grundlegungsproblematik gewonnene Wesensstruktur der transzendentalen Einbildungskraft die Verfassung der Transzendenz erneut auf den Grund ihrer Möglichkeit entwerfen. Der grund-legende Rückgang bewegt sich in Dimension der „Möglichkeit“, der möglichen Ermöglichungen, hinein.396 Bei der Suche nach der Grundlegung („dem grund-legenden Rückgang“) wird man das Bedürfnis haben, eine „absolute Erklärungsbasis“ zu entdecken. Heidegger denkt, dass diese weitere Enthüllung der Ursprünglichkeit der Grundlegung Kant die Befremdlichkeit des gelegten Grundes aufgedrängt hat.397 Wäre diese Befremdlichkeit für Kant wirklich, kann er sie dann wie Heidegger ebenfalls lösen? Wenn die ursprüngliche Enthüllung auf die Einbildungskraft hindeutet, führt Heideggers Deutung unvermeidlich zu der Frage, ob diese gemeinschaftliche Wurzel als der Ursprung der Erkenntnisvermögen noch einen weiteren Ursprung hat. Um diese Frage zu beantworten, sollten wir erkennen, wie sich Heidegger von den anderen Kantnachfolgern unterscheidet, wer von ihnen die ursprüngliche Einheit verfolgt. Heidegger erklärt den Unterschied durch den Begriff der „ursprünglichen Einigung“. In seiner Deutung ist die Einbildungskraft der Ursprung der ursprünglichen Einheit, da sie die Erkenntnisvermögen in Einheit ursprünglich einigt und diese Einigung, die sich auf die reine Synthesis bezieht, in seiner Deutung des Deduktions- und Schematismuskapitel schon erklärt ist: Die dort gestellte Frage nach der reinen Synthesis zielt auf eine ursprüngliche Einigung, in der das Einigende den zu einigenden Elementen im vorhinein gewachsen sein muß. Dieses Bilden einer ursprünglichen Einheit ist aber nur so möglich, daß das Einigende seinem Wesen nach das zu Einigende entspringen läßt. Der Wurzelcharakter des gelegten Grundes macht demnach erst die Ursprünglichkeit der reinen Synthesis, d. h. ihr Entspringenlassen, verständlich.398
396 Ebd., S. 140. 397 Ebd. 398 Ebd., S. 140–141.
191 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Heidegger meint, dass das Bild, das im Voraus auf eine ursprüngliche Einheit hindeutet, nur aus etwas, das diese Einheit ermöglichen kann, entspringt. Anders gesagt, die Einbildungskraft unterscheidet sich von Sinnlichkeit und Verstand, weil sie die Ermöglichung diese Vermögen ist. Sie ist in erster Linie kein „Element“ der Erkenntnis, sondern sie ist eine Struktur beziehungsweise ein Hintergrund, der den „Vordergrund“ der Erkenntniselemente, nämlich die zwei Stämme, sichtbar macht. In diesem Sinne ist die Einbildungskraft die „unbekannte Wurzel“, die einerseits die „Stämme“, nämlich die zwei exklusiven Quellen der Erkenntnis, ermöglicht und anderseits unsichtbar ist.
3.6 (T6) Die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit 3.6.1 Die innere Beziehung zwischen der transzendentalen Einbildungskraft und der Zeit Infolge der obigen Ausarbeitung könnte man fragen, mit welcher Absicht Heidegger die transzendentale Einbildungskraft als eine gemeinschaftliche Wurzel interpretieren will. Seine Zielsetzung kann man in den späteren Kapiteln von KPM, insbesondere in Paragrafen 28, 32–34, ermitteln und ihnen entnehmen, dass er die transzendentale Einbildungskraft und die Zeit (als die reine Anschauung) in eine engere Beziehung bringt, um die These zu belegen, dass die transzendentale Einbildungskraft in der Tat die ursprüngliche Zeit ist. Die reine Anschauung hat in der KrV wenigstens zwei Bedeutungen. Erstens bezieht sie sich auf die Anschauung der reinen Gegenstände, wie mathematische oder metaphysische Begriffe. Zweitens verweist sie auf die Formen der Anschauung, nämlich Raum und Zeit. Die Zeit als eine Anschauung kann nicht völlig als ein sinnlicher Gegenstand vorgestellt werden. Heidegger deutet darauf hin, dass Kant die reinen Anschauungen Raum und Zeit „ursprüngliche Vorstellungen“ nennt und der Ausdruck „ursprünglich“ dem „originarius“ in dem Titel intuitus originarius entspricht und die Bedeutung hat: entspringen lassen. Nach derselben Logik besagen die reinen Anschauungen die entspringenden Vorstellungen, die in ihrem Wesen „entspringenlassende Darstellung des Anschaubaren“, nämlich exhibitio originaria, ermöglicht.399 Mit dieser Erklärung bezieht Heidegger die reinen Anschauungen auf die Einbildungskraft, die von sich 399 KPM, S. 141.
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3.6 (T6) Die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit
aus Anblicke (Bilder) bildend gibt. Aus diesem Grund denkt Heidegger, dass Kant mit Recht nicht von einer Synthesis spricht, sondern von der „Synopsis“. Er ist der Meinung, die Ausleger leugnen „meist allzu grob und schnell, daß in der reinen Anschauung überhaupt etwas angeschaut werde, da sie doch nur „Form der Anschauung“ sei.“400 Die reine Anschauung fungiert nicht nur als die Form, die vorgängige Einheit der unabgehobenen Mannigfaltigkeit zu versorgen, sondern auch als der Grund, diese Einheit zu erblicken: „Die reine Anschauung muß ursprünglich einigend, d. h. Einheit gebend, die Einheit erblicken.“401 Daher konzipiert Heidegger die reine Anschauung, nämlich der Zeit, als die transzendentale Einbildungskraft, da sie, die sowohl die zeitliche als auch die bildende Dimension einschließt, die Aufgabe der Zeitbestimmung der Verstandesbegriffe ermöglicht und durchführt. In diesem Sinne, so interpretiert Heidegger, ist die Zeit ursprünglich die transzendentale Einbildungskraft. Aufgrund dieser ursprünglichen Verbindlichkeit zwischen der Zeit und der transzendentalen Einbildungskraft schlägt Heidegger ein neues Verständnis des Charakters der Sinnlichkeit und des Verstandes vor. Nach traditionellem Verständnis dient die Sinnlichkeit als die schlichte Rezeptivität und der Verstand als die einzige Spontaneität. Das eindimensionale Verständnis der Erkenntnisvermögen führt auch zu einer höheren Hierarchie des Verstandes gemäß der Spontaneität. Dies lehnt Heidegger jedoch ab und schlägt dagegen das Begriffspaar „spontane Rezeptivität“ und „rezeptive Spontaneität“ vor, um den wirklichen Charakter der Sinnlichkeit und des Verstandes zu begreifen. Er argumentiert wie folgt: Denn die Einbildungskraft ist ja doch auch und gerade ein Vermögen der Anschauung, d. h. Rezeptivität. Und dies ist sie nicht nur auch noch, außer ihrer Spontaneität, sondern sie ist die ursprüngliche und nicht erst zusammengesetzte Einheit von Rezeptivität und Spontaneität. Nun wurde von der reinen Anschauung gezeigt, daß sie auf Grund ihrer Reinheit den Charakter der Spontaneität besitzt. Als reine spontane Rezeptivität hat sie ihr Wesen in der transzendentalen Einbildungskraft. […] Dagegen konnte im Gebiet der reinen Erkenntnis, d. h. innerhalb des Problems der Möglichkeit der Transzendenz, das reine, d. h. das sich
400 Ebd., S. 142. 401 Ebd. (Kursivschrift im Original bei Heidegger).
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
selbst (spontan) gebende Hinnehmen des Sichgebenden nicht verborgen bleiben. Ob jetzt nicht auch ebenso unwiderstehlich in der transzendentalen Interpretation des reinen Denkens bei aller Spontaneität sich gerade eine reine Rezeptivität herausstellen muß? Offenbar. Sie hat sich durch die obige Interpretation der transzendentalen Deduktion und des Schematismus längst herausgestellt.402 Heidegger argumentiert für das Recht, die beiderseitigen Charaktere jedes Erkenntnisvermögens zu betrachten. Diese Modifikation der Beziehung zwischen den zwei Stämmen emanzipiert die Sinnlichkeit von der Herrschaft des Verstandes aufgrund ihrer schlichten Rezeptivität. Die Spontaneität und Rezeptivität können nicht mehr das bloße Kriterium sein, um die Rangordnung der Erkenntnisvermögen zu bestimmen. Heideggers Modifikation hat einen phänomenologischen Hintergrund. Aus phänomenologischer Perspektive gibt es in einer Struktureinheit kein streng isoliertes Element. Laut Kants transzendentalem Argument können zwar die Elemente der menschlichen Erkenntnis isoliert analysiert werden, aber es bedeutet nicht, dass das Element als ein Vermögen mit nur einer einzigen Funktion konzipiert werden muss. Wenn wir dem zweiseitigen Charakter der Einbildungskraft, die von Heidegger mit einem kleinen Zweifel als ein sinnliches Vermögen verstanden wird, zustimmen, dann haben wir auch das Recht, für den zweiseitigen Charakter des Verstandes zu argumentieren. Er zeigt auf, dass „Kant nicht durchgängig Verstand und Vernunft mit Spontaneität schlechthin identisch“ setzt.403 Daher haben wir das Recht, den Verstand als rezeptive Spontaneität zu konzipieren. In § 32 arbeitet Heidegger die Beziehung zwischen der reinen Anschauung und der transzendentalen Einbildungskraft weiter aus. Am Anfang betont er bereits, dass die transzendentale Einbildungskraft als der Ursprung der reinen sinnlichen Anschauung schon in § 28 dargelegt wurde. „Damit ist grundsätzlich erwiesen, dass die Zeit als eine reine Anschauung der transzendentalen Einbildungskraft entspringt.“ Die weitere Aufgabe ist aufzuhellen, „wie nun gerade die Zeit in der transzendentalen Einbildungskraft gründet.“404 Nun wird Heideggers Absicht klarer, nämlich dass er die Zeit und die transzendentale Einbildungskraft vereinigen möchte, indem die wesentliche Rolle sowohl der Zeit als auch der transzendentalen Einbildungskraft
402 Ebd., S. 153–154. 403 Ebd., S. 153. 404 Ebd., S. 173.
194 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.6 (T6) Die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit
im Argument seiner Kantdeutung wieder bestätigt wird. Um den Zeitcharakter der transzendentalen Einbildungskraft weiter zu enthüllen, zitiert er Kants Metaphysikvorlesung als das Indiz, den „dreifach-einigen Charakter des Bildens im Einbilden der Einbildungskraft“405 nachzuweisen. Der sogenannte dreifach-einige Charakter des Bildens stellt die Zeitlichkeit der Vorstellenstätigkeit dar. Die „bildende Kraft“ von Kant, so zitiert Heidegger, ist das „Bildungsvermögen“, das „Vorstellungen hervor[bringt], entweder der gegenwärtigen Zeit, oder Vorstellung der vergangenen Zeit, oder auch Vorstellungen der zukünftigen Zeit.“406 Kant nennt sie das Vermögen der Abbildung, der Nachbildung und Vorbildung. Dieses Bildungsvermögen schließt nicht nur die drei Dimensionen der Zeit, nämlich die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern auch die Dimension des Bildens (das Bild-machen) ein. Davon spricht Heidegger, wenn er schreibt: „Ohne daß Kant an dieser Stelle von der transzendentalen Einbildungskraft spricht, wird doch das Eine deutlich, daß das Bilden der „Einbildung“ in sich zeitbezogen ist.“407
3.6.2 Die innere Zeitlichkeit der transzendentalen Einbildungskraft: Heideggers Umdeutung der dreifachen Synthesis in der ADeduktion In § 33 versucht Heidegger durch die Deutung der dreifachen Synthesis in der A-Fassung der KrV, die innere Zeitlichkeit der transzendentalen Einbildungskraft weiter aufzuhellen. Auffallend ist, dass Heidegger den oben genannten „dreifach-einigen Charakter des Bildens“ mit Kants dreifacher Synthesis verbindet unter der Annahme, dass die drei Dimensionen der Zeit (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) ursprünglich mit der dreifachen Synthesis parallel verbunden werden können. Heidegger betont die Wichtigkeit des Abschnitts „Von den Gründen a priori zur Möglichkeit der Erfahrung“408 in der KrV, da er denkt, dass die folgende „Vorläufige Erinnerung“ dies bezeichnet. Darauf verweisend, schlussfolgert er, „dann ist damit nicht an eine beiläufige und im Grunde entbehrliche Bemerkung gedacht, sondern, was darin abgehandelt wird,
405 Ebd., S. 174. 406 Zitat von Heidegger (in KPM, S. 175, Fn. 246): Pölitz, Kants Vorlesungen über die Metaphysik, a. a. O. S. 88, vgl. S. 83. 407 KPM, S. 175. 408 KrV A 95–98.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
muß im vorhinein für die transzendentale Deduktion und den transzendentalen Schematismus im Blick behalten werden.“409 Heidegger ist der Meinung, dass sich durch eine tiefgehende Auslegung der dreifachen Synthesis das Thema, dass die transzendentale Einbildungskraft tatsächlich die ursprüngliche Zeit sei, weiter belegen lässt. Wie soll diese Auslegung durchgeführt werden? Heidegger schreibt: „Vielmehr soll die Herausarbeitung des inneren Zeitcharakters der drei Modi der Synthesis den letzten entscheidenden Beweis dafür vorlegen, daß die Interpretation der transzendentalen Einbildungskraft als der Wurzel der beiden Stämme nicht nur möglich, sondern notwendig ist.“410
3.6.2.1 Die reine Synthesis als reine Apprehension Der wichtigste Textbeleg, der beweist, dass alle Synthesis im Voraus den Zeitcharakter beinhaltet, ist für Heidegger folgender:411 Unsere Vorstellungen mögen entspringen, woher sie wollen, ob sie durch den Einfluß äußerer Dinge, oder durch innere Ursachen gewirkt sein, sie mögen a priori, oder empirisch als Erscheinungen entstanden sein; so gehöre sie doch als Modifikationen des Gemüts zum innern Sinn, und als solche sind alle unsere Erkenntnisse zuletzt doch der formalen Bedingung des innern Sinnes, nämlich der Zeit unterworfen, als in welcher sie insgesamt geordnet, verknüpft und in Verhältnisse gebracht werden müssen. Dieses ist eine allgemeine Anmerkung, die man bei dem folgenden durchaus zum Grunde legen muß.412 Heidegger nimmt diesen Abschnitt zum Leitfaden der Auslegung der dreifachen Synthesis, sogar der ganzen Vorstellungsstätigkeit. Das Geschehen der Vorstellungstätigkeit ist in der A-Deduktion der KrV dreigeteilt in „reine Apprehension“, „reine Reproduktion“ und „reine Rekognition“. Heidegger interpretiert die Synthesis der Apprehension in der Anschauung als ein „Ab-bilden“, die sich auf das oben genannte Vermögen der Ab-
409 KPM, S. 176. 410 Ebd., S. 178. 411 Heidegger erinnert daran: „Und schließlich darf nicht vergessen werden, wovon Kant selbst ausdrücklich verlangt, daß es „bei dem Folgenden durchaus zum Grunde“ gelegt werden müssen: alle „unsere Vorstellungen … sind der Zeit unterworfen“.“ (KPM, S. 179). 412 KrV A 98–99.
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3.6 (T6) Die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit
bildung bezieht.413 Durch die Abbildung greift das Erkenntnissubjekt das Mannigfaltige in einer Anschauung in dem Jetzt und der Jetztfolge auf und umgreift es. Diese Tätigkeit, nämlich die reine apprehendierende Synthesis, ist eine zeitbildende, die den Charakter der Zeitlichkeit und des Bildens einschließt. Ganz direkt mit anderen Worten gesagt, „hat die reine Synthesis der Apprehension in sich Zeitcharakter“414. Daher folgert Heidegger, dass „[d]ie Synthesis im Modus der Apprehension der Einbildungskraft [entspringt]; die reine apprehendierende Synthesis muß daher als ein Modus der transzendentalen Einbildungskraft angesprochen werden.“415
3.6.2.2 Die reine Synthesis als reine Reproduktion Die reine Apprehension wird als der erste Schritt der reinen Synthesis interpretiert. Im Anschluss daran geht Heidegger zur zweiten Stufe in Bezug auf die reine Reproduktion vergangener Vorstellungen über. Diese zweite Stufe beruht auf dem Ergebnis der ersten Stufe und beinhaltet die Apprehension des Mannigfaltigen als die Erfassung beziehungsweise die Abbildung der Jetztfolge. Sie ist eine weitere „Art von Einigung“, die abbildende Einheit in unserem Gemüt wiederbeizubringen. Dieses Wieder-bei-bringen ist unter der Voraussetzung möglich, dass das Gemüt das in ihr Wiederbeizubringende nicht „aus den Gedanken verliert“.416 Dieses Wiederbei-bringen unterscheidet sich von der Apprehension, weil es die Gegebenheit nicht nur zu einem bestimmen Zeitpunkt ergreift, sondern aufgrund einer vergangenen Zeitreihe „behält“. Wenn das Gemüt die „Zeit unterscheidet“ und dabei dergleichen wie das „Früher“ und „Damals“ im Blick hat, dann ist die frühere Erfahrung durch die reine Reproduktion des Nicht-mehr-jetzt behaltbar. „Dies geschieht in der reinen Reproduktion als einem Modus der reinen Synthesis. Wenn jedoch die empirische Synthesis der Reproduktion primär zur empirischen Einbildung gehört, dann ist die reine Reproduktion reine Synthesis der reinen Einbildungskraft.“417 In der Tat erinnert uns Heidegger an den häufigen Fehler einiger Kantforscher, die den Begriff „reproduktiv“ und „empirisch“ verwechseln. Die-
413 414 415 416 417
Vgl. KPM, S. 180. Ebd. Ebd. Vgl. KPM, S. 181. Heidegger zitiert hier aus KrV A 102. KPM, S. 181–182.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
se Kantforscher wären in der Abgrenzung der produktiven von der reproduktiven Einbildungskraft in der Anthropologie uneins und würden intuitiv glauben, dass nur die produktive Einbildungskraft einer reinen Erkenntnistätigkeit zugeordnet werden soll, wohingegen sich die reproduktive Einbildungskraft hinsichtlich der Erinnerung immer auf eine empirische Erkenntnistätigkeit bezieht. In der Anthropologie definiert Kant tatsächlich die reproduktive Einbildungskraft als ein empirisches Erkenntnisvermögen, dagegen die produktive Einbildungskraft als ein reines. Jedoch ist dies in den Kritiken nicht so. Aus der Perspektive der transzendentalen Philosophie sollen alle Erkenntnisvermögen eine reine beziehungsweise transzendentale Bedingung haben. Die reproduktive Einbildungskraft hat ihren transzendentalen Ursprung, der in der reinen beziehungsweise produktiven Einbildungskraft gefunden wird. Kurzum, nach Heidegger wie oben bereits erwähnt, gehört die empirische Synthesis der Reproduktion, nämlich zur Erinnerung an vergangene Vorstellungen, zur empirischen Einbildung statt zur Einbildungskraft. Als reine Reproduktion nennt Heidegger diese Synthesis eine „Nachbildung“, „sofern sie überhaupt den Horizont des möglichen Nachgehens, die Gewesenheit, erschließt und so dieses „Nach“ als solches „bildet“.“418 Diese Nachbildung ist kein anderer Modus der Synthesis, der sich von der Apprehension unterscheidet, sondern ist „die Synthesis der Apprehension […] also mit der Synthesis der Reproduktion unzertrennlich verbunden“.419 Sie ist wesenhaft einig mit der Abbildung, „denn jedes Jetzt ist jetzt schon soeben. Damit die Synthesis der Apprehension den jetzigen Anblick geradezu in einem Bilde geben soll, muß sie das durchlaufene anwesende Mannigfaltige je als solches behalten können; sie muß zugleich reine Synthesis der Reproduktion sein.“420 Jetzt haben wir zwei „unzertrennliche“ Modi der Synthesis, die als Vermögen der „Synthesis überhaupt“ zu einer Handlung der transzendentalen Einbildungskraft gehören sollen. Heidegger vermutet: In dieser ursprünglichen Einheit der beiden Modi kann sie dann aber auch der Ursprung der Zeit (als Einheit von Gegenwart und Gewesenheit) sein. Bestünde diese ursprüngliche Einheit der beiden Modi der Synthesis nicht, dann könnten „nicht einmal die reinsten und ersten Grundvorstellungen von Raum und Zeit entspringen“.421 418 419 420 421
Ebd., S. 182. KrV A 102. KPM, S. 183. Ebd.; das Zitat von Kant ist aus KrV A 102.
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3.6 (T6) Die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit
Heideggers Vermutung beruht auf der Voraussetzung, dass die erste und zweite Synthesis zu einem einigenden Vermögen gehören, nämlich der Sinnlichkeit. Die Implikation ist groß, weil sie nichts anders bedeutet, als dass die reine Anschauung selbst die Synthesis durchführen kann, was von einigen Kantinterpreten, die darauf bestehen, dass die Sinnlichkeit einfach Rezeptivität ist, abgelehnt wird.
3.6.2.3 Die reine Synthesis als reine Rekognition Da die Zeit das dreifach-einige Ganze von Gegenwart, Gewesenheit und Zukunft ist und nach Heideggers Deutung der erste und zweite Modus schon mit Gegenwart und Gewesenheit verbunden sind, haben wir das Recht, den dritten Modus auf die Zukunft zu beziehen. Heidegger hat das Ziel, dem Zeitcharakter das reine Denken beziehungsweise die reine Apperzeption einzuflößen. Doch stellt Kant in verschiedenen Abschnitten der KrV dar, dass es den Eindruck erweckt, dass sich das reine Denken überhaupt nicht auf den zeitlichen Charakter bezieht. Er schreibt beispielsweise: „Die reine Vernunft, als ein bloß intelligibles Vermögen, ist der Zeitform, und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge, nicht unterworfen.“422 Es scheint glaubwürdig, dass in Kants Konzeption die vernünftigen Erkenntnisvermögen im Voraus keine innere Beziehung zur Zeit oder Zeitlichkeit haben. Das reine Denken scheint für viele Kantforscher von Natur aus zeitlos zu sein. Heidegger spricht sich nochmals gegen dieses „leere Vermuten und Schließen“ aus.423 Er ist der Auffassung, dass Kant die Darstellung des dritten Modus der Synthesis mit einer Kennzeichnung der empirischen Rekognition beginne, und zwar setzte er bei der Synthesis als Reproduktion ein. Mit Hilfe der reproduzierenden Synthesis kommt das Gemüt aus dem Rückgang in das Vergangene wieder auf das gerade anwesende Seiende zurück, um jedes Vergangene mit dem Anwesenden in Einheit zu setzen. Das Problem ist, so Heideggers Frage, „wer sagt ihm dann, daß dieses jetzt anwesende Seiende dasselbe sei, wie das, was es zuvor beim Vollzug der Vergegenwärtigung gleichsam verlassen hat?“424 Heidegger erklärt, dass diese beiden Weisen der Synthesis im Vorhinein schon auf das Seiende als ein in Selbigkeit Anwesendes orientiert sind. Im
422 KrV A 551/B 579. 423 KPM, S. 184. 424 Ebd., S. 185.
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Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Hinblick auf seine Selbigkeit liegt eine Synthesis des Seienden, die die von Kant genannte Synthesis „im Begriff“ sei, den beiden Synthesen zu Grunde. Heideggers Deutung bezieht sich auf einen Textbeleg aus der A-Deduktion: „Das Wort Begriff könnte uns schon von selbst zu dieser Bemerkung Anleitung geben. Denn dieses eine Bewußtsein ist es, was das Mannigfaltige, nach und nach Angeschaute, und denn auch Reproduzierte, in eine Vorstellung vereinigt.“425 Heidegger denkt, dass sich in Kants Worten zeigt: „was in der Charakteristik der empirischen Genesis der Begriffsbildung als dritte Synthesis auftaucht, ist gerade die erste, d. h. die beiden vorher gekennzeichneten allererst leitende Synthesis. Sie springt ihnen gleichsam voraus.“426 Diese leitende Synthesis ist die Synthesis der Identifizierung, die von einigen als die Rekognition beziehungsweise das Rekognoszieren genannt wird. Mit anderen Worten, diese rekognoszierende Synthesis kann im Voraus für die apprehendierende und die reproduzierende Synthesis überhaupt einen geschlossenen Umkreis von Seiendem vorfinden. Sie bringt die möglichen Vorstellungen hervor, die den aus Apprehension und Reproduktion gekommenen Vorstellungen entspricht. Heidegger bezeichnet sie als „den Horizont von Vorhaltbarkeit überhaupt“ und „[i]hr Erkunden ist als reines das ursprüngliche Bilden dieses Vorhaften, d.h. der Zukunft“427 zu verstehen. Infolgedessen schließt er: „So erweist sich auch der dritte Modus der Synthesis als ein wesenhaft zeitbildender. Insofern Kant die Modi der Ab-, Nach- und Vorbildung der empirischen Einbildung zuweist, ist das Bilden des Vorhaften als solchen, die reine Vor-bildung, ein Aktus der reinen Einbildungskraft.“428 Zusammenfassend können wir die Tabelle, die als Vorlesungsskript in GA 25 dargestellt ist, anführen, in der der Zusammenhang der drei Synthesen im Sinne Kants und im Sinne seiner Deutung einander gegenübergestellt ist:
425 426 427 428
KrV A 104. KPM, S. 186. Ebd. Ebd.
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3.6 (T6) Die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit
(aus GA 25, S. 368) 3.6.3 Die Zeit als Selbstaffektion und die Gleichursprünglichkeit der Zeit und der reinen Apperzeption in der Selbstkonstitution Durch die Umdeutung der dreifachen Synthesis schafft Heidegger eine innere Beziehung zwischen Zeit und transzendentaler Einbildungskraft. Das Thema – die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit – lässt sich fast völlig enthüllen. Im nachfolgenden Abschnitt entfaltet Heidegger weiter die Beziehung zwischen der Zeit und dem reinen Selbst, um an eine größere These, die sich auf die innere Verbundenheit der kantischen Philosophie und der Fundamentalontologie bezieht, anzuknüpfen. In seiner Umdeutung der Deduktionskapitel haben wir schon den Schluss auf die Dreiheit von reiner Anschauung, reiner Einbildungskraft und reiner Apperzeption angesprochen. Die reine Synthesis als das reine Gegenstehenlassen wird durch die transzendentale Einbildungskraft ermöglicht und deshalb wird sie unvermeidlich auch durch die reine Anschauung beziehungsweise die Zeit affiziert. Diese weitere Aussage ist, wie Heidegger betont, in der KrV Kants verwurzelt. Kant erklärt:
201 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Raum und Zeit enthalten nun ein Mannigfaltiges der reinen Anschauung a priori, gehören aber gleichwohl zu den Bedingungen der Rezeptivität unseres Gemüts, unter denen es allein Vorstellungen von Gegenständen empfangen kann, die mithin auch den Begriff derselben jederzeit affizieren müssen.429 Laut diesem Abschnitt beansprucht Heidegger, dass der Vollzug des „Gegenstehenlassens von …“ durch die Zeit affiziert werden muss, da der „Begriff derselben jederzeit“ von der reinen Anschauung beziehungsweise der reinen Zeit affiziert werden muss. Heidegger ist der Meinung, dass „[d]ie Zeit ihrem Wesen nach reine Affektion ihrer selbst [ist]“ und noch mehr, dass „sie gerade das [ist], was überhaupt so etwas wie das,Von-sich-aus-hinzu-auf …ʻ bildet, dergestalt, daß das so sich bildende Worauf-zu zurückblickt und herein in das vorgenannte Hinzu …“.430 Mit anderen Worten heißt das, dass die Tätigkeit der Zeit eine wechselseitig bildende Tätigkeit des Zurücktretens und Auftretens ist, in der sie sich selbst bildet und gleichwohl zu den bildenden Vorstellungen in der Folge der Zeit hingeht. Deshalb kann die Zeit als reine Selbstaffektion konzipiert werden und für Heidegger „die Wesensstruktur der Subjektivität“ bilden.431 Was ist Selbstaffektion und was hat sie mit dem Thema hier zu tun? Gemäß § 24 der B-Deduktion der KrV besteht die Selbstaffektion, die mit der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft identifiziert wird, in einer Beziehung zwischen Spontaneität und Rezeptivität, die alle nachfolgende Aufnahme der Anschauung und die formale Anschauung ermöglicht. Es ist auffällig, dass Kant in der B-Deduktion auf eine scharfe Unterscheidung zwischen Spontaneität und Rezeptivität besteht. Die Sinnlichkeit als „Rezeptivität der Vorstellungsfähigkeit“ steht im Kontrast zum Verstand, der nach der erneuten Fassung als der bloße Ursprung der Spontaneität betrachtet wird. Der Ursprung der Spontaneität der Sinnlichkeit kommt aus der Bestimmungstätigkeit der produktiven Einbildungskraft, die in der BDeduktion als ein spontanes Vermögen zum Verstand gehört. In Heideggers Deutung ist aber die Zeit jetzt als reine Selbstaffektion mit seinem Begriff von Transzendenz verbunden: Die Zeit als reine Selbstaffektion ist diejenige endliche reine Anschauung, die den reinen Begriff (den Verstand), der in wesenhafter Dienststellung zur Anschauung steht, überhaupt trägt und ermöglicht.
429 KrV A 77/B 102. 430 KPM, S. 189. 431 Ebd.
202 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.6 (T6) Die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit
Die Idee der reinen Selbstaffektion, die, wie jetzt deutlich geworden ist, das innerste Wesen der Transzendenz bestimmt, hat Kant also nicht erst in der zweiten Auflage eingeführt.432 Transzendenz als ein Moment der Seinsverfassung des Daseins ist nun durch Heideggers Umdeutung mit Kants reiner Selbstaffektion in Einheit gebracht. Die These, die die Selbstaffektion als das „innerste Wesen der Transzendenz“ bestimmt, impliziert mindestens zwei Punkte: Der erste Punkt ist der innere Zeitcharakter der Transzendenz; der zweite Punkt ist die passive, rezeptive Seite der Transzendenz. Transzendenz ist für Heidegger ein verfassender Moment des Daseins, der aber nicht völlig gleich ist mit dem spontanen Erkenntniselement im Kontext der transzendentalen Philosophie Kants. Sie ist ein konstitutives Element des Seins von Dasein in Kombination mit dem Rezeptiven und dem Spontanen. Heidegger beabsichtigt, die Selbstaffektion als den Wesenscharakter der Transzendenz mit der Seinsverfassung des Selbst durch die Zeit, die als die „Gegenständlichkeit konstituierende, bestimmende Form“ konzipiert wird, zusammenzubringen. Er sagt in einer Vorlesung sogar sehr deutlich: „Die Zeit ist so die Gegenständlichkeit konstituierende, bestimmende Form, und zwar ist sie die Form alles empirischen Angegangenwerdens, der apriorische, reine, d. h. der Selbstangang des Subjekts.“433 In der KrV dient die reine Anschauung der Zeit als ein notwendiges Element der Sinnlichkeit, mit der die sinnliche Gegebenheit in einer sukzessiven Zeitfolge in unserem Gemüt dargestellt werden kann. Doch sie dient, nach Heideggers Umdeutung, nicht nur als eine Form der sinnlichen Anschauung, sondern als ein zeitlicher Horizont, dadurch, dass man eine vorgegebene Einheit angehen kann. Er schreibt: „[D]ie Einheit der Urhandlungen der reinen ekstatischen Synthesis – nichts anderes als die Art, wie das Subjekt durch eigene Tätigkeit, nämlich durch die Vorgabe der reinen Zeitverhältnisse, selbst angegangen wird“.434 Bisher können wir erkennen, dass Heidegger beabsichtigt, durch seine Deutung der Zeit als Selbstaffektion die ursprünglichste und herrschaftliche Stellung der transzendentalen Apperzeption zu ersetzen. Im Vergleich zu KPM hatte er diese Absicht sogar deutlicher in seiner früheren Vorlesung (Wintersemester 1925/26) dargestellt. Er nennt direkt die Zeit als „vorgängige, unthematische Hinblicknahme auf die reine Mannigfaltigkeit
432 Ebd., S. 190. 433 GA 25, S. 392. 434 Ebd.
203 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
als solche“ und diese vorgängige Hinblicknahme ist ein „Seinsmodus des Gemütes“.435 Anderes gesagt, die Zeit wird als ein vorgegebener Horizont interpretiert, der gleichzeitig eine Möglichkeitsbedingung der Seinsverfassung des Gemütes ist. Diese Möglichkeitsbedingung ermöglicht nicht nur das Erkennen des Seienden, sondern auch das Erkennen des Selbst: In dieser vorgängigen Hinblicknahme also gibt sich das Gemüt oder das Selbst selbst von sich her die Grundmöglichkeit für ein Begegnenkönnen von etwas Vorhandenem. Dieses Hinblicknehmen auf, dieses vorgängige obzwar unthematische Haben des Worauf ist das apriorische Sichbegegnenlassen – die Grundart des Seins des Selbst, in der es sich von sich selbst her ein anderes – das Worauf -begegnen, sich überhaupt von ihm angehen, Kantisch gesprochen: sich affizieren läßt.436 Das Selbst ist kein empirischer Gegenstand, dem sich begegnen lässt. Daher lässt sich das Selbst nur durch die reine Selbstaffektion vorgängig affizieren. Diese ursprüngliche Selbstaffektion des Gemütes ist möglich, da es die vorgängige, unthematische Hinblicknahme auf …, nämlich die Zeit als den Horizont für Begegnenkönnen, gibt. Heidegger erklärt weiter: Zeit ist als Wie des Sichgebenlassens überhaupt die ursprünglichste und universale Form der Gebbarkeit, die ursprünglich, die ursprüngliche universale Selbstaffektion, das Sichselbstangehen des Selbst als der seinsmäßigen Bedingung der Möglichkeit eines Begegnens von etwas.437 In Heideggers Deutung bekommt die Zeit nicht nur die „ursprünglichste“ Stellung der sinnlichen Erkenntnis, sondern auch der ontologischen Bedingung des Selbst. Ohne die Zeit als die reine vorgängige Selbstaffektion kann man überhaupt nicht sich selbst angehen. In diesem Sinne fordert die Zeit die höchste Stellung der transzendentalen Apperzeption als reines Selbstbewusstsein in der KrV heraus, die durch die Urvorstellung, nämlich das Ich denke, die ursprüngliche Einheit aller Vorstellung im Voraus gibt. Diese exquisite Umdeutung kann durch die Umwandlung der kantischen Terminologie von „Gegebenheit“ bis „Gebbarkeit“ betrachtet werden. „Gebbarkeit“ schließt sowohl die passive Bedeutung von gegeben als auch die Bedeutung von Möglichkeit ein. Durch Heideggers terminologische
435 GA 21, S. 338. 436 Ebd., S. 338–339. 437 Ebd., S. 339.
204 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.6 (T6) Die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit
Umdeutung ist die Zeit jetzt mehr als eine bloße Rezeptivität. Sie stattet die Dimension der Ermöglichung aus. Weiter interpretiert Heidegger, dass die Zeit tatsächlich das Wesen der Endlichkeit des Menschen ist. Da das Anschauen als reines Anschauen (die Zeit) kein „intuitus originarius“ im Sinne des intellectus archetypus (göttliches Verständnis), sondern ein „intuitus derivativus“ ist, hat das seiende Subjekt als geschaffenes die Möglichkeit, „sich selbst von sich selbst her mit sich selbst zu affizieren, und zwar in einem ganz ursprünglichen Sinne.“438 Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass das Subjekt grundsätzlich durch seine im Voraus gegebene Ermöglichung der Gegebenheit sich selbst affiziert und konstituiert. Zusammenfassend sagt Heidegger: So sage ich: Zeit ist nach Kant die ursprüngliche, universale reine Selbstaffektion. Die bisherige Kantinterpretation hat diesen eigentlichen Sinn der Zeit vollkommen übersehen, obwohl an einer Stelle Kant ausdrücklich das Phänomen der Zeit so faßt.439 Heidegger ist tatsächlich der Meinung, dass die bisherige Kantdeutung die Bedeutsamkeit der Zeit völlig übersehen hat, da die Zeit nicht als das ursprünglichste Konstitutionselement des Selbst konzipiert ist. Die reine Apperzeption beziehungsweise das reine formale, ursprüngliche, stets identische Selbstbewusstsein als der höchste Punkt der Transzendentalphilosophie erobert und gewinnt das Herz des größten Teils der traditionellen Kantianer sowie der Kantnachfolger, die das erste Prinzip beziehungsweise die vorgängige, ursprüngliche Einheit allein dem Verstand zuweisen. Dagegen lehnt Heidegger diesen Ansatz ab und setzt absichtlich die Selbstaffektion nicht nur als das Konstitutionselement der Erfahrung, sondern auch als Selbst vor der reinen Apperzeption ein: „In der Selbstaffektion Zeit setzt sich das Selbst als solches, dem überhaupt auf dem Grunde dieses Sichselbstangehens soll etwas begegnen können. (»Die Zeit gibt das Bestimmbare« (B 158 Anm.); dieses Geben ist als solches Aktus meiner Tätigkeit.)“440 Nicht empirisch, sondern apriorisch dient die Zeit als das Konstitutionselement des Selbst, da sie einen Möglichkeitshorizont im Vorhinein anbietet, damit sich das Selbst und das Seiende in diesem Horizont begegnen können. Bis hier konnten wir das zentrale Thema der Umdeutung Heideggers darin erkennen, dass die Zeit ihre Schlüsselrolle durch die Enthüllung des in-
438 Ebd. 439 Ebd. 440 Ebd., S. 340.
205 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
neren Zusammenhangs zwischen der transzendentalen Einbildungskraft, der Zeit und dem Selbst bestätigt. Die transzendentale Apperzeption ist nicht mehr aufgrund ihrer Spontaneität als die ausschließliche Grundlage beziehungsweise der letzte Ursprung der Erfahrung anzusehen. Die Zeit soll ebenfalls als ein ursprüngliches Konstitutionselement betrachtet werden. Die transzendentale Apperzeption ist ein Aktus der Spontaneität und „diese Spontaneität des Ich (das Selbst) ist also gleich ursprünglich reine Apperzeption und reine Selbstaffektion, reines Ich denke und Zeit.“441 Mit einem anderen Ausdruck, der in der zwei Jahre späteren Vorlesung (Wintersemester 1927/28) genannt wird, ist die Zeit apriorischer Selbstangang und zugleich Selbständigkeit, reine ursprüngliche Rezeptivität und ursprüngliche Spontaneität.442 Die Zeit hat einen untrennbaren inneren Zusammenhang mit dem Selbst, weil ihrer Zeitlichkeit der konstitutive Faktor der Selbigkeit wesentlich ist, und jederzeit ermöglicht sie eine „Selbstidentifizierung des Selbst“.443 Durch Heideggers Umdeutung dient die reine Apperzeption als das reine Selbst nicht mehr als ein formelles, zeitloses Bewusstsein des „Ich denke“, sondern ist ein konkretes, existierendes, geschichtliches Selbst: Kant freilich versteht die Identifizierung des Selbst primär und einzig aus der Gegenwart, in dem Sinne, daß das Ich in jedem Jetzt sich als dasselbe identifizieren kann. Aber es handelt sich um etwas Radikaleres, nicht um das momentane Jetzt, sondern um die Identität und Selbigkeit des eigentlichen Selbst, sofern es frei ist, bestimmt durch das Ich-kann. Das Selbst muß als existierendes sich identifizieren können: Es muß in der Einheit des Entschlusses zu einer Möglichkeit mit der Verpflichtung an die Vergangenheit in jedem konkreten Augenblick sich als dasselbige zukünftig-gewesene verstehen können.444 Für Heidegger war Kant sich schon des inneren Zusammenhangs zwischen dem Selbst und der Zeit bewusst. Aber er machte einen ähnlichen Fehler wie Descartes, indem er das Selbst intellektualisierte.445 Infolgedessen versäumte Kant die Gelegenheit, den inneren Zusammenhang des Selbst und der Zeit aufzuhellen, mit dem sich die ursprüngliche Ermögli-
441 442 443 444 445
Ebd, S. 342. GA 25, S. 395. Vgl. ebd. Ebd. „Bei der Problematik der Selbstidentifizierung gerät Kant in die bedenkliche Nähe der res cogitans von Descartes“ (ebd., S. 396).
206 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.6 (T6) Die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit
chung der Seinsverfassung enthüllen lässt: „Kant spricht an einer Stelle der »Kritik« direkt von der Zeit »als zur Einheit meines Selbst gehörig«, aber die Art dieser Zugehörigkeit bleibt dunkel, die Zeit ist einfach im Subjekt vorhanden.“446 Laut Heidegger überschreitet Kant gewissermaßen nie die Grenze zwischen „Zeit“ und „Ich denke“ und kann sie grundsätzlich nicht überschreiten, da für ihn von vornherein dogmatisch feststeht, dass das „Ich denke“ und alle Spontaneität außerhalb der Zeit liegen.447 Die absolute Abgrenzung zwischen dem spontanen Verstand und der rezeptiven Sinnlichkeit verhindert Kants Nachdenken über die Rolle der Zeit und des Zeitcharakters des Selbst.
3.6.4 Die Bedeutung der These „Zeit als Selbstaffektion“ für Heideggers Kantdeutung Zusammenfassend kehren wir zu dem Thema „die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit“ zurück. Aufgrund der obigen Deutung des Zusammenhangs zwischen der Zeit, der transzendentalen Einbildungskraft und der reinen Apperzeption kommen wir zu dem Ergebnis, dass die transzendentale Einbildungskraft das „Zwischenvermögen“ von zwei Grundquellen des Gemütes (Sinnlichkeit und Verstand) ist. Sie ist „nicht nur als ursprünglich einigende Mitte, sondern diese Mitte als Wurzel der beiden Stämme“448 zu verstehen. Mit dieser Auslegung der ursprünglichen Beziehung zwischen dieser Dreiheit behauptet Heidegger, dass „das ursprünglich Einigende, das scheinbar nur vermittelnde Zwischenvermögen der transzendentalen Einbildungskraft, nichts anderes als die ursprüngliche Zeit [ist]“ und „[d]iese Verwurzelung in der Zeit es allein [ist], kraft deren die transzendentale Einbildungskraft überhaupt die Wurzel der Transzendenz sein kann“.449 Heidegger behauptet weiter, dass die ursprüngliche Zeit die transzendentale Einbildungskraft ermöglicht, die in sich wesenhaft spontane Rezeptivität und rezeptive Spontaneität ist.450 Mit anderen Worten, die transzendentale Einbildungskraft ist der
446 447 448 449 450
Ebd. Das Kantzitat ist aus KrV A 362. GA 21, S. 344. KPM, S. 196. Ebd. Tatsächlich ist die Bedeutung von “ermöglicht” (Heideggers Wortwahl) für mich aus zwei Gründen unklar: Erstens, es scheint so, dass es eine ontologische Hierarchie zwischen der ursprünglichen Zeit und der transzendentalen Einbildungskraft gibt; zweitens, das Subjekt und das Objekt sind theoretisch auswech-
207 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Grund einer Zusammengehörigkeit von Sinnlichkeit und Verstand, weil sie die „unzerreißbare ursprüngliche Struktur“451 ist. Und ferner: „Nur in dieser Einheit können reine Sinnlichkeit als spontane Rezeptivität und reine Apperzeption als rezeptive Spontaneität zusammengehören und das einheitliche Wesen einer endlichen reinen sinnlichen Vernunft bilden.“452 Freilich versteht Heidegger, dass diese Deutung grundsätzlich auf der Interpretation der A-Fassung, insbesondere der A-Deduktion der KrV beruht. Er bekennt, dass die Möglichkeit, reine Sinnlichkeit und reines Denken hinsichtlich ihrer Einheit in einer endlichen menschlichen Vernunft zu begreifen und ja auch nur zum Problem zu machen, schwinden wird, wenn man, wie in der B-Fassung, die transzendentale Einbildungskraft als eigenes Grundvermögen streicht und ihre Funktion dem Verstand als der bloßen Spontaneität überträgt.453 Jedoch lehnt Heidegger die Einschätzung ab, dass diese Änderung in Ansehung der Problematik einer Grundlegung der Metaphysik vorzuziehen sei. „Im Hinblick auf diese zentralste Frage des ganzen Werks verdient sie daher grundsätzlich den Vorzug vor der zweiten.“454 Und daher kritisiert er: „Alle Umdeutung der reinen Einbildungskraft in eine Funktion des reinen Denkens – eine Umdeutung, die der „deutsche Idealismus“ im Anschluß an die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft noch übersteigerte – verkennt ihr spezifisches Wesen.“455 Obwohl er die Kantdeutung, die die Überlegenheit der B-Fassung betont, ablehnt, hat er jedoch weniger erklärt, warum alle anderen Kantianer und Kantnachfolger (außer ihm!) das „spezifische Wesen“ der Einbildungskraft verkannt haben. Er muss noch beantworten, warum Kant diese Veränderung macht und zu welchem Zweck wir auf der A-Fassung bestehen sollen, wenngleich der originale Autor die Änderung anerkennt. Heidegger versteht klar, dass es so scheint, als ob Kant in der B-Fassung den Vorrang der Zeit zugleich mit der transzendentalen Einbildungskraft zurücknimmt, und in der Tat bedeutet dies, das Kernstück der Grundlegung der Metaphysik, den transzendentalen Schematismus, zu verleug-
451 452 453 454 455
selbar im originalen Satz: „Die ursprüngliche Zeit ermöglicht die transzendentale Einbildungskraft, die in sich wesenhaft spontane Rezeptivität und rezeptive Spontaneität ist“ (KPM, S. 196). Deswegen würde ich lieber die Relation als eine gegenseitige Relation zu verstehen. Ebd., S. 197. Ebd., S. 196–197. Ebd., S. 197. Ebd. Ebd.
208 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.7 (T7) Die Endlichkeit soll einen Vorrang in der Kantdeutung haben
nen.456 Heidegger fasst dies als „Kants Zurückweichen vor der transzendentalen Einbildungskraft“ zusammen. Dieses Zurückweichen kann nicht lediglich durch die Textinterpretation der KrV belegt werden. Man muss das Problembewusstsein um das Niveau hinsichtlich des grundsätzlichen Verständnisses des Menschen von Kant erhöhen, denn dann erst erhält man ein gesamtes und vollständiges Bild. Darüber werden wir im nächsten Abschnitt diskutieren. Anhand dieses Abschnitts können wir zusammenfassend sagen, dass durch Heideggers Umdeutung der dreifachen Synthesis im Hinblick auf die drei Dimensionen der Zeit die Beziehung zwischen der transzendentalen Einbildungskraft und der Zeit etabliert wird. Diese Beziehung enthüllt eine noch tiefere Tatsache, nämlich dass die transzendentale Einbildungskraft eigentlich die ursprüngliche Zeit ist. Diese Tatsache verdeutlicht nicht nur den zeitlichen und bildenden Charakter der transzendentalen Einbildungskraft, sondern auch die Gleichursprünglichkeit der Zeit und der reinen Apperzeption in der Selbstkonstitution. Mit diesem Zusammenhang kann man sage, dass die Zeit, die transzendentale Einbildungskraft und die reine Apperzeption eine Dreieinheit sind, demgemäß man nicht nur Erkenntnis haben, sondern auch Selbstkonstitution durchführen kann.
3.7 (T7) Die Endlichkeit soll einen Vorrang in der Kantdeutung haben Die vorliegende Rekonstruktion der Hauptthesen, die hauptsächlich auf den ersten drei Abschnitten von KPM beruht, hat fast alle Schwerpunkte von Heideggers Umdeutungsarbeit der KrV aufgegriffen. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels stellen wir noch eine wichtige, vielleicht die wichtigste These der Kantdeutung Heideggers vor, die mit einem tiefgehenden Verständnis des Wesens der kritischen Philosophie und einigen bedeutsamen Themen in einem allgemeinen Kontext der Philosophie Kants zusammenhängt. Diese Themen führen uns endlich zum Hauptthema der Herleitung der Endlichkeit des Menschen beziehungsweise des Daseins.
456 Vgl. ebd., S. 198–199.
209 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
3.7.1 Kant weicht vor der transzendentalen Einbildungskraft zurück Im vierten und auch letzten Abschnitt des Kant-Buchs rekonstituiert Heidegger die Perspektive seiner Kantdeutung in einem weiteren Kontext. Er nennt diese Arbeit „eine Wiederholung“.457 In dieser Wiederholung sucht Heidegger die innere Möglichkeit der von Kant ausgeführten Grundlegung der Metaphysik. Er fragt, warum Kant keine philosophische Anthropologie auf der Basis seiner Grundlegung der Metaphysik aufgebaut hat. Zunächst bestätigt er, dass die Durchführung seiner Deutung der einzelnen Stadien der kantischen Grundlegung auf die transzendentale Einbildungskraft als dem Grund der inneren Möglichkeit der ontologischen Synthesis stößt, das heißt der Transzendenz. Mit anderen Worten drückt Heidegger aus, dass in gewissem Sinne das Ergebnis der kantischen Grundlegung eine ursprünglichere Auslegung der Feststellung des Grundes als Zeitlichkeit ist.458 Er ist jedoch mit diesem Ergebnis, das er in den ersten drei Abschnitten aufgezeigt hat, unzufrieden. Vielmehr zielt er darauf ab, dass versucht wurde, den Gehalt des Werkes herauszustellen, nämlich was Kant „hat sagen wollen“: Diese aber vermochte Kant selbst nicht mehr zu sagen, wie denn überhaupt in jeder philosophischen Erkenntnis nicht das entscheidend werden muß, was sie in den ausgesprochenen Sätzen sagt, sondern was sie als noch Ungesagtes durch das Gesagte vor Augen legt.459 Die Suche nach dem „Ungesagten Kants“ ist seit der Publikation der KrV ein ungebrochenes Anliegen seiner direkten Kritiker und Nachfolger. Ein Szenario hält sich an die Suche nach der unbekannten Wurzel zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand. Ein anderes hängt sich an Kants transzendentalen Idealismus und durch die Ausdifferenzierung des Verständnisses dieses Begriffs kann man zwei Arten der Interpretation von Kant, nämlich die subjektive und objektive Interpretation, unterscheiden.460 Alle diese Versuche probieren, die ungesagten Ideen Kants, die Kant selbst nicht bewusst werden konnten, durch eine aggressive oder eben gewaltsame Um-
457 Vgl. „Unter der Wiederholung eines Grundproblems verstehen wir die Erschießung seiner ursprünglichen, bislang verborgenen Möglichkeiten, durch deren Ausarbeitung es verwandelt und so erst in seinem Problemgehalt bewahrt wird“ (KPM, S. 204). 458 Vgl. KPM, S. 205. 459 Ebd., S. 201. 460 Vgl. Frederick Charles Beiser: German Idealism. The Struggle Against Subjectivism, 1781–1801. Cambridge u.a. 2001. S. 17–19.
210 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.7 (T7) Die Endlichkeit soll einen Vorrang in der Kantdeutung haben
deutung in Relation zum Bedarf der Kantdeuter zu enthüllen. Eine Enthüllung des Ungesagten, die „Gewalt“ beinhalten muss, ist für Heidegger die echte Aufgabe einer philosophischen Auslegung.461 Die Frage liegt nicht in der Gewalt. Die Frage ist, was das Ungesagte Kants ist. Laut Heidegger ist Kant vor der Enthüllung der transzendentalen Einbildungskraft zurückgewichen. Dies bedeutet, dass Kant etwas über die transzendentale Einbildungskraft hat sagen wollen, aber letztlich wurde dieses Gewollte das Ungesagte. Heideggers Kantdeutung hat eine Verbindung mit seinem eigenen philosophischen Entwurf zum Ziel: Kants Grundlegung der Metaphysik führt auf die transzendentale Einbildungskraft. Diese ist die Wurzel der beiden Stämme Sinnlichkeit und Verstand. Als solche ermöglicht sie die ursprüngliche Einheit der ontologischen Synthesis. Diese Wurzel aber ist in der ursprünglichen Zeit verwurzelt. Der in der Grundlegung offenbar werdende ursprüngliche Grund ist die Zeit Kants Grundlegung der Metaphysik setzt bei der Metaphysica generalis ein und wird so zur Frage nach der Möglichkeit einer Ontologie überhaupt. Diese stellt die Frage nach dem Wesen der Seinsverfassung des Seienden, d. h. nach dem Sein überhaupt. Auf dem Grunde der Zeit erwächst die Grundlegung der Metaphysik. Die Frage nach dem Sein, die Grundfrage einer Grundlegung der Metaphysik, ist das Problem von „Sein und Zeit“.462 Diese Paragraphen beschreiben in der Tat das ganze Thema und die Zielsetzung in seinem Denken während ungefähr der Jahre von 1925 bis 1930. Durch die Umdeutung des wirklichen Zwecks der KrV verändert Heidegger die überlieferten Einsichten der Philosophie Kants. Die Zeit beziehungsweise die Zeitlichkeit erhält in seiner ganzen Rede eine Schlüsselrolle, damit die Frage nach dem Sinn von Sein als solchem eine Grundlage in der kantischen Philosophie bekommt, die mit dem Problembewusstsein in SZ identisch ist. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass nicht wenige Kant- und Heideggerforscher Heideggers Kantdeutung nur in der Dimension einer Verzerrung der kantischen Philosophie oder einer Vereinheitlichung oder sogar
461 Vgl. „Um freilich dem, was die Worte sagen, dasjenige abzuringen, was sie sagen wollen, muß jede Interpretation notwendig Gewalt brauchen. Solche Gewalt aber kann nicht schweifende Willkür sein“ (KPM, S. 202). 462 Ebd., S. 202–203.
211 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
einer Aneignung der beiden Einsichten lesen, durch die die in der SZ gesetzte philosophische Argumentation Heideggers selbst verstärkt werden kann. Aus dieser Perspektive ist seine ganze Kantdeutung lediglich ein Vasall des Entwurfs von SZ. Ich schlage eine andere Perspektive vor, dass man nämlich die echte Absicht und die echte Folge des Entwurfs von SZ anerkennen kann. Dies hängt mit Heideggers Kritik und Umformulierung der kantischen Philosophie innig zusammen. Was genau ist mit dem Ungesagten beziehungsweise Kants Zurückweichen gemeint? Im vierten Abschnitt des Kant-Buchs spricht Heidegger endlich diese These klar aus: Die Fraglichkeit des Fragens nach dem Menschen ist diejenige Problematik, die im Geschehen der Kantischen Grundlegung der Metaphysik ans Licht drängt. Nun zeigt sich erst: Kants Zurückweichen vor dem von ihm selbst enthüllten Grund, vor der transzendentalen Einbildungskraft, ist – in Absicht auf die Rettung der reinen Vernunft, d. h. das Festhalten des eigenen Bodens – jene Bewegung des Philosophierens, die das Einbrechen des Bodens und damit den Abgrund der Metaphysik offenbart.463 Der Grund des „Zurückweichen[s]“ ist die „Absicht auf die Rettung der reinen Vernunft“. Denn was ist die Krisis der reinen Vernunft? Er diagnostiziert, dass „Kant bei der Enthüllung der Subjektivität des Subjektes vor dem von ihm selbst gelegten Grunde zurückweicht“.464 Mit anderen Worten, Kant hätte das Gefühl gehabt, dass die Subjektivität des Subjektes bei dieser Enthüllung verletzt werden könnte. In der Denkweise Kants liegt diese Subjektivität wesentlich in der reinen Vernunft. Die unerschütterliche Stellung der reinen Vernunft ist durch die Enthüllung des verborgenen Stellenwertes der transzendentalen Einbildungskraft bedroht. „Der Begriff der reinen Vernunft und die Einheit einer reinen sinnlichen Vernunft werden zum Problem.“465 Die Enthüllung deckt die Tatsache auf, dass die menschliche Vernunft nicht bloß eine reine „vernünftige“ Vernunft ist, sondern eine reine „sinnliche“ Vernunft. Die höchste Stellung der reinen Vernunft beziehungsweise der reinen Apperzeption könnte erschüttert werden, da der Vorrang der Sinnlichkeit und die Strukturbedeutung der Einbildungskraft mehr und mehr ersichtlich werden. Deswegen verändert Kant in der zweiten Fassung der KrV die Zugehörigkeit der
463 Ebd., S. 215. 464 Ebd., S. 214. 465 Ebd.
212 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.7 (T7) Die Endlichkeit soll einen Vorrang in der Kantdeutung haben
Einbildungskraft von der Sinnlichkeit hin zum Verstand, damit die höchste und beherrschende Stellung des Verstandes sowie die reine Vernunft wiedererlangt werden können. Anderes gesagt, im Urteil Heideggers beeinflusst das theoretische Vorurteil der Vernunft, die in der Vorliebe für den Intellektualismus in der abendländischen Philosophiegeschichte nachklingt, Kants Urteil über das Ergebnis seiner Grundlegungsarbeit.
3.7.2 Das eigentliche Ergebnis der kantischen Grundlegung: Eine philosophische Anthropologie In der KrV schlug Kant drei Fragen als die Vereinigung aller Interessen seiner Vernunft (das spekulative sowohl als das praktische) vor, die „was kann ich wissen“, „was soll ich tun“ und „was darf ich hoffen“ sind.466 In seiner Logikvorlesung stellt er die vierte Frage „was ist der Mensch“, die nicht als ein Weiterführung der ersten dreien Fragen fungiert, sondern die Urfrage ist, da sie sich auf die Frage nach einer philosophischen Anthropologie bezieht.467 Diese Urfrage verweist auf das Zentralinteresse der kantischen Philosophie, die durch die ersten drei Fragen und ihre Untersuchungen konkret gezeichnet wird. In Heideggers Augen leitet die vierte Frage zur „Grundlegung der eigentlichen Philosophie“, der Metaphysica generalis.468 Die ersten drei Fragen betrafen einfach verschiedene Fragen nach der Metaphysica specialis.469 Heidegger ist der Ansicht, dass die früheren Untersuchungen der Anthropologie in der Tat das Wesen der kantischen Grundlegung der philosophischen Anthropologie vermissen lassen. Das „entscheidende Ergebnis der kantischen Grundlegung“ ist nicht in Besitz genommen.470 Heidegger argumentiert, dass das eigentliche Ergebnis der kantischen Grundlegung enthüllt wird, wenn wir uns nicht mehr an „irgendeine Definition oder eine formulierte These“ halten. Wir sollen uns nicht auf das, „was Kant sagt“, sondern auf das, „was in seiner Grundlegung geschieht“, konzentrieren. Er gibt zu: „Einzig auf die Freilegung dieses Geschehens zielt die oben durchgeführte ursprünglichere Auslegung der Kritik der rei-
466 KrV A 804–805/B 832–833. 467 Vgl. AA IX, Logik. Physische Geographie, Pädagogik, S. 25. Außerdem Heideggers Interpretation: KPM, S. 206–208. 468 Vgl. KPM, S. 208. 469 Vgl. ebd. 470 Ebd. S. 214.
213 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
nen Vernunft.“471 Das heißt, dass in der Tat die folgende Auslegung die echte Aufgabe seines Kant-Buchs ist. Diese Aufgabe liegt in der Enthüllung der Endlichkeit des Menschen. Aufgrund des Wesens der oben genannten ersten drei Fragen, die ein Können, Sollen und Dürfen der menschlichen Vernunft in Frage stellen, kann man tatsächlich verstehen, dass die Anerkennung der Endlichkeit des Menschen die oberste Prämisse der kantischen Philosophie ist. Heidegger argumentiert, „Wo ein Können fraglich ist und sich in seinen Möglichkeiten umgrenzen will, steht es selbst schon in einem Nicht-Können.“472 Aber dieses Nichtkönnen ist kein Mangel, sondern „die Unberührtheit von jeglichem Mangel und „Nicht“.“473 Mit anderen Worten, dieses Nichtkönnen fungiert als die Möglichkeitsbedingung, die das eigentliche Wesen der Menschen enthüllt. In diesen Fragen verrät die menschliche Vernunft nicht nur die Endlichkeit des Menschen, sondern ihr innerstes Interesse geht auf die Endlichkeit selbst.474 Laut Heidegger möchte die menschliche Vernunft nicht die Endlichkeit auslöschen, „sondern [es geht ihr] umgekehrt darum, dieser Endlichkeit gerade gewiß zu werden, um in ihr sich zu halten.“475 Die Endlichkeit der menschlichen Vernunft macht den Menschen zu einem endlichen Wesen, deswegen nennt Heidegger sie „Verendlichung, d.h. „Sorge“ um das Endlich-sein-können.“476 Die Endlichkeit hängt sich nicht an den menschlichen Vernunft, sondern durch die Endlichkeit wird das Wesen der menschlichen Vernunft offenbar: Hieraus ergibt sich: die menschliche Vernunft ist nicht nur endlich, weil sie die genannten drei Fragen stellt, sondern umgekehrt: sie stellt diese Fragen, weil sie endlich ist, und zwar so endlich, daß es ihr ihrem Vernunftsein um diese Endlichkeit selbst geht. Weil diese drei Fragen diesem Einen, der Endlichkeit, nachfragen, deshalb „lassen sie sich“ auf die vierte „beziehen“: was ist der Mensch?477 Diese Interpretation der Bedeutung der Grundfragen Kants offenbart tatsächlich einen Weg zur Frage der Endlichkeit, die auf den Wesenszusammenhang zwischen dem Sein als solchem und der Endlichkeit im Men471 472 473 474 475 476 477
Ebd. Ebd., S. 216. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 217. Ebd. Ebd.
214 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.7 (T7) Die Endlichkeit soll einen Vorrang in der Kantdeutung haben
schen verweist. Dieses kantische Befragen muss „selbst aus der Orientierung an der festgewordenen Disziplin und Systematik der Schulmetaphysik herausgedreht und in das freie Feld der eigenen Problematik versetzt werden“.478
3.7.3 Anthropologie, Endlichkeit und Seinsverständnis Mit der sogenannten „festgewordenen Disziplin und Systematik der Schulmetaphysik“ meint Heidegger die Kantdeutung in seiner Zeit. Um diese gefestigte Meinung abzubauen, möchte Heidegger zu den philosophischen Quellen in altgriechischer Zeit, insbesondere zu Aristoteles, zurückkehren. Die Frage nach dem Sinn von Sein ist von Aristoteles auf die Frage τί τὸ ὄν (Was ist das Seiende?) in der abendländischen Metaphysik begrenzt worden. Diese Art des Befragens leitet unsere Blickrichtung einmal im Hinblick darauf, das Was-sein des uns offenbaren Seienden zu bestimmen. Die Suche nach der essentia (Wesen), nämlich dem Was-sein, wurde der Grundmodus und das Ziel der Seinsfrage. Jedoch zieht Heidegger diese Fragestellung bezüglich der Seinsfrage als solcher in Zweifel. Daher sagt er: So muß die Frage der „ersten Philosophie“, was das Seiende als solches sei, über die Frage, was das Sein als solches sei, zurückgetrieben werden zu der noch ursprünglicheren: von wo aus ist dergleichen wie Sein, und zwar mit dem ganzen Reichtum der in ihm beschlossenen Gliederungen und Bezüge, überhaupt zu begreifen?479 Laut Heideggers Einsicht gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen der Grundlegung der Metaphysik und der Frage nach der Endlichkeit im Menschen. Nach der kopernikanischen Wende Kants verändert die „erste Philosophie“ sich von der Untersuchung des Ursprungs des Seienden zur Untersuchung über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. Mit anderen Worten, der Ursprung des Seienden, die Objektivität der Gegenstände, wird im Subjekt verinnerlicht. Die Subjektivität des Subjekts wird die letzte Grundlegung des Seienden. In diesem Sinne spielt die KrV die Rolle der Grundlegung der Metaphysik des Seienden beziehungsweise des Subjekts, mithin der Metaphysik des Daseins.
478 Ebd. S. 221; vgl. dazu ebd. S. 221–222. 479 Ebd., S. 224.
215 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
Kants Grundlegung der Metaphysik bewirkt eine neue Richtung der Frage nach der Seinsfrage, die der philosophischen Anthropologie, die sich auf das Wie-sein anstatt des Was-seins des Menschen bezieht, einen Vorrang verleiht. In diesem Kontext werden die Fragen nach dem Menschen die notwendige Vorbereitung der Seinsfrage als solcher. Daher räumt Heidegger Kant sowohl hinsichtlich seiner früheren als auch späteren Werken eine ganz besondere Stelle in der abendländischen Metaphysik ein. Kants Grundfragen der philosophischen Anthropologie offenbarten das Nicht-Können des Menschen. Die philosophische Anthropologie ist eine Philosophie entsprechend der Endlichkeit des Menschen. Diese Endlichkeit hängt im Voraus in der KrV, als der Grundlegung der ganzen kritischen Philosophie Kants, von der Endlichkeit des Erkennens ab. Jedoch ersetzt Heidegger diese Grundlage durch das Seinsverständnis, durch das die kognitive Erkenntnis als eine Art der Erkenntnis des Seins möglich wird. Die Existenz des Daseins hängt von dieser endlichen Erkenntnis des Seins ab und diese Endlichkeit wird vom Seinsverständnis vorausgesetzt. „Existenz ist als Seinsart in sich Endlichkeit und als diese nur möglich auf dem Grunde des Seinsverständnisses.“480 Dies bedeutet nicht, dass das Seinsverständnis als eine Möglichkeitsbedingung der Existenz unendlich ist, sondern umgekehrt, dass „das Seinsverständnis das Endlichste im Endlichen“ ist, da aufgrund des Seinsverständnisses „der Mensch das Da“ ist.481 Durch dieses vorausgesetzte Seinsverständnis kann der Mensch sein „Da“, seine Existenz in einem speziellen, bestimmten, geschichtlichen Horizont „erkennen“ und „schöpferisch sein“: So offenbart sich das Seinsverständnis, das unerkannt in seiner Weite, Ständigkeit, Unbestimmtheit und Fraglosigkeit die Existenz des Menschen durchherrscht, als der innerste Grund seiner Endlichkeit. Das Seinsverständnis hat nicht die harmlose Allgemeinheit einer häufig vorkommenden Eigenschaft des Menschen neben vielen anderen, seine „Allgemeinheit“ ist die Ursprünglichkeit des innersten Grundes der Endlichkeit des Daseins. Nur weil das Seinsverständnis das Endlichste im Endlichen ist, kann es auch die sogenannten „schöpferischen“ Fähigkeiten des endlichen Menschenwesens ermöglichen.482 Mit anderen Worten, die philosophische Anthropologie hat ihren Grund im Seinsverständnis, weil der Begriff beziehungsweise das Verständnis des
480 Ebd., S. 228. 481 Ebd., S. 229. 482 Ebd., S. 228–229.
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3.7 (T7) Die Endlichkeit soll einen Vorrang in der Kantdeutung haben
Menschen schon in einem Seinsverständnis vorausgesetzt ist. Auf dieser Grundlage kann man die Fragen nach dem Können, Sollen und Dürfen des Menschen stellen. Wir haben im Voraus das unbestimmte Seinsverständnis des Menschen, nachfolgend kann man fragen „was ist der Mensch“. „Anthropologie begründet nicht schon deshalb, weil sie Anthropologie ist, die Metaphysik.“483 Der weitere Schritt der philosophischen Anthropologie Kants soll die Metaphysik des Daseins beziehungsweise die Fundamentalontologie sein. Die kantische Anthropologie soll durch die Daseinsanalyse ersetzt werden, die von Heidegger in SZ ausgeführt wurde. Wir können die These auch einfacher formulieren: Die weitere Entwicklung der transzendentalen Philosophie soll die Fundamentalontologie sein.
3.7.4 Die Endlichkeit als die Schlüsselfuge zwischen Kant und Heidegger Die vorliegende Darstellung zeigt die Grundthese der Kantdeutung Heideggers: „Ursprünglicher als der Mensch ist die Endlichkeit des Daseins in ihm.“484 Diese These ist die grundlegende und wichtigste These der ganzen Kantdeutung Heideggers und auch die Schlüsselfuge zwischen der kantischen und heideggerschen Philosophie. Die ganze Kantdeutung Heideggers ist grundsätzlich auf dieser These errichtet. Die Betonung der konstitutiven Bedeutung der Zeitlichkeit und die Wichtigkeit des Schematismuskapitels sind auch abhängig von der Anerkennung dieser These, da sie die Endlichkeit des Menschen hinsichtlich der Dimension der Geschichtlichkeit und der Situationsgebundenheit tiefgehend offenbaren. Infolge dieser Interpretation wird für beide Philosophen die Endlichkeit des menschlichen Daseins die gleiche theoretische Voraussetzung, sodass eine Fundamentalontologie und eine Metaphysik des Daseins aufgebaut werden können: Die Enthüllung der Seinsverfassung des Daseins ist Ontologie. Sofern in ihr der Grund der Möglichkeit der Metaphysik – die Endlichkeit des Daseins als deren Fundament – gelegt werden soll, heißt sie Fundamentalontologie. Im Gehalt dieses Titels ist das Problem der Endlich-
483 Ebd., S. 213. 484 Ebd., S. 229.
217 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Drittes Kapitel: Sieben Hauptthemen der Kantdeutung Heideggers
keit im Menschen in Absicht auf die Ermöglichung des Seinsverständnisses als das Entscheidende eingeschlossen.485 Heidegger meint, dass Kant die Möglichkeit der Fundamentalontologie eröffnete, obwohl die Fundamentalontologie nur die erste Stufe der Metaphysik des Daseins sei.486 Der Schwerpunkt dieser Fundamentalontologie liegt in einer Enthüllung der Urstruktur der Daseinsexistenz. Durch die Transzendenz kann das Dasein seine Lebenswelt „verstehen“ und „schöpferisch sein“ – ein Entwurf seines Lebens sein. Aber dieses „Verständnis“ und diese „Schöpfung“ sind verschieden von der bedingungsfreien Spontaneität und Autonomie Kants, da sie durch die Geworfenheit des Daseins vorgängig gegründet sowie begrenzt werden. Er schreibt: „Aller Entwurf – und demzufolge auch alles „schöpferische“ Handeln des Menschen – ist geworfener, d. h. durch die ihrer selbst nicht mächtige Angewiesenheit des Daseins auf das schon Seiende im ganzen bestimmt.“487 Heidegger spricht nicht gänzlich der menschlichen Freiheit ihre Bedeutung ab, aber diese Freiheit muss sich unter die Geworfenheit des Daseins begeben. Der Entwurf des Daseins muss im Voraus mit der Faktizität und der Geworfenheit des Daseins verbunden sein. Dieser Entwurf ist der „verborgene und zumeist unbestimmte Entwurf des Seins des Seienden überhaupt“.488 Er ist verborgen und unbestimmt, da er sich nicht auf eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt bezieht, sondern auf das, was eine solche Beziehung zuvor schon durch Transzendenz ermöglicht. Dieser geworfene Entwurf des Dasein wird von Heidegger „Verfallen“ genannt, das „nicht die allenfalls negativ und kulturkritisch abschätzbaren Vorkommnisse im Menschenleben, sondern einen mit dem geworfenen Entwurf einigen Charakter der innersten transzendentalen Endlichkeit des Daseins“489 meint. Dies ist auch der Grund, dass Heidegger sagt: „Die Endlichkeit des Daseins – das Seinsverständnis – liegt in der Vergessenheit.“490 Denn als die Ermöglichung des Entwurfs spielt die Endlichkeit des Daseins eine verborgene und unbestimmte Rolle, die „keine zufällige und zeitweilige [sei], sondern sie bildet sich notwendig und ständig“.491
485 486 487 488 489 490 491
Ebd., S. 232. Vgl. ebd. Ebd., S. 235. Ebd. Ebd., S. 235–236. Ebd., S. 233. Vgl.: „Diese ist keine zufällige und zeitweilige, sondern bildet sich notwendig und ständig. Alle fundamentalontologische Konstruktion, die auf die Enthül-
218 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
3.7 (T7) Die Endlichkeit soll einen Vorrang in der Kantdeutung haben
Jetzt ist das gesamte Bild der Kantdeutung Heideggers klar, nämlich dass durch seine Deutung der Zeit und Einbildungskraft die Endlichkeit des Menschen, die als die Urstruktur des Daseins in Erscheinung tritt, enthüllt wird. Die Kantdeutung wird eine stützende Tatsache seines Vorhabens in Bezug auf die Fundamentalontologie in SZ. Heidegger glaubt, dass die KrV, oder präziser, seine Deutung der KrV „die Herrschaft der Vernunft und des Verstandes [erschüttert]“492 und „Kant etwas von diesem Zusammenbruch der Herrschaft der Logik in der Metaphysik geahnt haben [muß]“.493 Seine Kantdeutung enthüllt nur das Ungesagte bei Kant, das der Grundeinsicht der kantischen Philosophie, die die Endlichkeit des Menschen als die erste Voraussetzung von Kant annimmt, folgt. Jedoch haben wir auch das Recht zu fragen: Inwiefern sollen wir die Endlichkeit als die erste Prämisse der Philosophie Kants annehmen? Im letzten Abschnitt von KPM argumentiert Heidegger nicht nur gegen Kants Ausarbeitung der zweiten Ausgabe der KrV, sondern auch gegen die Entwicklung des deutschen Idealismus. Dieser erhebt die Vernunft zu einer absoluten Stellung. Er zweifelt an dieser Entwicklung: „Gibt es eindringlichere Beweise dafür, wie wenig selbstverständlich die zur Natur des Menschen gehörige Metaphysik und damit die „Natur des Menschen“ selbst ist?“494 In seinen Augen soll die kantische Grundlegung zu einer Fundamentalontologie leiten, die auf eine Vollendung der Metaphysik des Daseins zielt. Kants Zurückweichen und die weitere Entwicklung des deutschen Idealismus machen beide einen Umweg. Der Weg zur Seinsfrage bleibt deswegen weiter verdeckt.
lung der inneren Möglichkeit des Seinsverständnisses zielt, muß im Entwerfen das in den Entwurf Genommene der Vergessenheit entreißen“ (KPM, S. 233). 492 Ebd., S. 243. 493 Ebd., S. 244. 494 Ebd.
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Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation: eine kantisch-heideggersche philosophische Anthropologie
Anhand der Auseinandersetzung mit Heideggers Kantdeutung argumentiere ich in diesem Kapitel, dass die Einbildungskraft als die Orientierungskraft in der Philosophie Kants interpretiert werden kann. Als Orientierungskraft ermöglicht die Einbildungskraft das Seinsverständnis beziehungsweise die Seinsverfassung des Menschen. Ich möchte die Einbildungskraft also als ein ontologisch-existenziales Fundament der zeitbezogenen-bildenden Erfahrung interpretieren. Die Idee, die sich auf die Interpretation der Einbildungskraft als Orientierungskraft bezieht, steht in einem engen Zusammenhang mit dem kantischen und husserlschen Einfluss auf Heidegger. Der frühe Heidegger wollte die husserlsche Phänomenologie überwinden, wobei er glaubte, dass die Philosophie Kants eine wichtige Etappe bei dieser Überwindung sei. Die frühe Horizonttheorie Husserls, die Begriffe wie Welthorizont, Existenzhorizont, Zeit-Raumhorizont usw. einschließt, bietet eine phänomenologische Deskription des intentionalen Phänomens an, durch die die Grundstruktur der Welt- und Sinnkonstruktion entfaltet wird. Diese Horizonttheorie bezieht sich grundsätzlich auf eine Orientierung im Rahmen von Raum und Zeit.495 Da Heidegger im Gegensatz dazu mit der erkenntnistheoretischen und intellektuellen Neigung der Phänomenologie Husserls unzufrieden ist, konstruiert er seine Phänomenologie auf eine ontologisch-existenziale Art und Weise. Auf der Basis der Horizonttheorie Husserls und der Transzendentalphilosophie Kants entwickelt er die ontologisch-existenziale Analyse des Seins des Daseins. In SZ stellt Heidegger nicht nur seine phänomenologische Deskription des Weltphänomens und der Weltlichkeit des Daseins auf, sondern verweist auch auf die wesentliche Rolle der Zeitlichkeit für die Welt- und Sinnkonstitution des Daseins. Obwohl er schließlich diesen Ansatz sowie das Schriftprojekt von SZ verließ, errichtete er auf jeden Fall eine daseinsmäßige Phänomenologie mit
495 In späterer Zeit hat Husserl Begriffe wie Bewusstseinshorizont und Lebenshorizont weiter ausgearbeitet, mit denen er seine Aufmerksamkeit auf die Deskription der innerbewussten, tätigen Menschenwelt richtet.
221 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
einer ontologische-existenzialen Orientierung. Durch diese Phänomenologie werden die Möglichkeitsbedingungen der Sinnkonstitution beziehungsweise der Seinsverfassung, nämlich die Grundmodi des Daseins, entfaltet. In der Tat eröffnet sich uns daher ein Spielraum, in dem wir eine Weiterentwicklung einer phänomenologischen Kantdeutung durchführen können. Aus den im Folgenden diskutierten Gründe hat Heidegger eine weitere Entwicklung seiner Phänomenologie des Daseins und der phänomenologischen Kantdeutung abgebrochen. Jedoch bedeutet dies nicht, dass seine frühere Untersuchung damit völlig obsolet werden sollte. Diese Interpretation stützt sich auf das Ergebnis der vorliegenden Kantdeutung Heideggers, die größtenteils im vorangehenden Kapitel in sieben Aussagen zusammengefasst wurde. Ich fokussiere die Bedeutung der Einbildungskraft im Feld der Erfahrung der Selbstkonstitution beziehungsweise der Selbstbildung. Ich argumentiere, dass ohne die Hilfe der Einbildungskraft der Konstitution der allgemeinen Erfahrung beziehungsweise der Sinnund Seinsverfassung keine Orientierung verliehen würde. Da die Einbildungskraft hat einen Vorrang in der ontologischen Verfassung des Daseins hat, können wir die eigentlichen existenzialen Möglichkeiten entwerfen und gleichzeitig das Sein verstehen und verfassen. Der zweideutige Charakter der Einbildungskraft führt zu zwei Dimensionen der Selbstbildung: einerseits kann der Mensch mit seinem Willen dem idealen Selbstbild nachsetzen, wodurch er in manchen Fällen eigene Ziele realisieren kann. Anderseits kann er einer uneigentlichen und unrealistischen Möglichkeit verfallen, wodurch er die Orientierung seines Lebens verfehlt. Beide Richtungen, die zu den zwei Seinsmodi – Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit – gehören, so werde ich darstellen, entspringen der zeitlichen Einbildungskraft. Der Schüssel dieser Kantdeutung hängt vom bildenden Charakter der Einbildungskraft in Bezug auf die Funktion der Zeit im Geschehen des Schematismus ab. Dieser Charakter der Einbildungskraft lässt das Dasein seine Zukunft entwerfen, sich seiner Vergangenheit erinnern und seine Gegenwart ergreifen. Ohne Einbildungskraft kann der Mensch nicht die eigentliche Zeit in Verbindung mit seinem eigenen Leben haben. In Heideggers Terminus lebt das Dasein in seiner Alltäglichkeit wie „das Man“, das keine echte Identität und Persönlichkeit hat.496 Ich argumentie-
496 Vgl. „Das Wer ist nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht einige und nicht die Summe Aller. Das »Wer« ist das Neutrum, das Man“ (SZ, S. 126).
222 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
4.1 Die innere Spannung zwischen den philosophischen Ansätzen Kants und Heideggers
re, dass die zwei Seinsmodi des Daseins beziehungsweise die „Existenzialien“ des Daseins nur durch die Einbildungskraft möglich sind. Die Einbildungskraft als die ursprüngliche Zeit begründet sowie erörtert die ursprüngliche Möglichkeit einer Vereinigung der drei Zeitdimensionen. Die Betonung der Einbildungskraft wird die gewöhnliche Lesart verändern und daher kann die erkennende Subjektivität ebenfalls durch eine ontologisch-existenziale Subjektivität ersetzt werden. Wir haben die Diskussion in drei Teile geteilt: 1. Die innere Spannung zwischen den Philosophien Kants und Heideggers. 2. Die implizierten Möglichkeiten der phänomenologischen Kantdeutung Heideggers. 3. Konzeption und Zweck der Einbildungskraft als Orientierungskraft: eine Idee der auf der Einbildungskraft beruhenden philosophischen Anthropologie.
4.1 Die innere Spannung zwischen den philosophischen Ansätzen Kants und Heideggers Im ersten Teil möchte ich die Absicht und Schwierigkeiten der Kantdeutung Heideggers darstellen. Ich werde argumentieren, dass die Grundabsicht seiner Kantdeutung auf eine Vereinigung (eine Aneignung ist nicht notwendig erforderlich) seiner Einsichten mit denen Kants und Husserls zieht. Diese Vereinigung kann nicht nur seinen Entwurf der Fundamentalontologie vollenden, sondern auch einige überlieferte Kantdeutungen verändern. Allerdings hat diese Vereinigung einen Preis, der darin besteht, dass seine eigene Philosophie sich von der kantischen Grundeinsicht – dem Subjektivitätsansatz – nicht fernhalten kann. Dies zeigt den inneren Konflikt seiner in SZ errichteten theoretischen Strategie auf und zwingt ihn am Ende, diese Strategie zu verlassen. Letztendlich muss er eine „Kehre“ seiner Philosophie durchführen.
4.1.1 Die fundamentalistische und holistische Lesart der Philosophie Kants Im Abschnitt 1.1.3 habe ich die Doppelvergessenheit und die Unbeliebtheit der Kantdeutung Heideggers aufgezeigt und dazu zwei kurze Erläuterungen zur Ursache dieses Phänomens gegeben. Jetzt möchte ich darüber
223 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
hinausgehend auf den Wesenscharakter der beiden Philosophien eingehen, um so zu erklären, warum eine Vereinigung der beiden Denkansätze so schwer ist und dabei nachfragen, ob eine Vereinigung wahrhaft möglich ist. Diese weitere Analyse zielt nicht auf eine Ablehnung einer Vereinigung der beiden philosophischen Einsichten aufgrund einer festen Perspektive hinsichtlich einer kantischen oder heideggerschen Sicht ab, sondern auf eine kritische Vereinigung, um so die beiden philosophischen Einsichten weiterzuentwickeln. Ein Grund, der die Schwierigkeit einer Vereinigung der beiden Philosophien verursacht, ist im unterschiedlichen Verständnis des Wesenscharakters der kantischen Philosophie verwurzelt. Oftmals versteht man die Transzendentalphilosophie Kants als eine fundamentalistische Philosophie, da sie auf die letzte Erklärung der Möglichkeitsbedingung der menschlichen Erkenntnis zielt. Diese Erklärung muss die „Letztbegründung“ sein, ansonsten würde sie die selbstauferlegte Bedeutsamkeit – als die kritische Vorbereitung für die Wissenschaft und „einer jeden künftigen Metaphysik“497 – verlieren. Daher sieht man vernünftigerweise die reinen Verständnisbegriffe oder die transzendentale Apperzeption als das letzte Fundament des menschlichen Verständnisses oder sogar als den letzten Grund der menschlichen Erfahrung an. Auf eine ähnliche Weise kann man ebenso folgen, dass die Aufgaben Descartes‘, Kants und Husserls annähernd gleich sind, da sie die Letztbegründung der Erkenntnis suchen. Die KrV und sogar die ganze kritische Philosophie werden so als ein erkenntnistheoretischer Fundamentalismus gelesen, da der Letztgrund aller menschlichen Erfahrungen – sie beinhalten moralische, ästhetische, religiöse usw. Erfahrungen – zur Vernunft überhaupt gehört.498 Selbst wenn wir Kants Philosophie als eine fundamentalistische Philosophie annehmen, ist diese Philosophie für seine Nachfolger problematisch, da sie ein dualistischer Fundamentalismus ist (vgl. Abschnitt 1.2.3). Sinnlichkeit und Verstand sind die nicht gegenseitig reduzierbaren Stämme der menschlichen Erkenntnis, aber es wird noch ein „Drittes“ benötigt, um diese beiden Stämme zu überbrücken. Die Identität und Stellung dieses Dritten wird zu einem unschlüssigen Fall in der Philosophie Kants – wir haben diese Problematik das „Wurzelproblem“ genannt (vgl. Ab-
497 Vgl. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (In: AA IV). 498 Für diesen Anspruch, der die Vernunft als den Letztgrund konzipiert, können in der „Orientierungsschrift“ Kants gute Argumentationspunkte gefunden werden. Vgl. Abschnitt 4.2.2.
224 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
4.1 Die innere Spannung zwischen den philosophischen Ansätzen Kants und Heideggers
schnitt 1.2.1). Das Wurzelproblem zeigt grundsätzlich den Bedarf an einer weiteren Begründung der kantischen „Problematik“. Der dualistische Fundamentalismus kann seine Nachfolger nur überzeugen, wenn die Aufgabe einer „Letztbegründung“ noch nicht vollendet ist. Im Abschnitt 1.3 haben wir dargestellt, dass der Dualismus Kants ein grundlegendes Problem für seine Nachfolger ist. Fichte und Hegel vertreten zwei verschiedene Ansätze, um Kants „problematischen“ Dualismus zu überwinden. Fichte führt einen fundamentalistischen Ansatz durch, um die kantische Philosophie fortzusetzen. Hegel wählt einen anderen Weg. In seiner monistisch-holistischen Philosophie kritisiert er Kants Verständnis vom Wesen der Vernunft und rekonstruiert auf dieser Basis die Letztbegründung der Vernunft und Realität unter einem Prozessualitätsaspekt. Nur die systematische Ganzheit, nämlich die absolute Vernunft beziehungsweise der absolute Geist, kann als Letztbegründung konzipiert werden. Für einige Gelehrte hat eigentlich Hegel die kritische Philosophie Kants radikal vollendet.499 Als ein Kantnachfolger und -deuter (vgl. meine Positionierung der Kantdeutung Heideggers im Abschnitt 1.4.2) steht Heidegger einer ähnlichen Herausforderung gegenüber, deshalb scheint es so, dass sein tautologisches Denken mit dem reduktiven und pseudofundamentalistischen Ansatz der kantischen Philosophie nicht einfach in Einklang gebracht werden kann. Seine Denkrichtung, die gegen eine höchst subjektive Begründung steht, konfligiert grundsätzlich mit dem Subjektivitäts- und Spontaneitätsansatz der Transzendentalphilosophie, nämlich der Grundeinsicht der kopernikanischen Wende Kants – das Subjekt hat den Vorrang vor dem Objekt beziehungsweise den Gegenständen in der Dimension der Erkenntniskonstitution.500 Der Vorrang des Subjekts beziehungsweise der Subjektivität in der Philosophie Kants (auch Descartes‘ und Husserls) steht wesentlich in Konflikt mit dem leitenden Ziel von SZ, das letztlich auf eine Enthüllung des Seins vom Seienden überhaupt anstatt nur des Seins des menschlichen
499 Einige Hegelforscher sehen in Hegels Philosophie eine radikale Version der kritischen Philosophie Kants. Vgl. hierzu Chong-Fuk Lau: Spekulative Philosophie als sich vollbringender Kritizismus, S. 125–138. Zu Hegels Monismus und Holismus vgl. Chong-Fuk Lau: Hegels Urteilskritik. Systematische Untersuchungen zum Grundproblem der spekulativen Logik. München 2004, S. 58–62. 500 Vgl. „Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll“ (KrV B XVII).
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Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
Daseins abzielt. Deswegen sucht er in KPM auch durch eine neue Kantdeutung, die kantischen Subjektivitäts- und Spontaneitätsansätze abzuschwächen.
4.1.2 Heideggers kopernikanische Wende: Die Ontologie geht wiederum der Erkenntnistheorie voraus Einige Heideggerforscher sind der Meinung, dass der Schwerpunkt der „Kehre“ auf dem Verlassen seines früheren philosophischen Ansatzes beruht, der versucht, durch die Daseinsanalyse nach dem Sinn von Sein überhaupt zu fragen, das heißt einen quasi transzendentalen Ansatz hat.501 Wie ich im zweiten Kapitel argumentiert habe, ist der philosophische Ansatz Heideggers in seiner frühen Zeit, zumindest vor der „Kehre“, eine Mischung aus Kants und Husserls Transzendentalphilosophie gewesen. Aber wir haben auch aufgezeigt, dass dieser Ansatz eine innere Spannung infolge seiner eigenen Grundgedanken aufweist. Diese Spannung bringt die Unvereinbarkeit seiner philosophischen Methode und seiner Zielsetzung in SZ zum Vorschein. Letztlich war er gezwungen, eine „Kehre“ seines philosophischen Ansatzes durchzuführen. Zunächst müssen wir aufzeigen, dass Heidegger keinerlei Bedenken gegen eine Transzendentalphilosophie im Sinne einer Philosophie der „Möglichkeitsbedingung“ hatte. Im Abschnitt 2.3 haben wir gezeigt, dass auch 501 Vgl. „Rather, the transformation of Heidegger I into Heidegger II is born out of a necessity imposed by the original experience of Being as finite (negative). For the shift of focus from There-being to Being (which, as far as we can see, characterizes the decisive difference between the two periods) was demanded by the exigencies of the hermeneutic analysis itself, as soon as it became clear that the primacy in the Being-process belongs to Being itself“ (William J. Richardson: Heidegger. Through Phenomenology to Thought. 3. Aufl., Den Haag 1974, S. 624). Richardson unterteilt in Heidegger I und Heidegger II, um die Änderung des Denkwegs Heideggers hervorzuheben. Aber Richardson ist gegen die polarisierende Interpretation von zwei Schulen, die sich darin verstehen, dass man einerseits Heidegger II verwerfen kann und andererseits beide Teile untrennbar sind. Richardson ist der Ansicht, dass Heidegger II tatsächlich eine „Rück-holung“ („re-trieve“, ebd. S. 625) von Heidegger I sei. „Briefly: Heidegger I and Heidegger II are not the same (das Gleiche) – but they are one (das Selbe)“ (ebd.). Einige Gelehrte argumentieren sogar, dass es mehr als eine „Kehre“ im Denkweg Heidegger gibt. Hier gehe ich diesem Thema nicht im Detail nach, sondern verbleibe nur bei der allgemein angenommenen „Kehre“, die ungefähr zwischen 1930–1936 stattfand. Über den Einfluss und die Abkehr vom transzendentalen Ansatz, vgl. Abschnitt 2.3.
226 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
4.1 Die innere Spannung zwischen den philosophischen Ansätzen Kants und Heideggers
er die Begriffe der Transzendentalphilosophie Kants und Husserls benutzt, jedoch nicht im Rahmen eines Bewusstseins- beziehungsweise Subjektivitätsansatzes, sondern im Rahmen der Seinsfrage. Mit anderen Worten, Heidegger wendet sich gegen die Transzendentalphilosophie nur wegen des in ihr verborgenen Subjektivitätsansatzes! (sieh dazu Abschnitt 2.3.3).502 Es war nicht Heideggers Absicht, zumindest in seiner früheren Zeit, den Subjektivität- beziehungsweise Bewusstseinsbegriff aus der Philosophie zu verbannen. Er ist vielmehr mit einem vorgebenden Letztbegründungsversuch durch die Subjektivität nicht einverstanden, da dieser selbst unbegründet und ontologisch leer ist. In der Tat erwartet der frühe Heidegger eine ontologische Begründung des Seins der Subjektivität, die nur durch das Befragte der Seinsfrage überhaupt möglich ist.503 Die ontologische Begründung unterscheidet sich von der kantischen oder husserlschen Begründung, die den Vorrang der Erkenntnisvermögen beziehungsweise der Erkenntnissubjektivität anerkennt. Durch die Kritik an der menschlichen Vernunft ersetzt Kant tatsächlich die aristotelische Idee der ersten Philosophie, die dem Studium des Seins als Sein (τὸ τί ἦν εἶναι, to ti ên einai), nämlich der Metaphysik als Ontologie, die erste und höchste Aufgabe der Philosophie zuordnet.504 Die erste, grundlegende Aufgabe der Philosophie wird die Kritik unserer Erkenntnisvermögen, und zwar dadurch, dass wir die kritische Grundlage im Voraus haben, um die Grundlage für eine jede künftige Metaphysik gewinnen zu können. Deswegen ist es für viele Kantgelehrte vernünftig und lobenswert, dass Kant die Erkenntnistheorie vor die Ontologie setzt. Jedoch verstehen wir, dass Heidegger in der ersten Hauptthese (T1) argumentiert, dass Kants KrV in erster Linie nicht auf eine Erkenntnistheorie, sondern auf eine Fundamentalontologie zielt. Die Grundabsicht von Kants Arbeit liegt in der Suche nach einer Grundlegung der Metaphysica generalis, mit der Kant den Weg für die Seinsfrage ebnet. Aber für Heidegger sind Kant und Husserl im Irrtum, da sie die Ansicht vertreten, dass die kognitive Tätigkeit und auch das Erkenntnissubjekt der Ursprung des Sinns von Sein sind. Das Seinsverständnis, das als eine Vorstruktur des Daseins fungiert, ist ontologisch ursprünglicher als Kants Verstandesbe502 Vgl. GA 20, S. 46. 503 Vgl. Tze-wan Kwan: Die hermeneutische Phänomenologie und das tautologische Denken Heideggers, S. 36–37. 504 Vgl. „[D]er Zweck der gegenwärtigen Erörterung aber ist, zu zeigen, daß alle als Gegenstand der sogenannten Weisheit (sophia) die ersten Ursachen (prota aitia) und Prinzipien (archai) ansehen“ (Aristoteles: Aristoteles Metaphysik. Übers. von Hermann Bonitz. München 1966, Α.1, 981b28).
227 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
griffe oder Husserls Intentionalität. Das Verständnis im klassischen Sinn bezieht sich auf eine Vorhandenheit beziehungsweise eine vorhandene Beziehung, die in einer vorfindlichen, bestimmten und thematisierten Subjekt-Objekt-Beziehung vorgestellt wird. Zum anderen tritt das Seinsverständnis als eine vage, durchschnittliche und unbestimmte Zuhandenheit in Erscheinung.505 Es bildet einen Verständnishorizont, innerhalb dessen Seiendes erscheinen kann und verstanden wird. Es dient als ein Hintergrund, der unauffällig ist, aber das Verständnis und die Auslegung möglich macht. Außerdem ist das Seinsverständnis nicht selbst ein Seiendes und kann ebenso wenig durch die Rückführung auf ein anderes Seiendes erklärt werden. Es kann nicht durch eine regressive oder reduktive Methode begriffen werden, weil es eine Zirkelstruktur erhält, die zur Struktur des Sinns gehört: Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis, in dem sich eine beliebige Erkenntnisart bewegt, sondern er ist der Ausdruck der existenzialen Vor-struktur des Daseins selbst. Der Zirkel darf nicht zu einem vitiosum und sei es auch zu einem geduldeten herabgezogen werden. In ihm verbirgt sich eine positive Möglichkeit ursprünglichsten Erkennens, die freilich in echter Weise nur dann ergriffen ist, wenn die Auslegung verstanden hat, daß ihre erste, ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern.506 Das Seinsverständnis als eine existenziale „Vor-struktur“ des Daseins geht der erkenntnistheoretischen Erkenntnis voraus. Diese Struktur des Sinnes ist ein Phänomen in der existenzialen Verfassung des Daseins und ist im auslegenden Verstehen verwurzelt. Es ist eine hermeneutische Zirkelstruktur, die nicht auf das klare und deutliche Einzelprinzip reduziert werden kann. Stattdessen ist es eine vorgängige ontologische Struktur des Daseins, die ontologisch einen Vorrang in der Erkenntniskonstitution beziehungswiese der Sinnkonstitution erhält. In diesem Sinne geht die ontologische Subjektivität immer der erkenntnismäßigen Subjektivität voraus. Deswegen kann man den Umstand auch so verstehen, dass durch die Kantdeutung Heideggers die Ontologie wiederum der Epistemologie vorausgeht und die Bedeutung der Metaphysik den Vorrang in der Philosophiege-
505 Vgl. SZ, S. 5. 506 SZ, S. 153.
228 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
4.1 Die innere Spannung zwischen den philosophischen Ansätzen Kants und Heideggers
schichte wiedergewinnt. Heidegger kehrt die durch Descartes-Kant-Husserl begründete Tradition der Philosophie der Subjektivität um. Ich nenne diese Umkehrung die „kopernikanische Wende Heideggers“.
4.1.2.1 Steht die kopernikanische Wende Heideggers notwendig mit der Grundeinsicht Kants im Widerspruch? Aus der Perspektive eines Kantianers kann man erkennen, dass diese kopernikanische Wende Heideggers grundsätzlich der Zielsetzung der kritischen Philosophie Kants widerspricht, da die Hauptaufgabe der kritischen Philosophie in einer Argumentation der Letztbegründung der menschlichen Erfahrung liegt. Aufgrund dieser Argumentation kann man eine kritische Begründung der erkennenden, moralischen, ästhetischen usw. Erfahrungen erhalten und dann auf dieser Begründung das allgemeine Erkenntnissystem des Menschen mit Zuversicht aufbauen. Deswegen scheint es so, dass Heideggers Kantdeutung in der Tat die wahren kantischen Einsichten sogar die Philosophie Kants selbst zerstört. Steht die kopernikanische Wende Heideggers notwendig im Widerspruch zu der Grundeinsicht Kants? Ja und nein. Die Antwort ist ja, wenn die Zielsetzung und die Leistung der kritischen Philosophie nur als eine Errichtung der einzelnen Methodologie der Erkenntnislehre konzipiert werden. Für einige Kantgelehrte betrifft die kritische Philosophie nur die „Formen“ des Denkens.507 Die Kritik dieser Formen dient nicht nur als
507 Als einem Vertreter des Neukantianismus ist für Alois Riehl die Philosophie keine Weltanschauungslehre, sondern vor allem Kritik der Erkenntnis. Diese Grundeinstellung zur Philosophie Kants kann in der Erklärung der Bedeutung der kritischen Philosophie gesehen werden. Vgl. im Folgenden (die Hervorhebungen im Zitat sind von mir): „Weniger glanzvoll als die moderne Wissenschaft und die ihrer Bahn folgenden philosophischen Systeme hat sich die kritische Philosophie, wie wir sie nach dem Vorgange Kants nennen, in die Geschichte eingeführt. Ihre Fragen sind nicht geeignet, Sinn und Einbildungskraft gefangenzunehmen, sie erscheinen wie dem Leben abgewandt und der Wirklichkeit fremd. Diese Philosophie verheißt uns weder, uns in die Weiten kosmischer Räume zu führen, noch uns einen Einblick in das Wesen der Natur zu eröffnen. Sie richtet die Betrachtung auf das erkennende Subjekt, und indem sie es der Wissenschaft überläßt, die Dinge zu erforschen, untersucht sie den Verstand, der die Dinge begreifen will. Sie bereichert nicht den Inhalt unserer Kenntnisse; sie sucht Form und Wert der Erkenntnis als solcher zu bestimmen. Darum ist sie auch nicht eigentlich forschend, sondern beurteilend, das heißt eben kritisch. Die Sokratische Weisheit des Nichtwissens,
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Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
Ausgangpunkt, von dem aus die Erklärung dieser Formen das Erkenntnissystem aufgebaut werden kann, sondern auch als Endpunkt, durch den alle Möglichkeiten der menschlichen Erfahrungen innerhalb des kritischen Systems erklärt werden können. Die Antwort ist nein, wenn wir die kritische Philosophie und das transzendentale System als ein offenes und unerledigtes Projekt verstehen. Die kantische Philosophie zielt nicht im Voraus auf die Errichtung einer Erkenntnistheorie, obwohl sie ebenfalls nicht notwendig eine Fundamentalontologie anstrebt. Sie soll nicht nur als eine Methodologie, sondern auch als eine Denkweise mit Inhalt konzipiert werden. Freilich hat die kritische Philosophie einen eigenen Inhalt, mit dem Kant sein Verständnis des Menschen darstellt und damit die Frage nach dem Menschen („Was ist der Mensch“) beantwortet. In diesem Sinn soll die kritische Philosophie und die transzendentale Methode nicht als der terminus ad quem, sondern nur als ein terminus a quo der Philosophie Kant betrachtet werden. Mit dieser Einsicht ist die Philosophie Kants überhaupt ein offenes philosophisches System, ein unvollendetes Projekt, durch das wir die Richtung einer Fragestellung nach dem Sinn des Menschen erhalten können. Sie erlaubt den Kantianern, sie zu erörtern, den Kantnachfolger, sie zu entwickeln und den Kantdeutern, sie zu deuten.508 Aufgrund meiner Unterscheidung (vgl. Abschnitt 1.4) nenne ich Heidegger einen Kantdeuter statt einen Kantianer oder Kantnachfolger, da seine Kantdeutung schlechthin unter seinem eigenen leitenden Problembewusstsein durchgeführt wird. Demzufolge könnte dies der Grund sein, warum viele Kantgelehrte denken, dass seine Kantdeutung weniger Referenzwert – im Sinne eines Fortschrittes der Kantforschung – hat. Diese Einstellung führt zur Ablehnung der Einsichten der Kantdeutung Heideggers, obwohl seine Einsichten in der Tat zur Kantforschung in vielen Aspekten beitragen können. Kann Heideggers Kantdeutung nur als eine Aneignung oder eine Annexion der Philosophie Kants gesehen werden? Der Schlüssel liegt in unserer Orientierung des Problems. Nach der ausführlichen Erläuterung seiner Kantdeutung in den bisherigen Kapiteln sollten wir verstehen, dass in Fragen, die den Umkreis der Erfahrung überschreiten, ist ihre Maxime. Sie will das Wissen von der Beimischung metaphysischer Konzeptionen reinigen, von seinem Bereich diese überschwenglichen Begriffe ausschließen“ (Alois Riehl: Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart. 6. Aufl., Wiesbaden 1921, S. 47). 508 Zum Unterschied zwischen Kantianer, Kantnachfolger und Kantdeuter vgl. Abschnitt 1.4.1.
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4.1 Die innere Spannung zwischen den philosophischen Ansätzen Kants und Heideggers
Heidegger hauptsächlich nicht ein kantisches Problem weiterentwickeln, sondern eine Lesart der Philosophie Kants umdeuten will, um so ein philosophisches Gespräch zu ermöglichen. Diese Umdeutung führt zu seiner Kritik an Kant hinsichtlich des sogenannten Zurückweichens vor der Einbildungskraft. Diese Kritik führt uns in eine neue Richtung, nämlich die Fundamentalontologie auf dem Boden einer Vereinigung der beiden philosophischen Einsichten aufzubauen. Aus der Perspektive Heideggers ist diese Vereinigung durch die Modifikation einiger philosophischer Voraussetzungen Kants möglich. Dies ist eigentlich der Ort der sogenannten „Gewalt“ seiner Deutung. Im Folgenden werden wir zunächst diese „gewaltsame“ Modifikation diskutieren, dann werden wir davon sprechen, wie und wofür eine Vereinigung der beiden Philosophien sein soll.
4.1.3 Heideggers Modifikation der philosophischen Einsichten Kants Nachfolgend werden wir die drei Dimensionen der heideggerschen Modifikation der philosophischen Einsichten Kants – Wahrheitsbegriff, Weltbegriff und Selbstbegriff – diskutieren. Durch die Analyse dieser Modifikationen kann man einerseits die Vereinbarkeit und die Unvereinbarkeit zwischen der kantischen und heideggerschen Philosophie eruieren, anderseits die von Heidegger aufgestellte Herausforderung hinsichtlich der Tradition der Philosophie der Subjektivität beobachten. Normalerweise versteht man die „Modifikation“ im negativen Sinne. Die Modifikation einer anderen philosophischen Einsicht bedeutet eine Veränderung des Wesens oder sogar eine Verzerrung und Aneignung der anderen Philosophie. Wenn jedoch Heidegger als ein Kantdeuter anstatt eines Kantianers oder eines Kantnachfolgers wahrgenommen wird, dann können wir die Beiträge seiner Kantdeutung aus der Perspektive der Philosophie im Allgemeinen noch anerkennen. In den folgenden Abschnitten werden wir erkennen, dass Heidegger durch die Modifikation der philosophischen Einsichten Kants versuchte, eine Vereinigung zwischen der kantischen Philosophie und seiner eigenen zu fördern. Diese Vereinigung ist nicht einfach eine Verzerrung oder eine Aneignung der kantischen Philosophie. Sie ist vielmehr ein Versuch, durch den die Möglichkeit einer philosophischen Fundamentalontologie eröffnet werden kann.
231 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
4.1.3.1 Der Wahrheitsbegriff: Transzendentale Wahrheit versus ontologische Wahrheit Die erste Dimension betrifft die Begriffe der Wahrheit und Erkenntnis. Anhand der Darstellung der zweiten Hauptthese (T2) können wir die Absicht Heideggers erkennen, dass er grundsätzlich eine erkenntnistheoretische Lesart der kantischen Philosophie ablehnt. Der Vorrang der Anschauung drückt die Idee aus, dass das unbestimmte Erkenntniselement im Falle der menschlichen Endlichkeit dem bestimmten Element vorausgeht. Das sinnliche Konstitutionselement ist ursprünglicher als das verständliche. Heidegger lehnt sogar die Möglichkeit ab, dass Anschauung und Denken gleichursprünglich in der Überlegung in Bezug auf die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis sind. Diese Denkrichtung führt zu der Annahme, dass die erkenntnistheoretische Subjektivität nicht mehr die erste oder letzte Stelle in der Sinnkonstitution einnehmen kann, da die sinnlichen beziehungsweise existenzialen Elemente ursprünglicher und im gewissen Sinne entscheidender sind. Durch seine Darstellung in SZ und seine Umdeutung der ontologischen Bedeutung der KrV geht dieses befindliche, existenziale Element dem transzendentalen Element voraus. Der Anwendungsbereich der kantischen Philosophie ist also tatsächlich im Rahmen der Seinsfrage „erweitert“ worden. Die Suche nach der ontischen Wahrheit kann jetzt eine ontologische Begründung erhalten, die von der Vorstruktur der ontologischen Erkenntnis, nämlich durch das Seinsverständnis, abgesichert ist. In diesem Sinne erweitert Heidegger die kantische Bedeutung des apriorischen Verständnisses zu einem vorgängigen und befindlichen Seinsverständnis. Die menschliche Erkenntnis wird nicht mehr durch die erkennende Subjektivität, wie die res cogitans, als reine Apperzeption oder transzendentales Ego begründet und auch begrenzt. Obwohl er immer das traditionelle Verständnis des Begriffs „Grund“ bezweifelt, ist die „Letztbegründung“ des Verständnisses tatsächlich beim frühen Heidegger durch das „vage und durchschnittliche“ Seinsverständnis ersetzt worden.509 Dies ist eine Modifikation der kantischen „Letztbegründung“, das heißt, das dunkle und vage Seinsverständnis „gründet“ den „klaren und deutlichen“ „archimedischen Punkt“ der Subjektivität beim Problem des Grundes der Sinnkonstitution beziehungsweise der Seinsverfassung. Dies ist auch die Konsequenz der „kopernikanischen Wende Heideggers“. Um eine andere Perspektive einzunehmen, können wir diese Modifikation durch seine Diskussion der Wahrheit in der späteren Periode betrach509 Vgl. SZ, § 2, S. 4–8.
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4.1 Die innere Spannung zwischen den philosophischen Ansätzen Kants und Heideggers
ten. In Vom Wesen des Grundes510 schreibt Heidegger über das Problem des Grundes. Er weist klar daraufhin, dass der Satz vom Grunde beziehungsweise das Problem des Grundes die zentrale Rolle in der KrV sowie in der ganzen kantischen Philosophie einnimmt.511 Die Suche nach dem letzten oder obersten Satz oder Prinzip ist eigentlich die Frage nach der Letztbegründung der menschlichen Erkenntnis und sogar nach dem Wesen der Vernunft. Er zeigt auf, dass „[a]lle Wesenserhellung als philosophierende, d. h. als eine zu innerst endliche Anstrengung immer auch notwendig für das Unwesen zeugen [muß], das menschliche Erkenntnis mit allem Wesen treibt.“512 Mit anderen Worten, er ist der Meinung, dass die Suche nach der Letztbegründung und dem „Wesen“ eigentlich vom „Unwesen“ begründet wird. Unwesen ist ontologisch ursprünglicher als Wesen. Durch die Einführung der „ontologischen Differenz“ können wir die ontische von der ontologischen Wahrheit unterschieden. Seit Aristoteles über Leibniz bis Kant spricht man von einer „Aussage-(Satz)wahrheit“513, die in einer Subjekt-Prädikat-Beziehung dargestellt wird. Diese Wahrheit wird durch die Einstimmigkeit zwischen Subjekt und Prädikat bestimmt, aber sie ist eine „abgeleitete“ Wahrheit. Der ursprünglichere Grund dieser Wahrheit soll eine vorprädikative Wahrheit sein, die von der Aussagenlogik unabhängig ist: „Die Satzwahrheit ist in einer ursprünglicheren Wahrheit (Unverborgenheit), in der vorprädikativen Offenbarkeit von Seiendem gewurzelt, die ontische Wahrheit genannt sei.“514 Diese ursprünglichere, ontologische Wahrheit unterscheidet sich durch die vorprädikative Art und Weise von der ontischen Wahrheit und es ist außerdem zu sagen, dass die „Enthülltheit des Seins [] erst Offenbarkeit von Seiendem [ermöglicht].“515 Die zwei Arten der Wahrheit, nämlich die ontische und ontologische Wahrheit, vermitteln auch eine Erklärung des Begründungszusammenhangs zwischen der kantischen Erkenntnis und Heideggers Seinsverständ-
510 Martin Heidegger: Vom Wesen des Grundes (1929). In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 9 Wegmarken (1919–1961). Hg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. 3. Aufl., Frankfurt/Main 2004 (GA 9), S. 123–175. Im Folgenden abgekürzt mit VWG. 511 „So hat Kant scheinbar dem »Satz vom Grunde« ein geringes Interesse entgegengebracht, wenn er ihn auch sowohl am Beginn seines Philosophierens als auch gegen Ende ausdrücklich erörtert. Und doch steht er im Zentrum der Kritik der reinen Vernunft“ (VWG, S. 125). 512 VWG, S. 126. 513 Ebd., S. 129. 514 Ebd., S. 130. 515 Ebd., S. 131.
233 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
nis. Durch diese Perspektive erklärt er, warum seine Auffassung von Wahrheit seiner Kantdeutung angepasst werden kann. Denn für Heidegger hat Kant tatsächlich in der KrV den Satz vom Grunde untersucht. Kant hat im Umkreis und auf der Ebene der ontologischen Fragestellung nachgefragt, was überhaupt zum Sein des Seienden gehört (vgl. T1). Daher beurteilt er Kants Vorgehen wie folgt: „Er gibt eine Realdefinition der transzendentalen Wahrheit, d. h. er bestimmt ihre innere Möglichkeit durch die Einheit von Zeit, Einbildungskraft und »Ich denke«.“516 In Heideggers Augen hat er, selbst mindestens vor 1930, mit Kant die entscheidende Gemeinsamkeit, sich auf der Suche nach den Möglichkeitsbedingungen des Seins des Daseins zu befinden. Beide legen den Zugang zur Seinsfrage überhaupt frei – durch die Analyse der Möglichkeitsbedingungen des menschlichen beziehungsweise des daseinsmäßigen Verständnisses. Was Kant nicht vollendet hat, ist, eine radikale Erklärung des Ursprungs der transzendentalen Verstandesbegriffe zu geben. In der KrV hat Kant den „Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe“, nämlich die methodologische Beschreibung des Ursprungs der Urteilstafel und Kategorientafel, gegeben. Jedoch hat für viele Kantforscher Kant selbst keine ausreichende Begründung dieses Leitfadens angeboten. Daher ist es fraglich, ob die reinen Verstandesbegriffe als die Letztbegründung der Erfahrungskonstitution konzipiert werden sollten.517 Eine andere Meinung über die Letztbegründung liegt in der beherrschenden Stellung der transzendentalen Apperzeption vor. Die transzendentale Apperzeption als reines Bewusstsein stellt die höchste Einheit aller Vorstellungen dar und in diesem Sinne begründet sie alle Elemente der Erkenntniskonstitution. Aus dieser Perspektive wird das Subjekt beziehungsweise die Subjektivität zum höchsten und ersten Prinzip der kantischen Philosophie. Gleichzeitig wird sie das Fundament der Wahrheit, weil ihre Selbstständigkeit und Selbstbegründung den Ausgangspunkt einer Subjekt-Objekt-Beziehung, nämlich des propositionalen Wissens, versichert. Somit wird die Subjektivität als der Letztgrund der Wahrheit in der neuzeitlichen abendländischen Philosophie interpretiert, besonders vor dem Hintergrund des Schwindens des Glaubens an Gott. So schreibt er in Vom Wesen der Wahrheit:
516 Ebd., S. 136. 517 Der Mangel der Rechtfertigung des Ursprungs der Verstandesbegriffe ist ein Hauptthema in der Philosophie Kants, das nicht nur für europäische Philosophen, sondern auch für asiatische Philosophen wie Mou Zongsan wichtig ist. Vgl. Appendix dieser Arbeit.
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Bei dieser Wesensdeutung der Philosophie blickt Kant, dessen Werk die letzte Wendung der abendländischen Metaphysik einleitet, in einen Bereich hinaus, den er gemäß seiner metaphysischen Grundstellung in der Subjektivität zwar nur aus dieser begreifen konnte und als Selbsthalten eigener Gesetze begreifen mußte.518 Was Heideggers hier vollzogen hat, ist eine tiefgreifende Modifikation des Grundes der kritischen Philosophie. Die transzendentale Wahrheit wird durch die ontologische Wahrheit ersetzt, oder genauer gesagt: Die ontologische Wahrheit, die durch die vorprädikative Offenbarkeit erkennbar ist, begründet die transzendentale Wahrheit, die in den prädikativen Urteilen verwurzelt ist.519
4.1.3.2 Welt- und Selbstbegriff: Das subjektive Transzendentale versus daseinsmäßige Transzendenz Die zweite bedeutende Modifikation liegt im Begriff Subjekt und der Bezugsform zwischen dem Subjekt und der Welt. In den frühen Schriften benutzt Heidegger noch den Begriff des „Subjekts“ oder den des „menschlichen Daseins“, aber ab SZ verwendet er ausdrücklich „Dasein“, womit er sich von der traditionellen Denotation des Subjekts beziehungsweise der Subjektivität unterscheidet. Es ist jedoch bemerkenswert, dass dies nicht bedeutet, dass Dasein und Subjekt in allen Kontexten austauschbar sind: Wählt man für das Seiende, das wir je selbst sind und als »Dasein« verstehen, den Titel »Subjekt«, dann gilt: die Transzendenz bezeichnet das Wesen des Subjekts, ist Grundstruktur der Subjektivität. Das Subjekt existiert nie zuvor als »Subjekt« um dann, falls gar Objekte vorhanden sind, auch zu transzendieren, sondern Subjektsein heißt: in und als Transzendenz Seiendes sein.520
518 Martin Heidegger: Vom Wesen der Wahrheit (1930). In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 9 Wegmarken (1919–1961). Hg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. 3. Aufl., Frankfurt/Main 2004 (GA 9) S. 177–202, hier S. 200. Im Folgenden abgekürzt mit VWW. 519 Für das Verständnis der Änderung zwischen dem frühen und späteren Denken Heidegger ist der Abschnitt „Der Wahrheitsbegriff im Übergang zu Heideggers späterem Denken“ im Buch Tugendhats lesenswert. Ernst Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger. 2. Aufl., Berlin 1970, S. 363–386. 520 VWG, S. 137–138.
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Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
In gewissem Sinne kann das Dasein als das Subjekt verstanden werden. Es ist der Voraussetzung zuzustimmen, dass das Subjekt kein leeres, weltloses Subjekt ist. Dieses Subjekt ist in die Welt geworfen und konstituiert immer sein Sein in seiner Transzendenz. Die Transzendenz als das konstitutive Element der Welt des Subjekts kann in diesem Sinne als das Wesen des Subjekts, sogar der Subjektivität konzipiert werden. Die Transzendenz ist die vor aller Verhaltung geschehende Grundverfassung des Daseins (des Seienden)521, sie ist die Grundstruktur der Weltkonstitution. In KPM (vgl. Abschnitt 3.6.3) stellt Heidegger bereits die innere Beziehung zwischen Transzendenz und Selbstheit dar, wie man aus der Diskussion von T6 im Einzelnen ersehen kann. In VWG äußert er sich explizierter: „Die Transzendenz konstituiert die Selbstheit.“522 Diese Selbstkonstitution geschieht im Vollzug des Überstiegs des Selbst, der auf ein „Woraufhin“ des Daseins hinauswill. Das Dasein transzendiert in eine eigene Richtung, aber es kann nicht „außer“-halb der Welt übersteigen. Mithin ist Transzendenz immer innerweltlich. Es ist erkennbar, dass sich Transzendenz und Welt für Heidegger wechselseitig begründen. Mit der Transzendenz kann man sich weiter auf die Welt beziehen und sie konstituieren, umgekehrt kann man sich auf diese Ganzheit hin transzendieren – die Welt als eine Ganzheit begründet im Voraus das „Woraufhin“ des Daseins. Daher sagt er: „Wir nennen das, woraufhin das Dasein als solches transzendiert, die Welt und bestimmen jetzt die Transzendenz als In-der-Welt-sein. Welt macht die einheitliche Struktur der Transzendenz mit aus; als ihr zugehörig heißt der Weltbegriff ein transzendentaler.“523 Heidegger versteht das „Transzendentale“ Kants durchaus richtig, dass es sich nämlich nicht auf etwas, das „überfliegt“, bezieht, sondern auf die Möglichkeit beziehungsweise das „Ermöglichende“ – denn sonst wäre für Kant die Transzendenz etwas, das „überfliegt“.524 In diesem Sinne scheint es so, dass das Transzendentale Kants einen geringen Unterschied zur Transzendenz Heideggers aufweist. Allerdings gibt es tatsächlich einen wesentlichen Unterschied in der Hinsicht, dass Kant die Welt nicht als eine konstitutive Struktur des menschlichen Daseins versteht, sondern als eine Totalität der Gegenstände, die sich vom Subjekt oder dem Ich-Bewusstsein unterscheidet, das heißt aber, dass diese Auffassung der Beziehung zwi-
521 522 523 524
Vgl. ebd., S. 137. Ebd., S. 138. Ebd., S. 139. Vgl. ebd., S. 137–140.
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4.1 Die innere Spannung zwischen den philosophischen Ansätzen Kants und Heideggers
schen dem Ich und der Welt noch auf einer ontischen Ebene steht. Wenn man jedoch „eine[] radikalere[] und universalere[] Fassung des Wesens der Transzendenz“ haben möchte, dann muss man „notwendig eine ursprünglichere Ausarbeitung der Idee der Ontologie und damit der Metaphysik zusammen“ durchführen.525 Mit anderen Worten, Heidegger ist der Meinung, dass wir Kants Begriffen des Transzendentalen und der Welt eine ontologische Deutung geben müssen. Der Schlüssel dazu liegt zuerst in einer Umwendung der Bedeutung von Welt. Heidegger zeigt auf, dass mit der Darlegung Kants die Welt nicht mehr als „die Allheit des gerade vorhandenen Seienden“ bedeutet.526 Darum besagt „Transzendenz als In-der-Welt-sein“ auch nicht „Transzendenz als In-der-Allheit-des-Seienden-sein“, sondern eine Wesensverfassung der Welt des Daseins.527 Nach Heideggers Analysis spricht Kant bereits in der „Dissertation von 1770“, in der sich die einleitende Kennzeichnung des Begriffes „mundus“, das heißt des Weltbegriffs, noch ganz im traditionellen Rahmen bewegt, eine Schwierigkeit im Weltbegriff an, die dann später in der KrV zu einem Hauptproblem verschärft und ausgeweitet wird.528 Kurz gesagt, der Weltbegriff wird nicht mehr bloß als die Allheit des Seienden konzipiert. Laut Heidegger hat Kant schon die Umwendung des Weltbegriffs durchgeführt, die sich auf eine ursprünglichere ontologische Interpretation des Weltbegriffs bezieht.529 Durch Kants Umwendung wird der Weltbegriff eine Idee, die die Vorstellung einer unbedingten Totalität ausdrückt. Diese Idee ist doppeldeutig. Heidegger beschreibt sie wie folgt: Sie kann einmal besagen: innerhalb der Erfahrung das in ihr Gegebene als solches, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, überschreiten. Das gilt von der Vorstellung »Welt«. Dann aber heißt Transzendenz: aus der Erscheinung als endlicher Erkenntnis überhaupt heraustreten und das mögliche Ganze aller Dinge als »Gegenstand« des intuitus originarius vorstellen. In dieser Transzendenz erwächst das transzendentale Ideal demgegenüber Welt eine Einschränkung darstellt und zum
525 Ebd., S. 139–140. 526 Ebd., S. 141. 527 Vgl. „Dem Dasein das In-der-Welt-sein als Grundverfassung zusprechen, heißt, etwas über sein Wesen (seine eigenste innere Möglichkeit als Dasein) aussagen“ (VWG, S. 141). 528 Vgl. „Dieses »Kreuz« lastet im nächsten Jahrzehnt auf Kant; denn in der Kritik der reinen Vernunft wird gerade diese »universitas mundi« zum Problem, und zwar in mehrfacher Hinsicht“ (VWG, S. 147). 529 Vgl. ebd., S 151.
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Titel der endlichen, menschlichen Erkenntnis in ihrer Totalität wird. Der Weltbegriff steht gleichsam zwischen der »Möglichkeit der Erfahrung« und dem »transzendentalen Ideal« und bedeutet so im Kern die Totalität der Endlichkeit menschlichen Wesens.530 Diese Zusammenfassung zeigt die wichtigste Bedeutung der kantischen Umwendung des Weltbegriffs auf: Die Welt wird verinnerlicht und subjektiviert. Die Welt als die Vorstellung einer unbedingten Totalität deutet einerseits die Möglichkeit der menschlichen Erfahrung beziehungsweise des Phänomens an, anderseits das transzendentale Ideal, nämlich eine unerreichbare Totalität der Erfahrung. Dies zusammen konstituiert die Grenze der menschlichen Erfahrung: eine unerfahrbare Erfahrbarkeit. Aus einer anderen Perspektive betrachtet, zeigt dieser Weltbegriff auch die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis und Erfahrung auf. Außer dieser Umwendung, das heißt der Subjektivierung der Welt, hat Kant, nach Heideggers Deutung, noch die existenzielle Dimension in den Weltbegriff eingeführt. Der Unterschied zwischen „Weltkenntnis“ und „Schulwissen“, mit dem Kant dann den Begriff der Philosophie nach dem „Schulbegriff“ und nach dem „Weltbegriff“ entwickelt, bringt die existenzielle Bedeutung des Weltbegriffes hervor. Dementsprechend bedeutet Welt „nicht ein bloßer regionaler Titel, der die Gemeinschaft von Menschen bezeichnete im Unterschied von der Allheit der Naturdinge, sondern Welt meint gerade die Menschen in ihren Bezügen zum Seienden im Ganzen“.531 Bei Kant transformiert sich der Weltbegriff in einen subjektivierten und ontologischen Begriff, der schon auf die Implikation der Seinsverfassung des Daseins hindeutet. Der Weltbegriff wird nicht mehr als ein äußeres Objekt der Erkenntnis, sondern als ein konstitutives Moment des Subjekts konzipiert. Die Welt bezieht sich bei Kant auf ein Strukturganzes der möglichen Erfahrung eines Subjekts. Dieses Strukturganze ist gleichzeitig ein logischer und ontologischer Raum, in dem die Gegenstände für uns erkennbar und möglich sind. Darauf aufbauend entwickelt Heidegger die innere Beziehung zwischen der Welt und der Transzendenz des Daseins. Die Beziehung zwischen der Welt und der Transzendenz des Daseins ist nicht die gleiche wie die Beziehung zwischen der Welt und dem transzendentalen Vermögen des Subjekts. Kant betrachtet die Welt, die sich immer auf eine Subjekt-Objekt-Beziehung bezieht, als einen Gegenstand des Erkenntnissubjekts und das
530 Ebd., S 152. 531 Ebd., S. 155.
238 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
4.1 Die innere Spannung zwischen den philosophischen Ansätzen Kants und Heideggers
transzendentale Vermögen als die Möglichkeitsbegründung, die die ontische Erkenntnis begründet. Auf der anderen Seite ist die Welt für Heidegger nicht ein Erkenntnisobjekt, sondern ein daseinsmäßiges ontologisches Strukturganzes, das vor einer Subjekt-Objekt-Beziehung steht. Nur mit und in diesem Ganzen kann die Transzendenz des Daseins durchgeführt werden. Deswegen bestimmt Heidegger die Transzendenz als ein Inder-Welt-sein. Im Anschluss an das oben Angeführte hat Heidegger nicht nur den Weltbegriff Kants, sondern auch die Basis der transzendentalen Tätigkeit ersetzt. Die Welt lässt sich nicht mehr als ein stillstehender Gegenstand verstehen, sondern hat eine dynamische geschichtliche Struktur, die die Möglichkeit eröffnet, die Welt des Daseins zu „welten“, also die eigene Welt beizubehalten und gleichzeitig weiter zu konstruieren. Nur durch die Transzendenz des Daseins kann das Dasein „zu ihm als ihm selbst sein“532, mit anderen Worten, das Dasein kann durch seinen eigenen Willen frei sein.533 Aus diesem Grunde deutet die Transzendenz auf die Freiheit beziehungsweise auf den freien Willen des Daseins hin. Dieser Wille kann „nicht ein bestimmtes Wollen sein, ein »Willensakt« im Unterschied zu anderem Verhalten (z. B. Vorstellen, Urteilen, Sichfreuen)“534, sondern er ist ein „Umwillen“. Nur in einem Willen kann das Dasein sein Umwillen bilden und daher sich für sein eigenes Sein entwerfen. Dies ist ein Geschehen, in dem das Dasein seine Welt „übersteigt“ und durch diesen Überstieg zur Welt wird die Freiheit hervorgebracht. Deswegen sagt Heidegger: „Der Überstieg zur Welt ist die Freiheit selbst.“535 und „[a]lle Verhaltungen sind in der Transzendenz verwurzelt“.536 Diese Transzendenz und die Welt des Daseins gestalten zusammen die Erklärung der Ermöglichung der Erkenntnistätigkeit. Transzendenz ist in diesem Sinne ontologisch ursprünglicher als die Spontaneität der Erkenntnistätigkeit beziehungsweise das subjektive Transzendentale, weil die Bestimmung der Freiheit als Spontaneität von einer Art von Kausalität abhängig ist.537 Für Heidegger gilt: „Transzendenz heißt Weltentwurf, so zwar, daß das Entwerfende vom Seienden, das es übersteigt, auch schon gestimmt
532 533 534 535 536 537
Ebd., S. 163. Vgl. ebd., S. 163. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 164.
239 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
durchwaltet ist.“538 Transzendenz ermöglicht die Seinsverfassung der Welt des Daseins.
4.1.4 Die „Kehre“ als Abkehr vom Subjektivitätsansatz und der Transzendentalmethode Durch die Modifikationen der Einsichten Kants kann Heidegger organisch die kantische Philosophie mit seinem Problembewusstsein zusammenfügen. Diese Modifikation führt zur Kritik der Kantgelehrten und dem Verdikt, dass Heideggers Kantdeutung in irgendeiner Weise unkantisch sei. Diese Kritik ist aus der Perspektive der Kantianer vernünftig. Doch es ist interessant, dass es nur wenige gibt, die umgekehrt dazu fragen, ob Heideggers Kantdeutung „echt“ oder „rein“ heideggersch ist und inwieweit diese Deutung seinen frühen philosophischen Entwurf beeinflusst hat. Aus meiner Sicht stellt seine Kantdeutung ihn vor die große Erwägung, ob er auf den Subjektivitätsansatz vollständig verzichten muss oder nicht. In SZ kündigt Heidegger an, dass die Seinsfrage die Leit- und Letztfrage des ganzen Schreibvorhabens sei. Trotzdem schreibt er in SZ zum Großteil nur von der Analytik des Daseins, die für die notwendige Vorbereitung der Seinsfrage überhaupt steht. Dieser Schreibansatz kreiert den festen, aber nicht notwendig richtigen Eindruck, dass der frühe Ansatz Heideggers einen geringeren Unterschied zum Subjektivitätsansatz und Spontaneitätsansatz Kants und zum Ansatz der Subjektphilosophie (beispielsweise der Existenzphilosophie, die manchmal fälschlicherweise dem französischen Existentialismus zugeordnet wird) hat. Heidegger hat in späterer Zeit beklagt, dass die Absicht und die Einsicht von SZ falsch gelesen und missdeutet wurden.539 Dieser Eindruck spielt eine wesentliche Rolle. Ist dieser Eindruck gänzlich unvernünftig? Nicht zwangsläufig. In gewisser Hinsicht ist Heidegger selbst dafür verantwortlich. Wie wir in den obigen Abschnitten und im zweiten Kapitel gezeigt haben, hat er den transzendentalen Ansatz von Kant und Husserl nicht vollständig verlassen. Jedoch wird mehr und mehr seine Ablehnung des Subjektivitätsansatzes und
538 Ebd., S. 166. 539 Ein Beispiel dafür ist Heideggers Ablehnung der Interpretation Sartres von SZ. Vgl. Martin Heidegger: Brief über den »Humanismus« (1946). In: Heidegger: Wegmarken (GA 9), S. 325–329.
240 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
4.1 Die innere Spannung zwischen den philosophischen Ansätzen Kants und Heideggers
der transzendentalen Methode deutlich. Dies verstärkt den inneren Konflikt seiner Philosophie und führt dann letztlich zu seiner „Kehre“. Was ist der innere Konflikt seiner Philosophie, der ihn zwingt, seinen in SZ und KPM vertretenen Ansatz zu verlassen? Der Konflikt liegt in der Beziehung zwischen „Sein“ und „Zeit“ und der Endlichkeit des Menschen. In SZ hat sich Heidegger dahingehend geäußert, dass die Enthüllung des Sinnes von „Sein“ das letzte Ziel seines ganzen Vorhabens sei. Jedoch ist wegen der theoretischen Strategie die Frage nach dem Sinn von Sein nicht in das Zentrum der Beschreibung von SZ vorgedrungen. Die Vorbereitungsarbeit, nämlich die Daseinsanalyse, als der Ausgangspunkt der Seinsfrage besetzt das Zentrum der Beschreibung in SZ und dies führt zu einem unlösbaren Problem zwischen dem Sinn von Sein und der Endlichkeit des Daseins. Mit Rückschau auf seine spätere Philosophie können wir rekapitulieren, dass Heidegger bereits in seiner früheren Zeit die Idee des „Seins als Ereignis“ hatte. Er hatte schon in früherer Zeit eine Idee bezüglich des Seins („Seyn“ in späterer Zeit), das alles Seiende beherrscht und unterstützt. Allerdings war diese Idee nicht vollentwickelt und seine konzeptuellen Werkzeuge waren noch nicht ausreichend für die Exposition dieser Idee, mithin er damals nur im Rahmen der kantischen und husserlschen Terminologie und Methode bleiben konnte. Die Daseinsanalyse, die grundsächlich auf einer Transzendentalmethode beruht, ist das Merkmal in SZ und seiner Kantdeutung. Ihr folgt als Ergebnis, dass im Vergleich zum „Sein“ als dem Befragten in SZ die Beschreibung der Daseinsstruktur einen unverhältnismäßig großen Raum einnimmt. Aber ein weitaus größeres Problem liegt im Misserfolg der theoretischen Strategie selbst, die versucht, durch die Zeit das Sein zu erklären. Oder genauer gesagt: Durch die Zeit, die alle Phänomene der daseinsmäßigen Existenz ursprünglich ermöglicht und begründet, lässt sich die Vielfältigkeit der Manifestation des Seins vereinigen und erklärbar machen. Allerdings zeigt das Ergebnis aus SZ, dass die Zeit beziehungsweise die Zeitlichkeit vom „Menschen“ hinsichtlich des ekstatischen Phänomens des Daseins abhängig sein muss, denn nur der Mensch kann zeitigen. Mit anderen Worten: Diese theoretische Strategie führt unvermeidlich zum Ergebnis, dass die Tätigkeit des Menschen die Letzterklärung allen Sinns von Sein ist. Der Status des Menschen wird damit noch mehr erhöht, was für Heidegger inakzeptabel ist. Obwohl Heidegger darauf achtet, den Subjektivitätsansatz in seiner Kantdeutung zu vermindern, wird eine ähnliche theoretische Strategie weiter in KPM und in den nachfolgenden Vorlesungen fortgesetzt. Die Modifi-
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Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
kation der kantischen Einsichten kann den kantischen Spontaneitätsansatz vage machen, wiewohl der Subjektivitätsansatz in seiner frühen Philosophie noch stark und leitend ist. Ohne die transzendentale Methode zu verlassen, kann Heidegger in der Tat diesen inneren Konflikt nicht lösen. Das Dasein des endlichen Menschen ist endlich, so dass er nie die echte Bedeutung des Absoluten und der Unendlichkeit völlig erfassen kann. Die theoretische Strategie, die beabsichtigt, durch endliches Dasein den Sinn von Sein ganz und gar zu begreifen, ist eine Sackgasse. Deshalb musste Heidegger eine „Kehre“ in den frühen Dreißigerjahren durchführen und letztlich das Schreibvorhaben von SZ abbrechen. Nur so kann die „Kehre“ als das Symbol der Abkehr vom Subjektivitätsansatz und der transzendentalen Methode seiner Philosophie konzipiert werden.
4.2 Die Implikation der phänomenologischen Kantdeutung Heideggers Nach der Diskussion der inneren Spannung zwischen den philosophischen Ansätzen Kants und Heideggers lenken wir nun die Diskussion wieder zurück auf das Thema der möglichen Beiträge der Kantdeutung Heideggers. Ich möchte mit Blick auf die Auseinandersetzung Heideggers mit Kant und die Modifikation seiner Kantdeutung argumentieren, dass die Einbildungskraft als Orientierungskraft in der Philosophie Kants interpretiert werden kann.
4.2.1 Das theoretische Ergebnis der Kantdeutung Heideggers: Die Sprengung der Vernunft Die innere Spannung zwischen Heidegger und Kant entspricht den unterschiedlichen philosophischen Ansätzen in Bezug auf das Verständnis von Subjekt und Spontaneität. Gerade dies bewirkt wiederum eine unkonventionelle Kantdeutung. Die Besonderheit der Kantdeutung Heideggers, so glaube ich, liegt einerseits in der Ablehnung des Spontaneitätsansatzes und anderseits in der Erhaltung des Subjektivitätsansatzes. Heidegger nimmt in der Tat dem ganzen System der kantischen Philosophie, die auf dem höchsten Stellenwert der Vernunft überhaupt beruht, den Grund weg. Heidegger glaubt, dass dieses Ergebnis Kant selbst schon bewusst war, dass die gemeinschaftliche Wurzel, nämlich der ursprüngli-
242 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
4.2 Die Implikation der phänomenologischen Kantdeutung Heideggers
chere Grund der menschlichen Erkenntnis, die Einbildungskraft sein soll. Dies führt die Grundlegung vor einen „Abgrund“.540 Er urteilt: Kant brachte die „Möglichkeit“ der Metaphysik im Radikalismus seines Fragens vor diesen Abgrund. Er sah das Unbekannte. Er mußte zurückweichen. Denn das allein war es nicht, daß ihn die transzendentale Einbildungskraft schreckte, sondern daß inzwischen die reine Vernunft als Vernunft ihn noch stärker in ihren Bann gezogen hatte.541 Der Abgrund bedeutet die Modifikation oder sogar den Entzug des vernünftigen Grunds als Letztbegründung der menschlichen Erkenntnis und Erfahrung. Die Einbildungskraft als ein sinnliches Erkenntnisvermögen ersetzt die zentrale Rolle der ganzen Begründung der Vernunft überhaupt. Dies bedeutet: „Der Ansatz in der Vernunft ist so gesprengt worden.“542 Als „Abgrund“ oder die „Letztbegründung“ gewinnt die Einbildungskraft ihre Selbstständigkeit als eine dritte Grundquelle des Gemütes und deswegen kann sie sich von der Herrschaft des Verstandes fernhalten, die von Kant durch die Umordnung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Sinnlichkeit, Verstand und Einbildungskraft in der B-Fassung festgesetzt worden ist.543 Die Einbildungskraft liegt nicht „zwischen“ den beiden Stämmen der Erkenntnis, sondern ist deren Wurzel, die die Kluft zwischen reiner Sinnlichkeit und reinem Verstand überbrückt – aber „nicht nur diese, sondern theoretische und praktische Vernunft in ihrer Geschiedenheit und Einheit.“544 Zusammenfassend kann man sagen: Die Umpositionierung der Einbildungskraft beleidigt den Grund des ganzen Systems Kants. Heidegger ist sich der theoretischen Folge seiner Kantdeutung durchaus bewusst. Der Widerspruch der intellektuellen Kantdeutung sogar des Selbstverständnisses der Philosophie Kants führt nicht nur zu einer unkonventionellen Kantdeutung, sondern auch zu „eine[r] radikal[] erneute[n] Enthüllung des Grundes der Möglichkeit der Metaphysik als Naturanlage des Menschen, d. h. eine auf die Möglichkeit der Metaphysik als solche gerichtete Metaphysik des Daseins, die die Frage nach dem Wesen des Menschen stellen muß in einer Weise, die vor aller philosophischen Anthropologie und Kulturphilosophie liegt.“545 Wenn man wie Heidegger auf der
540 541 542 543 544 545
Vgl. KPM, S. 167–168. KPM, S. 168. KPM, Heidegger „Davoser Vorträge“, S. 273. Vgl, KPM, S. 161–162. KPM, Heidegger „Davoser Vorträge“, S. 273. Ebd.
243 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
zentralen Rolle der Einbildungskraft besteht, dann muss man gleichzeitig akzeptieren, dass der Grund und Ausgangspunkt der Orientierung des Menschen beziehungsweise des Daseins nicht mehr die Vernunft, sondern die Einbildungskraft ist.
4.2.2 Kants Orientierungsbegriff: Die Vernunft als der höchste Maßstab der Wahrheit und die ursprüngliche Orientierung im Denken Im Jahr 1786 erscheint in der „Berlinischen Monatsschrift“ ein Text, der sich auf den Streit zwischen Mendelsohn und Jacobi in Bezug auf den „Pantheismusstreit“ bezieht, der die Letztbegründung der philosophischen Vernunft betrifft. Diese Schrift heißt Was heißt: sich im Denken orientieren (Orientierungsschrift) und ihr Autor ist Kant. In dieser Schrift möchte er zeigen, dass die Letztbegründung eines menschlichen Urteils nichts anderes als die reine Menschenvernunft sein kann: weder Jacobis „Glaube“ noch Mendelsohns „Gemeinsinn“, „gesunde Vernunft“, „schlichter Menschenverstand“ und so weiter.546 Nach Kant kann der Letztgrund der Orientierung sowohl des Körpers als auch des Denkens nur in der Vernunft verwurzelt sein. Er beginnt die Verteidigung seiner These mit der Bedeutung des „Sich-Orientierens“ im Verhältnis zur körperlichen Orientierung. „Sich orientieren heißt in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont einteilen) die übrigen namentlich den Aufgang zu finden.“547 Obwohl diese Orientierung von einem äußerlichen Gegenstand abhängt, muss sie zum Subjekt und dem subjektiven Gefühl als „eine[m] subjektiven Unterscheidungsgrund“ zurückführen.548 Kant erweitert diesen geographischen Orientierungsbegriff zu einem mathematischen und logischen und folgert gemäß der Analogie, dass wir auch im Denken „das Gefühl des der Vernunft eigenen Bedürfnisses“549 haben. Dieses Bedürfnis ist ein subjektiver Grund, etwas vorauszusetzen und anzunehmen, was man durch objektive Gründe zu wissen sich nicht anmaßen darf, nämlich beispielsweise den Begriff von Gott.550 Mit diesem Bedürfnis der Vernunft kann man sich im Denken in Anse546 Vgl. Immanuel Kant: Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786). In: Werke: Akademie-Textausgabe, Bd. 8, Abhandlungen nach 1781 (AA 08). Im Folgenden abgekürzt mit WDO, S. 133–134. 547 Ebd., S. 134. 548 Ebd., S. 135. 549 Ebd., S. 136. 550 Vgl. ebd., S. 137.
244 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
4.2 Die Implikation der phänomenologischen Kantdeutung Heideggers
hung des theoretischen und praktischen Gebrauchs orientieren. Kant erkennt bei Mendelssohn an, dass er darauf bestand: „den letzten Probierstein der Zulässigkeit eines Urteils hier wie allerwärts nirgend als allein in der Vernunft zu suchen.“551 Jedoch missverstand er die Quelle der Beurteilung, die „nicht Erkenntnis, sondern gefühltes Bedürfnis der Vernunft“ ist.552 Mit anderen Worten, Mendelssohn interpretierte das subjektive Prinzip der Vernunft (Vernunftglaube) als objektives Prinzip (Vernunfteinsicht) falsch.553 Dies führt ihn zu einem unrichtigen Verständnis des Wesens der Religion und des Begriffs von Gott, der in praktischer Hinsicht als Postulat der Vernunft konzipiert werden soll. Aufgrund des richtigen Verständnisses des Vernunftglaubens ist die Existenz Gottes nicht nur ein theoretisches Bedürfnis der Vernunft, sondern auch ein praktisches, auf das hin sich das Denken in Betrachtung des übersinnlichen Gegenstands orientieren kann. Kant analysiert: Ein reiner Vernunftglaube ist also der Wegweiser oder Kompaß, wodurch der spekulative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientieren, der Mensch von gemeiner, doch (moralisch) gesunder Vernunft aber seinen Weg sowohl in theoretischer als praktischer Absicht dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen vorzeichnen kann; und dieser Vernunftglaube ist es auch, der jedem anderen Glauben, ja jeder Offenbarung zum Grunde gelegt werden muß.554 Wenn wir diesen Wegweiser oder Kompass verlassen, verfallen wir in verschiedene Irrtümer. Er schreibt: „Wenn also der Vernunft in Sachen, welche übersinnliche Gegenstände betreffen, als das Dasein Gottes und die künftige Welt, das ihr zustehende Recht, zuerst zu sprechen bestritten wird: so ist aller Schwärmerei, Aberglauben, ja selbst der Atheisterei eine weite Pforte geöffnet.“555 Die „Schwärmerei“ steht gegen den Begriff der „Aufklärung“, die Kant stets ernsthaft verteidigt. Die Bedeutung der „Aufklärung“ ist für Kant einfach identisch mit dem „Selbstdenken“ und dementsprechend formuliert er: „Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und
551 552 553 554 555
Ebd., S. 140. Ebd., S. 139. Vgl. ebd., S. 140. Ebd., S. 142. Ebd., S. 143.
245 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung.“556 Kurz gesagt: Die Vernunft ist der höchste Maßstab der Wahrheit und der Ursprung unserer Orientierung im Denken. Hier können wir deutlich eine tiefgehende Unvereinbarkeit zwischen der Grundeinstellung Kants und der Absicht der Kantdeutung Heideggers sehen. Wenn Heidegger auf die gründende Rolle der Einbildungskraft in der KrV sogar im ganzen Prozess der Sinnkonstitution besteht, dann führt dies unvermeidlich zum Ergebnis der Inkonsistenz mit dem kantischen Grundgedanken, der den Vorrang der reinen Vernunft behauptet. Wie Heidegger gesagt hat, verursacht die Enthüllung der Einbildungskraft als der Abgrund der Vernunft letztendlich die Sprengung der Vernunft. Dies kann ebenfalls als eine Absage an den Geists der Aufklärung aus der Perspektive der unruhigen Zwanziger- und Dreißigerjahre betrachtet werden.
4.2.3 Heideggers Orientierungsbegriff: Existentialen und Zeitlichkeit Heidegger versteht ganz unzweifelhaft die Implikation seiner Kantdeutung und besteht überdies auf der zentralen Rolle der Einbildungskraft, da er die Herrschaft der Vernunft bezweifelt, insbesondere die leitende Rolle für die Sinnkonstitution beziehungsweise Seinsverfassung des daseinsmäßigen Lebens. Seine Lesart birgt zwar eine Gefahr für die kantische Philosophie, aber sie eröffnet auch einen neuen Weg zu einer phänomenologischen Kantdeutung, die auf dem Sondercharakter der Einbildungskraft in der Philosophie Kants beruht. Im Abschnitt 4.1 habe ich dargestellt, dass Heidegger in verschiedener Hinsicht die philosophischen Einsichten Kants ersetzen möchte, damit seine Philosophie mit dem Einfluss der Transzendentalphilosophie Kants und der Phänomenologie Husserls vereinbart werden kann. Die mehrdimensionalen Modifikationen eröffnen eine neue Perspektive auf die Begriffe Wahrheit, Subjektivität und Grundsachverhalt in den beiden philosophischen Systemen. Allerdings zeigt dieser Versuch auch die wesentliche Spannung zwischen beiden Philosophien auf. Die Grundorientierung in der Philosophie Kants ist die menschliche endliche Vernunft, die in der KrV eine Kraft des Erkennens durch reine Kategorien ist. Diese Grundorientierung, die von der Aussagewahrheit unabhängig ist, bestimmt und limitiert ebenso den Wahrheitsbegriff Kants. Dagegen ist die Grundorientierung in der Philosophie Heideggers die daseinsmäßige endliche Existenzstruktur, nämlich die Seinscharaktere des Daseins die 556 Ebd., S. 146 Anm.
246 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
4.2 Die Implikation der phänomenologischen Kantdeutung Heideggers
Existenzialien, die von der kantischen Bestimmung des Seins durch reine Kategorien verschieden sind. Heidegger erklärt die Bedeutung von Kategorien und Existenzialien in SZ: Alle Explikate, die der Analytik des Daseins entspringen, sind gewonnen im Hinblick auf seine Existenzstruktur. Weil sie sich aus der Existenzialität bestimmen, nennen wir die Seinscharaktere des Daseins Extstenzialien. Sie sind scharf zu trennen von den Seinsbestimmungen des nicht daseinsmäßigen Seienden, die wir Kategorien nennen. Dabei wird dieser Ausdruck in seiner primären ontologischen Bedeutung aufgenommen und festgehalten. […] Das in solchem Sehen Gesichtete und Sichtbare sind die κατηγορίαι. Sie umfassen die apriorischen Bestimmungen des im λόγος in verschiedener Weise an- und besprechbaren Seienden. Existenzialien und Kategorien sind die beiden Grundmöglichkeiten von Seinscharakteren. Das ihnen entsprechende Seiende fordert eine je verschiedene Weise des primären Befragens: Seiendes ist ein Wer (Existenz) oder ein Was (Vorhandenheit im weitesten Sinne). Über den Zusammenhang der beiden Modi von Seinscharakteren kann erst aus dem geklärten Horizont der Seinsfrage gehandelt werden.557 Heidegger hat aufgezeigt, dass die Kategorien und die Existenzialien sich auf zwei verschiedene, aber verbundene Grundmöglichkeiten der Seinscharaktere beziehen. Die Erste, die durch die KrV Kants begründet wurde, bezieht sich auf den λόγος bezüglich der in der intellektuellen Tradition der abendländischen Philosophie verwurzelten Grundorientierung und es betrifft grundsätzlich die Bestimmung des Seins des nicht daseinsmäßigen Seienden, das heißt die Vorhandenheit. Die Zweite, die von Heideggers Phänomenologie entwickelt wurde, bezieht sich auf die Seinsbestimmungen des menschlichen Daseins im Unterschied zu den Kategorien. Die Existenzialen eröffnen das Sein des verstehenden daseinsmäßigen Seienden, das sich als Dasein durch die Weise seines Seinsverhältnisses bestimmt. An dieser Stelle möchte ich diesen Punkt weiter ausarbeiten: Seit der Publikation von SZ hat Heidegger tatsächlich die Theorie der Existenz begründet, die eine ontologische Erklärung der Praxis des daseinsmäßigen Lebens anbietet. Der ursprüngliche Ort dieser Theorie liegt letztlich in der 557 SZ, S. 44–45.
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Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
Analytik von SZ, in der Zeitlichkeit des Daseins, durch die „die Mannigfaltigkeit der Seinsmodi des Daseins“ ermöglicht wird, „vor allem die Grundmöglichkeit der eigentlichen und uneigentlichen Existenz“.558 Alle Sinnkonstitutionen, die durch Sorge möglich sind, müssen ihre Einheit in der Zeitlichkeit finden. „Die ursprüngliche Einheit der Sorgestruktur liegt in der Zeitlichkeit.“559 Anderes gesagt: die Zeitlichkeit ist sowohl die Letztbegründung als auch die Grundorientierung der ganzen Daseinsanalyse. Diese ontologische Erklärung verbindet sich später mit seiner Kantdeutung der KrV und den anderen Texten, die die Wesensverbindung zwischen der Zeit(lichkeit) und der Einbildungskraft aufdecken, und damit enthüllt er die Möglichkeitsbedingung der lebenden Orientierung weiter, die wesentlich auf der Einbildungskraft als der ursprünglichen Zeit beruht. Deshalb kann diese Erklärung in einem weiteren Sinne eine existenziale Orientierung feststellen, die uns durch die existenzial-zeitliche Analyse hilft, unsere Seinsmodi des Lebens und existenziale Situation besser zu verstehen. Daher nenne ich in diesem Sinne die Einbildungskraft die Orientierungskraft. Wir werden dies in der folgenden Erklärung bearbeiten.
4.3 Die auf Einbildungskraft beruhende philosophische Anthropologie Was ich im Folgenden untersuchen werde, sind Implikationen des Vorangegangenen. Zudem möchte ich das Ungesagte der Kantdeutung Heideggers weiter entfalten. Ich bin der Ansicht, dass man durch eine Deutung dieser Formel eine auf sie sich stützende ontologisch-existenziale Sinntheorie des Subjekts konstituieren kann, die auf der inneren Beziehung zwischen Einbildungskraft und Zeit beruht. Diese Theorie baut auf der Schlüsselrolle der Einbildungskraft in der Frage nach dem Sinn von daseinsmäßigem Sein auf. Die Theorie hat drei Schwerpunkte: 1. Wir lesen Heideggers Kantdeutung als eine philosophische Anthropologie in dem besonderen Sinne, dass sie auf eine ursprüngliche Erklärung der Möglichkeitsbedingungen des daseinsmäßigen Lebens in Bezug auf sein zeitliches Existenzial zielt. 2. Die Einbildungskraft, die eine innere Bezogenheit zur Zeit besitzt, ist das Grundvermögen dieser Anthropologie, das die Entfaltung des Zeithorizonts des Menschen ermöglicht, das heißt einen Schematismus des bildenden Entwurfs des daseinsmäßigen Lebens.
558 Vgl. ebd., S. 328. 559 Ebd., S. 328.
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4.3 Die auf Einbildungskraft beruhende philosophische Anthropologie
3. Da die Einbildungskraft für das Sich-Orientieren des daseinsmäßigen Lebens benötigt wird, nennen wir sie Orientierungskraft.
4.3.1 Heidegger über die philosophische Anthropologie In der Davoser Disputation sagt Heidegger: „diese ganze Problematik in „Sein und Zeit“, die vom Dasein im Menschen handelt, ist keine philosophische Anthropologie. Dazu ist sie viel zu eng, viel zu vorläufig.“560 Wieso ist die philosophische Anthropologie im Vergleich zur Problematik in SZ zu „eng“ und zu „vorläufig“? Erstens: Die Zielsetzung von SZ ist, die Seinsfrage als solche zu beantworten und der Teil bezüglich der Analyse des Daseins ist nur als ein Eingang zur ganzen Problematik zu verstehen, obwohl er den größten Anteil am Inhalt von SZ besetzt. Zweitens: Heidegger beabsichtigt, sich von der traditionellen Begrifflichkeit der philosophischen Anthropologie zu unterschieden, die als eine Disziplin aufgefasst wird, das „Wesen“ des Menschen zu begreifen. Philosophische Anthropologie als eine Disziplin orientiert sich für viele Philosophen an der von Kant gestellten Urfrage hinsichtlich der menschlichen Vernunft: Was ist der Mensch?561 Die Art und Weise der Fragestellung begrenzt die Auffassung der Antworten in Bezug auf den Begriff „Wesen“, der seit langem auf die Tradition der abendländischen Metaphysik beschränkt ist. Seit Aristoteles wird der Mensch als ein vernunftbegabtes Wesen (zõon lógon échon) oder als soziales Wesen (zõon politikón) verstanden. Vernunft oder Sozialität ist das Wesen des Menschen, durch das er von den Tieren und Pflanzen und sogar allem nicht vernünftigen Seienden unterschieden werden kann. Der Mensch wird daher anhand seines „allgemeingültigen Wesens“ definiert und die Frage nach dem Menschen ist somit angeblich beantwortet. In diesem Sinne ist die philosophische Anthropologie eine regionale Ontologie des Menschen, die aber nicht ohne Weiteres und vor allem nicht aufgrund der inneren Struktur ihrer Problematik Zentrum der Philosophie ist.562 Allerdings gibt es für Heidegger noch andere Arten der philosophischen Anthropologie, „sofern sie als Anthropologie entweder das Ziel der Philo-
560 KPM, S. 283. 561 Vgl. Immanuel Kant: Logik. In Werke: Akademie-Textausgabe, Bd. 9, Logik, Physische Geographie, Pädagogik (AA 09), S. 25. 562 Vgl. KPM, S. 210–211.
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Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
sophie oder den Ausgang derselben oder aber beides zumal bestimmt.“563 Diese philosophische Anthropologie zielt auf eine Bestimmung der „Stellung des Menschen im Kosmos“ und „dann muß der so geplante Aufbau der Philosophie die menschliche Subjektivität in den zentralen Ansatz bringen.“564 Das vorliegende Verständnis der philosophischen Anthropologie hat zum Ergebnis, dass sie die Rolle eines möglichen Sammelbeckens für das zentrale philosophische Problem spielt. Es scheint, dass so die philosophische Anthropologie die grundlegende Disziplin der Philosophie wird. Mit Blick darauf fragt Heidegger: „Aber wenn schon die Anthropologie in gewisser Weise alle zentralen Probleme der Philosophie in sich versammelt, warum lassen sich diese auf die Frage, was der Mensch sei, zurückführen?“565 Heidegger ist voller Zweifel an der Notwendigkeit, den Menschen in der ersten und zentralen Stellung aller philosophischen Probleme zu sehen. Außerdem findet er, dass die Idee der philosophischen Anthropologie „nicht nur nicht hinreichend bestimmt“ sei, sondern „ihre Funktion im Ganzen der Philosophie ungeklärt und unentschieden [bleibt]“.566 Er schließt hieraus: Die „philosophische Anthropologie" mag noch so vielerlei und wesentliche Erkenntnisse über den Menschen beibringen, sie kann sich nie nur deshalb in das Recht einer Grunddisziplin der Philosophie setzen, weil sie Anthropologie ist. Im Gegenteil; sie birgt die ständige Gefahr in sich, daß die Notwendigkeit verdeckt bleibt, die Frage nach dem Menschen in Absicht auf eine Grundlegung der Metaphysik allererst als Frage auszubilden.567
4.3.2 In welchem Sinne können wir die Aufgabe Heideggers als eine philosophische Anthropologie konzipieren? Obwohl sich Heidegger von der Idee einer philosophischen Anthropologie distanziert, kann man sich doch zu Recht fragen, ob sie in einem gewissen Sinne zu einer philosophischen Anthropologie gehört. Der Schlüssel, um diese Frage zu beantworten, liegt im Verständnis der Idee der philosophi-
563 564 565 566 567
Ebd., S. 211. Ebd. Ebd., S. 212. Ebd. Ebd., S. 218.
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4.3 Die auf Einbildungskraft beruhende philosophische Anthropologie
schen Anthropologie. Wenn man sie als eine Disziplin der Philosophie, die sich mit dem „Wesen“ der Menschen befasst, versteht, sucht man tatsächlich das Was-Sein (anstatt des Wie-Seins oder Wer-Seins) des Menschen, durch das der Wesenscharakter der Menschengattung definiert wird. Der aus dieser Perspektive erzeugte Begriff des Menschen wird durch die „Abstraktion“ möglich, die auf eine unbedingte Allgemeingültigkeit zielt. In der Abstraktion hält man sich von der Situationsgebundenheit und der Geschichtlichkeit einer Analytik des menschlichen Daseins fern, um das „Wesen“ ihrer Notwendigkeit und Zeitlosigkeit zu erhalten. Die Suche nach dem „wesentlichen“ Menschenbild ist die Hauptaufgabe der philosophischen Anthropologie. Aus dieser Perspektive könnte man argumentieren, dass es die Aufgabe Heideggers in SZ und KPM nicht war, eine anthropologische Aufgabe zu konzipieren, da 1.) die Grundabsicht des Vorhabens von SZ nicht in einer anthropologischen Theoriebildung der Daseinsanalyse liegt, sondern bloß in einer Vorbereitungsanalyse für die Seinsfrage überhaupt; 2.) die Analytik der „Grundmodi“ des Daseins in SZ keine Bestimmung des Menschenwesens ist, sondern eine phänomenologische Beschreibung, die sich grundsätzlich von einer Wesensphilosophie unterscheidet. Der erste Grund ist ungenügend. Die Absicht und die Wirkung eines Werks sollen in zwei Dingen unterschieden werden. Wenn es Heidegger erlaubt ist, die Implikationen und das Ungesagte Kants auszulegen, dann darf man ebenfalls die Implikationen und das Ungesagte Heideggers in einer begründeten Weise entfalten und auslegen. Obwohl die Grundabsicht von SZ in der Suche nach dem Sinn von Sein überhaupt liegt, ist die Auswirkung von SZ offensichtlich viel weitgehender als das, was Heidegger in seinem Werk zur Sprache gebracht hat. Die Implikation des Werks kann an einem größeren Ort und in den interdisziplinären Feldern weiterleben. Dies ist heute gegeben. Der zweite Grund ist irrelevant. Obwohl die phänomenologische Beschreibung nicht die Bestimmung des Menschenwesens anbietet, so kann man doch noch eine theoretische Rekonstruktion aus den verschiedenen Beschreibungen durchführen. Die Darstellung der Grundmodi des Daseins in SZ und KPM verschafft uns einen soliden Boden, um die Besonderheit des subjektmäßigen Wesens zu begreifen. Diese Untersuchungen geben uns nicht das metaphysische „Wesen“ des Menschen, sondern die ontologische Struktur, durch die die Wesenscharaktere des Daseins weiterhin verstanden werden können. In diesem Sinne beantwortet man auch die Grundfrage der philosophischen Anthropologie aus einer neuen Per-
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Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
spektive. Die Grundfrage wird von „Was ist der Mensch“ in „Was bedingt die Bedeutung des Menschen“ geändert. Abgesehen von den vorliegenden Gegenargumenten können wir umgekehrt fragen, in welchem Sinne wir positiv die Aufgabe Heideggers noch als eine philosophische Anthropologie konzipieren können. Ich schlage vor, dass wir diesen Umstand unter drei Gesichtspunkten betrachten: 1.) Der Gegenstand in den frühen Aufgaben Heideggers bezieht sich unbestreitbar auf das Phänomen des daseinsmäßigen Lebens beziehungsweise des menschlichen Daseins. Das Phänomen des Menschen ist sowohl der Ausgangpunkt als auch der Fokus seiner Grundorientierung im Denken. Dieser methodologische Charakter steht grundsätzlich in Einklang mit der Idee einer philosophischen Anthropologie; 2.) In dieser Periode hält sich Heidegger zwar vom Spontaneitätsansatz in seiner Philosophie fern, aber der Subjektivitätsansatz ist doch noch sichtbar. Dieser Ansatz führt zu den reichen Ergebnissen in der Analyse des menschlichen Daseins. Diese Ergebnisse ebnen bereits den Weg in die Zukunft einer philosophischen Anthropologie; 3.) Heideggers Arbeit kann als eine ursprünglichere Grundlegung der von Kant begründeten Metaphysica generalis verstanden werden, da er urteilt, dass die B-Fassung der KrV ein „Zurückweichen“ Kants ist. Heidegger positioniert sich als ein Kantnachfolger in der Linie einer Entwicklung der Fundamentalontologie, und durch seine philosophische Einsicht ersetzt er die Grundlegungsarbeit Kants durch seine Analyse der Beziehung zwischen Subjekt, Welt und Wahrheit usw. (vgl. Abschnitt 4.1.3). In Anbetracht dieser negativen und positiven Begründungen können wir Heideggers Kantdeutung als eine philosophische Anthropologie in einem besonderen Sinne lesen. Diese besondere philosophische Anthropologie zielt auf eine ursprüngliche Erklärung der Möglichkeitsbedingungen des daseinsmäßigen Lebens hinsichtlich seines zeitlichen Existenzials und ist so mit dem Wesenscharakter der Einbildungskraft untrennbar verbunden. Wir können daher Heideggers Kantdeutung eine philosophische Anthropologie der Einbildungskraft nennen.
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4.3 Die auf Einbildungskraft beruhende philosophische Anthropologie
4.3.3 Die Grundelemente einer philosophischen Anthropologie der Einbildungskraft: existenziale Kategorien und Freiheitsbegriff Wenn wir die Einsichten Heideggers auf die kantische Philosophie anwenden, so können wir die entscheidenden Beiträge der Kantdeutung Heideggers unter drei Gesichtspunkten betrachten. Der erste ist die Bestätigung der inneren Beziehung zwischen der Einbildungskraft und der Zeit; der zweite ist die Gleichursprünglichkeit der Einbildungskraft und der Zeit in der Sinnkonstitution, die die Möglichkeitsbedingungen des daseinsmäßigen Lebens in Bezug auf sein Existenzial erklärt; der dritte betrifft die Wichtigkeit und das theoretische Potenzial des Schematismus. Im Folgenden will ich eine synthetische Erklärung geben. Im dritten Kapitel konnten wir bereits sehen, dass Heidegger durch T3 und T6 die innere Beziehung zwischen Einbildungskraft und Zeit dargestellt hat. Seine Interpretation impliziert, dass das Deduktionskapitel die ontologische Struktur der Transzendenz als eine Tätigkeit der Sinnkonstruktion aufhellt. Durch die dreifache Synthesis enthüllt Kant vorab die zentrale Stellung der Einbildungskraft im Strukturganzen der Synthesistätigkeit. Im Schematismuskapitel bestätigt Kant dann weiter die Sonderrolle der Einbildungskraft und ihre innere Beziehung zur Zeit. Der Schematismus der reinen Begriffe gibt nicht nur eine Erklärung der Versinnlichung der empirischen und reinen Begriffe, sondern auch der Zeitbestimmungen, durch die der Betrieb des Subsumierens der Besonderheit unter die Universalität erklärt wird. Dies ist möglich, weil zwischen der Zeit und der Einbildungskraft eine wesentliche Beziehung besteht, aus der alle Verstandesbegriffe den ontologischen Zustand und ihre anschaulichen Vorstellungen gewinnen. Diese Hauptthese verändert den Fokus der neukantianischen Kantdeutung überhaupt, die die Herrschaft und die Schlüsselstellung des Verstandes über die anderen Erkenntnisvermögen betont. Auch Cassirer, der als ein würdiger Gegner der Kantdeutung Heideggers gilt, stimmt dem zu, dass die Einbildungskraft und das Schematismuskapitel in gewissem Sinne als der neue Schwerpunkt der zeitnahen Kantforschung angesehen werden sollen. Wenngleich Cassirer Heideggers Kantdeutung relativ hart kritisiert, so befürwortet er doch ebenfalls die These, dass nur aus der Perspektive des transzendentalen Schematismus die transzendentale Ästhetik und transzendentale Logik als eine vorbereitende Analytik gelesen werden können.568 Mit anderen Worten: Die (produktive beziehungsweise transzendentale) Einbildungskraft ist bedeutsam für eine 568 Vgl. Cassirer: Kant und das Problem der Metaphysik, S. 8.
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Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
mögliche Kantdeutung und das Schematismuskapitel kann als ihre wichtigste Textevidenz konzipiert werden. In dieser Hinsicht wird T4 durch einen Kantforscher wie Cassirer teilweise bestätigt.569 Auf der gleichen Linie haben wir den Grundstein, auf dem wir die anthropologische Philosophie der Einbildungskraft mit Vertrauen erstellen können. Die Einbildungskraft als das bildende Zentrum des Strukturganzen der dreifachen Synthesis bringt die vorgängige Einheit der erkennenden Erfahrung. Diese Einheit, die sich auf die Modi der Ab-, Nach- und Vorbildung der empirischen Einbildung bezieht, schließt bereits die drei Dimensionen der Zeit ein.570 Diese drei Dimensionen der Zeit hängen mit dem Horizont des zeitbildenden Selbst zusammen. Der Horizont des zeitbildenden Selbst ist nur durch die transzendentale Einbildungskraft, die von Heidegger das dritte Grundvermögen genannte wird, möglich.
4.3.3.1 Heideggers existenziale Kategorien und der Schematismus des daseinsmäßigen Lebens Im Abschnitt 4.2.3 habe ich aufgezeigt, dass Heidegger die Idee der Existenzialien dargestellt hat, um das daseinsmäßige Sein zu begreifen. Diese Idee folgt der langen Tradition der abendländischen Philosophie, die versucht, durch Kategorien beziehungsweise Kategorisierungen Phänomene zu bestimmen. Für Heidegger ist das bestimmte Phänomen, insbesondere in seinem frühen Denken, das Phänomen des menschlichen Daseins.
569 Vgl.: „Und es muß sogleich betont und anerkannt werden, daß er diesen Teil seiner Aufgabe mit außerordentlicher Kraft und mit größter Schärfe und Klarheit durchgeführt hat. Es ist mir stets als das seltsamste Zeichen der völligen Verkennung von Kants Grundabsicht erschienen, daß man immer wieder in der Kant-Literatur der Vorstellung begegnet, als habe Kant die Lehre vom Schematismus „erkünstelt“ – als habe er das Vermögen der „transzendentalen Einbildungskraft“ aus bloß äußeren Gründen der „Symmetrie“ und „Architektonik“ eingeführt. Vielleicht wird dieser Vorwurf doch endlich einmal in seiner Absurdität erkannt werden, wenn man sich in Heideggers eingehende, jeden Einzelzug herausarbeitende Darstellung des Schematismuskaptiels vertieft. Ich selbst kann an diesem Punkte nur die volle Zustimmung zu Heideggers Auffassung und meine prinzipielle Übereinstimmung mit ihm betonen; denn die Lehre von der „produktiven Einbildungskraft“ erscheint auch nur – wenngleich unter völlig anderen systematischen Gesichtspunkten – als ein schlechthin unentbehrliches und als ein unendlich-fruchtbares Motive der Lehre Kants wie der gesamten „kritischen Philosophie“ (ebd., S. 8–9). 570 Vgl. KPM, S. 186.
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4.3 Die auf Einbildungskraft beruhende philosophische Anthropologie
Durch die Analytik Heideggers in SZ kann die Existenz des Daseins in zwei Gruppen kategorisiert werden: in eigentliche und uneigentliche. Die Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit sind nach Heidegger zwei Grundmodi der daseinsmäßigen Existenz, die nicht als zwei Gegenstände voneinander getrennt sind, sondern auf einen Vordergrund-Hintergrund, auf eine implizit-explizit-Beziehung verweisen. Sie sind nur zwei Aspekte einer Lebensganzheit. Die Existenz des Daseins schwingt immer zwischen diesen Modi in der Zeit. Mit Hilfe der drei Dimensionen der Zeit können diese zwei Modi sogar in sechs „existenzialen Kategorien“, nämlich den Existenzialien, dargestellt werden. Die nachfolgende Tabelle geht genuin auf Otto Pöggeler zurück, wurde jedoch von Tze-wan Kwan weiterentwickelt und in einem Aufsatz, der das kantische Erbe in der Philosophie Heideggers analysiert, vorgestellt:571
571 Laut Kwan wurde die Idee der Tabelle von Otto Pöggeler inspiriert. Kwan berichtet über ihre Entstehung wie folgt: „Back in WS 1977/78 at the Ruhr-Universität Bochum, Pöggeler offered, in collaboration with Klaus Düsing, a Hauptseminar, which I also took part in. The theme of the seminar was “Der Zeitbegriff bei Kant und Heidegger.” In the midst of a discussion on Heidegger’s doctrine of existentials and of schemata, Pöggeler spontaneously charted on the blackboard the six ecstatical modes together with the corresponding schematic structures in the form of a table, while explaining all the details. By then I had already read the German version of SZ a few times, but was still unaware of the possibility of summarizing Heidegger’s crucial doctrine of existentials in such a manner. I recalled how enthusiastic I was, for with my background in Kant before reading Heidegger, such a chart immediately enabled me to put things into context, and this amounted to one of the most spirited episodes during my philosophical apprenticeship in Germany. While Pöggeler himself seems to have never officially published this chart, I myself have been using it for decades when explaining Heidegger to my students, who all found it didactically enlightening. In the following, I shall try to reproduce this chart (see over), which is basically loyal to the notes I took thirty years ago, except that the caption/axis labels have been modified by me, and the row with horizonal structures is my addition. Needless to say, thirty years having elapsed since I first came across it, the explanation of this chart together with any errors of interpretation are all mine“ (Tze-wan Kwan: Heidegger’s Schematism of Life and its Kantian Inheritance. A Critical Appraisal. In: The New Yearbook for Phenomenology and Phenomenological Philosophy 12 (2012), S. 38–68, hier S. 51– 52).
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Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
– EM: Wiederholung, Augenblick, Vorlaufen; Vergessen/Behalten, Gegenwärtigen, Gewärtigen – HS: Wovor/Woran, Umzu, Umwillen seiner; Womit, Als (hermeneutisches und apophantisches), Wozu
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4.3 Die auf Einbildungskraft beruhende philosophische Anthropologie
Diese Tabelle fasst die sechs verschiedenen Modi des Phänomens des Daseins als In-der-Welt-sein zusammen. Die ekstatischen Modi (EM) zeigen die sechs zeitigen Seinsmodi des Daseins, die von den zwei Seinsmodi (Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit) plus den drei Ekstasen der Zeitlichkeit (Gewesenheit, Gegenwart und Zukunft) ausgebaut werden. Die sechs Arten der EM umfassen die Grundmodi der Existenz des Daseins hinsichtlich der Zeit. Mit anderen Worten: Die Zeitigung der „ursprünglichen Zeit“ wird von diesen ontologisch-existenzialen Kategorien kategorisiert. Diese Kategorien können in gleicher Weise darüber hinaus noch entsprechend des Schematismuskapitels in der KrV schematisiert werden. Durch die Zeitbestimmung der existenzialen Kategorien haben wir die horizontalen Schemata (HS), durch die wir das Universale (die allgenmeinen Grundmodi des Daseins) und die Besonderheit (unter dem genauen Kontext und der Geschichte des Daseins) in Verbindung bringen. Die EM und HS bringen eine kategorische Beschreibung des „Relationssystems“ hervor, die das „Konstitutivum der Weltlichkeit“572 genannt werden kann.573 Diese Beschreibung hilft uns, jene dynamischen Vokabeln zu erstellen, durch die wir die ekstatischen Modi des Daseins in Bezug auf die Zeitlichkeit begreifen können. Diese Vokabeln, die in SZ zusammengefasst werden, zeigen die Möglichkeit auf, die existenzialen Kategorien und den Schematismus des daseinsmäßigen Lebens in einer systematischen Art und Weise zu erfassen. Dies zeigt einerseits das kantische Erbe in der Philosophie Heideggers auf, anderseits eine Möglichkeit, eine kantisch-heideggersche Theorie der Kategoiren, die auf die innere Beziehung zwischen Einbildungskraft und Zeit beruht, aufzubauen.
4.3.3.2 Freiheit: zeitlich oder überzeitlich Dasein als In-der-Welt-sein kann als ein geöffneter daseinsmäßiger Horizont verstanden werden, der die eigene auf die Faktizität des Daseins gegründete Möglichkeit betont. Dieser Horizont verkörpert die unterschiedlichen möglichen Modi des Lebens, die wir in den obigen Tabellen, also 572 SZ, S. 88. 573 Heidegger unterscheidet zwischen drei Strukturen und Dimensionen der ontologischen Problematik. Die erste und zweite Art sind für ihn Kategorien, die Seiendes von nicht daseinsartigem Sein betreffen, während die dritte Art eine „existenziale Bestimmung des In-der-Welt-seins“ ist. Dies rechtfertigt eine Formalisierung der existenzialen Kategorien aus Heideggers Daseinsanalyse. (Vgl. SZ, S. 88).
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Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
den existenzial-zeitlichen Kategorien, dargestellt haben. Diese Modi lassen sich isoliert analysieren und behandeln, aber das Phänomen des Daseins muss immer als ein Ganzes in Bezug auf die Zeit verstanden werden. Die Zeit beziehungsweise die Zeitlichkeit begründet das Lebensphänomen und die Möglichkeit einer Welterstreckung. So sagt Heidegger: „Die existenzial-zeitliche Bedingung der Möglichkeit der Welt liegt darin, daß die Zeitlichkeit als ekstatische Einheit so etwas wie einen Horizont hat.“574 Diese Aussage zeigt schlüssig auf, dass die Zeitlichkeit des Daseins die Bedingung der Möglichkeit des In-der-Welt-seins ist, mit der das Dasein als das In-derWelt-sein seine Welt, nämlich sein Verweisungsganzes, konstituiert und „erstreckt“.575 Diese Erstreckung der Welt des Daseins setzt den Richtungsbegriff voraus, der in der Geschichte und in der geworfenen Situation des Daseins verwurzelt ist. Diese mögliche Richtung bestimmt im Voraus „ein » Wohin « der Entrückung. Dieses Wohin der Ekstase nennen wir das horizontale Schema“.576 Das horizontale Schema ist ein Feld der Möglichkeiten, in dem das Was-, Wohin-, Wieweit-, Wie-Sein des Daseins gefunden werden kann. In dieser Hinsicht stellt dieses Sein des Daseins für Heidegger die Sache der Freiheit dar. So sagt er: „Nur was es [Dasein] jeweils, in welcher Richtung, wie weit und wie es entdeckt und erschließt, ist Sache seiner Freiheit, wenngleich immer in den Grenzen seiner Geworfenheit.“577 Dieses Zitat gibt uns zumindest zwei Informationen. Erstens: Die Zeitlichkeit begründet das Erschließen des Seins des Daseins. Zweitens: Die Zeitlichkeit begründet die Freiheit des vielfältigen Seins des Daseins, aber diese Freiheit wird von der Geworfenheit des Daseins begrenzt. Die zweite Information widerspricht offensichtlich der kantischen Grundhaltung, die in der Unabhängigkeit der Willensbestimmung und auf dem absoluten
574 Ebd., S. 365 (Kursivschrift im Original bei Heidegger). 575 Heidegger hat viele verschiedene formale Anzeiger, wie zum Beispiel Drang, Ekstase, Transzendenz, Erstreckung, Erstrecktheit, Entrückung usw., genutzt, um den dynamischen zeitlichen Charakter der Zeitlichkeit des daseinsmäßigen Lebens zu beschreiben. Diese formalen Anzeiger verweisen auf das nicht feststehende Wesen der Welt des Daseins. „Welt“ ist für Heidegger nicht einfach ein Nomen, sondern ein Verb, mit dem die Welt des Daseins in der Zeit konstituiert wird: „Welt weltet“ (vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks. In: Martin Heidegger Gesamtausgabe 5 Holzwege (1935–1946). Hg. von FriedrichWilhelm v. Herrmann. 2. Aufl., Frankfurt/Main 2003 (GA 5), S. 31.). 576 SZ, S. 365. 577 Ebd., S. 366.
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4.3 Die auf Einbildungskraft beruhende philosophische Anthropologie
Vorrang der praktischen Vernunft besteht.578 Aber wir sollten nicht provisorisch diesen hochkomplizierten Punkt diskutieren, sondern uns auf die Bedeutung und Beziehung zwischen Zeitlichkeit und Einbildungskraft fokussieren. Im Kontext von SZ haben wir einen ausreichenden Grund, die Zeitlichkeit als die letzte Möglichkeitsbedingung der Seins- und Sinnkonstitution zu konzipieren. In Verbindung mit der Kantdeutung der KrV, die die Gleichursprünglichkeit der Zeit und Einbildungskraft enthüllt hat, können wir noch weiter folgern, dass die zeitbildende Einbildungskraft das ursprüngliche Erkenntnisvermögen ist, das die vorgängige Orientierung der Lebensrichtung begründet. Mit dem vorstehenden Abschnitt haben wir schon den theoretischen Grundstein, die existenzialen Kategorien aus den frühen Aufgaben Heideggers aufgezeigt und besprochen. Nunmehr können wir diese Heideggerdeutung wieder mit der Philosophie Kants in Beziehung setzt. Wenn wir noch eine Einigung der beiden Einsichten verfolgen möchten, müssen wir einige Kompromisse machen. Die Kompromisse liegen genau in der Auswahl des Subjektivitätsansatzes und Spontaneitätsansatzes. Heideggers Kantdeutung hat eine Neigung zum ersten Ansatz, möchte aber den zweiten ablegen. Der Spontaneitätsansatz ist jedoch der wichtigste Anspruch der kantischen Philosophie. Wie wir bereits erwähnt haben, ist das Verständnis des Freiheitbegriffs einer der kritischen Unterschiede der beiden philosophischen Grundeinstellungen. Nach meiner Ansicht müssen wir den transzendentalen Freiheitbegriff bewahren, wenn wir auf eine Deutung als einer echten Kantdeutung bestehen wollen. Die Freiheit ist der Grundstein der kantischen Philosophie, wie Henrich sagt. Das dualistische System, das die Phaenomena-Noumena-Unterscheidung und den Vorrang der praktischen Vernunft beziehungsweise der übersinnlichen Willensbestimmung sicherstellt, ist auch der Wesenscharakter der kantischen Philosophie. Wenn eine Kantdeutung beabsichtigt, die erste und höchste Stellung der Freiheit aus dem ganzen System Kants zu entfernen, dann kann sie höchstwahrscheinlich nur als eine Deformation der Philosophie Kants gedacht werden.
578 Nach Kant ist die transzendentale Freiheit, die durch „eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Kausalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt“ charakterisiert wird, in der praktischen Vernunft verwurzelt (KrV A 803/B 831). Jedoch impliziert Heideggers Deutung, dass die Geworfenheit des Daseins im Voraus die daseinsmäßige Freiheit limitiert. Dies ist der unlösbare Streitpunkt zwischen der Philosophie Kants und Heideggers und ein Kritikpunkt an Heideggers Kantdeutung.
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Die Hauptkritik Cassirers an Heideggers Kantdeutung richtet sich präzise gegen den Freiheitsbegriff. Cassirer bringt deutlich zum Ausdruck, dass „[d]ie Scheidung des »mundus intelligibilis« vom »mundus sensibilis« für Kant zuletzt nichts anderes als die Aufweisung zweier voneinander völlig verschiedener Weisen der Orientierung und Beurteilung [bedeutet].“579 Sicherlich besagt Kant, dass „alles menschliche Dasein und alle menschlichen Handlungen an zwei grundverschiedenen Maßstäben zu messen und von zwei prinzipiell einander entgegengesetzten „Standpunkten“ zu betrachten sind.“580 Diese Aufklärung weist genau darauf hin, dass die Phaenomena-Noumena-Unterscheidung und die Unterscheidung zwischen der praktischen und theoretischen Vernunft die essentiellen Elemente der kantischen Philosophie sind, die uns die „zwei prinzipiell einander entgegengesetzten“ Standpunkte verschaffen. Mit anderen Worten: In Cassirers Augen ist die menschliche endliche Vernunft vermeintlich dualistisch. Deswegen kritisiert Cassirer hart die These Heideggers, die versucht zu erweisen, dass die praktische Vernunft eine wesentliche Abhängigkeit und Endlichkeit besitzt.581 Nach Ansicht Cassirers argumentiert Heidegger, dass „das Ich das Sittengesetz nicht anders als im Gefühl der Achtung sich zu eigen machen könne, trete in dieser Gründung auf ein Gefühl wiederum die Gebundenheit und Endlichkeit – und mit ihr der Zusammenhang mit der »ursprünglichen Verfassung der transzendentalen Einbildungskraft« – hervor“582 und dies sei ein Irrtum: „Der Gehalt des Sittengesetzes gründet nach Kant keineswegs im Gefühl der Achtung“.583 Cassirer zufolge ist die Freiheitidee und mit ihr die praktische Vernunft etwas, das als „ein rein »Intelligibles«, an bloß-zeitliche Bedingungen nicht gebunden sei. Sie ist vielmehr der reine Durchblick ins Zeitlose – der Horizont der Über-Zeitlichkeit.“584 Meines Erachtens ist Cassirers Kritik sinnvoll. Obwohl Heidegger richtig versteht, dass die menschliche Endlichkeit die Schlüsselvoraussetzung der kantischen Philosophie ist, überbewertet er diese Voraussetzung, damit die unendliche und zeitlose Seite des Menschen, die in der transzendentalen Willensbestimmung erscheint, seiner Kantdeutung völlig entzogen wird. Anders gesagt: Die Freiheit ist nicht mehr absolut voraussetzungslos.
579 580 581 582 583 584
Cassirer: Kant und das Problem der Metaphysik, S. 14. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 14–15. Ebd., S. 15.
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4.3 Die auf Einbildungskraft beruhende philosophische Anthropologie
Wir sollen durchaus die Endlichkeitsvoraussetzung als den Ausgangpunkt der kantischen Philosophie sehen. Jedoch soll diese Voraussetzung nicht gleichzeitig als der Endpunkt seiner Philosophie behandelt werden. Wenn wir den dritten Weg einer philosophischen Anthropologie, die beide philosophischen Einsichten zu bewahren sucht, gehen wollen, dann müssen wir entscheiden, welche philosophischen Ansätze bleiben sollen.
4.3.4 Hannah Arendts Beiträge zu einer kantisch-heideggerschen philosophischen Anthropologie Gibt es einen dritten Weg, die kantischen und heideggerschen Einsichten zu einer geeinigten philosophischen Anthropologie zu entwickeln? Ich möchte ein mögliches Vorbild aufzeigen, das auf der Kantdeutung Hannah Arendts beruht. 1970 hielt Arendt an der New School for Social Research eine Vorlesung über das Thema „Kant’s political philosophy“. Die Aufzeichnungen der Vorlesung umfassen ihre nachgelassene Schrift Lectures on Kant’s Political Philosophy, in der Arendt beabsichtigte, die von der KU begründete Ästhetik Kants als die Grundlage der politischen Philosophie Kants zu interpretieren. Anhand dieser Arbeit haben wir ein gutes Vorbild, die beiden philosophischen Einsichten zu vereinigen. Arendt betont die spezifischen Charakteristika der reflektierenden Urteilskraft, die sich von der bestimmenden Urteilskraft unterscheidet, und begründet durch diese Charakteristika die Notwendigkeit dieser Urteilskraft im politischen Urteil in Bezug auf vita activa und vita contemplativa. Aufgrund dieser Urteilskraft kann man 1.) kritisch beurteilen, 2.) seinen Geist vergrößern, um unparteiisch zu beurteilen, und 3.) mit dem vergrößerten Geist die Ereignisse mit Abstand auswerten.585 All diese Funktionen sind für ein politisches Urteil, das Arendt mit dem Begriff der phrónēsis (φρόνησῐς) des Aristoteles vergleicht, notwendig.
585 Zu den drei Aspekten der Urteilskraft vgl. Hans Feger: The Public Sphere and the Faculty of Judgment: Hannah Arendt’s Theses on Public Opinion. In: Yearbook for Eastern and Western Philosophy, Bd. 1. Hg. von Hans Feger u. a. Berlin 2016, S. 84–93, hier S. 88–91. Vgl. auch Tak-lap Yeung: The Priority of Imagination in Judgment. Hannah Arendt’s Interpretation of Kant and is Problem. In: The Journal of Philosophical Ideas, Seoul 2017 (Special Issue), S, 345–363, hier S. 349–352.
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4.3.4.1 Eine zweifache Operation im Urteilen: Einbildungskraft und sensus communis Gemäß dieser Argumentationskette führt Arendt einen Hauptpunkt ihrer Kantdeutung an, der in der Notwendigkeit und den Vorrang der Einbildungskraft im Urteilen liegt. Sie begründet, dass die Möglichkeit der Urteilskraft von „zwei gedanklichen Operationen im Urteilen“ abhängig sei: Einbildungskraft und sensus communis. Nach Arendt vergegenwärtigt die Einbildungskraft die Vorstellung der Gegenstände, die abwesend sind. Diese Vorstellung bezieht sich nicht nur auf die Gegenstände, die aus der unmittelbaren sinnlichen Gegebenheit in der Gegenwart entstehen, sondern auch auf die Gegenstände, die in der Vergangenheit liegen oder sich in die Zukunft entwerfen.586 Auf der anderen Seite ist der sensus communis (im kantischen Sinne) für den Standard der Urteile verantwortlich, durch den wir die Gegenstände beurteilen können, so als ob wir bereits die Übereinstimmungen aller Menschen in der Gesellschaft hätten (vgl. den zweiten und dritten Punkt der Funktion der Urteilskraft im obigen Abschnitt).587 Arendt verfolgt die Bedeutung des sensus communis in den § 39-§ 40 der KU in den letzten zwei Stunden ihrer Vorlesung und bestimmt dadurch zwei Hauptthemen, wobei das erste das Kriterium des Werturteils, und zwar dessen Kommunizierbarkeit ist und das zweite – der sensus communis – den Standard des Urteilens behandelt.588 In der Tat, obwohl diese zwei gedanklichen Operationen für die verschiedenen Funktionen im Urteilen verantwortlich sind, so sind sie doch eine eng verbundene „zweifache Operation“. Durch diese zweifache Operation können wir über die bisherigen Grenzen hinausdenken, andere Meinungen und Perspektiven in Betracht ziehen und unsere Mentalität vergrößern, um auf diese Weise eine authentische Kommunikation, die uns von einer fester Position und von Vorurteilen befreien kann, zu haben.
586 Vgl. Hannah Arendt: Lectures on Kant’s Political Philosophy. Chicago 1982, S. 68. 587 „Als ob“ ist ein wichtiger Begriff in der KU Kants. 588 Arendt: Lectures on Kant’s Political Philosophy, S. 69.
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4.3.4.2 Die Einbildungskraft als der Ursprung der „werteingebetteten Vorstellung“ und der „bilderzeugenden Funktion“ In verschiedenen Fällen hat Arendt die Funktion der „Vor-stellung“ (representation) der Einbildungskraft betont. Beispielsweise schreibt sie in Thinking and Moral Consideration (1971): An object of thought is always a re-presentation, that is, something or somebody that is actually absent and present only to the mind which, by virtue of imagination, can make it present in the form of an image.589 Außerdem schreibt sie in The Life of the Mind: Every mental act rests on the mind’s faculty of having present to itself what is absent from the senses. Re-presentation, making present what is actually absent, is the mind’s unique gift, and since our whole mental terminology is based on metaphors drawn from vision’s experience, this gift is called imagination, defined by Kant as the “the faculty of intuition even without the presence of the object.”590 Wenn wir auf Arendts Beschreibung der Einbildungskraft näher eingehen, dann können wir entdecken, dass die Einbildungskraft zwei Aspekte zum Urteilen beiträgt: Die „werteingebettete Vor-stellung“ und die „Funktion der Bilderzeugung“. Oberflächlich betrachtet ist die Einbildungskraft lediglich eine Denktätigkeit, die gegebenen Vorstellungen zu re-produzieren. Jedoch verleiht Arendt dem Wert des „um dem Geist geeignete Denkgegenstände anzubieten“591 mit Blick auf die Einbildungskraft einen tieferen Sinn. Sie erklärt: Imagination, therefore, which transforms a visible object into an invisible image, fit to be stored in the mind, is the condition sine qua non for providing the mind with suitable thought-objects; but these thought-objects come into being only when the mind actively and deliberately remembers, recollects and selects from the storehouse of
589 Hannah Arendt: Thinking and Moral Considerations. In: Responsibility and Judgment. Hg. von Jerome Kohn. New York 2003. S. 159–189, hier S. 165. 590 Hannah Arendt: The Life of the Mind. San Diego u. a. 1971, S. 76. 591 Vgl. „ providing the mind with suitable thought-objects“ (Arendt: The Life of the Mind, S. 77, Übersetzung des Verfassers).
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memory whatever arouses its interest sufficiently to induce concentration; […]592 Für Arendt ist die Einbildungskraft nicht bloß eine spontane Denktätigkeit, die sich der erinnerten Vorstellungen im Geist willkürlich entsinnt und sie verbindet. Sie ist vielmehr eine Denktätigkeit in Bezug auf die „Wahl“ (choice) und die „Selektion“ (selection). Die Erinnerung wird durch die Einbildungskraft in einem Meer von Daten eines menschlichen Daseins nachvollzogen und vorgewählt. Durch die „Vorwahl“ der Einbildungskraft lenkt sich das urteilende Subjekt auf die genauen Denkgegenstände, die für die aktive Überlegung geeignet sind. Es ist stringent, dass Arendt absichtlich die re-präsentierende Funktion mit der Funktion der vor-wählenden Vorstellung verbindet. Diese Funktion bearbeitete sie weiter in Lectures: „The operation of imagination has made the absent immediately present to one’s inner sense, and this inner sense is discriminatory by definition: it says it-pleases or it-displeases. It is called taste because, like taste, it chooses.“593 Die Einbildungskraft ist tatsächlich „diskriminierend“, da sie den Geschmack und die Wahl in die Vor-stellungen vor-einbettet. Diese Vor-stellung ist keine wertfreie Vor-stellung oder ein Vor-bild in unserem Geist, sondern bezüglich des Geschmacks und Gefühls des Daseins. In Arendts Kantdeutung ist die von der Einbildungskraft vor-gestellte Vorstellung keine rein kognitive und wertfreie Vorstellung, sondern eine befindliche und werthabende. Die Einbildungskraft bereitet diese werteingebettete Vorstellung für unser Erkenntnisvermögen vor, damit wir „darüber“ nachdenken und urteilen. Daher können wir mit Recht behaupten, dass die Einbildungskraft die Notwendigkeit und den Vorrang im Urteilen hat. Eine andere bedeutende Kantdeutung Arendts behandelt die Funktion der Bilderzeugung der Einbildungskraft. Unter der Voraussetzung, dass „unsere ganze gedankliche Terminologie auf Metaphern [Bildern] beruht, die sich auf die Erfahrung des Sehens beziehen“594, argumentiert Arendt, dass diese bilderzeugende Funktion der Einbildungskraft die Schlüsselrolle in der Verbindung zwischen dem urteilenden Subjekt und den Gegenständen spielt. Ohne diese Funktion können wir uns keinen Gegenstand vorstellen und dies würde zum Ergebnis der Unfähigkeit zum Urteilen über vergangene oder zukünftige Ereignisse führen. 592 Ebd., S. 77. 593 Arendt: Lectures on Kant’s Political Philosophy, S. 69. 594 Vgl. „our whole mental terminology is based on metaphors drawn from vision’s experience” (Arendt: The Life of the Mind, S. 76, Übersetzung des Verfassers).
264 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
4.3 Die auf Einbildungskraft beruhende philosophische Anthropologie
Arendts Kantdeutung der bilderzeugenden Funktion der Einbildungskraft ist offensichtlich von Heideggers Kantdeutung beeinflusst. Heidegger interpretiert, dass die bilderzeugende Funktion der Einbildungskraft vom Schematismus unabhängig sei, der sich auf den Prozess der „Versinnlichung“ bezieht (vgl. hierzu Abschnitt 3.4.2).
4.3.4.3 Die Einbildungskraft als der Ursprung des Schemas im Erkennen hinsichtlich der Verbindung zwischen dem Universalen und der Besonderheit In einem anderen Seminar über Kants KU, das ebenfalls an der New School for Social Reseach im Jahre 1970 abgehalten wurde, verbindet Arendt ihre Gedanken über die Einbildungskraft mit der Idee des Schematismus Kants. Sie erklärt „imagination is the condition for memory, and a much more comprehensive faculty“ und „the role of imagination for our cognitive faculties is perhaps the greatest discovery Kant made in the Critique of Pure Reason“.595 Durch den Vergleich der Rolle der Einbildungskraft in der KrV und KU bestätigt sie, dass die Einbildungskraft in Bezug auf beide Schriften die Schemata der „schematischen Gestalten“ (schematic shapes) für das Erkennen und ebenso „Beispiele“ (examples) für die bestimmende und reflektierende Urteilskraft anbietet. Obwohl ihre Ausarbeitung im Allgemeinen hastig und unpräzise ist, so ist ihre Kantdeutung doch bemerkenswert. Der Höhepunkt ihrer Deutung liegt darin, dass sie die Notwendigkeit und den Vorrang der Einbildungskraft im Urteilen aufrechterhält, weil die Einbildungskraft im Voraus nicht nur die sinnliche Vorstellung, sondern auch die Schemata der reinen Vernunftbegriffe zur Verfügung stellt. In Arendts Augen ist das Schema die Brücke zwischen dem Universalen und der Besonderheit, der Vermittler oder das Dritte zwischen reinen Begriffen und sinnlichem Bild beziehungsweise zwischen Denken und Sinnlichkeit: Yet, though it exists in thought only, it is a kind of ‘image’; it is not a product of thought, nor is it given to sensibility; and least of all is it the product of an abstraction from sensibly given data. It is something beyond or between thought and sensibility; it belongs to thought inso-
595 Arendt: Lectures on Kant’s Political Philosophy, S. 80.
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Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
far as it is outwardly invisible, and it belongs to sensibility insofar as it is something like an image.596 Der Zwischencharakter des Schemas passt einerseits zum Charakter der reinen Vernunftbegriffe in abstracto und anderseits zum empirischen Bild in concreto. Für Arendt kann der reine Begriff sich durch den Schematismus von einem abstrakten Begriff zu einem sinnlichen Bild transformieren. So sagt sie: „In other words: if I did not have the faculty of ‘schematizing,’ I could not have images.“597 Hieraus können wir noch einmal die Notwendigkeit und den Vorrang der Einbildungskraft im Erkennen erschließen. Aus der oben stehenden „wertschöpfenden“ Deutung der Einbildungskraft können wir offenbar die Notwendigkeit und den Vorrang der Einbildungskraft in der Theorie des Urteilens bei Arendt feststellen. Sie spielt eine leitende und grundlegende Rolle nicht nur für die erkennende, sondern auch für die normative Denktätigkeit, durch die das urteilende Subjekt, vita contemplativa, sich der Bedeutung des Ereignisses der Vergangenheit entsinnen oder das Traumbild der Zukunft entwerfen kann.
4.3.4.4 Arendts Kantdeutung als ein dritter Weg zwischen Kant und der Kantdeutung Heideggers Arendts Kantdeutung ist keine vollständige und gut aufgebaute Theorie der Einbildungskraft, da sie nur als ein kleines Stück aus ihrem Nachlassüberliefert ist. Jedoch ist sie in vielerlei Hinsicht inspirierend, insbesondere für die Diskussion einer Verbindung der Philosophie Kants und Heideggers. Arendts Kantdeutung, die offenbar von den Ideen und Terminologien Heideggers beeinflusst worden ist, zeigt uns einen dritten Weg, die Antinomie zwischen den beiden Philosophien, die auf den Freiheitbegriff beziehungsweise den Spontaneitätsansatz beruht, zu lösen. Eine kantisch-heideggersche Philosophie des Subjekts kann entworfen werden. Diese Philosophie, die die Möglichkeit zeigt, wie man die kantische Kategorientheorie mit dem konkreten, alltäglichen Leben in der Zeit verbinden beziehungsweise auf dieses Leben beziehen kann, beruht auf den erkennenden und existenzialen Kategorien. In der Tat vollendet dies die Idee Diltheys, eine Kritik des Lebens durchzuführen. Arendts Kantdeu-
596 Ebd., S. 82. 597 Ebd.
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4.3 Die auf Einbildungskraft beruhende philosophische Anthropologie
tung bringt eine Idee voran, die besagt, dass die Einbildungskraft im Urteilen, das die wichtigste Denktätigkeit in der Sinn- und Erfahrungskonstitution ist, notwendig und vorlaufend ist. Die Einbildungskraft ist ebenso „beurteilend“ und sie bietet in der Zusammenarbeit mit dem sensus communis das „Vorfeld“ für das Urteilen an. Dieses Vorfeld ist der Horizont des daseinsmäßigen Lebens, der die Lebensmöglichkeit eines befindlichen Menschen einschließt. Mit anderen Worten: Die Einbildungskraft stellt die vorlaufenden Elemente für die Lebensorientierung zur Verfügung. Mit der bildzeugenden Funktion formuliert der Mensch seinen eigenen Entwurf oder seine Rückbesinnung in so oder so werteingebetteten Vorstellungen, über die er dann urteilen kann.598 Arendt verleiht der Einbildungskraft eine besondere Funktion, die das reflektierende und vorreflektierende Feld verbindet. In der traditionellen Kantdeutung hinsichtlich der Analytik in der KU wird die überbrückende Funktion der reflektierenden Urteilskraft betont, durch die die zwei Böden-Gebiete, die von den bestimmenden Urteilskräften entsprechend der Natur- und Freiheitsbegriffe auseinander konstituiert werden, auf einem
598 Dieses Thema, das die Funktion der Einbildungskraft im Urteilen nachvollzieht, bezieht sich eng auf die Diskussion der Beziehung zwischen Vernunftkritik und Einbildungskraft, die oft die absolute Herrschaft der Vernunft in Zweifel zieht. Vgl. Hans Feger: Die Macht der Einbildungskraft in der Ästhetik Kants und Schillers. Heidelberg 1995, Kapitel 2.1, S. 12–29 und besonders: „Kant hat die Kritik der reinen Vernunft in den Vorreden mit einem Gerichtshof verglichen, der die Ansprüche der Vernunft auf Legitimität nur dann gerecht beurteilen kann, wenn er die Regeln für das Urteil nicht wie einen festgelegten Kodex besitzt, sondern seine „gereifte Urteilskraft“ selbst das Gesetz ist. Erst dann nimmt er jene unparteiische und interesselose „Gleichgültigkeit“ ein, die es ihm ermöglicht, die „endlosen Streitereien“ auf dem Kampfplatz der Metaphysik zu prüfen, die gerechten Ansprüche zu sichern, grundlose Anmaßungen abzuweisen und schließlich die Vernunft in den „sicheren Gang einer Wissenschaft“ zu lenken, auf dem sie unbeirrbar ist, weil sie „nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“. Damit die Vernunft sich nicht in imaginären Operationen verliert und dem Unglück der Spekulation zum Opfer fällt, muß die Erkenntnis auf Anschauungsgegenstände eingeschränkt werden, die ihr die Richtigkeit ihrer Ansprüche beglaubigen. Die Instanz, die diese Operation ermöglicht, ist die Einbildungskraft. Sie restringiert als ein „Vermögen der Anschauung a priori die Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und stellt damit eine Rückbesinnung auf die konkrete Erfahrung her, wodurch die Vernunft überhaupt erst urteilsfähig wird. Nur qua Einbildungskraft darf die zerstrittene Vernunft hoffen, sich in ein vernünftiges Verhältnis zu Verstand und Sinnlichkeit zu setzen“ (ebd., S. 12–13).
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Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
Feld zusammenarbeiten können.599 Dieses Feld bestimmt die Gegenstände nicht, es eröffnet vielmehr unserem Geist alle möglichen Vorstellungen sich vergegenwärtigend vorzustellen. Dies ist möglich, da wir die Kraft der Reflexion haben, die unsere Vorstellungen frei regulieren kann. Mit Hilfe der reflektierenden Urteilskraft, die sich auf das regulative Prinzip verlässt, kann man zwar keinen Gegenstand konstituieren, aber mit ihr in einem freien Feld „reflektieren“ oder sogar „spielen“ und dank dieses Umstands ein ästhetisches oder telelogisches Urteil fällen. Dieses Feld ermöglicht sowohl eine Überbrückung der sinnlichen und übersinnlichen Böden-Gebiete als auch einen Raum für das freie Spiel der Vorstellungen in unserem Geist, das nur durch die Einbildungskraft möglich ist. Allerdings bringt Arendts Kantdeutung eine neue Perspektive, die der vorreflektierenden Dimension entspricht. Arendt argumentiert, dass die Stellung der Einbildungskraft im Prozess des Urteilens vorgängig sei, weil die Einbildungskraft eine Vorbedingung des Urteilens anbietet, die die transzendentalen Erkenntnisvermögen (Kants Idee) mit der geworfenen Situationsgebundenheit (Heideggers Idee) verbindet. Kants Theorie der Urteilskraft erhält dadurch eine phänomenologische Interpretation, und danach bessert sie diese mit einer ergänzenden Erläuterung hinsichtlich der vorreflektierenden Seite in der kantischen Philosophie auf. Arendts Kantdeutung hat einen Hinweis gegeben, wie eine Kantdeutung mit Heideggers Einsichten formuliert werden kann. Eine solche Deutung kann nach wie vor als eine „Kantdeutung“ konzipiert werden, da sie nicht das Grundprinzip der kantischen Philosophie übertritt, sondern einen Mangel ergänzt. Arendt erkennt die Kraft des Urteilens im Prozess der Sinn- und Erfahrungskonstitution des Lebens an. Man kann und soll urteilen, ebendarum wird man durch das Urteilen „der“ Mensch beziehungsweise das Dasein. Man kann somit sagen, dass Arendt eine Kantdeu-
599 Zur Diskussion über Feld, Boden und Gebiet siehe: „Begriffe, sofern sie auf Gegenstände bezogen werden, unangesehen ob eine Erkenntnis derselben möglich sei oder nicht, haben ihr Feld, welches bloß nach dem Verhältnis, das ihr Objekt zu unserem Erkenntnisvermögen überhaupt hat, bestimmt wird. – Der Teil dieses Feldes, worin für uns Erkenntnis möglich ist, ist ein Boden (territorium) für diese Begriffe und das dazu erforderliche Erkenntnisvermögen. Der Teil des Bodens, worauf diese gesetzgebend sind, ist das Gebiet (ditio) dieser Begriffe und der ihnen zustehenden Erkenntnisvermögen. Erfahrungsbegriffe haben also zwar ihren Boden in der Natur, als dem Inbegriff aller Gegenstände der Sinne, aber kein Gebiet (sondern nur ihren Aufenthalt, domicilium): weil sie zwar gesetzlich erzeugt werden aber nicht gesetzgehend sind, sondern die auf sie gegründeten Regeln empirisch, mithin zufällig sind“ (KU, S. 174).
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4.4 Eine Idee der kantisch-heideggerschen philosophischen Anthropologie
tung mit der Terminologie und der Existenzphilosophie Heideggers im Rahmen der kantischen Philosophie gibt, aufgrund derer sie den Schlussteil ihrer Trilogie in Bezug auf das Urteilen aufbaut.
4.4 Eine Idee der kantisch-heideggerschen philosophischen Anthropologie der Einbildungskraft Durch die bisherige Analyse haben wir erkannt, dass die Philosophie Kants und Heideggers einen inneren Konflikt aufweisen (vgl. Abschnitt 4.1), der die Schwierigkeit einer Vereinbarung der beiden philosophischen Einsichten konstituiert. Diese Schwierigkeit offenbart in gewissem Sinne den inneren Konflikt und die Inkonsistenz im frühen Denken Heideggers. Meines Erachtens verursacht die Enthüllung dieses inneren Konflikts die „Kehre“ Heideggers in den dreißiger Jahren. Mit anderen Worten: Heideggers Kantdeutung zwingt ihn selbst dazu, sich mit dem Problem, das sich aus seiner festgelegten Zielsetzung in SZ und seinem philosophischen Ansatz in seiner frühen Zeit ergibt, auseinanderzusetzen. Heidegger wählt einen neuen Weg, der ihn zu einer sogar noch radikaleren Position führt, die einerseits die Endlichkeit des Subjekts betont und andererseits den Subjektivitätsansatz in der abendländischen Philosophiegeschichte kritisiert. Gleichzeitig wird sein Ausdruck in seiner späteren Zeit mehr und mehr undurchsichtig und poetisch, da er neue philosophische Vokabeln finden will, um den Konflikt, der aus seiner früheren Zeit herrührt, zu überwinden. Heideggers Kehre zeigt die Unfähigkeit zu einer mühelosen Vereinigung zwischen den philosophischen Einsichten Kants und des frühen Heidegger auf. Aber wir haben auch mit Arendts Kantdeutung aufgezeigt, dass diese Aufgabe nicht unmöglich ist. Eine ontologisch-existenziale Kantdeutung, die auf der Sonderrolle der Einbildungskraft in der Philosophie Kants beruht, ist durchaus möglich und sinnvoll, da diese mögliche Theorie die Bedeutung der Kantdeutung Heideggers erneuern kann, wodurch die „Doppelvergessenheit der Kantdeutung Heideggers“ (vgl. Abschnitt 1.1.3) gelöst werden kann. Infolgedessen möchte ich letztendlich den Leserinnen und Lesern die Idee einer kantisch-heideggerschen philosophischen Anthropologie der Einbildungskraft nahebringen. Anhand dieser Idee versuchen wir die Möglichkeit, einen dritten Weg, nämlich die beiden philosophischen Einsichten zusammenzuführen, darzulegen. Diese philosophische Anthropologie beginnt mit der gemeinsamen Voraussetzung von Kant und Heidegger, al-
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Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
so der Endlichkeit des Menschen beziehungsweise des menschlichen Daseins. Jedoch ist diese Endlichkeit nur die Grundlegung dieser philosophischen Anthropologie, nicht ihre Beschränkung. Die Möglichkeit des Menschen bleibt geöffnet ausgehende vom Wesenscharakter der Einbildungskraft – sie ist eine freie Spielkraft. Eine Idee der philosophischen Anthropologie beruht grundsätzlich auf der Kantdeutung Heideggers. Im Anschluss daran berichtigen wir die Abweichung seiner Kantdeutung mittels der Überlegungen in den Beiträgen zur Kantdeutung Arendts, damit wir eine berechtigte Kantdeutung erhalten. Diese Deutung bezieht sich auf das Grundverständnis und -wesen des menschlichen Daseins, da sie nicht zuerst auf die intellektuelle Seite der menschlichen Erkenntnisvermögen, sondern auf die sinnlich-gegebene Seite, das heißt die Einbildungskraft, verweist. Die Hauptgedanken lauten wie folgt: Heideggers Kantdeutung zufolge hängt im Voraus die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis von der Sinnlichkeit (vgl. T2, insbesondere die Abschnitte 3.2.3 und 3.3) ab, und da der grundlegende Faktor der zwei Formen der reinen Anschauung die Zeit ist, ist die Zeit tatsächlich das ursprünglichere Element der menschliche Erkenntnis und sogar des daseinsmäßigen Lebens (vgl. T2). Durch die Enthüllung der inneren Beziehung zwischen der Zeit und der transzendentalen Einbildungskraft (vgl. T6, insbesondere die Abschnitte 3.6.1 und 3.6.2) zeigt Heidegger die Tatsache auf, dass die Zeit und die Einbildungskraft im Prozess der Selbstkonstitution eine vorrangige Rolle erhalten (vgl. T6, insbesondere die Abschnitt 3.6.3 und 3.6.4). Die Einbildungskraft dient als das dritte Grunderkenntnisvermögen, als ein vorgängiges Strukturganzes, sie ist gleichsam ein dahinterstehender und unthematisierter Hintergrund, um die Sinnlichkeit und den Verstand vorzubereiten (vgl. T5). Daher kann sie in diesem Sinne als die gemeinschaftliche Wurzel der beiden Erkenntnisvermögen bezeichnet werden, die einen ontologischen Grund, nämlich eine ursprüngliche Einheit, anbietet. Es sei daran erinnert, dass diese Wurzel nicht als der letzte und einzige Grund aller Erkenntnisvermögen, als die fundamentale ontologische Grundlage der menschlichen Erkenntnis, sondern als ein vorentworfenes Feld, als ein zeit-bildender Horizont beziehungsweise als ein hermeneutischer Spielraum verstanden werden soll, wodurch die Entstehung der kognitiven Tätigkeit gut vorbereitet wird (vgl. Abschnitt 3.5.3). Diese Interpretation führt zu dem weiteren Anspruch, dass der Wesenscharakter der transzendentalen Einbildungskraft in ihrem Zeitcharakter liegt. Dieser Interpretation entsprechend beansprucht Heidegger, dass die transzendentale Einbildungskraft tatsächlich die ursprüngliche Zeit ist (vgl. T6). Diese
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4.4 Eine Idee der kantisch-heideggerschen philosophischen Anthropologie
Interpretation ist entscheidend, da sie erklärt, warum die Zeit ebenso wie die Einbildungskraft eigentlich der Ursprung der Erkenntnis- und sogar der Sinnkonstitution ist. Die Einbildungskraft kann als der Ursprung interpretiert werden, da sie die Kraft besitzt, das Schema der Begriffe spontan bilden zu können. Diese Spontaneität gehört lediglich zur produktiven beziehungsweise transzendentalen Einbildungskraft (nicht zur reproduktiven) und mithilfe der transzendentalen Einbildungskraft kann der Schematismus, das heißt das Verfahren der Versinnlichung der entweder empirischen oder reinen Begriffe, funktionieren. Der Schematismus ist in Heideggers Kantdeutung als das Geschehen zu verstehen, das den Transzendenzhorizont, ein „Sinnlichmachen des Horizontes“, anbietet. „Der Transzendenzhorizont kann sich nur in einer Versinnlichung bilden.“600 Das Schema eines Begriffs, der „reine sinnliche Begriff“601, als das Anblickbieten eines Begriffs beinhaltet die doppelseitigen Elemente der „reinen“ und „sinnlichen“ Begriffe, damit die sinnliche Gegebenheit (die Besonderheit) unter die reinen Begriffe (dem Universalen) mit Hilfe dieses „Dritten“ in der Tätigkeit des Urteilens subsumiert werden kann. Somit wird die Verbindung zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand realisiert. Aber für Heidegger ist wichtiger, dass die Einbildungskraft im Verfahren des Schematismus die Zeitdimension mit den Verstandesbegriffen ausstattet. Aufgrund dieser spontanen Erkenntnistätigkeit kann über eine gegeben-geworfene Situation unter den universalen Begriffen nachgedacht werden, um ein Urteil in concreto zu fällen. Die Selbigkeit des Daseins wird danach in das zeitlich-geschichtliche Selbstverstehen und -urteilen gebildet. Den vorangegangenen Hauptpunkten der Kantdeutung Heideggers können wir mindestens drei Implikationen entnehmen: 1. Die Einbildungskraft geht ontologisch den anderen Erkenntnisvermögen (wie Sinnlichkeit und Verstand) voraus, und wegen der inneren Beziehung von Einbildungskraft und Zeit hat das sinnliche Erkenntnisvermögen einen Vorrang in der Erkenntniskonstitution und Seinsverfassung. Jedoch führt dieses Hochhalten der Einbildungskraft zum Ergebnis, dass die Herrschaft der Vernunft im ganzen System Kants erschüttert wird und die menschliche Vernunft dem Abgrund – Abwesenheit des vernünftigen Grundes – gegenüberstehen muss, was aber für den preußischen Aufklärungsphilosophen schwer zu akzeptieren ist. Allerdings ist nach der postmodernen Kritik der Vernunft die absolute Herrschaft der Vernunft schon zweifelhaft. Wenn die Einbildungs-
600 KPM, S. 91. 601 KrV A 140/B 180.
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Viertes Kapitel: Auseinandersetzung und Interpretation
kraft das „ursprüngliche“ Erkenntnisvermögen in der Begründung der philosophischen Anthropologie wird, dann muss die Landschaft der kritischen Arbeit größtenteils verändert werden. Der Wesenscharakter der Kritik der Erkenntnisvermögen muss von dem traditionellen Verständnis der menschlichen Vernunft, das den Intellektualismus (vgl. Abschnitt 1.2.1) favorisiert, dezentralisiert werden. Letztendlich werden die Einbildungskraft und die Zeit dem gleichursprünglichen Grund der menschlichen Erkenntnistätigkeit und Seinsverfassung zugeordnet. 2. Heidegger vergrößert tatsächlich Kants Arbeit an der Kritik der Erkenntnisvermögen, die nicht nur als eine Grundlegung der Erkenntnis verstanden werden kann, sondern auch als eine Grundlegung des Seinsverständnisses sowie der Seinsverfassung. In dieser Vergrößerung ist die Einbildungskraft das vorgehende Erkenntnisvermögen, wodurch das Seinsverständnis und die Selbstverfassung erst möglich werden. Das Seinsverständnis und die Seinsverfassung sind die Elemente des hermeneutischen Prozesses, durch den die Selbigkeit des menschlichen Daseins sich in der Zeit erschaffen lässt. Die Einbildungskraft bietet das mögliche Schema-Bild des daseinsmäßigen Lebens an, das der Geschichte und der geworfenen Situation des Daseins entsprechend zu formulieren ist. Diese Schema-Bilder können in der Tat als die Existentialen (vgl. Abschnitt 4.2.3) kategorisiert und abgefasst werden, mit denen die verschiedenen Zeithorizonte des Menschen in einer „theoretischen“ Weise dargestellt werden. Nach der theoretischen Formulierung können die Existentialen als existenziale Kategorien und als Schematismus in einer Tafel der Lebenskategorien (vgl. Abschnitt 4.3.3, insbesondere Anschnitt 4.3.3.1) begriffen werden, die sich auf den bildenden Entwurf des daseinsmäßigen Lebens in den drei Dimension der Zeit bezieht. 3. In der traditionellen Kantdeutung liegt das Kernmoment des Selbstbewusstseins in der reinen beziehungsweise transzendentalen Apperzeption, die als eine reine, geschlechtslose und geschichtslose Form des Selbst begriffen werden kann. Heidegger gibt der Zeitdimension das Selbst durch die Ausstattung des Zeitcharakters der Einbildungskraft ein. Eine dynamische und geschichtliche Konstitution des Selbst ist möglich, da die Einbildungskraft, als das vorangehende Erkenntnisvermögen, die strukturelle Einheit der drei Dimensionen der Zeit begründet. Dieses vorgängige zeit-bildende Selbstbild, das von jedem besonderen Erlebnis eines Selbst abhängt, orientiert sich an dem menschlichen Dasein, um sein Selbst in einer gegeben-geworfenen Situation weiter
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4.4 Eine Idee der kantisch-heideggerschen philosophischen Anthropologie
zu bilden. Anders gesagt: Die Einbildungskraft spielt jetzt nicht nur die Rolle, die Möglichkeit für Erkenntnis zu schaffen, sondern auch die Erkenntnis des daseinsmäßigen Selbst zu ermöglichen. In diesem Sinne nenne ich die Einbildungskraft die Orientierungskraft des Daseins. Diese obige Erklärung der Kantdeutung Heideggers führt zu einer vertretbaren weiteren Kantdeutung im Fazit dieser Arbeit, die als die Grundlegung einer philosophischen Anthropologie verstanden werden kann. Diese philosophische Anthropologie betont den Vorrang und die Funktionen der sinnlich-spontanen Erkenntnisvermögen, nämlich der Einbildungskraft. Als das „Dazwischen“ fungiert die Einbildungskraft nicht nur als ein vorgängiger, aber verborgener Strukturhorizont der Erkenntnistätigkeit beziehungsweise der Seinsverfassung, sondern als ein benötigtes und nicht übersehbares Element des Menschen beziehungsweise des menschlichen Daseins in dieser Anthropologie. Diese philosophische Anthropologie zielt nicht auf eine Definition des „Menschenwesens“, sondern auf eine phänomenologische Beschreibung des menschlichen Daseins, um ein tiefergehendes Verständnis eines Menschenbilds zu enthüllen und zu ergreifen. Diese Beschreibung zeigt die versteckte Bedeutung und Funktion der Einbildungskraft in der Erkenntnistätigkeit und der Seinsverfassung, und mit dieser Beschreibung kann das vorreflexive Konstitutionselement des daseinsmäßigen Lebens in das kantische System einbezogen werden. Dieser Versuch wurde bereits in der Abstraktion der Kantdeutung Arendts vorgestellt, die aufzeigt, dass eine kantisch-heideggersche Theorie des auf Einbildungskraft beruhenden Urteilens möglich und überzeugend ist. Diese Deutung könnte möglicherweise in Zukunft eine neue Richtung der Kantdeutung werden. Hier am Ende meiner Interpretationsarbeit möchte ich ein Zitat aus KPM ausleihen: Gibt nun eine Interpretation lediglich das wieder, was Kant ausdrücklich gesagt hat, dann ist sie von vornherein keine Auslegung, sofern einer solchen die Aufgabe gestellt bleibt, dasjenige eigens sichtbar zu machen, was Kant über die ausdrückliche Formulierung hinaus in seiner Grundlegung ans Licht gebracht hat. Dieses aber vermochte Kant selbst nicht mehr zu sagen, wie denn überhaupt in jeder philosophischen Erkenntnis nicht das entscheidend werden muß, was sie in den ausgesprochenen Sätzen sagt, sondern was sie als noch Ungesagtes durch das Gesagte vor Augen legt.602
602 KPM, S. 201.
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Appendix: Mou Zongsans Auseinandersetzung mit Heideggers Kantinterpretation
Hintergrund Mou Zongsan (牟宗三, 1909–1995), einer der wichtigsten zeitgenössischen Philosophen aus China,603 begründete den Neukonfuzianismus mit Fang Dongmei (方東美, 1899–1977, auch Thomé H. Fang,), Tang Junyi (唐君 毅, 1909–1978), Xu Fuguan (徐復觀, 1904–1982) und anderen. Angesichts des inneren Leidens und des äußeren Tumults (內憂外患), die sich auf die internen politischen Unsicherheiten und die ausländischen Einbrüche im früheren 20. Jahrhundert Chinas beziehen, entstand unter Intellektuellen das Bedürfnis, das chinesische Denken zu erneuern. Einerseits forderten einige Intellektuelle (zum Beispiel Hu Shi 胡適, 1891–1962) eine radikale Reformulierung, die notwendig ist, um das Denken und die traditionellen Lebensgewohnheiten Chinas von unter her zu verlassen.604 Anderseits schlugen andere Denker eine Idee vor, die „chinesisches Lernen als Substanz und westliches Lernen zur Anwendung“ genannt wurde. Mit dieser Idee, so dachte man, sei eine organische Verbindung zwischen dem traditionellen chinesischen Denken und der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Anwendung möglich. Vor diesem Hintergrund entwickelte Mou sein eigenes Problembewusstsein hinsichtlich einer Neuinterpretation der chinesischen Philosophie und den möglichen Beiträgen der chinesischen Kultur im Kontext der Weltphilosophie.605 In seinen letzten Jahren suchte
603 Vgl.: „If twentieth-century China produced a philosopher of the first rank, it was Mou Zongsan“ (Jason Clower: Introduction. In: Late Works of Mou Zongsan. Selected Essays on Chinese Philosophy. Hg. von Jason Clower. Leiden und Boston 2014, S. 1–27, hier S. 1). 604 Die „Neue-Kultur-Bewegung“ (新文化運動) war die wichtigste literarische und kulturelle Bewegung, durch die sich die alltäglichen und literarischen Ausdrücke im Chinesischen entscheidend verändert haben. Dies kann auch als ein wesentliches und unbestreitbares Kennzeichen der Verwestlichung Chinas erkannt werden. 605 Vgl.: „But Mou’s faith in traditional Chinese culture’s prospects as a future teacher to the West held strong, and Mou did more than anyone to translate decades of vague talk about the majesty and unparalleled resources with which Chinese tradition might supplement the perceived shortcomings of Western
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Appendix: Mou Zongsans Auseinandersetzung mit Heideggers Kantinterpretation
Mou eine Verbindung der chinesischen Philosophie im Allgemeinen mit der abendländischen Philosophie, die hauptsächlich auf der Auseinandersetzung mit der kantischen Philosophie basierte. Im heutigen Kontext der komparativen Philosophie, die größtenteils auf in Englisch oder Chinesisch geschriebenen Werken aufbaut, gibt es schon zahlreich Untersuchungen,606 die die Rolle der kantischen Philosophie in Mous System betonen. Jedoch haben wenige Forscher beachtet, dass Heidegger, insbesondere seine Kantdeutung, einen großen Einfluss auf das späte oder spätere Denken Mous hatte und eine entscheidende Rolle für seine letzte philosophische Entwicklung spielte. Im Folgenden werde ich diesen Aspekt enthüllen und Mous Position diskutieren.
Einführung Es besteht unter den Forschen, die die zeitgenössische chinesische Philosophie studieren, ein genereller Konsens darüber, dass Mou große Anstrengungen unternahm, die Philosophie Kants neu zu interpretieren, und dass
modernity into systematic details about precisely what Chinese philosophy would contribute and how“ (ebd., S. 3). 606 In den deutschsprachigen akademischen Kreisen gibt es bereits viele Forscher, die sich dafür interessieren, Untersuchungen zur zeitgenössischen chinesischen Philosophie, insbesondere über Mous Arbeiten, zu schreiben. Ming-huei Lee, ein Schüler von Mou, hat bereits in seiner Dissertation Heideggers Kantdeutung des Begriffs Achtung und des moralischen Gefühls durch Mous Einsichten kritisiert (vgl. Das Problem des moralischen Gefühls in der Entwicklung der kantischen Ethik, Bonn 1987). Er hat das relevante Thema in Der Konfuzianismus im modernen China (Leipzig 2001) und in Konfuzianischer Humanismus (Bielefeld 2013) weiterbearbeitet. Olf Lehmanns Zur moralmetaphysischen Grundlegung einer konfuzianischen Moderne. Philosophisierung der Tradition und Konfuzianisierung der Aufklärung bei Mou Zongsan (Leipzig 2003) ist eine der wenigen Monographien, die Mous Denken auf Deutsch systematisch behandeln. Antje Ehrhardt Piolettis Die Realität des moralischen Handelns. Mou Zongsans Darstellung des Neokonfuzianismus als Vollendung der praktischen Philosophie Kants (Frankfurt am Main 1997) fokussiert auch die kantische Seite der Arbeit Mous. Rafael Suters hat in seiner Dissertation Ursprünge der Ordnung. Die logischen Grundlagen des Neukonfuzianismus im Frühwerk Mou Zongsans (Zürich 2011), die sich, Mou anerkennend, auf die logische anstatt auf die ontologische Richtung beschränkt, Mous frühes Denken ausführlich herausgearbeitet. Diese seltenen Fälle zeigen nicht nur die zurückhaltende Rezeptionen der zeitgenössischen chinesische Philosophie auf, sondern auch die Unwissenheit über das mögliche Zusammenspiel zwischen deutscher und chinesischer Philosophie.
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Appendix: Mou Zongsans Auseinandersetzung mit Heideggers Kantinterpretation
er versuchte, die kantische Philosophie mit der chinesischen Philosophie im Allgemeinen zu verbinden. Jason Clower fasst zusammen: For Mou the challenge and promise of Western influence is personified by Immanuel Kant. In the latter half of Mou’s life, Kant is so omnipresent in Mou’s thoughts that Joël Thoraval does not exaggerate when he speaks of Mou’s fixation on Kant as “almost obsessive.” Serina Chan describes Mou’s relationship as one of mixed “admiration and competitiveness,” and this aptly captures the twofold way that Mou sees Kant: as a model from whom to learn and a rival to surpass.607 Mous Rezeption der Phänomenologie, insbesondere der Philosophie von Husserl und Heidegger, wird jedoch von Mou-Forschern, die auf Chinesisch und Englisch schreiben, selten angesprochen und diskutiert. Wingcheuk Chan als eine Ausnahme zeigt dagegen auf: Historically, if this text [Mous Erscheinung und Ding an sich] is the offspring of the marriage between Kantian philosophy and the School of Mind (xin) represented by Lu Xiangshan and Wang Yangming in Song-Ming Neo-Confucianism, then Heidegger was its midwife.608 Mit einer ähnlichen Idee werde ich im Folgenden für eine Gewichtung und einen Beitrag der Einsichten Heideggers argumentieren, die das späte Denken Mous beeinflussten. Dieses Faktum wird ebenfalls von den MouExperten und den Forschern der zeitgenössischen Geschichte der chinesischen Philosophie übersehen. N. Serina Chan, Autorin von The Thought of Mou Zongsan, erwähnt Sébastien Billiouds Aufsatz Mou Zongsan’s problem with the Heideggerian Interpretation in einer Fußnote ihres Buchs. Sie schreibt, er (Billioud) „laments that Mou failed to take the influential German philosopher Martin Heidegger (1889–1976) on his own terms and so wasted the opportunity for a fruitful dialogue.“609 Sie ist nicht mit Billiouds Sicht einverstanden und äußert sich dazu wie folgt:
607 Clower: Introduction, S. 19. 608 Wing-cheuk Chan: Thinking Through Confucian Modernity. A Study of Mou Zongsan's Moral Metaphysics by Sebastien Billioud. In: Philosophy East and West 63.4 (2013), S. 683–686, hier S. 683. 609 N. Serina Chan: The Thought of Mou Zongsan. Leiden und Boston 2011, S. 129 (Anm. 35). Vgl. Sébastien Billioud: Mou Zongsan’s Problem with the Heideggerian Interpretation of Kant. In: Journal of Chinese Philosophy 33.2 (2006), S. 225–227, hier S. 243–244.
277 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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My view is that Mou did not see the possibility of a fruitful dialogue when his prima interest – an onto-cosmology with a religious undertow – clashed loudly with the philosophical premises of the non-religious Heidegger. […] I find Heidegger fascinating, but given the fundamental divergence between him and Kant in spirit as well as in theory, I have to say that the possibility of Kant’s works having to be interpreted in Heidegger’s way is nil.610 Aus meiner Sicht ist Chans Kommentar in zweierlei Hinsicht problematisch: Erstens verkennt sie entweder den Grundgedanken und den Grundcharakter von Mous oder Heideggers Philosophie oder beides; zweitens hat sie die Absicht und die Ergebnisse der Kantinterpretation Heideggers missverstanden.611 Tatsächlich ist Billiouds Beobachtung für mich vernünftiger, da er den Grund erkennt, warum Mou Heideggers Kantinterpretation ernst nahm. „If Kant’s works have to be interpreted in Heidegger’s way, the whole philosophical system of Mou Zongsan is threatened.“612 Mou hat dies klar erkannt und Heidegger absichtlich in die Diskussion einbezogen, um die Überlegenheit seiner Kantinterpretation zu demonstrieren.
Die Ontologie als der gemeinsame Anhaltspunkt der Kantinterpretation Mous und Heideggers Laut Po Hei Laus Rezension findet sich Mous Argument gegen Heideggers Kantinterpretation, die mit dem Begriff der „Endlichkeit“ zusammenhängt, in seinen drei Hauptwerken aus seiner späten Zeit.613 Erstens erscheint es in Intellektuelle Anschauung und chinesische Philosophie (im Folgenden abgekürzt mit IACP. 《智的直覺與中國哲學》, 1971), zweitens in Erscheinung und Ding an sich (im Folgenden abgekürzt mit ED. 《現象與物
610 Chan, The Thought of Mou Zongsan (Anm. 35), S. 129. 611 Eine Kritik an Chans Verständnis der Philosophie Mous soll an anderer Stelle diskutiert werden, daher teile ich hier nur mein Fazit mit. Selusi Ambrogio vertritt einen ähnlichen Standpunkt, der in drei Dimensionen („1. irrelevance, 2. strong conflict, 3. light conflict“) analysiert. Vgl.: Mou Zongsan and Martin Heidegger. Reopening a Debate on Ontology and Ethics. In: Frontiers of Philosophy in China 13.1 (2018), S. 55–71, hier S. 55–56. 612 Billioud: Mou Zongsan’s Problem with the Heideggerian Interpretation, S. 226. 613 Vgl. Po Hei Lau: Intellectual Intuition and Imagination. Mou Zongsan and Heidegger on Finitude. In: National Taiwan University Philosophical Review 45 (2013), S. 143–186, hier S. 146–147. (劉保禧:〈智的直覺與想像力──牟宗三與 海德格論有限性〉,《國立臺灣大學哲學論評》45,2013 年,頁 146–147。).
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自身》, 1975) und drittens in Abhandlung über das Summum Bonum (《圓 善論》, 1985).614 Einerseits zeigt Mou in diesen Passagen seine Wertschätzung für Heideggers Kantinterpretation, da Heideggers KPM ihn dazu inspirierte, die kantische Philosophie aus der Perspektive der Ontologie neu zu formulieren.615 Mou gibt zu, dass es nur die logische Funktion des menschlichen Verstehens betraf, als er die Kritik des Verstehensherzens (《認識心之批 判》, 1956/57) schrieb. In seinem frühen Alter erkannte er die ontologische Bedeutung, die in der KrV verankert ist, nicht vollständig.616 Daher begann er seine Diskussion mit der Unterscheidung des logischen Referenzschemas und des ontologischen Referenzschemas in IACP, um die ontologische Bedeutung der KrV zu veranschaulichen. Mou kritisiert, dass Kant den Anhaltspunkt für die Entdeckung der Urteilstabelle im Abschnitt „Von dem Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe“ nicht klar und hinreichend dargestellt habe. Dies führt unweigerlich zu einem Zweifel an der Gültigkeit und Notwendigkeit der Tabelle. Er kommentiert, dass Kants Methode zur Entdeckung der reinen Kategorien lediglich einem logischen Reduktionismus unterworfen ist und die Bedeutung und Rechtfertigung der ontologischen Bedeutung reiner Kategorien verfehlt wird. Obgleich die objektive Gültigkeit der reinen Kategorien durch das transzendentale Deduktionskapitel gerechtfertigt werden kann, bleibt er bei dem Zweifel an der Herkunft der Urteils- und Kategorientabelle und darüber hinaus am ontologischen Status der obigen Tabelle und schreibt dementsprechend: „Kant glaubt anscheinend nur an Leistungen, die aus der zweitausendjährigen Tradition stammen, und er erkennt nie, dass die Urteilstabelle auch eine transzendentale Rechtfertigung erfordert.“617 Daher hält er die Notwendigkeit einer ergänzenden Arbeit in Hinblick auf Kants metaphysische Deduktion aufrecht, durch die die ontologische Bedeutung der Kategorien wirklich erklärt werden kann.
614 Alle Namen und Zitate aus Mous Werken auf Chinesisch wurden vom Verfasser übersetzt, da es bis jetzt keine verbindliche und vollständige Übersetzung dieser Werke gibt. 615 Mou Zongsan: Intellektuelle Anschauung und chinesische Philosophie [Zhi de Zhijue yu Zhongguo Zhexuei]. In: Ders: The Complete Works of Mou Zongsan, Bd. 20. Taipei 2003, Vorwort, S. 6. (牟宗三:《智的直覺與中國哲學》﹐《牟宗三先 生全集》第二十冊。臺北:聯經,2003 年,序,頁 6。). 616 Vgl. IACP, Vorwort, S. 3–7. 617 Ebd., S. 6.
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Nach dieser Überlegung kritisiert Mou, dass Kants Aussage „der Verstand bestimmt die Natur“ (知性為自然立法) zu stark und starr sei.618 Der Verstand, so glaubt er, sei nur dazu qualifiziert, „Regeln für“ die Natur „bereitzustellen“, anstatt die Natur zu „bestimmen“. Er weist darauf hin, dass das selbst gegebene Prinzip des Verstandes und des Willens unterschiedlich sind. Der Wille entspricht dem Prinzip der Autonomie (自律) und der Verstand dem Prinzip der Spontaneität (自發). Sie sind sowohl spontan als auch aktiv, aber der Verstand hat keine „Kreativität“, die zu einer Kreation des objektiven Seins führt. Der Verstand kann nur das Seiende „kennen“, aber der Wille kann das Sein und das Seiende im Sinne eines moralischen Handelns „handhaben“.619 Da der Verstand nur das Seiende „umgehen“ kann, genügt es nicht, nur durch die Argumentation im Abschnitt „Leitfaden“ zu sagen, dass der Verstand das Seiende bestimmen kann. Daher ist Mou der Ansicht, Kant hätte eine ontologische Deduktion hinzufügen müssen, um seine Behauptung zu stützen. Aufgrund des Kapitels „transzendentale Ästhetik“ und der ersten Hälfte der „transzendentalen Logik“, nämlich § 1 – § 12 in der KrV, kann Kant lediglich die Rechtmäßigkeit des Verstandes beweisen. Die ontologische Rechtfertigung der reinen Kategorien ist jedoch noch nicht vollständig. Daher muss Kant die konzeptionelle Ressource der Sensibilität (zum Beispiel transzendentale Einbildungskraft und Zeit) in Erinnerung rufen, um die ontologische Referenz für sein gesamtes Argument zu ergänzen und zu verstärken. Mit anderen Worten, wir glauben, dass sich die gesamte transzendentale Deduktion nicht nur als eine logische Möglichkeit, sondern auch als eine ontologische Möglichkeit der menschlichen Erkenntnis erwiesen hat. Diese Einsicht stimmt eindeutig mit Heideggers Argumentation in seinem Kant-Buch überein. In den einleitenden Kapiteln des Kant-Buchs benennt Heidegger den Zweck seines Buches, das auf eine Widerlegung der damaligen Kantinterpretation abzielt (vertreten durch die Neukantianer der Marburger Schule). Er lehnt die Idee ab, dass Kants KrV als eine Erkenntnistheorie verstanden wird. Stattdessen führt er Gründe an, dass der Hauptzweck der KrV darin bestehe, eine Grundlage für die Metaphysik im besonderen Sinne zu schaffen, nämlich eine Grundlage für die Metaphysica generalis.620 Durch diesen Prozess hat Kant in der Tat die Möglichkeit für eine neue Ontologie eröffnet, die Heidegger als Fundamentalontologie bezeichnet. Der Zweck
618 Vgl. IACP, S. 19–20. 619 Vgl. ebd., S. 17–18. 620 Vgl. KPM, S. 5–18.
280 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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einer solchen Ontologie liegt darin, die Möglichkeitsbedingung der Seinsfrage zu entlarven. Dadurch, als eine Vorbereitungsarbeit, gewinnen wir den Anhaltspunkt, in das Herz der allgemeinen Ontologie hinsichtlich des Sinns des Seins einzugreifen. In diesem Sinne ist Heideggers in SZ vorgeschlagenes Projekt mit Kants KrV verbunden. Wie begründet Heidegger seine Behauptungen? Eines seiner Argumente liegt in seiner Neuinterpretation der Bedeutung der „kopernikanischen Wende“ Kants. In traditioneller Weise verstehen wir diese Wende als die Umkehrung der Art und Weise der Rechtfertigung der Wahrheit, und zwar von der Abhängigkeit von der objektiven Realität der Weltgegebenheit bis zur Übereinstimmung mit den subjektiven Bedingungen der menschlichen Erkenntnis. Das Ergebnis dieser Wende führt dazu, dass das Studium der Realität an sich (Ding an sich im traditionellen Sinne) aufgegeben wird und der Fokus auf die Welt der Erscheinungen und die a priori Strukturen des Gemüts, die die Wirklichkeit (anstatt der Realität) der menschlichen Erkenntnis und Erfahrung bestimmen, gerichtet wird. Heidegger gibt eine neue Version der kopernikanischer Wende Kants, die vorschlägt, dass Kant die ontologische Erkenntnis (Erkenntnis des Seins) begründet, die ursprünglich die ontische Erkenntnis (Erkenntnis des Seienden) begründet. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass Heidegger die Bedeutung der Begriffe „transzendental“ durch „ontologisch“ und „rein und empirisch“ (oder gegenständlich) durch „ontisches“ Wissen ersetzt und erweitert. Auf dieser Grundlage führt er aus: Durch die Kopernikanische Wendung wird der „alte“ Wahrheitsbegriff im Sinne der „Angleichung“ (adaequatio) der Erkenntnis an das Seiende so wenig erschüttert, daß sie ihn gerade voraussetzt, ja ihn allererst begründet. An Seiendes („Gegenstände“) kann sich ontische Erkenntnis nur angleichen, wenn dieses Seiende als Seiendes zuvor schon offenbar, d.h. in seiner Seinsverfassung erkannt ist.621 Der alte Wahrheitsbegriff ging davon aus, dass jede menschliche Erkenntnis den Objekten entsprechen muss, doch Kant dreht dies um und versucht herauszufinden, ob es möglich ist, Objekte a priori zu erkennen. In Heideggers Worten sucht Kant nach der Möglichkeit der ontologischen Wahrheit, die die ontische Wahrheit begründen kann. Diese Aufgabe zielt auf eine Grundlegung der allgemeinen Metaphysik (Grundlegung der Metaphysica generalis) ab, mit der die Möglichkeit einer ontologischen Erkenntnis, nämlich der Ontologie, gut begründet ist. 621 Ebd., S. 13.
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Chan weist auch darauf hin, dass Mou und Heidegger viele Gemeinsamkeiten haben, die grundsätzlich auf ihrer ontologischen Orientierung beruhen.622 Wir können jetzt genau nachvollziehen, dass beide Kantdeuter, Mou und Heidegger, die Rechtfertigung der ontologischen Erkenntnis in der Philosophie Kants als den Anhaltspunkt einer neuen Kantinterpretation betrachten. Sie sind jedoch der Meinung, dass die ontologische Bedeutung der menschlichen Erkenntnis auf unterschiedliche Weise enthüllt und ergänzt werden muss. Dies führt nicht nur zu einer weiteren Ausarbeitung ihrer Interpretation, sondern auch zu dem unvermeidlichen Streit zwischen diesen bedeutsamen Interpretationen.
Der Schlüssel zu Mous Modifikation der kantischen Philosophie und sein Bestreben, die Überlegenheit der chinesischen Philosophie zu demonstrieren Wie wir gesehen haben, haben sich beide Kantinterpreten auf ähnliche Weise mit der kantischen Philosophie auseinandergesetzt. Jedoch trennten sie sich anschließend in konfrontative Positionen. Der Hauptgrund für ihre gegenteilige Auffassung liegt in ihrem unterschiedlichen Verständnis der menschlichen Endlichkeit bei Kant. In diesem Teil werden wir den Kern ihrer Interpretation und auch ihre Unterschiede untersuchen. Wir werden mit Mous Perspektive beginnen, da er derjenige war, der die Auseinandersetzung mit Kant und Heidegger bewusst und aktiv in Gang setzte. Im Anschluss an seine Überlegung wird der Streit zwischen seiner und Heideggers Interpretation deutlich.
1.) Mou über die menschliche Endlichkeit: „Menschen sind endlich, können aber unendlich sein“ Mou argumentiert am Anfang von ED, dass die KrV oder sogar das gesamte kantische System zwei Hauptprämissen enthält: erstens die transzendentale Unterscheidung zwischen „Phänomen“ und „Ding an sich“ (für Mou austauschbar mit „Noumenon“); zweitens, dass der Mensch endlich ist. Er
622 Vgl. „Their common ontological orientation is indeed a signal for some fundamental similarities between them“ (Wing-cheuk Chan: Confucian Moral Metaphysics and Heidegger's Fundamental Ontology. In: Analecta Husserliana 17 (1984), S. 187–202, hier S. 193–194).
282 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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denkt, dass die erste die zweite „impliziert“ und die zweite die erste „einschließt“. Somit ist die zweite grundlegender. Mous Interpretation beinhaltet zwei Hauptaussagen: 1.) Er gibt zu, dass die menschliche Endlichkeit die Grundvoraussetzung der gesamten kantischen Philosophie ist; 2.) Diese Prämisse basiert auf der Unterscheidung von „Phänomen“ und „Noumenon“.623 Obwohl der Begriff des Dings an sich für viele Kantgelehrte ein problematischer Begriff ist und einige von ihnen sogar vorgeschlagen haben, ihn beiseite zu lassen, unterstützt Mou im Gegenteil die grundlegende Bedeutung dieses Begriffs nicht nur für Kants Philosophie, sondern auch für die chinesische Philosophie im Allgemeinen. In der KrV vertritt Kant die Auffassung, dass das Noumenon eine wesentliche Rolle als „Grenzbegriff“ spielt, um den Umfang des legitimen Wissens für das menschliche Verständnis zu definieren. Das Ding an sich und das Noumenon können im Zuge der Etablierung der menschlichen Erkenntnis keinen „positiven Gebrauch“ haben, da die menschliche Erkenntnis auf den Bereich der Erscheinung beschränkt ist, der sich aus den reinen Formen der Anschauung, nämlich Raum und Zeit, und den reinen Verstandesbegriffen, also den zwölf Kategorien, zusammensetzt. Diese Einschränkung definiert nicht nur den Wissensbereich, sondern auch den Erfahrungsbereich des Menschen. Das Ding an sich ist per Definition ein kognitives Objekt außerhalb des Bereichs der zwei Quellen der menschlichen Erkenntnis, das heißt der Sinnlichkeit und des Verstandes, und damit können keine Erkenntnis beziehungsweise keine mögliche Erfahrung legitimiert werden. Somit definiert die Grenze der menschlichen Erkenntnis tatsächlich auch die Möglichkeit menschlicher Erfahrung.624 Obwohl das Ding an sich beziehungsweise das Noumenon vom menschlichen Verstand nicht „erkannt“ werden kann, bedeutet dies nicht, dass dieser Begriff „bedeutungslos“ ist – zumindest handelt es sich um einen Begriff mit einem Sinn ohne Bezug. Mou betont, dass, obwohl es aus theo-
623 Vgl. Mou Zongsan: Erscheinung und Ding an sich [Xianxiang yu Wuzishen]. In: Ders: The Complete Works of Mou Zongsan, Bd. 21. Taipei 2003, S. 1. (牟宗 三:《現象與物自身》,《牟宗三先生全集》第二十一冊。臺北:聯經, 2003 年,頁 1。). 624 Vgl. KrV A 225/B 310–311: „Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche. Er ist aber gleichwohl nicht willkürlich erdichtet, sondern hängt mit der Einschränkung der Sinnlichkeit zusammen, ohne doch etwas Positives außer dem Umfange derselben setzen zu können.“
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retischen Gründen ungültig ist, das Ding an sich als kognitives Objekt betrachtet werden muss und das Noumenon notwendig ist und dazu beiträgt, die Möglichkeit der Moralität aus praktischen Gründen zu veranschaulichen. Es ist wahr, dass Kant zwei unterschiedliche Prinzipien hat, um die Kausalität der Natur in Bezug auf die theoretische Vernunft und die Kausalität der Freiheit in Bezug auf die praktische Vernunft zu begründen. Noch wichtiger ist, dass die praktische Vernunft den Vorrang vor der theoretischen hat, was durch das „Faktum der Vernunft“ gerechtfertigt ist oder die Achtung des Sittengesetzes, die unabhängig von der Erfahrung ist, von vornherein offenbart werden muss. Deshalb schlägt Mou vor, die erste Prämisse der kantischen Philosophie in „Menschen sind endlich, können aber unendlich sein“ (人雖有限而可無限) zu ändern.625 Die Implikation dieser Modifikation liegt in der Verlagerung des Fokus von der Faktizität auf die Möglichkeit menschlicher Existenz. Wir können aufgrund dieser Modifikation der kantischen Prämisse den Fußabdruck von Heideggers Einfluss entdecken. Anhand eines langen Heidegger Zitats aus dem Kant-Buch diskutiert Mou in ED das Problem der Endlichkeit. Er erklärt die Meinung Heideggers, dass Kants drei fundamentale Probleme aus menschlicher Sicht – was kann ich wissen?, was soll ich tun?, worauf kann ich hoffen? – und anschließend die letzte Frage – was ist der Mensch? – einerseits die menschlichen Fähigkeiten definieren und andererseits die Unfähigkeit (das Nicht-Können) des Menschen zeigen.626 Wenn wir diese Probleme der menschlichen Vernunft vorschlagen und versuchen, die Grenze durch den Untersuchungsprozess zu ziehen, dann geben wir zu, dass der Mensch in gewissem Sinne ein endliches Wesen ist, das nicht wissen, nicht handeln oder nicht hoffen kann. Mou möchte mit Heideggers Worten auf Folgendes aufmerksam machen: Hieraus ergibt sich: die menschliche Vernunft ist nicht nur endlich, weil sie die genannten drei Fragen stellt, sondern umgekehrt: sie stellt
625 Vgl. ED, S. 18–20 und 24–31. Außerdem übersetze ich „人“ (Mensch) im Plural aus dem Grunde, dass ich Mous Behauptung so verstehe, dass „jeder“ Mensch endlich ist, aber auch unendlich sein kann. Meine Begründung liegt in seinen anderen Diskussionen über die Möglichkeit, allgemein erleuchtet zu werden. Zum Beispiel widmet er der Diskussion über den Icchantika-Streit große Aufmerksamkeit, was sich in dem Argument der Möglichkeit niederschlägt, ein Buddha zu werden, der in der buddhistischen Tradition „erweckt“ wurde. Seine Bewunderung der Mahayana-Theorie kann auch ein Nebenbeweis dafür sein, dass wir Grund haben, zu urteilen, dass Mous Anliegen in der intersubjektiven Beziehung statt in einer individuellen liegt. 626 Vgl. Mou: ED, S. 26. Und: KPM, S. 217.
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diese Fragen, weil sie endlich ist, und zwar so endlich, daß es ihr in ihrem Vernunftsein um diese Endlichkeit selbst geht.627 Angesichts der Tatsache, dass „Menschen endlich sind“, betonen sowohl Mou als auch Heidegger, dass die menschliche Existenz (Dasein) eine mögliche Existenz anstelle einer tatsächlichen Existenz ist. Mou stimmt im Grunde mit Heideggers „Definition“ der menschlichen Existenz als Seinkönnen überein. Er kann nicht zustimmen, dass Menschen, da sie als endlich gegeben sind, nicht in der Lage sind, als unendliches Wesen zu leben. Im Bereich der Moralität kann der Mensch unendlich sein, weil er ein „unendliches Herz“ (無限心) und eine „intellektuelle Anschauung“ (智的直 覺) hat, die nach Mous Ansicht von der chinesischen Philosophie im Allgemeinen auf unterschiedliche Weise gerechtfertigt werden können. Mou legt dar, dass all diese Konzepte nicht nur eine logische Möglichkeit, sondern auch eine reale Möglichkeit besitzen – was bedeutet, dass sie vom Herz-Geist (心) in unserem Leben gefühlt und bestätigt werden können.628 Da Kant nach Mous Interpretation die reale Möglichkeit der intellektuellen Anschauung für den Menschen nicht erkannte, grenzte er das menschliche Verständnis lediglich als diskursiv ein.
2.) Heidegger über die menschliche Endlichkeit: Seinsverständnis, Entwurf, Geworfenheit, Zeit und Einbildungskraft Heidegger zweifelt im Gegenteil stark an der Möglichkeit, das Unendliche des Menschen in Kauf zu nehmen. Im letzten Absatz von KPM stellt er eine Reihe von Fragen, die seine tiefe Skepsis gegenüber der unendlichen Seite der menschlichen Existenz offenbaren: Welches ist das transzendentale Wesen der Wahrheit überhaupt? Wie ist dieses und das Unwesen der Unwahrheit zumal im Grunde der Endlichkeit des Daseins ursprünglich einig mit der Grundbedürftig-
627 Übersetzt von Mou in ED, S. 26. Original aus KPM, S. 217. 628 Mou betont wiederholt den Ausdruck die „reale Möglichkeit“, die, ich verstehe dies so, nicht mit Kants Ausdruck identisch ist. Kant unterscheidet zwischen der realen Möglichkeit und der logischen Möglichkeit, um die Affektion aus der objektiven Welt zu thematisieren (vgl. KrV, Anm. 1, B 302–303). Aber Mous „reale Möglichkeit“ beinhaltet beide Dimension des „realen Seienden“ und des „eigentlichen Lebens“, nämlich die Bedeutung der Realität und der Eigentlichkeit hinsichtlich sowohl der theoretischen als auch der praktischen Philosophie.
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keit des Menschen, als ein in das Seiende geworfenes Seiendes, dergleichen wie Sein verstehen zu müssen? Hat es einen Sinn und besteht ein Recht, den Menschen auf Grund seiner innersten Endlichkeit – daß er der „Ontologie", d. h. des Seinsverständnisses, bedarf – als „schöpferisch" und somit als „unendlich" zu begreifen, wo doch gerade die Idee des unendlichen Wesens nichts so radikal von sich stößt wie eine Ontologie? Läßt sich aber die Endlichkeit im Dasein auch nur als Problem entwickeln ohne eine „vorausgesetzte" Unendlichkeit? Welcher Art ist überhaupt dieses „Voraus-setzen" im Dasein? Was bedeutet die so „gesetzte" Unendlichkeit?629 Die obige Zusammenfassung des Kant-Buchs verweist ausdrücklich auf seine Position in Anbetracht des Problems der menschlichen Endlichkeit – er stellt die Rede vom „unendlichen Charakter“ oder der „Unendlichkeit“ des menschlichen Daseins in Frage. Dies umfasst nicht nur den Hauptpunkt seiner Kantinterpretation, sondern zeigt auch die Diskrepanz zwischen anderen wichtigen Kantinterpretationen und seiner. Heidegger lehnt nicht nur in KPM, sondern auch in seinen zahlreichen Vorträgen eine Kantinterpretation ab, die Kants KrV vor allem als Erkenntnistheorie interpretiert, was, nach seiner Anklage, die allgemeine Orientierung des Neukantianismus sei. Stattdessen sagt er, dass die grundlegende Absicht von KrV darin bestehe, eine Grundlage für die Metaphysica generalis zu schaffen, was er im vierten Kapitel von KPM, der Eröffnung einer Metaphysik des Daseins, konkret herausgearbeitet hat. Diese Metaphysik kann als grundlegende Ontologie verstanden werden, auf die wir uns vorbereiten können, um die „Seinsfrage“, sprich die Suche nach dem Sinn des Seins, näher zu betrachten. Diese vorläufige Aufgabe der Frage nach dem Sein kann als die Daseinsanalyse bezeichnet werden. Um Kants Arbeit mit seiner Aufgabe zu verbinden, argumentiert er, dass Kant die Möglichkeit eröffnete, eine Metaphysik des Daseins durch die KrV zu komponieren. In Verbindung mit der Sichtweise von SZ und KPM wissen wir, dass die wichtigste Voraussetzung, „ihre Grundlage“, für die Metaphysik des Daseins die Endlichkeit des menschlichen Daseins ist: Die Enthüllung der Seinsverfassung des Daseins ist Ontologie. Sofern in ihr der Grund der Möglichkeit der Metaphysik – die Endlichkeit des Daseins als deren Fundament – gelegt werden soll, heißt sie Funda629 KPM, S. 246.
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mentalontologie. Im Gehalt dieses Titels ist das Problem der Endlichkeit im Menschen in Absicht auf die Ermöglichung des Seinsverständnisses als das Entscheidende eingeschlossen.630 Kants Arbeit, insbesondere die KrV, begründet die Möglichkeit der menschlichen Erkenntnis, indem sie die Grenze des menschlichen Verstandes aufzeigt. Dies verweist auf eine entscheidende Dimension der menschlichen Endlichkeit – die Endlichkeit des menschlichen Verstandes oder, mit einem anderen kantischen Begriff, des diskursiven Verstandes. Heidegger ersetzt jedoch eine solche Endlichkeit im Sinne des endlichen Seinsverständnisses. In den späteren Kapiteln des Kant-Buchs zeigt er, dass alle Verständnistätigkeiten das Seinsverständnis voraussetzten, das im Voraus die ursprüngliche Einheit für das Verständnis des Daseins liefert und konstruiert. Diese Einheit ist die Basis der menschlichen Endlichkeit und sogar des menschlichen Daseins, mit der der Mensch zu wissen und zu sein beginnt. Er sagt: Auf dem Grunde des Seinsverständnisses ist der Mensch das Da, mit dessen Sein der eröffnende Einbruch in das Seiende geschieht, so daß dieses sich als solches für ein Selbst bekunden kann. Ursprünglicher als der Mensch ist die Endlichkeit des Daseins in ihm.631 Das „innerste Wesen der Endlichkeit“ des menschlichen Daseins liegt im Seinsverständnis, es ist noch „ursprünglicher als der Mensch“ – bevor wir versuchen zu „definieren“, was der Mensch ist, leben wir bereits und verstehen uns als Mensch. Das Seinsverständnis ist eine „Vorstruktur“ des Verstehens, mit der das Dasein täglich sein eigenes Sein verstehen und konstituieren kann. Eine solche Vorstruktur ist ein Unsichtbares, das im Vorhinein die sichtbare Struktur des Verstehens „hervorhebt“, die bereits in Kants Kritiken dargestellt wird. So behauptet Heidegger: „Die Endlichkeit des Daseins – das Seinsverständnis – liegt in der Vergessenheit.“632 Diese Vergessenheit ist für ihn nichts Zufälliges und Vorübergehendes, sondern wird notwendigerweise und ständig geformt. Sie spielt die Rolle des Hintergrunds für die „Erscheinung“, der Gegenstände sehen lässt. Als die „vergessene“ Endlichkeit des Daseins hat das Seinsverständnis jedoch die Möglichkeit, sich enthüllen zu lassen, sonst wäre es nicht in der Lage
630 Ebd., S. 232. 631 Ebd., S. 229. 632 Ebd., S. 233.
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zu bezeichnen und zu beschreiben.633 Auf dieser Grundlage arbeitet er seine Idee weiter aus, indem er das Konzept des „Entwurfs“ einführt: Die Seinsverfassung jedes Seienden und die des Daseins in einem ausgezeichneten Sinne wird nur im Verstehen zugänglich, sofern dieses den Charakter des Entwurfs hat. Weil das Verstehen – das zeigt gerade die Fundamentalontologie – nicht nur eine Art des Erkennens, sondern primär ein Grundmoment des Existierens überhaupt ist, muß der ausdrückliche Vollzug des Entwerfens, und gar der im ontologischen Begreifen, notwendig Konstruktion sein.634 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass diese Seinsverfassung nicht im Voraus auf der kreativen Fähigkeit der menschlichen Erkenntnis beruht, sondern von der Endlichkeit des Daseins abhängt. Diese Verfassung ist kein „freischwebendes Sichausdenken von etwas“, sondern ein Entwurf, der in des Daseins Endlichkeit „vorherbestimmt“ und „gesichert“ ist.635 „Das Dasein soll in seiner Endlichkeit, und zwar aus dem Hinblick auf die innere Ermöglichung des Seinsverständnisses, konstruiert werden.“636 Mit anderen Worten, diese Konstruktion ist eine endliche Möglichkeit des Entwurfs des Daseins, die sich im Voraus nach der eigenen Situation und dem eigenen Seinsverständnis im Prozess der Selbstentfaltung des Daseins orientiert. All diese Elemente weisen auf die Geworfenheit des Daseins hin – das Dasein wird in die Welt geworfen und konstituiert seine Welt durch Geworfenheit und Entwurf. Hier können wir die hermeneutische Struktur sehen, die durch die Geworfenheit und den Entwurf zusammenkonstruiert wird. Das Dasein ist in der Lage, sein Sein in Hinblick auf sein Sein zu entwerfen und gleichzeitig ist dieser Entwurf ein Teil seiner geworfenen Situation und seines Seinsverständnisses. So sagt Heidegger: Aller Entwurf – und demzufolge auch alles „schöpferische“ Handeln des Menschen – ist geworfener, d.h. durch die ihrer selbst nicht mächtige Angewiesenheit des Daseins auf das schon Seiende im ganzen bestimmt.637
633 634 635 636 637
Vgl. ebd., S. 233. Ebd., S. 232–233. Vgl. ebd., S. 233. Ebd. Ebd., S. 235.
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Das Dasein ist kein Seiendes, das von anderen Seienden und ihrer situationsgeschichtlichen Existenz losgelöst ist, daher ist das Sein des Daseins immer ein abhängiges Sein, das von seiner eigenen hermeneutischen Struktur abhängt. Diese hermeneutische Struktur ist ein dynamisches Strukturganzes, das die Seinsverfassung in Bezug auf die Zeit, nämlich die „Zeitlichkeit“ des Daseins, erleichtert und begründet. Bisher konnten wir Heideggers Absicht und Ausführung seiner Kantinterpretation vollständig verstehen. Durch die Interpretation der transzendentalen Einbildungskraft als die ursprüngliche Zeit glaubt Heidegger, die bedeutendste Errungenschaft der KrV Kants gezeigt zu haben, die den innersten Charakter des menschlichen Daseins enthüllt, nämlich die Zeitlichkeit. Dies beantwortet auch, warum er die Interpretation des Neukantianismus ablehnte und die Interpretation annahm, die die KrV in einem besonderen Sinne als Grundlegung der Metaphysik betrachtet. So sagt er gegen Ende von KPM: Nicht weil die Zeit als „Form der Anschauung“ fungiert und eingangs in der Kritik der reinen Vernunft als solche ausgelegt wird, sondern deshalb, weil das Seinsverständnis aus dem Grunde der Endlichkeit des Daseins im Menschen sich auf die Zeit entwerfen muß, gewinnt die Zeit in der wesenhaften Einheit mit der transzendentalen Einbildungskraft die zentrale metaphysische Funktion in der Kritik der reinen Vernunft.638
Mou kritisiert Heideggers Kantinterpretation Mou und Heidegger sind sich einig, dass die menschliche Endlichkeit die oberste Prämisse der Philosophie Kants ist, aber ihre jeweilige Einstellung zu dieser Prämisse ist unterschiedlich. Im letzten Absatz von IACP gibt Mou einen eingehenden Überblick über Heideggers Kantinterpretation. Seine Rezension positionierte ihn als Rivalen des wahren Nachfolgers des kantischen Projekts, also seines gegen das von Heidegger. Mous Kritik lässt sich in drei Aspekten formulieren:
638 Ebd., S. 243.
289 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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a. Der Trugschluss der verlegten Metaphysik Mou kritisiert, dass Heidegger Kants Bedeutung der Metaphysik nicht gefolgt sei und dies somit zu „dem Trugschluss der verlegten Metaphysik “ (形上學之誤置之錯誤)639 geführt habe. Mou stimmt zu, dass es in gewissem Sinne gültig sei, die KrV als Grundlage der Metaphysik zu interpretieren, da wir Kants Frage „Wie ist Metaphysik als Wissen möglich?“ folgen.640 Heidegger folge jedoch Kants Ermittlungsweg nicht und beziehe nur die Teile der „Transzendentalen Ästhetik“ und der „Transzendentalen Logik“ als Grundlage für seine Arbeit zum Aufbau der Fundamentalontologie, nämlich der Metaphysik des Daseins, ein. Mou weist darauf hin, dass Kant im Teil der „Transzendentalen Ästhetik“ das Problem „Wie ist reine Mathematik möglich?“ positiv beantwortet hat und im Teil der „Transzendentalen Logik“ eine Antwort auf das Problem „Wie ist reine Wissenschaft möglich?“ gegeben hat. Wenn wir diese Antworten als Grundlage der Metaphysik betrachten, dann wird es sich einfach um eine „interne Metaphysik“ oder „empirische Metaphysik“ handeln, und das ist keine Antwort auf die Frage „Wie ist Metaphysik als Wissen möglich?“. Die „negative Antwort“ auf diese Frage findet sich im Teil „Transzendentale Dialektik“. Hier behandelt Kant die Probleme der „transzendenten Metaphysik“, die die wahre Metaphysik für Kant ist.641 Mit anderen Worten, da Heideggers Argument für eine Metaphysik des Daseins auf der falschen Textgrundlage aufbaue, sei seine Auffassung der Metaphysik nicht die gleiche wie die von Kant, und das sei im Allgemeinen so. Mou zitiert Cassirers Kritik, dass Heidegger im dritten Abschnitt des Kant-Buchs, „Die Grundlegung der Metaphysik in ihrer Ursprünglichkeit“, zu einem „Usurpator“ wurde, und er überprüft Cassirers Kritik hauptsächlich aufgrund der Probleme des § 30 des Kant-Buchs. Er empfiehlt, dass Heideggers Interpretation, abgesehen vom § 30, vor allem apodiktisch und durchdringend zu bewerten sei.642 Im Gegensatz dazu verstößt der § 30 jedoch extrem gegen die Grundabsicht Kants (wir werden ihn in Punkt c näher ausführen). Wenn Heidegger dies beabsichtigte, sei er entweder usurpierend oder ignorant gegenüber der Bedeutung der Moralität und dem
639 Um dies zu betonen, hat Mou diesem Ausdruck eine englische Erklärung „the fallacy of misplaced metaphysics“ beigegeben (vgl. IACP, S. 451 und S. 459). 640 Kants Frage ist nach Mous Formulierung zitiert (vgl. ebd., S. 451). 641 Vgl. ebd., S. 451. 642 Vgl. ebd., S. 458.
290 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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Moralselbst.643 Mou spekuliert, dass der Grund in der Weigerung Heideggers liegen könnte, die Konzepte des Dinges an sich, des freien Willens, der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes bei Kant zu diskutieren. Heidegger will eine solche transzendente Ebene radikal von seiner Kantinterpretation abkoppeln und versucht, all diese Themen durch die Diskussion der Rolle der transzendentalen Einbildungskraft in moralischem Sein und moralischem Handeln zu verwischen. Dennoch, so merkt Mou ausdrücklich an, würde Kant eine solche „Vermengung“ (混漫)644 nicht zulassen. Im Kapitel über „die (transzendentale) Ästhetik“ und „die Analytik (der Grundsätze)“ ist die menschliche Endlichkeit zwar nicht kreativ, aber aus der Perspektive des freien Willens sind die Kreativität und die Unendlichkeit offensichtlich. Obwohl Kant die reale Möglichkeit der intellektuellen Anschauung nicht zugibt, bleibt die Ebene der Transzendenz im Bereich der praktischen Vernunft und, was noch wichtiger ist, zeigt sie auf, wo der reale Ort der kantischen Metaphysik und Ontologie liegt. Heideggers Amputation führt tatsächlich zum Trugschluss der verlegten Metaphysik von Kant.
b. Die unnötige Betonung der Rolle der Sinnlichkeit angesichts des Problems der menschlichen Endlichkeit Mou weiß, dass Heidegger bewusst die kantische Metaphysik „verlegen“ will, weil er auf die Dekonstruktion der Seinsgeschichte in der Tradition der westlichen Philosophie abzielt. Heidegger behandelt die Seinsgeschichte von Platon bis Kant als eine verzerrte Dekadenz. Da Kants Autorität und Bedeutung hoch sind, kann Heidegger ihn nicht ignorieren und muss daher die Verbindung zu Kant nutzen, um seine These zu begründen und um seine Fundamentalontologie aufzubauen. Um sein Ziel zu erreichen, argumentiert er, dass Kants Analyse der transzendentalen Ästhetik die menschliche Endlichkeit in Bezug auf die Kraft der Sinnlichkeit deutlich enthüllte. Im Gegensatz zum typischen Verständnis der führenden Position des reinen Verstandes über den anderen Erkenntnisvermögen erklärt Heidegger, dass der Verstand der reinen Anschauung, nämlich der Sinnlichkeit, im Sinne der menschlichen Endlichkeit dienen muss. Mou weist zu Recht darauf hin, dass Heidegger aufgrund seiner Neigung zum Pragmatismus nicht in die Falle des Idealismus
643 Ebd. 644 Ebd.
291 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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tappen will und er daher seine Agenda lediglich durch die Diskussion über die Natur des menschlichen „diskursiven Verstandes“645 setzt. Für Heidegger hängt der menschliche Verstand als diskursiver Verstand im Voraus von einer sinnlichen Gegebenheit ab, durch die der Mensch mit Hilfe des Verstandes danach die menschliche Erkenntnis aufbauen kann. Daher sollte in Bezug auf die menschliche Endlichkeit sowohl die sinnliche Anschauung als auch die Sinnlichkeit eine ursprüngliche Stellung einnehmen, durch die der Begriff der Zeit seine Priorität und Bedeutung unter anderen Erkenntnisvermögen zurückgewinnt. Dennoch, so Mou, hat Heideggers Argumentation bezüglich der Priorität der Sinnlichkeit wenig Wert, und auch seine Argumentation gegen die Interpretation des Neukantianismus, der die KrV als eine Erkenntnistheorie versteht, ist sinnlos.646 Mou denkt, es gibt keinen ausreichenden Grund, darauf zu bestehen, die Argumentation der menschlichen Endlichkeit nur durch die frühen Teile der KrV zu konstruieren, es sei denn, wir wollen, wie Heidegger, die Master-Slave-Beziehung zwischen dem Verständnis und der Sinnlichkeit revidieren, um den Begriff der Zeit hervorzuheben. Für Mou ist diese Neuverteilung jedoch im Hinblick auf das Problem der menschlichen Endlichkeit irrelevant. Es ist durchaus berechtigt, für die menschliche Endlichkeit aus der Endlichkeit des Verstandes zu argumentieren. Heideggers Ansatz sei mithin eigentlich „doppelt indirekt“ (間接又間接).647
c. Die zufällige Spekulation über die Beziehung zwischen dem Moralselbst und der transzendentalen Einbildungskraft Mou lobt Heideggers Interpretation der Beziehungen zwischen Zeit, transzendentaler Einbildungskraft und Schematismus im dritten Abschnitt des Kant-Buchs und räumt sogar ein, dass es die prominentesten und brillantesten Teile des ganzen Buches sind, in denen Heidegger versucht hat, das, was Kant sagen wollte, durch seine „Gewalt“ der Interpretation zu enthüllen.648 Sein Abenteuer wird jedoch unsachgemäß auf den Bereich der praktischen Vernunft ausgedehnt, nämlich der Selbstheit des Moralselbst (道德 我底自我性). Mou gibt zu, dass er keinen möglichen Zusammenhang zwischen der praktischen Vernunft und der transzendentalen Einbildungs-
645 646 647 648
Vgl. ebd., S. 452. Vgl. ebd., S. 453–455. Ebd., S. 455. Vgl. ebd., S. 445–446.
292 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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kraft sehen kann, und er denkt, dass Heidegger die Beziehung zwischen ihnen nicht effektiv hergestellt hat. Mou zitiert Heidegger: […] läßt nur dieser Ursprung der praktischen Vernunft aus der transzendentalen Einbildungskraft verstehen, inwiefern in der Achtung das Gesetz sowohl wie das handelnde Selbst nicht gegenständlich erfaßt, aber gerade in einer ursprünglicheren, ungegenständlichen und unthematischen Weise als Sollen und Handeln offenbar sind und das unreflektierte, handelnde Selbst-sein bilden.649 Mou versteht Kant genau anders herum als Heidegger. Er ist der Auffassung, wenn der Ursprung der praktischen Vernunft die transzendentale Einbildungskraft sei, dann könne die Objektivität des Moralgesetzes oder das Handeln des Selbst nicht verstanden werden. Da die transzendentale Einbildungskraft durch den Prozess der Zeitbestimmung das Schema bilden kann, ist die Temporalisierung reiner Kategorien tatsächlich gleichbedeutend mit dem Prozess der Objektivierung. Wenn das Moralselbst und sein autonomes Moralgesetz zeitlich begrenzt werden können, werden diese Objekte zu Objekten des Phänomens. Entsprechend würden sie zu unauthentischen und unmoralischen Gesetzen werden, da sie abhängig und hypothetisch sind. Daher kritisiert Mou Heideggers Interpretation als „empörend“, und außerdem zeige seine Interpretation seine Unwissenheit über das Moralselbst und beeinflusse auch sein Verständnis der transzendentalen Einbildungskraft.650 Es sei wahr, dass das Moralgesetz und das Handeln des Selbst nicht objektiv verstanden werden können, aber es ist absurd zu sagen, dass das moralische Selbst nur durch die transzendentale Einbildungskraft möglich sei. Eine künstliche Konstruktion der Beziehung zwischen dem Moralselbst und der transzendentalen Einbildungskraft sei lächerlich. Daher, so urteilt Mou, sei die These, die besagt, dass „man den Ursprung der praktischen Vernunft nur durch die transzendentale Einbildungskraft sehen kann“, unzureichend, eine zufällige Spekulation.651
649 KPM, S. 160. 650 IACP, S. 457. 651 Ebd.
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Mous allgemeine Schlussfolgerung zu Heideggers Philosophie und seiner Kantinterpretation Im Großen und Ganzen befindet Mou, dass Heidegger kein Kant-Usurpator sei, sondern seine Ideen mit Kant in Verbindung bringe, um die Autorität seiner eigenen philosophischen Agenda zu stärken.652 Heidegger überbetone die menschliche Endlichkeit, da er nach phänomenologischer Methode großen Wert auf die Situationsgebundenheit und die Alltäglichkeit der menschlichen Existenz legt und über das Feld des Transzendenten im kantischen Sinne schweigt. Das Dasein als In-der-Welt-sein ist im Voraus ein geworfenes Seiendes, das durch seine Situation, Geschichte und Zeit begrenzt ist, oder kurz gesagt, es ist eine Geworfenheit. So verstößt das Konzept des unabhängigen, spontanen und unendlichen Seins grundsätzlich gegen seine Vorstellung der Fundamentalontologie. In kantischer Hinsicht ist Heidegger nur im Bereich des Phänomens tätig und weigert sich, die Daseinsanalyse aus der Perspektive des Transzendenten – des kantischen Sinns, nicht der Transzendenz Heideggers – bezüglich des Begriffs des Noumenon zu erstellen. Die Unterscheidung zwischen Phänomen und Noumenon fehlt in Heideggers Kantinterpretation und als Folge davon, dergestalt kommentiert es Mou, könne Heidegger nicht die Phänomenologie etablieren, die er sich wünsche, weil er den Weg zum Transzendenten abgeschnitten und die reale Möglichkeit, das reale und authentische Selbst aufzubauen, aufgegeben habe.653 Als schlüssiges Urteil nennt Mou fünf Punkte zu Heideggers SZ und seiner Philosophie im Allgemeinen:654 1) Der Ansatz hinsichtlich der Seinsfrage ist angemessen, aber die Methode der Phänomenologie ist nicht entsprechend. 2) Der Ansatz, die Realität und Authentizität des menschlichen Daseins in der Praxis zu offenbaren (zum Beispiel durch das Konzept der Angst), ist nur möglich, wenn es ein korrespondierendes transzendentes Sein gibt (zum Beispiel Kierkegaards Gott, Herz-Geist im Konfuzianismus oder das Tathāgatagarbha im Buddhismus). 3) Nur aus der Perspektive der Transzendenzebene ist die Fundamentalontologie möglich. Die menschliche Realität und Authentizität können nur durch die Praxis oder die praktische Bestätigung des transzendenten Seins bescheinigt werden.
652 Vgl. ebd., S. 458. 653 Vgl. ebd., S. 471. 654 Vgl. ebd., S. 471–472.
294 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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4) Die Praxis oder die praktische Bestätigung der Wahrheit ist sicherlich mit der Zeitlichkeit des menschlichen Daseins verbunden, denn es geht um den Realisierungsprozess des Selbst in der Realität. Es ist jedoch wurzellos und bedeutungslos, über das Sein und die Zeit des menschlichen Daseins zu sprechen, wenn wir das transzendente Sein oder den Bereich des Transzendenten aus unserem praktischen Leben ausschließen. Es ist auch Unsinn, Kants Philosophie einzubeziehen, um eine grundlegende Ontologie aufzubauen. 5) Das menschliche Dasein ist sicherlich endlich. Die menschliche Endlichkeit kann entweder durch Sinnlichkeit oder Verstand enthüllt werden. In diesem Sinne ist der Mensch natürlich „nicht kreativ“. Sobald wir jedoch die Bedeutung der Moral durch das transzendente, unendliche Sein bestätigen können, kann der Mensch eine Art der Unendlichkeit in der Moral erlangen, mit der er die Unendlichkeit und Kreativität des Menschen sehen kann. An dieser Stelle ist es plausibel zu behaupten, dass die menschliche Anschauung eine reine intellektuelle sein und der menschliche Verstand auch intuitiv sein kann. Alles in allem betont Mou, dass wir eine Fundamentalontologie auf der Grundlage der transzendenten Metaphysik Kants aufbauen müssen. Diese transzendente Metaphysik sei eine „moralische Metaphysik“ oder, im weiteren Sinne, eine „praktische Metaphysik“. Heideggers Argumentation sei hauptsächlich „verstreut“ (散蕩), „wurzellos“ (無根), „schwebend und heimatlos“ (虛蕩而無本)655 und seine Denkweise sei „undurchsichtig“, „auf halbem Weg stehen geblieben“, „losgelöst von beiden Seiten der Phänomenologie und dem Weg des Idealismus“.656
Modifikation und Entwicklung der kantischen Philosophie: „zweistufige Ontologie“ oder „Fundamentalontologie“? Durch Mous Kritik können wir sehen, dass er das Schlachtfeld gewählt hat, um in zwei Aspekten mit Heideggers Kantinterpretation zu konkurrieren: 1.) Wie sollen wir die Bedeutung der kantischen Prämisse der menschlichen Endlichkeit verstehen und modifizieren? und 2.) Wie sollen wir die kantischen Einsichten über die menschliche Endlichkeit entwickeln?
655 Vgl. ebd., S. 466–467. 656 Vgl. ebd., S. 472.
295 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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Im Großen und Ganzen glaubt Mou, dass Heidegger die menschliche Endlichkeit im Zusammenhang mit dem menschlichen Dasein überbewertet und damit der menschlichen Unendlichkeit, die tatsächlich als Grundlage der menschlichen Freiheit dient, beraubt hat. Mous Beobachtung ist in vielerlei Hinsicht präzise. So weist er beispielsweise darauf hin, dass Heideggers Neigung zum Pragmatismus ihn daran hindere, Kants Weg des Idealismus zu nehmen, aber diese Neigung verstoße nicht grundsätzlich gegen den kantischen Geist. Das grundlegende Problem der Interpretation Heideggers liege in seinem ernsthaften Verdacht der Möglichkeit der menschlichen Unendlichkeit, der ihn zum ungerechten Urteil der menschlichen Unendlichkeit führt. Als Phänomenologe – zumindest in Heideggers frühem Karrierestadium – bestand Heidegger darauf, seinen Diskurs nicht über das transzendente Sein zu entwickeln, sondern nur über die Erkenntnisvermögen, die am Verlauf der Bedeutungsbildung beteiligt sind. Dies erlaubt es ihm, sich von der Position des Empirismus und des Idealismus zu lösen. Aber weil er auch für den Standpunkt der Phänomenologie eintrat, konnte er das Abenteuer der Idee des Dinges an sich nicht akzeptieren, sondern behielt Husserls phänomenologisches Motto „Zu den Sachen selbst“ bei.657 Für Heidegger liegen die Themen seiner frühen Untersuchung in den ontologischen Bedingungen des Seinsverständnisses im Hinblick auf das faktische menschliche Dasein. In seiner Kantinterpretation hat er auch das Problem des Freiheitszustandes unter seine Daseinsanalyse subsumiert, das der Seinsfrage in SZ ausgesetzt ist. Folglich kann die menschliche Freiheit im System Kants nicht mehr bedingungslos und selbstbestimmend sein. Die Freiheit muss den Seinsmodi und vor allem der Zeitlichkeit des Daseins unterliegen. Deshalb ist das menschliche Dasein radikal unendlich. Das ist der kritische Punkt, in dem Mou mit Heidegger nicht einverstanden ist. Der Hauptunterschied zwischen Mou und Heidegger liegt in ihrer Haltung zum Bereich des Sensiblen und Übersinnlichen. Das Ding an sich ist ein nicht-räumlich-zeitliches Konzept, das, so denkt Mou, sowohl in der kantischen als auch in der chinesischen Philosophie einen Vorrang hat – Kant hält am Vorrang der praktischen Vernunft fest, Mou jedoch betont den Vorrang der Moralität in der chinesischen Philosophie. Dieser Primat begründet die Möglichkeit der transzendentalen Bestimmung, mit der der Bereich des Noumenon in den Bereich des Phänomens eingreifen kann, oder mit anderen Worten, die Freiheitskausalität kann die Naturkausalität bestimmen. Kants Problem liege in seiner Einschränkung der Möglichkeit 657 Vgl. SZ, S. 27–28.
296 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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intellektueller Anschauung, aber das Heidegger-Problem sei noch größer, da er die gesamte Diskussion über den Bereich des Noumenon abgebaut hat. Beide seien in Mous Augen nicht in der Lage, die Möglichkeit der Moralität und den Weg zu einer echten Metaphysik positiv zu begründen.658 Deshalb schlägt er eine „zweistufige Ontologie“ (兩層存有論) vor, mit der er versucht, uns einzuladen, Kants Dualismus des Phänomens und des Noumenons in einem Zwei-Aspekte-Modell zu überdenken. Mou argumentiert für eine richtige ontologische Exposition der kantischen Einsichten durch die Einführung seiner „zweistufigen Ontologie“, nämlich: die „bestehende Ontologie“ (執的存有論) und „freistehende Ontologie“ (無執的存有論).659 Diese Idee stammt aus dem Thema „Ein HerzGeist öffnet zwei Türen“ (一心開二門) im Erwachen des Glaubens im Mahayana (大乘起信論). Um Mous Idee zu verstehen, müssen wir in erster Linie fragen: Was bedeutet das „Bestehende“ (執 [著], also „Bindung“, „Fixierung“ oder „Anhaftung“)? Das Bestehende ist ein Konzept, das aus der buddhistischen Philosophie stammt. Mou bestimmt wissenschaftliches Wissen als das Wissen des Bestehenden. Nach der buddhistischen Philosophie werden alle Wesen, die dem Bereich des Bewusstseins angehören, als das Bestehende betrachtet. Da wissenschaftliches Wissen das Wissen des Bewusstseins ist, gehört es von Natur aus zum Wissen des Bestehenden. Das Ziel des wissenschaftlichen Wissens ist es, Qualität in Quantität umzuwandeln (化質歸
658 Billioud hat eine tiefgründige Analyse über den Unterschied zwischen Heideggers und Mous Kantdeutung geschrieben. In richtiger Weise zeigt er auf, dass der Konflikt zwischen Mou und Heidegger in ihrem Verständnis der Begründung der Moralität liegt, die sich auf die Möglichkeit der Endlichkeit und Unendlichkeit der Menschen bezieht. Vgl., Sébastien Billioud: Thinking Through Confucian Modernity, Leiden und Boston 2012, S. 123–160. Vgl. zu diesem Thema auch Laus Aufsätze, Intellectual Intuition and Imagination. Mou Zongsan and Heidegger on Finitude und A Hidden Dialogue. How Heidegger determined Mou Zongsan’s Philosophical Project. In: The Journal of Chinese Philosophy and Culture 12 (2015), S. 153–176. (劉保禧:〈隱匿的對話—海德格爾如何決定牟宗三的 哲學計劃〉,《中國哲學與文化》12,2015 年,頁 153–176。). 659 Mou hat hauptsächlich in seinen späteren Werken die „zweistufige Ontologie“ entwickelt. Die Idee ist kompliziert und umfangreich. Leser erhalten einen schönen Überblick im Anhang von Abhandlung über das Summum Bonum, in dem Mou sein Verständnis der Ontologie im Kontext der abendländischen und chinesischen Philosophie und seine Idee über die „bestehende Ontologie“ und „freistehende Ontologie“ kurz dargestellt hat. Vgl.: Mou Zongsan: Abhandlung über das Summum Bonum [Yuanshan lun]. In: Ders: The Complete Works of Mou Zongsan, Bd. 22. Taipei 2003, S. 327–330. (牟宗三,《圓善論》,《牟宗三先 生全集》第二十二冊。臺北:聯經,2003 年,頁 327–330。).
297 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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量), und dies gelingt durch den Prozess der Abstraktion, der im Grunde ein Bestehen ist – der Versuch, das sich verändernde Phänomen durch ein wissenschaftliches Gesetz oder Prinzip zu fixieren oder zu erfassen. Nach Mou sprechen abendländische Philosophen wenig vom Bestehenden, da ihnen eine andere Art von Wissen, nämlich das Wissen des NichtBestehenden oder Freistehenden (無執之知), als Referenz fehlt. Am Beispiel von Kant räumte er zwar ein, dass es zwei Arten von Wissen gibt, die entweder auf sinnlicher oder reiner Anschauung beruhen, Kant lehnte aber die Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung im menschlichen Verständnis ab. Die intellektuelle Anschauung gehöre im Prinzip nur Gott oder einem gottähnlichen intellektuellen Wesen. So habe Kant im Grunde zwei Arten von Wesen abgespalten, die unterschiedliche Arten von Wissen besitzen, und stelle sie einander gegenüber. Das chinesische Denken ist für Mou anders, da die chinesische Philosophie die Möglichkeit, dass das menschliche Subjekt eine intellektuelle Anschauung hat, grundsätzlich und positiv zugibt. Daher können beide Arten des Subjekts, oder genauer gesagt, beide Dimensionen (kognitive und normative) des Subjekts in einem Subjekt aufgelöst werden, ohne dass es zu einem Widerspruch kommt. Das menschliche Subjekt verfügt über bewusstes Wissen (識), nämlich die Erkenntnis, und ist auch in der Lage, bewusstes Wissen in Weisheit (智) umzusetzen. Mou erklärt die Einsicht des Buddhismus: „Bestehendes ist Krankheit, ohne Bestehendes gibt es keine Krankheit. Also ‚Krankheit entfernen, nicht Dharma (Fa 法) entfernen ‘. Dharma ist objektiv, Bestehendes oder Freibestehendes ist subjektiv. Bestehendes ist Wissen, ohne Bestehendes ist Weisheit.“660 Kants Problem hat seinen Ursprung in seinem Verständnis von der Natur des Wissens. Er ist begrenzt durch seinen kulturhistorischen Hintergrund, der lange Zeit durch die hellenische Denkweise und die wissenschaftliche Entwicklung seiner Zeit (zum Beispiel die Newtonsche Physik) bestimmt war. Mou behauptet, das Kernthema der chinesischen Philosophie und Denkweise liege nicht in den wissenschaftlichen Erkenntnissen, deshalb seien die Chinesen nicht in der Spur der zeitgenössischen Wissenschaft gelaufen.661 Die Krise des Wissens im Westen liege in seiner anderen Natur, mit der es sich auf natürliche Weise zu einem Pan-Szientismus und
660 ED, S. 422. 661 Mou Zongsan: Neunzehn Vorträge über chinesische Philosophie [Zhongguo zhexue shijiu jiang]. In: Ders: The Complete Works of Mou Zongsan, Bd. 29. Taipei 2003, S. 280. (牟宗三,《中國哲學十九講》,《牟宗三先生全集》第二十九册。臺 北:聯經,2003 年,頁 280。).
298 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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Pan-Technologismus (泛科學主義及泛科技主義) entwickele, der die Menschen in die Krise der Selbstzerstörung führe. „Das ist der Trend der modernen Zivilisation“, sagt Mou.662 Einer der möglichen Wege diese Krise aufzulösen, liege in der Weisheit des Buddhismus. Denn im Buddhismus gehe es nicht nur um das Wissen des Bestehenden, sondern auch um das Wissen des Freistehenden. Im Erwachen des Glaubens im Mahayana eröffnet das Thema „ein Herz-Geist, der zwei Türen öffnet“ die Möglichkeit, den Antagonismus von Phänomenen und Noumena in der kantischen Philosophie aufzulösen. Das Wissen ist nicht auf den Bereich der Phänomene beschränkt, da der Buddhismus sowohl wissenschaftliches Wissen als „den bequemen Gebrauch des bewussten Wissens“ (識心權用) als auch Weisheit als „den wirklichen Gebrauch des Herz-Geistes“ (智心實用) anerkennt. Daher gibt es eine zweistufige Ontologie, der zwei Arten von Wissen entsprechen. Die vorherige Art des Wissens bezieht sich auf die phänomenale Welt, die auf eine vollendende und vollständige Erklärung der physischen Welt abzielt. Aus der Sicht des Buddhismus ist eine solche Art der Wissensvermittlung jedoch nicht in der Lage, das Phänomen der Zirkularität von Leben und Tod (生死流轉) sowie das Problem des Lebenssinns vollständig zu erklären. Das ewige Streben nach Wissen führt lediglich zu einer anderen Art des Bestehenden, die uns nicht vom Problem des Lebens befreien wird.663 Um auf den Mangel an bewusstem Wissen zu reagieren, brauchen wir Weisheit über wahres Wissen – eine richtige Sichtweise (正見, oder „genaues Sehen“). Die Möglichkeit, eine solche Weisheit zu haben, liegt in der Anerkennung der „intellektuellen Intuition“ und der „Ontologie der Nicht-Anhaftung“, die nach Mou die allgemeine Einsicht der chinesischen Philosophie einschließlich des Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus ist.
662 Ebd. 663 Die Ansicht, die zu dieser Art von Bindung führt, heißt „zengyi jian (增益見)“, die an das Ideal eines vollkommenen Wissens glaubt, und ein solches Wissen wird uns ein perfektes Verständnis für das Problem des Lebens und schließlich wahre Freiheit für alle Wesen bringen.
299 https://doi.org/10.5771/9783896659316 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 02.06.2023, 15:05:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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Ontologie des Freistehenden im Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus Buddhismus In ED veranschaulicht Mou die Idee der freistehenden Ontologie, indem er Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus interpretiert. Er verwendet das Konzept von Yaunjiao (圓教, die vollständige und vollkommene Lehre) aus der Schule des Tiantai (天臺宗, auch im Vergleich mit der Huayan-Schule 華嚴宗), um sein Verständnis der noumenalen Ontologie des Tiantai (本體界的存有論) zu veranschaulichen, die für Mou identisch mit der Ontologie des Freibestehenden ist.664 Darüber hinaus erklärt er, warum Kants Ontologie eine Art Ontologie des Bestehenden ist, die unzureichend und unvollständig ist (im Gegensatz zu Tiantais Yuanjiao).665 Gemäß der Rekonstruktion Mous kann die Lehre der Huayan-Schule auf ālaya-vijñāna (阿賴耶識, oder Lagerhausbewusstsein) zwar „alle Dharmas“ (一切法, oder alle Phänomene) erklären, aber sie kann den Ursprung aller Dharmas nur empirisch erklären.666 Dies wird zwei Probleme verursachen: Erstens, da die Erklärung schließlich von der empirischen Herkunft abhängt, fehlt ihr die Notwendigkeit; zweitens, aus der ersten Frage folgend, da der Weg zum Nirwana von „unbefleckten Samen“ (無漏種) im System des Huayan abhängt und der Mensch daher durch „Parfümierung aus dem Hören des Richtigen“ (正聞薰習) geschult werden muss, hat die Vollendung des Buddha-Weges keine Garantie, sondern Kontingenz. Die Buddhaschaft aller fühlenden Wesen wird nicht vollständig diskutiert und gerechtfertigt. Deshalb brauchen wir eine weitere Erklärung des transzendentalen Grundes für den Ursprung der Buddhaschaft (佛性). Eine solche Erklärung kann sich nicht auf das System des Huayan stützen, da es immer noch von einer Ontologie der Anhaftung abhängt. Wir brauchen das System des Tiantai von tathagātagarbha (如來藏, der Mutterschoß des SoKommenden), das den Ursprung der Buddhaschaft durch intellektuelle Intuition direkt geltend machen kann.667 Nach Mou hat die Tiantai-Schule nach der Ansicht auf pratītya-samutpāda (緣起觀, Achtsamkeit des abhängig Entstehens) in den Sutras von Yogācāra (唯識宗) ein fruchtbareres System auf tathāgatagarbha ent-
664 665 666 667
Vgl. ED, S. 429. Vgl. ebd. Mou: Neunzehn Vorträge über chinesische Philosophie, S. 285. Vgl. ebd., S. 285–286. Also vgl. ED, S. 420.
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wickelt, in das nicht nur die Ontologie des Entstehenden einbezogen und damit der Ursprung aller Dharmas systematisch erklärt werden kann, sondern auch die Ontologie des Freistehenden ihren Platz hat. Daher ist die Tiantai-Doktrin die vollständigste und vollkommenste, insbesondere in dem Sinne, dass sie den Charakter der Ontologie des Freistehenden im Buddhismus zeigt.668
Daoismus Aus der Perspektive des Daoismus liegt die „Krankheit“ (sowohl der Subjektivität als auch der Subjektivierung der Wesen) in der Herstellung (造 作) im Leben. Manufaktur bedeutet Unnatürlichkeit, die aus dem HerzGeist entspringt. Um die Krankheit im Leben zu beseitigen, müssen wir uns daher nur auf die Ausbildung des Herz-Geistes konzentrieren. Das Training oder die Art und Weise des Trainings (Kungfu 功夫) für den eigenen Herz-Geist besteht darin, die Leere zu erreichen und die Stille und Ruhe (致虛守靜) des Herz-Geistes zu bewahren.669 In diesem Zustand kann der Herz-Geist wirklich zu seiner Wurzel zurückkehren, seine Natur wiederbeleben und die Konstante kennen lernen und so Licht auf alle Wesen als sie selbst werfen. All diese Trainings zielen auf ein Verständnis und eine Erfahrung des Ursprungs des Seienden ab, was eine Negation des Seienden (Wu 無) bedeutet. Die Affirmation des Ursprungs der Wesen als Negation des Seienden beruht für Mou auf der Affirmation der intellektuellen Anschauung. Da die intellektuelle Anschauung von nichts abhängt, kann sie zu einer Ablösung der Fixierung führen, die mit anderen Worten ein Zustand des Freistehenden ist. Das ist die Freiheit des Daoismus. Der Daoismus nimmt die Verweigerung der Herstellung im Leben als Ziel seines Trainings, weil er ein kosmos-metaphysisches Verständnis des Noumenon bezüglich der Ontologie des Freistehenden voraussetzt. Das Noumenon ist ein Nicht-Seiendes, das durch die Sprache nicht vollständig veranschaulicht werden kann, da Sprache eine Art von Wesen und Bestehendes ist. Um ein solches Nicht-Seiendes zu verstehen und zu erfahren, muss man den gemeinsamen Glauben an den Nutzen von Wissen und Moral aufgeben670, um das voreingenommene Herz-Geist-Sein zu klären und
668 Vgl. ED, S. 415–422. 669 ED, S. 445. 670 Ebd., S. 446.
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wie ein Spiegel in den Zustand zurückzukehren.671 Die Richtung, sich „von Tag zu Tag dem Lernen zu widmen (suchen), um von Tag zu Tag mehr zu lernen (sein Wissen)“ gehört in den Bereich der Ontologie des Bestehenden; im Gegensatz dazu fällt die Richtung, sich „von Tag zu Tag dem Wegmachen (Dao 道) zu widmen (suchen), um von Tag zu Tag weniger zu werden (sein Tun)“, in die Kategorie der Ontologie des Freistehenden.672
Konfuzianismus Im Falle des Konfuzianismus sieht Mou den Ausgangspunkt in seiner Bekräftigung des moralischen Bewusstseins (道德意識). Das moralische Bewusstsein begründet die Möglichkeit der Moral, und dadurch wird die metaphysische Einheit (das Noumenon) offenbart. Mou erklärt: Der Mensch als moralischer Akteur kann ein moralisches Urteil fällen, weil er die Autonomie besitzt, die es ihm erlaubt, frei von jeglichem äußeren Zwang zu sein. Die moralische Autonomie kommt direkt aus dem moralischen Bewusstsein, und durch die Verwirklichung der Moral in der moralischen Handlung wird die innere moralische Entität offenbart. In dieser Offenbarung der Moral ist die moralische Entität sowohl klar und unmittelbar moralisch als auch metaphysisch.673 Da das moralische Subjekt sich selbst de facto als moralische Entität verwirklicht, verwirklicht es seine Subjektivität als eine seiner selbst wie auch seines anderen Selbst. Alles hat seine eigene moralische Bedeutung in und für sich selbst. Eine solche Erkenntnis ist möglich, weil die Konfuzianer im Laufe der Geschichte der Schule des Konfuzianismus, insbesondere im Hinblick auf die Tradition der Schule des Herz-Geistes (心學), im Allgemeinen an die Realität des Herz-Geistes glauben. Im Gegensatz zum Buddhismus und Daoismus, die die Realität und den Wert der Subjektivität grundsätzlich ablehnen oder leugnen, bejaht der Konfuzianismus den Wert der Moral und die konstruktive Wirkung moralischer Handlungen positiv. Das Gewissen (oder der angeborene moralische Sinn, liangzhi 良知) als Kanon des moralischen Urteils hilft 671 Vgl.: „Der höchste Mensch gebraucht sein Herz wie einen Spiegel. Er geht den Dingen nicht nach und geht ihnen nicht entgegen; er spiegelt sie wider, aber hält sie nicht fest. Darum kann er die Welt überwinden und wird nicht verwundet.“ (Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Übersetzt von Richard Wilhelm. Köln 2011, S. 109). 672 ED, S. 450. 673 Ebd., S. 451.
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nicht nur dem moralischen Akteur beim Urteilen, sondern gibt auch die Richtung des eigenen Lebens vor. Das Gewissen ist in sich selbst absolut gut und moralisch.674 Durch seine Interpretation der Doktrin von Wang Yangming (王陽明) und anderer konfuzianischer Texte argumentiert Mou, dass sowohl die Realisierung der Sache als auch des Selbst (成己成物) tatsächlich auf demselben transzendentalen Grund, dem a priori moralischen Bewusstsein, beruhen. Ein solches a priori moralisches Bewusstsein ist eine intellektuelle Anschauung, die den moralischen Wert und das moralische Handeln positiv und autonom bestimmen kann. Es ist ein inneres Ereignis der Realisierung des Selbst. Mit einer solchen intellektuellen Anschauung kann der moralische Akteur auch Moral praktizieren und die Dinge äußerlich beeinflussen. Es ist der Prozess der Realisierung der Dinge. Beide Realisierungen entspringen der gleichen Quelle und wirken parallel durch den Prozess der Selbstrealisierung. Ein solcher Prozess der Selbstrealisierung beinhaltet eine moralische Metaphysik (道德的形上學), nämlich eine Ontologie der Freibestehenden, weil sie sich nicht auf das Wissen, sondern auf die Weisheit stützt.675
Abschluss Anhand der obigen Zusammenfassung können wir erkennen, dass Mou eine zweistufige Ontologie durch eine Neudeutung der chinesischen Philosophie im Allgemeinen aufgebaut hat, um sich einerseits mit Heideggers Kantdeutung und -entwicklung auseinanderzusetzen, andererseits um das Problem, das in dem problematischen Begriff Kants, nämlich Ding an sich (oder Noumenon), verwurzelt ist, zu überwinden. Ich lese Mous Erklärung so, dass das Noumenon und das Phänomen keine zwei Konzepte auf der gleichen ontologischen Ebene, sondern das Ergebnis zweier verschiedener Aspekte der Herz-Geist-Arbeit sind. Die Unterscheidung von Phänomen und Noumenon entstammt einem Herz-Geist, durch den wir in der Lage sind, mit der Welt unter zwei verschiedenen Aspekten zu interagieren. Unter dem Aspekt des Erkennens verhält sich der Herz-Geist wie „der bequeme Gebrauch des bewussten Erkennens“, was die Möglichkeit begründet, eine Erkenntnis gegenüber der Welt des Phänomens zu haben. In diesem Sinne ist der Herz-Geist abhängig, endlich und anhänglich (von der Welt
674 Ebd., S. 452. 675 Ebd., S. 459.
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des Phänomens); unter dem Aspekt der Moralität verhält sich der HerzGeist als „der wirkliche Gebrauch der Weisheit“, mit der der Herz-Geist das Moralgesetz uneingeschränkt bestimmt und überträgt. Unter diesem Aspekt wird der Herz-Geist von der Begrenzung des „vorgestellten Denkens“676 gelöst, das heißt, er ist unendlich. Durch die Einführung der zweistufigen Ontologie bietet Mou eine weitere mögliche Interpretation und Entwicklung der kantischen Philosophie an. Einerseits argumentiert er gegen Heideggers Interpretation, die die Beschreibung der endlichen und nicht-zeitlichen Dimension des Menschen ignoriert, und deshalb ist für Mou Heideggers Fundamentalontologie oder Metaphysik des Daseins nicht die Antwort auf eine Weiterentwicklung der kantischen Philosophie; andererseits kritisiert er aber auch, dass Kant keine Einsicht in die intellektuelle Anschauung hat, was ihn daran hindert, die Möglichkeit zu sehen, eine „moralische Metaphysik“677 anstelle einer „Metaphysik der Sitten“ zu konstruieren. Mou sieht seine Arbeit zur Änderung der Fehler in der kantischen Philosophie als „Modifikation und Verbesserung“ (調適上遂)678 der kantischen Philosophie und, was noch wichtiger ist, als eine Modernisierung der chinesischen Philosophie durch eine Einfügung der Haupteinsichten der abendländischen Philosophie.
676 Vgl. ED, S. 328. 677 Vgl. ebd., S. 38–41. 678 Vgl. IACP, S. 449.
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